Wozu denn der ganze Zinnober? – Zwei Jahre als Autor beim Netzwerk „Seniorbook“

Zwei Jahre lang habe ich nebenher Texte für den Münchner Internet-Auftritt seniorbook.de verfasst. Jetzt habe ich mich dort per Mail als Autor verabschiedet; leichten Herzens und aus guten Gründen.

Dabei fing damals alles recht manierlich an. Vorwiegend habe ich Beiträge über TV-Sendungen geschrieben. Warum nicht? Das haben wir ehedem bei der Zeitung in langjähriger Übung praktiziert; vielfach auch in Form der schnellen Abend- und Nachtkritik. So auch jetzt.

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Die Idee, ein soziales Netzwerk für gereifte Leute (worunter „50 plus“ verstanden werden sollte) aufzuziehen, fand ich zudem gar nicht übel und sogar zukunftsträchtig. Nicht zu vergessen: Die Honorare pro Artikel gingen in Ordnung.

Ein Bauunternehmen im Hintergrund

Ein wenig stutzig wurde ich allerdings, als ich hörte, dass hinter dem Auftritt eine Baufirma steht, die u. a. Seniorenresidenzen errichtet. Man muss kein Schelm sein, um sich dabei was zu denken. Nun, so lange man ihnen nicht nach dem Munde schreiben muss…

Die Seniorbook-Mitarbeiterin, die mich angeworben hat, war als Journalistin und Netzadministratorin ausgesprochen fähig. Damals konnte man von einer ebenso freundlichen wie vernünftigen und zielgerichteten Autorenbetreuung reden. Sie ließ einem weitgehend freie Hand. Absprachen wurden beiderseits stets eingehalten. Es war zeitweise eine Freude. Die Zahl der Klicks und Zugriffe konnte sich sehen lassen. Seinerzeit gewährte man den Autorinnen und Autoren noch einen Einblick in diese statistischen Daten und hielt sie ständig auf dem Laufenden über die Mitgliederzahlen des Netzwerks. Gut für die Selbsteinschätzung.

…und dann kam der „Vorstand“

Doch leider verließ besagte Community-Managerin nach einigen Monaten das Haus, um sich Besserem zuzuwenden. Und wie es so oft in derlei Fällen geschieht: Damit änderte sich praktisch alles zum Nachteil. Die Bühne betrat nun jemand, der sich volltönend als „Vorstand“ bezeichnete und allzeit mit dem Wort „viral“ um sich warf. Alles müsse „viral“ sein. Gute Genesung kann man da nur wünschen.

Mit ihm wehte alsbald ein anderer Wind. Er ließ rasch die besagte Möglichkeit der statistischen Selbstkontrolle kappen. Ganz klar, man sollte nicht mehr mit Fug behaupten können, ein Beitrag sei gut gelaufen. Dass außerdem jede Möglichkeit unterbunden wurde, Autoren untereinander kommunizieren zu lassen, versteht sich beinahe von selbst. Teile und herrsche. Das uralte Prinzip der Macht-Männchen.

Statt dessen drängten sie einen, sich zusätzlich beim Netzwerk Google+ anzumelden und beide Profile zu verknüpfen, auf dass man mit Autorenbild in den Google-Fundstellenlisten erscheinen sollte. Welch‘ substanzielle Neuerung! Dumm nur, dass Google die Funktion kurz darauf tilgte.

Anbetung der Suchmaschine

Heilig war nun die besinnungslos gehandhabte Suchmaschinen-Optimierung. Gleich nach Einführung der neuen Leitlinien wurde einer meiner Texte im Sinne der maschinellen Auffindbarkeit dermaßen idiotisch verhunzt, dass praktisch in jedem Satz der Name eines bestimmten TV-Promis vorkam; völlig penetrant, ohne jegliche Variation. Das las sich hanebüchen – und stammte absolut nicht mehr von mir. Selbstverständlich habe ich mich beschwert. Fortan wurden meine Texte nicht mehr angetastet. Immerhin.

Ein weiterer Hebel setzte bei der Unterstützung der Autoren an, die nunmehr praktisch entfiel. Beiträge verliefen im Sande – ohne besondere, netzaffine Aufbereitung, geschweige denn, dass sie den Usern empfohlen worden wären. Wozu dann überhaupt der ganze Zinnober? Wozu noch Autoren? In der Tat kann man sich ja fragen, ob ein soziales Netzwerk Autorenbeiträge braucht – oder ob ein bisschen Trallala-Animation reicht.

Talkshows bis zum Abwinken

Eigentlich überflüssig zu erwähnen, dass die anfänglich bewusst seriöse Ausrichtung, in deren Rahmen sich ein besonderes Augenmerk auf die Kulturkanäle 3Sat und arte richtete, sich jetzt flugs erledigt hatte. Überhaupt wurden plötzlich ganz andere, ja geradezu gegenteilige Themenparolen ausgegeben. Was bis dato ein Schwerpunkt war, sollte gefälligst unterbleiben: Keine „Tatorte“ mehr besprechen (die werden ja auch nur von ein paar Millionen Menschen gesehen); statt dessen sollten Talkshows (immer und immer wieder Jauch & Co.) mit ihrem ewiggleichen öden Gästefundus in den Mittelpunkt rücken; übrigens mit der Maßgabe, die „eigene“ Meinung provozierend zuzuspitzen und also geradewegs zu manipulieren. Einen solchen Mist habe ich noch nie mitgemacht.

Haufenweise Pegida-Fans

Doch auch so kamen derart viele Kommentare à la Pegida (avant la lettre) oder AfD, dass man diese Phänomene geradezu hat anrücken sehen können. Abenteuerliche Verschwörungstheorien zuhauf, Misstrauen gegen alle Medien inbegriffen, üble Beschimpfungen von „Gutmenschen“ und Minderheiten als Krönung. Die Mischung also, die man inzwischen bis zum Erbrechen kennt. Echte Diskussionen waren zwecklos. Redaktionell moderiert wurde ohnehin kaum. Lass laufen…

Nun ja. Man kann es sich denken: Spätestens nach drei Jauch-Ausgaben hat sich das Ganze als ernsthaftes Rezensionsthema erledigt, eigentlich auch schon vorher. Daneben durfte ich hin und wieder TV-Nostalgie bedienen, indem ich mir Jahrzehnte alte Sendungen noch einmal zu Gemüte führte. Das hatte ja immerhin noch was und war einigermaßen zielgruppengerecht.

Komplette Konfusion

Doch Sinn und Verstand hatte das konfuse Konzept schon längst nicht mehr. Zu Beginn des neuen Jahres wurden über Nacht sämtliche Film- und Fernsehthemen komplett abgeschafft. Einfach mal so. Es reicht ja auch, wenn man mit den Senioren ein bisschen über Gesundheit, Partnerschaft, Haustiere und Gartenfreuden plaudert. Viel Spaß noch dabei!




„Nachkriegskinder“: Das fortwährende Leiden unter den Soldatenvätern

Die Kölner Journalistin Sabine Bode (WDR, NDR) hat ganz offenkundig seit langem das Themenfeld ihres Lebens gefunden – und intensiv durchpflügt. Ihr liegen die deutschen Kriegs- und Nachkriegskindheiten am Herzen, mithin die mehr oder minder verborgenen Verheerungen, die der Zweite Weltkrieg auch noch im Seelenleben von Nachkommen der Täter angerichtet hat.

9783608980394Eines ihrer Sachbücher heißt „Nachkriegskinder“. Der bereits 2011 erschienene Band ist ein mehr als heimlicher Verkaufserfolg, er hat kürzlich bereits die sechste Auflage erreicht. Bevor man es nun weiterhin versäumt, ihn zu entdecken und zu empfehlen, bespricht man ihn lieber doch noch. Besser spät, als nie.

Tatsächlich leben ja auch noch enorm viele Menschen, die hier zumindest Bruchstücke aus ihren Biographien wiederfinden können, geht es doch laut Untertitel um „Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter“.

In etlichen eingehenden Gesprächen mit Zeitzeug(inn)en hat Sabine Bode die Historie sondiert. Es zeigt sich dabei immer wieder, wie sehr die seelische Innenausstattung einer bestimmten Epoche beileibe nicht nur persönliche, sondern zu großen Teilen eine kollektive Angelegenheit ist. Da ist eine ganze Generation im Schatten vielfach tyrannischer Väter aufgewachsen, die an der Kriegsfront höchstwahrscheinlich schwerste Schuld auf sich geladen haben, aber nie davon zu sprechen wagten.

Es sind charakteristische Jahre und Sozialtypen, deren Umrisse hier auftauchen; zutiefst widersprüchliche, innerlich zerrissene Väter, verbissen, verschwiegen und im Familienkreis auf ungemein pedantische Weise herrschsüchtig. Ja, arme Teufel waren sie natürlich auch. Irgendwie.

Man hatte diesen Männern die Jugend gestohlen und sie schickten sich ihrerseits an, ihrem Nachwuchs in grässlich verdrucksten Friedenszeiten die Kindheit zu versauen und so manche Freuden auszutreiben – mit willkürlichen Prügelstrafen und aller sonstigen Gewalt, die seinerzeit wie selbstverständlich dazugehörte.

Man lese als Ergänzung nur die üblen „Erziehungs“-Ratgeber von damals, die teilweise schon aus finsteren Zeiten stammten. Demnach waren etwa Jungen zur Härte abzurichten, indem man sie schon in frühester Kindheit lange allein vor sich hin schreien ließ. Man liest es heute noch mit kaltem Zorn.

Von manchen Vorfällen weiß ich auch selbst zu sagen, wie so viele andere Gleichaltrige: Mein Vater hatte sich als 17jähriger freiwillig an die russische Front gemeldet. Was er in und um Smolensk getan hat, blieb für mich allzeit im Dunkeln. Gegen Ende seines Lebens haben ihn die schrecklichen „Stahlgewitter“ noch einmal merklich durchzittert.

Eine abstruse Wutfigur, die ganz ähnlich auch in Sabine Bodes Buch vorkommt, war jene abgründig aggressive Spielart seines nachträglichen „Pazifismus“. Im Originalton hörte sich das so an: „Wenn du zur Bundeswehr gehst, schlag’ ich dich tot.“ Wortwörtlicher Wahnwitz. Andererseits erstaunlich, wie wenig Fotos und Dokumente aus seiner Soldatenzeit vorliegen. Was hat er verloren, was hat er vernichtet?

Im Buch wird übrigens eine Behörden-Quelle genannt, bei der man womöglich nähere Einzelheiten über die Kriegseinsätze der Väter erfahren kann, nämlich die Wehrmachtsauskunftsstelle WASt. Wer will, ziehe Erkundigungen ein.

Sabine Bode, selbst vom Jahrgang 1947, hat sich derart einlässlich in ihre Themen vertieft, dass sie als gute Zuhörerin weit über bloße Betroffenheitsliteratur hinaus gelangt. Hier wird sichtbar, was eine Generation überhaupt ausmacht. Viele Kinder reagierten insgeheim mit schmerzlichen Selbstvorwürfen auf das Geheimleben ihrer Väter, während die Mütter meist wegsahen und sich in Verdrängung oder Beschwichtigung übten. Sie kümmerten sich halt ums Alltägliche.

Welch eine stickige, verlogene, verbogene Zeit – diese 50er Jahre. Und welch unerlöste Lebensläufe zuhauf. Wie überaus harmlos muten hingegen spätere Altersgruppierungen wie etwa die „Generation Golf“ an.

Es mag stimmen, dass im Zuschnitt der Nachkriegsgeneration auch Erklärungsansätze für das Phänomen der fast durchweg links gewendeten Nach-„68er“ liegen.

Allerdings erhebt sich auch die Frage, wie wir damit umgegangen wären, hätten wir von unseren Vätern direkt und unverblümt die volle Wucht der Wahrheit erfahren, hätten wir also konkret von Erschießungen oder Vergewaltigungen gehört. Vielleicht wollten wir – im Vollgefühl moralischer Überlegenheit – nur halbwegs hartnäckig gefragt haben, aber dann lieber doch nicht alles wissen? Hätten wir als Kinder von Mördern Frieden mit unseren Eltern und mit uns selbst schließen können? Die ganze Republik wäre eine andere gewesen…

Es klingt plausibel, dass die Nachkriegskinder oft erst im höheren Alter gleichsam hinterrücks noch einmal von den Lebensdramen ihrer Eltern eingeholt werden. Sie haben sich eingeredet, dass man als Erwachsener irgendwann mit seinen Altvorderen im Reinen zu sein hat. Doch weit gefehlt.

Sabine Bode: „Nachkriegskinder. Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter“. Verlag Klett-Cotta, 302 Seiten. 19,95 Euro.




Niemals fertig ist die Kunst: Bilder von Arnulf Rainer in Ahlen

Arnulf Rainer in Ahlen? Da möchte man beinahe im kernigen Wildwest-Tonfall sagen: „Dieser Name ist zu groß für diese Stadt“.

Doch tatsächlich: Der Künstler von einigem Weltruhm (documenta- und Biennale-Teilnahmen, Retrospektive im New Yorker Guggenheim Museum usw.) ist jetzt mit fast 100 Arbeiten in der westfälischen Kunstprovinz zwischen Ruhrgebiet und Münsterland gegenwärtig. Das ist durchaus wörtlich zu verstehen – im Sinne einer erhöhten Präsenz.

Arnulf Rainer: Rosa Übermalung, 1959/60 (© Atelier Arnulf Rainer Foto: Robert Zahornicky © VG Bild-Kunst, Bonn 2015)

Arnulf Rainer: Rosa Übermalung, 1959/60
(© Atelier Arnulf Rainer
Foto: Robert Zahornicky © VG Bild-Kunst, Bonn 2015)

Manchmal gibt es solche glückhaften äußeren Umstände: Da stammt mit Andreas Dombret ein veritabler Bundesbank-Vorstand und engagierter Kunstsammler just aus Ahlen. Er wiederum kennt Rüdiger Andorfer, den Geschäftsführer des Arnulf Rainer Museums in des Künstlers Geburtsort Baden bei Wien. Also werden Kontakte kreuz und quer geknüpft. Und so kann Ahlens Museumsleiter Burkhard Leismann jetzt eine Ausstellung präsentieren, die auch Anreisen lohnt.

Der konzentrierte Querschnitt durchs riesenhaft angewachsene Lebenswerk lässt einige wesentliche Merkmale dieses speziellen Schaffens hervortreten. Der mittlerweile 85jährige Österreicher Arnulf Rainer, der Kunstakademien zumeist schon nach wenigen Tagen fluchtartig verließ, wurde im Lauf der vielen Jahre besonders mit zahllosen Übermalungen bekannt. Er hat eigene und fremde Bilder übermalt, aber auch wertvolle Bücher. Kleingeister haben ihm das ankreiden wollen. Doch das ist lange her.

Arnulf Rainer: GRABES FURCHT, 1973 ( Tusche, Ölkreide, Öl auf Fotografie) (© Atelier Arnulf Rainer Foto: Robert Zahornicky © VG Bild-Kunst, Bonn 2015)

Arnulf Rainer: GRABES FURCHT, 1973 ( Tusche, Ölkreide, Öl auf Fotografie)
(© Atelier Arnulf Rainer
Foto: Robert Zahornicky © VG Bild-Kunst, Bonn 2015)

Arnulf Rainer ist ein Künstler, der im Grunde kein „fertiges“ Werk kennt. Immer weiter und weiter geht der Schaffensprozess – oftmals eben durch die Negation (oder erneute Anverwandlung) vorhandener Arbeiten hindurch. Fast schon wieder erstaunlich, dass dabei doch etliche abgeschlossene Werke entstanden sind, und zwar so zahlreich, dass preisbewusste Galeristen ob der Fülle schon wieder unruhig werden…

Ein Katalog kann schwerlich wiedergeben, was hier geschieht. Die Bilder (malerische Werke, Arbeiten auf Papier, Foto-Bearbeitungen) sind so ersichtlich den lebendig sich fortzeugenden Augenblicken abgewonnen und abgerungen, dass sich dies alles letztlich nicht stillstellen lässt. Hier fließen energetische Ströme noch und noch. Zuweilen umwölken die Liniengespinste Gesichter, als nähmen geheimste Gedanken und Gefühle Form an.

Arnulf Rainer: Teneriffa Kreuz, 2009, Acryl auf Papier (© Atelier Arnulf Rainer. Foto: Robert Zahornicky © VG Bild-Kunst, Bonn 2015)

Arnulf Rainer: Teneriffa Kreuz, 2009, Acryl auf Papier (© Atelier Arnulf Rainer. Foto: Robert Zahornicky © VG Bild-Kunst, Bonn 2015)

Ja, wer weiß: Vielleicht kommt der immer noch wie besessen produktive Arnulf Rainer – trotz gesundheitlicher Begrenzungen des Alters – eines Tages abermals auf frühere Bilder zurück, um sie noch einmal von Grund auf neu zu schaffen. Zumindest ist es denkbar. Hingegen mag man sich gar nicht ausmalen, wie es aussähe, wenn etwa deutlich minder begnadete Künstler seine Verfahrensweisen nachahmen wollten.

Zu Beginn des Ahlener Rundgangs sieht man Arbeiten aus den späten 40er und frühen 50er Jahren, die noch von surrealistischen Anwandlungen geprägt sind. 1951 hatte Rainer, gemeinsam mit Maria Lassnig, den Surrealisten-Altvorderen André Breton in Paris besucht, war allerdings enttäuscht von dessen gedanklicher Erstarrung. Eigene Wege waren ratsam.

Die surrealistischen Impulse ließ er also hinter sich. Phasenweise geradezu explosiv, setzt eine entschiedene, radikale Reduzierung der Formensprache ein, die bis ins feinste Geäder einzelner Linien reicht oder schwärze Flächen gebiert. Man mag das dem zeitgenössischen Informel zurechnen, doch geht es nicht in derlei Bezeichnungen auf. Aber natürlich gehört Arnulf Rainer trotz aller Einzelkönnerschaft mit einigen Fasern auch zur bewegten Kunstszene Österreichs, die sich zumal in den 60ern in wildwüchsigen Trieben erging.

Arnulf Rainer: Ohne Titel, 2009. Leimfarbe auf Leinwand auf Holz (© Atelier Arnulf Rainer - Foto: Robert Zahornicky © VG Bild-Kunst, Bonn 2015)

Arnulf Rainer: Ohne Titel, 2009. Leimfarbe auf Leinwand auf Holz (© Atelier Arnulf Rainer – Foto: Robert Zahornicky © VG Bild-Kunst, Bonn 2015)

Arnulf Rainer arbeitet vorwiegend seriell. Nie stellt er nur ein einziges Bild auf die Staffelei. Gleichzeitig sind dreißig, vierzig oder mehr Schöpfungen in Arbeit, in fortwährender Umformung, Verwandlung und Verdichtung begriffen.

Es ist, als arbeite dieser Künstler vollends „aus sich selbst heraus“, so nah am Ursprung der Empfindungen scheinen seine Kreationen zu sein. Hier walten keine Konzepte, hier geht es sogleich ins Einzelne – und niemand weiß, wohin das alles führen kann. Solche Bilder können auch schon mal roh wirken, naturhaft schrundig im Geiste der Art brut, die Rainer schon früh gesammelt hat.

Die Bilder aus seinem Hiroshima-Zyklus lassen den atomaren Schrecken Gestalt annehmen wie nur irgend möglich. Es sind mahnende Bilder, die freilich keine Mahnung im Sinn haben. Und somit umso dringlicher.

Ebenfalls ungemein intensiv geraten die aus Büchern entnommenen und übermalten Künstlerbildnisse, beispielsweise ausschnitthafte Porträts von Rembrandt und Van Gogh. Hier kommt das (nicht selten düstere) Seherische im Künstlerischen auf einen visuellen Begriff.

Grandios auch die Kreuzbilder, ein weiterer Schwerpunkt in Rainers Oeuvre. Bis in die jüngste Werkphase führen einige „Teneriffa-Kreuze“, wie sie Rainer in seinem Winteratelier auf den Kanaren geschaffen hat. Die Kreuze nehmen – nach menschlichem Maß – Kraft- und Energielinien derart feinfühlig auf, dass sie zu flirren scheinen wie eine sonst unsichtbare vitale Urkraft. Eigentlich kein Wunder, dass Rainer auch Ehrungen theologischer Fakultäten zuteil wurden. Man könnte ja gläubig werden vor solchen Schöpfungen.

Arnulf Rainer. Malerei, Arbeiten auf Papier. Sonntag, 15. Februar (Eröffnung 11 Uhr), bis zum 26. April 2015. Kunstmuseum Ahlen, Museumsplatz 1/Weststraße 98. Di-Fr 14-18 Uhr, Sa/So, Feiertage 11-18 Uhr. Tageskarte 6 (ermäßigt 4,50) Euro. Katalog 29 Euro. Weitere Infos: www.kunstmuseum-ahlen.de




Kunst als ewiger Kreislauf: Bilder von Friedensreich Hundertwasser in Hagen

Man ist beileibe kein Prophet, wenn man dieser Ausstellung ganz profan einen zählbaren Erfolg vorhersagt. Hundertwasser „zieht“ immer. Sicherlich auch in Hagen.

Tayfun Belgin, Leiter des Hagener Osthaus Museums, wo jetzt rund 130 Arbeiten aller Schaffensphasen des Friedensreich Hundertwasser (1928-2000) zu sehen sind, hofft auf rund 60000 Besucher – plus X. Dann wäre man mit der kostspieligen Schau auch finanziell „im grünen Bereich“.

Friedensreich Hundertwasser: Blackmister Sky (1975), Mixed media (© 2015 NAMIDA AG Glarus, Schweiz)

Friedensreich Hundertwasser: Blackmister Sky (1975), Mixed media (© 2015 NAMIDA AG Glarus, Schweiz)

Hagen genießt übrigens nicht zuletzt deshalb den Vorzug, die Ausstellung im Verein mit der Hundertwasser Stiftung und „Die Galerie“ (Frankfurt) auszurichten, weil im Osthaus Museum schon 1964 ein wichtige Hundertwasser-Wanderschau zu sehen war, die seinerzeit auch in Hannover, Amsterdam, Bern, Stockholm und Wien gastierte und den endgültigen Durchbruch für diesen Künstler bedeutete. Damals erwarb das Osthaus Museum das Hundertwasser-Bild „Der Traum des toten Indianers“.

Doch jetzt mal abgesehen vom Zahlenwerk und historischen Reminiszenzen. Was fruchtet eine Werkschau dieses Künstlers heute? Wirkt er noch weiter? Erfährt man etwas, was man noch nicht geahnt hat?

Nun, immerhin wird einem abermals die außerordentliche Leuchtkraft seiner Bilder vor Augen geführt. Sie kommen einem buchstäblich entgegen, sitzen sie doch nicht direkt auf den Wänden, sondern rund zehn bis zwölf Zentimeter davor. Zudem sind diese Wände in dezenten Farben gehalten (Blau, Violett, Anthrazit, Grün), so dass all die mäandernden Linien der bildnerischen Traumwelten umso mehr hervortreten. Im Katalog (24,90 Euro) sieht man die Farbenspiele vor pechschwarzem Hintergrund, was einen ähnlichen Kontrast-Effekt zeitigt.

Wenige Beispiele aus dem Frühwerk zeigen, dass auch Hundertwasser einmal ganz konventionell begonnen hat. Doch wurde er gerade kein Akadamiekünstler, sondern schritt auf autodidaktischen Pfaden in seinen ganz eigenen Kosmos, in dem es allzeit wächst und wuchert, spiralförmig sprießend, schier endlos in sich selbst versponnen, geradezu kindlich bunt fabulierend.

Friedensreich Hundertwasser: "Der Traum des toten Indianers" (1964), Mixed media (© 2015 NAMIDA AG Glarus, Schweiz / Fotografie: Achim Kukulies)

Friedensreich Hundertwasser: „Der Traum des toten Indianers“ (1964), Mixed media (© 2015 NAMIDA AG Glarus, Schweiz / Fotografie: Achim Kukulies)

Irgendwann hat der gebürtige Wiener mit bürgerlichem Namen Friedrich Stowasser sich beherzt entschieden, die fortwährende Hetzjagd nach Neuem nicht mehr mitzumachen, die die westliche Avantgarde über viele Jahrzehnte prägte. Die als Lehrmeisterin verehrte Natur ist nicht pfeilförmig in die Zukunft gerichtet, sondern ein Kreislauf. Wachstum ist deshalb nicht mit Beschleunigung und Entgrenzung verbunden, sondern mit einem ewigen Wechselspiel aus Blüte und Vergehen. Schon im Diesseits soll der Paradiesgarten gedeihen.

Um das Jahr 1953 hatte Hundertwasser seine unverwechselbare, heute weltweit bekannte Formensprache entwickelt, die zuweilen manisch oder gar in milder Weise wahnhaft wirkt. Und schon in den 1960er Jahren ist Hundertwasser zum Vordenker und „Vorfühler“ ökologischer Bewegungen geworden. Also wollte er mit seinem Schaffen, das alsbald auch in architektonischen Visionen (in der Ausstellung mit staunenswerten Modellen präsent) Gestalt annahm, ins Leben hinein wirken – mit womöglich heilsamer Schönheit. Hagen zeigt auch Beispiele für angewandte Kunst. Eine Installation zur Wasserreinigung und eine zur erweiterten Nutzung von „Scheiße“ treiben die Kunst-Ökologie auf fast schon bizarre Art weiter.

Ein markantes Zitat prangt in Hagen auf einer Wand: „Die optische Umweltverschmutzung ist die gefährlichste, weil sie die Seele des Menschen tötet.“ Meiner Treu, da ist etwas dran, wenn auch der Satz beileibe nicht allerklärend ist und eine Spur zu idealistisch klingt.

Wer will, mag sich – gleichsam meditativ – in diese Bilder versenken oder auch speziellen Hinweisen nachgehen, die sich etwa auf die zahlreichen Zwiebeltürme in Hundertwassers Werk beziehen. Scheinen hier Anregungen aus dem orthodoxen Christentum zu walten, so finden sich anderwärts auch Bauformen, die an Moscheen erinnern. Müßig ist’s, aus heutiger Sicht etwas hineinzudeuten.

Tatsächlich ersehnte Hundertwasser eine friedliche Koexistenz der Weltreligionen, was auch eine von ihm gestaltete Fahne mit grünem Halbmond und blauem Davidsstern belegt. Allerdings regiert in diesem Werk vielfach auch wohlfeile Harmonie, bei der kaum noch etwas wie erkämpft und errungen wirkt.

Mit etwas bösem Willen könnte man weite Teile von Hundertwassers Oeuvre als quirlig farbstarkes Einerlei bezeichnen. Er schreitet den einmal gefundenen Formenkanon mit endlosen Variationen bis zur Erschöpfung aus.

Mit der Zeit wirkt das übersättigend oder auch bloß noch kraftlos dekorativ. Dann ist man zuweilen geneigt, Hundertwasser allenfalls für einen liebenswerten Spinner zu halten. Doch man sollte ihn nicht vorschnell gänzlich abtun. Dieser asketische Weltverbesserer musste seine schöpferische Energie wohl just so und nicht anders in solche Lebenslinien strömen lassen. Damit wir ein für allemal ein Beispiel haben.

Hundertwasser. Lebenslinien. Osthaus Museum, Hagen, Museumsplatz 1 (Navigation: Hochstraße 73). 1. Februar bis 10. Mai 2015. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 9 Euro (ermäßigt 3 Euro), Kinder unter 6 Jahren gratis. Weitere Infos: www.osthausmuseum.de




Zwei Jahre nach dem Ende der Rundschau – beängstigende Zeiten für den Journalismus

Jetzt ist es auf den Tag genau zwei Jahre her: Am 15. Januar 2013 wurde die Entscheidung der WAZ-Gruppe (heute Funke-Gruppe) verkündet, die Redaktion der Westfälischen Rundschau komplett zu entlassen.

Damit war die Geschichte der Zeitung faktisch beendet, obwohl sie phantomhaft mit Fremdinhalten weiter erscheint. Bis heute ist dies ein singulärer Vorgang in der bundesdeutschen Pressegeschichte. An manchen Ecken und Enden der Republik haben Verleger, Investoren und Profiteure seither Redaktionen und/oder Etats verkleinert. Aber so unvergesslich rabiat wie vor zwei Jahren in Dortmund ist man noch nirgendwo vorgegangen; wenn wir mal nur von Personalpolitik sprechen.

Leerer Newsdesk der Westfälischen Rundschau in Dortmund im November 2008. (Foto: Bernd Berke)

Leerer Newsdesk der Westfälischen Rundschau in Dortmund im November 2008. (Foto: Bernd Berke)

Seit jenen Tagen hat sich allerdings das Umfeld in beängstigender Weise verändert.

Den zwischenzeitlich immer lauter gewordenen Schreihälsen, die in Bausch und Bogen eine angebliche „Lügenpresse“ (bekanntlich das Unwort des Jahres 2014) verunglimpfen, sind Entlassungen in Redaktionen gewiss egal – oder sie jubeln noch darüber. Aber wehe, wenn eine Mehrheit ihrer dumpfen Auffassung folgen würde… Dann gäbe es irgendwann nur noch die eine Meinung zu lesen. Wie in Diktaturen mancher Couleur üblich. Auch in diesem Sinne bedeutet nahezu jede Zeitung, die vom Markt verschwindet, einen Verlust.

Von der existenziellen Bedrohung, bei der es an Leib und Leben geht, gar nicht zu reden. Wir haben jüngst so furchtbar viel davon hören müssen.

Journalismus war einmal ein Beruf mit traumhaften Seiten, den man – frei nach Kurt Tucholsky – lässig mit der Zigarette im Mundwinkel ausüben konnte und musste. Damals folgte der finsterste Alptraum. Und heute würde man auch wahrlich nicht nur vor dem begleitenden Tabakgenuss warnen wollen.




Bedrohlich flackernder Faschismus: Dortmunder „Tatort“ zur Neonazi-Szene

Das dürfte jetzt feststehen: Dortmund ist – glaubt man den Fernsehbildern – derzeit die abgefuckteste und desolateste „Tatort“-Stadt. Doch zugleich entstehen hier mit die stärksten und dringlichsten Krimis der Reihe.

Der heutige Fall (Untertitel: „Hydra“) rankte sich um den Mord an einem stadtbekannten Rechtsradikalen, somit auch um die örtliche Neonazi-Szene und deren fatale Querverbindungen ins Polizeipräsidium und zu anderen staatlichen Stellen.

Kommissar Faber (Jörg Hartmann, li.) befragt im früheren Stahlwerk einen Obdachlosen (Michael Witte). (Foto: WDR/Thomas Kost)

Kommissar Faber (Jörg Hartmann, li.) befragt im früheren Stahlwerk einen Obdachlosen (Michael Witte). (Foto: WDR/Thomas Kost)

Im Kern ging es nicht zuletzt um die latente oder gar manifeste Nähe des Faschismus zur so genannten „Normalität“ und Alltäglichkeit. Springerstiefel und Baseballschläger sind nur ein kleiner Ausschnitt der Wirklichkeit. Man muss viel genauer hinsehen. Eben dies versuchte dieser „Tatort“ auf beklemmende Weise. Sichtbar wie Wunden wurden einige flackernde Ambilvalenzen und Widersprüche des Themas.

Dabei kamen etliche, vielfach mehrdeutige Nuancen in den Blick: Ein Anfangsverdacht richtete sich gegen eine Antifa-Beraterin jüdischen Glaubens. Ein Rechtsextremer zeigte sich juristisch und sprachlich gewieft. Einige Fußball-„Fans“ bewegten sich in bedenklichen Grauzonenen oder übleren Gefilden. Und immer wieder dieses gleichgültige Wegsehen…

All das drohte bisweilen unübersichtlich zu werden – ganz wie im richtigen Leben. Fast nichts wurde ausgespart, also blieb den Zuschauern kaum etwas erspart; auch nicht der feige, demütigende Überfall auf die deutsch-türkische Polizistin Dalay (Aylin Tezel).

Natürlich war das Ganze dramaturgisch modelliert, doch es bewegte sich überwiegend wohl auch verflucht nah an der Realität.

Kommissar Faber (Jörg Hartmann) hat sich unterdessen längst zur Fachkraft für allerlei Abgründigkeiten entwickelt, er genießt eine Art Autorität bei allen Verzweifelten, bei „denen da unten“. Er selbst ist ja so eine arme Seele.

Man kann es nur mit drastischen Worten sagen: Ansonsten bleibt Faber der Kotzbrocken (wahlweise: das Arschloch), dem auch und gerade die Kolleg(inn)en am liebsten mal die Fresse polieren würden. In seiner Abteilung herrscht ein Scheißklima. Doch gerade, weil sie sich keinerlei Illusionen machen, sind sie dem Verbrechen ebenbürtig. Mindestens.




Kurz und abgeschmackt: der ARD-„Brennpunkt“ über den Anschlag in Paris

Das war wirklich ausgesprochen dürftig: Die ARD hat heute ab 20:15 Uhr einen gerade mal 17 Minuten langen „Brennpunkt“ zum ruchlosen Anschlag auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ erübrigt. Mit mancher mittelschweren Wetterkapriole hat man sich schon länger aufgehalten.

Oben rechts befindet sich der Ausschaltknopf. (Foto: BB)

Oben rechts befindet sich der Ausschaltknopf. (Foto: BB)

Schlimmer noch: Der Einstieg war ungemein abgeschmackt. Moderator Markus Preiss, bis vor kurzem noch selbst in Paris eingesetzt, hielt es für nötig, uns den Schrecken des Attentats vor Augen zu führen, indem er salbungsvoll sagte, Paris sei ja sonst für das Schöne im Leben bekannt: für die Liebe, für Kunst, für gutes Essen… Man bewundere den Eiffelturm und manche andere Sehenswürdigkeit, doch heute…

Ja, ist es denn zu fassen? Wie fühllos können Fernsehleute sein, die solche erbärmlichen Texte hinfetzen?

Schon die ersten Sätze der Sendung waren abgründig. Moderator Preiss behauptete, man habe lange überlegt, ob man diesen Untertitel (hinter ihm eingeblendet: „Blutbad in Paris“) nehmen sollte. Aber dann habe man sich dafür entschieden. Soll man wirklich glauben, dass über die Wortwahl lange diskutiert worden ist? Die Schlagzeile klingt jedenfalls nach Schublade und nach kläglicher Katastrophen-Routine. Und so war die Sendung dann auch.

Gebührenwerte Grundversorgung geht irgendwie anders.




Guten Rutsch…

Alles Gute zum neuen Jahr

wünscht das Team der Revierpassagen

(Foto: Bernd Berke)

(Foto: Bernd Berke)




TV-Nostalgie (34): Clemens Wilmenrod – Meister der köstlichen Übertreibung

Clemens Wilmerod bittet zu Tisch. (Screenshot aus: https://www.youtube.com/watch?v=f1PnIx32O28)

Clemens Wilmenrod bittet zu Tisch. (Screenshot aus: https://www.youtube.com/watch?v=f1PnIx32O28)

Der Mann war kein Koch, er gestaltete aber die wohl erfolgreichste deutsche Kochsendung, die zum Vorläufer aller späteren kulinarischen Shows wurde. Dieser Clemens Wilmenrod (1906-1967) war eine schillernde, um nicht zu sagen flunkernde Figur.

Von Haus aus Theater- und Filmschauspieler, brachte es der aus dem Westerwald stammende Wilmenrod (bürgerlich: Carl Clemens Hahn) von 1953 bis 1964 auf immerhin 185 Sendungen. Wenn er beispielsweise Kabeljau zubereitete, so heißt es, sei dieser Fisch anderntags überall im Nu ausverkauft gewesen.

Drama um gefüllte Erdbeeren

Seinen ursprünglichen Beruf konnte er nicht verleugnen. Wahrhaft theatralisch präsentierte er die meist ziemlich simplen Rezepte. Legendär wurde sein melodramatischer Auftritt mit gefüllten Erdbeeren. Er zog den Stiel heraus und schob in den so entstandenen „entzückenden kleinen Hohlraum“ (Originalton) schlichtweg je eine Mandel. Wenn’s mehr nicht ist…

Doch dann kam’s: Er setzte sich vor laufender Kamera ein scharfes Messer an die Brust und gelobte, „dieses blitzende Ding in mein armes Herz hinein fahren“ zu lassen, wenn jemand nachweise, dass nicht er, Wilmenrod, die gefüllte Erdbeere erfunden habe… So ein Filou, so ein Hasardeur, so ein lukullischer Hochstapler, hätte man in solchen Momenten denken können. Tatsächlich gilt er als Erfinder eines Klassikers der 50er Jahre: Toast Hawaii genießt bis heute einen (längst ironisch gefärbten) Kultstatus.

Theatralische Gesten

Mit großer Geste schnitt der Charmeur Zwiebeln oder streute Gewürze über Fleisch und Salate. Die geduldigen Zuschauerinnen (Frauen bildeten damals bei weitem die Mehrheit) sahen praktisch jeden einzelnen Arbeitsgang in voller Länge. Dazu gab es teilweise hanebüchene, wenngleich unterhaltsame Geschichten.

Wilmrenrod gab sich gern weltläufig und konnte im sonoren Brustton der Überzeugung erzählen, dass sich die Esstische bogen. Derweil verwendete er für seine „Kreationen“ häufig Dosengemüse und Fertigsaucen. Gourmets wenden sich mit Grausen ab.

Frühe Schleichwerbung

Er war ein Meister der köstlichen Übertreibungen. Was er „Arabisches Reiterfleisch“ nannte, waren im Grunde Frikadellen. Panierte Schnitzel firmierten als „Venezianischer Weihnachtsschmaus“. Nun, in den frühen Fernsehjahren der Republik waren die Leute noch nicht so anspruchsvoll. Man konnte ihnen noch leichthändig etwas vormachen. Anfangs begrüßte Wilmenrod die Zuschauer(innen) mit dem ölig triefenden Spruch „Ihr lieben, goldigen Menschen“.

Der ungemein populäre Wilmenrod, der selbstbewusst das eigene Porträt auf der Kochschürze trug, erlag auch den Versuchungen des damals noch neuen Phänomens der „Schleichwerbung“. Reichlich ungeniert nannte er beim Kochen Markennamen. Als eines Tages sein Konterfei auf Fischdosen gezeigt wurde, gab’s einen tosenden Skandal – inklusive Titelgeschichte im „Spiegel“.

Wilmenrod, dessen Leben vom NDR fürs Fernsehen verfilmt wurde (Erstausstrahlung 2009), hat sich mit 60 Jahren in einer Münchner Klinik das Leben genommen, als er von seiner Magenkrebs-Diagnose erfuhr. Tragisches Ende eines Mannes, der vor der Kamera stets zum Tändeln neigte.

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Wilmenrod und die Erdbeere:

 

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Vorherige Beiträge zur Reihe:

“Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” (5), “Der Kommissar” (6), “Beat Club” (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10), Loriot (11), “Kir Royal” (12), “Stahlnetz” (13), “Kojak” (14), “Was bin ich?” (15), Dieter Hildebrandt (16), “Wünsch Dir was” (17), Ernst Huberty (18), Werner Höfers “Frühschoppen” (19), Peter Frankenfeld (20), “Columbo” (21), “Ein Herz und eine Seele” (22), Dieter Kürten in “Das aktuelle Sportstudio” (23), “Der große Bellheim” (24), “Am laufenden Band” mit Rudi Carrell (25), “Dalli Dalli” mit Hans Rosenthal (26), “Auf der Flucht” (27), “Der goldene Schuß” mit Lou van Burg (28), Ohnsorg-Theater (29), HB-Männchen (30), “Lassie” (31), “Ein Platz für Tiere” mit Bernhard Grzimek (32), „Wetten, dass…?“ mit Frank Elstner (33)

“Man braucht zum Neuen, das überall an einem zerrt, viele alte Gegengewichte.” (Elias Canetti)




Borussia Dortmund und die Sehnsucht nach dem gefestigten Mittelmaß

Hält man es mit Borussia Dortmund, so leidet man seit Wochen und Monaten – wie eigentlich noch nie in den letzten Jahrzehnten. Und das nach all den Freuden und Erfolgen der vorherigen Spielzeiten…

Gewiss, es gibt weitaus Wichtigeres als den Fußball. Geschenkt. Und klar, man kann das alles – vor allem von außen her – hochkomisch, süffisant oder hämisch betrachten. Doch verkennt man dann, was Fußball in Dortmund bedeutet, nämlich mehr als in jeder anderen deutschen Stadt, Gelsenkirchen wohl inbegriffen. Dort kommen, schon geographisch bedingt, prozentual mehr Fans aus angrenzenden Städten. Egal.

Bayerns onanistische Meisterschaft

Hat man anfangs noch meinen können, die Misere der Borussia liege vor allem an der mangelnden Chancenverwertung, also am Glücksfaktor, so muss man sich längst eingestehen, dass derzeit beim BVB richtig schlechter, ja zuweilen schon erbärmlicher und wahrhaftig abstiegswürdiger Fußball praktiziert wird, und zwar schlimmstenfalls vom gesamten Team. Sind das wirklich dieselben Spieler, die vor nicht allzu langer Zeit als Rivalen der Bayern gegolten haben? Die Münchner werden diesmal auf geradezu onanistische Weise die Meisterschaft einfahren.

Alles Krisengerede "für umme"? Schön wär's ja. (Foto: Bernd Berke)

Alles Krisengerede „für umme“? Schön wär’s ja. (Foto: Bernd Berke)

Nach und nach sind die vormals Verletzten zurückgekehrt, Nationalspieler zuhauf und auch ein paar – nun ja – „Weltmeister“. Doch die damit verbundene Hoffnung hat getrogen. Es hat sich nichts Grundlegendes geändert. Hie und da ein paar lichte Momente. Dann wieder Finsternis. Da kenne sich noch einer aus. Selbst die Fachleute in den Sportredaktionen rätseln hin und her.

Willkommene Winterpause

Wie gut, dass jetzt wenigstens Winterpause ist. Endlich Erholung vom wirkungslosen Gekicke. Heute haben die Dortmunder sogar noch Dusel gehabt, dass die Freiburger nur remis gespielt haben. So liegt der BVB „lediglich“ auf dem Abstiegsplatz 17 – mit hauchdünnem Ein-Tores-Vorsprung auf den allerletzten Rang. Doch wird man ab Ende Januar erleben, dass der BVB plötzlich wie Phoenix aus der Asche steigt? Man wagt es zu bezweifeln. Die psychologischen Nachteile sind nicht gering.

Bei etlichen Spielen hatte man den Eindruck, die jeweiligen Widersacher könnten jederzeit einen Treffer erzielen, der BVB hingegen sei nie mehr wieder dazu in der Lage. Vielfach fallen die Gegentore auf derart surreale, groteske und absurde Weise, als sei da ein teuflisches Verhängnis im Spiel. Auch in der Champions League, deren Verlauf zunächst Auftrieb verhieß, ging es nach und nach bergab. Die Krise kristallisiert und verfestigt sich.

Sie haben die „Seuche“

Sie haben die „Seuche“, wie man so sagt. Liegt die Mannschaft einmal hinten, bleibt es in aller Regel auch dabei. Die Angst vor Fehlern bringt Fehler hervor. Es scheint den unbegreiflich Verzagten schier unmöglich zu sein, sich einmal entscheidend aufzuraffen und ein Spiel in der Tendenz umzudrehen. In manchen Partien stimmt auch der bloße Einsatz nicht mehr durchweg, also das Mindestmaß dessen, was die Zuschauer erwarten dürfen. Die meisten von ihnen stehen dennoch nibelungentreu zum Verein. Noch immer kommen rund 80.000 zu den Heimspielen im Westfalenstadion. Eigentlich unglaublich.

Doch allmählich könnte die Stimmung kippen. Manche ertappen sich bei vielleicht gar nicht mehr so ketzerischen Gedankenspielen, die jetzt auch zunehmend in Online-Kommentarspalten Platz greifen: Demnach müsste jetzt schleunigst Trainer Jürgen Klopp das Feld räumen und in nobler Einsicht einem Nachfolger Platz machen. Aber wem nur? Mit Thomas Tuchel, dessen Name häufiger genannt wird, käme womöglich abermals einer, der vorher in Mainz war. Und was hieße das?

Wer glaubt noch an die Wende?

Tatsächlich nervt Klopps allwöchentlich neu angesetzte Mixtur aus Zerknirschung und Kampfansage. Erreicht er denn mit seinen Appellen die Spieler noch? Im Vergleich zu früher wirkt er an der Seitenlinie in gewissen Momenten hilflos und zuweilen resigniert, ja fast erloschen. Glaubt er wirklich selbst noch an eine Wende?

Doch was kann ein Trainer schon ausrichten, wenn die Spieler wieder und wieder so agieren wie seit Saisonbeginn? Es ist, als herrsche da eine ansteckende Bräsigkeit, die gar zu viele Mitstreiter erfasst. Wäre es da nicht besser, den einen oder anderen „Star“ (mit deutlich gesunkenem Marktwert) leichten Herzens ziehen zu lassen und auf einen Neubeginn mit Nachwuchsleuten zu setzen? Wollen wir über die Neueinkäufe der jüngeren Zeit reden? Nein, lieber nicht. Wollten sie uns nur eines Besseren belehren…

Kampfschweine für schmutzige Siege

Unterdessen wird hie und da der Zukauf weiterer Kräfte in der Winterpause gefordert. Ohne Anführungsstriche kommt man hier nicht aus: Die vom Erfolg verwöhnten, nicht mehr „hungrigen“, angeblichen „Schönwetter-Spieler“ sollen vorzugsweise durch „Arbeitstiere“ oder sogenannte „Kampfschweine“ ersetzt werden, die notfalls brachial zu Werke gehen, was man ja im Revier eh am meisten zu schätzen wisse.

Ach, ach! Und dabei hat der BVB in den letzten Jahren immer wieder just durch schönes, einfallsreiches Spiel begeistert. Und nun sollen, ja müssen statt der Ästhetik „schmutzige Siege“ her. Das tut schon sprachlich weh.

Die Leute mit (bislang) glanzvollen Namen werden ohnehin rasch das Weite suchen, wenn der BVB nicht mehr in der Champions League vertreten sein wird. Fast sehnt man sich schon nach ganz normalen Zeiten soliden, gefestigten Mittelmaßes mit Steigerungs-Potenzial. Wenn’s geht, dann aber bitte noch in der ersten Liga.

In diesem Sinne: Frohes Fest & Guten Rutsch – nur nicht zu tief!




Im Gartenglück schwelgen: Kat Menschiks Bilderbuch „Der goldene Grubber“

Seit Zeitschriften übers Landleben erstaunlich reüssieren, riskieren auch Buchverlage wieder öfter einschlägige Publikationen. In diesen Zusammenhang gehört letztlich wohl auch „Der goldene Grubber“, höchst ansprechend gestaltet von der Zeichnerin und Illustratorin Kat Menschik.

Grubber? Aber ja. Gemeint ist das unentbehrliche Gerät zum Umgraben hoffentlich fruchtbaren Bodens. Frau Menschik, vielfach tätig für die FAZ und zumal deren Sonntagszeitung, aber auch für ambitionierte Buchprojekte, stellt hier das an Leib und Seele selbst erfahrene Gartenglück quasi in Form einer Graphic Novel dar, also als gezeichneten „Roman“. Oder sagen wir Erzählung.

Auch Schattenseiten werden nicht verschwiegen. Der bezeichnende Untertitel lautet „Von Grossen Momenten und kleinen Niederlagen im Gartenjahr“. Perfektionisten werden auf diesem Felde immer mal wieder enttäuscht. Macht nichts. Unverdrossen auf ein Neues.

grubberIch bin so ziemlich das Gegenteil von einem Gartenexperten, doch hat dieses (von der Stiftung Buchkunst gepriesene) Buch mich rasch überzeugt und angesteckt. Im Inneren gibt es ein paar vielfarbige Seiten, doch das Gros der Bilder ist in dezentem Grünton gehalten und wird hauptsächlich von Versalien und Schreibschrift durchzogen; mal schön ordentlich, mal lustvoll wuchernd und mäandernd.

Vor lauter Euphorie hat man leider eine Paginierung (Seitenzahlen) „vergessen“, die beim Wiederauffinden von Lieblingsstellen helfen könnte. Aber was soll’s. Dann blättert man halt auf rund 300 Seiten ein wenig hin und her. Vergnügen bereitet es allemal.

Die Zeichnerin schwelgt in allerlei pflanzlichen Formen und tierischem Gewimmel, das sich im Umfeld des Gartens wie von selbst regt. Kat Menschiks freimütig eingestandener „Blumenkaufrausch“ (angeblich ein Muss: Phlox, Cosmea & etliche andere) erfasst nicht nur Frühblüher und Stauden, sondern auch Gemüse, Kräuter und Obstbäume, ja eigentlich alles, was gedeihen kann.

Vorwiegend an Wochenenden tobt sich Kat Menschik auf – man mag es kaum glauben – weitläufigen 4000 Quadratmetern Gartenfläche in Brandenburg aus, und zwar offenbar nahezu im Alleingang. Dabei kommt es schon mal vor, dass an einem Tag 11 Schubkarren mit Gartenabfällen weggeschafft werden müssen. Oder es gilt, 500 Krokus-Zwiebeln einzeln einzupflanzen…

Doch Erschöpfung und Genuss halten einander mindestens die Waage. Ist es auch manchmal beschwerlich, so sind es doch meist lohnende Mühen. Seite um Seite erfährt man, allen Widrigkeiten zum Trotz, dass im Garten das wahre Glück zu haben sei. Unkraut hin, Maulwürfe her.

Unterwegs fallen etliche praktische Hinweise aus dem Erfahrungsschatz der Gärtnerin und ihrer Freundinnen an. Schon mal über tote Fische als Tomatendünger nachgedacht? Schon mal erwogen, wie man ohne infernalischen Gestank (Brennnesselsud) die Blattlausplage bekämpfen kann? Schon mal Unmengen von Pflanztöpfen aus Zeitungspapier gebastelt?

In Kat Menschiks Gartenkosmos kommen einem die ungemein gefräßigen Nacktschnecken wie Horrorwesen vor. Dennoch: Keinesfalls, so die Autorin, solle man so barbarisch sein und diese Tiere mit Salz berieseln (dann lösen sie sich auf), sondern als milderes, leidlich wirksames Mittel Schneckenlinsen wählen. Ferner findet man Hinweise zur richtigen Ausrüstung ebenso wie Erwägungen zum Vogelhaus- und Baumhausbau, zum Gelingen ländlicher Festivitäten, zur Pilzsuche und überhaupt zu giftigen Pflanzen.

Gewiss: Der Frühling ist – wie man sich schon denken kann – die größte Offenbarung im gärtnerischen Jahreskreis. Doch auch alle anderen Zeiten haben ihre eigenen Reize, wie es sie in dieser Form hauptsächlich in Europa gibt. Ganz nebenbei gerät so die Hommage ans Wachsen und Blühen auch zum Loblied auf unsere Breiten. Warum nicht?

Schon Voltaire hatte im „Candide“ gegen all das kriegerische Weltweh die Rückzugs-Formel geprägt: „Il faut cultiver notre jardin“ – Wir müssen unseren Garten bestellen. Weise oder töricht? Jedenfalls ist’s eine Ur-Versuchung, wahrscheinlich schon seit dem Paradiesgarten.

Pat Menschik: „Der goldene Grubber“. Verlag Galiani, Berlin. 304 Seiten, Spezialformat 21 x 21 cm. Durchgehend illustriert. 34,99 Euro.




TV-Nostalgie (33): „Wetten, dass…?“ – mit Elstner fing alles an (und jetzt hört es auf)

Zugegeben: Eigentlich habe ich die Show gar nicht so oft gesehen, noch seltener in voller Länge. Trotzdem fand ich es immer irgendwie beruhigend, dass es so etwas wie „Wetten, dass…?“ noch gab.

Eine familiäre Sendung, die mindestens von der halben Nation gesehen wurde, war das etwa nichts? Heute bringen das nur noch ganz große Fußballpartien zuwege.

Einladende Geste: MOment aus der allerersten Ausgabe von "Wetten, dass...?" mit Frank Elstner vom 14. Februar 1981. (Screenshot aus: https://www.youtube.com/watch?v=jfCBKJI8R4M)

Einladende Geste: Moment aus der allerersten Ausgabe von „Wetten, dass…?“ mit Frank Elstner vom 14. Februar 1981. (Screenshot aus: https://www.youtube.com/watch?v=jfCBKJI8R4M)

Gigantische Quoten hat die ZDF-Wettshow allerdings schon längst nicht mehr erzielt. Vor einigen Wochen, am 4. Oktober, waren nur noch 5,48 Millionen Zuschauer dabei – abermals ein Minusrekord für den umstrittenen Showmaster Markus Lanz, der denn auch am kommenden Samstag, 13. Dezember, die allerletzte Ausgabe präsentieren wird.

Rekord mit über 23 Millionen Zuschauern

Das Sehverhalten seit der Premiere (14. Februar 1981) hat sich grundlegend verändert. Zu Zeiten von Frank Elstner, des Erfinders und ersten Moderators von „Wetten, dass…?“, saßen manchmal über 20 Millionen Zuschauer vor den Geräten, der absolute Rekord wurde am 9. Februar 1985 mit 23,42 Millionen Zuschauern aufgestellt. Als 1987 Thomas Gottschalk übernahm, blieb man meist auch bei über 60 Prozent Marktanteil.

Nach einem Intermezzo mit Wolfgang Lippert (1992/93) wurde erneut Thomas Gottschalk engagiert – von 1994 bis 2011. Er pflegte einen anderen, flotteren und frecheren, auch glanzvolleren Stil als der allzeit nette, betont seriöse Elstner. Manchmal streifte „Tommy“ die Grenzen des guten Geschmacks, er wusste das aber meist mit Charme zu überspielen.

Redlich und bescheiden

Wahre Fernseh-Nostalgiker erinnern sich vielleicht am allerliebsten an die Anfangszeiten mit Elstner. Der einstige Moderator von Radio Luxemburg („Die vier fröhlichen Wellen“) hatte sich die Sache ausgedacht und alles in Schwung gebracht. Daraus wurde die größte Show Europas.

Im Internet ist noch ein Ausschnitt aus der Premierensendung von „Wetten, dass…?“ greifbar (siehe Link in der Bildzeile). Schon im Februar 1981 hatte Frank Elstner die nicht allzu weltmännische Ausstrahlung eines redlichen Sachbearbeiters. Er war freilich eine Vertrauensperson, ging einfühlsam und anständig mit seinen Gästen um, gab sich bescheiden und profilierte sich nicht auf Kosten anderer. Das ist keine intellektuelle Offenbarung gewesen, doch durchaus aller Ehren wert.

…und was kommt danach?

Wir wollen hier nicht lang und breit über Einzelheiten aus fast 34 Jahren reden, über Saal-, Städte-, Kinder- und Buntstiftwetten. Doch muss man den schrecklichen Unfall von 2010, bei dem sich der damals 23jährige Student Samuel Koch schwer verletzte und seither gelähmt blieb, wenigstens erwähnen. Danach mochte Thomas Gottschalk nicht mehr weitermachen, als wäre nichts gewesen. Es war gewiss ein Anfang vom Ende der Show. Samuel Koch wird übrigens am Samstag Gast der letzten Ausgabe sein. Hoffentlich bringt man es ohne Peinlichkeit über die Bühne.

Statistiken aller Art kann man im Internet nachlesen – von der längsten Sendezeit-Überziehung (Gottschalk mit 73 Minuten) über die häufigsten Wettpaten (11 Mal Iris Berben, 8 Mal u. a. Boris Becker, Veronica Ferres, Til Schweiger) und Musikauftritte (17 Mal Peter Maffay, 15 Mal Udo Jürgens). Doch was besagt das schon über Wert und Wirkung dieser Sendung? Das, was da nachkommt, wird wohl schwerlich besser sein, oder?

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Vorherige Beiträge zur Reihe:

“Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” (5), “Der Kommissar” (6), “Beat Club” (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10), Loriot (11), “Kir Royal” (12), “Stahlnetz” (13), “Kojak” (14), “Was bin ich?” (15), Dieter Hildebrandt (16), “Wünsch Dir was” (17), Ernst Huberty (18), Werner Höfers “Frühschoppen” (19), Peter Frankenfeld (20), “Columbo” (21), “Ein Herz und eine Seele” (22), Dieter Kürten in “Das aktuelle Sportstudio” (23), “Der große Bellheim” (24), “Am laufenden Band” mit Rudi Carrell (25), “Dalli Dalli” mit Hans Rosenthal (26), “Auf der Flucht” (27), “Der goldene Schuß” mit Lou van Burg (28), Ohnsorg-Theater (29), HB-Männchen (30), “Lassie” (31), „Ein Platz für Tiere“ mit Bernhard Grzimek (32)

“Man braucht zum Neuen, das überall an einem zerrt, viele alte Gegengewichte.” (Elias Canetti)




TV-Nostalgie (32): Bernhard Grzimeks „Ein Platz für Tiere“ – Rituale der Possierlichkeit

Eigentlich hatten alle dauerhaften Fernseh-Erfolge mit erprobten Ritualen zu tun. So auch Bernhard Grzimeks „Ein Platz für Tiere“.

Die Sendung lief (ähnlich wie z. B. Robert Lembkes heiteres Beruferaten „Was bin ich?“) immer auf dieselbe, ungemein beruhigende Weise ab.

Schon die Begrüßung lautete stets gleich: „Guten Abend, meine lieben Freunde“, sagte Grzimek jeweils zu Beginn. Außerdem hatte er immer ein Tier aus dem Frankfurter Zoo mitgebracht, dessen Direktor er von 1945 bis 1974 gewesen ist.

Schlangen und Raubkatzen im Studio

Da die Sendung unter Live-Bedingungen entstand, gab es manchmal kleine Überraschungen, denn das Verhalten der Tiere war nicht immer vorhersehbar. Sie sprangen nicht nur unversehens über Grzimeks Tisch, sondern knabberten auch schon mal ein Sendemanuskript an oder nässten Grzimeks Jackett ein.

Gar nicht so gefährlich: Bernhard Grzimek und Gepard im TV-Studio. (Screenshot aus: https://www.youtube.com/watch?v=dvWD4MwkZrg)

Gar nicht so gefährlich: Bernhard Grzimek und Gepard im TV-Studio. (Screenshot aus: https://www.youtube.com/watch?v=dvWD4MwkZrg)

Ansonsten aber war die Sendung auch schon mal ein bisschen einschläfernd. Und im Grunde konnte man sich von Anfang an getrost entspannen. Selbst wenn Grzimek sich etwa eine Schlange um den Hals hängte oder einen Geparden mit ins Studio brachte, passierte nie etwas Schlimmes. Es gab höchstens ein paar putzige Vorfälle mit Affen oder Echsen. Der studierte Tierarzt und Verhaltensforscher hatte alles unter Kontrolle.

Anreize zur Parodie

Am 28. Oktober 1956 wurde die erste Folge der possierlichen (ein Grzimek-Lieblingswort) Reihe des Hessischen Rundfunks ausgestrahlt. Bis zum Beginn der 80er Jahre kamen rund 175 Ausgaben ins ARD-Programm. Produzent war übrigens Martin Jente, der gleichfalls legendäre und mit Ritualen vertraute „Butler“ aus Kulenkampffs Show „Einer wird gewinnen“.

So unverrückbar eingefahren waren alsbald die Abläufe, dass Grzimek zur Parodie reizte. Am berühmtesten wurde jene von Loriot, der mit typischer Mimik sowie charakteristisch nasaler Stimme einen täuschend echten Grzimek spielte und also solcher die gefräßige „Steinlaus“ vorstellte.

Zeitweise war Bernhard Grzimeks Rolle in der NS-Zeit umstritten. Als Regierungsrat im Reichsernährungsministerium und als Veterinär bei der Wehrmacht hat er jedoch offenbar keine besondere Schuld auf sich geladen.

Oscar für Serengeti-Film

Moralapostel haben sich über sein Privatleben empört. Grzimek zeugte uneheliche Kinder und heiratete 1978 in zweiter Ehe ausgerechnet eine vormalige Schwiegertochter, die Witwe seinen verstorbenen Sohnes Michael. Doch das sind Tratsch-Geschichten von vorvorgestern.

Bleibende Verdienste hat sich Grzimek als Tierfilmer erworben: Die Dokumentation „Serengeti darf nicht sterben“ weckte das Bewusstsein für die Bedrohung der afrikanischen Tierwelt. Bei einem Flug zu den Dreharbeiten kam Grzimeks Sohn Michael im Januar 1959 ums Leben. Er hat nicht mehr erlebt, dass es 1960 für den Film sogar einen Oscar gab.

Pionier des Umweltschutzes

Prof. Dr. Bernhard Grzimek (1909-1987) gilt überdies als ein Vorläufer der deutschen Tier- und Umweltschutzbewegung, wenn nicht gar als ein Urahn der „Grünen“.

1970 machte ihn Kanzler Willy Brandt zum Bundesbeauftragten für Umweltbelange. Mit Horst Stern und anderen Aktivisten gründete Grzimek 1975 den Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND). Auch setzte er sich zeitlebens für die artgerechte Haltung von Zootieren und für Schutzräume in den Herkunftsländern ein. Zudem zählte er zu den allerersten, die die massenhafte Haltung von Nutztieren anprangerten. Wenn das keine Lebensleistung ist!

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“Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” (5), “Der Kommissar” (6), “Beat Club” (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10), Loriot (11), “Kir Royal” (12), “Stahlnetz” (13), “Kojak” (14), “Was bin ich?” (15), Dieter Hildebrandt (16), “Wünsch Dir was” (17), Ernst Huberty (18), Werner Höfers “Frühschoppen” (19), Peter Frankenfeld (20), “Columbo” (21), “Ein Herz und eine Seele” (22), Dieter Kürten in “Das aktuelle Sportstudio” (23), “Der große Bellheim” (24), “Am laufenden Band” mit Rudi Carrell (25), “Dalli Dalli” mit Hans Rosenthal (26), “Auf der Flucht” (27), “Der goldene Schuß” mit Lou van Burg (28), Ohnsorg-Theater (29), HB-Männchen (30), „Lassie“ (31)

“Man braucht zum Neuen, das überall an einem zerrt, viele alte Gegengewichte.” (Elias Canetti)




Wie man im Ruhrgebiet spart – und kassiert

Dortmund ist ziemlich arm dran. In fast allen Statistiken, die Gutes besagen, liegt die westfälische Großstadt hinten (neuerdings sogar in der Bundesliga-Tabelle); wenn’s hingegen prekär wird, mischt die arg verschuldete Kommune zumeist in der Spitze mit. Doch es gibt hier auch einige, die ausgesorgt haben.

Beispielsweise Guntram Pehlke, Chef der Dortmunder Stadtwerke (DSW21). Der Mann wird auch im bundesweiten Vergleich überaus ordentlich bezahlt. Laut „Ruhr Nachrichten“ (RN) vom 3. Dezember 2014 liegen bei ihm derzeit jährlich 442 389,77 Euro an – mit allen Zusatzleistungen. Pehlkes Kollegen in Düsseldorf, Hamburg oder Stuttgart liegen weit unterhalb seiner Einkünfte. Nun soll, wie die RN weiter berichten, sein Vertrag auch noch in Windeseile vorzeitig verlängert werden, was wiederum mit weiteren Vergünstigungen verbunden wäre.

Wenn's nach einigen politischen Platzhirschen geht, wird das Damwildgehege im Dortmund Süggelwald geschlossen. Esparnis: gerade mal 4500 Euro im Jahr. (Foto: Bernd Berke)

Wenn’s nach einigen politischen Platzhirschen geht, wird das Damwildgehege im Dortmunder Süggelwald geschlossen. Esparnis: gerade mal 4500 Euro im Jahr. (Foto: Bernd Berke)

Pehlke gehört als einstiger SPD-Schatzmeister im Unterbezirk Dortmund und als früherer Stadtkämmerer zu den Parteigenossen, die in Dortmund (und überhaupt im Ruhrgebiet) immer mal wieder an die Spitze kommunaler Unternehmen geraten.

Ob Energieversorger, Entsorgungsbetriebe, (stark defizitärer) Flughafen, Stadtsparkasse oder Messe/Westfalenhallen – stets steigen die Chancen auf lukrative Dortmunder Chefposten mit SPD-Parteibuch erheblich. Gewiss, andernorts gibt es Filz und Klüngel im Zeichen der CDU. Doch das Revier ist eben vorwiegend ein Selbstbedienungsladen für manche Sozialdemokraten. Ein Jammer für die vormals stolze Partei.

Das TV-Magazin „Monitor“ hat kürzlich (Ausgabe vom 20. November 2014) recherchiert, dass ausgerechnet die Ruhrgebietsstädte national meist weit vorn liegen, wenn es um kommunale Chefgehälter geht. Als Boss der Entsorgungsbetriebe kann man in Essen oder Dortmund deutlich mehr kassieren als etwa in Berlin oder Hamburg.

Bei der Dortmunder Entsorgungsgesellschaft EDG verdienen laut „Monitor“ drei (!) Chefs je etwa 266000 Euro, für ähnlich gelagerte Aufgaben reicht in Stuttgart ein Geschäftsführer, dessen Tätigkeit mit vergleichsweise bescheidenen 125000 Euro vergütet wird. Weitere verblüffende Einzelheiten sind auf der Monitor-Homepage nachzulesen.

Unterdessen muss die durch immense Sozialkosten gebeutelte Stadt ihre sonstigen Leistungen stetig reduzieren. Ein besonders groteskes Beispiel, wenn man mal vom schleichenden (und bald galoppierenden?) Kulturabbau absieht: Gerade mal 4500 Euro will Dortmunds Stadtkämmerer Jörg Stüdemann durch Schließung eines Damwildgeheges im Süggelwald (Stadtteil Eving) einsparen. Auch auf der Homepage der Stadt wird das Gehege bis heute als Möglichkeit für ansonsten vielfach benachteiligte Kinder der Nordstadt beworben, quasi in ihrer Nachbarschaft Tiere im naturnahen Raum zu erleben.

Egal. Der Posten soll gestrichen werden. Und was wird aus den Tieren? Da könnte man die polemische Frage stellen, ob anschließend noch der Wildbraten auf dem Tisch kommunaler Honoratioren kredenzt wird. Vielleicht gar beim nächsten Empfang des SPD-Oberbürgermeisters Ullrich Sierau?

Aber mal im Ernst: Drängt sich denn nicht die Idee auf, mit den Sparmaßnahmen auch bei den besagten kommunalen Spitzengehältern anzusetzen? Schon allein, um mal ein Signal zu setzen.

Unterdessen sehen sich die Städte des Ruhrgebiets gezwungen, auch noch Menschen abzuschrecken, die vielleicht trotz alledem hierher ziehen wollen – mit exorbitant steigenden Hebesätzen für die Grundsteuer B. Wie die WAZ heute berichtet, könnten ohnehin schon weniger attraktive Orte wie Duisburg und Witten, die eh schon Einwohner verlieren, auf diesem Gebiet demnächst Spitzenpositionen einnehmen. Duisburg hätte dann einen fast doppelt so hohen Hebesatz wie das benachbarte Düsseldorf, Witten könnte gar bundesweiter Spitzenreiter werden und selbst Berlin überflügeln. So gut wie alle Revierbürer sind betroffen. Per Umlage wirkt sich die Grundsteuer auch mietsteigernd aus.

Vor der Zukunft einer Region, in der just morgen das allerletzte Opel-Fahrzeug vom Bochumer Band laufen wird, kann einem gelegentlich angst und bange werden.




Leben im Wildwuchs der Lektüren: Ulrich Raulff blickt in die 1970er Jahre zurück

Leicht kommen einem die eigenen Jugendjahre mitsamt den Zwanzigern wie die allerbesten Abschnitte der Geschichte vor. Das waren noch Zeiten. Da fühlte man sich noch (gelegentlich) kraftvoll und schier unverwundbar. Und wie man von Tag zu Tag immer klüger wurde, wie man allen die Stirn bieten wollte…

In solchem Sinne, wenn auch mit nachträglicher Skepsis ausbalanciert, hat Ulrich Raulff jetzt Bruchstücke seiner intellektuellen Autobiographie vorgelegt. Ein weiteres Beispiel fürs Genre „Wenn Großvater erzählt“?

Der 1950 in Meinerzhagen geborene Raulff hat seine historischen und philosophischen Studien vornehmlich in Marburg, Frankfurt und Paris betrieben, sich aber auch in Berlin, England, Italien und den USA umgetan. Man darf da wohl einen gutbürgerlichen Familienhintergrund mit entsprechendem Selbstbewusstsein vermuten.

Raulff

Jedenfalls hat Raulff etwas aus sich gemacht: Er war zeitweise Feuilletonchef der FAZ sowie leitender Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“ und ist schließlich 2004 Direktor des Deutschen Literaturarchivs in Marbach geworden. Alles vom Feinsten.

In dem Buch „Wiedersehen mit den Siebzigern“ erzählt er nun vornehmlich von seinen studentischen Lehr- und Wanderjahren. Der „Nach-68er“ Raulff, der somit an der vermeintlich großen Rebellion nicht beteiligt war, schildert die frühen 70er Jahre als Zeit des überaus heiligen Ernstes aus dem allmählich versiegenden Geiste marxistischer Strömungen und Grüppchen. Welch eine Rechthaberei herrschte da! Wie war man im Gehege des Zeitgeistes gefangen! In so mancher festgefahrenen Debatte ward den Sensibleren unbehaglich zumute. Hier drohte der Absturz ins Kleinbürgerliche, dort das Elend der Polit- und Psychosekten.

Ulrich Raulff beschreibt die vielen, vielen langen Tage, die er in den schönsten und ergiebigsten Bibliotheken verbracht hat. Er selbst baute an der Uni regelmäßig einen Büchertisch auf. Auch die erotische Neigung zu zartsinnigen Mädchen scheint sich allemal durch gehabte oder ersehnte Lektüren angebahnt zu haben. Büchereien, so lernen wir abermals, sind nicht zuletzt Stätten eines im weitesten Sinne erotischen Begehrens. Das Leben und das Lesen waren also nahezu eins.

Als große Befreiung hat der junge Mann es erlebt, im Paris der mittleren und späten 70er Jahre in ein ganz anderes intellektuelles Klima einzutauchen als vormals in Marburg, wo etwa Wolfgang Abendroth das Sagen hatte. In Frankreich waren es die großen Zeiten von Roland Barthes und Michel Foucault. Glückhafter Umstand für die weiteren Jahre: Von Foucault hielt Raulff alsbald ein Empfehlungsschreiben in den Händen, das seinerzeit in Paris und eigentlich weltweit alle Türen der Geisteswelt öffnete. Er und ein Freund hatten sich einfach getraut, den großen Meister anzusprechen…

Der Strukturalismus und seine Vernunftkritik, die etwas später als Import in Deutschland anlangten, erwiesen sich für Raulff als Vademecum gegen den bis dato stramm links dominierten Diskurs. Ideologische Spurwechsel wurden damals vielfach vollzogen. Vom „Auszug aus der Suhrkamp-Kultur“ ist bei Raulff die frohe Rede. Als weiterer Zweig des Bedenkenswerten kam u. a. Aby Warburgs und Erwin Panofskys Ikonologie (Lehre von den Bildern) hinzu, deren Impulse im deutschen Sprachraum von Denkern wie Klaus Theweleit und Ausstellungsmachern wie Harald Szeemann aufgenommen wurden.

Noch heute zeigt sich Raulff so beseelt von jener Zeit, dass er sich vielfach in Einzelheiten verliert. Der Punk kam damals auf und Raulff war Mitbegründer einer eher randständigen Zeitschrift namens „Tumult“. Man vernimmt hie und da Gestus und Duktus eines weltläufigen „Ich war dabei“, doch behält all das einen gewissen Charme und gerät nirgendwo zum Auftrumpfen. Gegen die Gefahren eines Bildungsphilistertums ist Raulff offenbar gefeit.

Auch kann man wahrlich die Wehmut nachvollziehen, mit der Raulff die schweifenden, wildwüchsigen Lektüren beschwört, deren Früchte sich in Zettel- und Karteikästen statt in Computer-Dateien ergossen haben. Jeder Lesende war sozusagen seine eigene Suchmaschine.

Wer damals (wenngleich begrenzter und glanzloser) ebenfalls studiert hat, kann zudem einigen geistigen Signaturen jener Jahre nachspüren, die einen selbst – so oder so – berührt haben. Auch in diesem Sinne sind Raulffs Erinnerungen ein aufschlussreiches Dokument der „Jahre, die ihr kennt“.

Ulrich Raulff: „Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens“. Klett-Cotta. 170 Seiten. 17,95 Euro.




TV-Nostalgie (31): „Lassie“ – der berühmteste Hund aller Zeiten

Jede Nachkriegsgeneration hat ihre Fernseh-Wundertiere. Zu unserer Zeit waren das „Fury“ und „Lassie“. Vom Prachthengst Fury war hier schon einmal die Rede. Heute geht es um die nicht minder schlaue und geschickte „Lassie“, die man einfach ins Herz schließen musste.

Aus dem Vorspann der 60er Jahre: "Lassie", wie sie leibte und lebte. (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=l457Eg33qJ4)

Aus dem Vorspann der 60er Jahre: „Lassie“, wie sie leibte und lebte. (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=l457Eg33qJ4)

Bis heute denkt man spontan den Namen „Lassie“ (Schottisch für „Mädchen“) hinzu, wenn man einen Collie sieht. „Lassie“ gilt als berühmtester Hund der Welt. Natürlich ist die „Rolle“ nach und nach von vielen verschiedenen Rüden (weil ihr Fell angeblich besser aussieht) verkörpert worden. Da es sich laut Drehbüchern um eine Hündin handeln sollte, wurde das Geschlecht schon mal mit zusätzlichen Fellstücken verdeckt.

Wahre Wundertaten

Es ging ja auch nicht um Männlein oder Weiblein, sondern um wahre Helden- und Wundertaten, die dieses Tier vollbrachte. In jeder Folge hat dieser Hund geholfen und gerettet, bis alles gut war. „Lassie“ war immer im entscheidenden Moment zur Stelle, um noch den schlimmsten Bösewichtern und den größten Gefahren siegreich zu begegnen. Manchmal half ein Stups zur rechten Zeit, damit die Menschen wussten, worauf es ankam.

In einer Folge muss Lassie beispielsweise eine flügellahme Möwe beschützen, damit die in Ruhe genesen konnte. Nach und nach tauchen eine gefräßige Wildkatze, eine Schlange und ein gieriger Greifvogel als Bedrohungen auf. Sie werden samt und sondern von Lassie in die Flucht geschlagen. In einer anderen Folge („Die Bogenschützen“) sorgt die Hündin dafür, dass böse Wilderer überführt und bestraft werden. Und so ging’s munter weiter durch insgesamt 591 (!) Episoden.

Begonnen hatte alles 1938, mit einer „Lassie“-Kurzgeschichte von Eric Knight. 1943 kam der erste Kinofilm heraus. Die schier unverwüstliche TV-Serie wurde in den USA von 1954 bis 1973 produziert, in Deutschland kam die Reihe erstmals am 21. Juni 1958 ins ARD-Programm.

Beste Freundin der Kinder

In der langen Zeitspanne hatte „Lassie“ etliche Herrchen, anfangs den Jungen Jeff und sodann den kleinen Timmy. Wie auch immer die jeweilige Familie aussah (z. B. verwitwete Mutter, Waisenjunge), „Lassie“ war allemal die beste Freundin der Kinder. Sie ging mit ihnen durch dick und dünn. Und immer stand am Schluss eine mehr als deutliche Moral von der Geschicht’. Wir haben verstanden.

"Lassie" mit dem (zeitweiligen) Herrchen Timmy. (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=9xz9dJDpVQM)

„Lassie“ mit dem (zeitweiligen) Herrchen Timmy. (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=9xz9dJDpVQM)

Es gab und gibt „Lassie“-Fans, die nur Episoden mit Timmy wirklich gelten lassen. Sie mussten damals tapfer sein, als sich von Zeit zu Zeit Schauplätze und Darsteller änderten. In einigen Folgen besteht Lassie ihre Abenteuer gar gänzlich auf eigene Pfote, also ohne menschliche Begleitung. Das sorgte bei vielen Zuschauern ebenso für Verwirrung wie „Lassies“ zeitweiliger Umzug nach Australien.

Eine Frage der Vorlieben

Wie war das noch mit den TV-Generationen? Vor „Lassie“ war der Schäferhund Rin Tin Tin an der Reihe (in Deutschland ab 1956), in den 60er Jahren folgten beispielsweise „Flipper“ und „Black Beauty“. Wer weiß weitere Beispiele?

Übrigens: Ob man nun Fury oder Lassie lieber mochte, hing von persönlichen Vorlieben und wohl auch vom Zufall ab. Es war ungefähr so bedeutsam wie die parteibildende Füllerfrage, sprich: Manche schrieben damals in der Schule mit Geha und andere eben mit Pelikan. Und alle haben auf ihre Sache geschworen.

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Vorherige Beiträge zur Reihe:

“Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” (5), “Der Kommissar” (6), “Beat Club” (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10), Loriot (11), “Kir Royal” (12), “Stahlnetz” (13), “Kojak” (14), “Was bin ich?” (15), Dieter Hildebrandt (16), “Wünsch Dir was” (17), Ernst Huberty (18), Werner Höfers “Frühschoppen” (19), Peter Frankenfeld (20), “Columbo” (21), “Ein Herz und eine Seele” (22), Dieter Kürten in “Das aktuelle Sportstudio” (23), “Der große Bellheim” (24), “Am laufenden Band” mit Rudi Carrell (25), “Dalli Dalli” mit Hans Rosenthal (26), “Auf der Flucht” (27), “Der goldene Schuß” mit Lou van Burg (28), Ohnsorg-Theater (29), HB-Männchen (30)

“Man braucht zum Neuen, das überall an einem zerrt, viele alte Gegengewichte.” (Elias Canetti)




TV-Nostalgie (30): Als das HB-Männchen vor Wut in die Luft ging

Kann man in diesem Falle von TV-Nostalgie reden? Nun ja, wie man’s nimmt. Wir lassen mal fünfe gerade sein. Fernseh-Legenden müssen jedenfalls nicht unbedingt aus Fleisch und Blut sein. Manche waren auch mit feinem Stift und noch dazu schwer vom Leben gezeichnet: allen voran das immerzu gestresste HB-Männchen.

Das Kerlchen, dem jedes Vorhaben schiefging, war eine der bekanntesten Werbefiguren des Fernsehens. Von 1957 bis 1974 war das zornige HB-Männchen auf den Bildschirmen zu sehen, danach war Zigarettenreklame nur noch für ein weiteres Jahrzehnt (bis 1984) im Kino erlaubt.

Arabisch rückwärts gezetert

Inoffiziell hieß das HB-Männchen Bruno. Doch er selbst hat uns in den Trickfilmen (Urheber: Roland Töpfer) nie seinen Namen verraten, denn Bruno „sprach“ ganz und gar unverständlich. Angeblich war es Arabisch, das mit überhöhter Bandgeschwindigkeit rückwärts abgespult wurde. Je zorniger dieser Bruno wurde, umso mehr verzerrte sich sein Gezeter, bis er buchstäblich in die Luft ging.

HB-Männchen Bruno scheitert an einem Paternoster-Aufzug (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=5R6384xqWx4)

HB-Männchen Bruno scheitert an einem Paternoster-Aufzug (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=5R6384xqWx4)

Das HB-Männchen war ein Wutbürger sondergleichen und ein hartnäckiger Einzelkämpfer mit offenbar enorm hohem Blutdruck. Nie hat man gesehen, ob er vielleicht Frau und Kind(er) gehabt hat. Doch er war von Herausforderungen des Alltags umgeben, hatte lauter Dinge als Widersacher und geriet häufig in Zeitnot. Dies waren auch Zeichen der Wirtschaftswunder-Jahre.

Die Tücke der Objekte

Nur ein paar Beispiele: Da waren unendlich viele Geräte, die nicht funktionieren wollten; da war der Ventilator, der im Büro alles Papier aufwirbelte; das Klappbett, das ein Eigenleben führte; da waren Hammer und Säge, mit denen er sich verletzte; Dosen und Flaschen, die er im Lebensmittelladen umriss. Und so weiter und so fort in mehr als 400 Filmen. So viel Pech auf einem Haufen.

Das Schema der kleinen Geschichten war durchweg gleich: Immer hatte Bruno mit der Tücke der Objekte zu kämpfen. Anfangs pfiff er noch fröhlich und unternehmungslustig („Freut euch des Lebens“ oder „Auf in den Kampf, Torero“). Aber beim Versuch, den jeweils ersten, noch geringen Schaden zu beheben, machte er alles nur noch schlimmer und schlimmer, bis schließlich ein furchtbares Chaos oder eine schreckliche Sauerei angerichtet war. Dann ging das HB-Männchen vor Wut explosionsartig in die Luft.

„Dann geht alles wie von selbst“

Doch immer nahte Rettung. Der völlig erschöpfte Bruno wurde eingefangen von einer freundlichen kleinen Figur mit königlichem Mantel. Mit den Worten „Halt, mein Freund! Wer wird denn gleich in die Luft gehen?“ reichte die Gestalt eine Zigarette der Marke HB – und schon beim ersten Zug waren Brunos Probleme behoben, alles klappte nun ohne sein Zutun: „Dann geht alles wie von selbst“, hieß die Formel zum guten Schluss.

Welch eine dreiste Lüge, die auf diese Art höchstens im Trickfilm möglich war! Trotzdem (oder gerade deshalb?) hat man sich damals über die Filmchen gefreut, sie waren oft der kurze Höhepunkt des gesamten Werbefernsehens. Da mag heimliche Schadenfreude ebenso mitgespielt haben wie das Gefühl der Entspannung am Ende. Außerdem war Rauchen damals in allen Lebenslagen noch so selbstverständlich, dass man sich keine Gedanken darüber machte…

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Vorherige Beiträge zur Reihe:

“Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” (5), “Der Kommissar” (6), “Beat Club” (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10), Loriot (11), “Kir Royal” (12), “Stahlnetz” (13), “Kojak” (14), “Was bin ich?” (15), Dieter Hildebrandt (16), “Wünsch Dir was” (17), Ernst Huberty (18), Werner Höfers “Frühschoppen” (19), Peter Frankenfeld (20), “Columbo” (21), “Ein Herz und eine Seele” (22), Dieter Kürten in “Das aktuelle Sportstudio” (23), “Der große Bellheim” (24), “Am laufenden Band” mit Rudi Carrell (25), “Dalli Dalli” mit Hans Rosenthal (26), “Auf der Flucht” (27), “Der goldene Schuß” mit Lou van Burg (28), Ohnsorg-Theater (29)

“Man braucht zum Neuen, das überall an einem zerrt, viele alte Gegengewichte.” (Elias Canetti)




Jekami, Jeki, JeKits – Yeah, Yeah, Yeah!

HAI - heran ans Instrument... (Foto: Bernd Berke)

HAI – heran ans Instrument… (Foto: Bernd Berke)

Um es vorweg zu sagen: Die Sache an sich ist gut und richtig. Dass Kinder sich zunächst spielerisch und später ausgiebig mit Musikinstrumenten befassen, kann man eigentlich nur begrüßen.

Doch schon die bürokratische Abkürzung für das entsprechende Maßnahmenbündel („Jeki“ = Jedem Kind ein Instrument) ist von gelinder Komik der unfreiwilligen Sorte. Da war selbst das gute alte „Jekami“ (Jede(r) kann mitmachen) noch etwas stimmiger.

Freilich lassen sich solche Schöpfungen immer noch unterbieten. Und so wird das schulische Angebot ab 2015/16 schwungvoll umbenannt. Man möchte nicht wissen, wie viele rotgrüne Köpfe da geraucht und wie viele wichtige Gremiensitzungen dieserhalb stattgefunden haben. Ob vielleicht gar selbsternannte Sprachdesigner für derlei lachhafte Ideen Geld kassiert haben? Als der Berg gekreißt hatte, gebar er jedenfalls diese Maus:

„JeKits“

O weh, da schrillen – sofern man noch bei Trost ist – alle sprachlichen Alarmglocken, denn nicht einmal das Pseudo-Englische wird hier richtig bedient; geschweige denn, dass da ein Anklang ans Deutsche zu erahnen wäre.

Und nun dürfen wir dreimal raten, für welchen Klartext dieses „JeKits“ wohl stehen mag. Na, selbstverständlich für:

„Jedem Kind Instrumente, Tanzen, Singen“.

Was haben Sie denn gedacht?

Aber mal ehrlich. Was will man schon aus einem NRW-Ministerium erwarten, das für den Gemischtwarenladen „Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport“ zuständig ist und das sich abgekürzt allen Ernstes „mfkjks“ nennt?

Das kann noch deutlich flotter werden. Statt MFKJKS könnte man doch auch ………….. oder …………… sagen und schreiben.

(Ideen bitte eintragen und unfrankiert nach Düsseldorf schicken)




Neue Horizonte im Damals: Botho Strauß‘ autobiographisches Buch „Herkunft“

Das hätte man nicht unbedingt erwartet: dass der hochmögende Zeit- und Zeichendeuter Botho Strauß (Jahrgang 1944) Teile seiner eigenen Lebensgeschichte quasi bis ins Anekdotische auffächert. Doch er greift ja auch weit darüber hinaus.

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Gewiss, es ist beileibe keine literarische Qualitätsaussage, doch ist „Herkunft“ seit langem das zugänglichste Buch von Strauß, wunderbar frei von etwaigen Verstiegenheiten. Vor allem aber ist es – auf gerade mal 96 Seiten – ungemein verdichtet: Man möchte Absatz um Absatz aus dieser Fülle zitieren.

Es schwant einem schon, wie Germanisten und Rezensenten ab sofort seinem neuen Text „Herkunft“ biographische Details entnehmen und dieselben auf seine erzählende Prosa, auf Essays und Theaterstücke beziehen werden. Tatsächlich dürfte es da etliche Verbindungslinien geben. Doch ach, wer wollte da deutelnd zu Werke gehen, wenn schon dem Autor selbst die eigene Vergangenheit auch ein Mysterium ist?

Ausgangspunkt ist Strauß’ anwachsendes Empfinden, die eigene Herkunft und besonders sein Vater hätten ihn weitaus mehr geprägt als ehedem gedacht. Sehnsüchtig gedenkt er der starken, führenden Hand, die ihm der Vater gereicht hat. Und also erinnert sich Botho Strauß streckenweise geradezu liebevoll an die Lebenswelt seiner Kindheit (mit ihren „bergenden Zeremonien“) und frühen Jugend.

Der schon im Ersten Weltkrieg verwundete Vater entwickelte, vorwiegend in Heimarbeit, neue Medikamente für die Pharma-Industrie. Er hielt sehr auf äußere Korrektheit, offenbar war ihm eine abweisend stolze Eleganz eigen, die sich auch sprachlich verwirklicht haben muss. Larifari gab es da nicht.

Man denkt dabei an den Schriftsteller Botho Strauß, der sich seit Jahrzehnten konsequent dem Literaturbetrieb und der medialen Aufregung zu entziehen sucht. Sein Vater muss wohl etwas entschieden Vorbildhaftes gehabt haben; einer, zu dem ein Sohn aufschauen konnte. Umso tiefer und anrührender erscheinen dann in den verschiedenen Lebensphasen die freudigen Momente: das erste eigene Fahrrad; die Erkenntnis, dass der gestrenge Vater einen Text von Brecht gelten ließ…

Nach der Übersiedlung aus Naumburg/Thüringen lebte die Familie in Remscheid und dann ab 1954 in Bad Ems an der Lahn (nicht weit von Koblenz), wo früher einmal Wagner, Dostojewski und Chopin Erholung in der Sommerfrische suchten. Hernach aber war es auch so ein westdeutscher Provinzort, wie sie immer wieder in der neueren und neuesten deutschen Literatur aufscheinen, zumal in den Ausprägungen der Nachkriegszeit – ob nun bei Peter Kurzeck, Andreas Maier oder auch Gerhard Henschel und Klaus Modick. Mitunter will es scheinen, als seien solche Orte literarisch mindestens ebenso ergiebig wie diese oder jene Metropole.

Natürlich bleibt es nicht bei all den anschaulichen Einzelheiten und Begebenheiten aus den 50er und frühen 60er Jahren. Strauß bemerkt, wie mit dem eigenen Altern das „Damals“ überhaupt immer gewichtiger wird, wie etwa jene Nachkriegsstrenge auf Dauer einen festeren Boden des Daseins abgebe, als jede neue geistige „Landnahme“. Wer sich dem „Einstweh“ ergibt, könne sogar ungeahntes Neuland erblicken. Zitat: „Die Erweiterung eines Horizonts besteht nicht selten darin, daß sich einem das Gewesene öffnet.“

Als es gilt, die elterliche Wohnung für immer aufzulösen, kommt es zu einem solchen Vergangenheitsschub: Bestürzend nahe rückt dem Sohn das Damalige, welches das Ureigene enthält – wie letztlich in jedem Lebenslauf. Zunehmend zeigen sich jene sich jene „zeugenden Bilder, die Stammzellen sind eines bestimmten Sehens, Empfindens, Begreifens.“

Restlos „aufklären“ und verstehen lassen sich diese Bilder allerdings nicht, so dass Strauß befindet, man müsse ohnehin über bloßes Wissen und schnöde Klugheit hinaus gelangen, sich hingegen lieber einmal vom Damals überwältigen lassen – eine Denkfigur, die auch sonst innig zur Straußschen Sphäre gehört. Man ahnt allenthalben, wie sehr er sich mit diesem Buch auf seinem Pfad bewegt.

Zugleich erweist sich der Blick in die eigene Vergangenheit als befreiende Möglichkeit, sich noch einmal so unschuldig und altklug zu fühlen wie einst. Es war eine Zeit vor den Enttäuschungen, vor allem nachträglichen und ach so billigen „Besserwissen“…

Botho Strauß: „Herkunft“. Hanser Verlag. 96 Seiten. 14,90 Euro.




TV-Nostalgie (29): Das Ohnsorg-Theater – gut geölte Lachlust aus dem Norden

Ihre Komik war oft ziemlich hausbacken, doch sie waren keineswegs Dilettanten: Über Jahrzehnte hinweg unterhielt das Ohnsorg-Theater nicht nur Touristen im Hamburger Kiez, sondern auch Millionen Fernsehzuschauer.

Die Vorläuferbühne hatte Richard Ohnsorg bereits 1902 in Hamburg gegründet. An wechselnden Spielstätten gab man fortan niederdeutsche Stücke. Die meisten Schwänke wurden eigens „op Platt“ geschrieben, andere wurden aus dem Hochdeutschen oder anderen Sprachen übersetzt.

Dialekt ist kein Tüddelkram

Und siehe da: Weil das Niederdeutsche etwa mit dem Englischen so eng verwandt ist, zeigten die Übertragungen ungeahnte Qualitäten der Anverwandlung; ganz abgesehen davon, dass die Mundart ohnehin ihren speziellen Humor mit sich bringt. Dialekt ist eben kein Tüddelkram.

Heidi Kabel und Henry Vahl in "Tratsch im Treppenhaus" (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=wYW4Area2kg)

Heidi Kabel und Henry Vahl in „Tratsch im Treppenhaus“ (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=wYW4Area2kg)

Ab 1954 zeigte das ARD-Fernsehen Aufführungen aus dem Ohnsorg-Theater, wobei die norddeutsche Einfärbung dem Hochdeutschen behutsam angepasst wurde (sogenanntes „Missingsch“), damit auch Landsleute aus dem Westen und dem Süden mithalten konnten.

Mit Heidi Kabel und Henry Vahl

Legendär wurden vor allem die Sendungen in den 60er und 70er Jahren, als z. B. die überaus populären Schauspieler Heidi Kabel und Henry Vahl (meist als „komischer Opa“) zum Ensemble gehörten. Sie sind unvergessen: Seit Sommer 2011 residiert die Ohnsorg-Bühne im „Bieberhaus“ am Heidi-Kabel-Platz 1 in Hamburg. Einen Henry-Vahl-Park gibt es ebenfalls in der Stadt.

Gewiss: Die unter Live-Bedingungen im Theater aufgezeichneten Stücke erinnern manches Mal an derben Schenkelklopferhumor oder an unbedarftes Boulevardtheater – oft saubermännisch und doppelmoralisch garniert mit neckisch-frivolen Anspielungen. Doch da gab es auch durchaus feinsinnige und anrührende Töne. Und die Schauspieler verstanden ihr überwiegend komisches Fach. Die Komödien-Maschinerie war sozusagen bestens geölt. Andernfalls hätte man nicht diesen überwältigenden Erfolg gehabt.

Klassiker „Tratsch im Treppenhaus“

Gern gebe ich zu, dass ich jetzt beim Wiedersehen mit dem Ohnsorg-Klassiker „Tratsch im Treppenhaus“ an etlichen Stellen schallend gelacht habe. Das gesamte Stück spielt tatsächlich nur im Treppenhaus einer sehr einfachen Mietskaserne. Welch ein munteres Türenschlagen, welch ein aberwitziger Streit zwischen den Mietparteien! Und wie Heidi Kabel die ewige Lästerzunge Frau Boldt verkörpert, das hat schon sehr ordentliches Format.

Gipfeltreffen von 1968

Zeitgeschichtlich interessant: Die 1962 erstmals gesendete Produktion spielt noch vor dem Hintergrund äußerst schlichter Wohnverhältnisse in der Nachkriegsrepublik. Die komplette Fassung, die im Internet noch greifbar ist, stammt vom Silvesterabend 1966. Wer an einem solch herausgehobenen Tag die beste Sendezeit bestreiten durfte, zählte wahrlich zu den Quotenkönigen des Fernsehens.

1968 kam es übrigens zum Gipfeltreffen der damals beliebtesten Volksschauspieler: In „Die Kartenlegerin“ schaukelten sich Heidi Kabel und Willy Millowitsch gegenseitig hoch. Es war zum Schreien!

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Vorherige Beiträge zur Reihe:

“Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” (5), “Der Kommissar” (6), “Beat Club” (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10), Loriot (11), “Kir Royal” (12), “Stahlnetz” (13), “Kojak” (14), “Was bin ich?” (15), Dieter Hildebrandt (16), “Wünsch Dir was” (17), Ernst Huberty (18), Werner Höfers “Frühschoppen” (19), Peter Frankenfeld (20), “Columbo” (21), “Ein Herz und eine Seele” (22), Dieter Kürten in “Das aktuelle Sportstudio” (23), “Der große Bellheim” (24), “Am laufenden Band” mit Rudi Carrell (25), “Dalli Dalli” mit Hans Rosenthal (26), “Auf der Flucht” (27), „Der goldene Schuß“ mit Lou van Burg (28)

“Man braucht zum Neuen, das überall an einem zerrt, viele alte Gegengewichte.” (Elias Canetti)




Bei Immobilien muss man halt richtig zulangen – ein kleines Lehrstück für Dortmund und NRW

Gestern habe ich mich bei Lektüre der Regionalzeitung aufgeregt, heute schon wieder. Das kommt öfter vor; nicht nur wegen der Inhalte, sondern auch wegen der Machart. Aber darum geht’s jetzt mal nicht.

Es war also im vermeintlichen WAZ-Lokalteil (der ja von den Ruhrnachrichten kommt) zu lesen, erneut habe ein Großinvestor (diesmal die Gagfah aus Luxemburg) auf einen Schlag gleich 1700 Wohnungen in Dortmund erworben, davon allein 650 im Stadtteil Westerfilde, der in den letzten Jahren derbe heruntergekommen ist und zu Teilen als sozialer Brennpunkt gilt.

Unterwegs zur Verwahrlosung

Die betrübliche Entwicklung Westerfildes wiederum lag nicht zuletzt an den bisherigen Investoren, die große Wohnungsbestände finanziell ausgeweidet haben, hingegen nicht gerade sanierungsfreudig gewesen sind, um es ganz vorsichtig zu sagen. Wo derart dem Verfall und der Verwahrlosung Vorschub geleistet wird, da geht es im Kern auch um die Kultur des Zusammenlebens.

Teil einer WAZ-Schlagzeile, die für Unmut sorgen dürfte...

Teil einer WAZ-Schlagzeile, die für Unmut sorgen dürfte…

Binnen zehn Jahren werden damit die Wohnungen in Westerfilde zum sechsten Male (!) weitergereicht. Es gibt offensichtlich nicht nur die vom Privatfernsehen penetrant vorgeführten Mietnomaden, die vermüllte Wohnungen hinterlassen, sondern vor allem – im Effekt noch ungleich verheerender – Investorennomaden, die auf breiter Front Sanierungsstau und Chaos stiften. Hat da jemand „Scheiß-Kapitalismus“ gesagt? Nicht doch!

Der Trick mit den Firmenanteilen

Um das Maß zu füllen, gibt’s beim Riesengeschäft (Euro-Millionenvolumen einstweilen unbekannt) freilich noch einen staunenswerten Aspekt: Laut Mieterverein entfällt für den Kauf die Grunderwerbssteuer, die sonst für jeden privaten Wohnungs- und Hauserwerb 5 Prozent vom Kaufpreis beträgt und jeweils schnellstens fällig wird.

Haben wir richtig gelesen? Warum ist der Reibach steuerfrei? Nun, wegen eines gesetzlich erlaubten Tricks im Rahmen eines so genannten „Share Deal“: Demzufolge wurden nominell keine Immobilien, sondern Firmenanteile verhökert. Man glaubt es nicht, was wirtschaftsdienliche Winkeljuristen manchmal so aushecken. Hat da schon wieder jemand „Scheiß-Kapitalismus“ gerufen? Ach.

Diese unwichtigen Leute

Das alles ist schon ärgerlich genug. Doch mit der Titelseite der heutigen WAZ-Ausgabe folgt die Krönung. Demnach wird – entgegen allen vorherigen Beteuerungen aus der rot-grünen Landesregierung – zum 1. Januar 2015 just die Grunderwerbssteuer von 5 auf 6,5 Prozent angehoben, um den NRW-Haushalt zu entlasten. Die kleinen Krauter, die sich nur eine einzige mickrige Immobilie leisten können, werden mithin noch kostspieliger zur Kasse geschubst. Übrigens liegt das Land NRW, sonst in vielen Statistiken zu Bildung und Wohlstand jeweils am unteren Ende, mit dem künftigen Steuersatz neben Schleswig-Holstein bundesweit vorn. Wir haben die Kraft.

Bevor jemand argwöhnt: Nein, weder ich noch nähere Bekannte oder Verwandte sind von der deftigen Steuererhöhung persönlich betroffen. Es geht nur um so ein paar unwichtige Leute, für die jeder Hunderter zählt.




Durch einen peinlichen Alltag stolpern – Wilhelm Genazinos Roman „Bei Regen im Saal“

Sein Tonfall ist längst nicht mehr verwechselbar, er schreibt vielleicht immer am gleichen Roman, der sich beharrlich fortspinnt.

Fast möchte man meinen, das geschehe inzwischen wie von selbst. Doch natürlich verdanken wir auch die neueste Prosa „Bei Regen im Saal“ einer steten Anspannung, der feinnervigen Beobachtungs- und Schilderungsgabe des Wilhelm Genazino. Gibt es da eine Entwicklung von Buch zu Buch? Oder handelt es sich um eine fortlaufende Suada?

Genazino_978-3-446-24596-9_MR1.inddDer Ich-Erzähler namens Reinhard hat über Kants Philosophie promoviert, doch auch in den Vierzigern hat dieser Mann – beileibe kein untypischer Lebenslauf – beruflich und auch sonst so gar nichts Greifbares aus sich gemacht. Er schwankt zwischen lauen Gelegenheiten und leidet darunter: „Ich hatte es satt, dass aus meinem Leben eine einzige lange Bedenkzeit wurde.“

Auch das Schweifen und Flanieren, für das doch genügend Zeit bliebe, will ihm keine Freude bereiten. Er stolpert durch einen diffusen Alltag, angefüllt mit seltsamen Peinlichkeiten. Überall lauern Anlässe zur Scham. Und die Jahre machen sich bemerkbar: „Eines meiner Probleme war, dass ich mich für fast alles zu alt fühlte (…) Jedenfalls war mir unklar, was ich inmitten der schnellverderblichen Welt noch anfangen sollte.“

Streckenweise atemlos folgt man auch diesmal den mikroskopischen Wahrnehmungen im Getriebe der Stadt. Man möchte keine Zeilen missen. Ringsum so viele desolate Gestalten. Wo die Armut früher privat sich zu verbergen suchte, zeigt sie sich heute allenthalben öffentlich. Dermaßen viele Beobachtungen drängen sich dicht an dicht auf, dass in dieser unguten Vielfalt eine Sehnsucht nach dem Gewöhnlichen, Unscheinbaren und Einfältigen aufkommt.

Reinhards Freundin Sonja arbeitet als eine Art Aufseherin beim Finanzamt. Offenbar bröckelt die Beziehung. Will sie ihn etwa loswerden? „In mir wuchs die Angst, dass wir allmählich in eine Schmerzverharrung hineinwuchsen, aus der wir nicht mehr herausfanden.“

Überhaupt ist dieser Mann niemals geflüchtet, sondern hat „alles ausgehalten: die Schule, die Eltern, die Armut, die kleine Wohnung, das Schweigen, die Ratlosigkeit, den Überdruss…“ Ja, es ergibt sich geradezu ein Einverständnis mit der Leere. Auch der Titel „Bei Regen im Saal“ hebt ja wohl auf Verzicht und Schwund ab. Ganz so, als wäre das volle Leben da draußen ohnehin nicht (mehr) zu haben.

Genazinos Erzähler sammelt wieder und wieder solche sonderbar geknüpften Wortfindungen: herumempfindeln, Gesamtschlichtheit, Halberlebnis, Verharrungslust, Problemruinen, Querfeldeinbegehren.

Wie zum Hohn auf eine zusammenhängende Biographie ergattert dieser Reinhard einen herzlich anspruchslosen Lokalredaktions-Job beim „Taunus-Anzeiger“, der offenbar mit links bewältigt werden kann. Da zeigt die Unzulänglichkeit auch ihre komischen Seiten; wie denn überhaupt das Abgründige hin und wieder zum ratlosen Lachen reizt.

Eine Kernfrage lautet, ob nicht alle im Leben das Falsche bekommen. Ein allgemeines Scheitern, durchaus romantauglich.

Es klingt wie vorauseilende Resignation, all das betreffend, was man auf dem Lebensweg nicht verstanden hat und was man Jahrzehnte später begreifen würde: „…wenn wir alle in Altenheimen herumsaßen und es nicht mehr darauf ankam, dass wir vor vierzig Jahren irgendetwas hätten verstehen müssen.“

Doch wer weiß. Vielleicht bedeutet eine solch passives Hinnehmen schon den befreienden Beginn einer (ganz und gar unheroischen) Überwindung. Als „Überwinder“ versteht sich zum Ende hin auch dieser Erzähler. Ob daraus gar so etwas wie scheues, leises Glück hervorgehen kann?

Wilhelm Genazino: „Bei Regen im Saal“. Roman. Hanser Verlag. 158 Seiten. 17,90 Euro.




Lebloser Liveticker

Früher standen „Ticker“ (in grauer Vorzeit waren damit Fernschreiber gemeint) mal für halbwegs wichtige Nachrichten, die wenigstens ein Stückchen Papier wert waren. Heute wird bekanntlich jeder Flach- und Unsinn online mit einem „Liveticker“ verfolgt.

Beispielsweise heute wieder: Die Mannschaft des krisengeplagten BVB hebt zum Flug nach Istanbul ab und die Ruhrnachrichten sind atemlos online dabei. Es könnten aber auch eine andere Homepage und eine andere Geschehnislosigkeit sein.

Erregender Screenshot (vom Mac abgeknipst: Bernd Berke)

Erregender Screenshot (vom Mac abgeknipst: Bernd Berke)

Alles andere wäre ja eine Nachricht; wenn sie beispielsweise n i c h t nach Istanbul aufbrächen. Sie müssen halt am Mittwoch da unten in der Champions League bei Galatasaray antreten. Also müssen sie vorher hin. So wird das Selbstverständliche in lauter kleine Zeithäppchen zerhackt und wie folgt dargeboten:

Zitat: „11.50 Uhr: Mehr vom Abflug der Borussen gleich in Bild und Ton an dieser Stelle. Dranbleiben!“

Stillhaltebefehl also. Wird natürlich befolgt. Die Spannung ist ja auf dem Siedepunkt angelangt.

Und dann die Erlösung: „12.14 Uhr: Der BVB-Flieger befindet sich jetzt in der Luft und wird gegen 15 Uhr in Istanbul eintreffen.“

Wie gut, dass ich drangeblieben bin.

Nur wenig später darf man auf einer langen, langen Klickstrecke auch noch Fotos aus der Dortmunder Abflughalle sehen. Dazu gibt’s noch ein dürftiges Filmchen. Profis mit Rollkoffern. Profis in Anzügen. Und Autogramme geben sie auch noch. Aha, aha.

Auch bei der Landung wird hernach Vollzug gemeldet. Es soll an nichts fehlen.

Es passiert nichts Nennenswertes, aber dieses Nichts wird unentwegt breitgetreten. Auf die nächste Nullnachricht zu warten, ist an Sinnlosigkeit kaum zu überbieten. Früher hätte man gesagt: Macht euren Bericht erst mal fertig, dann lesen wir (vielleicht) das Resultat. Heute soll man die Formulierungsnöte Schritt für Schritt begleiten. So leblos kann „live“ sein.




TV-Nostalgie (28): „Der goldene Schuß“ mit Lou van Burg – „Kimme, Korn – ‚ran!“

Hier geht’s um einen Mann, der im Fernsehen der frühen Jahre gleichsam barocke Figur machte. Wohlgenährt, sinnenfroh und schwungvoll unterhielt der Charmeur Lou van Burg, gern auch familiär „Onkel Lou“ oder „Mister Wunnebar“ genannt, die Nation zwischen „Wirtschaftwunder“ und ersten Krisen.

Wollte stets gute Laune verbreiten: Lou van Burg (Screenshot aus: http://www.retro-tv.de/folge-80:3)

Wollte stets gute Laune verbreiten: Lou van Burg (Screenshot aus: http://www.retro-tv.de/folge-80:3)

Die mit Abstand erfolgreichste Show des Holländers war von 1964 bis 1967 „Der goldene Schuß“ im ZDF. Was sich heute wohl kein Fernsehmacher außerhalb der Kulturkanäle trauen würde: Vorbild für die Spielidee war der dramatische Apfelschuss aus Schillers „Wilhelm Tell“. Während viele andere deutsche TV-Erfolge ausländische Vorbilder hatten, war „Der goldene Schuß“ ein deutscher Exportschlager.

Fast schon „interaktiv“

Die Regeln der Show waren allerdings teilweise so umständlich, dass Lou van Burg manchmal selbst ins Schlingern geriet. Im Kern ging es um Geschicklichkeitsspiele, etliche Gesangseinlagen (zu denen auch der Showmaster beitrug) und – vor allem – ums möglichst zielsichere Schießen mit der Armbrust.

Für damalige Verhältnisse ziemlich modern: Ausgewählte TV-Zuschauer konnten von daheim Kommandos geben („rechts, links, höher…“), die ein Kameramann so ausführte, dass Millionen am Fernsehgerät die Lage von Kimme, Korn und Zielscheibe genau verfolgen konnten. Ja, es war eine Vorform des „interaktiven“ Fernsehens.

Quote bis zu 72 Prozent

Beim entscheidenden „Goldenen Schuss“, der in diversen Zusammenhängen Eingang in die Alltagssprache gefunden hat, sollte ein Säckchen mit Gold (Wert: immerhin rund 8000 Mark) abgeschossen werden, das am dünnen Faden hing. Da durfte man auch als Kind schon zuschauen – und hat glühend mitgefiebert.

Der Quotenrenner erzielte bis zu 72 Prozent Sehbeteiligung und zog im Gesangs- und Promi-Teil viele Berühmtheiten an. Sogar weltweite Größen wie Grace Kelly und Frank Sinatra traten bei Lou van Burg auf.

Pikantes Liebesleben

Das alles half nichts, als besonders die Boulevardpresse ein paar pikante Details aus „Onkel Lous“ Liebesleben verbreitete. Der Mann war noch verheiratet, lebte aber längst mit einer Freundin, der Sängerin und Schauspielerin Angèle Durand, zusammen. Diese wiederum verriet den Journalisten, Lou van Burg habe eine Affäre mit seiner jungen Assistentin. Die war ihrerseits anderweitig verheiratet, erwartete aber von „Onkel Lou“ bereits ein Kind. Das alles war zu viel für die damaligen Moralvorstellungen. Das ZDF trennte sich im Juli 1967 für neun Jahre von dem populären Entertainer.

Vico Torriani übernahm die Sendung und durfte somit am 25. August 1967 die allererste große Show des am selben Tag eingeschalteten deutschen Farbfernsehens leiten. Mit dem vergleichsweise blassen Torriani lief „Der goldene Schuß“ bis 1970. In den ZDF-Archiven lagern nur noch vier komplette Folgen, alles andere ist verschollen.

Rituale und Redewendungen

Lou van Burg, der joviale Mann von Welt mit dem neckischen Menjoubärtchen, präsentierte später noch die eine oder andere Musiksendung, doch den ganz großen Coup konnte er nicht mehr landen.

Dafür hat uns „Onkel Lou“ (1917-1986) ein paar unvergessliche Rituale und Redewendungen hinterlassen – vom „Schützenfest der Heiterkeit“ über den Wechselgesang mit seinem frohsinnigen Publikum („Hallo Freunde! – „Hallo Lou!“), den Spruch zum Laden der Armbrust („Bitte, Peter, den Bolzen“), das Kommando zum Schuss („Kimme, Korn – ran!“) bis hin zu den freudigen Ausrufen „Wunnebar!“ und „Der Kandidat hat 100 Punkte!“

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Vorherige Beiträge zur Reihe:

“Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” (5), “Der Kommissar” (6), “Beat Club” (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10), Loriot (11), “Kir Royal” (12), “Stahlnetz” (13), “Kojak” (14), “Was bin ich?” (15), Dieter Hildebrandt (16), “Wünsch Dir was” (17), Ernst Huberty (18), Werner Höfers “Frühschoppen” (19), Peter Frankenfeld (20), “Columbo” (21), “Ein Herz und eine Seele” (22), Dieter Kürten in “Das aktuelle Sportstudio” (23), “Der große Bellheim” (24), “Am laufenden Band” mit Rudi Carrell (25), “Dalli Dalli” mit Hans Rosenthal (26), „Auf der Flucht“ (27)

„Man braucht zum Neuen, das überall an einem zerrt, viele alte Gegengewichte.” (Elias Canetti)




Gütiger Genius: Wuppertal zeigt Camille Pissarro als Vaterfigur der Impressionisten

Dieser Mann mit dem Ehrfurcht gebietenden weißen Bart, den man da auf historischen Fotografien und gemalten Selbstporträts sieht, muss eine Leitfigur, ja ein Vorfahre beinahe biblischen Zuschnitts gewesen sein.

Und tatsächlich: Es ist kaum übertrieben, Camille Pissarro (1830-1903) als „Vater des Impressionismus“ zu bezeichnen. Als solcher firmiert er jetzt in einer sehenswerten Schau des Wuppertaler Von der Heydt-Museums.

Camille Pissarro: Selbstbildnis (1903, Öl auf Leinwand) (Tate, London / presented by Lucien Pissarro, the artist's son, 1931)

Camille Pissarro: Selbstbildnis (1903, Öl auf Leinwand) (Tate, London / presented by Lucien Pissarro, the artist’s son, 1931)

Lange Zeit blieben sie in den Pariser Salons verpönt, ja, das Wort „Impressionisten“ geriet gar zum Spottnamen, mit dem sich bornierte Kritiker das damals ungeahnt Neue der Freilichtmalerei vom Leibe hielten. Es waren ja „nur“ flüchtige Impressionen, nichts Ausgeführtes…

Einige Künstler wollten deshalb schon aufgeben, doch just Camille Pissarro hielt die Bewegung zusammen. Er beschwor die Kollegen, den Fehdehandschuh aufzunehmen und den Spottnamen zum Markenzeichen umzudeuten.

Pissarro in seinem Atelier in Eragny (Fotografie, Musée Camille Pissarro, Pontoise)

Pissarro in seinem Atelier in Eragny (Fotografie, Musée Camille Pissarro, Pontoise)

Allerdings war Geduld gefragt, bis der Kunstmarkt endlich dafür bereit war. Auch der immens fleißige Pissarro lebte lange Zeit mit Frau und acht Kindern in ärmlichen Verhältnissen. Erst um 1890 waren die meisten Impressionisten finanziell aus dem Gröbsten heraus.

70 Pissarro-Gemälde, rund 70 seiner Arbeiten auf Papier und 30 Gemälde seiner Freunde und Zeitgenossen (u. a. Cézanne, Courbet, Degas, Van Gogh, Manet, Monet, Rodin, Seurat, Signac) bietet das Museum auf. Ohne die Jackstädt-Stiftung, die die Ausstellung mit einem namhaften Betrag gefördert hat, wäre ein solcher Aufwand undenkbar. Städte allein können sich so etwas nicht mehr leisten.

Raum für Raum wird beim Rundgang deutlich, wie Pissarro, der stets offen für neue Strömungen blieb, sich phasenweise an anderen Künstlern orientiert und mit ihnen ausgetauscht hat – in Farbstimmungen und Komposition, teilweise auch bis in Feinheiten der Pinselführung hinein. So hat er etwa mit Cézanne und Renoir intensive künstlerische Zwiesprache gehalten. Museumsleiter Gerhard Finkh, der die Schau selbst kuratiert hat, entwickelt solche Einsichten nicht durch direkte Gegenüberstellung, sondern vertraut auch auf Spürsinn und Entdeckerfreude des Publikums.

"Bauernmädchen mit Strohhut" (1881, Öl auf Leinwand) (National Gallery of Art, Washington - Alisa Mellon Bruce Collection, 1970.17.52)

Camille Pissarro: „Bauernmädchen mit Strohhut“ (1881, Öl auf Leinwand) (National Gallery of Art, Washington – Alisa Mellon Bruce Collection, 1970.17.52)

Pissarro wurde auf der damals dänischen Antillen-Insel St. Thomas (heute zu den britischen Virgin Islands) geboren und war dänischer Staatsbürger. Frühe Bilder aus den 1850er Jahren sind romantische Inselansichten mit karibischem Flair. Ab 1855 studierte er Kunst in Paris, wo er sich dauerhaft niederlässt. Hernach hing Pissarro, der sich in der Nachfolge Camille Corots sah, einem dunkel getönten Realismus an, der seinerzeit auch nicht allzu marktgängig war. Man liebte es damals weithin akademisch und heroisch.

Das recht umfangreiche Frühwerk Pissarros ist größtenteils in den Wirren des deutsch-französischen Krieges 1870/71 verloren gegangen, vielfach wohl durch Plünderung. Nur rund 50 von 1400 Bildern aus seiner Anfangszeit sind noch erhalten. Über den Verbleib der meisten Werke weiß man so gut wie nichts.

Mit einer Straßenansicht von 1871, die in unmittelbarer Nachbarschaft des Hauses von Auguste Renoir entstanden ist, beginnt sozusagen die impressionistische Zeit.

"Aufsteigender Rauch an der Pont Boieldieu" (1896, Öl auf Leinwand) (bpk / RMN - Grand Palais / Rouen, Musée des Beaux-Arts / Hervé Lewandowski)

Camille Pissarro: „Aufsteigender Rauch an der Pont Boieldieu“ (1896, Öl auf Leinwand) (bpk / RMN – Grand Palais / Rouen, Musée des Beaux-Arts / Hervé Lewandowski)

Ein großartiger Raum zeigt Bildnisse einfacher Menschen, denen sich Pissarro zeitlebens zugewandt hat. Er gleitet dabei nie in Genremalerei ab, sondern versteht es, die Würde dieser Menschen nicht nur zu wahren, sondern zu verdichten. Ein Blick in eine Metzgerei gehört ebenso zu diesen Darstellungen wie eine fegende Magd oder das famose Porträt „Bauernmädchen mit Strohhut“ (1881). Es sind Bilder, vor denen man lange verweilen kann.

Eine weiterer Saal ist pointillistischen Experimenten gewidmet. Auch diese mühselige Punkt-für-Punkt-Malerei hat Pissarro zeitweise verfolgt, sie aber bald wieder beiseite gelassen. Ein pointillistisches Bild von Brügge hat er später sogar übermalt.

Überhaupt zeigt die Ausstellung auch Um- und Irrwege, ja sogar ausgesprochene Schwächen des Künstlers, die freilich auch nur nebenher abgehandelt werden. Ersichtlich hat er auf dem Gebiet des Stilllebens wenig und auf dem der Aktdarstellungen noch weniger vermocht.

Camille Pissarro: "Boulevard Montmartre bei Nacht" (um 1897, Öl auf Leinwand) (The National Gallery, London / Bought, Courtauld Fund, 1925 / The Bridgeman Art Library)

Camille Pissarro: „Boulevard Montmartre bei Nacht“ (um 1897, Öl auf Leinwand) (The National Gallery, London / Bought, Courtauld Fund, 1925 / The Bridgeman Art Library)

Doch wie sind ihm mit der Zeit die Landschaften geglückt! Wie trefflich hat er (zuweilen auch für anarchistische Publikationen) Szenen des entbehrungsreichen Landlebens vor Augen geführt. Industriell geprägte Hafenansichten und schließlich die Boulevards von Paris sorgen für unvergessliche Schlussakkorde der Schau. Über Wochen, manchmal über Monate hat der inzwischen arrivierte Künstler sich Freiraum von der Familie gegönnt, in Hotels logiert und vom Zimmer oder Balkon aus Plätze und Straßen gemalt, bevorzugt rings um den Louvre. Waren alle Blickwinkel erschöpft, stieg er im nächsten Hotel ab.

Camille Pissarro: "Aveneue de l'Opéra" (1898, Öl auf Leinwand) (Reims, Musée des Beaux-Arts / Giraudon / The Bridgeman Art Library)

Camille Pissarro: „Aveneue de l’Opéra“ (1898, Öl auf Leinwand) (Reims, Musée des Beaux-Arts / Giraudon / The Bridgeman Art Library)

Es sind freilich keine triumphal strahlenden, auftrumpfenden Bilder, sondern es ist eher ein verhaltenes Leuchten, ein stiller Glanz, der die Arbeiten auszeichnet. Wie einem denn überhaupt dieser Mann – trotz geschichtlicher Distanz – auch menschlich sympathisch werden kann, wenn man ahnt, wie vielen Künstlern (vor allem Van Gogh in dessen größter Krise) er geholfen hat und wie er sich auch für die Malweisen jüngerer Künstler begeistern konnte. Ja, er war nicht nur ein Künstler von hohen Graden, sondern offenbar auch so etwas wie ein gütige Vaterfigur.

„Pissarro. Vater des Impressionismus.“ Von der Heydt-Museum, Wuppertal, Turmhof 8. Vom 14. Oktober 2014 bis zum 22. Februar 2015. Geöffnet Di/mi 11-18, Do/Fr 11-20, Sa/So 10-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 12 Euro, ermäßigt 10 Euro. Katalog 25 Euro, DVD 15 Euro. www.von-der-heydt-museum.de




„Geschlossene Gesellschaft“: Vom Glanz und Elend der Superreichen

Was macht das viele Geld mit den Reichen und Superreichen? Sind Multimillionäre und Milliardäre besonders glücklich oder besonders zerknirscht?

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Derlei Menschheitsfragen wollte Dennis Gastmann mit seinem Buch „Geschlossene Gesellschaft. Ein Reichtumsbericht“ stellen – und vielleicht gar beantworten. Ist es ihm gelungen?

Nun, zunächst einmal lässt er uns weitschweifig und umständlich wissen, an welche reichen Leute er n i c h t herangekommen ist, nämlich an fast alle Berühmtheiten: „Mick Jagger? Begrüßt mein Interesse, muss jedoch absagen. Johnny Depp? Hat keine Lust.“ Und so geht die Aufzählung Seite um Seite weiter. Da stehen leider fast alle, die wirklich interessant gewesen wären. Zeigt her eure Konten? Von wegen!

Andere Journalisten hätten das langwierige, wohl auch nicht ganz billige Recherche-Projekt in dieser Phase vielleicht aufgegeben. Nicht so Dennis Gastmann, der sonst vorwiegend für die ARD-Auslandsmagazine und die Satiresendung „extra 3“ arbeitet und offenbar partout ein Buch hat füllen wollen.

Wortreich schildert er seinen wenig ergiebigen Besuch beim Playboy-Sohn Rolf Sachs. Es folgt ein Treffen mit dem „Schraubenkönig“ Reinhold Würth, der offenbar ausgeprägt sozialdarwinistisch denkt und ein Patriarch vom knorrigen alten Schlage ist; ein Getriebener, niemals vom angehäuften Mammon satt.

Da ansonsten auch hier nicht viel Brauchbares abfällt, gerät der Autor zwischendurch vollends ins Faseln. Er stellt sich vor, wie viele Coffee-to-go-Becher Würth sich für sein Milliardenvermögen kaufen könnte und wie hoch die sich türmen würden. Damit noch lange nicht genug. Es ist streckenweise eine arge Zeilenschinderei.

Dennis Gastmann schleicht sich fortan ins eine oder andere Society-Ereignis ein, beispielsweise auf Sylt, wo einem manches nicht nur halbgar, sondern auch halbseiden vorkommt. Merke: Reichtum kann gleichzeitig so schäumend und so freudlos sein. Doch irgendwie scheint Gastmann schon stolz darauf zu sein, einmal beim halbwegs großen Gelde zu hocken. Er zeigt sich von seinem Thema zuweilen mehr affiziert, als er es vielleicht gewollt hat.

Weiter geht die Hatz nach Marbella, wo Gastmann sich kurz im Dunstkreis der Bea von Auersperg bewegt. Welch eine trübe Veranstaltung und so gar kein Anlass, die Story der Dame derart auszuwalzen.
Aber Gastmann hat ja noch viel mehr im Köcher. Wir werden durch die strengste aller Butler-Schulen geführt, lernen einen Egomanen kennen, der sein Geld als Schönheitschirurg scheffelt, besuchen mit Dennis Gastmann den oberpeinlichen Berliner Alt-Playboy Rolf Eden, schnüren über die Yacht-Messe in Cannes, schauen bei einer Maklerin in Monaco und einem russischen Oligarchen vorbei, der sich im Neureichen-Kitsch suhlt und seiner Gefährtin eine weltweite Pop-Karriere finanzieren will. Uff!

Ein dekadentes Sex- und Geldmonster bildet sodann gleichsam den Gegenpol zum ungemein bienenfleißigen Trigema-Chef Grupp (der mit der Affenwerbung), einem gelegentlich cholerischen Sonderling, wenn man der Schilderung glauben darf.

Hin und wieder hat das Buch nun doch etwas Fahrt aufgenommen, und es ist dem Autor gelungen, sozusagen ein paar Brosamen vom großen Reichtum aufzusammeln. Es gibt Passagen, bei denen man sich bis zur Grusel- oder Ekelgrenze ärgern kann. Allerdings würde Neid ins Leere laufen, so erbärmlich wirken die meisten Protagonisten. Manche dieser Gestalten gieren derart nach ein bisschen Aufmerksamkeit, dass sie einem schon fast wieder Mitleid abnötigen.

Wir erfahren, dass es geradezu verbissen seriöse Spielarten des Reichtums gibt, aber eben auch halbkriminell funkelnde Formen und verblichene Restbestände. Oft genug geht jedes Maß verloren. So richtig glücklich scheint niemand mit dem übermäßigen Geldsegen zu sein, der sich denn häufig als Fluch erweist. Ein altes Lied: Ach, die armen Reichen! Kann das ein Trost sein? Und falls ja: für wen?

Dennis Gastmann: „Geschlossene Gesellschaft. Ein Reichtumsbericht“. Rowohlt Berlin. 302 Seiten. 19,95 Euro.




TV-Nostalgie (27): „Auf der Flucht“ – Als Dr. Richard Kimble durch die USA gehetzt wurde

Eigentlich erstaunlich, dass diese Serie auch bei uns so legendär werden konnte. Ab 9. Juli 1965 zeigte die ARD lediglich 26 von insgesamt 120 Folgen von „Auf der Flucht“. Dennoch war der flüchtige „Dr. Kimble“ (David Janssen) bald allen Fernsehzuschauern ein Begriff – und blieb es für viele bis heute.

Doch halt! Nicht alle haben das damals sehen dürfen. Wenn ich mich recht entsinne, haben meine Eltern die Serie damals regelmäßig geguckt, doch für mich war „Auf der Flucht“ (nach ihrer Meinung) noch viel zu aufregend. Wahrscheinlich ist es vielen so ergangen, die seinerzeit Kinder waren. Aber man hörte und las ja überall davon.

Unschuldig zum Tode verurteilt

Wir erinnern uns also: In der im Original schier endlosen US-Thrillerserie ging es um jenen Arzt Dr. Richard Kimble, der zum Tod auf dem elektrischen Stuhl verurteilt wurde, weil er angeblich seine Frau ermordet hatte. Doch er war unschuldig. Auf dem Weg zur Hinrichtung gelang ihm die Flucht, die fortan kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten führte. Und wie wurde der Mann gehetzt!

Gehetzter Mann: David Janssen als Dr. Richard Kimble (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=PCdPAELyRyI)

Gehetzter Mann: David Janssen als Dr. Richard Kimble (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=PCdPAELyRyI)

Ich habe mir jetzt probehalber noch einmal zwei Folgen angesehen und muss sagen: Die Filme sind heute noch spannend. Die Hauptfigur, wahrlich ein einsamer Wolf, lebt in beständiger Furcht. Dr. Kimble misstraut erst einmal jedem Menschen, dem er begegnet.

Drohbriefe für Polizisten-Darsteller

Immer und immer wieder droht die Entdeckung – vor allem durch den besessenen Polizei-Lieutenant Gerard. Barry Morse, der Darsteller dieses Erz-Widersachers, bekam in den USA (wo die Serie von 1963 bis 1967 lief) sogar echte Drohbriefe, so glaubhaft spielte er den unerbittlichen Verfolger.

Einer allein gegen alle? Nicht ganz. Auf seinen Fluchtwegen fand Dr. Kimble auch immer wieder Menschen, die ihm – aus unterschiedlichsten Motiven – halfen. Da wurden streckenweise sehr anrührende menschliche Geschichten erzählt.

Der geheimnisvolle Einarmige

Manche Folgen zerren nicht nur als Krimis an den Nerven, sie erweisen sich überdies als packende Sozialstudien; beispielsweise die Episode, die in West Virginia spielt – in einem einst lebendigen, jetzt aber hoffnungslosen Ort, dessen Bergwerk schließen musste. Vor diesem Hintergrund wirkt Kimbles Flucht noch eine Spur verzweifelter als sonst schon. Und man kann nicht umhin, unwillkürlich an Teile des Ruhrgebiets zu denken.

Die allzeit ruhelose Flucht hat zwei Spannungsbögen, die die gesamte Serie überwölben. Zum einen zittert man mit Dr. Kimble, dass er nicht gefangen werden möge, zum anderen wünscht man ihm innig, dass er selbst den geheimnisvollen Einarmigen aufspürt, der offenbar der wirkliche Mörder seiner Frau ist.

Sogar heute scheut man sich noch, die (wohl allseits bekannte) Lösung des Dramas auszuplaudern. Wer weiß: Vielleicht hatten die Eltern damals doch recht. Es war tatsächlich viel zu aufregend für uns.

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Vorherige Beiträge zur Reihe:

“Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” (5), “Der Kommissar” (6), “Beat Club” (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10), Loriot (11), “Kir Royal” (12), “Stahlnetz” (13), “Kojak” (14), “Was bin ich?” (15), Dieter Hildebrandt (16), “Wünsch Dir was” (17), Ernst Huberty (18), Werner Höfers “Frühschoppen” (19), Peter Frankenfeld (20), “Columbo” (21), “Ein Herz und eine Seele” (22), Dieter Kürten in “Das aktuelle Sportstudio” (23), “Der große Bellheim” (24), “Am laufenden Band” mit Rudi Carrell (25), „Dalli Dalli“ mit Hans Rosenthal (26)

“Man braucht zum Neuen, das überall an einem zerrt, viele alte Gegengewichte.” (Elias Canetti)




Berlin, Berlin – eine kleine Polemik

Seit ein paar Jährchen bin ich nicht mehr in Berlin gewesen. Mag sein, dass es auch daran liegt. Aber bestimmt nicht nur. Tatsache ist: Berliner Befindlichkeiten gehen mir auf den Geist. Doch die Gazetten quellen davon über.

Was interessiert’s mich, wen die Türsteher im Berghain reinlassen und ob der Schuppen überhaupt noch wichtig ist? Was geht’s mich an, wer im Café Einstein oder sonstigen Lokalitäten Platz nimmt? Was juckt es mich, ob der Prenzlauer Berg derzeit an- oder abgesagt ist und wohin sich die Hipness gerade mal wieder verlagert hat?

Der Autor der umliegenden Zeilen anno 2001 in Berlin. (Foto: privat)

Der Autor der umliegenden Zeilen anno 2003 in Berlin. (Foto: privat)

Ob Berlin sich anschickt, europäische oder Weltmetropole der Kunst, der Mode oder sonstigen Unsinns zu werden – piepegal! Wann dieser unselige Flughafen fertig wird – wurscht! Dass eingesessene Berliner zugereiste Schwaben und Touris nicht haben wollen – einerlei!

Da jetzt mal wieder der „Tag der deutschen Einheit“ ist, sei noch kurz angemerkt: Einen Streit, der es an Lächerlichkeit mit dem Disput ums millionenschwere Projekt einer „Einheitswippe“ in Berlin aufnehmen kann, müsste man erst noch erfinden. Man stelle sich vor: Die Wippe ist doch tatsächlich ins Wanken geraten…

Und überhaupt: Warum soll letztlich das ganze Land für ein irrsinniges Prestigeprojekt wie das Berliner Stadtschloss draufzahlen?

Von dem Ausblick (2001) war ick schwer beeindruckt, wa? (Foto: Bernd Berke)

Von dem Ausblick (2001) war ick schwer beeindruckt, wa? (Foto: Bernd Berke)

Um vollends polemisch zu werden: Erst hat die BRD West-Berlin als eingemauerte „Frontstadt“ mit durchgezogen, jetzt alimentieren alle die protzende Hauptstadt, deren Bewohner gleichwohl geglaubt haben, einen lebenslangen Anspruch auf günstigere Mieten zu haben als der ganze Rest der Nation.

Während Frankreich auf Paris zentrierte Strukturen wenigstens hie und da abbaut, eröffnen im staatlichen Kielwasser Hinz und Kunz Berliner Zentralen oder wenigstens Niederlassungen. In der Frankfurter (!) Allgemeinen Sonntagszeitung lese ich mehr über Berlin als über den gesamten Rest der Republik. Habe ich denn einen wuchernden Berliner Lokalteil bestellt? Nein.

Mich würde es gelegentlich auch mal interesseren, wie es z. B. in Bremen, Dresden, Kiel, Leipzig, Stuttgart, Nürnberg, Hannover, Rostock, Köln, Kassel oder Kaiserslautern zugeht. Von Hamburg und München ganz zu schweigen. Und vom Ruhrgebiet mal abgesehen, wenn’s nicht wieder die ewiggleichen Depressions-Arien der überregionalen Presse sind…

Aber nein. Statt dessen gibt’s stets die allerneuesten Trends aus Berlin-Mitte oder welchem Place-to-be-Hauptstadtteil auch immer. Und immerzu die ebenso atemlosen wie weitschweifigen Erwägungen, ob Berlin nun „arm aber sexy“ oder doch irgendwie Kiez-provinziell sei, ob und wie es als „einzige deutsche Weltstadt“ mit London, Paris und New York konkurrieren könne oder eben nicht. Wumpe!

Auch hier überkam mich der Weltstadt-Schauder. (Foto: Bernd Berke)

Auch hier überkam mich der Weltstadt-Schauder. (Foto: Bernd Berke)

Ganz ehrlich: Ich war schon damals gegen die ungemein kostspielige Verlagerung der Hauptstadt von Bonn nach Berlin. Tatsächlich ist der Polit- und Medienbetrieb seither aufgeregter und großmäuliger geworden. Man durfte nichts anderes erwarten.

Apropos Medien. In Berlin selbst erscheinen ein paar Blättchen mit vergleichsweise lächerlich geringen Auflagen, die gleichwohl bundesweite Meinungsführerschaft beanspruchen: Tagesspiegel, Berliner Zeitung und taz sind hie und da lesenswert, jedoch im Grunde herzlich unbedeutend. Vom Fußball in der Kapitale wollen wir denn lieber gleich ganz schweigen. Der war fast immer zweit- bis drittrangig.

Als Trost für Hauptstadtbewohner bleibt einstweilen nur Frank Goosens aufs Ruhrgebiet gemünzter Sinnspruch: „Woanders is‘ auch scheiße…“




Die fast unbekannte Baugeschichte des alten Ostwall-Museums – ein Buch zur rechten Zeit

Eigentlich kaum zu begreifen: Die Baugeschichte des über Jahrzehnte wichtigsten Dortmunder Kunstortes war bis in die jüngste Zeit weitgehend unbekannt. Jetzt soll ein neues Buch endlich Klarheit schaffen, möglichst mit raschen Wirkungen über die hehre Wissenschaft hinaus. Denn in Dortmund wird immer noch um die Erhaltung des früheren Ostwall-Museums gerungen – neuerdings mit deutlich besseren Aussichten.

Nun aber der Reihe nach. Die eingehende Untersuchung der Dortmunder Architektur-Dozentin Sonja Hnilica trägt den nüchternen Titel „Das Alte Museum am Ostwall. Das Haus und seine Geschichte“. Der Band ist in staunenswertem Tempo (ein knappes Jahr von der Idee bis zum fertigen Buch) vom Essener Klartext Verlag produziert worden und fördert Erkenntnisse zutage, die unbedingt gegen einen immer noch möglichen Abriss des Gebäudes sprechen. Klartext-Verleger Ludger Claßen gibt sich indes keinen allzu großen Illusionen hin: Früher habe man sich mit Büchern wirksamer in öffentliche Diskussionen einmischen können.

Museum Ostawall_18.8.2014.inddDie allermeisten Menschen halten das Haus am Ostwall für einen typischen, eher schmucklosen Nachkriegsbau. Doch es verhält sich anders: Hinter der gelblichen Klinkerfassade stehen noch wesentliche Teile des alten Mauerwerks aus den Ursprungsjahren. Von 1872 bis 1875 errichtet, beherbergte der vom Architekten Gustav Knoblauch entworfene Bau zunächst das Königliche Oberbergamt, 1911 wurde die Behörde zum Städtischen Kunst- und Gewerbemuseum umgebaut. Unter Ägide des Stadtbaurats Friedrich Kullrich entstand dabei jener wundervolle Lichthof mit Glasdach, den es in ganz ähnlicher Form noch heute gibt; wie denn überhaupt der anfängliche Grundriss weitgehend erhalten geblieben ist.

Auch wenn es von außen nicht den Anschein hat: Das vormalige Ostwall-Museum darf im Kern als ältester Profanbau innerhalb des Dortmunder Wallrings gelten, nur die Kirchen sind früher entstanden.

Die heutige „Außenhaut“ des Gebäudes geht allerdings auf die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg zurück. Als Dortmund in Trümmern lag, war es vor allem der Beharrlichkeit der Leiterin Leonie Reygers zu verdanken, dass ab 1947/49 am Ostwall erneut ein Museum entstehen konnte – nun allerdings als reines Kunstmuseum ohne kulturgeschichtliche Nebenlinien. Anfang 1949 gab es am Ostwall wieder die erste Kunstausstellung, bei laufendem Betrieb gingen die Umbauarbeiten bis 1957 Schritt für Schritt weiter.

Eventuell hätte man das Haus im alten Stil wieder aufrichten können, doch diese Option ist offenbar nie ernsthaft erwogen worden. Ganz bewusst hat Leonie Reygers die Zeichen auf Bescheidenheit gestellt. Es sollte kein womöglich einschüchternder, historisierender Imponierbau entstehen, sondern ein einladender, äußerlich schlichter Zweckbau, quasi im Geiste der noch ungefestigten Demokratie. Immerhin wurden solide Materialien verwendet.

Teilansicht des alten Ostwall-Museums im jetzigen Zustand (Aufnahme vom 30. September 2014). (Foto: Bernd Berke)

Teilansicht des alten Ostwall-Museums im jetzigen Zustand (Aufnahme vom 30. September 2014). (Foto: Bernd Berke)

Mag sein, dass man eine derartige Entscheidung heute anders treffen und im Stile des 19. Jahrhunderts restaurieren würde. Tatsache bleibt, dass der Bau – gleichsam schichtweise – eine wechselvoll verwobene Geschichte mit Signaturen verschiedener Epochen darstellt. Im Gegensatz zur bisher vorherrschenden Auffassung müsste man deshalb nachdrücklich für Denkmalschutz plädieren. Das mit Vorkriegs-Relikten wahrlich nicht reich gesegnete Dortmund würde sich bundesweit unsterblich blamieren, wenn hier die Abrissbagger kämen und an selbiger Stätte ein Seniorenzentrum entstünde.

Für ein solches Buch wird es also allerhöchste Zeit, bezieht es sich doch auf einen seit Jahren schwelenden Dortmunder Streitfall: Immer wieder hat der Dortmunder Stadtrat in den letzten Monaten eine endgültige Festlegung übers Ostwall-Museum vertagt. Die nächste Sitzung steht an diesem Donnerstag auf dem Plan.

Täuscht man sich, oder darf die Zögerlichkeit vor einem endgültigen Entscheid allmählich als Hoffnungszeichen gedeutet werden? Professor Wolfgang Sonne, an dessen Dortmunder TU-Lehrstuhl die vorliegende Studie entstanden ist, sagte zur Buchvorstellung mit aller Vorsicht, es werde wohl auch jetzt keine „Guillotinen-Entscheidung getroffen“. Nach derzeitigem Stand dürfe man sogar hoffen, dass das Gebäude „noch in diesem Jahr gerettet werden kann“.

Das einstige Kunst-Domizil steht seit dem Umzug der Bestände zum „Dortmunder U“ leer. Lichtblick: Ab 25. Oktober soll der Bau als Zentrum des Theaterfestivals „Favoriten 2014“ (Treffen der freien Szene NRW) dienen. Dennoch: Bislang droht immer noch ein Abriss, ein entsprechender Ratsbeschluss müsste mit neuer Mehrheit rückgängig gemacht werden, um am Ostwall den Weg für ein NRW-Baukunstarchiv mit Nachlässen einflussreicher Architekten frei zu machen. Hinter den Kulissen wird eifrig über Kosten und Konzepte verhandelt.

Sonja Hnilica: „Das Alte Museum am Ostwall. Das Haus und seine Geschichte“. Klartext Verlag, Essen. 144 Seiten, Broschur, zahlreiche (z. T. farbige) Abbildungen, 19,95 Euro.




Als Japan den Westen betörte – eine schwelgerische Schau im Museum Folkwang

Es ist mal wieder eine dieser Prunk- und Prachtausstellungen des Essener Folkwang-Museums. Seit das Haus Projekt-Partnerschaften mit dem potenten Sponsor e.on (vormals Ruhrgas) pflegt, gibt es solche Schauen mit schöner Regelmäßigkeit. Praktisch immer sind die üblichen Heroen der Klassischen Moderne mit dabei, deren namentliche Signalwirkung weithin ausstrahlende Events garantiert. Diesmal lautet der Titel: „Monet, Gauguin, van Gogh… Inspiration Japan“.

Kitagawa Utamaro: "Die Kurtisane Kisegawa aus dem Matsubaya". Mehrfarbiger Holzschnitt, (© Staatliche Museen zu Berlin, Museum für Asiatische Kunst)

Kitagawa Utamaro: „Die Kurtisane Kisegawa aus dem Matsubaya“. Mehrfarbiger Holzschnitt, (© Staatliche Museen zu Berlin, Museum für Asiatische Kunst)

Es geht um Japonismen, also japanische Einflüsse in der französischen Kunst, die damals mit der globalen Kunsthauptstadt Paris den Ton angab. Der Betrachtungszeitraum reicht im Wesentlichen von 1860 bis 1910. Das Thema wird mit 400 Werken (davon 65 Gemälde) in zwölf Kapiteln entfaltet, denen zwölf Räume entsprechen. So weit das dürre Zahlenwerk.

Doch so nüchtern bleibt es wahrlich nicht. Irgendwann erreicht man den Gipfel des Schönheitsempfindens: Grandioser, schwelgerischer Höhepunkt ist jener Raum mit den prächtig in Szene gesetzten Seerosenbildern von Claude Monet, dessen Garten in Giverny (Normandie) nach japanischen Vorbildern und mit japanischen Pflanzen angelegt worden war. Kein Wunder also, dass auch die künstlerische Gestaltung japanisierende Züge trägt, nicht zuletzt die serielle Arbeitsweise rührt von daher.

Claude Monat "Der Seerosenteich" (Öl auf Leinwand, 1899). The Metropolitan Museum of Art, H. O. Havemeyer Collection, Bequest of Mtrs. H. O. Havemeyer, 1929 (© Foto: bpk; The Metropolitan Museum of Art)

Claude Monat „Der Seerosenteich“ (Öl auf Leinwand, 1899). The Metropolitan Museum of Art, H. O. Havemeyer Collection, Bequest of Mtrs. H. O. Havemeyer, 1929 (© Foto: bpk; The Metropolitan Museum of Art)

Japonismen waren damals ein Hauptstrang der Kunstentwicklung. Alle Fluchtlinien des Rundgangs laufen gleichsam auf die Apotheose in Monets Garten zu. Ringsum wird anhand von allerlei japanischen und französischen Kunstwerken erwogen, wie die Einflüsse verlaufen sein könnten. Da begegnet man einigen Bildern wie etwa Vincent van Goghs „Sämann“ oder Gauguins „Frauen aus Arles“, die in Kunstlexika ihren festen Platz haben und auch Besucher aus der Ferne anlocken werden.

Es begann wohl mit der Öffnung und Modernisierung Japans sowie der nachfolgenden Japan-Mode, die ganz Westeuropa erfasste. Schon bald tauchten in französischen Gemälden japanische Kunstgegenstände auf – als betörende Zeichen eines luxuriösen zeitgenössischen Lebensstils, der sich alsbald nicht nur in den Alltag der „besseren Kreise“, sondern auch in die Kunst des Westens einfügte.

Paul Gauguin: "Frauen aus Arles" (Öl auf Jute, 1888). Mr. and Mrs. Lewis Larnes Coburn Memorial Collection, 1934.39, The Art Institute of Chicago (© Foto: The Art Institute of Chicago)

Paul Gauguin: „Frauen aus Arles“ (Öl auf Jute, 1888). Mr. and Mrs. Lewis Larnes Coburn Memorial Collection, 1934.39, The Art Institute of Chicago (© Foto: The Art Institute of Chicago)

Die charakteristischen japanischen Rollbilder, Holzschnitte, Masken, Fächer und Gebrauchsgegenstände (Teebehälter, Lackdosen usw.) zeichnen sich durch eine ganz eigentümliche Ästhetik aus, die durch Fremdheit fasziniert haben muss. Mal galt sie als rein und unverdorben oder auch roh, mal als raffiniert und sublim. Ihre zunächst irritierenden Weltbilder weichen jedenfalls deutlich von der europäischen Zentralperspektive ab. Ein und dasselbe Kunstwerk kann viele Blickpunkte nebeneinander haben. Solche Bilder sind nicht auf dreidimensionale Wirkung aus, sondern bleiben flächenhaft, wobei auch leere Flächen bedeutsam sind. Formen entstehen vielfach durch dekorative Arabesken und Ornamente.

Katsushika Hokusai: "Die große Welle vor der Küste bei Kanagawa" (Mehrfarbiger Holzschnitt, um 1831). Privatsammlung. (© Foto: Museum Folkwang)

Katsushika Hokusai: „Die große Welle vor der Küste bei Kanagawa“ (Mehrfarbiger Holzschnitt, um 1831). Privatsammlung. (© Foto: Museum Folkwang)

Hinzu kommen radikale Bildausschnitte, steile Draufsichten, extreme Bildformate, hohe Horizontlinien, kräftige Umrisse und eine besondere („unnatürliche“) Farbgebung. Das alles ist damals sicherlich den Tendenzen entgegen gekommen, die sich in der Moderne ohnehin abzeichneten und auf den Abschied von realistischer Abbildhaftigkeit hinausliefen. Die Impulse aus Japan dürfte den Prozess beschleunigt und intensiviert haben. Übrigens haben offenbar just jene Künstler die Anregungen am feinsinnigsten aufgegriffen, die niemals in Japan gewesen sind. Die wenigen Beispiele von Reisebildern aus Japan wirken demgegenüber geradezu uninspiriert. Es ging eben um Phantasie, nicht um Sightseeing.

Die Kuratorin Sandra Gianfreda hat sich vielfach auf Bestände des Folkwang-Museums stützen können. Schon Karl Ernst Osthaus, Begründer der anfänglich in Hagen beheimateten Sammlung, hatte erlesene Kunst mit japanischem Einschlag gekauft. Auch die von japanischen Künstlern (darunter z. B. die populären Meister Hokusai und Hiroshige) stammenden Exponate hat man jetzt nicht etwa aus japanischen Museen geliehen, sondern es sind überwiegend Stücke, die sich im Besitz französischer Künstler befanden. Das ist ja auch schon eine wichtige Frage: Wer konnte welche japanischen Arbeiten kennen? Wenn man weiß, wer was gesammelt oder sonstwie rezipiert hat, lassen sich auch die Einflüsse besser dingfest machen.

Edgar Degas: "Orchestermusiker" (Öl auf Leinwand, 1872 - überarbeitet 1874-76). Städtische Galerie, Städel Museum, Frankfurt/Main (© Foto: U. Edlemann / Städel Museum / Artothek)

Edgar Degas: „Orchestermusiker“ (Öl auf Leinwand, 1872 – überarbeitet 1874-76). Städtische Galerie, Städel Museum, Frankfurt/Main (© Foto: U. Edlemann / Städel Museum / Artothek)

Ansonsten besteht Frau Gianfreda darauf, dass es hier nicht etwa um einen kolonialistischen Blick der Europäer gehe („Japan war nie eine Kolonie“), sondern um (wertneutrale?) transkulturelle Vermittlungen. Überhaupt handle die Ausstellung „nicht von Politik, sondern nur von Ästhetik“. Ob man da auf eine Dimension verzichtet, die so manches noch ganz anders erhellen könnte?

Eine etwas schmale These der Schau lautet, dass sich französische Künstler nach und nach Motive und Duktus der japanischen Kunst anverwandelt hätten, bis dies sozusagen in Fleisch und Blut übergegangen war. Hier beginnt freilich auch schon eine Schwierigkeit. Japanische Anregungen wurden, so scheint es, zuweilen dermaßen verinnerlicht und eigenschöpferisch fortgeführt, dass man sie kaum noch als solche ausmachen kann. Da droht das Thema der Ausstellung beinahe zu verschwimmen. Folglich verzichtet man auch auf direkte Gegenüberstellungen, sondern lässt das Thema teils im Ungefähren durch die Raumfolgen wabern.

Paul Cézanne: "Montagne Sainte-Victoire" (um 1890). Musée d'Orsay, Paris (© Foto: bpk / RMN - Grand Palais / Hervé Lewandowski)

Paul Cézanne: „Montagne Sainte-Victoire“ (um 1890). Musée d’Orsay, Paris (© Foto: bpk / RMN – Grand Palais / Hervé Lewandowski)

Ob und inwiefern sich etwa die luftig-duftigen Balletteusen eines Edgar Degas noch der japanischen Inspiration verdanken, ist wohl nicht ganz leicht zu belegen. Auch leuchtet nicht ohne weiteres ein, dass die Wellenbilder von Gustave Courbet auf Hokusais „Große Welle“ zurückgeführt werden können. Nun gut. In solcher Mehrdeutigkeit mag denn auch ein flirrendes Element der Spannung liegen.

Allerdings gibt es auch etliche entschiedene, sehr frappante Japonismen, seien es eine „Japonaiserie“ von van Gogh, ein zartes Blumenbild von Odilon Redon, Cézannes Ansichten der „Montagne Sainte-Victoire“, hinreißende Plakate von Pierre Bonnard und Toulouse-Lautrec oder die Holzschnitte von Félix Vallotton.

Einen erotischen Nachklang hat die Ausstellung auch noch. Reihenweise hat Pablo Picasso 1968 Erotika im quasi-japanischen Stil hervorgebracht. Da geht es freizügig „zur Sache“. Passende Kapitelüberschrift: „Die Kunst ist niemals keusch“.

„Monet, Gauguin, van Gogh… Inspiration Japan“. 27. September 2014 bis 18. Januar 2015. Geöffnet Di-Do 10-20, Fr 10-22, Sa/So 10-18 Uhr. Eintritt 13 Euro (ermäßigt 8 Euro). Führungen Tel.: 0201/201 8845 444. Katalog 39 Euro. Internet: www.inspiration-japan.de




Was ein ambitionierter Setzer und Drucker mit Texten von Max Goldt anstellt

Wie auf jedes neue Buch von Max Goldt, so habe ich mich auch auf dieses gefreut. Doch ach, die Vorfreude wurde hernach ein wenig geschmälert.

Die herrlich schrägen Texte des Meisters sind in die Hände eines leidenschaftlich traditionsversessenen Setzers, Druckers und Typographen gefallen. Mit Goldts Einverständnis, ja gewiss doch.

Bisher hat sich der Drucker Martin Z. Schröder in seiner Berliner Werkstatt seit 1998 nur für Kleinverlage über Goldts Kolumnen hergemacht – und dabei recht achtbare Auflagen erzielt. Jetzt sehen wir die dabei entstandenen Seiten als Edition bei Rowohlt Berlin im Faksimile, also gleichsam aus zweiter Hand. Der Band heißt „Chefinnen in bodenlangen Jeansröcken“. Ein typischer Goldt-Titel im Geiste des höheren Nonsens, der freilich immer wieder unversehens ins erhaben Sinnhafte beidreht.

Chefinnen-in-bodenlangen-Jeansrocken-9783871347924_xxlNatürlich ist es aller Ehren wert, wenn einer die herkömmlichen Druck- und Satztechniken mitsamt den alten Apparaturen und Maschinen liebevoll pflegt, wenn er im Dienste der Bibliophilie weder Kosten noch Mühen scheut und hergebrachte Fertigkeiten vor dem Untergang bewahrt. Bücher, die in diesem Sinne entstehen, sind nicht zuletzt Sammlerstücke.

Auch mag es ja sein, dass eine sorgsam ausgewählte Typographie der Textinterpretation nutzt, ja gleichsam selbst schon eine Interpretation darstellt. Zumal die historischen Stilzitate prägen auch den Inhalt. Es sind eben grundverschiedene Anmutungen, wenn ein und derselbe Text in einer alten Schrift der Aufklärung, in Fraktur oder etwa in einem Duktus der 1950er Jahre aufscheint. Was eigentlich gar nicht mehr zu beweisen war.

Doch leider tritt hier der typographische und gestalterische Zugriff häufig dermaßen in den Vordergrund, dass er sich die Texte schier untertan macht. Wunderbar zauselig-abstruse Stellen werden optisch so zugerichtet, dass auf einen Schelmen anderthalbe gesetzt werden. Hie und da steigert das nicht gerade die Subtilität, sondern mindert sie sogar. Es ist, als wollte der Drucker Schröder stets unserer Phantasie aufhelfen und uns auf den Kerngehalt der Textpassagen bringen oder gar stoßen. Man merkt die Absicht und man ist (zuweilen) verstimmt.

Im Hochgefühl seines Handwerkerstolzes führt Schröder dabei vor, was mit drucktechnischen Mitteln so alles möglich ist, sein Arsenal ist ziemlich gut gefüllt. „Ja, das alles, auf Ehr’, das kann ich und noch mehr“: Es ist mitunter ein wahrer Lettern-Fetischismus, der sich da ergeht.

Da stehen Schriften kopf oder erstrecken sich in alle Richtungen, da kann das Satzbild jederlei Form annehmen und sich auch schon mal als Spirale ringeln. Die Zeilen können sich verengen, weiten, springen oder sonstwie ins Tanzen geraten.

Kurzum: Jede Seite sieht hier anders aus als die vorherige. Im Einzelnen ist das ja hübsch anzusehen und nötigt auch gehörigen Respekt ab. Doch die geradezu zwanghafte Vielfalt lenkt auf Dauer von den Inhalten eher ab.

Möglich, dass dies alles ein ästhetisches Fest für Typo-Freaks ist. Doch Max Goldts inspirierte und inspirierende Texte, von denen hier bewusst nicht die nähere Rede ist, wirken in diesem sicherlich immens arbeitsreichen Verfahren vielfach nur noch wie bloßes Demonstrationsmaterial, wie bruchstückhafte Versuchsobjekte. Ich erlaube mir, das schade zu finden.

Max Goldt und Martin Z. Schröder: „Chefinnen in bodenlangen Jeansröcken“. Faksimile vierer typografischer Sammlerstücke. Inszeniert von Martin Z. Schröder. Rowohlt Berlin Verlag. 144 Seiten, ohne Paginierung. 25 Euro.




TV-Nostalgie (26): Immer hübsch harmlos bleiben – Als Hans Rosenthal „Dalli Dalli“ rief

Alles Gute, alles Liebe – Ihr Hans Rosenthal“. Wer sich nach der Show so von seinem Publikum veabschiedet und dazu noch einen tiefen Diener macht, der will einfach nur nett sein und nirgendwo anecken. Rosenthal war mit „Dalli Dalli“ beim harmonieträchtigen ZDF genau richtig.

Die Spielshow lief von 1971 bis 1986 allmonatlich und brachte es auf 153 Folgen. Wahrhaftig ein „Dauerbrenner“.

Nichts für junge Leute

Ganz ehrlich: Als wir damals jung waren, haben wir die Sendung noch nicht mal ignoriert. Solche Unterhaltung war uns völlig egal, so überaus bieder, brav und saubermännisch kam sie daher. Unausgesprochenes Motto: Allen wohl und keinem weh.

Der nette Herr Rosenthal vor der Waben-Deko im Stil der 70er Jahre (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=y8sKHHGRXqw)

Der nette Herr Rosenthal vor der Waben-Deko im Stil der 70er Jahre (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=y8sKHHGRXqw)

Heute urteilt man milder und sieht in den alten Sendungen lauter Zeichen der Zeit – von den durchweg harmlosen Fragethemen (z. B. Briefmarkensammeln) über die Haarmode bis zu den Umgangsformen. Die wabenförmige Bühnendekoration verströmte ebenfalls den Geist der 70er Jahre. Und Rosenthals Geplauder mit den Gästen („Ja, wenn Männer mal die Hausfrauenarbeit machen…“) klang oft ziemlich konservativ.

Neckische Spielchen

Ich habe mir jetzt die Ausgabe vom 21. November 1974 noch einmal in voller 90-Minuten-Länge angesehen. Früher hat man allenfalls mal kurz den Kopf ins Wohnzimmer gesteckt, wenn Eltern oder Großeltern „Dalli Dalli“ guckten…

Acht mehr oder weniger Prominente traten jeweils paarweise gegeneinander an. In der genannten Ausgabe waren u. a. Heidelinde Weis, James Krüss, Irene Koss und Reinhard Mey dabei. Die neckischen Frage- und Aktionsspielchen (z. B. „Woran denken Sie beim Wort ‚Umzug’?“) mussten in 15-Sekunden- oder höchstens Minutenschnelle absolviert werden.

Mal hektisch, mal geduldig

Bei „Dalli Dalli“ lief also immer die Uhr mit. Gar mancher hat sich unter diesem Zeitdruck verhaspelt. Doch Rosenthal hat sich – anders als andere Showmacher – nie über Mitspieler mokiert. Bei ihm konnte sich jeder gut aus der Affäre ziehen. Blamagen ließ er nicht zu. Eigentlich ein feiner Zug.

Ging’s bei den Spielen oft hektisch her, so nahm man sich hingegen enorm viel Zeit für Gesangseinlagen, Kleinkunst oder schauspielerische Darbietungen. Da wurden (damit alle Kandidaten gleiche Chancen hatten) auch schon mal langwierige Operetten-Auszüge gleich zweimal hintereinander abgespult, und zwar live. Derlei Geduld wird heute keinem TV-Konsumenten mehr abverlangt. Damals saß das (weit überwiegend ältere) Publikum adrett gekleidet in einem Theatersaal und war rundum dankbar für die Ablenkung vom Alltag; ähnlich wie Millionen Zuschauer „draußen im Lande“.

Berühmter Luftsprung

Hans Rosenthal war sichtlich bemüht, alles locker und entspannt wirken zu lassen, doch man konnte merken, wie penibel der Ablauf vorbereitet war. Da der Showmaster wohl einsah, beileibe kein Komiker zu sein, delegierte er die Scherze an das Jurymitglied Ekkehard Fritsch, der den Witzbold vom Dienst zu geben hatte. Ansonsten galt die Devise: bloß keine Politik, bloß keine Schleichwerbung. Und immer hübsch harmlos bleiben.

Seinen später so berühmten Luftsprung („Das war Spitze!“) vollführte Hans Rosenthal übrigens erst in den Sendungen ab September 1976. Ab 1981 wurde dieser Sprung dann kurz optisch „eingefroren“ – seinerzeit eine technische Meisterleistung.

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Vorherige Beiträge zur Reihe:
“Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” (5), “Der Kommissar” (6), “Beat Club” (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10), Loriot (11), “Kir Royal” (12), “Stahlnetz” (13), “Kojak” (14), “Was bin ich?” (15), Dieter Hildebrandt (16), “Wünsch Dir was” (17), Ernst Huberty (18), Werner Höfers “Frühschoppen” (19), Peter Frankenfeld (20), “Columbo” (21), “Ein Herz und eine Seele” (22), Dieter Kürten in “Das aktuelle Sportstudio” (23), “Der große Bellheim” (24), „Am laufenden Band“ mit Rudi Carrell (25)

“Man braucht zum Neuen, das überall an einem zerrt, viele alte Gegengewichte.” (Elias Canetti)




Was seit Wilhelm Busch geschah: 150 Jahre deutsche Comics in Oberhausen

Da hat man sich in Oberhausen hübsch was vorgenommen: Nicht weniger als die ganze Geschichte des deutschsprachigen Comics seit Wilhelm Busch will man in prägnanten Beispielen nacherzählen. Besucher der neuen Ausstellung „Streich auf Streich“ dürfen ausgiebig der Augenlust frönen, sehen sich aber auch gefordert.

In Zahlen: Die Tour durch 150 Jahre Comic-Historie ist in 15 Kapitel („Streiche“) unterteilt, rund 300 Originalzeichnungen und 60 Erstdrucke sind in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen zu sehen. Die Schau erstreckt sich weitläufig über mehrere Etagen und umfasst die ganze mediale und stilistische Bandbreite. Gastkurator Martin Jurgeit zeigte sich höchst angetan von solchen Ausbreitungs-Möglichkeiten. Er kann in Oberhausen noch mehr auftrumpfen als in Hannover, für dessen Wilhelm-Busch-Museum er die Schau geplant hat.

Wilhelm Busch: Zeichnung aus "Max und Moritz", 1865 (© Wilhelm Busch - Deutsches Museum für Karikatur und Zeichenkunst)

Wilhelm Busch: Zeichnung aus „Max und Moritz“, 1865 (© Wilhelm Busch – Deutsches Museum für Karikatur und Zeichenkunst)

Der wahrhaft vielfältige Rundgang beginnt beim Vorvater und frühen Großmeister der Zunft: Wilhelm Busch hat tatsächlich bereits typische Merkmale der allmählich entstehenden Gattung entwickelt, die vor allem Erzählrhythmik, Dynamik und Lautmalerei betreffen.

Sein feinfühliger, oftmals auch zupackend furioser, stets trefflicher Strich prägt unvergängliche Bildergeschichten. Davon bekommt man auch in Oberhausen einige herrliche Kostproben. Man schaue nur seine fulminante Darstellung eines Klaviervirtuosen an, der wechselnde Tempi und Stimmungswerte erklingen lässt. Bewegter geht’s nimmer.

Bildergeschichte aus der Zwischenkriegszeit: e. o. plauen "Vater und Sohn", 1930er Jahre (© Wilhelm Busch - Deutsches Museum für Karikatur und Zeichenkunst)

Bildergeschichte aus der Zwischenkriegszeit: e. o. plauen „Vater und Sohn“, 1930er Jahre (© Wilhelm Busch – Deutsches Museum für Karikatur und Zeichenkunst)

Fast schon tragisch zu nennen, dass es dem Schöpfer von „Max und Moritz“ (1864/65) und vieler anderer berühmter Gestalten peinlich war, auf solche Weise sein Geld zu verdienen. Dabei überragte er seine Zeitgenossen auf diesem Gebiet bei weitem. Doch schon mit 51 Jahren zog er sich, mit Tantiemen bestens versorgt, aus dem unterhaltenden Gewerbe zurück und malte fortan nur noch „seriös“ – aber beileibe nicht genial. Wie hat der Mann, offenbar fehlgeleitet von klassischen Bildungsidealen, sich selbst verkannt!

Mittelbar hat das Werk von Wilhelm Busch auch den Anstoß für zahlreiche Kreationen in der Frühzeit der US-amerikanischen Comics gegeben. Im Auflagenkampf der Zeitungsmogule (Hearst vs. Pulitzer) waren die gezeichneten Geschichten ein unverzichtbares Mittel, um Tagesblätter populär zu machen.

Reinhold Escher: Mecki, 1950er Jahre (© Reinhold Escher/HörZu)

Reinhold Escher: Mecki, 1950er Jahre (© Reinhold Escher/HörZu)

Von deutschstämmigen Zeichnern verlangte der Verleger Hearst ausdrücklich Strips im Gefolge des Wilhelm Busch, wortwörtlich: „something like Max and Moritz“. Und so geschah es. Rudolph Dirks, aus Heide (Schleswig-Holstein) in die Staaten ausgewandert, schuf mit „The Katzenjammers Kids“ (ab 1897) eine Inkunabel des Comics, die pfeilgerade bei Wilhelm Busch ansetzte. Es war damals nicht der einzige deutsche Einfluss auf diese aufstrebende Kunstform. Selbst der Bauhaus-Lehrer Lyonel Feininger gab mit „The Kin-der-Kids“ einen lange nachwirkenden Impuls.

Die opulente Schau verfolgt Traditionslinien noch und noch. So ist ein Kapitel der (politischen) Satire gewidmet. Im Blickpunkt stehen hierbei der legendäre „Simplicissimus“ (Olaf Gulbransson, Th. Th. Heine), der von 1896 bis 1944 erschien. Diese Überlieferung riss freilich ab. Erst ab Anfang der 1960er Jahre belebten Zeichner wie Robert Gernhardt, F. K Waechter und Chlodwig Poth diesen Strang im Satiremagazin „Pardon“ neu, beim nominellen Nachfolger „Titanic“ pflegt man das Genre nicht mehr.

Walter Moers: Kleines Arschloch, 1990 (© Walter Moers)

Walter Moers: Kleines Arschloch, 1990 (© Walter Moers)

Die Illustriertencomics der bundesdeutschen Nachkriegszeit (Anfänge etwa seit 1949) kommen gleichfalls in Betracht: HörZu („Mecki““), Quick („Nick Knatterton“) und Stern waren die Vorreiter. Der „Stern“, für den zeitweise auch Loriot arbeitete, leistete sich die Kinderbeilage „Sternchen“, die ihr Publikum nicht zuletzt mit Comics unterhielt.

Selbstverständlich kommt man um Heftchenreihen wie Disneys Micky Maus (in Deutschland ab 1951 und gleich konkurrenzlos vollfarbig) oder den deutschen Nacheiferer Rolf Kauka und sein „Fix und Foxi“ (ab 1953) nicht herum. Durch die mehr als kongeniale Übersetzung von Erika Fuchs erhielten auch Micky Maus und Donald Duck sozusagen eine „deutsche Tönung“. Außerdem legten später etliche deutsche Zeichner Hand an.

Hendrik Dorgathen: "Bubbles" (Sprechblasen), 2012 (© Hendrik Dorgathen)

Hendrik Dorgathen: „Bubbles“ (Sprechblasen), 2012 (© Hendrik Dorgathen)

Und weiter, weiter: Da geht’s vorbei an Abenteuercomics im Streifenformat („Sigurd“, „Akim“ und Artverwandtes), an Comic-Alben der 70er bis 90er Jahre, in denen beispielsweise Gerhard Seyfried und Walter Moers („Das kleine Arschloch“) eminente Auflagen erzielten, an Autorencomics, z. B. von Ralf König und Volker Reiche, die beide auch das edle FAZ-Feuilleton mit täglichen Beiträgen zierten…

Überhaupt hat sich der Comic, der bis in die 60er Jahre hinein noch unter Schundverdacht stand, längst auch in der Hochkultur etabliert. Seit einigen Jahren floriert die sogenannte „Graphic Novel“, in der Comic-Erzählweisen aufs Niveau ambitionierter Romane geführt werden und ästhetisches Neuland erobern. Solche Schöpfungen erscheinen denn auch als Bücher in den großen literarischen Verlagen. Auf diesem Gebiet zählen deutsche Künstler abermals zur internationalen Vorhut. Ein Mann wie Hendrik Dorgathen zeichnet auf professoralen Reflexionshöhen. die gleichsam immer die lange und windungsreiche Geschichte des Comics mitbedenken.

Im Manga-Stil: Martina Peters, "Miri Maßgeschneidert", 2012 (© Martina Peters)

Im Manga-Stil: Martina Peters, „Miri Maßgeschneidert“, 2012 (© Martina Peters)

Rund 150 Jahre sind seit „Max und Moritz“ vergangen. Die letzten Ausläufer der verzweigten Schau lassen ahnen, dass endlich auch einmal Frauen von sich reden machen, und zwar vor allem mit „Germangas“, also der deutschen Spielart japanischer Mangas. Außerdem tut sich schließlich das weite Feld der Internet-Produktionen auf, die wiederum neue Erzählstrukturen hervorbringen. Hier können neuerdings deutsche Künstler regelmäßig US-Actioncomics zeichnen, ohne deshalb gleich auswandern zu müssen.

Gewiss: Man hätte entschiedener Schwerpunkte setzen, Schneisen schlagen und dafür anderes auslassen können. Der ehrgeizige Gesamtüberblick droht hie und da zu zerfasern. Aber wenn man sich Zeit lässt und dazu etwas nachlesen kann…

„Streich auf Streich“. 150 Jahre deutschsprachige Comics seit Max und Moritz. Ludwiggalerie Schloss Oberhausen, Konrad-Adenauer-Allee 46. Vom 14. September 2014 bis zum 18. Januar 2015. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr. Eintritt 8 €, ermäßigt 4 €. Booklet 4 €.




Die Dinge beginnen zu denken – „Schöne schlaue Arbeitswelt“ in der Dortmunder DASA

Klingt doch erst mal richtig nett: „Schöne schlaue Arbeitswelt“ heißt die neue Schau in der Dortmunder DASA, dem Ausstellungshaus, das der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin angegliedert ist. Doch der Blick in die Zukunft weckt gemischte Gefühle.

Es geht um einige Ausprägungen der sogenannten „Ambient Intelligence“ (etwa: Umgebungs-Intelligenz), welche sich z. B. mit „denkenden“ Büros, Datenbrillen und allerlei Sensoren anschickt, weite Teile unseres Alltags zu bestimmen, also nicht nur die Arbeitswelt; wie denn überhaupt Grenzen zwischen Arbeit und sonstiger Lebenszeit auf vielen Feldern fallen.

Es ist keine Science-Fiction mehr. Wir sind schon mittendrin in diesen tiefgreifenden Prozessen mit eigenständig parkenden Autos und einkaufenden Kühlschränken, um nur zwei populäre Phänomene zu nennen. Und es ist beileibe nicht alles verheißungsvoll, was da auf uns zurollt. Die Titel-Anspielung auf Aldous Huxleys schaurige Utopie „Schöne neue Welt“ kommt also nicht ganz von ungefähr.

Vermessung und Virtualisierung des Körpers - zunächst noch spielerisch... (Foto: Bernd Berke)

Vermessung und Virtualisierung des Körpers – zunächst noch spielerisch… (Foto: Bernd Berke)

Die kompakte, recht übersichtliche Ausstellung wird in wenigen Raumwürfeln präsentiert und ist so mobil, dass sie demnächst landauf landab wandern wird – zunächst nach Hamburg und Mannheim.

Da sieht man beispielsweise den Handschuh, der sich einfärbt, wenn giftige Gase wabern. Oder einen Feuerwehranzug, dessen Textur ungeahnt viele Schadstoffe herausfiltert und dessen Sensorik in Gefahrenzonen blitzschnell lebenswichtige Daten erhebt. Die meisten Feuerwehren dürften sich einstweilen solch kostspielige Ausrüstung kaum leisten können.

Die wenigen Exponate verweisen auf vielfältige Hintergründe. Es sind jedenfalls spannende Gebiete, auf den die Dortmunder Bundesanstalt forscht. Mit „Ambient Intelligence“ befasst man sich seit 2009 intensiv. Dabei gilt es, sorgsam zwischen Chancen und Risiken zu lavieren. Einerseits drängt die globale Konkurrenz zum Handeln, andererseits soll das menschliche Maß gewahrt werden.

Kultur- und Geisteswissenschaftler, so steht zu hoffen (ja zu fordern), sollten an derlei Forschungen ebenso beteiligt sein wie Naturwissenschaftler und Ingenieure. Damit nicht nur die Machbarkeit zählt. Freilich kann man der Bundesanstalt in solcher Hinsicht wohl mehr (zu)trauen als manchen Forschungszweigen in der Industrie, wo sich alsbald alles „rechnen muss“.

Zurück in die Würfel. Eher schon wie ein Jux muten jene speziell präparierten Socken an, die per Scanner und iPhone einander automatisch zugeordnet werden können – endlich eine Lösung für das allfällige „Lost socks“-Problem? Halb scherzhaft beworben wird die sündhaft teure Erfindung (5 Paar Socken mit Zubehör ca. 150 Euro) vor allem für tölpelhafte Single-Männer. Das Set verrät einem übrigens auch, wie viele Waschgänge die Socken bereits hinter sich haben – und schlägt zeitig den Kauf von Neuware vor…

Der Gürtel, der den Träger zur geraden Körperhaltung ermahnt, steht für zahlreiche Apparaturen, die den Menschen unentwegt zur maximalen Fitness anhalten – und vielleicht eines nicht allzu fernen Tages von Krankenkassen zur Pflicht erklärt werden könnten.

Ein anderer Kubus der Ausstellung skizziert den Stand der Dinge bei den Datenbrillen („Head-mounted displays“). Ein Exemplar kann man auch gleich ausprobieren. Zum Einsatz solcher Brillen für Montage-Vorgänge läuft eine Langzeitstudie, derzufolge die Träger sich offenbar weniger bewegen, als wenn sie mit einem Tablet arbeiten. Außerdem werden sie schneller müde, ohne schneller gearbeitet zu haben. Die Effektivität ist also sehr fraglich. Allerdings ist bei den Datenbrillen eh die Unterhaltungs-Industrie die treibende Kraft und nicht so sehr das produzierende Gewerbe.

Auch ganze Bewegungsabläufe werden längst digital „optimiert“. Die exakte Körpervermessung generiert einen Schattenleib, der im virtuellen Bildraum erscheint und nach allen Regeln der Ergonomie analysiert werden kann. Denkt man das weiter und weiter, kann einem ziemlich unbehaglich werden. Darüber kann auch der spielerische Einsatz dieser Technologie nicht ohne weiteres hinwegtrösten.

Schließlich die intelligente Beleuchtung. Am Horizont erscheinen Szenarien, in denen beim Betreten eines Raumes (etwa eines Büros) je individuell die Lichtverhältnisse geregelt und immer wieder neu austariert werden – je nachdem, wer gerade anwesend ist.

Womöglich schön und gut. Doch auch auf diesem Gebiet lauert Manipulation. Eine vielfach praktizierte Steigerung des Blaulichtanteils hält Menschen bei der Arbeit länger wach – aber mit welchen Folgen? Blaulicht (in allen LEDs, somit auch als Hintergrundlicht auf vielen Bildschirmen) beeinflusst den Hormonhaushalt, genauer: es senkt den Melatonin-Spiegel. Anschließende Schlafstörungen sind sehr wahrscheinlich, auch könnte langfristig die Krebsgefahr wachsen.

„Schöne schlaue Arbeitswelt.“ DASA Arbeitswelt Ausstellung, Dortmund, Friedrich-Henkel-Weg 1-25. Vom 11. September bis 23. November. Geöffnet Di-Fr 9-17, Sa/So 10-18 Uhr.

DASA-Eintritt für alle Bereiche 5 Euro (bis zum 28. September läuft neben der Dauerschau auch noch eine Sonderausstellung zur Geschichte des Zeitempfindens: „Tempo Tempo! Im Wettlauf mit der Zeit“). Führungen: 0231/9071-2645.

www.dasa-dortmund.de




Im Dickicht der Netze: Die Deutsche Bahn fällt auch beim ARD-Test durch

Warten auf den Zug: Aufnahme aus dem Hamburger Hauptbahnhof. (Foto: WDR/dpa/Bodo Marks)

Warten auf den Zug: Aufnahme aus dem Hamburger Hauptbahnhof. (Foto: WDR/dpa/Bodo Marks)

Es dürfte schwerfallen, ein Unternehmen zu finden, über das mehr geschimpft wird. Insofern konnte „Der Deutsche Bahn-Check“ (ARD) doch nur ins Schwarze treffen, oder?

Untersucht wurden (in gewohnt flotter Manier) Preise, Pünktlichkeit, Sauberkeit und Einhaltung der ziemlich vollmundigen Tempo-Versprechen. Wer glaubt denn wohl, die Deutsche Bahn hätte alle Prüfungen mit Bravour bestanden? Na, bitte. Vermutlich niemand. Und dabei wurden Themen wie der betrübliche Zustand vieler Bahnhöfe noch nicht einmal angeschnitten.

Rätselhaftes Preisgefüge

Vorwiegend junge Tester begaben sich für die Reportage ins Dickicht der Bahnnetze. Sie standen ratlos vor Fahrkarten-Automaten, wurden auch – nach langen Wartezeiten – bei persönlicher Beratung oft nicht schlauer und zahlten fast durchweg etliche Euros zu viel für ihre Tickets. Die wirklich günstigsten Angebote herauszufinden, ist offenbar derart schwierig, dass man von einem gezielten Versteckspiel sprechen kann. Prädikat fürs Preissystem: „undurchschaubar“.

Rechentricks bei Verspätungen

In Sachen Pünktlichkeit, so stellte sich heraus, schummelt die Bahn mit Statistiken. Mit allerlei Tricks wird die Zahl der Verspätungen heruntergerechnet. Für die einzelnen Reisenden sieht’s leider deutlich schlechter aus. Urteil zur Pünktlichkeit: „geschönt“.

Sodann der Sauberkeits-Check. Ergebnis: Die Toiletten sind weitgehend in Ordnung, allerdings herrschen wohl Hygienemängel in den Bord-Bistros. Besonders Salatproben ergaben bedenkliche Bakterien-Häufungen. Befund in Sachen Sauberkeit: „ausbaufähig“.

Auf vielen Strecken ausgebremst

Schließlich die Tempo-Versprechungen, die vor allem die angeblich superschnellen ICE-Züge in den Vordergrund rücken. Ein etwas unfaires Beispiel von einer Bummelstrecke im Allgäu (wo ein gemächliches Luftschiff schneller war als die Bahn) mal außer Acht gelassen, zeigten sich auch in dieser Hinsicht gravierende Mängel.

Ein frustrierter Lokführer stellte vertrauliche Unterlagen zur Verfügung. Demnach gibt es wegen des weithin maroden Schienennetzes immens viele Langsamfahrstrecken, auf denen nur noch Tempo 70, 40 oder gar 20 gefahren werden kann. Der schlechte Witz: Diese Bremsstrecken werden kurzerhand in den Fahrplan eingebaut, so dass sie rein rechnerisch nichts als Verspätung auftauchen. Der Langsam-Fahrplan wird ja einigermaßen eingehalten…

Und immer lockt das Auto

Gewiss: Es ist eine ungeheure Aufgabe, das weitverzweigte Bahnnetz in Betrieb und Schwung zu halten. Man ahnte es nicht nur beim Blick ins Frankfurter Netzzentrum. Auch dürfte es zahllose engagierte Mitarbeiter geben, an denen es nicht liegt, wenn einiges schiefgeht.

Aber: Mit dem gesamten System, so scheint es, stimmt es an manchen Ecken und Enden nicht. Vielleicht wäre ein Vergleich mit anderen Ländern noch erhellend gewesen.

Unerwünschte Folge jedenfalls: Viele Menschen fahren denn doch lieber Auto. Der eine oder andere Lokführerstreik wird diese missliche Situation nicht gerade entschärfen.




Die Ferres als Kanzlerin – Romanze geht vor

Wer lässt sich nur solche Romanzen einfallen? Blonde deutsche Bundeskanzlerin, Single und kinderlos, trifft beim Staatsbesuch erstmals den neuen französischen Präsidenten. Beide kommen einander „irgendwie bekannt“ vor.

Und siehe da: Sie hatten vor 25 Jahren – just in Berlin beim Mauerfall – eine heiße Nacht miteinander. Nur: Das Adresszettelchen, das ihr der damalige französische Student ins Handtäschchen steckte, das wurde vom Winde verweht. Ob die Liebe immer noch Bestand hat?

Ein wahres Spitzentreffen

Bei solchen Herzblatt-Angelegenheiten treten auch Polit-Petitessen wie das deutsch-französische Energieabkommen erst einmal flugs in den Hintergrund. „Die Staatsaffäre“ (SAT1) ist also durchaus wörtlich zu nehmen. Das Gipfeltreffen wird sozusagen zum Spitzentreffen, wobei man dann feixend an Spitzenhöschen denken darf.

Dabei wollte die edelmütig, aber auch machtbewusst denkende Kanzlerin Anna Bremer (Veronica Ferres) doch richtig ernsthaft Politik machen und sich auf keine Glamour-Geschichten einlassen. Doch ach! Als der französische Staatspräsident mit dem ähnlich trivialen Namen Guy Dupont (Philippe Caroit) mit einem Model als Begleitung aufkreuzt und der Kanzlerin zunächst die Schau stiehlt, zählen andere Qualitäten. Fortan menschelt und knistert es – gelegentlich bis zur Peinlichkeitsgrenze.

Nackter Präsident

Da gibt’s neckische Szenen noch und noch. Monsieur le Président versteckt sich nahezu nackt im Hotelzimmer der Kanzlerin, in das er sich als Kellner geschlichen hat. Zwei Begleiterinnen des italienischen Regierungschefs (Versuch einer Berlusconi-Parodie) kratzen einander eifersüchtig die Augen aus – vor laufenden Fernsehkameras und zum Quietschvergnügen der penetranten TV-Reporterin namens Gretchen Hammerstein.

Ja, wenn sich Klein-Mäxchen die große Politik ausmalt, dann kommt womöglich so etwas dabei heraus. Mit Angela Merkel und sonstigen Realitäten hatte das jedenfalls herzlich wenig zu tun. Veronica Ferres sagt indessen, sie habe Merkels Haltungen genau studiert. Wahrscheinlich glaubt sie auch, die Hauptrolle in einem politischen Film gespielt zu haben.

Ein bisschen Jux ist auch dabei

Es ist – zumal in den Nebenrollen – auch ein bisschen Jux im Spiel. Da wird ein wenig mit Klischees über Deutsche und Franzosen gescherzt, auch gibt’s den einen oder anderen Ulk über Macho-Attitüden. Stellenweise komisch die deutsche Parteikonkurrenz, die jede Schwäche der Kanzlerin nutzen will und ihr erpresserisch nachspioniert. Doch am Schluss werden alle Gegensätze überwunden.

Die wahre Macht, so muss man anfangs denken, liegt in den Händen der Berater. Der Filou Bernhard (Martin Brambach) sucht der Kanzlerin so manches einzuflüstern – allerdings vergebens. Doch der Darsteller ist stärker als Veronica Ferres, die die Kanzlerin zuweilen wie nach dem Musterbogen einer Zeitschrift für starke Frauen mit Gefühl verkörpert. Vielleicht trotzdem kein Zufall, dass in den Werbepausen viel von Lockenpracht und Haarpflege die Rede war.




Durch die Röhre ins Museum – Gregor Schneiders irritierende Raumplastik in Bochum

Zugegeben: Für ein paar Momente war ich wirklich etwas verunsichert und habe mich gefragt, wie schnell ich wohl aus dieser Röhre wieder herausfinde. 100 Meter können einem recht lang vorkommen. Doch das etwas flaue Gefühl hat sich dann sehr rasch wieder verflüchtigt.

„Ich freue mich, den Haupteingang des Museums zu schließen.“ Diesen seltsamen Satz hatte der international renommierte Künstler Gregor Schneider („Haus U r“) in einer Email an den Ruhrtriennale-Intendanten Heiner Goebbels geschrieben. Ein Museum schließen? Was geht denn da vor?

Man soll das Haus der Kunst jetzt bis zum 12. Oktober durch ein Röhrensystem betreten. Wer sich davor fürchtet, kann freilich auch ein Hintertürchen nehmen. Doch dann versäumt man eine ungewohnte Erfahrung.

Außenansicht: So führt die Röhre ins Bochumer Kunstmuseum. (Alle Fotos: Bernd Berke)

Außenansicht: So führt die Röhre ins Bochumer Kunstmuseum. (Alle Fotos: Bernd Berke)

Das Ereignis, von dem hier die Rede ist, trägt den schlichten Titel „Kunstmuseum“, sorgte heute für einen gehörigen Medien-Auftrieb am Bochumer Museum und dürfte dem weltoffenen Image der Kommune zuträglich sein. Wenn man es sarkastisch sieht, kann sich die Stadt Bochum beim Duisburger Oberbürgermeister Sören Link bedanken.

Link hatte bekanntlich höchstselbst verfügt, Gregor Schneiders Installation „totlast“ am Lehmbruck-Museum abzusagen. Fadenscheinige Begründung: Nach der Katastrophe bei der Loveparade (24. Juli 2010) sei Duisburg immer noch nicht bereit für solche, womöglich Angst auslösende Ereignisse. Dabei ging es hier beileibe nicht um einen gefährlichen Massenauflauf.

Bei der federführenden Ruhrtriennale sah man Links Entscheidung als einen Akt der Kunst-Zensur – und sann auf Abhilfe. Und siehe da: Bochum sprang für Duisburg ein – nicht mit einer Übernahme der „totlast“, sondern mit einer anderen Installation Schneiders.

In einem wahren Kraftakt haben Triennale, Museum Bochum und natürlich Gregor Schneider selbst binnen fünf Wochen dafür gesorgt, dass jetzt eine begehbare Raumskulptur (eben die Röhre) durchs Kunstmuseum Bochum führt. Tatsächlich kann man den Bau nun nicht mehr durch den Haupteingang betreten, sondern wird just durch jenes Röhrensystem geleitet, das Schneider quer durchs Museum gelegt hat.

Nur einzeln oder allenfalls zu zweit darf man die rund 100 Meter lange Röhre (Durchmesser 1,80 Meter) betreten, die nächsten Besucher werden dann erst im gemessenen Abstand hinein gelassen. Wirkliche Panik kann da schwerlich aufkommen.

Schild mit genauen Instruktionen für die Besucher

Schild mit genauen Instruktionen für die Besucher

Man geht also durch das Museum (oder quasi durch dessen Eingeweide), ohne es eigentlich zu betreten. Es ist unterwegs hie und da ziemlich dunkel, niemals aber so finster, dass man die Hand vor Augen nicht mehr sähe.

Gewiss: Man fühlt sich in der Röhre etwas beengt. An einer Stelle kam es mir ziemlich heiß vor. Vielleicht die Sonneneinstrahlung? Die Windungen des Weges führen auch schon mal in eine Sackgasse. Man muss auch einige Türen öffnen und betritt schließlich noch ein paar rätselhafte Räumlichkeiten. Soll man jetzt noch mehr verraten? Oder sollte nicht lieber jede(r) Besucher(in) eigene Erfahrungen machen?

Im Inneren der Röhre...

Im Inneren der Röhre…

Keine Angst: Niemand wird dort drinnen wirklich allein gelassen. Es gibt zwischendurch mehrere Notausgänge und Leute, die an beiden Enden der Röhre aufpassen. Allerdings beschleicht einen zwischendurch auch das zwiespältige Gefühl, man werde insgeheim überwacht.

Und wie steht’s mit dem künstlerischen Mehr- und Nährwert?

Der Kunstkurator Veit Loers schreibt, Gregor Schneider unterwandere mit dieser Installation die „Rolle des Besuchers im Kunstmuseum als die eines Bild-Voyeurs“. Und: „Die Röhren-Expedition ins Museum fördert eher den Albtraum als das Bildungserlebnis.“

Licht am Ende des Tunnels

Licht am Ende des Tunnels

Ja, wenn man recht ordentlich grübelt, mag man sich solche und andere Sätze zurechtlegen. Bochums Museumsdirektor Hans Günter Golinski, der es gleichsam als Ehrensache fürs Ruhrgebiet betrachtet, dass eine Revier-Stadt eine solche Installation beherbergt, sagt, es gebe für diese Arbeit viele Lesarten. Gut wär’s, wenn diese nicht ins völlige Belieben gestellt wären.

Hat man den Röhrentunnel bewältigt, kann man denn doch, schließlich im „richtigen“ Museum angekommen, Kunst auf herkömmliche Weise betrachten – beispielsweise derzeit die Sammlung des Bochumer Unternehmers Frank Hense (u. a. Mel Ramos, Mischa Kuball, Stephan Balkenhol). Soll ich ehrlich sein? Ich war irgendwie froh, als ich in der sonstigen Eingangshalle gleich ein Paarbildnis von Max Pechstein gesehen habe. Ob das auch eine Wirkung des Tunnels ist?

Künstler Gregor Schneider dankte der Ruhrtriennale und der Stadt Bochum für die Unterstützung.

Künstler Gregor Schneider dankte der Ruhrtriennale und der Stadt Bochum für die Unterstützung.

Die Irritationen (im Kulturjargon: „Verstörungen“), auf die es Gregor Schneider immer wieder anlegt, sind also vorübergehend. Ob man nach dieser temporären Erfahrung gleich die ganze Institution Museum nachhaltig anders betrachtet, bleibe dahingestellt. Ob man existenziell mit sich selbst konfrontiert wird, wäre gleichfalls zu erörtern, notfalls als Streitfrage. Manch eine(r) mag sich zunächst auch an einen kleinen Abenteuer-Parcours oder eine (fast leere) Geisterbahn erinnert fühlen, mithin an eher kunstferne Gefilde.

Aber eins steht unverbrüchlich fest: Auf diese Weise hat man ein Museum noch nie betreten!

Gregor Schneider: „Kunstmuseum“. – Raumskulptur im Kunstmuseum Bochum. Produktion der Ruhrtriennale in Kooperation mit dem Museum. 29. August bis 12. Oktober 2014. Di-So 10-18 Uhr, Mi 10-20 Uhr, Mo geschlossen. Tickets 8 Euro, ermäßigt 5 Euro. Weitere Infos: www.ruhrtriennale.de oder www.kunstmuseumbochum.de




ARD: Alle talken nur noch über Islamismus

Was ist nur in die ARD gefahren? Nach der Sommerpause talken sie dort jetzt alle über Themen rund um den Islamischen Staat (wahlweise IS oder ISIS). Gibt es denn da keine Koordination, keinerlei Absprachen?

Am Montag sprach Frank Plasberg mit seinen Gästen über Waffenlieferungen ins Krisengebiet. Am späten Dienstagababend ging’s in „Menschen bei Maischberger“ ums kernig formulierte Thema: „Angst vor Gotteskriegern: Bedroht dieser Islam auch uns?“ Und schon am morgigen Donnerstag lädt Reinhold Beckmann zur nächsten einschlägigen Gesprächsrunde. Titel: „IS-Terror: Wer sind die islamistischen Fanatiker?“

Etwas mehr Vielfalt, bitte!

Gewiss, die Gästelisten sind nicht identisch, wenn auch teilweise artverwandt. Seltsam jedoch, dass gleich drei Talkmaster in derselben ARD-Programmwoche dasselbe Themenfeld beackern. Ein bisschen mehr Vielfalt dürfte es schon sein! Nur gut, dass Günther Jauch und Anne Will noch in Urlaub weilen, sonst hätten sie sich vielleicht auch noch auf Dschihad und Islamismus konzentriert.

Hatte ihre SEndung zeitweise nicht mehr im Griff: Sandra Maischberger. (Foto: WDR/Peter Rigaud)

Hatte ihre Sendung zeitweise nicht mehr im Griff: Sandra Maischberger. (Foto: WDR/Peter Rigaud)

Ganz ehrlich: Mag das Thema auch noch so dringlich sein, mehrere längliche Sendungen so kurz hintereinander möchte ich mir dazu nicht antun. Darum habe ich es vorerst beim Maischberger-Talk belassen.

Kleinlaute Alice Schwarzer

Um es gleich vorweg zu sagen: Die Sendung war von Anfang an verkorkst. Nach Monaten tauchte erstmals wieder Alice Schwarzer (die seit vielen Jahren vor dem Islamismus warnt) in einer Talkshow auf. Sandra Maischberger befragte sie erst einmal zu ihrer Selbstanzeige in Sachen Steuerhinterziehung. So kleinlaut und zerknirscht hat sich Frau Schwarzer bisher noch selten gegeben. Vielleicht wirkt es ja strafmildernd…

Anschließend war eine scharfe Themen-Kehrtwende zum Islamismus nötig. Danach redeten zeitweise alle Beteiligten wild durcheinander.

Selbstzufriedener Funktionär

Ziemlich unangenehm tat sich Aiman Mazyek (Vorsitzender des Zentralrats der Muslime) hervor, ein selbstzufriedener Funktionärstyp, der immer schon vor dem Terror gewarnt haben will und darauf pocht, dass das alles überhaupt nichts mit Religion zu tun habe. Doch seine Distanzierungen vom Terror klingen stets etwas verwaschen. Und wenn Mazyek den Dschihad (Heiliger Krieg) mal wieder lediglich als Kampf gegen den inneren Schweinehund definiert, weiß man nicht, ob man lachen oder weinen soll.

Die Gegenposition nahm der Journalist Oliver Jeges ein, nach dessen Auffassung die Terrormilizen des „Islamischen Staats“ sehr wohl aus dem Koran schöpfen, den sie allerdings politisch missbrauchen.

Lautstarkes Durcheinander

Die weiteren Gesprächsteilnehmer, darunter der „Spiegel“-Korrespondent Christoph Reuter (der bisher nicht gekannte Gefahren heraufziehen sieht, wenn Isis-Kämpfer nach Deutschland zurückkehren), suchten sich gleichfalls Gehör zu verschaffen, was manchmal ziemlich schwer war. Übrigens hatte Frau Schwarzer substanziell recht wenig beizutragen. Dass sie 1979 im Iran war, hilft heute nicht mehr weiter.

Jedenfalls ging es zwischen den Fronten lautstark hin und her, so dass Sandra Maischberger streckenweise die Übersicht und die Oberherrschaft verlor. Welch eine konfuse Sendung.

Die einzigen stilleren Minuten gebührten einer Berliner Mutter, die ihren Sohn an den Islamismus verloren hat. Der vormals unauffällige, „ganz normale deutsche Junge“ hatte sich binnen zwei Jahren völlig radikalisiert und wurde in Pakistan erschossen.




Kratzer am Bild von Ikea

Gibt es da draußen jemanden, der noch kein Ikea-Regal zusammengebaut hat? Wohl kaum. Eine Reportage über das „unmögliche Möbelhaus“ geht uns also alle an.

Ordentlich eingekauft: Eine Familie verlässt ein Ikea-Einrichtungshaus. (Bild: WDR/Thomas Brill)

Ordentlich eingekauft: Eine Familie verlässt ein Ikea-Einrichtungshaus. (Bild: WDR/Thomas Brill)

Viele verbinden mit Ikea eine entspannte, freundliche und familiäre Atmosphäre. Doch „Der Ikea-Check“ (ARD), der über weite Strecken überzeugte, fiel nicht ganz so schmeichelhaft aus. Ein erster Vergleichstest mit einem großen Kölner Möbelhaus ergab, dass der Einkauf bei Ikea offenbar deutlich stressiger ist – Körpersensoren brachten es an den Tag.

Die Lust am Zusammenbauen

Erstaunlich, wie Versuchsgruppen ein und dasselbe Nachtschränkchen teurer einschätzten, wenn es noch zusammengebaut werden musste, als wenn es schon fertig vor ihnen stand. Allen Flüchen beim Hämmern und Schrauben zum Trotz: Das Zusammenbauen macht letztlich meistens Spaß und bringt auch ein wenig Stolz mit sich. Ein raffiniertes Prinzip, das weltweit Kunden an die Firma bindet.

Ein bisschen Schwund…

Ein Klassiker wie das „Billy“-Regal ist mit den Jahren billiger geworden. Wie kann denn das angehen? Nun, ein Tischler prüfte nach: Die Maße sind geschrumpft, die Qualität von Holz und Schrauben ist gezielt gesenkt worden. In Dekra-Testreihen erzielten die untersuchten Ikea-Produkte gerade mal das Prädikat „ausreichend“.

Fabrik im Lande des Diktators

Schließlich die „Fairness“. Ikea behauptet beispielsweise, eine bestimmte Kommode werde in Litauen gefertigt. Verdeckte ARD-Recherchen ergaben hingegen, dass zumindest wesentliche Mengen im diktatorisch regierten Weißrußland produziert werden, wo Löhne und sonstige Kosten noch sehr viel niedriger sind und wo Gewerkschaften nichts zu melden haben. Ikea zeichnet jedoch ein ganz anderes Bild von den eigenen Gepflogenheiten. Darf man hier von Vortäuschung falscher Tatsachen sprechen?

Da mag die Pressesprecherin noch so sehr begütigen: Manche Leute, die diese Sendung gesehen haben, dürften beim nächsten Ikea-Einkauf vielleicht ein bisschen nachdenklicher werden.




„Jeder soll leben, für immer“ – „Das Buch gegen den Tod“ aus dem Nachlass von Elias Canetti

Es ist kein erzählendes Werk, auch keine Lyrik, kein Tagebuch und keine philosophische Abhandlung. Was aber ist Elias Canettis „Buch gegen den Tod“?

Schwer zu sagen. Man liest zahllose einzelne Sätze und Absätze, oft in Paradoxien zugespitzt, vielfach in aphoristisch vollendeter Form. Bruchstücke einer großen Konfession. Eine imponierende, sprachlich und gedanklich funkelnde Materialsammlung – wider den Tod. Ein „unmögliches“ Unterfangen also? Doch genau solche verzagten, schicksalsergebenen Gedanken hätte Canetti nicht gelten lassen. Obwohl auch er gelegentlich solche Anwandlungen hatte. So bezichtigt er seine eigenen Mühen einmal mit diesen Worten: „…nichts als ein Prahlen und von Anfang zu Ende so hilflos wie jeder andere.“

Zeitlebens hat Elias Canetti („Die Blendung“, „Masse und Macht“) Sätze und Gedanken aufgehoben, die sich dem Tod widersetzen, die ihn weder bejahen noch hinnehmen. Das stetig anwachsende Werk ist fragmentarisch geblieben. Canetti selbst hat vorgeschlagen, dass andere daraus ein Buch machen sollten. Ohne sein weiteres Zutun.

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Nun liegt ein solcher Versuch vor. Für den Hanser-Verlag haben Sven Hanuschek, Peter von Matt und Kristian Wachinger sich der Aufgabe gestellt, Canettis Aufzeichnungen über den Tod in einen Zusammenhang zu bringen. Sie haben sich vor allem an eine zeitliche Abfolge gehalten, was Canetti zu Lebzeiten selbst erwogen hat: „Vielleicht würde es genügen, alle noch unpublizierten Aufzeichnungen über den Tod in chronologischer Folge aneinanderzureihen.“ Einen systematischen Plan fürs große Ganze hatte der vom Thema Besessene offenbar nicht. Er stürzte sich immer wieder hinein und schreckte doch davor zurück.

Zwar ist manches schon andernorts erschienen, doch rund zwei Drittel der Texte liegen erstmals gedruckt vor – und das trotz strenger Auswahl aus dem Nachlass. Die wesentlichen Aufzeichnungen reichen von 1942 bis in Canettis Todesjahr 1994.

Die Anfänge liegen also mitten im Zweiten Weltkrieg, woraus sich schon ein Antrieb herleiten lässt: der Protest, der Aufschrei gegen das allgegenwärtige Töten und Sterben. Schon das Zählen der Toten im Kriege raubt Canetti zufolge dem Einzelnen alle Würde. Hinzu kommen traurige Anlässe wie der frühe Tod des Vaters und später der Mutter, die Canetti niemals verwinden kann. Dies drängt ihn gleichfalls zum Schreiben.

„Der Gedanke an einen einzigen Menschen, den man verloren hat, kann einem Liebe zu allen anderen geben.“ Und also soll niemand sterben. Notiz von 1993: „Nicht einer, nicht ein einziger darf verlorengehen, jeder soll leben, für immer.“ Ein ungeheuerlicher Anspruch.

Canetti postuliert „ein allmächtiges Gefühl von der Heiligkeit jedes, aber auch wirklich jedes Lebens“. Seine Schlussfolgerung: „Ich anerkenne k e i n e n Tod.“ Oder auch: „Der Tod soll – ohne billigen Betrug – sein Ansehen verlieren. Der Tod ist falsch. Es ist unser Sinn, ihn falsch zu finden.“ Und so fort, in Hunderten von Formulierungen, die den Tod umkreisen und geradezu belauern; mal zornig und mal fintenreich.

Natürlich weiß ein scharfsinniger, freilich oft genug ins Surreale ausgreifender Denker wie Canetti, dass man es sich mit der Ablehnung des Todes nicht leicht machen darf – im Gegenteil. Dem Tod zu widersagen, bleibt seine lebenslange, sozusagen heroische Aufgabe. Also sucht er den Tod von allen Seiten her zu stellen und zu fassen, wie in einem unaufhörlichen Kampfgetümmel.

Dabei verwirft er harsch die Haltung anderer Schriftsteller. T. S. Eliot, der tote Dichter abqualifiziert, wird ebenso gescholten wie Hemingway mit seinem Kult des Tötens. Auch Thomas Bernhard, den Canetti zunächst als seinen Schüler schätzt, gebe – ähnlich wie Samuel Beckett – dem Tod nach.

Lodernd gegenwärtig muten die Äußerungen zum israelisch-arabischen Sechstagekrieg im Juni 1967 an. Canetti, der Mann jüdischer Herkunft, fühlt sich nach eigenem Bekunden vom Bild toter ägyptischer Soldaten so sehr verfolgt wie von Auschwitz: „Ich kann zwischen Toten keine Unterschiede machen.“ 1991 wird er dann vehement ein entschiedenes Einschreiten gegen Saddam Husseins Größenwahn fordern.

Rastlos sucht Canetti nach Mitteln der Gegenwehr (als wolle er eine neue Religion über alle Religionen hinaus stiften): ob nun in der Bibel (anfängliche Unsterblichkeit Adams, bis er vom Apfel aß), in den Mythen der Aborigines oder in Lehren von der Wiedergeburt, selbst in der am Horizont aufscheinenden technischen Möglichkeit, sich für kommende Zeiten einfrieren und eines Tages auftauen zu lassen. Auch Zeugungskräfte werden vom virilen Canetti, der noch mit 66 Jahren Vater einer Tochter geworden ist, als hoffnungsvolles Zeichen der Wiedergeburt aufgerufen.

Elias Canetti hat das Arsenal wider den Tod reichhaltig angefüllt, die Formulierungen liegen bereit. Was künftige Menschen daraus machen werden, können wir nicht wissen.

Und wer weiß, was uns von Canetti selbst noch erwartet. Er hat verfügt, dass seine Tagebücher und Briefe bis ins Jahr 2024 nicht publiziert werden dürfen. Ob sein Oeuvre danach noch einmal eine andere Dimension bekommt?

Elias Canetti: „Das Buch gegen den Tod“ (aus dem Nachlaß herausgegeben von Sven Hanuschek, Peter von Matt und Kristian Wachinger unter Mitarbeit von Laura Schütz). Mit einem Nachwort von Peter von Matt. Carl Hanser Verlag, München. 352 Seiten. 24,90 Euro.