Bochum, Buddy Holly und überhaupt: Als Wolfgang Welt die Treibsätze seiner Texte zündete

So einen gibt es nur in Bochum, also wird die Geschichte immer wieder gern aufgegriffen, wenn es um Wolfgang Welt geht: Der Mann ist Nachtportier im Schauspielhaus – u n d Autor des hochmögenden Suhrkamp-Verlages, seit der berühmte Peter Handke sich vor Jahren für ihn stark gemacht hat. So. Damit hätten wir das hinter uns gebracht.

Fürsprecher Handke hat jetzt auch ein kurzes Vorwort zu Welts gesammelten (vorwiegend journalistischen) Texten der Jahre 1979 bis 2011 beigetragen.

Der Band führt vor allem in Wolfgang Welts Frühzeit zurück, als er speziell Rockmusik, dann aber auch Literatur fürs Ruhrgebiets-Szenemagazin „Marabo“ besprochen hat. Später ging’s auch in Blättern wie „Musikexpress“ zur Sache.

Man erlebt gleichsam schreiberische Fingerübungen, zunächst vielfach noch unscheinbar oder gar unbedarft, gleichwohl schon vehement meinungsfreudig, ja manchmal sogar eminent präpotent.

Ich bin beileibe weder Grönemeyer- noch Müller-Westernhagen-Fan und gewiss auch kein Anhänger von Heinz Rudolf Kunze, doch darf man diese Leute so beleidigend wie folgt abkanzeln?

„Was sich (…) Grönemeyer (…) hier geleistet hat, ist wie schon bei seinem Debüt vor zwei Jahren unter aller Sau.“

Über das Lied „Von drüben“ von Marius Müller-Westernhagen („musikalisch armseliges Würstchen“): „Dieses Stück Scheiße ist an Erbärmlichkeit nicht zu übertreffen. (…) Hoffentlich verliert Müller-Westernhagen bald seine Stimme.“

„Heinz Rudolf Kunze ist eine Null. Er selber weiß es am besten.“

Ist da etwa ein Drecksack am Werk?

Das liest sich ganz so, als wolle da jemand die Kritisierten ein für allemal „erledigen“ und weghaben. Es hat schon gewisse Drecksack-Qualitäten, oder? Eigentlich kein Wunder, dass er auch schon mal als „Aufsatz-Ayatollah“ bezeichnet worden ist. Immerhin hat sich Welt, ausweislich eines viel späteren Textes, mit Grönemeyer nicht auf ewig zerstritten.

Auch wenn er lobte und pries, erging sich Wolfgang Welt (vielsagendes Power-Autorenkürzel „WoW“) vor allem in wuchtig vorgetragenen Gefühlsurteilen, die er gar nicht großartig begründen mochte, darin fast schon einem Reich-Ranicki vergleichbar. Buddy Holly war und ist demnach der Abgott aller populären Musik. Auch eher entlegene Größen wie Phillip Goodhand-Tait oder der Schlagersänger Willy Hagara gelten ihm viel. Vom „Abschaum“ haben wir ja schon gehört. Übrigens: Auch „Rockpalast“-Macher Peter Rüchel gehört zu den Schimpfierten, wohingegen dessen zeitweiliger Mitstreiter Alan Bangs… Aber lest selbst!

Ein häufig bemühtes, wahrlich dürftiges Hauptkriterium seiner frühen Musikbesprechungen ist, dass Künstler mit über 30 zu alt seien, um richtig zu rocken. Ach, du meine Güte! Auch ahnt man zunächst nicht, dass einem jemand mit abgegriffensten Formulierungen wie „Kafka lässt grüßen“, „Ein Buch, aus dem man viel lernen kann“ oder „Beide Scheiben waren weltweite Hits“ je etwas Wissenswertes mitzuteilen haben würde. Vereinzelte sprachliche Unfälle wie diesen hätte das Buchlektorat nachträglich korrigieren sollen: „Von seinem älteren Bruder hatte er bereits zuvor einige einfache Griffe beibekommen gekriegt…“

Hässlichkeit, Melancholie und Würde des Reviers

Jetzt aber endlich das Positive! Und das ist viel mehr.

Irgendwann, zunächst beinahe unmerklich, sodann mit steigender Frequenz, macht es in den assoziativ aufgeladenen Beiträgen („Ich will jetzt schreiben, was mir einfällt“) sozusagen „Klick“. Es beginnt mit Authentizität signalisierenden Bemerkungen: „Ich gebe zu, ich kann kaum verbalisieren, was ich beim Anhören dieser Platte empfunden habe, dazu hat sie mich viel zu sehr berührt.“ Auf einmal aber findet sich ein ungeahnt neuer Ton, der einen mäandernd mitzieht, der sich ganz eigen anhört. Und dieser Sound wird kräftiger! Es klingen chaotisch bewegte Ruhrgebiets-Nächte mit. Die Sätze nehmen wilde, sehnsüchtige Lebensfahrt auf, künden aber auch immer wieder von Hässlichkeit, Melancholie und Würde des vergehenden Reviers von einst.

Dabei zeigt sich unversehens: Buddy Holly und die Wilhelmshöhe (ehemaliges Zechenviertel in Bochum, Welts engere Heimat zwischen Maloche, Fußball und Suff) sind nicht sternenweit voneinander entfernt, sind keineswegs unvereinbare Gegensätze. Ich bin bestimmt nicht der erste, der das schreibt, doch Wahrheiten darf man gelegentlich wiederholen: Bei Wolfgang Welt findet sich das Ruhrgebiet unversehens als Gelände der weltweiten Bewegung im Gefolge des Rock’n’Roll wieder. Den sinnhaltigen Kalauer von der „Welt-Literatur“ haben auch schon andere losgelassen.

Wo anfangs noch Dilettantismus spürbar war, freilich oft schon von wacher Neugier angetrieben, da zahlt sich nun außerdem die zunehmende Repertoire-Kenntnis aus. Welt wird erfahrener, urteilsfähiger, wohl auch Zug um Zug geschmackssicherer.

Es ist frappierend zu sehen, in welchem Maße und wie schnell sich dabei sein Stil zum Guten und manchmal Genialischen hin verändert. Als jemand vom selben Jahrgang, der etwa zur gleichen Zeit mit dem beruflichen Schreiben begonnen hat, muss ich ihm erst recht Bewunderung zollen. Die Treibsätze seiner besseren Texte hätte man gern auch mal gezündet. Von den Romanen („Peggy Sue“, „Der Tick“) erst gar nicht zu reden.

„It’s better to burn out…“

Einlässlich und mit Gespür für Gewichtungen hat sich Wolfgang Welt mit Kultur-Gestalte(r)n aus der Region befasst. Mit Respekt werden Max von der Grüns Roman „Flächenbrand“ oder Jürgen Lodemanns Theaterstück „Ahnsberch“ besprochen, mit freundschaftlicher Sympathie wird der Dortmunder Schriftsteller Wolfgang Körner erwähnt. Werner Streletz (Marl/Bochum), damals noch am Anfang seines literarischen Schaffens stehend, erhält sogleich das Prädikat „beachtlich“.

Dass Wolfgang Welts Lebensweg zwischenzeitlich auch in psychiatrische Behandlungen führte, könnte tatsächlich innigst mit seiner wildwüchsigen Art des Schreibens zu tun haben und den Titel der Sammlung beglaubigen: „Ich schrieb mich verrückt“. Alles hat seinen Preis. Doch wie sang jener (nicht mehr ganz junge) Rockstar: „It’s better to burn out than it is to rust…“

Neuerdings scheint Wolfgang Welt etwas ratlos und verloren um die alten Themen zu kreisen, ohne ihnen wesentlich Neues abzugewinnen. Ausdrücklich heißt es an einer Stelle, dass sein Interesse an Musik geschwunden sei. Da ist ein Feuer erloschen. Und das kann einen ziemlich traurig machen.

Wolfgang Welt: „Ich schrieb mich verrückt“. Texte 1979-2011 (Hrsg. Martin Willems). Klartext Verlag, Essen. 358 Seiten. 19,95 €

P. S.: In einem lakonischen Interview am Schluss des Bandes nennt Wolfgang Welt den Schriftsteller Hermann Lenz als Vorbild und äußert sich so zum Revier: „Weil ich illusionslos bin, was das Ruhrgebiet anbetrifft. Ich finde, es ist ein Haufen Scheiße.“

Ein weiteres Interview mit Wolfgang Welt (von www.bochumschau.de) findet sich hier.




Grundkurs Musik, zuweilen herzbewegend: Joachim Kaiser erklärt die Welt der Klänge

Das Publikum fragt – der Kritiker antwortet. So ist Joachim Kaisers Buch „Sprechen wir über Musik“ entstanden.

Der Mann, der seit vielen Jahrzehnten vor allem für die Süddeutsche Zeitung über so genannte E-Musik schreibt, hat sich auf seine etwas älteren Tage nicht gescheut, in einem Videoblog aufzutreten, um auf Fragen der geneigten Leser und User einzugehen. Dass das Ganze zu einem gedruckten Buch geronnen ist, verwundert ebenso wenig wie die Tatsache, dass parallel ein Hörbuch erscheint. Der Urheber liest leidlich, mit etwas schütter gewordener Stimme, seine Tochter Henriette führt Regie.

Was ist eigentlich „deutsch“ an deutscher Musik? Wer war besser: Bach oder Mozart? Warum muss es eigentlich Musikkritiker geben? Mag auch manche Frage reichlich unbedarft klingen, so gilt doch bei diesem Grundkurs letztlich die Sesamstraßen-Weisheit: Wer nicht fragt, bleibt dumm. Joachim Kaiser lässt sich offenbar herzlich gern herbei, unterhaltsam auf allerlei Wissbegier einzugehen. Apropos herzlich: Eine seiner Lieblingsvokabeln zur Kennzeichnung grandioser Musik, so verrät er, sei „herzbewegend“. Doch auch er hat natürlich vielfach die Erfahrung aller ernsthaften Rezensenten gemacht: Einen „Verriss“ zu schreiben, das sei bedeutend leichter, als ein fundiertes Lob zu formulieren.

Kaisers Ausführungen geraten jeweils kurz und knapp, er greift vielfach rasch und bereitwillig zu Anekdoten. Selten geht er analytisch vor, sondern stellt lieber – gestützt durch immense Hörerfahrung – Qualitäts-Behauptungen auf, an die man sich halten kann oder auch nicht. Er kommt nicht umhin, gelegentlich den Partyplausch zu bedienen. Seht her, wie leichtfüßig man über Klassik parlieren kann (und dabei auch schon mal haarscharf am Gemeinplatz entlang schrammt). Natürlich darf bei all dem der Gestus des „Ich kannte sie alle persönlich“ nicht fehlen. Motto: Als ich einst mit Karajan beisammen saß… Nun ja, ein solcher „Großkritiker“ darf das immerhin mit gewissem Recht sagen.

Tatsächlich mag es ja für den Laien spannend sein, zu erfahren, wen einer wie Kaiser für das Nonplusultra des Pianistentums hält: Rubinstein oder Horowitz? Unterwegs gelingen ihm jedenfalls immer wieder Textpassagen, die Lust aufs Hören der genannten Werke wecken. Dabei bewegt er sich überwiegend auf längst bestens befestigten Pfaden: Indem er erläutert, was die Größe etwa von Richard Wagner, Wilhelm Furtwängler, Franz Schubert oder Maria Callas ausmacht, schließt er zumeist weit offene Türen auf. Übrigens lässt er es auch durchgehen, wenn jemand Mozarts „Kleine Nachtmusik“ mag, denn irgend etwas müsse ja dran sein an solchen populären Stückchen. Hauptsache, man werde durch sie auf andere Schöpfungen neugierig.

Freilich werden auch flugs die feineren Unterschiede zwischen Stretta- und Cabaletta-Schlüssen (Einzelheiten bitte selbst nachlesen) erwogen, oder es wird das fragile Wesen von Pausen und Stille ein wenig ausgelotet. Kaiser relativiert das sonst so gedankenlos benutzte Wort „Hochkultur“. Franz Schubert, so Kaiser, habe seinerzeit zur „Subkultur“ gehört – im Gegensatz zum bereits etablierten Beethoven, der zur Hochkultur gezählt habe. Einige Jahre früher müsste demnach Beethoven seinerseits „Underground“ gewesen sein. Ein Gedankengang, der seinen Reiz hat und nebenher auch den markigen Rockspruch „Roll over Beethoven“ auf Normalgröße schrumpfen lässt.

Aus dem Herzen spricht mir Kaiser, wenn er gegen egozentrische Werkzertrümmerer eines überzogenen „Regietheaters“ angeht, denen Sinn und Form eines Theaterstücks oder einer Oper einerlei sind. Dem entspreche eine weit verbreitete Marotte der Kritik, welche die Sängerleistungen oft nahezu ignoriert, wie Kaiser zugespitzt darlegt: Über 200 Zeilen werde weitschweifig das Für und Wider des Regiekonzepts ausgebreitet – „und ganz zum Schluss heißt es knapp: ‚Der sang leis, und der sang laut.’“

Joachim Kaiser: „Sprechen wir über Musik. Eine kleine Klassik-Kunde.“ Siedler Verlag, 176 Seiten, 16,99 Euro.
Als Hörbuch: 2 CD, ca. 2 Stunden und 6 Minuten, Der Hörverlag, 19,99 Euro.

(Buch und Hörbuch erscheinen am 19. November)

Videotrailer mit Joachim Kaiser und Leseprobe (Werbematerial des Siedler-Verlages):
http://tinyurl.com/cdrdx93




Vorfälle (1): Pietät, Jugendschutz, Amadeus

Es gilt diverse Vorfälle abzuhandeln, die zu denken geben. Oder auch nicht. Oder so ein bisschen.

Zum einen lag in der heutigen Post das Reklameschreiben eines Dortmunder Steinmetzmeisters, der jetzt endlich mal aufs Ganze geht und das bräsige, verdruckste Pietäts-Geschwurbel seiner Branche beherzt hinter sich lässt. Also lautet sein flotter Slogan:

„Sparen bei unserer stürmischen Herbst-Aktion“

Das fetzt, nicht wahr? Und wenn man dann noch den megageilen Teaser liest, der da verheißt:

„Wir schenken Ihnen eine Grablampe (gültig …bis 30. November)“,

dann zieht man sich auch noch den süffigen Rest rein, in dem die Trauer endgültig ertrinkt:

„Wenn das Laub bunt von den Bäumen und Sträuchern fällt, fallen…die Preise.“

Alles, alles fällt und fällt. Ach, wer da mitfallen könnte!

Zwanglos leite ich über zu einem Geständnis: Ich habe Beihilfe zur Umgehung des Jugendschutzes geleistet. Das kam so:

Bezahlzone im Supermarkt. Man steht mal wieder in der Problemkassen-Schlange. Vorne diskutiert die Kassiererin mit einem Jungspund, der einen Kasten Pils und eine Flasche Wodka kaufen will. Ist er nun unter oder über 18 Jahre alt? Schwer zu sagen. Er hat jedenfalls keinen Ausweis dabei. Sagt er.

Die Angestellte nimmt ihren Job ernst, ist aber alles andere als entscheidungsfreudig. Zunächst lässt sie die Wartenden in der Schlange schätzen, wie alt der Junge wohl sei. Das gibt ein großes Hallo, ein munteres Hin und Her. Aber keine Lösung. Nun ruft sie hintereinander zwei Kolleginnen zu sich, die beim Ratespielchen mitmachen und Entscheidungshilfe geben sollen. Beide wollen es hinterher nicht gewesen sein und sagen sinngemäß: „Was sollen wir dir raten? Es ist deine Kasse.“ Nun ist sie vollends verunsichert. Die Reihe der Wartenden wird derweil lang und länger.

Da fasse ich mir ein Herz und schlage einen Kompromiss vor: „Geben Sie ihm doch den Kasten Bier, aber nicht den Schnaps.“ Sei’s, dass dies tatsächlich salomonisch klingt, sei’s, dass ich mir einen Rest von Autorität bewahrt habe (Weisheit des gemessenen Alters!): Die Dame an der Kasse folgt meinem Vorschlag ohne jedes Zögern. Denke mal, die Menschen weiter hinten in der Schlange haben es zu schätzen gewusst. Ich aber habe mich mitschuldig gemacht, denn es war wohl doch ein fauler Kompromiss. Was sagen die allzeit sprungbereiten Ethiker?

Zu allem Überfluss kam mir dieser Tage eine beflissene, bestimmt klassisch gebildete Mutter entgegen, die in den Kinderwagen hinein sprach: „Möchtest du etwas trinken, Amadeus?“ Und das, obwohl der Wunderknabe schätzungsweise unter 18 war!




Langer Nachhall: Was Recklinghausen am Kunstpreis „junger westen“ hat

Wenn ein Kunsthaus einen Querschnitt durch den Eigenbesitz zeigt, so ist das vielleicht nicht sonderlich spektakulär, es hat aber doch etwas für sich. Zum einen sind die Kosten einer solchen Sichtung überschaubar, zum anderen schärft man den Sinn für Profil und Schwerpunkte der Sammlung. Mag sein, dass sich die künftige Ankaufspolitik danach neu ausrichtet.

Die Kunsthalle Recklinghausen verdankt ihre Bestände ganz wesentlich dem Kunstpreis „junger westen“, der aus der gleichnamigen Künstlergruppe (Gründung 1948 / Auflösung 1962) hervorgegangen ist. Deren Mitbegründer Thomas Grochowiak war von 1953 bis Ende der 1970er Jahre Direktor der Kunsthalle. Kein Wunder, dass andere Künstler aus seinem Netzwerk hier Heimstatt und Hafen fanden.

Wenn jetzt ein Überblick zu den Preisträgern von 1948 bis 2011 gezeigt wird, so erweisen sich womöglich Stärken und Schwächen, gewiss auch schmerzliche Lücken der Sammlung. Auch kann man ungefähr ermessen, was heute noch Bestand hat und was dem Vergessen anheimgefallen ist.

Kunsthallen-Leiter Ferdinand Ullrich (li.) und sein Stellvertreter Hans-Jürgen Schwalm mit dem Objekt "3er Sitz" des Hamburgers Stefan Kern (Preisträger des Jahres 1995). (Foto: Bernd Berke)

Kunsthallen-Leiter Ferdinand Ullrich (li.) und sein Stellvertreter Hans-Jürgen Schwalm mit dem Objekt "3er Sitz" des Hamburgers Stefan Kern (Preisträger des Jahres 1995). (Foto: Bernd Berke)

Genereller Eindruck: Die allermeisten Arbeiten sind auch jetzt noch durchaus vorzeigbar oder haben mit den Jahren gar an Bedeutung gewonnen, so etwa Bilder des nachmals weltberühmten Emil Schumacher, als er noch nicht dem Informel zugerechnet wurde. Ganz zu schweigen von einem Bild wie Gerhard Richters „Küchenstuhl“, das 1967 für schlanke 900 Mark erworben werden konnte. Heute würde man sich allenfalls wünschen, man hätte damals ein ganzes Konvolut aus seinem Atelier erworben. Einige andere Namen sind freilich allenfalls noch Fachleuten bekannt, sie sind in die zweite Reihe gerückt. Und manche Preisträger-Stücke sind auch jetzt im Depot geblieben, nicht zuletzt aus technischen oder Platzgründen. Wie denn überhaupt die Kunsthalle notgedrungen ein Institut der Wechselausstellungen ist und sonst keine Dauerschau bieten kann.

Kurzer Blick in die Historie: Die allerersten Ausstellungen der werdenden Gruppe gab es – mangels Museum – in der (damals gähnend leeren) Lebensmittelabteilung von Karstadt. Anfangs unterstützten die Künstler vom „jungen westen“ einander in Freundschaft, der Preis – zunächst gerade einmal 1000 Mark – wurde meist brüderlich zu mehreren geteilt. In der Frühzeit gab es zudem manchmal Sachpreise aus der Industrie, beispielsweise Maluntensilien oder auch ein Kofferradio. Ab 1956 wurden Jurys berufen, aus der gegenseitigen Akklamation wurde ein Verfahren der offenen Bewerbung, der die Urteilsfindung mit allem Für und Wider folgte. Es waren Entscheidungen mit Nachhall: Praktisch von allen Preisträgern (Frauen erst seit 1993, seither aber im Proporz) blieben Bilder in Recklinghausen – vielfach zum Freundschaftsentgelt überlassen. Hie und da gab es zur Abrundung auch Zukäufe aus dem Umkreis der Preisträger.

Heute beträgt die Dotierung des Kunstpreises „junger westen“ 10.000 Euro, doch hat die Auszeichnung nicht mehr den überragenden Stellenwert wie einst. Trotzdem gehen auf eine Ausschreibung (abwechselnd für Malerei, Arbeiten auf Papier und Skulpturen) rund 300 bis 600 Bewerbungen ein. Da es ein Förderpreis sein soll, liegt die Altersgrenze bei 35 Jahren, ehedem durften Bewerber bis zu 40 Jahre alt sein.

Constantin Jaxy (Preisträger 1987): "Titan" (Kreide, Tusche, Graphit auf Karton, kaschiert auf Leinwand). (Kunsthalle Recklinghausen / Foto: Bernd Berke)

Constantin Jaxy (Preisträger 1987): "Titan" (Kreide, Tusche, Graphit auf Karton, kaschiert auf Leinwand). (Kunsthalle Recklinghausen / Foto: Bernd Berke)

Die weitgehend chronologische Präsentation lässt jetzt auf jeder der drei Kunsthallen-Etagen eine andere Zeitgeist-Mischung hervortreten. Im Erdgeschoss findet man vorwiegend das solide Fundament der Sammlung aus den 50er Jahren (Thomas Grochowiak, Emil Schumacher, K.O. Götz, Heinrich Siepmann, Gustav Deppe, Hans Werdehausen, HAP Grieshaber, Emil Cimiotti usw.), im ersten Stock werden Umbrüche der 60er und 70er dezent spürbar (Horst Antes, Gerhard Richter, Ansgar Nierhoff, Rolf Glasmeier). Ganz oben findet man sich schließlich in der Gegenwart wieder. Zugespitzt gesagt: Es ist, als würden archäologische Schichten der Sammlung freigelegt.

Wir können hier nicht alle 35 Künstler einzeln würdigen. Allerdings sollte man sich diese Ausstellung gerade nicht in schnöde summarischer Absicht ansehen, sondern sich sozusagen auf intensive „Lektüre“ einlassen und also zwar manches en passant anschauen, dafür aber bestimmte Arbeiten umso eingehender betrachten. Dann hat man vermutlich mehr vom Besuch. Meine persönliche Präferenz weist in die neuere Abteilung: Es sind die rätselvollen Raumschöpfungen der Berlinerin Heike Gallmeier, die den Preis 1999 erhalten hat. Ungewöhnlich ihr Verfahren: Sie malt Bilder, um aber sodann Fotografien der Gemälde zu zeigen. Ein Grenzgang zwischen den Medien.

Kunstpreis „junger westen“ 1948 bis 2011. Die Preisträger. Werke aus der Sammlung der Kunsthalle Recklinghausen. Sonntag, 11. November 2012 (Eröffnung 11 Uhr) bis 27. Januar 2013. Kunsthalle Recklinghausen, Große-Perdekamp-Straße 25-27. Geöffnet Di-So und feiertags 11-18, Heiligabend/Silvester 11-13 Uhr. Führungen sonntags 11 Uhr. Kein Katalog. Infos im Internet: www.kunst-re.de




Abriss oder Architektur-Archiv: Was wird aus dem früheren Ostwall-Museum?

Es gibt Betrübliches von einer „prominenten“ Dortmunder Baulichkeit zu berichten. Das frühere Dortmunder Museum am Ostwall (dessen Bestände bekanntlich ins „Dortmunder U“ umgezogen sind) gammelt allem Anschein nach erbärmlich vor sich hin.

Schon der flüchtige Laienblick von außen lehrt jedenfalls das Gruseln. Rundum sprießt Vegetation durch die Ritzen zwischen den Steinen, ginge es so weiter, könnte irgendwann die „Natur“ das ganze Areal zurückerobert haben.

Rückseite des früheren Museums am Ostwall im Sommer 2012 (Foto: Bernd Berke)

Rückseite des früheren Museums am Ostwall im Sommer 2012 (Foto: Bernd Berke)

Die Freitreppe hinterm Haus ist in einem kläglichen Zustand. Zwischenzeitlich sind hier angeblich Drogengeschäfte abgewickelt worden, das verwahrloste Ambiente hat sich wohl geradezu dafür angeboten. Die Plastiken im kaum gepflegten Gartenbereich sind nicht nur von Sprayern versaut worden, sondern dümpeln bei entsprechender Witterung auch in Wasserlöchern. An der Frontseite zum Ostwall hin zeigt sich der schmucklose Bau noch einigermaßen präsentabel, wenn auch schon die ersten Buchstaben der Aufschrift gestohlen worden sind. Vorne hui…

Ein bisschen Schwund ist immer: Schriftzug des Museums, Zustand Ende Oktober 2012 (Foto: Bernd Berke)

Ein bisschen Schwund ist immer: Schriftzug des Museums, Zustand Ende Oktober 2012 (Foto: Bernd Berke)

Dabei heißt es, dass zwischenzeitlich schon etwa 800.000 Euro in die Sanierung gesteckt worden seien, um das Gebäude z. B. für eine etwaige Veräußerung aufzuhübschen. Ein Investor zeigt sich kaufbereit, will aber das frühere Museum abreißen und statt dessen Seniorenwohnungen errichten. Ob die Stadt solchen Lockungen nachgibt? Eigentlich war der Verkauf der Immobilie schon Ende 2010 beschlossene Sache. Doch dann haben sich die Kräfte verschoben: Es gibt eine womöglich reizvolle Alternative, die freilich bestens durchgerechnet werden muss.

Plastik im Restgrün-Bereich ums frühere Ostwall-Museum, Sommer 2012 (Foto: Bernd Berke)

Plastik im Restgrün-Bereich ums frühere Ostwall-Museum, Sommer 2012 (Foto: Bernd Berke)

Das Ostwall-Museum ist – wie gesagt – im Oktober 2010 ins heute immer noch seltsam unfertige, gleichwohl sündhaft überteuerte „Dortmunder U“ (früherer Brauereiturm) umgezogen. Schon lange währt das Gezerre darum, was aus dem leeren Gebäude werden soll. Anfangs hatte es geheißen, die stetig gewachsene Jüdische Gemeinde könne das Objekt nutzen, nun ist seit geraumer Zeit von einem „Baukunst-Archiv NRW“ die Rede. Ein Kernbestand für eine solche Einrichtung befindet sich bereits in der Stadt: An der Universität (TU) werden seit 1995 Nachlässe von etwa 50 bedeutenden Architekten betreut. Es wäre ein Signal, wenn all dies und vielleicht mehr mitten in die Stadt rückte. Der Dortmunder Professor Wolfgang Sonne hat denn auch die Archiv-Idee ins Gespräch gebracht. Ein solches Institut in einer Stadt, in der etliche Kahlschläge und Bausünden zu besichtigen sind – das hätte gerade was! Es wäre zwar längst nicht so populär, aber gleichsam origineller als das künftige Deutsche Fußball-Museum, das quasi jedermann just in dieser Stadt erwarten würde.

Man hofft inständig, dass das Land NRW mindestens 80 Prozent der Umbaukosten fürs Baukunst-Archiv bezahlt. Die Entscheidungen zogen und ziehen sich hin, sowohl in Düsseldorf als auch in Dortmund. Offensichtlich und aus nachvollziehbaren Gründen scheuen die Kommunalpolitiker jedes Risiko, hier einen weiteren, schwer kalkulierbaren Kostgänger heranzuzüchten. Dies wäre in der verschuldeten Stadt auch schwerlich zu vermitteln.

Andere Ansicht des früheren Museums am Ostwall (Foto: Bernd Berke)

Andere Ansicht des früheren Museums am Ostwall (Foto: Bernd Berke)

Es müsste also eine tragfähige Konstruktion mit Förderverein und eventuell mit Landeszuschüssen gefunden werden, mit denen die laufenden Kosten (ca. 300.000 Euro im Jahr, andere Schätzungen lauten auf 425.000 Euro) zu stemmen wären. Vor allem der ehemalige Bauminister Prof. Christoph Zöpel macht sich beim Förderverein, der im Juli in Düsseldorf begründet wurde, fürs Dortmunder Baukunst-Archiv stark. Auch Dortmunds früherer Baudezernent Klaus Fehlemann gehört zu den entschiedenen Befürwortern. Oberbürgermeister Ullrich Sierau und Kämmerer Jörg Stüdemann zeigen sich gleichfalls keineswegs abgeneigt; wenn es denn für die Stadt kostenneutral ausgeht…

Mit realistischen und belastbaren Vorschlägen zur Finanzierung eilt es jetzt wahrlich. Am 15. November soll im Dortmunder Rat (Sitzung ab 15 Uhr) die endgültige Entscheidung fallen. Wenn bis dahin nichts Vernünftiges auf dem Tisch liegt, dürfte es wohl doch zum Abriss kommen. Für diesen Fall kann man sich die hämischen Kommentare der überregionalen Presse schon ungefähr ausmalen. Auch kann man sich lebhaft vorstellen, welchen Sturm der Entrüstung ein vergleichbarer Vorgang in Städten mit starkem Bürgertum auslösen würde.




Sie lauern überall: Dortmunder Peinlichkeiten

Eigentlich wollte ich – nach diversen miesen Erfahrungen in jüngster Zeit – an dieser Stelle nur über Dortmunder Gaststätten schreiben, die es mit dem Service nicht so haben. Doch dann trug es mich weiter von hinnen. Vielleicht liegt’s ja am Kater nach dem verlorenen Revierderby.

Eines dieser Ausflugslokale liegt an prominentester Stelle im Westfalenpark; dort, wohin viele Dortmunder ihre auswärtigen Gäste mitnehmen. Wie peinlich! Es dürfte weit und breit kaum einen anderen gastronomischen Betrieb geben, in dem derart viele freudlose Dispute zwischen Personal und Gästen anliegen. Allgemeines Kopfschütteln, galgenhumoriges Einverständnis zwischen den Tischen. Berechtige Beschwerden sind hier nicht die Ausnahme, sondern die Regel, ja fast schon Folklore. Da trifft Loriots guter alter Spruch zu: „Herr Ober, dürfen wir I h n e n vielleicht etwas bringen?“

Eine andere Lokalität zehrt vom Ruf als idyllisches Hofcafé, bekommt aber nicht mal eine Zusammenkunft mit knapp 20 Gästen geregelt. Pannen werden dort in absurden Serien produziert, als sei’s dummdreiste Absicht. Ein drittes Haus lockt ebenfalls mit pittoresker Lage in einem Park. Man kann aber an gewissen Tagen von außerordentlichem Glück sprechen, wenn dort binnen 45 Minuten die Bestellung den Weg zum Tisch gefunden hat. Aber wehe, man weist zaghaft auf Fehlleistungen hin…

Oh, ich könnte mich länglich über solche Betriebe auslassen, in denen Unfähigkeit sich mit Hirnrissigkeit und zuweilen auch noch Frechheit vermengt. Halt! Diesen noch! Diesen angemessen peinlichen Kalauer muss ich jetzt noch loswerden, auf dass das letzte Lachen im Ansatz ersterbe: Gastronomie hat hier nichts mit Gast zu tun, sondern mit Gastritis, die man sich vor lauter Ärger zuzieht.

Dortmunder Peinlichkeiten also. Und damit betreten wir ein weites Feld.

Blick vom Florianturm auf den Phoenixsee (Foto: Bernd Berke)

Blick vom Florianturm auf den Phoenixsee (Foto: Bernd Berke)

Beispielsweise die seit Jahrzehnten währende, schier endlose Geschichte um den (Nicht)-Umbau des Hauptbahnhofs, der einer Großstadt nicht würdig ist. „Pommesbude mit Gleisanschluss“ ist beinahe noch gelobhudelt. Neuerdings geht das Gerücht, die Sanierung werde sich womöglich um weitere Jahre verzögern. Ist ja auch egal, ob Behinderte barrierefrei zu den Gleisen kommen oder nicht.

Man muss den jetzigen Zustand mal vergleichen mit den Großmannsträumen, die früher einmal gehegt wurden. Die sehen (auch auf anderen Gebieten) regelmäßig so monströs aus, wie klein Mäxchen sich ungefähr zur Mitte der 60er Jahre Größe und Zukunft vorgestellt hat. Wenn 2014 vis-à-vis vom Bahnhof das Deutsche Fußballmuseum eröffnet (dräuen damit etwa neue Peinlichkeiten?), sollen jährlich Hunderttausende allein deswegen anreisen. Sie werden den Ruhm des Bahnhofs weit hinaus in die Welt tragen.

Beispielsweise die Pfütze namens Phoenixsee. Im Sonnenuntergang mag das überschaubare künstliche Gewässer ja manchmal seine funkelnden Momente haben. Aber das ganze Projekt ist wohl in erster Linie eine Maßnahme, um im Umfeld maximale Immobilienpreise herauszuwuchern. Unterdessen brüstet man sich damit, der See sei größer als die Hamburger Binnenalster. Sprechen wir mal gar nicht von Flair und Tradition, aber wo wäre denn dann das Pendant zur Außenalster? Geradezu lachhaft mutet es an, dass auf diesem Gewässerchen Segelboote fahren dürfen. Kaum sind sie „in See gestochen“, müssen sie schon wieder beidrehen.

Vom sündhaft teuren „Dortmunder U“, das auf Biegen und Brechen noch im Kulturhauptstadtjahr „Ruhr 2010“ eröffnet werden musste, bei dem es aber jetzt immer noch an etlichen Ecken klemmt und hapert, wollen wir nicht weiter reden. Quicklebendiges Kulturzentrum, blühende „Kulturwirtschaft“? Aber nicht doch! Übt euch gefälligst in Geduld!

Hinreichend peinlich auch das Jubiläums-Jubeln der von Anzeigen abhängigen Regionalpresse, die das einjährige Bestehen der Thier-Galerie (Einkaufszentrum mit ca. 160 Geschäften) quasi ohne Gegenstimmen gepriesen hat. Man muss sich nur mal die verwahrlosenden Leerstände bzw. Schlichtläden an den Rändern der City ansehen, um zu ahnen, was hier schleichend vorgeht.

Na und? Dafür haben wir aber den weltgrößten Weihnachtsbaum, freilich zusammengestoppelt aus rund 1700 Fichten, also schlichtweg eine grandiose Sinnestäuschung – auch wenn Japaner, Russen und Holländer das Ding gern fotografieren. Just heute (an diesem sonnigen 22. Oktober) bin ich an der Stelle vorbeigekommen. Und siehe: Sie arbeiten schon wieder am Fundament der Scheußlichkeit (wie es das grässliche, aber mutmaßlich weltexklusive Foto zeigt).

22. Oktober: Hier und heute werkeln sie schon wieder am Fundament für den "weltgrößten Weihnachtsbaum". (Foto: Bernd Berke)

22. Oktober: Hier und heute werkeln sie schon wieder am Fundament für den "weltgrößten Weihnachtsbaum". (Foto: Bernd Berke)

Nun gut. Zugegeben: So gigantische Peinlichkeiten wie Berlin mit seinem Flughafen, Hamburg mit der Elbphilharmonie, Köln mit dem Stadtarchiv oder „Stuttgart 21“, die kriegen wir hier nicht zustande. Aber immerhin! Wir bemühen uns.

P. S.: Jeder beschmutze sein eigenes Nest. Ergo: Wer aus anderen Städten kommt, kehre vor der eigenen Tür. Auch da findet sich eine Menge.




Zwischen Weltgeltung, Utopie und herben Verlusten: Das Hagener Osthaus-Museum spürt seiner Geschichte nach

Hagens Osthaus-Museum nimmt jetzt die eigene Geschichte in den Blick – von den Uranfängen anno 1902 bis heute. Doch man geht dabei nicht streng geordnet vor, sondern gleichsam essayistisch, kursorisch, nach Art von Flanierenden.

Damit macht man aus der Not eine Tugend. Denn weite Teile der ursprünglichen Bestände sind ja nicht mehr zur Hand, so dass in einer bloßen Chronologie arge Lücken klaffen müssten. Bekanntlich sind die hochbedeutenden Kernbestände der Sammlung im Jahr 1922, nach dem Tod des Hagener Mäzens und Museumsgründers Karl Ernst Osthaus (1874-1921), nach Essen gelangt. Sie bildeten dort den reichen Fundus des heutigen Folkwang-Museums. In Essen frohlockten sie über den immensen Zuwachs, denn Osthaus hatte mit den Bilderschätzen (u. a. Renoir, Van Gogh, Cézanne) in Hagen ab 1902 das weltweit erste Museum für zeitgenössische Kunst begründet, und zwar gegen den herrschenden Ungeist der Zeit, in der Kaiser Wilhelm II. die Werke der Franzosen als „Rinnsteinkunst“ bezeichnete.

Die wirtschaftsmächtigen Essener konnten Osthaus’ Erben einfach mehr Geld bieten, als Hagen es vermochte. Auch Gerichtsprozesse ums Kunsterbe fruchteten nichts. Es war ein gigantischer Verlust, im Grunde bis heute nicht völlig zu verschmerzen. Hagen verfiel damals für Jahre in eine Art Schockstarre. Erst 1930 wurde mit dem Rohlfs-Museum wieder nennenswertes Neuland betreten. Doch diesen Künstler wiederum verfemten die Nazis bald darauf als „entartet“. Den Hagenern gingen in der Folgezeit rund 400 Werke von Christian Rohlfs verloren – nicht zuletzt durch Plünderung. Eine Sammlungsgeschichte mit Verlusten und Verwundungen.

Ferdinand Hodler: "Der Auserwählte" (1903, zweite Fassung), Öl auf Leinwand, © Osthaus Museum Hagen.

Ferdinand Hodler: "Der Auserwählte" (1903, zweite Fassung), Öl auf Leinwand, © Osthaus Museum Hagen.

Den zentralen Platz im Entrée der Ausstellung „Der Folkwang Impuls. Das Museum von 1902 bis heute“ nimmt nun Ferdinand Hodlers grandioses Gemälde „Der Auserwählte“ (1903) ein, das gottlob noch zum Hagener Besitz zählt. In diesem Kontext wird noch einmal überdeutlich: Das Werk sollte nie und nimmer verkauft werden dürfen, so sehr steht es für den lebensreformerischen Impuls der Anfangszeit. Zwischenzeitlich hatte es ja Gerüchte gegeben, dass Lokalpolitiker der überschuldeten Stadt Hagen auf einen namhaften Millionenerlös bei britischen Versteigerern spekulierten.

Karl Ernst Osthaus hat keineswegs nur Impressionisten und später Expressionisten gesammelt. Das Hagener Folkwang-Museum hat er sich ungleich vielfältiger vorgestellt. Er war offen auch für außereuropäische Schöpfungen. Von ausgedehnten Reisen, insbesondere in den Orient, hat er zahlreiche Kunstgegenstände mitgebracht, die jetzt großzügig präsentiert werden.

Gebrauchskunst in Handel und Gewerbe sowie Architektur gehörten gleichfalls zu seinen Vorlieben. Überdies hegte der Mann, der durch eine Erbschaft (nach heutigem Wert ca. 30 Millionen Euro, bei relativ moderaten Preisen auf dem Kunstmarkt) unabhängig geworden war, naturwissenschaftliche Interessen. Er besaß eine heute verschollene Kollektion mit Abertausenden von Schmetterlingen und Käfern. Besonders die Farbenpracht der Schmetterlinge hat Osthaus fasziniert. Mit all dem verfolgte er – im Zeichen eines gehörig erweiterten Kunstbegriffs – durchaus pädagogische Absichten. Kunst sollte das ganze Leben ergreifen und die Menschen durch Schönheit veredeln. Welch ein Impuls, welch eine Vision, welch eine Utopie!

Osthaus’ Lebensstationen und seine staunenswert vielfältigen Interessen werden nicht nur mit Kunstwerken, sondern auch anhand von zahlreichen Archivalien (Briefe, Dokumente, Fotos, Plakate etc.) belegt, denn immerhin zählt seit 1963 das Osthaus-Archiv zum Hagener Bestand. Wohl noch nie wurde es für eine Ausstellung derart gründlich ausgewertet wie jetzt durch den emsigen Kurator Christoph Dorsz.

Mit der auf 2300 Quadratmetern in Alt- und Neubau weit ausgreifenden Schau würdigt man zwar zwangsläufig auch die großen Gründungsjahre von 1902 bis 1922, als hier ein veritables Weltmuseum entstand, doch weitet man die Perspektive. Schließlich ist auch in den „restlichen“ 90 Jahren seither weiter gesammelt worden; nicht immer, aber doch wesentlich den frühen Folkwang-Impulsen folgend. Die bringen vor allem die Verpflichtung mit sich, ein waches Augenmerk auf die jeweilige Gegenwartskunst zu haben und dabei auch die örtliche und regionale Szene nicht zu vernachlässigen.

Nach 1945 hat die damalige Osthaus-Chefin Herta Hesse-Frielinghaus die verbliebenen Bestände durch Neuerwerbungen nach Kräften verdichtet. Nun wurden beispielsweise auch Arbeiten der Informel-Künstler, darunter natürlich der Hagener Emil Schumacher, gesammelt. Schritt für Schritt kann man an ausgesuchten Beispielen die Genese des heutigen Eigenbesitzes verfolgen.

Hier kommt einiges am passenden Platze zusammen. Es wird etwas vom Geist des Gründervaters spürbar, je mehr man in die Dokumente eintaucht. Auch Facetten des allgemeinen Zeitgeistes lassen sich erahnen. Und schließlich waltet der Geist des Ortes, vor allem im imposanten Brunnensaal des Museums, dessen historische Zusammenhänge hier gleichfalls beleuchtet werden.

Die Ausstellung ist somit auch eine Selbstvergewisserung des jetzigen Teams um Museumsleiter Tayfun Belgin. Dem Bezug zur lokalen Szene etwa kommt man nach, indem auf Bilder der weltkriegszerstörten Stadt Hagen die Schwarzweiß-Fotos des jungen Hagener Fotokünstlers Andy Spyra folgen. Er hat den Folgen des irakischen Bürgerkriegs für die verbliebenen Christen nachgespürt. Was als thematischer Bruch erscheinen könnte, gehört in Wahrheit hierher. Auch die Dialoge mit den Rändern des Kontinents und mit nicht-europäischer Kunst will man bewusst weiterführen. 2010 war die Türkei an der Reihe, 2013 wird Korea folgen.

Mit dieser Ausstellung begibt sich das Museum auf Spurensuche nach seiner Identität. In Essen (das einige Leihgaben zu den 300 Exponaten beisteuert) hätten sie das wohl nicht in diesem Maße nötig. Aber gerade solche schweifenden Suchbewegungen können ja neue Wege im Gefolge der Traditionen weisen.

„Der Folkwang Impuls. Das Museum 1902 bis heute“. 21. Oktober 2012 bis 13. Januar 2013. Osthaus Museum Hagen. Museumsplatz 3 (Navigation: Hochstraße 73). Geöffnet Di/Mi/Fr 10-17, Do 13-20, Sa/So 11-18 Uhr. Katalog 19, 90 Euro. Eine Reproduktion der 1912 – also vor 100 Jahren – erschienenen ersten Hagener Folkwang-Katalogbroschüre kostet 4 Euro.
Internet: www.osthausmuseum.de




Peter Paul Rubens, Maler und Diplomat in den Zeiten des Krieges

Zu Van Gogh und Rubens können auch alle Kunstfernen was ausposaunen: Der eine hat sich ein Ohr abgeschnitten, der andere vorzugsweise üppige Frauen gemalt. Und fertig.

Was gleichfalls im populistischen Sinne bestens ankommt: Rubens war zu seinen Lebzeiten der weltweit teuerste Maler, auch heute würde er – käme überhaupt etwas auf den Markt – mit vorn liegen. Wuppertals Von der Heydt-Museum kann also schon mal auf einen Berühmtheits-Bonus bauen, wenn es nun rund 50 Gemälde und Skizzen von Peter Paul Rubens (1577-1640) zeigt. Museumschef Gerhard Finckh und sein Team wissen solche günstigen Vorgaben zu nutzen und peilen die magische Marke von 100 000 Besuchern an. Inhaltlich gehen sie aber deutlich über solche Äußerlichkeiten hinaus und treten mit ordnendem Konzept an.

Peter Paul Rubens: "Dianas Heimkehr von der Jagd" (um 1616) (© Gemäldegalerie Alter Meister, Dresden / Staatliche Kunstsammlungen Dresden / The Bridgeman Art Library Nationality)

Peter Paul Rubens: "Dianas Heimkehr von der Jagd" (um 1616) (© Gemäldegalerie Alter Meister, Dresden / Staatliche Kunstsammlungen Dresden / The Bridgeman Art Library Nationality)

Ein Schwerpunkt der Wuppertaler Ausstellung, die alle Lebensphasen des barocken Meisters seit dessen italienischer Frühzeit umfasst, liegt auf Rubens’ diplomatischem Wirken. Die Bilder um Macht und Pracht, aber auch um das Leiden an den Zeitläuften werden geradezu schwellend in Szene gesetzt. Da wallen eingangs schwere rote Vorhänge, einladend beiseite gezogen. Die Gemälde prangen nicht nur auf dem heute museumsüblichen weißen Grund, sondern sind hie und da auch von stilisierten Tapetenmustern hinterfangen – hinreichend diskret, versteht sich. Mit etwas blühender Phantasie kann man sich gar vorstellen, man würde in Rubens’ prächtigen Gemächern empfangen. Porträts des Hausherrn und ein eigenhändiger Brief (verfasst in diplomatischer „Geheimsprache“, wobei „Bäume“ für Bestechungsgeld stehen) tun das Ihre hinzu.

Doch halt! Ohne historische Hintergründe geht es nicht: Nach der Glaubensspaltung wütete viele Jahrzehnte lang Krieg in Europa. Bald ging es nicht mehr allein um Protestantismus und Katholizismus, sondern der religiöse Konflikt wurde überlagert vom Widerstreit der Großmächte.

Der im evangelischen Siegen geborene Rubens war von Haus aus protestantisch, konvertierte aber in Köln zum Katholizismus. Sein Lebtag hat er ringsum nur kriegerische Zeiten gesehen. Die Motivation des hochgebildeten, belesenen Mannes, nach Kräften Friedensschlüsse zu vermitteln, war enorm. Als Hofmaler, der in allerhöchsten Kreisen verkehrte und selbst einen veritablen Palast in Antwerpen unterhielt, hatte er auch entsprechende Verbindungen.

Peter Paul Rubens: "Thetis empfängt die Waffen für Achill (1630-35) (© Musée des Beaux-Arts, Pau, France, Giraudon, The Bridgeman Art Library)

Peter Paul Rubens: "Thetis empfängt die Waffen für Achill (1630-35) (© Musée des Beaux-Arts, Pau, France, Giraudon, The Bridgeman Art Library)

Den Wohnort Antwerpen hat er sicher mit Bedacht gewählt. Als Maler fand er in den katholischen Südniederlanden (heutiges Belgien) bessere Bedingungen vor als in den protestantisch gewordenen und somit eher bildabstinenten Nordprovinzen (heutiges Holland). In Antwerpen betrieb er ein Atelier mit zeitweise rund 100 Mitarbeiten. Für seine Werkstatt malten Spezialisten jedweder Richtung, darunter vorübergehend auch Anthonis van Dyck oder Jacob Jordaens. Nicht erst Andy Warhol hat im „Factory“-System produziert.

Rubens’ fulminante Skizzen für die Ausschmückung der Antwerpener Jesuitenkirche sind Beispiele für vitale Ideenfülle und Bilderlust. Da kann es sogar geschehen, dass eine Helferin der Heiligen Klara von Assisi (1620) dem Betrachter durch perspektivische Verzerrung ein monströses Hinterteil vorweist. Überhaupt ist es ein Vorzug der Skizzen, gelegentlich „frecher“, experimenteller und näher am Aufleuchten der ursprünglichen Einfälle zu sein als ausgeführte Gemälde, die meist offiziellen, repräsentativen Anforderungen zu genügen haben.

Als Diplomat operierte Rubens mit wechselndem Geschick. Nach mehreren anderweitigen Fehlschlägen gelang es ihm immerhin, 1630 einen Friedensschluss zwischen Spanien und England herbeizuführen. Manche wollen in Rubens gar einen frühen Vorläufer des europäischen Gedankens sehen. Gemach! Nicht, dass man ihm noch posthum den Friedensnobelpreis zuerkennt…

Gleichviel. Die Tätigkeit auf politischem Felde bleibt jedenfalls nicht ohne Auswirkung auf die Malerei. Anhand vieler Werke erhält man Einblick in die weltlichen und kirchlichen Sphären, in denen sich Rubens bewegte. Seidig schimmernde Herrscherporträts aus dem Umkreis der Medici-Zyklen (die großformatigen Medici-Originale verbleiben natürlich im Louvre) zeigen, zu wem Rubens Zugang hatte. Auch kündet das Bildprogramm etlicher Arbeiten von (philosophisch und mythengeschichtlich solide unterbauter) Friedensneigung und der Suche nach „dritten Wegen“ zwischen Konfessionen und Kriegsparteien.

Peter Paul Rubens: "Abraham und Melchisedek" (um 1615-18) (© Musée des Beaux-Arts, Caen, France / Giraudon / The Bridgeman Art Library Nationality)

Peter Paul Rubens: "Abraham und Melchisedek" (um 1615-18) (© Musée des Beaux-Arts, Caen, France / Giraudon / The Bridgeman Art Library Nationality)

Leitgedanken der Überparteilichkeit entnahm Rubens den Werken der Antike, speziell von Heraklit, Lukrez oder Seneca. Auf solche Lektüre deutet ein ungemein lebendiges Bildnis des Seneca (1614/15) hin, das den antiken Skulpturen gleichsam neuen Atem einhaucht und sie in die damalige Gegenwart holt. Auch „Herkules besiegt die Zwietracht“ (1615-20) gehört in diesen Zusammenhang. Bei Bedarf verwandelte Rubens selbigen Helden des Altertums allerdings auch schon mal zum Christophorus.

Die Allegorik der Bilder mag damals den gebildeten Ständen gleich eingeleuchtet haben, heute muss sie erst entschlüsselt werden. Überdies erscheint manches doppeldeutig und hintersinnig. So kann man etwa bei näherer Untersuchung der „Allegorie der guten Regierung“ (1625) stutzig werden. Die scheinbar umstandslos gepriesene Herrscherin Frankreichs, Maria de Medici, lässt die Waage der Gerechtigkeit denn doch sehr lässig baumeln, und eine Mauer, die sich hinten durchs Bild zieht, könnte sehr wohl auf unfreie Verhältnisse hinweisen.

Peter Paul Rubens: "Wildschweinjagd" (um 1615/16) (©Musée des Beaux-Arts, Marseilles, France, Giraudon / The Bridgeman Art Library Nationality)

Peter Paul Rubens: "Wildschweinjagd" (um 1615/16) (©Musée des Beaux-Arts, Marseilles, France / Giraudon / The Bridgeman Art Library Nationality)

Die Ausstellung zeichnet zwar auch diplomatische Wege nach, schwingt sich aber vielfach zu grandiosen, genuin künstlerischen Momenten jenseits aller politischen Bedeutungen auf. Ein Bild wie „Wildschweinjagd“ (um 1615/16) dient zwar der Verherrlichung eines wohltätigen Regenten, doch nimmt die dramatische Zuspitzung der Szene über allen Anlass hinaus gefangen. Wollte man noch einen Anachronismus anfügen, so müsste man hier fast schon einen Urahnen filmischer Sichtweisen vermuten. Anderes Beispiel der Überzeitlichkeit: Eine schreiende Frau, die ob der Schlachtengreuel verzweifelt die Arme in die Luft reckt, soll in weite historische Ferne gewirkt und Picasso zu einem Motiv seines Antikriegsbildes „Guernica“ angeregt haben.

Der Wuppertaler Reigen vielfach aufregender Bilder reicht bis in die Londoner Zeit. „Krieg und Frieden“ ist leider nur als Reproduktion zu sehen. Da fällt die Weisheitsgöttin Minerva dem Kriegsgott Mars entschieden in den Arm. Eine buchstäblich ergreifende Utopie in gewaltsamen Zeiten.

Peter Paul Rubens. Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Elberfeld, Turmhof 8). Vom 16. Oktober 2012 bis zum 28. Februar 2013. Geöffnet Di/Mi 11-18, Do/Fr 11-20, Sa/So 10-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 12 Euro, ermäßigt 10 Euro, Familie 24 Euro. Katalog 25 Euro.
Info-Hotline: 0202/563-2626
Internet: www.von-der-heydt-museum.de

Am Rande: Selbstverständlich hat das Wuppertaler Museum nicht alle Wunschbilder ausleihen können. Bemerkenswert vor allem, dass der Fürst von Liechtenstein, der eine der größten privaten Rubens-Kollektionen besitzt, alle Verhandlungen strikt verweigerte – wegen der von deutschen Behörden angekauften CDs und DVDs mit Daten von Steuersündern…




Die große Parallelaktion: Wenn Rewe und Edeka mit Pandabärchen locken

Immer nur hochkulturelle Themen? Ach nein. Dieser Text befasst sich en passant mit einem Doppel-Phänomen der Bestsellerauflagen, die alle grauen Schatten weit hinter sich lassen dürften.

Es geht um die seltsame Parallelaktion der beiden großen deutschen Lebensmittelketten. Sowohl Rewe als auch Edeka offerieren für gewisse Einkaufsbeträge jeweils ein paar Tütchen oder Briefchen mit Tierbildern, die man in Sammelalben einkleben soll. Sagen Sie jetzt nichts. Besonders kleinere Kinder kann man damit allemal ködern. Und die Kundschaft von morgen fragt bald in kurzen Abständen quengelnd nach, wo denn der Nachschub bleibe.

Welche Kette diesmal zuerst an der Reihe war, vermag ich nicht zu sagen, zur knallharten Recherche habe ich in solchem Falle keine Lust. Sie haben wohl ungefähr gleichzeitig begonnen. Ansonsten könnte man mutmaßen, dass ein womöglich enttäuschter Manager von der einen zur anderen Firma gewechselt ist und dem neuen Arbeitgeber gesteckt hat, was die Konkurrenz plant. Dann hätten die anderen die (im Grunde uralte) Idee windeseilig abgekupfert und nur noch notdürftig variiert. Aber wahrscheinlich war es ganz anders und wir müssen nicht schon wieder von Plagiaten reden, sondern nur von einem dummen zeitlichen Zusammentreffen. Bei den Konferenzen in den Konzernzentralen hätte ich trotzdem gern mal gelauscht.

Mit Tieren um die Welt: Sammelalben und Bildertütchen von Edeka und Rewe. (Foto: Bernd Berke)

Mit Tieren um die Welt: Sammelalben und Bildertütchen von Edeka und Rewe. (Foto: Bernd Berke)

Die Ähnlichkeit der Aktionen ist wahrhaftig verblüffend. Beide Sammelalben haben dasselbe Format und etwa gleiches Volumen, beide gibt es zum Lockvogelpreis. Auch die Titelbilder ähneln einander, wobei wobei dem Pandabären offenbar per se ein Konzern übergreifender Stammplatz gebührt. Er ist und bleibt der Niedlichkeits-Champion, dicht gefolgt vom klimatisch bedrohten Eisbären.

In beiden Alben werden die Sammelbilder nach Kontinenten sortiert. Beide sind nach dem Prinzip einer abenteuerlichen Weltreise aufgebaut. Beide geben sich natürlich ökologisch. Das Edeka-Buch firmiert gleich als WWF-Album (World Wide Fund for Nature), auch das andere gibt sich mit Umwelt-Infokästen naturnah und verheißt mit einem Aufkleber, dass jeder, der das Büchlein erwirbt, die SOS-Kinderdörfer mit 50 Eurocent unterstütze. Man ist allseits so unumschränkt gut. Und just dieses Wohlgefühl soll sich auf die Marken übertragen.

Rewe setzt noch ein paar optische Lockungen drauf, verkitscht freilich auch seinen Bilderfundus (neben Tieren vereinzelt auch berühmte Gebäude und spektakuläre Naturformationen) hie und da: Zum einen gibt es diverse Glitzerbilder (z. B. Pinguin inmitten von blinkenden Silbersternchen), zum anderen 3D-Sticker. Die übliche Papp- und Plastikbrille liegt bei. Auch zapft man die jüngsten Smartphone-Besitzer oder deren Eltern an, indem eine App angeboten wird, die zu Begleitfilmchen führt. App steht hier auch für Appellcharakter.

Nur ein flüchtiger Eindruck, durch nichts zu beweisen: Rewe-Mitarbeiter scheinen Anweisung zu haben, die Tütchen etwas unbürokratischer herauszurücken und nicht allzu genau auf die Einkaufsbeträge zu schauen. Dafür sind die Edeka-Bildchen leichter und ohne lästigen Fummelkram abzulösen.

Doch bevor ich jetzt Stiftung Warentest im Kleinstformat spiele und mich in einer Rezension von Petitessen verliere, stelle ich lieber fest: Es gibt sicher wesentlich Wichtigeres als diese Alben, die gleichwohl das Naturbild vieler Kinder mitprägen. Auch hinter derlei unscheinbaren Dingen lauern ideologische Muster. Mal ganz abgesehen vom kommerziellen Kalkül. Diese Natur ist nicht rundweg natürlich.




Albus und Debus lassen nicht locker: Das Ruhrgebiet muss endlich Hauptstadt werden !

Ein einflussreiches US-Magazin schmäht Berlin – und schon wird dort im vorauseilenden Gehorsam fieberhaft überlegt, ob man nicht eine neue Hauptstadt braucht. Zur Auswahl stehen München, Hamburg, Köln – und das Ruhrgebiet. Hossa!

Auf geht’s. Kanzlerin Merkel beauftragt den Berliner Sozialwissenschaftler John Fettersen mit der heiklen Angelegenheit. Dessen Gewährsfrau fürs Revier ist die zungenfertige (vulgo: geschwätzige) Mia Mittelkötter, mit je einem Bein im Sauerland und in Dortmund daheim. Fettersen muss die Dame brieflich intensiv nach etwaigen Vorzügen des Ruhrgebiets befragen.

Daraus entspinnt sich – wenn auch anders als jüngst bei Martin Walser („Das dreizehnte Kapitel“) – das Hin und Her eines Briefromans. Der heißt wortspielneckisch „In der Ruhr liegt die Kraft“ und ist eine gemeinsame Schöpfung der Kabarettistin Lioba Albus und des Journalisten Lutz Debus. Beide streuen auch ein paar autobiographisch inspirierte Prisen ins Geschehen ein.

Im Lauf der brieflichen Erörterungen werden jedenfalls Liebesbande geknüpft. Einmal entflammt, geht die mit einem Ex-Kartenkontrolleur frustig verheiratete Mia verbal dermaßen ran, dass selbst der erotisch heftig verklemmte Fettersen mählich auftaut. Ob sie sich wohl kriegen? Wir verraten nix. Allerdings wird der verkorkste Fettersen für seine Verhältnisse ziemlich gesprächig und flüstert Mia was von Jugendschwänken, beispielsweise mit Theodora und der Hure „Luna“, die er seinerzeit in Dortmund rund um Mallinckrodtstraße und Fredenbaumpark – nun ja. Je nun. War da was?

Ob das Ruhrgebiet wenigstens hier echte Chancen hat, neue deutsche Hauptstadt zu werden? Wenn’s nach Mia ginge, dann unbedingt. Hier, wo die Gefühle nur auf angenehmer Sparflamme köcheln („Ein Ruhri, der freut sich mehr so nach innen“), sind ohnehin alle Nationen beisammen, eine Mauer könnte man auch errichten, etwa rund um das Elendsmuseum Gelsenkirchen. Die regional ansässigen Bordellbetriebe bieten genug Entspannung für abgeordnete Biederleute aus CSU und anderen Fraktionen, die fern der Heimat kräftig was erleben wollen. Vom mitunter exquisiten Fußball und anderen dicken Pluspunkten gar nicht erst zu reden.

Kurzum: Warum sollte ein US-Präsident nicht eines Tages vor aller Welt ausrufen „Ich bin ein Dortmunder!“

Klingt unterhaltsam, nicht wahr? Ja. Da sind etliche Ansätze vorhanden. Auch gibt’s einige hübsche Portionen Lokalkolorit.

Aber: Auf einer nicht gerade geschickt layouteten 140-Seiten-Strecke, die einen schlankeren Satzspiegel verdient hätte, wirkt die eine oder andere Ausführung denn doch ein wenig umständlich.

Nicht alle Ideen und Gags sind vollends zur Güte gereift; zuweilen wird beherzt der nächstliegende Lachstoff versprüht, statt mehr aus dem Hinterhalt zu agieren.

Sieht ganz so aus, als hätte dieses allererste Buch im neuen Dortmunder FönNixe Verlag (Inhaber: just Albus und Debus) partout vor der Buchmesse fertig sein sollen. Hat ja auch geklappt. Ein gewisses regionales Interesse (wohl mit baldigem Verfallsdatum) dürfte dem Buch beschieden sein.

Nun gut. Die Geschichte, die gegen Schluss geheimdienstlich gefährlich zu werden droht, kulminiert (wo sonst?) im Dortmunder Stadion beim Match gegen Bayern München. Auch das erfreuliche Resultat auf dem Platz wird hier nicht verraten.

Lioba Albus/Lutz Debus: „In der Ruhr liegt die Kraft“. FönNixe Buchverlag, Dortmund. 140 Seiten. 11 Euro.

P.S.: Der Transparenz wegen sei’s gesagt, dass ich mit beiden Buchautoren via Facebook befreundet bin. Aber wie lange noch?




Der Spießer von heute sagt „ätzend“ und „geil“

Da bin ich ganz voreingenommen: Es gibt nicht allzu viele Autoren, auf deren Bücher ich mich im voraus so freue, wie auf die jeweils neuesten Hervorbringungen von Max Goldt.

Ahhhh, da ist er also endlich eingetroffen, der neue Goldt. Mal sehen. Mal anblättern. Und sogleich möchte man jubilieren: „Ja, ja, ja. So ist es.“ Wenn Goldt nämlich zu Beginn von „Die Chefin verzichtet“ den allwöchentlich republikweit exerzierten, neudeutsch strotzenden Feuerwerkswahn geißelt: „…vielmehr glauben manche mittlerweile, sie hätten ein Recht darauf, enthemmt durch Suff und Gruppenzwang, Explosionen zu verursachen.“ Über pyromanische Fußball-Randalos mäandert der Text sodann in bester goldtscher Manier bis hin zu absurden Seilbahn-Szenen mit US-Christen der dumpf fundamentalistischen Sorte. Herrlich! Wer sonst kommt so produktiv von Holz auf Stock?

Nun gut. Nicht alle Texte des Bandes sind dermaßen stark. Doch es ist zumeist eine Lust, wie dieser begnadete Kolumnist (diese Bezeichnung ist eigentlich eine Untertreibung) gängige Meinungsschemata aller Arten unterläuft, und zwar vollkommen unabhängig von etwaigen politischen Tönungen. Goldt erwischt beinahe alle, die es verdienen, so auch „die Stänkereien reaktionärer Giftknilche, die in jeder Frauenbeauftragten den Leibhaftigen sehen. Und sich bei ihrem Herumgepeste im Internet vorkommen wie Widerstandskämpfer…“ Kann man’s trefflicher sagen? Schwerlich.

Unfähige junge Hotel-Rezeptionistinnen ereilt ebenso der Bannstrahl wie das Elend der heutigen Buchgestaltung, die immergleiche Mimik eines gewissen Günter Grass („grantig und selbstgerecht“) oder die Machwerke des „spirituellen Volksverhetzers Paulo Coelho“. Sagt selbst: Hat jemand diesen Säusel-Schreiberling schon genauer charakterisiert?

Goldts Vortrag über den Wandel der Begriffe „Spießer“ und „Kleinbürger“ erspart wohl so manches sozialwissenschaftliche Seminar, auch ist er den meisten Kabarettisten im beherzten Zugriff voraus. Nur mal stichwortartig hingeworfen: „Sexy“ ist demnach das neue „spießig“. Der Kleinbürger von heute dünstet längst nicht mehr nach Rosenkohl, sondern mampft Pizza, sagt „geil“ und „ätzend“, „sexy“ und „lecker“. Richtig, diese Leute kennt man doch zur Genüge!

Doch Vorsicht: Manchmal könnte man auch selbst gemeint sein. Goldt arbeitet sich zur Hypothese vor, die von einer allgegenwärtigen Diktatur des Pop und des kommerziellen Sports ausgeht und verdammt plausibel klingt. Wir sollten uns das mal zu Herzen nehmen.

Mag sein, dass das eine oder andere verbliebene Qualitäts-Feuilleton schon in ähnliche Richtungen gezielt hat, doch Goldt setzt meist noch einen bis fünfe drauf. Seine Abhandlungen z. B. über kaum noch unterscheidbare TV-Talkshows, das unheimliche Faszinosum namens Sahra Wagenknecht, die Selbstdegradierung durch fade imitierten „Glamour“ bei heute gängigen Abi-Bällen, den fernsehüblichen Sprachmüll (auch bei Phoenix und 3Sat) oder das kennerhafte Getue beim Weintrinken sind einfach exquisit.

Am Schluss möge ein Zitat stehen, das die derzeit arg ins Stocken geratene Evolution der Spezies Mann aufgreift: „Besteht denn gar kein Wunsch, nach all den Jahren, die hinter uns liegen, mal wieder etwas anderes zu sehen als kahlrasierte, tätowierte Freizeitgrobis?“ Und jetzt alle im Chor: Doch, doch, der dringliche Wunsch besteht!

Max Goldt: „Die Chefin verzichtet“. Texte 2009-2012. Rowohlt Berlin. 159 Seiten. 17,95 Euro.




Museum Folkwang: Bis zum Rausch in Farben schwelgen

Von Zeit zu Zeit schwingt sich das Essener Museum Folkwang immer mal wieder auf, mit kräftiger Sponsorenhilfe die Spitzenposition im Ruhrgebiet zu behaupten. Das geht schon seit Jahrzehnten so. Diesmal heißt das Ereignis (eigentlich wenig originell) „Im Farbenrausch“.

So oder ähnlich tauft man eben jene populären Ausstellungen, deren Macher mit Besucherzahlen weit oberhalb der 100 000 kalkulieren können. Sei’s drum. Dass sich die Farbe irgendwann vom umrissenen Gegenstand gelöst hat und vorwiegend Stimmungsträger wurde, gehört zum bildnerischen Basiswissen. Hier kann man’s vielfach sinnlich nachvollziehen und dabei ins Schwärmen geraten.

Davon abgesehen, eröffnet sich immerhin die Chance, Teile des Essener Eigenbesitzes im ungewohnten Kontext neu zu bewerten. Denn 24 von 153 Exponaten gehören zum Essener Fundus. Die Schau, die sich im Kern auf die Jahre 1905 bis 1911 beschränkt, ist also sozusagen in den Beständen verankert. Deren Anfangsgründe gehen bekanntlich auf den Hagener Mäzen Karl Ernst Osthaus zurück, der sehr vorausschauend Arbeiten seiner Zeitgenossen gesammelt hat und dessen Kunstschätze 1922 nach Essen wanderten.

Henri Matisse: "Les toits de Collioure / Die Dächer von Collioure", 1905 (Staatliche Eremitage, St. Petersburg / © Succession H. Matisse / VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / © Foto: Staatliche Eremitage, Vladimir Terebenin, Leonard Kheifets, Yuri Molodkovets)

Henri Matisse: "Les toits de Collioure / Die Dächer von Collioure", 1905 (Staatliche Eremitage, St. Petersburg / © Succession H. Matisse / VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / © Foto: Staatliche Eremitage, Vladimir Terebenin, Leonard Kheifets, Yuri Molodkovets)

Der Untertitel lautet „Munch, Matisse und die Expressionisten“, es werden also zwei geniale Anreger namentlich genannt. Etwas wolkig sprechen die Kuratoren (Sandra Gianfreda, Mario-Andreas von Lüttichau) von geistiger Verwandtschaft und daraus entspringender subjektiver Empfindung, welche die Bildsprache(n) geprägt hätten.

Punktuell oder auch streckenweise gibt es tatsächlich frappierende Anklänge. Marianne von Werefkin hat mit „Die Landstraße“ (1907) ganz offenkundig Munch nachgeeifert. Heckels „Die Elbe bei Dresden“ scheint aus dem Geiste Van Goghs zu fließen, Pechsteins „Seine-Brücke“ sich den Anstößen der Fauves zu verdanken. Überhaupt hat besonders Pechstein hier einige grandiose Auftritte, etwa mit „Sitzendes Mädchen“ oder „Liegendes Mädchen“, beide von 1910.

Edvard Munch: "Sitzender Akt auf dem Bett", 1902 (Staatsgalerie Stuttgart / © The Munch Museum / The Munch Ellingsen Group / VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / © Foto: Staatsgalerie Stuttgart)

Edvard Munch: "Sitzender Akt auf dem Bett", 1902 (Staatsgalerie Stuttgart / © The Munch Museum / The Munch Ellingsen Group / VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / © Foto: Staatsgalerie Stuttgart)

Doch vielfach kann man auch und gerade die Unterschiede besichtigen. Vor allem Munch hebt sich von allen anderen deutlich ab. Zwar wird das eine oder andere seiner Sujets etwa von deutschen Expressionisten aufgegriffen, doch Bildsprache und Atmosphäre sind unvergleichlich.

Eine finanziell derart gut gepolsterte, eher auftrumpfende und prunkende als feinjustierte und konzentrierte Ausstellung (der RWE-Konzern tritt als Sponsor an) wartet selbstverständlich mit vielen Berühmtheiten, etlichen Schauwerten und strahlender Schönheit auf. Etwas name dropping, beinahe schon lexikalisch: Munch, Matisse, Van Gogh, Gauguin, Cézanne, Derain, Signac, de Vlaminck, Braque, Kandinsky, Jawlensky. Dazu deutsche Künstler wie Kirchner, Pechstein, Heckel, Schmidt-Rottluff, Marc, Nolde, Münter. Wenn das nichts ist…

Ernst Ludwig Kirchner: "Mädchen unter Japanschirm", um 1909 (Kunstsammlung NRW, Düsseldorf / © Foto: Walter Klein, Düsseldorf)

Ernst Ludwig Kirchner: "Mädchen unter Japanschirm", um 1909 (Kunstsammlung NRW, Düsseldorf / © Foto: Walter Klein, Düsseldorf)

Allein was hier an Aktbildern, Badenden, Damen mit Hut oder auch an Fluss- und Bootsbildern zusammengetragen wurde, nötigt Bewunderung ab. Die Schar der hochmögenden Leihgeber reicht bis Canberra (Australien), auch gibt es noch nie öffentlich gezeigte Raritäten aus Privatbesitz zu sehen, so etwa Kirchners „Torhaus“ (1910).

Die Hängung folgt mal chronologischen, mal thematischen oder auch biographischen Ansätzen. In verschiedenen Grautönen gehaltene Säle, teils schwelgend und nicht allzu trennscharf benannt („Aufbruch zur Farbe“, „Orgie der reinen Farbtöne“, „Die Suche nach dem Beständigen“, „Streben nach künstlerischer Synthese“), bündeln, gliedern oder verstreuen die Werke. Da wird unterwegs zwischen erlebtem und ersehntem Arkadien unterschieden, als ergäbe das auf dem Felde der Kunst einen Sinn. In einem finalen Bereich werden kurzerhand Stillleben und Figurenporträts miteinander präsentiert, als hätten sie sonst nirgendwo mehr Platz gefunden.

Erich Heckel: "Badende am Waldteich", 1910 (Museum Folkwang, Essen, Dauerleihgabe aus Privatbesitz, seit 2005 (© Nachlass Erich Heckel, Hemmenhofen / © Foto: Museum Folkwang)

Erich Heckel: "Badende am Waldteich", 1910 (Museum Folkwang, Essen, Dauerleihgabe aus Privatbesitz, seit 2005 (© Nachlass Erich Heckel, Hemmenhofen / © Foto: Museum Folkwang)

Natürlich haben sich Größen wie Matisse, Munch und andere damals weithin ausgewirkt. Wer sie überhaupt nicht rezipiert hätte, wäre ein Ignorant gewesen. Übrigens können die „jungen Wilden“ des deutschen Expressionismus im internationalen Vergleich recht gut bestehen, sie haben das Spektrum des Kontinents bereichert, wenn auch nicht so grundlegend wie die Franzosen.

Beim Rundgang wird man auch finden, wie sehr sich nördliches vom südlichen Licht abhebt und die Bilder der Deutschen mitbestimmt. Ein banaler, jedoch oft unabweislicher Befund. Hin und wieder wird man gar versucht sein, die in Deutschland vorherrschende Malweise „kantiger“ und weniger fließend zu finden, womit man bei Uralt-Klischees angelangt wäre. Vorsicht also mit vorschnellen Schlüssen. Lieber den prächtigen Parcours noch einmal absolvieren, den Katalog studieren und jeden Künstler, jedes Bild auch für sich selbst gelten lassen. Um das Einzigartige zu bewahren, was beim Vergleichen zu entgleiten droht.

Max Pechstein: "Flusslandschaft", um 1907 (Museum Folkwang, Essen / © 2012 Pechstein, Hamburg/Tökendorf / © Foto: Museum Folkwang)

Max Pechstein: "Flusslandschaft", um 1907 (Museum Folkwang, Essen / © 2012 Pechstein, Hamburg/Tökendorf / © Foto: Museum Folkwang)

„Im Farbenrausch“ Munch, Matisse und die Expressionisten. Museum Folkwang, Essen, Museumsplatz 1. Bis 13. Januar 2013. Geöffnet Di-So 10-20, Fr 10-22.30 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 12 (ermäßigt 7) Euro, Katalog 35 Euro.

Internet:
http://www.museum-folkwang.de
http://www.folkwang-im-farbenrausch.de

P. S.: Wer der klassischen Moderne noch mehr auf den Grund gehen will, reist weiter nach Köln und besucht im Wallraf-Richartz-Museum die Ausstellung „Mission Moderne. Die Jahrhundertschau des Sonderbundes“ (bis 30. Dezember 2012), Katalog 39,90 Euro.




Ruhrtriennale: Die jungen Mädchen und der Traum von einer anderen Zeit

Anfangs gehen die 39 Mädchen wie in Zeitlupe quer über die Bühne. Ihr unentwegt gemurmeltes Mantra lautet „Alles wird gut“ („Everything’s going to be alright“). Sie schreiten in Trance. Woher und wohin?

Nur manchmal stößt die eine oder andere sacht an einen der verstreut stehenden Stühle. Doch plötzlich ein metallisches Kreischen! Die Stühle werden hart über den Bühnenboden geschoben, auch vernimmt man dabei schabende, knirschende, kratzende Geräusche. Es sind ungeahnte Stimmen, die da ertönen. Singende Stühle. Mythische Traumzeit in männerloser Welt.

Recht unscheinbar und verhalten hat der Abend begonnen, doch wenn man in den ersten Minuten gedacht haben sollte, hier wabere nur etwas im Ungefähren, so hat man sich gewiss geirrt. Diese Aufführung kann jederzeit in gläserne Poesie entschweben oder auch in schneidende Schärfe umschlagen. Sie kann naiv und durchtrieben sein. Schon kurz nach dem schlafwandlerischen Beginn setzen sich alle Mädchen in einer Phalanx auf die Stühle, den Zuschauern konfrontiert, für Minuten in Schweigen verharrend. Da baut sich eine Anspannung bis zur Alarmgrenze auf, die sich dann allerdings unversehens ins Federleichte löst.

Frontal zum Publikum: das Ensemble von "When the mountain changed its clothing" (Bild: Ruhrtriennale)

Frontal zum Publikum: das Ensemble von "When the mountain changed its clothing" (Bild: Ruhrtriennale)

Das Ruhrtriennale-Projekt „When the mountain changed its clothing“ (Als der Berg sein Kleid wechselte), vom Intendanten Heiner Goebbels mit dem famosen Vocal Theatre Carmina Slovenica in Szene gesetzt, ist wahrhaftig ein besonderes Ereignis aus Musik, Choreographie und literarischen Spiegelungen.

Glauben wir mal dem Programmheft und nehmen an, dass es hierbei vornehmlich um den Abschied von der (weiblichen) Kindheit geht. Tatsächlich werden ja Kuscheltiere rituell beigesetzt, wie im Kindergarten ziehen die Mädchen kollektiv Windjacken und Gummistiefel an und tollen herum. Altes wird abgelegt, Neues dämmert herauf. Unschuld und angemaßte Erfahrung halten einander die Waage. Einige Grundthemen des Seins werden fragend durchgespielt. Manche Passagen wirken, als könne alles, alles noch einmal ganz von vorn anfangen. Doch ach! Jegliche Zukunftshoffnung trägt das Weh doch wohl schon in sich. Und schon werden die Lügen des Lebens eingeübt.

(Foto: Wonge Bergmann für Ruhrtriennale)

(Foto: Wonge Bergmann für Ruhrtriennale)

Es ist streckenweise kaum zu fassen, welche Klangwelten diese zwischen 11 und 20 Jahre jungen Mädchen aus Maribor (unter der musikalischen Leitung von Karmina Šilec) herbeizaubern. Der streng präzise, unglaublich fugenlos gefügte, jedoch unangestrengt dargebotene Chorgesang umfasst staunenswert viele Register bis hin zur Obertontechnik; mal hört sich das an wie ein wundersamer Nachhall auf Gregorianik oder erinnert von fern her ans legendäre „Mystère des voix Bulgares“, das vor etlichen Jahren im Westen als Folkpop-Phänomen Furore machte. Mitunter steigert es sich bis zur rhythmischen Ekstase, so etwa beim indischen Traditional „Taka Din“. Sind diese Mädchen etwa auf Höchstleistung gedrillt worden – oder sind sie allesamt einfach phänomenal begabt? Jedenfalls können sie sich in einer nahezu kirchenähnlichen Akustik in der Bochumer Jahrhunderthalle angemessen entfalten.

Das musikalische Material (weit gespannt zwischen Schönberg, Brahms, slowenischer Folklore und Partisanenlied) ist ebenso vielfältig wie die Textbausteine. Der durch Klang und Bewegung geschaffene Kontext verwandelt die verwendeten Texte, macht sie gleichsam durchlässig, transparent: Wer hätte ohne weiteres gedacht, dass ein ungemein modern anmutendes, zyklisches Frage-Exerzitium über Jugend, Alter und Tod aus Jean-Jacques Rousseaus „Émile oder über die Erziehung“ stammt? Ein eigenwilliger Exkurs zum Geld wird dem Werk von Gertrude Stein entnommen, weitere Wortschwingungen kommen von Joseph von Eichendorff, Alain Robbe-Grillet („Wovon träumen die jungen Mädchen? – „Vom Messer und vom Blut.“), Adalbert Stifter oder Marlen Haushofer. Sie lösen auch im Spiel magische Momente aus: Ein Brot tragen. Mit einem Ball spielen. Wie innig das sein kann!

Alles besteht gleichwertig nebeneinander, entkoppelt und befreit vom herkömmlichen Sinn. Altgewohnte Zusammenhänge werden durch ebenso zwingende wie beiläufige Wiederholungs-Zyklen (geleitet und begleitet vom Kreislauf der Jahreszeiten, in deren Verlauf eben auch der titelgebende Berg sein Kleid wechselt) geführt, auf dass ein reiner Anfangszustand leuchten möge. Vielleicht sogar angstlos und frei.

Großer Beifall für große Kunst.

Weitere Aufführungen (mehrsprachig mit deutschen Übertiteln) nur noch am 28. Und 29. September, jeweils 19.30 Uhr, in der Jahrhunderthalle Bochum




Alles mehrt sich mehr und mehr

Es nervt seit geraumer Zeit und sicherlich haben schon Leute darüber geschrieben. Doch sei’s drum. „Wiederholung schafft Verständnis“, wie es unter scherzbereiten Journalisten heißt, wenn sie drauf und dran sind, eine Doublette zu verzapfen.

In den Zeitungen grassiert seit jeher, doch selbstredend zunehmend, also immer mehr das „Immermehr“ (etwa so: „Immer mehr Blondinen unter 25 gehen zum Schönheitschirurgen“, „Immer mehr Päpste wohnen im Vatikan“ o. ä.), auch wenn es nur um erstunkene Bruchteile von Steigerungsprozentsätzen geht. Der Herr gebe ihnen ihre tägliche Trendgeschichte. Mega. Turbo. Jumbo. Hechel. Lechz.

(Foto: Bernd Berke)

(Foto: Bernd Berke)

Das erbarmungswürdig schlichte Mehr (gern auch in schenkelklopfträchtigen Wortspielen mit „Meer“ verballhornt, so wie Leere und Lehre allzeit miteinander als Flachwitze krepieren) ist also immerzu – aaargh! – „angesagt“.

Folglich benennen Hinz und Kunz ihre Projekte nach dem Muster „Kneipe und mehr“, „Haarschnitt und mehr“ oder dergleichen. An jeder zweiten Ecke begegnet einem diese Mehrerei. Es ist zum Haareraufen.

Eins bis fünf und mehr... (Foto: Bernd Berke)

Eins bis fünf und mehr... (Foto: Bernd Berke)

Gibt man die Wortfolge „und mehr“ in die Suchmaschine seines Vertrauens ein, so wird man beispielsweise vorfinden: „Leonardo – Wissenschaft und mehr“ (WDR-Sendung), „Tiergesundheit und mehr“, „Arbeit und mehr“ (Personalvermittlung), „Schilddrüse und mehr“, „Afrika und mehr“ (Reiseangebote) oder „Hefe und mehr“ (Backtipps). Die Zahl der Beispiele ließe sich nahezu beliebig steigern. Wer findet noch absurdere?

Es ist nur eine Frage der Zeit, wann der erste Arzt „Heilen und mehr“ offeriert, Anwaltskanzleien „Klagen und mehr“ verheißen oder ein Bordell mit „Vö**** und mehr“ lockt.

Da wird einem rundum etwas vorgegaukelt. Der so genannten Phantasie wird ein so genannter Spielraum gelassen. „Kneipe und mehr“, das heißt doch eventuell: …und Seelentrost …und Wohlfahrtsinstitut …und Drogenberatung …und Partnerbörse …und Alltagskulturstätte. Und. Und. Und. Kneipe und alles. Oder halt nix.

Stöbert man öfter in Feuilletons, so fällt einem jetzt vielleicht einer der dämlichsten aller Rezensionssätze ein, nämlich dieser hier: „Weniger wäre mehr gewesen.“ Auch malt man sich womöglich den ultimativen Titel einer Kunstschau aus: „Vermeer und mehr“.

Was denn, was denn? Sie lassen gerade den Blick nach oben links auf dieser Seite schweifen? Und Sie finden dort als Untertitel der Revierpassagen die nichtswürdige Floskel „Kultur und mehr…“?

Das kann doch wohl nicht wahr sein. Das wäre ja peinlich. Da lassen Sie sich mal schleunigst etwas Besseres einfallen!

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Nachtrag am 29. September:

Der Untertitel dieses Blogs lautet jetzt nicht mehr „Kultur & mehr…“, sondern „Kultur & weiteres…“ Auch keine Offenbarung, aber immerhin.




„Tatort“ Dortmund: So heimelig kann Fernsehen sein!

Das trifft sich gut: Da ist man gerade heute früh aus dem Urlaub zurückgekehrt und hat deshalb sowieso schon diesen Distanzblick auf die eigene Stadt. Und dann läuft just am selben Abend der allererste ARD-“Tatort“, der in Dortmund spielt.

Auch da wirken die wie mit dem Salzstreuer auf den Film verteilten Schauplätze (man muss schließlich den Ort sofort nachhaltig beglaubigen) so fremd vertraut. Wenn man sich hier auskennt, muss man freilich befürchten, dass die fernsehtauglich sehenswerten Stätten alsbald aufgebraucht sein werden, sollte es in dieser nahezu panischen Frequenz weitergehen. Stadtsilhouette aus der Ferne, Standard-Panorama mit Bibliothek und „Dortmunder U“, Katharinentreppe, Polizeipräsidium, Industriemuseum Zeche Zollern, Westfalenstadion (aka Signal-Iduna-Park), allerlei Ansichten zwischen Halde und pompöser Großbürgervilla – all das wurde gleich geflissentlich in die erste Folge (Untertitel „Alter Ego“) gepfercht.

Bei einer mehrmals gezeigten Einstellung schweift der Kamerablick gar bis in die Straße, in der ich lebe. Oh, wie heimelig kann Fernsehen sein! Und das, obwohl (ungelogen!) in Köln etliche WDR-Redakteure nicht einmal wissen, dass es in Dortmund ein Landesstudio des Senders gibt…

Na, egal.

Von „Taubenvatta“ bis zum Bionik-Unternehmer reicht die Skala der Sozialtypen. Dortmund hat offenkundig nicht nur lastende Vergangenheit, sondern auch (technologische) Zukunft. Der erste Mord wird denn auch nicht etwa mit einem Hammer ausgeführt, sondern mit einem niedersausenden Computerbildschirm. Und der Sohn des einstigen Stahlmagnaten lässt Roboter entwickeln. Sein eiförmiges Büro stammt übrigens vom Designer Luigi Colani und befindet sich gar nicht in Dortmund, sondern in der kleinen Nachbarstadt Lünen. Aber wir wissen ja, dass Städte im Film ohnehin nur ein Konstrukt sind.

Das Betriebsklima im Ermittlerteam wird unversehens zum Hauptereignis, die Morde in der Schwulenszene laufen gleichsam nebenher und dürfen – mitsamt einer homophoben Sekte – geradezu als Ausweis für Urbanität neueren Zuschnitts gelten. Der wie aus dem Nichts von Lübeck her kommende Kommissar Faber (Jörg Hartmann) ist einer, der Interesse und Argwohn auf sich zieht. Harsch, verschattet, ziemlich depressiv, manchmal nahezu autistisch, Hauptspeise Ravioli aus der Dose, nirgendwo heimisch – außer vielleicht künftig wieder ein kleines bisschen in Dortmund, wo er seine Kindheit verlebt hat? Einer, der sich intensiv in die Gefühlslage der Täter versetzt, gerade wenn sie von der Norm abweichen. Seine eigene Seelenstimmung scheint rasch zu wechseln zwischen „Was mache ich hier eigentlich?“ und jäher Identifikation. Man möchte wirklich wissen, wie das weitergeht mit ihm und seiner Abteilung (Anna Schudt, Stefan Konarske, Aylin Tezel). Insofern hat der Auftakt einen wesentlichen Zweck erfüllt.

Jargon und Mundart des Reviers zitieren sie hier, als sei das alles nur eine Reminiszenz. Mal taucht kurz ein knorriger Schulhausmeister (übrigens gespielt von Rolf Dennemann, gelegentlich auch Mitarbeiter der Revierpassagen) auf, mal besagter Taubenzüchter, der Angst hat, dass hergelaufene Yuppies seine Tiere vergiften, oder ein BVB-Fantrüppchen grölt unflätiges Zeug. Doch das sind bloße Episoden. Meist reden sie hier recht elaboriert daher. Der Kommissar zitiert Tennessee Williams ganz beiläufig aus dem Gedächtnis. Überhaupt wird vorwiegend druckreifes Hochdeutsch mit ganz leichter Einfärbung gesprochen. Mehr darf man den Bayern oder Schwaben wohl nicht zumuten. Und es gilt ja auch, jeglichem Klischee zu entrinnen.

Über einige Details darf man aus lokaler Sicht milde lächeln. Wenn etwa ein Verdächtiger seine nächtliche Anwesenheit im Kulturzentrum „Dortmunder U“ damit begründet, dass dort tagsüber Besucher seien, so schwingt insgeheim die örtliche Debatte um den notorischen Besucherschwund mit. Sieht man das weitläufige Treppenhaus, so staunt man, dass tatsächlich mal alle Rolltreppen wie geölt funktionieren. Doch was kümmert’s den kleinen Rest der Republik?




Eine Liebe aus lauter Worten – Martin Walsers Roman „Das dreizehnte Kapitel“

Diese nahezu parodistisch klingenden Namen – und welcher lebenswichtige Ernst wird später daraus! Da lernt, bei einem bundespräsidial umrahmten Geburtstagsfest auf Schloss Bellevue, die Theologin Dr. Maja Schneilin den Romancier Basil Schlupp kennen.

Aber ach, nein! Kennenlernen wäre viel zu viel gesagt. Sie tafeln im selben Raum, doch nur er nimmt sie wahr – und wie! Groß. Strahlend. Einzigartig. Damit sie überhaupt auf ihn aufmerksam wird, bringt er im Laufe des Abends eine blödsinnig starke Behauptung vor. Kurz darauf schreibt er ihr, und zwar so raffiniert feinfühlig, dass sie sich zu einer Antwort hinreißen lässt.

Eigentlich schade. Denn man könnte stundenlang lesen, wie überaus geschmeidig und nuanciert Martin Walser derlei gesellschaftliche Zusammenkünfte wie jene im Schloss schildert. Das beherrscht er seit jeher virtuos, schon seit den legendären „Ehen in Philippsburg“ (1957).

Doch nun beginnt ein veritabler Briefroman; eine Gattung, die man schon für ausgestorben halten konnte. Aber auch dabei entfaltet sich etwas, was niemandem besser gelingt als eben Walser: eine Vierecksgeschichte, wie sie etwa schon „Ein fliehendes Pferd“ (1978) bestimmt hat. Basil Schlupps Frau Iris (TV-Serienautorin) und Maja Schneilins Mann Korbinian (geschäftlich erfolgreicher Molekularbiologe) sind im Reigen der Briefe stets präsent.

Dahinter scheint in kunstvoller Verschachtelung eine weitere Vierecksgeschichte auf, denn Maja und Korbinian sind auf desolate Weise mit dem steinreichen Egozentriker Ludwig und dessen Frau Luitgard befreundet. Geradezu schmerzlich rührend wird das recht eigentlich Unaufhebbare solch langjähriger Zweisamkeiten deutlich, allem ehelichen Verdruss zwischen geschwätzigen und stummen Tagen zum Trotz. Diese Paare bleiben zueinander gefügt, aneinander gekettet, das ist gewiss. Und doch ist da jenes Unabweisliche, das ganz Andere…

Anfangs schien der besagte Briefwechsel vor allem auf männlicher Seite eine galante, beinahe zierlich-rokokohafte Sprachtändelei zu sein, doch dabei bleibt es beileibe nicht. Maja und Basil schreiben sich nach und nach ins schier Unmögliche hinein, sie bauen Wortbrücken ins luftleere Nichts, spielen unentwegt mit dem „Als ob“, das sich erhitzt. Es wächst und wächst ein wortwörtlicher Überschwang, die beiden gestehen einander Dinge wie niemandem sonst. Martin Walser gelangt dabei noch einmal auf die Höhen seiner ungemein einfühlsamen Schreibkunst.

Maja und Basil sind unterwegs zu einem absoluten Mitteilen, zu einer hochkultivierten Stufe körperlos erotischer Existenz, hervorgerufen mit rein sprachlichen Mitteln, belletristische und theologische Beigaben inbegriffen, zumal Maja einen Liebesbriefwechsel des berühmten Theologen Karl Barth von Maja als historisches Muster benennt. Briefeschreiben, so erfahren wir jedenfalls innig, kann zum alles erschütternden Abenteuer der Selbstüberschreitung werden. Ein Abenteuer für jene, die sich auch sonst mit dem Vorhandenen nicht abfinden wollen.

Schon die Signaturen einiger Briefe aus den Zonen der lockenden Unmöglichkeit lassen ahnen, wohin das Schreiben einen tragen kann:

„Es grüßt Sie der Verratssüchtige“
„Ihr Anempfinder“
„Ihre Teilhaftige“
„Ihr heute Ausgelieferter“
„Die Gelieferte“
„Deine Kapitulierende“.

Ein sekundenkurzer Zufallstreff am Flughafen („Wunder von Tegel“) lässt die brieflichen Worte überfließen, nun fehlen im Buch sogar vorübergehend die Seitenzahlen (von 158 bis 161), so allenthoben wird auf einmal jubiliert.

Doch es folgt ein jäher Absturz. Schlupp hat ein gedankenlos gefallsüchtiges Interview gegeben, in dem er seine Beziehung zu Frauen aus steter Höflichkeit herleitet. Kein Wunder, dass die kurzzeitig entflammte Maja tief beleidigt ist. Statt der langen Mails, die sie zuletzt geschrieben hat, findet Schlupp auf dem Bildschirm nur noch die Botschaft „Es sind keine Objekte in dieser Ansicht vorhanden“.

Mit der letzten Wendung beginnt ein Schlussteil, der gleichsam mit schnellerem Atem geschrieben zu sein scheint, buchstäblich zum Ende hin. Maja schickt wieder Briefbotschaften an Basil, und zwar hierüber: Ihr Mann Korbinian ist krebskrank, zwingt aber sich und sie zu einer irrsinnigen Fahrradtour in die entlegensten Landstriche des nordkanadischen Yukon-Territoriums, wo die zusehends Erschöpften lauter Liebesversehrten begegnen. Dort auch ertönt in zwei längeren Zitaten Jack Londons lebens- und todessüchtiger „Ruf der Wildnis“.

Selbst wenn man es vielleicht kommen sieht, so ergreift einen das Finale.

Martin Walser: „Das dreizehnte Kapitel“. Roman. Rowohlt Verlag. 271 Seiten. 19,95 Euro.




Glück auf, Glück auf, der Donald kommt

Achtung, Breaking News: Donald Duck und die Seinen sind jetzt im Ruhrgebiet angekommen.

Das hat selbst die „Bild“ in Wallung gebracht. Und natürlich stürzt sich die gesamte Regionalpresse darauf. Das Kalkül ist also aufgegangen. Selten hat der Enterich in den letzten Jahren derart viele Schlagzeilen produziert.

Ächz!

Der Ehapa Verlag, der mit seinen deutschen Micky Maus-Heften seit vielen Jahren gegen Auflagenschwund kämpft, sucht sein Heil in der Heimatnähe. Und also gibt’s jetzt im wöchentlichen Wechsel eine donaldistische Schnitzeljagd quer durch die deutschen Metropol-Regionen. Anders gesagt: Man wanzt sich mit neuem Konzept an die verbliebene minderjährige Kundschaft heran. Die Prognose, dass der Effekt rasch verpufft, dürfte nicht allzu gewagt sein.

Seufz!

Und doch: Was sind wir stolz, dass man den Ruhrpott nicht vergessen hat! Wie allerliebst wird da mit den Klischees der Gegend gespielt. Wäre ja auch noch schöner, hätte man die Chance verschenkt, Zechensilhouetten in die Story einzubauen. Die einigermaßen muntere Handlung kreist um Zollverein in Essen, Gasometer Oberhausen und das Dortmunder Fußballstadion. Anschließend saust man weiter nach München. Ob Onkel Dagobert dort wohl mal Lederhosen anprobiert?

Grins!

Schon vor Wochen ist die Presse eingestimmt und munitioniert worden, ich habe auch so ein Päckchen mit PR-Material bekommen. Neben dem in Berlin spielenden Heft gehörte auch eine Billigplastik-„Soundmaschine“ zum Lieferumfang, die mit verschiedenen Kärtchen gefüttert werden kann, um beispielsweise Rülpsgeräusche zu erzeugen. Wie haben die nur meine sehnlichsten Wünsche erraten?

Rülps!

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P. S.: „Warum finde ich hier keine tollen Donald-Bilder aus dem aktuellen Ruhrgebiets-Heft?“

Darum (Auszug aus den restriktiven Nutzungsbedingungen):

„Nutzungsbedingungen der Motive „Die Ducks in Deutschland“:

Veröffentlichung/Druck der Dateien ist nur gestattet:

– bei Quellen-Angabe „Micky Maus-Magazin“ und Egmont Ehapa Verlag
– dem Abdruck des jeweils aktuellen Covers
– im Rahmen der Berichterstattung über die Aktion „Die Ducks in Deutschland“
– bei korrektem Copyright-Vermerk: © Disney
– und einmalig vom 25.08.2012 (12:00 Uhr) bis zum 31.10.2012 honorarfrei.

Bei Online-Nutzung ist die Veröffentlichung nur in niedriger Auflösung (72 dpi) gestattet & darf nicht zum Download zur Verfügung gestellt werden!

Online muss mit www.micky-maus.de, www.ehapa-shop.de/ddid oder www.ehapa.de verlinkt werden.“

(© der Nutzungsbedingungen: Disney / „Micky Maus-Magazin“ und Egmont Ehapa Verlag)




Prechts TV-Premiere (II): Kragen offen

Mit solch knackigen Schlagzeilen müssen heute auch philosophisch getönte TV-Sendungen im sonntäglichen Nachtprogramm aufwarten: „Skandal Schule – Macht Lernen dumm?“ Klingt im Ansatz leider schwer nach Christiansen und dergleichen Plauderstündchen.

Es war die ZDF-Premiere für den vielfach kaum vermeidlichen Vordenker Richard David Precht, der seit seinem Bestseller „Wer bin ich und wenn ja wie viele?“ in Deutschland für fast alle Sinnfragen zuständig sein soll. Der fernsehübliche Starkult gebietet es wohl, seine neue Sendung „Precht“ zu nennen – und zwar mit neckisch schräg gestelltem „E“, also ungefähr so: „PrEcht“. Das ist witzkitzelndes Sprachdesign, aber echt!

Zum Auftakt hatte Precht Prof. Gerald Hüther zu Gast, der in Einblendungen wahlweise als Hirnforscher oder Bildungskritiker bezeichnet wurde. Natürlich kritisiert er nicht die Bildung, sondern das, was in unseren Schulen daraus geworden sei: bloßes Eintrichtern vorgegebener Stoffe, weit entfernt von jeder Körperlichkeit, Kreativität und Leidenschaft. Die Lehrer, so hieß es, bräuchten schleunigst die Rahmenbedingungen, um „Potenzial-Entfaltungs-Coaches“ zu werden. Welch’ eine grässliche Formel aus gewiss begründbarem Reformeifer, der in dem Satz gipfelte: „Jedes Kind ist auf seine Weise hochbegabt“.

Leuchtender Tisch: Horribles Studiodesign bei "PrEcht", abfotografiert vom ZDF-Fernsehbild.

Leuchtender Tisch: Horribles Studiodesign bei "PrEcht", abfotografiert vom ZDF-Fernsehbild.

Das Zwiegespräch mit Precht verlief zu 99 Prozent im schönsten Einvernehmen, die beiden spielten einander die vorab vereinbarten Stichworte zu wie beim Pingpong. Sie hatten alles sofort parat, da „saß“ jeder Satz druckreif, alle Daten waren gleich unumstößlich zur Hand. All das ließ auf ein Übermaß an Vorbereitung schließen, für spontane Denkschritte oder Eingebungen blieb da keinerlei Raum. Veritable Denkpausen gar, in denen einmal kurz geschwiegen worden wäre, gab es erst recht nicht.

Grausam die Studio-Dekoration mit etlichen Spotlights und einem leuchtenden Tisch zwischen den Gesprächspartnern. Da das Licht derart die Gesichter von unten modellierte, wirkte das Zusammentreffen auf jahrmarktsbillige Weise dämonisch, wenn nicht gar wie eine unfreiwillig komische spiritistische Séance. Zwischenzeitlich wurde ja auch der Geist Humboldts beschworen, als hätte er gleich ein Statement beisteuern sollen.

Wozu denn Knöpfe schließen? Richard David Precht, abfotografiert vom ZDF-Fernsehbild.

Wozu denn Knöpfe schließen? Richard David Precht, abfotografiert vom ZDF-Fernsehbild.

Weil auch im Nischen-Fernsehen kaum noch Stillstand erlaubt ist, umkreiste die ruhelose Kamera immerzu die beiden Protagonisten. Wenn sie auf dem hinreichend telegenen Precht verharrte, konnte man gelegentlich denken, hier habe ein Winnetou-Darsteller umgesattelt.

Precht und Hüther verzichteten auf Krawatten, sie trugen ihre Hemden ganz leger. Da liegt ein ritueller Schlussatz fürs neue Format nahe, ganz ähnlich wie damals beim „Literarischen Quartett“. Vorschlag: „Und also sehen wir betroffen / den Vorhang zu und alle Kragen offen.“




Vom harten Leben gezeichnet: „Mannsbilder“ aus der Sammlung Brabant

Unter dem Titel „Mannsbilder“ zeigt der Kreis Unna jetzt im idyllisch gelegenen Haus Opherdicke 110 Kunstwerke, auf denen Männer dargestellt werden. Die Schau folgt einer ähnlich gelagerten namens „Frauenansichten“ mit Bildern, auf denen… Richtig. Das klingt nicht gerade nach ausgefeiltem oder angestrengtem Konzept.

Doch es ist wohl ein gangbarer Weg, will man Schneisen durch eine Kunstsammlung schlagen, mit der die Besucher noch nicht vertraut sein können. Der Kreis Unna möchte die Sammlung Brabant dauerhaft an sich binden. Verhandlungen mit dem Wiesbadener Sammler Frank Brabant über eine Stiftung sind offenbar auf gutem Wege, auch das Land NRW ist eingebunden. Sukzessive wird gezeigt, was es mit Brabants Ankäufen auf sich hat. 2013 sollen noch Neue Sachlichkeit bzw. Kritischer Realismus mit Dix, Grosz und vielen anderen an der Reihe sein, 2014 kommt das Konvolut gegenstandsloser Kunst in Betracht.

Karl Hofer, Selbstbildnis, 1928, Öl auf Leinwand (Bild: Katalog/Sammlung Brabant)

Karl Hofer, Selbstbildnis, 1928, Öl auf Leinwand (Bild: Katalog/Sammlung Brabant)

Brabants Kollektion umfasst mittlerweile rund 480 Stücke und wächst permanent weiter. Auch etliche große Namen wie Beckmann, Jawlensky oder Pechstein sind vertreten. Doch vorwiegend sammelt Frank Brabant Arbeiten des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit aus der „zweiten Reihe“, sprich: von Künstlern, die nicht so bekannt geworden sind, es meistenteils nicht werden konnten. Viele von ihnen wurden in der NS-Zeit verfemt und konnten sich auch nach dem Krieg – sofern sie überlebt hatten – nicht auf einem Markt durchsetzen, der praktisch nur noch Abstraktion gelten ließ.

Immanuel Knayer, "Arbeiter bei der Frühstückspause", 1925, Öl auf Leinwand (Bild: Katalog)

Immanuel Knayer, "Arbeiter bei der Frühstückspause", 1925, Öl auf Leinwand (Bild: Katalog)

Eine „verschollene Generation“ hat man sie genannt. Es ist nur recht und billig, dass man an sie erinnert und ihre Bilder zeigt. Doch nicht jedes Werk und jeder Künstler müssen nachträglich um jeden Preis aufgewertet werden. Darum geht es ja auch nicht.

Conrad Felixmüller "Bildnis Hermann Kühn", 1923, Öl auf Leinwand (© VG Bild-Kunst, Bonn 2012)

Conrad Felixmüller "Bildnis Hermann Kühn", 1923, Öl auf Leinwand (© VG Bild-Kunst, Bonn 2012)

Überdies ist es spannend zu verfolgen, wie Brabant mit relativ begrenzten Mitteln gleichwohl eine ordentliche bis beachtliche Sammlung mit nur wenigen Fehlgriffen aufbaut, indem er etwa antizyklisch kauft, frühzeitig auf unterschätzte Richtungen aufmerksam wird und sich längst nicht nur auf Ölbilder kapriziert, sondern Schwerpunkte bei der nicht ganz so kostspieligen Druckgraphik und den Arbeiten auf Papier setzt. Keine Frage: Auch Aquarelle, Holzschnitte, Lithographien oder Radierungen können exzellent sein.

„Mannsbilder“ also. Ein fast schon flapsiger Titel angesichts einiger Kriegs- und Elendsdarstellungen, die auch dazugehören (z. B. Immanuel Knayer „100% erwerbsunfähig“, ca. 1925). Es zählt auch das eine oder andere Paarbild hinzu, welches folglich auch bei den „Frauenansichten“ hätte hängen können. Ja, ein Werk ist sogar von dort hierher gewandert, denn zwischenzeitlich hat man herausgefunden, dass William Straubes Pastell von 1913 keine Frau, sondern den Maler Helmut Macke zeigt.

Karl Hofer, "Die törichten Männer", 1940, Öl auf Leinwand (Bild: Katalog/Sammlung Brabant)

Karl Hofer, "Die törichten Männer", 1940, Öl auf Leinwand (Bild: Katalog/Sammlung Brabant)

Die Ausstellung der Frauenbilder hatte noch einen Untertitel getragen („Mutter, Muse, Femme Fatale“). Auf derlei Zuschreibungen verzichtet man diesmal. Generell wird hier allerdings in groben Zügen erkennbar, dass das Bild des Mannes als Held oder Beherrscher zusehends im Schwinden begriffen war. Das Maskuline steckt tief in der Krise, ist vielfach gezeichnet von Alter, Krankheit, Todesnähe oder auch unfreiwilliger Lächerlichkeit. Symptomatisch Karl Hofers Bild „Die törichten Männer“ (1940), ein Quartett, das nur noch unbeholfen groteske Posen einnimmt.

Geht man mit dem Sammler durch die Ausstellungsräume, hält der Autodidakt keine hochgestochenen kunstgeschichtlichen Vorträge, auch sinniert er nicht über leitende Ideen. Zu fast allen Künstlern fallen ihm jedoch prägnante Lebensgeschichten ein, zumeist sehr betrübliche bis hin zu Verfolgung, Wahnsinn und Freitod. All die Schattierungen menschlichen Unglücks… Auch das ist ein legitimer Zugang zur Kunst, ein Anstoß, sich mit einzelnen Malern eingehend zu befassen. Zu einem eher unscheinbaren, spätimpressionistischen Kinderbildnis im Kleinformat von Louis Valtat („Enfant“, 1912) bemerkt Brabant, es sei ein Lieblingsbild von Greta Garbo gewesen. Beinahe schon ein boulevardesker Ansatz. Aber bitteschön, warum nicht? Wenn es der Kunstfindung dient.

Oskar Kokoschka, Walter Hasenclever, 1918, Lithographie auf Papier (Bild: Katalog/Sammlung Brabant)

Oskar Kokoschka, Walter Hasenclever, 1918, Lithographie auf Papier (Bild: Katalog/Sammlung Brabant)

Intensivere Studien mag man vor den zahlreichen (Selbst)-Porträts betreiben. Man kann gar Max Liebermanns Selbstbildnis aus den 20er Jahren mit Conrad Felixmüllers Liebermann-Bildnis von 1926 vergleichen. Oder man geht solchen speziellen Fragen nach: Wie hat Kafkas heute unbekannter Freund Friedrich Feigl gemalt? Und wie sieht ein surrealistisches Bild von Michael Endes Vater Edgar („Die aus der Erde Kommenden“, 1931) aus? Doch Spekulationen, die über allgemein phantastische Anregungen für den Sohn hinausgehen, die sollte man sich füglich nicht erlauben. Dies ist dies und das ist das.

„Mannsbilder“. Die Darstellung des Mannes in der Klassischen Moderne. Werke aus der Sammlung Brabant. Ab 2. September (Eröffnung 11.30 Uhr) bis 25. November 2012. Haus Opherdicke, Dorfstraße 29, Holzwickede (Tel. 02301/918 39 72). Geöffnet Di-So 10.30-17.30 Uhr. Eintritt 4 Euro, Familie 8 Euro, Jahreskarte 20 Euro. Katalog 24 Euro.

Ergänzende Informationen:

Haus Opherdicke hat im ersten Jahr als Ort der Kunst immerhin etwa 15000 Besucher angezogen.

Zum Vergeich: Die zweite Kunststätte des Kreises Unna, das Schloss Cappenberg (Selm), verzeichnete im selben Zeitraum rund 50000 Besucher.

Beim bisher kostenlosen Zutritt zu den Cappenberger Ausstellungen wird es wohl nicht mehr lange bleiben. Das sagt der Kämmerer und Kulturdezernent des Kreises, Rainer Stratmann. Opherdicke nimmt schon jetzt einen Obolus.

Rund um das Haus Opherdicke, ohnehin schon ein naturnahes Ausflugsziel, soll nach und nach ein Englischer Garten entstehen.




Wenn der Bürgermeister das Lokalblatt lobt

Ach, es ist ein gar schönes Ding um die Wächterrolle der Presse, zumal im lokalen Bereich, wo die Redakteure ganz nah am Geschehen und an den Akteuren sind – manchmal allerdings auch allzu nah.

Oder umgekehrt. Da kann es mitunter vorkommen, dass der Bürgermeister eines Ortes sich allzu sehr der Zeitung anbequemt. Beispiel Schwerte, Beispiel heutige Lokalausgabe der Ruhr Nachrichten. Da prangt auf Seite eins oben links die Kolumne „Guten Morgen“ mit dem halbspaltig abgebildeten Kopf des Bürgermeisters Heinrich Böckelühr (von Scherzbolden auch schon mal „Hein Böck“ genannt). Er selbst kommt hier zu Wort. Aha! Da muss es sich doch vermutlich um eine gewichtige Frage des Gemeinwohls handeln.

Was also hat das Stadtoberhaupt mitzuteilen? Dies hier: „Ich freue mich sehr auf die große Radrallye XXL der Ruhr Nachrichten…“ Fast ganz Schwerte werde auf den Beinen sein, um daran teilzunehmen. Über gedrechselte Formulierungen wie „Ganz besonders toll finde ich“ und „Ich finde es einfach super“ hangelt sich CDU-Mann Böckelühr bis zum hymnischen Schlusssatz, der da lautet: „Danke, Ruhr Nachrichten, für diese Idee!“

Heftiger kann man das blaue PR-Fähnchen kaum schwenken. Mal schauen, wie das derart gepriesene Blatt in nächster Zeit mit Böckelührs politischen Entscheidungen umgeht.




Zum 100. des Hagener Malers Emil Schumacher: Vergleich mit seinen Zeitgenossen

In Hagen kann man jetzt malerischen Energieströmen nachspüren – zwischen Fließen und Stocken, spontaner Bewegung und Innehalten der Linienführung, zwischen schützender Versiegelung und vehementer Durchbrechung der Bildoberflächen. Von den zahllosen weiteren Nuancen gar nicht zu reden.

Der Ausstellungsanlass ist gewichtig: 100 Jahre alt wäre der aus Hagen stammende Maler Emil Schumacher (1912-1999), ein Künstler von anerkanntem Weltformat, am 29. August geworden. Ursprünglich hatte man in seiner Himatstadt eine umfangreiche Retrospektive ausrichten wollen, die sich aufs Emil-Schumacher-Museum und das benachbarte Osthaus-Museum erstreckt hätte.

Emil Schumacher "Temun" (1987), Öl auf Holz (Emil Schumacher Stiftung, Hagen / © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Emil Schumacher)

Emil Schumacher "Temun" (1987), Öl auf Holz (Emil Schumacher Stiftung, Hagen / © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Emil Schumacher)

Dann aber, so Emil Schumachers Sohn Ulrich (langjähriger Leiter des Bottroper Museums, dann spiritus rector des Emil-Schumacher-Museums), sei man zu der Einsicht gelangt, dass eine solche Werkschau einigermaßen unsinnig wäre. Denn das nun von Rouven Lotz geleitete Haus zeigt ja ohnehin unentwegt Schumacher-Bestände vor, wenn auch sukzessive und in wechselnden Zusammenhängen.

Nun also sind ausgewählte Bilder Schumachers im internationalen Vergleich mit Werken einiger Zeitgenossen zu sehen. Der Titel geht auf ein abgewandeltes Schumacher-Zitat zurück: „Malerei ist gesteigertes Leben“. Die von Gastkurator Prof. Erich Franz eingerichtete Schau konzentriert sich auf 62 Arbeiten. Hochkarätige Künstlerliste: Außer Schumacher stehen darauf Jean Dubuffet, Lucio Fontana, Franz Kline, Willem de Kooning, Robert Motherwell, Emil Nolde, Pierre Soulages, Antoni Tàpies, Cy Twombly, Emilio Vedova und Wols. Und noch ein paar weitere Namen. Dies und das reichhaltige Beiprogramm sind nur mit Sponsoren möglich, die der Katalog getreulich verzeichnet.

Emil Schumacher "Documenta II", 1964, Öl auf Leinwand (Osthaus-Museum, Hagen / © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Emil Schumacher)

Emil Schumacher "Documenta II", 1964, Öl auf Leinwand (Osthaus-Museum, Hagen / © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Emil Schumacher)

Kurator Franz vertraut darauf, dass auch Menschen ohne sonderliche Kunstkenntnis hier manche Zusammenhänge erkennen werden, weil die Formen für sich selbst sprechen. Doch man muss wohl schon einige Seherfahrungen mitbringen, um mit der nötigen Feinheit unterscheiden zu können. Wer etwa die Urkräfte eines Wols-Bildes mit jenen vergleichen will, die bei Emil Schumacher walten, sollte möglichst kein Museumsneuling sein. Andererseits ist es mit elaboriertem Kunstwissen allein nicht getan. Hier ist – vielleicht mehr als sonst – auch einlässlich emotionales Schauen gefragt.

Emil Schumacher hat die scheinbar urwüchsig „wilde“ Linien-Dynamik immer wieder ganz bewusst mitten im Schwung angehalten oder jäh umgelenkt, weil ihm ungehemmte Spontaneität nicht geheuer war. Trotzdem gibt es laut Erich Franz „keine ruhige Stelle in seinen Bildern“. Er wollte den Betrachter sinnlich und existenziell berühren, ja mit der Materialität des Farbauftrags gleichsam anspringen. Darf die Linie nicht frei fließen, sondern muss sich mühsam Wege bahnen, muss sie Hindernisse und Widerstände überwinden, so resultiert daraus eine noch ungleich heftigere Energie. Auch führt das Liniengeflecht dann mehr Spuren des Erlebens und Erleidens mit sich – und nicht zuletzt errungenes Glück.

Franz hat die Exponate weitgehend chronologisch gehängt, meidet aber klugerweise Direktvergleiche, die zwischen je zwei Bildern womöglich flach ausfallen würden. Man wird hier beständig hin und her gehen und etliche Blickachsen erproben müssen, um Querbezüge oder auch energetische Abstoßungen zu entdecken.

Wols, o. T. (um 1946/47), Grattage auf Leinwand (Franz Haniel & Cie. GmbH, Duisburg / © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Wols)

Wols, o. T. (um 1946/47), Grattage auf Leinwand (Franz Haniel & Cie. GmbH, Duisburg / © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Wols)

Früheste Anregungen, die nachvollziehbar ins Werk der 1930er Jahre eingeflossen sind, empfing Schumacher von Christian Rohlfs und Emil Nolde, sodann auch von Matisse, dessen Schaffen er anfangs nur aus Büchern kannte. So scheint noch Schumachers „Strandbild“ (1950) von Matisse-Bildern wie „Das blaue Fenster“, 1913) inspiriert zu sein.

In den 1950er Jahren markieren fulminante Bilder mit sprechenden Titeln wie „Eruption“ (1956) Schumachers künstlerischen Weg, den auch eine singuläre Erscheinung wie Wols (hier mit zwei Bildern von 1946/47 vertreten) gebahnt haben mag. Um 1957 sprengen Schumachers Tastobjekte die Leinwand und wachsen als Reliefs in den Raum, beispielsweise, indem der Farbauftrag mit Nägeln durchschossen wird. Natürlich liegt hier die Assoziation zu Günter Uecker (allzu?) nahe, dessen „Nagelbaum“ von 1962 hier zu sehen ist.

Antoni Tàpies "Graue Tür auf schwarzem Grund" (1961), Mischtechnik auf Leinwand (Sammlung Lambrecht-Schadeberg/Rubenspreisträger der Stadt Siegen im Museum für Gegenwartskunst / © Fondacio Antoni Tàpies und VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Antoni Tàpies)

Antoni Tàpies "Graue Tür auf schwarzem Grund" (1961), Mischtechnik auf Leinwand (Sammlung Lambrecht-Schadeberg/Rubenspreisträger der Stadt Siegen im Museum für Gegenwartskunst / © Fondacio Antoni Tàpies und VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Antoni Tàpies)

In seinen „Hammerbildern“ hat Schumacher die Leinwand denkbar heftig attackiert und verletzt – ganz anders als Lucio Fontana, der seinen Bildträgern nur sanfte Schnitte zugefügt hat. In solchen Fällen lässt eine Gegenüberstellung eher die Kontraste hervortreten.

Gleichviel! Es ist jedenfalls spannend, die teilweise subtilen Bezüge und Eigenheiten nachzuempfinden. Besonders fruchtbar könnten vertiefende Vergleiche zwischen den äußerlich verkrusteten, erdig verhärteten Bildern Schumachers und den schier undurchdringlichen Oberflächen bei Dubuffet oder Tàpies ausfallen. Auch dürfte eine Zusammenschau der Linien- und Flächenverläufe bei Schumacher, Motherwell und Twombly zu feinsten Differenzierungen führen, die an den Ursprung alles Bildnerischen rühren. Doch dies ahnt man ebenfalls: Auf diesem erhabenen Qualitätsniveau ist jeder Künstler letztlich ein Planet für sich.

Robert Motherwell "Elegy to the Spanish Republic", No. 133 (1975), Kunstharz auf Leinwand (Bayrische Staatsgemäldesammlung, München - Pinakothek der Moderne / © Dedalus Foundation, Inc. und VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Robert Motherwell)

Robert Motherwell "Elegy to the Spanish Republic", No. 133 (1975), Kunstharz auf Leinwand (Bayrische Staatsgemäldesammlung, München - Pinakothek der Moderne / © Dedalus Foundation, Inc. und VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Robert Motherwell)

Bei all dem hilft die kunsthistorisch eingeübte Begrifflichkeit, derzufolge Schumacher zum vermeintlich formlosen „Informel“ zählt (wahlweise auch zum Tachismus, Action Painting oder zum Abstrakten Expressionismus), nicht wesentlich weiter. Prof. Ernst-Gerhard Güse, der just ein neues Standardwerk über Schumacher verfasst hat, wertet nicht nur das mit über 70 Jahren geschaffene Spätwerk auf, sondern verweist darauf, dass Schumacher selbst sich keineswegs als Vertreter des „Informel“ verstanden hat. Noch die explosivsten Bilder seien immer auf Form und Gegenstand rückbezogen. Nur eine akademische Debatte? Oder der Ansatz zu einer grundlegenden Neudeutung?

„Malerei ist gesteigertes Leben – Emil Schumacher im internationalen Kontext“. 29. August 2012 (Eröffnung nach einem um 19 Uhr beginnenden Festakt mit geladenen Gästen in der Stadthalle Hagen, Festredner Bundestagspräsident Prof. Norbert Lammert) bis zum 20. Januar 2013. Am Eröffnungsabend ist das Museum bis Mitternacht geöffnet.

Reguläre Öffnungszeiten Di/Mi/Fr 10-17, Do 13-20, Sa/So 11-18 Uhr. Eintritt 9 Euro (ermäßigt 2 Euro), Familie 18 Euro, Kinder unter 6 Jahren frei.

Katalog (Hirmer Verlag), 160 Seiten, 29,90 Euro im Museum.

Weitere Neuerscheinung: Ernst-Gerhard Güse „Emil Schumacher. Das Erlebnis des Unbekannten“, Verlag Hatje Cantz. 504 Seiten, 49,80 Euro




„Sounds Like Silence“: Auf den Spuren der Stille, an den Grenzen des Schweigens

Jubiläumshalber ist der Komponist John Cage (100. Geburtstag am 5. September) heuer erst recht eine kulturelle Leitfigur. Nicht nur setzt die Ruhrtriennale vielfach bei seinem Werk an, nicht nur hat die Fluxus-Kunst (derzeit im Fokus des Museums Ostwall) ihm Impulse zu verdanken – auch die gedankenreich unterfütterte Ausstellung „Sounds Like Silence“ kommt (parallel im selben Hause Dortmunder „U“) auf ihn zurück. Für die intellektuelle Durchdringung auf hohem Theorie-Plateau sorgt der ortsansässige Hartware MedienKunstVerein (HMKV), dessen Leiterin Inke Arns den Leipziger Medienwissenschaftler Dieter Daniels als Ko-Kurator gewonnen hat.

Porträt des großen Anregers John Cage (© Henning Lohner & John Cage / Foto Henning Lohner)

Porträt des großen Anregers John Cage (© Henning Lohner & John Cage / Foto Henning Lohner)

„Sounds Like Silence“. Hört sich an wie Stille. Oder: Geräusche wie Stille. Der auf den Welthit „Sounds of Silence“ von Simon & Garfunkel anspielende Titel kann füglich auch auf Cage bezogen werden. Der hat das berühmte Stück 4’33’’ erschaffen, 4 Minuten und 33 Sekunden vermeintlich völliger Stille. Die Uraufführung war am 29. August 1952, also vor 60 Jahren. Eine Inspirationsquelle: Robert Rauschenbergs „White Paintings“ (ab 1951), monochrom weiße Bilder, die ebenfalls nicht pure Abwesenheit bedeuten. Bloß keine Angst vor der Leere! Am Saum des Nichtseins ist in allen Künsten stets ein Etwas gewesen.

Das Cage-Stück zwischen Sein und Nichts kann sich mitsamt allen Weiterungen in die Hirnwindungen fräsen. Und so kreist auch die Dortmunder Ausstellung gebannt (jedoch alles andere als kopflos, wenn nicht gar kopflastig) um diese Ikone der akustischen Kunst. Wer hätte gewusst, dass von diesem epochalen Werk viele verschiedene Notationen/Partituren sowie über 50 Platten-Einspielungen existieren – und dass keine exakt der anderen gleicht. Denn die vollkommene Stille gibt es nicht. Immer sind da noch so geringe Nebengeräusche, Schwingungen an der Wahrnehmungsgrenze. Selbst in der schalldichten Kammer (die man hier – sofern seelisch gefestigt – erproben kann) hört man, neben der Aufnahme vom angeblich weltweit stillsten Wüstenort, noch das Grundrauschen der eigenen Nerven- oder Blutbahnen. Dass wir nach dem Tode gar nichts mehr hören, ist auch noch nicht ausgemacht…

Blick in einen der Ausstellungsräume von "Sounds like Silence" (© Foto HMKV)

Blick in einen der Ausstellungsräume von "Sounds like Silence" (© Foto HMKV)

Man schreitet hier durch lauter dunkle Räume, denn man soll sich ja auf Hören konzentrieren. Überall wollen Kopfhörer ergriffen und aufgesetzt sein, auf dass man lausche und zunehmend differenziere. Nun gut, ein paar Filme sind auch zu betrachten – bis hin zur Jux-Aufführung von 4’33’’ durch Helge Schneider in Harald Schmidts Late Night Show (ARD). Mit dem im Internet forcierten Projekt „Cage Against the Machine“ haben es Popmusiker 2010 geschafft, die Stille auf Platz 21 der britischen Charts zu hieven.

Mit Stille in die Charts: Projekt "Cage against the Machine", 2010 (© Courtesy Dave Hillard / Foto Carina Jirsch)

Mit Stille in die Charts: Projekt "Cage against the Machine", 2010 (© Courtesy Dave Hillard / Foto Carina Jirsch)

Die anspruchsvolle Ausstellung verfolgt etliche Nachwirkungen der in 4’33’’ berufenen Ideen. Merce Cunningham hat eine experimentelle Tanzversion besorgt. Selbst Heinrich Böll gerät mit seiner Hörfunk-Satire „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“ (1955) in den Blick, obwohl er sich schwerlich auf Cage bezogen haben dürfte.

Breit ist das Spektrum: Die Formation „Einstürzende Neubauten“ hat mit „Silence is Sexy“ (2000) der Stille gehuldigt. Spezielle Dortmunder Varianten von 4’33’’ gibt es ebenso wie bewusst verfälschende Cage-Aufführungen, die die Frage nach geistigem Eigentum aufwerfen. Als stummer Handy-Klingelton ist das Stück so präsent wie als sukzessive Löschung vormals vorhandener Musik. Studien zur Wahrnehmung der Taubstummen stehen neben einer Videoinstallation von Bruce Nauman, der sein verlassenes Atelier nächtelang filmte. Auch da begab sich noch etwas…

Filmstill aus Name June Paiks Film "A Tribute to John Cage" (1973) (© Nam June Paik)

Filmstill aus Name June Paiks Film "A Tribute to John Cage" (1973) (© Nam June Paik)

Kunsthistorisch interessant ist ein genialisches Gipfeltreffen von Nam June Paik und Cage. Wie der Koreaner 4’33’’ filmisch aufbereitet hat, ist für beide Oeuvres aufschlussreich. Ferner wird ein Interview mit Cage (von Vicki Bennett) ebenso sprachlos gemacht wie eine Tagesthemen-Ausgabe mit Ulrich Wickert (von Hein-Godehart Petschulat) oder eine kriegstreibende Rede des George W. Bush (durch Matt Rogalsky).

Am Horizont solcher Darbietungen erscheint eine Ökologie der Geräusche. Eine leisere Welt wäre wohl keine schlechtere.

„Sounds Like Silence“. Cage / 4’33’’ / Stille. 1912-1952-2012. Bis 6. Januar 2012 im Dortmunder „U“, Leonie-Reygers-Terrasse (Navi Rheinische Straße 1). Eintritt 5 Euro, freier Eintritt bis 18 Jahre. Di/Mi 11-18, Do/Fr 11-20, Sa/So 11-18 Uhr. Internet: www.hmkv.de

Helge Schneider (li.) und Harald Schmidt bei der Jux-Aufführung von 4'33'' (© 2010 Courtesy Kogel & Schmidt GmbH, Grünwald / meine Supermaus GmbH, Mülheim)

Helge Schneider (li.) und Harald Schmidt bei der Jux-Aufführung von 4'33'' (© 2010 Courtesy Kogel & Schmidt GmbH, Grünwald / meine Supermaus GmbH, Mülheim)




Die Verhältnisse zum Tanzen bringen: Fluxus-Kunst im Dortmunder „U“

Wer Fluxus definieren oder gar fixieren will, dem entgleitet das Phänomen unweigerlich: Diese diffus ungerichtete Kunstrichtung mit Schwerpunkt in den 1960er Jahren war ja gerade aufs Tanzen der Verhältnisse aus, gleichsam auf Verflüssigung aller Handlungen. Und wie sehr hat man auf den Alltag, aufs Leben der Vielen einwirken wollen! Die politische Zeitstimmung hat derlei Aufbrüche gewiss begünstigt.

Nicht nur der Zufall hat es so gefügt, dass das Dortmunder Museum Ostwall (heute im Dortmunder „U“) beim Sammeln der Fluxus-Reliquien und Relikte in Deutschland einen der Spitzenplätze einnimmt und auch international zu beachten ist. Vor allem hat man das dem Remscheider Sammler Wolfgang Feelisch zu danken, der bereits seit 1968 Fluxus-Objekte in die Stadt brachte und sich seither immer wieder zu großzügigen Schenkungen bereit fand. Gleichsam in seinem Windschatten hat Dortmund auch umfangreiche Dauerleihgaben aus der Düsseldorfer Sammlung Hermann Braun/Holger Lieff erhalten. Und schließlich hat der Freundeskreis des Museums einige Mittel beigesteuert.

Ob weite Teile der Bevölkerung davon Kunde haben oder es gar zu schätzen wissen, das ist eine ganz andere Frage. Jetzt wäre jedenfalls Gelegenheit, sich anhand von rund 300 Exponaten mit den Beständen vertraut zu machen, darunter auch wesentliche Neuerwerbungen.

Allan Kaprow: "Taling a Shoe for a Walk", 1989, Activity, presented for "Fluxus. 1962-1989" Bonner Kunstverein, Bonn, Germany, Courtesy Allan Kaprow Estate and Hauser & Wirth (Sammlung Museum Ostwall, erworben aus der Sammlung Feelisch, Foto: Jürgen Spiler)

Allan Kaprow: "Taling a Shoe for a Walk", 1989, Activity, presented for "Fluxus. 1962-1989" Bonner Kunstverein, Bonn, Germany, Courtesy Allan Kaprow Estate and Hauser & Wirth (Sammlung Museum Ostwall, erworben aus der Sammlung Feelisch, Foto: Jürgen Spiler)

Wer nun die Dortmunder Schau „Fluxus. Kunst für alle“ auf der 6. Ebene des Dortmunder „U“ betritt, ist wahrscheinlich frappiert, wenn nicht düpiert, gibt sie sich doch auf den allerersten Blick sperrig, eckig, nahezu abweisend. Man sieht zunächst nur lauter ineinander verschachtelte Holzkisten. Bestenfalls denkt man an Umzug, somit denn doch an Bewegung.

Diese Verschläge enthalten Schriftstücke und Gegenstände aller Art. Es sind just Relikte, Reflexionen oder auch „Partituren“ und Handlungsanweisungen einstiger Fluxus-Aktionen, Restbestände von Happenings und Performances. Das Spektrum reicht vom vollen Aschenbecher bis zum Rollmopsglas, von der Weinflasche bis zum rosigen Sparschwein, vom verfremdeten Kleidungsstück bis zur Papierschwalbe. Genug. Des Aufzählens wäre kein Ende.

Blick in einen Teil der Dortmunder Fluxus-Ausstellung (Foto: Bernd Berke)

Blick in einen Teil der Dortmunder Fluxus-Ausstellung (Foto: Bernd Berke)

Manche Auftritte von damals brachen so entschieden mit eingefahrenen Lebensgewohnheiten, rissen den Erwartungshorizont dermaßen weit auf, dass sie bis heute nachwirken – bis hin zu den flashmobs der Internet-Ära. Alan Kaprow entwarf beispielsweise eine Aktion, bei der ein einzelner Damenschuh quer durch die Stadt gezogen und von Zeit zu Zeit mit Mullbinden und Pflaster versorgt wurde. Auch diesen Schuh darf man hier ehrfürchtig betrachten. Oder auch feixend.

Milan Knížák: "Ein fliegendes Buch" (Flying Book)", 1965/70 (Sammlung Museum Ostwall, erworben aus der Sammlung Feelisch, Remscheid). © VG Bild-Kunst, Bonn 2012, Foto Jürgen Spiler

Milan Knížák: "Ein fliegendes Buch" (Flying Book)", 1965/70 (Sammlung Museum Ostwall, erworben aus der Sammlung Feelisch, Remscheid). © VG Bild-Kunst, Bonn 2012, Foto Jürgen Spiler

Widersprüchlich und irritierend genug: Was damals sehr lebendig und lebensnah dahergekommen sein muss, wirkt heute im Museum (wenn nicht Mausoleum) zunächst zwangsläufig stillgestellt, ja fast starr. Man muss sich das aneignen. Besucher sollten Zeit mitbringen, sie müssen sich vor Vitrinen und an Bildschirmen schon ziemlich intensiv in Einzelheiten versenken, um sich das vitale Geschehen der großen Fluxus-Zeit halbwegs zu vergegenwärtigen. Am besten mag dies mit Hilfe der Filme und Tondokumente gelingen, die die Ausstellung anreichern.

Die Fluxus-Protagonisten waren um 1962 (also vor 50 Jahren) angetreten, zwischen Spiel, Provokation und Ironie „Kunst für alle“ hervorzubringen. Allseitige Offenheit in jedem Moment war eine Leitlinie. Alles ist im Fluss. Ein gewichtiger geistiger Vorvater ist John Cage, der heuer 100 Jahre alt geworden wäre und zu Lebzeiten die Grenzen zwischen den Kunstgattungen sprengte, den (kalkulierten) Zufall als kreative Ur- und Triebkraft fruchtbar machte und alle etwaigen Hierarchien auf diesen Feldern einebnete. Sein „Untitled Event“ (1952) gilt als Grundmuster späterer Experimente. Viele Künstler haben seine Seminare besucht. Es kommt nicht von ungefähr, dass sich auch die Ruhrtriennale dem Nachhall seines Oeuvres widmet und dass das Museum Bochum sich derzeit ebenfalls Fluxus auf die Fahnen schreibt.

Robert Watts: "Chrome Hamburger", 1963 (Dauerleihgabe Sammlung Braun/Lieff, Düsseldorf) © Robert Watts Estate, New York, 1963/2012 / Foto: Jürgen Spiler

Robert Watts: "Chrome Hamburger", 1963 (Dauerleihgabe Sammlung Braun/Lieff, Düsseldorf) © Robert Watts Estate, New York, 1963/2012 / Foto: Jürgen Spiler

Wir werfen mal ein paar Namen aus der Dortmunder Ausstellung in die Luft: Allan Kaprow, Wolf Vostell, Milan Knížák, George Brecht, George Maciunas, Daniel Spoerri, Alison Knowles, Robert Watts, Dick Higgins, Robert Filliou. Sie alle zählten zum internationalen Netzwerk der Künstler, die dem Fluxus zugerechnet wurden und vielfach miteinander befreundet waren. Joseph Beuys gehörte dann irgendwie auch hinzu, geradezu unvermeidlich.

Bemerkenswert: Die meisten von ihnen hatten keine künstlerische Ausbildung im akademischen Sinn, es gab etliche Quereinsteiger wie den ehemaligen Ökonomen, den früheren Ingenieur oder Chemiker. Avanti dilettanti? Nun, das wäre zumindest aus heutiger Sicht eine Beleidigung. Fluxus steht nicht zuletzt für luzide, ausgeklügelte Konzepte.

Der Originalitätsbegriff gerät freilich ins Wanken. Man sieht in Dortmund Bruchstücke von Alan Kaprows früherer Installation „Fresh air“ (Frischluft): Da darf man sich vor einen Tischventilator setzen und sich dabei im Handspiegel betrachten, es soll dabei bewusstes Atmen erfahren werden. Es handelt sich um den teilweisen Nachbau eines Remakes der Ursprungsarbeit, also um ein Re-Remake, wenn man’s so verschachtelt will. Viele Fluxus-Überbleibsel sind so genannte Multiples, also Auflagenkunststücke zu anfangs geringen Einstiegspreisen. Alle sollten sich das leisten können. Hat da jemand Kunstmarkt gesagt? Jaja, ist ja schon gut. Aller Anfang war bescheiden.

Robert Filliou/VICE-Versand, Remscheid: "Optimistic Box No. 4 and 5", 1981 Ausführung; Konzept 1968, Multiple (Sammlung Museum Ostwall, erworben aus der Sammlung Feelisch, Remscheid). © VG Bild-Kunst, Bonn 2012, Foto Jürgen Spiler

Robert Filliou/VICE-Versand, Remscheid: "Optimistic Box No. 4 and 5", 1981 Ausführung; Konzept 1968, Multiple (Sammlung Museum Ostwall, erworben aus der Sammlung Feelisch, Remscheid). © VG Bild-Kunst, Bonn 2012, Foto Jürgen Spiler

Auch bewegen wir uns hier im flirrenden Grenzgelände zwischen erklärter Kunst, Alltag und Banalität. Das „Exit“-Schild hoch droben im Raum ist kein Hinweis auf Fluchtwege, sondern ein Kunstobjekt, das auf ständigen Wandel durch Verlassen einer Situation (doch auch auf den finalen Exitus) verweist. Und der blaue Putzeimer, der in der Ecke steht, stammt von Robert Filliou und trägt am Besenstiel ein Schild, das die Allerheiligste der Tafelbildkunst ironisch degradiert: „Bin in 10 Minuten zurück – Mona Lisa“.

Eine Kunst, die bizarre Objekte mit Tischtennisball kreiert (wird er diesmal rechts oder links herausfallen?) oder etwa der Bohne veritable Aktionsreihen widmet (Alison Knowles), hat eben vielfach befreienden Witz. Selbiger muss allerdings hie und da aus den Relikten erst wieder fleißig herausgekitzelt werden. Weiterer Ansatz: George Brecht und Robert Filliou fußen – wie John Cage – je unterschiedlich auf buddhistischem Gedankengut, das alles scheinbaren Paradoxien auflöst.

Wer nach all dem körperlichen Ausgleich braucht, der begibt sich am besten mit bereitgestellten Gummistiefeln in Wolf Vostells Arbeitsfeld „Umgraben“ und schichtet mit einer Schaufel Erdreich um, dabei seltsame Klänge erzeugend. Vostells Denkanstoß zum Tun: „Gefühl umgraben / Gedächtnis umgraben / Zeit umgraben / Ideen umgraben…“

Dortmunds Ostwall-Museumsdirektor Dr. Kurt Wettengl bei der Erdarbeit in Wolf Vostells Installation "Umgraben". (Foto: Bernd Berke)

Dortmunds Ostwall-Museumsdirektor Dr. Kurt Wettengl bei der Erdarbeit in Wolf Vostells Installation "Umgraben". (Foto: Bernd Berke)

FLUXUS. Kunst für alle! 24. August 2012 (Eröffnung 19 Uhr) bis 6. Januar 2013. Museum Ostwall im Dortmunder U (Leonie-Reygers-Terrasse / Navi: Rheinische Straße 1), Oberlichtsaal auf Geschossebene 6 (weiterer Fluxus-Eigenbesitz in der Dauerausstellung auf den Ebenen 4 und 5). Eintritt 5 Euro, ermäßigt 2,50 Euro. Geöffnet Di, Mi, Sa, So 11-18 Uhr, Do/Fr 11-20 Uhr. Umfangreiches Begleitprogramm/Führungen: www.museumostwall.dortmund.de




Dortmunder „Tatort“: Nur nicht hecheln

Heute gibt’s im Westfalenstadion (so und nicht anders heißt die Arena für rechtschaffene Leute) eine groß angelegte Vorschau zum ersten ARD-„Tatort“ aus Dortmund.

Rund 1000 Menschen sollen dabei sein, wenn der TV-Film im Beisein der Hauptdarsteller und des Regieteams auf einer 280 Quadratmeter großen Leinwand Premiere hat. Verzeihung: Weltpremiere natürlich. Kleinere Münze wird nicht ausbezahlt. Zum Event hat sich auch WDR-Intendantin Monika Piel angesagt. Überdies wird Dortmunds (echter) Oberbürgermeister Ullrich Sierau ebenso zugegen sein wie der (echte) Polizeipräsident Norbert Wesseler.

(Symbolträchtiges Foto: Bernd Berke)

(Symbolträchtiges Foto: Bernd Berke)

Wahrscheinlich kommt bei diesem (ausverkauften) Public Viewing im Rahmen der Reihe „Kino im Stadion“ ein wenig Gala- oder Feierstimmung auf, vielleicht schwappt ja gar La Ola über die Ränge. Doch Vorsicht: Solche Wellen zeugen ja meist davon, dass sonst nicht viel Nennenswertes passiert.

Zumindest aber darf bei jeder lokaltypisch angehauchten Szene ein Raunen oder wenigstens Kopfnicken des Erkennens erwartet werden.

So. Nun aber mal kühlen Kopf bewahren. Man kann heute zwar Inhalt, Machart und Macher in Augenschein nehmen, man kann aber diesen „Tatort“ nicht so recht als fernsehspezifisches Ereignis würdigen, das er nun einmal ist. Dazu gehört neben dem Wohnzimmerformat auch das Gefühl, dass man gleichzeitig mit etlichen Millionen zuschaut, so dass es einem als Dortmunder bei jeder etwaigen Peinlichkeit einen leisen Schauder über den Rücken jagen könnte: Oje, was denken sie jetzt draußen im Lande wieder über diese Stadt?! Kleiner Trost: Diesen Tort haben sie in so mancher anderen Gemeinde auch schon durchlitten.

Jedenfalls verweigern wir uns dem unsinnigen Vorab-Gehechel und warten in aller Seelenruhe ab, bis der „Tatort“ mit dem Titel „Alter Ego“ regulär im ARD-Programm steht. Das wird am 23. September um 20.15 Uhr der Fall sein. Dann schaun wir mal, was sie da verbrochen haben.

P.S.: Die Kollegen der Lokal- und Regionalpresse werden übrigens ihre liebe Not haben, in den morgigen Samstagausgaben noch ausführlich auf die Preview einzugehen. Einlass ist zwar ab 20 Uhr, gewiss sind dann auch ein paar nette Fotos mit der Crew möglich, doch der Film beginnt – u. a. nach einem Talk-Intermezzo – erst bei Einbruch der Dunkelheit, gegen 21.45 Uhr. Somit dürfte der „Tatort“-produzierende WDR in seinen Sendungen am Samstag die Nase vorn haben. Ein Schelm, wer sich dabei etwas denkt.




„Kindheiten“ oder: Die untröstliche Heiterkeit des Jean-Jacques Sempé

Nein, eine schöne Kindheit hat er nicht gehabt: Vor den allzeit lautstarken Streits der Eltern flüchtete er, wenn er konnte, zum Radio und wob sich eine Phantasiewelt aus dem Gehörten. Wurden Mutter und Stiefvater zwischendurch auf ihn aufmerksam, dann hagelte es meistens Ohrfeigen. Mindestens.

Wir reden von Sempé. Jean-Jacques Sempé. Wer seine wunderbaren Zeichnungen kennt, weiß, dass wohl kaum jemand sich den Duft und Hauch der trotz allem unbeschwerten, stets zu Streichen aufgelegten Kindheitstage so bewahrt hat und wachzurufen weiß wie dieser aus Bordeaux stammende Mann, der morgen (17. August) 80 Jahre alt wird und immer noch als besessen arbeitsam gilt. Er selbst findet es verstörend, dass und wie er dermaßen der Kindheit verhaftet geblieben ist. Nebenbei bemerkt, war damals das Radio so kultiviert, dass man sich dort bestes Französisch aneignen konnte.

Es gibt jedenfalls genügend Anlass, mit spürbar liebevollem Aufwand einen Bildband wie „Kindheiten“ herauszubringen, der sich als thematisch gewichtete, veritable Werkschau erweist und dabei ohne seine wohl berühmteste Figur, den „Kleinen Nick“ (Petit Nicolas) auskommt, die Sempé einst gemeinsam mit René Goscinny schuf.

Angesichts seiner frühen Jahre, die das Buch in einem langen Sempé-Gespräch mit Marc Lecarpentier in Erinnerung ruft, ist die milde Heiterkeit des Oeuvres überaus erstaunlich. Sempé sagt es mit den Worten eines Schriftstellers, an dessen Namen er sich nicht erinnert: „Der Mensch ist ein Wesen von untröstlicher Heiterkeit.“ (Hausaufgabe: Wer findet den Urheber heraus?)

In diesem Band kann man beispielsweise verfolgen, wie die durchaus wohlgesetzen Worte zu den Zeichnungen nach und nach schwinden, wie also das rein Bildnerische überwiegt. Immer eigener, feingliedriger und feinsinniger wird die Linienführung, sie übermittelt in seismographischer Weise seelische Zustände. Da bedarf der Worte nicht mehr. Es scheinen ganze Existenzen und Charaktere in knappen, meisterlichen Skizzen auf. Oder auch dies: Dauer, Trägheit und Hitze eines Hochsommertags werden atmosphärisch greifbar. Manche Blätter wiederum erfassen haarfein, was Provinz ausmacht. Man schaue nur, wie die Dorfjugend einer Radfahrerin nachstarrt. Auch für Freud und Leid, Groteske und Grazie des Fußballs abseits der großen Stadien hat Sempé ein untrügliches Gespür. In all diesen Zeichnungen schwingt so vieles mit…

Auch wenn Sempé erwachsene Menschen zeichnet, sind sie oft unverkennbar von Kindheit geprägt. Mal sieht man sie in selten schönen Momenten des Leichtsinns, wenn sie sich unbeobachtet glauben und auf einmal wieder sind wie von klein auf. Andererseits sieht man aschfahl ergraute und erstarrte Herrschaften, in denen jegliche Kindheitsahnung erloschen ist. Zuweilen rücken die Lebensalter in komischen Kontrast: Der Schnitt durch ein Haus offenbart, wie die „Großen“ bei Regen ihre Zeit in Zimmern totschlagen, während oben auf der Dachterrasse eine Kinderschar tobend jeden Augenblick der Nässe mit Haut und Haaren genießt.

Schließlich gibt es in dieser vielfältigen Bildwelt auch jene stocksteif ungelenken, früh verzogenen Bürgersöhnchen oder jene Kinder, denen das Kindsein früh ausgetrieben werden soll, etwa mit strengem Klavier- oder Ballettunterricht. Doch siehe da, sie wehren sich mit Phantasie oder auch ganz handgreiflich: Selbst wenn sie mit Heiligenschein aus Pappe zur Weihnachtsaufführung eilen, knuffen und hauen sie sich unterwegs noch mit heißem Herzen. So kann Kalberei ein Hoffnungszeichen sein.

Sempé: „Kindheiten“. Bildband, Hardcover Leinen, 272 Seiten. Mit einem Gespräch zwischen Sempé und Marc Lecarpentier (übersetzt von Patrick Süskind). 39,90 Euro.




Hundert Meter: Bolt usw.

Ich gehöre zu einer Generation, die weiß, wie betulich Leichtathletik-Sportfeste oder Länderkämpfe (gibt’s die überhaupt noch?) früher mal verlaufen sind. Stadionsprecher, so etwa auch in der Dortmunder „Roten Erde“, verkündeten beispielsweise gravitätisch „Programm Seite 29 – 100 Meter-Lauf der Herren…“ Und dann ging alles seinen vergleichsweise gemächlichen Gang.

Naja, immerhin lief Armin Hary damals auch schon 10,0 Sekunden über die Strecke. Jetzt sind die Deutschen gar nicht mehr gut zu Fuß. Sie fahren lieber Formel 1.

Abfotografiertes ZDF-Fernsehbild

Abfotografiertes ZDF-Fernsehbild

Heute schaue ich mir nur noch sehr selten solche Wettkämpfe im Fernsehen an. Das Ganze ist mir längst unheimlich geworden. All diese monströsen Muskelberge, das einstudierte Repertoire der zur Schau gestellten Imponiergesten (fast egal, ob nun lächelnd, locker, cool oder finster), der immerzu schwelende Dopingverdacht…

Eine Ausnahme ist Olympia, da gucke ich bei den Sprintkönigen mal wieder ´rein – gemeinsam mit schätzungsweise 1 Milliarde Menschen auf dem Globus. Die Medien hatten das Finale über 100 Meter seit Wochen zum Duell der Giganten hochgejubelt, zum Duell der Gegensätze stilisiert: Usain Bolt vs. Yohan Blake. Die Kommentatoren des ZDF, das heute an der Reihe ist, nutzen weidlich die Gelegenheit, um Satzfetzen wie „Das haben sie irgendwie im Blut, die Jamaikaner“ vorzubringen. Irgendwie.

Dennoch: Ich kann mich der Faszination nicht gänzlich entziehen. Man ist schließlich Zeitgenosse, wie widerspenstig und unwillig auch immer. Man möchte aber lieber nicht wissen, wie manche der 80 000 im Stadion an ihre Karten gekommen sind – bei angeblich 1 Million Anfragen.

…und dann gewinnt halt doch wieder Usain Bolt in 9,63 Sekunden. Vor Blake (9,75 sec.) und Gatlin (USA – 9,79 sec.).

Wir schalten zurück in die angeschlossenen Funkhäuser.




„Sunset Park“ – Paul Austers Krisenbewältigungsroman

Die Welt ist ein Gemenge aus wüsten Kräften, welche wir nicht beherrschen können: „Wieder einmal sind also die Würfel gerollt, wieder einmal wurde ein Los aus der schwarzen Eisentrommel gezogen, noch so ein Zufall in einer Welt voller Zufälle und unaufhörlichem Chaos.“

Das Zitat von Seite 59 darf als eine Kernaussage von Paul Austers neuem Roman „Sunset Park“ gelten. Niemand hat hier sein Leben in der Hand, durch- und aushalten heißt allenfalls die Devise, vom „Ankommen“ darf man wohl nicht einmal träumen. Zumal in der Wirtschaftskrise sind die Menschen nur Spielbälle. Doch Auster schickt sich an, Möglichkeiten des Glücks im offenbar unvermeidlichen Chaos zu erkunden. Wo lassen sich noch Reservoire und Ressourcen der Hoffnung finden?

Auster schildert die Verwerfungen vornehmlich aus Sicht von Miles Heller (28), der den College-Besuch abgebrochen hat und sich bei Haushaltauflösungen im Zuge der Immobilienkrise mit dem Fotografieren aufgegebener Dinge befasst, bevor die robusteren Kollegen das Zeug kurzerhand mitgehen lassen. Er betrachtet also tagtäglich Relikte gescheiterter Lebensentwürfe. Miles selbst lebt ohne jede Gier und ohne jeden Plan – eine der Haltungen, um in schlechten Zeiten einigermaßen durchzukommen. Der Spross einer desolaten Verlegerfamilie hat vor Zeiten bei einer Rauferei unwillentlich seinen Bruder vor ein Auto gestoßen – mit tödlicher Folge. Auch er selbst schien innerlich abgestorben zu sein, bis ihn die blutjunge Latina Pilar gleichsam ins Leben zurückgeholt hat. Freilich leben die beiden unter ständiger Bedrohung, bei den Behörden angeschwärzt zu werden, denn das Mädchen ist noch minderjährig.

Miles Heller flüchtet deshalb einstweilen von Florida nach New York, wo sich sein Lebensweg mit denen von Alice Bergstrom, Ellen Brice und Bing Nathan lose verknüpft. Sie alle haben keine oder keine einträglichen Jobs und besetzen aus schierem Geldmangel in Sunset Park (Brooklyn) ein heruntergekommenes Haus.

Wie beschädigt diese Biographien schon in frühen Jahren sind! Was sich da an Einsamkeit, Verschrobenheit und Entfremdung angesammelt hat! Wie mühselig sie ihre verkorksten Lebensläufe zusammenzuhalten und ein wenig zu „heilen“ suchen! Immerhin: Ellen findet Glücksversprechen in der geradezu verbissen ausgeübten Malerei, Alice als freie Mitarbeiterin des P.E.N. im Einsatz für verfolgte Autoren. Bing betreibt unterdessen eine „Klinik für kaputte Dinge“, also einen Reparaturbetrieb. Auster signalisiert, zuweilen fast schon penetrant: Man muss etwas tun! Und ohne Schmerzen ist erwachsenes Leben sowieso nicht zu haben.

Über weite Strecken haben wir anfangs einen Roman übers Nichtgeschehene gelesen, über verpasste Gelegenheiten; übers ziellose Begehren, das (nicht nur) zwischen den Figuren hin und her zu irren scheint, doch zumeist ins Leere läuft. Auch scheint da eine prinzipielle, existenzielle Seltsamkeit des Lebendigseins auf.

Weitere zentrale Gestalt des Krisen- und Krisenbewältigungsromans ist Miles’ Vater Morris Heller, dessen Verlag ins Schlingern geraten ist. Seitenblicke lassen ahnen, wie diverse Autoren des Hauses zwar künstlerisch reüssiert, aber gleichfalls ihr Leben verpfuscht haben. Morris selbst ist heillos geschieden und spioniert seit Jahren seinem Sohn nach, der sich von ihm losgesagt hat. Nun aber kommt es zum quälend hoffnungsvollen Wiedersehen. Ein Licht am Ende des Tunnels?

Konstellation und Konstruktion sind keineswegs frei von Klischees und Rührsamkeit. Wie schon in so vielen US-Filmen und Büchern, müssen Erzählungen über Baseball-Legenden einmal mehr als Leitsterne für gelingende oder als gültige Bilder fürs scheiternde Leben herhalten. Kaum denkbar, dass Fußball in der europäischen Literatur eine vergleichbar konstitutive Rolle spielte – aller „Ersatzreligion“ zum Trotz. Andere Fixpunkte, an denen man sich offenbar aufrichten soll, sind quasi mythische Momente der US-amerikanischen Geschichte und William Wylers Film „Unsere besten Jahre“ (1946). Dieses Kriegheimkehrer-Drama haben alle Figuren des Romans je auf ihre Weise gesehen, es ist wie ein Brennglas, das alle vereinzelten Schicksale in einem Punkte bündelt und kenntlich macht.

Auf Dauer ermüden die ständigen, eher additiven denn verdichtenden Perspektivwechsel zwischen den einzelnen Personen. Das ändert sich – als sei’s eine gewaltsame Katharsis – mit der brutalen polizeilichen Räumung des besetzten Hauses, in deren chaotischem Verlauf Miles einem Cop einen Kinnhaken verpasst und flüchtet. Doch sein Imperativ lautet: Stelle dich! Stehe für deine Taten ein!

Was bleibt ihm, abseits von Schuld und Sühne, jenseits von Glaube, Liebe und Hoffnung, noch übrig? Die Schlusssätze lassen es wolkig ahnen: „…nur noch für das Jetzt leben, für diesen Augenblick, diesen flüchtigen Augenblick, das Jetzt, das hier ist und dann nicht mehr hier ist, das Jetzt, das für immer verschwunden ist.“

Carpe diem also, im Bewusstsein des Verglühens. Womöglich ein stets angebrachtes, ja geradezu ein Allerwelts-Lebensmuster, nicht nur für Krisenzeiten.

Paul Auster: „Sunset Park“. Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag. 315 Seiten. 19,95 Euro.




Revierstädte im Kulturvergleich ganz hinten – und nun?

Mittlere Sommerloch-Aufregung um eine Studie des Hamburger Weltwirtschaftsinstituts (HWWI) im Auftrag der gleichfalls in der Hansestadt ansässigen Berenberg Privatbank: In einer vergleichenden Studie zur Kultur-Produktion und Rezeption schneiden die Städte des Ruhrgebiets miserabel ab. Oje, oje!

Für besagte Studie hat man auf vorhandenes Datenmaterial zurückgegriffen und offenbar keine sonderlichen Eigenanstrengungen unternommen. Da riskieren wir mal, den alten Satz noch einmal aus der Mottenkiste zu holen: Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast. Sprich: Verlagerte man die Schwerpunkte dieser Untersuchung nur ein klein wenig, so würde sich vermutlich schon ein etwas anderes Bild ergeben. So verzerrt etwa die Rubrik Denkmalschutz-Fördermittel das Gesamtbild, weil es im Revier nun mal nicht mehr so viel erhaltenswerte historische Substanz gibt.

Um das Ruhrgebiet insgesamt nach vorn zu hieven, müsste man ohnehin heftigst manipulieren, ja schlichtweg lügen, dass sich die Bilderrahmen, Kinoleinwände und Bucheinbände biegen. Man braucht nur einmal ganz unvoreingenommen zu vergleichen, dann wird klar, dass beispielweise Dortmund mit Dresden nicht mithalten kann. Dabei gibt Dortmund pro Einwohner immerhin mehr für Kultur aus als Köln oder München!

Endlich heraus mit dem Ergebnis dieser Studie. Unter den 30 größten deutschen Städten belegen demnach im Kulturranking die letzten Plätze: Dortmund (26), Mönchengladbach (27), Gelsenkirchen (28), Duisburg (29), Wuppertal (30). Würde Pina Bausch selig noch dort wirken, so trügen die Wuppertaler bestimmt nicht das Schlusslicht. Köln (dennoch nur Platz 14) punktet „kulturwirtschaftlich“ sicherlich vor allem mit dem WDR, Bochum (22) hat sich einzig und allein wegen des Schauspielhauses auf einen etwas höheren Platz gerettet als das Gros der Revier-Kommunen, während Essen (mit Aalto-Oper, Philharmonie, Folkwang, Zollverein etc.) immerhin Rang 13 erklommen hat. Das sündhaft teure „Dortmunder U“ scheint hingegen keine entscheidende Besserung gezeitigt zu haben. Auch hat die Kulturhauptstadt 2010 bei weitem nicht so nachhaltig gewirkt, wie es uns die Macher vollmundig vorgegaukelt haben.

Das Dortmunder U hat die Stadt im Ranking nicht entscheidend nach vorn gebracht. (Foto: Bernd Berke)

Das Dortmunder U hat die Stadt im Ranking nicht entscheidend nach vorn gebracht. (Foto: Bernd Berke)

Da Faktoren wie verkaufte Theater-, Museum- oder Kinokarten und Bibliotheksnutzer oder auch „Künstlerdichte“ (welch ein Begriff!) je nach Einwohnerzahl gewichtet werden, liegt das von vielen als „provinziell“ verschriene Stuttgart bei der Studie in Front, dahinter folgen Dresden (2), München (3), Berlin (4), Bonn (5), Frankfurt (6), Münster (7), Karlsruhe (8), Hamburg (9) und Augsburg (10). Damit dürften sie in Hamburg auch nicht ganz zufrieden sein.

Was wir nicht zu ahnen wagten: Das offenbar unterschätzte Augsburg schafft es unter die ersten 10, weil dort bundesweit je Einwohner die meisten öffentlichen Theater- und Opernsitzplätze vorgehalten werden.

Man kann den Aussagewert der Studie in vielen Punkten bezweifeln oder wenigstens relativieren. Sie operiert vielfach mit dem wahrlich schwammigen Begriff der „Kulturwirtschaft“, und sie erfasst rundum nur quantitative und keine qualitativen Aspekte, erst recht keine besonderen Erlebnisse, die man hie und da und überall haben kann.

Im Revier reden Kulturfunktionäre das Resultat unterdessen schön, indem sie sagen, es komme doch weniger auf die Einzelstädte als auf die Summe der „Metropolregion“ an. Auch stünde man wahrscheinlich noch schlechter da (ginge das denn überhaupt?), wenn die Kulturhauptstadt keine Impulse gegeben hätte. So spricht man auf einstweilen verlorenem Posten.

Tatsächlich sind überörtliche Ereignisse wie etwa Ruhrtriennale und Ruhrfestspiele ebenso wenig ins Ranking eingeflossen wie das Klavier-Festival-Ruhr. Wem hätte man sie auch zurechnen sollen?

Doch davon mal abgesehen. Wie wäre es mit ein wenig Ehrgeiz, den oder jenen Rückstand aufzuholen?




Vergehende Zeit, hier im Revier: Zum Beispiel die Dortmunder Steinhammerstraße

Wilhelm Schürmann: Steinhammerstrasse, Dortmund 1979-81 (SK Stiftung Kultur, Köln/Verlag Hatje Cantz)

Wilhelm Schürmann: Steinhammerstrasse, Dortmund 1979-81 (SK Stiftung Kultur, Köln/Verlag Hatje Cantz)

Jetzt bin ich doch tatsächlich ein kleines bisschen stolz und weiß gar nicht so recht, aus welchem Grund. Vielleicht bin ich auch einfach nur berührt vom Zeitvergang und vom verwehten Geist eines Ortes. Ja, das wird es wohl sein.

Die Sache ist die: Just über die eigentlich unscheinbare Dortmunder Steinhammerstraße, in der ich im Alter zwischen 2 und 6 Jahren unter kargen Umständen aufgewachsen bin, gibt es jetzt einen gewichtigen, höchst bemerkenswerten Bildband des Fotografen Wilhelm Schürmann. Es ist wahrlich selten, dass ein Buch Aspekte der eigenen Biographie so unmittelbar und nah betrifft.

Schürmann hat (wenige Jahre vor mir) in und um Nummer 117 seine Kindheit verbracht, also drei Häuser weiter auf der gleichen Straßenseite. Als bereits gestandener Fotokünstler kam er 1979 an die Stätten zurück und hat bis 1981 nicht nur atmosphärische Partikel der frühen Jahre aufgespürt, sondern auch Signaturen des teilweise schmerzlichen Wandels und – etwa in Gestalt trister Ladenleerstände – gar den Vorschein kommender Verheerungen vorgefunden. Nach und nach ist das Gefüge der einst recht geschäftigen Straße zerfallen.

Wohl nur jemand, der selbst dort gelebt hat, konnte derlei Stimmungswerte so genau erfassen und ins Bild setzen. Manchmal wird mir angesichts dieser Fotos, als könnte ich durch einen Zeittunnel schemenhafte Szenen der eigenen Kindheit aufflackern sehen. Die Gegend war, wie Gabriele Conrath-Scholl im Katalogtext richtig schreibt, einst ein gutes Gelände für „Vorstadtkrokodile“. Da konnte man stromern. Auch das macht Heimat aus.

Wilhelm Schürmann: Mutter mit Tochter, Dortmund, 1979 (SK Stiftung Kultur, Köln/Verlag Hatje Cantz)

Wilhelm Schürmann: Mutter mit Tochter, Dortmund, 1979 (SK Stiftung Kultur, Köln/Verlag Hatje Cantz)

Um 1980 finden sich allerdings etliche Anzeichen der Verarmung und Überalterung, die Wohnzimmer wirken nur noch wehmütig, wie ein murmelndes Selbstgespräch, wie hilflose Beschwörung einer vermeintlich besseren Zeit. Doch rede niemand verächtlich vom „Gelsenkirchener Barock“. In diesem Kontext wird spürbar, dass wuchtige Plüschigkeit als Ausgleich in dieser schäbigen, verrußten, aschgrauen Welt eben notwendig zum Seelenhaushalt gehört hat.

Das Eintauchen ins eigene Herkommen hat Schürmann (1981 bis 2011 Professor für Fotografie in Aachen) damals ganz offenkundig neue künstlerische Anstöße gegeben. Am Ende der 70er und zu Beginn der 80er Jahre hat man, wegen diverser Rückstände und Ungleichzeitigkeiten, gerade noch ahnen können, wie es in dieser Ruhrgebietsstraße im Stadtteil Marten einst zugegangen sein mag. Später hätte man Fotografien an dieser Stelle nicht mehr derart mit Nachkriegs-Vergangenheit aufladen können.

Wilhelm Schürmann: Wohnzimmer, Dortmund 1979-81 (SK Stiftung Kultur, Köln/Verlag Hatje Cantz)

Wilhelm Schürmann: Wohnzimmer, Dortmund 1979-81 (SK Stiftung Kultur, Köln/Verlag Hatje Cantz)

Heute ist das alles eine vollends versunkene Lebenswelt und Schürmanns Fotos gehören somit zur „Archäologie“ der Region. Sie weisen übers rein Dokumentarische weit hinaus, es sind eindringliche Studien zum Lauf der Zeiten.

Die Schwarzweiß-Bilder (was sonst!) umkreisen – mal eher spontan, mal sorgsam arrangiert – einen rund 200 Meter langen Bereich der Steinhammerstraße anhand von typischen Sichtachsen, Gebäuden, Schaufenstern, Interieurs und vor allem Porträts einiger Bewohner. Und siehe: Um 1980 ist noch vieles vom einstigen Ruhrgebiets-Ambiente vorhanden, wenn auch in hie und da schon ramponierter Form.

Da kündet gewiss manches Detail von provinzieller Enge und Beschränkung. Doch man spürt vor allem jenen unverwechselbaren Charakter, der das Ruhrgebiet ausgemacht hat. Auch hier, im Schatten der Zeche Germania (deren markanter Turm später verpflanzt wurde und seither Wahrzeichen des Bochumer Bergbaumuseums ist), entlang des Bahndamms und rund um den Güterbahnhof lebte ein Menschenschlag, der härteste Arbeit und Entbehrungen kannte, sich aber nicht so leicht unterkriegen ließ. Die Verhältnisse werden nicht ohne leisen Humor registriert. Der Buchtitel „Wegweiser zum Glück“ leitet sich von einer Lotto-Broschüre her, die jemandem aus der hinteren Hosentasche lugt. Die Sehnsucht nach einem anderen Leben…

Besonders berührend ist hingegen eine traurige Episode in der Mitte des Bandes. Da blicken einen 1979 die Eheleute Schwingeler an, die einen Gemüseladen im alten Güterbahnhof hatten. Sodann sieht man, wie der Bahnhof am 30. Juli 1981 abgerissen wird – und schließlich, wie das gramgebeugte alte Paar tags zuvor den Laden für immer verlassen hat.

Die Gegend um die Steinhammerstraße hat übrigens ohnehin einen Platz in der Fotografie-Geschichte. Sowohl Albert Renger-Patzsch als auch Bernd und Hilla Becher haben prägnante Aufnahmen der Zeche Germania gemacht. Mit Norbert Tadeusz (1940-2011) hat ein wichtiger Maler zeitweise in der Steinhammerstraße gelebt, sein Bruder hatte dort einen Frisiersalon.

Mehr noch: Der ebenfalls in Dortmund geborene Künstler Bernhard Johannes Blume (1937-2011) hat Wilhelm Schürmann seinerzeit darin bestärkt, das Fotoprojekt Steinhammerstraße weiter zu verfolgen. Schürmann wiederum hat sich auch als Kunstsammler einen Namen gemacht und hat sehr zeitig Arbeiten des jungen Dortmunder Martin Kippenberger (1953-1997) erworben. Da könnte man fast meinen, die Steinhammerstraße hätte wesentliche Kunstimpulse dieser Stadt gebündelt wie keine zweite.

Wilhelm Schürmann: „Wegweiser zum Glück“. Bilder einer Straße. Verlag Hatje Cantz. 228 Seiten, 175 Abbildungen. Format 25 x 29,5 cm, gebunden. Text in Deutsch/Englisch. 49,80 Euro.

Das auch drucktechnisch sehr ansprechende Buch basiert auf einer Ausstellung der SK Stiftung Kultur (Köln), die leider nur noch bis zum 12. August dauert. Ausschnitte waren früher schon einmal im Essener Folkwang-Museum zu sehen, doch die Aufnahmen sollten unbedingt einmal in Dortmund gezeigt werden – am besten im Industriemuseum Zeche Zollern.

Kölner Ausstellung: Bis zum 12. August 2012. Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, Im Mediapark 7, 50670 Köln, Tel. 0221/888 95 300. Geöffnet täglich außer mittwochs 14-19 Uhr, Eintritt 4,50 Euro.

Nur zum Vergleich, ohne jeden Kunstanspruch: die Steinhammerstraße im August 2008. (Foto: Bernd Berke)

Nur zum Vergleich, ohne jeden Kunstanspruch: die Steinhammerstraße im August 2008. (Foto: Bernd Berke)




Nützliches und Kurioses übers Ruhrgebiet

Das Cover gibt sich internetaffin: Die Buchkapitel werden durch bunte Icons angekündigt, als müsse man nur noch klicken. Überdies heißt das Ganze „Smartbook“. Wenn das kein Appell an jüngere Kundschaft ist…

Im kleiner gedruckten Untertitel wird dann ganz konventionell verraten, worum es geht: „Ruhrgebiet für Fortgeschrittene“ versammelt auf 192 Seiten Wissenswertes und vielfach auch Kurioses übers Revier. Da finden sich nicht nur Ausführungen über spektakuläre Aussichtspunkte oder einschlägige Rekorde der Region, sondern etwa auch die Rubriken „Dummes Zeug“, „Schräges“ oder „Unnützes Wissen“.

Da mag der Eindruck aufkommen, es sei nach dem Larifari-Prinzip munter drauflos gelistet und getextet worden. Irrtum! Gerade die schrilleren Mitteilungen erhellen oft den speziellen Charakter der Gegend. Das Buch taugt zwar in erster Linie zum schnellen Blättern, doch man kann sich hie und da auch mal festlesen.

Der Autor Wolfgang Berke hält mit – eigentlich immer nachvollziehbaren – Meinungen nicht zurück, sofern es denn angebracht ist. Nicht alle Fakten lassen sich eben „wertfrei“ aufzählen. Zu Tatsachen aus der Sozialgeschichte oder zu kommunal- und regionalpolitischem Schwachsinn (letzterer besonders in den Kapiteln „Flops“ sowie „Dichtung und Wahrheit“) muss man Stellung beziehen, die Dinge beim Namen nennen. Wem wäre heute schon noch bewusst, dass das heutige Unesco-Weltkulturerbe, die Essener Zeche Zollverein, nach 1986 von der Ruhrkohle AG mit Billigung der Lokalpolitiker beinahe abgerissen worden wäre?

Wolfgang Berke hat offenkundig auf ein gut sortiertes Archiv zurückgreifen können. Das ordentlich, wenn auch kleinteilig bebilderte Buch eignet sich also nicht nur für Zugezogene oder etwaige Touristen. Auch alteingesessene Bewohner erfahren noch Neues.

Ein "Geisterort" des Reviers: das so genannte "Horrorhaus" in der Dortmunder Kielstraße. (Foto: Bernd Berke)

Ein "Geisterort" des Reviers: das so genannte "Horrorhaus" in der Dortmunder Kielstraße. (Foto: Bernd Berke)

So lernt man nicht nur, dass Duisburg die bundesweit erste Parkuhr hatte und über 650 Brücken verfügt, sondern es werden z. B. auch die sonderbarsten Straßennamen erläutert. So gibt es in Essen eine Gasse namens Zornige Ameise und in Witten kann man „Auf der Marta“ wohnen.

Sangesgut mit Regionalkolorit (Steigerlied, Mond von Wanne-Eickel, Georg Kreislers Gelsenkirchen-Schmähung etc.) und „Geisterorte“ („Horrorhaus“ in Dortmund) werden ebenso aufgerufen wie bemerkenswerte Kunstwerke (Wolf Vostells auf dem Rücken liegende „Tortuga“-Lok in Marl usw.). Das Kunst-Kapitel bestätigt übrigens leider (ungewollt?) das Vorurteil vom Ruhrgebiet als Kulturprovinz mit vorwiegend dürftig realistischem Skulpturen-Bestand. Ein trauriger Abschnitt betrifft die größten Unglücke (von den vielen Zechenkatastrophen bis zur Duisburger Loveparade), die sich natürlich nicht in den ansonsten meist launigen, aber nie zu flapsigen Duktus des Buches fügen.

Am interessantesten sind häufig die Fundstücke zum angeblich „unnützen Wissen“: So gab es schon zwischen 1955 und 1967 entlang des Ruhrschnellwegs eine veritable Radautobahn, die hernach dem anschwellenden Autoverkehr zum Opfer fiel. Man sieht, das Rad und seine Infrastruktur müssen wirklich nicht neu erfunden werden.

Wolfgang Berke: Smartbook. Ruhrgebiet für Fortgeschrittene. Klartext Verlag, Essen. 192 Seiten, Broschur, zahlreiche farbige Abb. 14,95 Euro.

P.S. zwecks Transparenz: Autor Wolfgang Berke wird gelegentlich – wegen ähnlicher Berufsfelder – schon mal mit meiner Wenigkeit verwechselt, wir sind aber weder verwandt noch verschwägert und kennen uns nicht einmal persönlich.




Eine Marotte im Buchdesign

Bei Durchsicht der neuen Buchkataloge (Herbstprogramme 2012) ist mir eine Eigenart des Schriftdesigns aufgefallen.

Ich weiß nicht, ob das Kind in der Fachwelt einen Namen hat. Jedenfalls haben sich etliche Umschlaggestalter stillschweigend darauf geeinigt, Titelzeilen in mehr oder weniger willkürlich abgehackter Schreibweise zu präsentieren. Die einzelnen Buchstaben werden dabei gleichsam zu Hauptdarstellern, bildliche Elemente rücken in den Hintergrund oder fehlen ganz.

Da ich das Copyright an den aktuellen Entwürfen keineswegs verletzen möchte, stelle ich hier keine Originalcover ein, sondern habe zwei denkbar gewichtige Titel der Weltliteratur handschriftlich portioniert und das Ergebnis abgelichtet. Voilà!

Schriftdesign (Hihi) und Foto: Bernd Berke

Schriftdesign (Hihi) und Foto: Bernd Berke

Natürlich sind die wirklichen Buchumschläge typographisch und auch sonst ungleich gewiefter gestaltet, es gibt gar vereinzelt veritable „Hingucker“. Das Prinzip bleibt aber erhalten. Die Resultate sehen en masse mächtig gewollt aus, sie riechen sehr nach kurzlebigem Trend. Der kleine Überraschungseffekt verbraucht sich rasch; erst recht, wenn er dermaßen in Serie geht. In der nächsten Saison wird man das schon nicht mehr ernsthaft aufgreifen können.

Solange es aber noch währt, könnte man daran noch schnell ein paar Fragen knüpfen. Hat das etwas mit einst modischer, inzwischen aber etwas abgestandener Dekonstruktion zu schaffen? Oder wird gegen den Hang zur leichtgängigen Lektüre Einspruch erhoben? Fast überall sonst wird einem Lesestoff möglichst mundgerecht und übersichtlich dargeboten, selbst Romane werden mit Kurzkapiteln und zahllosen Zwischenüberschriften häufig häppchenweise verabreicht.

In diesem Umfeld bedeuten die zerhackten Titelzeilen vielleicht: Halt! Hier müsst ihr euch Mühe geben, hier gibt es keine schnellfertigen Verbrauchstexte, sondern wahre, lohnende Literatur, deren Sinn- oder Unsinnsgehalt man langsam umkreisen muss. Ach, wenn es tatsächlich so wäre, dann wollten wir ein paar Design-Marotten wohl gern ertragen.




Die schwebende Komik des Bernd Pfarr

Der leider so früh verstorbene Bernd Pfarr (1958-2004) war ein unvergleichlicher Cartoonist, Zeichner und Maler. Kaum auszudenken, welche Figuren und Szenen er noch hätte erschaffen können, wenn ihm mehr Jahre geblieben wären.

Seine Bilder führen in ungeahnte Vorstellungsräume, sie sind nicht einfach nur hochkomisch, sondern heben mit allem Inventar gleichsam sachte ab vom Boden der Verhältnisse, öffnen unversehens Türen in eine andere Wirklichkeit. Ach, es ist verteufelt schwer, diese wunderbar schrägen, immer auch geheimnisvoll schwebenden Bilder mit Worten zu erfassen. Pfarrs zutiefst merkwürdige Figur „Sondermann“ zählt jedenfalls zu den grotesken Legenden neuerer Zeitrechnung.

Wer, wenn nicht solche erhabenen Könner wie Pfarr, der überdies auch ein höchst feinsinniger Texter gewesen ist, gehörte in eine Buchreihe mit dem Obertitel „Meister der komischen Kunst“? Der Band über Bernd Pfarr erscheint hier neben ähnlich aufgemachten Einblicken ins Oeuvre von Robert Gernhardt, F. K. Waechter, Chlodwig Poth, Marie Marcks und anderen Großkalibern. Die Namen lassen es ahnen: Die „Neue Frankfurter Schule“ des parodistischen Humors, welche sich vornehmlich um die Zeitschriften „Pardon“ und „Titanic“ gruppierte, macht längst einen bildnerischen Kernbestand der Komik im deutschsprachigen Raum aus, der sicherlich auch den internationalen Vergleich nicht scheuen muss. Die „Frankfurter“ und ihr Umfeld prägen somit auch diese Reihe des Münchner Kunstmann-Verlags.

Das 2010 begonnene verlegerische Projekt (Herausgeber ist der Kunsthistoriker und Ausstellungsmacher WP Fahrenberg) hat durchaus verdienstvolle Ansätze, sucht es doch die Erinnerung an Künstler wachzuhalten, die sonst womöglich verblassen könnte. Auswahl und Präsentation sind jeweils ordentlich, wenn auch nicht berauschend. Denn viele Cartoons würden durch größere Formate erheblich gewinnen, ja, manche verlangen gar gebieterisch nach mehr Platz, als ihnen hier zugestanden wird.

Handelsübliche Cartoonbände sind nun mal nicht von ungefähr deutlich größer als die Titel dieser Reihe. Mit knapp über 100 Seiten lassen sich zudem manche Lebenswerke nur recht knapp skizzieren. Auch im Falle Bernd Pfarrs langt es – neben Kostproben aus dem Schaffen – nur für ein paar kleine Beigaben: einen kurzen, klugen Aufsatz von Patrick Bahners (der „Mäuerchen“ als zentrales Motiv in Pfarrs Werk benennt), ein paar biographische und bibliographische Daten sowie eine Handvoll Fotos aus Pfarrs Leben. Das weckt Appetit, stillt ihn aber nicht.

Es ist anzunehmen, dass man bei Kunstmann einigermaßen vorsichtig kalkulieren musste und sich eben nicht getraut hat, mit voluminösen Großformaten auf den Markt zu gehen. Man kann das nachvollziehen, es ist sicher vernünftig. Schade ist es trotzdem.

Meister der komischen Kunst: Bernd Pfarr. Kunstmann Verlag, München. 112 Seiten im Format 23,4 x 18 cm. 16 Euro.




Wenn Bäume Zähne zeigen

Mag sein, dass es das irgendwo schon seit 1966 gibt. Wahrscheinlich machen sie das im hippen Berlin schon seit zwei Jahrzehnten und in Hamburg seit 15 Jahren. Einige Stadtgänger werden’s vielleicht genauer wissen. Mir ist das Phänomen jedenfalls neu.

Ich rede von Bäumen mit Gebiss. Jawohl. Richtig gelesen.

Ein wahrscheinlich humoriger, gewiss jedoch handwerklich begabter Jemand hat bei uns im Dortmunder Innenstadtviertel über Nacht einige Bäume mit Zahnreihen versehen, welche wiederum in einem Gipsbett stecken. Falls es sich materialtechnisch anders verhält, bitte ich als dentistischer Laie um Nachsicht.

Es sieht irgendwie „echt“ aus. Ganz so, als feixe einen der Baum an. Eine angedeutete Lippenpartie hat er ja auch noch. Vielleicht kommen demnächst noch Glasaugen hinzu.

"Mein Freund, der Baum" trägt jetzt Gebiss. (Foto: Bernd Berke)

"Mein Freund, der Baum" trägt jetzt Gebiss. (Foto: Bernd Berke)

Sollte etwa der Zahnarzt, der gleich um die Ecke bohrt und schleift, hier heimlich Hand angelegt haben? Bestimmt nicht. Oder sehen wir die Resultate einer nächtlichen, sich post-anarchistisch wähnenden Praxis nach Art der herzigen Spaßguerilla? Manche legen hurtig Pflanzenbeete an, andere stricken Schals für Zweige und Äste, hier werden Bäume halt zum Grinsen oder Lächeln gebracht.

Fragt sich allerdings, ob Bäume im Normalzustand dem Urheber nicht mehr ausreichen, weil er sich vom Gewachsenen entfremdet hat. Und grünlich behauchte Bürger mögen bang vermuten, dass die Vergipsung dem Baum schade. Dann wäre es sogar Frevel und man müsste mahnend die Stimme erheben.




Mit Kindern das Revier entdecken

Wenn schon Ruhrgebietsführer, dann doch bitte lieber aus einem Ruhrgebietsverlag. Da erhöht sich die Chance eminent, dass etwaige Schnitzer noch erkannt und getilgt werden. Ehrlich jetzt.

Genug der Vorrede: Im Essener Klartext-Verlag ist ein kundiger Kinderreiseführer fürs Ruhrgebiet erschienen, Untertitel „Abenteuer, Zeitreisen und Experimente“. Aus der Region – für die Region.

Autorin Natascha Leo spricht in stets munterer Schreibe die Kleinen direkt an. Erwachsene dürfen staunend vor- oder mitlesen und dann die entsprechenden Kurztrips organisieren – anhand der getreulich verzeichneten Öffnungszeiten, Adress- und Telefonangaben sicherlich kein allzu großes Problem.

Ich gestehe freimütig: Auch als altgedienter Revierbewohner habe ich hier vieles gefunden, was ich noch nicht auf dem Radarschirm hatte, so etwa eine veritbale Kinderzauberschule in Bochum. Gar manches ist auch tauglich für den fröhlichen Kindergeburtstag.

Das Buch ist, dem Nutzerkreis entsprechend, flott und kurzweilig aufgemacht, mit kurzen, prägnanten Textabschnitten und knappen Infokästen. Auch die Bebilderung ist überwiegend ordentlich. Doch wenn man in den Quellenangaben nachblättert, merkt man, dass der Löwenanteil der Fotos von den Betreibern der jeweiligen Einrichtungen stammt. Man findet denn auch nicht den Hauch eines kritischen Untertons, erst recht kein mürrisches „Wir raten ab“; sämtliche Attraktionen werden uneingeschränkt empfohlen oder gar wärmstens angepriesen. Mutmaßung: Auch der eine oder andere Textbaustein wird von Broschüren angeregt worden sein. Wer kann denn schon überall selbst hinfahren?

Genauere Erfahrungen wird man mit dem Nachwuchs also selbst machen müssen, doch darf man den allermeisten Hinweisen wohl vertrauen. Es gibt ja vielfach erprobte, durchaus „kindgerechte“ Orte: Das breite Spektrum reicht von den Kinderangeboten diverser Revierbühnen (wo kann man selbst einmal mitspielen, wo kann man sich toll verkleiden oder mit Schauspielern quatschen?) über Kinderkinos, Kreativwerkstätten, Kindermuseen wie das „Mondo Mio“ in Dortmund, Bauernhöfe, Zoos, Kinder-Bergwerke, Kinder-Unis, Freizeitparks und Spezialitäten wie etwa das Wassermuseum in Mülheim/Ruhr, das Westfälische Schulmuseum oder spannende Programme der Planetarien.

Doch Halt! Wir können nicht einmal einen Bruchteil des staunenswert reichen Angebots aufzählen. Das Ruhrgebiet, so sieht man erfreut, bietet (noch) eine ganze Menge Anregungen und Spaß für die Kleinen, wenn man nur richtig sucht und hinschaut.

Bei solchen Büchern unvermeidlich ist der relativ rasche Aktualitätsverlust. Man sollte schon die überall genannten Internet-Adressen ansteuern, um zu sehen, ob die Daten noch dem Stand der Dinge entsprechen. Mag sein, dass der Verlag just deshalb auch meist auf Angaben zu Eintrittspreisen verzichtet hat, die morgen schon gestiegen sein können. Bei einem vergleichsweise teuren Zoo wie dem Gelsenkirchener „Zoom“ hätte man sich freilich einen diskreten kleinen Hinweis gewünscht…

Nützlich wären auch nähere Angaben zu den Altersstufen gewesen, die mit den Angeboten angepeilt werden. Doch wer sich halbwegs in sein(e) Kind(er) hineinversetzen kann, wird auch in diesem Punkt selten fehlgehen. Andernfalls müssen’s halt der Besuch des nächsten Spielplatzes und ein leckeres Eis ausgleichen.

Kinderreiseführer Ruhrgebiet. Abenteuer, Zeitreisen und Experimente. Klartext Verlag, Essen. 112 Seiten, Broschur, durchgehend farbige Abb. 9,95 €




Sensation: Ein Boulevardjournalist ruft bei mir an!

Vor einiger Zeit habe ich an dieser Stelle einen Nachruf auf eine Kollegin veröffentlicht. Ein Umstand, den ich damals bewusst nicht zur Sprache gebracht habe, weil er absolut nichts mit ihren Verdiensten zu tun hatte: Die Frau war offenbar nicht eines natürlichen Todes gestorben.

Müßig zu sagen, dass jenes monströse Boulevardblatt das Delikt alsbald grell herausschrie.

Nun steht in Dortmund der mutmaßliche Mörder vor Gericht – und prompt bekam ich heute den Anruf einer hier ansässigen privaten TV-Produktionsfirma, die in diesem Falle fürs ZDF arbeitet. Auf Nachfrage erfuhr ich, dass es sich ums nachmittägliche Boulevardmagazin „Hallo Deutschland“ handelt. Das Zeug habe ich noch nie gesehen, kann mir aber Machart und Duktus lebhaft vorstellen, da ich das Pendant in der ARD mal goutieren musste.

Im kumpelhaften, augenzwinkernd Einverständnis voraussetzenden Tonfall ließ der Anrufer durchblicken, die von ihm zu beliefernde Sendung interessiere sich nicht gerade für die Bayreuther Festspiele, wohl aber für Tötungsdelikte. „Da schauen wir natürlich hin.“ Natürlich.

(Foto: Bernd Berke)

(Foto: Bernd Berke)

Der kriegt keine Information und erst recht kein Statement von mir. Aber ich will doch mal hören, wie er vorgeht…

Seinen Tonfall kenne ich genau, im Laufe des Berufslebens trifft man ein paar Exemplare dieser Sorte; selbst dann, wenn man sich auf Kulturthemen verlegt. Solche Journalisten (die Berufsbezeichnung ist leider nicht gesetzlich geschützt) liegen fortwährend auf der Lauer, sie umschleichen einen mit hinterhältigen Fragen, sie wollen dir um jeden Preis eine „Geschichte“ abluchsen. Manche würden für eine steile Story ihre Großmutter verkaufen. Hilfsweise würde ich mal von Raubtierjournalismus reden, ohne Tiger ins Zwielicht ziehen zu wollen.

Offenbar hat der Mann, den „Kollege“ zu nennen ich mich scheue, sich einiges von mir erhofft. Ich hätte die Verstorbene doch viele Jahre lang dienstlich gekannt. Da wüsste ich doch wohl auch, auf welche Weise sie den Herrn Dr. B. (den mutmaßlichen Täter) kennen gelernt habe. Ob das Gerücht denn stimme, dass…

Oh, wie musste ich ihn enttäuschen. Den Namen mit B habe ich jetzt gerade von ihm erstmals gehört, und zwar im Klartext, nicht nur als Abkürzung. Als ich ihm das sage, hört man geradezu seine Kinnlade klappen. Er hat mir etwas verraten, erfährt aber im Gegenzug rein gar nichts von mir. So ein Pech.

Bis dahin hat er mit sonorer Stimme joviale Verbindlichkeit und Entgegenkommen signalisiert, nun merkt man, wie’s plötzlich pressiert, andernorts auf dieselbe Tour anzurufen. Wünsche dabei fröhliches Scheitern!

P. S.:
Mit einem Statement im Fernsehen habe ich mal ausgesprochen schlechte Erfahrungen gemacht. Vor etlichen Jahren war ich auf Jamaika, als dort ein Hurrikan ausbrach. Unser Flugzeug war das erste, das hernach wieder nach Deutschland zurückkehrte. Ein RTL-Kamerateam stürzte sich in Düsseldorf auf die Passagiere, so auch auf mich. Die paar Sätze, die ich gesagt habe, wurden durch Schnitt und Montage völlig sinnverdreht. Unvergessen der Moment, in dem der RTL-Reporter mich erregt fragte „Haben Sie Tote gesehen?“ und just in dem Augenblick heftig auf meine Augenpartie gezoomt wurde. Man hoffte auf mein Entsetzen und wollte es mir als Schauwert entreißen.




Der Blick auf diese ganz anderen Wesen – Künstlerische Tierfotografie in Recklinghausen

Wie bitte? Tierfotografie? Daran versucht sich doch fast jeder Amateur mit wechselndem Geschick. Kann man denn auf diesem Gebiet künstlerische Qualität oder gar Dignität erlangen, die womöglich entschieden übers Dokumentarische hinaus weist?

Aber ja! Das Sujet gibt jedenfalls alle Höhen und Tiefen her. Es hat doch alle Kunstausübung vermutlich mit jenen Tierdarstellungen in Höhlenzeichnungen begonnen und sich seither – auch zwischen den berühmten Hasen von Dürer und Beuys – überreich entfaltet. Immer wieder hat sich der Mensch im animalischen Gegenüber selbst befragt.

Vogel in verfremdender Rückenansicht: Roni Horn (*1955), Untitled, No. 1, 1998, 62,5 x 62,5

Vogel in verfremdender Rückenansicht: Roni Horn (*1955), Untitled, No. 1, 1998, 62,5 x 62,5

Die Kunsthalle Recklinghausen zeigt jetzt eine Auswahl höchst ambitionierter Tierfotografien. Sie stammen überwiegend von Künstlerinnen und Künstlern, die zuvor mit Malerei, Bildhauerei oder Installation befasst waren. Wie man schon ahnen konnte: Viele Wege und Techniken führen zum Tierbild. Der alberne Ausstellungtitel „Für Hund und Katz ist auch noch Platz“ lockt allerdings deutlich unter dem Niveau der präsentierten Arbeiten.

Denn natürlich finden sich Tiere hier nicht als niedliche oder liebliche Wesen abgelichtet. Ein Generalbass der Ausstellung betrifft die Herrschaftsausübung des Menschen, der die Tierwelt unterjocht, die Geschöpfe mitunter monströs zurichtet und nach Belieben tötet.

Da sieht man Tiere als verstörte und verstörende Fremdlinge in der entseelten Zivilisation (Marc Cellier), als Versatzstücke in agrarindustriellen Landschaften (Heinrich Riebesehl), in Todesstarre mit weit aufgerissenen Augen (Oleg Kuliks schockhafte Affenbilder), als elendiglich verzüchtete Horrorexemplare (Mona Mönnigs Nacktkatze und andere Irrwesen) oder als Opfer verheerender Umweltschäden: Inge Rambow hat einen erblindeten Albinohirsch fotografiert, der zwischen chemisch verseuchten Deponie-Tümpeln der einstigen DDR (Buna-Werke bei Schkopau) zu Tode erkrankt ist. Sein leerer Blick und seine hilflose Verrenkung geraten zum Inbild leidender Kreatur.

Doch es gibt auch etliche Künstler, die sich nicht in Empathie ergehen, sondern in erster Linie auf Formensprache zielen. So setzt Johannes Brus fotochemische Prozesse in Gang, die seine Tierbilder nach und nach farblich verwandeln und schließlich vielleicht ganz verschwinden lassen. Walter Schels hat Hund, Gans, Eule und Schaf in langwierigen „Model“-Sitzungen so aufgenommen, als seien sie etwa pikierte, eitle oder herrschsüchtige Individuen. Nicht die übliche Art der Vermenschlichung ist dies, sondern eine, die durchaus frappiert.

Walter Schels (*1936), Schaf, 1984, 80 x 65 (Bild: Museum)

Walter Schels (*1936), Schaf, 1984, 80 x 65 (Bild: Museum)

Das Federkleid von hinten aufgenommener Wildvögel (Roni Horn) erscheint als samtige Struktur mit Tendenz zur Ungegenständlichkeit. Diese Fotos werden jeweils als Diptychen gezeigt, so dass man gezwungen ist, auf feinste Detailunterschiede zwischen beiden Hälften zu achten.

Vermeintliche abstrakte Strukturen können allerdings auch just fragwürdige Verhältnisse bloßlegen, wie Andreas Gefellers Luftbildsicht auf Massentierzucht bei näherem Hinsehen beweist. Das Ornament, das man da sieht, besteht aus Tausenden von Hühnern, die sich um Futtertröge scharen.

William Wegmann gruppiert seine Hunde für die Kamera so, dass sie – von oben betrachtet – gemeinsam die Zeichen des Alphabets, Ziffern oder Satzzeichen bilden. Beinahe so, als könnten die Tiere mit ihren Körpern schreiben. Dass sie ein menschliches Zeichensystem formen, ist einigermaßen absurd und lässt breiten Spielraum für Deutungsversuche.

Aus vier Hunden gebildeter Buchstabe: William Wegman (*1943), "Letter A", 1993, 32x29

Aus vier Hunden gebildeter Buchstabe: William Wegman (*1943), „Letter A“, 1993, 32×29

Die etwa 200 Exponate stammen aus dem prallen Fundus der DZ Bank (Frankfurt/Main), die quasi als Zentralinstitut der Volksbanken fungiert. Dort also hat man eine Sammlung mit inzwischen über 6500 fotografischen Arbeiten von rund 600 Künstlern angelegt.

In Zeiten, da so manche Privatsammlung durch öffentlich finanzierte Ausstellungen nobilitiert wird und somit im Wert steigt, legt Kunsthallen-Chef Ferdinand Ullrich Wert auf die Feststellung, dass er und sein Stellvertreter Hans Jürgen Schwalm die unstrittige Hoheit bei Auswahl und Hängung hatten. Wir haben ja auch nichts anderes erwartet.

„Für Hund und Katz ist auch noch Platz“. Tierfotografien aus der DZ Bank Kunstsammlung. Bis 24. September in der Kunsthalle Recklinghausen, Große-Perdekamp-Straße 25-27. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr.




Niederlage etc.

Ich muss mir doch noch mal kurz Luft machen, nachdem dieses unselige Spiel Italien – Deutschland halbwegs verdaut ist. Wie Rilke schon schrieb: „Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.“

Nein, kein Wort hier zu Löws Aufstellung und „Taktik“. War da was?

Statt dessen dies:

a) Geradezu bestürzend überflüssig finde ich wohlmeinende Ratschläge von Hobbypädagogen, die einem nun beibringen möchten, wie man mit einer solchen Niederlage umgehen soll. Ach du jemine! Sie wollen, dass man etwas fürs Leben davon hat. Sie haben einen säuselnden Tonfall. Sie blüüüüühn im Glanze ihrer Weisheit. Meinetwegen können wir das auch noch mal singen.

b) Ein weiteres Deutungsmuster elend bemühter Geister besagt, dass durch die deutsche Niederlage eine neuerliches Aufkeimen unguter nationalistischer Tendenzen mit knapper Not verhindert worden sei. Anderfalls wäre womöglich noch mehr geflaggt und gewimpelt worden. Man denke nur! (Anmerkung: Auch mir geht die Sommermärchen-Seligkeit mitunter gehörig auf die Nerven – und besoffen grölende Horden sowieso). Merke: Mit einem solchen Spiel hat sich außer der Endspielteilnahme rein gar nichts erledigt.

Partyzelt leer, Fahne erschlafft (Foto: Bernd Berke)

Partyzelt leer, Fahne erschlafft (Foto: Bernd Berke)

c) Laue Beschwichtigungssprüche vom Kaliber „Der Bessere möge gewinnen“ haben mich seit jeher nicht beruhigt, sondern eher auf die Palme gebracht. Natürlich ist ein schönes Spiel besser als ein schlechtes, wer hätte das gedacht. Aber ich möchte doch mein Herz an etwas hängen, parteilich sein (selbst wenn Benin gegen Grönland spielen sollte) und mich königlich aufregen dürfen, wenn die blöde Realität den Präferenzen zuwider läuft. Mal ganz abgesehen von einem Phänomen wie der affektgeladenen Affinität zu Borussia Dortmund, die aus Kindertagen herrührt und somit tief sitzt.

d) Wenn ich mich gleichsam interesselos an figürliche Schönheit halten wollte, so könnte ich mich an Dressurreiten oder Sychronschwimmen ergötzen. Oder ich gäbe mich schrankenlos dem Hallenhalma hin.

e) Außerdem gibt es ja noch all die schönen Künste.

f) Was ich noch zu sagen hätte: Einen Countdown vor dem Anstoß, wie bei der EM Usus, muss man wahrlich nicht haben. Zahl und Umfang der Spieler-Tätowierungen haben signifikant zugenommen, es war nicht zuletzt ein Tattoo-Turnier. Das Fußballblüten-Logo vor und nach den Zeitlupen war eine ständige Zumutung. Und die Kommentare im Fernsehen? Frage niemand!

g) Schon jetzt erfasst einen Ach und Weh, wenn man daran denkt, zu welchen Uhrzeiten die WM-Spiele 2014 aus Brasilien übertragen werden…

h) Und damit gut.




Leuchtende Hoffnungen der 60er Jahre – Peter Kurzecks Hörbuch „Unerwartet Marseille“

Es gab eine Zeit, in der die Welt von Tag zu Tag besser zu werden schien. Auch nach der Sommersonnenwende (21. Juni) soll damals die Helligkeit noch zugenommen haben. Wie denn das?

Wenn jemand damals einen Tramper mitnahm, so bedeutete das einfach: einsteigen, sein Leben mitbringen, sich freimütig austauschen. Es war der Vorschein des Jahres 1968, der da schon flirrte. In dieser Zeit vordem ungeahnter Freiheitsversprechen wollten die Jungen und Neugierigen, einmal aufgebrochen, immer und immer weiter fahren. Da konnte es geschehen, dass man auf einmal in Südfrankreich war, obwohl man doch am nächsten Tag wieder hätte arbeiten sollen: „Unerwartet Marseille“, so telegraphierte Peter Kurzeck damals seinem Arbeitgeber als „Entschuldigung“ – und wurde nicht entlassen. Ein paar Jahre später hat sich Kurzeck fürs Leben eines Schriftstellers entschieden. Auch davon weiß er mit großer Genauigkeit und ansteckender Begeisterung zu berichten.

Peter Kurzeck (Jahrgang 1943) zuzuhören, das ist eine Labsal. Wesentliche Teile seines Werks sind just mündliche Erzählungen – und von dort kommt ja letztlich alle Literatur her. 2007 kam seine weit ausgreifende, nicht genug zu preisende Kindheits-Geschichte heraus: „Ein Sommer, der bleibt“ (4 CDs, 290 Minuten, erschienen bei supposé, Berlin, 34,80 Euro), jene wunderbar detailreich gesponnene nordhessische Nahansicht der bundesdeutschen Nachkriegszeit aus der Perspektive eines kleinen Jungen und sodann Heranwachsenden. Man möchte sie geradezu trinken, all diese wahrhaftigen Augenblicke, die sich nie zur falschen Idylle verklären. Manches ist zum Flennen schön.

Jetzt also liegt Kurzecks neues Hörbuch vor: „Unerwartet Marseille“ (2 CDs, 123 Minuten, erschienen bei Stroemfeld, 19,80 Euro). Es ist die Aufzeichnung einer Live-Lesung an der Universität Siegen vom 25. Mai 2011. Da erstrahlen noch einmal die Hoffnungen, die viele junge Menschen vor und um 1968 nicht nur gehegt, sondern innigst gelebt haben. Taucht man ein in Kurzecks wunderbar ruhigen Erzählfluss, so möchte man weit, weit getragen werden – am liebsten bis an die Gestade gelungener Zukunft, an die Ufer der Utopie. Zitat: „Alles, was man sieht, fängt ein bisschen zu leuchten an.“

Der linke Großvater erzählt, zum soundsovielten Male? Oh nein, das ist es beleibe nicht. Kurzecks Mitteilungen aus der Vergangenheit sind bar jeder Ideologie, überhaupt frei von jeglicher Anmaßung. Weder geht es hier um Deutungshoheit, noch kann von Naivität die Rede sein. Längst Verwehtes wird getreulich im gesprochenen Wort bewahrt. Man könnte meinen, etwas vom Geist jener Zeit wehe auf einmal wieder hier und jetzt. Es muss da eine Substanz geben, die womöglich bleibend ist. Welch ein wertvoller Stoff!

Der Erzähler glitt im milden Dauerrausch durch Tage und durchwachte Nächte. Allfälliges Kiffen und Trinken „von Glas zu Glas“, an anderer Stelle als „konsequentes Trinken“ bezeichnet, grundieren die ungemein gelassene Wahrnehmung, für die sich alles im Fluss befindet. Vor allem im Sonnenlicht funkelnde Weiß- und Roséweine verschönen die ohnehin schon wunderbaren Tage.

Kurzeck hatte damals spürbar Lebenshunger, war stets begierig auf neue Gegenden und Menschen, sorglos unterwegs, für ein paar Jahre gleichsam „unsterblich“. Seine Reisewege führen z. B. nach Amsterdam, München, Venedig, Triest, Istrien, Wien, Schweden, ans Nordkap. Jede Stadt und Region hat zwar ihr eigenes Gepräge, doch überall gibt es den Hauch der neuen Hoffnung.

Schon 1964 fährt Kurzeck erstmals ins goldene Prag, wo viele Menschen bereits den Vorfrühling in Köpfen und Herzen tragen. Und dann erst 1968, dort! Da herrscht rundum das intensive Gefühl, dass die Welt besser wird, dass alles schlichtweg so sein soll und nicht anders… In diesem Klima ist der Erzähler immer wieder neu verliebt, denn siehe, auch die Frauen sind in jenen Tagen schöner denn je!

Wehmut und Wut darüber, wie dieses Wachsen der Utopie hernach zertreten und von Panzern überrollt wurde, werden insgeheim miterzählt, doch es überwiegt der Gestus des rettenden Festhaltens der federleichten Freiheit – für diese und für kommende Zeiten: Solche Tage waren einmal möglich. Warum soll es nicht einmal wieder so werden?




Rätselvolle Dingwelt ohne Menschen – Bilder von Christian Hellmich in Wuppertal

Wie wäre das wohl, wenn die Dinge sich zeitweise selbständig machen oder wenn sie gänzlich ohne uns existieren würden? Eine uralte Alptraum-Frage, die immer wieder auch die bildende Kunst umtreibt.

Auf den Bildern des Christian Hellmich (Jahrgang 1977), der ursprünglich Comiczeichner hat werden wollen, kommen menschliche Gestalten prinzipiell nicht vor. „Ich will kein leidendes Fleisch malen“, meint er dazu lapidar. In der Wuppertaler Von der Heydt-Kunsthalle hat Hellmich nun seine allererste Einzelausstellung in einem Museum, bestückt mit 35 Groß- und Kleinformaten. Der Künstler, 1998 bis 2004 Essener Folkwang-Student, heute in Berlin lebend, nennt (beträchtlich beschädigte) Ruhrgebiets-„Idyllen“ und trostlos kastenförmige, gründlich missverstandene Adaptionen der Architektur-Moderne als einen anfänglichen Quell seiner Bildphantasien.

Christian Hellmich: Treppe III (2007), Öl auf Leinwand, 151x391cm, Privatsammlung London/Von der Heydt-Museum, Wuppertal. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012

Christian Hellmich: Treppe III (2007), Öl auf Leinwand, 151x391cm, Privatsammlung London/Von der Heydt-Museum, Wuppertal. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012

Von Menschenhand geschaffene Objekte also sollen uns in Bann ziehen, irgendwo im Niemandsland zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit angesiedelt. In dieser irritierenden Zwischenwelt kann man die Dinge womöglich neu und anders anschauen. Architektonische Formelemente überwiegen zunächst, doch sie haben keinerlei funktionalen Sinn, sie sind aus ihren Bezügen gerückt oder gar entrückt. Global taugliche Bildtitel wie „Mushroomrock“ oder „The world is mine“ helfen nicht im erklärenden Sinne weiter, sie verstärken das Flirren noch. Neuerdings bevölkern vollends mysteriöse Objekte die Bildräume, die sich auch von der Architektur weit entfernen, ihre Zwecke nicht preisgeben, jedoch mit Selbstgewissheit auftreten.

In „schmutzig“ ausgeführten Randzonen der Bilder finden sich häufig Schleif- und Schabespuren als Zeichen verflossener Zeit. Was wir hier sehen, sind allenfalls Relikte einstigen Bauens und Herstellens, die oft in verwaschenen Verfallsfarben vor sich hin dämmern – bis dann und wann ein greller, beinahe schon aggressiver Kontrast sie gleichsam aufschreckt. All diese Konstrukte haben offenkundig „schon bessere Tage gesehen“, wie man so sagt. Doch vielleicht gibt es ja ein unverhofftes Erwachen aus diesem Schlummern der Dinge. Und was dann? „Wenn ich’s mit Worten erklären könnte, müsste ich’s nicht malen“, so der Künstler. Eine altbewährte Weisheit des Metiers.

Mit den Jahren hat Hellmich ein umfangreiches Fotoarchiv aufgebaut, aus dessen Motivvorrat er schöpfen kann. Auch die reichlich gefüllten Bildspeicher der Kunstgeschichte oder Trivialitäten wie etwa Discounter-Prospekte liefern gelegentlich dingweltliche Anregungen. Damit ist es freilich längst nicht getan. Die Vorlagen durchlaufen beim Malen etliche Wandlungsprozesse, beispielsweise rein gestische Phasen oder geometrische Impulse. Auch spielt der inspirierende Zufall mit hinein. Einzelne Bestandteile oder Module werden zwar der vorfindbaren Realität entnommen, jedoch auf eine Weise collagiert, dass sie jede Alltagslogik abstreifen. Der Betrachter wird hier nicht zum Bescheidwisser. Alles bleibt schrundig offen.

Christian Hellmich: "The World is mine" (2011), Öl auf Leinwand, 64x50 cm, Courtesy Tanja Pol Galerie, München. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012

Christian Hellmich: "The World is mine" (2011), Öl auf Leinwand, 64x50 cm, Courtesy Tanja Pol Galerie, München. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012

Museumschef Gerhard Finckh erblickt in solchen Arbeiten Anhaltspunkte dafür, dass eben doch noch nicht alles gesagt und gemalt worden ist, dass es mithin neue Horizonte gibt. Und er kann sich gut vorstellen, dass Hellmichs Museumsdebüt den Beginn einer beachtlichen Laufbahn markiert. Wir werden sehen.

Christian Hellmich. 24. Juni (Eröffnung 11.30 Uhr) bis 7. Oktober 2012 in der Von der Heydt-Kunsthalle, Wuppertal-Barmen, Geschwister-Scholl-Platz 4-6. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 3 Euro, Katalog 15 Euro. www.von-der-heydt-kunsthalle.de




Ein Turnier ohne Prägekraft

Du meine Güte, da gab’s doch gestern wahrhaftig einen spielfreien Tag bei der Fußball-Europameisterschaft – und schon wussten manche Menschen nichts mehr mit sich anzufangen.

Ja, man sieht viel Elend. Heute aber endet die Durststrecke bereits. Es gibt wieder Dröhnung. Weil nun das Viertelfinale mit den allseits beliebten K.o.-Begegnungen und womöglich gar Elfmeterschießen anhebt, so bietet sich im Gefolge des landläufigen Sportjournalismus jener güldene Nervspruch mit langer Tradition an, der da lautet: „Jetzt beginnt das Turnier erst richtig.“

Ganz klar. Erst kann die Gruppenphase nicht genug bekakelt werden. Doch kaum ist sie vorüber, schrumpft sie zur Bedeutungslosigkeit. In diesem Falle ist das sogar verständlich, denn sportlich hat die Vorrunde ziemlich wenig geboten. Bislang war keine Partie zu sehen, die man übers Jahr hinaus im Gedächtnis behalten wollte. Keine sonderliche Kunst am Ball, kein neuer Mythos der Fußballreligion, also auch kein wirksames Opium fürs Volk.

Hoheitszeichen vor Gardine (Foto: Bernd Berke)

Hoheitszeichen vor Gardine (Foto: Bernd Berke)

Im Ruhrgebiet, wo sich speziell die Anhänger von Borussia Dortmund düpiert fühlen, weil der schwäbelnde Bayernfreund Löw die BVB-Recken nicht aufstellen mag (Ausnahme bis dato: Mats Hummels), kommt bis zur Stunde erst recht keine schrankenlose Begeisterung auf. So bleibt uns in diesen Breiten immerhin ein zombiehaftes Aufleben des zu Tode gerittenen Wortes „Sommermärchen“ erspart. Statt dessen dräut am morgigen Freitag ein griechisch-deutscher Kampf um den und die Euro. Man möchte sich die vergifteten Emotionen nicht ausmalen, die da schwelen.

Überhaupt vermisst man noch den Prägestempel, der diese EM unverwechselbar machen würde – es sei denn, man erachte den vielfach verdrucksten Umgang mit dem Gastgeber Ukraine als solchen. Eine der besseren Nachrichten ist noch, dass die 2010 in Südafrika nervtötenden Vuvuzelas quasi spurlos verschwunden sind.

Statt dessen mag man sich über den im Ungefähren wabernden Manipulationsverdacht ereifern. Spanien und Deutschland haben einander gegenseitig weitergepfiffen, so wird geargwöhnt. Es sieht tatsächlich beinahe so aus, als ziele die eine oder andere Fehlleistung der Schiedsrichter darauf ab, die „großen Fußballnationen“ (sprich: die zahlungskräftigste TV-Werbekundschaft) so lange wie möglich im Spiele und bei Laune zu halten.

Über die mediale Verwurstung durch ARD und ZDF kann ich – außerhalb der 90 plus x Minuten Spielzeit (was z. B. dank Béla Réthy schon Prüfung genug ist) – wenig mitteilen, weil ich das ganze Vorher- und Nachher-Gerede konsequent abschalte. Mein Lebtag werde ich nicht mehr Zumutungen wie „Waldis Club“ oder die grausige Moderation von Frau Katrin Müller-Hohenstein über mich ergehen lassen, welchletztere die Insel Usedom als Urlaubsziel nachhaltig zu entwerten droht. Nein, das sollte man sich wahrhaftig nicht antun. Schon Nietzsche wusste, dass, wenn man zu lange in den Abgrund blickt, der Abgrund auch in einen selbst hineinschaut. Uaaaaah!

Immerhin sorgte ARD-Experte Mehmet Scholl für ein vernehmliches mediales Rauschen, als er dem oft so unbeweglichen deutschen Stürmer Mario Gomez nickelig nachsagte, er müsse sich wahrend des Spieles „wundgelegen“ haben und solle deshalb lieber „gewendet“ werden. Das war kreatives Mobbing nach dem Motto „Warum sachlich, wenn’s auch persönlich geht?“