TV-Nostalgie (3): „Einer wird gewinnen“ mit Kulenkampff – Bildung auf charmante Art

Die 1960er Jahre waren in der Bundesrepublik zweifellos die ganz große Fernsehzeit. Da saß oft noch die ganze Familie gemeinsam vor dem Gerät; ganz besonders dann, wenn große Samstagabendshows wie Hans-Joachim Kulenkampffs „Einer wird gewinnen“ (EWG) auf dem Programm standen.

EWG lautete auch die Abkürzung für Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, den frühen Vorläufer der EU. In jenen Jahren herrschte noch europäische Zuversicht, obwohl die Schlagbäume noch unten und die Währungen verschieden waren.

Für die ganze Familie

„Kulis“ Show war jedenfalls rundum so nett, elegant, lehrreich und jugendfrei, dass man nach dem samstäglichen Bad auch als Kind zuschauen durfte. Die erste, heute längst legendäre Staffel lief von 1964 (Start am 25. Januar) bis 1969. Im Internet ist eine Sendung in voller Länge greifbar, die am 12. März 1966 aus Wiesbaden übertragen wurde. Damit bin ich noch einmal in die damalige Zeit eingetaucht.

Hans-Joachim Kulenkampf flirtet mit der Kandidatin aus Österreich, der späteren Siegerin der EWG-Sendung vom 12. März 1966. (Screenshot von http://www.youtube.com/watch?v=uyBoIs9XYjc)

Hans-Joachim Kulenkampf flirtet mit der Kandidatin aus Österreich, der späteren Siegerin der EWG-Sendung vom 12. März 1966. (Screenshot von http://www.youtube.com/watch?v=uyBoIs9XYjc)

Nur mal ein paar Namen, um den Horizont abzustecken: Die Gesangseinlagen dieser Sendung kamen von Gerhard Wendland und Lisa della Casa, Willy Berking dirigierte das Orchester. Zum Inventar zählten aufwendige Bühnenbauten, schalldichte Kabinen und eine ebenso hübsche wie eifrige Assistentin (Uschi Siebert), wie denn ohnehin ständig dienstbare Geister über den Bildschirm wuselten und eilends Utensilien brachten oder fortschafften.

„Kuli“ und die Damenwelt

Wie „altfränkisch“ die Menschen seinerzeit noch ausgesehen haben, wenn man es aus der Rückschau betrachtet. So adrette Kandidatinnen und Kandidaten gibt es heute nicht mehr. Die Schwenks ins Publikum zeigen zudem, dass praktisch alle Herren Anzug mit Krawatte trugen und die Damen artige Kleidchen.

„Kuli“ selbst, der sich in den ersten Minuten stets mit einer geschliffen formulierten Solo-Conférence für die meist rund zweistündige Sendung (Überziehen gehörte unbedingt dazu) wohlig „warmplauderte“, versprühte auch hernach jede Menge Charme; zumal, wenn weibliche Kandidaten an die Reihe kamen. Wie er sich ihnen buchstäblich zuneigt, ja im Wiegeschritt gleichsam wie auf Freiersfüßen geht und dabei allzeit lächelnd kokettiert („Ich habe heute kein Glück bei den Frauen“), das ist sprachlich und körpersprachlich immer noch ein Genuss, auch wenn man sich den allermeisten Frauen heute nicht mehr so nähern sollte.

Erstaunliche Allgemeinbildung

„Einer wird gewinnen“ war im Kern eine recht anspruchsvolle Quiz-Sendung mit ziemlich kultivierten Einlagen wie etwa Opern-Auszügen. Man fasst es stellenweise nicht, was damals noch gewusst wurde und offensichtlich zur klassischen Allgemeinbildung gehörte. Wie aus der Pistole geschossen (so sagte man damals) kam etwa die Antwort auf die Frage, welche drei göttlichen Grazien der sagenhafte Paris bei seinem Apfel-Urteil vor sich hatte: Aphrodite, Hera, Athena. Nun mal ehrlich…

Und das war nur eine von etlichen kniffligen Aufgaben. Bei der Bewertung der Antworten konnte „Kuli“ übrigens auch schon mal ein bisschen streng werden. Als die Holländerin Puccinis Oper „La Bohème“ nicht erkannte, wurde sie zwar scherzend, aber doch entschieden gerüffelt.

Wie selbstverständlich konnte der Showmaster denn hie und da auch beispielsweise Goethe-Zitate einstreuen – ganz im Vertrauen darauf, dass die meisten Leute wussten, worauf er anspielte. Das traut sich heute bestenfalls noch Harald Schmidt vor einem nächtlichen Nischenpublikum.

2000 Mark Siegprämie

Nun gut, es war auch eine etwas elitäre Vorauswahl. Die pro Sendung acht Kandidaten stammten in der Regel aus ganz Europa und darüber hinaus, in besagter Ausgabe aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Holland, Jugoslawien, der damaligen Tschechoslowakei sowie aus den USA und Israel. Alle sprachen zumindest leidlich Deutsch, gleich mehrere trugen Doktortitel. Es war eben nicht zuletzt bürgerliches Bildungsfernsehen.

Für all die Mühen und das Kopfzerbrechen gab es am Ende natürlich keine Million wie heute manchmal bei Jauch, sondern für die Sieger gerade mal 2000 Mark, was damals immerhin auch ein kleiner Batzen war.

Schlussritual mit Butler Martin

Keine Kultsendung ohne Ritual. Bei „Kuli“ war es bekanntlich der Butler Martin Jente (hauptberuflich hochkarätiger TV-Produzent), der seinem „Herrn“ am Schluss immer formvollendet in den Mantel half und ihm dabei ein paar kleine Gemeinheiten unterjubelte. Da hielt – ganz nebenher – auch eine Spur des englischen Humors Einzug ins deutsche Fernsehen.

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Peer Steinbrück im ZDF-Porträt: Auf der Suche nach der wahren Empfindung

Kaum zu glauben: Noch stecken wir mitten im Sommerloch, doch in einigen Wochen sind schon Bundestagswahlen. Allmählich aber läuft die Medien-Maschinerie an, die uns vor dem 22. September (bis zum Überdruss?) mit allen Bildern und Daten über die Spitzenkandidaten der großen Parteien füttert.

„Kante Klartext Kandidat“ hieß jetzt – etwas albern alliterierend – das ZDF-Porträt des SPD-Mannes Peer Steinbrück. In dem gestammelten Sprachschema bleibt man auch am nächsten Dienstag, wenn Angela Merkel (CDU) unter dem Etikett „Macht Mensch Merkel“ vorgestellt wird. Proporz muss sein. In jeder Hinsicht.

Peer Steinbrück beim Billardspiel mit seinem Sohn Johannes. (© ZDF/Martin Pfitzer)

Peer Steinbrück beim Billardspiel mit seinem Sohn Johannes. (© ZDF/Martin Pfitzer)

Es begann mit Bildern des Billard spielenden Peer Steinbrück, was sogleich mit politischer Präzision, Karambolagen und kühler Strategie kurzgeschlossen wurde. Geschenkt. Irgendwie muss man ja halbwegs sinnfällig in solch einen Beitrag einsteigen.

Nashorn-Figuren und Borussia Dortmund

Auch wissen jetzt alle Zuschauer, wie sein Sohn Johannes und sein Bruder Birger aussehen, dass er Nashorn-Figuren sammelt (was sich küchenpsychologisch deuten ließe) und dass er nicht nur Fan von Borussia Dortmund ist, sondern auch im Aufsichtsrat des BVB sitzt. Zwischendurch gab es verzichtbare Trickeinspielungen, in denen die Politiker mal wieder aussahen wie etwas lachhafte Pappkameraden. Mit Politik hatte das alles nur sehr vage zu tun.

Der Steinbrück-Film von Claus Richter und Thomas Fuhrmann kam vielfach über die landesüblichen Fragestellungen und Einschätzungen kaum wesentlich hinaus. Zeigt der Kandidat zu wenig Emotionen, ist er ein reiner Kopfmensch? Hat er sich zu weit von der SPD-Basis entfernt? Hat er es sich mit Grünen und Gewerkschaften verscherzt? Ist er gar arrogant und abgehoben (fürstliche Honorare für Vorträge, Meinung über Weinpreise, Geringschätzung des Kanzlergehalts)? Herrje, das klingt nach ziemlich vielen Problemen.

Ein ziemlich konventioneller Film

Man begleitete den scharfzüngigen Hanseaten gleichsam auf Schritt und Tritt durch den Wahlkampf. Weggefährten und Gegner erinnerten sich, kurze Rückblenden skizzierten den Werdegang. Nichts Ungewöhnliches also. Im Gegenteil. Es war insgesamt ein recht konventionelles Porträt.

Immerhin hatte man eine Dreiviertel Stunde Zeit. Und so schälte sich nach und nach doch etwas genauer heraus, welche Wesensart Steinbrück eigen ist. Sein ironischer, manchmal geradezu britischer „Küstenhumor“ ist nicht in der ganzen Republik und in der breiten Mehrheit vermittelbar. Doch wenn er sich zusammenreißt und zügelt, wirkt er, als ziehe er mit „angezogener Handbremse“ in die entscheidenden Wochen. Auch das ist nicht gerade mitreißend. Überhaupt hat er ja noch nie eine Wahl gewonnen.

Desaster der Kandidatenkür

Eigentlich hatte er zunächst bei den deutschen Journalisten und beim Wahlvolk einen Stein im Brett. Im Oktober 2011 führte er die Beliebtheitsliste aller prominenten Politiker an. Und nun besehe man sich den Schaden, wie weit er hinter Frau Merkel zurückgefallen ist. Die übereilte Kandidatenkür der SPD, so wurde hier noch einmal deutlich, war ein Desaster, ein bestenfalls halbherziges Hopplahopp mit allseits unklaren Frontlinien.

Schnelldenker Steinbrück kann offenbar sehr unduldsam sein, wenn andere mit seinem Tempo nicht mitkommen. Doch er hat, so scheint’s, menschlich dazugelernt. Sein Lachen ist mitunter ebenso sympathisch wie es seine Tränen der Rührung waren, als er sprachos neben seiner Frau saß, die seinen inneren Antrieb zur Kandidatur vor Tausenden liebevoll bloßgelegt hatte.

Seht her, er hat ja wohl doch ein Gefühlsleben – und kann es gelegentlich auch noch zeigen. Ob das aber reicht, um der famos machtbewussten Frau Merkel die Stirn zu bieten?

P.S.: Übrigens war Steinbrück am späteren Abend noch in „Menschen bei Maischberger“ (ARD) zu Gast. Sandra Maischberger wollte ihn (mit Fragen aus dem Zettelkasten) partout zu unvorsichtigen Aussagen verleiten – ohne sonderlichen „Erfolg“. Man hatte den Eindruck, dass sie am liebsten Psychotests mit ihm gemacht hätte.

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Zeitschriften (1): „Homes & Gardens“ – Die Welt als schöne Dekoration betrachtet

Nein, ich war nie ein Freund solcher Magazine und werde mein Lebtag auch keiner mehr sein.

Doch der Reihe nach: Ich wollte hier seit langem eine Serie über Zeitschriften starten, die in ihrer immer noch überbordenden Fülle tausenderlei Interessen zu bedienen scheinen – und hatte eigentlich vor, mit der offenbar gründlich zum Boulevard-Brüller mutierten „Bravo“ anzufangen. Doch die alte Tante unter den Jugendillustrierten gehört nicht zum Sortiment des Schmalspur-Händlers ums Eck.

Also spontan umdisponieren. Mein Blick fiel nun auf eine andere Regalreihe und ich dachte bei mir, als hätte ich Verbotenes im Sinn: Warum nicht mal stilvoll in der deutschen Ausgabe von „Homes & Gardens“ blättern? Den Titel muss man gleichsam oxfordianisch aussprechen. In Ermangelung einer zierlichen Coffee Table habe ich die Lektüre allerdings schnöderweise auf dem Schreibtisch vollzogen, was im Kosmos solcher Magazine schon an sich ein Vergehen ist. Ich bekenne mich schludrig, äh schuldig.

Das pastellfarbene Idyll besudeln

Und nun haltet mich fest. Denn schon bei genauerer Durchsicht einer einzigen Zeitschrift dieser Sorte erfasst mich nicht nur ein gewisser Unmut, nein: Ich würde diese durchweg unwirklichen, pastellfarbenen Welten am liebsten hie und da besudeln. Daraus könnten Psychologen sicherlich weitreichende Schlüsse ziehen. „Wie empfinden Sie das? Was macht das mit Ihnen?“

Materialien zu einer Kritik von "Homes & Gardens" (Foto: Bernd Berke)

Materialien zu einer Kritik von „Homes & Gardens“ (Foto: Bernd Berke)

Ruhe da! Derlei Petitessen trage ich mit mir selbst aus.

Ganze Seitenstrecken sind hier in bestimmten Farbtönen und zarten Kombinationen gehalten (Blauweiß und Mint, Jade und Blau oder auch Gelb und Zartrosa), als wäre vorerst – bis zur nächsten Trendwende – nichts anderes mehr erlaubt.

Was sich allzeit als „Inspiration“ oder „Idee“ versteht, gerät so im Handumdrehen zur zwar immer mal wieder wechselnden, doch nichtsdestotrotz faden Eintönigkeit. Unentwegt wird die „Individualität“ der Vorschläge beschworen, doch kann dieses Selbstlob nicht über eine gewisse Phantasiebegrenzung hinwegtäuschen.

Ziffern und Buchstaben aufstellen

So scheint es beispielsweise in diesen Kreisen Usus zu sein, im gesamten Domizil „Akzente“ zu setzen, indem man einzelne Ziffern und Buchstaben aufstellt oder hinhängt. Da gerät eine „2“ auch schon mal so monströs, dass man glatt darüber stolpern könnte. Andererseits sind die Behausungen ausnahmslos so weitläufig und großzügig, dass es auf ein paar Quadratmeter ohnehin nicht ankommt.

In der luftig sommerlichen Ausgabe Juli/August ist „Wohnen am Meer“ das Titelthema. Von konkreten Haus- und Grundstückspreisen ist da schon gar nicht mehr die Rede, man mag sie sich ausmalen und sich fragen, wer sich das leisten kann. Da gibt es Leute, die bereits höchst gediegen in Cornwall residieren und sich kurzerhand zusätzlich ein citynahes Stadthaus im sündhaft teuren London zulegen.

Wenn Erfolgspaare erzählen

Die Erfolgspaare, die da verzückt von ihren Traumhäusern erzählen, haben allesamt ähnliche „Geschichten“ parat. Sie haben sich samt und sonders ihren immobilen Lebenstraum erfüllt und (so die besonders beliebte Saga) teils etwas marode alte Häuser in jahrelanger, liebevoller Detailarbeit schönstens aufpoliert. Bis endlich die Leute von „Homes & Gardens“ vorbeigeschaut haben. Auf solche Weise wird das Lebensglück gekrönt, das man sich vorzugsweise lässig, entspannt und relaxed vorzustellen hat. Mithin etwas redundant. Also wohl auch ein bisschen langweilig.

So sehr ähneln sich die Berichte, dass man auf den verwegenen Gedanken kommt, einmal den jeweiligen Realitätsgehalt überprüfen zu wollen. Auch wäre man gern beim einen oder anderen Fotoshooting dabei gewesen, aber auch beim vorherigen Aufräumen und den nachherigen Verschönerungen mit Bildbearbeitungs-Programmen.

Egal. Hier genießen alle den direkten, unverstellten Seeblick – ob auf den Pazifik in der Villa zu Queensland (Australien), auf die britische See in der Doppelhaushälfte aus dem 18. Jahrhundert zu Devon (England) oder auf den Lago Trasimeno (Italien). Hach ja.

Erschütternd geschmäcklerisch

Wie der Titel der Zeitschrift schon ahnen lässt, liegt ein Schwerpunkt auf englischen Deko-Anregungen. Ich vermute mal, dass manch ein Beitrag aus der englischen Ausgabe übernommen wird, das eventuell als öde eingeschätzte Deutschland kommt eher am Rande vor. Es ist nicht zu bestreiten, dass dies oder jenes Objekt recht geschmackvoll aussieht, doch in der Summe und in der allfälligen Etepetete-Perfektion ist der Heftinhalt schier erdrückend geschmäcklerisch und keimfrei.

Apropos: Die Badezimmer-Tipps haben mir den Rest gegeben. Obwohl: Die Dusche, die verschiedene Regenarten simuliert und dabei diverses Nebelwallen, Lichtspiele und feine Düfte absondert, die haben wir ja inzwischen längst alle daheim installiert, oder etwa nicht? Doch das WC für schlanke 1420 Euro mit Fernbedienung, programmierbarer Komfortdusche und Warmluftföhn nötigt einem denn doch ein Wimpernzucken ab. Kann man da gar von obszönem Luxus sprechen? Ach, nicht doch! Immer gleich diese Ideologie aus purem Neid. Aber ein wenig ungerecht wird man doch mal sein dürfen.

Zusätzliche Ausstattung-Tipps kommen übrigens in aller Regel von den Frauen, wie denn auch die Zielgruppe eindeutig weiblich ist. Bis auf einen Direktor besteht überdies die gesamte deutsche Redaktion aus Frauen. Vielleicht kann ich deswegen überhaupt nicht mitreden. Ich Ignorant habe ja auch vorher keinen Gedanken darauf verschwendet, was „Poufs“ sind (im Bedarfsfalle bitte selbst recherchieren). Vor allem aber weiß ich, dass die Liebste einigen Elementen dieser Zeitschrift etwas abgewinnen kann. Sei’s drum. Es lebe die Verschiedenheit.

Blumen pressen, Brotkörbe basteln

Dafür weiß ich jetzt, dass der „Shabby Style“ (angeblich kein Trend, sondern ein „Lebensgefühl“!) alles andere als schäbig ist. Und wenn man wenigstens die Mehrzahl der Flohmarkt-Käufe und Erbstücke weiß anpinselt, kann man – wie es hier heißt – Kitsch vermeiden. Wie schön, dass das so einfach ist.

Auch wäre ich vorher nicht auf den Einfall gekommen, dass Frauen Seife für sich selbst als Geschenk verpacken (sollen), um sich auf jedes neue Stück zu freuen wie eine Schneekönigin. Dem Heft nach zu urteilen, haben manche von ihnen offenbar ziemlich viel Zeit übrig. Wenn sie nicht gerade shoppen oder in Wohnideen schwelgen, sollen sie nicht nur emsig Blumen pressen (ausgeschildert als „Comeback“ eines Hobbys aus viktorianischer Zeit), sondern zum Exempel auch Brotkörbe aus Hanfstoff basteln. Die Schritt-für Schritt-Anleitung wird für die gleichwohl weltoffene Lady natürlich anders durchnummeriert: Step 1 – Step 2… Heiligs Hänfle!

Warnung an apulische Bauern

Dass bei all dem nie die Bezugsquellen fürs Shopping vergessen werden, dass überhaupt der Übergang zwischen redaktionellen Teilen und Anzeigen zuweilen recht fließend ist, versteht sich beinahe von selbst. Das Äußere Erscheinungsbild, sprich Layout und Typographie, scheint hier bereits die Hauptarbeit zu sein. Die Texte hingegen funktionieren offenbar nach vorgegebenem Schema. Überraschungen sind nicht zu erwarten.

So sehr gerät hier alles zur Deko und zum schicken Accessoire, dass man den Reisehinweis (Apulien mit „ursprünglichen Bauerndörfern“) mit Unbehagen liest. Bevor die Leser(innen) dort einfallen, möchte man den Bauern am liebsten zurufen: Bleibt standhaft! Gebt nur eure alten Sachen nicht her!

Ich glaube, als nächstes brauche ich etwas Brachiales. Vielleicht eine Heavy-Metal-Zeitschrift?




TV-Nostalgie (2): „Monaco Franze“ bleibt unvergesslich

Auf der Suche nach Figuren, die wir im Fernsehen schmerzlich vermissen, gibt’s manchmal kein Vertun: Helmut Fischer als „Monaco Franze – Der ewige Stenz“ gehört unbedingt dazu. Und alle anderen, die an Helmut Dietls grandioser Serie von 1983 mitgewirkt haben, denn die war bis in die kleinste Nebenrolle passgenau besetzt.

Auf Bayern III werden derzeit, den ganzen Sommer hindurch (jeweils montags und donnerstags, immer um 20.15 Uhr), die Folgen des ARD-Zehnteilers abermals gezeigt. Da kann man wirklich sagen: Wiederholung macht Freude!

Wehmütiger Blick zurück

Selig in wehmütiger Nostalgie schwelgend, habe ich mir die Auftaktfolge mit dem schönen Titel „A bissel was geht immer“ noch einmal angeschaut, die am 2. März 1983 erstmals ausgestrahlt worden ist. Du meine Güte, über 30 Jahre ist das schon her…

Moment der ungetrübten Harmonie: Monaco Franze (Helmut Fischer) und sein "Spatzl" (Ruth-Maria Kubitschek) (© BR/Balance Film)

Moment der ungetrübten Harmonie: Monaco Franze (Helmut Fischer) und sein „Spatzl“ (Ruth-Maria Kubitschek) (© BR/Balance Film)

Und so fängt’s an: Der vermeintliche „kulturlose“ und doch auf seine Art so elegante Abenteurer Monaco Franze scharwenzelt mal wieder außerehelich einer Dame (Gisela Schneeberger) hinterher, die sich ein völlig falsches Bild von ihm macht und ihn für einen leidvoll einsamen Wolf halten möchte. Wenn sie wüsste! Monaco Franze, gleichsam nur nebenberuflich Kripobeamter, versucht, mit einer Art Rasterfahndung auf ihre Spur zu kommen. In welchem Münchner Stadteil wohnt sie nur, in welchem Tanztempel kann man sie antreffen?

Ehemann an der langen Leine

Viel besser kennt natürlich die hochkultivierte Gattin Annette von Soettingen (Ruth-Maria Kubitschek) ihren Charmeur Monaco Franze (bürgerlich Franz Münchinger), den sie klugerweise an der langen Leine laufen lässt. Hauptsache, der Schwerenöter übertreibt seine Eskapaden nicht. Dessen herzig-lausbübische Aussage „Geh, Spatzl, seelisch bin i dir treu“ ist längst so legendär wie die ganze Reihe, die nebenher so manchen Eheratgeber ersetzt.

Besser als in dieser ersten Folge kann man einen Serieneinstieg wohl nicht hinbekommen. Wie kunstvoll die Handlungsstränge da verwoben werden! Wie wunderbar stimmig die Episode von den Wagner-Opern erzählt wird, in die Annette ihren Mann unbedingt zerren will. Dabei hasst der ihre hochnäsigen Freunde ebenso wie die Klänge und das Wagalaweia-Getue auf der Bühne. Doch dann bedient er sich einer herrlichen List und weiß plötzlich so gut Bescheid wie der beste aller Opernkritiker. Welch ein Triumph…

Gipfel der Komik

Da werden einige Gipfel der Hochkomik erklommen, und zwar scheinbar völlig unangestrengt. Auf diese Weise funktioniert das nur mit einem famosen Ensemble, zu dem u. a. auch Christine Kaufmann und Erni Singerl zählten. Wie da der herrschende Zeitgeist nachgezeichnet und gleichzeitig funkelnd parodiert wurde, das erreichte geradezu literarische Höhen. Das hat Bestand.

Als Regisseur Helmut Dietl, der sich den „Monaco Franze“ gemeinsam mit dem Schriftsteller Patrick Süskind und mit Franz Geiger ausgedacht hat, 1986 auch noch den gleichfalls unvergesslichen Sechsteiler „Kir Royal“ nachlegte, zählte er endgültig zu den wichtigsten TV-Schaffenden überhaupt. Und München war in jenen 80er Jahren bei weitem die glanzvollste Stadt im deutschen Fernsehen. Auch da gibt es kein Vertun.

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Springer, die WAZ und der ganz große Deal

Ich bin so stolz, ein Ruhri zu sein. Jetzt noch ein bisschen stolzer als bisher schon. Denn wir haben jetzt bald das „führende nationale Medienhaus“, falls das Kartellamt nicht doch noch etwas gegen den gigantischen Deal zwischen Springer und WAZ/Funke-Mediengruppe einzuwenden hat.

Woher die WAZ-Leute auf einmal blanke 920 Millionen Euro hernehmen, wo sie doch angeblich so sehr unter den Verlusten geächzt haben, die beispielsweise die Westfälische Rundschau verursacht haben soll? Diesen Batzen kann man doch nicht mit der Einsparung von ein paar Hundert Journalisten und sonstigen Mitarbeitern verdient haben, oder? Und wurde da nicht gemunkelt, dass die Banken angeblich Druck auf Petra Grotkamp ausüben, die Mehrheitseignerin der WAZ-Gruppe, die für ihre zusätzlich erworbenen Anteile einen namhaften Kredit aufgenommen hat?

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Hört sich irgendwie verzweifelt und doch schlau an, was Springer macht: Printmarken an die offenbar auf schiere Größe versessene WAZ-Gruppe verkaufen, so lange es überhaupt noch ordentlich Geld bringt. Das riecht nach Schlussverkauf und so gar nicht nach Zukunft.

Kaum auszudenken, dass etwa „Hör Zu“, „Hamburger Abendblatt“, „Berliner Morgenpost“ und ein ganzes Paket von Programm- und Frauenzeitschriften künftig von Essen aus gemanagt werden. Ob Axel „Cäsar“ Springer sich nun im Grabe umdreht? Eine kuriose Pointe, Jahrzehnte nach den heftigen Anti-Springer-Demonstrationen um 1968. „Enteignet Springer“, riefen sie damals bei der Apo. Wahrlich, es waren andere Zeiten.

Welch eine Vorstellung zudem, dass die Essener bald weite Teile der Republik mit ihrer speziellen Vorstellung von Qualitätsjournalismus beglücken werden. Welch eine Aussicht für die Redaktionen der betroffenen Blätter, die künftig wohl erfahren, wie Personalpolitik nach Essener Art betrieben wird. Sparsam. Ganz sparsam. Höchst sparsam.

Soll man jetzt noch gespannt sein, wie das alles weiter geht?

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Ausführliche Berichte und Analysen: http://www.sueddeutsche.de/medien/zeitungen-und-zeitschriften-an-funke-gruppe-springer-verkauft-sein-erbe-1.1731053

http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/axel-springer-verlag-verkauft-printprodukte-analyse-der-strategie-a-913107.html




Magie der monumentalen Baukörper: Bilder von Walter Eisler im Hagener Osthaus-Museum

Der Maler Walter Eisler stellt ins Zentrum seiner Bilder meist riesenhafte Gebäude, die er aus ihren ursprünglichen Zusammenhängen gelöst hat – von der Brauerei bis zum biblischen „Turm zu Babel“. Sind die Bauten von Landschaft umgeben, so bleibt die Natur bloße Kulisse, lediglich ein Kontrast zu den gefügten Steinen.

Doch nichts und niemand trumpft hier auf. Diese Bilder sind gleichsam defensiv, sie wirken wie nach innen gerichtet, in sich selbst versunken. Gerade deshalb üben sie allerdings eine stille, durchaus rätselhafte Anziehungskraft aus.

Walter Eislers Fabrikbild "Krasnaja Snamija", 2009, Öl auf Leinwand (© Walter Eisler/Foto: Lars Wiedemann)

Walter Eislers Fabrikbild „Krasnaja Snamija“, 2009, Öl auf Leinwand (© Walter Eisler/Foto: Lars Wiedemann)

„Krasnaja Snamija“ heißt die kleine Schau, die das Hagener Osthaus-Museum Eisler jetzt in der oberen Galerie ausrichtet. Die russischen Worte bedeuten „Rotes Banner“ und beziehen sich auf eine Textilfabrik in St. Petersburg (seinerzeit Leningrad), die 1926 vom berühmten Architekten Erich Mendelsohn geplant wurde und die Eisler 2009 ins Bild gesetzt hat. Die am Bug charakteristisch gerundete, schräg zum Betrachter gestellte Elektrozentrale dieser Fabrik sieht aus wie ein gigantisches Dampfschiff. Auf einem anderen Bild schwimmt „Die Brauerei“ sogar vollends auf dem Wasser. Fremde, in Bewegung geratene Dingwelt.

In einer ähnlich diagonalen Ausrichtung stellt Eisler auch das – ebenfalls von Mendelsohn entworfene – Stuttgarter Kaufhaus Schocken (das 1960 in einem barbarischen Akt abgerissen wurde) keilförmig vor uns hin. Auch hier schiebt sich der grandios gerundete Gebäudeteil in den Vordergrund und eröffnet, als wär’s eine Entscheidung, die man vor dem Bild zu treffen hätte, zwei Wege – links und rechts am Baukörper vorbei. Rechts vor dem Scheideweg findet sich eine unscheinbare Absperrung mit Bausteinen, die freilich den ganzen Bildaufbau durchbricht. Ein seltsam irritierendes und somit bannendes Detail.

Gebäude in Potsdam: "Einsteinturm", 2005, Öl auf Leinwand (© Walter Eisler/Foto: Lars Wiedemann)

Gebäude in Potsdam: „Einsteinturm“, 2005, Öl auf Leinwand (© Walter Eisler/Foto: Lars Wiedemann)

Ein weiteres Gemälde, das sinnbildlich aufgeladen ist, greift eine Entscheidung, vor die der Betrachter gestellt sein könnte, auch noch im Titel auf: „Die Schaltwarte“ (2002) lässt eine verwirrende, nahezu labyrinthische Raumfolge ahnen, in der man sich schwerlich zurechtfinden kann.

Den monumentalen, im realistischen Duktus eines späten Nachfahren der Neuen Sachlichkeit gemalten Bauten wohnt also eine sonderbare Magie inne. Sie weisen offenkundig weit über ihre Architektur hinaus – aber wohin? Zwar liegt auf den ersten Blick die Gestaltung recht offen zutage, sie scheint sich aber bei näherem Hinsehen vor dem Betrachter zu verschließen, sich jeder raschen Deutung zu verweigern und hermetisch abzuriegeln. Es ist zuweilen, als habe der maskierte „Zauberer“ (2008) seine Hände in solch einem Spiel der Verwandlung.

Hat es mit der Herkunft des Malers zu tun? Walter Eisler wurde 1954 in Leipzig geboren. Er ein einer von zwei Söhnen des DDR-Malergranden Bernhard Heisig (1925-2011) und hat den Nachnamen der Mutter angenommen – wohl auch, um nicht namentlich im Schatten seines Vaters zu stehen, von dessen Stil er sich mittlerweile auch deutlich emanzipiert hat. Schon zu DDR-Zeiten dürfte freilich auch Eisler (und sein Bruder Johannes, gleichfalls Künstler) gelernt haben, Kunstwerke vieldeutig anzulegen und zu verrätseln. Diese Strategie, zu der es im SED-Staat kaum gangbare Alternativen gab, scheint bis heute Walter Eislers Bildsprache mitzuprägen.

Geheimnisvoller Hintergrund: "Infantin", 2010, Öl auf Leinwand (© Walter Eisler/Foto: Lars Wiedemann)

Geheimnisvoller Hintergrund: „Infantin“, 2010, Öl auf Leinwand (© Walter Eisler/Foto: Lars Wiedemann)

Die rund 35 Bilder umfassende Werkgruppe, die jetzt in Hagen zu sehen ist, stammt jedoch aus den letzten zehn Jahren und ist noch von keinem Museum gezeigt worden. Insofern kann man von Entdeckungen sprechen. Einzig ein noch ganz anders geartetes Selbstporträt von 1986 markiert einen früheren Punkt auf der Strecke, die Eisler seither durchmessen hat.

Angesichts weniger menschlicher Figuren, die das neuere Oeuvre denn auch nur spärlich bevölkern, meint man die Präferenz für gemalte Architektur nachvollziehen zu können. Ein wenig unsicher, manchmal geradezu etwas ungelenk stellt Eisler leibliche Formen dar, vor allem Hände („Die Infantin“, 2010) wirken – sofern ausgeführt – bisweilen wie starre Fremdkörper oder werden gleich nur schemenhaft dargestellt.

Doch kleine Schwachstellen tun den subtilen Stimmungswerten, die in diesen Bildern aufgehoben sind, keinen Abbruch. Gewiss: Mal mag man sich an Giorgo de Chirico, mal an Edward Hopper erinnert fühlen – oder just an die Neue Sachlichkeit. Aber es ist denn doch etwas sehr Eigenes um Eislers Schaffen. In manch einem Bild kann man sich lang verlieren, um die Fährtensuche zu beginnen.

Walter Eisler: „Krasnaja Snamija“. Osthaus-Museum, Hagen (Museumsplatz 1 – Navigation: Hochstraße 73). 26. Juli bis 1. September. Geöffnet Di, Mi, Fr 10-17 Uhr, Do 13-20 Uhr, Sa/So 11-18 Uhr. Eintritt 6 Euro, ermäßigt 2 Euro. Kein Katalog.




Götz George als sein umstrittener Vater Heinrich: Entlastung aus lauter Sohnesliebe

Seit Wochen schreiben die Zeitungen in gehöriger Länge darüber. Jetzt ist das Fernseh-Ereignis erstmals bei arte zu sehen gewesen. In „George“ spielt der große Götz George seinen vielleicht noch größeren Vater Heinrich George. Der hatte sich in der NS-Zeit zutiefst verstrickt und in üblen Propagandafilmen wie „Jud Süß“ oder „Kolberg“ mitgewirkt.

Ein wahrlich heikles, geschichtlich schwer belastetes Thema, das unbedingt eine filmische Aufarbeitung wert ist. Man kann nur zu gut verstehen, dass Götz George sich dem Mythos seines Vaters nähern möchte, der ihn seit jeher umtreibt. Aber es war wohl keine gute Entscheidung, dass er den Altvorderen selbst dargestellt hat. Was da alles mit hineinspielt! Und wie da in nahezu jeder Szene die dringend nötige Distanz fehlt…

Götz George als Heinrich George - in der Rolle des "Götz von Berlichingen". (© SWR/Thomas Kost)

Götz George als Heinrich George – in der Rolle des „Götz von Berlichingen“. (© SWR/Thomas Kost)

Fehlende Distanz

Natürlich läuft der Film also letzten Endes auf eine weitgehende Entlastung des Schauspielers Heinrich George hinaus – allen Brüchen zum Trotz. Wer auch hätte Götz George zum 75. Geburtstag den innigen Wunsch ausschlagen sollen, seinem Vater Gerechtigkeit widerfahren zu lassen? Allerdings ist es eben die Gerechtigkeit des liebenden, allzeit bewundernden Sohnes, der seinen Vater ganz am Schluss noch einmal persönlich anspricht: „Du warst halt immer besser. Besessener.“ Sicherlich ist das sehr berührend und geht zu Herzen. Doch man kann Heinrich George auch ungleich kritischer betrachten, als Götz George dies vermag. Dann hätte man wahrscheinlich auch nicht Heinrich Georges „Faust“-Inszenierung im russischen Lager derart breiten Raum gegeben.

Fakten und Fiktion vermischt

In manchmal kaum noch überschaubarer Weise vermischen sich in Joachim Langs Film, der zehn Jahre Recherche erfordert haben soll, Fakten und Fiktion, dokumentarische und gespielte Sequenzen. Eins fließt ins andere, so dass man als Zuschauer bisweilen gar nicht mehr weiß, woran man momentan ist. Da geht der zivil gewandete Götz George mit seinem älteren Bruder Jan durch Schauplätze des Films. Sodann wird er als Heinrich George für große Rollen („Götz von Berlichingen“) geschminkt. Dazwischen sieht man seinen Vater in alten Schwarzweiß-Aufnahmen in derselben Rolle. Und so fort. Stellenweise ist es noch komplizierter, als ich es hier schildern möchte.

Hinterhältige Russen

Dramaturgische Leitlinie ist die hartnäckige Befragung Heinrich Georges durch die russischen Besatzer, die ihm partout nachweisen wollen, er sei ein Faschist gewesen. Die Russen erscheinen anno 1945 als unnachsichtige, durchaus hinterhältige Triumphatoren, die auch schon mal ein entlastendes Dokument verschwinden lassen und ansonsten in altbekannter Manier gerne antreiberisch „Dawai, Dawai“ rufen. Vor einem solchen Tribunal muss Heinrich George (trotz mancher Verfehlungen) wie ein unschuldig Verfolgter aussehen. Erst recht, wenn er seinen kleinen Sohn Götz am Lagerzaun in die Arme schließt und überwältigt „Mein Großer – Kleiner“ ausruft. Dann muss man einfach auf seiner Seite sein. Muss man tatsächlich?

Verstrickung ins NS-Regime

Freilich ist das Ganze auch eine Studie darüber, wie einer, der angeblich nur der hehren Kultur dienen und sich unpolitisch geben will („Ich bin nur Schauspieler, sonst nichts“), den braunen Machthabern umso mehr auf den Leim gehen konnte. Vom NS-Propagandaminister Joseph Goebbels ließ er sich – mehr oder weniger wider Willen – einspannen und zum Intendanten des Berliner Schillertheaters ernennen. Vor lauter Eitelkeit ließ er sich hinreißen, dem Regime zu Diensten zu sein. Andererseits rettete er einige jüdische oder linke Theaterleute vor Tod und Drangsal. Es war eine furchtbare Gratwanderung.

Götz George als Heinrich George - bei einer Rundfunkrede im Sinne der NS-Machthaber. (© SWR/Thomas Kost)

Götz George als Heinrich George – bei einer Rundfunkrede im Sinne der NS-Machthaber. (© SWR/Thomas Kost)

Bei aller problematischen Herangehensweise haben wir beachtliche schauspielerische Leistungen gesehen, das Ensemble des Films sucht ja auch Seinesgleichen. Vor allem Martin Wuttke als Goebbels und Muriel Baumeister als Heinrich Georges Frau Berta Drews oder auch Hanns Zischler als Maler Max Beckmann (der ein Familienporträt der Georges für die Villa am Wannsee malte und dann ins Exil ging) ragten heraus – von Götz George selbst gar nicht zu reden, der sich jedoch notgedrungen in der familiären Nähe verheddern musste.

Missbrauchtes Genie

Höchst eindrucksvoll waren auch einige Zeitzeugen, deren teils Jahrzehnte zurück liegende Aussagen zwischendurch eingespielt wurden. Und Heinrich George selbst. Schon die kurzen Filmausschnitte (u. a. aus Puschkins „Der Postmeister“) ließen ahnen, welch ein Genie er gewesen ist. Umso betrüblicher, dass er missbraucht wurde und sich missbrauchen ließ.

Die ARD wird „George“ am Mittwoch, 24. Juli, leider erst ab 21.45 Uhr ausstrahlen. Götz Georges Zorn über den ungünstigen Ferientermin, an dem Millionen Menschen in Urlaub sind, kann man nachvollziehen.

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TV-Nostalgie (1): Was für ein Kerl! – Ein Wiedersehen mit Schimanskis erstem Fall

Von Zeit zu Zeit liebe ich ein Wiedersehen solcher Art. Darum habe ich mir jetzt den allerersten Schimanski-„Tatort“ noch einmal angeschaut. Untertitel: „Duisburg-Ruhrort“. Erstausstrahlung: 28. Juni 1981. Damalige Zuschauerzahl: 15,38 Millionen.

Wenn ich mich recht entsinne, durfte ich den Film schon damals rezensieren. Ich lese lieber nicht nach, was ich da geschrieben habe. So viel Wiedersehen muss denn doch nicht unbedingt sein.

Anlass der erneuten (leider nächtlichen) Sendung im WDR-Programm war natürlich der 75. Geburtstag von Götz George (23. Juli). Der Darsteller, der mit den Jahren zusehends die Statur eines – auch ohne viele Worte – allseits Respekt gebietenden Titanen angenommen hat, taucht dieser Tage häufiger auf; vor allem in der Rolle seines Vaters, des in die NS-Zeit verstrickten Schauspielers Heinrich George (arte, 22. Juli, 20.15 Uhr und ARD, 24. Juli, 21.45 Uhr). Doch dazu kommen wir noch in einem anderen Beitrag.

Handreichung: Götz George als Schimanski (rechts) und Eberhard Feik als Thanner. (© WDR)

Handreichung: Götz George als Schimanski (rechts) und Eberhard Feik als Thanner. (© WDR)

Als Kommissar Horst Schimanski dürfte Götz George das Ruhrgebiets-Image mindestens ebenso geprägt haben wie etliche Jahre zuvor Jürgen von Manger; und wahrscheinlich nachhaltiger, als Herbert Grönemeyer, Herbert Knebel (alias Uwe Lyko) oder auch Frank Goosen dies vermocht haben. Da darf man also entschiedene Prägekraft konstatieren – und allein das ist schon eine Leistung für sich.

Der damalige Auftakt-Fall, der sich um Binnenschiffer und Waffenschmuggel drehte, soll hier nicht noch einmal aufgerollt werden. Doch die – seinerzeit ungewohnte – Machart des Krimis kann sich heute noch sehen lassen. Wie da gleich in der ersten Sequenz der Charakter der Hauptfigur zwischen Flüchen, Suff, Hafenmilieu und Pferdewetten anklingt, das ist schon gut und punktgenau gemacht. Von wegen „Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps“. Hier ist Dienst auch Schnaps. Und Bier. Und die eine oder andere Bettbekanntschaft. Im Verlauf einer solchen erfuhren wir auch, dass Schimi schon damals tätowiert war. Heute würde er damit einen faden Durchschnitt repräsentieren.

Regisseur Hajo Gies zeigte in fahlen, gleichsam längst abgeblätterten Farben ein wahrlich tristes Ruhrgebiet, stets Grau in Grau und nieselig. Und hinter jeder Straßenecke lauerte das Verbrechen. Das Bürgertum lebte sozusagen auf einem anderen Stern. Dafür war „Derrick“ zuständig. Schon „Normalos“ waren in den Schimanski-Filmen eine eher exotische Seltenheit.

In einem weiteren Punkt waren die Schimanski-Folgen geradezu Avantgarde: Lange vor dem Aufkommen von Begriffen wie „Prekariat“ und „Migration“ konnte man in diesen Filmen entsprechende sozialen Verhältnisse besichtigen. Wobei wir beides nicht miteinander vermengen wollen.

Herrlich übrigens die schon in der ersten Folge angerissene Kontrastzeichnung zwischen dem durchaus prügelfreudigen Weiberhelden Schimanski und dem eher feinsinnig veranlagten Thanner (Eberhard Feik), der gleich in einer der frühesten Szenen mit distinguierten Französisch-Kenntnissen glänzte.

Bei aller polternden „Raubeinigkeit“ (ein Wort, das seither quasi für ihn reserviert zu sein scheint) ist Schimanski freilich auch praktizierender Melancholiker. Und am Ende steht ohnehin immer die Erkenntnis: Was für ein Kerl mit welch einem Herzen!




Schlapphüte und andere Trends: BVB-Spielerfrau Jana Kirch als neue Kolumnistin der Ruhrnachrichten

Der Dortmunder Lokalteil der Ruhrnachrichten (RN) hat jetzt eine neue Mitarbeiterin. Sie heißt Jana Kirch.

Ja, und?

Nun, Jana Kirch veröffentlicht seit gestern eine regelmäßige Kolumne mit dem herzigen Titel „Janas schöne Aussichten“. Darin – so die Ankündigung – werde sie ab sofort „von Mode, gemütlichen Cafés, ihren Lieblings-Hotels und von ihren persönlichen Erlebnissen rund um Borussia Dortmund“ berichten.

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Jana Kirch geb. Flötotto ist nicht irgendwer. Die Ehefrau des BVB-Ergänzungsspielers Oliver Kirch trägt vor allem als weit gereistes Model (New York, Paris etc.) und Boutique-Inhaberin (Bielefeld & Sylt) zum wahrscheinlich nicht allzu schmalen Familieneinkommen bei.

Nebenher betreibt „der schönste Neuzugang beim BVB“ („Bild“) auch noch ein Blog namens ohlalalovelylife, das so geschniegelt aussieht, als werde es von einer Agentur gezimmert. Der Titel dürfte jedenfalls auch für die RN-Kolumne richtungweisend sein. Zum Auftakt wird Jana Kirch vom lokalen Monopolisten auch folgerichtig so zitiert: „Ich möchte mich allen schönen Dingen widmen, die uns in der Alltagshektik manchmal unbemerkt zu entgleiten drohen.“

Genau. Bloß keine garstigen Sachen. Bei den Ruhrnachrichten ist somit künftig noch ein bisschen mehr Harmonie und Harmlosigkeit angesagt als ohnehin schon. „Trends ins Dortmund und der ganzen Welt“ will die neue Mitarbeiterin vorstellen. Zu Beginn empfiehlt sie schicke Outfits für die Sommerfestival-Saison: „Besonders große Schlapphüte à la Saint Laurent erleben dieses Jahr ein Revival.“ Gut, dass man das jetzt im Lokalteil erfährt. Sonst hätte man doch glatt wieder den stocksteifen Mini-Hut aus dem Vorjahr aufgesetzt.

Wir fragen jetzt nicht, durch welche Verquickungen, auf welchen Wegen und Umwegen ein solches Arrangement zustande kommt, warum also die Gattin eines BVB-Kickers partout eine Spalte des Lokalblatts füllen muss. Wir fragen auch nicht nach der Honorierung und danach, welchen Anteil womöglich die RN-Redaktion an den Texten hat. Erst recht wollen wir nicht wissen, was das liebliche Geplänkel im Lokalteil einer Tageszeitung zu suchen hat. Auch interessiert es uns nicht mal ansatzweise, ob die eine oder andere modische Empfehlung vielleicht auch in den Boutiquen von Frau Kirch käuflich zu erwerben ist. Oder etwa doch?




Dortmund damals: Beim Betrachten alter Bilder aus der Heimatstadt

Manchmal entdecke ich im Internet Vorlieben wieder, die zwischendurch geschlummert haben. Da gibt es z. B. intelligente Schwärme, die schöne, noch schönere oder gezielt hässliche Worte aufspüren, was sich mitunter als Hauptspaß, seltener auch als Tiefsinn erweist. Doch hier und jetzt geht es um alte, zuweilen nostalgische Fotos aus meiner Heimatstadt Dortmund.

Bei Facebook und wohl auch in anderen Netzwerken tummelt sich dazu die eine oder andere Interessengruppe, die mit Fleiß und Akribie bei der Sache ist. Eine hat sogar rund viertausend Mitglieder: Man kann dort quasi keinen Pflasterstein oder Grashalm aus der Stadt posten, den nicht irgend jemand wiedererkennen, exakt benennen und mit historischen Hintergrundinfos anreichern könnte.

Da gibt es Leute, die sich mit lokalen Details offenbar mindestens ebenso gut auskennen wie Stadtarchivare, Regionalhistoriker oder Fachleute vom Katasteramt – und das nicht aus Pflicht, sondern aus Leidenschaft, die bekanntlich bei jeder Anstrengung Flügel verleiht. Amateure, so kann man hier mal wieder sehen, sind keineswegs Dilettanten. Sie heben denn auch ungeahnte Bilderschätze.

Ich selbst habe als Kind kaum fotografiert – und erst recht nicht als Jugendlicher. Das galt damals als „uncool“. Schade drum, sonst hielte man heute die eine oder andere Erinnerung mit städtischem Kolorit in den Händen. Von digitaler Dauerknipserei ahnte man noch nichts.

Nicht nur, aber auch wegen dieses Defizits habe ich heute ein Faible für historische Fotos aus der Stadt – ungefähr zwischen 1860 und 1980 ist so manches An- und Aufregende zu finden. Den jeweiligen Zeitgeist kann man geradezu einatmen oder aus den Bildern trinken.

Wie sich die Straßen und ganze Stadtteile gewandelt haben! Welche (hie und da noch dörfliche) Beschaulichkeit oder Pracht in der oder jener Ecke früher geherrscht hat! Wie glanzvoll war ehedem die Kaiser-Wilhelm-Allee, die heute als Hainallee vergleichsweise kümmerlich wirkt. Wie schmuck war die Hohenzollernstraße in der östlichen Innenstadt. Auch da zeugen nur noch Restbestände von damals. Wie weh wird einem zumute, wenn man all die tiefen Wunden sieht, die dann die Bomben des elenden Weltkrieges gerissen haben. Von den Menschenleben natürlich ganz zu schweigen.

Danach war Dortmund – ehedem freie Reichsstadt und Hansestadt – zwar keine geschichtslose, doch in weiten Teilen eine gesichtlose(re) Stadt: Die sozialdemokratische Abrisswut zur Schaffung von Verkehrsschneisen tat nach 1945 ein übriges. Und heute wanken manche denkmalgeschützten Bauten, wenn ein Großinvestor winkt.

Über lange Zeiträume betrachtet, blieben im Stadtplan lediglich Grundstrukturen wie etwa der Wallring, der Hellweg oder (bedeutend kleinteiliger) das Rund des Borsigplatzes erhalten. Auch die Westfalenhalle und die großen Sportstätten haben immerhin über einige Jahrzehnte nicht ihre Gestalt, wohl aber ihren Platz behauptet.

Ein besonders eigentümliches Gefühl beschleicht einen dann, wenn man alte Fotos aus dem Viertel sieht, in dem man aufgewachsen ist; womöglich gar noch aus der passenden Zeit. Häuser, die man damals gar nicht richtig beachtet hat (als Kind hat man ja auf „Jugendstil“ und dergleichen gepfiffen), wirken da auf einmal wie Persönlichkeiten oder gar wie Freunde, die über all die Jahre hinweg immer da gewesen sind. Es ist, als könnte das Spiel von neuem beginnen.

Man kann den historischen Bildern schon beim flüchtigen Hinsehen einige generelle Erkenntnisse entnehmen, die so ähnlich für viele Städte gelten dürften. Man vergleiche: Nicht nur die Autos haben die ehedem unverstellten Straßen schrecklich überwuchert, auch das Fernsehen hat zwischenzeitlich verheerend gewirkt, weil seither abends weniger Menschen die Stadt bevölkert haben.

Staunenswert war allein schon die Vielzahl der Dortmunder Caféhäuser und Amüsierbetriebe, etwa in den 20er Jahren. In den 50ern hatte dann nahezu jeder Vorort sein eigenes Kino – und nun schaue man sich die heutige Situation an. Bis in die 1960er Jahre hinein gibt es Bilder, die von einer vollen Innenstadt zeugen, in der ganz offensichtlich mehr Betrieb war als heute.

Speziell in Dortmund und dem Ruhrgebiet zeigen sich selbstverständlich die Monumente der alten Industrie – Zechen, Stahlwerke, Brauereien. Doch nicht nur das. Welch ein imposantes Theater hat es einst in dieser Stadt gegeben, welch einen prächtigen Amüsierpalast am Fredenbaum, welch einen repräsentativen Hauptbahnhof! Und welch eine großartige Synagoge, die 1938 von braunen Horden ruchlos zerstört wurde!




„Polizeiruf 110“ aus München: Stärker als die allermeisten „Tatort“-Folgen

Eine Transsexuelle stirbt in der Haftzelle. Ist sie etwa ein Opfer der eingeschworenen Truppe von der Polizeiinspektion 25 geworden? Dass man aus dieser Vorgabe einen ungemein spannenden, immens dicht gewobenen Krimi machen kann, das hat der „Polizeiruf 110“ mit dem fast poetischen Titel „Der Tod macht Engel aus uns allen“ bewiesen.

Nach diesem Film (Regie: Jan Bonny) fragt man sich abermals, ob der „Polizeiruf“ im Schnitt nicht sogar besser als die ARD-interne „Tatort“-Konkurrenz ist, bei der man sich zuletzt auf gar zu vielen Schauplätzen verausgabt hat.

München als hässliche Stadt

Gewiss: Die Tonspur war ärgerlich, man verstand zuweilen halbe Sätze nicht so recht. Vor allem aber mutete uns die neue Folge eine Menge zu – und das zum Ausklang des Wochenendes. Es begann schon damit, dass München durchweg als hässliche, ja desolate Metropole gezeigt wurde. Hiernach müsste man sich fragen, warum dort so überaus hohe Mieten fällig werden, die sich gerade normale Streifenpolizisten kaum noch leisten können.

Lars Eidinger als Transsexuelle Amandine in "Polizeiruf 110". (Foto: BR/ARD/Kerstin Stelter)

Lars Eidinger als Transsexuelle Amandine in „Polizeiruf 110“. (Foto: BR/ARD/Kerstin Stelter)

Damit hatten wir allerdings schon ein erstes soziales Motiv für die ausgesprochen ruppige Gangart auf dem besagten Polizeirevier. Ein deprimierender, allseits von Gewalt bestimmter Berufsalltag kam hinzu, der mit beklemmenden Szenen glaubhaft dargestellt wurde. Man konnte sich also – bei allem Abscheu – in den rüden Corpsgeist hineinversetzen, der da herrschte und mit Zähnen und Klauen verteidigt wurde. Überhaupt war die ganze Geschichte derart durchmotiviert, dass man alle Beteiligten „irgendwie“ verstehen konnte.

Transsexuelle ohne jede Peinlichkeit dargestellt

Auf der anderen Seite stand, nein wankte die Transsexuelle Amandine, die zutiefst um die Tote trauerte und zunächst auf Bestrafung der offensichtlich schuldigen Polizisten aus war. Wie der Schauspieler Lars Eidinger diese verzweifelt sehnsüchtige, glücksverlorene, trostbedürftige Figur ohne jede Anzüglichkeit oder Peinlichkeit spielte, das war phänomenal.

Zwischen den Fronten rieb sich Kommissar Meuffels (ebenfalls großartig: Matthias Brandt) auf, der den tödlichen Vorfall zu klären hatte und sich dabei geradezu tragisch verhedderte. Am Ende stand ein wahrhaft unkonventioneller Deal, der eigentlich jedes Gerechtigkeitsgefühl verletzte und doch etwas für sich hatte…

Reif für den Grimmepreis

Die Kamera war gleich in den ersten Szenen außerordentlich dicht am Geschehen. Gelegentlich konnte man glauben, Zeuge des wirklichen, gleichsam rohen und unbehauenen, völlig desillusionierten Polizeidaseins zwischen Drogen, Rotlicht und tödlichen Bedrohungen zu sein.

Es gab Szenen, die an knallharte US-Krimis der ersten Güteklasse erinnerten. Andere Sequenzen hätten so oder ähnlich von einem Nachfolger Rainer Werner Fassbinders stammen können. Kurzum: Wenn ein solcher Krimi mit echten Kino-Qualitäten nicht für den Grimmepreis nominiert wird, dann weiß ich auch nicht…

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Frauenfußball – ganz gemächlich: Wie die EM im Fernsehen präsentiert wird

In der elend langen Bundesliga-Sommerpause darf jetzt mal wieder der Frauenfußball die Lücken füllen, immerhin mit einer Europameisterschaft in Schweden. Doch es ist im Fernsehen immer noch kein Vergleich zu den Partien der Männer-Nationalelf. Da hätten sich die Medien seit Wochen hochgeschaukelt. Sind die Damen am Ball, geht es im TV ungleich gemächlicher zu.

Für die Bier-Werbeblöcke beim Frauen-Match Deutschland – Niederlande sorgten, wenn ich richtig mitgezählt habe, gleich viermal Jogi Löw und seine Jungs. Offenbar hat noch niemand die Damen aus dem Team von Bundestrainerin Silvia Neid für Reklame auf der Rechnung; noch nicht einmal im Umfeld der Frauen-EM.

Auf Distanz zum Geschehen

Ich gebe zu: Für Frauenfußball begeistere ich mich bislang noch nicht übermäßig. Als nicht mehr ganz junger Mensch ist man da seit Sepp Herbergers und Helmut Schöns Tagen biographisch geprägt. Mir war – ehrlich gesagt – auch noch nicht bewusst, in welchen Maße Spielerinnen-Transfers mittlerweile über die europäischen Grenzen vonstatten gehen. Aber derlei (zuweilen sympathisierende) Distanz oder meinetwegen auch Ignoranz habe ich wohl mit den meisten Leuten aus den Fernseh-Sportredaktionen gemeinsam. Man kann sich irgendwie nicht vorstellen, dass der Einsatz für Damenfußball einen dort in der Hierarchie wesentlich voran bringt – eher im Gegenteil. Und so scheint denn der Frauenfußball immer noch ein wenig das unbekannte Wesen zu sein. Pikant übrigens, wenn man bedenkt, dass ARD und ZDF soeben eine wichtige Bastion beim Männerkicken an den Privatkanal RTL verloren haben, nämlich die Qualifikationsspiele zur EM 2016 und zur WM 2018. Bleibt den öffentlich-rechtlichen Sendern eines Tages etwa nur das Frauenteam?

Expertin fürs ZDF: Ex-Nationaltorhüterin Silke Rottenberg (© ZDF/Rainer Rüffer)

Expertin fürs ZDF: Ex-Nationaltorhüterin Silke Rottenberg (© ZDF/Rainer Rüffer)

In den Fall müssten sie deutlich nachlegen. Der männliche Kommentator Norbert Galeske bemühte sich in Växjö (Schweden) hie und da halbwegs um Emotionen, doch wenn’s zum Schwur kam, wirkte er seltsam unengagiert. Ein verweigerter Elfmeter regte ihn letztlich ebenso wenig auf wie etwa gelbe Karten, erstaunliche Hackentricks oder ein Handspiel. Man vergleiche das mit der Aufregung, die jede halbwegs markante Szene in einem mittelprächtigen Herren-Länderspiel hervorruft.

Die Männer als Maß der Dinge

Unscheinbare Reporter-Bemerkungen à la „fast wie bei den Männern“ oder „Ihre Spielweise erinnert an Philipp Lahm“ zeigen, dass die kickenden Herren nach wie vor das Maß aller Dinge sind. Auch würde man sich bei einem Länderspiel der Männer nie und nimmer mit einer bloßen Viertelstunde Vorlaufzeit bis zum Anstoß begnügen. Dann könnte man ja nicht alles und jeden durchhecheln oder hochtrabende „Analysen“ von sich geben. Allein der Umstand, dass sechs deutsche Stammkräfte fehlen, hätte bei den Herren wahrscheinlich eine Stunde Sendezeit gefüllt. In manchen Punkten haben die Spielerinnen leider tatsächlich bei den männlichen Kollegen gelernt: Einige von ihnen spucken nun ebenfalls auf den grünen Rasen, tragen Tätowierungen (oder Zungen-Piercings, wie genüsslich gezeigt wurde) und reden bei Interviews ähnlich gestanzt daher.

Immerhin durfte im ZDF eine Frau als Expertin mitmachen, nämlich die Ex-Nationaltorhüterin Silke Rottenberg, die freilich in ihren Aussagen ziemlich trocken blieb. Recht ordentlich zog sich hingegen der Moderator Sven Voss aus der Affäre, der ohne jederlei Herablassung die sachlich richtigen Fragen stellte.

Übrigens: Die Begegnung war ziemlich spannend und endete 0:0, was für die Deutschen, die fünfmal hintereinander (!) die EM gewonnen haben, allemal eine Enttäuschung bedeuten musste. Hätten die Männer in den letzten 20 Jahren derart viele Titel gesammelt, so hätten die Medien sie längst zu „Helden“ hochgejubelt.

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Kulturdenkmal besonderen Ranges: 100 Jahre Pferderennbahn in Dortmund-Wambel

Durch schieren Zufall bin ich darauf gestoßen, dass die Galopprennbahn in Dortmund-Wambel vor ziemlich genau 100 Jahren eröffnet worden ist. Am 3. Juli 1913 wurde dort das erste Rennen ausgetragen.

Wenn ich es recht sehe, so ist dieses doch recht gewichtige Jubiläum von den Print-Medien und vom Hörfunk fast durchweg ignoriert oder vollends vergessen worden. Offenbar ist der Dortmunder Rennverein, der die Bahn betreibt, auf Berichterstattung auch nicht allzu versessen gewesen, sonst hätte man doch wohl schon im Vorfeld die werbliche Trommel geschlagen. So aber sieht es fast nach Desinteresse oder gar Resignation aus.

Alle Bilder zu diesem Beitrag sind im September 2008 entstanden. (© Bernd Berke)

Alle Bilder zu diesem Beitrag sind im September 2008 entstanden. (© Bernd Berke)

Wirtschaftliche Probleme

Um Pferderennen ist es in Deutschland generell nicht gut bestellt. Seit etlichen Jahren gehen Zuschauerzahlen und Wettumsätze zurück. Auch die Dortmunder Rennbahn ist zwischenzeitlich wirtschaftlich ins Schlingern geraten. Es war sogar einmal vom Verkauf des weitläufigen Geländes an Investoren die Rede. Man kann nur hoffen, dass sich gegen derlei monströse Vorhaben (falls sie denn jemand wieder aufgreifen sollte) starker Bürgerprotest regen würde.

Neuerdings streiten sich die Parteien in der Bezirksvertretung um die Nutzung nach einem bereits erfolgten Teilgrundstücksverkauf an der Rennbahn. Hier sollen nach den jetzigen Plänen Seniorenwohnungen entstehen – offenbar ohnehin eine der hauptsächlichen Bauaufgaben im gesamten Stadtgebiet.

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Die Bauten auf dem Areal und rings um die Rennbahn ergeben ein großartiges Ensemble aus den 1910er und 1920er Jahren, wie es in der Stadt sonst nicht vorzufinden ist. Manches steht unter Denkmalschutz. Und in der Tat haben wir es hier mit einem Kulturdenkmal zu tun. Bis 2012 gab es hier auch einen schönen schattigen Biergarten, für den sich leider noch kein neuer Pächter gefunden hat. Zusatzeinnahmen bringt immerhin der Golfplatz im Innenfeld der Rennbahn.

Ein paar Stichworte zur Vorgeschichte: Bereits 1886 war der Dortmunder Rennverein gegründet worden, den allerersten Renntag gab’s am 18. September 1887, damals noch im Freizeit- und Vergnügungspark Fredenbaum, 1893 zog man zur Buschmühle (heute Bestandteil des Westfalenparks) um und 1913 just zum heutigen Standort in Dortmund-Wambel, wo traditionell u.a. das Deutsche St. Leger ausgetragen wird. 1981 enstand zusätzlich eine Sandstrecke mit Flutlicht, wodurch Wambel zur ersten Allwetterbahn Europas wurde.

Gut gemischtes Publikum

Ruft man im Internet ein Luftbild von Dortmund auf, so ist das Riesenrund der Pferderennbahn – außer dem Gebiet des Phoenixsees – eine der ersten Stätten, deren Gestalt sich schon aus großer Höhe abzeichnet; übrigens lange vor dem vergleichsweise kleinen Westfalenstadion, das im Sponsorendeutsch bekanntlich Signal Iduna Park heißt.

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Nach der Schule habe ich ein paar Monate lang in einem Pferdewettbüro der Dortmunder Innenstadt gearbeitet. Es war damals eine Gelegenheit, Teile der hiesigen Halbwelt zumindest von Angesicht kennen zu lernen. Einige Herren trugen die Hunderter bündelweise in den Jackentaschen bei sich und führten schon mal ziemlich grobschlächtige Reden, um es vornehm auszudrücken.

Andererseits weiß man, dass sich zu den Renntagen auch durchschnittliche, gediegene und sogar halbwegs erlauchte Kreise der Gesellschaft einfinden. In der reichhaltigen Mischung sind „Turffreunde“ allemal ein interessantes Publikum. Überhaupt kann man die ganze Atmosphäre eines Renntags (der nächste steht am 9. September an) durchaus inspirierend nennen – vom Wettfieber einmal ganz abgesehen.




„Terra X“ zur Ernährung der Deutschen: Zahlensalat bis weit über die Sättigungsgrenze

Was für eine flackernde Welt: Da springen einen überall Zahlenkolonnen an, da gleicht fast jede menschliche Geste der Wischbewegung auf dem i-Pad-Bildschirm oder dem Fingerspreizen auf dem Handy neuerer Bauart. „Terra X“ (ZDF) bombardiert die Zuschauer bis zum Abwinken mit statistischem Material. Und das Fernsehen tut mal wieder so, als wäre es ein Computer.

Da die dreiteilige Terra X-Reihe „Deutschland – Wie wir leben“ jetzt mit unserer Ernährung endete, darf man durchaus auch von akuter Übersättigung sprechen. Mehr Zahlensalat kann man wirklich nicht in 45 Minuten Sendezeit packen, als es hier geschehen ist. Und zahlenhöriger kann man Statistiken nicht herbeten.

Auswahl zwischen 1500 Wurstsorten

Zunächst begleitete man die deutsche Durchschnittsfamilie (ein gewisser „Thomas Müller“ mit Frau Sabine und Sohn Jan) durch den recht traditionellen Einkaufs- und Ernährungsalltag, in dem die beruflich nur halbtags tätige Frau noch das Sagen hatte, während der Mann fürs Haupteinkommen sorgte und sich nebenher um Technik und Auto kümmerte. Das hatten wir doch schon mal?

Kaum ein Bild ohne eingeblendete Zahlen oder statistische Kurven... (© ZDF/Holm Holmsohn)

Kaum ein Bild ohne eingeblendete Zahlen oder statistische Kurven… (© ZDF/Holm Holmsohn)

Ansonsten wurde quasi jedes Gramm Fleisch, Kartoffeln oder Tomate atemlos aufgerechnet. Wir haben 1500 Wurstsorten, 9 Prozent von uns sind Vegetarier, ein bäuerlicher Betrieb ernährt 140 Menschen. Und und und. Die Ziffern prasselten im Halbsekundentakt, doch rein gar nichts wurde vertieft.

Bilanz mit der Brechstange

Statt gelegentlich mal bei einem Themenstrang zu bleiben, wurden unentwegt neue Fässer aufgemacht. Schließlich ging’s längst nicht mehr nur um Ernährung, sondern auch um Energie- und Wasserverbrauch, Ökologie und Glücksempfinden der Deutschen. Mit der Brechstange wurde Bilanz gezogen, dass es nur so knirschte. Die nahezu euphorisch berauschten Schlussminuten glichen dann beinahe einem Weichzeichner-Werbefilmchen der großen Parteien zur Wahl. Wir Deutschen sind demnach schon ziemlich große Klasse, wenn nicht gar Weltklasse.

Gern hätte man zuvor bei der einen oder anderen Information innegehalten. Denn es gab ja stellenweise durchaus Interessantes zu berichten. Auch sah man – neben den hilflosen Resultaten unsinnigen Bebilderungs-Wahns – etliche atemberaubende Aufnahmen (vor allem die Luftbilder, die freilich vielfach aus Freddie Röckenhaus‘ ZDF-Film „Deutschland von oben“ stammten) oder sinnfällige Verdichtungen.

Bloß nicht unter die Oberfläche dringen!

Eindrucksvoll war’s beispielsweise, alle Tiere auf einer Weide versammelt zu sehen, die der Durschnittsdeutsche im Laufe seines Lebens verzehrt: 945 Hühner, 46 Schweine, 4 Kühe, 12 Gänse… Auch der Einfall, dass fast die gesamte Einrichtung in Thomas Müllers Wohnung zu Öl zerfloss (weil es bei der Herstellung aller Plastik-Produkte literweise verwendet wurde), konnte sich buchstäblich sehen lassen.

Doch kaum drohte es mal wirklich interessant zu werden, da hechelte man schon wieder weiter. Die Devise schien zu lauten: Bloß nicht unter die Oberfläche dringen, bloß keine heißeren Eisen anpacken! Auf diese Weise ließ man so manchen Themenansatz sträflich links liegen.

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Vorfälle (4): Die Zechpreller vom Nebentisch

Saßen wir doch dieser Tage abends auf zwei Gläser Wein vor einem Dortmunder Lokal. Am Nebentisch eine Frau mittleren Alters, die las und las und las. Und gar nicht aufblickte. Und immer mal ein wenig an ihrem Getränk nippte. Irgendwann ist sie dann aufgestanden und gegangen.

Warum ich das so breit erzähle? Gemach!

Kurz darauf erschien der Wirt: „Ist die Dame etwa gegangen?“ Tja. Sie hatte zwar „generös“ zwei Euro hingelegt, aber ihr Getränk kostete ein bisschen mehr. Wie soll man das nennen: negatives Trinkgeld?

Egal.

Egal?

Am selben Tisch, den besagte Dame verlassen hatte, nahmen nun zwei geschniegelte Typen Platz und legten ihre Smartphones vor sich hin. Wie man das so macht, wenn man zeigen will, welche man hat. Die selbstgefälligen Herren tranken ein Pils und hatten es offenbar eilig.

Dieses Foto (© Bernd Berke) zeigt den Ausschnitt einer ordnungsgemäß bezahlten Getränkerechnung des Abends.

Dieses Foto (© Bernd Berke) zeigt den Ausschnitt einer ordnungsgemäß bezahlten Getränkerechnung des Abends.

Sie ließen sogar, als hätten sie das eichstrichgenau abgesprochen, jeweils ein Drittel im Glas zurück. Mit anderen Worten: Sie waren ebenfalls einfach gegangen, ohne einen Cent zu bezahlen. Doch auf so etwas achtet man nicht im Moment des Geschehens. Man merkt es erst, wenn die Kellnerin nachfragt, ob die Leute vom benachbarten Tisch etwa schon…

Bin ich denn der Hüter des verhexten Nebentischs? Nein.

Aber ein paar Fragen drängen sich wohl auf: Zeigen solche kleinen Szenen einen Zustand in der Gesellschaft an – oder muss man so etwas niedriger hängen und sich nur ein bisschen wundern?

Man könnte ausgiebig über das schäbige Verhalten dieser Zechpreller spekulieren. Es waren jedenfalls ersichtlich keine bedürftigen Leute. Und auch keine herkömmlichen Kleinkriminellen.

Schwappt hier etwa die im Internet täglich antrainierte Gratis-Mentalität auf andere Bereiche über? Reichen denen die üblichen Schnäppchen und Flatrates nicht mehr aus? Muss es jetzt auch noch „umsonst und draußen“ sein? Empfinden sie so etwas wie kleptomanische Angstlust, wenn sie sich aus dem Staub machen?

Noch eine Mutmaßung: Seit 1. Mai darf in NRW bekanntlich nur noch draußen vor der Tür geraucht werden; dort also, wo man sich – sitzend, stehend, sich bereits halbwegs entfernend – schon mal viel leichter den Blicken des Personals entziehen kann. Damit soll keinesfalls unterstellt werden, dass Raucher… Nein, nein! Wo denkt ihr hin? In ihrem Windschatten drucksen ja auch Nichtraucher herum – und schwupp…

Eins aber steht fest. Wenn der Wirt ein gutes Personengedächtnis hat, so können sich diese Zechpreller bei ihm nie wieder blicken lassen. Ihre Kneipenauswahl schrumpft und schrumpft. Ein schwacher Trost für die Gastronomie.




Der große, gültige Augenblick – Fotoporträts von Anton Corbijn in Bochum

Der Fotograf Anton Corbijn in der Bochumer Ausstellung - zwischen seinen Porträts von Ai Wei Wei (links) und Damien Hirst. (Foto: © Lutz Leitmann/Presseamt der Stadt Bochum)

Der Fotograf Anton Corbijn in der Bochumer Ausstellung – zwischen seinen Porträts von Ai Wei Wei (links) und Damien Hirst. (Foto: © Lutz Leitmann/Presseamt der Stadt Bochum)

Fotos der weltweiten Prominenz sehen oft genug wie Klischees oder gar wie leblose Charaktermasken aus, sie bestätigen vielfach das eh schon verfestigte Image. Nicht so bei Anton Corbijn.

Der mittlerweile 58jährige Niederländer, stets rastlos unterwegs, weil seine phänomenalen Fähigkeiten auf allen Kontinenten gefragt sind, bringt es zuwege, dass wir Gesichter von Popstars, berühmten Künstlern und sonstiger Prominenz (Spektrum von Mandela bis Kate Moss) auf einmal ganz anders und wie neu sehen. Ganz so, als kämen sie jetzt, in diesem Moment der Aufnahme und des Betrachtens, wahrhaft zu sich. Davon kann man sich bis zum 27. Juli in der Corbijn-Ausstellung des Kunstmuseums Bochum überzeugen, die mit über 40 großformatigen Bildern aufwartet.

Anton Corbijn: Porträt des Malers Lucian Freud (Fotografie, London 2008 - © Anton Corbijn)

Anton Corbijn: Porträt des Malers Lucian Freud (Fotografie, London 2008 – © Anton Corbijn)

All das (sozusagen selbstverständlich) in Schwarzweiß, festgehalten mit einer analogen Hasselblad-Kamera, nur mit vorhandenem Licht, ohne Stativ; also möglichst unverfälscht, so weit dies irgend möglich ist.

Dieser seriöse ältere Herr mit dem Schnauzbart, das ist also Paul McCartney, wie wir ihn wohl noch nie erblickt haben. Und der 1996 abgelichtete Mann in Frauenkleidern, der keineswegs lächerlich wirkt, heißt Mick Jagger. Melancholische Gesichtslandschaften erzählen vom wechselhaften Leben eines Johnny Cash, Tom Waits oder einer Patti Smith. Und schwingt nicht auch eine vitale Essenz ihrer Musik in diesen Bildern mit?

In einem Film über Corbijns Arbeit, der ebenfalls in dieser Ausstellung zu sehen ist, sagt Herbert Grönemeyer, so mancher Rockstar versuche hernach so zu werden, wie er auf Corbijns Bildern wirkt. Wenn es sich so verhält, dann kann man wohl von außerordentlicher Prägekraft reden. Vielleicht haben solche Fotos sogar indirekt Einfluss auf die Geschichte der populären Musik genommen.

Anton Corbijn: Porträt der britischen Singer-Songwriterin PJ Harvey ("PJ Harvey - New Forest" / © Anton Corbijn)

Anton Corbijn: Porträt der britischen Singer-Songwriterin PJ Harvey („PJ Harvey – New Forest“ / © Anton Corbijn)

Dabei trumpft Corbijn, dessen Laufbahn einst mit eindrücklichen Bildern der düster umwölkten Gruppe „Joy Division“ begonnen hat, keineswegs willkürlich auf. Selbst heftigere Gestik wirkt auf seinen Bildern nicht exaltiert, sondern als notwendiger Ausdruck. Die bloße Pose lässt er schon gar nicht durchgehen, allenfalls greift er etwaige Versteckwünsche just spielerisch auf, so etwas bei Jeff Koons, der sich hinter einer etwas albernen Maske verbergen darf und daher umso kenntlicher zu werden scheint. Ähnliches gilt für den mindestens ebenso millionenschwer gehandelten Künstler Damien Hirst, der seinen weiß gepuderten Kopf gleichsam als Totenschädel herzeigt – ungefähr nach dem vielsagenden Motto „Nicht ohne mein Markenzeichen“. Gerhard Richters markanter Kopf ist derweil nur von hinten zu sehen – dies gemahnt an allerletzte Bilder in filmischen Nachrufen, wenn jemand buchstäblich von hinnen geht. Da hebt gewiss schon der Nachruhm an, den auch der (2011 verstorbene) Maler Lucian Freud in seinen nahezu jenseitigen Blick gefasst zu haben schien, als Corbijn ihn im Profil porträtierte.

Sehr diesseitig, frontal und kolossal schaut einen hingegen der chinesische Künstler und unbeugsame Dissident Ai Wei Wei an. Er scheint vor Physis und Widerstandskraft zu strotzen.

Gänzlich anders gelagerter Fall: Den inzwischen des Dopings überführten und aller großen Titel ledigen US-Radprofi Lance Armstrong zeigt Corbijn bereits anno 2004 im bis zum Halse stehenden Wasser, als würde der Sportler gleich ertrinken. Darf man hier von Vision sprechen? Hat Corbijn etwa vage Anzeichen eines Niedergangs vorausgesehen? Wer weiß.

Ganz offenkundig gelingt es Anton Corbijn jedenfalls immer wieder, während der Porträt-Treffen Atmosphären und Situationen zu schaffen, in denen vordergründige Zufälligkeiten abgestreift werden und etwas Wesentliches, Charakteristisches hervortritt, das eben auch in den Fotografien aufscheint. Auf diese Weise wirken nicht wenige Rock- und Kunststars wie Wahrzeichen ihrer selbst, gesehen im bezeichnenden, gültigen Augenblick. Fühlbar wird so etwas wie der essentielle „Stoff des Lebens“, der sich auf je ganz eigene Weise in Gesichter und Gesten eingezeichnet hat.

Nicht nur die Abgebildeten sehen aus, als wären sie nun ganz bei sich, auch der Fotograf bleibt in seiner speziellen Sehweise immerzu präsent. Es ist, als wäre alles auf einmal da, alles zugleich. So sehen große und haltbare Momente aus.

Anton Corbijn – Inwards and Onwards. Fotoportäts. Museum Bochum, Kortumstraße 147 (Tel.: 0234/910-42 30). Noch bis 28. Juli. Di-So 10-17, Mi 10-20 Uhr. Katalogheft 12,50 Euro.

(Ebenfalls jetzt im Bochumer Museum: die Ausstellung des aus Israel stammenden Micha Laury).




„Der Nivea-Check“ (ARD): Kleine Kratzer am perfekten Image

Das „Erste“ will ganz nah ‚ran an die Verbraucher. Seit einiger Zeit werden dort prominente Marken getestet – allerdings nicht immer gründlich auf Herz und Nieren, sondern eher so auf die flotte Tour. Interessant und aufschlussreich ist es meistens trotzdem. Jetzt war „Der Nivea-Check“ an der Reihe.

Die Serie gibt sich locker, doch die Angst vor Quoten-Verlust durch Wegzappen ist ständig präsent. Daher wohl die spürbare Hast. Nie verweilt man länger als ein paar Sekunden bei einem einzigen Sachverhalt. Ständig wird alles mit Musikschnipseln unterlegt – und die Kameraarbeit muss „dynamisch“ wirken. Immer Tempo, Tempo! Am Ende ist man auch schon vom bloßen Zuschauen ein wenig atemlos. Nun gut, ich übertreibe ein bisschen.

Die Marke, der fast alle vertrauen

Nivea also. Die Marke, der praktisch die ganze Nation vertraut. Und das seit vielen Jahrzehnten. Der Marketing-Fachmann schwärmte vom nahezu perfekten Image. Einige Singles und Familien zeigten, was bei ihnen daheim das Nivea-Zeichen trägt. In einem Haushalt waren es nicht weniger als 103 (!) Behälter mit Nivea-Inhalten.

Die Turniertänzerin Viktoria Heldt half beim Haarspray-Test. (Foto: © WDR/Thomas Ernst)

Die Turniertänzerin Viktoria Heldt half beim Haarspray-Test. (Foto: © WDR/Thomas Ernst)

Wenn man dem ARD-Check (Autoren: Edith Dietrich und Benjamin Best) glauben darf, so werden die Produkte mit dem blauweißen Logo gelegentlich etwas überschätzt. Beim Shampoo versprechen sie den Damen gar „Diamond Gloss“, also Diamant-Glanz, was immer das heißen soll. Die befragten Diamantschleifer von Idar-Oberstein schüttelten nur den Kopf über den gewagten Vergleich.

Ganz schön viel Luft in der Packung

Aus derlei Werbebotschaften kann man ziemlich schnell die heiße Luft herauslassen. Der Blindvergleich mit der DM-Hausmarke Balea und ein hochwissenschaftlich angelegter Drei-Strähnen-Test zeigten, dass Nivea nicht gar so glanzvoll dasteht, aber immerhin – für mehr Geld – einen leichten Vorteil bietet.

Ärgerlicher ist schon der „Mogelfaktor“, der ironisch als „beachtlich“ bezeichnet wurde, allerdings auch von der Gesetzeslage begünstigt wird. Bis zu 30 Prozent Luft darf sich in einer Umverpackung befinden, bis zu 75 Prozent sogar, wenn die Schachtel ein Sichtfenster hat. Nivea und andere bringen es schlauerweise seitlich an, so dass es im Regal nicht gleich so auffällt.

Jogi Löw als Werbebotschafter

Ständig entwickeln sie bei Nivea neue Produktlinien, so neuerdings auch ein Deo, das angeblich die Folgen von Stress mildern soll und insgeheim suggeriert, es mindere den Stress überhaupt. Sprüh- und Riechtests an Männern, die für die Konzernforschung in den 40 Grad heißen Schwitzraum gehen müssen, wirkten nicht gerade appetitlich. Doch wenn es der Wahrheitsfindung dient…

Sodann wurde Sonnenmilch beim Beachvolleyball ebenso überprüft wie Haarspray und Gel, die bei Turniertänzern ziemlich glatt „durchfielen“. Durchweg hatte man den Eindruck, dass Nivea in keiner Disziplin so recht triumphieren konnte, sondern allenfalls mit den saloppen Prädikaten „ordentlich“ oder „so lala“ abschnitt. Dass Fußball-Bundestrainer Jogi Löw für die Nivea-Herrenlinien wirbt, wurde süffisant vermerkt. Sollte er sich da etwa mit einer zwar achtbaren Firma eingelassen haben, die jedoch keinen Weltmeistertitel holt?

Dienstreise nach Indien

Schließlich wurde noch die sicherlich nicht billige ARD-Dienstreise nach Indien angetreten, zu den Ärmsten der Armen. Da gibt es offenbar Leiharbeiter, die beim Verpacken von Nivea-Produkten für umgerechnet 60 Euro im Monat knochenharte 72-Stunden-Wochen abreißen müssen, was eklatant gegen den offiziellen Nivea-Kodex verstößt. In Zeiten der Globalisierung dürften ähnliche Befunde leider für die Mehrzahl aller großen Weltmarken gelten. Doch es ist gut und richtig, wenn in jedem Einzelfall hartnäckig daran erinnert wird.

Auch hier muss man, der Gerechtigkeit halber, ein „Immerhin“ anfügen: Der Nivea-Konzern Beiersdorf mit Hauptsitz in Hamburg lässt tatsächlich noch vieles in Deutschland herstellen und bezahlt seine hiesigen Mitarbeiter anständig nach Tarif, bisweilen auch darüber.

Fazit: Auch die blauweiß getönte Nivea-Welt ist weder heil noch heillos, sondern hie und da widersprüchlich. Wir haben es ja geahnt.

(Der Beitrag ist zuerst bei www.seniorbook.de erschienen)




Körper, Dinge, Räume neu vermessen – Zeichnungen von Micha Laury in Bochum

Es ist, als würden alle Räume neu vermessen, alle Körper und Gegenstände von Grund auf neu erkundet, noch einmal erfunden, anders zusammengesetzt. Ein zweiter Schöpfungsakt aus dem Geiste und mit den Kräften der Kunst.

Micha Laury: "Holding my Brain" (1969). (© Micha Laury/Museum Bochum)

Micha Laury: „Holding my Brain“ (1969). (© Micha Laury/Museum Bochum)

Der aus Israel stammende, seit 1976 in Paris lebende Künstler Micha Laury, vereint in seinem Werk unvordenkliche Uranfänge mit weit ausgreifender Zukunftsschau. Bochums Museumdirektor Hans Günter Golinski, dessen Haus Micha Laury nun die erste deutsche Einzelausstellung ausrichtet, fühlt sich dabei gelegentlich gar an die Universalgelehrten der Renaissance erinnert, etwa an Leonardo da Vinci und Albrecht Dürer. Doch es gibt natürlich auch ästhetische Anknüpfungsstränge in der neueren Kunst, so bei Duchamp, Beuys oder Jasper Johns.

Unter der Enge im Kibbuz gelitten

Laury (Jahrgang 1946) ist in einem Kibbuz aufgewachsen, in denkbar elementaren, einfachen und notgedrungen ärmlichen Verhältnissen, auch in einer gewissen Enge. Der junge Mann verlangte mehr vom Leben und ahnte, dass Kunst Auswege eröffnen könnte. Er durfte eine Kunstschule besuchen. Doch man ließ ihn dort wochenlang biedere Blumenvasen abmalen, also rebellierte er – und wurde hinausgeworfen.

„Fuck the art“ nennt er 1967 ein zorniges, doch auch mit Ironie getränktes Bild, auf dem die Finger ziemlich unsanft durchs Halteloch der (wohl überflüssigen) Palette stoßen. Das bloße Abbild muss überwunden werden, die Dinge muss man aus ihren gewohnten Zusammenhängen heraus reißen, damit man sie neu denken kann. Ein umfassender Ansatz.

Micha Laury: "Fuck the Art" (Study for Plaster Cast), 1967. (© Micha Laury/Museum Bochum)

Micha Laury: „Fuck the Art“ (Study for Plaster Cast), 1967. (© Micha Laury/Museum Bochum)

Sein erstes Atelier hatte Laury in einem unterirdischen Bunker – eine Zelle, die ihn ganz auf sich selbst und die wenigen Gegenstände aus der unmittelbaren Umgebung verwiesen hat. Käfig- und Gefängnisbilder scheinen das Trauma immer wieder zu umkreisen. Und so wirken seine frühen Arbeiten (bezeichnender Titel „Ich weiß nicht, was ich tun soll“) zuweilen ausgesprochen klaustrophobisch, selbstbezüglich, ja beinahe autistisch.

Wenn der Mund am Finger saugt

Da werden mit zahlreichen Studien etwa Zunge, Finger und Ohren jeweils für sich in ihren grundlegenden Funktionen bildnerisch erforscht. Was geschieht genau, wenn ein Finger sich in den Mund senkt und daran gesaugt wird? Wie ist es, wenn eine Zunge von innen an die Wange stößt? Und weiter, schon (wie etliche andere Motive) schmerzlich an Gewalt und Folter gemahnend: Wie sieht es aus, wenn ein Kopf vor die Wand schlägt? Was wird aus Armen und Beinen, wenn sie sich verselbständigen oder zu Prothesen werden? Makaber auch eine Kochanleitung, bei der Spiegelei und Hirn zusammen in einer Pfanne schmoren. Dieser Künstler erspart sich und dem Betrachter nichts. Er führt eine Art Tagebuch, das ihn immer weiter und weiter ins Unbekannte geleitet; auch ins abgründig Böse.

Micha Laury: "Two Figures (Sandwich)". (© Micha Laury/Museum Bochum)

Micha Laury: „Two Figures (Sandwich)“. (© Micha Laury/Museum Bochum)

Apropos Hirn. Schon sehr bald, auf einer Zeichnung von 1970, deutet sich diese bleibende Passion an. Da halten zwei Hände eine rohe Gehirnmasse. Auf anderen Bildern sieht man Gehirnströme, die sich aus den Köpfen nach draußen ergießen oder Wolken, die gleichsam ausgehaucht werden. Der als Fallschirmspringer im Krieg schwer am Kopf verletzte Laury ist bis heute geradezu besessen vom Hirnthema, das er freilich im Lauf der Zeit aus der Leidensdarstellung herausgeführt und im schier unstillbaren Erkenntnisdrang produktiv gewendet hat. Zunehmend hat er sich in den letzten Jahren mit weltweit führenden Hirn- und Zukunftsforschern vernetzt. Gemeinsame Langzeit-Projekte und Symposien sind auf dem Weg.

Botschaft der Todesangst

Für eine Serie von Anti-Heldenbildern wollte Laury einen Freund dazu bewegen, mit einer Militärmaschine Botschaften von Todesangst an den Himmel zu schreiben. Der Luftwaffenkommandant hatte etwas dagegen. So blieb es bei Zeichnungen, die den ungeheuerlichen Vorgang imaginieren. Die Draufsicht-Perspektive des Fallschirmspringers erzeugt übrigens ein ums andere Mal „abstrakte“ Formen. Auch auf solche Weise können sich Bildmuster verwandeln.

Micha Laury: "Shadow" (1969). (© Micha Laury/Museum Bochum)

Micha Laury: „Shadow“ (1969). (© Micha Laury/Museum Bochum)

Laury befasst sich mit Skulptur, Objekten, Installation und Performance, er untersucht also Räume und deren Koordinaten. Bochum hat sich für die vergleichsweise zurückgenommenen Arbeiten auf Papier entschieden. Es ist mithin eine intimere, nahezu kammermusikalische Ausstellung geworden, deren rund 120 Blättern vielfach etwas Unvollendetes, Skizzenhaftes eigen ist. Zeichnungen sind bekanntlich näher an der ursprünglichen Idee, erst recht gilt dies für Laurys Expeditionen in die Terra incognita.

Jenseits des heutigen Menschenbildes

Die Ausstellung endet mit Zukunftsvisionen. Laury sieht eine völlig beispiellose Ära der posthumanen Wesen heraufdämmern, die die Begrenzungen des menschlichen Leibes und des bisherigen Intellekts bei weitem überschreiten werden. Er führt uns Elemente und Erscheinungsformen dieser Transformation vor Augen. Da tun sich überall ungeahnte Kraftfelder auf, es herrscht ein allseits frei fluktuierender Austausch zwischen Hirnen und Maschinen, Telekinese und Teleportation sind selbstverständlich.

Solche Zustände seien schon in dreißig bis fünfzig Jahren zu erwarten, sagt Laury. Moralfragen stellt er zunächst einmal nicht. „Wir haben ohnehin keine Wahl. Das alles wird kommen.“ Und das allerletzte Bild? Es zeigt, wie unendliche Schwärze das ganze Universum aufsaugt….

Micha Laury: „Human Mind Body Space“. Arbeiten auf Papier. Kunstmuseum Bochum, Kortumstraße 147. Vom 29 Juni bis zum 11. August. Geöffnet Di-So 10-17 Uhr, Mi 10-20 Uhr. Katalog 25 Euro.

P.S.: Während der Ausstellungseröffnung (29. Juni, 17 Uhr) wird ein Freundschaftsvertrag des Bochumer Museums mit dem israelischen Museum of Art in Ein Harod unterzeichnet, einem bereits 1938 begründeten Außenposten der internationalen Kunstszene. Bochums Museumleiter Hans Günter Golinski findet es derweil höchst bedenklich und fatal, dass in Europa manche Kräfte aus politischen Gründen auf einen Boykott israelischer Kunst dringen…

Über das Museum in Ein Harod kam auch der Kontakt zu Micha Laury zustande. Bei dieser Ausstellung kooperiert Bochum außerdem mit den Museen in St. Etienne (Frankreich) und Goch (Niederrhein).

P.P.S.: Im Bochumer Museum ist derzeit (bis 28. Juli) ebenfalls eine Schau des – vor allem durch Porträts von Rockgrößen – berühmten Fotografen Anton Corbijn zu sehen. Dazu demnächst noch ein paar Worte an dieser Stelle.




Grenzgänge an der Küste – die melancholischen Meeresbilder des Hermann Buß

Ja, sicher, den Sommer mit blauem Himmel mag Hermann Buß irgendwie auch. Doch so etwas malt er nicht.

Er fühlt sich seelisch entschieden heimischer beim Anblick des grau verhangenen Himmels und des grau schimmernden Meeres. Dort draußen in den Übergangszonen, wo manchmal gar nicht mehr auszumachen ist, ob man sich nun noch zu Lande oder schon halbwegs zu Wasser befindet.

Hermann Buß: "Zwischenstation II" (2007), Öl auf Leinwand. (© für alle Bilder: Katalog/Hermann Buß)

Hermann Buß: „Zwischenstation II“ (2007), Öl auf Leinwand. (© für alle Bilder: Katalog/Hermann Buß)

Weit draußen also, auf den Vorposten entlang der Küstenlinie, wo die Menschen sehr einsam und auf sich gestellt wirken, wo sie klein werden, an den Rand rücken und vielleicht überhaupt nur noch Beiwerk am Saum des Nichtseins sind. Wo man den Boden unter den Füßen zu verlieren droht. Wo es einem vorkommt, als werde alles Feste flüssig, als gerate alles ins Schwanken, als sei dies der Durchgang in eine andere Daseinsform. Womöglich gleicht dies gar einem Grenzgang zwischen Leben und Tod.

Hermann Buß: "Spiegelung" (2004), Öl auf Leinwand. (Bild: Katalog)

Hermann Buß: „Spiegelung“ (2004), Öl auf Leinwand. (Bild: Katalog)

Die Bilder tragen Titel wie „Überfahrt“ oder „Land’s End“. Ja, tatsächlich. Nicht wenige Bilder von Hermann Buß, dem jetzt im Haus Opherdicke die sehenswerte Ausstellung „ZwischenWelten“ ausgerichtet wird, ragen in eine quasi-religiöse Dimension hinein. Häufig bekam er kirchliche Aufträge zur Altar- oder Kapellengestaltung, so etwa auf der Insel Langeoog oder im Kloster Loccum. Doch statt Weihrauch riecht man auch auf solchen Bildern vor allem Seeluft. Da bringt einer die rauhe Außenwelt mitten hinein in die Kirche. Zu derlei Aspekten hat Alfred Buß, ehemaliger Präses der Evangelischen Kirche in Westfalen, einen Aufsatz im Katalog beigesteuert. Er kommt zwar aus der gleichen Region, ist aber nicht verwandt oder verschwägert mit Hermann Buß.

Hermann Buß: "Land's End" (2008), Öl auf Leinwand. (Bild: Katalog)

Hermann Buß: „Land’s End“ (2008), Öl auf Leinwand. (Bild: Katalog)

Müsste man anhand der Bilder blindlings erraten, woher der Künstler stammt, so könnte man rasch auf die Spur kommen. Er wurde 1951 in Neermoor-Kolonie bei Leer (Ostfriesland) geboren. Sein Vater war Schiffseigner. Der Sohn fuhr schon sehr früh zur See und mochte sich lange nicht endgültig zwischen Seefahrt und Kunst entscheiden. Doch mit den Jahren wurde ihm klar, wie überaus entbehrungsreich und unsicher das Leben der Matrosen ist.

Der Mann, der nicht allzu viele Worte macht, kennt sich in jeder Hinsicht aus, wenn er Meeresszenen malt. Das schützt ihn vor romantischer Verklärung. Eine Serie lässt zwar ahnen, wie hart die Arbeit der Küstenschützer ist. Doch es ist, wie es ist. Da wird nichts künstlich überhöht oder ungebührlich gesteigert. Allerdings reizt den Künstler Alfred Buß – bei allem Detail-Realismus der Darstellung – nicht selten das Ungewisse, das Unergründliche, das zuweilen Surreale und fast Gespenstische.

Hermann Buß: "Stiller Hafen" (2011), Öl auf Leinwand. (Bild: Katalog)

Hermann Buß: „Stiller Hafen“ (2011), Öl auf Leinwand. (Bild: Katalog)

Es ist gar nicht verwunderlich, dass Buß mit seiner Familie im ostfriesischen Städtchen Norden in einem abgelegenen, ehemaligen Robbenfänger-Haus gleich hinterm Deich wohnt – umtost von Wind, umgeben von Schafen, „zurückgezogen, aber weltbezogen“, wie er es nennt. Da kann es schon einmal geschehen, dass die Landschaftsstimmung das Gemüt beschwert. Wenn man etwa das winterliche „Schwarze Eis“ sieht, das durch den Schlick verdunkelt ist, wird einem wohl etwas betrüblich zumute.

Buß hat auch ein Bild der massenhaft von Touristen bestürmten Meyer Werft zu Papenburg gemalt, wo gerade mal wieder ein neuer Schiffskoloss vom Stapel gelaufen ist. Es ist dies eine Art Gegen-Bild. So will er das Meer nicht erobert wissen. Man kann sich lebhaft vorstellen, dass Buß etwa Offshore-Windkraftanlagen verabscheut, sie verstellen jedenfalls keinen seiner weiten Horizonte.

Hermann Buß: "Seereise" (2008), Öl auf Leinwand. (Bild: Katalog)

Hermann Buß: „Seereise“ (2008), Öl auf Leinwand. (Bild: Katalog)

Wenn er hingegen zersplitterte, zerfaserte Überreste von längst aufgegebenen Holzbooten malt, so spürt man, dass sie in Würde verfallen, wie denn überhaupt das allmähliche Vergehen ein Hauptthema vieler dieser Bilder ist. Möge niemand daran rühren. Das Bild, das „Traumschiff“ heißt, zeigt selbstverständlich keinen luxuriösen Partydampfer, sondern ein älteres Schiff, das gleichsam still vor sich hin träumt.

Kunst ist ihm eine sehr ernste Angelegenheit, ja mitunter auch eine Qual. „Ich arbeite mich beim Malen ab“, sagt der angenehm zurückhaltende Hermann Buß. Die herbe Schönheit, die ihm zusagt und aus der er schöpft, findet er nicht im Süden, sondern eben in Ostfriesland, in Flandern, in der Bretagne und in Irland. Ist eines der ausgesprochen sorgfältig gemalten Ölbilder vollendet, dann ist es – wie er sagt – „mir selbst ein Rätsel. Dann sehe ich es aus einer Distanz, so wie jeder andere Betrachter…“

Hermann Buß: "Zwei Wasser II" (2008), Öl auf Leinwand. (Bild: Katalog)

Hermann Buß: „Zwei Wasser II“ (2008), Öl auf Leinwand. (Bild: Katalog)

Fühlt sich da jemand an Edward Hoppers Melancholie erinnert? Oder an die Haltung der Figuren von Caspar David Friedrich zur Natur? Drängt sich da ein Wort wie „meditativ“ auf? Ja, warum nicht? Aber diese Bilder wollen auch für sich gesehen und nicht nur an anderen gemessen werden.

Für die denn doch etwas begrenzten Hängungsmöglichkeiten im Haus Opherdicke sind die rund 70 Gemälde von Hermann Buß hinreichend oder auch reichlich großformatig, hie und da würde man sich ringsum mehr Leeräume, mehr „Atem“ wünschen. An manchen Stellen der Schau kann man (raumbedingt) gar nicht sinnend vom Bild zurücktreten, sondern muss dicht davor verharren. Nicht nur in solcher Nahsicht übt so manches Meeresbild einen kaum widerstehlichen Sog aus. Man kann sich imaginär hinaustreiben lassen. Wer weiß, wohin.

Hermann Buß – „ZwischenWelten“. Haus Opherdicke (Holzwickede, Dorfstraße 29). Vom 30. Juni (Eröffnung um 11.30 Uhr) bis zum 13. Oktober, Öffnungszeiten Di-So 10.30-17.30 Uhr. Eintritt 4 Euro. Katalog 22 Euro.




„Neues aus der Anstalt“: Wahnwitz mit Methode

Die Tage werden schon wieder kürzer, doch beim Fernsehen machen sie jetzt alle Sommerpause – so auch Urban Priol und Frank-Markus Barwasser mit „Neues aus der Anstalt“ (ZDF). Nun haben sie zum vorerst letzten Mal die Politik aus psychiatrischer Perspektive betrachtet. Und diese Art des Zugangs ist nicht einmal sonderlich absurd…

Nur noch 88 Tage sind es bis zur Bundestagswahl. Da stand zu befürchten, dass Urban Priol sich abermals mit relativ fruchtlosen Parodien an Angela Merkel abarbeiten würde. Doch diesmal hielt er sich in der Hinsicht merklich zurück. Das war eine kluge Entscheidung.

An Themen mangelt es wirklich nicht

Es gibt in diesen Tagen und Wochen ja auch wahrlich noch ein paar andere Themen – von Brasilien bis zur Türkei, vom ach so „selbstlosen“ Karstadt-Investor Nicolas Berggruen (den Priol höchstselbst einseifte) bis hin zum Fall Mollath. Die kaum glaubliche Geschichte des Mannes, der sich – höchstwahrscheinlich zu Unrecht – seit Jahren in der Psychiatrie befindet, ist geradezu ein passgenaues Thema für eben diese Sendung. Wie Frank-Markus Barwasser alias „Pelzig“ das wahnwitzige Geschehen auf einer Schautafel darstellte, das war der absolute Höhepunkt dieser Ausgabe. Manchmal ist die so genannte Realität irrsinniger als jede Satire. Der Wahnsinn hat Methode.

Urban Priol (links) und Frank-Markus Barwasser in "Neues aus der Anstalt" (Foto: © ZDF/Tobias Hase)

Urban Priol (links) und Frank-Markus Barwasser in „Neues aus der Anstalt“ (Foto: © ZDF/Tobias Hase)

Wut als neue „Krankheit“

Leitlinie war diesmal ein neues Psychiatrie-Handbuch, in dem Wut als neue seelische Krankheit definiert wird; ganz im Sinne der Pharmaindustrie. Doch wer wird angesichts gewisser gesellschaftlicher Zustände nicht wütend werden wollen? So viel Valium konnte Priol gar nicht schlucken, um sich über die Verhältnisse zu beruhigen. Diesem öffentlich-rechtlichen Wutbürger stehen ja ohnehin die Haare stets zu Berge. Sein Telefonat als hessischer Landesvater mit dem türkischen Ministerpräsidenten Erdogan (über den Umgang mit aufsässigen Bürgern) war abgründig witzig und lebte natürlich auch von der Mundart, die Priol eben bis ins Feinste beherrscht.

Georg Schramm fehlt schmerzlich

Im Großen und Ganzen hält man sich ans gute alte Nummernkabarett, das freilich hie und da auch ein wenig abgestanden wirkt. Immerhin kommen sehr verschiedene Formen des Humors zum Zuge. Zwischen einem Jochen Malmsheimer und dem Franzosen Alfons liegen Welten.

Allerdings muss man immer wieder feststellen: Der geniale Georg Schramm fehlt nach wie vor. Diesen Verlust kann die Sendung einfach nicht verschmerzen. Eigentlich kein Wunder, dass es (mehr als) Gerüchte gibt, auch Priol und Barwasser könnten gegen Ende des Jahres aussteigen – aus welchen Gründen auch immer. Man kann nur hoffen, dass das ZDF für diesen Fall ebenbürtigen „Ersatz“ findet.

Doch gemach! Erst einmal sehen wir die jetzige Besetzung am 27. August wieder – rechtzeitig vor den Bundestagswahlen.

(Der Beitrag ist zuerst bei www.seniorbook.de erschienen).




„Tatort“: Wie gut, dass jetzt Sommerpause ist

So. Das war’s erst mal wieder. Sommerpause beim „Tatort“. Ab jetzt gibt’s für einige Wochen nur noch Wiederholungen. Und mal ehrlich: Eine Auszeit vom zuletzt ziemlich atemlosen Krimi-Karussell können wir jetzt alle mal gebrauchen. Wenn demnächst auch noch Franken hinzukommt, haben wir schon 22 (!) „Tatort“-Teams. Da kenne sich noch einer aus.

Klara Blum (Eva Mattes) und Kai Perlmann (Sebastian Bezzel) vom Bodensee haben jetzt in der Folge mit dem bezeichnenden Titel „Letzte Tage“ den vorerst letzten Fall gelöst, der sich um eine Schweizer Pharmafirma und eine Leukämie-Selbsthilfegruppe drehte. Es war eine stellenweise berührende, doch alles in allem keine sonderlich aufregende Geschichte. Freilich auch keine grottenschlechte. Es war sozusagen Seriendurchschnitt. Ein paar stärkere Szenen konnten die insgesamt etwas laue Story nicht vollends wettmachen.

Gerangel mit dem Kollegen aus der Schweiz

Einige Zeit ging für ständige Sticheleien und Kompetenzgerangel mit dem konkurrierenden Polizeikollegen Lüthi (Roland Koch) aus der Schweiz drauf, der offenkundig etwas zu verbergen hatte und sich zwischen ranziger Loyalität und Moral entscheiden musste.

Kommissar Perlmann (Sebastian Bezzel) lässt sich mit der Studentin Mia (Natalia Rudziewicz) ein. (Foto: © SWR/Stephanie Schweigert)

Kommissar Perlmann (Sebastian Bezzel) lässt sich mit der Studentin Mia (Natalia Rudziewicz) ein. (Foto: © SWR/Stephanie Schweigert)

Ein anderer Handlungsstrang kostete noch mehr Minuten, nämlich Perlmanns eher peinliches Techtelmechtel mit der leukämiekranken Medizinstudentin Mia (Natalia Rudziewicz). Ob es auch an seiner beruflichen Sinnkrise lag? Egal. Der „Höhepunkt“ war zugleich der Tiefpunkt: Als beide es im dunklen Kino miteinander trieben, bekam die Todkranke einen Anfall und spuckte Blut. Von dieser quasi opernhaften Zuspitzung einmal abgesehen, ist es in etlichen „Tatorten“ schon Standard, dass Kommissare auch höchstpersönlich in die Fälle verwickelt werden. Warum eigentlich?

Das Gewässer als „Hauptdarsteller“

Ansonsten blieb alles im Rahmen des Üblichen. Der Verdacht wurde hierhin und dorthin gelenkt. Mal war der fiese Professor an der Reihe, mal kamen die lachhaft zwielichtigen Wirtschaftsbosse dran. Und was war mit der Witwe, die die Lebensversicherung kassieren wollte?

Beileibe nicht jede Wendung des Geschehens war plausibel. Auch ist klar, dass Menschen, die bis 21:20 Uhr festgenommen werden, in 99 Prozent der Fälle dann doch nicht die Täter gewesen sind. Nein, den Toten auf der Bodensee-Fähre hatte ein anderer auf dem Gewissen, und zwar… Nein, wir verraten es hier lieber nicht. Denn vielleicht will ja mancher doch noch eine Aufzeichnung, die Mediathek-Präsentation oder eine Wiederholung anschauen.

Der auch literarisch oft besungene Bodensee (man denke nur an Martin Walser) ist als solcher stets ein „Hauptdarsteller“ der Konstanzer „Tatort“-Folgen. Seine mit dem Wetter und den Jahreszeiten vielfältig wechselnden Stimmungen spiegeln immer wieder auch das Seelenleben von Klara Blum. Apropos: Die wahrlich erprobte Theaterschauspielerin Eva Mattes als Blum-Darstellerin wirkt hier seit jeher unterfordert. Sie kann so viel mehr. Doch andererseits möchte auch Frau Mattes einen gut gefüllten Kühlschrank haben, und beim Fernsehen wird nun mal deutlich besser bezahlt als bei der Bühne.

(Der Beitrag ist zuerst bei www.seniorbook.de erschienen)




Witten will’s wissen: Wohin gehen die Kunden?

Vergesst Berlin, München, Hamburg! Hier kommt Witten!

Die Reviergemeinde mit ihren rund 96.000 Einwohnern (neuester Zensus) liegt mal wieder ganz vorn. Dort lassen sie jetzt, in einem vorerst auf fünf Jahre angelegten Projekt, die Kundenströme untersuchen, die sich Tag für Tag durchs Städtchen bewegen. Wenn diese Ströme mal nur keine Rinnsale sind…

Natürlich dürfen dabei keine Wildfremden ran. Nein, eine ortsansässige Firma besorgt, wie das Wittener Stadtmarketing stolz verkündet, das Geschäft mit einem neuartigen System, das die womöglich kaufwilligen Passanten scannen soll. Wie viele Leute tummeln sich wann und wo in den Einkaufszonen?

Wohin werden sich diese schattenlosen Gestalten wenden? (Foto: Bernd Berke)

Wohin werden sich diese schattenlosen Gestalten wenden? (Foto: Bernd Berke)

Leute, beruhigt euch! Die Sensoren sollen quasi nur ein Zählwerk in Gang setzen, jedoch keine Bilder aufzeichnen.

Ergriffen zitieren wir den idr-Nachrichtendienst des Regionalverbands Ruhr (RVR), der prinzipiell fast alles toll findet, was sich im Revier abspielt: „’City Monitoring’ erfasst an verschiedenen Punkten in Echtzeit die Bewegungen auf den Einkaufsstraßen und kann dank 3-D-Technik sogar zwischen Personen und deren Schatten unterscheiden.“

Da haben wir lauter Zauberformeln aus dem digitalen Wunderland versammelt: Echtzeit! 3D! Scannen! Wow!

Die strikte Unterscheidung zwischen Menschen und Schatten ist nicht nur hilfreich, wenn es um Kundenzahlen geht, sondern verweist indirekt auch noch auf hochliterarisches Herkommen. Ich sage nur Chamisso und Schlemihl. Der Mann ohne Schatten… Wer weiß, wer da durch Witten huscht!

Fassen wir vorerst zusammen: Das Paradies mag – wie Degenhardt einst im Lied sarkastisch mutmaßte – irgendwo bei Herne liegen, doch Silicon Valley muss irgendwo bei Witten sein.

Aber nun mal ganz frei nach „Tocotronic“ gesagt: Ich möchte nicht Teil einer Kundenbewegung sein. Mir kommen da aufsässige Phantasien in den Sinn. Kleine Sabotageakte.

Wie wär’s beispielsweise mit Flashmobs in Witten, die zu überraschenden Zeiten an bestimmten Punkten für Betrieb sorgen und den Datenbestand gründlich verfälschen?

Problem nur: Wie lockt man auf einen Schlag so viele Leute in diesen Flecken, dass es überhaupt auffällt? Und zweitens: Wahrscheinlich haben sich die Schlaumeier ein Verfahren ausgedacht, bei dem die statistischen „Ausreißer“ nach oben und unten gekappt oder anders gewertet werden.

Doch halt! Ich weiß, was ich mache. Ich kaufe einfach nicht in Witten ein. So wie bisher auch.




Ein fremdes Organ im Leib: David Wagners Krankheitsgeschichte „Leben“

Es beginnt damit, dass der Ich-Erzähler Blut erbricht.

Alsdann sehen wir diesen Menschen zunächst einmal als reine Physis, als Bündelung biochemischer Vorgänge, zurückgeworfen auf grundlegende Körperfunktionen, aufs kleine bisschen Leben, das da noch pulsiert.

Schon beim Zwölfjährigen hatte man damals eine Autoimmunkrankheit festgestellt. Jetzt ist nach vielen Jahren dringend eine Leber-Transplantation nötig. Der Erzähler hängt nun an dem und jenem Tropf, muss viele Untersuchungen über sich ergehen lassen. Beim Warten auf eine Spenderleber (wird das Organ überhaupt rechtzeitig eintreffen?) ist da zum einen eine unendliche, sich über alles senkende Müdigkeit. Dennoch – und trotz des medikamentösen Bewusstseins-Schleiers – regen sich auch noch Lebensgeister.

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In dieser Lage drängt alles zur Bilanz. Was liegt in der Waagschale? Einerseits eine seltsame Todessehnsucht. Wozu sich noch wehren oder gar aufbäumen? Andererseits ist die Freude an den Dingen des Lebens nicht erloschen. Es gibt eine Tochter, für die der Vater weiterhin da sein will. Doch selbst dieser innige Wunsch ist nicht ungebrochen.

David Wagner (Jahrgang 1971) hat sein Buch in 277 Kürzest-Abschnitte aufgeteilt, was ungefähr der Seitenzahl entspricht. Soll man argwöhnen, dass hier nur Lesehäppchen verabreicht werden? Unsinn. Die Einteilung passt zum notgedrungen flüchtigen Nachsinnen des Erzählers, das immer wieder erschlafft, wegdriftet und mühsam neu einsetzen muss. Eine solche Geschichte ist nicht mit langem Atem und weit ausholender epischer Geste erzählbar.

Das Buch spielt weit überwiegend in einer Berliner Klinik, allfällige Krankengeschichten der wechselnden Bettnachbarn und sonstige Krankenhaus-„Folklore“ (Klagelitaneien über Ärzte, übers Essen usw.) inbegriffen. Zwar befindet sich der Erzähler neben anderen Patienten, doch lebt oder vegetiert hier letztlich jeder in seiner eigenen Welt vor sich hin. In dieser Beschränkung entsteht eine eigentümliche Wahrnehmung; unerreichbar für Aufregungen des Tages, umso empfänglicher für zarten Anschein, Hauch oder Duft.

Schier endlos dehnt sich das Warten auf die Organspende. Eine dreiviertel Seite wird ausschließlich mit „Ich warte, ich warte, ich warte…“ gefüllt. Der Patient sammelt Wartezeit, noch und noch. Und er sammelt in seiner – gelegentlich galgenhumorig getönten – Vorstellung alle möglichen, auch bizarre Todesarten, wie sie täglich in den bunten Spalten der Zeitungen stehen.

In all diesen leeren Stunden schweifen Gedanken suchend umher, segeln Erinnerungen hinaus. Beispielsweise nach Mexiko, wohin der Kranke einst gereist ist. Oder nach Paris, wo er eine Zeit gelebt hat. Szenen aus verflossenen Frauengeschichten ziehen vorüber. Andrea, Rebecca, Katja, Hanja und wie sie alle geheißen haben. Was war wirklich bedeutsam?

Als die neue Leber schließlich zur Verfügung steht und der Patient sogleich viele Stunden lang operiert werden muss, finden sich an der Schwelle in der Mitte des Bandes einige weiße und graue Seiten ohne Text. Ein gestaltloses Rauschen, eine unsagbare Zeit.

David Wagner hat die Erfahrungen selbst durchlitten, die er hier beschreibt. Sonst könnte er wohl nicht so davon berichten. So umstandslos und schmucklos. Ohne Pathos, Selbstmitleid und jegliche Übertreibung. Ein Roman ist das nicht, auch keine Dokumentation. Aber was ist es dann? Ein Überlebensbericht? Eine Überlebens-Phantasie?

Versehen mit dem neuen Organ eines fremden, gestorbenen Menschen, fragt sich das aus dem narkotischen Dämmerzustand erwachte Ich bald, ob es nun womöglich eine Chimäre sei. Schafft sich die neue Leber nicht auch einen teilweise neuen Geist im ungewohnten Körper? Leib-seelische Grundfragen, über schon Thomas von Aquin umgetrieben haben…

Auf einmal dies: „In einer der Nächte wache ich auf und bin auf einmal glücklich (…) Plötzlich weiß ich wieder: Es gibt noch so viel da draußen. Es gibt das Kind, das mich noch ein paar Jahre braucht, es gibt so viel zu sehen, zu tun, zu lesen, es gibt so viel zu leben. Liegt nicht alles da?“

Doch so einfach ist das nicht. Das Weiterleben ist keine leichte Aufgabe. Die Operation mag glimpflich und mit günstiger Prognose verlaufen sein. Doch hernach muss sich der ganze Mensch neu denken, sich gleichsam neu zusammensetzen. Leben ist ungleich mehr als eine Organfrage.

David Wagner: „Leben“. Rowohlt. 288 Seiten. 19,95 Euro.




„Das Halstuch“ – Wiedersehen mit dem „Straßenfeger“ von einst

Es war der „Straßenfeger“ schlechthin: Im Januar 1962 hatte der Durbridge-Sechsteiler „Das Halstuch“ im ARD-Programm eine unfassbare Zuschauerquote von 89 Prozent – praktisch ohne konkurrierende Kanäle. Für die Älteren war das eine prägende Fernseherfahrung der Frühzeit. Jetzt hat der Kulturkanal 3Sat die Krimireihe noch einmal ausgestrahlt – an einem Stück.

Als bekennender TV-Nostalgiker lässt man für eine solche Wiederbegegnung einen zeitgleichen Leipziger „Tatort“ ohne weiteres links liegen. Die großflächige Wiederholung des Klassikers (20.15 bis 23.50 Uhr) bot reichlich Gelegenheit, in die damalige Zeit einzutauchen. Übrigens hat der produzierende WDR damals so gespart, dass man den britischen Stoff wegen zu hoher Reisekosten nicht etwa in England aufzeichnete, sondern in…Remscheid!

Gepflegte Konversation

Wie anders ist damals im gediegenen Schwarzweiß erzählt worden! Von „Action“ im heutigen Sinne keine Spur. Erst recht keine rasanten Schnitte. Auch keine wüsten Serienmorde oder Orgien der Brutalität. Ja, nicht einmal Kraftworte.

"Halstuch"-Szene mit Dieter Borsche (li.) und Heinz Drache (Bild: ©ARD/WDR)

„Halstuch“-Szene mit Dieter Borsche (li.) und Heinz Drache (Bild: ©ARD/WDR)

Vielmehr wähnt man sich in einem gepflegten Konversationsstück, in dem sich ein wohlformulierter Dialog an den anderen reiht. Überdies geht es nicht filmisch zu, sondern wie auf einer konventionellen Theaterbühne. Auftritt – Gespräch – Abgang. Allein mit den Höflichkeitsformeln (Begrüßung, Dank und Abschied) geht die eine oder andere Minute dahin.

Wenn man freilich ein solides Ensemble zur Verfügung hat, wie damals der Regisseur Hans Quest, dann entsteht dabei keine Minute Langeweile. Um nur ein paar Darsteller-Namen zu nennen: Heinz Drache, Albert Lieven, Margot Trooger, Dieter Borsche, Hellmut Lange, Horst Tappert, Eva Pflug…

Die Geschichte um den Mord an der Schauspielerin Faye Collins, die mit einem Halstuch erdrosselt worden ist, wollen wir hier nicht mehr weiter aufrollen. Legendär wurde seinerzeit die Zeitungsanzeige, mit der der Kabarettist Wolfgang Neuss vor der letzten Folge den Täter verriet – und das, als praktisch ganz Westdeutschland den Krimi fiebernd verfolgte und gleichsam mit Inspektor Yates (Heinz Drache) ermittelte. Der tritt mit seinen Fragen zwar mitunter recht fordernd auf, bleibt aber stets korrekt. Ein Gentleman eben.

Abgenutzte Formeln

Natürlich kann man manches aus heutiger Sicht komisch finden, weil es sich mit den Jahren abgenutzt hat. Wie der Inspektor viele Aussagen mit der knappen Formel „Verstehe!“ bestätigt, wie er Zeugen immer wieder fragt „Sind Sie absolut sicher?“, wie er sonor ankündigt „Der Sache geh‘ ich nach!“ – das hat etwas Schematisches. Auch das wiederkehrende Grundmuster nach dem Motto „Wer hat wen wann wie und wo gesehen?“ wirkt zuweilen arg gestanzt.

Und trotzdem ist es spannend. Auch heute noch. Die erzählerische Geduld mit der Geschichte und ihren Figuren zahlt sich immer wieder aus. Man achtet auf jedes Wort und jede Regung. Ob junge Zuschauer heute noch eine solche Konzentration aufbrächten? Ich weiß es nicht. Immerhin dauerte damals eine Folge nur rund 40 Minuten. Also hielt sich die Geistesübung denn doch in Grenzen.

Rauchen bis zum Umfallen

Was damals nicht beabsichtigt war und kaum bemerkt wurde: Die Reihe enthält – von heute aus betrachtet – jede Menge „Zeitgeist“ jener Jahre. Da wird bei jeder Gelegenheit geraucht, bis die Feuerzeuge glühen. Und die Frauen haben keine große Rollenwahl außer der biederen Hausfrau und der verruchten Sünderin.

Doch eins ist so geblieben wie zur Zeit der Erstausstrahlung. Im Dienstzimmer des Inspektors hängt ein Porträt der Queen. Es war schon damals Elizabeth II. Nur ein kleines bisschen jünger.

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Wer blättert denn noch im Brockhaus?

Wie gern sehen sich manche gedruckt! Es ist ihnen ein Antrieb des Schreibens, vielleicht sogar ein hauptsächlicher.

Auch mit dem Internet hat sich diese Form des Bleibenwollen nicht erledigt, sie hat sich allerdings gewandelt, ins Flüchtige gewendet. Wenngleich man uns sagt, dass im Netz nichts verloren gehe, so beschleicht einen hin und wieder das Gefühl, mit einem Wusch könne alles hinschwinden für immer. Doch auch im Virtuellen hinterlässt man gern seine mehr oder weniger kümmerlichen Spuren, wenn es auch nicht mehr den geringsten Anschein von Ewigkeit hat.

Neuere Techniken haben eine totalitäre Tendenz; dergestalt, dass sie alles Vorherige verdecken. Um mit einem Filmtitel von Alexander Kluge zu reden, so ist es „Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“. Man hat nur noch eine vage Vorstellung davon, was ehedem gewesen ist. Wie war das noch, die Typenhebel kraftvoll zu betätigen und Buchstaben mit der mechanischen Schreibmaschine aufs Papier sausen zu lassen? Wie war das noch, den eigenen Schrieb gar von bloßer Hand zu erzeugen? Wie war das mit dem Wort in den Zeiten vor Word?

Mit den Jahren geht die Übung verloren. Man beginnt staksig zu schreiben, die Hand fährt ungelenk und etwas unbeholfen dahin. Die allermeisten verfassen kaum noch handschriftliche Briefe, allenfalls roh hingeworfene Notizen, Ideenskizzen. Ansonsten wird einem die Handschrift ungewohnt, ja vielleicht schon ein wenig befremdlich.

Just vor zwei Tagen stand in den einstweilen verbliebenen Zeitungen, dass es künftig kein gedrucktes Brockhaus-Lexikon mehr geben wird. Was früher als eherner Bestand bürgerlichen Wissens gegolten hat, ist im Schwinden begriffen. Aber wer schaut denn auch noch ins lederne Lexikon, dessen Bände zusehends veralten? Wie gern hat man darin einst geblättert; nicht immer gezielt, sondern gern kreuz und quer, von diesem auf jenes kommend, das eine oder andere unverhofft hinzu lernend.

Da dies hier ein Kulturblog aus dem Revier ist, sei der guten Ordnung halber noch vermerkt, dass der Urvater des besagten Lexikons, Friedrich Arnold Brockhaus (1772-1823), in Dortmund geboren und aufgewachsen ist. Auch hat er hier erste Geschäfte (Wollhandel) betrieben. Seine Buchhandlung als Vorläuferin des Verlags F. A. Brockhaus hat er 1805 freilich in Amsterdam gegründet. Der Mann war nach eigenem Bekunden von einer „wahren Bücherwuth“ besessen. Doch dass wir hier seinen Namen mit Wikipedia verlinken, sagt denn auch einiges über die grundlegend gewandelte Lexikographie aus.




Irgendwie muss sich Peer Steinbrück doch aufs Glatteis führen lassen…

Jetzt geht es wohl los. Noch rund 100 Tage sind’s bis zur Bundestagswahl (Sonntag, 22. September) und der Wahlkampf scheint in seine heiße Phase zu treten. Nun gab es schon mal einen Vorgeschmack, als Maybrit Illner in ihrer ZDF-Sendung den SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück einvernahm.

Steinbrück ist bekanntlich schon in einige Fettnäpfchen getappt. Die Skala reichte von bestens honorierten Vorträgen über Gehaltsvorstellungen fürs Kanzleramt bis hin zur nicht mehrheitsfähigen Meinung über Weinpreise. Manche kreiden ihm seither fast jede Äußerung an. Das roch hie und da bereits nach Kampagne. Zwischendurch konnte man sich schon mal fragen, warum der Mann nicht einfach hinwirft…

Auf den Ausrutscher gelauert

Im Gespräch mit Maybrit Illner gab er sich keine sonderliche Blöße. Er hat eben seine eigene Meinung, die nicht immer mit dem Hauptstrom seiner Partei übereinstimmt. Mitunter beweist er auch feinsinnigen Humor. Aber ist er auch mitreißend? Ist es ihm tatsächlich zuzutrauen, dass er der in allen Umfragen weit vorn liegenden Angela Merkel doch noch Paroli bietet? Da darf man wohl seine Zweifel hegen. Es geht ja nicht ausschließlich um Sachfragen, sondern auch um Wirkung und Charisma. Und so blendete man immer wieder „vielsagende“ Fotos ein, in denen Steinbrück hinter Merkel stand.

Befragte Peer Steinbrück: Maybrit Illner (Bild: ©ZDF/Carmen Sauerbrei)

Befragte Peer Steinbrück: Maybrit Illner (Bild: ©ZDF/Carmen Sauerbrei)

Man hatte den Eindruck, dass die stets etwas süffisant lächelnde Frau Illner – im nur mühsam gebändigten Vollgefühl medialer Machtstellung – ihren Gast liebend gern aufs Glatteis geführt hätte. Wie schön wäre es doch gewesen, hernach in allen Medien mit einem neuen Ausrutscher von Peer Steinbrück zitiert zu werden. Doch nichts dergleichen. Obwohl: Warten wir mal ab, wer doch wieder etwas auszusetzen findet.

Über Besteuerung sagte Steinbrück ebenso vernünftig klingende Sachen wie über den schwindenden Zusammenhalt der Gesellschaft, die nötigen Korrekturen an der Agenda 2010 oder die finanziellen Opfer für Südeuropa. In etlichen Punkten hätte er sich wohl rasch mit Angela Merkel einigen können, mit der er ja auch schon vertrauensvoll zusammen regiert hat. So weit, so „langweilig“, wenn man es mal vom sensationsheischenden Standpunkt aus betrachten will.

Bloß nicht mit der Wimper zucken

Ziemlich fruchtlos blieben die kleinen Konfrontationen, die Steinbrück wohl aus dem Gleichgewicht bringen sollten. Da mäkelten eine SPD-Kommunalpolitikerin, die lieber Sigmar Gabriel als Kandidaten gesehen hätte, ein mittelständischer Unternehmer und ein Finanzwissenschaftler. Alles in Maßen. Dazu wurde Steinbrücks Gesicht jeweils in irrwitzigen Großaufnahmen gezeigt, als sollte jedes Wimpernzucken und jeder Schweißtropfen erfasst werden. Oft genug sind solche spezifischen Darstellungsmittel des Fernsehens geeignet, von den eigentlichen Themen abzulenken.

Geradezu albern war die Schlussrunde. Da sollte Steinbrück einige politische Kernfragen in Sekundenschnelle spontan mit Ja oder Nein beantworten, so auch die nach der Europa-Reife der Türkei. Also wirklich! So läppisch und undifferenziert geht es nicht. Immerhin wissen wir jetzt, dass Steinbrück auch schon mal Weißweine für 4,99 Euro lecker findet, dass er mit Sigmar Gabriel in allen Fragen – außer dem Tempolimit – übereinstimmt und dass er sich am liebsten von George Clooney beraten ließe, was die Wirkung auf Frauen angeht. Am Ende holt er ihn noch in sein Kompetenzteam…

Um zur Eingangsfrage zurückzukehren: Jetzt fängt der Wahlkampf also an? Ach was! Demnächst ist erst mal Urlaub mit Sommerloch. Und danach hoffentlich nicht allzu viel Schlammschlacht.

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Bremer „Tatort“: Alles klar nach 24 Minuten

Lange keinen Bremer „Tatort“ mehr gesehen. Hauptgrund: Meistens war ich von den Krimis mit Inga Lürsen (Sabine Postel) gelinde enttäuscht. Aber gut. Man kann ja mal wieder reinschauen. „Er wird töten“ hieß ihr neuester Fall – und er war so konstruiert, dass man es kaum fassen kann.

Mordopfer ist Lürsens Kollege und allerbester Freund Leo Uljanoff (Antoine Monot jr.), der beim Pinkeln auf der Herrentoilette der Polizeizentrale hinterrücks erstochen wird. Mit ihm wollte die Kommissarin sogar just zusammenziehen. Da wuchs also eine Liebe heran. Alles zerstört.

Niemand ohne Knacks

Natürlich steht Lürsen jetzt unter Schock. Trotzdem will sie den Fall unbedingt übernehmen – und sie darf das tatsächlich, zumindest inoffiziell. Und von wem wird sie unterstützt? Vom Kollegen Stedefreund (Oliver Mommsen), der soeben vom Afghanistan-Einsatz zurückgekehrt und ebenfalls gespenstisch traumatisiert ist; wie denn überhaupt alle handelnden Personen ihren schweren seelischen Knacks haben.

Kommissarin Lürsen (Sabine Postel) vor an die geschmierter Todesdrohung. Schemenhaft im Hintergrund: Marie Schemer (Annika Kuhl). (Bild: Radio Bremen/Jörg Landsberg)

Kommissarin Lürsen (Sabine Postel) vor an die Wand geschmierter Todesdrohung. Schemenhaft im Hintergrund: Marie Schemer (Annika Kuhl). (Bild: Radio Bremen/Jörg Landsberg)

Das ist wahrlich dick aufgetragen, getreu dem Motto „Warum nicht noch einen draufsetzen?“ Regisseur Florian Baxmeier hat im Vorfeld gesagt, er wolle das Bremer Team einmal an die Belastungsgrenze bringen. Zumindest das ist ihm und dem Drehbuchautor Christian Jeltsch gelungen. Allerdings ging es auch für die Zuschauer nicht ohne Belastung ab.

Trapsende Nachtigallen

Etwa zeitgleich mit dem Mord an Leo ist die verwirrte Ärztin Dr. Marie Schemer (Annika Kuhl) im Präsidium aufgetaucht. Sie stammelt „Er wird töten – wieder und wieder und wieder“ und meint ihren früheren Mann Joseph (Peter Schneider), der vor acht Jahren angeblich die gemeinsame kleine Tochter zu Tode geschüttelt hat und nun aus der Haft freigekommen ist. Es folgt nun Verhör auf Verhör und es wird allseits ungemein viel von Gefühlen geredet. Andere rühmen sich lauthals als „Profis“, doch Inga Lürsen kommt mit Einfühlung und Lebenserfahrung weiter.

Über all den tief gründelnden Psycho-Dialogen geriet die Frage beinahe in Vergessenheit, wer eigentlich so unbemerkt ins Präsidium gelangen konnte. Schon sehr, sehr früh zeichnete sich indes die Lösung ab. Der „Tatort“ hat wegen eines neuerlichen Hochwasser-„Brennpunkts“ erst um 20:30 Uhr begonnen, ich habe 20:54 Uhr notiert, als mir klar wurde, wer es gewesen sein musste – also nach gerade mal 24 Minuten Laufzeit. Vielleicht haben es manche Zuschauer ja noch früher gewusst. Spätestens als man vernahm, dass Marie Schemer ein Verhältnis mit einem Gerichtsmediziner hatte, hörte man einige Nachtigallen trapsen. Und war die Doktorin etwa nicht zur Tatzeit im Präsidium? Aber bis Lürsen und die hektische Sonderkommission auf den Trichter kamen, verging etliche Zeit.

Traurig tropfende Klavierklänge

Jedenfalls nutzten alle Ablenkungsmanöver nichts, mit denen der Verdacht noch mühsam auf andere Figuren gelenkt werden sollte. Es war nur noch Firlefanz.

So konnte man die ganze Angelegenheit alsbald unter „erledigte Fälle“ einsortieren und sich auf die sonstige Machart konzentrieren. Und siehe da: Es gab immerhin einige dicht gewobene Szenenfolgen, die von achtbaren schauspielerischen Anstrengungen zehrten. „Kammerspiel“ statt Action, so hieß die Devise. Warum auch nicht?

Zwischendurch hatte man freilich den Eindruck, dass ungefähr 30 Prozent der Wirkung durch Musik (vorzugsweise traurig tropfende Klaviertöne) und sonstige Geräusche auf der Tonspur beigetragen wurden. Auch wollte einen die Kameraführung mit so mancher Nahansicht ins Geschehen hinein saugen. Dabei entwickelte sich zwischen den Menschen denn doch für Momente jenes Maß an Spannung, das der reine Kriminalfall fast völlig vermissen ließ.

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Von der Zeugung bis zum Tod – umstrittene „Körperwelten“ bald in Bochum

„Das wird auch für das Ruhrgebiet ein Knaller.“ – So volltönend zitiert die WAZ in ihrem Online-Auftritt Michael Scholz, den Sprecher der Event-Agentur „All in one“.

Worum geht es da wohl? Rock und Pop der Weltklasse? Spitzensport? Anderweitige Rekordversuche? Was soll so spektakulär sein, dass der PR-Mann es so lautstark anpreist wie ein Marktschreier?

Nüchtern gesagt: Es geht um öffentlich gegen Eintrittsgeld präsentierte Leichen. Aber natürlich nicht um ganz gewöhnliche, sondern um solche, die nach der patentierten Methode des Gunther von Hagens „plastiniert“, also derart konserviert wurden, so dass sie zu Schaustücken für „Körperwelten“-Ausstellungen taugen.

Vom 30. August 2013 bis zum 19. Januar 2014 wird der offenkundig außerordentlich populäre Wanderzirkus (insgesamt an etlichen Orten schon über 36 Millionen Besuche seit 1996) in Bochum gastieren. Die Stücke kommen direkt aus Wien, der Stadt also, der man ohnehin einen speziellen Hang zum Morbiden nachsagt.

(Nicht)-Bebilderung zu diesem Beitrag

(Nicht)-Bebilderung zu diesem Beitrag

Was hat man Gunther von Hagens (68), der inzwischen an der Parkinson-Krankheit leidet und die Regie zeitig in andere Hände gelegt hat, nicht alles vorgeworfen – vor allem Störung der Totenruhe, Verletzung der Menschenwürde, Bedienung niederer Schaulust. Wollte man mich fragen, so würde ich nicht verhehlen, dass ich dieser Auffassung zuneige.

Gegen andere Vorwürfe hat sich von Hagens erfolgreich gerichtlich gewehrt, wir wollen sie daher nicht mehr aufgreifen. Wer will, lese es andernorts nach.

Man kann freilich schaudern, wenn man sich die Exponate vorstellt, die nun auch das Ruhrgebiet ereilen sollen. „Die Schau gibt Einblicke, die unter die Haut gehen“, gibt der idr-Nachrichtendienst des Regionalverbands Ruhr (RVR) formelhaft kund. Man kann das so und so verstehen.

Für manche mag es ein Kitzel sein, andere graust es vorm Gruselkabinett. „Die Zyklen des Lebens“ (Titel der Ausstellung) sollen den menschlichen Daseinskreislauf von der Zeugung bis zum hohen Alter und zum Tod darstellen. In unguter Erinnerung ist noch der Augsburger Streit um präparierte Leichen, die so arrangiert wurden, als hätten sie Geschlechtsverkehr. Dieses zuweilen fruchtbringende Tun an sich ist unter Lebendigen beileibe nicht obszön, im Gegenteil; aber es gibt Formen und Zusammenhänge, in denen es widerlich werden kann.

Umsonst ist der Tod? Nun, wie man’s nimmt. Der Eintritt in Bochum kostet für Erwachsene immerhin 18 Euro, für Kinder müssen auch schon 13 Euro berappt werden. Schauplatz ist übrigens eine angemietete Halle des Mercedes-Händlers Lueg an der Hermannshöhe. Nein, da möchte man lieber keine assoziativen Querverbindungen zwischen Ausstellung und Markenimage herstellen.

Infos: http://www.koerperwelten.com/de/bochum




ZDF-Dauerbrenner „Aktenzeichen XY…ungelöst“: Sie trauen unserem Mitleid nicht

Was für eine Zeitspanne: Seit 1967 gibt es die ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY…ungelöst“. Der Begründer Eduard („Ede“) Zimmermann ist längst eine Legende. Vor allem anfangs, in den Jahren der Studentenbewegung, wurden nicht selten Vorwürfe erhoben: Zimmermann rufe zur „Menschenjagd“ auf, fördere das Denunziantentum und diskriminiere womöglich Minderheiten. Auch das ist sehr lange her. Und heute?

Nun, Rudi Cerne moderiert die Sendung auch schon seit geraumer Zeit, genauer: seit 2002. Der aus Herne stammende ehemalige Sportler und Sportjournalist besitzt eine durch und durch seriöse, manchmal sogar etwas stocksteife Ausstrahlung und ist somit wohl am rechten Platze, wenn es gilt, die heikle Suche nach Verbrechern im Fernsehen zu präsentieren. Auch ist ja das Anliegen grundsätzlich lobenswert. Jede Straftat, die dadurch aufgeklärt werden kann, spricht wohl für diese Sendung.

Spezialausgabe „Wo ist mein Kind?“

Jetzt leitete Cerne eine Spezialausgabe mit dem Titel „Wo ist mein Kind?“ Es ging um teilweise höchst rätselhafte Vermisstenfälle sehr verschiedenen Zuschnitts. Die damals 2jährige Katrice ist vor 31 Jahren (!) in einem Supermarkt verschwunden, seither fehlt von ihr jede Spur. Die 23jährige Kim, selbst schon Mutter und offenbar hoch verschuldet, wird seit März 2012 vermisst. Die 6jährige Milena ist von ihrem Vater nach Algerien entführt worden. Seit 28 Jahren ist ein damals 17jähriger junger Mann nicht mehr aufgetaucht. Jeder einzelne Fall ist wahrlich tragisch und betrüblich genug, jeder auf seine Art.

Nachgestellte Szene: Die kleine Katrice (Mitte) feiert ihren zweiten Geburtstag mit Mutter und Schwester. Noch am selben Tag verschwindet sie für immer... (© ZDF/Securitel)

Nachgestellte Szene: Die kleine Katrice (Mitte) feiert ihren zweiten Geburtstag mit Mutter und Schwester. Noch am selben Tag verschwindet sie für immer… (© ZDF/Securitel)

Aufrufe unter Tränen

Doch so unterschiedlich die Ausgangslagen, Hoffnungen und Handlungsoptionen sein mögen – die Fälle werden allesamt nach dem gleichen Muster vorgeführt. Ganz so, als traue man dem Einfühlungsvermögen der Zuschauer nicht, wird eine nachdrückliche Dramaturgie eingesetzt, die offenkundig unsere Emotionen steigern soll. Wir haben doch sowieso schon Mitleid, oder? Doch die wirklichen Mütter, Väter und sonstigen Angehörigen werden ins Studio gebeten und aufgefordert, unter Live-Bedingungen Aufrufe und Appelle an die Vermissten oder an etwaige Täter zu richten. Natürlich geht das kaum einmal ohne Tränen vonstatten.

Es kann einen als Zuschauer schon mal das mulmige Gefühl beschleichen, dass hier – aus Quotengründen – mit Gefühlen spekuliert wird. Vollends überflüssig erscheint es, wenn Rudi Cerne gelegentlich mit solchen Fragen nachhakt: „Wie haben Sie sich da gefühlt?“ oder „Ist da für Sie eine Welt zusammengebrochen?“ Andererseits kann er aber auch dämpfend und mäßigend wirken. Insgesamt ist es eine Gratwanderung, um die man ihn nicht beneidet.

Idylle und Zerstörung

Die Filme, mit denen die Fälle vorgestellt werden, mixen immerzu Fakten mit Fiktion, also Aussagen und Aufnahmen der tatsächlichen Personen (Fotos, Privatvideos usw.) mit nachgestellten Szenen. Es mag ja noch angehen, dass dabei meist ziemlich schlechte Schauspieler zum Zuge kommen. Schlimmer ist schon, dass man die Geschichten über Gebühr auswalzt und nach dem nur selten variierten Grundschema „Idylle und Zerstörung“ erzählt. Zu sanft perlenden Klavierklängen und manchmal geradezu kitschigen Weichzeichner-Bildern werden zunächst heile Familien dargestellt, die dann unfassbare Schicksalsschläge durchstehen müssen. Die Wirklichkeit dürfte oft vielschichtiger sein und nicht restlos in eine vorgefertigte Dramaturgie passen.

Nicht unbedingt nötig war der Prominenten-Faktor, den die Schauspielerin Christine Kaufmann einbrachte. Ihr Ex-Ehemann, der Hollywood-Star Tony Curtis, hatte einst die gemeinsamen Kinder kurzerhand bei sich behalten. Sie gestand, wie töricht sie sich damals selbst verhalten habe und wies tiefere Ähnlichkeiten mit den anderen Fällen weit von sich. Alle Achtung vor ihrer Offenheit.

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ARD-„Brennpunkt“ zum Hochwasser: Die unstillbare Gier nach starken Bildern

Es ist auf Dauer etwas ermüdend: Gewisse Medien müssen stets übertreiben und stellen deshalb jeden stärkeren Wetterumschwung wenigstens als Jahrzehnt-Ereignis hin. Doch diesmal ist es wirklich ernst. Die Regenflut, die jetzt vor allem Teile Bayerns und Sachsens überschwemmt hat, übertrifft tatsächlich alle vergleichbaren Ereignisse in Deutschland.

Die ARD hat schon weitaus geringfügigere Ereignisse zum Anlass für einen „Brennpunkt“ nach der Tagesschau genommen, manchmal auch schon mittelprächtige Fußball-Nachrichten. Die 45-Minuten-Ausgabe „Hochwasseralarm – der Kampf gegen die Flut“ war hingegen wirklich angebracht.

In Superlativen schwelgen

Es moderierte mal wieder Sigmund Gottlieb vom Bayerischen Rundfunk. Der barocke Mann schien geradewegs in Superlativen zu schwelgen, von einer „Sintflut“ war natürlich gleich in den ersten Sätzen die Rede. Er kostete die gängige „Jahrhundert“-Rhetorik in vollen Zügen aus und war sich seiner eigenen Bedeutung wohl bewusst.

"Brennpunkt"-Logo (©: SWR)

„Brennpunkt“-Logo (©: SWR)

Machen wir uns nichts vor. Das Fernsehen giert immerzu nach spektakulären Bildern, wie das jetzige Hochwasser sie wieder liefert. Seit ein paar Jahren kann man dazu auch die sozialen Netzwerke heranziehen, aus deren Text- und Bilderfundus man sich leicht- und freihändig bedient. Da wähnt man sich ganz nah dran am katastrophalen Geschehen und am betroffenen Bürger. Ich kann mir übrigens kaum vorstellen, dass für die bei YouTube oder Twitter vorgefundenen Aufnahmen Honorare gezahlt werden, lasse mich aber gern eines Besseren belehren…

Profis am Werk

Beinahe schon tragische Ironie liegt darin, dass ursprünglich eine eher beschauliche Naturdoku über die Donau auf dem Sendeplatz gestanden hatte. Gerade dieser Fluß ist nun so mächtig über die Ufer getreten, dass bespielsweise die Altstadt von Passau so hoch unter Wasser steht wie seit Jahrhunderten nicht. Eine Bootsfahrt durch die engen Gassen vermittelte einen Eindruck vom Ausmaß der Schäden. Viele Menschen stehen vor den Trümmern ihrer Existenz und hoffen auf staatliche Hilfe. Manche Einzelschicksale sind wahrhaftig zum Heulen, das konnte man ahnen.

Sprachlich sprudelte so manches Klischee, doch inhaltlich wurde einigermaßen solide gearbeitet. Es waren Fernsehprofis am Werk, die nahezu alle denkbaren Aspekte der Flut ins Auge fassten – vom Vergleich mit 1954 und 2002 über mögliche Vorbeugungsmaßnahmen bis hin zur schier unvermeidlichen Frage, ob all das mit dem oft beschworenen Klimawandel zu tun habe. Der eilends herbeizitierte Experte, Klimaforscher Prof. Harald Kunstmann, prophezeite, dass uns solche Extremereignisse immer öfter ereilen werden.

Politische Verwurstung

Es ist mehr als nur Legende, dass der damalige Kanzler Gerhard Schröder zur Flut von 2002 tatkräftige Präsenz zeigte und wohl auch daher noch ein paar Jahre im Amt bleiben konnte. Morgen (Dienstag) wird Angela Merkel im Krisengebiet erwartet. Innenminister Hans-Peter Friedrich war heute schon da. Alles andere wäre auch politischer Wahnsinn.

Direkt nach dem „Brennpunkt“ warf sich Frank Plasberg mit „Hart aber fair“ in die Bresche und fragte mit triefender Ironie: „Was will uns die Natur damit sagen?“ Hier wurde das Naturereignis sogleich flugs dem Parteienstreit und somit der landläufigen politischen Verwurstung zugeführt, was freilich auch wieder reflektiert wurde. So konnten sich Renate Künast (Grüne) und Bundesumweltminister Peter Altmaier (CDU) ein paar wohlfeile Wortgefechte liefern. Um mal ein etwas schiefes Bild zu verwenden: Man kann eben auf allem sein Süppchen kochen, selbst auf Flutwasser.

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Ödnis im Zeichen der Löschblattwiege: Walter E. Richartz’ „Büroroman“ – wiedergelesen

„Zu jedem Schreibtisch gehört die Schreibgarnitur aus Bakelit. Sie besteht aus Schale, Notizzettelkästchen und Löschblattwiege.“

Das klingt ja allerliebst nostalgisch. Tatsächlich entstammt die knappe Schilderung dem „Büroroman“ von Walter E. Richartz (1927-1980), der 1976 herauskam und heute noch als Taschenbuch greifbar ist.

Welch ein zeitlicher Abstand! Damals wurden gerade die ersten Versuche mit EDV (Elektonische Datenverarbeitung) unternommen. Sie scheinen zunächst nur nebulös am Horizont dieses Romans auf. Doch gegen Schluss kosten sie die ersten Arbeitsplätze. Von Fax, Handys oder gar Internet ganz zu schweigen. Gerade deshalb ist es interessant, dieses Buch wieder einmal hervorzuholen. Welche Signaturen sind seither für immer verschwunden und was zählt womöglich zum Langzeitbestand des bundesdeutschen Bürolebens?

Richartz

Wir lernen vor allem Herrn Kuhlwein, Frau Klatt und Fräulein Mauler (so sagten manche damals noch) kennen, die sich in Frankfurt am Main ein Büro im zehnten Stockwerk teilen. Wir lernen sie genauer kennen, als uns lieb ist. In ihrer Kostenkontroll-Abteilung vollzieht sich höllisch das Immergleiche, ein monotones, erbärmlich reduziertes, quasi kästchenförmiges Leben, ein oft biestiges Schweigen zum Terror der kleinen Geräusche, allenfalls lau gewürzt von kleinen gegenseitigen Bosheiten.

Absoluter Stillstand um 15.10 Uhr

Durch einen mikroskopischen Blick auf die (kaum) verstreichende Zeit – um 15.10 Uhr ist absoluter Stillstand erreicht, der Feierabend scheint ferner denn je – lässt uns Richartz am ungemein zähflüssigen Alltag des Büros teilnehmen. Hin und wieder muss man grinsen, doch wohl ziemlich müde und gequält. Allein zu lesen, wie überaus penibel Herr Kuhlwein eine Orange schält, um sie hernach umständlich zu verzehren, könnte einen schier rasend machen. Wer jemals regelmäßig in einem Büro gearbeitet hat, kennt solche marternden Szenen wahrscheinlich zur Genüge.

Was in der Produktionsabteilungen des Unternehmens namens DRAMAG (soll der Name etwa auf Dramen hindeuten?) überhaupt hergestellt wird, wissen die Büro-Angestellten gar nicht so genau. Sie schmoren, teilweise seit Jahrzehnten, im eigenen Saft.

Willkommener Unglücksfall

Immerhin wird die Ödnis manchmal unterbrochen: Der freilich immergleiche Kantinengang sorgt für scheinbare Bewegung, Hitzewellen oder Regenfluten liefern kurzzeitig Gesprächsstoff, Rituale vor und nach dem Urlaub bringen sogar für Minuten einen Schuss Übermut ins ewiggleiche Getriebe.

Vor solchem Hintergrund wird bereits der Besuch einer Ex-Kollegin, die offenbar glücklich geheiratet hat (soll man’s ihr denn glauben und gönnen?), zum mittelgroßen Ereignis. Und als bei Sturm beinahe ein Fensterputzer von der Hochhausfassade abstürzt, erfasst die ganze Firma endlich ein Hauch von Dramatik, die gleichsam der seelischen Hygiene zugute kommt. Denn nach der kleinen Katastrophe herrscht für kurze Zeit eine ungeahnte Aufgeräumtheit.

In der Äbbelwoi-Hölle

Durch die erwähnte Frau Klatt kommt punktuell jene hessische Mundart ins Spiel, deren Äbbelwoi-Abgründe einen schon seit den Zeiten von „Babba Hesselbach“ oder dem „Blauen Bock“ schaudern lassen. Damals, auf einem ersten Gipfel der RAF-Terrorfahndungen, hörte sich das dann schon mal so an: „Dene geheert der Kopp ab, geheert dene.“

Kurzum: Bis hierhin haben wir einen Roman gelesen, der seine armseligen Gestalten vor allem mit parodistischen Mitteln kenntlich macht. Weder die dynamischen Chefs noch der Gewerkschafter auf der Betriebsversammlung entgehen dem satirisch überzeichnenden Zugriff.

Doch dann vollzieht sich mittendrin ein unerfindlicher Umschwung. Auf einmal wird besonders den drei Figuren im zehnten Stock Verständnis entgegen gebracht. Plötzlich werden sie nicht nur von außen, sondern von innen her betrachtet. Ihre Beweggründe werden nunmehr ernst genommen. Ihre kleinen Träume, ihre legitimen Sehnsüchte, ihre Verletzungen, ihre bestürzende Einsamkeit und ihre Tragik finden Beachtung.

Hatte es vorher den Anschein, als mache sich der Autor durchweg lustig, so werden nun die Lebensgeschichten sorgsam abgewogen und gewürdigt. Nun gut. Menschlicher ist das allemal. Aber wie verträgt es sich mit dem Duktus der ersten Hälfte des Romans? Gar nicht. Das Ganze wirkt leider ziemlich zwittrig.

Bis zur letzten Büroklammer

Den Schluss, der wiederum im nüchternen Gewande daherkommt, bildet eine „Inventur“, in deren Verlauf alle Gegenstände im Büro verzeichnet werden – bis hin zur letzten Büroklammer. Mit all den Dingen und ihren Tücken sind auch so manche Worte verschwunden. Die Akten von damals sind eh längst geschreddert worden. Die letzten Gedankenblitze erhellen auf schwer übertreffliche Art die Phänomenologie der Neonlampe.

Trotz gewisser Schwächen in der Konstruktion kann Richartz’ Roman als markanter Vorläufer gelten. Bis dahin war das Alltagsleben der Angestellten allenfalls ein Nebenthema der Literatur gewesen. Der wunderbare Kritiker Georg Hensel schrieb damals sehr richtig in der FAZ: „Kühn pflanzt Richartz die Fahne des Erstbesteigers in einem Büro-Hochhaus auf.“

Es war sicherlich kein Zufall, sondern ein Zeichen der Zeitreife, dass in den folgenden Jahren 1977, 1978 und 1979 Wilhelm Genazinos „Abschaffel“-Trilogie erschien, die das Dasein der Angestellten vollends zum Stoff erhob und in allen Facetten ausleuchtete. Genazino, der die Romanhandlung übrigens ebenfalls in Frankfurt ansiedelte, zählt heute zu den ganz Großen unserer Literatur. Ob er vielleicht anfangs die eine oder andere Anregung aus dem „Büroroman“ des leider so früh verstorbenen Richartz empfangen hat?

Walter E. Richartz: „Büroroman“. Diogenes Taschenbuch. 274 Seiten. 9,90 Euro.




Die harte Gangart der Fotografie – Bilder von Weegee in Oberhausen

Immer `ran, gleich` ran: Wenn Weegee ein starkes Bildmotiv sieht, so hält ihn nichts mehr auf Distanz.

Dann rückt der Pressefotograf den Mördern, Opfern, Cops und Underdogs im New York der 1930er und 1940er Jahre ganz dicht auf den Leib und drückt sofort ab. Menschen, deren Behausung gerade in Feuersbrünsten niederbrennt, hält er die Kamera mitten in die entsetzten Gesichter.

Weegee: "Der Erkennungsdienst bei der Arbeit", 1941 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Weegee: „Der Erkennungsdienst bei der Arbeit“, 1941 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Seit 1935 als Freelancer tätig, kann sich der Autodidakt keine Sentimentalitäten erlauben. Er muss die besten, unmittelbarsten Bilder haben, sonst würden die sensationsgierigen Zeitungen sie nicht kaufen. „Murder is my business“, sagt Weegee einmal.

Die heute noch hinreißenden Ergebnisse seiner Arbeit sind jetzt in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen zu sehen. Die Dokumente werden längst als Kunstwerke wahrgenommen. Es liegt nicht am bloßen Verstreichen der Zeit und an der generellen musealen Aufwertung der Fotografie, sondern an wahrhaftigen Qualitäten dieser Schwarzweiß-Bilder. Die rund 100 Exponate stammen aus dem Fundus des Instituts für Kulturaustausch in Tübingen, aus dem Christine Vogt und ihr Oberhausener Team eine schlüssige Auswahl zusammengestellt haben. Übrigens gab’s im Ruhrgebiet noch nie eine Weegee-Schau.

Delinquenten verbergen ihre Gesichter: Charles Sodokoff und Arthur Webber, 1942 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Delinquenten verbergen ihre Gesichter: Charles Sodokoff und Arthur Webber, 1942 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Weegees Art zu fotografieren (buchstäblich Bilder zu „schießen“) glich einem gewaltsamen Akt. Und so wirken die Aufnahmen denn auch auf den ersten Blick. Vom krassen Blitzlicht hart und grell konturiert, unerbittlich realistisch. Doch man weiß, dass Weegee zuweilen manch ein Detail eigenhändig arrangiert hat (so stellte er etwa nach einem Mord beim Bocciaspiel die Bocciakugeln „dekorativ“ in den Vordergrund), dass er Ausschnitte mit Bedacht wählte. Auch hat er Verbrechensopfer nicht in aller möglichen Drastik gezeigt, sondern ihnen einen Rest von geradezu ästhetischer Aura gelassen. In Wien würde man vielleicht sarkastisch sagen „A schöne Leich’“.

Vor allem aber hatte Weegee – mitten im heißesten Moment – ein untrügliches Gespür für wirksame Komposition und Dynamik. Wer heute versucht, den Augenblick mit schier endlosen Reihen von Digitalbildern zu fangen (Motto: Ein Gutes wird schon darunter sein), macht sich keinen Begriff davon. Damals, in der Zeit der Plattenkameras, mussten gleich die allerersten Bilder „sitzen“. Umso erstaunlicher, dass viele inzwischen den Status von Klassikern haben. So auch jenes umwerfende Bild von der gaffenden Menge, die uns auch auf unseren eigenen Voyeurismus verweist. Wir schauen Zuschauern beim Zuschauen zu, ganz fasziniert.

Oft war Weegee (1899-1968, bürgerlich Arthur Fellig) früher am Tatort als die Polizei selbst. Ab 1938 mit der offiziellen Genehmigung versehen, den Polizeifunk abhören zu dürfen, raste der besessene Nachtarbeiter sofort los, um gleichsam auf frischer Tat zugegen zu sein. Was er dann auf Platte bannte, wäre heute und zumal in Europa so nicht mehr publizierbar. Aber damals herrschten andere Gesetze. Und in den USA geht es ohnehin anders her.

Polizei beendet Straßendusche der Kinder, 1944 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Polizei beendet Straßendusche der Kinder, 1944 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Schnell wurde der im heute polnischen Złoczew geborene Fotograf, der 1910 als Kind in die USA gekommen war, bekannt und kultivierte ein entsprechendes Image, nannte sich höchst selbstbewusst „Weegee – The Famous“ und zeigte sich gern als zerknautschter harter Kerl, allzeit mit Zigarre im Mundwinkel. Als Zeitgeist-Typus der Hardboiled-Ära hätte er jederzeit in einem Marlowe-Roman von Philip Chandler auftauchen können (wenn die nicht in Los Angeles spielen würden).

Eines seiner Fotos zeigt das unglaublich überfüllte Badeufer von Coney Island. Die vielen, vielen Menschen schauen hinauf zur Kamera, Weegee steht offenbar auf einem Podest inmitten der Massen. Er ist das Gegenteil eines „unsichtbaren“ Fotografen, der heimlich auf Motive lauert. Weegee wirft sich geradezu hinein in die Situation oder stellt sich beherrschend über sie. Dass er auch subtile, ja ätherische optische Sensationen zu erfassen weiß, zeigen seine Bilder von Stadtstrukturen, etwa vom mysteriösen Schattenwurf unter der Hochbahn.

Unter der Hochbahn, Bowery, o. J. (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Unter der Hochbahn, Bowery, o. J. (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Manche haben versucht, Teile seines Werks sozialkritisch zu interpretieren. Tatsächlich hat er ja die Schattenseiten der Gesellschaft gezeigt, hat Huren, Stripperinnen, Verbrecher, Säufer, Obdachlose oder auch die diskriminierten Farbigen in Harlem abgelichtet, doch wohl weniger aus edelmütigen politischen Antrieben. Er hat sich just in die harte Wirklichkeit begeben und dort Anzeichen sozialer Tatsachen vorgefunden, sofern man sie überhaupt sichtbar machen kann. Bei einem Fotografen mit dieser formalen Könnerschaft werden eben gültige Szenen daraus. Die Verhältnisse, sie waren so.

Ostersonntag in Harlem, 1940 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Ostersonntag in Harlem, 1940 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

So auch bei einem seiner berühmtesten Bilder, das zwei schwerstreiche Damen beim Gang in die Oper zeigt und die Aussage noch mit einem Trick steigert: Eine völlig desolat wirkende „Kritikerin“, die als Kontrastfigur auftritt, soll Weegee eigens angeheuert und unter Alkohol gesetzt haben. So obszön wirkte demgegenüber der zur Schau gestellte Reichtum, dass die Nazis das Bild zu perfiden Propagandazwecken nutzen und auf in Italien abgeworfenen Flugblättern die US-Soldaten hinterhältig fragten: „GI’s, is this what you’re fighting for?“ – „Dafür wollt ihr kämpfen?“

"Kritik", 1943 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

„Kritik“, 1943 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Einmal prominent und wohlhabend, ließ es Weegee bequemer angehen. Er unternahm Europa-Reisen, verlegte sich vor allem auf Star-Fotografie und porträtierte etwa Louis Armstrong, Marilyn Monroe, Salvador Dali, Jackie Kennedy oder auch das verzückte weibliche Publikum des Frank Sinatra. Man wähnt sich hier beinahe schon in einem Konzert der Beatles mit hysterischem Kreischen und massenhaften Mädchen-Ohnmachten.

Auch Weegees Selbstinszenierungen weisen ja schon gelegentlich voraus auf Phänomene der 60er Jahre. Nicht ausgeschlossen, dass ein Mann wie Cassius Clay alias Muhammad Ali („I am the greatest“) einige seiner Imponier-Posen von einem wie ihm gelernt hat. Bei beiden, so wissen wir, steckte wirkliche Substanz hinter dem Gehabe. Und wie!

Sollte Weegee gar ein Vorvater der Pop Art gewesen sein? Ein Bild, auf dem er sich mit Andy Warhol zeigt, könnte die Vermutung nahelegen. Doch wie verschieden sind diese beiden Typen! Ein jeder steht für seine Zeit.

Weegee – The Famous. Fotografie. Bis 8. September 2013 in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen, Konrad-Adenauer-Allee 46. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 6,50 €, ermäßigt 3,50 €.
Kombiticket mit Gasometer Oberhausen (dort ist bis Ende Dezember die Christo-Installation „Big Air Package“ zu sehen) 13 €.

Statt eines Katalogs erscheint ein Booklet für 4 €.
Wenn’s etwas mehr sein darf, so greife man zu Weegees erstmals 1945 erschienenem Buch „Naked City“.




„Du musst auch eine Drecksau sein“: Notizen vom ZDF-Talk zum Spiel Dortmund vs. Bayern

Allmählich drehen die Medien durch. Seit Wochen überschlägt sich die Berichterstattung vor dem Finale der Champions League. Borussia Dortmund gegen Bayern München im Londoner Wembley-Stadion ist das Spiel der Spiele. Jetzt ging es auch in Maybrit Illners ZDF-Talk um dieses Match, das am Samstag (20:45 Uhr) ins Haus steht.

Ich halte es mit dem guten alten Spruch des BVB-Altvorderen Adi Preißler: „Entscheidend is auf’m Platz.“ Alles Gerede vorher und nachher ist herzlich zweitrangig. So auch bei dieser Talkshow, deren Gästeliste nicht gerade Endspiel-Niveau erreichte. Vor allem fragte man sich, was um Himmels Willen Andrea Kiewel („ZDF-Fernsehgarten“) in dieser Runde zu suchen hatte. Sie war schon beim Sendereigen zum 50jährigen ZDF-Jubiläum – ebenfalls von Maybrit Illner moderiert – höchst präsent. Man kennt sich, man mag sich, man lädt sich ein…

Musste auch als Fußball-Talkerin herhalten: Andrea Kiewel vom ZDF-Fernsehgarten. (Foto: ZDF/Carmen Sauerbrei)

Musste auch als Fußball-Talkerin herhalten: Andrea Kiewel vom ZDF-Fernsehgarten. (Foto: ZDF/Carmen Sauerbrei)

Bloß keinen Aspekt auslassen

Maybrit Illner mühte sich, dem Thema alles, aber auch alles abzupressen. Bloß keinen Aspekt auslassen. Da ging es vor allem um den Mythos „Malocher gegen Millionäre“ und alle anderen Animositäten zwischen Bayern und dem BVB, die weidlich ausgekostet wurden. Bei Licht betrachtet, blieb jedoch von diesem angeblichen „Kulturkampf“ (Illner) substanziell nicht allzu viel übrig.

Man hatte versucht, die Runde möglichst gleichgewichtig zu besetzen. Ex-BVB-Kicker Frank Mill, der derzeit vereinslose Trainer Christoph Daum und Andrea Kiewel halten es eher mit der Borussia, der Journalist Claus Strunz und Moderator Markus Kavka hingegen mit den Bayern. Kleine Spitzen flogen hin und her, doch man tat einander nicht weh. Hörfunk-Fußballreporterin Sabine Töpperwien (WDR) gab sich öffentlich-rechtlich neutral, legte aber stets Wert auf die Formulierung „Ich habe übertragen“; ganz so, als sei sie für ihren Sender immer allein tätig. Nun gut. Ich gestehe freimütig, dass ich ihre Bundesliga-Berichte in ihrem ganzen knödelnden und gepressten Tonfall unsäglich finde.

Deutsche Gipfelgefühle

Apropos unerträglich. Man hält ja all diese Gipfelgefühle kaum noch aus: Deutschland ist doppelt an der Spitze des europäischen Fußballs angekommen, zudem gab ausgerechnet die britische BBC gestern bekannt, dass „wir“ weltweit das beliebteste Land seien. In dieser Talk-Sendung kam man freilich mental wieder etwas herunter, denn es wurde alles, aber auch wirklich alles durchgehechelt, was nur irgend aufs Finale in London bezogen werden konnte – bis hin zu den Chancen bei der nächsten Weltmeisterschaft oder den Scheichs und Oligarchen, die sich vor allem britischer Vereine bemächtigt haben. Wo aber wird solide gewirtschaftet? Richtig. Bei uns. Wo sonst?

Stammtischverdächtig

Wie bitte? Ja, selbstverständlich. Natürlich wurden auch Uli Hoeneß‘ Steueraffäre, der Götze-Transfer und Christoph Daums Kokain-Skandal von anno 2000 nochmals bekakelt. Und der wohltuend zurückhaltende Frank Mill musste zum wohl tausendsten Mal den Filmausschnitt von seinem legendären Pfostenschuss aus einem Meter Entfernung über sich ergehen lassen. Heilig’s Blechle!

An manch einem bayerischen oder westfälischen Stammtisch dürfte ähnlich (un)kundig debattiert werden. Stammtischverdächtig, aber irgendwie herrlich knorrig und kernig war auch der Satz des Abends, der von Christoph Daum eingeworfen wurde: „Du darfst nicht nur schön spielen, du musst auch eine Drecksau sein.“ In diesem Sinne freuen wir uns jetzt aufs Endspiel. Oder auch ganz anders. So mehr von innen heraus.




Endlich! Ein völlig objektiver Vorbericht zum Finale der Champions League

Hier nun ein paar völlig objektive, hochkulturelle Zeilen zum Spiel der Spiele: Nein, dieses Match lässt sich – um es mit einem legendären Lapsus aus Kickermund zu sagen – wirklich nicht mehr weiter „hochsterilisieren“.

Wenn am kommenden Samstag um 20.45 Uhr MEZ im Londoner Wembley-Stadion Borussia Dortmund und der FC Bayern München das Finale der Champions League austragen, dann fiebert natürlich alle Fußballwelt mit. In Dortmund herrscht allenthalben Ausnahmezustand. Um es vorsichtig zu formulieren. Wenn (sehr frei nach Peter Handke) das Wünschen bei der Kartenvergabe noch geholfen hätte, so würden Hunderttausende in Schwarzgelb nach London kommen.

Laube in einem Dortmunder Kleingartenverein, abgelichtet am 22. Mai 2013. (Foto: Bernd Berke)

Laube in einem Dortmunder Kleingartenverein, abgelichtet am 22. Mai 2013. (Foto: Bernd Berke)

Exaltierte Leitmedien wie „Spiegel online“ bringen seit vielen Tagen den immer mit neuen Gerüchten und Parolen gefütterten Countdown bis zum Anstoß. Jede halbgare Äußerung aus beiden Lagern, jede Blessur wird da im bebenden Tonfall vermeldet und breit ausgewalzt. Der Ausfall des verletzten Mario Götze wird vollends als Tragödie von shakespearschen Dimensionen dargestellt; wie denn überhaupt der bevorstehende Götze-Transfer von Dortmund nach München das Weltgebäude hat wanken lassen. Naja, wenigstens hat offenbar die eine oder andere Redaktion gewackelt. Schlimmer noch: Heute bemächtigt sich auch eine seltsam besetzte Talkshow des Themas.

Das Feld der Emotionen besetzt

BVB-Trainer Jürgen Klopp erklärt Borussia Dortmund gleich zum spannendsten Fußballprojekt der Welt und wirbt flammend um die Herzen aller echten Fans auf dem Globus. Der Wahlspruch des Vereins, „Echte Liebe“, besetzt – zwischen Leidenschaft und Marketing – das emotionale Feld, während der Widersacher aus dem Süden vorwiegend mit Geld, Geld und nochmals Geld assoziiert wird und darum vielfach gern „Buyern München“ genannt wird. Ja, ja, ja, auch in Dortmund werden ein paar Groschen umgesetzt – und doch besteht da ein Unterschied.

Glaubt man der wahnwitzig ausufernden Vorberichterstattung, so ist ganz Deutschland gespalten in Schwarzgelb und Rot. Es wäre interessant zu erfahren, wie die Sympathien international verteilt sind. Eins ist klar: Die meisten Polen halten schon mal zu Dortmund. Doch die frischgewagte, husarenhafte BVB-Spielweise unter Klopp hat überdies neue Anhänger auf dem ganzen Kontinent gewonnen. Die bloße Vorstellung, dass sie in Lokalen von Rio, Buenos Aires, Tokyo oder Peking ein Dortmunder Tor bejubeln, ist herzerwärmend.

Sich heraushalten? Geht kaum!

Wer sich übrigens aus all dem heraushalten will, verhülle am besten sein Haupt, lasse die Rollos herunter, schalte alle Geräte ab oder begebe sich gleich für eine Zeit ins Kloster. Doch wer weiß, was sie dort am Samstag machen?

Bei nüchterner Betrachtung der Fakten (doch wer wird denn da nüchtern bleiben?) gehen die Bayern als haushohe Favoriten ins Finale. Sie können wahrscheinlich ihre Bestbesetzung aufbieten, während bei Dortmund nicht nur Götze fehlt, sondern zwei Verteidiger, Mats Hummels und Lukasz Piszczek, angeschlagen sind. Auch haben die Bayern eine nahezu makellose Saison hingelegt, so dass man sich fragt, was der künftige Trainer Pep Guardiola dort eigentlich noch richten soll.

Aber warten wir’s ab. Es gibt – sehr frei nach William Shakespeare – Dinge zwischen beiden Strafräumen, die sich unsere Schulweisheit nicht träumen lässt.

Im Fall eines Bayern-Sieges würde man sich drunten etwas freuen und dann bald zur Tagesordnung übergehen. Es wäre sicherlich kein Vergleich zu dem, was in und um Dortmund los wäre, wenn…

Warten wir’s ab. Es gibt Dinge zwischen Auslinien, Pfosten und Eckfahnen, die sich unsere…

Aggression und Zurückhaltung

In München kassiert man Titel ein und hakt sie ab. Viele Anhänger sind schlichtweg saturiert. Das „Mia san mia“-Denken ist weit verbreitet, die entsprechende Denkungsart des (anderweitig „angeschlagenen“) Bayern-Präsidenten Uli Hoeneß kommt einem fast schon gemütlich-folkloristisch vor, wenn man sie mit der unerbittlich aggressiven Stoßrichtung des Matthias Sammer vergleicht.

Demgegenüber wirkt die Zurückhaltung des Dortmunder Präsidenten Reinhard Rauball, des Geschäftsführers Hans-Joachim Watzke und des Sportdirektors Michael Zorc geradezu nobel. In der angeblichen Proletenstadt zeigt man inzwischen deutlich mehr Stil als an der Isar. Nur Jürgen Klopp darf schon mal gepflegt ausrasten. Jawohl, Kloppo darf das.

Ich gebe zu: Sollte Sammer am Samstag aus gutem Grund zornig mit den Zähnen knirschen, so würde mich das doppelt und dreifach er-götzen!




Still und stoisch durch den Krieg gehen: „Neue Zeit“ von Hermann Lenz – wiedergelesen

Wie ist das im Zweiten Weltkrieg gewesen, Tag für Tag, bis zum bitteren Ende? Es gibt wahrlich zahllose Bücher über „Ereignisse“ jener Jahre, hin und wieder auch übers Alltägliche. Doch Hermann Lenz’ Roman „Neue Zeit“ ist und bleibt etwas Besonderes.

Erstmals 1975 erschienen, ist das Werk jetzt in einer neuen Ausgabe greifbar. Man kann es wieder und wieder lesen. Als Zeugnis des Nebenher, des Unscheinbaren, das wohl auch damals die meisten Geschehnisse grundiert hat. Als Dokument einer großen Hilflosigkeit angesichts der Zeitläufte. Als Studie darüber, wie man mitten im allergrößten Dreck ein Mindestmaß an Anstand wahren kann. Und dergleichen mehr.

Weder Helden noch Antihelden

Fernab von jeder Versuchung zum Spektakulären oder Heroischen, aber auch nicht mit vollmundiger Antikriegs-Rhetorik, ja überhaupt mit sehr zurückhaltender Wahl der Worte und Stilmittel, erzählt Lenz die Geschichte seines Alter ego Eugen Rapp, eines Studenten der Kunsthistorie, der wie in einer Art Trance durch die Wirren des Krieges geht; zunächst bei militärischen Übungen, dann als Soldat beim vergleichsweise unblutigen Einmarsch in Frankreich, sodann über Jahre hinweg an der Ostfront in Russland und schließlich in amerikanischer Gefangenschaft.

neuezeit

Die stark autobiographisch geprägte Handlung setzt 1937/38 ein und reicht bis 1945. Zu Beginn trifft der Schwabe Eugen Rapp in München ein, um sich einen neuen Doktorvater für eine Arbeit über Dürer zu suchen, denn die jüdischen Professoren in Heidelberg sind von den Nazis entlassen worden. Rapp hat sich derweil zaghaft mit „Treutlein Hanni“ angefreundet, was sich als zunehmend riskant erweist, denn die junge Frau aus hochkultiviertem Hause, die Hermann Lenz 1946 heiraten wird, ist „Halbjüdin“ (welch eine verquere Begrifflichkeit von allem Anfang an).

Sehnsucht nach gestern

Vor der immer gewaltsamer auftrumpfenden „Neuen Zeit“ und ihren üblen Protagonisten will sich Rapp in andere Epochen fortdenken. Seine innige Sehnsucht richtet sich rückwarts, beispielsweise in die Ära der friedlich verschlafenen deutschen Kleinstaaterei, ins sonst so oft geschmähte oder belächelte Biedermeier zwischen Spitzweg und Mörike. Zustimmend zitiert er einen Professor: „Da nehme ich sogar das Muffige in Kauf…Dagegen das mächtige Deutschland Bismarcks: Sie sehen, was daraus geworden ist.“

Ein weiterer, mindestens ebenso wichtiger Fluchtpunkt ist das Wien früherer Jahrzehnte, die Welt von Schnitzler und Hofmannsthal. Es entwickelt sich also eine tiefe Abneigung gegen alles Gegenwärtige, ein heimwehkranker Hang zum Früheren.

Doch einfach aus dem Jetzt wegstehlen, so die bestürzende Erkenntnis, kann man sich nicht. Und so erlebt dieser Eugen Rapp Jahr um Jahr als überaus befremdliches Vor-sich-Gehen. Warum, so fragt er sich nahezu naiv, wird überhaupt Krieg geführt? „Du aber verstehst nicht, warum ein Russe dein Feind sein soll, wenn er dir nichts getan hat…“

„Zigaretten rauchen und allein sein“

Rapp gehört nirgendwo richtig dazu, er hält sich – so gut es irgend geht – aus dem Gröbsten heraus, macht aber letzten Endes doch zwangsläufig mit: „…dich abseits fühlen, ist dir angemessen“, hält er an einer Stelle fest. Am liebsten sieht er sich so: „Sitzen. Kritzeln. Zigaretten rauchen und allein sein.“ Andererseits: „Du bist jetzt hier hineingestellt; ausweichen kannst du nicht mehr.“ Ja, einmal heißt es sogar: „Laß alles laufen, wie es will. Nur im Krieg nichts ändern wollen…“ Und dann eine solch jähe Einsicht, die einem das Hirn zerreißen müsste: „Denn wozu machst du hier mit? Damit sie hinten ungestört Menschen zu Seife machen können und den Seifemachern nichts passiert…“

Innerlich distanziert bleiben, dennoch genau hinsehen und getreulich aufzeichnen – das kennzeichnet die stoische, zuweilen auch sture Haltung dieser Figur, die wundersam unversehrt, geradezu schlafwandlerisch durch die Hölle wankt.

Die Schilderung der Vorgesetzten und „Kameraden“ schwankt zwischen individuellen Skizzen und Typenkomödie. Fast allen, so wird es hier geschildert, ist die verlorene Sache frühzeitig klar, doch von oben kommen Durchhalteparolen. Die Hierarchien bleiben bestehen. Wer eh schon oben war, bleibt auch im Krieg oben; oft auch darüber hinaus.

Dieser feine und friedliche Ton

Die wahre Sensation dieses Buches ist der durchweg leise und feine Ton. Schon von daher ist der Roman sozusagen Zeile für Zeile ein fortwährender Einspruch gegen alles Kriegerische. Es ist wie die Erprobung einer Sprache, die wieder für kommende Friedenszeiten taugt. Das immer wieder eingestreute schwäbische Idiom steht bei all dem für regionale Verwurzelung im Herkömmlichen, der freilich im Krieg alles fraglos Beschützende abhanden gekommen ist. Einerseits ist die Mundart ein Reservoir des Friedfertigen, dann wieder klingt sie nur noch begütigend. Wenn es etwa heißt, der Krieg sei „kein Schleckhafen“, so mutet das allzu harmlos an. Doch vielleicht hat man ja damals daheim so empfunden. Wenn Rapp auf Fronturlaub nach Schwaben kommt, fängt er auch die dortige, seltsam unwirkliche Lage der Verhältnisse ein.

Mit moralisch sich erhaben dünkendem Halbwissen von heute darf man freilich nicht an diesen Roman herangehen. Natürlich kann man Rapps nur ansatzweise widerspenstige Denkungsart leichthändig verdammen. Ungleich schwerer wäre es schon, dies aus dem Bewusstsein der Zeit heraus zu tun. Und überhaupt: Wer von uns hätte in vergleichbarer Situation den offenen Widerstand gewagt?

Ein gewisses Unbehagen bleibt

Gewiss, an mancher Stelle beschleicht einen Unbehagen. Hat Lenz hier eine Apologie in eigener Sache verfasst? Hat er für Hanni festhalten wollen, dass er im größten Chaos stets an sie gedacht hat, auch in Phasen allgemeiner Auflösung keinen weiblichen Anfechtungen erlegen ist und dass er ihren Ring durch all die finstere Zeit gerettet hat? Ja, das mögen durchaus Antriebe des Schreibens gewesen sein. Und doch weist der Roman weit darüber hinaus. Abermals gepriesen sei das Gespür von Peter Handke, der Lenz einst nachdrücklich empfohlen und somit über eingeweihte Zirkel hinaus bekannt gemacht hat.

Dieser Neuauflage aus Anlass des 100. Geburtstages des Autors (1913-1998) sind einige erstmals publizierte Briefe von Hermann und Hanne Lenz aus der erzählten Zeit des Romans beigegeben. Es sind Auszüge aus einem umfangreicheren Schriftwechsel, dessen Edition noch bevorsteht. Darauf warten wir jetzt.

Hermann Lenz: „Neue Zeit“. Roman. – Mit einem Anhang: Briefe von Hermann und Hanne Lenz 1937-1945. Insel Verlag. 432 Seiten, 22,95 Euro.




Ein Monat mit den Ruhrnachrichten

Vor einigen Wochen habe ich mich an dieser Stelle von meinem langjährigen Abo der „Westfälischen Rundschau“ verabschiedet, weil diese Geisterzeitung keine eigene Redaktion mehr hat. Im April, der sich nun dem Ende zuneigt, habe ich ein Monats-Probeabo der Ruhrnachrichten (RN) bezogen. Ich werde es nicht in einen regulären Bezug übergehen lassen. Und warum nicht?

Ohne ins Detail einzelner Beiträge gehen zu können, sei eine Begründung gewagt. Vorab noch dies: Es geht hier nicht um Kollegenschelte, sondern um (Auswirkungen von) Strukturen.

P1060109Der Dortmunder Lokalteil (der seit Anfang Februar auch in der „Rundschau“ zu finden ist) mag angehen. Sie versuchen, „nah am Leser“ zu sein, wie es so schön heißt. Freilich bekommt man jetzt über Wochen hinweg den Eindruck, dass dort die tägliche Anspannung nachgelassen hat. Die RN haben am Ort keine Tageszeitungs-Konkurrenz mehr, können also hin und wieder die Zügel schleifen lassen.

In dieser Stadt und ihrem Umland muss jetzt jeder, der öffentlich wirken will, sich – noch mehr als vordem – mit den Ruhr Nachrichten gut stellen. Im Gegenzug geht diese eher CDU-geneigte Zeitung aber auch meist nicht allzu kritisch mit jenen um, die das Sagen haben. Niemand, und hätte er noch so ein edles Anliegen, kann ihnen mehr so kommen: „Wenn Sie es nicht bringen, dann gehe ich eben zur Konkurrenz…“

Auch habe ich mir glaubhaft sagen lassen, dass einzelne RN-Redakteure nun auf ziemlich hohem Ross sitzen, was etwa den Umgang mit Veranstaltern angeht. In einer Quasi-Monopolstellung glauben manche wohl, dass sie es sich halt erlauben können.

Die eigentliche Schwäche der Ruhrnachrichten ist allerdings der (über)regionale Haupt- oder Mantelteil. Es gibt Tage, da stammen gefühlte oder auch gezählte 70 bis 80 Prozent der Nachrichten und Berichte von den Agenturen dpa oder AFP. Das heißt, sie werden eben nicht in Dortmund recherchiert und geschrieben, sondern hier nur aufbereitet und zusammengestellt, gelegentlich auch kommentiert. So wirft sich die offenbar unterbesetzte Mantelredaktion nicht gerade häufig mit eigenen Schwerpunkten und Akzenten in die Bresche. Eine Ausnahme bildet die ansonsten allenfalls mittelprächtige Kulturseite. Hier wartet man überwiegend mit Eigenbeiträgen auf.

Nach dem Kraut- und Rüben-Prinzip

Die Verteilung im Blatt scheint – beginnend mit einer oft chaotisch layouteten Titelseite – vielfach dem Kraut-und-Rüben-Prinzip zu folgen. Man hat es versäumt, das Erscheinungsbild behutsam zu modernisieren und zu ordnen. Jetzt verspürt man wohl erst recht keinen Druck mehr, dies kostspielig nachzuholen.

P1060111Bei den Aufmachern auf der Titelseite ist die Redaktion zuweilen nicht allzu wählerisch. Tiefpunkt in den letzten Wochen war in der Ausgabe vom 9. April ein lieblos zusammengeschusterter, höchst redundanter Textaufmacher übers Wetter („Jetzt kommt der Frühling“), in dem gleich mehrfach zeilenschinderisch betont wurde, dass Regen der Preis für höhere Temperaturen sein werde. Zeitungen, die etwas auf sich halten, fangen ein solches Thema vorne lieber mit einem guten Bild auf und bringen einen etwaigen längeren Text im Inneren. Weiteres Beispiel ähnlichen Kalibers: Am 17. April wurden Rangeleien zwischen BVB-Fans um Tickets fürs Heimspiel gegen Madrid zum Aufmacher der ersten Seite.

„Da müssen wir durch – jeden Tag“

Die RN-Redaktion scheint gelegentlich froh zu sein, wenn sie meint, nicht mit Politik oder Wirtschaft „nach oben gehen“ zu müssen. Sie nutzt in diesem Sinne beinahe jede Chance. Politik ist ja auch garstig. Hauptsache, dass die im Schnitt herzlich harmlosen Glossen-Dreispalter am Fuß der Titelseite stehen und arglos milde Laune stiften. Just heute (30. April) steht da, sozusagen in eigener Sache, eine Glosse über die Flut oft bedeutungsloser Informationen, denen Journalisten ausgesetzt seien. Seufzer am Schluss: „Aber wir müssen da durch – jeden Tag“. Ach, die Kollegen tun einem leid.

Apropos BVB. Als Kennzeichen journalistischer Unabhängigkeit gilt es, sich nicht mit einer Sache gemein zu machen – ein Prinzip, gegen das in der Regionalpresse und speziell in Sportteilen häufig verstoßen wird. Die Ruhrnachrichten sind mächtig stolz darauf, als „Medienpartner“ des BVB zu firmieren und auf der Erfolgswelle des Vereins mitzuschwimmen. Ein Signal für die seit jeher enge Verbundenheit war es, dass der ehemalige RN-Sportredakteur Sascha Fligge 2012 als Pressesprecher zur Borussia gegangen ist. Schon sein Vorgänger Josef Schneck war von den Ruhr Nachrichten zum BVB gekommen. Da kann man von einer langjährigen Liaison sprechen.

Die Euphorie gänzlich verfehlt

Umso unverständlicher die RN-Titelseite vom 10. April – nach dem wahnwitzigen 3:2 gegen Málaga, das unbedingt in die Annalen des BVB eingeht. Die stocknüchterne Schlagzeile „3:2 – BVB im Halbfinale“ gibt auch nicht annähernd die euphorische Stimmungslage des Abends wieder – das müssen die Kollegen hinten im Sportteil besorgen („Wahnsinn in Schwarzgelb“). Erst einen Tag später sucht man das Versäumte auf Seite eins mühsam wettzumachen. Doch da passiert gleich der nächste Lapsus: Textaufmacher ist diesmal aus unerfindlichen Gründen die laue Vermutung, dass es eventuell „doch keinen zweiten verkaufsoffenen Adventssonntag geben“ werde. Wohlgemerkt, in der Augabe vom 11. April. Welch ein „Aufreger“…

Nach dem Anschlag beim Boston-Marathon bringt man es am 20. April fertig, das vermutlich nichtssagendste von allen verfügbaren Fotos auf die Titelseite zu stellen; noch dazu in einem unsinnigen Bildzuschnitt. Man vergleiche nur, was andere Zeitungen am selben Tag gebracht haben.

Natürlich gibt es auch gelungene Ausgaben, lesenswerte Texte, ansehnliche Bilder. Doch Tag für Tag finden sich lieblose Überschriften, die oft genug in die Irre führen und vom Text nicht gedeckt sind; Texte, die ihr Thema bei weitem nicht durchdringen und einen ratlos zurücklassen. Und immer mal wieder kommt es zu gravierenden Fehleinschätzungen. So fand sich zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Platzvergabe im NSU-Prozess auf der Titelseite nur eine dürre 11-Zeilen-Meldung.

Dauerhaftes Manko: Eine richtige Fernseh- oder gar Medienseite leisten sich die RN nicht, erst recht nicht mit rezensierenden Bestandteilen. Programmschema und Kurztipps müssen in aller Regel reichen.

Unerfahrene Mitarbeiter gesucht

Als sollte das Niveau noch gesenkt und die Blattproduktion nochmals verbilligt werden, suchten die Ruhrnachrichten am 17. April in einem treuherzigen Zweispalter des Dortmunder Lokalteils freie Mitarbeiter, die keine journalistische Erfahrung haben müssten.

Selbst wenn die WAZ jetzt weitere Stellen kürzt und auch ihren zentralen Essener Newsdesk verkleinert, wird sie doch im Vergleich mit den RN höchstwahrscheinlich immer noch den deutlich besseren Mantelteil vorweisen können. Ich sage das ganz nüchtern, ohne rasende Begeisterung.

Erst recht wird man wehmütig beim weiteren Blick zurück. Vor allem in jener Zeit, als es die „Westfälische Rundschau“ noch in voller Besetzung gab, hat die Konkurrenzlage auch in und um Dortmund das Geschäft belebt. Die WR-Redaktion hat stets einigen Ehrgeiz daran gesetzt, die Ruhr Nachrichten zu übertrumpfen – vielfach mit Erfolg. Mir scheint, dass auch die RN damals besser gewesen sind. Eine vergleichbare Ambition ist den Ruhrnachrichten heute nur noch selten anzumerken.

Andreas Rossmann schrieb denn auch am 28. Januar 2013 im Feuilleton der FAZ: „Die Schließung der Redaktion trifft Dortmund hart. Denn die WR war lange die bessere und, trotz SPD-Nähe und -Beteiligung, gegenüber der von Sozialdemokraten beherrschten Stadtverwaltung kritischere und engagiertere Zeitung.“

Triumph am regionalen Markt

Es ist doppelt betrüblich, dass in Dortmund, Lünen und Schwerte eine Zeitung wie die RN den Marktsieg davonträgt und gleichsam „triumphiert“. Man muss verlegerisch schon ziemlich ungeschickt operieren, um mit einem insgesamt besseren Produkt so zu scheitern.

Seit jeher haben die Ruhrnachrichten in Dortmund eine ungleich höhere Präsenz. Sie liegen in allen nennenswerten Geschäften aus, hatten stets mehr Familienanzeigen und Werbeprospekte als die Mitbewerber. Nur leicht übertrieben gesagt: Die RN scheinen zudem großen Wert darauf zu legen, dass in einem regelmäßigen Turnus alle Dortmunder auf Fotos im Blatt auftauchen. Leider wiegen solche scheinbar läppischen Äußerlichkeiten ziemlich schwer. Es geht nicht immer nur um hehren Journalismus.

Genug. Das war’s. Mit diesem Beitrag. Und mit dem RN-Abo. Und bitte, lieber RN-Verleger Lambert Lensing-Wolff, für dieses bescheidene kleine Consulting berechne ich nur den branchenüblichen Satz.




Noch ein neuer „Tatort“-Kommissar in Hamburg: Thorsten Falke ist ein Rock’n’Roller

Das gibt’s doch gar nicht. Schon wieder ein neuer „Tatort“-Kommissar. Und schon wieder einer in Hamburg. Doch, das gibt’s! Nach Tschiller (Til Schweiger) ist jetzt auch Falke (Wotan Wilke Möhring) in die quotenstarke Krimireihe eingestiegen. Besser noch: In der Vielzahl der „Tatort“-Ermittler ist das einer, den man sich merken sollte, ja muss.

Kommissar Falke (Wotan Wilke Möhring, rechts) und Kollegin Lorenz (Petra Schmidt-Schaller) bei einer Vernehmung. (Bild: ©NDR/Christine Schröder)

Kommissar Falke (Wotan Wilke Möhring, rechts) und Kollegin Lorenz (Petra Schmidt-Schaller) bei einer Vernehmung. (Bild: ©NDR/Christine Schröder)

Sein erster Fall hieß „Feuerteufel“ und begann mit einem „abgefackelten“ Auto, in dem offensichtlich eine Frau erstickt war. Ein Jugendlicher hatte, wie man gleich erfuhr, Bruchstücke des schrecklichen Geschehens mit dem Handy gefilmt. Über weite Strecken musste man ihn für den Schuldigen halten, der sich auch noch durch Erpressung und Kopfgeld furchtbar in die Enge treiben ließ.

Doch aus alter „Tatort“-Erfahrung wissen wir ja, dass jemand, der gegen 21.20 Uhr als Täter gilt, es eigentlich nicht gewesen sein kann. Und siehe da…

„Einsamer Wolf“ mit Katze

Folge eins eines neuen „Tatort“-Teams (Regie: Özgür Yildirim) muss immer auch genügend Platz haben für die anfängliche Charakterzeichnung. Dieser Thorsten Falke ist der Typ „einsamer Wolf“; ein Single, der sich am Nachtkiosk versorgt und am späten Feierabend mit seiner Katze redet („Wie war dein Tag heute?“). Ansonsten ist er sehr emotional, zuweilen aufbrausend, er leidet keineswegs unter Adrenalinmangel.

Wenn Falke in seinem Citroen älterer Bauart durch die Hansestadt kurvt, hört er Rock’n’Roll oder – in sentimentalen Stunden – melancholische Singer-Songwriter-Musik. Er kennt und duzt Leute aus der autonomen Szene und hat als verräterrischen Handy-Klingelton ein paar Takte aus „Sympathy for the Devil“ (Sympathie für den Teufel) von den Rolling Stones installiert. Noch Fragen? Ja, eine noch: Wenn ich das mit meinen begrenzten Hamburg-Kenntnissen richtig deute, wohnt er auch noch im aufsässigen Schanzenviertel. Wer weiß es besser?

Vielleicht knistert da etwas

Ein kerniger Kerl also, aber nicht ganz unsensibel. Als bekennender Macho behandelt er die neue Kollegin und Hospitantin Katharina Lorenz (Petra Schmidt-Schaller) von oben herab. Doch das gibt sich mit der Zeit. Und vielleicht knistert da sogar etwas. Die Blondine sieht nicht nur gut aus, sondern hat auch noch eine Menge auf dem Kasten. Gemeinsam sind die beiden wohl ebenso stark wie das vorherige Team Falke/Katz. Der alte Kumpel wird freilich Vater und hat sich in den Innendienst versetzen lassen. Falke zürnt und verspottet ihn als „Krawatten-Horst“. Auch die Zeichnung dieser Männerfreundschaft gehört zu den Stärken des Auftaktfilms.

Urgewalt des Feuers

Nicht, dass über all dem der Kriminalfall in Vergessenheit geraten wäre. Er wurde auch noch zusätzlich angereichert. Minter (Bernhard Schütz), der Witwer der anfangs verstorbenen Frau, ließ sich gar auf den Betreiber einer Polit-Kampagne („Mehr Sicherheit für Hamburg“) ein – ausgerechnet ein Autohändler. Unterstützt von einer aufgebrachten Presse, formierten sich dubiose Bürgerwehren, die auf Selbstjustiz aus waren. Bei all dem erhitzte sich das Klima buchstäblich und zusehends. Immer wieder wurde die Urgewalt des Feuers beschworen. Und viel war die Rede von der „Büchse der Pandora“ (Falke zuerst: „Hör mir auf mit dem Pornokram“), aus der dem antiken Mythos zufolge das Böse entweicht, dann aber auch die Hoffnung. So hat man auch etwas lernen können…

Dass die Gerichtsmediziner nichts Präziseres über den Erstickungstod der Frau herausfinden konnten, hat mich gewundert. Aber bitte. Ich bin da kein Experte. Hauptsache, dass es am Ende ein ordentliches Geständnis gibt.

Insgesamt überzeugte die Geschichte jedenfalls. Drehbuch, Dialoge, Darsteller, Spannungsbögen – alles in Ordnung. Nach dem Flop mit Tschiller könnte man sagen: eine erfreuliche Ehrenrettung für Hamburg!

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„Unaufgeregteste Großstadt“ der Republik oder etwa doch ein Provinznest?

Abseits des Fußballs gibt es immer wieder Anlässe, sich über Verhältnisse in Dortmund aufzuregen.

Stichwort neonazistische Umtriebe. Stichwort Verwahrlosung und Laden-Leerstände bis in die Innenstadt hinein. Stichwort desolate Zustände in Teilen der Nordstadt. Ach, ich werde des Aufzählens müde.

Da können Lokalpolitiker und harmoniegeneigte Lokalpresse (also praktisch nur noch die Ruhr Nachrichten) noch so jubeln oder beschwichtigen: Diese finanziell gebeutelte Kommune droht in vielen Bereichen dauerhaft auf den absteigenden Ast zu geraten.

Abriss des ehemaligen Gymnasiums an der Dortmunder Lindemannstraße (Foto: Bernd Berke)

Abriss des ehemaligen Gymnasiums an der Dortmunder Lindemannstraße (Foto: Bernd Berke)

Nicht nur Lokalpatrioten widerstrebt überdies jedes Ranking, bei dem Dortmund schlecht abschneidet – und das kommt oft genug vor, sei’s bei Statistiken aus dem Bildungsbereich, bei Einkommenstabellen oder Arbeitslosenzahlen.

Ein neueres Beispiel einer solchen Liste kommt von der Job- und Karriere-Plattform „Xing“, die unter ihren Mitgliedern eine (freilich alles andere als repräsentative) Umfrage veranstaltet hat.

Gerade mal 845 Nutzer haben daran teilgenommen. Piepegal. Daraus lassen sich trotzdem knackige Ergebnisse filtern und dann kraftvoll ausposaunen. Man nehme also die zwölf einwohnerstärksten Städte Deutschlands und frage, in welchem Ort der Xingler (oder Xingling, Xingle?) gern bzw. ungern arbeiten würde. Und welche Weltsensation kommt heraus? In Front liegt Hamburg (hier wollen 42% gern arbeiten) vor München, Berlin, Köln und Stuttgart; am schäbigen Ende rangiert Essen (48 Prozent winken ab) vor Dortmund, Leipzig, Dresden und Frankfurt. Na klar. Immer mal wieder feste druff auf Ruhris und Ossis.

Zuweilen glaubt man allerdings tatsächlich, dass Dortmund mit seinen rund 580 000 Einwohnern Züge eines Provinznestes hat. Wollte man’s positiv wenden, so kramte man die gute alte Formulierung aus der Wochenzeitung „Die Zeit“ hervor: Dortmund sei die „unaufgeregteste Großstadt der Republik“, hieß es dort mal vor Jahr und Tag. Der Satz gilt, mit einer Prise Ironie gesprochen, heute noch.

Und wo hätte ich nun neuerdings Kennzeichen der Provinzialität entdeckt? Dazu zwei vermeintlich unscheinbare, doch kennzeichnende Beispiele.

Beispiel 1: In der ganzen großen Stadt findet sich freitags kein einziger Briefkasten, der noch nach 19 Uhr geleert würde – auch nicht an der Hauptpost. Man muss statt dessen in sehr entlegene Ecken von Hagen oder Essen (exotischer Ortsteil Vogelheim) fahren, um dann noch dringliche Post loszuwerden. Eine Angelegenheit der Deutschen Post, gewiss. Und nicht ganz so ärgerlich wie der schlampige Umgang der Deutschen Bahn mit dem Dortmunder Hauptbahnhof. Aber immerhin.

Briefkasten mit freitäglicher Abendleerung - weit draußen in Hagen. (Foto: Bernd Berke)

Briefkasten mit freitäglicher Spätabendleerung – weit draußen in Hagen. (Foto: Bernd Berke)

Beispiel 2: Am allzeit defizitären Dortmunder Flughafen, der vor allem Billigflieger-Verbindungen nach Osteuropa offeriert, sich als internationaler Airport versteht und derzeit versucht, das Nachtflugverbot aufzuweichen, leistet man sich einen geradezu lächerlichen Service-Mangel. Auf der Besucherterrasse, die viele Menschen mit ihren Kindern aufsuchen, ist kein einziges Kindergericht erhältlich. Ja, die Betreiber sehen sich nicht einmal in der Lage, einfach mal kleinere Portionen für kleinere Leute zu servieren. Das ist eine ähnliche Negativwerbung wie hie und da im Westfalenpark, wo an bestimmten Punkten oft die geringsten Bedienungsstandards missachtet werden. Genau dort, wo die meisten Gäste von außerhalb auftauchen, zeigt man sich besonders unwillig.

Wenn wir schon mal beim Querulieren sind, sei nun auch noch dies angemerkt: Dortmund ist nicht grade reich an historischem Baubestand. Da wiegt es schon doppelt schwer, dass jetzt an der Lindemannstraße das einstige Königliche Gymnasium (später Kaserne, Staatliches Gymnasium, Lehrerseminar) aus dem Jahr 1907 kurzerhand abgerissen wurde, um einem ein ziemlich gesichtslosen Wohn- und Geschäftshaus mit dem superschicken Namen „Four Windows“ Platz zu machen. Die lokal leider konkurrenzlosen Ruhr Nachrichten vermelden den baulichen Verlust ohne kritischen Unterton. Man wird doch keine Investoren verschrecken wollen…

Ja, ich gebe zu, dass ich mich mit dem Bauwerk auch persönlich verbunden fühle. Ich bin in der parallel laufenden Arneckestraße aufgewachsen. Der Balkonblick über den begrünten Hinterhof fiel auf den mächtigen Giebel und den klassisch gegliederten Baukörper des damaligen Gymnasiums. Damit verschwindet also auch wieder ein Stück der Kindheit. Als ich jetzt dort Fotos vom Abriss gemacht habe, kam gleich jemand auf mich zu und sagte: „Das da tut mir in der Seele weh. Hier bin ich zur Schule gegangen.“ Worauf ein längeres, recht einvernehmliches Gespräch über Dortmunder Defizite folgte.

Unabhängig davon frage ich mich, ob die Denkmalschützer hier nichts Erhaltenswertes gesehen haben und warum ausgerechnet die Bewohner des umliegenden, linksliberal und grün-alternativ geprägten Kreuzviertels (mit Abstrichen: Dortmunds „Prenzlauer Berg“) in dieser Angelegenheit still und stumm geblieben sind.

Warum wohl trifft es viele so hart, wenn einer wie Mario Götze den Lockungen aus München folgt? Weil es hier manchmal doch etwas trist wäre, wenn wir den Fußball und den jetzt so grandiosen BVB nicht hätten! Na gut: Und noch ein paar andere herrliche Sachen.




Hoeneß, Götze und der ganze Mist

Die Nachricht kam überfallartig: Wie zuerst die „Bild“-Zeitung berichtete, wechselt Mario Götze am 1. Juli 2013 für 37 Mio. Euro von Borussia Dortmund zum FC Bayern München. Inzwischen hat der BVB den Bayern-Coup bestätigt.

Bereits als Neunjähriger hat der gebürtige Allgäuer und womöglich begabteste deutsche Fußballer beim BVB gespielt, vorher hat er in Dortmund-Hombruch gekickt. Er galt also längst (ebenso wie die in Dortmund geborenen Marco Reus und Kevin Großkreutz) als einer der „Dortmunder Jungs“, als familienverbunden und „bodenständig“; als einer, der wegen ein paar Millionen nicht gleich abhebt. Auch hat Götze in Interviews immer gern das Hohelied auf Dortmund gesungen.

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Nun müssen wir dieses idyllische, sicherlich sehr naive Bild schleunigst revidieren. Es ist natürlich wieder nichts mit den hehren Sprüchlein à la „Elf Freunde müsst ihr sein“! Zwar hatte Götze seinen Vertrag beim BVB bis 2016 verlängert, doch gab es offenbar eine Ausstiegsklausel, derzufolge er den Verein für just 37 Mio. Euro vorzeitig verlassen darf. So weit ist formal alles in Ordnung.

Aber irgendwann muss mir mal einer schlüssig erklären, wieso jemand, der bereits viele Millionen anhäuft, partout noch mehr Millionen scheffeln will – und das trotz sportlicher Perspektiven, die eventuell gar nicht schlechter sind als in München.

Wer hat der „Bild“ den Tipp gegeben?

Dass diese Transfer-Geschichte ausgerechnet mit teuflischer Pünktlichkeit zum Halbfinale der Champions League öffentlich lanciert wird, dürfte erhebliche Unruhe im Dortmunder Team stiften. Der FC Bayern hatte seit jeher ein Interesse daran, die Bundesligakonkurrenz zu schwächen, nicht nur durch Wegkauf der wichtigsten Spieler. Da hegt man denn doch den Verdacht, der diskrete Tipp an das Boulevardblatt könnte aus den Kreisen der obersten Bayern-Etage gekommen sein. Dort haben sie ja auch indirekt mit der Steueraffäre Hoeneß zu tun, von der sie liebend gern ablenken möchten.

Und jetzt mal ganz wild spekuliert: Könnte dieser heiße Tipp an die „Bild“ gar mehr oder weniger stillschweigend mit der Erwartung verknüpft sein, dass dort wohlwollender oder zumindest weniger zupackend über den Steuerfall Hoeneß berichtet wird? Es gab ja schon immer Leute, die gehofft haben, mit der „Bild“ (wieder) den Fahrstuhl nach oben zu besteigen.

Doch halt! Das sind pure Phantasiespiele. Mag sein, dass sich alles ganz anders verhält. Die offizielle Münchner Lesart schaut so aus (Zitat aus „Spiegel online“): „Aus Rücksicht auf das anstehende Spiel des BVB wollten die Bayern den Wechsel ‚erst nach dieser Begegnung gegenüber dem BVB anzeigen’, heißt es in einer Presseerklärung der Münchner.“

Wie überaus rücksichtsvoll.

Geschwafel über „spanische Verhältnisse“

Dass Bayern-Präsident Uli Hoeneß kürzlich über „spanische Verhältnisse“ in der Bundesliga gebarmt hat (will sagen: nur zwei dominierende Vereine, nämlich Bayern und BVB, alle anderen hinken nach) und angeblich großmütig gegensteuern wollte, erweist sich jetzt als Geschwafel, als heiße Luft – wie so vieles, was Hoeneß im Laufe der Jahre von sich gegeben hat. Nun ahnt man auch, warum BVB-Trainer Jürgen Klopp im Gegenzug von „schottischen Verhältnissen“ geredet hat (will sagen: nur ein dominierender Verein, nämlich Bayern). Da muss Klopp schon etwas vom Götze-Deal gewusst haben.

Wie immer das fiskalische Verfahren um Uli Hoeneß ausgehen mag, so steht für mich doch eins fest: Bis gestern war ich in der rein sportlichen Frage noch schwankend bis neutral, doch jetzt drücke ich (und gewiss nicht nur ich) heute Abend und am nächsten Mittwoch dem FC Barcelona bei den Halbfinalspielen gegen die Bayern fest die Daumen. Señor Messi, walte Er seines Amtes und netze Er mit seinen Compañeros tüchtig ein!

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Abendlicher Nachtrag: Zur Zeit führt im Nachrichten-Rennen wieder Uli Hoeneß. Wie die „Süddeutsche Zeitung“ berichtet, ist Hoeneß bereits am 20. März festgenommen worden. Doch der Haftbefehl sei seinerzeit gegen Zahlung einer Kaution (5 Millionen Euro) außer Vollzug gesetzt worden. Der Vorgang sei aber vielleicht ein Hinweis darauf, dass Hoeneß‘ Selbstanzeige vom Januar möglicherweise nicht strafbefreiend wirke.

Spätabendlicher Nachtrag: Wenn ich schon mal die Daumen drücke! 4:0 für Bayern. Gewiss, nicht alle Tore waren regulär. Aber den Barça-Leuten muss jemand ein Schlafmittel in den Tee getan haben.

Zeitloser Nachtrag: sport1.de am 4. Januar 2012: „FC Bayern-Präsident Uli Hoeneß lehnt eine horrende Ablösesumme bei einem möglichen Transfer für Dortmunds Nationalspieler Mario Götze ab. „40 Millionen Euro oder mehr – das würden wir nie machen“, sagte Hoeneß der „Sport-Bild“ (…) Ohnehin glaubt Hoeneß nicht an einen bevorstehenden Götze-Transfer: „Wo sollte er denn bei uns im Moment spielen?““




Jauchs Talkshow: Mutmaßungen über Hoeneß

Übers Wochenende ist ein Thema hochgekocht, für das Günther Jauch seine ARD-Talkrunde in Windeseile hat umplanen lassen. Die Rede ist natürlich vom Präsidenten und Patriarchen des FC Bayern München, Uli Hoeneß, der Steuern in Millionenhöhe hinterzogen haben soll.

Fernsehleute (und viele Zuschauer) gieren nach Themen, die sich so kraftvoll personalisieren lassen. Welch eine tragische Fallhöhe! Da steht der FC Bayern gerade kurz vor dem sportlichen und wirtschaftlichen Zenit. Da schickt man sich an, am nächsten Dienstag und in der Folgewoche den FC Barcelona zu besiegen und ins Finale der Champions League vorzudringen.

Tiefer Fall einer moralischen Instanz

Und ausgerechnet jetzt wird – durch Recherchen des „Focus“ – bekannt, dass der Übervater des Vereins, der Mann, der vielen als Vorbild oder gar als moralische Instanz galt, nicht nur unter Verdacht steht. Nein, Uli Hoeneß hat tatsächlich (schon im Januar) Selbstanzeige erstattet und damit bereits nicht geringe Verfehlungen zugegeben. Über die Ausmaße wird ebenso spekuliert wie über die Frage, ob die Selbstanzeige „strafbefreiend“ wirkt. Schlimmstenfalls würde Hoeneß sogar eine Gefängnisstrafe drohen.

Günther Jauch (© ARD/Marco Grob)

Günther Jauch (© ARD/Marco Grob)

Eine Talkshow, die sich zum jetzigen Zeitpunkt auf das Thema stürzt, läuft Gefahr, zum Tribunal oder zum öffentlichen Pranger zu werden. Doch Günther Jauch lenkte das Gespräch nicht nur in recht vernünftige, relativ ruhige Bahnen, er hatte auch Gäste geladen, denen bewusst war, dass es sich um ein schwebendes Verfahren handelt und dass man einstweilen vielfach nur Mutmaßungen anstellen kann.

Enttäuscht und fassungslos

Dennoch war spürbar, dass die Enttäuschung über Hoeneß überwiegt, der sich 2012 – just bei Jauch – gegen eine drohende „Reichensteuer“ empört und noch dazu gesagt hatte, manche gingen dann eben mit ihrem Geld in die Schweiz. Jetzt wissen wir, dass er selbst offenbar Millionen im Nachbarland gebunkert hatte.

Der langjährige ZDF-„Sportstudio“-Moderator Dieter Kürten, zudem mit Hoeneß befreundet, war ersichtlich völlig aus der Fassung. Er möchte nach wie vor an Hoeneß festhalten und am liebsten alles auf schlechte Berater schieben. Bedeutend strenger äußerten sich hingegen NRW-Finanzminister Norbert Walter-Borjans und vor allem der frühere Steuerfahnder Dieter Ondracek, eine nahezu alttestamentarische Erscheinung. FDP-Mann Wolfgang Kubicki, Fachanwalt für Steuerrecht, konnte sich vorstellen, dass die Selbstanzeige von Hoeneß vielleicht nicht rechtzeitig oder vollständig genug eingegangen sei, um noch die erwünschte Wirkung zu erzielen. Könnte es Kubicki gar reizen, einen solch interessanten Fall anwaltlich zu übernehmen? Egal.

„Focus“-Chefredakteur Jörg Quoos sonnte sich anfangs im Erfolg seines Blattes, die Nachricht zuerst gehabt zu haben. Mit zunehmender Dauer schien er unwirsch zu werden, weil er feststellen musste, dass inzwischen andere Presseorgane den Vorsprung mindestens aufgeholt haben. So ist das im schnelllebigen Geschäft; erst recht, seit es das Internet gibt.

Gefundenes Fressen für manche Bayern-Gegner

Jungmoderator Oliver Pocher schließlich mimte ein wenig den „Klassenclown“ und wollte unentwegt locker wirken. Doch bei manchen Themen ist eine solche Grundhaltung etwas fehl am Platze. Immerhin bekam Pocher Szenenapplaus aus dem Saalpublikum, als er meinte, die Mannschaft des FC Bayern werde sich von all dem Gerede nicht irritieren lassen. Tatsächlich geht es ja um privates Geld und nicht um die Festgeldkonten des Vereins. Als Dortmunder und BVB-Anhänger weiß ich, wovon ich rede und was ich so höre: Man kann ziemlich sicher gehen, dass manche Bayern-Gegner quer durch die Republik derzeit klammheimliche Freude empfinden, weil das „Mia san mia“ Risse zu bekommen scheint. Kein schöner Zug.

Ein Thema wird „durchgehechelt“

Nebenher wurde in der Sendung noch ein spezielles Fass aufgemacht: Wer hat eigentlich die ersten Informationen an den „Focus“ gegeben? Für die Ermittlungsbehörden hielten alle die Hand ins Feuer. Und „Focus“-Chefredakteur Quoos wehrte entschieden ab, als hierbei der Name seines prominenten Vorgängers Helmut Markwort genannt wurde, der auch im Aufsichtsrat der Bayern sitzt…

Eins aber ist klar. Bevor die Steuerfahnder ihre Arbeit gemacht und bevor Richter über die Sachverhalte befunden haben, ist das Thema beim Fernsehen längst „durchgehechelt“. Schon an diesem Montag geht’s bei Frank Plasbergs „Hart aber fair“ weiter – mit der etwas scheinheilig klingenden Fragestellung: „Ausgerechnet Hoeneß – wem kann man jetzt noch trauen?“

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