Gisbert zu Knyphausen: Gehen, gehen, gehen

Ach, ach, ach. Die Platte, die ich hier nachdrücklich empfehlen möchte, ist schon im April 2008 erschienen und mir erst jetzt aufgefallen. Eine kleine Ewigkeit im hechelnden Pop-Business. Ja, darf man’s denn wagen und darüber noch schreiben?

Nun, ich bin keiner zeilengeilen PR-Abteilung der Plattenbranche verpflichtet (es stört mich schon, dass diese Fuzzis einen immerzu ungefragt duzen), sondern habe mir die CD neulich selbst gekauft. Niemand drängt mich, diese Rezension zu verfassen. Doch hindert mich auch keiner.

Vor einiger Zeit hat Ingo Juknat, wenn ich mich recht entsinne, in diesem Blog (Westropolis) die deutsche Rock-Szene gescholten. Er hat da sicherlich viel öfter und weitaus aktueller ’reingehört als ich (auch eine Altersfrage). Und es stimmt ja: Glamour und Charisma sind in unseren Breiten kaum zu Hause. Es gibt es aber einige rühmliche Ausnahmen, was die musikalische und textliche Qualität betrifft. Manche werden vielleicht Blumfeld, Tomte und Kettcar nennen. In Ordnung.

Zu meinen heimischen Favoriten der letzten zehn bis fünfzehn Jahre zählen beispielsweise: Element of Crime, Tocotronic, die Frauenband Britta um Christiane Rösinger, Erdmöbel – und Funny van Dannen. Jeweils ganz eigene „Hausnummern“ und Kategorien. Darauf kommt’s ja schließlich auch an: auf unbeirrbare Eigenart.

Zu solchen Original-Könnern gesellt sich also neuerdings der aus dem hessischen Rheingau stammende, heute in Hamburg lebende Mann mit dem nicht gerade rockigen Namen Gisbert zu Knyphausen, dessen ursprüngliches Adelsprädikat noch um einiges länger sein soll. Egal. Er ist jedenfalls ein Singer-Songwriter (vulgo: Liedermacher) von einigen Graden und Gnaden, mit gut und gern ausgelebter Neigung zum Indie-Rock. Insgesamt eher eingängig als sperrig. Doch genauer hinhören muss man schon, es fließt nicht einfach so daher.

Sein erstes Album heißt ebenso wie der Urheber und ist gleich famos geraten. Ja, es dürfte auf diesem Felde hierzulande schwerlich übertroffen werden. Zwar lassen sich einzelne Titel durchaus ausgekoppelt hören, jeder beweist Charakter für sich. Doch zeigt sich hier wieder einmal die Stärke eines gereiften Albumkonzeptes (das ja leider längst von diffusen Einzeldateien abgelöst worden ist): Bei Knyphausen gibt es noch eine Dramaturgie des An- und Abschwellens, der sinnreichen Abfolge.

Die Texte gehören wohl zum Besten, was derzeit auf dem Pop-Sektor in deutscher Sprache vorgetragen wird. Die Worte setzen sich zwar zuweilen nonchalant und rauh-charmant über das Reim- und Rhythmus-Schema hinweg, sie trudeln aber nahezu unfehlbar in poetische Bezirke. Fast absichtslos manchmal, in den allerschönsten Momenten. So ehrlich und authentisch klingt das, dass man fast schon wieder geneigt ist, es für Pose zu halten. Aber das wäre nun wirklich eine Hirnschraubenwindung zu weit gegrübelt.

Das Spektrum reicht vom sanfteren Gitarrenlied beinahe à la Hannes Wader (erinnert Knyphausen nicht auch vom Habitus her ein wenig an diesen Altvorderen?) über geerdeten Blues bis zum strubbligen Geradeaus-Rock, der freilich auch seine Finessen hat. Auf Videos im Netz kann man es sehen: Die Band wirkt so, als seien diese Typen direkt aus den frühen 70er Jahren zu uns gekommen. Doch gestrig sind sie beileibe nicht.

Gisbert zu Knyphausen balanciert wie auf schmaler Kante. So manche Verwundungen, Melancholie und Depression auf der einen Seite, plötzlich unversehens wieder erwachende, wilde und unbekümmerte Lebenslust auf der anderen. Auf einmal doch wieder unterwegs zum unversehenen, ungeahnten Glück: Komm ins Offene!

Aus dieser Gefühls- und Gemengelage unsinnigen Unglücks und unfassbaren Glücks beziehen nicht nur die Texte ihre Impulse, auch die Musik holt daraus ihre Energie. Stichwort-Beispiele: Das Lied „Spieglein Spieglein“ ist eine harsche Absage an alle unnötige (Selbst)-Quälerei, auch in „Der Blick aus deinen Augen“ ist der schöne Schwebezustand nach allzu mühsamer Sinnsuche nahezu erreicht. Die „Kleine Ballade“ scheint sich federleicht über erlittene Mühsal erheben zu wollen. „Sommertag“ begräbt furios all den lang gehegten Pessimismus, der nun endlich in Scherben liege. Da möchte man tatsächlich sogleich aufbrechen und gehen, gehen, gehen (was ja ohnehin ein Grundantrieb hörenswerter Rockmusik ist). Und weiter, weiter bis zu den beiden abschließenden Stücken „So seltsam durch die Nacht“ und „Verschwende deine Zeit“. Songs, die man wieder und wieder hören möchte.

Da geht es – aus persönlich getönter Sicht – fast immer auch ums Ganze, ums Leben, wie man es schlecht und recht oder ein kleines bisschen besser lebt. Manchmal ergeht sich Gisbert zu Knyphausen in kämpferischer Metaphorik und nennt sich an einer Stelle sogar „kriegsgeil“. Etwa in diesem Sinne: Erst aus Trümmern kann das Neue und Künftige entstehen. Nun ja. Dieses „Stirb und werde“ gibt es nicht erst seit Goethe. Und es wird auch so bald nicht aufhören.

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Die CD „Gisbert zu Knyphausen“ ist im April 2008 beim Label „PlayItAgainSam“ erschienen und kostet ca. 17 €.

Zwei Video-Links (Titel „Sommertag“ und „Neues Jahr“) zur Kostprobe:
http://www.youtube.com/watch?v=axWLddS4aUI
und

Die Bandbesetzung: Gisbert zu Knyphausen (Gitarre, Gesang), Gunnar Ennen (Keyboards), Jens Fricke (Gitarre), Sebastian Deufel (Schlagzeug), Frenzy Suhr (Bass).




Wunder mit Widerhaken – F. C. Delius‘ Roman zur Erfindung des Computers

US-Amerikaner rühmen sich der Erfindung des Computers, doch irgendwann haben sie anerkannt, dass einst ein Deutscher die kreative Vorhut bildete: Konrad Zuse (1910-1995).

Stoff genug für Phantasien mit realistischer Sättigungsbeilage. Jetzt liegt ein Roman über Zuses Leben vor – verfasst vom vielfach bewährten Friedrich Christian Delius, der etwa auch schon das fußballerische „Wunder von Bern“ zum literarischen Spielfeld erkoren hat („Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“, 1994).

Der Titel des neuen Buches klingt artverwandt und beschwört ebenfalls „Wunder“ herauf: „Die Frau, für die ich den Computer erfand“ geht von der Fiktion aus, dass eben jener Konrad Zuse anno 1994 einen öden Braunschweiger Festakt zu seinen Ehren „schwänzt“ und statt dessen einem Journalisten zwölf Stunden lang (!) Bekenntnisse auf Band spricht, die erst posthum publiziert werden sollen. Schon die exorbitante Länge riecht nach Protest gegen den heute vielfach üblichen Häppchen-Journalismus.

Das denkwürdige Treffen begibt sich sozusagen in der mittleren Mitte Deutschlands – im hessischen Rhön-Kreis Hünfeld, zu Zeiten des geteilten Landes ein Grenzgelände des Kalten Krieges, auf dem West und Ost einander kriegsbereit belauerten (Stichworte: „Fulda Gap“, „Point Alpha“ bei Geisa). In dieser Gegend hat der gebürtige Berliner Zuse nach dem Zweiten Weltkrieg gelebt.

Der Romantext besteht – bis auf einen einzigen Satz – ausnahmslos aus den auf Band aufgezeichneten Passagen. Die Sprache liest sich dementsprechend lebendig und spontan, sie hört sich nicht „nach Papier“ an. Gut vorstellbar, dass auch Delius seinen Text zur Probe auf Band gesprochen hat. Aufgeteilt ist das Ganze in knappe Kapitel, was die einladende Lektürefreundlichkeit noch steigert. Man kann das Buch also recht glatt und zügig „weglesen“; eine Feststellung, die nicht etwa als vergiftetes Lob verstanden werden möge. Denn das Widerspenstige und die Widerhaken gegen oberflächlich flotten Zeitgeist und digitale Idiotie stecken im (vordergründig kulinarisch dargebotenen) Inhalt.

Zentrale, doch ungreifbare Gestalt ist eine gewisse Ada Lovelace (1815-1852), Tochter des romantischen Dichters Lord Byron und dazumal rares weibliches Genie der Mathematik, die bei Leibniz’ binärem Zahlensystem angeknüpft hat. Man sagt ihr nach, sie habe bereits die allererste Programmiersprache skizziert. Zuse stößt in den 1930er Jahren in einem Buch auf die jung verstorbene Britin und verliebt sich in sie – sozusagen im Überschwang eines erfinderischen Eros über Generationen hinweg. Jahrzehnte bleibt er ihr insgeheim treu, und sie beflügelt ihn, ja sie scheint ihn durch prekäre Situationen zu geleiten wie ein Engel.

Wunder über Wunder allein schon, wie es Zuse gelingt, die ersten Apparate in Berlin-Kreuzberg unter widrigsten Umständen zu bauen und dass er später seine Erfindung (eine monströse, aber schließlich wie geölt funktionierende Maschine mit dem Hilfsnamen „A 4“ bzw. „Z 4“) durch die kriegerischen Wirren nach Bayern rettet. Der erste Prototyp „A 1“ war 1938 noch ein mechanisch ratterndes Ungetüm gewesen, das notgedrungen aus lauter Ersatzmaterialien bestanden hatte.

Der erfahrene Schriftsteller Delius spielt in der offenbar gründlich recherchierten, jedoch mit erfinderischer Lust angereicherten Geschichte allerlei Themen und Motive durch, durchweg stilsicher, stellenweise kunstvoll, ja virtuos: Da geht es vorderhand um mögliche Verfehlungen und die Verantwortung des Ingenieurs im „Dritten Reich“. Sehr differenziert kommt hier Zuses spezielle Form des freimütig eingestandenen Mitläufertums zur Sprache. Er hat auch bei Berechnungen mitgeholfen, um deutsche Fliegerbomben zu optimieren. Hätte er sich weigern können? Hätte er dann noch weiter an seinen programmierbaren Maschinen arbeiten können?

Besessen und getrieben von seiner eigentlichen Aufgabe, an der er in 80-Stunden-Wochen gearbeitet hat, hat sich dieser Mann durch alle Fährnisse laviert. Der Roman scheint den Schluss nahezulegen, dass Zuse dabei wahrscheinlich anständiger geblieben ist als der allseits dienliche Raketenpionier Wernher von Braun. Ein irritierendes Flimmern ergibt sich freilich aus der (natürlich vom Autor Delius arrangierten) subjektiven Rede, die ja immerhin schönfärberisch und selbstgerecht sein könnte. Doch der uneitle Tonfall spricht wiederum gegen solchen Verdacht.

Ein weiterer Themenstrang ist die unaufhörliche Rivalität zwischen Künsten und Geisteswissenschaften sowie Mathematik, Natur- und Ingenieurswissenschaften. Zuse erscheint nicht als zorniger, doch als schroffer und schräger alter Mann, der sich aus den bislang lebenslang durchstreiften Gefilden der Logik endlich ins befreite Phantasieren hinein bewegt und nun frei von der Leber weg reden kann: „…die Zukunft gehört der Kunst. Ohne Kunst ist das Leben ein Irrtum…“, sagt er mit Anklang an Nietzsche.

Vor allem aber zitiert Zuse immer wieder aus Goethes „Faust“, vielleicht auf der Suche nach dem Faustischen und Mephistophelischen schlechthin. Doch er hat’s stets ein paar Nummern kleiner und damit menschlicher. Ada statt Mephisto, so lautet die Formel. Bei aller Knorrigkeit und Sperrigkeit und trotz opportunistischer Anwandlungen begegnet uns in Konrad Zuse, so wie Delius ihn darstellt, eine vorwiegend sympathische Figur, die durch Schattierungen und Schraffuren genauer, wahrhaftiger wird.

Nicht ungern sieht dieser Zuse sich endlich als Erfinder gewürdigt, doch sind ihm eitle Allüren fremd. Ihm geht es schlichtweg um die Richtigkeit der Sache. Dass die Amerikaner ihn (nicht zuletzt mit gezielt eingesetzter Dollar-Power) in den 1960er Jahren rasant überholt haben, das hat ihn geschmerzt, doch irgendwann hat er auch das verwunden. Man stelle sich mit F. C. Delius vor, was da hätte entstehen können: Ein weltweit führendes „Silicon Valley“ rund um Fulda und Hünfeld – das wäre doch auch zu irrwitzig gewesen, oder?

Friedrich Christian Delius: „Die Frau, für die ich den Computer erfand“. Roman. Verlag Rowohlt Berlin. 284 Seiten. 19,90 €.




Kreuz und quer durch die DDR

Sammlung oder Sammelsurium? Anregung oder Wirrnis? Solche Fragen könnte man sich stellen, wenn man jetzt eine DDR-Ausstellung in Lüdenscheid anschaut.

Der umtriebige Bielefelder Privatmann Frank Föste hat zum Themenkreis „Kalter Krieg“ und Ost-West-Konflikt offenbar alles angehäuft, was er irgend bekommen konnte – teilweise unter etwas abenteuerlichen Umständen und vor allem gleich nach der „Wende“ vor 20 Jahren. Damals war plötzlich so vieles frei verfügbar – und niemand wusste, wie lange da noch so bleiben würde. So mag man seinerzeit gedacht und rasch zugegriffen haben. Einiges davon füllt nun einen ganzen Museumstrakt über und über. Dabei ist es nur rund ein Zehntel einer gewiss imponierenden Kollektion…

Betritt man die Raumflucht der in Minden (Preußenmuseum) zusammengestellten und von Lüdenscheid übernommenen Schau, so empfängt einen gleich eingangs die Warntafel „Sperrgebiet“. Auch ein Stück Stacheldrahtverhau, Original-Uniformen der Grenzer und ein „Mauerabschnitt“ in real-sozialistischer, unübersteigbarer Höhe stimmen geradezu gruselig auf die Relikte des (in Westdeutschland einst hartnäckig „Ostzone“ genannten) Gebildes ein.

Doch wer sich nicht schon etwas mit der Materie auskennt, bleibt womöglich bei den (durchaus reichlich vorhandenen) Schauwerten der vielen Objekte hängen. Ohne Führung dürften vor allem jüngere Besucher ratlos bleiben. Dicht an dicht und mitunter etwas wahllos reihen sich zahllose Exponate verschiedenster Art aneinander. Es ist, als habe man nichts auslassen wollen. Praktisch alle Lebensbereiche der verflossenen DDR (7. Oktober 1949 bis 3. Oktober 1990) werden irgendwie angetippt.

Lauter Schlaglichter und knappe Stichworte. Politik in manchen Facetten, Militär, Spionage, Wirtschaft, Auto und Verkehr, Jugend, Erziehung und Sport, Freizeit, Familie und Kultur. Nicht so sehr systematisch als vielmehr assoziativ wirken Aufbau und Abfolge. Propaganda der DDR und gegenläufige Ansichten des Westens gehen hier mitunter kreuz und quer durcheinander.

Mal nimmt man als Besucher die Perspektive früherer Zeiten ein, dann wieder blickt man von heutiger Warte aufs schon reichlich fern gerückte Geschehen zurück – mal empört oder fassungslos, dann vielleicht eher belustigt oder gar mit einem Hauch von Nostalgie angesichts „kultiger“ Objekte. Formulieren wir’s mal rundweg positiv: Die Auswahl ist aufregend multiperspektivisch und sie nimmt einem das Denken keineswegs ab. Da muss man schon selbst rote Fäden finden.

Man ist versucht, atemlos aufzuzählen, was man da im bunten Reigen vorfindet: Markante Zitate (auch auf dem Fußboden), Zeitungs- und Zeitschriftenausrisse, Flugblätter und Dekrete. Sodann Visa und viele andere Dokumente wie etwa Belobigungen für Kollektivarbeit, ein „Hausbuch“ zur perfiden Mieterkontrolle und schließlich die wachsende Flut der Ausreisebegehren. Ferner Fahnen und Embleme (FDJ, Junge Pioniere & Co.), allerlei Lenin-Figuren und sonstige kommunistische Devotionalien, Schautafeln und Tabellen, Orden und Ehrenzeichen, Partei-Souvenirs, Spitzel-Ausrüstungen der Stasi,  sowjetisch „inspiriertes“ Kriegsspielzeug, beispielhaftes Wirtschaftsgut Ost wie Meißner Porzellan oder Jenaer Glas, das berühmt gewordene „Ampelmännchen“ und, und, und…

Lauter Anstöße und Ansätze, hie und da auch Aha-Erlebnisse. Doch längst nicht jedes Schaustück spricht für sich selbst. Zu etlichen Exponaten wünscht man sich weitere Erläuterungen, die Zusammenhänge stiften könnten.

Man ahnt, dass es sich lohnen könnte, diese offenbar mit Feuereifer angelegte Sammlung weiter zu erschließen, sie behutsam zu ergänzen, Schneisen zu schlagen und sinnvolle Schwerpunkte zu bilden. Aber das alles wäre kostspielig und würde sehr viel Arbeit mit sich bringen.

Außerdem gibt es laut Föste ausgerechnet in Deutschland kein Museum, das sich speziell mit der Geschichte des „Kalten Krieges“ befasst. Er trägt sich deshalb mit dem Gedanken, seine Sammlung nach Dänemark zu geben. Will er mit dieser Ankündigung auf hiesige Büsche klopfen? Und klingt nicht doch gelinde Verbitterung durch, wenn er andeutungsweise von bislang vergeblichen Vorstößen spricht? Auf öffentliche Förderung wagt er nicht mehr zu hoffen.

„Vergessen? Schlaglichter auf Staat und Alltag in der DDR“. Bis zum 23. August in den Museen der Stadt Lüdenscheid, Sauerfelder Straße 14. Eintritt 4 Euro. Knappe Info-Broschüre. Geöffnet täglich außer Mo 11-18 Uhr. Führungen nach Voranmeldung für Gruppen möglich. Tel.: 02351/17 14 96.




Baselitz, Lüpertz, Penck: Wurzeln in der Luft

Baselitz, Lüpertz, Penck – deren Kunstfertigkeiten kennt man doch zur Genüge. Vorgestern war’s ja noch halbwegs interessant. Doch längst sind wir viel, viel weiter fortgeschritten. Wir, die ach so versierten Kunstbetrachter…

Halt! So denken vielleicht oberflächliche Gestalten im Kreiseln und Kriseln des Kulturbetriebs, die stets gelangweilt nach dem Allerneuesten verlangen und sich den Anschein des durch nichts mehr zu verblüffenden Kenners geben. Elendes Ennui-Gehabe!

Oft, ja beinahe immer lohnt ein zweiter, ein anderer Blick aufs Gewesene. Zumal dann, wenn Künstler mit früheren, weniger bekannten Arbeiten aus Phasen präsentiert werden, als ihr Werk noch im Wachsen und Werden war. Und manchmal erst recht, wenn es sich nicht um auftrumpfende Hauptwerke, sondern um eher intime Zeichnungen handelt. Hier also sind tastende Versuche und Skizzen zu finden, die sich noch näher an den Ursprüngen der Ideen bewegen als die später breit und vielleicht schon allzu selbstgewiss ausgeführten Bilder.

Der Sammler Peter Ludwig hatte bekanntlich gutes Gespür für vielversprechende Ansätze, die eben erst keimten. Er erkannte – auch mit marktgeschultem Blick – manche große Begabung frühzeitig und kaufte bereits, bevor es die anderen taten. Daher kommt es, dass die diversen Ludwig-Museen (etwa in Köln, Aachen und Oberhausen) über große Konvolute von Zeichnungen verfügen.

Jetzt zeigt Oberhausen gezeichnete Bilder aus den 60er und 70er Jahren. Damals waren die besagten Baselitz, Lüpertz und Penck noch nicht allseits bekannt. Sie standen noch allesamt quer zum eher links gewendeten Zeitgeist. Rund 150 Exponate kann Oberhausen vorweisen. Anschauungsmaterial genug, um die frühen Wege der drei Künstler plausibel zu machen.

Georg Baselitz

Spätestens um 1965 treten in seinen Bildern mit Macht hervor: das Verletzte, das Hässliche und hie und da das gellend Obszöne, seinerzeit noch schreiend Skandalöse. Man sieht geradezu das Kreißen, man sieht biomorphe (also pflanzlich wirkende) Ausgeburten, ungeschlacht und noch nahezu gestaltlos. Der hier angerichtete Weltwirbel scheint bis in Zellkerne zu reichen und irgendwann ein großes Neues hervorzubringen.

Nachwirkende, nicht ruhig zu stellende Kriegstraumata brechen sich in anderen Bildern Bahn, und zwar reihenweise: „Helden“, „Partisanen“ und „Neue Typen“ irritieren durch ungebrochene, rohe Gewaltsamkeit. Ist es noch die Nachhut der letzten Katastrophe – oder sind es bereits schlimme Vorboten des womöglich Kommenden? Man muss solche Bilder nicht mögen, aber man sollte sie nicht meiden, denn sie rufen vernehmlich nach Auseinandersetzung.

Etwa 1969 vollzieht Baselitz die Kehrtwende, die nachmals zu seinem Markenzeichen wurde. Zunächst dreht er Bildmotive wie den „Waldarbeiter“ um 90 Grad seitwärts, später stehen sie vollends auf dem Kopf. Baselitz wollte sich einerseits nicht von Figur und Gegenstand verabschieden, andererseits aber den Blick weg vom Inhalt und hin zur Bildstruktur lenken. Nun wurzeln die Figuren sozusagen in den Lüften.

Was anfangs eine Befreiung oder für Baselitz gar eine Quadratur des Kreises gewesen sein mag, wirkt in der über Jahrzehnte angewachsenen Menge wie eine bissig beibehaltene Marotte unter dem Zwang, sich von der künstlerischen Konkurrenz abzuheben. Bis heute glaubt man Baselitz daran zu erkennen: „Ist das nicht der, der seine Bilder kopfüber dreht?“ Und seither verdrehen Betrachter vor seinen Bildern ihre Köpfe, um doch etwas mehr Inhalt zu erhaschen.

Markus Lüpertz

Der Mann, der sich geradezu enervierend als Nachfahre von „Malerfürsten“ des 19. Jahrhunderts geriert, etikettierte einen seiner zeitigen Leiteinfälle als „dithyrambisch“ – eine Reminiszenz an Kultlieder auf den altgriechischen Gott Dionysos. Diese räumlich gestaffelten Schraffuren erinnern formal an Gegenstände, sind aber nicht als solche zuzuordnen. Auch hier stellt sich also das Problem, gerade noch beim Gegenstand zu bleiben und doch von ihm gehörige Distanz zu wahren. In den Jahren ab 1964 erwachsen und wuchern Lüpertz’ Bild-Architekturen aus solchen rudimentären Elementen. Auch seine Kunst hat etwas Unbehauenes. Das Filigrane wird man bei ihm schwerlich finden.

Kennzeichen und Triebkraft späterer Bilderserien – mit den Hauptmotiven Schnecke, Stahlhelm und Amboss – ist die ständige Metamorphose dieser Dinge, die mitunter bedrohlich gestapelt werden, als sollten sie sich zur Apokalypse auftürmen. Nichts bleibt, wie es anfangs gewesen ist. Hochhaus wird Menschenleib, sodann wird Mensch zum Kleidungsstück. Ein unaufhörliches Umschichten der Formen.

Ähre und Stahlhelm ragen als vielfältig variierte Signale aus faschistischer Zeit in diese wandelbare Bildwelt hinein. Sind es bloße Relikte? Ist es gar ein verantwortungsloses Spiel mit vorbelasteten Zeichen? Oder ist alles ganz zweckfreie Formfindung, und Lüpertz wäre immer nur unermüdlich unterwegs gewesen auf seiner fortwährenden Suche nach expressiver Kälte?

A. R. Penck

Dieser ungemein eigenständige, ja zunächst randständige Künstler benannte sich nach einem Eiszeitforscher. Mit seinem leidenschaftlich verfolgten Projekt einer universell verständlichen Bildsignal-Sprache war er in der einstigen DDR isoliert und wurde im Namen der offiziellen, sozialistisch-realistischen Kunst-Doktrin geächtet (erst 1980 siedelte er in den Westen über).

Alles bloß Anekdotische wollte er aus seinem Bildvokabular verbannen. Er verfiel auf archetypische Zeichen wie aus vorzeitlicher Höhlenmalerei. Ganz und gar unverbraucht, taufrisch geschöpft wirkt das in den besten Momenten – und gleichzeitig in eine ferne, vielleicht utopische Zukunft gerichtet. Eine Werkstatt für Mythen kommender Zeiten.

Man kann in Oberhausen die Genese recht gut nachverfolgen: Die Skala reicht von urtümlichen Strichmännchen bis hin zu komplex vielgliedrigen und denn doch wortreich erläuterten „Problemraum“-Skizzen, die von fern her an lehrhafte Tafeln von Joseph Beuys erinnern. Weitaus feinnerviger als bei den beiden anderen Künstlern geht es in Pencks experimentellem Formenlabor zu. Der Grat zwischen „unverbraucht“ und „unbedarft“ scheint hier allerdings mitunter schmal. Und die innig erstrebte allgemeine „Lesbarkeit“ der Bilder mag sich auf Dauer nur stellenweise einstellen. Vieles bleibt wolkig und vage. Esoterische Wirrnis könnte als Gefahr lauern. Doch Pencks Expeditionen führen eben durch ungeahnt abenteuerliches Gelände und Gestrüpp. Leise erkundend, niemals dröhnend oder polternd. Spannend bis jetzt – und wohl auch künftig.

Baselitz, Lüpertz, Penck – Zeichnerische Positionen aus der Sammlung Ludwig. Ludwig Galerie Schloss Oberhausen, Konrad-Adenauer-Allee 46 (nähe Gasometer und Arena). Bis 6. September. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr. Kein Katalog. Eintritt 6,50 €, ermäßigt 3,50 €, Familie 10,50 €, Kombiticket mit Gasometer OB (derzeit Weltraum-Ausstellung) 8,50 €. Tel. 0208/412 49 28. Internet www.ludwiggalerie.de

Parallel dazu werden im Nebengebäude des Schlosses Beispiele aus internationalen Grafik-Beständen der Sammlung Ludwig gezeigt – von Künstler u. a. aus Russland, Bulgarien, Ex-BRD und DDR (Kippenberger, Heisig, Sitte, Mattheuer), China und Kuba.




Dicht vor dem Sprung

Hat jemand schon einmal den Namen Hans Kohlschein gehört? Nein? Solche Unkenntnis wäre nicht verwunderlich.

Der Mann, von dem jetzt rund 160 Arbeiten im Schloss Cappenberg zu sehen sind, gehört zu den zahlreichen Künstlern, die bestenfalls am Rande wahrgenommen worden sind. Von dieser Art muss es zwangsläufig sehr, sehr viele geben, sonst könnten sich die wirklichen Größen der Kunstgeschichte ja von niemandem abheben. Banale Erkenntnis: Nicht alle können gleichermaßen ruhmreich sein.

Man müsste allerdings fragen: Ist dem gebürtigen Düsseldorfer Kohlschein (1879-1948) eventuell Unrecht geschehen? Hätte er mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen müssen? Haben Kritiker und sonstige Fachwelt einen spätimpressionistisch beeinflussten Genius schmählich übersehen? Ist er etwa (posthum) dafür bestraft worden, dass er sich nie vom Gegenständlichen abgekehrt hat? Und schließlich: Soll man ihn heute ausstellen, vielleicht gar, um ihn zu rehabilitieren?

Die Cappenberger Schau kam zustande, nachdem Brigitta Landsberg, eine in Dortmund lebende Enkelin von Hans Kohlschein, die Initiative ergriffen hatte und an den Ausstellungskurator Thomas Hengstenberg (Kreis Unna) herangetreten war. Frau Landsberg dürfte ein reges Interesse an einer musealen Aufwertung des Werkes haben. In der Fülle des Gesamwerks fanden Hengstenberg und seine Mitkuratorin Sigrid Zielke manches ausstellenswerte Stück. Und beim Kreis Unna muss man ja auch mit spitzen Stiften rechnen, zumal der Eintritt in Cappenberg frei ist. Also gut, schauen wir mal.

Schon mit 13 Jahren wurde Hans Kohlschein an der damaligen Kunstakademie Düsseldorf aufgenommen, wo auch sein Vater Josef Kohlschein lehrte. Sein tatsächliche frappierendes, früh sich entfaltendes Talent dokumentiert eine Zeichnung, die just der 13-Jährige von seinem Großvater angefertigt hat. Der Junge ließ einiges erwarten.

In Cappenberg sind nun Bilder aus allen Schaffensphasen zu sehen. Nach dem Rundgang kann man insgesamt raffend feststellen: Kohlschein war alles andere als ein Neuerer, und er ist leider nur selten wesentlich über „das Akademische“ hinaus gelangt. Hat er seine Gaben verschleudert?

Man sieht jedenfalls die Resultate fleißiger künstlerischer Pflichterfüllung, redliches handwerkliches, beharrlich umgesetztes Können, immer wieder hoffnungsvolle Ansätze – aber kaum Höhenflüge oder zutiefst Ergreifendes. Häufig bleiben die Anstrengungen im Konventionellen, im Anekdotischen und Genrehaften stecken. Das ist alles in allem betrüblich, denn man hat zuweilen (nicht zuletzt bei einigen Frauenporträts) den Eindruck, es hätte nur noch eines letzten Impulses bedurft, um in andere Dimensionen vorzudringen. Da stand einer ziemlich dicht vor dem Sprung…

Kohlschein hatte offenkundig besondere Schaffensfreude an ausgewählten Motiven von teilweise sehr speziellem Zuschnitt. Immer wieder malte er beispielsweise Männer in wallenden Mönchsgewändern, durch welche Windstöße der Bewegung zu gehen scheinen. Die Anmutung solcher Bilder ist nahezu filmisch, man rechnet unwillkürlich mit einer Fortsetzung der „Sequenz“.

Noch öfter wandte sich Kohlschein Pferde-Motiven zu, es war sein mit Leidenschaft verfolgtes „Spezialgebiet“. Hier herrschen meist stürmende, vorpreschende Vitalität und Dynamik (einmal schickt er die Pferde sogar ins Wettrennen mit einer Dampflok), allerdings sieht man auch schon mal traurige, ausgelaugte Tiere wie jenen alten Schimmel von 1920. Stabeil schien der Rahmen: Ländlich-sittliches, von Frömmigkeit geprägtes Leben prägte den ausgezirkelten Themenkreis, aus dem sich Kohlschein höchstens zaghaft heraus bewegte. Er war wohl einer, der niemals und unter keinen Umständen „zersetzend“ gewirkt hätte, einer, der alle Brüche scheute.

Im Ersten Weltkrieg wurde Kohlschein offiziell zum „Maldienst“ hinter den Frontlinien in Polen und dann in Frankreich eingezogen. Einige zuvor entstandene monumentale Historienschinken schienen ihn für diese staatstragende Aufgabe zu prädestinieren. Seine Bilder gerieten indes jetzt nicht ganz so heroisch wie erwünscht, für den ganz großen Gestus etwaiger Triumphe hatte Kohlschein keinen rechten Sinn. Doch durfte er sich natürlich auch keine bildnerische Kritik erlauben. Ein zwielichtiges, nicht gerade günstiges Klima für die Künste.

Immerhin entstanden in Polen vor allem Szenen des materiell ausgesprochen dürftigen Alltags. Solche Bilder künden von ungeahnter Not und Armut, sie lassen – aller formalen Konvention zum Trotz – ein gewisses mitleidendes Erschrecken über die misslichen Verhältnisse ahnen. Schwankende Gestaltungs-Intensität, wankende Geschmackssicherheit: Das „Flüchtlingslager in Modin“ (um 1917) wirkt noch einigermaßen pittoresk, „Kranke Gefangene“ (ebenfalls 1917) zeugen hingegen deutlicher von kreatürlichem Leiden. Erdige, rasch aufgetragene Temperafarben halten die Szenerie nah am ersten Eindruck fest. Aus heutiger Sicht geradezu unerträglich ist hingegen ein Blatt wie „Windböe im Getto“, wo es einen roten Frauenrock neckisch in die Höhe pustet, als sei’s eine Vorbotin der Monroe.

Auch fürs skizzenhaft Spontane hatte Kohlschein eine spürbare Begabung. Das belegen etwa auch karikierende Blätter über Karnevalsfeiern mit Freunden vom legendären Düsseldorfer Künstlerverein „Malkasten“. Im scharfen Kontrast zu solchen Humoresken steht das dunkelste Kapitel: Zwar hat Kolhschein 1935 auch eine ziemlich riskante Karikatur des brüllenden Adolf Hitler gezeichnet, doch hat er sich (wohl vor allem aus pragmatischen Erwägungen) mit dem NS-Regime recht umstandslos arrangiert. Als der linksgerichtete Düsseldorfer Akademierektor Kaesbach entlassen wurde, fand dies Kohlscheins ausdrücklichen Beifall – und er intrigierte gleich auch noch gegen den ihm verhassten Akademielehrer Paul Klee (nachzulesen im Ausstellungskatalog).

Weiterer Sündenfall: 1939/40 übernahm Kohlschein den Auftrag zu einer monumentalen Ausmalung des Wuppertaler Polizeipräsidiums (auch Gestapo-Gefängnis) im Sinne der NS-Kunstauffassung. 1999 wurden diese gravitätischen Wandmalereien wiederentdeckt und – mit historisch einordnenden Kommentaren versehen – restauriert.

Wahrlich kein leichtes und glattes Gelände, auf dem sich diese Ausstellung bewegt.

Hans Kohlschein. Schloss Cappenberg (in 59379 Cappenberg bei Lünen/Selm). Bis 25. Oktober 2009. Di-So 10-17 Uhr, Eintritt frei. Katalog 22 Euro. Internet: http://www.kreis-unna.de




Kleine Fluchten mit Faltboot

Zusammengelegt passt das Faltboot in einen mittelgroßen Rucksack. Mit ein wenig Geschick ist es in etwa 20 Minuten gebrauchsfertig montiert, der Rekord wurde bei einem Aufbau-Wettbewerb mit 6 Minuten gestoppt.

In den 1930er und den 1950er Jahren rief das Sportgerät wahre Massen-Bewegungen hervor. Es ermöglichte die „kleinen Fluchten“ an den damals noch kurzen Wochenenden – ein frühes Signal für die gerade erst als solche wahrgenommene und gestaltete Freizeit. Ohne diese Boote hätte sich auch das Campingwesen nicht so rasant entwickelt. Wenn man den ganzen Tag gepaddelt hatte, wollte man abends entlang der Wasserläufe übernachten. Also mussten Zelte und Zubehör mit ins Gepäck.

Das Herner Emschertal-Museum präsentiert jetzt im Schloss Strünkede Ausstellung rund um das populäre Wasserfahrzeug. Motto ist die einst im Werbespruch verwendete, treuherzige Aufforderung „Fahr fröhlich in die weite Welt…“ Es zeigt sich mal wieder: Man kann aus sämtlichen Gegenständen und Lebensbereichen eine Kulturgeschichte des Alltags gewinnen, so auch aus dem (Eschen)-Holzskelett mit Klappscharnieren und Stoffbespannung.

Experten wie der Sammler Markus Heise aus Willich bei Mönchengladbach, aus dessen einzigartiger Kollektion die kleine Herner Schau bestückt wurde, können stundenlang angeregt über die Materie reden. Auch Dr. Rainer Söntgen vom Mitverstalter Concultura GmbH (Bonn) kennt viele spannende Geschichten zum Thema. Ohne kundige Führung hat man leider nicht gar so viel von den Exponaten, zu denen z. B. zwölf historische Boote, ein umfangreiches Zelt-Ensemble der 30er Jahre, etliche alte Reklameprospekte und einschlägige Belletristik („Drei Mädel und ein Paddelboot“) gehören.

Erste Entwicklungsarbeiten waren zwar schon in England und Schottland geleistet worden, doch auf Dauer erwies sich das Faltboot vorwiegend als deutsche Angelegenheit (weshalb sich auch die Nazis der an sich harmlosen Begeisterung perfide bedienten). Engländer ruderten lieber, anstatt in Kajak oder Kanu zu paddeln, Holländer setzten die Segel, und Franzosen bevorzugten die „Kanadier“-Bootsform (großes Paddel taucht nur an einer Seite ein). Die Klassenfrage stellte sich auch: Faltboote sind – auch wegen der anfangs recht hohen Preise – vor allem eine Domäne bürgerlicher, akademischer Kreise gewesen. Arbeiter versuchten es gelegentlich mit der günstigen Marke Eigenbau.

Als eigentlicher Erfinder der zusammenklappbaren Boote gilt der Architekturstudent Alfred Heurich, der am 30. Mai 1905 mit einem Prototyp die Isar von Bad Tölz bis München befuhr. Er lernte kurz darauf den Rosenheimer Schneider Johann Klepper kennen, der bis dahin vor allem Skikleidung angefertigt hatte und nun half, die Boots-Idee marktreif zu machen. Beim Namen Klepper klingelt was: Klepper-Faltboote waren alsbald und sind bis heute die deutschen Branchenführer auf diesem Sektor.

Schon 1914 (kurz vor dem Ersten Weltkrieg) wurde der Deutsche Kanu-Verband gegründet. Der erste ganz große Aufschwung kam um 1920 im Zuge der Wandervogel-Bewegung. Auch FKK-Anhänger (siehe Illustration) ließen sich nicht lange bitten.

In den 30er Jahren gab es bis zu 65 deutsche Werften, die (auch) Faltboote fürs „Wasserwandern“ herstellten, heute sind noch ganze zwei übrig. Denn längst haben leichte Plastikboote die hölzernen Faltlinge verdrängt. Vor allem mit dem massenhaften Aufkommen der Privat-Pkws in den 60er Jahren schwand der Faltboot-Absatz, denn nun konnte man ja komplette Boote aufs Autodach schnallen oder im Hänger transportieren. Daraus kann man indirekt auch schließen, dass sich die Faltboote in der DDR ein wenig länger gehalten haben als im Westen.

Zwar kommt man in der Regel nur mit 6 bis 8 Stundenkilometern voran, doch können Faltboote durchaus für athletische Action und Abenteuer herhalten: Ein Schotte wagte sich bereits kurz nach 1900 mit einem Faltboot-Vorläufer auf die Ströme Euphrat und Tigris. Erfahrene oder auch tollkühne Paddler riskieren Ostsee-Touren, Überfahrten nach Helgoland, Überquerungen des Ärmelkanals, Atlantik-Trips oder Wildwasserfahrten auf reißenden Gebirgsbächen.

Schon der Rhein ist für Anfänger zu schwierig. Novizen sollten ihr Können deshalb erst einmal auf Kanälen erproben. Da gibt es gerade auch im Ruhrgebiet so manche taugliche Strecke. Die gemütlichere Variante der Kanufahrt wird auf dem Museumsfaltblatt „binsenbummelnd“ genannt. Man kann sich was drunter vorstellen.

Alles nur reine Nostalgie? Nicht unbedingt. In letzter Zeit zeichnet sich sogar – etwas hochtrabend gesagt – eine „Renaissance“ ab, die sich ökologisch begründen ließe, aber auch mit weltweiter Mobilität zu tun hat. Man kann solche Boote nämlich per Rucksack auf Fernreisen mitnehmen und dann etwa in Kanada, Alaska oder auch Asien zu Wasser lassen.

Auch die Eskimos haben gehörigen Anteil an diesem Bootswesen. Zum einen stammt das Wort Kajak nicht von ungefähr aus ihrer Sprache, zum anderen gibt es jene furiose „Eskimo-Rolle“ (seitwärts kopfüber kentern und auf der anderen Seite wieder hochkommen), die man vielleicht trainiert haben sollte, bevor man sich auf heiklere Strecken traut.

Das vorgeschriebene Mindestalter für (allein paddelnde) Kanuten ist übrigens 14 Jahre. Und noch eine Bestimmung: Jedes Boot muss einen deutlich sichtbaren Namen haben. Besagte Firma Klepper lieferte zeitweise sogar Sekt in Piccolo-Fläschchen zur Bootstaufe gleich mit dazu.

„Fahr fröhlich in die weite Welt…“ Zur Geschichte des Faltboots. Ausstellung des Emschertal-Museums Herne im Schloss Strünkede (Karl-Brandt-Weg 5). Bis zum 4. Oktober 2009. Geöffnet Di-Fr 10-13 und 14-17 Uhr, Sa 14-17 Uhr, So 11-17 Uhr. Eintritt: Erwachsene 1 Euro, Kinder 0,50 Euro. Tel. Museum 02323/16-1072.




Denis de Rougemont: Ein Buch für Krisenzeiten

So kann’s einem manchmal mit Büchern ergehen: Da wurde vor Jahr und Tag (über 15 Jahre her?) im Radio eine literarische Lesung gesendet. Man ist buchstäblich hellhörig geworden. Dieser Tonfall, diese elegante Gedanken-Bewegung! Diese wunderbare Mischung aus Ernst und Leichtigkeit. Man hat sich eine Notiz gemacht: Das solltest du bald mal lesen. Aus bald wurde in diesem Falle „irgendwann“ und dann nahezu nie. Für lange Zeit. Man hat die Anregung schmählich vergessen, die Notiz irgendwo vergraben. Anderes hat sich vor- und aufgedrängt. Punktum.

Aber es soll wohl so sein, dass man das Buch doch noch – zum zweiten Male – „entdeckt“. Eines rechtzeitigen Tages taucht der Zettel aus chaotischen Untiefen wieder auf. War es ein Erinnerungsblitz? Egal. Man nimmt es als Wink der Vorsehung. Wofür? Auch das wird sich finden.

„Natürlich“ war besagtes Buch inzwischen längst vergriffen. Sehr betrüblich. Hätte man einen Verlag, so würde man es liebend gern neu herausbringen. Wer macht’s? Zum Glück gibt es immerhin Antiquariate und deren hilfreichen Online-Verbund unter http://www.zvab.de

Auf diesem Wege ist auch dieser schmale Band (208 Seiten) hin und wieder noch erhältlich: Denis de Rougemonts „Tagebuch eines arbeitslosen Intellektuellen“, 1937 auf Französisch herausgebracht (Originaltitel „Journal d’un intellectuel au chômage“ – französische Sprachfeinheit: Manchmal heißt es auch „en chômage“) und zuletzt 1991 auf Deutsch im Kleinverlag Anton Hain (Meisenheim/Frankfurt) erschienen.

Es ist ein eigenwilliges, selbstdenkerisches, klarsichtiges und trotz allem sanftmütiges Buch, mit kaum verwechselbarer geistig-seelischer Tönung. Der gebürtige Schweizer Denis de Rougemont (1906-1985) entfernte sich damals notgedrungen von der aufgeregten und sündhaft teuren Metropole Paris, lebte mit seiner Gefährtin höchst bescheiden auf einer entlegenen Insel (Île de Ré) und sodann in ländlicher Festlandsprovinz (Cevennen-Dorf). Dieser fast schon klösterliche Rückzug geht einher mit einer inneren Distanz zum zentralistisch organisierten Literaturbetrieb – und mit einer persönlichen Neubesinnung.

Die meist dürftige Auftragslage des Schreibenden (genauer: Schreiben-Müssenden) erweist sich als harte Schule: Der Zwang, mit dem Nötigsten auszukommen, bringt hier jedoch keine Verwahrlosung mit sich, sondern riecht verdammt nach Glück. Kaum zu glauben und doch glaubhaft. Ganz ohne jeden Zynismus. Und ohne naive Schwärmerei vom einfachen Leben. Schon das macht dieses Buch zum stillen Ereignis, zu einem Vademecum gerade auch für Krisenzeiten. Zitat: „Vielleicht ist das die Ursache des Glücks in unserem Leben: Seinen natürlichen Rhythmus finden, und die Mittel daraufhin einschränken.“

Denis de Rougemont will nicht etwa, dass man schicksalsergeben ärmlich vegetiert, sondern plädiert dafür, „jedem Menschen, wer er auch sei, das ,Existenzminimum’ zu sichern, das ihm erlaubt, seinen Fähigkeiten zu folgen.“ Plausibel klingt bei ihm auch der Gedanke, dass (Zitat) „man mit sehr wenig auskommen kann, ohne aufzuhören, aus dem vollen zu leben.“ Die eigentliche Misere liegt nach seiner Auffassung hierin: „Wenn alle Geheimnisse verraten, geleugnet, verhöhnt sind, bleiben nur noch die Routine und die Streitereien ums Geld.“

Ungemein spannend zu lesen ist zudem die kritische Selbstbefragung des Autors in seinem Verhältnis zum „einfachen Volk“. Er hielt sich seinerzeit auch mit abendlichen Vorträgen zu Politik und Gesellschaft über Wasser und fürchtete, als Intellektueller mit seinen Begriffen und seiner ganzen Denkweise nicht verstanden zu werden. Er begibt sich auf die Suche nach einer unabweisbaren Nützlichkeit der Schrift und nach neuen Formen der Brüderlichkeit, die möglichst auch Klassenschranken überwinden sollen. Eine humane Grundannahme: Die Wahrheit ist konkret und verwirklicht sich stets in der Begegnung zwischen bestimmten Menschen.

Daraus ergeben sich dringliche Fragestellungen, über die man (so lässt der Autor durchblicken) im auf Neuheiten töricht versessenen Paris nonchalant oder auch aufgekratzt hinweggehe. Das marxistische Vokabular jedenfalls, findet Denis de Rougemont, sei als Instrumentarium nur sehr bedingt tauglich, es dringe überhaupt nicht „nach unten“ durch und verzerre die wahren Verhältnisse. Wie gesagt: Wir befinden uns in den 30er Jahren. Was man schon damals hat wissen können, wenn man hat wissen wollen…

Kein geringes Problembündel fürwahr, denn welchen Sinn und Zweck hat der ganze schöne Intellekt, wenn er sich nicht in der Breite auswirken kann? Wenn seine Resultate überwiegend auf Gleichgültigkeit treffen? Gewiss kein Zufall, dass das Buch ausgerechnet 1968 bei Gallimard in Paris erneut herausgegeben wurde. Und heute? Solche Fragen schlummern – unter veränderten Vorzeichen – immer noch, auch wenn sie nicht täglich zu Markte getragen werden.

Hier noch drei prägnante Zitatstellen, verbunden mit einer nachdrücklichen Empfehlung:

„Denn es ist auch ein Trost, sich vor einen inneren Zusammenbruch gestellt zu sehen und ihn überwinden zu müssen. Es gibt Tage, wo man viel darum gäbe, wenn man einen guten Grund zum Verzweifeln hätte, einen tauglichen, gebieterischen Grund…Vor dieser Versuchung, zu verzweifeln, könnte uns dann eine einzige Tugend retten, die Demut. Bin ich nicht wichtig, so wird die Welt größer.“

„Ich bin überzeugt, dass die wahre Lösung, die praktische Lösung der Krisenpsychose, die den Nerven des Bürgertums so schwer zusetzt, nirgends anders zu finden ist als im ‚Geist der Armut’… Der Geist der Armut ist ohne Zweifel nur jenen gegeben, die an etwas anderes glauben als ausschließlich an ihr Leben, ihren Erfolg, ihre Bequemlichkeit, ihren Rang usw., oder selbst an ihren geistigen Wert.“

„Dies ist vielleicht die große Veränderung, die die Schwelle zur Reife kennzeichnet: der Moment, da man entdeckt, dass die Welt keine andere Antwort bereithält als die, die man den Mut hat ihr zu geben.“

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INFO:

Der in Couvet bei Neuchâtel geborene schweizerische Pastorensohn Denis de Rougemont stellte sich in die geistesgeschichtliche Tradition von Sören Kierkegaard und Karl Barth. Er kann – grob gesagt – als eher konservativer Antifaschist (aus christlicher Haltung heraus) sowie als früher, entschiedener Verfechter des europäischen Gedankens bezeichnet werden. Überdies gilt er als Vordenker ökologischer Bewegungen. Bürgerbeteiligung und Selbstverwaltung sollten nach seinem Dafürhalten die Machtkonzentration in Politik und Wirtschaft einschränken.

Weitere Schriften (Auswahl):

„Penser avec les mains“ (Mit den Händen denken)
„Der Anteil des Teufels“ (Orig. „La part du diable“, dt. bei Matthes & Seitz, Berlin, 1999)
„Die Liebe und das Abendland“ (Orig. „L’amour et l’Occident“ / noch greifbar)

„Die Zukunft ist unsere Sache“ (dt. bei Klett-Cotta, 1980)

Übrigens: Sein allererster Artikel von 1923 handelte vom Schriftsteller Henry de Montherlant und der „Moral des Fußballs“. Wahrhaftig ein vielseitiger Denker.




Was wird aus den Kirchenbauten?

Im Behördendeutsch spricht man staubtrocken von „Umnutzung“, doch die Sache lässt einen womöglich nicht kalt. Denkmalschützern ist das Phänomen schon länger vertraut. Jetzt interessieren sich auch Volkskundler dafür. Wir reden von Kirchenbauten, die eines Tages (zwangsläufig) anderen Zwecken dienen. Hauptgrund sind Finanzprobleme der christlichen Kirchen, die bekanntlich immer weniger Steuern einnehmen.

Selbst aufgegebene, leer stehende Kirchengebäude müssen weiter kostspielig beheizt werden, sonst würden sie rasch verfallen. Also verpachtet oder verkauft man sie. Am liebsten für karitative oder kulturelle Zwecke, doch das gelingt nicht immer lupenrein. Allerdings sind Umwandlungen zu Supermärkten (wie in Holland vielfach geschehen) bei uns bislang nicht vorgekommen. Bemerkenswert: Man redet nicht laut darüber, doch auch Umwidmungen zu Moscheen werden von Seiten der christlichen Kirchen kategorisch abgelehnt.

Einige Beispiele für Umwandlungen in Nordrhein-Westfalen:

– In Soest wurde eine ehemalige Kirche zum Maleratelier.

– In Borken (Münsterland) zog eine Kunstgalerie in die einstigen Sakralräume.

– In Münster nutzt ein Verlag die Bonifatiuskirche.

– In Bielefeld wurde die Paul-Gerhardt-Kirche in eine Synagoge umgewandelt.

– Ebenfalls in Bielefeld ist aus der früheren Martini-Kirche Ende 2005 das Restaurant namens „Glück und Seligkeit“ hervorgegangen. Hier gab’s auch schon mal Party mit Go-Go-Girls.

– In Marl wird eine Kirche nun als Urnen-Begräbnisstätte verwendet.

– In Langenberg bezieht bald eine Familie eine umgebaute Kirche als 220 Quadratmeter große Privatwohnung. Ein Zaun markiert die neuen Besitzverhältnisse. Das Gotteshaus wurde 1968 im nüchternen Betonstil mit frei stehendem Turm errichtet. Bald wird ein Bett dort stehen, wo sich früher der Altar erhob. Eine Vorstellung, an die man sich erst gewöhnen muss.

– In Gladbeck hielt ein Elektrogeschäft in St. Pius Einzug, heute dient das Gebäude vorwiegend als Lager der Firma. Klingt sehr profan. Die Alternative wäre freilich ein Totalabriss gewesen.

Es ließen sich dutzendfach weitere Beispiele anführen. Vor allem ältere Menschen vermissen bisherige Begegnungsstätten. Ja, selbst Nicht(mehr)gläubigen fehlt vielleicht auf einmal der vertraute Mittelpunkt des Orts(teils) in seiner bisherigen Funktion. Nur Nostalgie oder eine tiefere Sehnsucht nach Zusammenhalt?

Aber es gibt auch Leute, die heilfroh sind, wenn sonntags die Glocken nicht mehr läuten. Wieder anderen ist die Sache komplett egal. Und da sind jene, die sich mit der neuen Sachlage anfreunden oder zumindest abfinden wollen. So meinte ein praktizierender Christ bei der besagten Bielefelder Party, auch hier werde eben Gemeinschaft gelebt – fast wie einst in der Kirche. Fast.

Eine Umwandlung ruft vor allem in der jeweiligen Anfangsphase Emotionen hervor, wenn Einzelheiten noch unklar sind. Genau hier setzt das Forschungsprojekt des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) an. Die Volkskundliche Kommission für Westfalen (so etwas gibt’s) möchte beispielhaft einige akute Umwandlungs-Prozesse begleiten – mit ausgiebigen Interviews, Fragebögen, Fotos und Filmaufnahmen. Auf der Internetseite

http://www.volkskunde-westfalen.de

befindet sich außerdem ein Gästebuch für Anregungen und Kritik.

In rund zwei Jahren sollen aus all dem ein gedrucktes Buch, ein Film und ein Internet-Auftritt hervorgehen, die vielleicht nicht nur Verluste dokumentieren, sondern auch Neuaufbrüche. Eine solche Untersuchung ist bislang bundesweit einzigartig.

Projektleiterin Katrin Bauer trifft seit kurzem die Vorbereitungen. Auf ihrer Liste stehen bereits die katholische Kirche St. Michael in Gelsenkirchen-Hassel und die evangelische Friedenskirche in Altena, die künftig zu einem Kongresszentrum gehören soll. Zwei weitere, kurz vor der Umwandlung stehende Kirchen sollen noch in die Studie einbezogen werden. „Sachdienliche Hinweise“ sind den Volkskundlern allemal willkommen.

 

Foto (Bernd Berke): Blick ins Bielefelder Restaurant „Glück und Seligkeit“, das bis 2005 eine Kirche gewesen ist.




Kunst 1968: Alles auf Anfang

Zu „1968“ ist nun wahrlich so manches gesagt und gezeigt worden. Da fällt einem kaum noch etwas ein. Die meisten Restbestände vom Dachboden der Zeitgeschichte dürften zum 40. Jahrestag anno 2008 auf den Tisch des Hauses gekommen sein. Oder etwa nicht? *** (siehe Fußnote). Man glaubte jedenfalls, über die damalige Rebellion in groben Zügen einigermaßen Bescheid zu wissen.

Umso mehr verwundert nun der Ansatz der Bielefelder Kunsthalle. Dort steht die Kunst des Jahres 1968 unterm Leitwort „Unschuld“. Ja, das Motto lautet sogar „Die Große Unschuld“. Während andere Museen die politischen Aspekte von 1968 rauf und runter buchstabiert haben, steht Bielefeld mit dem ästhetischen Zugang ziemlich einzig da.

Nanu? Unschuld? Auf diesen vermeintlich Harmlosigkeit aufrufenden Begriff ist man nicht gerade gefasst, wenn man an jene Zeiten zurückdenkt. Doch beim Rundgang durch die Bielefelder Schau leuchtet die Perspektive so manches Mal ein. Um den geronnenen Klischeesatz gleich zu verwenden: So viel Anfang wie damals war selten. Sinnbildlich für weite Teile der Auswahl könnte der leere Globus des bei uns weitgehend unbekannten Slowaken Július Koller stehen: Da nimmt der innige Wunsch nach tabula rasa (reiner Tisch), nach völligem Neubeginn Gestalt an. Alles auf Anfang.

Allseits offen und frei gab sich sich seinerzeit die Kunst, gaben sich auch zahlreiche Künstler im Dasein. Gar vieles schien möglich zu sein. Kaum etwas, was nicht zum Experiment, zur Umschöpfung und gründlichen Umdeutung anregte. Diese wunderbare, vielfach zukunftsfrohe Vitalität des Veränderungswillens mutet im historischen Rückspiegel nicht nur unschuldig an, sondern gelegentlich auch ein wenig unbedarft und nahezu naiv. Aber man gäbe reichlich was drum, wenn wenigstens ein Hauch dieser Stimmung durch unsere Gegenwart wehen könnte.

Die Kunsthalle hat sich ein immenses Pensum aufgeladen, das beinahe ihre Dimensionen und Möglichkeiten sprengt. 350 Arbeiten von 150 Künstlern sind zu sehen. Nicht nur alle Etagen des Hauses werden (zuweilen dicht an dicht) „bespielt“, sondern die Flut der Exponate ist hie und da bis an den Rand der Treppenhäuser, in die Flure und ins Kellergeschoss geschwappt.

In dieser Fülle und aus dem gehörigen zeitlichen Abstand zu 1968 wird man einiges gewahr. So etwa auch die Leidenschaft des Zeitgeistes für allerlei aufblasbare Hüllen – von Christos berühmter Riesen-„Wurst“ auf der documenta bis zu Hans Holleins durchsichtigem, aufblasbarem „Büro“, das zugleich auf die schier grenzenlose Mobilität der Lebens- und Denkweisen und auf die Lust an der Transparenz verweist. Solche „Architektur aus Luft“ war gewissermaßen ein Prägezeichen der geschichtlichen Stunde. Gleich daneben vermittelt ein Flugzeugmodelle von Panamarenko das freudige Vorgefühl fürs Abheben.

Ausstellungs-Kurator Roman Grabner geht in der Interpretation noch weiter – und dabei zum Ursprung zurück. Er macht in den Kunst-Hüllen von und um 1968 imaginäre Gebärmütter aus, von denen sich die Menschen wohlig warm umhüllt fühlen konnten – auch ein Schutz gegen grellen Konsumterror, anschwellende Gewalt und (Vietnam)-Krieg? So betrachtet, gewinnt das Wort „Unschuld“ nochmals eine andere Qualität.

Doch natürlich lässt sich die vielfältige Kunst nicht so ohne weiteres auf wenige Begriffe bringen. Das ist auch gar nicht das Ziel dieser keineswegs eindimensionalen Ausstellung. Sie rekonstruiert Partikel eines Zeitklimas und eines Energiestromes, der zumindest in Rinnsalen bis heute fließt. Und es drängt sich der Eindruck auf: Alles, was wir heute als Kunst akzeptieren, hat damals einen Neuanfang genommen.

Viele Protagonisten der Zeit waren allerdings ausgesprochene Sonderlinge und Einzelgänger, die jeweils ureigenes Neuland betraten. Zahlreich also die „Positionen“, deren Hervorbringungen den Betrachter in wahre Wechselbäder tauchen und die sich nicht einfach gesellschaftlich „verrechnen“ lassen.

Einige Beispiele: Der noch junge Sigmar Polke drehte das bis dahin gängige Kunstvokabular durch den Wolf – stets in dem Sinne, nichts „Höheres“ mehr gelten zu lassen. Umgekehrt erlangten bei ihm rüde Schimpfwörter (auf einer Art Bildteppich versammelt) „Museumswürde“, die freilich zugleich wieder grundsätzlich dementiert wurde. Eine windungsreiche Kunst gegen jede hierarchische Ordnung.

Die Wiener Aktionisten (Otto Muehl, Hermann Nitsch, Günter Brus) ergingen sich derweil in rituellen Orgien mit Blut, Urin, Kot und Sperma. Der zur rigorosen Askese neigende Brus riskierte bei Performances des öfeteren seine physische Unversehrtheit.

Die Anfänge der avancierten Lichtkunst (Dan Flavin) kommen ebenso in Betracht wie die Entgrenzungen der Body Art und der Land Art, die letztlich ins Unendliche zielte und von der im Museum nur vage Spuren gezeigt werden können. Die fast vollkommene formale Zurückhaltung der Minimal Art wird hier – gerade im Kontrast zu aufgeregteren Spielarten – als Quell erhabener Ruhe erfahrbar. Die Arte povera (mit „armen“ Materialien geschaffen) spendet weitere, nochmals anders gelagerte Energien, etwa mit den (Uterus-förmigen!) Iglus des Mario Merz. Und die feministisch oder matriarchalisch inspirierte Kunst beispielsweise der grandiosen Louise Bourgeouis lässt auch die Frage nach einer etwaigen „spezifisch weiblichen“ Ästhetik aufkommen. Schwieriges Gelände.

Ebenso plakativ vordergründig wie abgründig wirkt der „Auftritt“ des Andy Warhol mit einem Motiv von 1963, das er just 1968 erneut aufgriff. Er stellte einen Elektrischen Stuhl auf die Bildbühne und „porträtierte“ das furchtbare Möbel in schillernd wechselnder Farbgebung. Ob dies irgend eine Kritik an Hinrichtungen bedeutet oder nur das Spiel mit visuellen Werten, ist ganz und gar nicht gewiss. Explizit „politische“ Kunst (z.B. Edward Kienholz) wird in Bielefeld eher in Nischen gezeigt. Der brachiale Einbruch des Vietnam-Krieges in spießige US-Wohnzimmer ist dabei ein Standardthema.

Auch gegenläufige Richtungen, an die man bei der Stichzahl „1968“ nicht sofort denkt, wurden just damals eingeschlagen und füllen das Maß in Bielefeld noch üppiger: In der DDR orientierte sich der frühe A. R. Penck (bürgerlich Ralf Winkler) an archaischen Signaturen der Höhlenmalerei. Georg Baselitz irritierte mit Hund- und Jagd-Bildern die linken Präferenzen, er wurde zunächst geflissentlich ignoriert. Noch heftiger am kritischen Zeitgeist zielte Anselm Kiefer vorbei, der sich vor diversen Hintergründen unverdrossen mit dem Hitlergruß zeigte. Um das Mindeste zu sagen: Eine ausgesprochen störrische, monströse Arbeit, die bis heute Rätsel aufgibt.

„1968. Die Große Unschuld“. Kunsthalle Bielefeld (Artur-Ladebeck-Straße 5). Bis 2. August. Geöffnet täglich 11-18 Uhr, Mi 11-21 Uhr, Sa 10-18 Uhr. Pfingsten (31. Mai/1. Juni) geöffnet). Eintritt 7 €, ermäßigt 2 bis 5 €, Familie 14€. Katalog (576 Seiten) im Museum 28 € (im Buchhandel 49,95 Euro). Internet: http://www.kunsthalle-bielefeld.de

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*** Die neueste Debatte (um den 2. Juni 1967, Kurras und die Stasi) lassen wie hier mal geflissentlich außen vor.




Gerhard Richter und seine Aura

Zunächst einmal ganz nüchtern, klipp und klar gesagt: Gerhard Richter stellt in der Duisburger Küppersmühle aus. Doch kann man so seine Begeisterung bändigen?

Diese Ausstellung hält, was der große Name verspricht. Da ohnehin kundige Kunstfreunde von nah und fern hierher pilgern werden, schenke ich mir mal eine „klassische Rezension“ mit den handelsüblichen Lobpreisungen.

Stattdessen dies: Bei der gestrigen Vorbesichtigung zeigte sich abermals das erstaunliche Phänomen einer inzwischen weitgehend fraglosen Richter-Verehrung, der man sich selbst nur schwer entziehen kann. Gestandene Journalisten und äußerst wählerische Kunstkritiker, die sonst schon mal gern die Nase rümpfen, werden da flugs zu gläubigen Jüngern. So mochte es auch gestern scheinen.

Jedes Wort aus dem Munde des Meisters wird da dankbar lächelnd als quasi-priesterliche Weisheit empfangen. Tatsächlich nehmen einen ja immer wieder seine völlig uneitle Art und sein leiser Humor für diesen Künstler ein. Doch das ist es nicht allein. Offenkundig umgibt ihn eine Aura aus weltweitem Erfolg mit nahezu religiösem Anhauch. Gerhard Richter – eine Art Dalai Lama der Kunstwelt? Einer, auf den sich alle freudig strahlend einigen können? Mh. Wer weiß. Er selbst würde es ungern hören.

Der Rundgang durch die Säle gerät in Richters Gefolge gleichwohl zur kunstfrommen Prozession. Wer immer da in der Gemeinde demutsvoll sinnend einher schreitet, muss dies vor sich selbst und seinen Kolleg(inn)en ein klein wenig ironisieren – aber bitte auch nicht zu sehr. Ein Redakteur fühlt sich an eine halbgöttliche Chefarztvisite bei den Bildern erinnert. Nicht ganz verkehrt. Nur dass Richter sich solche Rollen bestimmt nicht anmaßt. Sie werden ihm zugesprochen, zugemessen. Mal stillschweigend, mal marktschreierisch.

Ich bin schon eine lange Reihe von Jahren im berichtenden Gewerbe. Doch noch nie habe ich eine Kunst-Pressekonferenz erlebt, bei der die versammelte Kulturjournaille (ganz gleich, ob Text oder Bild) schließlich samt und sonders die Katalog-Exemplare signieren lassen wollte. Solch profanes Begehr gilt für gewöhnlich als fachfremd und naiv. Genug davon. Es gibt zu denken. Und natürlich schließe ich mich da selbst nicht aus.

Hier aber doch noch ein paar strohtrockene Fakten zur Ausstellung: Gerhard Richter hat seine Bilder in der Küppersmühle höchstselbst gehängt. Somit ist die von Götz Adriani konzipierte Schau mit ihren bezwingenden Raumfolgen vom Urheber mit Hingabe autorisiert worden. Und sie ist zur facettenreichen Retrospektive angewachsen, denn man sieht hier beispielhafte Gemälde aus allen Schaffensphasen seit 1963. Quellen sind drei große Privatsammlungen: Böckmann (Berlin), Frieder Burda (Baden-Baden) und Ströher (Darmstadt). Welches Museum bietet mehr?

Das Spektrum der rund 80 (teils großformatigen) Arbeiten reicht vom fotorealistischen Bild bis zur furios farbsprühenden Abstraktion. Laut Richter selbst gibt es da eh keinen substanziellen Unterschied, denn all das entstehe just aus Farb- und Form-Elementen. Was also mit gleichen Mitteln geschaffen wird, könne auch mit gleichem Sinn betrachtet werden. Gut denn. So sei es.

Gerhard Richter. Bilder aus privaten Sammlungen. Museum Küppersmühle, Duisburg, Philosophenweg 55 (Innenhafen). 21. Mai bis 23. August. Geöffnet Mi 14-18, Do 11-18 Uhr, Fr nach Vereinbarung, Sa/So/Feiertage 11-18 Uhr. Führungen sonntags 11 und 15 Uhr, Anmeldung Tel.: 0203/3019 4812. Katalog 24 €. Internet: http://www.museum-kueppersmuehle.de




Varusschlacht: Phantombild der Antike

Das ist nun mal wirklich ein „runder“ Gedenktag: Vor 2000 Jahren (also 9 n. Chr.) schlug der germanische Cheruskerfürst Arminius („Hermann“) den römischen Feldherrn Varus – irgendwo in den heute niedersächsischen oder westfälischen Gegenden rings um den Teutoburger Wald.

Das heißt: Es war selbstverständlich kein bloßer Zweikampf, sondern eine massenhafte Schlacht zwischen den jeweiligen Gefolgsleuten, vulgo Soldaten (die ja immer dran glauben müssen, wenn mächtige Herrschaften ihren Namen „für alle Zeit“ vergolden wollen). Womit der erforderlichen political correctness halbwegs Genüge getan wäre.

Unerhört für die damalige Weltmacht Rom: Gegen die vermeintlich wüsten „Barbaren“ aus dem Norden verlor man gleich drei Legionen – eine Schmach, die man südlich der Alpen und westlich des Rheins nicht wahrhaben wollte.

Jetzt soll ein schier unüberschaubarer Ausstellungsreigen gleich an drei Orten (Haltern am See, Detmold und Kalkriese) das historische Ereignis wachrufen, so gut es eben geht. Eine leitende These richtet sich gegen altgediente Klischees. Ganz knapp und knackig gefasst: Varus war beileibe kein Depp oder geborener „Loser“, und Arminius war zwar offenkundig listenreich (bis hinterhältig), doch keinesfalls ein makelloser Held nach Art eines „David gegen Goliath“.

Überhaupt zogen die Germanen gegen die überlegenen Römer immer wieder nur deshalb zu Felde, um schlichtweg Beute zu machen, um zu plündern und zu brandschatzen. Sie betrieben – wie man heute weiß – eine „Raub-Ökonomie“. Kein schmeichelhafter Zug der Altvorderen, fürwahr.

Haltern skizziert mit hochinteressanten Funden und sonstigen Schaustücken das ungeheure Anschwellen und Aufblühen des altrömischen Imperiums („vom Dorf zur Weltmetropole“) und behält dabei nach Möglichkeit stets die Biographie des Publius Quinctilius Varus (geboren 47 v. Chr.) im Blick. Dies kann allerdings – trotz aller Ausgrabungserfolge und Deutungsschläue – buchstäblich nur in Bruchstücken geschehen.

Die rund 300 aufwändig inszenierten Exponate in der gründlich umgebauten Seestadthalle (Seitenaspekte sind zudem im örtlichen Römermuseum zu finden) führen zurück in ein „Goldenes Zeitalter“ Roms unter dem Kaiser Augustus.

Varus war Augustus eng verbunden, er absolvierte damals eine fulminante Karriere im Römischen Reich, war 13 v. Chr. Konsul und begleitete Augustus auf heikler diplomatischer Mission (u. a. Verhandlungen mit den Parthern, die im heutigen Iran herrschten).

Münzfunde aus Nordafrika lassen zumindest vage auf Varus’ Physiognomie schließen. Populäre Weiterung: Daraus hat das Landeskriminalamt von NRW gar im Museumsauftrag ein Phantombild erstellt, das nun die Ausstellung ziert. Ganz so, als würde hierzulande noch nach Varus gefahndet.

Dieser Varus war zeitweise römischer Statthalter in Syrien. Als solcher regierte er auch ins angrenzende Judäa hinein, wo er Unruhen niederschlug, indem er ungefähr 2000 Aufständische kreuzigen ließ. Davon zeugt ein auf den ersten Blick unscheinbares Vitrinenobjekt. Es ist das Fragment eines Fersenbeins, durch das seinerzeit ein Nagel getrieben wurde. Aus all dem kann man wohl folgern: Varus war durchaus ein mehr als harter Widersacher, wenn es darauf ankam.

Noch so ein verräterisches Detail: Anhand der Inschrift auf einer Bleischeibe (die als eine Art persönlicher „Gepäckanhänger“ diente) konnten Experten nachweisen, dass Varus schon 15 v. Chr. im Alpen-Feldzug jene Legion kommandiert hatte, mit der er rund 20 Jahre später im Teutoburger Wald vernichtend geschlagen wurde.

Funde aus Haltern selbst wiederum bezeugen, dass die Legion 19 (Inschrift auf einem Bleibarren: L XIX) eben hier wenigstens teilweise stationiert war. Jedenfalls wurden auf der Lippe nachweislich auch Luxusgüter wie Wein und Austern zu den römischen Truppen geliefert. Weitere Fundstücke wecken neuerdings Spekulationen, dass Haltern das sagenumwobene Aliso gewesen sein könnte – die wohl letzte rechtsrheinische Bastion der Römer.

In Kalkriese stehen unter dem Schlagwort „Konflikt“ die eigentlichen militärischen Auseinandersetzungen im Brennpunkt, die sich mit Ausläufern bis etwa 16 n. Chr. hinzogen. Man scheut sich auch nicht, nebenher zur fassbaren Verdeutlichung ganze Legionen aus Playmobil-Figuren aufzubieten. Und man glaubt recht felsenfest, in Kalkriese inzwischen genügend Beweise gesammelt zu haben, um einigermaßen schlüssig zu belegen, dass die Varus-Schlacht just hier stattgefunden habe; ein altes Streitthema, das sich (etwa wegen heikler Datierungsfragen) immer noch nicht völlig erledigt hat.

In Detmold schließlich thematisiert man unter der Überschrift „Mythos“ die vielfältigen, nicht selten auch gefährlichen Phantasien, die aus der Schlacht hergeleitet worden sind. Schon der antike Autor Tacitus hatte ja die „deutschen Tugenden“ mutmaßlich zugespitzt und übertrieben, um die dekadenten Römer aufzurütteln.

Oft genug handelte es sich bei uns später um „Helden“-Verehrungen mit arg deutschnationaler („germanischer“) Schlagseite oder sogar mit faschistischer Prägung. So sieht man sich jetzt auch in Detmold veranlasst, den heutigen Frieden im vereinten Europa zu beschwören und gleichzeitig besondere Sicherheitsmaßnahmen gegen einen etwaigen Missbrauch der Schau zu ergreifen. Traurig genug, dass so etwas nötig zu sein scheint.

Viel lieber reden die Veranstalter des 12 Millionen Euro teuren Dreifach-„Events“ (Schirmherrin: Kanzlerin Angela Merkel, die morgen nach Detmold und Kalkriese zur Eröffnung kommen will) von den touristischen Vermarktungs-Chancen, die sich aus der geballten Kooperation ergeben. An allen Orten insgesamt rechnet man mit exorbitanten 500 000 Besuchern. Allein im doch recht kleinen Haltern kalkuliert man mit mindestens 150 000 Gästen. Damit geriete die Kapazität der Stadt an manchen Tagen an ihre Grenzen. Beinahe schon beängstigend: Schon jetzt sind weit über tausend Gruppenführungen vorgebucht.

Und um also auch diesen Kalauer des Anklangs noch schnell loszuwerden: Ein wahres Fieber, dieses Varus-Fieber.

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Daten und Fakten:

„Imperium – Konflikt – Mythos“. 2000 Jahre Varusschlacht.

Haltern, Seestadthalle (Lippspieker 25) und LWL-Römermuseum (Weseler Straße 100). 16. Mai bis 11. Oktober. Di-Fr 9-18 Uhr, Sa 10-20 Uhr, So 10-18 Uhr. Eintritt 9 € (ermäßigt 6 €).
Kombikarte für alle drei Ausstellungsorte 18 €. Dreibändiger Katalog, Museumsausgabe 59,90 €. Weitere Infos, Buchungen von Führungen: 02364/93 76-38 (Führung oder Audio-Führung unbedingt empfehlenswert).
Internet (auch mit Daten für Detmold und Kalkriese) http://www.imperium-konflikt-mythos.de




Enzensberger: Festlegen gilt nicht

Wenn man jemals gedacht haben sollte, jetzt wüsste man aber, worauf dieser Hans Magnus Enzensberger hinaus will, so war er meist schon wieder ein paar Schritte oder Windungen weiter.

Auch als älterer Mann ist er gedanklich noch wendiger als die allermeisten Jüngeren. Allein schon der Tonfall des mittlerweile 79-Jährigen klingt auch im neuen Gedichtband „Rebus“ freiweg – wie in seinen frühen und seinerzeit zornigen Aufbruchsjahren. Oder will man es etwa nur gerne so haben und hört es sich so zurecht?

Es schwingt da mittlerweile auch eine gereifte Gelassenheit mit, die die letzten Dinge längst ins Auge gefasst hat und den Tod kommen sieht. Revolte? Umsturz? Ach was! Obwohl es doch einst so schön war, die Utopie zu erträumen. Zitat aus dem abschließenden Gedicht „Coda“, das von fern her an Bert Brechts selbstkritisches Lebensfazit „An die Nachgeborenen“ gemahnt: „Daß nicht alles Mögliche möglich ist, / tut mir leid…“

Vielleicht noch ein leiser Anklang an Brecht, in diesem Falle an die „Fragen eines lesenden Arbeiters“. Enzensbergers Gedicht „Angewohnheiten“ hebt so an:

„Wie oft musste Plato sich schnäuzen, / der heilige Thomas von Aquin / seine Schuhe ausziehen, / Einstein sich die Zähne putzen, / Kafka das Licht ein- und ausschalten, / bevor sie zu dem kamen, / was ihnen aufgetragen war?“

Und was sagt uns das letztlich? Etwas sehr Bedenkenswertes: Dass nämlich der vermeintlich unbedeutende Alltagskram, den wir alle miteinander teilen („Kochen, Waschen, Treppensteigen“), in seiner ganz gewöhnlichen Friedlichkeit viel unentbehrlicher sei als all die großen Werke…

Das Titelwort „Rebus“ erinnert an jene kombinierten Buchstaben- und Bilderrätsel, die sich eben just „mit den Dingen“ (wörtliche Übersetzung aus dem Lateinischen) abgeben. Der Titelumschlag zeigt ein Lehrbuch-Bild aus der Hirnzellenforschung. Enzensberger hat oft Klage geführt gegen unsere grundsätzlich gespaltene Kultur: hie Geistes-, dort Naturwissenschaften, fast immer getrennt von einem Graben gegenseitigen Nichtverstehens. Seinen Gedichten ist gelegentlich zu entnehmen, dass er über solche Gräben hinwegsetzen will. Würde das Wort „ganzheitlich“ nicht so inflationär entwertet klingen, so wäre es hier angebracht.

Die Überschriften der Zyklen lauten wie knappe Befunde: „Gleichgewichtsstörung“, „Es gibt Probleme“, „Schwere Koffer“ (lastendes Gepäck der Erinnerung bis zurück in die Weltkriegszeit) und „Erste Person Plural“ (kollektive Erfahrungen in einer zwangsläufig diffusen „Wir“-Form). All diese durchaus noch unentschiedenen Bilanzen werden ausgesprochen lakonisch aufgesetzt. Unaufgeregt. Oft unterschwellig ironisch. Doch im Bewusstsein, dass da einiges ins krisenhafte Schlingern geraten ist – und dass der Mensch dem Verfall zu keiner Zeit entkommt. Das alte, natürlich nie erledigte Thema der Vergänglichkeit.

„Als ich zwanzig war, lange her / kam ich mir vor wie ein Toter, der keine Zukunft hat“, heißt es einmal weit rückblickend. Kaum ein prinzipieller Unterschied: Damals wie heute reicht, wenn man’s recht bedenkt, die halbwegs gesicherte Lebensperspektive im Grunde nur bis zum nächsten Tag. Man übersteht und überlebt, bis auf weiteres. Allem westlichen Luxus und allen momentanen Glücksgefühlen zum Trotz: „Auch das blühende Leben ist rutschig.“ Und selbstverständlich hat dieser Autor den Vorwurf des Jammerns auf hohem Niveau („Der hat gut reden“) stets schon klug mitbedacht.

Hinter jeder Zeilenbiegung kann hier eine kleine oder größere Überraschung lauern, hier gilt keine Festlegung, hier herrschen allemal schwer lösliche Widersprüche. Enzensberger ist eben nie so recht zu fassen. Nur ganz selten stört ein wenig seine Marotte des Aufzählens, diesmal z. B. auf Seite 85, im Gedicht „Bringschulden“. Da erfährt man nahezu komplett, was der Mensch „bringen“ kann – vom Opfer bis zum Ständchen…

Doch ein solcher Einwand ist läppisch im Vergleich zum reichlichen Gewinn, den man sich hier erlesen kann. Weitläufig sind die Felder, die in den kurzen Gedichten (gleichwohl ohne Eile) durchmessen werden, groß ist die Zeiten- und Themenfülle dieser Inventur zwischen Physis, Psyche und Gesellschaft. Nur zum Beispiel die Feier der vitalen Vielfalt, über alles nicht zu leugnende Elend hinaus: Diese immer noch wirksame Sinnlichkeit unserer wechselnden Jahreszeiten (ach, auch in dieser Hinsicht verwöhntes Europa!), sogar die wundersame Lebendigkeit der babylonischen Sprachverwirrung: „…sagen am Ende nicht / fünftausend Sprachen mehr als die eine?“

Und weiter, weiter, angetrieben von Ungewissheit (nur Scheitern und Niederlage seien gewiss): Der lebenslängliche Konflikt zwischen der Chemie in grauer Hirnmasse und dem widerspenstigem „Ich“, welches doch so schwammig zu sein scheint: „Je mehr du herumbohrst / in diesem Sumpf, / desto sinnloser.“ Das bedrohliche, womöglich aber auch beruhigende Nichts. Der flüchtige, jedoch erregende Augenblick: „Alles, was du spürst, ist gleich gültig. Das bloße Leben, bis in den kleinen Zeh.“ – Man beachte: „Gleich gültig“ statt „gleichgültig“, welch ein fundamentaler Unterschied!

Das Leben pulst und zittert also Tag für Tag fort und fort. Hingegen werden die großen, abstrakten Systeme und Behauptungen mit der Zeit relativiert. Vermeintlich felsenfester Glaube und Unglaube, Staatswesen („Leviathan“), angeblich weltbedeutende Werke. Ganz zu schweigen von den Torheiten neuester technischer Moden und der grassierenden, sinnleeren Betriebsamkeit…

Am besten, man begibt sich nicht in die Hauptströmung, sondern ergeht sich „dazwischen“ als jemand, der ruhig in eigenem Fahrwasser paddelt und aus der Distanz etwa dies amüsiert und befremdet wahrnimmt: „Alles, was wichtig ist, / zieht am Ufer vorbei – / Oberlandesgerichte, Tankstellen, / Mehrzweckhallen.“

Hans Magnus Enzensberger: „Rebus“. Gedichte. Suhrkamp Verlag. 120 Seiten, 19,80 €.




Andere Luft, anderes Licht

Unter dem schlichten Titel „Auf Reisen“ versammelt Matthias Zschokke (geboren 1954 in Bern, seit 25 Jahren vorwiegend in Berlin wohnend) Skizzen aus wechselnden Gegenden. Das Buch firmiert als „Erzählung“, als bestehe es aus Erfundenem. Dabei handelt es doch von unterwegs Vorgefundenem. Von anderer Luft, anderem Licht, anderem Sein.

Fast schon erheiternder namentlicher Anklang: Ein besonderer Schwerpunkt des im Zürcher Ammann-Verlag erschienenen Buches sind Impressionen aus Amman (Jordanien). Zschokke schildert (jenseits aller politischen Konflikte) diese stets auf Würde bedachte Kultur als immense Bereicherung. Allein schon die althergebrachten Rituale öffentlichen Rauchens könnten Lockung genug sein. Auch verstreiche die Zeit in jenen Breiten ganz anders als bei uns. Gerade fürs unendlich gelassene Dahindämmern an den Rändern zu einer vollkommenen Stille hat Zschokke ein empfängliches Sensorium.

Die orientalischen Aufenthalte gipfeln in einem Zitat mit Goldrand: „Jeder Europäer sollte dringend dann und wann nach Arabien, um sich daran zu erinnern, wie Menschen miteinander umgehen können, wenn sie nur wollen.“ Wir lassen das mal so stehen. Freimütig gesteht der Autor, Schattenseiten auszublenden, denn: „An Schlechtes zu denken tötet das Vergnügen und verdirbt die Laune.“

Jeder aufgesuchte Ort erhält hier – mitunter in wenigen Absätzen – sein spezifisches Gewicht. Man spürt in manchen Passagen, was eine Stadt tatsächlich unterscheidet, im besten Falle einzigartig macht. Die etwas mutwillig erscheinende Abfolge im Buch sorgt zuweilen für Wirrnis, dann aber auch für erhellende Kontraste. Gerade eben noch ist man in Berlin aufgebrochen, dann flugs im beschaulichen Baden-Baden gewesen, schon findet man sich in Budapest mit seiner unnachahmlichen Patina, seinem abgeblätterten Charme wieder.

Hier wie dort sucht der allzeit (auch gastronomisch) genussgeneigte Autor die Stätten traditioneller, reich entfalteter Badekultur auf. Sein spezielles Vergnügen. Auch in Porto (seltsam melancholisch), Rotterdam (eher langweilig) oder im Elsaß (entgegen dem Ruf: vielfach mieses Essen) macht er Station. Bei Abstechern in Gegenden der heimischen, doch gelegentlich sehr fremdartigen Schweiz (Zürich, Genf, Ascona, Chur, Hasliberg) sucht sich Zschokke offenbar seiner Herkunft zu versichern. Schließlich gibt es ein paar passende Exkurse ins Land der eigenen Kindheit, dessen geheimnisvolle „Geographie“ ja jeder späteren Reise zugrunde liegt.

Die meisten Episoden und Einsprengsel betreffen freilich Zschokkes Erfahrungen in New York, wo er eine Zeit lang gelebt hat. Dieses Inbild einer Metropole erhält hier etwas vom alten Glanz zurück. Die Stadt erscheint als weltweit wandelbarster, immer noch sturzvitaler Schauplatz andernorts ungeahnter Konzentrate, kühnster Lebensentwürfe. Wo, wenn nicht hier? Nirgendwo mehr Gegenwart, mehr Möglichkeiten, mehr Toleranz. Im Vergleich kommt ihm Berlin grau, still und fast menschenleer vor. Zschokke scheint sich da hart am Rande altbekannter Klischees zu bewegen, und doch kommt einem frisch und lebendig vor, was er gleichsam atemlos zu berichten hat.

Übrigens plädiert der Autor keineswegs für „exklusive“, exotische Ziele, sondern gerade für viel besuchte Stätten. Aus albernem Abgrenzungs-Bedürfnis heraus versäume man sonst viel. Zitat: „Wir umfahren Venedig, meiden die Pyramiden, wenden uns ab vom Schloß Neuschwanstein, um dafür Livorno, Ouagadougou und Schloß Thun aufzusuchen.“

In diesem Buch kann man mancherlei anregende Lebenswürze nachschmecken. Es könnte Gelüste wecken, wieder einmal ausgiebig unterwegs zu sein. Woher und wohin auch immer.

Matthias Zschokke: „Auf Reisen“. Ammann Verlag, Zürich. 235 Seiten. 19,90 €.




Modigliani in Bonn: Der Mensch ohne Beiwerk

Allein schon die Augen ! Wie Amedeo Modigliani (1884-1920) die Fenster zur Psyche gemalt hat, das ist einfach phänomenal. Mitunter lässt er die Höhlen ganz leer oder verleiht ihnen einen unbestimmbaren, pupillenlosen Schimmer. Und dennoch scheinen diese Gesichter den Betrachter aus großer Tiefe innig anzublicken. Ein Rätsel, ganz so wie die Menschenseele.

Bonns Bundeskunsthalle bietet jetzt eine furiose Werkschau des Italieners, der nur 35 Jahre alt wurde und in seiner kurzen Hauptschaffenszeit ab etwa 1909 ein Werk von bleibender Weltbedeutung hervorgebracht hat. Man kann natürlich nur darüber spekulieren, ob er seinen frühen Tod vorhergesehen hat. Darf sein Werk als „abgeschlossen“ gelten – oder hätte es sich noch ganz anders entwickeln können, vielleicht sogar im Sinne einer Verwässerung? Gleichviel.

Eine solche Modigliani-Retrospektive hat es in Deutschland lange nicht gegeben. 1991 stellte Werner Schmalenbach eine solche Rückschau in der Düsseldorfer Kunstsammlung NRW zusammen. Jetzt zeichnet eine andere Legende des Museumsbetriebs verantwortlich: Christoph Vitali hat (gemeinsam mit Susanne Kleine) wohl das Maximum dessen zusammengetragen, was sich heute an einem Ort versammeln lässt. Rund 40 Gemälde und 70 Zeichnungen Modiglianis sind zu sehen. Die Schwierigkeiten haben schon bei der Recherche begonnen: Modiglianis Arbeiten finden sich nicht so sehr in den großen Museen, sondern vielfach in entlegenen Privatsammlungen. Außerdem kursieren recht viele Fälschungen, so dass strengstens geprüft und gesondert werden muss.

Modigliani ist verglüht wie nur je ein Rockstar. Doch man mag kaum glauben, dass sich seine Werke einem so rauschhaften Leben verdanken. Es finden sich in den Bildern keinerlei Spuren von jenen wüsten Alkohol- oder Drogenexzessen, für die Modigliani zu seiner Zeit ebenso berüchtigt war wie für sein wechselhaftes Liebesleben in der Bohème. Umso staunenswerter: Besonders im Rückgriff auf die Renaissance hat dieser Künstler schließlich zu einer „klassischen“, vielleicht allzeit gültigen Form der Schönheit gefunden.

Schier unendlich lange, oft sanft gedrehte Halslinien, zerbrechlich schmale Kinnpartien und eben jene tiefen Blicke, so sehen die legendären Gesichter um 1917 aus. Es sind wahrhaftige Ikonen von großer Stille und Reinheit. Beispiellos erscheint die psychologische Durchdringung verschwiegenen Leids und namenloser Sehnsüchte. Grandios etwa auch die subtile Charakterisierung der exzentrischen britischen Kolumnistin Beatrice Hastings (Porträt von 1915), mit der Modigliani eine zweijährige, äußerst bewegte Liebesbeziehung verband. Wie hohlwangig sie hier die Luft einzusaugen scheint! Ganz so, als wolle sie mit spitzem Mund die gierig inhalierte Welt gleich wieder ausspeien. Von einer ganz anders beschaffenen Liebe künden die verklärenden Porträts der Jeanne Hébuterne. Sie lassen gar etwas von der Heiligkeit des Eros verspüren.

Überhaupt tritt der Mensch hier nicht als Gesellschaftswesen auf, sondern stets existenziell vereinzelt, befreit von allem Beiwerk. Ja, selbst ein Blumenmädchen wird just ohne alle Blumen dargestellt. Hinter diesen Porträts steht ein ziemlich ernsthaftes Spiel des Verbergens und Enthüllens. Von Leichtigkeit kann keine Rede sein. Eher schon kann man sich den Malprozess als seelisches Ringen zwischen Künstler und Modell vorstellen.

Vor allem anderen hat sich Modigliani – geradezu besessen – immer wieder aufs Menschenbild konzentriert, zuallermeist aufs Frauenporträt, dem er ungemein viele Nuancen abgewonnen hat. Einige delikate Akte kommen hinzu, aber es gibt so gut wie keine Landschafts-Darstellungen von seiner Hand. Was einen sogleich für Modigliani einnimmt: Er hat sich, fern von allen damals herrschenden Richtungen (Kubismus, Futurismus usw.), einen ganz eigenen Weg gebahnt – und das, obwohl seinerzeit in Paris der übermächtige Genius Picasso die Szene dominiert hat.

Natürlich gibt es allerlei Ähnlichkeiten zwischen den zahlreichen Porträts. Der typische Modigliani-Stil ist unverkennbar, sozusagen längst Poster-tauglich und mit einigem Geschick wohl leichter nachzuahmen als andere „Handschriften“. Doch die chronologisch, nach Lebensphasen geordnete Bonner Schau lässt Entwicklungslinien ahnen und schärft den Blick auch für kleinere, sonst kaum beachtete Differenzen. Hilfreich dabei: Etliche markante Zitate von Zeitgenossen prangen an den Wänden und geben Anstöße zum noch genaueren Hinsehen.

Sehr empfehlenswert ist übrigens auch der bei DuMont erschienene Katalog. Er enthält nicht nur die üblichen Expertenaufsätze und Reproduktionen, sondern drei hochliterarische, überaus lesenswerte Texte zu Modigliani. Sie stammen von John Updike, John Berger und J. M. G. Le Clézio. Daraus darf man wohl folgern, dass gerade Modiglianis Leben und Schaffen auch erstrangige Schriftsteller inspiriert hat. So wirkt und wirkt die Kunst im besten Falle weiter.

Amedeo Modigliani. 17. April bis 30. August 2009. Bundeskunsthalle Bonn (Museumsmeile, Friedrich-Ebert-Allee 4). Geöffnet Di/Mi 10-21 Uhr, Do bis So 10-19 Uhr. Eintritt 8 €, ermäßigt 5 €. Katalog 39,95 €. Internet:

http://www.bundeskunsthalle.de




Markenzeichen: Letzter Bohemien

Markenzeichen müssen wohl sein: Er gilt als „letzter wahrer Bohemien” der Kunstgeschichte und hat sich als solcher wohl tatsächlich selbst inszeniert. Doch in Mick Davis‘ biographischem Filmdrama nimmt der Darsteller des Malers Amedeo Modigliani (1884-1920) derart viele Posen ein, dass er wie eine Karikatur aufs Künstlerleben wirkt.

Seine letzten Jahre auf Erden werden vor allem zugespitzt auf Duelle mit Pablo Picasso. Gleich der erste große Auftritt macht’s klar: Mit italienischer Grandezza tänzelt der aus Livorno stammende Modigliani (zunächst strahlender Frauenheld, jedoch mit starkem Hang zu Melancholie, Suff und Selbstzerstörung: Andy Garcia) ins pittoreske Künstlerlokal am Pariser Montmartre – und stiehlt Picasso die Schau, der dort mit seinen Bewunderern bechert. Ein maliziöses Wort gibt rasch das andere, und schon zieht der erzürnte Spanier die Pistole. Nur mit knapper Not lässt sich ein Blutbad zwischen den beiden Gockeln verhindern. Die geschniegelte Choreographie dieser Szenenfolge bewegt sich irgendwo zwischen Tango und Stierkampf. Ansonsten werden uns die Künstler als „verrücktes Völkchen” vorgeführt. Ob dies der Wahrheitsfindung dient?

Im Grundmuster ähnelt „Modigliani” einer jener unbedarften Highschool-Komödien, bei denen alles auf einen Rockband-Wettstreit hinausläuft. Hier muss halt ein historischer Wettbewerb unter Malern herhalten, für den sich – nach langem Zögern – endlich auch unsere beiden Streithähne anmelden. Außerdem am Start: Größen wie Maurice Utrillo, Chaim Soutine und Diego Rivera. Wow! Das riecht nach WM-Finale. Berühmte literarische Zaungäste finden sich ebenfalls dazu ein, auch sie allerdings filmisch von jeglichem Geist befreit: Jean Cocteau steht ratlos herum, Gertrude Stein ist die dralle Mutti eines wildgewordenen Kulturbetriebs.

Wahrhaftig wird dann die „Pinsel-Konkurrenz” (ach, nichts anderes ist es hier!) vom schottischen Regisseur wie ein Sportereignis inszeniert. In einer langen, heftig sich steigernden Sequenz sehen wir sie alle fieberhaft an ihren Leinwänden werkeln – bis sie erschöpft die „Ziellinie” erreichen. Da kommen einem auch die jeweiligen Gespielinnen fast wie Boxenluder vor.

Picasso (Omid Djalili) jedenfalls erscheint als wohlhabender, saturierter Sack, der verarmte Modigliani hingegen wie ein Vorläufer jener Rockstars, die schnell lebten und jung starben. Den allerhöchsten Segen bekommt der Italiener vom greisen Impressionisten Auguste Renoir, der wie Gottvater persönlich aussieht und Modiglianis genialische Verrücktheit still verschmitzt zu würdigen weiß.

Keine Liebesgeschichte? Oh doch, natürlich! Modiglianis Muse Jeanne Hébuterne (madonnenhaft: Elsa Zylberstein), die er oftmals nackt und mit schier endlos langer Halslinie malte, hat sogar ein Kind von ihm und erwartet ein zweites. Doch ihr erzböser Vater stellt sich dem Glück entgegen und lässt das „Bastard”-Baby gar von der Fürsorge ins Heim stecken. Doch auch dieser Konfliktstrang wirkt grob geschnitzt und sorgt für weitere Genrebilder der gängigen Sorte.

Unmengen von Zigaretten, Alkohol, Koks und Opium werfen den seit seiner Kindheit lungenkranken Modigliani schließlich aufs Sterbebett. Seine letzten Worte lauten sinngemäß: „Schluss mit dem Wahnsinn.” Tags darauf stürzt sich seine Jeanne mitsamt Leibesfrucht in den Tod. Selbst diese Tragik kommt einem in diesem Umfeld effekthascherisch vor.

P.S.: Der Film hat nie einen Start in den deutschen Kinos erlebt, ist allerdings auf DVD herausgekommen.




Toulouse-Lautrec: Brüchige Halbwelt

Henri de Toulouse-Lautrec, soso. Ist da nicht längst alles besehen und alles gesagt?

Nun ja, man wird jetzt auf Schloss Cappenberg schon einige Déjà-vu-Erlebnisse haben, wenn man die zahlreichen Farblithographien aus der Belle Époque betrachtet. Ein minimales Interesse an Kunst vorausgesetzt, kennt man solche und ähnliche Szenerien des brüchigen Luxus und der Moden aus den Pariser Cabarets, Varietés, Bars und Bordellen. Doch beim genauen Hinschauen kann man trotzdem noch spannende Einzelheiten entdecken.

Der bekanntlich kleinwüchsige, nach landläufigen Maßstäben alles andere als wohlgestalte Toulouse-Lautrec war – vermutlich in einer Gemengelage zwischen Anziehung und Abstoßung – fasziniert von den schimmernden, oft trügerisch galanten Halbwelten und brachte sie bildlich auf so manchen, seither stehenden Begriff. Eine von etlichen Inspirationsquellen waren dabei japanische Holzschnitte, natürlich aber auch die Schöpfungen aus dem Umkreis des französischen Impressionismus. Und Vincent van Gogh gehörte zu seinen Studienfreunden…

Toulouse-Lautrec besaß einen wachsam ironischen Blick für verborgene Hässlichkeiten und Absonderlichkeiten im mondänen Getriebe, auch ließ er sich von bloß äußerlicher Eleganz nicht blenden. Allerdings stellte er niemanden bloß, schon gar nicht die ärmeren Menschen, sondern ließ feine Diskretion angesichts erkannter Schwächen walten. Und er wusste wie nur je einer, wie triumphale Momente lockender Weiblichkeit erstrahlen müssen. Einige singende, tanzende und schauspielende Stars des Montmartre hat er erst mit seinen Bildern zu vollem Weltruhm geführt, beispielsweise Jane Avril, Yvette Guilbert und Aristide Bruant.

Allerlei dauerhafte Klischees über das frivole Paris der Kokotten leiten sich aus dieser Ära ab. Diese Langlebigkeit kommt nicht von ungefähr. Geradewegs zwischen freier Hochkunst und (werblicher) Gebrauchsanwendung fanden Toulouse-Lautrec und einige seiner Zeitgenossen gültige bildnerische Strategien und Formulierungen. Intensive Studien hinter den Kulissen der Amüsierbetriebe waren die Voraussetzung fürs Erfassen des Überzeitlichen im sonst so flüchtigen Augenblick. Famos vor allem die intimen, so gar nicht voyeuristischen Skizzen aus dem Bordell unter dem Titel „Elles“ (Sie). Sie zeigen die Huren in ihrem recht gewöhnlichen Alltag – bevor die Freier eintreffen.

Am anderen Endes des Schaffensspektrums sieht man grandios gelungene Werbung, vor allem für Vergnügungs-Etablissements: Schönere Plakate als damals hat es wohl nie wieder gegeben. Zuweilen sprühen sie geradezu im Rausch der Farben und Bewegungen. Doch beileibe nicht alles kommt als schreiende Reklame auf den Betrachter zu. Gerade Toulouse-Lautrec nutzt mitunter sehr delikate und dezente Farben. Zudem findet er frappierend wirksame Lösungen, um Schriften in die Bilder einfließen zu lassen.

Spätere Arbeiten um 1898/99 lassen die persönliche Tragödie des Henri de Toulouse-Lautrec ahnen. Die Bilder sind bei weitem nicht mehr so souverän und stilsicher gefasst wie vordem, der ganze Gestus wirkt fahrig unkontrolliert. Hauptgrund: Er kann vom Alkohol nicht lassen. Die Pariser Weltausstellung anno 1900, auf der einige seiner Bilder gezeigt werden, vermag der Syphilitiker nur noch im Rollstuhl zu besuchen. 1901 stirbt er, gerade einmal 36 Jahre alt.

In Cappenberg sieht man vielfach verschiedene Zustandsphasen der Druckwerke, so dass man teilweise den Werkprozess (und damit die leitenden Absichten) ein wenig nachvollziehen kann. Interessant auch der Ansatz, punktuell einige kaum minder großartige Zeitgenossen (Jules Chéret, Théophile-Alexandre Steinlen, Pierre Bonnard, Alphonse Mucha) neben Toulouse-Lautrec zu präsentieren. Ein wenig mehr Sorgfalt hätte allerdings die Beschriftung der Bilder verdient. Die meisten Titel sind nicht einmal übersetzt. Sapristi!

Henri de Toulouse-Lautrec und die Stars vom Montmartre. Bis 21. Juni. Schloss Cappenberg in Selm (Für auswärtige Unkundige sei’s gesagt: ein wunderschönes Ausflugsziel). Eintritt frei. Kein spezieller Katalog, aber Bücher über das Gesamtwerk von Toulouse-Lautrec (24,90 € bzw. 34,90€) sind vor Ort erhältlich.




Mehr Mond!

Es ist eine jener Themen-Ausstellungen, bei denen man sich fragt: Warum ist bloß noch niemand vorher auf diese Idee gekommen? Das Kölner Wallraf Richartz-Museum lässt jetzt viele Monde aufgehen, leuchten und schimmern. Kann man da etwa mondsüchtig werden?

Eigentlich sonnenklar: Das erdnahe Gestirn ist ungeheuer oft gemalt (und später mit wissenschaftlichen und künstlerischen Absichten fotografiert) worden, oft auch indirekt: halb verborgen hinter dramatisch gebauschten Wolken oder zittrig gespiegelt auf Wasserflächen.

Die Kunstgeschichte hatte diverse „Mondphasen“, man denkt dabei wohl zuerst an die fahlen Nachtszenen der Romantik, die nicht selten in Bereiche ragen, die man als gefühligen Kitsch wahrnimmt. Schon die malenden Zeitgenossen ergingen sich damals zuweilen in ironischer Distanzierung. Johann Peter Hasenclevers „Die Sentimentale“ (1846), die sehnsüchtig zum Mond aufblickt, gerät zum Spottbild auf übertriebene Schwärmerei.

Doch der Reigen dieser Schau setzt schon sehr viel früher ein, nämlich bei Stefan Lochner und Albrecht Dürer. Man lernt nicht nur das Phänomen der strahlenbekränzten „Mondsichel-Madonnen“ kennen, sondern erfährt auch am bildlichen Beispiel, dass Maria im frommen Mittelalter selbst als eine Art „Mond“ imaginiert wurde, der das göttliche Sonnenlicht gleichsam ideal reflektierte.

Rubens porträtierte sich um 1605 im Verein mit dem mondkundigen Galileo Galilei – höchst selbstbewusster Anspruch auf beiderseits zukunftsweisende Genialität. Die Kölner bieten in unüblich dichter Hängung einige große Namen auf, auch für die späteren Zeiten: Bilder etwa von Joseph Wright of Derby, Caspar David Friedrich, Edouard Manet („Mondschein über dem Hafen von Boulogne“), Felix Vallotton, Max Beckmann, Max Ernst, Edvard Munch. Jeder schuf da quasi seinen ganz eigenen, persönlichen Mond – erst recht in der Moderne. Sehen und Empfinden gingen immer wieder neue Verbindungen ein.

Im Wallraf Richartz Museum verknüpft man gern Kunstgeschichte mit Naturwissenschaft. Zur mehr oder weniger frei schwebenden Ästhetik kommt somit stets etwas Handfesteres. Im letzten Jahr war man den Impressionisten mit allerlei avancierten Forschungs-Methoden zuleibe gerückt. Jetzt zieht man auch astronomisches Wissen zu Rate, um die Gemälde zu deuten. Mit Hilfe „ewiger“ Himmelskalender, die Lauf und Stellung des Trabanten vorhersagen oder eben historisch nachzeichnen, lassen sich Mondbilder (einigermaßen realistische Darstellung vorausgesetzt) recht genau mit Jahres- und Tageszeiten datieren. Insgesamt gilt allerdings: Viele Künstler haben den Mond, um deutlichere Effekte zu erzielen, häufig deutlich zu groß an ihre Himmel gehängt.

Quer durch die Epochen sieht es die Kunst ja auch nur selten als ihre Aufgabe an, den Mond „sachgerecht“ und naturtreu zu zeigen. Vielmehr erweist er sich meist als symbolbeladen – manchmal als Zeichen des bedrohlich Bösen, zuweilen auch als Bote unsteten Wandels (zu- und abnehmende Sichel). Mit dem Aufkommen des Teleskops und hernach der Fotografie oder gar der Raumfahrt vollziehen sich jeweils künstlerische Ausweich- und Absetzbewegungen, sprich: Die Kunst räumt dann immer wieder realistische Positionen, weil sie auf diesem Gebiet ohnehin nicht mit den neuen Erfindungen konkurrieren kann. Auch deshalb geraten, ob nun in der Romantik oder im Impressionismus, „Unschärfen“ in die Bilder, die nicht immer leicht zu deuten sind. Beim Expressionisten Schmidt-Rottluff nimmt der Mond beispielsweise blaue Farbe an. Für die Surrealisten ist er sowieso in erster Linie ein bleicher Traumbringer.

Ein zweiter Hauptstrang der Ausstellung verfolgt die technischen Entwicklungen der Mondbeobachtung und Mondbeschreibung (Kartographie usw.), vor denen die Malerei also die Flucht ergriff – bis in flirrende Bezirke, wo sie ungeahnt neues Terrain eroberte und der Technik wiederum weit voraus zu sein schien. Das Spektrum der sachkundlichen Exponate reicht von Beobachtungs-Instrumenten über alte, oft schon erstaunlich exakte Mondkarten bis hin zu Fotos der Apollo-Missionen. Diese wiederum werden auch schon mal künstlerisch verfremdet, um sie wieder ins Bewusstsein zu heben.

Vollends verblüffend ist ein aufwändig gemaltes Diorama, das 1919 entstand und dem Betrachter breitwandig das grandiose Gefühl vermitteln sollte, just auf dem Monde zu stehen. Freilich waren diese Mondgebirge aufgrund falscher theoretischer Annahmen gar zu wild und steil gezackt – und es soll hier sogar ein Abbild der Zugspitze den Weg ins Weltall gefunden haben. Also spukte auch hier die Phantasie mit hinein. Ein Grenzfall zwischen Wissenschaft, Kunst – und Jahrmarkt? Auch auf phantastisches Kino (z. B. die Weltraum-Odyssee des Stanley Kubrick) deutet das Diorama wohl schon voraus.

Bemerkenswert auch ein ziemlich verrücktes „Mondprojekt“ des deutschen Künstlers Adolf Luther, der in den 1970er Jahren mit Blick aufs Millennium, also auf das Jahr 2000, ein gigantisches Fest plante, bei dem die Rückseite des Mondes künstlich erstrahlen sollte, illuminiert durch gigantische Parabolspiegel im All. Zur Finanzierung dieser Vision sollte das Logo eines US-Konzerns kostenpflichtig auf den Trabanten projiziert werden, dem Jahrtausend-Ereignis sollte man sodann in eigens entworfener Mode beiwohnen. Aus all dem ist nichts geworden. Soll man’s bedauern?

„Der Mond“. Wallraf-Richartz-Museum, Köln (Obenmarspforten / am Rathaus). Bis 16. August 2009. Geöffnet Di-Fr 10-18, Do 10-22, Sa/So 11-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 9,50 € (ermäßigt 6 €). Katalog 30 €. Internet: www.wallraf.museum

Thematische Ergänzung im laufenden „Jahr der Astronomie“: „Sternstunden – Wunder des Sonnensystems“. Gasometer Oberhausen, seit 2. April 2009 bis 10. Januar 2010. Di-So 10-18 Uhr. Eintritt 7 € (ermäßigt 5 €).

Bild: Edouard Manet „Mondschein über dem Hafen von Boulogne“ (Katalog)




Klee und Feininger: Stilles Leuchten

Es steht ja schon in der Bibel: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder…“ Die ganze bildnerische Ideen- und Formenfülle liegt in jener Frühzeit bereit – und gleichzeitig liegen die Fertigkeiten noch brach.

Umso besser also, wenn begnadete Künstler irgendwann auf Kinder- und Kindheitsbilder zurückkommen, so auch Lyonel Feininger (1871-1956) und Paul Klee (1879-1940), die jetzt bei einer Doppelausstellung in Hamm ästhetische Dialoge auf höchstem Niveau führen.

Rund zehn Jahre haben sie parallel am berühmten Bauhaus in Weimar und hernach Dessau gewirkt – Feininger in erster Linie als technisch beschlagener Leiter der Druckwerkstätten, Klee vor allem als einfühlsam Lehrender. Nebenher schufen beide auch Spielzeug (Holzhäuser, Lokomotiven etc.) für den Nachwuchs.

In Bildern wie „Stadt mit Sonne“ (1921) hat sich der gebürtige US-Amerikaner Feininger, der damals schon reichlich Erfahrung mit Comic-Zeichnungen gesammelt hatte, ein kindlich anmutendes Raumschema anverwandelt, sprich: Die Dinge schweben neben- und übereinander, sie sind weder hierarchisch sortiert noch perspektivisch gestaffelt. Vor allem aber bringt Paul Klees oft so leichthändige, stille Freude an formalen Reduktionen Gegenstände zum innigen Erglühen – wie in unvordenklichen Kindertagen.

Ein Schwerpunkt der angenehm konzentrierten Ausstellung (insgesamt etwa 90 Exponate) sind Meeres- und Schiffsbilder. Feininger zog es häufig an die Ostsee , er begriff sich zeitweise gar als „Marinemaler“. Von duftiger, kühl umwehter Transparenz sind seine Segelschiff-Darstellungen. Der Künstler hat Anteile der einmal aufgetragenen Ölfarbe zuweilen wieder abgewaschen, so dass eine Art bleicher Schwerelosigkeit zurückbleibt. So vermag er es auch, Segelboote in Nebelschwaden als bloßen Hauch anzudeuten. Die Bildräume atmen oft ungeheure Weite. Es ist, als werde eine imaginäre Pforte in eine neue Dimension größter Ruhe aufgetan. Trotz kubistischer Aufsplitterung mancher Motive (speziell aus der Architektur) bleiben die kristallinen Gegenstände doch stets erkennbar.

Während Feininger ersichtlich auch etwas beflissen Akkurates hatte, kommt einem Paul Klees Vorgehensweise meist spielerischer vor, wie ein schöner, selbstvergessener Tanz von Kräften und Gegenkräften. Seine Bilder sind um einige Spuren anekdotischer, erzählerischer, sanft getragen von feinnervigem Humor – und letztlich vielleicht doch weniger „kontrolliert“ als Feiningers Schöpfungen.

Gewiss: Auch Klee ist mit Farbtheorien, mathematisch-musikalischen Rhythmuslehren und sonstigem Kunstwissen aus dem Baukasten der Historie genugsam gewappnet und gesättigt, doch verliert er sich „unterwegs“ im Schaffensprozess oft ins wundersam Beiläufige, bis hin zu dem Punkt, an dem es wohl gar keinen Vorbehalt oder Rückhalt mehr gibt.

Sie mögen einander geistig nah gewesen sein, doch der gegenseitige Einfluss war begrenzt. Feininger und Klee wussten je für sich, was sie wollten und konnten. Mit großer Wertschätzung nahmen sie die unvergleichliche Arbeit des jeweils Anderen wahr. Auch schenkten sie einander gelegentlich Bilder. Doch letztlich zog jeder seine ganz eigene Bahn.

„Lyonel Feininger – Paul Klee. Malerfreunde am Bauhaus“. Bis 24. Mai. Gustav-Lübcke-Museum. Hamm, Neue Bahnhofstraße 9. Geöffnet Di-Sa 11-18, So 10-18 Uhr. Katalog 19,90 €.




Wilhelm Genazino: Der grobe und der feine Witz

Vorbemerkung:

Folgendes kurzes Interview ist bereits im Herbst 2004 in der Westfälischen Rundschau erschienen. Auf mehrfachen Wunsch kommt hier eine Wiederholung (gibt’s im TV doch auch allweil).

Auf Band hatte ich seinerzeit viel mehr Fragen und Antworten aufgezeichnet. Im Blatt musste es bedeutend kürzer erscheinen. Leider habe ich keine Langfassung aufgeschrieben. Da ich den Schrieb direkt aus meinem Word-Verzeichnis hole, kriege ich die übliche Westropolis-Schrift nicht hin. Mit dem Firefox-Browser (ermöglicht Nutzung des Word-Editors) kann ich mich partout nicht im Blog anmelden. Teufel auch!

Bis vor kurzem galt er noch immer als literarischer „Geheimtip“: Doch seit Wilhelm Genazino der Büchner-Preis zugesprochen wurde, kann davon keine Rede mehr sein.

Die WR traf Genazino bei der Frankfurter Buchmesse am Stand des Carl Hanser Verlages, wo zuletzt sein autobiographisch getönter Erzählband „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“ und die Essay-Sammlung „Der gedehnte Blick“ erschienen sind.

Sie erhalten in Kürze den wichtigsten deutschen Literaturpreis. Wie haben Sie die Nachricht aufgenommen?

Wilhelm Genazino: Ungläubig. Aber ich freue mich natürlich, klar. Bis vor wenigen Jahren stand ich eher am Rande. Ich hab’ mich da gar nicht unwohl gefühlt.

Geduldige Beobachtungen von Randfiguren ziehen sich auch durch Ihr Werk.

Stimmt. Ich passe zu meinen Figuren. Deswegen mag ich auch die Vorstädte. Da geht es weniger künstlich zu, glaubwürdiger, nicht so aufgedonnert wie in der Fassadenwelt der Innenstädte.

In Ihrem Essay-Band entwickeln Sie auch eine Humor-Theorie. Sie unterscheiden zwischen innen- und außengeleitetem Humor. Was verstehen Sie darunter?

Es gibt sehr verschiedene Arten des Vergnügens. Diese furchtbare Fernsehreihe „Pleiten, Pech und Pannen“, das ist sozusagen der Massenhumor. Da passiert immer wieder dasselbe: Ein Mann fliegt vom Fahrrad, eine Torte fällt einer Frau auf die Bluse, ein Kind rutscht im Gummiboot aus… Es ist dieser öffentliche Schadenfreude-Humor mit ganz groben Effekten. Die komische Empfindung hingegen braucht gar keine Witze als Anlass. Hier geht es um stille Wahrnehmungen, darum, dass man etwas für sich als komisch entdeckt. Eben war ich in einem Messe-Bistro, da stehen drei Tische – und auf jedem ein handgeschriebenes Schildchen: „Die Tische gehen nur über die Bedienung!“ Man weiß ja, was gemeint ist. Aber das so auszudrücken, das ist einfach großartig. Damit könnte man im Fernsehen nicht landen. Der Witz ist viel zu leise, so etwas kommt eher in der Literatur zum Vorschein – bei Lawrence Sterne, bei Italo Svevo oder bei Jean Paul.

Ihr Buch enthält auch eine Betrachtung über gescheiterte Autoren.

Es gibt viele großartige gescheiterte Bücher. Es ist oft ein Kennzeichen großer Romane, dass die Autoren zwischendurch ihr Thema verlieren. Auf einmal weiß man nicht mehr: Wovon ist hier eigentlich die Rede, was ist hier los? Das gibt es selbst bei Thomas Mann. Häufig sind es die besten Stellen, an denen ein Autor deliriert; diese Latenz-Phasen, bevor er wieder in seinen Roman zurückfindet.

Was hat es mit dem „gedehnten Blick“ auf sich, den Sie auf ein altes Kinderfoto anwenden, in dem sie nach und nach immer wieder andere Dinge entdecken?

Wenn man etwas sehr lange anschaut, dann merkt man, dass das Auge das verwandelt, was es sieht. Es bleibt nicht bei dem, was es einmal erkannt hat. Solches Hinschauen haben wir verlernt. Das Fernsehen ist ja sozusagen eine Sehens-Abgewöhnungs-Maschine, allein durch die Häufigkeit der schnellen Schnitte. Man wird gezwungen, ein Geschehen zu verfolgen. Aber das hat mit Sehen nichts mehr zu tun. Eine fatale Entwicklung.

„Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“ spielt zu Beginn der 60er Jahre. Was war das für eine Zeit?

Die Zeit, in der ich jung war. Eine bescheidene Zeit, eine armselige und verschämte Zeit. Das Entsetzen der Nachkriegsjahre stand noch den Menschen ins Gesicht geschrieben. Damals gab’s noch nicht diese künstliche Entsetzens-Kultur. Allerdings ist damals in Deutschland gnadenloser Kitsch produziert worden, der im Grunde dem NS-Kitsch geähnelt hat. Und das hört bis heute nicht auf: Auch diese unselige Volksmusik ist ein Spätling der NS-Zeit…




Thomas Bernhard: Er hasste die Preisreden – und nahm das Geld

Literaturpreise sind doch eine wunderbare Sache, sie bedeuten etwas Ruhm und Geld für den Autor, der sonst vielleicht arm und unbeachtet geblieben wäre.

Solche milden Gaben können aber auch Zorn erregen. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, so ist er hier zu finden: Aus dem Nachlass von Thomas Bernhard ist jetzt der schmale, aber ergiebige Band „Meine Preise“ erschienen, in dem der unbequeme Österreicher einige seiner Auszeichnungen durch den Wolf dreht. Klingt schon mal vielversprechend, denn Bernhard war als schimpfwütiger Rohrspatz der Literatur ohnehin kaum zu übertreffen.

Gelegentlich grinst einen hier das ganze absurde Elend des Literaturbetriebs zwischen Streichquartetten und blödsinnigen Festreden an. Ein bilanzierendes Bernhard-Zitat lässt den ewigen Zwiespalt ahnen: „Ich haßte die Zeremonien, aber ich machte sie mit, ich haßte die Preisgeber, aber ich nahm ihre Geldsummen an.” Welch eine lästige, stocksteife Notwendigkeit also. Hinfahren, abholen und alles andere vergessen. Das wäre wohl ratsam.

So kennt man ihn: Thomas Bernhard ist zutiefst beleidigt, wenn er einen Preis n i c h t kriegt – und er ist oft stinksauer, wenn er dann einen bekommt. Eigentlich kein Wunder. Denn tatsächlich kann er hanebüchene Szenen schildern: Da wird er von einem ahnungslosen Laudator mit der gleichzeitig geehrten Preisträgerin verwechselt („Frau Bernhard”), auch hernach wird der Schlendrian nicht korrigiert. Oder: Der Autor, der mal wieder in Begleitung seiner Tante erschienen ist, wird von der versammelten Festgemeinde im Saale gleich gänzlich übersehen und irgendwo hinten in Reihe soundsoviel platziert. Man kennt den Dichter überhaupt nicht, mit dem man sich schmückt.

Thomas Bernhard rächt sich nicht zuletzt damit, dass er ganze Städte (wie etwa Bremen) wortgewaltig als kulturlose Orte niedermacht. Man ahnt es: Derlei süffige Stadtbeschimpfungen aus berufenen Federn wären gewiss mal eine Extra-Edition wert.

Als schiere, mit voller Absicht betriebene Demütigung empfindet es Bernhard, dass man es wagt, ihm den kleinen (und eben nicht den großen) Österreichischen Staatspreis anzudienen. Diese mindere Ausführung trage doch fast jeder Nachwuchsschreiberling mit sich herum, befindet der Mann, der sich selbst zeitweiligen Größenwahn attestiert.

Als es den Schriftsteller selbst einmal in eine Jury verschlägt, merkt er, wie man dort „naturgemäß” (Bernhards Lieblingswort) nach kenntnisfreier Willkür, Lust und Laune entscheidet. „Nehmen wir doch Hildesheimer”, ruft da einer unvermittelt in die Runde. Alle anderen sind gleich einverstanden, denn das Mittagessen wartet ja schon.

Bernhard windet auch einige bunte Girlanden in seine Betrachtungen. So erfährt man, wie er sich von einem Preisgeld einen schicken Sportwagen gekauft und alsbald zu Schrott gefahren hat oder wie er ein marodes Haus anzahlen konnte.

Der Autor, der sich sonst (wie auch seine Preis-Dankesreden im Anhang belegen) vor allem auf pessimistische Litaneien verstand, wird hier sichtbar als jemand, dem es auch gegeben war, luftig leicht zu erzählen, ohne dabei an Schärfe zu verlieren.

Thomas Bernhard: „Meine Preise”. Suhrkamp. 144 Seiten. 15,80 Euro.




Knochenarbeit im Bergwerk des Humors – Vor 100 Jahren wurde Heinz Erhardt geboren

Er muss ein geradezu besessener Arbeiter im Bergwerk des Humors gewesen sein. Er selbst und seine Familie haben unter seiner nie versiegenden Schaffenswut gelitten. Doch kaum betrat der rundliche Kerl die Bühne, so war er eine Seele von Mensch – und vor allem: ein Schelm! Heute vor 100 Jahren wurde der Komiker Heinz Erhardt geboren.

Eine deutsche Ahnenreihe der Hochkomik sähe in den Grundzügen wohl ungefähr so aus: Wilhelm Busch, Christian Morgenstern, Joachim Ringelnatz, Heinz Erhardt, Loriot, Robert Gernhardt, F. K. Waechter, Otto Waalkes, Hape Kerkeling, Helge Schneider. Mögen da auch ein paar Bindeglieder fehlen (bitte wunschgemäß freihändig einsetzen), so gehören doch die Genannten hinzu. Heinz Erhardt steht dabei als singulärer Humor-Produzent für die 50er und frühen 60er Jahre, er war der Komiker des „Wirtschaftwunders“.

Erhardt kam am 20. Februar 1909 in der heutigen lettischen Hauptstadt Riga zur Welt. Sein Vater war Kapellmeister, der Großvater (bei dem er aufwuchs) ein achtbarer Klavierspieler. Heinz Erhardts Jugendtraum, Konzertpianist zu werden, erfüllte sich allerdings nicht. Erst 1994 kamen aus dem Nachlass einige seiner Kompositionen in klassischer Manier auf CD heraus.

1932 stand er erstmals in einem Lustspiel auf der Bühne des Deutschen Schauspiels in Riga. Entscheidender Schritt: 1938 wurde er ans Berliner Kabarett der Komiker geholt. Den Weltkrieg überstand er als schon recht prominenter Spaßmacher in der Truppenbetreuung, was ihn vor dem Dienst an der Waffe bewahrte.

Neubeginn in der Trümmerzeit: 1946 knüpfte Erhardt Kontakte zum NWDR in Hamburg, wo er Unterhaltungsprogramme wie „So was Dummes“ moderierte. Auch stand er in Komödien auf diversen Hamburger Bühnen. Seine Alleinunterhalter-Qualitäten sprachen sich schnell herum, so dass er bald erste Tourneen unternahm.

Durchaus auf der Basis traditionell überlieferter Verskunst und sprachlich manchmal höchst raffiniert, trieb Erhardt seine vorwiegend wortspielerisch grundierten Scherze. Das 1963 erschienene Buch mit dem Titel „Noch’n Gedicht“ wurde zum Verkaufsschlager. Es enthielt auch Erhardts wohlbekannte Zeilen über „Die Made“: „Hinter eines Baumes Rinde / saß die Made mit dem Kinde. / Sie ist Witwe, denn der Gatte, / den sie hatte, fiel vom Blatte …“ Und so weiter. Sein Erscheinungsbild war das eines allzeit netten, manchmal leicht verwirrten Onkels mit treuherzigem Mondgesicht. Er gab sich bewusst tollpatschig und gehemmt. So einen Menschen mochte man einfach gern, weil er so gar keine Bedrohung darstellte.

Vor allem im Kino (erste Hauptrolle 1957 als Marmeladenfabrikant in „Der müde Theodor“) hat er etlichen Klamauk mitgemacht und dabei zuweilen sein Talent unter Wert verschleudert. Möglicher Grund: Wie es heißt, war er ein Paniker, was seine finanzielle Situation anging. Auch sein Lampenfieber war legendär. Er soll es auch mit dem einen oder anderen Schnaps bekämpft haben.

1971 erlitt der bis dahin so rastlose Erhardt einen Schlaganfall und musste fortan deutlich kürzer treten. Er starb in der Nacht zum 5. Juni 1979. Etwa um 1983 kam es zu einer überraschenden Renaissance. Gerade Jüngere fanden plötzlich Gefallen an alten Erhardt-Filmen, die nun in den Programmkinos liefen. Und heute führt er ein beinahe schon gespenstisches Nachleben in Internet-Portalen wie „YouTube“, wo man viele Szenen mit ihm aufrufen kann. Was dort so flüchtig wirken mag, ist in Wahrheit unvergänglich.

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Infos

  • Filme (Auswahl): „Witwer mit fünf Töchtern“ (1957), „Immer die Radfahrer“ (58), „Natürlich die Autofahrer“ (59), „Der letzte Fußgänger“ (60), „Drei Mann in einem Boot“ (61), „Unser Willi ist der Beste“ (71).
  • Internet-Seite: http://www.heinzerhardt.de (betrieben von Heinz Erhardts Erben). Dort Hinweise auf viele Bücher, CDs und DVDs.

(Der Beitrag stand am 20. Februar 2009 in ähnlicher Form in der „Westfälischen Rundschau“)




Drama der Hündischkeit

Der jüdische Varieté-Star Adam Stein erhält im Berlin der 30er Jahre von den Nazis Berufsverbot. Sie deportieren ihn und seine Familie in ein Vernichtungslager. Grausame Fügung: Lagerleiter ist dort jener Kommandant Klein, den Adam Stein einst im Varieté mit verblüffenden Taschenspielertricks vor dem Selbstmord bewahrt hat. Klein musste damals unwillkürlich lachen – und seine Verzweiflung war verflogen.

Jetzt sieht sich dieser grüblerische SS-Mann (feingeistig maskierte Dämonie: Willem Dafoe) zu einer Gegenleistung verpflichtet, allerdings auf ungemein perverse Art: Adam Stein soll ihn – als menschlicher „Hund” – mit Apportier-Kunststückchen vom tristen Lagerleben ablenken. Woche um Woche, Monat um Monat. Dafür darf er weiter leben; doch nicht seine Familie. Stein sieht nicht nur, wie Frau und Tochter mit Tausenden anderen zu den Verbrennungsöfen getrieben werden, sondern wird auch noch genötigt, zum Abmarsch eine muntere Begleitmusik auf der Geige zu spielen. So ist er schuldlos „schuldig” geworden. Daran zerbräche jede Menschenseele.

Paul Schraders deutsch-israelische Koproduktion „Ein Leben für ein Leben“ geht zurück auf Yoram Kaniuks 1969 in Israel erschienenen Roman „Adam Hundesohn“ (deutsch erst 1989), der das nachwirkende KZ-Trauma auch mit Mitteln des schwarzen Humors aufgriff. In Israel ist das Buch bis heute umstritten, es gilt aber gleichwohl als moderner Klassiker.

Jeff Goldblum verkörpert diesen Adam Stein mit Haut und Haaren – in einem wahrhaft waghalsigen, manisch-depressiven Balanceakt zwischen Wahn und abgründigem Witz, Eleganz und Melancholie, Kapriolen und Depressionen.

Der Film besteht zum Teil aus düsteren Schwarzweiß-Rückblicken (bis in die „Goldenen Zwanziger” Berlins). Der spätere Hauptschauplatz aber liegt in der flirrenden israelischen Wüste. Am Beginn der der 1960er Jahre hat sich dort (in der Fiktion) ein Institut angesiedelt, in dem Holocaust-Überlebende psychiatrisch behandelt werden. In einem grotesken Panoptikum werden dort Bruckstücke schrecklicher Schicksale sichtbar. Beispiel: Ein Mann spielt mit der elektrischen Spielzeug-Eisenbahn zwanghaft die Deportation nach.

Adam Stein hat in diesem Institut Zuflucht gefunden, ja er ist gar so etwas wie eine messianische Hoffnung der anderen Insassen geworden. Er ist ein Stigmatisierter, der gleichsam auf Zuruf (wie einst im Variete´) sein Blut aus allen Öffnungen fließen lassen kann und somit Auferstehungs-Sehnsüchte weckt. Mit anderen Worten: eine literarische, mit allerlei Symbollast befrachtete Figur. Wie denn überhaupt dieser redliche Film das Übersinnliche und Religiöse trotz aller skeptischen Anwandlungen aufruft. Ganz ohne Glaubenskräfte geht es hier nicht.

Symbolschwer auch der finale Handlungsstrang. Stein, der einst als „Hund” leben musste, findet in einem Nebenraum der Anstalt einen kleinen Jungen eingesperrt, der dort sprachlos und zähnefletschend wie ein Hund vegetiert. Adam Stein nimmt sich seiner an, denn er ahnt: Wenn dieser Junge sich aufzurichten vermag, kann vielleicht auch er selbst sein inneres Drama der einstigen Hündischkeit bewältigen.

All das gerät zum schmerzlichen, doch schließlich glückhaften Lehrstück über das Ringen zwischen zerstörerischen und heilsamen Kräften. Am Ende beschwört der Film einen Zustand herauf, in dem das Wünschen noch geholfen hat.




Triebstau und Freiheitsdurst – der Roman „Empörung“ von Philip Roth

Das ist das Wunderbare an Literatur: Dass sie einen in alle Zeiten und Rollen eintauchen lässt. Wollte man nicht immer schon mal wissen, was ein US-Student 1951 (zur Zeit des Koreakrieges) so getrieben und wie er sich dabei gefühlt hat? Bitte sehr: Der famose Philip Roth lädt in seinem Roman „Empörung” unsere Phantasie mit solchen Erlebnissen auf.

Der Student heißt Marcus Messner, ist Sohn eines jüdisches (koscheren) Metzgers in New Jersey und weiß auch anschaulich von diesem blutigen Metier zu berichten, weil er seinem Vater einige Zeit im Geschäft geholfen hat.

Nun aber besucht Marcus das College – und wird seines Erzeugers nicht mehr froh. Denn der macht sich auf einmal derart viele Sorgen um seinen Sohn, dass er ihm nachspioniert und ihn am liebsten vor aller bedrohlichen Welt wegsperren würde. Bisher konnte man vernünftig mit dem Manne reden, doch nun? Es ist fürchterlich. Auch die Mutter leidet sehr.

Marcus zieht die Konsequenz und schreibt sich an einem anderen, weit vom Elternhaus entfernten College ein. Dort erlebt er nun diverse Reifeprüfungen des Lebens – keineswegs nur geistige.

Da ist vor allem die bezaubernde Olivia Hutton, die es ihm gleich beim ersten Date oral besorgt – und das in jenen prüden Zeiten, die sonst meist nur den sexuellen Triebstau kennen. Wow! Er kann’s kaum glauben, dass ihm so viel Gutes widerfährt.

Doch aus der unverhofften Fleischeslust erwachsen Sorgen. Olivia erweist sich als Problemfrau sondergleichen. Mit ihren nicht einmal 20 Jahren ist sie schon Alkoholikerin und hat einen Selbstmordversuch hinter sich. Außerdem sind Marcus‘ Zimmergenossen auf dem Campus unerträgliche Stinkstiefel, so dass er mehrmals umzieht – bis es dem Dean (etwa: Dekan) zu bunt wird. Er bittet Marcus zur hochnotpeinlichen Aussprache übers Sozialverhalten (Vorwurf: ständige Flucht vor unangenehmer Realität). Dabei steigert sich der eloquente, eigensinnige Student aus lauter Freiheitsdurst in eine Empörung hinein, ja er redet sich wohl schier um Kopf und Kragen . . .

Wenn man das alles mit fliegendem Atem liest, möchte man meinen, es mit dem Buch eines ganz jungen Autors zu tun zu haben, der aus unmittelbar praller Erfahrung berichtet. Frisch und frech klingt alles hier. Philip Roth ist 1933 geboren, er kannte also die Zeit um 1951 als ganz junger Mann. Und sie ist ihm offenbar sprühend lebendig geblieben. Staunenswert.

Marcus und viele seiner Altersgenossen fühlen sich allseits gefesselt – von starren gesellschaftlichen Konventionen, religiösen und familiären Rücksichten. Da droht sich etwas gewaltsam zu entladen. Doch die Revolten der 60er Jahre sind noch weit entfernt. Jungspunde, die nicht spuren und über die Stränge schlagen, werden um 1951 kurzerhand in den schrecklichen Kriegseinsatz nach Korea geschickt. Dieses mögliche Verhängnis schwebt jedenfalls als vage, düstere Verheißung über dem gesamten Geschehen dieses Romans und färbt insgeheim jede Handlung ein.

Philip Roth lässt den Leser nicht nur schwelgen und bangen, sondern gibt dem Buch gegen Schluss eine ungeahnte Wende, die alles Vorherige in ein anderes Licht stellt. Viel mehr wollen wir hier nicht verraten, sonst würde der Kunstgriff des Romanciers an Wirkung einbüßen. Nur so viel: Schmerzlinderndes Morphium ist im Spiel. Doch es gibt Schmerzen, die letztlich niemals aufhören . . .

Philip Roth: „Empörung”. Roman. 201 Seiten. Hanser Verlag. 17,90 Euro.




Suhrkamp – verhext?

Der traditionsreiche Suhrkamp-Verlag zieht von Frankfurt nach Berlin um. Mit diesem Entschluss hat sich Siegfried Unselds Witwe Ulla Berkéwicz nicht nur über den Willen von 80 Prozent der Verlagsmitarbeiter hinweggesetzt, sondern auch über die (geistige) Verwurzelung dieses Verlages im Umkreis der „Frankfurter Schule“. Ob sich Adorno nun im Grabe umdreht?

Wie der Süddeutschen Zeitung (heutige Ausgabe) zu entnehmen ist, hat Berlins Regierender Bürgermeister Wowereit offenbar seit langem heftig gelockt, dass Suhrkamp an die Spree kommen möge. Wer weiß, ob und aus welchen Töpfen da womöglich noch Subventionen / Ansiedlungs-Prämien fließen. Falls es so wäre, könnte man von einem handfesten Skandal sprechen. Wie gleichfalls in der SZ von heute steht, ist just Hessen einer der größten Geber beim Länderfinanzausgleich, Berlin hingegen das Empfängerland mit den meisten Ansprüchen. Somit hätte es Hessen den Berlinern ermöglicht, etwaige Subventionen überhaupt erst aufzubringen, um einen der wichtigsten deutschen Verlage abzuwerben, ihn von Hessen nach Berlin zu holen.

Das Satireblatt „Titanic“ hat die Suhrkamp-Chefin Ulla Berkéwicz einst als „schwarze Witwe“ und als „die neue Yoko Ono der deutschen Schriftkultur“ bezeichnet. Beatles-Kenner wissen, was damit gemeint sein könnte. U. B. gibt offenbar ohnehin ein geradezu hexenhaftes Feindbild ab. Auch mit dem Umzugsbeschluss (oder besser: Umzugsbefehl) hat sie sich außerhalb Berlins wohl keine neuen Freunde gemacht.




Im Billiggetümmel der Vorstädte – Wilhelm Genazinos Roman „Das Glück ins glücksfernen Zeiten“

Gerhard Warlich hat einst Philosophie studiert. Brotlose Weisheit, wie sich sehr bald zeigte. Irgendwann verdingte er sich als Auslieferungsfahrer einer Großwäscherei. Jetzt ist er dort seit vielen Jahren Geschäftsführer. Immerhin. Aber ist der 41-Jährige auch glücklich?

Diese schwierige, vielfältige Frage wird im neuen Roman von Wilhelm Genazino genauestens durchbuchstabiert. Der Ich-Erzähler mit dem sprechenden Namen Warlich sucht „Das Glück in glücksfernen Zeiten” (Titel), doch er verzagt immer wieder.

Er führt ein Leben auf Beobachter-Posten und nimmt Alltags-Ereignisse bis in die letzten Verästelungen wahr – wie es Genazinos Streuner und Flaneure seit jeher tun. Dabei verstrickt er sich in ziellosen inneren Aufruhr, den er mit einer „Schule der Besänftigung” ruhigstellen möchte – ein rätselhaftes Vorhaben, das er seinen Mitmenschen kaum vermitteln kann.

Bei seinen Streifzügen durch die Stadt und das „Billiggetümmel der Vorstädte” (Zitat) blickt Warlich in die Abgründe landläufiger „Normalität”. Lauter Halbverrückte und fast Verwahrloste scheinen durch die gesichtslose Gegend zu irren. Die (von Rentner-Schwärmen durchzogene) Tristesse erzeugt ständiges Unbehagen.

Spitzeln im Auftrag
der Großwäscherei

Eigentlich versteht Warlich all diese „Gespenstereien” (oft wiederkehrendes Wort) überhaupt nicht. Am liebsten möchte er still kapitulieren. Da klafft die offene Frage, ob es nicht vielleicht vielen so ergeht: Sie verstünden das große Ganze nicht mehr und schauten nur fassungslos den verstreuten Einzelheiten zu.

Ungeheuerlich abermals, welch immens reichen Erzählstoff Wilhelm Genazino aus der feingliedrigen Betrachtung gewöhnlichster Ereignisse gewinnt. Es ist, als würden die alltäglichen Vorgänge in all ihrem möglichen Schrecken, aber auch als Verheißung ungeahnter Möglichkeiten erstrahlen. Die Sprache, in der Genazino den widrigen Verhältnissen nachspürt, wiegt kein Gramm zu wenig und keins zu viel.

Warlich unternimmt eine desolate Werbetour durch Hotels, um sie von den Vorzügen „seiner” Wäscherei zu überzeugen. Auch soll er im Auftrag des kontrollsüchtigen Besitzers Eigendorff (noch so ein Name) Fahrer bespitzeln, die ihre Liefertouren zu locker angehen – und wird selbst überwacht. Horror aus der Arbeitswelt. Da braucht man keine künstlichen Monster.

Noch mehr gerät Warlich aus der Balance, als seine Partnerin Traudel (Sparkassen-Filialleiterin) Druck ausübt: Sie will partout ein Kind. Auch sie sucht eben nach neuem Glücksgelände. Er lässt sie im Unklaren, flüchtet sich in eine heillose Hinhaltetaktik.

Dieses ebenso sanftmütige wie schmerzvolle Buch kann, obwohl es auch komische Gefilde streift, schwerlich „gut ausgehen”, allenfalls glimpflich. Die drängende Überfülle unscheinbarer Ereignisse treibt Warlich in nervliche Zerrüttung. Alles erscheint ihm so kompliziert, dass er lieber „Generalverzicht” üben will. Am Schluss sieht es gar so aus, als hätte er in der Psychiatrie eine neue Heimstatt gefunden, in der er nicht über Gebühr behelligt wird. Soll man diese Weltverweigerung etwa Glück nennen? Oder besiegen die „glücksfernen Zeiten” alles und jeden?

Wilhelm Genazino: „Das Glück in glücksfernen Zeiten”. Roman. Hanser Verlag. 158 Seiten, 17,90 Euro.




Ein Lieblingsbuch der Engländer – James Boswell: „Dr. Samuel Johnson“

Vorfälle aus dem 18. Jahrhundert kommen nur gar zu oft in altertümlicher, gravitätischer Sprache daher. Deshalb scheinen uns das Zeitalter und die Menschen von damals so fern zu liegen.

Jetzt aber liegt ein Buch wieder vor, das einen mit all seiner Lebendigkeit sehr rasch vom Gegenteil überzeugt. Wir reden von James Boswells famoser Lebensbeschreibung über „Dr. Samuel Johnson”.

Der Titel klingt staubtrocken, dahinter aber verbirgt sich anregender Lesestoff über viele hundert Seiten. Der Band empfiehlt sich nachdrücklich zur (Wieder-) Entdeckung. Nicht von ungefähr gilt dieses Werk bis heute als ein Lieblingsbuch der Engländer.

Besagter Johnson (1709-1784) war Studienabbrecher im schon damals ehrwürdigen Oxford, doch später ein lebenskluger Gelehrter, wie er im Buche steht. Vom Naturell her etwas faul, zwang er sich oft zu übermenschlicher Tüchtigkeit. Alle Achtung!

Kunst des
kultivierten
Gesprächs

Zudem war Johnson ein Genie der gehobenen, beredsamen Geselligkeit. Im London jener Jahre (damals die Welthauptstadt schlechthin) scharte er einen weitläufigen Kreis von Schriftstellern, Denkern, Malern und Schauspielern um sich. Man tafelte und trank, redete dabei recht freimütig über alles und jedes, was die Gemüter irgend bewegte. Das reicht vom ganz gewöhnlichen Alltag übers politische Tagesgeschäft (dessen Gebräuche oft stark an heute erinnern) bis hin zu Fragen von der Art, ob man Freunde und Verwandte im Jenseits wiedersehe (manche ja, manche nicht) und ob dies ein freudiges Ereignis sein werde. Kommt drauf an, denn (so Johnsons bemerkenswerte Ansicht): „Nach dem Tode sehen wir einen jeden in seinem wahren Licht.” Oha!

Fast immer geht es in den Gesprächszirkeln meinungsfreudig, häufig weise oder zumindest originell und schlagfertig zu; mal ist die Stimmung verhalten melancholisch, mal geradezu kalberig albern, ganz selten mit einem Stich ins Törichte.

Gewiss, da gibt es ziemlich zeitgebundene Themen und Urteile (etwa über Frauen und Ehe), die allerdings gerade aus weitem Abstand heraus historisch interessant sind. Im übrigen kam schon Johnson zur Loriotschen Einsicht, dass Männer und Frauen im Grunde nicht zusammen passen (aber einander brauchen).

In den allermeisten Momenten hat man jedenfalls den erstaunlichen Eindruck, mittendrin zu sitzen und aktuellen Streitgesprächen zu lauschen. In jedem Satz kann eine Überraschung lauern. Die Kunst des Gesprächs erwächst hier allemal aus edlem Wettstreit möglichst scharfsinniger Argumente. Wenn das keine Kultivierung ist!

Der Autor muss rundweg gepriesen werden: Der Schotte James Boswell (1740-1795) war rund 30 Jahre jünger als Samuel Johnson, den er bewunderte. Doch dieser fein-sinnige Beobachter hatte durchaus seinen eigenen Kopf und Willen. Amüsant die Sticheleien des überzeugten Engländers Johnson gegen alles Schottische. Boswell hat’s nicht krumm genommen. Auch Amerikaner und Franzosen bekamen schon damals ihr Fett weg. Wie gesagt: Es ist ein Lieblingsbuch der (gebildeten) Engländer.

Wir Deutschen kennen als entfernt vergleichbares Unterfangen Eckermanns getreulich notierte Unterhaltungen mit dem greisen Geheimrat Goethe. Diese erscheinen freilich geradezu devot vorgetragen, monologisch strukturiert und klassisch geglättet, während Boswells Aufzeichnungen auch in der herrlichen Übersetzung als quicker Quell sprudeln.

Gottlob hat dieser Boswell die munteren Dialoge bei Tisch und sonstwo zunächst in einer Kürzelsprache spontan mitgeschrieben und erst später genau ausgeführt. Somit sind wir hier ganz nah am ersten Eindruck der frischen wörtlichen Rede. Welch eine anregende Zeitreise!

James Boswell: „Dr. Samuel Johnson”. Diogenes, 848 S., 26,90 €.

INFO:

  • Zum Gesprächszirkel um Samuel Johnson zählten (neben dem Biographen James Boswell) u. a. der Maler Sir Joshua Reynolds, der Schauspieler David Garrick, der Autor Oliver Goldsmith sowie der Politiker und Philosoph Edmund Burke. Zuweilen gesellten sich kluge Damen hinzu.
  • Samuel Johnson ist bei den Briten „unsterblich”, weil er praktisch im Alleingang das erste große Wörterbuch der englischen Sprache schuf, das über 150 Jahre lang Maß aller Dinge war. Außerdem verfasste er eine englische Literaturgeschichte seiner Zeit.



Dortmunder Handschriftensammlung: Friedrich der Große bedankt sich für Heringe

Dortmund. Das soll Friedrich der Große geschrieben haben? Diese unscheinbaren, winzigen Buchstaben, jede Linie ausgesprochen blass, macht- und kraftlos wirkend? Ja, es stimmt. Und es war sogar der wohl letzte Brief, den der berühmte Preußenkönig (am 1. Juli 1786) verfasst hat. Das historische Papier gehört zu den wertvollsten Stücken der Dortmunder Handschriftensammlung.

Die wenigen Zeilen, die der kranke König aufs Blatt strichelte, sind auch inhaltlich bemerkenswert, wenn auch unscheinbar: Der Monarch bedankt sich bei einem Markthändler für die jüngste Herings-Lieferung. Derlei höfliche Bescheidenheit wirkt in dieser Schriftform schlichtweg anrührend. Kein Abdruck könnte ein solches Gefühl wecken. Dies vermag nur die originale Handschrift. Die Dortmunder Sammlung in der Stadt- und Landesbibliothek, die auch frühe Druckwerke und Dichter-Nachlässe umfasst, ist mindestens bundesweit bedeutsam. Ob Goethe, Annette von Droste-Hülshoff, Karl Marx, Thomas Mann, Albert Schweitzer oder auch US-Präsidenten wie Coolidge und Nixon – hier werden eigenhändige Schriftstücke vieler Größen aus Kunst, Kultur und Politik verwahrt.

Heinrich Zilles Entschuldigung für „Radaubetragen“

Wenn Jens André Pfeiffer, der Leiter der Handschriftenabteilung, einen ins „Allerheiligste“ vorlässt, kann einem schon etwas feierlich zumute werden: Im weitläufigen, akkurat klimatisierten Tresorraum lagern etliche Schätze der Geistesgeschichte. Forscher aus allen Weltgegenden verbringen hier zuweilen mehrere Wochen, um Handschriften buchstäblich mit der Lupe zu untersuchen.

Jede Schrift hat ihre spezielle Aura. Archivar Pfeiffer sagt, dass es längst nicht immer um Hochgeistiges geht, sondern um Alltag: „In vielen Briefen ,menschelt‘ es sehr.“ Kurzum: In diesem Paradies für Graphologen glaubt man häufig, den Schreibenden gleichsam über die Schulter zu schauen. Da beschleicht einen auch schon mal das Gefühl, ein klein wenig indiskret zu sein. Beispiel: Der „Milljöh“-Zeichner Heinrich Zille dürfte kaum geahnt haben, dass seine zerknirschte briefliche Entschuldigung für ein bierseliges „Radaubetragen“ in unbefugte Hände Nachgeborener geraten könnte. Recht privat muten auch Goethes Wein-Bestellungen und seine Klagen über Gallenbeschwerden an. Und an einen Tierpräparator, der für Goethe eine Schnepfe aufbereiten sollte, schreibt der Geheimrat, er erwarte jedes Knöchelchen des Vogels zurück. Klingt nach Ärger, falls denn doch etwas gefehlt haben sollte.

Karl Marx, der des öfteren an den Dichter Ferdinand Freiligrath geschrieben hat, meldet dringenden Geldbedarf an und lamentiert wieder einmal über seine Furunkel. Und Hermann Hesse hat einen Brief geradezu kindlich kunterbunt illustriert – Zeichen eines sonnigen Gemüts?

Wie kamen all diese Dinge nach Dortmund? Nun, in der Gründerjahren der 1908 er öffneten Bibliothek waren so genannte Autographen noch vergleichsweise preiswert zu haben. Zudem spendeten Stahlbarone und andere betuchte Bürger Geld für den Erwerb kostbarer Manuskripts und Drucke. Der damalige Bibliotheksdirektor Erich Schulz hatte ein Faible für Handschriften und konnte den Grundstock für die Sammlung legen, die dann stetig ausgebaut wurde und heute zigtausende von Katalognummern enthält.

Was man in Dortmund nicht unbedingt erwartet: Auch ein unvergleichlich gut erhaltenes Exemplar vom Text des Deutschlandliedes findet sich hier. Die sorgsame Reinschrift, die August Heinrich Hoffmann von Fallersleben am 26. August 1841 angefertigt hat, wird nicht verliehen – zu wertvoll, zu empfindlich ist das Kleinod.

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Infos:

  • Die Dortmunder Handschriftensammlung umfasst nahezu 30 000 Einzelstücke, etwa 115 Nachlässe und mehrere Tausend Frühdrucke ca. ab 1500 n. Chr., so auch die deutsche Erstausgabe von Daniel Defoes „Robinson Crusoe“(1720).
  • Hinzu kommen rund 900 historische Landkarten und Stadtansichten.
  • Ältester Besitz ist ein Pergament-Schriftblatt von Gregorius Magnus, das zu einem Codex des 9. Jahrhunderts gehört.
  • Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, Westfälisches Handschriftenarchiv. Königswall 18, 44137 Dortmund. Leitung: Jens André Pfeiffer 0231/750-23 206

(Der Beitrag stand am 2. Februar 2009 in ähnlicher Form in der „Westfälischen Rundschau“)




Wo sich Jutta auf Kalkutta reimt

Wie soll man das Phänomen bloß jüngeren Leuten erklären? Willy Millowitsch, so könnte man (hilflos) anheben, war ein kölsches Naturereignis, ein Vulkan des Frohsinns. Wenn dieser urwüchsige, eruptive Mann die Bühne betrat, johlten viele Leute schon, bevor er auch nur ein Wörtchen gesagt hatte.

Dieser volkstümliche Schauspieler, am 8. Januar 1909 (also vor 100 Jahren und natürlich in Köln) geboren, konnte dem Affen Zucker geben wie kaum ein Zweiter. Doch ihm standen auch leisere Töne zu Gebote.

Mal ehrlich: Wer gegen Ende der 60er und in den frühen 70er Jahren jung gewesen ist, für den waren Gestalten wie Willy Millowitsch, Inge Meysel & Co. erschröckliche Anti-Figuren, Repräsentanten einer schwer erträglichen „Leitkultur” des Spießertums. Millowitsch-Gassenhauer wie „Schnaps, das war sein letztes Wort” oder „Wir sind alle kleine Sünderlein” waren keine Hits, die man als Rockfan wirklich hören wollte.

Über Jahrzehnte kannte man Willy Millowitsch als Garanten entfesselter Lustigkeit. Schon manche Titel des Klamauk-Kinos und Schenkelklopf-Theaters („Paradies der flotten Sünder”, „Tante Jutta aus Kalkutta”) lassen es ahnen: Angesagt waren polternde, gern etwas schlüpfrige Verwechslungskomödien.

Doch später wurde man nicht nur milder im Urteil, sondern entdeckte tatsächliche Qualitäten. Stutzig musste man spätestens werden, als der hellwache und wendige Autor Hans Magnus Enzensberger seine Molière-Neuübertragung „Der Bürger als Edelmann” eigens auf den von ihm hoch geschätzten Millowitsch zuschnitt. Es wirkte wie ein Signal zur Umkehr: Jürgen Flimm verfilmte Else Lasker-Schülers Drama „Die Wupper” mit Millowitsch, der Regisseur Rudolf Noelte ließ ihn den Totengräber in Shakespeares „Hamlet” spielen. Auch der gereifte Kommissar Klefisch, den Millowitsch ab 1990 im WDR-Fernsehen verkörperte, zeigte ungeahnte Charaktertiefe.

Er hatte weder Schulabschluss noch Schauspielausbildung, als er 1940 die Leitung des (1896 vom Großvater gegründeten) Kölner Familientheaters übernahm, das heute von Sohn Peter fortgeführt wird. Der damals dort gepflegte, deftig harmlose Humor eignete sich zur Ablenkung vom Krieg, also wurde die Bühne zur Truppenbetreuung zwangsverpflichtet.

Kölns damaliger OB Konrad Adenauer sorgte dafür, dass sich schon im Oktober 1945 erneut der Vorhang hob – „damit die Leute wieder wat zu Lachen haben.” Der große Erfolg kam mit dem Fernsehen. Im Oktober 1953 war der Militär-Schwank „Der Etappenhase” mit Millowitsch der erste live gesendete Theaterabend der deutschen TV-Geschichte. Zwar gab’s seinerzeit bundesweit nur etwa 10 000 Fernsehapparate, doch es folgten ja noch über 100 weitere Stücke. Besagter Kracher um „Tante Jutta” hatte 1962 eine sagenhafte Zuschauerquote von 88 Prozent.

Ein Erfolgsgeheimnis ist wohl die „Erdung”, sprich: lokale Verwurzelung in Kölle. Millowitsch wurde vor seinem Tod (20. September 1999) Ehrenbürger, sein Denkmal steht dort – und bis heute pilgern Menschen ans Grab auf dem Melaten-Friedhof. Zu seinen besten Zeiten galt am Rhein: Allenfalls der Dom, der Karneval und der 1. FC Köln waren ähnlich wichtig.




„Payback“: Das Leben besteht aus Schuld und Schulden – Margaret Atwood denkt über Tage der Abrechnung nach

Auf den ersten Blick scheint es ein Buch der Stunde zu sein. Unter dem Titel „Payback” (Rückzahlung) befasst sich die weltweit prominente kanadische Autorin Margaret Atwood mit Krediten, Zinswucher, Schuldnern und Gläubigern. Erste Ausläufer der jetzigen Wirtschaftskrise spielen schon mit hinein.

Doch Atwood bedient offenkundig keine kurzatmige Aktualität, sondern bereitet ihr Thema gründlich auf. Sie beginnt nicht etwa erst bei Adam und Eva, sondern setzt viel früher an: in den unvordenklichen Urzeiten der Evolution, in denen unser genetisches Erbe entstanden ist.

Daraus erwächst eine Kernthese. Die Idee eines gerechten Gleichgewichts zwischen Schuld(en) und Abzahlung sei tief in uns eingesenkt, sie habe sich – in wechselnden Formen – durch alle Epochen und Kulturen erhalten. Sprich: Wir ernten irgendwann, was wir gesät haben, jedes Soll und Haben wird im „großen Buch” verzeichnet und eines Tages abgerechnet.

Lektionen reichen
von der Urzeit
bis zur Börsenkrise

Atwood durchpflügt ganze Bereiche der Weltgeschichte, um praktisch immer und überall auf „Schulden” jeder Sorte als treibende Kraft zu stoßen; ganz so, als ließe sich die Welt aus diesem einzigen Beweggrund heraus erklären. Eigentlich keinWunder, denn natürlich findet Atwood überall das, was sie so innig gesucht hat. Immerhin hat sie einige sarkastische, lakonisch schnoddrige Wendungen parat („Raub und Plünderung sind ja schön und gut, aber . . .”), die mit gelegentlich angestrengter Lehrhaftigkeit versöhnen.

Da wird beispielsweise der tiefere Zusammenhang zwischen Geldschulden und Sündenschuld erwogen. Auch kommen Schuldknechtschaft, altertümliche Figuren wie der „Sündenesser” (der eine Schuld für eine Gegenleistung tilgt), Opfer und Blutrache in den weitschweifigen Blick. Ein Fazit: Im Leben bleibt man fast immer etwas schuldig.

Der Faustische Pakt mit dem Teufel (auch da droht der Tag der Abrechnung) wird ebenso ausgiebig erläutert wie die Dickens-Figur des kaltherzigen Geizhalses Ebenezer Scrooge, der zur Weihnachtszeit geläutert wird und mit seinen angehäuften Reichtümern fortan nur noch Gutes bewirkt. Auch Shakespeares Schulden-Klassiker „Der Kaufmann von Venedig” wird traktiert. Atwood buchstabiert all diese Fundstellen bisweilen etwas langwierig.

Immerhin: Man lernt dazu, man lernt nicht aus, auch gibt es manchen Geistesblitz. Doch auf Dauer kommen einem die Lektionen doch etwas umständlich vor. Auch das heutige, sich nüchtern gebende Wirtschaftsleben, so ahnt man jedenfalls, ist im Grunde von alten Mythen durchwirkt. Doch manches, was Atwood auftischt, wirkt wie aus dem Hut gezaubert.

Die Schrift, so erfahren wir, sei vor allem erfunden worden, um Schulden zu notieren, nicht etwa für poetische Ergießungen. Keine große Überraschung. Ein paar Seiten später sind wir plötzlich wieder bei weit überzogenen Kreditlinien und der in dieser Hinsicht bis dato so laxen US-Mentalität. So rollt das Ganze etwas ziellos vor sich hin.

Man hegt Hoffnung, dass am Ende eine literarisch unterfütterte Schulden-Theorie mit Nutzanwendung in der heutigen Krise stehen möge. Doch diese Hoffnung wird einigermaßen enttäuscht. Statt dessen wird der geizige Scrooge auf heutige GmbH-Verhältnisse getrimmt und (wie das Original) von Geistwesen auf lehrreiche Zeitreise mitgenommen. Doch hier soll er im finalen, globalen Schnelldurchgang sinngemäß lernen, dass man Geld nicht essen kann und dass wir die Erde von unseren Kindern nur geborgt haben. Klingt ausgelutscht? Wohl wahr! Tatsächlich läuft hier schließlich alles auf herzlich gut gemeinte Öko-Appelle hinaus. Nun ja.

Warum für diese Zeigefinger-Prosa gleich fünf (!) Übersetzerinnen ‚ran mussten, ist unerfindlich. War es etwa eine Gruppenübung im Rahmen eines Förderprogramms?

Margaret Atwood: „Payback. Schulden und die Schattenseiten des Wohlstands.” Berlin Verlag. 265 S., 18 €.




Im Spiel findet der Mensch sich selbst – nachgefragt beim Dortmunder Spieleforscher Rainer Korte

Dortmund. Klingt beneidenswert: Der Sozialwissenschaftler Professor Rainer Korte von der Dortmunder Fachhochschule befasst sich beruflich mit Spielen. Seit 25 Jahren leitet er die bundesweit einzigartige „Arbeitsstelle für Spielforschung und Freizeitberatung”.

Weihnachten ist die Spiele-Zeit des Jahres schlechthin. Was also sagt der Freizeitberater: Sollen wir zu Heiligabend und an den Feiertagen in gemütlicher Runde etwa aufs Brettspiel zurückkommen? Wird das unseren ersehnten Familienfrieden befördern und den beteiligten Menschen ein Wohlgefallen sein?

Professor Rainer Korte (64) ist sich da gar nicht so sicher. Die Erwartungen seien an solchen Tagen oft zu hoch gespannt. Alle sollen mit dem Stand der Beziehungen, mit Speis und Trank sowie ihren Geschenken rundum froh und zufrieden sein. Möglichst soll auch noch Schnee liegen. Oje.

„In solchen Fällen ist es immer schwierig, Harmonie zu erzeugen. Schlimm genug, dass man so eng aufeinander hockt.” Spielen allein kann also die Lage nicht entkrampfen; erst recht nicht, wenn es sich um ein neues (vielleicht gerade frisch geschenktes) Brettspiel handelt, dessen Regeln noch keiner kennt. Dann sollte man lieber erst einmal die Finger davon lassen.

Rainer Korte: „Manche Spiele haben Regelhefte mit bis zu 30 Seiten. Bis die gelesen und von allen verstanden sind…” Tja, bis dahin hängt der Haussegen vielleicht schon schief. Dann kommen womöglich Vorwürfe wie: „Wer wollte denn hier spielen? Du doch!” Und so weiter.

Im Grunde aber preist Korte die wohltätigen sozialen Wirkungen klassischer Gesellschaftsspiele. „Mitmenschlich betrachtet, unterscheiden sie sich grundlegend vom Computerspiel. Man hat die Mitspieler als direktes Gegenüber vor Augen, man kann Freude oder auch mal Wut und Ärger gleich ‚rauslassen oder zwischendurch miteinander über ganz andere Dinge reden.” Hört sich doch gut an.

Übrigens rät der Professor auch dies: „Kinder sollte man beim Spiel nicht immer absichtlich gewinnen lassen. Sie müssen lernen, mit Frustration umzugehen.” Mensch, ärgere dich beizeiten tüchtig.

Imposant genug: Rund 3.500 Spiele hat die Dortmunder Arbeitsstelle gesammelt. Die meisten kamen nach und nach als Musterexemplare ins Haus, weil Professor Korte und seine Mitstreiter die meisten neuen Brettspiele erproben. Häufiges Manko: Die Titelbilder auf dem Karton erwecken einen völlig falschen Eindruck vom Spielhergang. Besser wär’s allemal, den Deckel vor dem Kauf zu lüften.

Die Dortmunder betreiben mit ihrem Spielefundus einen regen Leihverkehr für Schulen und Kindertagesstätten. Korte hat sich in der Szene jedenfalls einen solchen Namen gemacht, dass Spielverlage ihn mit Neuerscheinungen bemustern und ihn sogar schon als kundigen Entwickler abwerben wollten – mit dem Versprechen, er könne deutlich mehr verdienen als an der Fachhochschule…

Korte lehnte dankend ab, denn: „Ich kann doch nicht gleichzeitig Spiele erfinden und kritisieren.” Erschwerend kommt hinzu: „Spiele zu verkaufen, das ist heute ein Stress-Job. Die Branche hatte in den 80er Jahren eine Blütezeit. Doch seitdem sind sehr viele kleinere Firmen vom Markt verschwunden.”

Die letzte westfälische Domäne befand sich in Herscheid. Heute sitzen heimische Spiele-Firmen fast nur noch im süddeutschen Raum, wo die Tüftler zahlreich sind – und wo etliche Heimarbeiter werkeln; immer noch typisch für Teile des Spielwaren-Metiers.

In der Flut der Neuerscheinungen gibt’s kaum noch etwas gänzlich Neues. Meist würden nur die Muster der unverwüstlichen Klassiker mehr oder weniger geschickt variiert, sagt der Dortmunder Professor, der es aus langjährigen Vergleichen wissen muss. Eine Spiel-Idee zu patentieren, ist folglich auch so gut wie unmöglich.

Zur Orientierung in der Überfülle bietet sich das Prädikat „Spiel des Jahres” an. Doch auch davon hält der Dortmunder Fachmann nichts. „Im Grunde genommen gibt es kein ,Spiel des Jahres‘.” Warum nicht? Weil das alles eine Sache von Geschmack und Laune sei: „Man muss immer fragen: ,Wer spielt mit wem bei welcher Gelegenheit?” Erst dann könne man entscheiden, welches Spiel geeignet sei. Soso. Dann stellen wir wenigstens mal die richtige Frage zum frohen Fest: Wer spielt mit wem zu Weihnachten? Und was?

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INFOS:

  • An der Dortmunder Arbeitsstelle für Spielforschung und Freizeitberatung sind federführend tätig: Prof. Rainer Korte und Dr. Lars Thoms.
  • Sie gehören zum Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften der Fachhochschule Dortmund.
  • Kontakt zur Arbeitsstelle: Otto-Hahn-Straße 23, 44227 Dortmund. Netz: www.spielforschung.de
  • Brett- und Kartenspiele sind Arbeitsschwerpunkte, doch die Dortmunder Experten kennen sich zum Beispiel auch mit Modellautos aus – und erstellen Gutachten zur Spielzeug-Sicherheit (Stichwort: gefährlicher Pfusch aus China und anderswo).
  • Passender Sinnspruch von Friedrich Schiller: „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.” Und Henrik Ibsen befand: „Etwas Gescheiteres kann einer doch nicht treiben in dieser schönen Welt, als zu spielen.”
  • Aktuelle These zum Thema: In der Wirtschaftskrise, so hofft jedenfalls die Branche, seien die immer wieder verwendbaren Brettspiele gefragt – weil andere Freizeitvergnügungen auf Dauer zu teuer werden.



Deutsche Sprache – unverwüstlich: Bonner Haus der Geschichte illustriert den vielfältigen Wandel

Bonn. Absichtslos ins Blaue gezielt und trotzdem ein aktueller Treffer! Vor eineinhalb Jahren hatte das Bonner Haus der Geschichte begonnen, seine Ausstellung „Man spricht Deutsch” vorzubereiten. Da konnte noch niemand wissen, dass Ende 2008 eine fast hitzige Debatte darüber aufkommen würde, ob unsere vorwiegende Landessprache als Leitideal im Grundgesetz verankert werden soll.

Mal abgesehen von solchen Bestrebungen, hört sich auch folgender Befund zweischneidig an: Als „Geltungszwerg und Bedeutungsriese” könne das Deutsche (je nach Perspektive) gelten. Prof. Hans Ottomeyer fand die paradox klingende Formulierung, die ungefähr dies besagt: Weltweit spielt unsere Sprache nur eine Nebenrolle, doch hat sie sich so reich entfaltet wie kaum eine andere. Wenn das kein Grund genug zur Freude am geschliffenen Wort ist!

Der Geltungszwerg
gilt zugleich als
Bedeutungsriese

Ottomeyer leitet das Deutsche Historische Museum in Berlin, das diesmal eng mit dem Bonner Haus der Geschichte kooperiert und auch den selben Ausstellungs-Architekten engagiert hat. Vernünftige Arbeitsteilung: Bonn konzentriert sich jetzt auf den Sprachwandel seit dem Zweiten Weltkrieg, Berlin wird ab Januar bis in die Anfangsgründe der Sprachgeschichte zurückblicken.

Der Parcours ist ebenso eng wie kurzweilig geraten: Dicht an dicht sind rund 500 Exponate angehäuft, die so gut wie jeden Aspekt der deutschen Gegenwartssprache anklingen lassen. Einschlägige Tondokumente, Filmausschnitte (natürlich auch Gerhard Polts Satire „Man spricht deutsh”) und anspielungsreiche Gegenstände lockern die Abfolge der Schriftstücke auf.

Da geht es um frühkindlichen Spracherwerb, um ein- und ausgewanderte Ausdrücke, um die hässlichsten und schönsten (Libelle, Habseligkeiten) Wörter, den gar mächtigen Einfluss des Englischen, um Sprachprobleme der Migranten, deutsch-deutsche Vokabel-Differenzen und um die allzeit wechselhaften Jugend-Jargons seit dem flockigen Gerede der „Halbstarken” in den 50er Jahren („Zentralschaffe”) – bis hin zum türkisch-deutsch gemixten Straßen-Idiom „Kanak-Sprak”.

Auch Seitenblicke auf Gebärdensprache, Dichtkunst und Dialekte fehlen nicht. Werbe- und Polit-Sprache (längst nicht mehr so knackig wie bei Wehner und Strauß) geraten gleichfalls ins Visier. Vielerlei Stoff, fürwahr.

Etliche weitere Themen quellen aus dem Füllhorn. Auch der Einfluss von Fernsehen oder Internet auf Leselust und Lesefähigkeit wird angerissen, ebenso die Klischees vom Deutschen in anderen Ländern: harter Klang, Anmutung soldatischer Zackigkeit. Voltaire spottete schon 1750, Deutsch tauge „nur für Soldaten und Pferde”.

Bald weltweit auf
Werbetournee durch
die Goethe-Institute

Man bekommt zahlreiche kleine Denkanstöße – mit hübschen Details wie jenem Foto vom „Gastarbeiter”-Sprachunterricht der frühen 60er. Da steht an der Tafel ein zeittypisch kreuzbraver Übungssatz: „Der Herr gibt der Dame den Bleistift.” Nostalgisch auch die in langen Deutschstunden von Schülern verzierten und beschmierten Reclam-Hefte. Ein ähnliches Exemplar könnte wohl fast jeder beisteuern.

Sprache lässt sich nur umständlich bebildern, doch die Bonner lassen sich nicht lumpen. Die Erinnerung an die 50er wird etwa mit zeitgenössischen Comics und dito Kofferradios wachgerufen. Ein eigens gebauter Schreibroboter (der gleich nach Eröffnung der Schau den Geist aufgab) sollte mit metallischer Geisterhand (un)sinnige „Manifeste” zu Papier bringen, man hatte ihn mit Wortkaskaden und Satzbildungsregeln gefüttert. Immer wieder kann der Besucher sein Wissen testen – anhand von Quiz-Klappen mit aufgedruckter Frage und verborgener Antwort.

Die Schau versteht sich ausdrücklich als „Werbung” für die deutsche Sprache, sie wird anschließend einige Jahre lang vom Goethe-Institut auf Welttournee geschickt. Also gibt man zwar die eine oder andere kleine Bedrohung zu, doch im Grunde erscheint unsere Sprache als unverwüstlich und vital. Die Ausstellung gibt uns tröstlich zu verstehen: Das Deutsche habe schon manches verwunden und werde noch manches überstehen – auch steifen Bürokratenjargon, Anglizismen, SMS- oder Internet-Kürzel. Was die Sprache nicht abmurkst, kann sie bereichern.

„Man spricht Deutsch”. Haus der Geschichte, Bonn, Willy-Brandt-Allee 14. Bis 1. März 2009. Geöffnet Di-So 9-19 Uhr, Eintritt frei.

Die Sprachausstellung ergänzt die im selben Haus laufende Schau „Flagge zeigen. Die Deutschen und ihre Nationalsymbole” (bis 13. April 2009, ebenfalls Di-So 9-19 Uhr).

Die Berliner Sprachausstellung beginnt am 15. Januar 2009 im Deutschen Historischen Museum.




Wie die USA vor 50 Jahren waren – Jetzt in der Werkausgabe: „Amerikafahrt“ des Schriftstellers Wolfgang Koeppen

Da ist einer soeben in New York angekommen und schreibt: „Schon sah ich einen Wolkenkratzer brennen, den Broadway lohen, schon las ich die Schlagzeilen auf allen Zeitungen der Welt. Gewaltige Katastrophen schienen hier in der Luft zu liegen.”

Wann ist das gewesen? Kurz vor oder nach dem 11. September 2001? Weit gefehlt. Es war im Frühjahr 1958. Da hat jemand latente Gefahren gewittert, die in jener Mega-Stadt vielleicht von jeher in der Luft gelegen haben. Der Mann hieß Wolfgang Koeppen und zählte zu den wichtigsten deutschen Schriftstellern nach dem Krieg.

Es ist ungemein spannend, jetzt – im Rahmen der höchst verdienstvollen Werkausgabe – wieder zu lesen, was Koeppen damals auf seinen Wegen kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten bewegt hat.

Koeppen lässt eindeutige Vorlieben erkennen: San Francisco und Boston erscheinen ihm wie nahezu himmlische Orte, Salt Lake City und New Orleans hingegen als öde, überhitzte Höllenbezirke auf Erden. Die Fegefeuer der aus Faszination und Furcht gemischten Gefühle brennen in Washington, Texas und Los Angeles. Doch New York ist in jeder Hinsicht ein herausragender Sonderfall.

Mit dem soliden Halbwissen darüber, was mittlerweile aus den USA geworden ist, staunt man als Leser, wie Koeppen offenkundig schon manche Essenzen des Kommenden herausgefiltert hat – schlichtweg durch geduldig teilnehmendes, im besten Sinne subjektiv getöntes Beobachten. Historisch geschärftes Bewusstsein und die Wachhheit eines klugen, hochsensiblen Zeitgenossen vereinen sich hier zur vertrauenswürdigen Zeugenschaft.

Gewiss, man spürt den geschichtlichen Abstand. Gerade das macht einen weiteren Reiz dieses Buches aus. Koeppen spricht durchweg noch – wie damals allgemein üblich – von „Negern”, wenn er Menschen meint, die wir heute politisch korrekt Afro-Amerikaner nennen. Aber: Er begibt sich (anders als damals die allermeisten Weißen) in die Wohnviertel und Kneipen der Farbigen, benennt Symptome und Formen der täglichen Unterdrückung.

Überhaupt nimmt Koeppen Vorgänge wahr, die tiefer reichen und länger währen als kurzatmige Aufregungen der Tagespolitik. Er ist durchaus zur Bewunderung bereit: Beispielsweise preist er die aus vitaler Vielfalt erwachsende, fortwährende Kraft zur Selbsterneuerung, die die Staaten ja jüngst wieder bewiesen haben. Weiterer Befund: In den USA könne sich jederzeit Geld in Geist verwandeln – allerdings auch umgekehrt …

Die Dominanz von Auto und Fernsehen entgeht Koeppen natürlich nicht. Schon 1958 gibt es dort eine TV-Show, die ihm geradezu brutal vorkommt: „Sie waren Leute aus dem Publikum und wurden auf eine Art Thron gesetzt. Dann traten Komiker vor sie hin, freche, mit allen Hunden gehetzte Kerle, die darauf aus waren, die Personen zum Lachen zu bringen.” Und wehe, wenn nicht! – Mal gespannt, welcher Privatsender diese Idee bald aufgreift.

Zielgenau charakterisiert Koeppen die gravierenden Unterschiede zu Europa, seien sie nun klimatischer oder mentalitätsgeschichtlicher Art. Er hat gar eine spezifisch amerikanische Form menschlicher Einsamkeit entdeckt, die er so bildhaft beschreibt, dass sie geradezu als landschaftlich umrissenes Phänomen greifbar wird. Überhaupt sieht man unentwegt imaginäre Fotografien oder Kinobilder vor sich, wenn man diese famosen Reise-Impressionen liest. Koeppens Stil animiert die Einbildungskraft. Kein Zweifel: große Literatur!

Wolfgang Koeppen: „Amerikafahrt und andere Reisen in die Neue Welt”, Suhrkamp-Verlag, Werkausgabe in 16 Bänden (Band 9), 333 Seiten, 34,80 Euro.

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ZUR PERSON

  • Wolfgang Koeppen wird am 23. Juni 1906 in Greifswald geboren.
  • Unstetes Leben in der Weimarer Republik. Jobs als Platzanweiser, Eisverkäufer, Schiffskoch. Umzug nach Berlin, erste Publikationen.
  • 1934 Romandebüt mit „Eine unglückliche Liebe”.
  • Koeppen verfasst ab 1938 Drehbücher für die Ufa.
  • Ab 1946 Beziehung und später Ehe mit Marion, die zunehmend unter Alkoholismus leidet. Ihr Briefwechsel erschien Anfang 2008: „. . . trotz allem, so wie du bist”, Suhrkamp, 457 S., 32,80 €.
  • Wichtigste Romane: „Tauben im Gras” (1951) und „Das Treibhaus” (1954) über das damalige politische Bonn.
  • Die Reisen nach Russland, Amerika und Frankreich unternahm Koeppen in den 50er Jahren im Auftrag von Alfred Andersch, damals Redakteur beim Süddeutschen Rundfunk.
  • Legendär sind Koeppens lang andauernde Schreibkrisen. Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld hatte sehr viel Geduld mit ihm und half stets mit Vorschüssen. Davon zeugt ebenfalls ein Briefwechsel.
  • Koeppen starb am 15. März 1996 in München.



Der ganze Wahnwitz in einem Buch – „Narratorium“ von Ulrich Holbein

Jetzt wollen wir’s aber wissen: Welches Buch hat in dieser Saison die größte thematische Spannweite? Welcher Band versammelt in hochkonzentrierter Form den meisten Wahnsinn?

Nun, da mag es einige Kandidaten geben, doch die reichhaltigste Fundgrube in beiderlei Hinsicht dürfte das „Narratorium” sein. Im Titel klingt Doppelsinn an: Es geht um schier unerschöpfliche Vorräte an Erzählstoff (also „narrative” Qualitäten), zugleich aber um Narretei und Besessenheit jeder denkbaren Sorte. Da steht nun der finstere Terrorfürst Osama bin Laden neben einem Fuzzi wie Dieter Bohlen, der erzpessimistische Denker E. M. Cioran neben der erotischen Tanzikone Josephine Baker, Jesus neben Hitler, Klaus Kinski neben Kafka, Joseph Beuys, Bhagwan, Rudolf Steiner, Janis Joplin oder Prinz Charles. Und so weiter. Gütiger Himmel, hilf!

255 Kapitel zum Kopfschütteln

Der enzyklopädisch belesene, allzeit scharfzüngige Autor Ulrich Holbein hat recherchiert wie ein Berserker. Er ist in Auswahl und Darstellung nicht zimperlich; er jagt echte Genies (z. B. den Romancier Jean Paul), Visionäre und halbwegs harmlose Apostel, doch auch Diktatoren und Mörder durchs Panoptikum.

Holbein hat ein radikal subjektives, verstörendes, höchst unterhaltsames Lexikon der „Verrückten” aus zweieinhalbtausend Jahren Menschheitsgeschichte zusammengetragen. Die meisten Gestalten haben tatsächlich gelebt, einige der Porträtierten sind fiktiv, haben aber das kollektive Bewusstsein geprägt. Man lernt hier bizarre Leute kennen, von denen man noch nie gehört hat. Und über die, von denen man schon etwas wusste, erfährt man oft noch Bestürzendes.

In rasanten, stark zugespitzten und süffig formulierten Porträts filtert Holbein die Essenz von 255 größtenteils irrwitzigen Lebensläufen, garniert mit typischen Zitaten und Selbsteinschätzungen der Beschriebenen. Da kommt man aus dem Kopfschütteln oft gar nicht mehr heraus. Religiös, aber auch weltlich Verzückte und Verirrte aller historisch verbrieften Zeiten betreten da die Bühne; ferner Schamanen und Sonderlinge, Weltverbesserer, Gurus, Exzentriker, Extremisten, Unholde, Verbrecher und überhaupt auffällige Gestalten jeder Schattierung.

Methoden zur „kunstgerechten Kreuzigung“

Wir greifen willkürlich ein Beispiel heraus: den irrlichternden Freigeist namens „Mynona” (alias Salomo Friedlaender), der von 1871 bis 1946 sein schrilles Wesen getrieben hat. Dieser Mann, den man mit Fug randständig nennen könnte und der doch auch etwas Genialisches hatte, dachte sich mit Akribie Methoden zur „kunstgerechten Kreuzigung” von Heilanden aus, schrieb Abhandlungen über die „Funktion der Milz auf der 3. transzendentalen Ebene” sowie „über Stimmbandverkümmerung in der Vagina von Hermaphroditen”. Seltsam genug.

Zudem focht „Mynona” leidenschaftlich für die Nichtverbesserung von Druckfehlern und verlangte im Laden stets „Toilettenpapier mit Trauerrand”. Genug, genug. Es ist nur ein Bruchteil seiner gehäuften Absonderlichkeiten. Jetzt rechnen Sie das mal auf 255 Lebensläufe hoch! Dass „Mynonas” Biographie in der NS-Zeit eine tief tragische Wendung nahm, verleiht der Darstellung – weit über kuriose Aspekte hinaus – historische Tiefenschärfe. Genau diese Einordnung in größere Zusammenhänge ist die Stärke des Buches. Ulrich Holbein ist ein Durchblicker sondergleichen – und klingt manchmal selbst ganz schön hochmütig. Geschenkt.

Glückliche Erschöpfung nach der Lektüre

Und der Nutzen? Wenn man das Buch gelesen hat, darf man glücklich erschöpft feststellen: Man hat gedanklich den ganzen Kreis dessen durchschritten, was Menschen anrichten können. Auch lernt man, mit welchen Ideen und Taten sich Menschen im Lauf der Zeiten verführen ließen. So erkennt man womöglich die Muster wieder und wappnet sich gegen böse Wiederholungen.

Diese ungeheure alphabetische Ansammlung erträgt man allerdings nur dosiert. Schon einzelne Lebensbilder strapazieren Toleranzbereitschaft und Vorstellungsvermögen, nötigen aber auch immer wieder ungläubiges Staunen ab über ungeahnte Grenzgänge des Lebens.

Wer man auch sei: Am Ende dieser aufregenden Lektüre kommt man sich selbst in aller Bescheidenheit wohl „fürchterlich normal” vor. Wenn das kein Zugewinn an höherer Weisheit ist!

Ulrich Holbein: „Narratorium”. 255 Lebensbilder. Ammann Verlag. 1008 S., 39,90 Euro.

(Der Autor Ulrich Holbein, Jahrgang 1953, lebt abseits vom großen Getriebe im hessischen Knüllwald. Bisherige Bücher von ihm hießen z. B. „Die vollbesetzte Bildungslücke”, „Ozeanische Sekunde”, „Das Schwein der Erkenntnis”, „Typologie der Berauschten”, „Weltverschönerung”).

Weitere Infos u. Debatte im Internet: http://www.narratorium.net




Altes Westfalen in bewegten Bildern – das Filmarchiv des Landschaftsverbandes

Münster/Dortmund. Haben Sie noch alte Filme auf dem Dachboden? Aufnahmen von fröhlichen Familien- oder Vereinsfeiern, Stadtfesten, Spaziergängen – oder aus dem ganz gewöhnlichen Alltag? Dann werfen Sie lieber nichts weg. Es könnten Schätze auf Zelluloid darunter sein.

Die Archivare beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) sammeln solche Kleinode mit Akribie. In den klimatisierten Kellern zu Münster lagern reiche Regional-Bestände. Derzeit sind es rund 3000 Filme – vom Zufalls-Schnipsel bis zum abendfüllenden Streifen. Gehaltvoller Nachschub ist stets willkommen. Jeder unscheinbare Amateurfilm kann eine wertvolle Quelle sein.

Der aus Attendorn stammende Markus Köster, Leiter des LWL-Medienzentrums: „An solche Filme knüpfen sich auch Emotionen und Heimatgefühle: ,Aha, so sah es damals in unserem Viertel aus.'“ Besonders prägnante, nostalgische Filmzeugnisse aus dem LWL-Archiv kann man denn auch im Buchhandel kaufen (siehe Infos).

Neuerdings ist es möglich, im Internet gezielt nach Schlagworten zu suchen, mit denen diese Filme jetzt allmählich (oft sekundengenau) erschlossen werden. 740 Streifen kann man in der Datenbank bereits verbal abtasten; beispielsweise, indem man Suchworte wie. „Schützenfest“ (sehr viele Fundstellen!) oder „Waldspaziergang“ eingibt. Auch bitterernste historische Vorgänge wie lokale Propaganda-Auftritte der NS-Zeit sind so auffindbar.

Das bislang älteste Filmdokument, das in Münster verwahrt wird, stammt von 1911. In Kürze kommt eines von 1908 hinzu, das jüngst in Schottland auftauchte und beim damaligen Unglück auf der Hammer Zeche Radbod entstanden ist, bei dem 350 Bergleute ihr Leben verloren.

Die Schätze der Elisabeth Wilms aus Dortmund

Westfalens Filmarchiv wächst ständig. Selten handelt es sich um so umfangreiche Bestände wie jene aus Dortmund: Die rund 200 Filmspulen der Elisabeth Wilms füllen in Münster etliche Regalmeter. Über Jahrzehnte hinweg hatte die Bäckersgattin Veränderungen in ihrer Heimat filmisch festgehalten. Ihre bewegenden Aufnahmen aus dem Hungerwinter 1946 gaben einen Anstoß zu humanitären Hilfsaktionen (Care-Pakete). Später dokumentierte Wilms den Wiederaufbau (auch den Neubau der Westfalenhalle bis 1952). Nach ihrem Tod vermachte sie die Filme einer Kirchengemeinde, doch die wurde der vielen Anfragen nicht mehr Herr – und reichte die Schätze an den LWL weiter.

Deutlich kleiner, doch inhaltlich auch nicht zu verachten ist eine Reihe von Kreis-Porträts aus den frühen 70er Jahren. So erscheint u. a. der Kreis Olpe im typischen Stil jener Zeit, Schlaghosen und Schockfarben inklusive.

Nicht nur mit Inhalten, sondern auch mit technischen Gegebenheiten befassen sich die LWL-Experten. Betrüblich genug: Je neuer die Speichertechnik, um so kürzer die Haltbarkeit. Die alten Filmspulen halten bei idealen Bedingungen immerhin 100 bis 200 Jahre. Sie werden deshalb als Basis-Material auf jeden Fall aufgehoben. Auf die kurzlebige DVD wird vor allem deshalb umkopiert, um die Originale zu schonen und um rasch auf bestimmte Szenen zuzugreifen.

Die Sammlung umfasst Profi-und Amateur-Filme bis in die 70er Jahre – ganz gleich, in welchem technischen Format. Nur Nitrofilme (brandgefährlich und daher verboten) werden nach Kopie von der Feuerwehr vernichtet. In den 80er Jahren kamen Videos im Privatbereich auf. Wie man diese archiviert, ist noch ungeklärt. Allmählich wird’s jedenfalls ein dringliches Problem, denn die VHS-Kassetten aus den 80ern fangen bereits an zu verkleben…

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INFOS
Highlights auf DVD

  • Wenn man eigene oder ererbte alte Filme verwahrt, kann man sie dem LWL als „Dauerleihgabe“ überlassen. Das Eigentumsrecht bleibt beim Spender.
  • Die Medienexperten vom LWL holen Filme in ganz Westfalen selbst ab.
  • Ansprechpartner in Münster: Markus Köster (Leiter LWL-Medienzentrum), Volker Jakob (Referatsleiter Bild-, Film-, Tonarchiv), Ralf Springer (Aufbau der Filmdatenbank).
  • DVDs wie „Durch das schöne Westfalen“ oder „Der Ruhrkampf“ kosten im Buchhandel je 14,90 Euro.
  • Internet: http://www.filmarchiv-westfalen.de

(Dieser Beitrag stand am 25. November 2008 in der „Westfälischen Rundschau“)




Nico: Die Frau mit der Sirenenstimme

Köln. Christa Päffgen war ein Weltstar, ja geradezu eine Ikone der Popmusik. Wie bitte? Christa Wer? Nun, weitaus bekannter war die gebürtige Kölnerin unter ihrem Künstlernamen „Nico“ – und geradezu legendär wurde sie als zeitweilige Sängerin der Kultband „Velvet Underground“.

Zur Erinnerung: Diese formidable Formation um Lou Reed und John Cale spielte anfangs unter der Ägide des Pop-Künstlers Andy Warhol, der auch das berühmte Bananen-Cover für ihre Debüt-Platte schuf. Das immens einflussreiche Album hieß „The Velvet Underground & Nico“ und war mit düsteren Titeln („I’m Waiting for my Man“, „Venus in Furs“, „Femme Fatale“, „Heroin“, „All Tomorrow’s Parties“) ein Meilenstein der Rockgeschichte. Nicht zuletzt lag es an Nicos suggestivem Sirenengesang, der sich mit hartem deutschen Akzent im Niemandsland zwischen Minimalismus und Nihilismus erging.

Die Ausstellung, mit der das Kölner Museum für Angewandte Kunst jetzt an Nico (1938-1988) erinnert, erweist sich mit zahlreichen Doku¬menten (Bilder, Texte, Filme und Töne – auch via Audioguide) als weit verzweigte Spurensuche. Sie ist mehr als eine bloße Reliquienschau.

Kaum zu glauben, in welchen Sphären sich diese Nico bewegt hat. Ihr Dasein als öffentliche Frau begann beileibe nicht erst im Pop-Geschäft. Nico wurde in hohem Maße zur Projektionsfläche diverser Männerphantasien. Wahrscheinlich ist sie daran zerbrochen; vielleicht auch am Überangebot der Freiheiten, das sich damals aufgetan hat.

Schon mit 16 Jahren wurde sie in Berlin als Model (damaliger Ausdruck: Mannequin) der Marke „Lolita“ entdeckt und zog bald nach Paris, wo sie den Künstlernamen „Nico“ annahm. Sie zierte die Titelseiten von Magazinen wie dem „Stern“ (1959 – Fotograf: Charles Wilp) oder des Zeitgeistblattes „Twen“ (1961). Auch die Glamour-Postillen „Elle“ und „Vogue“ wurden aufmerksam auf die Blondine mit der Aura zwischen Unschuld und Erfahrung. Später mengten sich mehr und mehr Schattierungen todessüchtiger Traurigkeit und von Dämonie mit hinein.

Eigentlich kein Wunder, dass ein auf optische Sensationen versessener Mann wie Federico Fellini sie dann 1960auch für den Film rekrutierte. Nico spielte eine kleine, aber seltsam faszinierende Rolle in dem Klassiker „La dolce vita“ (Das süße Leben) – neben den Stars Marcello Mastroianni, Anita Ekberg und Anouk Aimée. Einem gewissen Bob Dylan prägte sich Nicos kurzer Kinoauftritt derart ein, dass er ihr den Song „I’ll keep it with mine“ (1965) widmete. Folgenreicher Vorfall jener Jahre: Der Filmschönling Alain Delon schwängerte sie, wollte aber den gemeinsamen Sohn Ari nie anerkennen.

Nach dem furiosen Einsatz bei „Velvet Underground“ vagabundierte Nico durch die wildesten „Szenen“ der späten 60er Jahre. Klischee-Stichworte sind schnell genannt: Sex, Drogen, überdrehtes Leben am Rande des Todes. Nico faszinierte denn auch andere, früh verstorbene Rockgrößen: Jim Morrison (1943-1971) von den „Doors“ überredete sie zu musikalischen Solo-Projekten. Eine Zeit lang gehörte sie zu den Groupies im Gefolge der Rolling Stones, besonders der Gitarrist Brian Jones (1942-1969) war ihr zugetan. Stärkste Platte dieser Phase: „Chelsea Girl“ mit dem phänomenalen Titel „These Days“.

Zunehmend stilisierte die einstige Blondine zur dunklen, schläfrig wandelnden Erscheinung. Schwarz gefärbtes Haar, finster umflorter Blick, ausgezehrtes Gesicht. Später, in den 80er Jahren, gibt es erschreckende Bilder von einer aufgedunsenen, durch harte Drogen vorzeitig vergreisten Frau.

Den windungsreichen Weg, der immerzu bergab führt, kann man anhand der in Köln kenntnisreich ausgebreiteten Dokumente eingehend verfolgen. Hie und da könnte man glauben, Nico sehr nahe zu kommen; so etwa, wenn man die rasch hingefetzten Postkarten von ihrer zittrigen Hand liest. Diese fahrige, flüchtige Schrift, diese ziellose Signatur eines verletzlichen Menschen, der alle Wurzeln gekappt hat und sich nicht mehr zurechtfindet: Wort-Bruchstücke aus Herzen der Finsternis.

„Nico – Stationen einer Pop-Ikone“. Museum für Angewandte Kunst, Köln, An der Rechtsschule (neben dem Dom/Hauptbahnhof). Bis 1. Februar 2009. Geöffnet Di-So 11-17 Uhr. Eintritt 5 Euro. Internet: http://www.nico-cologne.de

(Der Beitrag stand am 21. November 2008 in der „Westfälischen Rundschau“)




Künstlerpaare: Höhenflüge und Abstürze zu zweit

Manches Künstlerpaar ist zur filmreifen Legende geworden: Auguste Rodin und Camille Claudel etwa. Der Kraftmensch, beim Kennenlernen schon 42 – und die fragile 18-Jährige, die nicht nur folgsam von ihm lernte, sondern bildhauerisch zeitweise mindestens ebenbürtig war. Doch als er sie verließ, verfiel sie allmählich dem Wahnsinn.

Nicht immer verlaufen die Paar-Beziehungen unter Künstlern so dramatisch. Und nicht immer liegt der Einfluss so auf der Hand. Camille Claudel machte sich nicht nur Rodins Technik zu eigen, die Oberflächen der Skulpturen schrundig aufzurauen. Auch thematisch orientierte sie sich an ihm.

Worauf die Frauen
verzichtet haben

Gleich 13 aufschlussreiche, in vielen Facetten schillernde, atmosphärisch aufgeladene Paargeschichten der Kunst erkundet, erzählt und „bebildert” das Kölner Wallraf Richartz Museum ausgiebig. Der zum tieferen Verständnis unverzichtbare Katalog dokumentiert noch einige mehr. Es gibt ja so viele leidenschaftliche Kunst- und Paarwelten.

Ungefähr zwischen 1880 und 1970 ereignen sich die Begegnungen, die stets bildnerische Früchte tragen – oft wechselseitig. Mal profitiert eine Schülerin vom erfahrenen Lehrer, dann ist es umgekehrt: Lee Krasner bringt Jackson Pollock wenigstens vorübergehend vom Alkohol ab und hält ihm den Rücken frei. Marianne von Werefkin fördert den vier Jahre jüngeren Alexej Jawlensky und hält sich selbst zurück – bis der sie „zum Dank” mit der Haushälterin hintergeht. Bezeichnend das Werefkin-Gemälde „Tragische Stimmung”, das in erdigen Rotbraun-Tönen vibrierende Zornbild einer gescheiterten Liebschaft.

In derlei Fällen fragt sich nicht nur die Feministin, worauf die Frauen verzichtet haben und was sie andernfalls künstlerisch aus sich hätten machen können. Vielfach wurde den Herren die Frau an ihrer Seite schlichtweg „zu gut”. Paula Modersohn-Becker übertraf ihren einstigen Mentor und späteren Ehemann Otto Modersohn irgendwann an Strahlkraft. Der war zuerst fasziniert, sodann freilich befremdet. Sie entfernte sich ja von ihm!

Historisch sich wandelnde Rollenmuster spielen in solche Verhältnisse hinein. Und gemeinsame Projekte (revolutionäre oder ästhetische Aufbrüche) beflügeln Künstlerpaare, doch stets drohen auch Abstürze zu zweit.

Frida Kahlo und Diego Rivera marterten einander mit anderweitigen Affären. Köln kann einige Leitstücke der Paarkunst aufbieten, darunter Kahlos doppeltes Wunschbildnis mit Rivera. Beide Gesichter verschmelzen da innig miteinander. Ersehnte Harmonie, in der Wirklichkeit niemals ganz einzulösen.

Treue bis über
den Tod hinaus

Innige Zweisamkeit spürt man vor allem in den Arbeiten des Dadaisten-Paares Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp. Hier scheinen kaum erklärliche Phänomene wie der Gefühls- und Gedankenübertragung am Werke zu sein. Noch rund 20 Jahre nach Sophies Tod macht sich Hans (Jean) Arp daran, einen ihrer alten Entwürfe neu zu beleben. Welch eine (eben nicht nur künstlerische) Treue über den Tod hinaus. Wahrlich anrührend.

Mindestens ebenso spannend sind uneindeutige Mischverhältnisse in Beziehungen, zumal in Zeiten, wo die männliche Dominanz längst nicht mehr üblich ist. Beispiel: Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely haben ihre Positionen offenkundig fragil ausbalanciert. Ein gemeinsamer Brunnenentwurf lässt es ahnen. Es ist keine Symbiose, doch es sind in schönster Gleichwertigkeit glückhaft aufeinander eingeschwungene Formen. So soll es sein.

„Künstlerpaare”. Köln, Wallraf-Richartz-Museum (direkt am Rathaus). Bis 8. Februar 2009. Geöffnet Di-Fr 10-18, Do 10-22, Sa/So 11-18 Uhr. Eintritt 10 €, Katalog 39 €

  • Neben den erwähnten Paaren werden in der Schau außerdem ausführlich behandelt: Gabriele Münter und Wassily Kandinsky, Sonia und Robert Delaunay, Natalia Gontscharowa und Michail Larionow, Hannah Höch und Raoul Hausmann, Georgia O’Keeffe und Alfred Stieglitz, Ray und Charles Eames.



Grönemeyer: Einsatz für Bochum

Bochum. Das Datum ist markant, der Anlass ebenfalls: Am 6. 6. 2009 wird Herbert Grönemeyer im Bochumer Fußballstadion ein Benefiz-Gastspiel fürs künftige Konzerthaus der Stadt geben. Willkommen daheim!

Der in Bochum aufgewachsene Grönemeyer (Geradeaus-Hits: „Bochum“, „Mensch“, „Männer“, „Currywurst“) beliebte gestern zu unken: „20 000 Leute sollten schon mindestens kommen, sonst müsste ich persönlich für Verluste geradestehen.“ Aber mit diesem Risiko rechnet eigentlich niemand – schon gar nicht „tief im Westen“. 28 000 Menschen passen bei einem solchen Konzert in die Bochumer Arena hinein. Wenn am kommenden Samstag der Vorverkauf beginnt, dürfte diese Zahl wohl recht bald erreicht werden, denn es ist ja (obwohl der 52-Jährige heute in London lebt) ein gefühltes „Heimspiel“.

Mietfreie Arena, höhere Eintrittspreise, Verzicht auf Gagen

Manche munkeln gar schon von einem „Plan B“ für ein zweites Konzert am Folgetag. Herbert Grönemeyer mag nichts überstürzen, aber: „Wenn jetzt eine Hysterie ausbrechen sollte, kann man ja darüber nachdenken.“

Jede Mehreinnahme wäre willkommen. Rund 4,5 Millionen Euro fehlen noch zur kompletten Finanzierung (rund 29,3 Mio. €) des Konzerthauses in der Stadt, deren mehr als heimliche Hymne von „Herbie“ stammt. Kaum übertrieben: „Hier nehmen es mir viele Leute sogar übel, falls ich ,Bochum‘ nicht wenigstens zweimal singe.“

Wenn Grönemeyer am 6. Juni (einem Samstag) gemeinsam mit den Bochumer Symphonikern im Stadion auftritt, gelten erhöhte Eintrittspreise von durchschnittlich 73 Euro. Ein Einzelkonzert ist vergleichsweise aufwendiger als eines im Tourneerahmen. Grönemeyer: „Das läuft nicht nach dem Motto: Wir gehen da mal eben hin und singen ein bisschen.“ Wer den höheren Eintritt entrichte, könne sich außerdem selbst gratulieren, etwa so: „Ich habe den Zapfhahn an der Theke des Konzerthauses mitbezahlt.“ Na, wenn das nichts ist!

Das Stadion bleibt am 6. Juni mietfrei. Und alle Mitwirkenden werden auf ihre Gagen verzichten. Also könnte ein hübsches Sümmchen fürs Konzerthaus herausspringen. Mindestens ebenso wichtig ist die Vorbildfunktion: Im Sog von Grönemeyers Gastspiel soll so mancher spenden, der bisher vielleicht noch gezögert hat. Diesen Effekt erhofft sich auch Bochums Oberbürgermeisterin Ottilie Scholz, die gestern klarstellte: „Wir müssen noch fleißig sammeln und brauchen jeden Euro.“

Den Zeitpunkt für seine Konzert-Ankündigung hat Grönemeyer übrigens günstig gewählt: An diesem Freitag (7. November) kommt seine neue Single mit dem schlichten Titel „Glück“ heraus, am 21. November erscheint das Best-of-Album „Was muss muss“. Also wird jetzt sowieso die Werbetrommel gerührt.

Das Programm für den 6. Juni steht noch nicht fest, doch „es wird wohl etwas getragener‘ werden als üblich.“ Auftritte mit einem Orchester sind für einen Popstar wie ihn immer noch etwas Besonderes: „Man fühlt sich da so schön eingebettet. Aber wir werden viel proben müssen, um Phrasierung und Tempo aufeinander abzustimmen.“

Selbstverständlich kommt er auch diesmal nicht an Fragen nach dem Revier vorbei. Ja, wenn er mal wieder hier sei, fahre er mit dem Auto noch die alten Nostalgie-Strecken ab. Was er in der Fremde am meisten vermisse? Nun, vor allem die ehrliche Ruhri-Sprache. Und womit die Region „draußen“ am besten für sich werben könne? Na, mit Kultur! Aber nicht mit jeder Sorte. „Die Menschen lassen sich hier nix vormachen.“

Schließlich Grönemeyers scherzhafte Drohung: „Wenn das Bochumer Konzerthaus erst steht, werde ich dort wöchentlich auftreten. Bis mich niemand mehr hören will.“

(Der Beitrag stand am 5. November 2008 in der „Westfälischen Rundschau“)




Leonard Cohen: Jeder Zoll Würde und Weisheit

Oberhausen. Mit dem Wort „Sensation” sollte man sehr vorsichtig sein, aber dies ist gewiss eine: Leonard Cohen, der große kanadische Sänger und Songschreiber, ist nach 15 Jahren Abwesenheit und innerer Einkehr auf die Bühnen der Welt zurückgekehrt.

Der jetzt 74-Jährige zelebriert in der Oberhausener Arena ein unvergessliches Konzert, das mit Pause weit über drei Stunden währt. Gibt’s dabei keine langatmigen Minuten? Wohl kaum! Und das keineswegs nur wegen der berühmten Titel wie „Suzanne” und „So long, Marianne”, bei denen die Menschen geradezu andächtig sanft mitsummen.

Dunkler Anzug, graues Hemd, klassischer Herrenhut, eine Haltung von Anmut und Demut. Zuweilen kniet Cohen auf der Bühne buchstäblich nieder vor den Inbildern dunkler Poesie und ewig besungener Weiblichkeit. Manche Wörter raunt er wie ein Verschwörer, halb hinter vorgehaltener Hand.

Doch gern bewegt sich Cohen auch heiteren Sinnes, swingend im Kreise seiner erlesenen Musikerschar, die er gleich zweimal ausgiebig preisend vorstellt (doch die einzige, verzeihliche Länge im Programm). Stellenweise fühlt man sich gar an die Lässigkeit eines Frank Sinatra erinnert, doch Cohens Stimm- und Gefühlslage lotet ja die untersten Bassregister aus. Vor allem aber reicht seine subtile Song-Lyrik in ganz andere Daseinstiefen hinab.

Er wirkt wie eine asketische, hagere Erscheinung aus europäischen Nachkriegszeiten. Jeder Zoll Würde und Weisheit. In seinen vielen Liedern, so scheint es, gibt es keine unwahre Zeile. Dieser Mann ist spürbar durch so manche Abenteuer des Lebens, Liebens und Hassens hindurch gegangen. Was er da singt, klingt beglaubigt; ganz gleich, ob Cohen illusionslos düstere Krisen-Zukunft („The Future”) prophezeit oder ob er zum schwerelosen Flug höherer Selbstironie anhebt, die alles Finstere hinter sich lässt. So auch beim zornlosen Blick zurück: Damals mit 60, als er zuletzt aufgetreten sei, habe er noch verrückte Träume gehegt, lässt er wissen. Über solche „Kindereien” ist er also inzwischen hinweg. Nun ja. Man muss das milde Lächeln sehen, mit dem er das sagt.

Hat man je einen Auftritt gesehen, der über derart weite Strecken zur stehenden Huldigung gerät? Schwerlich. Immer wieder erhebt sich das Publikum (längst nicht nur ergrautes „Mittelalter”), um dem Altmeister die Ehre zu erweisen. Ergreifende Szenen. Und viele Tränen der Rührung im Publikum.

Was soll man da noch eigens hervorheben? Vielleicht das Auftauchen und Erstrahlen bestimmter Titel, die wie aus dem Nichts kommen und plötzlich als Erscheinung im Raume stehen: „Bird on a Wire”, „Who by Fire”, „The Partisan”. Große, erhabene Momente. Wer es erleben durfte, wird es treulich bewahren.




„Die Stadt der Blinden“: Wie das Böse anschwillt

Diese heillose Bestürzung ist eigentlich unvorstellbar: dass man urplötzlich erblindet und einem die sichtbare Welt gefährlich fremd wird. In „Die Stadt der Blinden” erfasst die rätselhafte Epidemie nach und nach fast die gesamte Bevölkerung.

Fernando Meirelles (bekannt durch seine knallharte brasilianische Favela-Sozialstudie „City of God”) hat das Wagnis auf sich genommen, den 1995 erschienenen Roman des Literaturnobelpreisträgers José Saramago in Bilder zu fassen.

Wie aber kann man im Kino eine Geschichte vermitteln, die unter Blinden spielt? Der Regisseur hat sich nicht für partielle Finsternis, sondern für ein grellweißes Gleißen entschieden, das viele Passagen des Films durchzieht und ins Surreale hebt. Die Wirklichkeit bleicht aus.

Anfangs ist es ein einziger Mann, der sein Augenlicht verliert. Dass ihm gleich darauf das Auto gestohlen wird, ist die Ursünde, die auf kommende Übel vorausdeutet. Als nächsten trifft es einen Augenarzt (Mark Ruffalo), dann mehr und mehr Menschen – bis das ganze öffentliche Leben verwahrlost und brachliegt. Im dreckigen Chaos werden noch die letzten Läden gewaltsam geplündert. Schreckliche Endzeit-Vision.

Das Böse schwillt ungeheuerlich an. Aus Angst vor Ansteckung werden die Blinden massenhaft in Lager eingesperrt und nur notdürftig versorgt. Bald ruft sich in „Block eins” ein blinder Mann zum „König” aus. Er und seine Schergen haben die restlichen Lebensmittel-Rationen an sich gebracht und verlangen für die spärliche Herausgabe erst Schmuck, dann willige Frauen aus den anderen Blöcken. Ein Mädchen, das bei dieser widerlichen Zwangsorgie nur stillhält und keine „Lust” erkennen lässt, wird bestialisch erschlagen.

Es gibt viele beklemmende Szenen, vor denen man am liebsten – die Augen verschließen würde. Doch zwischendurch lugt die Konstruktion durch, die auch den Roman prägt und die den Darstellern das ehrbare Handwerk erschwert. Hier werden anhand einer apokalyptischen Extremsituation globale Moralfragen durchgespielt. Es ist wie eine große, finale Prüfung – vielleicht von einem zornigen Gott verhängt.

Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch: Dem finsteren „König” treten der Augenarzt und seine couragierte, aus unerfindlichen Gründen als einziger Mensch noch sehtüchtige Frau (Julianne Moore) entgegen. Sie und ein paar Gefolgsleute sind das Häuflein der Aufrechten.

Diese Blinden begreifen ihr Schicksal als Chance zur ungeahnten Gruppenerfahrung: Als im Radio ein Lied erklingt, lauschen sie ergriffen. Im strömenden Regen tanzen sie wie zu Anbeginn des Menschengeschlechts. Aus solcher Gemeinschaft wachsen schließlich Glaube, Liebe, Hoffnung wie zarte Blüten.

In derlei erhabenen Momenten wird der Film so bild- und gefühlsmächtig, dass er denn doch jede angestrengte Konstruktion vergessen lässt.




Flut der Farbe

Köln/Leverkusen. Mindestens zwei Seelen wohnen in seiner Brust: Gerhard Richter (76) hat oft nach Foto-Vorlagen gemalt – sehnsüchtig, begierig auf Wirklichkeit, doch stets zweifelnd: Was heißt denn eigentlich „Realismus”? Deswegen hat Richter auch immer wieder die Gefilde der Abstraktion durchmessen. In die Flut der freien Farben lassen sich zwei Ausstellungen in Köln und Leverkusen gleiten.

Im Kölner Museum Ludwig sind 40 überwältigende, immens verdichtete Großformate zu sehen. Richter hat die Farbe mit Spachtel und Rakel aufgetragen, hat über und über geschichtet, verwischt, kraftvoll durchpflügt. Allerlei Spuren durchkreuzen einander: Schlieren, Gitter, Krusten. Der Blick des Betrachters findet kaum einen Halt. Man kann sich geradezu in diesen Gemälden verlieren – wie in etwas Unendlichem. Und weil man’s letztlich nicht wortwörtlich sagen kann, deshalb sind es Bilder.

Erst der Zufall,
dann die Kontrolle

Der Künstler selbst bekennt sich bei all dem zum fließenden Zufall, den er aber im Laufe des Malprozesses mehr und mehr kontrollieren und korrigieren muss – „bis es schön aussieht”, wie er leise und bescheiden anmerkt. Hört sich simpel an, ist aber denkbar schwierig. Denn gefällig dekorativ soll es nicht sein, auch nicht vordergründig spektakulär. Wie Richter die vielen Klippen umschifft, das gerät zum intensiven, bisweilen glühenden Ereignis.

Im Leverkusener Schloss Morsbroich hängen derweil weitaus kleinere Exponate an den Wänden, doch geht’s hier ebenso spannungsreich zu. Eine bislang noch nie öffentlich ausgebreitete Werkgruppe ist zu sehen: rund 500 übermalte Fotografien, überwiegend aus Privatbesitz.

Die Bilder sind in der Regel nur 10 mal 15 Zentimeter klein. Ursprünglich waren es ganz gewöhnliche Fotoabzüge aus dem Großlabor: Keine ambitionierte Fotokunst, sondern Schnappschuss-Szenen mit Familie und Freunden, Impressionen von Spaziergängen, gewöhnlicher Alltag. Auch hierbei waltete anfangs der Zufall. Gelegentlich war in Richters Atelier Ölfarbe auf solche umherliegenden Fotografien getropft. Der Künstler erkannte bald den ästhetischen Reiz. An den Grenzlinien der Gegenständlichkeit setzte er die Übermalung fortan bewusst ein. Erkennbare Formen ragen danach – wenn überhaupt – nur noch vage ins Bild. Die Farbe schwappt darüber hinweg, bildet Rinnsale, verästelt sich, schmiegt sich mal dem Figürlichen an oder setzt sich entschieden davon ab. Ein Spiel mit zahlreichen Varianten, doch gewiss nicht regellos.

Hat Richter durch Übermalung die fotografisch festgehaltene, stillgelegte „Wirklichkeit” vernichtet? Keineswegs. Man wird Zeuge einer verblüffenden Wandlung. Die Fotos werden durch malerische Behandlung aus den Archiven der Vergangenheit herausgehoben – mitten hinein in den gegenwärtigen Moment des Betrachtens. Sie erstrahlen plötzlich ganz im Hier und Jetzt.

Solchen Zauber bewirkt man natürlich nicht, indem man einfach Farbe auf Fotos schmiert. Man muss schon ungemein genau auf die Vorlagen reagieren. Mindestens die Hälfte seiner Versuche wirft der Maler weg – in zerrissener Form, damit niemand lukrativen Schindluder mit „Fehlfarben” treiben kann. Denn was durch Gerhard Richters Hände gegangen ist, kostet enorm viel Geld.

Abstrakte Bilder. Museum Ludwig, Köln, Heinrich-Böll-Platz (neben Dom/Hauptbahnhof). – Bis 1. Februar 2009. Di-So 10-18, jeden 1. Freitag im Monat 10-22 Uhr. Eintritt 9 Euro. Katalog 49,80 €.

Übermalte Fotografien. Schloss Morsbroich, Leverkusen, Gustav-Heinemann-Straße 80. – Bis 18. Jan. 2009. Mi-So 11-17, Di 11-21 Uhr. Katalog 39,80 €.

Bild: Katalog-Cover der Kölner Ausstellung (Verlag Hatje Cantz)