Enzensberger und die Luxusuhren

Hans Magnus Enzensberger ist allzeit ein federführender Intellektueller gewesen, der uns allen meist zwei bis fünf Drehungen voraus war. So einen, der auch im leuchtenden Jahr 1968 zur schreibenden Avantgarde gezählt hat, wünscht man sich gleichsam rein, möglichst ohne Fehl und Tadel. Ach, wie naiv!

So kommt es einer gelinden Irritation gleich, wenn man jetzt auf jene mit goldenem Krönchen verzierte Anzeige stößt: HME gibt sich dafür her, die Uhrenmarke Rolex im Gespräch zu halten.

Nein, ich möchte nicht all die Goldkettchen-Typen kennen, die sich ein Produkt dieser Firma ums Handgelenk winden.

Gedichtband von und Anzeige mit Enzensberger (Foto: Bernd Berke)

Gedichtband von und Anzeige mit Enzensberger (Foto: Bernd Berke)

Rolex gibt sich die Ehre, jeweils einen Mentor und einen Meisterschüler miteinander zu koppeln und zum fruchtbaren Dialog anzuregen. So jedenfalls die krampfhaft dezent plakatierte Idee. Ein paar mäzenatische Euro- oder Dollar-Scheinchen werden sicherlich auch noch dransitzen. Hat Enzensberger das auf seine älteren Tage noch nötig?

Enzensberger also unterhält sich, ausweislich des Annoncen-Fotos, mit der ihm zugeordneten Dichterin Tracy K. Smith. Man reibt sich mehr oder weniger verwundert die Augen, wenn man sieht, wer noch teilnimmt an dieser nicht allzu transparenten, wohl aber durchsichtigen Aktion. Auszug aus der illustren Namensliste:

Tahar Ben Jelloun, Brian Eno, Stephen Frears, David Hockney, Rebecca Horn, Toni Morrison, Martin Scorsese, Wole Soyinka, Mario Vargas Llosa, Robert Wilson.

Mich würde interessieren, wen die Rolex-Werbestrategen sonst noch gefragt haben und wer also abgesagt hat. All denen möchte ich meinen Dank aussprechen.




Der RVR und die koordinierte Kultur

Heute verscherze ich’s mir mal mit – nun? – dem Regionalverband Ruhr (RVR). Und zwar so:

Der RVR-Presseservice (idr = Informationsdienst Ruhr) hat heute eine nichtssagend gravitätische Mitteilung versandt, die besagt, dass das „Erbe“ der Europäischen Kulturhauptstadt Ruhr (Ruhr 2010) nunmehr gesichert sei.

Da möchte man doch auftamen.

Dann freilich liest man, dass just der RVR den (Zitat) „Staffelstab“ übernehmen wird, um die „nachhaltige Entwicklung von Netzwerken und Projekten“ der gewesenen Kulturhauptstadt sicherzustellen.

Auch ist die gestanzte Rede von der neuen Programmsäule namens „Künste im urbanen Raum“, die vor allem auch Exzellenzprojekte anstoßen soll.

Eingebunden sind die Kultur Ruhr GmbH, die Ruhr Tourismus GmbH und das European Center für Creative Economy (ECCE). Hört sich gewaltig an, wenn man’s nur nicht hinterfragt.

Der von mir eigenmächtig hinzugefügte Fettsatz zeigt an: Da haben wir es mal wieder, das verwaltungsgemäße, mit leerlaufenden Floskeln durchsetzte „Kreativ“-Sprech, das meist nur mit bürokratischen Verfahrensweisen, aber nicht mit wirklichen Ideen jongliert. Wer so redet, lässt ahnen, dass Kultur nur abermals der Anlass ist für aufgeplusterte Strukturen. Den vermeintlichen Erfolg wird man später gewiss herbeireden.

4,8 Millionen Euro werden jährlich aufgerufen, zur Hälfte vom Land NRW und vom RVR beigesteuert. Kein immenser Betrag, wenn man ihn aufs ganze Revier verteilt. Doch natürlich wird dieses schöne Geld nicht einfach so versickern. Schon 2012 wird beispielsweise eine „Kulturkonferenz Ruhr“ einberufen, welche die „profilbildenden Projekte“ diskutieren und Zukunftsstrategien entwerfen soll.

Im Tunnel (Bild: Bernd Berke)

Im Tunnel (Bild: Bernd Berke)

Schon dem dürren Jargon ist abzulauschen, dass da viel heiße Luft in die Gegend geblasen wird. Bereits jetzt sind etliche Impulse der Kulturhauptstadt, sofern es sie überhaupt je gegeben hat, kläglich erloschen. Längst wieder eingekehrt ist der kulturelle Alltag mit Finanzsorgen an allen Ecken und Enden.

Kulturjournalisten des Ruhrgebiets werden wissen, wovon ich rede: Pressekonferenzen des RVR (vormals KVR), die kulturell wirklich spannend gewesen wären, wird man selbst mit der Lupe vergebens suchen. Ich kann mich an Termine erinnern, bei denen nach meinem Eindruck mehr Vertreter des RVR anwesend waren als Pressemenschen. Viele von ihnen hatten offenkundig keinerlei Funktion beim jeweiligen „Meeting“. Sie standen zinslos herum. Doch es gab gelegentlich Sekt und Häppchen. Gern wurden derlei Treffs am Freitag anberaumt, wenn man anschließend rasch ins Wochenende aufbrechen konnte.

Bitte, bitte, ich lasse mich gern eines Besseren belehren. Vielleicht weht ja beim RVR jetzt und demnächst ein frischer Wind, der alles Gestrige hinwegfegt.

Doch mal ehrlich. Auch dieser Satz klingt beim ersten Hinhören nicht wie eine Verheißung, sondern eher wie eine sanfte Drohung:

„Der Regionalverband Ruhr koordiniert mit einer neuen Stabsstelle künftig die Entwicklung der Kultur in der Metropole Ruhr.“

Hat da jemand „Stillgestanden!“ ge…flüstert?




Dortmund – Zwickau: Prekäre Partnerschaft

Gläserne Rathauskuppel in Dortmund (Foto: Bernd Berke)

Gläserne Rathauskuppel in Dortmund (Foto: Bernd Berke)

Städtepartnerschaften schlafen mit der Zeit meist ein. Nur wenn sich Daten unabweisbar runden, kommt es zu hehren Fensterreden unter Einsatz von Streichquartetten. Oder so ähnlich.

Dortmund ist verbandelt mit Amiens (Frankreich), Leeds (England), Buffalo (USA), Netanya (Israel), Rostow (Russland), Novi Sad (Serbien) und Xi’An (China). Eine stattliche Liste. Doch längst nicht jede Partnerschaft ist mit Leben erfüllt.

Hinzu kommt seit Dezember 1988 die innerdeutsche Städtefreundschaft mit Zwickau.

Zwickau. Moment. Da war und ist doch was?

Ja, sicher. Dort ist zu DDR-Zeiten der Trabant gebaut worden. Außerdem hat sich die sächsische Stadt in den letzten Jahren als ein Gravitationszentrum rechtsradikaler Umtriebe erwiesen. Mit entsetzlichen Folgen.

Sagt da jemand, dass im Westen der Republik für Dortmund ähnliches gelte? Dass zwischen beiden Orten vielleicht einschlägige, womöglich mörderische Verbindungs-Linien gezogen werden könnten? Also, das wäre ja…

Man könnte derlei prekäre Fragen zum Thema einer solchen Städtefreundschaft machen, über die Form wäre zu reden.

Zu manchen Anlässen begeben sich Lokaljournalisten in die jeweilige Partnergemeinde, um dort Stimmungen auszuloten. Wie wär’s? Vielleicht sogar im Austausch.




Revierderby

Über das Derby an und für sich ist eigentlich alles gesagt. Die Formkurvenverläufe von Borussia Dortmund und Schalke 04 sind ebenso bekannt wie die jeweilige Verletztenliste. Alle Statistiken wurden abermals umgewälzt und liegen abrufbereit in den Datenspeichern. Mit teils absurdem Zahlenstoff füllen TV- und Hörfunkreporter dann wieder das Vakuum, wenn eine Palaver-Pause „drohen“ sollte. Ach, wie gut könnte man da auf manchen Wortschwall verzichten!

Auch die Prähistorie des Fußballklassikers im Revier ist wahrlich hinreichend aufgearbeitet worden. Heute finden sich, vorzugsweise in der regionalen Presse, mal wieder Rückblicke bis in die Vorkriegszeit, als Schalke dominierte. Seit den späten 40er Jahren hatte Dortmund meist mehr Erfolg. Doch wem sage ich das?

Zum Ritual gehört das ständige Kokettieren mit der alten Rivalität. In den Tagen vor dem Derby gibt es z. B. erfahrungsgemäß bei jeder hiesigen Pressekonferenz (wovon sie auch immer handle) eine neckische Anspielungen aufs Match, auch bei den meisten anderen Zusammenkünften ist dies eine Standardsituation. Selbst fußballfernste Geister geben sich auf solch augenzwinkernde Weise leutselig und volksnah. Man muss dann nur ganz arglos Worte wie „Gelb“ oder „Blau“ sagen – und schon wird wohlig wissend gefeixt.

Gelb vs. Blau - hier mit Fingerfarben (Bild: Bernd Berke)

Gelb vs. Blau - hier mit Fingerfarben (Bild: Bernd Berke)

Mal eben Schluss mit dem preiswerten Grinsen. Um das Selbstverständliche zu sagen: Gewalt zwischen beiden Fangruppen ist von Übel. Neuerdings trifft man ja feinsinnige Unterscheidungen etwa zwischen Hooligans und Ultras. Bitte, bitte, wenn es der soziologischen Wahrheitsfindung dient… Es ist allerdings gleichermaßen schmerzhaft; egal, von wem es was auf den Schädel gibt. Schon das Unwort „Zecken“, mit dem viele Schalker den BVB belegen, müsste gebannt werden. Klar doch: Beim Widerpart klingt auch nicht alles zivilisiert.

Freilich sollte man die traditionelle Gegnerschaft nicht weichspülen oder verwässern. „Der Bessere möge gewinnen“ ist der ewige Schnarchsatz für Schlafmützen. Natürlich sollen „unsere“ den Sieg davontragen. Wer denn sonst?!




Was Georg Kreisler über Gelsenkirchen sang

Der famose,
unvergleichliche
Liederdichter,
Chansonnier,
Schriftsteller,
Vortragskünstler,
Kabarettist etc. etc.
Georg Kreisler ist mit 89 Jahren gestorben.

Am liebsten würde man sich weigern, diese Tatsache zu akzeptieren. Immer und immerzu diese Zumutungen des Todes, in diesem Falle eine monströse Zumutung. Können die höheren Mächte denn nicht mal über andere Maßnahmen nachdenken?

Wir wollen nicht sagen, er habe ein gesegnetes Alter erreicht, denn das hätte er selbst nicht hören mögen und wahrscheinlich sarkastisch beiseite gefegt. Auch ein schlichtes „Ruhe in Frieden“ hätte ihm wohl nicht gefallen. Überhaupt wollen wir nicht das Offenkundige nachbeten: dass er einer der ganz Großen gewesen ist. Stattdessen hier sein grandioses Lied über Gelsenkirchen.

P. S.: Sehe soeben, dass Stefan Laurin von den Ruhrbaronen auf die (für ein Revierblog) nicht eben fern liegende Idee mit diesem Lied gekommen ist. Manchmal laufen gedankliche Wege eben parallel, dann wieder gar nicht.

Eine von vielen hörenswerten Kreisler-Platten versammelt "Die alten, bösen Lieder" (Kip Records)

Eine von vielen hörenswerten Kreisler-Platten versammelt „Die alten, bösen Lieder“ (Kip Records)




Worüber wir inzwischen nicht geschrieben haben

Holla! Als dieses Blog jetzt zwangsläufig für einige Tage offline gewesen ist, hat man erst einmal so richtig gemerkt, wie die Zeit verfliegt und wie die Ereignisse sich türmen.

Was hätte man nicht alles schreiben können, sollen, müssen!

Vom tödlich aggressiven Rechtsextremismus hätte man wohl auch hier nicht schweigen dürfen. Obwohl schon einem Karl Kraus zu Hitler nichts mehr eingefallen ist (ein Ohnmachtsgefühl, das er freilich höchst wortgewaltig zu entladen wusste).

Man hätte dem sauberen Signore Silvio B. einige Worte nachwerfen können.

Man hätte dem am Rande des Reviers (Schwelm) geborenen Franz Josef Degenhardt einen Nachruf widmen müssen. In anderen Atemzügen hätte man Wolf Biermann zum 75. Geburtstag gratulieren sollen. In beiden Fällen hätte es sich dringlich empfohlen, Worte wie „Bänkelsänger“ und „Barde“ zu meiden. Und es wäre gar zu schön gewesen, hätte man nicht den einen gegen den anderen ausgespielt.

Man hätte wohl auch das Gruselkabinett der neuesten „Dortmunder Peinlichkeiten“ (bald ein geschütztes Warenzeichen?) bebend, zornig oder lachend durchschreiten müssen. Angefangen mit dem inzwischen aufgegebenen, nichtsdestoweniger unsäglichen Vorhaben, dem „größten Weihnachtsbaum der Welt“ (ohnehin ein monströser Bastel-Fake aus ca. 1700 Rotfichten) einen Fußball statt eines Engels aufzusetzen. Der leider siegreiche Entwurf fürs künftige Deutsche Fußballmuseum gegenüber vom gleichfalls peinlichen Hauptbahnhof wäre auch zu bereden gewesen.

Ferner gab’s Absurditäten wie die „Hamster-Affäre“ (bitte selbst in die Suchmaschine des Vertrauens eingeben), in deren Verlauf eine Lehrerin eine Schülerin übelst gemobbt haben soll. Sodann hätten wir noch das bislang recht renommierte Dortmunder Institut für Kinderernährung, das sich Empfehlungen (etwa für „Fruchtzwerge“) offenbar mit Hersteller-Honoraren hat vergüten lassen. Und schließlich noch eine Zoo-Farce, in der mit angeblicher Billigung und tätiger Unterstützung des Direktors Männerakt-Aufnahmen in den Gehegen entstanden sein sollen. Sodom und Gomorrha?

Sagt selbst: Gibt es eine Stadt in Deutschland, die mehr unfreiwillige Komik zu bieten hat?

Mal ganz abgesehen davon, dass inzwischen die eine oder andere Ausstellung, diese und jene Aufführung ins Land gegangen sind. Aber mit unsinnigen Ansprüchen auf Vollständigkeit plagen wir uns ja eh nicht.

Trotzdem kommt man sich fast vor wie bei jener Baumarktkette, die dröhnend kundtut: „Es gibt immer was zu tun.“

Na gut. Packen wir’s an!




Die Kunst, die Putzfrau und Kippenbergers Kichern

Lasset uns offen und ehrlich sein: Im Kunst-Diskurs der Republik spielt Dortmund keine tragende Rolle. Jetzt aber berichten die Medien landauf, landab über einen musealen Vorfall, der einem elend bekannt vorkommt. Ja, es scheint sich hierbei um eine der regelmäßig wiederkehrenden urban legends zu handeln, wie sie immer mal wieder – in leicht variierten Formen – durch die Presse geistern.

Machen wir’s kurz, aber nicht schmerzlos: Eine Putzfrau hat ein teures Kunstwerk (Versicherungswert etwa 800 000 Euro) reinigen wollen und dabei offenbar irreversibel beschädigt. Leider geschehen im Dortmunder „U“, wo auch das Ostwall-Museum untergekommen ist.

Diesmal hat es mit dem in Dortmund geborenen Martin Kippenberger (1953-1997) einen Künstler getroffen, der selbst virtuos und artistisch auf dem Grat wanderte, ja tänzelte, welcher Kunst von Nicht-Kunst scheidet – oder eben auch nicht…

Die 1987 entstandene, jetzt gleichsam blitzblank weggeputzte Dauerleihgabe trägt den womöglich ironisch funkelnden Titel „Wenn’s anfängt durch die Decke zu tropfen“, zudem prangen sinnigerweise die Worte „Abstrus“, „Genugtuung“ und „Wiedergutmachung“ auf der Arbeit. Materiell sieht das Ganze so aus: Unter einem hohen Holzgestell steht ein Plastiktrog, dessen Kalkfleck nun verschwunden ist, was die Wahrnehmung natürlich wesentlich verändert. Eine Restauratorin hat bereits wissen lassen, das Werk sei nicht mehr im ursprünglichen Sinne wiederherstellbar. Auf die Reinigungsfirma bzw. deren Versicherung könnte einiges zukommen.

So weit, so glücklos.

Jetzt aber setzt wieder der altbekannte Mechanismus ein. Die überwiegend kunstferne Volksseele hegt nicht nur insgeheim Sympathien mit dem robusten Tun der Putzfrau. Wie, so fragt der immer noch existierende Gesamt-Spießer, soll man denn auch die neuere Kunst vom Unrat unterscheiden. Womit wir bereits bei ganz gefährlichen Positionen angelangt wären, die leicht Anschluss an extreme Umtriebe finden könnten. Beziehungsweise umgekehrt. Demagogen dürften hier einen bestens gedüngten Nährboden vorfinden.

Auch in der gewohnt launigen, heftigst augenzwinkernden Berichterstattung steht man in der Gefahr, niedere Instinkte und Vorurteile zu bedienen. „Ist das Kunst oder kann das weg?“ lautet in solchen Fällen einer der dümmlichen, aber noch harmloseren Standardsätze, die sogleich einrasten. Die stetige Unsicherheit, wie Kunst überhaupt noch zu fassen sei, ist das weit offene Tor, durch das diese Ressentiments Einlass finden.

Da kichert wohlfeil die Nation, da kräht der Stammtisch. Wie einst, als Joseph Beuys‘ Fettecke ein vergleichbares Schicksal zuteil wurde.

Nun gut. Kippenberger hätte über die Angelegenheit wahrscheinlich gefeixt. Die immerzu schwankenden Wertzuweisungen in Sachen Kunst waren gerade ihm bewusst. Just damit hat er ja gespielt wie sonst nur wenige.

Bei uns daheim: Fettecke "für aufs Brot". Und wehe, die macht jemand weg... (Foto: Bernd Berke)

Bei uns daheim: Fettecke "für aufs Brot". Und wehe, die macht jemand weg... (Foto: Bernd Berke)




Zum Tod der Musikjournalistin Sonja Müller-Eisold

Rund 55 Jahre lang hat sie für die Westfälische Rundschau (WR) über Oper, Ballett und Konzerte in der Region geschrieben. Welch eine Zeitstrecke, welch eine Lebensleistung! Jetzt ist die Dortmunder Musikjournalistin Sonja Müller-Eisold mit 80 Jahren gestorben. Eigentlich unfassbar, dass sie ihre angestammten Plätze in den Opern- und Konzerthäusern nicht mehr einnehmen kann. Wie sie denn überhaupt aus dem westfälischen Musikleben kaum wegzudenken ist.

55 Jahre lang für dieselbe Zeitung schreiben – solche Betriebstreue gibt es nicht mehr, kann es nicht mehr geben. Sie ging einher mit einer Zuverlässigkeit, wie man sie heute wohl vergebens sucht. Einen Termin ausfallen zu lassen oder sich auch nur zu verspäten, das war für Sonja Müller-Eisold prinzipiell ausgeschlossen. Im täglichen Wirrwarr der Redaktionsarbeit lernt man solche Festigkeit sehr zu schätzen.

Das Wirken der bei Dresden Geborenen ging freilich über derlei „preußische“ Sekundärtugenden weit hinaus. Auf der soliden Grundlage eines Studiums der Musikwissenschaften, das sie in Berlin mit der Promotion abschloss (über Mörikes Lyrik in Hugo Wolfs Vertonung), und eines Redaktionsvolontariats bei der Westfälischen Rundschau, reifte sie zur viel beachteten Kritikerin heran. Doch trotz ihres wachsenden Einflusses blieb die Gattin des früheren WR-Verlagsleiters Hans G. Müller (Heirat 1962, aus der Ehe ging die Tochter Andrea hervor) bemerkenswert unprätentiös. Wenn wir schon bei den Adjektiven sind: freundlich und ausgeglichen müssen hier ebenfalls stehen.

Über zweieinhalb Jahrzehnte durfte ich in der WR-Kulturredaktion mit SME (so ihr weithin bekanntes Kürzel) zusammenarbeiten. Sie war unsere feste freie Mitarbeiterin für alle Sparten der so genannten E-Musik und betreute etwa die Tage Alter Musik in Herne ebenso fachkundig wie die Tage Neuer Kammermusik in Witten. Zwischen solchen Festivals lagen ungezählte Opernpremieren und Konzertereignisse, an Wochenenden waren zuweilen mehrere Termine zu absolvieren. Bis zuletzt hat Sonja Müller-Eisold sich derlei Strapazen zugemutet – vor allem aus tiefer Freude an der Musik. Wer je ernsthaft geschrieben hat, wird wissen, dass bei einem solchen Pensum auch Routinen vonnöten sind.

Alljährlich besuchte Sonja Müller-Eisold die Wagner-Festspiele in Bayreuth. In der ganzen Republik dürfte es schwerlich Menschen geben, die beispielsweise den „Ring“ öfter gehört und gesehen haben als sie. Seit 1990 war sie Vorsitzende des Wagner-Verbandes in Dortmund. Auch nahm sie einen langjährigen Lehrauftrag an der Dortmunder Musikhochschule wahr.

Ihre Kritiken waren in aller Regel sanftmütig, sie taten nicht mutwillig weh. Gelegentlich hat man ihr beim Redigieren zurufen mögen: „Nun sagen Sie dem Regisseur doch mal kräftig Bescheid!“ Doch wenn sie mit einem Auftritt nicht einverstanden war, blieb sie auf noble Weise zurückhaltend und beließ es bei künstler- und also menschenfreundlichen Hinweisen, zarten Andeutungen zwischen den Zeilen. Und wenn man es nur recht bedenkt, hat solcher Zuspruch vielleicht oft mehr gefruchtet, als ein herzhafter „Verriss“ es vermocht hätte.

Durfte sie hingegen aus guten Gründen schwelgen, so war sie vollends in ihrem Element. „Beglückend“ war dann oft eines ihrer liebsten Worte. Es bezeichnet ihr inniges Verhältnis zur Welt der künstlerischen Klänge und zu den Musikschaffenden.

(Einzelne Daten und Sachinformationen, die mir sonst nicht unmittelbar vorgelegen hätten, entnehme ich dem heute in der Westfälischen Rundschau abgedruckten Nachruf).

Historische Grabstätte in Dortmund (Foto B. B.)

Historische Grabstätte in Dortmund (Foto B. B.)




Dortmunder Krallenfund: Raubsaurier im Ruhrgebiet

Hat der Raubsaurier so ähnlich ausgesehen? Man weiß es nicht. (Bild: LWL)

Hat der Raubsaurier so ähnlich ausgesehen? Man weiß es nicht. (Bild: LWL)

Hier geht’s um Dinosaurier im Revier. Nein, es sind keine gigantischen Hochöfen oder Gasometer gemeint. Für derlei Zeugnisse der historisch gewordenen Industrielandschaft erstrebt die Region jetzt gleichsam pauschal den Titel eines UNESCO-Weltkulturerbes. Vielleicht leben wir eines Tages alle in einem großen, großen Freilichtmuseum.

Davon erst einmal genug.

Parallel gab’s gestern eine Nachricht, die selbst die „Bild“-Redaktion elektrisierte und zur Dino-Schlagzeile anstachelte. Die Botschaft klingt ja so schön konkret, jedoch auch surreal, stellt sie einen doch vor gewaltige Zeitläufte: An einer Baustelle der B 1 (Ruhrschnellweg) ist in Dortmund die versteinerte Sichelkralle eines Sauriers gefunden worden. Geschätztes Alter: rund 91 Millionen Jahre. Damals war das spätere Ruhrgebiet eine Küstenlandschaft, das Gelände der heutigen Stadt Dortmund lag am Gestade eines Binnenmeeres. Eigentlich schade, dass sich das so grundsätzlich geändert hat.

Wir reden nicht von irgend einem gewöhnlichen Dino. Um ganz sicher zu gehen, haben sie sich beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) seit dem Fund ordentlich Zeit gelassen. Fachleute des LWL-Museums für Naturkunde in Münster haben sich zwei Jahre lang über das gute Stück gebeugt, es präpariert und gründlich analysiert. Das Resultat verkündete jetzt der LWL-Dino-Experte Dr. Klaus-Peter Lanser: „Es ist der bisher einzige Fund eines Raubdinosauriers in Deutschland aus dieser Zeit…“ Für Wissensdurstige etwas genauer: Raubdinosaurier oder Theropode aus dem mittleren Turon (frühe Oberkreidezeit).

Demnächst kann ein geneigtes Publikum die Überbleibsel des Vorzeitwesens anschauen; zunächst, am 26. und 27. November, bei den Westdeutschen Mineralientagen in den Dortmunder Westfalenhallen, ab 2014 in der Dino-Schau des Münsteraner Museums für Naturkunde. Dortmunder Lokalpatrioten werden hier aufmerken und vielleicht gar kolonialistisches Verhalten der Münsteraner wähnen, denn auch der Fundort Dortmund hat ein Naturkundemuseum mit Dino-Ambitionen. Doch die Gesteinsblöcke mit dem Knochenmaterial befinden sich nun mal in den Händen des Landschaftverbandes Westfalen-Lippe, dessen Zentrale just in Münster residiert.

So sieht das Fundstück aus. (Bild: LWL)

So sieht das Fundstück aus. (Bild: LWL)

Nur mal am Rande geflüstert: Vor mir liegt die entsprechende Dino-Pressemitteilung des Landschaftverbands. Wenn ich den Text mit dem heutigen Artikel einer Regionalzeitung vergleiche, so kann ich etwa 80 bis 90 Prozent wortgleiche Übereinstimmung feststellen. Trotzdem steht das Kürzel des Blattes unter dem Beitrag. Wie soll man das nun nennen? Missglückten Qualitätsjournalismus? Oder gleich Guttenbergiade?




Ernst Meister: An den Grenzen des Daseins

Aus der Münsteraner Ausstellung (siehe Hinweis am Ende des Beitrags): Ernst Meister, Selbstporträt o. J., Pastell ung Kohle auf Papier (Foto: LWL)

Aus der Münsteraner Ausstellung (siehe Hinweis am Ende des Beitrags): Ernst Meister, Selbstporträt o. J., Pastell ung Kohle auf Papier (Foto: LWL)

„Abend erscheint.
Rauchig ist die Stadt
meiner Mutter, rauchig
die Stadt meines Vaters
von den Eisenöfen.“

Was haben wir da? Ruhrgebietsliteratur der bodenständigen, realistischen Art? Eigentlich ganz und gar nicht, obwohl sich die Verse auf Hagen beziehen. Es handelt sich um den Anfang eines Gedichts von Ernst Meister (1911-1979), der dieser Stadt sein Lebtag treu geblieben ist – wie der Maler Emil Schumacher. Da könnte man fragen: Was hatte Hagen, was andere Ruhrgebiets-Kommunen nicht hatten? Aus all den weiteren Revierstädten haben sich die Größen doch zeitig verabschiedet.

So fassbar konkret wie im anfänglichen Zitat klingt es im gesamten Auswahlband der Gedichte (Bibliothek Suhrkamp) kaum noch einmal. Statt dessen geht es um Ganze der flüchtigen Existenz – vor dem allgegenwärtigen, übermächtigen Horizont des Todes.

Die von Peter Handke getroffene Auswahl ist zur 100. Wiederkehr des Geburtstages von Ernst Meister erschienen. Vorlage war die 17-bändige (!) Ausgabe sämtlicher Gedichte Meisters (Rimbaud-Verlag, Aachen).

Handke schreibt im knappen Vorwort, er habe sich „spontan für die Gedichte in diesem Buch entschieden“. In Meister, so steht zu vermuten, verehrt er einen Vorläufer. Apropos: Zu den wichtigsten und fruchtbarsten Einflusslinien der gesamten Literatur im Ruhrgebiet zählt sicherlich, dass der junge Nicolas Born (aus Duisburg stammend) sich an den bereits etablierten Hagener Meister wandte, um vom Älteren zu lernen.

Meister ist allerdings unvergleichlich. Er steuert immer aufs Wesentliche zu. Jeder Zeile merkt man an, wie lang sie bedacht sein muss. Also muss man ihr gleichfalls lang nachhorchen, nachsinnen.

Auch ahnt man, wie viele mögliche andere Zeilen im Verlauf des Dichtens entfallen sein müssen, bis die Essenz übrig blieb. Diese ungemein komprimierte Lyrik bewegt sich nah und näher am Saum des Schweigens. Vielfach werden pflanzliche Kreatur oder Steine zu Zeugen des Daseins aufgerufen.

Wie ein Schock wirkt es, wenn in diesen Kontext unversehens Alltäglichkeit drängt:

GUTE NACHT

Gute Nacht
sagen sie abends um sechs
im Sägewerk.

Und ein Mann geht heute,
grau von sprühendem Holz,
satt die kreischenden Blätter,

nach Haus,

wo sein Kind schreit,
weil es Grimmen hat
und nicht
schlafen kann.“

Sonst aber geht es gleich bis zu den Grenzlinien des Lebens. Als Leser mag man sich vorkommen wie der Passagier eines Fährmanns, der sich weit, weit hinaus gewagt hat. Doch man kann ihm dort draußen vertrauen, auch wenn seine Stimme – im Höchsten und Tiefsten der Sprache – gelegentlich stammelt, stockt und strauchelt. Wer könnte denn geläufig reden, wenn es um die letzten Dinge geht?

Noch lebend, glaubt das lyrische Ich, schon die Totenschuhe anzuhaben („Anderer Aufenthalt“), „Ein lebend Tödliches“ lautet der bezeichnende Titel eines anderem Gedichts, wobei solche Überschriften stets in Versalien (Großbuchstaben) gesetzt erscheinen.

So rasch rauscht hier das Leben vorüber, dass es immer schon fast vorbei ist, der Jahreslauf eilt so:

„Daß man sah
des Jahres Zeiten,
die Blume geöffnet,
das Tropfen der Früchte,
der Äste Starrn.“

Die Totenwelt ragt unabweisbar in die lebende hinein. Und doch bleibt diese Lyrik vollkommen irdisch und diesseitig, sie wirft ihre Worte nichts leichtfertig ins Jenseits, will nicht visionär übers hiesige Leben hinaus reichen. Auch das Gedenken an die verstorbenen Eltern bescheidet sich so:

„…Vater und Mutter zum Beispiel,

grabsäuberlich,
Leben beglichen.
Ach, der Gedankensohn.“

Zeilen, die interpretierend schwerlich zu erschöpfen sein werden. Meister ist in Zonen gesegelt, in denen Genie an Scharlatanerie grenzen und unversehens parodierbar werden könnte. Es scheint jedoch, als hätte er solche Klippen samt und sonders umschifft.

Man sollte ihn von Mal zu Mal, man sollte ihn wieder und wieder lesen.

Ernst Meister: „Gedichte“. Ausgewählt und mit einem Vorwort versehen von Peter Handke. Bibliothek Suhrkamp. 150 Seiten. 13,90 Euro.

Bildnerische Ergänzung: Das Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte zu Münster zeigt noch bis zum 27. November 2011 eine Studio-Ausstellung mit Aquarellen und Zeichnungen von Ernst Meister (geöffnet Di-So 10-18, Do 10-21 Uhr, Katalog mit Bestandsverzeichnis auf CD 19 Euro). Infos: http://lwl-landesmuseum-muenster.de




Nachruf, lass nach!

Kürzlich bin ich wieder einmal in Versuchung geraten…

In die Versuchung, einen Nachruf zu schreiben. Der Verstorbene aus der Film- und Theaterwelt ist wahrlich bedeutsam genug gewesen und hat einem große Momente gegeben. In solchen Fällen ist es beinahe, als wäre ein Freund oder Familienmitglied gegangen.

Doch dann habe ich mich bezähmt. Im Gegensatz zu früheren Jahren bin ich nicht mehr gehalten, solche Beiträge ad hoc zu liefern. Ja, ich kann es sogar ganz bleiben lassen. Oh, schöne Freiheit! Oh, Segen des Verzichts! Außerdem muss man doch oft einsehen, dass es Berufenere gibt, die den posthum zu Rühmenden zeitlebens publizistisch begleitet haben. Fünfzehntes Gebot, leider selten in Stein gemeißelt: Du sollst nicht unberufen nachrufen.

Vor allem die überregionalen Zeitungen können in der Regel für alle Kultursparten und deren Verzweigungen auf kundige Spezialisten zurückgreifen, die sich Zeit nehmen, „auf Vorrat“ zu schreiben. Die Nachrufe entstehen also lange vor dem Tod der betreffenden Kulturgrößen. Makaber genug, doch ist das Verfahren geeignet, die Textqualität merklich zu steigern.
Nun gut. Auch dabei kommen nicht immer strahlende Artikel heraus. Aber die Chancen auf achtbare Beiträge stehen eindeutig besser.

Ansicht vom Dortmunder Ostfriedhof (Foto: Bernd Berke)

Ansicht vom Dortmunder Ostfriedhof (Foto: Bernd Berke)

Bei den meisten Zeitungen hingegen dürfte in solchen Fällen ein „Schnellschuss“ abgefeuert werden. Im ungünstigsten Falle kommt die Todesnachricht am späten Nachmittag oder frühen Abend und zwingt dazu, die bereits fast fertigen Seiten „umzuschmeißen“. Ich mag hier keine Zynismen zitieren, die in derlei Situationen zum Redaktionsjargon gehören.

Jedenfalls muss es dann hemdsärmelig zugehen. Früher hätte man mit Tucholsky gesagt, es werde „mit der Zigarette im Mundwinkel“ geschrieben. Rasch wird jemand „ausgeguckt“, in dessen thematischen Beritt der Nachruf fällt. Oder wer halt gerade am Platze ist. Der oder die muss dann sehr zügig schreiben. Nur net hudele? Von wegen!

Ehedem hat man zur oberflächlich raschen Information flugs im Papierarchiv gewühlt (bevorzugt Beiträge zu „runden“ Geburtstagen der nun Verstorbenen) und eilends Munzinger-Biographien oder Lexika gewälzt. Vor allem aber dienten Texte der Nachrichtenagenturen als „Anregungen“. So mancher Nachruf ist vorwiegend am schlackernden Leitseil von dpa entstanden, es war – um es mal doppelt auswärts zu sagen – zuweilen copy and paste avant la lettre. Seit es Wikipedia und artverwandte Quellen gibt, geht es noch viel haltloser zu.

Gleichwohl scheuen sich manche Journalisten (natürlich alle bei der Konkurrenz beschäftigt, wo sonst?!) nicht, ihren Namen über oder unter derlei zwittrige Produkte zu setzen. Das sollte man erst tun, wenn die persönliche Färbung die Vorlage(n) deutlich hinter sich gelassen hat. Sonst darf man allenfalls ein verschämtes Kürzel hinzusetzen und keineswegs mit ganzem Autorennamen protzen. Besonders perfide Variante: Ist beispielsweise ein US-Künstler gestorben, posieren manche bräsig in Deutschland hockenden Nachrufer mit ihrem Namen vor der Ortsmarke New York, als seien sie eben mal hingeflogen oder immer schon dort gewesen. Frechheit!




Promis imponieren uns gar nicht

Letzten Samstag habe ich wahrhaftig einen fernsehprominenten Schauspieler im Dortmunder Westfalenpark gesehen. Er war offenbar zu Besuch bei Freunden, mit denen er auch auf den Kinderspielplatz ging.

„Na und?“ rufen sie jetzt unisono in Berlinhamburgmünchenköln und wenden sich wieder stärkeren Reizen zu.

In Dortmund, erst recht in weiten Teilen des sonstigen Ruhrgebiets, sind Promis im Stadtbild tatsächlich immer noch etwas Seltenes. Das wird sich auch mit dem neuen Dortmunder Status als „Tatort“-Stadt nur unwesentlich ändern.

Doch was soll’s. Man schert sich um bekannten Leute ohnehin nicht sonderlich. Von Glamour lassen sich hier eh die wenigsten blenden. Es gibt es genügend andere Sorgen (und Freuden).

Einst sah ich den Schriftsteller Walter Kempowski trübsinnig über den Ostenhellweg schleichen – offenbar unerkannt wie nur je einer. Das war ihm ersichtlich nicht recht. Vielleicht hat er gar erwogen, die abendliche Lesung abzusagen.

Fast schon legendär ist der Dortmunder Journalistenkollege, der just Kempowski beim Interviewtermin mit „Guten Tag, Herr Kempinski“ angesprochen hat. Ums Haar wäre das Gespräch geplatzt, hätte man nicht sehr begütigend auf den Meister eingeredet.

Die Hamburger „Zeit“ hat’s erfasst, als sie Dortmund vor Jahren „die unaufgeregteste Großstadt der Republik“ nannte. Sofern es nicht gerade um Fußball geht, stimmt dies bis heute.

Während der in aller Regel aus schwäbischen Kleinstädten stammende Berliner immerzu krampfhaft starr an den unzähligen Promis vorbei blickt (schließlich ist man nun Hauptstädter und steht über derlei Kleinkram), bleibt man im Revier von vornherein unbeeindruckt. Jetzt sage bloß niemand, das sei geflunkert.

Jedenfalls kann man allen Paparazzi nur raten, ihre Wohnstatt nicht im Ruhrgebiet zu nehmen. Es lohnt sich einfach nicht. Die paar Sensationsfotos, die da anfallen, knipsen wir hier nebenher aus der Hüfte mit (siehe erregendes Foto).

Da hinten geht der Promi, ich schwör' (Foto: Bernd Berke)

Da hinten geht der Promi, ich schwör' (Foto: Bernd Berke)




Hier daafsse nichma bekloppt werden!

Materialien zur psychotherapeutischen Behandlung des Ruhrgebiets

 

Die Statistik ist wohl nicht mehr taufrisch, doch bemerkenswert: Im Ruhrgebiet warten Klienten im Schnitt 17 Wochen auf psychotherapeutische Hilfe. Im Bundesdurchschnitt sind es 12,5 und im Osten der Republik 16,1 Wochen. Grund für die offenbar eklatante Unterversorgung: In anderen Großstädten werden rund 40 Therapeuten je 100 000 Einwohner zugelassen, im Revier nur ungefähr 10.

Diese Zahlen hat Prof. Rainer Richter, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung (Ausgabe vom 6. Oktober) genannt.

Welche Schlussfolgerungen könnten sich daraus ergeben? Ein paar knappe Ansätze:

Die spontane Reaktion: Wieder ein Bereich, in dem das Ruhrgebiet trübe Schlussfunzel ist und pfeilgrade mal wieder die „Süddeutsche“ das Elend aufgreifen kann. Zwischen Duisburg und Dortmund ist man erneut gekniffen. Abgehängt und eingemacht. Ach ja. Wann hört das jemals auf?

„Hier daafsse nichma bekloppt werden!“

Liegt es vielleicht an der hiesigen „Stell-dich-nicht-so-an“-Mentalität? Brauchen wir den ganzen Psycho-Zauber nicht? Hat sich daraus die gelegentlich robuste, ja zuweilen stiernackige Seinsweise regionaler Rathausfürsten entwickelt, die auch kulturelle Feinheiten nicht gelten lassen mögen?

Oder so besehen: Sorgen um die schiere Bezahlbarkeit des Lebens stehen hier oft im Vordergrund. Man darf sich keine feiner gesponnenen Leiden leisten.

Hypothese: In Freiburg, Heidelberg oder Tübingen gibt es signifikant mehr überempfindliche Hysteriker(innen) als in Gelsenkirchen oder Bottrop.

Ohnehin lassen sich Therapeuten lieber in schicken Städten wie Hamburg oder München nieder.

Traue keiner Statistik: Wenn (siehe oben) im Revier so wenige Therapeuten zugelassen werden, müssten dann die Wartezeiten im Verhältnis zu anderen Regionen nicht noch viel länger sein? Oder wird hier im raren Behandlungsfalle auch noch zügiger abgefertigt?

Weitere Vermutung auf traditioneller Basis: Der Gang in die Kneipe ersetzt im Revier nicht selten den Gang zum Psychotherapeuten. Immer noch. Paar Pilsken – und schon scheint es wieder zu laufen. Halbwegs. Gute Wirte sind bekanntlich nebenher Sozialarbeiter, Therapeuten und Beichtväter. Von rustikalen Wirtinnen ganz zu schweigen!

Noch’n Revierklischee: Wenn wenigstens der Fußballverein gewinnt, geht es manchen Leuten schon wieder ein wenig besser. Ein Pokal und erst recht eine Meisterschaft wirken heilsam. Selbst verlorene Spiele erzeugen starke, eindeutige Bilder ohne filigrane Verzweigungen und sonderlichen Hirnschwurbel.

Übrigens: Welche Interessen vertritt eine Organisation mit der monströsen Bezeichnung Bundespsychotherapeutenkammer? Der eingangs erwähnte Prof. Richter behauptet, schon jetzt leide fast jeder dritte Deutsche „innerhalb eines Jahres an einer behandlungsbedürftigen psychischen Krankheit.“ Will die Kammer womöglich die Schwelle für psychotherapeutische Intervention so niedrig setzen, dass fast jede(r) hilfsbedürftig ist und somit unentwegt neue Stellen in diesem Bereich entstehen? Will man die Segnungen der Psychotherapie noch breiter ausstreuen, nunmehr bevorzugt im Wilden Westen und im Wilden Osten?

Dafür danken wir schon jetzt. Auf Knien.

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Illustration: Fürs Bild (Titel „Auf der Couch“ / Foto: Bernd Berke) habe ich mich von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) inspirieren lassen, die ihre gewichtigen Themen öfter mal mit Playmobil-Figuren und anderem Spielgerät darstellt.




Nicht fein genug?

Die Edeljuwelierkette Wempe hat mal wieder die Anzeige geschaltet, in der ein smarter, souverän entspannter, rundum arrivierter, aber noch nicht vollends saturierter Top-Entscheider-Vater seinem gleichfalls schon rundum veredelten Sohnemann (welcher gewiss zu den schönsten Hoffnungen berechtigt), gleichsam feierlich gelobt, ihm dereinst die aber so was von kostbare Uhr einer Nobelmarke zu vererben, denn: „…eigentlich bewahrt man sie schon für die nächste Generation“.

Unter dem Schmonzes steht eine Liste von Wempe-Niederlassungen. Vergleicht man diese mit der Aufstellung aller bestehenden Filialen auf www.wempe.de, so fällt auf, dass – abgesehen von einem Luxusschiff – genau drei Orte fehlen. Kampen/Sylt muss wohl wegen der Insellage aussortiert worden sein. Bei Mannheim und Dortmund kann man sich hingegen andere Gründe denken. Vielleicht sind diese beiden Städte einfach doch nicht fein genug für besagte Botschaft. „Mannemer Dreck“ ist sprichwörtlich – und Ruhrgebiet, nun ja! Sagt selbst. Ihr wisst doch Bescheid.

Reden wir nicht mehr drüber.




Pinguin-Verlag in Dortmund? Nie davon gehört!

Auch wenn der Lexikon-Vorvater Friedrich Arnold Brockhaus hier geboren wurde, so ist Dortmund nie durch ein reges Buchverlagswesen aufgefallen. Das Defizit gilt bis heute.

Böser Fuchs, guter Hase (Copyright 1963 by editrice AMZ, Milano / Pinguin-Verlag, Dortmund)

Böser Fuchs, guter Hase (Copyright 1963 by editrice AMZ, Milano / Pinguin-Verlag, Dortmund))

Gewiss, vereinzelt wurden in der Stadt Verlage tätig. Um nur die trübe Gegenwart zu betrachten: Die kommerziell erfolgreicheren Zeiten von Harenberg sind längst vorüber. Eigentlich hält nur noch der Grafit-Verlag tapfer die Stellung, der vor allem mit (Regional)-Krimis gewachsen ist.

Und zwischendurch war da ja auch nicht sonderlich viel, oder?

Umso mehr fällt es auf, wenn man doch einmal ein Büchlein aus Dortmunder Produktion in den Händen hält. Durch Zufall ist mir jetzt ein schmales Kinderbuch in die Hände geraten, das irgendwann in den 1960er Jahren im Dortmunder Pinguin-Verlag erschienen ist. Die Lizenz kam aus Mailand und stammte aus dem Jahr 1963.

Pinguin-Verlag? Nie zuvor gehört. Soll man recherchieren und auf eine regionale Goldader hoffen? Wohl kaum. Schon der erste Eindruck beim Blättern und dann beim Befragen der Suchmaschinen lässt ahnen, dass hier geringfügiges Gut betreut worden ist. Offenbar haben sich die Pott-Pinguine vor allem auf dem lokal seit jeher lukrativen Gebiet des Fußballs betätigt und u. a. BVB-Mannschaftsbilder zu Markte getragen.

Erbärmlich kommt das besagte Bilderbuch daher, unbeholfen gezeichnet und gleich zu Beginn sprachlich fehlerhaft. Überdies scheint die spindeldürre Geschichte insgeheim einer windschiefen politischen Codierung zu folgen. Böse Titelfigur ist ein adeliger Fuchs („Baron Fox von Kolon“), der sich durch Spottgesänge des Hasen und seiner Clique dermaßen ehrverletzt fühlt, dass er den Hasen kidnappt. Dafür muss der Fuchs allerdings so gründlich büßen und der Hase darf so dämlich grinsgesichtig triumphieren, dass die Sympathien am Ende eher beim gebeutelten Hochadel liegen. Oder sollten die Kinder das Gegenteil lernen? Man weiß es nicht.

Man will es auch gar nicht wissen. Auch interessiert einen das weitere Schicksal des Pinguin-Verlages nicht. Es wird wohl quälend gewesen sein.

Und also lautet der Beschluss,
dass man nun nichts mehr schreiben muss.




Currywurst hier und da

Bochumer Currywurst in Holland (Foto: Bernd Berke)

Bochumer Currywurst in Holland (Foto: Bernd Berke)

Unterwegs hält man hier und da nach Exporten des Ruhrgebiets Ausschau – und stößt dabei immer mal wieder auf die Currywurst. Nein, dies wird weder eine Grönemeyer-Hommage noch ein Wursttest.

Auch ist’s keine Weltsensation, original Bochumer Currywurst in Holland vorzufinden, aber immerhin… man fühlt sich ein klein wenig angeheimelt.

An der holländischen Nordseeküste machen bekanntlich sehr viele Revierbewohner Urlaub oder sie kommen mal eben am Wochenende. Da lohnt es sich wahrscheinlich, ihnen neben Frikandel & Fritjes auch ihre Currywurst anzubieten.

Andererseits mag es einen piefigen Beigeschmack haben, in Egmond aan Zee Currywurst aus Bochum zu ordern. Nochandererseits ist das aber piepegal. Oder auch wurst. Mit Meerblick und Salzgeruch isst man die Dinger ja sonst selten.

Um doch noch ein Wort in Geschmacksfragen zu verlieren: Die Soße in Egmond (der Ort, den Goethe immer falsch geschrieben hat, hohoho) war höllisch scharf und somit geeignet, den Getränkeumsatz zu heben.

Gezondheid!

Postkartenwerbung für die BO-Currywurst

Postkartenwerbung für die BO-Currywurst




Mensch, werde nebensächlich!

Gerade an den Rändern des Alltags, im Unscheinbaren, kann sich unvermittelt das Wesentliche zeigen. Diese Erfahrung lässt sich, Zeile für Zeile, vielleicht bei keinem anderen Autor so verdichtet erleben wie bei Wilhelm Genazino. Hinter jeder Wegbiegung kann bei ihm schier alles geschehen. Doch weit ausgreifende Weltentwürfe sind hier nicht zu haben. Warum denn auch?

Genazinos neuer Roman „Wenn wir Tiere wären“ erkundet abermals rätselvolle Vorfälle im undeutlichen Weichbild der Stadt und in den Untiefen der Beziehungen mit gewohnter Diskretion, ja sogar Scheu, hinter der sich freilich scharfe Präzision verbirgt. Mit sanftmütiger, fast schon phlegmatisch erschlaffender Ruhe wird hier auch das Ungeheuerliche gesagt.

Wieder einmal hatte ich mir vorgenommen, mit möglichst wenigen Notizen und Anstreichungen auszukommen, doch bei Genazino drängt es einen immer wieder, dies und das und auch noch jenes für sich festzuhalten – und schon ist man erneut im Bleistiftgebiet angelangt.

Ich-Erzähler ist diesmal ein freischaffender Architekt, dem kein Name zugeschrieben wird. Die „Handlung“ setzt ein, als dessen Kollege Michael Autz mit 42 Jahren am Infarkt gestorben ist. Der Mann hatte ihm den einen oder anderen Auftrag vermittelt. Die aus dem etwaigen Ausbleiben solcher Vergünstigungen resultierende Unsicherheit bildet einen Grundakkord des Buches. Alles begibt sich auf schwankendem Boden. Der Erzähler stellt ernüchtert fest: „Noch dazu war ich in ein Alter vorgestoßen, in dem das Leben keine nennenswert neuen Fakten mehr hervorbrachte.“

Trug einst ein Genazino-Buch den Titel „Die Liebesblödigkeit“, so ist diesmal von „Liebesgenügsamkeit“ die Rede, die keine Pläne mehr, sondern nur noch kraftlose Befürchtungen hegt: „Eine meiner heftigsten Ängste bestand darin, dass die Liebe mehr und mehr in die Versorgung abwanderte.“

Am liebsten keine Arbeit u n d keinen Urlaub mehr. Am liebsten fast gar nichts mehr erleben – oder nur noch karg dosiert: „Gab es auch eine Zeitung für Erlebnisüberdrüssige? Die hätte ich mir sofort gekauft. Ich musste mich hüten vor zu viel überflüssigen Erlebnissen. Die Hälfte dessen, was ich erlebte, wäre für mich ausreichend gewesen (…) Mein Hauptanliegen war die allgemeine Lebensersparnis.“

Dreifach offenbart sich das Ungenügen in weiblicher Gestalt: Da ist die Ex-Ehefrau Thea, die den Architekten aufs Peinlichste anpumpt, um ihren Zahnersatz bezahlen zu können. Da ist die gegenwärtige Gefährtin Maria, eine heimliche Alkoholikerin, die auf spießigen Luxus aus ist und nach kläglichen Gelegenheiten schielt wie jener, preiswert Austern im Hertie-Tiefgeschoss zu schlürfen. Und da ist Autz‘ anlehnungsbedürftige Witwe Karin, die sich geneigt zeigt, dem Überlebenden anzugehören…

In größter Unentschiedenheit tapert, trudelt und taumelt der Erzähler durch die (Vor)-Stadt. Sein Blick gleitet über scheinbar nebensächliche Dinge. Ringsum zeigen sich Signale des Vergehens, des Verschleißes, der Verwahrlosung, der Verirrung, der Verlassenheit, des Verzagens. „Der Wunsch nach Flucht war vermutlich der beständigste Impuls meines Lebens. Es gab so gut wie nichts, wovor ich nicht hätte fliehen wollen…“

Inmitten der tagtäglichen Zumutungen, des Erduldens allgegenwärtiger Hässlichkeit, scheinen immer wieder für Momente Bilder der Tierwelt auf. Krähenkrallen werden unversehens zum „Sinnbild für das ewige Sich-herumschleppen aller Lebewesen“, ein andermal registriert der Erzähler dankbar die unverhoffte Erscheinung zweier Schwäne, die die Autobahn überfliegen. Oder er sinniert: „Mir gefiel der lauernd-vorsichtige Lebensstil der Parkplatztiere. Ein Eichhörnchen hielt nach drei, vier Sprüngen inne und lauschte in die Umgebung. Zwei Elstern setzten sich auf die Spitze einer Bogenlampe und sahen auf den Parkplatz herunter.“

Es sind dies vielleicht Momente einer möglichen Deutlichkeit, einer Verheißung von Schönheit gar, mit der man der allgemeinen „Lebensunklarheit“ und Überforderung begegnen könnte.

Als ritte ihn der Teufel, ahmt der Erzähler einen Coup des verstorbenen Kollegen Autz nach, um den Kreislauf zu durchbrechen: Mit den Daten eines gefundenen Ausweises Waren bestellen und postlagernd abholen. Doch im Gegensatz zu Autz wird er gestellt und kommt für kurze Zeit ins Gefängnis.

Die Schilderung dieses Freiheitsentzuges ist einerseits niederschmetternd: „Plötzlich hatte ich Kontakt mit meinem Tod. Er roch nach Gefängnis und ältlichem Sperma.“ Andererseits bedeutet das Gefangensein Entlastung: „E i n Vorteil des Alleinlebens im Gefängnis war: man wurde nicht gefragt, wo man tagsüber gewesen war.“

Wegen Geringfügigkeit wird das Verfahren eingestellt. Wegen Geringfügigkeit!

Doch halt! Enthält nicht gerade das Geringfügige Spuren von Hoffnung? Ein letztes Zitat: „…dass Menschen (wie ich) deswegen zufrieden (glücklich) sind, weil sie lächerliche Details im Kopf ausbauen und dadurch die Nebensachen zu inneren Hauptsachen machen konnten. Es war eine Haupttätigkeit des Glücks, die ihm gemäßen Nebensachen zu finden.“ Zum Beispiel: Schamhaarausfall. Man lese nach und finde nichts mehr lächerlich, sondern nahezu alles rührend komisch.

Nach Lektüre dieses sonder- und wunderbaren Buches möchte man fast glauben, dass dies ein Ausweg wäre.

Wilhelm Genazino: „Wenn wir Tiere wären“. Roman. Hanser Verlag. 159 Seiten. 17,90 Euro.




Die vertraute Markenwelt

Es mag ja betrüblich zu sagen sein, doch ist es wahr: Unter allen Dingen und Verhältnissen, die uns Weltvertrauen einflößen, sind nicht zuletzt die seit Kindheit vertrauten Marken. Ziemlich klar, woran es liegt: Unser Weltausschnitt ist vorwiegend eine Markenwelt.

Einige Beispiele, ohne jeden Schleichwerbe-Effekt, abseits jeder Qualitätsvermutung, streng alphabetisch: Bosch, Hansaplast, Haribo, Langnese, Märklin, Miele, Nivea, Opel, Osram, Persil, Philips, Pril, Rama, Ritter Sport, Tempo, Tesafilm, Volkswagen. Und viele andere, je nach Generation wechselnd. Für manche beginnt die Erinnerung mit Nogger oder Nutella. Kaufartikel halten längst für die Benennung ganzer Altersgruppen her, siehe „Generation Golf“ etc. etc. Ich kaufe das, also bin ich. Ich stilisiere mein Leben mit Waren, also gelte ich.

Schon wenn man erfährt, dass sich hinter den gewohnten Namen neue (meist globale) Besitz- und Produktionsverhältnisse verbergen, fühlt man sich ein wenig verunsichert. Erst recht wird einem mulmig zumute, wenn solche Namen gänzlich getilgt werden. AEG, Borgward, Eduscho, Grundig, Nordmende, Simca, Telefunken, neuerdings Saab. Selbst um die dürftigen Ost-Labels von Trabant bis Rotkäppchen wird seit Jahren nostalgischer Kult getrieben. Oder mal aus Dortmunder Nahsicht betrachtet: Hoesch als „Name für Stahl“ (früherer Slogan) und etliche Biermarken gehören einer immer mehr entgleitenden Vergangenheit an.

Hin und wieder tauchen alte Namen wieder auf, doch meist handelt es sich um billigen Etikettenschwindel. Mit Markenrechten soll altbewährtes Vertrauenskapital umgemünzt werden. Pah! Auch ihr dreht die Zeit nicht um.

Und wie schnell der Schwund, dieser Wandelfraß sich ausbreitet! Man schaue sich nur Filme aus den 1970er oder 1980er Jahren an. Wie anders wirken da Kleidung und Straßen. Ja, die gesamte Farbpalette sieht fremdartig aus; ganz zu schweigen vom Takt der Wahrnehmung, der sich im Filmschnitt zeigt.

Zurück zu den Marken. Bereits im nahen Ausland verschieben sich Koordinaten des Konsums. Trotz regen internationalen Handels ist diese und jene Marke schon in geringer Entfernung nicht mehr vertreten, dafür tauchen andere auf, die einem zunächst oder auf Dauer nicht geheuer sind. Es sei denn, man wäre ein Anbeter des Immer-wieder-Neuen, des Täglich-Anderen. Allmählich scheint es ja zu gelingen, diesen kapitalistisch dringlichst erwünschten Menschentypus zu züchten. Dass dieser Typus wiederum weltweit das Vorhandensein gewisser Leitmarken verlangt, gehört zum Kraftfeld, das keineswegs widerspruchsfrei ist.

Die Beharrenden aber ahnen: Fortwährender Markenschwund ist ein Zeichen der Vergänglichkeit und ragt bis ins Existenzielle, kündigt also Stück für Stück das Sterben an.




Wie man ganz schnell in die Zeitung kommt

Früher war’s gar nicht so leicht, als Normalsterblicher namentlich in die Zeitung zu kommen. Anonym hatte es erst recht keinen Zweck. Auch drangen etliche (unbequeme) Themen nicht vor bis in den Druck. Weitaus mehr als jetzt waren Zeitungen noch Sortier- und auch Kontrollinstanzen, sie verstanden sich gar als Leuchttürme. Journalisten glaubten einfach noch, den besseren Durch- und Überblick zu haben. Diese Selbstgewissheit hat sich längst verflüchtigt.

Ein Symbol muss sein: Früher verstanden sich Zeitungen noch als Leuchttürme... (Foto: Bernd Berke)

Ein Symbol muss sein: Früher verstanden sich Zeitungen noch als Leuchttürme... (Foto: Bernd Berke)

Seit einigen Jahren gibt es zudem jene „Bürgerreporter“, die manchen (vorwiegend lokalen oder „bunten“) Redaktionen einige Recherche-Arbeit abnehmen und kräftig Kosten sparen helfen. Das lockt (neben redlichen, doch unprofessionellen Zuträgern) auch viele Nachbarschafts-Aufpasser und Wichtigtuer an. Überdies zapfen Zeitungen heute gern die sozialen Netzwerke an. Auch da kann man gratis wildern und Infos abgreifen. Dass dort eingestellte Befindlichkeiten besonders authentisch seien, ist spätestens seit der Arabellion geradezu ein Mythos (der allerdings ebenso heftig bezweifelt wird).

Schwenk ins Provinzielle: Kürzlich gab es mal ein kleineres Erdbeben mit Epizentrum am Niederrhein und Ausläufern bis ins Ruhrgebiet. Bei Facebook konnte man ziemlich genau verfolgen, wo die Grenzlinien verliefen, und zwar nahezu in Echtzeit. Beispiel: Die Essenerin vermeldete beunruhigt, sie habe soeben ein Wackeln verspürt, der Düsseldorfer bestätigte das, aus Dortmund kam hingegen die Mitteilung, hier sei aber so was von gar nichts zu bemerken. Na, und so weiter. Man konnte also die rudimentäre Vorform einer Nachricht verfolgen. Allerdings hätte es noch einiger Nachforschungen bedurft, um sie in einem seriösen Medium zu publizieren. Sollte man meinen.

Kleines Gegenbeispiel. Ich zitiere aus einem mit heißer Nadel gestrickten Online-Bericht der in Koblenz erscheinenden „Rhein-Zeitung“, offenbar eine Mischung aus Agenturmaterial und fix angepappten Zutaten. Dort hieß es am 8. September zum besagten Erdbeben: „In Rheinland-Pfalz spürten viele Menschen das Beben… Aus Neuwied meldete S. W.* über Twitter: ,Das ganze Haus hat gewackelt.'“

Das ist doch mal eine Nachrichtenquelle! Die „Rhein-Zeitung“ betreibt just in Neuwied eine Lokalredaktion, doch sie zitiert einen x-beliebigen Einwohner, der sich via Twitter ausgelassen hat.

Wenn derlei private Ausrufe offenbar umstandlos den Weg in ein etabliertes Medium finden, so könnten sich dies nicht nur Witzbolde zunutze machen. Da braucht sich nur ein Freundeskreis zu verabreden, zeitgleich eine erfundene Neuigkeit auszustreuen – und schon steht’s im Blatt…

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* Die Rhein-Zeitung (http://www.rhein-zeitung.de) hatte Vor- und Zunamen des Twitterers ungekürzt genannt.




„Tatort“ Dortmund: Ja, hömma!

Nachtrag am 12. Oktober 2011:

Jetzt ist es heraus: Dortmund wird „Tatort“-Metropole. Und schon überschlägt man sich in der Stadt. Die Presse hat sich schon mal feine Mordgeschichten mit Lokalkolorit ausgedacht. Derweil versucht OB Ullrich Sierau (SPD), sich den Erfolg an seine Fahnen zu heften. Die Westfälische Rundschau zitiert das Stadtoberhaupt heute mit dem Satz: „Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass mein Werben für Dortmund als Krimischauplatz so erfolgreich ist. Ich finde es super…“

Ist ja gut, Herr Sierau, Sie allein haben das bewirkt, keine Frage. Die Leutchen beim WDR mussten das fertige Konzept nur noch abnicken.

Schon im Vorfeld hatte Sierau eine Idee für den ersten Dortmunder Fall lanciert: Fiese Typen sollten demnach einen erfolgreichen Start-up-Unternehmer bedrängen. Dabei hätte man ganz nebenbei erfahren, welch gutes Pflaster Dortmund den Studenten und den jungen Unternehmen bietet, wären da nicht jene Finsterlinge (vielleicht aus Schalke?).

Mal ganz im Ernst: Hoffentlich widerstehen die Autoren allen Anfechtungen, die Dortmunder „Tatort“-Folgen mit strukturpolitischen oder sonstigen Botschaften zu befrachten. Schreibt bitte einfach gute Krimis und zeigt Dortmund als normale Stadt mit solchen und solchen Seiten!

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Und hier der Text von 7. September:

Es wird mal wieder spekuliert, ob Dortmund künftig ein ARD-„Tatort“ sein wird. Doch diesmal klingen die Mutmaßungen so, als wäre einige Wahrscheinlichkeit im Spiele.

Auch ein möglicher Hauptdarsteller wird genannt: der 41-jährige* Jörg Hartmann, der vereinzelt schon Gastauftritte in „Tatort“-Folgen absolviert hat, freilich nie als Polizist. Auch bei „Bella Block“ hat er ‚reingeschnuppert. Überdies verströmt er den Stallgeruch des westfälischen Ruhrgebiets, ist er doch in Hagen geboren und in Herdecke aufgewachsen. Ja, hömma!

Sei’s drum. Im Oktober soll das Publikum „amtlicherseits“ (sprich: vom WDR) mehr erfahren. Bis dahin hält dessen Pressestelle selbst gegenüber den Journalisten aus dem eigenen Hause dicht. Ein Effekt: Abermals ist eine Dortmunder Zeitung vorgeprescht und hat dem Sender, der ja schließlich die in NRW angesiedelten „Tatorte“ herstellt, die Geschichte vorgesetzt. Da muss es also eine undichte Stelle geben, die besagte Zeitung erneut weidlich nutzt. Wer will es den Kolleg(inn)en verdenken? Jedenfalls mussten alle anderen interessierten Medien „nachziehen“, besonders zähneknirschend tat man’s gewiss beim WDR.

Frei nach Lautréamont: Begegnung eines Küchenmessers und eines Stadtplans auf der Arbeitsplatte. (Foto: Bernd Berke)

Frei nach Lautréamont: Begegnung eines Küchenmessers und eines Stadtplans auf der Arbeitsplatte. (Foto: Bernd Berke)

Abgesehen davon fragt man sich, inwiefern es das Image (und indirekt gar das tatsächliche Lebensgefühl) einer Stadt beeinflusst, wenn sie „Tatort“-Schauplatz ist. Nun, es kommt sicherlich immer auf die einzelnen Drehplätze (z. B. Nordstadt, Hohensyburg, Westfalenstadion, Dortmunder „U“, Galopprennbahn oder ländlicher Vorort) und vor allem auf den Zuschnitt der Stories an. Münster beispielsweise wirkt in der ARD-Krimireihe geradezu leichtsinnig humorvoll, während einst in Schimanskis Duisburg vorwiegend die finsteren und desolaten Seiten der Stadt überwogen. Köln, Düsseldorf und Essen waren oder sind gleichfalls nordrhein-westfälische „Tatort“-Städte, so dass Dortmund nun wirklich einmal an der Reihe wäre, bevor sich etwa Randgemeinden wie Mönchengladbach, Aachen, Siegen oder Bielefeld andienen.

Und doch wendet man sich schon jetzt mit Grausen, wenn man sich ausmalt, wie die Stadtspitzen eine solche (vermeintliche) Erhebung in den medialen Adelsstand bejubeln. Wäre das schön, wenn sie es nobel hinnehmen und schweigend genießen würden! OB Ullrich Sierau hatte sich bereits im Frühjahr als Chef des Besetzungsbüros geriert, indem er den gebürtigen Dortmunder und BVB-Fan Dietmar Bär (Freddy Schenk im Kölner „Tatort“) nachdrücklich als DO-Kommissar ins Gespräch brachte. Das wird ja wohl nichts.

Erst recht sollte man sich keine touristisch verwertbare Stadtwerbung versprechen. Erfahrungsgemäß gibt es pro Folge nicht allzu viele Schwenks mit wirklichem Lokalkolorit, Innenraum-Szenen können ohnehin ganz woanders (aus Kostengründen beispielsweise in Köln) entstehen.

Dem vagen Vernehmen nach könnte es in den Dortmunder Krimis vorwiegend bodenständig witzig zugehen. Falls die ganze Chose stimmt, dürften auch schon Autoren und/oder Regisseure** am vorbereitenden Werk sein. Sollte etwa der ortsansässige Adolf Winkelmann…? Nicht doch, oder?

Also gut, warten wir’s einfach demütig ab. Stolzgeschwellt einherschreiten, ansonsten (siehe oben) still genießen oder auch sich königlich über Nestbeschmutzung aufregen, das alles kann man später immer noch.

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*Laut Wikipedia ist Hartmann am 8.6.1969 geboren, laut seiner Agentur (Mieke Gotha) am 8.6.1970…

**Frauen sind mitgemeint




Zum Tod des Fotokünstlers Bernhard Blume: Erinnerung an eine Dortmunder Ausstellung von 2006

Der 1937 in Dortmund geborene Fotokünstler Bernhard Blume ist mit 73 Jahren in Köln gestorben. Aus diesem Anlass eine Erinnerung an eine Dortmunder Ausstellung:

Dortmund. Ja, was machen d i e denn da?! Wir sehen ein Paar im ehedem romantischen deutschen Wald. Der Mann kniet in anbetender Haltung vor einem Baum, später wird er gar himmelwärts fahren. Derweil hängt die Frau hilflos im Geäst, zappelt eingeklemmt zwischen zwei Stämmen oder saust unsanft hernieder.

Die fotografisch auf großen Schwarzweiß-Tafeln festgehaltene Groteske füllt jetzt den Lichthof des Dortmunder Ostwall-Museums. „Metaphysik ist Männersache“ heißt die Arbeit von Anna und Bernhard Blume. Das ist, wie eigentlich alles bei den Blumes, ironisch gemeint. Bernhard Blume erklärt: „Männer schwelgen schnell in abstrakten Theorien, Frauen bleiben selbst beim Philosophieren bodenständig.“ Er selbst ist freilich in Dortmund geboren und aufgewachsen, also kraft westfälischer Herkunft eben doch ein Mann, der nicht so leicht abhebt…

15 Fotoserien und zahlreiche Zeichnungen des renommierten Künstler-Ehepaares sind jetzt in Dortmund zu sehen. Beim Rundgang kommt man aus dem Grinsen kaum heraus. Denn es ist durchweg hellwache und witzige Kunst.

Noch in den 70er Jahren, in der Wohnung von Bernhard Blumes Mutter zu Dortmund-Kley, ist die Fotoreihe „Ödipale Komplikationen“ entstanden. Da tollt er mit ihr geradezu krähend haltlos auf einem alten Sofa herum, auch schäkern und tanzen die beiden. Die Szenenfolge flimmert zwischen spießiger Gemütlichkeit und orgiastischem Spaß. Zum Piepen jedenfalls! Und man darf Bernhard Blume glauben, wenn er feixend anmerkt: „Ich hatte übrigens nie einen Ödipus-Komplex, da war nichts mit Mami.“

Mit seiner Frau Anna hat er eine nicht minder verrückte „Mahlzeit!“ (Titel) eingenommen. Liturgische Anspielungen vermengen sich in dieser Bilderserie mit niederer Alltäglichkeit. Kartoffel-Quadrate im Mund verformen die Gesichter. Das Ganze endet im blitzartigen Erbrechen, von der Fotolinse gnädig unscharf erfasst. Bei der „Vasenekstase“ fliegt Bernhard Blume mit dem Gefäß schräg und fast surreal durchs Zimmer. Die Wirklichkeit ist tückisch, es fließen so manche Energieströme zwischen Mensch und Dingwelt. Dabei scheint es auch Anflüge ungeahnter Befreiung zu geben; ganz so, als könnte die lästige Schwerkraft auch mal nachlassen.

„de-konstruktiv“ heißt die ganze Schau. Tatsächlich werden hier, im frech-fröhlichen Sinne der Aktionskunst aus den 60er Jahren, starre Gegebenheiten, Gewohnheiten und (kleinbürgerliche) Rituale aufgebrochen, zum Tanzen gebracht – stets freundlich lächelnd, was allerdings auch enthüllend wirken kann: In einem Konvolut von Bleistift-Zeichnungen hat Anna Blume die konstruktivistisch« Moderne (Malewitsch, Mondrian etc.) verulkt. Deren Geometrien wirken, als Muster auf T-Shirts verewigt, nur noch wie billige Dekoration. Wie furchtbar ernst und wichtig sich die Urheber damals genommen haben, dokumentieren daneben ihre gesammelten Lehrsprüche.

Seit einiger Zeit arbeiten die Blumes mit digitaler Fotoausrüstung. Früher haben sie ihre herrlichen Farcen vor dem Ablichten penibel planen müssen, heute hilft die Nachbearbeitung am Computer. Bernhard Blume: „Von solchen Möglichkeiten haben wir immer schon geträumt.“

„de-konstruktiv. Bilder aus dem wirklichen Leben“. Dortmund, Museum am Ostwall. 19. Nov. bis 11. Feb. 2006. Geöff. Di/Mi/Fr 10-17, Do 10-20, Sa 12-17 Uhr. Eintritt 3 Euro, Katalog 24,80 Euro

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Infos
• Bernhard Blume wurde 1937 in Dortmund geboren, seine Frau Anna im selben Jahr im westfälischen Bork.
• Die beiden lernten sich in den 50er Jahren bei einem VHS-Zeichenkursus im Dortmunder Fritz-Henßler-Haus kennen.
• Bernhard Blume arbeitete damals einige Jahre lang in Dortmund als Maler für Kinoplakate: „Das war Akkordarbeit“, sagt er.
• Die Blumes leben seit Jahrzehnten in Köln. Doch Bernhard Blume sehnt sich mitunter nach seiner Heimatstadt: „Ich hänge an Dortmund.“

Ausriss der WR-Kulturseite vom 18.11.2006 (Foto zum Zeitungsartikel: Ralf Rottmann)

Ausriss der WR-Kulturseite vom 18.11.2006 (Foto zum Zeitungsartikel: Ralf Rottmann)

(der Artikel – siehe auch Repro-Ausschnitt – stand am 18. November 2006 in der „Westfälischen Rundschau“, das Foto zum Zeitungsbericht stammt vom WR-Kollegen Ralf Rottmann)




Feridun Zaimoglus Roman „Ruß“: Tristesse im Ruhrgebiet

Auf den ersten Seiten betätigt sich die Hauptfigur namens Renz als Ikonenmaler. Man wähnt sich schon in einer Fälschungsgeschichte. Doch darum geht es nicht.

Die halb schäbig, halb kostbar anmutende Ikonen-Mischung aus Ruß und Goldblatt ist eigentlich schon das edelste, was uns in diesem Roman unterkommt. Der spielt überwiegend in einem gar düsteren, desolaten Ruhrgebiet, noch dazu in winterkalter Trübsal. Man lese nur ab Seite 95 die deprimierende Typenparade aus der Duisburger Fußgängerzone. Vergesst alles Gold, hier bleibt nur Ruß.

Renz ist Arzt gewesen, doch er ist längst ein gebrochener Mann und hilft nur noch seinem Schwiegervater im Kiosk aus. Da treffen sich die Abgehalfterten, die Säufer. Der Handlungsort Duisburg muss abermals für gesteigerte Tristesse herhalten, doch wir wollen gerecht sein: Wenn sich das Geschehen zwischendurch nach Polen und gegen Ende nach Salzburg und Umgebung („Plumpe Bürger…Himmel wie Dreck“) verlagert, nehmen Finsternis und Alkoholismus keineswegs ab. Die ganze Welt ist unerleuchtet. An allen Orten lauert der Abgrund. Und die Menschen gehen einher wie Hinterbliebene des Lebens.

Feridun Zaimoglu schildert in seinem Roman „Ruß“ ein weitgehend abgewracktes Revier mit künstlich aufgepfropften und daher verhassten Schickimicki-Inseln. Zitat gegen jede kulturhauptstädtische Zukunftshoffnung: „Hörense auf, rief der Alte, wenn ich sterb, werd ich wissen, dass Duisburg vor mir verreckt ist. Hörense auf mit dem Tourismus.“

Wie von Geisterstimmen erklingt es in vielfach eingestreuten Fettsatz-Passagen, die aus alter, abgelebter Zeit vor dem „Strukturwandel“ künden. Da ist es, als könne jeden Moment Kommissar Schimanski um die Ecke biegen und ein Lamento übers verfallende Ruhrgebiet anstimmen.

Kriminell geht es auch hier zu, das dürre Handlungsgerüst ist schnell erzählt: Dem Renz haben sie seine Ehefrau Stella ermordet, jetzt kommt der vermeintliche Täter aus dem Knast frei – und ein paar höchst undurchsichtige Gestalten wollen dem Witwer zur tödlichen Rache verhelfen. Oder soll und wird er dabei selbst mit draufgehen? Es ist eine durchweg unheilschwangere Geschichte auf stets schwankendem Boden. Nichts scheint verlässlich. Der unerbittlich rauhe Karl und der übergeschnappte Josef, die Renz alsbald wie Schatten begleiten, könnten ein Zweigespann aus dem Geiste Kafkas sein.

Überwiegend lakonisch, doch insgesamt sehr breit und ausgiebig, mit geradezu manischer Lust am sprachlichen Detail malt Zaimoglu die Atmosphäre der Schauplätze und des zwischenmenschlichen Frostes aus. Der schnoddrige Tonfall klingt „hardboiled“ und transportiert nicht etwa die reale Ruhrgebiets-Mundart, sondern destilliert daraus eine hie und da bis zu Manier vorangetriebene Kunstsprache.

Zaimoglu ist spürbar vom Stilwillen beseelt, große deutsche Literatur zu schreiben. Natürlich ist es ein Gewinn, dass sich der 1964 in der Türkei geborene Schriftsteller seit rund 35 Jahren mit solcher Inbrunst ins Deutsche hineinbegeben hat. Anders als so mancher „Eingeborene“ ruht er nicht eher, als bis er das treffende Wort auch für vermeintliche Nichtigkeiten gefunden hat.

Die Lektüre des neuen Romans bringt allerdings auch Mühsal mit sich. Alle Figuren scheinen aus ähnlichen Hölzern geschnitzt zu sein. Alle sind sie zutiefst desillusioniert, alle reden sie in verwandten Zungen. Hart, abweisend, aggressionsbereit. Auch die Barfrau Marja, in die sich Renz auf seine Weise zu verlieben scheint, passt in diese eintönig schmutzige Männerwelt.

Nicht nur unterschwellig wird hier der Mythos des früheren Ruhrgebiets notdürftig aufrecht erhalten, in dem es noch geradeaus und aufrichtig zuging. Zitat:

„Ein Schwein erkennt man hier ganz schnell…Und dann zeigt man dem Schwein, wo es langgeht. Die Arbeiterkeule.“

Am Schluss, ausgerechnet im österreichischen Ort mit dem schreienden Namen Heiligenblut, nimmt die Geschichte noch eine ungeahnte Wendung. Doch in diesem Leben, in diesem Jammertal wird es keine Erlösung mehr geben…

Feridun Zaimoglu: „Ruß“. Roman. Kiepenheuer & Witsch. 272 Seiten, 18,99 Euro.

Video: Der Autor liest aus seinem Buch.




Der Koloss von Dortmund

Dortmunds Innenstadt steht unmittelbar vor dem radikalsten Umbruch der letzten Jahrzehnte. Am 15. September wird ein Einkaufscenter mitten in der City eröffnet, das rund 160 Geschäfte umfasst und sich (wesentlich auf dem Gelände der früheren Thier-Brauerei) vom Wallring bis zum Westenhellweg erstreckt.

Schon jetzt steht fest, dass sich mit der „Thier-Galerie“ Charakter und Schwerpunkte des Stadtzentrums gründlich ändern werden. Der Investor und Betreiber ECE hat etwa 300 Millionen Euro in den weitläufigen Bau gesteckt und kalkuliert mit einem Einzugsgebiet, in dem etwa 3 Millionen Menschen leben. Das sind schon höhere Hausnummern.

Der riesige Komplex prunkt auf seiner Schauseite mit einer nahezu klassizistisch anmutenden, machtvollen Säulenformation und zitiert damit eine uralte Würdeformel der Architektur. Im Kontext der Dortmunder City wirkt dies besonders imposant, doch auch einigermaßen grotesk. Geborgte Grandezza…

Schauseite der "Thier-Galerie", 14 Tage vor Eröffnung (Foto: Bernd Berke)

Schauseite der "Thier-Galerie", 14 Tage vor Eröffnung (Foto: Bernd Berke)

Gewiss: Manche Filialisten lassen sich hiermit erstmals in dieser Stadt nieder und bringen neue Jobs. Doch etliche Händler ziehen aus anderen Dortmunder Lagen in den neuen Kauftempel. Deren bisherige Domizile werden in aller Regel frei, es gibt mithin erst einmal zahlreiche Leerstände. Reihen sich solche Punkte über die Maßen aneinander, so entstehen rasch Zonen der Unwirtlichkeit und Verwahrlosung. Man kann dies schon an bestimmten Stellen der Stadt beobachten. Doch das alles könnte nun weit übertroffen werden.

Auch die lokale Presse barmte zwischenzeitlich, dass so genannte 1-B-Lagen wie Ostenhellweg und Brückstraße gefährdet seien. Doch man kann wohl sicher sein, dass sich derlei skeptische Anwandlungen schnell beruhigen werden. Denn wer will es sich schon auf einen Schlag mit 160 potenziellen Anzeigenkunden verderben?

Aufblick zur "Thier-Galerie" (Foto: Bernd Berke)

Aufblick zur "Thier-Galerie" (Foto: Bernd Berke)

Der Autoverkehr, den der neue Koloss anziehen wird, dürfte gelegentlich einem Kollaps gleichkommen. Zwar gehört ein neues Parkhaus mit 730 Plätzen hinzu, doch wenn man diese Zahl durch jene der Geschäfte teilt, so kommt man bei 160 Läden auf gerade mal je viereinhalb. Der Autoschwall wird sich also auch in andere Parkhäuser und Tiefgaragen ergießen, die ohnehin oft schon gut gefüllt sind.

Gespannt darf man sein, wie sehr sich das Center vom sonstigen Stadtleben abschotten wird. Konsumpaläste dieser Größenordnung kommen schwerlich ohne Security-Kräfte aus; zumal, wenn die Geschäfte freitags und samstags bis 22 Uhr geöffnet bleiben. Man wird sehen, wie strikt die Sicherheitsleute gegen „unliebsame Personen“ vorgehen und wie sie diesen Begriff auslegen.




Helga am Küchentisch in bester Wohnlage…

43-jährige Bibliothekarin sucht Mann und veranstaltet deshalb ganz gezielt Literaturlesungen, auf denen der Richtige auftauchen möge. Bringt nichts. Schließlich gibt sie eine Annonce unter „Bekanntschaften“ auf und trifft einen Programmierer. Doch beim ersten Kino-Date taucht dummerweise auch eine Freundin aus der Frauengruppe im Lichtspielhaus auf.

Nun gut. Kann sein, dass so etwas vorkommt. Warum denn nicht?

Im vorliegenden Buch wird daraus eine strenge Versuchsanordnung, die Lage wird mit allem Für und Wider umständlich erörtert; feministisch grundiert, mit langjähriger (Selbst)erfahrenheit unterfüttert, schließlich kolumnenhaft zubereitet wie für eine halbwegs gediegene Zeitschrift. Nur: Ist das eigentlich Literatur?

Es sind meistenteils nur Vorüberlegungen, denen eine literarische Verarbeitung erst folgen müsste.

Im neuen Erzählband der vor allem als Filmemacherin bekannten Helke Sander (täuschend knackiger Buchtitel: „Der letzte Geschlechtsverkehr“) wird leider kaum erzählt, sondern fast immer nur erwogen, bedacht, durchgekaut und geschwätzig verplaudert. So gut wie nichts bleibt ausgespart in dieser ungelenken Erklär- und Erläuterungsprosa. Man betrachte nur einmal solche Anfangssätze: „Helga am Küchentisch in einer Wohnung bester Hamburger Lage hebt horchend den Kopf von einem Artikel in der ZEIT…“ Natürlich erfährt man auch, welchen Artikel diese Helga gelesen hat. Es bleiben keine Fragen offen. Der Leser sieht sich rundum informiert oder auch – bösartig gesagt – „zugetextet“. So erschlafft nahezu jeder Spannungsbogen.

Die Geschichten handeln von Frauen jenseits der Lebensmitte – bis hinauf ins hohe Alter. Gegen Ende wird ein 95. Geburtstag begangen (Figur einer renitenten Greisin), es wird eine Goldhochzeit gefeiert (Bilanz einer Ehe als stetiger Unglücks-Quell, der aber immerhin halbwegs verlässlich sprudelt) – und schließlich tratscht ein gewiefter Damenkreis über eine vor Jahren Verstorbene, die es zu Lebzeiten offenbar wüst und egozentrisch getrieben hat. Überhaupt liest sich vieles wie der Ausfluss einer intellektuell angehauchten Damenrunde im besseren Lokal.

Gewiss: Da wird manche Leserin ausrufen „Das kenne ich doch!“ Denn da wird ja etlicher Lebensstoff ausgebreitet, da werden einige Modellbiographien der Mittelschicht beäugt. So etwa aus jener Alt-Achtundsechziger-Senioren-WG, in der peinlich laute Geräusche auf wilden Sex hindeuten. Auch hören wir von einer auf- und abgeklärten Frau, die mit fast 60 seit zehn Jahren mönchisch allein lebt, während – wie gallig konstatiert wird – viele Männer ihres Alters sich eine Jüngere nehmen.

Welch ein wiederkehrender Jammer: Die alten Fesseln aus der Vor-68er-Zeit sind gesprengt, doch adäquate neue Formen noch nicht gefunden. Keine Generation hat den Frauen von heute vorgelebt, wie das Altern unter jetzigen Bedingungen noch gelingen könnte… Beiseite gefragt: Haben es frühere Generationen in dieser Hinsicht wirklich besser getroffen?

Egal. Aus solchem Befund ließe sich bestimmt etwas Erzählerisches formen, es hört sich im Ansatz ja wirklich interessant an. Doch das Gros der Geschichten wird zunichte durch den eklatanten Mangel an erzählerischen Mitteln. Hier muss mal ein etwas längeres Zitat her. Typischer Duktus eines Abschnitts über Frauen „mit Migrationshintergrund“:

„Vom Grundsatz her schien diese Trennung der Bereiche jedenfalls eine bedenkenswerte Möglichkeit, das Leben zu organisieren, wenn sie nur vollkommen freiwillig wäre. Aber wie sollten die in ihrer Mehrheit hier lebenden ungebildeten, analphabetischen und häufig in Rechtlosigkeit gehaltenen Frauen mit ihren Männern ein Bewusstsein über die Vorteile ihrer eigenen gewachsenen Kultur entwickeln.“

So staubtrocken reflektiert kann man vielleicht durch einen Aufsatz staksen, wenn man auf sprachliche Geschmeidigkeit keinen Wert legt. Doch mit Belletristik hat das wenig zu tun, sondern allenfalls mit sang- und klanglosem Zergliedern.

Helke Sander: „Der letzte Geschlechtsverkehr und andere Geschichten über das Altern“. Verlag Antje Kunstmann, München. 160 Seiten. 16,90 Euro.




Wenn Leere und Fülle eins werden: Bochum zeigt Kunst aus dem Geist des Buddhismus

Die Ruhrtriennale begibt sich (nach Streifzügen durch Judentum und Islam) diesmal auf spirituelle Erkundungen im entgrenzten Kraftfeld des Buddhismus. Selbst in Wagners „Tristan“, Shakespeares „Macbeth“ und Kafkas „Schloss“ will man solche Impulse freilegen.

Zu den szenischen Künsten gesellt sich das Bildnerische: Das Kunstmuseum Bochum zeigt jetzt – als Triennale-Begleitprogramm – die Ausstellung „Buddhas Spur“. Sie ist streckenweise meditativ, aber nicht esoterisch geraten. Sie bietet beileibe keinen umfassenden Überblick zum Thema, sondern schmeckt hie und da nach beherzter Gelegenheits-Auswahl, lässt aber einige Streiflichter kreisen.

Museumsleiter Hans Günter Golinski und Triennale-Intendant Willy Decker haben bei der (relativ kurzen) Vorbereitung kooperiert. Sie versprechen sich eine fruchtbare Wechselwirkung der verschiedenen Kunstformen, womöglich gar spannende Grenzüberschreitungen. Decker, der auch ganz persönlich und lebensweltlich auf buddhistischen Spuren wandelt, ist ohnehin überzeugt, dass strikte Abgrenzungen zwischen den Künsten sich auflösen.

Vor rund elf Jahren hat Golinski in Bochum eine Schau über die Wirkung der Zen-Philosophie auf avancierte Westkunst zusammengestellt. Nun sind Arbeiten von elf Künstlern aus verschiedenen Ländern Asiens zu sehen. Der Blick kommt also aus der anderen Richtung: Allen westlichen Einflüssen zum Trotz, sind immer noch buddhistische Haltungen und Denkfiguren in die asiatische Kunst eingesenkt. Ja, schon die Art, wie man Kunst betrachtet, ist in Asien völlig anders geprägt. Wollte man es ganz gröblich unterscheiden, so könnte man sagen: Während wir dem Werk eher objektivierend gegenübertreten wollen, versenkt man sich dort in Kontemplation und erstrebt Einswerdung. Doch auch das ist nur eine längst brüchig gewordene Teilwahrheit.

Die Bochumer Auswahl ist doppelgesichtig, denn man sieht nicht nur aktuelle Kunst, sondern auch Beispiele für den religionsgeschichtlichen „Unterbau“, sprich: vor allem historische Buddha-Skulpturen und Bildnisse, viele aus ortsnahen Privatsammlungen, sowie staunenswerte Exerzitien der Kalligraphie. Manches davon wirkt oder wabert in der gegenwärtigen asiatischen Kunst nach. Museumsleiter Golinski ist allerdings mulmig zumute, wenn er daran denkt, dass Buddha-Figuren inzwischen viele Friseurläden und Nagelstudios „zieren“. Von derlei Trivialisierung will man sich selbstverständlich sternenweit abheben.

Fußabdruck des Buddha, Nordwestpakistan, 1. Jhdt. n. u. Z. (Copyright: Museum DKM/Stiftung DKM)

Fußabdruck des Buddha, Nordwestpakistan, 1. Jhdt. n. u. Z. (Copyright: Museum DKM/Stiftung DKM)

Am Beginn steht ein etwa aus dem 2. Jhdt. nach unserer Zeitrechnung stammender Fußabdruck, der Buddha zugeschrieben wird. Hier klingt schon ein Grundmotiv an, das sich auch im Titel wiederfindet: Spuren als denkbar flüchtiges Phänomen auf dem Grat zwischen Abwesenheit und Anwesenheit, Werden und Vergänglichkeit. Daraus kann auch in der Kunst ein vermeintliches Paradoxon gerinnen: Sich der Welt zuwenden und sie doch überwinden.

Charwei Tsai: "Tofu Mantra" (schwarze Tusche auf frischem Tofu), Fotografie, 2005 (Copyright: the artist and Fondation Cartier)

Charwei Tsai: "Tofu Mantra" (schwarze Tusche auf frischem Tofu), Fotografie, 2005 (Copyright: the artist and Fondation Cartier)

Dementsprechend bewegen sich einige Künstler gleichsam an den Nahtstellen zwischen Leere und Fülle, Erscheinen und Verschwinden. Chen Shen (China) trägt unermüdlich Schicht um Schicht auf, bis seine Bilder sanft ins Nirgendwo zu entschweben scheinen. Charwei Tsai (Taiwan) projiziert kalligraphische Zeichen auf Pflanzen, Tiere oder Tofu („Tofu Mantra“) und erzeugt so flirrende Vexierbilder. Auf den Fotografien von Atta Kim (Korea), die auf berühmten, sonst touristisch übervölkerten Straßen entstehen, gehen nur noch Spuren der Betriebsamkeit in einem ungreifbaren Dunst auf. Es herrscht geisterhafte Stille an diesen fremdartig gewordenen Orten.

Die weiße Fläche wird generell nicht als bedrohliches Vakuum empfunden, sondern als offene Weite, in die alles einströmen kann. Willy Decker, der selbst asiatische Kunst sammelt und einige Exponate beigesteuert hat, ist gar überzeugt, dass in solcher uranfänglichen Leere der Quell aller Inspiration und Kreativität entspringt.

Der prominenteste Name der Bochumer Ausstellung ist Nam June Paik (Korea). Hier wird der meditative Grund seiner alles in Fuss versetzenden Fluxus-Kunst erahnbar. Eine wie traditionell hingetuschte Zeichnung ist entstanden, als Paik seine farbgetränkte Krawatte auf dem Bildträger hin und her gezogen hat. Sehr stille, konzentrierte Papierarbeiten sind von Paik zu sehen, aber auch ein Schrein mit nichtigem Fernsehfimmern, vor dem Buddha eine Angel auswirft. Überhaupt sind nicht alle Arbeiten ehern ernst zu nehmen: Kimsooja (Korea) lässt eine kreisrunde Jukebox als Mandala erscheinen. Kamin Lertchaiprasert (Thailand) hat aus Geldscheinen eine pappige Masse hergestellt und daraus wiederum im Lauf eines Jahres 365 figürliche Opfergaben gefertigt – eine der eindrücklichsten Schöpfungen dieser Ausstellung.

Nam June Paik: Ohne Titel (Tusche auf Papier, 1974) (Copyright: Nam June Paik Studios, Inc.)

Nam June Paik: Ohne Titel (Tusche auf Papier, 1974) (Copyright: Nam June Paik Studios, Inc.)

Long-Bin Chen (Taiwan) lässt zahllose Presseerzeugnisse aufflattern, als habe ein Sturm all das bedruckte Papier erfasst („Information Hurricane“) und wolle es hinwegfegen; offenkundig ein Einspruch gegen allgegenwärtigen Nachrichten-Overkill, ebenso seelen- wie körperlose Computerschriften und darin sich ergießendes Geschwätz des Tages. Wie tiegründig wirkt demgegenüber die kalligraphische Schriftkunst!

Gelegentlich stammt das Material asiatischer Kunst geradewegs aus religiösen Zusammenhängen: Montien Boonma (Thailand) hat buddhistische Almosenschalen zum nahezu magischen Dreieck gefügt, das erdenferne Ruhe ausstrahlt. Ein gigantisches Aschebild von Zhang Huan bezieht die stoffliche Grundlage aus buddhistischen Tempeln, in denen Weihrauch verbrannt wurde.

Doch es kann keine Rede davon sein, dass die Künstler den Buddhismus fraglos fortführten. In den besten Momenten zeigt sich die hier präsentierte asiatische Gegenwartskunst zwar zeitlos durchgeistigt, doch fast im selben Atemzuge ist sie mitten ins globale Jetzt gesprungen.

Zeitenthobene Zeitnähe scheint auch hierin zu walten: Derart früh hat sich asiatische Kunst vom Gegenstand gelöst, dass man schon im 13. Jahrhundert von Abstraktion sprechen kann. Kandinsky war ein wenig später dran…

„Buddhas Spur“. Zeitgenössische Kunst aus Asien. Kunstmuseum Bochum (Kortumstraße 147). Vom 28. August (14 Uhr Künstlergespräch, 15 Uhr Eröffnung, 17 Uhr Konzert) bis zum 13. November. Di-So 10-17 Uhr, Mi 10-20 Uhr. http://www.bochum.de/kunstmuseum

Blick auf Kamin Letchaipraserts Installation mit 365 Opfergaben (Foto: Bernd Berke)

Blick auf Kamin Letchaipraserts Installation mit 365 Opfergaben (Foto: Bernd Berke)




Abschied von Loriot

Es darf doch nicht wahr sein. Es soll doch bitte nicht stimmen!

Die Nachricht vom Tode Loriots macht sehr, sehr traurig. Doch sie macht die meisten nicht sprachlos. Denn nun lassen alle die Loriot-Sprüche oder sonstigen Werkpartikel vom Stapel, die ihnen ans Herz oder gleichsam ans Zwerchfell gewachsen sind. Auch das Netz vibriert heute vor lauter Hoppenstedt, Müller-Lüdenscheidt, Die Ente bleibt draußen, Heinzelmann und allem anderen. Wie wohltuend und entlastend, wenn man die Trauer ins kollektive Lachen kleiden kann – oder wenigstens in eine wehmütige Erinnerung an einstigen Frohsinn. Möge man ihn nur nicht irgendwann auf den „Hausschatz des goldenen Humors“ reduzieren. Er steht für ganz andere Dimensionen.

Das weithin presseübliche Verfahren, einen alten Artikel (etwa zum 80. oder 85. Geburtstag) „wiederzubeleben“, indem man ihn beinahe wortgleich wiederholt, um Geschehnisse der letzten Jahre sowie ein paar Trauerformeln ergänzt (und an den richtigen Stellen in die Vergangenheitsform setzt), das alles wollen wir uns hier ersparen.

Wir setzen nur noch schnell einen Link.

Dann sind wir endlich still und blättern abends leise in seinen wundervollen Büchern.




Das Salz, der Tabak und die Ärzte

Der Befund ist wahrlich nicht brandaktuell, es finden sich seit den alten Griechen über Molière bis zur Neuzeit immer wieder zahllose Hinweise darauf, somit haben wir eine kulturgeschichtliche Konstante: Ärzte stochern oft im Nebel.

Gestern standen gleich zwei einschlägige Beiträge in der FAZ-Sonntagszeitung. Im einen ging es darum, dass Salzverzehr womöglich gar nicht so gesundheitsschädlich (Blutdruck!) ist, wie bislang weithin angenommen und ziemlich penetrant propagiert. Ja, es gibt sogar eine wachsende Mediziner-Fraktion, die davor warnt, zu wenig Salz zu konsumieren. Längst nicht alle, die diese Meinung vertreten, dürften im Sold der Salz-Industrie stehen. Ähnliche Trendwenden oder auch vergleichbaren Wankelmut kennt die Medizingeschichte zuhauf. Es soll sogar Raucher geben, die darauf hoffen, dass der Tabak eines Tages rehabilitiert wird.

Arzt-Spielkoffer für Kinder (Bild: Bernd Berke)

Arzt-Spielkoffer für Kinder (Bild: Bernd Berke)

Im zweiten Artikel wird gleichfalls ein fast schon banal anmutender Dauerbrenner aufgegriffen, nämlich die viel zu hohe Anzahl der Operationen, die eben mehr Gewinn abwerfen und eine bessere Auslastung teurer Geräte garantieren als andere, vielleicht schonendere Methoden. Die Diagnose ließe sich dann schon zurechtzurren, da es ja eh keine letzte Gewissheit gibt.

Solche Texte fallen einem auch deshalb auf, weil man selbst schon ähnliches erlebt hat. Einen gerissenen Fußnagel hat ein Chirurg sogleich mit ambulanter OP unter Narkose entfernen wollen. Da sagt man doch wie Herman Melvilles unsterblicher Erzählungs-Antiheld „Bartleby“: „Ich möchte lieber nicht!“ Und tatsächlich. Ein Dermatologe hat dann eine Tinktur aufgestrichen, die das hornige Gebilde buchstäblich in Wohlgefallen auflöste. Salopp gesagt: Der Chirurg hat das Schnippeln gelernt, also will er auch schnippeln.

Anderer, schon schwerer wiegender Fall aus diesen Tagen: Im Labor erfasste Blutwerte veranlassen zwei Ärzte zu völlig gegenläufigen Diagnosen. Der eine weist mit besorgter Miene in die Klinik ein, der andere entlässt den Patienten sogleich wieder, denn besagte Werte könnten auf zweierlei hindeuten – und hier handele es sich just um die harmlose Variante. Von Bakterien spricht der eine, von Viren der andere. Offenkundig ein Grenzfall. Da fühlt man sich auf unsicherem Gelände. Nicht nur auf hoher See und vor Gericht ist man ist Gottes Hand…

Naiv also, wer bloße Zahlenwerte für objektiv hält. Sie sind durchaus interpretationsbedürftig, denn die Medizin ist in diesem Sinne nicht nur Natur-, sondern auch Geisteswissenschaft – zudem mit handwerklichem und meinetwegen auch „künstlerischem“ Einschlag. Man möchte lieber nicht wissen, wie oft dabei vage, vollends ungesicherte Einschätzungen im Spiele sind. Statt dessen möchte man nur zu gern auf Gespür und Erfahrung der Ärzte vertrauen.




„Anrührend, mitreißend, feinfühlig“ – die Prospekt-Prosa der Buchverlage

Klappentexte tendieren bekanntlich dazu, noch das vertrackteste Werk in rasch konsumierbare Formeln zu pressen. Da sind nicht selten Meister der gerade gängigen Floskeln am Werk. Ein lesenswerter „Zeit“-Artikel hat das Genre jüngst wieder aufgegriffen.

Ganz ähnlich, ja zuweilen wortgleich ergießt sich der Schwall aus der Prospekt-Prosa der Buchverlage. Ob nun Testimonials oder lobhudelnde Pressezitate ausposaunt werden, oder ob der Marktjubel direkt aus den PR-Abteilungen tönt – vieles scheint abrufbereit auf den Sicher-Hole-Tasten zu liegen. Manchmal hört sich das an wie auf dem Hamburger Fischmarkt, dann wieder raunt und säuselt es so filigran feingeistig, dass einem Rilke die Tränen kämen.

Die folgende kleine Kollektion aus Originalzitaten wird ganz bewusst ohne Ansehen der Einzelbücher präsentiert, es geht ja allgemein um den Sound solcher Werbung. Die Beispiele entnehme ich den aktuellen Herbstkatalogen einiger bekannter Verlage, wobei ich in kursorischer Durchsicht ausschließlich bei der Belletristik nachgeblättert habe. Mehr wäre über meine Kräfte gegangen.

Wie bitte? Doch, doch. In kleinen oder größeren Feuilletons finden sich immer mal wieder ähnliche Formulierungen. Es ist halt nicht leicht, dem jeweils waltenden Jargon zu entgehen. Und so wage niemand zu sagen, er wäre gänzlich frei davon. Als Essenz dieser laufenden Saison empfehlen sich übrigens Satzmuster, in denen wahlweise von bewegender, funkelnder oder schonungsloser Sogwirkung die Rede sein müsste. Oder so ähnlich.

Hier nun ein paar Beispiele, hilfsweise einsortiert:

Aufhebung der Gegensätze
„Man weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll, aber das macht nichts. Das Komische und das Tragische sind hier in höchster Form vereint.“ (Wagenbach)
„Ein Feuerwerk aus Mord und Schönheit“ (Galliani)
„Ein zeitdiagnostisches und ein Warnbuch also und doch auch ein Buch der Courage und der Glückserfahrung…“ (Suhrkamp)

Zielgruppenarbeit
„Ein herrlich lakonisches Buch für Rotweinliebhaber, in die Jahre gekommene Motorradfreaks, Geschiedene, Gelegenheitsphilosophen und Lebenskünstler…“ (Wagenbach)
„700 000 glückliche Leserinnen freuen sich“ (Knaur)

Dreifacher Ausruf
„Sogwirkung! Psychohölle! Grausige Faszination!“ (Droemer)
„Rasant, waghalsig, schonungslos“ (Hoffmann und Campe)
„Anrührend, mitreißend, feinfühlig“ (Kiepenheuer & Witsch)

Die Kunst des Vergleichs
„Der britische Philip Roth!“ (Daily Mail-Zitat bei DVA)

Schneller, höher, weiter
„Der härteste…, den es je gab“ (Grafit)
„Der ungewöhnlichste erotische Roman, den Sie je gelesen haben“ (Rowohlt)
„Der schönste Roman, den…je geschrieben hat“ (Hoffmann und Campe)
„Einer der lustigsten Romane aller Zeiten“ (Daniel Kehlmann-Zitat bei Suhrkamp)
„…läuft zur Höchstform auf“ (Kindler)

So sind sie, die Schriftsteller
„Wie kaum ein zweiter versteht er es, Spannung mit Tiefgang zu erzeugen, indem er Seelen in all ihren Schattierungen auslotet. Dabei erweist er sich zudem als schonungsloser Chronist unserer Zeit.“ (Grafit)
„…ist ein großer Kenner der Menschen und ihrer Einsamkeit“ (SZ-Zitat bei Suhrkamp)
„…ist ein Meister der Ambiguität und setzt mit seiner präzisen, schlichten Sprache Katastrophen wirkungsvoll in Szene“ (Wagenbach)
„…vibriert das Temperament einer wirklichen Erzählerin“ (Kunstmann)

Unverwüstliche Klassiker / Retro-Stil
„Eine bewegende Lebens- und Liebesgeschichte in Zeiten von Krieg und Revolution“ (Insel)
„Ein überraschendes Buch eines außergewöhnlichen Künstlers“ (Aufbau)
„Ein verstörender Roman, der wie ein konventioneller Thriller beginnt und sich langsam in einen surrealen Albtraum verwandelt.“ (Kunstmann)
„…tief anrührende Parabel über das Leben und die Liebe, das Schreiben und den Tod.“ (Kiepenheuer & Witsch)
„…klanglich genau komponierte und einen heimlichen Sog ausübende Gedichte“ (Luchterhand)
„Ihre Erzählungen sind von geradezu elementarer Wucht“ (Diogenes)

Ein weites Feld
„Natur- und Landschaftsbilder von äußerster Konzentration und eigentümlicher Stille“ (Suhrkamp)
„Ein groß entfalteter und bewegender Roman über die Möglichkeit des Bösen und die Unmöglichkeit einer Liebe“ (Insel)
„Ein Roman, der sich den Lesern in einem unausweichlichen Sog tief ins Gedächtnis gräbt“ (Rowohlt)

Tröstungen
„Dieses Buch dementiert die weitverbreitete Meinung, angesichts des Todes sei alles sinnlos.“ (Suhrkamp)
„…schlägt…einen großen Bogen von tiefer existentieller Qual zu Hoffnung und Versöhnung.“ (Luchterhand)

Alles drin, alles dran!
„Überdosis Leben. Der schonungslose Roman…über eine Generation zwischen Freiheit und Gleichgültigkeit“ (Rowohlt Berlin)
„Sex, Gewalt, Unschuld und die unbestimmte Sehnsucht nach Leben“ (Eichborn)
„…und liefert zugleich ein flirrend lebendiges, atmosphärisch beeindruckendes Zeitporträt“ (Kiepenheuer & Witsch)
„…als Zeitdokument, als anrührende Autobiographie und als sinnlicher Roman“ (Diogenes)

Der besondere Ratschlag
„Dieses Buch sollte man mehrmals inhalieren“ (Gary Shteyngart-Zitat bei Eichborn)

Das Gottesurteil
„Günter Grass ging beim gespannten Zuhören die Pfeife aus“ (FAZ-Zitat bei Rowohlt)

Was sonst noch unsortiert im Baukasten herumliegt
Kultstatus, unwiderstehlicher Sog, eines der schönsten Bücher des Jahres, die literarische Sensation des Herbstes, einer der besten spanischen Romane, der wahrscheinlich interessanteste Autor seiner Generation in der französischen Gegenwartsliteratur, Kultbuch aus Griechenland, der wichtigste Roman eines Amerikaners dieser Generation, ist in einem Atemzug mit dem großen Halldór Laxness zu nennen, das wohl persönlichste Buch des großen Erzählers, packender historischer Justiz-Thriller, beängstigend realistischer Politthriller, der Weltbestseller, es gibt keine Steigerung, herzerwärmender Roman, ein außergewöhnlicher Roman, sein letzter Roman, funkelnde literarische Kleinode, geschichtensatter großer Roman, aufrüttelndes Buch, ein literarisches Meisterwerk, einfach brillant, große deutsche Literatur, ein Frauenroman im allerbesten Sinne, kommt ein neuer Ton in die deutsche Literatur, taumelnde Allegorie, erzählt bei aller journalistischen Nüchternheit von berührenden Schicksalen, herzzerreißend komischer Roman, Lesevergnügen der amüsanten Art…

Bonus-Track: Debütanten
Berührender Debütroman, ein aufregendes Erzähldebüt, erfrischendes Romandebüt, ein begeisterndes Debüt, ein erstaunliches Debüt, umwerfendes Debüt, „Ein Debüt, das funkelt, flirrt und fiebert“




Alles ist ermattet, doch Elvis lebt!

Elvis als Automaskottchen (Bild: Bernd Berke)

Elvis als Automaskottchen (Bild: Bernd Berke)


Die Mehrheit der „Revierpassagen“-Autorinnen und Autoren ist derzeit auf Reisen, weite Bereiche des Kulturbetriebs haben jetzt eh geschlossen. Ohnehin hat der Müßiggang seine unwiderstehlichen Reize…

Aber das ist ja das Schöne am Bloggen. Während Zeitungen im Druck und mit ihren Ablegern im Netz sich abquälen müssen, trotz alledem täglich ihre Seite(n) zu füllen (ein bis auf weiteres unvergängliches Motto dabei: „Große Bilder sind schnell geschrieben“), können wir es zuweilen geruhsamer angehen lassen.

Aus gutem Grund haben wir niemandem tägliche Lieferungen versprochen, erst recht kassieren wir nicht für Abo oder Einzelverkauf, auch erheben wir keinerlei Gebühren, stecken ferner null Subventionen oder sonstige Zuschüsse ein.

Doch wenn auch die hiesige Kulturkritik ein wenig ermattet darnieder liegt und sich allenfalls zum sommerlichen Kriechgang aufrafft, so steht doch eines felsenfest: Elvis lebt! Auch unser bei typischem Sommerwetter entstandenes Fotos beweist es wieder.




Als der Widerstand wuchs: Gesichter der „Wende“

Des welthistorischen Tages wollen wir auch an dieser Stelle gedenken: Vor 50 Jahren, am 13. August 1961, hat das DDR-Regime mit dem schändlichen Mauerbau begonnen. Doch wir zäumen die Sache von hinten auf und betrachten ein Buch über die „Wende“ von 1989, die diese Mauer schließlich zu Fall gebracht hat.

Gesine Oltmanns (Foto: Dirk Vogel)

Gesine Oltmanns (Foto: Dirk Vogel)

Der Dortmunder Fotograf Dirk Vogel porträtiert in dem Bildband „Gesichter der Friedlichen Revolution“ insgesamt 63 Protagonist(inn)en jener bewegenden Phase deutscher Geschichte. Es sind durchweg aufrechte, anständige Charaktere, deren Lebensleistung hohen Respekt verdient. Unter teilweise großem persönlichem Risiko haben sie Courage in einer Diktatur bewiesen. Auch wenn einige es selbst nicht gerne hör(t)en, so darf man sie wohl Heldinnen und Helden der Zeitgeschichte nennen, Vorbilder weit über den Tag hinaus. Doch selbst Helden sind mitunter fehlbar.

Die kurzen Begleittexte zu den fotografischen Porträts stammen von 23 verschiedenen Autoren, sind also zwangsläufig von schwankender Qualität. Hie und da würde man sich wünschen, die Dargestellten mit deren eigenen Äußerungen wiederzufinden. So klingt manches etwas steril, weil praktisch nur von makellosen Menschen die Rede ist. Das liest sich schon mal wie Hagiographie oder landläufige Nachrufprosa. Ein Buch über Leute, die entschieden Widerspruch erhoben und Widerstand geleistet haben, dürfte ruhig etwas kontroverser sein. Hier aber hat es den Anschein, als würden (hochinteressante) Biographien im Idealzustand eingefroren und somit gleichsam stillgestellt.

Doch mit und zwischen den Zeilen lernt man auch hinzu. Von prägnanten Einzelheiten abgesehen, entsteht nämlich eine Art Typologie des Widerstands. Es werden die verschiedenen Triebkräfte sichtbar, die zur Friedlichen Revolution geführt haben. In erster Linie sind hier kirchliche Anstöße zu nennen. Auch sind die widerständigen Kräfte zuvörderst bürgerlich im traditionell besten Sinne.

Carlo Jordan (Foto: Dirk Vogel)

Carlo Jordan (Foto: Dirk Vogel)

Bei vielen stand am Beginn des Aufbegehrens die Verweigerung des Waffendienstes bei der NVA (Nationale Volksarmee der DDR), also ein im weiteren Sinne friedensbewegter Ansatz. Andere kamen über umweltpolitische Fragen (Tschernobyl, Bitterfeld, AKW-Bau bei Stendal), Frauengruppen oder kulturelle Impulse allmählich zur grundlegenden Kritik am SED-Staat. Fast alle sind von der Stasi drangsaliert worden und haben Haftstrafen verbüßt. Doch man erfährt auch, dass jede auf Einschüchterung angelegte Repression verschärften Widerstand erzeugen kann. Eines steht fest: „Ostalgie“ kann hier wirklich nicht aufkommen.

Im Gegensatz zu den Texten sind Dirk Vogels eindringliche Schwarzweiß-Fotografien (grundsolide aufgenommen mit Leica-M-Modellen der Jahre 1956 und 1963), obgleich den Personen jeweils individuell angemessen, nahezu „aus einem Guss“. Es wird durchweg ein beachtliches Niveau gehalten, Vogel erweist sich als Porträtist von einigen Graden. Schmerzliche und freudige Lebenserfahrungen (welch eine Euphorie hat 1989 geherrscht, die hernach vielfach enttäuscht wurde) meint man den Gesichtern anzusehen, zuweilen auch Charisma, Trotz oder Verzagtheit, mehr oder weniger milde Ironie über die wechselhaften Zeitläufte, doch praktisch keine Verbitterung. Und immer wieder leuchtet in den Gesichtern die spürbare Bereitschaft zur Mitmenschlichkeit auf. Lebensschätze, die in Wort und Bild aufgehoben werden müssen. Nicht zuletzt als Wegzehrung für kommende Zeiten.

Dirk Vogel hat Erfahrungen mit womöglich heiklen, jedenfalls vielschichtigen Themen gesammelt. So hat er sich fotografisch intensiv und leidenschaftlich mit jüdischem Leben in Deutschland, mit Sinti und Roma sowie mit dem Alltag behinderter Menschen befasst. Das alles verlangt Gespür für Nuancierungen und Empfindlichkeiten. Bemerkenswert überdies, dass ein Fotograf aus dem deutschen Westen dieses hauptsächlich östliche Feld bestellt. Vogel war 1989 Bundeswehr-Soldat in Niedersachsen. Als immer mehr DDR-Flüchtlinge kamen, sollte die Kaserne vielen von ihnen zunächst als erste Bleibe im Westen dienen. Die Begegnungen von damals waren prägend.

Walter Schilling (Foto: Dirk Vogel)

Walter Schilling (Foto: Dirk Vogel)

Ein wenig beneidet man den Fotografen, dass er für sein aufwendiges Projekt all diese Menschen der „Wendezeit“ persönlich kennen lernen durfte. Um nur einige aufzuzählen: Wolf Biermann, Marianne Birthler, Bärbel Bohley, Rainer Eppelmann, Lilo Fuchs, Katja Havemann, Roland Jahn, Freya Klier, Stephan Krawczyk, Vera Lengsfeld, Markus Meckel, Matthias Platzeck, Lutz Rathenow, Friedrich Schorlemmer, Konrad Weiss. Und all die anderen. Sie hatten jeweils die Wahl des Ortes und des Ambientes, doch die Kompositionen waren Aufgabe des Fotografen. Man ahnt dieses (niemals feindselige) Widerspiel in manchem Bild.

„Gesichter der Friedlichen Revolution. Fotografien von Dirk Vogel“. Mit einem Essay von Claudia Rusch. Herausgeber: Robert-Havemann-Gesellschaft e. V. (Archiv der DDR-Opposition). 144 Seiten, 19,80 Euro (ISBN: 978-3-938857-10-6)

Hier nochmals der Link zu sämtlichen Fotos des Bandes:
http://vogel-d.de/Frei/index.html
Ausgewählte Bilder sind verschiedentlich ausgestellt worden, u. a. in Berlin.
Am 3. Oktober 2011 (ab 19 Uhr) hält der Fotograf Dirk Vogel einen Vortrag beim Bochumer Kulturrat (Lothringer Straße 36 c) und stellt einige Bilder aus, siehe auch: http://www.kulturrat-bochum.de/index.php?id=141
Nach den Sommerferien 2012 (!) wird die Städtische Galerie Iserlohn alle 63 Porträts zeigen.

Alle Abbildungen sind dem besprochenen Band entnommen (Fotos: Dirk Vogel)




Wer jetzt schon kräht, ist früher dran

Nach den Regeln der Tagfresser-Branche wird’s nun aber langsam Zeit für die Rückblicke aufs Jahr 2011. Spätestens kurz nach den Sommerferien heben die ersten Abgesänge an. Kurz danach sieht man dann die ersten Weihnachtsdekos in den Geschäften. Aber schleunigst!

Hurtig, hurtig, atemlos: Fukushima, Ehec, Norwegen, Finanzkrise. Eine Apokalypse nach der anderen, journalistisch allseits abgegriffen, in Kürze dann in der Wiederaufbereitungs-Anlage. Königs- und Fürstenhochzeiten hinzugeben, mit Kachelmann und einem Strauss Kahn würzen, umrühren, fertig. Dann noch Spocht und Wetter.

Zackzack, holterdiepolter. Auch Gedenktage werden inzwischen lange vor dem eigentlichen Datum aufgerufen und bekakelt – beileibe nicht nur im Sommerloch. Der 11. September 2001 jährt sich in mehr als einem Monat zum zehnten Male und wird bereits jetzt um und um gewendet. Der Mauerbau vor 50 Jahren (13. August 1961) wird seit Wochen verwurstet und gefleddert. Eine besondere Form der „Aktualität“: Wer jetzt schon kräht, ist früher dran und hat’s vor der Konkurrenz getan. Die wird sich ärgern – und aufrüsten, sprich: beim nächsten Mal noch früher loslegen. Welch ein überstürztes Brimborium. Welch ein selbstbezügliches, besinnungsloses Kreiseln.

Schon sehr bald werden die Leitmedien die Linien für 2012 vorzeichnen, Parolen ausgeben, Trends ausrufen. Die Meute wird sogleich hinterher hecheln, auch im Feuilleton. Man muss schließlich das aufgreifen, wovon „alle Welt“ spricht. Oder etwa nicht?

Einen schönen Tag wünscht noch

Die durchs globale Dorf gehetzte Sau.

(Bild: Bernd Berke)

(Bild: Bernd Berke)




Soziale Miniaturen (11): Einkaufserlebnis

Der kleine Dortmunder Supermarkt hat seit einiger Zeit jeden Abend bis 22 Uhr geöffnet und so seinen Einzugsbereich erweitert. Ab 19 Uhr ändert sich rasch die Struktur der Kundschaft, besonders ausgeprägt freitags und samstags. Wer früher vielleicht „anne Bude“ ging oder zur Tanke fuhr, um späten Saufstoff zu holen, taucht nun schon mal hier auf. Es ist ja auch billiger. Obwohl das wiederum vielen egal ist.

Hinzu kommen traurige Gestalten von einiger Art, die hier tatsächlich so etwas wie ein „Einkaufserlebnis“ suchen – auf äußerster Schwundstufe. Am Tage trauen sie sich kaum noch heraus. Dies hier gehört zu ihren letzten Verbindungslinien zur „Normalität“, die dem Namen jedoch Hohn spricht. Aber wenn diese Fäden auch noch gekappt werden…

Manche von denen, die erbärmlich wenig Geld haben, gehen unsanft damit um, als hätten sie Unmengen davon: Da werden 50-Euro-Scheine so verächtlich aufs Warenlaufband geworfen, als sei es nichts. Wer derart wenig besitzt, der hasst die „Kohle“ und zeigt es.

Wie grell manche ihre unwiderrufliche Hoffnungslosigkeit und Hinfälligkeit sehen lassen. Wie sie auf nichts mehr halten, weder auf sich noch auf andere.

Zwischendurch dröhnende Streits wie aus den übelsten Reality-Soaps im Privatfernsehen. Einige reißen das Maul beim geringsten Anlass gleich weit auf. Man hat es ihnen vorgemacht.

Diese Verwahrlosung, nicht selten aggressiv gewendet, oft aber auch nur noch das schutzlos blanke Elend. Diese umfassende Achtlosigkeit. Diese rundum ausstrahlende Rücksichtslosigkeit.

Nach 21 Uhr ist hier kaum noch jemand nüchtern.

Nun ziehen hin und wieder junge Horden hindurch und bedienen sich freihändig in den Regalen. Dosen aufreißen, gleich austrinken, leer zurückstellen oder auf dem Boden zertreten – und raus aus dem Laden… Das Personal, vielfach Hilfskräfte auf Abruf, wagt es nicht, sich entgegenzustellen. Für die paar Kröten etwas riskieren? Den breitbeinig gebellten Satz „Hast du ein Problem damit?“ möchten sie lieber nicht hören. Geschweige denn erleben, was dann vielleicht folgt.

Kampfbereite Gratis-Mentalität also. Es gehen öfter mal Flaschen zu Bruch. Man kann sich beinahe vorstellen, wie das ist, wenn nach Katastrophen marodiert und geplündert wird.

Nachdem kürzlich bei laufendem Abendbetrieb Schaufensterscheiben zersplittert sind, hat der Supermarkt-Konzern reagiert und postiert jetzt einzelne Security-Kräfte am Eingang. „Damit Sie in Ruhe einkaufen können“, versichert einer von ihnen leutselig. Er kann auch anders.

Und wie geht es weiter?




Facebook: Das Leben der Anderen

Da lungert man schon seit geraumer Zeit bei Facebook herum und hat noch nichts darüber geschrieben. Das geht nicht an!

Zumal Facebook ansonsten das meistbekakelte Ding in der Medienlandschaft sein dürfte. Wir haben hier also das unoriginellste aller Themen. Das mutmaßliche Interesse ist in etwa so breit gestreut wie früher bei TV-„Straßenfegern“. Millionen können mitreden oder glauben dies jedenfalls. Wo gibt es das sonst noch – außer vielleicht beim Fußball.

Nein, hier wird keine schneidige oder geschmeidige Analyse geliefert, sondern nur die schlichte Beschreibung von ein paar Phänomenen und Phantomen.

In der Regel treffen hier alle auf Ihresgleichen: So ergeben sich lauter geschlossene Gesellschaften, die sich da in ungezählten Zirkeln oder Behaglichkeits-Blasen zusammenfinden. Wer treibt sich denn da so herum? Eigentlich die, denen man realiter auch begegnen kann, Nomaden und Eremiten inbegriffen. Dass auch jederlei Wahnsinn hier ein Forum sucht, ist in den letzten Tagen wieder äußerst schmerzlich zutage getreten. Doch davon will ich nicht reden, sondern übers unscheinbar Übliche.

Viele Facebook-Nutzer ruhen nicht, bevor sie tagtäglich mindestens 30 „Freunde“ hinzu gewonnen haben. Auch in schnöder Wirklichkeit recht einsame Menschen können sich hier womöglich mit Hunderten von Freundschaften brüsten – oder sich damit trösten. Wer weiß, was dieser Effekt schon therapeutisch bewirkt oder verhindert hat. Ob deshalb Freitode unterblieben sind?

Der virtuelle Frauensammler pflügt sich durch vermeintlich aussagekräftige Profilbilder sonder Zahl und hält reiche Ernte. So glaubt er jedenfalls. Ja sicher, weibliche Pendants gibt es ebenso. Klebt doch eure virtuellen Sammelalben voll. Aber jammert hinterher nicht!

Ein anders gelagerter Fall sind die Promis verschiedener Stufen, die hier ihre Anhänger um sich scharen und sich huldigen lassen – mitunter von vielen Tausenden. Vor allem die Semi-Berühmten von gestern haben es nötig. Wenn man sie schon auf der Straße nicht mehr erkennt…

Ein Sonderfall aus der Promi-Riege sieht sich vor seiner Anhängerschaft täglich genötigt, seinem Ruf als schnoddriger Zyniker gerecht zu werden. Immer häufiger schießt er oft übers Ziel hinaus und lässt jede Rücksicht fahren. Ein trister Kasper!

Andere loggen sich ein, weil sie mal davon gehört haben, dass dort bald „alle“ sein werden. Sie klicken lustlos ein paar Bekannte aus dem richtigen Leben an – und sind bereits fertig mit der Chose. Du wirst sie kaum je wieder erblicken. Für den Rest der Zeit sind sie Karteileichen. Apropos: Wer weiß, wie viele Tote bereits bei Facebook herumgeistern, deren Account kein Nachfahre abgemeldet hat. Flimmernder Friedhof.

Wieder andere bleiben ebenfalls stumm, doch gleichsam aktiv in ihrer scheinbaren Passivität. Jedenfalls stelle ich es mir so vor: Sie hocken da und studieren heimlich „Das Leben der Anderen“. Voyeure, Ecouteure, Liseure (gibt’s das Wort schon? Sonst erhebe ich Copyright-Anspruch), Möchtegern-Geheimdienstler. Das ganze Programm. Früher hätten sie mit Kopfhörern, Abhör- und Aufzeichnungsmaschinen gelauert und gelauscht – wie Ulrich Mühe im besagten Film.

Und noch eine Sorte schweigt beharrlich, legt aber nach und nach gezielt einen „Freunde-Speicher“ an. Man weiß ja nie, ob man derlei Beziehungen nicht mal braucht. Gewisse Leute glauben so am Gerüst ihrer Karriere zu basteln, für Freiberufler geht’s mitunter sogar ums berufliche Sein. Wer will sich spottend darüber erheben? Ein jeder strampelt sich ab, so gut er kann.

Manche betreiben das Ganze als Wechselspiel aus Zeigen und Verstecken, Verbergen und Hervortreten. Oder sie werden getrieben. Mal haben sie ihre exhibitionistischen Tage, mal sind sie ein Kräutlein Rührmichnichtan. Migräne hat hier eine Heimstatt.

Auf weiteren Bühnen hampeln die Klassenclowns. Auf hundert Menschen kommen schätzungsweise drei bis fünf dieser Spezies. Sie posten penetrant, unentwegt und unverdrossen, gieren nach Kommentaren oder zumindest nach flink geklickten „Gefällt mir“-Bekundungen. Immerzu haben sie ein munteres Scherzwort parat. Doch diese notorischen Gute-Laune-Bären haben ihre depressiven Anwandlungen. Das ist dann die Stunde der Streber.

Wusch, da kommt mal eben der mental angepunkte Typ daher, fetzt ein paar steile Bemerkungen hin und ist schon wieder weg. Bis dann und irgendwann!

Folgt der gelangweilte Nerd, der im Netz alles, aber auch alles schon erlebt hat. Was man so erleben nennt. Jedenfalls lässt er dich herablassend spüren, dass du keine höheren Web-Weihen hast.

Täglich ziehen in Scharen jene Parteigänger vorbei, die selbstverständlich allesamt für eine gute Sache einstehen und demgemäß ihre Transparente hochhalten. Aber will man das immer wieder lesen?

Der und jene stilisieren sich allzeit zu Künstlern, Schriftstellern und sonstigen (einstweilen verkannten) Genies. Kommt immer noch gut bei manchen Weibern. Man glaubt nicht, wie viele Kulturschaffende auf Erden und im Netze wandeln. Fehlen oft nur noch Betrachter, Hörer oder Leser, die dies zu würdigen wissen.

Das Lamento ist die hauptsächliche Ausdrucksform einer weiteren Gruppe. Sie lässt ihrem Weltschmerz Lauf. Diverse Getränke mildern oder steigern diese Zustände.

Fehlen noch die Seelchen. Ätherisch sich gebend, ach so verletzlich, in Höhenflug-Phasen freilich euphorisch, euphemistisch oder eurythmisch. Dann wollen sie Blümchen streuen und manchmal das Universum umarmen. Man darf jedoch niemals ironische Bemerkungen machen. Das tut ihnen weh.

Übrigens gibt’s auch eine Menge netter Leute bei Facebook. Wie im gewöhnlichen Leben. Wer wird sich nicht am liebsten in dieser Rubrik sehen? Also gut: Wir gehören alle hierhin. Keine Widerrede!




Soziale Miniaturen (10): Am Friedhofstor

Impression vom Dortmunder Ostfriedhof (Bild: Bernd Berke)

Impression vom Dortmunder Ostfriedhof (Bild: Bernd Berke)

Vier Rentnerinnen am schmiedeeisernen Tor zum Friedhof. Trautes Tratschen im Vorfeld der letzten Dinge.

Auf einmal kommt Bewegung in das Grüppchen. Schräg gegenüber, nah beim Hospiz, haben sie ein noch älteres Paar erblickt, vielleicht um die 85 Jahre. Es sind zwei, die innig zueinander gehören. Jetzt und für immerdar. Das sieht man sofort, wenn man es sehen will. Sie sind rührend umeinander bemüht. Die Erde wird ihnen daher so leicht, wie es noch irgend geht. Man mag an den Mythos von Philemon und Baucis denken. Aber diese beiden hier machen den Eindruck, als hätten sie sich erst kürzlich kennen gelernt. Etwas Neues, wie frisch Verliebtes ist in ihrem Tun, in ihrer ganzen Haltung, so gebeugt sie auch zwangsläufig sei.

Und die vier am Friedhofstor? „Ach, guckt mal da, unser Pärchen“, zischelt eine. Gelächter. Das steigert sich noch, denn eine andere ergänzt: „Unser Pärchen / wie Hans und Clärchen…“ Falscher Reim aufs Leben.




Es glitzert das Meer, es funkelt die Seele – Eduard von Keyserlings famoser Roman „Wellen“

Bereits das Baudelaire-Motto, das Eduard von Keyserling (1855-1918) seinem Roman „Wellen“ vorangestellt hat, lässt keinen Zweifel: Das Meer und die Menschenseele, so heißt es da sinngemäß, sind so tief, dass sie ihre Geheimnisse letztlich niemals preisgeben.

Immer wieder spiegeln sich in diesem Roman seelische Regungen in den wechselhaften Erscheinungen des Meeres. Sozusagen jede Farbstufe und jeder neue Lichteinfall werden da sprachlich zum Funkeln gebracht – soweit und so genau, wie es irgend geht. Dieses Werk um des Meeres und der Liebe Wellen darf als Zeugnis des literarischen Impressionismus gelten. In etlichen Passagen fühlt man sich an flirrende Gemälde jener Stilrichtung erinnert. Doch es ist beileibe kein unvermischtes Schwelgen. Schon auf Seite 8 heißt es vielsagend: „Das kränkliche Knabengesicht verzog sich, als täte all dieses Licht ihm weh.“ Tatsächlich wächst der Roman vor allem im höchst individuell geschilderten Leiden seiner Figuren weit über Stil-Attitüden hinaus.

Das bloße Gerüst der Geschichte sieht, flüchtig von heute aus betrachtet, zunächst nach Klischee aus. Aber da täuscht man sich gründlich, so nuanciert und fein schattiert wird hier erzählt, durchaus auf den literarischen Höhen etwa eines Theodor Fontane.

Da ist die ätherisch schöne Doralice, Gattin eines weitaus älteren Mannes von Adel. Als der seine „Erwerbung“ zur Ausschmückung der kostbaren Gemächer malen lässt, bricht sie mit dem Künstler namens Hans Grill aus dem Goldenen Käfig aus und zieht zu ihm. Für damalige Zeiten eine Ungeheuerlichkeit. Der Roman stammt aus dem Jahre 1911.

Die gesellschaftliche Empörung über den Fehltritt wird am Beispiel einer vermeintlich hochwohlanständigen Familie von Rang dargestellt, die sich in Gestalt der präsidierenden Generalin von Palikow als Festung der Moral begreift, deren männliche Vertreter freilich auch insgeheim von jener Doralice doppelmoralisch entzückt sind. Die halbwüchsigen Töchter überlassen sich derweil, wenn sie Doralice nur von fern am Strande wandeln sehen, ebenso unbegriffenen wie verbotenen Träumen von sündhafter Übertretung. Da lodert Gefahr.

Zudem gibt es einige grandios skizzierte Nebenfiguren, die das Geschehen aus der Mittelachse rücken. Im ironischen Sinne besorgt dies mit spitzen kleinen Bemerkungen Fräulein Malwine, die Gesellschafterin der Generalin. Den eher diabolischen Part spielt ein gewisser Herr Knospelius, der nahezu allgegenwärtig das anschwellende Unglück begleitet.

Als die Handlung einsetzt, ist Doralice schon vom einfachen Leben enerviert, das der Maler in flammenden Worten als das einzig wahrhaftige preist. In der Fischerhütte ist es für eine Dame ihrer Herkunft nun einmal nicht bequem, in dieser Kartoffelsuppen-Zweisamkeit hilft kein ideologischer Überbau. Der Sprung in die Freiheit hat ihre Kräfte aufgezehrt. Quälend ist es zu lesen, wie die beiden bereits wieder auseinander driften, Satz für Satz, Wort für Wort. Noch dazu wird sie alsbald von einem feschen Leutnant bestürmt…

Über der Handlung, die zur Sommerfrischenzeit an der Ostsee spielt, liegen eine lastende, somnambule Schwüle, vorgewittrige Stimmung, seelische Überspanntheit und Migräne. Die Zeit erscheint hochsommerlich träge, fast wie angehalten. In diesem Zwischenreich des Ennui könnte schier alles geschehen, die Grundfesten der Gesellschaft könnten erschüttert werden. Könnten. Doch das ist wohl nur glitzernde Sinnestrübung. Auch in solcher Hinsicht bleibt Keyserling, grad zwischen Hoffen und Bangen, Resignation und Heiterkeit, völlig illusionslos.

Eduard von Keyserling: „Wellen“. Roman. Nachwort von Florian Illies. Manesse Verlag, Zürich. 254 Seiten, 19,95 Euro.




Zum Tod des Malers Norbert Tadeusz

Der 1940 in Dortmund geborene Maler Norbert Tadeusz ist tot. Der Schüler von Gerhard Hoehme und Meisterschüler von Joseph Beuys ist am Montag in seinem Düsseldorfer Atelier gestorben. Tadeusz besuchte anfangs die Dortmunder Werkkunstschule, studierte von 1961-1965 an der Düsseldorfer Kunstakademie, wo er später (1981-1988) als Professor wirkte. Um eine ungefähre Vorstellung von seiner Kunst zu geben, hier ein Rückblick auf seine letzte größere Ausstellung im Ruhrgebiet, die 2009 im Museum Bochum zu sehen war:

Dem Werk von Norbert Tadeusz kann man sich von vielen Seiten her nähern. Wollte man den physischen Zugang betonen, so würde man sich wohl bevorzugt seinen Fleisch-Bildern widmen. Deren immer wieder obsessiv durchmessene Bandbreite reicht vom prall ausgekosteten Frauenakt bis zum tierischen Kadaver im Schlachthaus. Begehren und Blut. Vital und letal.

Doch es gibt nicht nur diese (bestürzend) sinnliche, sondern auch eine übersinnliche, traumverlorene Dimension dieses Schaffens, die sich geisterhaft in allgegenwärtigen Schatten zeigt. Diesen Aspekt fasst nun das Museum Bochum in den Blick.

Die gemeinsam mit der Düsseldorfer Galerie Gmyrek in relativ kurzer Frist zusammengestellte Auswahl erstreckt sich aufs erste und zweite Geschoss des Hauses. Besonders stolz ist Bochums Museumsdirektor Hans Günter Golinski darauf, dass er erstmals Tadeusz’ Collagen zeigen kann. Sie lassen ermessen, wie sehr auch bei den großformatigen Gemälden ein „collagierender Blick“ die Wirklichkeit abtastet, zerlegt und neu fügt.

Schatten verleihen den zuweilen drastischen, gar schockierenden Figuren (nackte Frauenleiber in Situationen der „Verfügbarkeit“ oder der embryonalen Schutzbedürftigkeit) etwas Doppelbödiges, Unwirkliches. Fleisch ist nicht nur Fleisch. Da fällt auch schon mal ein Schatten so unvermittelt, als wolle er den vergänglichen Körper skelettieren, ihm so seine Grenzen vorführen. Überhaupt werden Mühsal und Qual der Körperlichkeit sichtbar – eher, als dass seine (auch abgründigen) Freuden sich aufdrängten.

Schatten modellieren die Körper. Sie verleihen ihnen Plastizität, sie können aber auch verfremdend und verstörend wirken, schlimmstenfalls Angst auslösen. Norbert Tadeusz erklärt, dass ihn die „Schauseite“ seiner Aktmodelle (die diese ihm am liebsten präsentieren möchten) überhaupt nicht interessiere. Er wartet wohl auf den Moment, wo das Ganze umschlägt in etwas, das auch vergeistigt genannt werden kann. In solchem Sinne hat er auch eine Schwangere gemalt, die als Tänzerin zu einigen Verrenkungen im Dienste der Kunst bereit und damit „zuhanden“ war. Da mag nicht nur nützlich, sondern auch erregend gewesen sein. Doch es verweist auf etwas Jenseitiges. Mit Fenster- und Bilder-Rahmen sowie Leitern (u. a. in seinen Atelier-Ansichten) lässt der Künstler übrigens häufig die christliche Kreuzesform anklingen, ohne sie aufdringlich herbeizuzitieren oder gar zu exponieren.

Nun ließe sich gewiss eine generelle, weit ausschweifende Kunstgeschichte des Lichtflusses ebenso wie eine der Schatten-Malerei verfassen. Harte Schlagschatten etwa waren lange verpönt, dann wieder (z. B. nach Caravaggio) ein anderes Maß der Dinge. Bei Tadeusz sind Schatten tatsächlich eine Hauptsache. Sehr formbewusst baut er seine Bilder. Der Verlauf von schattigen Linien, Flächen und Feldern erzeugt allemal Irritation, lässt neue imaginäre Räume entstehen, in denen sich der irrende Blick des Betrachters erst einmal verfängt und nur halbwegs zurechtfindet.

Es ist, als werde da ein zweites Leben, eine geheime Parallelwelt bis an die Grenze der Sichtbarkeit gehoben. Gefährlich genug. Zuweilen verquicken sich die Schatten hier so körperlos, dass sie ein eigenes Schattenreich bilden. Ist dort die Dingwelt lebendiger als der Mensch?

Doch solche Zuschreibungen wären Tadeusz wahrscheinlich schon viel zu viel. „Ich male einfach“, sagt er. Darüber reden sollen andere. Oder auch schweigend schauen. Trotzdem kann der Beuys-Meisterschüler und spätere Akademielehrer Tadeusz – abseits der Deutung einzelner Bilder – auch ins beseelte oder betrübte Reden geraten. Von der bleibenden Hypothek des Weltkriegs, die (nicht nur) auf seiner Generation laste, aber leider aus dem allgemeinen Bewusstsein schwinde, ist dann sehr ernsthaft die Rede. Von politischen Enttäuschungen der letzten Jahre. Vom allfälligen Kleinbürgertum, das heute sämtliche anderen Schichten verdränge. Davon, dass die Ausübung der Kunst ihn leidlich ernährt, aber keinesfalls reich gemacht habe. Ein teures Atelier in Düsseldorf habe er einst aufgeben müssen…

Zurück zum vieldeutigen Schattenwurf. Bisweilen verbindet sich das Schattenhafte mit einem althergebrachten Motiv der bildenden Kunst: Maler und Modell. Verstörende Sicht von schräg oben: Da reckt sich der Schatten des Künstlers (der beispielsweise hoch auf einer Leiter steht) bedrohlich über die völlig entblößte, hilflos, ja geschunden wirkende Frau. Filmkenner werden hier vielleicht an Jacques Rivettes Meisterwerk „La belle noiseuse“ („Die schöne Querulantin“) denken, jenes ungemein intensive Wogen der Passion zwischen Maler (Michel Piccoli) und Modell (Emmanuelle Béart). Auch dabei war letztlich etwas Spirituelles und Sakrales im Spiel.

Schatten erwächst aus Licht. Tadeusz sucht immer wieder gern die besonderen Lichtverhältnisse Italiens auf. Noch dazu kann er dort sein profundes kunstgeschichtliches Wissen anhand der alten Meister mehren. Tadeusz erinnert sich: Bereits Plinius der Ältere (ca. 23-79 n. Chr.) habe sinngemäß geschrieben, die Malerei sei auch nicht mehr das, was sie einmal war. So uralt ist mithin das Nachsinnen über die Krise der Kunst – und so oft ist sie seither in strahlenden Augenblicken glückhaft überwunden worden.

INFO:
„Schatten“ – Bilder von Norbert Tadeusz. Museum Bochum, Kortumstraße 145, Bochum.

(Der Text ist am 27. August 2009 erstmals im Westropolis-Kulturblog erschienen und befindet sich unter dem angegebenen Datum auch im Revierpassagen-Archiv).

(Das Bild zeigt das Cover des Bochumer Ausstellungskatalogs, der bei Kerber Art herausgekommen ist).

Tadeusz-Katalog "Dunkle Begleiter - Schattenbilder" zur Ausstellung der Galerie Gmyrek und des Museums Bochum, 2009 (Verlag Kerber Art)

Tadeusz-Katalog "Dunkle Begleiter - Schattenbilder" zur Ausstellung der Galerie Gmyrek und des Museums Bochum, 2009 (Verlag Kerber Art)

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Soziale Miniaturen (9): Pornosammler

Sein Spitzname klingt so ähnlich wie „platsch!“ Als würde da jemand steinschwer ins Wasser plumpsen. Unrettbar und doch irgendwie brunzlustig.

Einem wie ihm gibt man früher oder später einen solchen Spitznamen. Er gehört zu jenen, die wohl nie mit einer Frau leben werden. Schwul ist er wahrscheinlich nicht, sondern ein manischer Onanist. Ein bekennender. Nein, ein herausprustender.

Mag sein, dass man ihn früher einen „Hagestolz“ genannt hätte. Obwohl man sich einen solchen eher mager und ausgedörrt vorstellt. Er hingegen ist füllig, früh aus jeder Form geraten. Wie wird er altern? Wie ist er als Kind gewesen?

Es ist schon einige Jahre her. Lange bevor das Internet in alle Öffnungen eingedrungen ist, hat er eine Sammlung von Pornoheften und Filmchen aufgehäuft – offenbar zimmerfüllend, wenn man seinen verdrucksten Andeutungen glaubt. Alles auf Wachstum angelegt, auch deshalb kläglich gesellschaftskonform. Auf der Arbeit spricht er tagtäglich davon. Schnubbelnd. Anders kann man das ebenso stolze wie verlegene Gegluckse kaum nennen.

Da er mit seiner Hilfstätigkeit erbärmlich wenig verdient, muss er einen wesentlichen Anteil seines Lohnes dafür aufbringen. Ein armer Teufel.

Die Kollegen feixen. Klopfen ihm gönnerhaft auf die Schulter. Mensch, du bist ja einer! Dann sagt er immer seine Formel, die alle von ihm hören wollen: „Hauptsache gemütlich!“

Da wird noch einmal final abgelacht.

Man kann ihm nicht böse sein. Man kann ihn nicht für voll nehmen. Man wendet sich sehr schnell anderen Themen zu.




Max Pechstein: Verlorenes Paradies

Max Pechstein "Selbstbildnis mit Hut und Pfeife", 1918 (Kunsthaus Zürich/Copyright: Pechstein - Hamburg/Tökendorf)

Max Pechstein "Selbstbildnis mit Hut und Pfeife", 1918 (Kunsthaus Zürich/Copyright: Pechstein - Hamburg/Tökendorf)

Das ursprüngliche Leben – wer hätte es nicht zuweilen im Sinn? Etliche Vor- und Wunsch-Bilder des „Zurück zur Natur“ lassen sich im deutschen Expressionismus finden, beispielsweise bei Max Pechstein (1881-1955). Ihm widmet jetzt das zwischen Ruhrgebiet und Münsterland gelegene Kunstmuseum Ahlen eine Retrospektive mit 140 Exponaten.

Sowohl finanziell (erkleckliche Versicherungssummen) als auch räumlich ist man bis an die Grenzen gegangen. Selbst in Treppenhaus-Winkeln hängen noch Bilder, entgegen einer puristischen Lehre der Präsentation. Doch man kann den Antrieb des Museumsleiters Burkhard Leismann verstehen, der auch einige Raritäten aufbietet: Dies dürfte für lange Zeit die letzte Gelegenheit zu einer weiter ausgreifenden Werkschau sein, welche auch Gebrauchskunst (Schmuck, Buchillustrationen, Speisekarten usw.) einschließt. Die jeweils verändert von Kiel und Regensburg her kommende Auswahl hat in Ahlen ihre letzte Station. Es gibt Bilder, die sozusagen auf der Strecke geblieben und nicht mehr ohne weiteres reisefähig sind, weil sonst die Farbe abbröckeln würde. Nicht wenige Pechstein-Werke sind in einem bedenklichen restauratorischen Zustand.

Max Pechstein "Die Löwenbändigerin" (um 1920), Privatsammlung (Copyright: Pechstein - Hamburg/Tökendorf)

Max Pechstein "Die Löwenbändigerin" (um 1920), Privatsammlung (Copyright: Pechstein - Hamburg/Tökendorf)

Er stammte aus sehr einfachen Verhältnissen. Doch als einziger Künstler der legendären Dresdner Vereinigung „Die Brücke“ hatte der 1881 in Zwickau geborene Pechstein (nach der Lehre als Dekorationsmaler) eine akademische Ausbildung absolviert. Kein Wunder daher, dass er sich – trotz aller Neuerungs-Sehnsucht – letztlich stärker an Traditionen gebunden fühlte als Heckel, Kirchner und Schmidt-Rottluff. Für kurze Zeit überwogen lebensreformerisch inspirierte Gemeinsamkeiten, auch bildnerisch bewegte man sich etwa von 1906 bis 1912 im thematischen Einklang. Salopp gesagt: Auf nackte Badende konnte man sich zunächst einigen.

Früher oder später mussten sie sich freilich über ihre Prinzipien entfremden. Immerhin siedelte Pechstein als erster nach Berlin über und bereitete den anderen dort Bahnen. Doch im Streit-Getümmel zwischen „Secession“, „Neuer Secession“ und „Brücke“ galt er bald als reaktionär.

Es war vielleicht auch eine Temperamentsfrage. Unbedingtes Voranstürmen, Zuspitzung und Höhenflüge waren Pechsteins Sache ersichtlich nicht, auch war ihm der Modernismus kein flammender Selbst- und Endzweck. Das beinahe schon behäbig breite Spektrum seiner Anregungen reicht vom christlichen Mittelalter über Matisse bis zur Volkskunst der Südsee. Auf den dortigen Palau-Inseln hat er 1914 eine seiner glücklichsten Phasen erlebt, bevor ihn und seine Frau Lotte der Ausbruch des Ersten Weltkriegs jäh vertrieb. Tagebuch-Zitat: „Die Japaner haben mich wirklich aus dem Paradies meines Lebens gejagt, kaum, dass ich hineingesehen.“ Die dort vorgefundenen Motive eines vermeintlich zivilisationsfreien Lebens wirken lange nach – auch bei den vielfach folgenden Ostsee-Aufenthalten.

Pechsteins Zurückhaltung erweist sich gelegentlich als ästhetische Fessel. Anfänglich von Symbolismus und Jugendstil geprägt, hat er sich umsichtig, tastend, überaus behutsam durch manche Stilmöglichkeiten bewegt. Expressionistische Figuration wurde zwischendurch zur hauptsächlichen Wahl, doch eben nicht zur einzigen. Insofern ist das unspezifische Allerwelts-Ausstellungsmotto „Ein Expressionist aus Leidenschaft“ nicht gerade glücklich gewählt.

Viele grundsolide Schöpfungen sind zu finden – und einige grandiose Bilder: der melancholische „Junge mit Spielzeug“ (1916), die kühne Draufsicht bei „Badende Knaben in Brandung“ (1917), der eminent dynamische „Zirkusreiter“ und „Die Löwenbändigerin“ (beide um 1920), manche Seestücke oder die kantig vom harten sozialen Daseinskampf kündende Holzschnittreihe „Das Vater unser“ (1921). Auch zeichnerische und druckgraphische Arbeiten sind hochbeachtlich. Und die „Geierwally“ ist zwar gewiss keine Offenbarung, doch wenn man weiß, dass Pechstein sie bereits als Zwölfjähriger gemalt hat, ahnt man das immense Talent.

Spätestens in den 1930er Jahren werden Pechsteins Bildfindungen generell kraftloser. Über die Gründe ließe sich lange rätseln. Verzagtheit angesichts der politischen Zeitläufte (Werke von Pechstein wurden als „entartet“ verfemt, er blieb nur geduldet, Nolde denunzierte ihn), Isolation von wichtigen Strömungen der internationalen Kunst? Bilder wie „Kutter zur Reparatur“ (1933) verlieren sich jedenfalls in geradezu postkartenhaftem Farbkitsch. Schmerzlich zu sagen.

Das Spätwerk der 50er Jahre nähert sich (nun vor allem auch krankheitsbedingt) vollends einem Rohzustand vor jeder Gestaltung. Doch mit Ursprünglichkeit hat das nun nichts mehr zu tun, sondern mit Hinfälligkeit. Schmerzlich zu sehen.

Max Pechstein. Retrospektive. Kunstmuseum Ahlen, Museumsplatz/Weststr. 98. Vom 10. Juli bis 1. November. Di, Mi, Fr 14-18, Do 14-20, Sa/So 11-18 Uhr.

http://www.kunstmuseum-ahlen.de




Soziale Miniaturen (8): Geschlossene Abteilung

Sie haben J. in die „Geschlossene“ eingewiesen, denn er ist mehrmals aus dem Altenheim geflüchtet. Die Polizei musste ihn jeweils einfangen. Wie schnell dann solch eine Einweisung geht.

Er gehört hier ganz offenkundig nicht hin. Ringsherum die schweren „Fälle“, stundenlang in endlos wiederholten Bewegungen kreisend. Ob ihnen noch zu helfen wäre? Das übersteigt nicht nur den Laienverstand.

Mit J. ist man schlichtweg „nicht fertig geworden“, wie es schon bei widerspenstigen Kindern heißt. Er beharrt auf seinen Rechten. Er will hier raus. Er schreibt Briefe an Behörden, „Eingaben“, mit sorgfältig ausgeschnittenen Pressezitaten gespickt. Er droht, dem „Focus“ das brisante Material zuzuspielen. Manchmal redet er krauses Zeug, das sich nicht erschließt, doch dann ist er wieder ganz und gar zugänglich und zugewandt. Ein Irrer ist er nicht, schon gar nicht gemeingefährlich.

Als der leitende Arzt über den Flur stolziert, macht J. seine Scherze über diesen „Cowboy“. Ja, so nenne man den. Und tatsächlich scheint es, als könnte der jederzeit den Colt ziehen und gegen die Verrückten richten. Der lässt sich nicht reinreden. Von niemandem. Der regiert seine eigene Welt, ein geschlossenes System. Er ist der mächtigste Insasse.




Gsellas Schmähgedichte: Jede Stadt ist fürchterlich

Da haben wir also das nächste Listen-Buch: Stichwörter anhäufen, launig assoziieren, alphabetisch abhaken – und fertig. Nach dem Muster entstehen mittlerweile nennenswerte Anteile des Buchmarkts. Doch hier verhält es sich etwas anders.

Der geübte Reimschmied Thomas Gsella, vormals schon mal Chefredakteur des Satireblatts „Titanic“, hat sich über weite Strecken Mühe gegeben, um in seinen Versen Städte zu schmähen, zu besudeln, zu beleidigen und in den Orkus verdienten Vergessen hinabzustoßen, aus dem sie möglichst nie wieder auftauchen sollen. Die kleine Gedichtsammlung ist aus einer Gsella-Kolumne bei Spiegel online hervorgegangen.

Nun gut, zu München („stinkt“), Hannover („Am katastrophsten und saudoph“) und ein paar anderen Kommunen ist Gsella praktisch nichts eingefallen, was er freilich allemal durch Unverfrorenheit wettmacht. Doch es finden sich etliche Kleinode aggressiven Städte-Bashings, die gekonnt alle verfügbaren Klischees verwursten. Was Gsella ausgerechnet zu Düren rhapsodiert, klingt beinahe nach Rilke-Parodie. Und in der ersten Strophe über Frankfurt/Main heißt es

Wo scheißt die Sau ins Marmorklo?
Wo trägt man hohe Häuser
Und noch beim Lieben Anzug? Wo
Hält jeder Duck sich Mäuser?

Bis zur dritten Strophe hat sich die Wut derart vernichtend gesteigert, dass man insgeheim alle Frankfurter bedauert. Doch bitte keine Häme andernorts! Hier wird nahezu jede Gemeinde gemobbt, vielfach aus glaubhaft verbalisiertem Angewidertsein. Offenbach erscheint als Stadt der Arschgesichter („Arschgesichter ziehn per pedes / Durch die Arschgesichterstadt / Arschgesichter im Mercedes / Fahren Arschgesichter platt…“), Bonn als unbekanntes Nest, Köln als Sitz nichtswürdiger „Medienhäschen“, Düsseldorf als Stein gewordene Sinnlosigkeit, Hagen als schieres Nichts. Und so weiter, und so fort.

Im allermeist bevorzugten Kreuzreim und mit büttenverdächtigen Rhythmen (man wartet gelegentlich auf das „Tätäää“) intoniert, hört sich das alles natürlich ungleich witziger an. Jedenfalls lässt Gsella kaum eine Technik des Niedermachens aus, vergiftetes Lob ist mitunter schlimmer als frontale Attacke.

Das Ruhrgebiet kommt naturgemäß grottenschlecht weg – das hoffnungslose Duisburg, das leider vorhandene Mülheim, das aus allen Himmelsrichtungen gleich deprimierende Bochum und Dortmund, wo die Bewohner unter Tage vegetieren, so dass sie gottlob nicht wissen, wie fürchterlich die Stadt erst oben aussieht.

Als Dreingabe hat Gesella noch einige Zeilen übers gesamte Revier verfasst, die wir bei den Revierpassagen mit der gebührenden Empörung zur Kenntnis nehmen und komplett zitieren:

Hier im Revier

Hier sieht man jedem Straßenzuge an,
Dass Hitler nicht gewann.
Hier redet jeder platt
Vor Stolz, dass keiner was zu sagen hat.
Und hält sich, weil er aufrecht sein will, krumm.
Hier kommt, wer hier zur Welt kam, um.
Hier sind noch die da oben subaltern.
Hier geh ich gern.

Bodenlose Unverschämtheit! Doch wir trösten uns: Auch Orte im Süden, Norden und Osten sind ja keineswegs besser dran. Nur mal en passant zitiert: „O Stuttgart, bleiche Mutter du, / Wie sitzest du besudelt“.

In der Schlusskurve knöpft sich Gsella noch ein paar europäische Hauptstädte vor, um erst ganz am Ende (allein das schon ein Affront!) Berlin abzuwatschen. Letzte Strophe:

Und sind, dem Herrgott sei’s geklagt,
Zu blöd zum Brötchenholen.
Wer Hauptstadt der Versager sagt,
Der meint Berlin (bei Polen).

Thomas Gsella: „Reiner Schönheit Glanz und Licht – IHRE STADT ! im Schmähgedicht“. Eichborn Verlag, 124 Seiten, 9,95 Euro.

 

Nachspann:
Das Buch ist also bei Eichborn erschienen, jenem Verlag, der zur Zeit ein Insolvenzverfahren durchläuft und dessen Maschinerie daher – laut FAZ von gestern – gesetzesgemäß „in ein künstliches Koma versetzt“ worden ist, so dass gegenwärtig auch keine Autorenhonorare gezahlt würden.
Die Zukunft des Hauses ist ungewiss, eventuell wird man beim Berliner Aufbau Verlag unterschlüpfen.