Ruhrgebiet: Kurios, kriminell oder mit Kick – einige Neuerscheinungen über die Region

Jede Wette: Schon im Vorfeld der Kulturhauptstadt 2010 schwillt die Zahl der Bücher übers Ruhrgebiet kräftig an. Hier ein kleiner Vorgeschmack mit Neuerscheinungen – vom Krimi bis zum Bildband. Auch ein paar Flops sind dabei.

Nobert Golluch: „Alles über das Ruhrgebiet“ (Komet-Verlag, 192 S., 4,95 Euro)
Der Titel ist frech gestrunzt. Mit etwas Geschick könnte man sich via Internet-Suche solche mehr oder weniger kuriosen Daten- und Fakten-Listen über die Region rasch selbst zusammenstellen. Revier-Kenner finden zudem auf Anhieb Fehler. Ein etwas schludriges Billigbuch.

„Ruhrkraft. Eine Region auf dem Weg zur Weltspitze“ (Hoffmann & Campe, 175 S., 12,95 Euro)
Hier geht’s regionalfromm zu – mit vorwiegend zukunftsfrohen Sonntagsreden aus Industrie, Kultur, Sport und Politik. Letztere sind nach üblichem Parteien-Proporz sortiert. Manches ist nur Ghostwriter-Prosa zum Gähnen – und für die Ablage.

Roland Günter: „Der Traum von der Insel im Ruhrgebiet“ (Klartext Verlag, 220 S., 23,90 Euro)
Zwischen Emscher und Kanal hat der Autor eine riesige, lang gestreckte „Insel“ ausgemacht, die von Castrop-Rauxel bis Oberhausen reicht. In fiktiven Dialogen mit Federico Fellinis Drehbuchautor Tonino Guerra wird dieser Landstrich zum utopischen Gelände. Eine ambitionierte Kopfgeburt.

„Mord am Hellweg IV“ (Grafit Verlag,.378 S., 9,95 Euro)
Der Sammelband mit Kurzkrimis zum großen, aktuellen Festival führt direkt vor so manche Haustür. Da heißt es beispielsweise „Leben und Sterben in Unna“ oder – kalauernd gereimt – „Sühnen in Lünen“. Natürlich sind nicht alle Stories gleich stark, doch im Schnitt ist das Niveau der einheimischen und auswärtigen Autoren erfreulich.

Peter Kersken: „Tod an der Ruhr“ (Emons Verlag, 320 S., 11 Euro)
Revierkrimi der etwas anderen Art. Die Handlung spielt 1866, zur Zeit der Industrialisierung. Vor sorgfältig recherchiertem historischem Hintergrund (Stichwort: ungezähmter Frühkapitalismus) entfaltet sich ein zeittypischer, wahrhaft abgründiger Kriminalfall.

Frank Goosen: „Weil Samstag ist. Fußballgeschichten“ (Eichborn Verlag, 158 S., 12,95 Euro)
Fußball darf im Revier natürlich nicht fehlen. Und wer könnte darüber mit wacherem Witz schreiben als Frank Goosen? Der seit Jahrzehnten leidgeprüfte Hardcore-Fan des VfL Bochum trifft allemal den richtigen Ton und schreibt gut geerdete Prosa mit dem gewissen Kick. Das Buch enthält auch seine Kolumnen zur WM 2006 und zur EM 2008. Treffer!

„Das Ruhrgebiet. Früher und heute“ (Komet-Verlag, Bildband 160 S., 9,95 Euro)
Starke Kontraste: Ansichten des Reviers aus früheren Jahrzehnten im Vergleich mit der heutigen Lage. Der Blick auf dieselben Schauplätze ergibt im zeitlichen Abstand ein uneinheitliches, aber womöglich lehrreiches Bild: Manche Orte sind verödet, andere haben sich bestens entwickelt. Mal überwiegt Wehmut, mal Zuversicht. Merke: Früher war bestimmt nicht alles besser.

Boldt/Gelhar: „Das Ruhrgebiet. Landschaft – Industrie – Kultur“ (Primus, 168 S., 39,90 Euro)
Gründliche Untersuchung zum Wandel der Region. Das mit Fotos, Karten und Grafiken reich illustrierte Buch hat das Zeug zum geographischen Standardwerk.




Kulturhauptstadt Ruhr 2010: Im Dickicht der Projekte

Essen. Rund um die Kulturhauptstadt Ruhr 2010 scheint sich eine eigene Designer-Sprache zu entwickeln. Bei einer Programmvorstellung war von „Hochpunkten” (nicht Höhepunkten), „kreativen Erlebnisraum-Arealen” sowie „Adern und Passagen” des Verkehrs die Rede. Es soll wohl dynamisch klingen.

Auch mit Slogans geizt man nicht: „Wo das geht, geht alles!” lautet ein Merkspruch der Macher, der die Fülle der Kultur als Zukunftsmotor des Ruhrgebiets preist. Eine weitere Sentenz geht so: „ So haben Sie Ihre Metropole noch nie gesehen.” Man will also manches umpflügen – mit sage und schreibe rund 1500 Veranstaltungen im Kulturhauptstadt-Jahr 2010. Da soll noch einer durchblicken.

Seit Montag gibt’s ein erstes, 150 Seiten starkes Programmbuch, das Schneisen durchs Dickicht schlagen soll, doch für sich genommen schon prall wirkt. Zwei weitere Leitfäden sollen folgen. Und überhaupt: Die eigentliche Publikums- und Tourismus-Werbung wird erst 2009 einsetzen. Die Ruhr2010-Geschäftsführer Fritz Pleitgen und Oliver Scheytt werden mithin noch etliche Stufen der Rakete zünden. Am Montag ließen sie den vier künstlerischen Spartenleitern den Vortritt. Die schickten sich allen Ernstes an, binnen 90 Minuten erste Grundzüge von rund 150 Projekten zu skizzieren. Das war selbst im Parforceritt kaum zu schaffen.

Die meisten Punkte waren ja auch bereits bekannt. Gestern wurden sie atemlos addiert, so dass es mächtig Eindruck machen sollte. Hier Kernprojekte der vier Sparten:

Prof. Karl-Heinz Petzinka skizzierte die übergreifenden Vorhaben in Sachen Verkehr und Architektur (Schlagwort „Stadt der Möglichkeiten”). Die Sperrung der Autobahn A 40 (18. Juli 2010) für ein gigantisches Kulturvolksfest gehört ebenso hierher wie ein breites Band der Lichtkunst zwischen Duisburg und Unna/Schwerte. Eine neue „Route der Wohnkultur” soll Lebensformen des Reviers erschließen. Außerdem zählen Bauvorhaben zu dieser Sparte; auch solche, die keine reinen Kulturhauptstadt-Gewächse sind: so etwa das „Dortmunder U” (Ex-Brauerei als Museum und Kreativzentrum), das Hagener Schumacher-Museum, ein künftiges Landesarchiv im Duisburger Hafen und sogar die neue Moschee in Duisburg-Marxloh.

Die Deutsch-Türkin Asli Sevindim betreut Projekte des sozialen Zusammenhalts (Losung: „Stadt der Kulturen”). Das Spektrum reicht hier vom bereits etablierten „Melez”-Festival der multikulturellen Mischformen über jugendliche Straßenkunst (Graffiti, Breakdance & Co.) einschließlich der kurzerhand eingemeindeten „Loveparade” bis zur großen Reihe, die das Erbe der Aufklärung beleuchten soll.

Prof. Dieter Gorny ist zuständig für Varianten der Musik- und Kreativwirtschaft. Dabei geht es speziell um die freie Szene. Gornys Vortrag sprudelte geradezu vor digitalen Zukunftslaboren, Kreativ-Quartieren (wiederum mit „Dortmunder U”), internationaler Medienkunst und Kompetenz-Zentren für Computerspiel-Entwickler. Diverse Pop- und Jazz-Festivals bilden (mit neuer Förderstruktur) ein weiteres Gerüst. Uff!

Schließlich noch Steven Sloane als Koordinator der vielfältigen Musik- und Theateraufführungen. Er kündigte unter anderem einen „Day of Song” (Tag des Gesangs) für den 5. Juni 2010 an. Dann soll landauf landab im ganzen Revier gesungen werden – an welchem Ort auch immer. Das Ganze kulminiert abends mit einem 65.000 Stimmen starken Chor in der Arena „auf Schalke”. Just dort und auf der Essener Zeche Zollverein wird das Kulturhauptstadt-Jahr am 9. Januar 2010 festlich eröffnet.

Ist damit alles gesagt? Nein. Bestenfalls ein Bruchteil. Doch manches ist auch noch nicht ganz spruchreif oder erweist sich als knifflige Kostenfrage. Klare Faustregel: Je mehr Sponsoren, umso mehr kann man stemmen. Bliebe zu hoffen, dass keine Finanzkrise in die Quere kommt.

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Rasanter Image-Film

  • Auch ein neuer Image-Film über die Kulturhauptstadt Ruhrgebiet wurde in Essen präsentiert. Er beginnt mit fulminanten Zahlen: 120 Theater, 200 Museen – weltstadtwürdig!
  • Das äußerst flott und dicht geschnittene Werk überblendet alte und neue Kultur(en) im Revier. Gern verwendete Kulisse sind dramatische Wolkengebirge hinter Zechentürmen.
  • Rasante Bildwechsel: Auf den Bergmannschor („Glückauf”) folgt direkt eine HipHop-Passage, auf ein Tor von Borussia Dortmund unmittelbar der Schalker (!) Jubelschrei.
  • Gedreht hat den Film die Firma „Zeitsprung”, die auch Adolf Winkelmanns „Contergan”-Zweiteiler produzierte.
  • Es gibt den Streifen in verschiedenen Fassungen und Längen.
  • Die Deutsche Welle und die Goethe-Institute sollen die Werbung weltweit verbreiten.

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KOMMENTAR:

Es klang schon imposant, was die Kulturhauptstadt-Macher gestern in Essen vorlegten. Im rasenden Stakkato, ja geradezu in einem Rausch der Vorfreude nannten sie Projekt um Projekt, Vorhaben um Vorhaben für 2010. Und das soll noch längst nicht alles gewesen sein. 1500 kulturträchtige Veranstaltungen stehen in einem einzigen Jahr zu Buche. Beinahe schon beängstigend.

Es ist der lang ersehnte Griff nach den Sternen. Endlich will es das Ruhrgebiet allen zeigen: Wir sind eine Metropole, wir sind eine Weltstadt – nicht zuletzt in Sachen Kultur.

Doch halt! Die Euphorie mag bereits hie und da berechtigt sein und als Antrieb zu weiteren Großtaten taugen. Aber es sind noch etliche Aufgaben zu erledigen – und Gemüter zu besänftigen.

Nur ein Beispiel: Das erzürnte Echo der Sponsoren auf die Entlassung des Essener Philharmonie-Chefs Michael Kaufmann sollte ein Warnzeichen sein. Die doch so dringend benötigten Geldgeber möchten sich nirgendwo düpieren lassen. Sonst müsste „Ruhr 2010“ vielleicht einige stolz verkündete Projekte wieder streichen.

Bernd Berke




Shakespeare in Bochum: Kredit mit Fleisch

Viele, viele Metallstühle, ein paar Tischchen, gläserne Theke, Espresso-Maschine. Wir sind „beim Italiener“, genauer: auf einer Piazza in Venedig. Wie passend. Denn das Bühnenbild gehört zu Shakespeares „Der Kaufmann von Venedig“, mit dem Intendant Elmar Goerden die neue Spielzeit in Bochum eröffnet.

Das Stück war immer schon prekär. Schon zu Shakespeares Zeiten, doch vollends im Nachkriegs-Deutschland. Zur Erinnerung: Händler Antonio (Benno Iffland) leiht vom Juden Shylock (Hosenrolle: Renate Becker) Geld, um seinem Freund Bassanio (Christoph Pütthoff) die kostspielige Brautwerbung bei der reichen Erbin Portia (Claude de Demo) zu ermöglichen.

Für die Rückzahlung des Kredits bürgt Antonio im rauschenden Vollgefühl künftiger Einnahmen mit einem Pfund Fleisch aus seinem eigenen Leibe. Doch seine reich beladenen Handelsschiffe sinken, er kann also nicht zahlen. Shylock besteht auf der Vereinbarung; schon aus schierer Rachsucht, denn der Christ Antonio hat ihn, den Juden, stets geschmäht.

Wie dieser Shylock schließlich mit den Winkelzügen einer Gerichtslist zur Staatsraison und um seinen Besitz gebracht wird, das muss als antisemitische Intrige verstanden werden. In Bochum blitzen bedrohliche Messer, und Blut klebt schmierig an den Wänden. Mit schrecklicher Eiseskälte wird diese Angelegenheit „erledigt“. Hier wird nichts verharmlost, sondern grell verdeutlicht. Danach feiern die marktsatten Christen sich selbst weiter, als wäre nichts geschehen. Sie sind blind für gewesene und kommende Katastrophen.

Ein Kredit stößt also die Handlung an. Da liegt dieser Tage die Versuchung nahe, bei aktuellen Vorgängen anzudocken. Auch Goerden widersteht ihr nicht ganz, doch hat es sein Bewenden mit ein, zwei halbwegs witzigen Volten zur gegenwärtigen Finanzkrise. Ansonsten hat der Regisseur etliche Ideen-Partikel und mehr oder weniger schlaue Sätze zum Stoff herbeizitiert, die sich hie und da lose anlagern. So kommt es auch, dass Shakespeares Shylock hier mit Lessings „Nathan“ einen Dialog übers Judentum führt.

Gut möglich, dass eine solche Materialsammlung eine der besseren Arten ist, mit dem Text umzugehen, der nicht einmal einen richtigen Schluss hat und ohnehin nicht spielend „auszudeuten“ ist. Wenn die eigentliche Handlung schon vorüber ist, lässt Shakespeare die christlichen Sieger noch lang und harmonieselig schwelgen. In Bochum wiegen sie sich trällernd im Walzertakt.

Immer wieder leuchten paradoxe oder hintersinnige Sprüche als Projektionen auf. Sollen wir uns das alles notieren und darüber brüten? Die Sentenzen stammen beispielsweise von den Sprach-Künstlern Jenny Holzer oder Urs Lüthi und lauten etwa: „Bewahre mich vor dem, was ich will.“ Übrigens alles auf Englisch. Warum eigentlich? Damit sie mehr „nach Shakespeare“ klingen, nach internationaler (Finanz)-Welt oder gängigen Lebensratgebern? Sie laufen jedenfalls recht unverbunden neben dem Stück her und klären auch kaum die eingangs eindringlich gestellte Frage, aus welchem Stoff denn die menschliche Depression bestehe. Wir raten mal kurzerhand drauflos: Geld frisst Seele auf.

Die trotz mancher Lärmigkeit insgesamt achtbare Inszenierung stellt einige schön und präzis umrissene Typen auf die Bühne, die gewiss nicht mit jedem Ensemble zu erzielen wären. Vor allem aber gibt es da eine veritable, tiefer durchdrungene Figur, nämlich just Shylock. Renate Becker spielt die schwankende Gestalt knorrig, doch auch verletzlich; hölzern verhärtet, doch auch fragil; staubtrocken, doch auch dämonisch getrieben. Und siehe da: All diese Widersprüche formen sich zum bewegenden Bild eines leidenden Menschen. Wer fragt da nach Einkünften oder Glaubensrichtung?




Wo die grinsenden Dämonen wohnen – die Welt des James Ensor in Wuppertal

Schaurig, schaurig: Der belgische Maler James Ensor (1860-1949) hat im menschlichen Antlitz vor allem das Bedrohliche, das Masken- und Fratzenhafte erblickt. Vielfach wanken klapprige Skelette durch seine bizarren Bilder. Auch der Maler selbst hat sich gern mit Totenkopf porträtiert.

Unter dem Titel „Schrecken ohne Ende” zeigt jetzt das Wuppertaler Museum, wie Ensors morbide und groteske Impulse bis in die jüngste Zeit weiter gewirkt haben.

Der stattliche Hagestolz Ensor blieb immer bei Mutter und Schwester. Er heiratete nie, obwohl ihn etliche Damen anhimmelten. Auch suchte er keine Abenteuer auf Reisen. Nur wenige Abstecher führten ihn aus seiner Geburtsstadt Ostende heraus.

Dort, an der grauen, rauen Nordsee hegte der große Einzelgänger schon früh das Gefühl, von der Kunstwelt verkannt zu sein. Doch auf Dauer sprach sich sein spezieller Ruhm eben doch herum – und nicht nur deutsche Expressionisten wie Nolde und Heckel verehrten ihn.

Anreger der Surrealisten

Vor allem den Surrealisten wies seine Kunst Wege in verborgene Seelenwinkel. Auch die zeitkritischen Künstler der 1920er Jahre (Otto Dix, George Grosz usw.) fanden durch Ensor einigen Boden bereitet. Der hatte gleichsam die bildnerischen Ätzmittel für die Darstellung bösartiger Menschengruppen und Massen präpariert. Somit ließen sich später auch die gesellschaftlichen Vorboten des Faschismus grell attackieren.

Bis heute können sich schräge Bildfindungen auf ihn berufen. Beispiel: Neueste Werke der Berliner Gruppe „Bonjour, Monsieur Ensor” verlängern das Werk des Belgiers ins geradezu Comichafte. Dabei wird deutlich, dass Ensor (der im Karneval von Ostende munter mitwirkte) keineswegs nur ein Finsterling war. Auch das fröhlich-bunte Spiel der Masken wusste er subtil einzufangen.

Die Wuppertaler Schau mit rund 220 Bildern (davon etwa die Hälfte von Ensor selbst) beginnt mit seinem künstlerischen Umfeld in Belgien, von dem er sich sehr bald entschieden abhebt – durch thematische Schärfe, aber auch durch eine besonders delikate Malweise. Als Kolorist erzielt er wahrhaft magische Wirkungen.

Masken-Angebot im Laden der Mutter

Von nichts kommt nichts: Im Geschenkeladen seiner Mutter gab es neben Masken auch Muscheln zu kaufen. Ensor hatte dort schon als Kind ausgeholfen und offenbar alle Schattierungen des Lichts in den Regalen studiert. Später hat er jedenfalls die Perlmutt-Töne der Muscheln ungemein feinsinnig zum Leuchten gebracht.

Seine impressionistischen Zeitgenossen waren ihm entschieden zu harmlos. Er wollte dem Bürgertum mehr ans Leder und ans Gemüt. Tatsächlich wirkt es überaus beklemmend, wie er die lastend melancholische Stimmung im bürgerlichen Salon schildert, die gleichsam zwischen den schweren Vorhängen hervorquillt. Depression und Hysterie, wie sie Sigmund Freud einst aufspürte und zu behandeln suchte, sind in solchen Interieurs daheim.

Wahnhafte, grinsend dämonische Seiten findet Ensor auch im Religiösen. Szenen aus der Bibel geraten ihm zur grimassierenden Karikatur – auch dies eine für seine Epoche unerhörte Sichtweise.

Bemerkenswert, wie realistisch Ensor seine Motive zunächst anging. Dann aber wartete er auf den Moment, in dem Figuren und Gegenstände ein Eigenleben entwickelten, in dem die Situation ins flackernd Irreale „umkippte”. An dieser Grenzlinie hat kaum einer so erregende Entdeckungen gemacht wie Ensor. Seine Vexierbilder zwischen Wahn und Wirklichkeit sind beileibe nicht an bestimmte Zeiten gebunden.

„Ensor – Schrecken ohne Ende“. Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Turmhof 8). 12. Oktober bis 8. Februar 2009. Geöffnet Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr.Katalog 25 Euro.

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Der Ruhm kam spät

  • James Ensor wurde am 13. April 1860 in Ostende (Belgien) geboren. Dort starb er am 19. November 1949.
  • Kunststudium 1877-1880, abgebrochen.
  • 1881 erste Ausstellung.
  • Höhepunkt des internationalen Ruhms erst um das Jahr 1920.



Den Unmut erst am Schluss bekunden – Benimm-Experte Uwe Fenner über richtiges Verhalten in Oper, Theater und Konzert

Von Bernd Berke

Dortmund. Einen „Knigge“ für Theater und Oper – gibt es das überhaupt noch? Oder darf man sich heutzutage in allen Bühnenhäusern ganz leger betragen? Nicht schrankenlos, sagt der Benimm-Experte Uwe Fenner (65), mit dem die WR gesprochen hat. Wir protokollieren seine Ratschläge:

Wie sieht die „Kleiderordnung“ für die Oper aus?

Fenner unterscheidet nach Ort und Anlass. In der Münchner Staatsoper beispielsweise, „wo 90 Prozent der Männer Smoking tragen“, solle man sich möglichst anpassen. „Ein dunkler Anzug mit Krawatte ist das Mindeste.“ In anderen Opernhäusern, etwa in Berlin, seien die Sitten nicht ganz so streng. Doch auch hier sei ein Anzug ratsam. Faustregel: „Der wahre Gentleman bewegt sich immer etwas oberhalb des Durchschnitts – aber auch nicht zu sehr.“ Gleiches gelte für die Dame von Welt.

Und was darf man im Sprechtheater anziehen?

Hier sind die Stil-Maßstäbe sehr viel lockerer. Das Publikum ist meist jünger als in der Oper, Jeans können statthaft sein. Aber: „Der Banker in mittleren Jahren, der abends ins Theater geht, sollte dort den Anzug beibehalten – gelegentlich auch einmal ohne Krawatte.“

Was ist von tiefen Dekolletés zu halten?

Besonders in der großen Oper sind derlei Einblicke laut Fenner „durchaus in Ordnung“. Die Grenze liege dort, wo es schamlos und obszön werde. Angela Merkels seinerzeit viel beredeter tiefer Ausschnitt in der Oper von Oslo sei durchaus schicklich gewesen.

Wie verhält es sich mit der Parfümierung?

Die Dame, so Fenner, dürfe getrost mehr auflegen, der Herr solle dezent vorgehen.

Wie pünktlich sollte man zur Vorstellung erscheinen?

Nicht zu früh im Zuschauerraum sein, sonst muss man nachher ständig für die Anderen aufstehen – und das könnte denen womöglich peinlich sein. Fenner: „Das ist überhaupt eine Grundregel: Man sollte anderen Menschen Peinlichkeiten ersparen.“ Erst recht aber soll man nicht zu spät kommen. Falls man einen Platz in der Mitte hat, müssen dann viele Leute aufstehen. Allgemein gilt: Wer durch eine weitgehend besetzte Zuschauerreihe geht, soll seinen Mitmenschen dabei das Gesicht zuwenden. Anders herum betrachtet: „Den Po zur Bühne.“

Und wenn die Vorstellung schon begonnen hat?

Wer erst eintrifft, wenn die Aufführung läuft, sollte möglichst bis zur ersten Pause im Foyer warten oder (wenn die Logenschließer es zulassen) allenfalls den Zuschauerraum leise betreten und an der Seite stehen bleiben – sich aber nicht durch die Reihe quälen.

Wie sieht’s mit Speisen und Getränken aus?

Grundsätzlich nicht im Zuschauerraum. Zum Essen und Trinken sind die Pausen vorgesehen. Auch Kaugummi sei tabu. Erlaubt und manchmal sogar wünschenswert: Hustenbonbons.

Was ist vom Tuscheln in der Vorstellung zu halten?

Gar nichts. Fenner: „Meine Meinungen und Mitteilungen sollte ich bis zur Pause für mich behalten.“ Und wenn man Bekannte hinten in Reihe 18 grüßen will? Nur vor der Vorstellung: Nicht rufen, sondern winken – und mit Handzeichen zur Pause verabreden.

Sind Beifall oder Buhrufe auf offener Szene erlaubt?

Im klassischen Konzert gar nicht. Da sollte man warten, bis das Stück vorüber ist. Also: Nicht zwischen zwei Sätzen einer Sinfonie jubeln! Anders in der Oper: Dort ist es üblich, nach einer bravourösen Arie Beifall zu spenden. Etwaigen Unmut sollte man immer erst nach Schluss der Aufführung äußern. Wenn der Vorhang gefallen ist, darf auch gebuht werden. Fenners extremste Erfahrung: „Einmal hat im Theater eine ältere Dame neben mir gesessen, die hatte eine Trillerpfeife dabei – und hat sie benutzt.“

Wann darf man das Theater verlassen?

Nicht bevor der letzte Beifall verklungen ist, meint Uwe Fenner. Es sei eine Unart, sich vorzeitig durch die Reihen hinauszuzwängen, um rasch die Garderobe oder den Parkplatz zu erreichen.

Wie geht man im Theater mit Handys um?

Überhaupt nicht! Unbedingt ausschalten! „Kluge Intendanten blenden vor der Aufführung ein Dia oder eine Durchsage ein, damit niemand das Abschalten vergisst.“

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ZUR PERSON

Stil-Fachmann in Dortmund aufgewachsen

  • Der Benimm-Experte Uwe Fenner wurde 1943 in Waren/Müritz (Mecklenburg) geboren.
  • Er ist Mitinhaber einer Firma für Karriereberatung in Potsdam, die sich u. a. auch mit Stil- und Benimmfragen befasst.
  • Fenner ist in Dortmund aufgewachsen und hat hier sein Abitur gemacht. In München, Bochum und Münster studierte er Jura. Zeitweise war er später als Personalberater in Dortmund tätig.
  • Internet: www.institut-fuer-stil-und-etikette.de



Mozart, Goethe – und was noch? Die Statistik des Deutschen Bühnenvereins

Wie oft hebt sich in Deutschland jährlich ein Theatervorhang? Wie viele einzelne Vorstellungen stehen wohl auf dem Programm? Fünftausend? Oder gar zehntausend? Doch nicht etwa zwanzigtausend?

Immer noch weit gefehlt: Es sind über hunderttausend Vorstellungen, in Ziffern: 100 000. Diese wahrhaft imposante Zahl geht aus der Statistik hervor, die der Deutsche Bühnenverein (Köln) in jeder Spielzeit getreulich führt.

Für die Saison 2006/2007 (neuere Zahlen liegen nicht vor) heißt das exakt: 98 712 Vorstellungen in Oper und Sprechtheater, dazu 3961 Aufführungen im Tanztheater. Macht insgesamt 102 673 und hört sich nach Kulturnation an. Inbegriffen sind übrigens alle Staats-, Stadt- und Landestheater sowie die meisten Privat- und Tourneebühnen mit eigenen Produktionen. Und tatsächlich gibt es ja kein anderes Land auf der Welt, das sich so viele Spielstätten leistet. Immer noch – trotz aller etwaigen Sparmaßnahmen.

Der Eindruck einer immensen Vielfalt relativiert sich allerdings ein wenig, wenn man sich anschaut, welche Stücke und Autoren am häufigsten gespielt werden. Es sind sozusagen stets die „üblichen Verdächtigen“. Im Musiktheater liegt demnach erwartungsgemäß Mozarts „Zauberflöte“ vorn (55 Inszenierungen mit fast 350 000 Zuschauern), im Sprechtheater Goethes „Faust“ (46 Inszenierungen mit etwas über 215 000 Zuschauern). Keine Experimente also. Das gute alte „Bildungsgut“ rangiert dauerhaft ganz oben. Es schmückt ja auch seit Generationen ungemein.

Gerade in der Oper ist das Publikum eher gediegen und nicht mehr so jung an Jahren. Das begünstigt offenbar vorsichtig abgewogene, geradezu konservative Spielpläne. So kommen gleich hinter der „Zauberflöte“ diese allzeit gängigen Werke auf die höchsten Ränge: Humperdincks „Hänsel und Gretel“, Mozarts „Hochzeit des Figaro“, Bizets „Carmen“, Puccinis „La Bohème“, Mozarts „Don Giovanni“, Webers „Freischütz“, Puccinis „Tosca“, Mozarts „Cosi fan tutte“ und Verdis „La Traviata“. Mozart ist mithin Meister aller Klassen. Er tut ja auch niemandem weh.

Die Tendenz verwundert nicht: Bevorzugt wird das Leichtere, das Schwungvolle bis Schmissige, gemieden hingegen das Schwerblütige oder gar Experimentelle. Übrigens taucht auch ein Gigant wie Richard Wagner (mit „Das Rheingold“) erst auf Platz 14 auf. Da kann man sich ungefähr vorstellen, welch ein schwieriger Balanceakt es ist, mit dem Spielplan das beharrliche Publikums-Interesse zu bedienen und dennoch gelegentlich Neues zu wagen.

Im Schauspiel ist das Publikum tendenziell jünger und wahrscheinlich etwas aufgeschlossener. Dennoch halten sich auch hier die erprobten Klassiker. Hinter dem „Faust“ folgen Shakespeares „Sommernachtstraum“ und Schillers Ränkespiele in „Kabale und Liebe“. Die Reihenfolge hätte vor 20 oder 40 Jahren ähnlich lauten können. Sie schmeckt etwas nach althergebrachtem Schulpensum.

Immerhin verzeichnet die Bühnen-Statistik einen spürbaren Anstieg der Ur- und Erstaufführungen. Auch davon zehren die Theater, es verschafft ihnen zumindest in der Branche einen guten Ruf, wenn auch meist keine sonderlich hohen Zuschauerzahlen. 534 bis dato nicht in Deutschland aufgeführte Werke kamen jedenfalls neu heraus. Das waren fast 16 Prozent mehr als in der Spielzeit zuvor. Und vielleicht gibt es ja irgendwann ein paar Gegenwartsstücke, die in die Spitzengruppe vorstoßen.




Yoko Ono: Kunst ohne jeden Umweg

Bielefeld. Die meisten kennen Yoko Ono als Witwe des Ex-Beatles John Lennon. Dass sie selbst schon seit 1961 auf der Kunstszene agiert, gehört nicht zum Basiswissen. Doch nun richtet ihr Bielefelds Kunsthalle die größte Werkschau aus, die sie in Europa je gehabt hat.

Das heißt: „Werkschau” oder Retrospektive sind vielleicht keine passenden Begriffe, Yoko Ono lehnt sie jedenfalls ab. Nennen wir’s also eine Häufung der Ausdrucksformen – vom Film bis zur Zeichnung, vom Objekt bis zur bloßen Ideen-Notiz. Kunsthallen-Chef Thomas Kellein: „Sie ist eine Künstlerin, die keine Ruhe gibt. Sie will und kann nicht abschließend einsortiert werden.” Aber schauen wir mal, was sie so macht.

Leichenwagen und
Himmelsleitern

Bereits draußen vor der Kunsthalle legt die heute 75-Jährige ihre Spuren. Hier werden sich bald Onos „Himmelsleitern” recken, die einen Hang zum Höheren offenbaren. Stufe für Stufe. Schon jetzt gibt es dort „Wunschbäume”, an die man Zettel mit Hoffnungen heften kann. Und dann steht da noch ein veritabler Leichenwagen, mit dem sich Besucher durch die Stadt chauffieren lassen dürfen (15 Minuten für 5 Euro). Warum? Weil die Künstlerin es sich so vorgestellt hat.

Bei ihr regiert oft der blitzartige Einfall, der nach rascher Umsetzung, ja Entladung drängt. Da hat sie frühmorgens Sonnenstrahlen er-blickt – und kurzerhand entsteht eine Strahlenbündel-Skulptur, die diesen Moment einfangen soll. Da hat sie von Katzen mit glühenden Augen geträumt – und alsbald stehen da 54 derartige Tiere als Installation im Raum (siehe Bild). Diese Kunst will sofort und direkt „da” sein. Geradeaus, zuweilen ziemlich simpel.

Yoko Ono war freilich auch eine Pionierin der Konzeptkunst, die mehr von skizzenhaften Ideen als von genauer Ausführung lebt. So sieht man denn zahllose schriftliche „Anweisungen” an den Wänden. Etwa die, dass man im Konzerthaus geräuschlos Fahrrad fahren solle oder dass man so lange auf einem spartanischen Bett nächtigen möge, bis sich auf dem Laken ein „Gemälde” abzeichnet. Immerhin: Bett und Rad stehen als Objekte bereit; ganz so, als könne man jede Kopfgeburt flugs verwirklichen. Ansätze zur Bewusstseins-Erweiterung, zum Umdenken? Nicht immer. Manchmal franst diese Kunst an den Rändern in Wirrnis aus.

Dass wir alle zu hohen Prozentsätzen aus Wasser bestehen, ist bekannt. Bei Yoko Ono wird auch aus diesem Befund recht umstandslos die raumgreifende Installation „We’re all Water”. 118 mit Wasser gefüllte Gläser sind aufgereiht, jedes säuberlich mit einem bekannten Namen beschriftet. Die Skala reicht vom Dichter Rilke über John Lennon bis zu Adolf Hitler. Sollen wir denken, dass die schiere Wässrigkeit all diese Gestalten einander angleicht? Das wäre heikel.

Yoko Ono hat auch eine frauenbewegte Ader. Drei aufgeschüttete Erdhügel stehen für verschiedene Formen der Gewalt gegen Frauen oder besser: für deren offenbar immergleiche Folgen. Gegenstück ist der „Familienraum”. Ganz egal, ob Spiegel, Frauenschuhe, Haarbürste, Kleiderbügel, Esstisch oder Kästchen – aus allen Gegenständen quillt Kunstblut. Häusliche Gewalt, auf einen einfachen, plakativen Nenner gebracht.

Hie und da werden Besucher zum Mitmachen angestiftet. Auf anfangs leeren Leinwänden sollen sie Bilder ihrer Mütter anbringen. Einen zerteilten und in Boxen verpackten Silikon-Körper soll man berühren („Touch me”); am besten ganz weihevoll, nachdem man die Hand in Wasser getaucht hat. Daneben läuft ein 25-minütiges Video, in dem sich eine Fliege nach und nach auf alle Partien eines nackten Frauenleibes setzt. Auch die befreite Phantasie fliegt, wohin sie will.

Vor allem aber sollen wir alle stets ganz fest an Frieden denken. Yoko Ono glaubt, dass dies die Energien umpolt – bis eines Tages wirklich überall Frieden herrscht. Das klingt einfältig. Oder sollten wir’s vorsichtshalber doch mal probieren – vielleicht zum Sound von Lennons Gassenhauer „Give Peace a Chance”?

Kunsthalle Bielefeld (Artur-Ladebeck-Str. 5). Bis 16. Nov. Di, Do, Fr, So 11-18, Mi 11-21, Sa 10-18 Uhr. Eintritt 7 €

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ZUR PERSON:

  • Yoko Ono wird am 18. Februar 1933 in Tokio (Japan) geboren.
  • 1952 wandert sie dauerhaft in die USA aus.
  • 1956 erste Ehe mit einem Komponisten (bis 1962).
  • 1961 erste Galerie-Schau.
  • 1962 zweite Ehe mit einem US-Filmproduzenten.
  • 1966 lernt sie den Beatle John Lennon kennen.
  • 1969 Heirat mit Lennon auf Gibraltar. In den Flitterwochen das legendäre „Bed-In” (Ono und Lennon öffentlich im Bett) im Amsterdamer Hotel.
  • Viele Beatles-Fans machen bis heute Yoko Ono fürs Ende der Gruppe (1970) verantwortlich.
  • Ono und Lennon produzierten mit der Plastic Ono Band Songs wie „Give Peace a Chance”, „Cold Turkey” und „Mother”.
  • 1980 (8. Dezember): John Lennon in New York erschossen.



Ein Mann und acht Kinder – Günter Grass‘ neuer Band „Die Box“

Man kennt das von früher: Gelegentlich wurde man zu Dia-Abenden eingeladen – und die konnten sich arg hinziehen. Heute zeigt man Fotos gern auf dem Laptop, digital sind’s noch mehr als ehedem. Warum diese Einleitung? Weil uns Günter Grass jetzt gleichsam zum literarischen Diavortrag einlädt. Schier uferlos erzählt er dabei Anekdoten über seine vielen Kinder.

Um das Mindeste zu sagen: Acht Kinder mit vier Frauen stehen biographisch zu Buche, davon sechs „eigene” und zwei, die halt innig zur Patchwork-Familie hinzu gehören. Vielleicht, so lässt Grass in seinem neuen Buch „Die Box” durchblicken, gebe es ja irgendwo sogar noch weiteren Nachwuchs. „Mariechen”, der zierliche, ebenso mädchen- wie hexenhafte Hausgeist dieses Buches, fasst es in diese Worte: „Achachach. Son Kuddelmuddel.” Das alles ist freilich noch kein literarischer Potenzbeweis.

Die Zauber-Kamera sieht einfach alles

Der Nobelpreisträger greift diesmal keineswegs in düstere Kriegs-Vergangenheiten. Diese Debatten hat er offenbar gründlich satt. Er möchte statt dessen endlich einmal seine Kinder zu Wort kommen lassen, die einst wohl unter seinem steten Schaffensdrang gelitten haben. Zum Spielen hatte er jedenfalls keine Zeit, wie er eingesteht. Offenbar will er späte Abbitte leisten für etwaige Unbill, für Unordnung und frühes Leid. Dieser Impuls hat etwas Anrührendes. Wie jeder Mensch, so will eben auch Grass von den Seinen geliebt werden. Zudem ist es angenehm, dass der politisch oft volltönend selbstgerechte Autor sich diesmal fast völlig zügelt.

In welcher Form bringt Grass die Kinder zur Sprache? Nun, in neun Kapiteln treffen sich die Sprösslinge an wechselnden Orten, um an diversen Esstischen über frühere Zeiten (60er bis 90er Jahre) und ihren berühmten Vater zu reden. Da mithin alles im Sitzen geschieht, ist dem Buch von vornherein eine gewisse Statik eigen. Für etwas Bewegung sorgen nur einige der aufgetischten Erinnerungen. Ein Tonband läuft jedenfalls immer mit. So die Fiktion. Doch natürlich führt der Patriarch Günter Grass Regie.

So kommt es, dass eher milde Kritik an „Vatti” einfließt und keines der Kinder unverwechselbare Kontur gewinnt. Sie reden alleweil wild durcheinander – über Schulprobleme, kleine Nöte oder Vergehen von „damals”. Kommt in den besten Familien vor. Nebenher läuft Zeitgeschichte bis nach dem Mauerfall mit. Als Leitlinie dienen Vaters Bücher seit den „Hundejahren”.

Das Stilmittel der vielfach mittendrin abgebrochenen Sätze wirkt penetrant. Überdies hat sich Grass eine recht erkünstelte „Jugendsprache” ausgedacht. Die mittlerweile längst erwachsenen Kinder-Figuren dürfen hier getrost schon mal für Papa Partei ergreifen, etwa so: „ . . . wie er das jedesmal hingekriegt hat: ein Bestseller nach dem anderen, gleich was die Zeitungsfritzen darüber zu meckern hatten.”

Was aber besagt die Titel gebende „Box”? Es handelt sich um eine alte Afga-Kamera, mit der „Mariechen” (Vorbild: Grass‘ 1997 verstorbene Haus- und Hoffotografin Maria Rama, der das Buch gewidmet ist) das wirre Familienleben über Jahrzehnte begleitet hat. Der Clou: Ihr Apparat kann zauberisch in Zukunft und Vergangenheit blicken, woraus sich etliche Dunkelkammer-Phantasien zwischen Hoffnung und Ängsten ergeben. Doch auch dieses Motiv, das schriftstellerische Fabulierlust aufruft, wird etwas über Gebühr strapaziert.

Wie bei einem liebenswert umständlich präsentierten Dia-Abend vernimmt man also die familiären Erinnerungen. In den besten Momenten findet Grass zu einer ungeahnten Leichtigkeit; beispielsweise, wenn er auf seine allzeit „starken Frauen” und seinen Mutterkomplex zu sprechen kommt. Doch, ach, wie viel stockender Redefluss bis zu solchen Inseln!

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INFO

  • Günter Grass: „Die Box”. Steidl Verlag, Göttingen. 215 Seiten, 18 Euro.
  • Am 29. August ist der offizielle Erscheinungstag. Allerdings liegt der Band bereits seit Tagen im Buchhandel vor.
  • Unbewiesene Vermutung: Der Steidl Verlag habe diese Strategie bewusst gewählt, um gleich zu den Lesern zu gelangen – ohne den „lästigen Umweg” über die Rezensenten.
  • Die heftige Kritik am Vorgänger-Buch „Beim Häuten der Zwiebel” (mit Grass‘ allzu spätem SS-Eingeständnis) mag dabei eine Rolle gespielt haben.



Warnung vor den „Übermenschen“ – Michael J. Sandels Buch „Plädoyer gegen die Perfektion“

Wer möchte nicht manchmal perfekt sein? Doch wäre Vollkommenheit wirklich so gut? Und ist es nicht sowieso verwerflich, diesen übermenschlichen Zustand anzustreben? Um solche heiklen Fragen geht es in dem neuen Buch „Plädoyer gegen die Perfektion”. Nicht zuletzt taugt der Band als Beitrag zur Doping-Debatte.

Der Autor Michael J. Sandel lehrt Politische Philosophie an der Harvard Universität. Er gehörte zum illustren Kreis der Bioethik-Berater von US-Präsident Bush. Für die deutsche Ausgabe hat Jürgen Habermas das Vorwort geschrieben. Wir bewegen uns also in gewissen Geisteshöhen.

Doch Sandel hebt nicht ab. Er spürt dem wachsenden Perfektionsdrang auf verschiedenen Feldern nach, nennt konkrete Fakten und überzeugt durch klare Beweisführung.

Argumente zu Doping
und Gentechnik

Besonders die unentwegt fortschreitende Gentechnik weckt sein Unbehagen. Doch dabei bleibt der Autor nicht stehen. Er prüft gewissenhaft, worin dieses Gefühl wurzelt und ob es berechtigt ist.

Heute kann man mit bestürzend hoher Wahrscheinlichkeit (je nach Methode bis zu 91 Prozent) das Geschlecht eines Babys vorherbestimmen. Auch Muskelaufbau, Gedächtnis oder Körpergröße lassen sich vor der Geburt „programmieren”. Das weckt Begehrlichkeiten.

Wie man weiß (und bei Olympia bestätigt findet), versuchen besonders Leistungssportler, ihre Physis zu optimieren. Gewisse Dopingmittel können schon bald gentechnisch hergestellt werden, so dass sie kaum noch nachweisbar sind. Und: Manche Musiker nehmen Betablocker gegen Lampenfieber, damit sie cool bleiben. Wo sind die Grenzen des Erlaubten?

Der Autor unterscheidet sehr genau. Beim Sport müsse es im Kern darum gehen, natürliche (!) Begabungen vorzuführen. Was sich damit verträgt, soll zulässig sein. Sonst müsste man ja auch systematisches Training verbieten. Anders aber verhält es sich laut Sandel, wenn das gegebene Talent verschleiert und zum Zwecke bloßen Spektakels künstlich gesteigert wird.

Aus vielen Fallschilderungen arbeitet Sandel behutsam eine moralische Grundposition heraus, hinter die man nach seiner Ansicht nicht zurückfallen darf. Er nennt es die prinzipielle „Offenheit für das Unerbetene”. Das bedeutet: Eltern dürften ein Kind nicht nach ihren Wünschen zurichten, sondern sie sollten es zuerst grundsätzlich so annehmen, wie es nun einmal ist. Erst dann möge korrigierende Erziehung einsetzen.

Die Entwicklung von Kindern sei von Natur aus unvorhersehbar – und diese Unbestimmtheit mache einen Großteil menschlicher Freiheit aus. Jedes Leben solle deshalb als Gabe angenommen werden. Sandel spricht gar von Ehrfurcht und Demut – Worte, die im Rahmen von Kosten-Nutzen-Rechnungen nicht so gebräuchlich sind.

Die „voraussetzungslose Liebe”, so Sandel, werde der Sucht nach Perfektion häufig geopfert. Er kritisiert krankhaft ehrgeizige Eltern, die schon kleine Kinder auf intellektuelle, sportliche oder musikalische Höchsteistung trimmen. Nicht auszudenken, was geschieht, wenn man ihnen gentechnische Wege ebnen würde. Es wäre wie ein Rüstungswettlauf.

Unterdessen wanken Bastionen, die gefestigt zu sein schienen: Die „Eugenik” (zweifelhafte Lehre von der „Verbesserung” des Menschen, etwa durch „Zuchtwahl”) war wegen der Nazi-Verbrechen für Jahrzehnte diskreditiert. Heute erlebt sie in den USA offenbar eine Renaissance – unter gentechnischen Vorzeichen und mit marktliberalem Zungenschlag. Sandel warnt eindringlich davor.

Naturwissenschaft und Technik sind der moralischen Debatte meist ein paar Schritte voraus. Mit Büchern wie diesem kann die Moral ein wenig aufholen.

Michael J. Sandel: „Plädoyer gegen die Perfektion – Ethik im Zeitalter der genetischen Technik”. Verlag Berlin University Press. 174 S.; 24,90 Euro.

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INFO:

  • Der 1953 geborene Autor Michael J. Sandel ist Professor für politische Philosophie an der Harvard University (USA).
  • Eine seiner Überzeugungen lautet, dass dem „ungebundenen Selbst”, wie es der Liberalismus entwirft, Schranken gesetzt werden müssen; vor allem durch soziale Gruppen und Traditionen.
  • Diese Gegenposition zum Liberalismus wird in der Fachsprache Kommunitarismus genannt.



Hochzeitskultur im deutsch-türkischen Vergleich – die Dortmunder Ausstellung „Evet – Ja, ich will!“

Dortmund. Alte Erfahrung derer, die im größeren Rahmen geheiratet haben: Als Braut oder Bräutigam bekommt man vor lauter Stress von Einzelheiten des Festes wenig mit. Wie passend also, dass einen nun die Dortmunder Hochzeits-Schau „Evet – Ja, ich will!” glücklich verwirrt.

Im Museum für Kunst und Kulturgeschichte (MKK) geht’s nämlich abwechselnd munter vorwärts und rückwärts in der historischen Zeit, außerdem hin und her zwischen der Türkei und Deutschland, zwischen Stadt und Land. Oft darf man rätseln, von wo und wann einzelne Exponate stammen.

Kleider, Kleider und
nochmals Kleider

Da heißt es eben: ausgiebig die Beschriftungen lesen oder sich mit dem Katalog ausrüsten. Alles ist zweisprachig (deutsch/türkisch) in dieser Ausstellung, die einen Dialog zwischen den Kulturen stiften soll. Und was würde sich dafür besser eignen als jener Tag, den man wohl nie vergisst: die Heirat? Missliche Themen wie Zwangsehe hat man übrigens vorsichtshalber ausgespart bzw. behutsam in den Katalogtext ausgelagert.

Was man zu sehen bekommt? Insgesamt 500 (!) Ausstellungsstücke, je etwa zur Hälfte deutschen und türkischen Ursprungs. Vor allem Kleider, Kleider und nochmals Kleider. Traditionelle Pracht, etwa mit aufwändiger Goldstickerei, aber auch prosaische Gewänder – bis zum schlichten Modell aus VEB-Produktion zu DDR-Zeiten.

Interessant ist es, das „Fremde” nicht nur in der türkischen Hochzeitskultur zu sehen, sondern auch in deutscher Vergangenheit. Auch die ist uns in ihrer regionalen Vielfalt fern gerückt. Eine hessische Tracht des 19. Jahrhunderts wirkt beinahe so exotisch wie eine anatolische. Längst vorbei. Heute haben sich Hochzeitsmoden international angeglichen, wie aktuelle Designer-Entwürfe aus beiden Ländern zeigen.

Mancherlei Accessoires (Schleier, Gürtel, Schmuck, Hochzeitskronen, Kränze, Fächer usw.) ergänzen die Textilienfülle. Übrigens: Eine deutsche Braut, die bereits schwanger war, durfte ehedem nur einen durchbrochenen Kranz ins Haar flechten. So streng waren die Sitten. Mit dem Biedermeier war die betont jungfräuliche Kleiderfarbe Weiß aufgekommen. Bis dahin hatten Bräute oft Schwarz oder Rot getragen.

Nach dem rebellischen Jahr 1968 wurden Eheschließungen oft schmuckloser begangen. Doch seit der fabulösen Heirat von Lady Diana (29. Juli 1981) ging es wieder in die Gegenrichtung. Da darf’s ein wenig mehr Prunk sein. Auch diese Grundströmungen spiegeln sich in der Schau.

Ein Nebenaspekt sind Hochzeitsgaben. Die wurden früher nicht in schnödes Geschenkpapier, sondern mitunter in teures Tuch gehüllt. Beim festlichen türkischen Brautzug wohlhabender Leute gingen einst ganze Trägergruppen mit, um alle Kostbarkeiten vorzuweisen. In der historischen Geschenkabteilung beider Kulturen finden sich Truhen für die Aussteuer – und hölzerne Wiegen, die ein hehres Ziel ehelicher Verbindungen vorgaben. Eine weitere Zielvorstellung steht als Sinnspruch auf einem Geschenkteller: „Wen(n) ich dich hätt / einmal im Bett.” Nun, das Eine ergibt gelegentlich liebevoll das Andere.

Hie und da würde man sich wünschen, dass die Belegstücke weniger kleidungslastig wären. Wenn man etwa die überaus kunstvoll gestalteten Liebesbriefe sieht, die man einst beim Dorfschreiber bestellte, so ahnt man, welche Chancen in größerer Breite der Auswahl gelegen hätten.

Museumsdirektor Wolfgang E. Weick hofft derweil auf rund 20 000 Besucher. Jede Wette, dass dabei Frauen in der Mehrheit sein werden.

„Evet – Ja, ich will! Hochzeitskultur und Mode von 1800 bis heute: eine deutsch-türkische Begegnung”. Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Dortmund, Hansastraße 3. Bis 25. Jan. 2009. Di-So 10-18, Do 10-20 Uhr. Eintritt 8 €. Katalog 19,90 €. Begleitprogramm mit Konzerten, Lesungen usw.
Die Schau mit vielen kostbaren Leihgaben aus der Türkei entstand in Kooperation mit den Reiss-Egelhorn-Museen in Mannheim. Dort wird sie ab 1.3.2009 zu sehen sein.




Eine Frau gräbt sich durch Westfalen

Ein wahrhaft tiefschürfender Beruf: Rund 34 Jahre lang hat Dr. Gabriele Isenberg (65) als Archäologin den geschichtlichen Untergrund Westfalens eingehend erforscht. Ihre Arbeit hat viel mit der Identität der Region zu tun.

Hunderte von Grabungen im gesamten Landesteil hat sie selbst mitgemacht oder angeregt. Isenberg: „Wir waren ein westfälischer Wanderzirkus.” Sie und ihre Mitarbeiter förderten Schätze zutage, die bis heute den jeweiligen Historien-Stolz der Orte beflügeln.

Die Frau, die jetzt in den Ruhestand gegangen ist, weiß viel zu erzählen. In den letzten Jahren hat sie als Chef-Archäologin des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) die Geschicke mehr vom Schreibtisch aus geleitet. Zuvor aber war sie mindestens zehn Monate im Jahr durch Westfalen unterwegs – Tag für Tag, bei fast jedem Wetter. Unten in den Gra-bungsstätten, so versichert sie, sei es im Sommer ungleich heißer und im Winter kälter als an der Erdoberfläche.

Nette „Kiebitze”,
aufmerksame Bürger

Entschädigt werde man jedoch doppelt: „Es gibt immer etwas Neues”. Und die Passanten zeigen oft reges Interesse: „Viele Leute kommen jeden Tag am Bauzaun vorbei, erkundigen sich nach Fortschritten und bringen auch schon mal Getränke oder Kuchen mit.” Nette, neugierige „Kiebitze” also. Manchmal auch mehr: Nicht selten alarmieren aufmerksame Bürger die Behörden, wenn durch Bauarbeiten etwaige Fundorte bedroht zu sein scheinen.

Gabriele Isenberg ist Mittelalter-Spezialistin (Epochen-Beginn um 800 n. Chr.), doch ihre Forschungen reichen bis weit ins 20. Jahrhundert. Als eine der ersten Wissenschaftlerinnen überhaupt hat sie „KZ-Archäologie” betrieben. In Witten-Annen, wo sich ein Außenlager des KZ Buchenwald befand, barg sie aus einem Löschteich Trinkgefäße und andere Gegenstände, die von elenden Haftbedingungen zeugen – Funde von erschreckender Wahrhaftigkeit. Auch der Bombenschutt des Zweiten Weltkriegs enthält erschütternde Zeugnisse – bis zur verkohlten Spielpuppe eines kleinen Mädchens.

Was aber macht Westfalen im Mittelalter aus? Isenberg: „Unsere Vorfahren kamen spät zum Christentum, dann aber ungemein schnell.” Es habe in diesen Breiten einen regelrechten Kulturbruch gegeben, der mit neuen Siedlungsstrukturen einherging. Im Rheinland verlief alles gemächlicher. Just in jener Zeit haben sich wohl auch Frühformen eines westfälischen Selbstbewusstseins entwickelt – in Abgrenzung zu benachbarten Landstrichen.

Beispiele: Erstaunliche Funde, die den wachen Geist hiesiger adeliger Stiftsdamen belegen, konnten in Meschede (St. Walburga) gesichert werden, der Ursprungsbau entstand um das Jahr 900. Gabriele Isenberg schwärmt geradezu von den Schalltöpfen im Mauerwerk, die mit hallverkürzender Wirkung für hervorragende Akustik bei liturgischen Gesängen sorgten.

Gute Nachrichten
für Lokalpatrioten

In Dortmund hatten Isenbergs Grabungen im Zuge des U-Bahn-Baus konkrete Folgen. Als ihr Team die Grundfesten des Adlerturms (Teil der mittelalterlichen Stadtmauer) freilegte, entstand die Idee, den Turm wieder aufzurichten – und so geschah es. Ein Wahrzeichen aus zweiter Hand, doch immerhin mit historischer Anmutung.

Manches war durch die Grabungen nachweisbar: Die Plettenberger Christuskirche, so stellte sich heraus, ähnelt der seinerzeit in Köln üblichen Bauform. Bei der Vitus-Kirche in Hilchenbach spielen wiederum Einflüsse aus Corvey hinein. Überall werden also datierbare Einflusslinien sichtbar, aus denen man Schlüsse über Reise- und Handelswege ziehen kann.

Wenn irgendwo Neubaumaßnahmen anstehen, können Archäologen nach neuerer Rechtslage leichter einen vorübergehenden Stopp verfügen als früher. Daher sind sie anfangs „oft nicht gern gesehen” (Isenberg). Doch sobald markante Funde auftauchen, werden Bürger und Stadtwerbung aufmerksam. Erst recht wächst der Lokalstolz in eingemeindeten Stadtteilen. Isenberg: „Die Wellinghofer freuen sich, wenn sie den Dortmundern etwas voraus haben, und die Wattenscheider wollen es den Bochumern mal zeigen.”

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INFOS:

  • Als Gabriele Isenberg anfing, wurden Fundstellen noch häufig von Hand skizziert. Heute sind Digitalfotografie und Computersimulationen Standard.
  • Immer neue Methoden bringen zudem die Funde „zum Sprechen”:
  • Mit DNA-Analysen lässt sich beispielsweise feststellen, ob Blutsverwandte gemeinsam bestattet worden sind.
  • Per Strontium-Isotopie kann man anhand von Knochenfunden bestimmen, welche Sorte Wasser (und welche Mineralien) der betreffende Mensch als Kind zu sich genommen hat. Da sich diese Zusammensetzung früher regional stark unterschied, lässt dies Aussagen über die Herkunft zu.
  • Paläopathologen finden in Skeletten Hinweise auf Krankheiten und Ernährungsgewohnheiten unsererer frühen Vorfahren.

BUCHTIPP

  • Zum Thema neu auf dem Buchmarkt: „Archäologieführer Westfalen-Lippe”. Theiss-Verlag, 216 Seiten, 16.90 Euro.



Junger Westen: Rückkehr der 50er Jahre

Recklinghausen. Man kann es sich denken: Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte allseits Nachholbedarf. Beileibe nicht nur in materieller, sondern auch in geistiger Hinsicht. Der Mensch lebt eben nicht vom Brot allein. Vor dem Horizont dieser Zeitstimmung bildete sich 1948 im Ruhrgebiet eine folgenreiche Künstlergruppe: der „junge westen”.

Jetzt, runde 60 Jahre danach, kommt die Gruppe an ihrem Gründungsort Recklinghausen wieder zu Ehren. Noch heute gibt es zur Erinnerung den renommierten Kunstpreis „junger westen”. Führende Köpfe dieses Künstlerkreises waren der Hagener Emil Schumacher, Thomas Grochowiak, Gustav Deppe, Heinrich Siepmann und Hans Werdehausen. Namen, die (mit Ausnahme von Schumacher) heute nicht mehr ganz so geläufig sind.

Von regionalen
Industrie-Motiven
zur Abstraktion

Die Gruppe wurzelte im Expressionismus und richtete sich bewusst regional aus. Anfangs griffen die Künstler häufig Motive aus der Ruhrgebiets-Industrie auf, wie etwa Thomas Grochowiak mit „Der Fördermaschinist” (1950). Erkennbare Gestalt, doch kein platter Eins-zu-eins-Realismus, sondern aufs Wesentliche zielend.

Doch alsbald machte sich (zuweilen heiß und polemisch umstritten) der Zug zur Abstraktion bemerkbar. Er ging in verschiedene Richtungen, mal eher geometrisch (konstruktiv), mal mehr emotional (gestisch) gewendet. Viele Wege führen durch Fläche und Farbe. Jedenfalls hat sich seinerzeit die abstrakte Formensprache spätestens mit der documenta 1959 durchgesetzt. Überdies passt Abstraktion bestens zu den aktuellen Trends auf dem heutigen Kunstmarkt. Zufall oder glückliche Fügung?

Recklinghausens Kunsthallen-Chef Ferdinand Ullrich ist überzeugt: „Die 50er Jahre kommen wieder!” Selbst manche Nierentische und Tulpenlampen seien grandiose Schöpfungen gewesen; erst recht die Kunst jener Zeit, die sich oft dem Alltag näherte – und zwar keineswegs subversiv, sondern gleichsam hilfsbereit: Man sieht es deutlich anhand einer Mappe mit Tapetenmuster-Entwürfen des „jungen westens” für eine Wuppertaler Firma. Phantasie-Girlanden im Stil der Zeit für die heimischen Wände. Das hatte ‚was! Später gab es gar „informelle” (also von spontanen Impulsen gesteuerte) Entwürfe für Spielplatzmobiliar wie etwa Kinderrutschen. Gut denkbar, dass die Umsetzung an Sicherheitsbedenken gescheitert ist.

Alltagsnähe in
der Tradition
des Bauhauses

Hinter all dem stand die Idee eines „Neuen Bauhauses”, das in großer Tradition Kunst und Leben versöhnen sollte. Zeitweise gab es Pläne, dieses „Bauhaus” an der Werkkunstschule in Dortmund anzusiedeln. Leider hat sich dieses Projekt zerschlagen. Wer weiß, was daraus hätte wachsen können.

Recklinghausen zeigt rund 80 ausgewählte Werke von 16 Künstlern, Kurator ist der stellvertretende Kunsthallen-Chef Hans-Jürgen Schwalm. Nicht nur der „junge westen” selbst ist vertreten, sondern auch Gäste, die damals an ihren Ausstellungen teilgenommen haben: HAP Grieshaber, Fritz Winter, Hubert Berke, Georg Meistermann, Hann Trier und der ungemein dynamische K. O. Götz, der (weit über die „Provinz” hinaus) in Paris Furore machte.

Lauter starke Positionen also, deren Originalität jetzt noch wirkt. Die meisten Bilder dürften selbst Skeptiker mit der Abstraktion versöhnen. Die ist hier nämlich kein Freibrief für Beliebigkeit, sondern bringt Formen verbindlich auf den Begriff. Zudem erlaubt die Schau Entdeckungen. Etwa diese: Vor seinen Farbräuschen hat Emil Schumacher Bilder wie „Der Herd” geschaffen; ein wahrhaft ausdrucksvolles Geräte-„Porträt” aus dem Küchenbezirk.

Fazit: Auf solch anregende Weise darf ein Hauch der 50er Jahre gern wieder wehen.

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INFOS:

  • Ein Mentor und „Geburtshelfer” der Gruppe „junger westen” war Franz Große Perdekamp, erster Direktor der Kunsthalle Recklinghausen.
  • Ort der ersten Ausstellung im Vorfeld der Gruppenbildung war 1947 die Lebensmittel-Etage des Kaufhauses Althoff (Recklinghausen).
  • Ausstellung bis 28. September, Kunsthalle Recklinghausen (Bunker am Hauptbahnhof). Geöffnet Di-So 11-18 Uhr. Eine kleinere Auswahl zum „jungen westen” wird auch in Dortmund zu sehen sein – mit Werken von Gustav Deppe, Ernst Hermanns und Heinrich Siepmann: 3. September bis 24. Oktober im RWE Tower (Freistuhl 7). Mo-Fr 9-17 Uhr.



Abgebrühte Mädchen

Wir wissen’s ja: Brave Mädchen kommen in den Himmel, freche überall hin. Diesem Leitsatz folgt der Film „Die Girls von St. Trinian”.

Schauplatz ist ein britisches Mädchen-Internat mit Horror-Garantie. Alle schrillen Girlie-„Szenen”, besonders die düsteren, scheinen hier Stützpunkte zu haben. Schlimmer: Schnapsbrennen, Drogenmissbrauch und Bombenbasteln beherrschen die Schülerinnen aus dem Effeff. Sie sind clever und abgebrüht.

Nachmittags im Kriminal-Unterricht (Lernziel heute: „Wir komme ich schnell zu ganz viel Geld?”) lobt der Lehrer, ein schmieriger Ganove: „Richtig! Fein! Erpressung ist eine prima Idee.” Man ahnt schon: „Pisa” interessiert hier keinen. Im Lehrerzimmer wird beim Pokern gesoffen, die schräge Direktorin (männlich besetzt mit Rupert Everett, der auch ihren Bruder mimt) kifft, was die Tüte hält.

Die Regisseure Barnaby Thompson und Oliver Parker (zuvor hauptsächlich mit Komödienstoffen von Oscar Wilde befasst) schicken anfangs eine neue Schülerin (Typ „zarte Elfe”) ins sittenlose Inferno. Was die Kleine nicht umwirft, härtet sie ab.

Und so geht’s Runde um Runde durch diese halbwegs flotte, aber auch schon etwas rostige Geisterbahn. Die Provokatiönchen verbrauchen sich rasch. Fast könnte man von heiler Welt der Anarchie sprechen. Hier werden alle Kulte routiniert verwurstet. Mal zaubert’s wie bei „Harry Potter”, mal glitzert’s wie in der „Rocky Horror Picture Show”. Na, und so weiter. Doch die liebevolle Akribie und der tiefschwarze Humor der Cartoon-Vorlage von Ronald Searle („St. Trinian’s” aus den 1940er Jahren) werden nicht annähernd erreicht.

Damit das Ganze nicht nur aus lauter Wiederholungsschleifen besteht, tritt ein neuer Bildungsminister (Colin Firth) auf den Plan, der diese Anstalt auf Vordermann bringen will und dabei ein ums andere Mal scheitert.

Schließlich wird noch eine Rififi-Geschichte um Kunstraub angepappt. Um ihre schräge Schule vor der Pleite zu retten, wollen die Girls in der National Gallery Jan Vermeers berühmtes Gemälde „Das Mädchen mit dem Perlenohrring” an sich bringen. Dass einige Schülerinnen Vermeers Bild für ein Porträt von Scarlett Johansson halten, ist noch einer von den besseren Gags.




Ringelnatz: Witz kann Wunder wirken – zum 125. Geburtstag des Dichters

Wer seine Verlobte „Maulwurf“ und seine Frau „Muschelkalk“ nennt, der muss doch wohl ein lustiger Vogel sein. Stimmt: Der Mann hieß Hans Bötticher und gab sich 1919 den ungleich bekannteren Künstlernamen Joachim Ringelnatz. Doch schierer Witz ist nicht die einzige Zierde des Dichters gewesen, der heute vor 125 Jahren in Würzen bei Leipzig geboren wurde.

Seine berühmtesten Verse sind ins literarische Volksvermögen geflossen. Sie bilden ein unverzichtbares Bindeglied so ungefähr zwischen Wilhelm Busch, Christian Morgenstern, Kurt Tucholsky, Erich Kästner, Heinz Erhardt und Robert Gernhardt. Ringelnatz steht also in der hochkomischen Tradition, welche die Deutschen zuweilen so bitter nötig hatten und die sich immer noch am schönsten in Reime ergießt. Mit der heute gängigen Comedy für eine übersättigte Spaßgesellschaft hat das herzlich wenig zu tun.

Auf so manche skurrilen Ideen, auf so manches kleine „Nebenbei“, das Ringelnatz anflog, muss man erst einmal kommen. Da fuhren Braten und Spiegelei bedeutsame Gespräche in Topf und Pfanne. Da werden Ameisen auf Australienreise geschickt, und eine männliche Briefmarke (ein zackiger „Briefmark“) sehnt sich nach einer Prinzessin. Wie sinnig: Die Deutsche Post bringt dieser Tage eine Sondermarke heraus, die sich auf besagtes Gedicht bezieht.

Ringelnatz selbst, beileibe nicht nur Komiker, sondern auch praktizierender Melancholiker (und Alkoholiker), muss eine groteske Figur gewesen sein. Klein von Wuchs, krumme Beine, ellenlange Nase. „Etwas schief ins Leben gebaut“, so hat er sich selbst gesehen. Noch schräger wurde sein Lebenslauf, nachdem er des Gymnasiums verwiesen wurde. Grund: Er hatte vor dem Lehrer mit einem Pausenausflug zur Völkerschau geprahlt, wo ihn eine Samoanerin tätowiert hatte. Unerhört! In einem späteren Zeugnis stand das Prädikat „Schulrüpel ersten Ranges“.

Die Jobs, mit denen er sich notdürftig am Leben hielt und seinen Schnaps bezahlte, sind zahlreich: Er fuhr unter übelsten Bedingungen als Matrose zur See, liebte jedoch zeitlebens das Meer und schuf die versoffene Seemannsgestalt „Kuttel Daddeldu“. Er war Buchhalter, Privatbibliothekar und betrieb einer Tabakladen, der rasch pleite ging. Zeitweise verdingte er sich als Schaufensterdekorateur, Schlangenbändiger und gar (in Frauenkleidern) als „Wahrsagerin“ im Bordell: Harte, bizarre Schulen des Lebens. In seinen Erzählungen wimmelt es von unglaublichen Zufällen, die ganze Biographien bestimmen.

Viele Jahre zog er als „reisender Artist“ und hintersinniger Vortragskünstler umher. Auch im legendären Schwabinger Künstlerlokal „Simplicissimus“ („Simpl“) trat er auf, von da an leuchtete sein Stern erst richtig hell und grell. Was gäbe man drum, wäre man bei solcher Gelegenheit dabei gewesen.

Milieu zwischen Kneipe und Bordell

Ringelnatz-Zeilen schmecken häufig nach „Milieu“, nach (Hafen)-Kaschemme, Boxbude, Bordstein und Bordell – bevor ein Bert Brecht solche Zutaten mit revoltierendem Gehabe anrichtete.

Doch Ringelnatz war äußerst zartsinnig und sponn feinste Sprachfäden. Folgt man einer Charakterisierung Erich Kästners, so wird bei Ringelnatz noch das Banalaste zum kleinen Wunder. Dieser Mann besaß zwangsläufig Bodenhaftung, doch mit wenigen Worten konnte er auch ganz sanft und federleicht zu herrlichstem Phantasieflug abheben. Das ist nicht zuletzt etwas für Kinder, die mit offenem Munde staunen wollen.

Der ungemein produktive Dichter (20 Bände von 1910 bis 1934) war auch ein sehr begabter Zeichner; ein Doppeltalent, wie es so manchen Großkomiker auszeichnet.

Dass ihn die Nazis verfemten und ihm Auftritte verboten, verwundert nicht. Sie konnten weder seine Wirklichkeit noch seine Leichtigkeit verstehen.

Ringelnatz hat jene finsteren Zeiten nicht lange ertragen müssen. Das „herzbetrunkene Kind“ (Selbstbeschreibung) starb am 17. November 1934 in Berlin an Tuberkulose. Seine Grabplatte ist aus – Muschelkalk.

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  • Ringelnatz-Verse:

„In Hamburg lebten zwei Ameisen,
Die wollten nach Australien reisen.
Bei Altona auf der Chaus¬see
Da taten ihnen die Beine weh,
Und da ver¬zichteten sie weise
Denn auf den zweiten Teil der Reise …“

***

„Ein männlicher Briefmark erlebte
Was Schönes, bevor er klebte.
Er war von einer Prinzessin be¬leckt.
Da war die Liebe in ihm erweckt.

Er wollte sie wiederküssen,
Da hat er verreisen müssen.
So liebte er sie vergebens.
Das ist die Tragik des Lebens!“

***

„War einmal ein Bumerang,
War ein weniges zu lang,
Bumerang flog ein Stück,
Aber kam nicht mehr zurück.
Publikum – noch stundenlang –
Wartete auf Bumerang.“

Buch: „Sämtliche Gedichte und Erzählungen“. Zwei Bände. Diogenes Verlag, zus. 1280 Seiten, 29,90 €.

(Der Beitrag stand am 7. August 2008 in der „Westfälischen Rundschau“)




Macht uns das Internet dumm?

Nicht nur in Internet-Debatten macht derzeit ein Beitrag Furore, der sich grundsätzlich mit den Folgen des Netzes befasst. Der US-Autor Nicholas Carr fragt im Magazin „Atlantic Monthly”: „Is Google Making us Stupid?” Übersetzt: Macht uns Google dumm? Gemeint ist viel mehr als die Suchmaschine, nämlich die gesamte (Online)-Kultur.

Aber kann man hier überhaupt noch von Kultur im herkömmlichen Sinne reden? Carr kommt nämlich zu einem Befund, der inzwischen die allermeisten Menschen betrifft: Das Internet gewöhne uns immer mehr an raschen, ja rasenden Informations-Konsum in Häppchen-Form. Man klickt sich hierhin und dorthin, nimmt alles nur wie im Fluge wahr – und verliert dabei Stück für Stück die traditionelle Lesefähigkeit.

Klicken vermindert
die Lesefähigkeit

Carr schildert eigene Erfahrungen und die seines durchaus literarisch gebildeten Umfelds: Früher habe man sich ausgiebig auf Bücher eingelassen, habe sich in „tiefe Lektüre” versenkt wie ein Taucher. Heute surfe man nur noch auf Textoberflächen und neige zum zeitigen Abbruch. Wörtlich: „Mein Geist schweift nach allen Seiten ab. Ich werde zappelig, verliere den Faden, schaue mich nach einer anderen Beschäftigung um.”

Eine alte menschliche Schwäche (oder auch: wendige Stärke?) wird hier wieder akut: Wir lassen uns nur allzu bereitwillig ablenken durch immer neue Reize und Impulse. Es regiert die Flüchtigkeit. Mit der guten alten Abschweifung hat das nichts mehr zu tun. Die schloss ein, dass man irgendwann zum Stoff zurückkehrte. Jetzt aber heißt es nur zu oft: klick und weg!

Carrs Thesen erscheinen plausibel. Belege ließen sich reihenweise finden, allen (Wieder)-Entdeckungen der Langsamkeit zum Trotz. Er selbst zitiert Studien, denen zufolge Internet-Nutzer nicht unbedingt weniger, aber eben ganz anders lesen. Sie picken sich aus dem ungeheuren Überfluss Text- und Bild-Fragmente heraus und scheuen alle längeren Passagen. Ist dies nun ein Defizit – oder eine Kulturtechnik, um sich in der Fülle zurechtzufinden?

Hang zur rastloser Kürze

Kein Wunder, dass ältere Kino- und Fernsehfilme vergleichsweise behäbig wirken. Die Schnittfolge ist mit der Zeit immer rasanter geworden. Jüngere Leute haben kein Problem mit dieser Häcksel-Ästhetik, ältere können kaum folgen. Von Computerspielen oder der Fähigkeit, im Eiltempo Handy-Tastaturen zu bedienen, reden wir lieber erst gar nicht.

Der Hang zu rastloser Kürze hat auch Radioprogramme erfasst. Ein Wortbeitrag, der länger als zwei Minuten dauert (und nicht von Gedudel untermalt wird), ist auf manchen Kanälen die Ausnahme. Beim Fernsehen, das wohl bald ins Internet wandert, kann man sich durch immer mehr Stationen zappen.

All das führt dazu, dass „Aufmerksamkeits-Defizite” allmählich zur Volkskrankheit werden. Man darf vermuten, dass die grassierende Ungeduld häufig keine reine Hormonfrage ist (auch wenn die Pharma-Industrie das gern so hätte), sondern auch mit Seh-, Hör- und Lesegewohnheiten zu tun hat.

Am Schluss seines Artikels fordert Nicholas Carr uns auf, dass wir seine Skepsis just zweifelnd betrachten. Er fragt sich, ob er womöglich zu schwarz male – wie einst der altgriechische Denker Sokrates, der vor den Folgen der Schrift (Verlust des mündlichen Vortrags und des Gedächtnisses) warnte. Vielleicht, so Carr, entwickle sich aus der neuen Art des Lesens ja sogar ein goldenes Zeitalter. Schön wär’s.

Nicht nur am Horizont zeichnet sich unterdessen eine Kultur ab, die kaum noch von gedruckter Schrift bestimmt wird. Vielfach stehen wir schon mittendrin. Oder irren wir kopflos hindurch?

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INFOS:

  • Nicholas Carr (Jahrgang 1959) schreibt weltweit beachtete Texte am Schnittpunkt von Technologie und Kultur.
  • Kontrovers diskutiert wurde sein 2004 erschienenes Buch „Does it matter?” (Ist es wichtig?), in dem er die PC-Ausstattung von Firmen für zweitrangig erklärte, weil sie längst alltäglich sei. Konzerne wie Microsoft waren anderer Ansicht . . .
  • Kritik übt Carr an der Dominanz der Internet-Suchmaschine Google und des Netz-Lexikons Wikipedia.
  • Online-Auftritt von Carr: http://www.nicholascarr.com/
  • Den Artikel „Macht uns Google dumm?” findet man – in englischer Sprache – unter dieser Adresse: http://www.theatlantic.com/doc/print/200807/google



Was Musiker krank macht

Davon weiß man als Hörer und Konzertbesucher nichts: Viele, sehr viele Musiker spielen sich krank. Und: Häufig kommt im Klassik-Bereich der Missbrauch von Tabletten oder Alkohol vor. Solche dringlichen Probleme behandelt die Musikmedizin, die als eigenständige Disziplin noch recht jung ist. Nachgefragt beim Berliner Professor Helmut Möller, einem führenden Vertreter dieser Fachrichtung.

Musikalische Talente und Routiniers so etwa zwischen 12 und 60 kommen in Möllers Sprechstunde. Erst kürzlich saß ein junger Freund und Kollege des chinesischen „Wunderpianisten” Lang Lang dort; völlig verzweifelt, weil er den eigenen Ansprüchen nicht mehr zu genügen glaubte. Die psychosomatischen (leiblich-seelischen) Symptome dürften auch daher rühren, dass dieser Mann sich ständig am weltweiten Erfolg seines Freundes misst.

Damit sind wir schon bei einem Kernpunkt. In kaum einem Beruf ist die Konkurrenz so unerbittlich und täglich spürbar wie in der so genannten E-Musik. Prof. Möller über den Dauerstress: „Die meisten beginnen ungefähr im sechsten Lebensjahr mit dem regelmäßigen Üben. Es folgen immer neue Prüfungen im direkten Vergleich mit anderen. Nach vielen Jahren harter Arbeit dürfen diese Musiker dann ein paar Minuten vorspielen, falls eine Orchesterstelle frei ist – und da heißt es fast immer: ,Nein, danke. Der Nächste bitte!’”

Etliche Orchester sind eingespart oder verkleinert worden. Folge: Auf eine Stelle bewerben sich heute etwa 50 bis 70 Musiker. Zusätzliche Konkurrenz kommt aus Osteuropa und Ostasien – Musiker, die noch härter gedrillt worden sind und oft den Vorzug erhalten. Der Verdrängungswettbewerb ist gnadenlos wie nie – und macht zahlreiche Bewerber krank. Rund 25 bis 30 Prozent, so wird geschätzt, greifen zu Tabletten oder Alkohol. Tendenz offenbar steigend.

Im Tourneefilm „Trip to Asia” der Berliner Philharmoniker geschah das Ungeahnte: Ein Soloklarinettist sprach freimütig über berufsbedingte Ängste und sein Alkoholproblem. Seitdem ist das bisher strenge Tabu (Möller: „Musiker reden sonst nicht darüber – auch nicht untereinander”) ein wenig porös geworden.

Nicht gegen gewöhnliches „Lampenfieber” („Das gehört unbedingt dazu”), wohl aber gegen leistungsmindernde Formen der Auftrittsangst verschreibt Möller gelegentlich Beta-Blocker, die Herz und Kreislauf beruhigen. Allerdings nicht jahrelang, sondern für eine gewisse Zeit. Möller: „Dazu stehe ich.”

Manchmal möchte der Experte am liebsten frühzeitig von einer Musikerlaufbahn abraten. Dann sucht er das Gespräch mit Eltern und Musiklehrern. Doch einige Eltern seien im Namen ihrer Kinder so verbissen ehrgeizig, dass selbst das behutsamste Zureden fruchtlos bleibe. Der Professor: „In solchen Fällen muss ich äußerst vorsichtig sein, sonst wird mir ein Prozess angehängt – weil ich den Kindern angeblich seelische Schäden zugefügt habe.” Dabei könnte ein Abschied von überzogenen Karriereträumen wohl oft lebenslange Leiden verhindern.

Unverkennbar sind jedenfalls gewisse Parallelen zum Hochleistungssport. Musik- und Sportmedizin arbeiten denn auch eng zusammen. Lehre von der Skischanze: Wer einmal böse gestürzt ist, soll nicht gleich wieder auf den Turm steigen. Desgleichen ein Musiker, der beim Konzert „versagt” hat. Bloß nicht schon in ein paar Tagen den nächsten Auftritt riskieren!

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FRAGE UND ANTWORT:

Welches sind die häufigsten Krankheiten bei Musikern?

– Akute Auftrittsangst, die sich leistungsmindernd auswirkt und damit einen „Teufelskreis” auslöst.
– Gehörschäden (für deren Abwehr es inzwischen strikte Orchester-Richtlinien gibt).
– Schädigungen des Muskel-Skelett-Systems: vor allem Schultergürtel, Hände, Hals.
– Spezielle Leiden wie Stimmbandentzündung (Sänger), Kieferprobleme (Bläser).

Wodurch werden Muskeln und Skelett geschädigt?

Von Musikern wird eine äußerst feine Motorik verlangt. Bereits eine geringfügig falsche Haltung kann zu bleibenden, schmerzhaften Verspannungen führen.

Welchen Fehler sollte man möglichst vermeiden?

Prof. Möller warnt prinzipiell davor, täglich mehr als vier Stunden zu üben. „Alles, was darüber hinausgeht, hat keinen vernünftigen Effekt mehr – ganz im Gegenteil.”

Sind Medikamente gegen die Auftrittsangst ratsam?

Gegen bestimmte Formen der Angst und nach eingehender ärztlicher Beratung: eventuell ja. Allerdings nur für einen kurzen Zeitraum.

Was tun berühmte Spitzenmusiker, um etwa ihren Tourneestress zu mildern?

Einige treiben zwischendurch maßvoll Sport, andere schwören auf Yoga und ähnliche Entspannungstechniken. Außerdem zeichnen sich viele Stars dadurch aus, dass sie ohnehin eine günstige Disposition (Veranlagung) haben und Stress besser „wegstecken”.

Was ist sonst noch wichtig beim Vorbeugen?

Unverzichtbar ist Regelmäßigkeit. Mediziner empfehlen, Teile des Tagesablaufs zu „ritualisieren”. Also: Stets zur gleichen Zeit ein wenig Sport oder Meditation, nicht nur ab und zu.

Betreffen Probleme und Ratschläge nur Profi-Musiker?

Keineswegs. Sie gelten auch für mehr oder minder ambitionierte Amateurmusiker, also für Zigtausende (mit Einschränkungen auch schon für Kinder).

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WEITERE INFOS:

  • Nächster Kongress zur Musikermedizin: 10. und 11. Oktober an der Musikhochschule Köln. Das Tagungsmotto lautet: „Was hält Musiker gesund?”
  • Weiterführende Informationen gibt es vor allem bei der 1994 gegründeten Deutschen Gesellschaft für Musikphysiologie und Musikermedizin. Auf deren Internet-Seite finden sich auch Literaturlisten und etliche Link-Verknüpfungen zum Thema:

http://www.dgfmm-online.de/




Als die Videokunst noch neu und radikal war

Krefeld. Das Problem betrifft beileibe nicht nur Krefeld: Videokunst, seit den frühen 70er Jahren von Museen angeschafft, vergammelt vielfach in den Depots. Die Arbeiten aus der Video-Steinzeit“ müssten eigentlich überall auf neue Formate (derzeit vor allem DVD) umkopiert werden. Man braucht mittlerweile rare historische Geräte, um überhaupt auf die alten Magnetbänder zugreifen zu können.

Selbst in den Krefelder Museen, die um 1970 bundesweit zu den ersten Kunstvideo-Käufern zählten, wurde dieser Eigenbesitz seit Jahrzehnten kaum noch beachtet. Erst kürzlich hat man sich wieder erinnert. So waren denn bis zu 30 (!) Reinigungs-Durchgänge erforderlich, bevor die Filme neu gespeichert werden konnten. Und was ist dabei zum Vorschein gekommen?

Viel experimenteller Zeitgeist aus den Jahren nach 1968. Vorwiegend grobkörniger, schwarzweißer Sehstoff, der oft mit hartnäckigen Wiederholungsmustern die Geduld auf die Probe stellt und klar macht, wie sehr sich die Bilder seither beschleunigt haben. Damals haben die dritten TV-Programme noch Sperriges riskiert, doch selbst sie schreckten bald zurück. Solche quotenfernen Freiheiten hat es auf diesen Kanälen seither nie wieder gegeben.

Den inzwischen berühmten Künstlernamen zum Trotz: Schier endlos die Hand Richard Serras zu sehen, die einen Kreidestrich nach dem anderen zieht – kein reines Zuckerschlecken. Den Bildhauer Ulrich Rückriem ausgiebig dabei zu beobachten, wie er Stein auf Stein auf Stein umkippt – auch kein Thriller.

Da ist man schon dankbar, wenn Joseph Beuys in einem Video Boxhandschuhe anlegt und unentwegt auf ein Fernsehgerät eindrischt. Oder wenn der Pionier Nam June Paik sein Bildmaterial mit damaligen technischen Finessen nach besten Kräften popkünstlerisch verfremdet.

Zuweilen handelt es sich um rührend unbeholfene Versuche mit dem seinerzeit neuen Medium, häufig um radikale Sinnverweigerung oder den heftigen Willen zum unverstellten Blick, zu ungeahnten Perspektiven. Man wollte offenkundig tabula rasa machen und ganz neu anfangen – wie beim allerersten Morgentau. Immerhin finden sich hier auch schon recht inspirierte Urahnen der späteren Videoclips.

Man bekommt nicht nur Videos zu sehen: Tafelbilder u. a. von Größen wie Gerhard Richter, Sigmar Polke und Andy Warhol bezeugen, wie sehr zu Beginn der 70er das flackernde Zeilenraster der Fernsehoptik die Wahrnehmung in der Malerei geprägt hat.

Wollte man alle Videos jeweils bis zum Ende anschauen, so könnte man mindestens einen ganzen Tag in dieser Schau zubringen. Wer weiß: Vielleicht schlägt das Betrachten irgendwann in Meditation um. Doch fraglos hat es seinen Reiz, den Geist der frühen Jahre gleichsam noch einmal inhalieren zu können.

Krefeld. Museum Haus Lange (Wilhelmshofallee 97). Bis 21. September. Di-So 11-17 Uhr. Tel. 02151/97 55 8-0. Katalog erscheint im August.

(Der Beitrag stand am 25. Juli 2008 in der „Westfälischen Rundschau“)




Westfalen – das Land der wenigen Dichter

Seien wir ehrlich: Eine literarische Traditionslandschaft von hohem Rang ist Westfalen leider nicht. Zum Vergleich: Schwaben kann mit Wieland, Schiller, Hölderlin, Mörike, Hegel und etlichen anderen prunken – und wen haben „wir”?

Seit kurzem gibt es eine neue, umfangreiche Internetseite zur westfälischen Literatur – und selbst da muss man sehr intensiv suchen, um aufs Feld ganz großer Dichtung zu gelangen. Über 2000 Autoren sind verzeichnet, doch selbst Fachleute dürften die allermeisten kaum kennen.

Vielleicht liegt’s, wie Goethe gesagt hätte, am Fehlen von „Basalten und Schlössern”. In klassischen Zeiten blühte die Literatur vor allem im Umfeld des Adels. Westfälische Autorenschaft entwickelte sich hingegen vor allem in Kirchen- und Juristen-Kreisen. Vielfach lief es freilich auf Heimatdichtung mit engerem Horizont hinaus. Nach der Industrialisierung kamen entschieden linke Positionen hinzu – bis zum zeitweise wirksamen Dortmunder Werkkreis Literatur der Arbeitswelt (ab 1961).

Ein Kritiker, ein
Sozialist und ein
erschlagener Bischof

Doch in der NS-Zeit neigten manche Schriftsteller auch zu schrecklichen Blut- und Boden-Ergüssen; allen voran Josefa Berens-Totenohl, die in Meschede-Grevenstein aufwuchs.

Es ist lehrreich, auf www. literaturportal-westfalen.de die Funktion „Schauplätze” aufzurufen. Hier kann man – Ort für Ort – erfahren, wo Autoren gelebt und wo Dichtungen gespielt haben. Beispiele:

In Altena wurde 1893 Friedhelm Sieburg geboren, der als „Großkritiker” der FAZ von sich reden machte. Er war sozusagen der Reich-Ranicki der 50er und frühen 60er Jahre.

Der Romantiker Karl Leberecht Immermann hat sich über Arnsberg so geäußert: „…die Gegend um Arnsberg ist die schönste, die ich je gesehen habe…” Später wurde vor allem der von hier stammende Sozialist Wilhelm Hasenclever (1837-1889) bekannt, der für die Rechte der Arbeiter kämpfte und schrieb.

Dortmund könnte sich rühmen, dass der kürzlich verstorbene Peter Rühmkorf 1929 hier geboren wurde. Doch der große Lyriker wurde Hamburger aus Passion. Immerhin: Der Dadaist Richard Huelsenbeck (1892-1974) hat in Dortmund seine Jugend verbracht und liegt hier begraben. Nicht zu vergessen Max von der Grün („Irrlicht und Feuer”), Inbegriff engagierter Arbeiterdichtung in der Nachkriegszeit.

In Gevelsberg haben keine großen Autoren gelebt, aber hier wurde anno 1225 Engelbert I. (Kölner Erzbischof) durch den Grafen Friedrich von Isenburg ermordet. Dieser ungeheuerliche Vorfall war ein nachwirkendes literarisches Motiv – für den mittelhochdeutschen Dichter Walther von der Vogelweide wie für die Vorzeige-Westfälin Annette von Droste-Hülshoff.

Größter literarischer Sohn von Hagen war der Lyriker Ernst Meister (geboren 1911 in Haspe, gestorben 1979 in Hagen), eine prägende Gestalt deutscher Dichtung.

Das doch recht kleine Hilchenbach wächst auf der literarischen Landkarte zur veritablen Größe heran – wegen Johann Heinrich Jung-Stilling (1740-1817). Goethe war es, der (nach einem Treffen in Elberfeld) ein Manuskript von Jung-Stilling unter dem Titel „Heinrich Stillings Jugend” herausbrachte. Der Hilchenbacher beschreibt darin das einfache, schlichte Leben Siegerländer Bauern, Eisenschmelzer und Schmiede.

Auf Schloss Cappenberg, wo der preußische Reformer Freiherr vom Stein lebte, fand sich häufig der romantisch-patriotische Dichter Ernst Moritz Arndt ein. Zudem spielt eine Ballade von Annette von Droste-Hülshoff („Die Stiftung Cappenbergs”) dort.

Unna steht in den literarischen Annalen wegen Philipp Nicolai (1556-1608), der hier ein paar Jahre Stadtpfarrer war und berühmte Kirchenlieder wie „Wachet auf, ruft uns die Stimme” schuf. Vor allem aber verdankt Unna Heinrich Heine einigen Ruhm. In „Deutschland. Ein Wintermärchen” (1841) fügte Heine die unsterblichen Zeilen: „Dicht hinter Hagen ward es Nacht . . . / Ich konnte mich erst / Zu Unna im Wirtshaus erwärmen . . .”

Einem Studiengenossen aus Westfalen schrieb Heine Verse ins Stammbuch, die auf ein literarisches Defizit der Region hindeuten könnten:

„Mein Fritz lebt im Vaterland der Schinken, / Im Zauberland, wo Schweinebohnen blühen, / Im dunklen Ofen Pumpernickel glühen, / Wo Dichtergeist erlahmt und Verse hinken . . .”

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INFO:

  • http://www.literaturportal-westfalen.de/
  • Der Netz-Auftritt steht unter Regie des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) und wurde maßgeblich von der Stiftung Westfalen-Initiative finanziert.
  • Angeblich gibt es für keine andere deutsche Region eine ähnliche Netz-Präsenz.
  • Man kann auf einer Zeitleiste suchen, aber auch nach Autoren- oder Orts-Alphabet („Schauplätze”).
  • Außerdem lässt sich nach Verlagen, Archiven usw. fahnden.
  • Anmerkung: Münsterland, Bielefeld/Ostwestfalen und Lippe-Detmold fallen in diesem Beitrag unter den Tisch. Einfach mal so.



„Mao und die 100 Blumen“: Der Diktator mit dem ewigen Lächeln – Chinese Ren Rong zeigt seine Bilder in Hamm

Hamm. Sieht aus wie ein Palmzweig des Friedens, was da aus dem Mund des chinesischen Diktators Mao ragt.Dazu lächelt der Despot milde und zukunftsgewiss.

Um das Mindeste zu sagen: Solche Bilder des deutsch-chinesischen Künstlers Ren Rong können sehr mulmige Gefühle hervorrufen. Mao hatte schließlich einige Millionen Menschenleben auf dem Gewissen. Und nun diese aufgewärmte Propaganda?

„Mao und die 100 Blumen“ heißt die Ausstellung im Hammer Gustav-Lübcke-Museum. Der Titel folgt einer Kampagne des „Großen Vorsitzenden“ aus dem Jahr 1956, welche die vielfach blutige Kulturrevolution im Reich der Mitte ausgelöst hat.

Der 1960 geborene Ren Rong scheint dem Mythos Mao recht naiv aufzusitzen. Die Bildnisse des Machthabers erinnern von fern her an Andy Warhols herzlich unpolitische Prominenten-Porträts, aber natürlich auch an kommunistische Propaganda-Plakate, die in den späten 1960er Jahren bei nicht wenigen westlichen Studenten „Kult“ waren.

Und was fügt der Künstler hinzu? Er hinterlegt die Bilder beispielsweise mit traditionellen chinesischen Mustern. Er collagiert sie mit Familienfotos. Er verziert sie mit floralen Ornamenten oder mit seinem „Markenzeichen“: den so genannten „Pflanzenmenschen“, die sich auch als Metallskulpturen im Museum wiederfinden. Die über einige Bilder gezogene Wachsschicht verstärkt den Eindruck: Gar manches wirkt geglättet, hübsch, dekorativ. Kein Wunder, dass der Kunstmarkt darauf anspricht, erst recht im Vorfeld der Olympischen Spiele und weil China derzeit ohnedies „angesagt“ ist.

Mao zeigt bei Ren Rong in allen Situationen und Lebensphasen ein fröhliches Gesicht; ganz egal, ob herrscherlich allein oder zwischen gleichfalls frohen Kindern. Mit den pflanzlichen Beigaben versehen, erscheint sein Tun und Trachten einerseits auf fatale Weise als naturwüchsig. Doch man könnte in dem Verfahren auch eine klitzekleine, unbekümmerte Respektlosigkeit erblicken. Wirkt Mao da nicht hin und wieder ein wenig lächerlich? Zumal die Formen als Vertiefungen eingeritzt sind und somit Maos Oberfläche „beschädigen“. Aber das Letztere muss man sich schon etwas mühsam zurechtdeuten.

Nach seinen Ansichten zu Mao (und Adolf Hitler) sollte man Ren Rong lieber nicht befragen. Er gibt da reichlich krauses Zeug von sich – bei aller wohlmeinenden Würdigung der kulturellen Unterschiede. Es bewahrheitet sich hier abermals Goethe: Spruch: „Bilde Künstler, rede nicht.“

Seltsam genug, wenn Ren Rong seine Arbeitsweise auf deutsche Motive anwendet. Da sieht man beispielsweise den Bundestag und das Brandenburger Tor, in ähnliche Formen eingebettet wie zuvor Mao. Oder eine geisterhafte Flotte von Lufthansa-Flugzeugen – und im Vordergrund just Umrisse von weißen „Pflanzenmenschen“, gleichsam im Fluge erhascht. Vieldeutig ihre Gestik mit erhobenen Armen: Doch auch hier hat wohl hohle „Fortschritts“-Propaganda Pate gestanden. Sie wird hier ins halbwegs Witzige gewendet. Ideologie war gestern…

Ren Rong: „Mao und die 100 Blumen“. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstr. 9. Bis 17. August. Di bis Sa 11 -18, So 10-18 Uhr. Katalog 19,90 Euro

(Der Beitrag stand am 19. Juli 2008 in der „Westfälischen Rundschau“)




Richard Hamilton: Bilder jenseits von Ort und Zeit

Bielefeld. Richard Hamilton (86), einer der Urväter der Pop-Art, ist ein mitteilsamer älterer Herr. Zu jedem seiner Bilder fallen ihm allerhand liebevolle Details ein: Beispielsweise, wie seine Frau sich als Modell benommen hat (nämlich nicht immer fügsam).

Manchmal sind solche Anekdoten erhellend, oft aber auch nicht. Der Mann verrätselt seine Werke eben gern. Und dazu lächelt er weise.

Berühmt wurde der Brite 1956 mit einer Collage vom „trauten Heim“. Rund um ein ach so modernes Paar versammelte er in scheinbar wirrer, doch wohlberechneter Vielfalt vorgefundene Abbildungen von Konsumgegenständen. Schöne neue Wirtschaftswunderwelt. Irgendwo im Bild tauchte das Wort „Pop“ auf, das später einer ganzen Kunstrichtung den Namen gab. Wollte man ein wenig übertreiben, so könnte man sagen: Ohne Hamilton kein Andy Warhol und kein Roy Lichtenstein.

Vexierbilder aus Fotografie, Malerei und Computer-Schöpfung

Die Bielefelder Kunsthalle kommt nun auf den großen Anreger Hamilton zurück und nennt die Schau „Virtuelle Räume“. Die Werke der letzten 15 Jahre sind vielfach Vexierbilder, gemixt aus Fotografie, Malerei und Computer-Schöpfung.

Etwas ratlos steht Hamilton vor seinen Bildern: Selbst der Künstler vermag nicht mehr genau zu sagen, wo etwa eine fotografierte Fläche aufhört und wo die gemalte anfängt. Die Tarnung der Nahtstellen (unter anderem mit Spezialpulver) ist ihm also perfekt gelungen. Er hat nicht nur uns alle, sondern gleichsam auch sich selbst überlistet.

Hamilton trägt immer wieder neue Bedeutungs-Ebenen in ein Bildmotiv. Mit jeder Zutat oder Wegnahme wird die Darstellung anders „aufgeladen“. Eins von vielen Beispielen: Erst ist da nur ein Stuhl mit Tisch, dann kommt auf dem nächsten Bild der Reihe eine penibel konstruierte Raumgeometrie hinzu, schließlich sitzt eine nackte Frau auf dem Stuhl und telefoniert. Und weiter: Mal wird ihr Gesicht „herangezoomt“, dann sieht man sie in der Totale, immer aber schimmert ihre Haut wie Seide. Der Titel „Die Verkündigung“ weckt biblische Vorstellungen, setzt also einen Kontrast zur Banalität des Telefonats.

Erkenntnis durch fortwährende Verfremdung

Immer wieder neue Ansichten, andere Kombinationen. Vielschichtige Serien, fürwahr. Weitere Werke sind ähnlich gefügt, sie bergen stets überraschende „Sehfallen“ . Es ist bei Hamilton keine „Masche“, sondern ein Zugang zur Welt, der auf Erkenntnis durch fortwährende Verfremdung aus ist.

Hamilton, der im Zweiten Weltkrieg zeitweise als technischer Zeichner gearbeitet hat, war seither stets begierig auf neueste Ausrüstungen. Als einer der ersten Künstler überhaupt hat er mit anfangs noch schlappen Computern gearbeitet. Und bis heute hadert er damit, dass die Drucktechniken immer noch nicht vollkommen sind.

Wundersam, dass derart avancierte Verfahren zuweilen in Bilder münden, die Geist der Renaissance zu atmen scheinen. So hat Richard Hamilton Fotografien der Torbögen aus dem florentinischen Kloster San Marco innig verwoben mit zeichenhaften Kreuzweg-Kürzeln von Henri Matisse – und wiederum mit nackten Frauen, die ätherisch schön aus den Klostertüren schreiten. Drei Welten werden da zu einer Sphäre verschmolzen – jenseits von Ort und Zeit, daher fast schon überirdisch.

Richard Hamilton. Kunsthalle Bielefeld, Artur-Ladebeck-Str. – Bis 10. August. Di, Do, Fr, Sa, So 11-18, Mi 11-21 Uhr. Eintritt 7 Euro. Zwei kleine Kataloge zusammen 28 Euro.

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ZUR PERSON

Dies ist die Zukunft

  • Richard Hamilton wurde am 24. Februar 1922 in London geboren.
  • 1936 Job in der Werbeabteilung einer Elektrofirma
  • 1941-1945 Arbeit als technischer Zeichner
  • 1948-1951 Kunststudium
  • 1952 Lehrauftrag für Silberschmieden, Typographie und Industriedesign
  • 1956 Schau „This is Tomorrow“ (etwa: Dies ist die Zukunft) mit dem Bild, das später der Pop-Art den Namen gab.
  • 1979 und 1992 umfassende Werkschauen in der Londoner Täte Gallery.
  • 1997 Arnold-Bode-Preis der documenta
  • 2007 Max-Beckmann-Preis.

(Der Beitrag stand am 14. Juli 2008 in der „Westfälischen Rundschau“)




Briefwechsel Bachmann/Celan: Dunkle Leidensgründe

Ich habe eine bedrückende Lektüre hinter mir, die dennoch (oder: gerade deswegen) einen eigenartigen Sog ausübt und mich weiter beschäftigen wird. Der demnächst neu erscheinende Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan ist nichts anderes als qualvoll – und doch nachdrücklich empfehlenswert.

Wie die beiden doch so Sprachmächtigen einander mit ausgesuchtesten, abgewogensten Worten umschlichen haben! Sie konnten (wenigstens brieflich) offenbar nie rundheraus sagen, worum es ihnen wirklich ging. Noch prekärer wurde die Situation dadurch, dass Celan in Paris Frau und Kind hatte. Und ab 1958 lebte Ingeborg Bachmann mit Max Frisch in allzeit problematischer Beziehung. Lauter Störgeräusche.

Zwischen den beiden Briefschreibern türmte sich Rücksichtnahme auf tausenderlei Empfindlichkeiten auf. Das heißt: Vor allem die Bachmann fühlte sich hier in der Bringschuld – vielleicht damals (die Briefe stammen wesentlich aus den Jahren 1948 bis 1961) eine typische Frauenhaltung.

Doch Celan war, aus dunkelsten Leidensgründen, wohl einer, dem auf Erden nicht mehr zu helfen war; auch nicht durch die allergrößte Einfühlung, die man Ingeborg Bachmann wohl attestieren darf. Diese vergebliche Liebesmühe hält man auch als Leser nur dosiert aus.

Vielleicht hätte das eine ganz große Liebe werden können. Doch die höchst unterschiedliche Herkunft, die abgründig verschiedenen Erfahrungen haben es verhindert. Sie war die Tochter eines österreichischen NSDAP-Mitglieds, er ein lange Zeit staatenloser Jude deutscher Sprache aus Czernowitz. Es war und blieb eine Liebe im Schatten von Auschwitz.

Veritable Besprechungen des Buches sollen bis zum 18. August zurückgehalten werden. So bittet der Suhrkamp-Verlag, der den Briefwechsel dann unter dem Titel „Herzzeit“ herausbringt. Deshalb lasse ich’s hiermit gut sein. Aber es liegt mir am Herzen und auf der Seele.

Links zu Leben und Werk der beiden Autoren:

http://www.ingeborg-bachmann-forum.de/
http://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Celan




Attacke auf Hitler-Wachfigur

Kommentar:

Reichlich wirr

Von Bernd Berke

Ganz gleich, ob es nun eine Wette war oder ob wirklich politische Motive mitgespielt haben: Der 41-jährige Mann, der am Samstag der Berliner Wachsfigur von Adolf Hitler den Kopf abgerissen hat, muss ein reichlich wirrer Zeitgenosse sein. Gewiss verbirgt sich auch eine persönliche Misere dahinter.

Niemand kann ernsthaft glauben, dass eine Aktion dieser Sorte irgend etwas am schrecklichen Lauf der Geschichte ändert. Ja, selbst als noch so gut gemeintes antifaschistisches Signal für die Gegenwart taugt diese Handlung nicht. Dazu ist der Vorgang einfach zu lächerlich. Ein Spektakel, das der Berliner Tussauds-Filiale zu allem Überfluss auch noch unfreiwillige Werbung beschert.

Es knüpft sich jedoch eine weitere Frage an den Zwischenfall: Warum muss man überhaupt eine Wachsfigur Hitlers für exorbitante 200 000 Euro anfertigen lassen und sie derart zur Schau stellen? Der bloße Anblick sagt nichts, aber auch gar nichts über die Verbrechen Hitlers aus. Er verniedlicht die Gestalt des NS-Diktators zum Erlebnismoment für Touristen.

Zwar ist es offiziell verboten, sich im Wachsfigurenkabinett neben der Figur fotografieren zu lassen. Doch wer will dies eigentlich verhindern, wenn schon der rabiate Zugriff am Samstag nicht unterbunden werden konnte? Am besten wäre es daher wohl, wenn das beschädigte Stück nicht repariert und nicht mehr gezeigt würde, wenn also künftig eine (vielsagende) Leerstelle bliebe.

Bemerkenswert, dass es auch in Hamburg und London „Hitler in Wachs“ gibt. In der Hansestadt ist seit 48 Jahren nie etwas passiert, die Figur in London wurde hingegen schon mehrfach beschädigt. In Berlin und London wiegt die wahrhaft zwiespältige Symbolwirkung einer solchen Darstellung schwerer als andernorts. Somit ist das Ganze denn doch ein schauriges Lehrstück über die anhaltende, manchmal geradezu unheimliche Kraft des Symbolischen.




Superheld baut Mist

Kaum zu fassen. Da hat dieser schwarze Superman Hancock gerade mal wieder in höchster Not eingegriffen und etliche Menschenleben gerettet. Und trotzdem sind ihm die Bürger von Los Angeles gram.

Seine übermenschlichen Aktionen (er kann natürlich fliegen und ist unverwundbar) verursachen nämlich jedes Mal millionenschweren Schaden an Bauwerken und Fahrzeugen. Der chaotische „Hancock” kann einfach nicht mehr an sich halten, wenn er einmal in Schwung gekommen ist. Dann baut er Mist.

Will Smith verkörpert diesen versoffenen (Anti)-Helden, der vorzugsweise derbe Kraftworte im Munde führt. Die TV-Stationen sagen ihm nur Schlechtes nach und rufen ihn zum Rückzug für immer auf. Wird Zeit, dass er sich ein neues Image zulegt.

Da fügt es sich, dass der gescheiterte PR-Berater Ray Embrey (Jason Bateman) seinen Weg kreuzt. Der hat zwar beruflich Pech, kennt aber doch ein paar Schliche, nach denen man öffentlich besser da-steht. Rays kleiner Sohn ist derweil stolz, dass sein Papa so einen coolen Kraftprotz betreut, der zum Dank die feindliche (französische!) Zicke aus der Schulklasse in die Flucht schlägt. Leichteste Übung.

Aus dem Widerspiel der verkrachten Existenzen Hancock und Ray schlägt Peter Bergs Film ein paar Funken. Ein Superman, der jederzeit ausbrechen könnte, gibt zwischen frustrierten Finsterlingen im Knast nun mal eine komische Figur ab. Und selbst ein solcher Heros, so lernen wir, muss heutzutage in den Staaten politisch korrekte Ansagen machen, bevor er etwa eine Frau aus Feuersbrünsten und Schusslinien trägt: „Dies ist keine sexuelle Belästigung. Womit ich nicht sagen will, dass Sie unattraktiv wären . . .” Sicher ist sicher.

Die mitunter rasante Action bleibt jedenfalls streckenweise Nebensache, es gibt sogar Ansätze zu einer Charakterzeichnung. Doch hinterher türmen sich Klischees und es trieft Pathos. Ein kriminelles Superhirn (Einarmiger mit Hakenhand, versteht sich) wird zum ultrabösen Widersacher. Vor allem aber muss es partout noch eine Pseudo-Liebesgeschichte zwischen Hancock und der blonden Gattin des PR-Mannes (Charlize Theron) geben, die unerträglich spinnertes Gefasel nach sich zieht.

Wie diese Story nun gewaltsam ins lachhaft „Phantastische” hochgerissen wird, das will ich hier nicht verraten. Sonst wäre auch das letzte bisschen Spannung futsch.




Kafkas Ängste sind noch wach

Klingt nach unerbittlichem Anspruch: „Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer ins uns.” Den Satz hat Franz Kafka geschrieben. War der Schriftsteller, der am 3. Juli vor 125 Jahren in Prag geboren wurde, nur schwierig und lebensfern? Aber warum wird er bis heute weltweit gelesen und zitiert? Warum wirkt er so zeitlos wie sonst wohl keiner aus seiner Epoche?

Probleme und Personal eines Thomas Mann scheinen uns vergleichsweise weit entrückt, sie betreffen in erster Linie das Bürgertum von damals. Kafka (1883-1924) hingegen hat, wie niemand zuvor und niemand seither, die anonymen, ungreifbaren Mächte im modernen Leben beschrieben. Wahrlich: Die Lektüre seiner Romane „Das Schloß” und „Der Prozeß” oder einer Erzählung wie „Die Verwandlung” (deren Hauptfigur Gregor Samsa sich in einen Käfer verwandelt) kann Alpträume nach sich ziehen. Die Ängste vor einer „kafkaesken” Welt haben sich keineswegs erledigt.

Die Rätsel wurzeln
in der Wirklichkeit

Man zieht sein Werk nicht ins Profane hinab, wenn man feststellt: Manches in Politik und Wirtschaft trägt jene surrealen Merkmale, die Kafka beschworen hat: allfällige Tendenzen zur Überwachung, das Mysterium gewisser Weltmarktpreise, das Gefühl des Ausgeliefertseins an namenlose Mechanismen. Von den Zuständen in Diktaturen jeder Sorte ganz zu schweigen. Kafka hat solche globalen Grundmuster gültig gezeichnet. Aber es ist in jeder Faser pure Literatur, niemals politische Stellungnahme.

Seine Texte sind bewusst rätselhaft und mehrdeutig gehalten, doch sie wurzeln in wirklichen Verhältnissen. Überaus klar ist zudem Kafkas Sprache. Von allem Zierat befreit, ruft sie in raffinierter Einfachheit den ewigen Schrecken des Menschen auf, hilf- und schutzlos zu bleiben, die ungeheuerliche Welt nicht mehr zu begreifen. „Einer muß wachen. Einer muß da sein”, heißt noch so ein markantes Zitat des Mannes, der in einsamen Nächten so besessen geschrieben hat, als hätte er geahnt, dass er mit 40 Jahren an den Folgen einer Tuberkulose sterben würde.

Der Alltag war Kafka nicht fremd. Täglich von 8 bis 14 Uhr arbeitete der Jurist bei einer halbstaatlichen Unfallversicherung und setzte sich für gesundere Arbeitsbedingungen in den Fabriken ein.

Das Leiden unter
dem Brotberuf

Unter dem Brotberuf, der ihn am Schreiben hinderte, hat er freilich arg gelitten: „Vielleicht werde ich von den Fingerspitzen aufwärts allmählich zu Holz”, schrieb er verzweifelt. Erst die „letzte Arbeitsminute” sei das „Sprungbrett der Lustigkeit”. Denkbar, dass der eine oder andere Bürojobber diesen Ausspruch nachvollziehen kann. Auch einen lakonischen Lieblingsspruch aller Cineasten hat Kafka formuliert: „Im Kino gewesen. Geweint.” Mehr muss man häufig nicht sagen.

Keiner kann wissen, „wie es sich angefühlt hat, Kafka zu sein”. Das hat sein Biograph Reiner Stach, der sich seit vielen, vielen Jahren eingehend mit dem Autor befasst, jüngst wieder betont. Man mag noch so viele Details über Kafkas notorische Entschlussschwäche, sein asketisches, kränkelndes Dasein, sein prekäres Verhältnis zum Vater oder seinen offenbar neurotischen Umgang mit Frauen zutage fördern: All das besagt recht wenig für die Deutung des Werks. Auch hilft es nichts zu erfahren, dass dieser Kafka zuweilen auch herzlich albern sein konnte. Ja, und?

Geradezu bizarr mutet an, das in einem neuen Buch rund 30 Seiten der läppischen Frage gewidmet werden, wie Kafkas Weg ins Büro ausgesehen hat. Wohlgemerkt: Hin- und Rückweg werden dabei gesondert abgehandelt. Sonderbare Auswüchse.

Ungeklärt ist auch Kafkas Blick auf die Nachwelt. Seinem Freund Max Brod hatte er aufgetragen, all seine Manuskripte zu vernichten. Brod hat sich gottlob nicht daran gehalten. Genau das habe Kafka geahnt, heißt es.

INFOS:

Franz Kafkas Werke liegen im S. Fischer Verlag vor.

Biographien:

Reiner Stach: „Kafka. Die Jahre der Erkenntnis” (S. Fischer Verlag, 729 S., 29,90 €). Der erste Band „Die Jahre der Entscheidungen” erschien 2002.

Louis Begley: „Die ungeheure Welt, die ich im Kopf habe” (DVA, 335 S., 19,95 €).

Klaus Wagenbach: „Franz Kafka.” (Wagenbach Verlag, 256 S., 39 €).

Hartmut Binder: „Kafkas Welt” (Rowohlt Verlag, 688 S., 68 €).




Die Kultur umarmt den Fußball – Über die Deutsche Akademie für Fußball-Kultur

Vor dem EM-Endspiel noch mal kurz innehalten – und über Fußball und Kultur nachdenken. Manche bezweifeln ja immer noch, dass es solche Querbezüge gibt. Sie haben vielleicht noch nie von Lebens- und Alltagskultur gehört. Bei der Deutschen Akademie für Fußball-Kultur in Nürnberg weiß man es besser. Nachgefragt bei Günter Joschko, Projektleiter der renommierten Einrichtung.

Wie ist das beispielsweise mit der oft beschworenen Spielkultur? Hat die EM neue Erkenntnisse gebracht? Joschko: „Auch hier erleben wir Globalisierung. Stilistisch gibt es weltweit eine Tendenz zur Angleichung.” Die Champions League, so Joschko, gebe mit rasantem Vereinsfußball vor allem der englischen und spanischen Spitzenclubs die Richtung vor. Dann versuche man es überall nachzumachen. Fast schon beängstigender Trend: immer schneller, immer kombinationssicherer. Ob das stets mit Kultivierung einhergeht?

Die Zeit der neuen
Fan- und Spielertypen

Zur Akademie für Fußball-Kultur gehören im losen Verbund Menschen zahlreicher Fachrichtungen. Soziologen sind vorwiegend am gesellschaftlichen Umfeld interessiert. Germanisten untersuchen sprachliche Weiterungen des Fußballs zwischen Fan- und Reporterdeutsch – bis hin zur hohen Literatur. Musikexperten analysieren Fangesänge. Philosophen wenden ewige Grundsatzfragen aufs Kicken an. Selbst Theologen sind dabei. Eigentlich kein Wunder, ist doch der Fußball eine Quasi-Religion unserer Tage und damit sozusagen eine Glaubensfrage.

Günter Joschko hat vor allem bei der letzten WM 2006 und der jetzigen EM beobachtet, wie sich die Spaßgesellschaft formiert: „Die Zahl der erlebnishungrigen Partygänger unter den Zuschauern ist enorm gewachsen. Das sind Leute, die kaum an taktischen Finessen interessiert sind, sondern am puren Event.” Der harte Kern der Kenner hingegen bleibe auf längere Sicht ungefähr gleich groß.

Der Stadionbau habe sich dieser Entwicklung angepasst. Joschko: „Die großen Arenen bieten heute Durchschnitts-Komfort und Rundum-Versorgung für alle – selbstverständlich auch für Frauen.” Der Fußball ist also längst in der ganz breiten Mitte der Gesellschaft angekommen und dabei – so unken Kritiker – auch etwas domestiziert worden.

Das deutsche Nationalteam, so meint Joschko, vereine heute ein breiteres Spektrum von Spielertypen als je zuvor. Die Mannschaft werde mehr und mehr zum repräsentativen Abbild der Gesellschaft. Umkehrschluss: Jeder kann sich seine passende Identifikations-Figur heraussuchen, jede Klientel wird fündig.

Lustige Vögel und Verantwortungsträger

Da gebe es sympathisch unbekümmerte, „lustige Vögel” wie „Poldi” und „Schweini”; aber auch ernsthaftere, „ausgesprochen gescheite Leute” (Joschko) wie Lahm, Mertesacker oder Metzelder, die über den Rand des Sports hinausblicken und gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Damit liegen sie laut Joschko auf der Linie des DFB-Präsidenten Theo Zwanziger, der den Verband in dieser Hinsicht entstaubt habe.

Lang genug hat’s ja in Deutschland gedauert. In Spanien etwa war Fußball schon immer auch für Feingeister ein Thema. Hierzulande sind erst in den letzten 15 Jahren etliche Literaten, Künstler und Wissenschaftler auf den Zug aufgesprungen. Joschko: „Vorher war in diesen Kreisen das Reden über Fußball verpönt. Heute ist das völlig anders. Da sind Dämme gebrochen.” Kulturschaffende umarmen den Fußball nun so innig, dass ein gewisser Sättigungsgrad erreicht zu sein scheint. Man munkelt neuerdings von Trotzreaktionen: „Es gibt offenbar erste Rückzugstendenzen”, so Joschko.

Und das konkrete EM-Geschehen? Bekanntlich ist ja „entscheidend auf’m Platz”: Das Turnier sei für fast alle Mannschaften ein Auf und Ab gewesen, sagt Günter Joschko. Heute toll gespielt, beim nächsten Mal grottig – oder umgekehrt. Joschko: „Nur die Spanier haben ihr hohes Niveau gehalten.”

Beim Tippspiel der Akademie-Mitglieder waltete übrigens Skepsis. Gerade mal 18 von 75 Teilnehmern wetteten auf einen deutschen Titelgewinn. Nein, diese Kulturmenschen aber auch! Fehlt’s da etwa immer noch an der landläufigen Euphorie?

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INFO ZUR AKADEMIE

  • Die in Nürnberg ansässige Deutsche Akademie für Fußball-Kultur wurde 2004 gegründet.
  • Dahinter stehen als Mitglieder Institutionen wie das Goethe-Institut, das Grimme-Institut und der Volkshochschulverband.
  • Persönliche Mitglieder sind z. B. Django Asül (Comedian), Eckhard Henscheid, Albert Ostermaier (Autoren), Guido Knopp (Historiker), Renate Künast (Politikerin), Horst-Eberhard Richter (Psychologe) und Klaus Theweleit (Philosoph) sowie zahlreiche Journalisten und Professoren aller Fachrichtungen.
  • Die Akademie verleiht einen Fußball-Kulturpreis für die besten Fußballbücher, Fußballsprüche, das beste Spiel – und für einschlägige Bildungsprojekte.



Die Deutschen bleiben auf Sinnsuche – Über Richard David Prechts vergnügliche Philosophie-Geschichte „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“

Von Bernd Berke

Da stellt einer gleich reihenweise die ganz großen Fragen: Gibt es Gott? Was ist Liebe? Hat das Leben einen Sinn? – Spontan möchte man ausrufen: Hat er’s nicht ein paar Nummern kleiner? Doch der Mann ist beileibe kein Spinner, er hat durchaus Bodenhaftung.

Nicht von ungefähr hat Richard David Precht mit seiner lebendig und vergnüglich geschriebenen Philosophie-Geschichte „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“ den „ewigen“ Spitzenreiter bei den Sachbuch-Bestsellern überholt: Hape Kerkelings achtbaren Pilgerbericht „Ich bin dann mal weg“.

Prechts Buch hat sich langsam, dann aber gewaltig nach oben gearbeitet. Bereits im September 2007 erschienen, erhielt es einen ersten Schub durch Elke Heidenreichs Empfehlung in „Lesen!“ (ZDF). Seither muss jede Menge Mundpropaganda hinzu gekommen sein.

Vielleicht kann man aus der Hitlisten-Abfolge gar auf die Gemütslage vieler Deutscher schließen. Denn auch mit der neuen Nummer eins begeben sie sich wieder auf Sinnsuche. Nur mögen sie’s dabei abermals nicht so gern mögen sie’s dabei abermals nicht so gern pathetisch oder tiefgründelnd. Warum auch, wenn es doch diese fröhliche Wissenschaft gibt, die Bildungsgut wie im Fluge verabreicht.

Die sonst üblichen Philosophiegeschichten kommen oft professoral und gravitätisch daher. Epoche für Epoche da abgehandelt, all die großen Geister ziehen im Widerstreit ihrer Thesen vorüber. Trocken genug.

Mit wachem Sinn für die Gegenwart

Precht hingegen durchpflügt die Geistesgeschichte mit wachem Sinn für unsere Gegenwart. Er überprüft die Gedanken der Philosophen stets auf Lebenstauglichkeit. An ihren Alltagsfrüchten soll man sie erkennen.

Der Autor überschreitet zudem leichtfüßig die Grenzen zur Naturwissenschaft und bezieht beispielsweise Charles Darwins Evolutionslehre, Sigmund Freuds Psychoanalyse, physikalische Fakten und vor allem neueste Ergebnisse der Hirnforschung in seine Überlegungen ein.

Drei Hauptkapitel geben die Reiseroute vor, ganz im Sinne des altvorderen Denkers Immanuel Kant heißen sie: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Es geht also um die Grundlagen der Erkenntnis, um Moral und Ethik – und um die Metaphysik, die auf ein Jenseits verweist. Alles drin, alles dran. Die Sache ist fundiert, schließlich ist Precht selbst studierter Philosoph.

Die Hauptlinien seiner Untersuchung verzweigen sich in wahrhaft spannende Fragen, die jeden angehen. Darf man in bestimmten Fällen (etwa in der Sterbehilfe) töten? Darf man abtreiben? Darf man Tiere essen? Darf man Menschen klonen?

Dazu werden jeweils die wichtigen Philosophen „einvernommen“. Sie erscheinen als Menschen aus Fleisch und Blut, die halt nur den Kopf etwas mehr angestrengt haben als andere. So kommt Jean-Jacques Rousseau zum Zuge, wenn es um die Frage geht, ob der Mensch „von Natur aus“ eher gut oder schlecht sei. Das Denken an sich ist Fachgebiet von René Descartes, zum Thema Sprache gibt Ludwig Wittgenstein Auskunft, und Arthur Schopenhauer ist die „erste Adresse“, wenn der menschliche Wille zur Debatte steht.

Für anderes gelagerte Fragen sind zum Beispiel Kant, Nietzsche oder Sartre zuständig. Etliche andere stimmen nach und nach mit ein in den Chor oder werden von Precht sogar zu munteren Dialogen angestiftet. Hie und da wird zugespitzt, doch es werden keine Abstriche gemacht.

So gut jedenfalls glaubt man die klugen Herrschaften noch nie verstanden zu haben. Es ist ein Philosophiebuch, wie man es sich schon lange gewünscht hat. Nah an den Denkern, vor allem aber: nah auch an uns allen.

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ZUR PERSON

Doktorarbeit über Robert Musil

  • Richard David Precht wurde am 8. Dezember 1964 in Solingen geboren.
  • Er studierte Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte in Köln, schrieb seine Doktorarbeit über den Schriftsteller Robert Musil („Der Mann ohne Eigenschaften“).
  • Precht ist verheiratet mit der TV-Journalistin Caroline Mart. Sie leben in Köln und Luxemburg.
  • Prechts autobiographisch inspirierter Roman „Lenin kam nur bis Lüdenscheid“(Kindheit mit „68er“-Eltern) wurde verfilmt und startete kürzlich im Kino.
  • Sein Bestseller: „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?‘ Goldmann-Verlag, 400 Seiten, 14,95 €.
  • Bedenkenswerter Rat am Schluss dieses Buches: „Und wenn sie mich fragen: (…) füllen Sie Ihre Tage mit Leben und nicht ihr Leben mit Tagen.“



Rechtschreibreform: Blick zurück im Zorn

Hohenlimburg. Die Rechtschreibreform? Ist doch wohl eine weitgehend erledigte Sache. Man ereifert sich nicht mehr so sehr. Doch es herrscht keineswegs Zufriedenheit. Den in Hohenlimburg lebenden Professor Hermann Zabel lässt das Thema erst recht nicht los. Er hat sich über Jahrzehnte eingehend damit befasst. Die Reform ist ein Teil seines Lebenswerks.

Ab 1980 gehörte Zabel (Jahrgang 1935) der hochoffiziellen Kommission für Rechtschreibfragen an, die das umstrittene Reformpaket schnürte. Auch saß er im Internationalen Arbeitskreis für Orthographie. Seit fast einem Jahr gelten die Beschlüsse, verbindlich zumal in Schulen und Behörden. Ist also alles schön und gut? Lehnen sich wenigstens die Verfechter der Reform beruhigt zurück?

Gelehrtenstreit
ging oft unter
die Gürtellinie

Weit gefehlt. Es ist eher ein Blick zurück im Zorn: „Ich bin beim besten Willen nicht zufrieden”, sagt der bis zum Jahr 2000 an der Dortmunder Uni (heute TH) tätige Germanist Zabel. Weite Teile dessen, was man sich anfangs vorgenommen habe, seien entweder überhaupt nicht umgesetzt oder arg verwässert worden. Über den Daumen gepeilt: „Mit 33 Prozent unserer Vorschläge sind wir gescheitert.”

Ursprünglich, so erinnert sich der Professor, hatte man die gemäßigte Kleinschreibung angestrebt. Demnach hätte man nur noch Satzanfänge und Eigennamen mit Großbuchstaben schreiben müssen. „Die deutsche Orthographie ist weltweit die einzige, in der es Großschreibung gibt”, beklagt Zabel. Andere finden, dass gerade dies eine einzigartige Stärke des Deutschen sei. Lassen wir das.

Auch die Worttrennung am Zeilenende, sagt Zabel, sollte zunächst ungleich großzügiger gehandhabt werden, als dies nun der Fall sei. Und die Schreibung vieler Fremdwörter wäre laut Zabel vereinfacht worden – wenn es nur nach ihm und seinen Mitstreitern gegangen wäre.

Apropos Streit. Davon kann Hermann Zabel ein Lied singen: „Das ist ein ganz trübes Kapitel.” Die Auseinandersetzung um die Rechtschreibreform sei häufig unter die Gürtellinie gegangen. Manche Fachkollegen hätten üble Intrigen gesponnen, es sei zu schlimmen Feindseligkeiten und Beleidigungen gekommen. Verbales Hauen und Stechen im gelehrten Milieu? Ja, das gibt es offenkundig. „Das alles geht nicht spurlos an einem vorüber”, seufzt Zabel.

Er macht geltend, dass Konrad Duden höchstselbst zuerst Spezialisten wie Drucker und Setzer bediente, um das Jahr 1901 herum aber eigentlich schon wesentlich simplere Rechtschreibregeln im Sinn gehabt habe. „Er konnte sie nur nicht mehr verwirklichen.” Maßstab müssten jedenfalls auch heute die Menschen sein, die wenig schreiben. Ihnen müsse das Regelwerk einleuchten – und nicht etwa Schriftstellern. Letztere hätten alle Freiheiten, die alten Regeln für sich beizubehalten. Dies nehmen vor allem etablierte Autoren (wie etwa der leidenschaftliche Reformgegner Martin Walser) auch weidlich in Anspruch.

Seit die neuen Vorschriften in den Jahren 2004 und 2006 (ohne Zabels Zutun) stellenweise abermals verändert worden sind, herrscht auf manchen Feldern noch größere Verwirrung. So mancher hält sich nur noch an ganz persönlichen „Regeln”. Zabel kann sich nicht vorstellen, dass am jetzigen Stand so bald noch einmal gerüttelt wird. „Damit müssen wir für die nächsten Jahrzehnte leben.”

Ist der Professor denn selbst hundertprozentig firm auf diesem Gebiet? Zabels ehrliche Antwort: „Natürlich nicht. Auch ich muss öfter im Wörterbuch nachschlagen.”

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HINTERGRUND

Langwieriges Hin und Her

  • Die Rechtschreibreform gilt bundesweit und in den deutschsprachigen Nachbarländern seit dem 1. August 2006. Die einjährige Übergangsfrist endete am 1. August 2007.
  • Ein Gremium von rund 80 Germanisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz hatte die Reform seit 1980 vorbereitet. Zu diesem Kreis gehörte Prof. Hermann Zabel.
  • Der langjährige, immer wieder aufflammende Streit entzündete sich unter anderem daran, dass Reformgegner sich gegen eine nach ihrer Ansicht unnötige „Verordnung von oben” wehrten. Doch auch Detailfragen bis hin zur Schreibweise einzelner Wort sorgten für Unmut.
  • In einer vor wenigen Tagen veröffentlichten Allensbach-Umfrage zum Zustand der deutschen Sprache befürworteten nur 9 Prozent die Rechtschreibreform. 55 Prozent sind ausdrücklich dagegen.



„Die deutsche Sprache verkommt“ – finden 65 Prozent bei einer Allensbach-Umfrage

Spitzen wir es mal probehalber zu: „Hilfe, die deutsche Sprache verkommt!” Mit einem solchen Notruf kann man die Resultate der neuen Allensbach-Umfrage auf den Gipfelpunkt treiben. Doch es steht noch ein bisschen mehr drin. Mancher Befund ist zudem auslegungsbedürftig.

Um die leidige Rechtschreibreform geht es ebenso wie um die Vielzahl englischer Ausdrücke im Deutschen. Ferner wurde die bundesweite Beliebtheit bestimmter Dialekte ausgelotet (Bayerisch und Hamburgisch vorn, Sächsisch ganz hinten). Schließlich befasst sich die Studie mit der Ekelschwelle angesichts derber Kraftworte (siehe Anhang). Wahrlich Stoff genug.

Schlagzeilenträchtige 65 Prozent aller Befragten meinen, dass unsere Sprache im Niedergang begriffen ist, die über 60-jährigen Menschen denken dies sogar zu 73 Prozent. Die „Schuldigen” an der vermeintlichen Misere sind ausgemacht: Es werde weniger gelesen, und das wiederum liege vorwiegend an Fernsehen, Mobiltelefon und Computer.

Ohrfeige für die
Verfechter der
Rechtschreibreform

Es stimmt ja: Beim eiligen Verfassen von SMS-Botschaften oder E-Mails achten wohl die Wenigsten auf sonderlich veredelte Ausdrucksweise. Auch verludert in diesen Bereichen vielfach die ohnehin schon schüttere Rechtschreibung. Allerdings haben sich auf diesen Feldern ganz eigene Mitteilungssysteme entwickelt – mit (wildwüchsigen) Abkürzungen und so genannten „Emoticons”, die den Gemütszustand etwa durch gestrichelte Gesichter signalisieren. Auch die gewiefte Handhabung einer solchen Zeichen-Sprache erfordert ein gewisses Maß an Schläue.

Eine nicht geringe Minderheit sieht denn auch gar keine Dekadenz am Werk. Im Gegenteil: Der Wortschatz sei heute im Schnitt umfangreicher als früher (31 Prozent), außerdem werde mehr gelesen und geschrieben als ehedem (23 Prozent). Über die Qualität der Lektüre und eigener Texte ist damit freilich noch nichts gesagt.

Eine schallende Ohrfeige gibt es für alle Verfechter der lang umkämpften Rechtschreibreform: Lediglich 9 Prozent (!) der Befragten haben sich mit den neuen Regeln anfreunden können. „Bin dagegen” sagten 55 Prozent. 31 Prozent ist das Thema egal.

Dementsprechend weit verbreitet ist die Rechtschreib-Unsicherheit. Satte 79 Prozent aller Befragten bejahen diesen Satz: „Durch die Rechtschreibreform weiß man bei vielen Wörtern gar nicht mehr, wie sie richtig geschrieben werden.”

Es zeigen sich jedoch auch vage Hoffnungsschimmer. Zur Umfrage gehörte nämlich ein kleiner Rechtschreibtest mit kniffligen Worten – und mit Vergleichsdaten aus der Vergangenheit. Dabei stellte sich beispielsweise heraus: Das Wort „Rhythmus” wurde im Jahr 1957 nur von 11 Prozent korrekt geschrieben, jetzt sind es immerhin 31 Prozent. Über die Gründe ließe sich’s trefflich spekulieren. Vielleicht hat es sogar mit dem weithin verpönten Einfluss des Englischen zu tun. Es mag durchaus sein, dass sich das Schriftbild von „rhythm” eingeprägt hat.

Klagen über
Sprachverfall schon
bei antiken Griechen

Ansonsten sehen vor allem ältere Semester im Vordringen angloamerikanischer Worte wie Kids, Event oder Meeting ein dringliches Problem. 66 Prozent der über 60-jährigen fordern sogar, man solle dagegen vorgehen. Nach den probaten Mitteln (Quotenregelung? Gesetze?) wurde nicht gefragt.

Rudolf Hoberg, Vorsitzender der Gesellschaft für Deutsche Sprache, versuchte gestern ein wenig die Wogen zu glätten: „Klagen über Sprachverfall gibt es seit den alten Ägyptern und den alten Griechen . . .”

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FAKTEN

Abstoßende Kraftworte

  • Die repräsentative Allensbach-Umfrage entstand in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Deutsche Sprache (Wiesbaden). Befragt wurden 1820 Menschen ab 16 Jahre. Im Internet kann man die Studie nachlesen unter: http://www.gfds.de/
  • In Sachen „Kraftworte” ergab sich dieses Bild:
  • Als ärgerlichstes und abstoßendstes Wort auf einer Auswahlliste wurde „Ficken” (59 Prozent Ablehnung) empfunden. Dahinter folgen „Krüppel” (55 %) und „Titten” (49%).
    Worte wie „Scheiße” (19% Ablehnung) oder „geil” (20%) werden schon eher toleriert.



Der Ball muss ins Buch – Lektüre zur EM

Zur Fußball-EM darf’s passende Lektüre sein. Auf dem Tisch liegt ein Stapel mit Neuerscheinungen. Das Spektrum reicht sozusagen vom Grottenkick bis zum legendären Match. Also hinein ins Strafraum-Getümmel, wo zunächst keine Treffer fallen – aber dann!

„Unsere Jungs” (Chronik Verlag, 198 S. Bildbandformat, 29,95 Euro) klingt schon im Titel ebenso kreuzbrav wie ‚ranschmeißerisch. Tatsächlich ist der DFB federführend an diesem Buch über 100 Jahre deutsche Länderspiele beteiligt. Der noch einfallslosere Untertitel („Tore, Titel, Triumphe” – fehlen nur noch die Tränen) gibt die Richtung vor: aufgewärmte Begeisterung aus dem Archiv, gedrucktes Ballgeschiebe.

Nicht viel trickreicher kommt das Mini-Buch „Fußball – Deutsch / Deutsch – Fußball” (Langenscheidt, 130 S., 5 Euro) daher. Männer, Frauen, Ärzte und Chefs wurden in der Erfolgsreihe schon sprachlich aufgegabelt. Bestenfalls Lektüre für Minuten: enorm kleinteilige Texte, immer hübsch bunt unterlegt und mit Promi (hier: Gerhard Delling) garniert. Irgendwie launig, aber nicht wirklich lustig. Leser und Fans werden klar unterfordert.

Monströs mutet das „Praxiswörterbuch Fußball” (Langenscheidt, 523 S., 16,95 Euro) an, in dem rund 5200 (!) Fachbegriffe auf Deutsch, Englisch und Französisch stehen. Wahrscheinlich ist es der ideale Lesestoff für international tätige Spieler, Schiris, Trainer – und ärztliche Betreuer. Schon gewusst, wie man Kreuzbandriss übersetzt? Bitte sehr: „cruciate ligament rupture” (engl.) und „rupture du ligament croisé” (frz.). Wer weiß, wann man’s braucht.

Pure Zahlen- und Faktenhuberei beschert „Deutschlands Fußball. Das Lexikon” (Herbig-Taschenbuch, 828 S., 20 Euro) mit 14 500 Einträgen und beigelegter CD-Rom (1400 Fotos). Von den zahllosen Pfeilen, die jeweils auf andere Stichworte verweisen, kann einem schwindlig werden. Gewiss nichts zum Schmökern, sondern höchstens zum Nachschlagen und Rechtbehalten bei Wetten.

Der österreichische Autor Franzobel sondiert in „Franzobels großer Fußballtest” (Picus Verlag, 240 S., 16,90 Euro) vor allem die Mentalität der gastgebenden EM-Nationen Österreich und Schweiz. Etwas speziell, aber bitteschön. Er tippt übrigens auf Italien, Spanien oder Frankreich und hofft auf Holland. Unentschlossener Hallodri!

Jetzt kommt der erste literarische Lattenkracher. Thomas Brussig (zuletzt bei „Berliner Orgie” in Rotlicht-Bezirken unterwegs) stimmt in „Schiedsrichter fertig” (Residenz Verlag, 92 S., 12,90 Euro) eine lange, absatzlose Klage-Litanei an: Der Schiri erscheint als bedauernswertes Neutrum in einer fanatisierten Welt, immerzu von lügnerischen Spielern bedrängt und oft gnadenlos ausgepfiffen. Ein Bild des Jammers.

„Titelkampf” (Suhrkamp Taschenbuch, 284 S., 8,90 Euro) heißt der Band, den die ebenso sprach- wie ballsichere Deutsche Autoren-Nationalmannschaft (so ‚was gibt’s! Moritz Rinke und Albert Ostermaier sind die „Stars”) beisteuert. Die gesammelten Geschichten und Gedichte schürfen oft erstaunlich tief und zeichnen prägnante Charakterbilder von Spielertypen und Fans. Willkürliches Reim-Beispiel: „Auf eines starken Bussards Flügeln / die Italiener niederbügeln.” Hoho! Das müssen die Holländer gelesen haben.

Als Nabokov und
Handke über
Torhüter schrieben

Hinterm nostalgischen Seufzer „Früher waren mehr Tore” (Diogenes-Taschenbuch, 302 S., 9,90 Euro) steckt eine erlesene Sammlung klassischer Stories und Buch-Auszüge – oft von ganz illustren Autoren. Vladimir Nabokov und Peter Handke haben z. B. über Torhüter geschrieben. Selbst Friedrich Dürrenmatt und Jaroslav Hasek („Schwejk”) kamen literarisch nicht am Leder vorbei. Ein Buch wie ein Sonntagsschuss. Die Vorentscheidung!

Den Siegtreffer per Fallrückzieher markiert freilich der unvergleichliche Ror Wolf, dessen gesammelte Fußball-Texte in neuer Ausgabe vorliegen: „Das nächste Spiel ist immer das schwerste” (Verlag Schöffling & Co., 300 S., 19,90 Euro). In langjähriger, besessener Feinarbeit (die er, gleichsam aus Selbstschutz, um 1982 abgebrochen hat) ist dieser Autor tief in die Mechanik der fußballerisch angetriebenen Sprach-Maschinerie eingedrungen. Collagen aus Reporter-Jargon und Fan-Gerede bringen das ganze Metier zur Kenntlichkeit. Großer Sport!

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WEITERE EMPFEHLUNGEN

Nick Hornby: „Fever Pitch – Ballfieber” (Kiepenheuer & Witsch, 335 S., 9,95 Euro). Fiktives Tagebuch eines Fans (FC Arsenal London). Fußball als harte Schule des Lebens. Hornby gilt seither als Kultautor.

Tim Parks: „Eine Saison mit Verona” (Goldmann-Taschenbuch, 520 S., 9,90 Euro). Italienische Ball- und Seelenkunde.

Theo Pointners Fußball-Krimis im Dortmunder Grafit-Verlag: „Rechts-Außen” (8,90 Euro) und „Tore, Punkte, Doppelmord” (8,40 Euro).

Martin Arnold (Hrsg.): „Abenteuer Fußball. Auf den Bolzplätzen dieser Welt” (Verlag Die Werkstatt, 224 S., 19,80 Euro). Reise zu exotischen Spielfeldern der Erde. Spannende Sozialstudie in Zeiten der Globalisierung.

Dietrich Schulze-Marmeling: „Holt euch das Spiel zurück. Fans und Fußball” (Verlag Die Werkstatt, 271 S. – vergriffen; übers Internet antiquarisch erhältlich). Erhellende Perspektive „von unten”. Vom selben Autor gibt’s Vereins-Historien, etwa über Borussia Dortmund.

Christoph Biermann: „Fast alles über Fußball” (Kiepenheuer & Witsch, 200 S., 9,95 Euro). Fleißig gesammelt: Komisches und Kurioses beim Kick.

F. C. Delius: „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde” (Rowohlt-Taschenbuch, 128 S., 6,90 Euro). Roman rund ums 1954er „Wunder von Bern” – aus Kinderperspektive erzählt.

Siobhan Curham: „Club der Fußballwitwen” (Droemer/Knaur, 8,90 Euro). Frauen nehmen Rache an Gefährten, die sich nur noch für Fußball interessieren. Gemein!




Das Böse ist nur ein Gaukelspiel – Lisa Nielebock inszeniert Shakespeares „Macbeth“ in Bochum“

Bochum. In Shakespeares „Macbeth“ geht es wahrlich archaisch und blutig zu, doch das Grundmuster kommt einem gar nicht mal so unglaublich fremd vor: Lady Macbeth, jene krankhaft machtsüchtige Gattin, stachelt ihren Mann an, alle möglichen Widersacher auf dem Weg zur Königsherrschaft beiseite zu schaffen. Der anfangs skrupelhafte Macbeth steigert sich in Rausch und Wahn hinein. Und wie deutet die junge Regisseurin Lisa Nielebock die Tragödie in Bochum?

Die Bühne (Kathrin Schlecht) ist leergefegt. Nur ein paar metallische, mit Kletter-Gestänge und Türen versehene Säulen ragen da hoch auf. Reichlich Platz also, auf dem sich Phantasien und Phantome ausbreiten können. Und so geschieht’s: Wir erleben vorwiegend Geisterspiele, Alpträume, irrlichternde Kopfgeburten. Und zwar hurtig. In weniger als zwei Stunden ist die ganze Sache gespenstisch abgetan. Auch das abgründig Böse ist letztlich nur ein Gaukelspiel.

Branchenübliches, gewiss nicht mehr provokantes Verfahren: Der Text (Übersetzung von Thomas Brasch) ist zwar nicht vollends skelettiert, wohl aber arg gekürzt und teilweise umgeschichtet worden. Etliche Satz-Bruchstücke von abwesenden Nebenfiguren werden hier auf eine neue Gestalt namens „Ein Nichts“ (Agnes Riegl) gehäuft, die gleichsam als Göre den ruhelosen Kobold der Inszenierung gibt, doch auch den Jammer bis ins Opernhafte treibt. Jedenfalls: Das Nichts ist hier ein steter Gast, als sei’s ein Endzeit-Stück von Beckett.

Der Wille zur Kürze verlangt Opfer, zumal von den zuweilen ins Konzept gezwängten Darstellern. Sehr unvermittelt muss Lady Macbeth (Lena Schwarz) nach den ersten Mordtaten dem Wahn anheimfallen. Eben noch intrigant, jetzt schon nicht mehr zurechnungsfähig. Macbeth (Martin Rentzsch), von Beginn an mit blutigen Händen, hat seine verstörendste Vision (der Geist des ermordeten Banquo erscheint ihm auf schauderliche Weise) hier nicht etwa beim wirklichen Bankett. Die Gäste sind als Geisterschar nur imaginär vorhanden.

Fast schon mit kühlem ärztlichen Interesse konzentriert man sich also ganz auf Raserei und Hirnfraß. Alles gar zu offenkundig Gesellschaftliche wäre demnach wohl nur schnöde Ablenkung. Derweil scheint die Erotik des mörderischen Herrscherpaars längst erloschen, sie ist nur noch schemenhaft als dunkle, untergründige Triebkraft zu ahnen. Es ist wie bei Kindern, die mit aller schreienden Unbedingtheit ihren Willen haben wollen.

Kein Wunder, dass die drei Hexen mit ihren doppeldeutigen Prophezeiungen hier häufig, ja nahezu penetrant präsent sind. Sie geben Takt und Melodie vor, wenn sich die naturwidrige Apokalypse entfaltet. Freilich gerät das ganze mitunter ein wenig zum Budenzauber. Da maunzt und jault es auch schon mal unfreiwillig komisch. Doch zwischendurch erklingen teutonisch tiefernst die in deutschen Theatern immer gern gewählten „Einstürzenden Neubauten“ – mit der Zeile „Sehn-Sucht ist einzige Energie“. Es muss wohl etwas dran sein, man hätte allerdings gern noch etwas mehr davon erfahren.

Der einstige König Duncan (Klaus Weiss) war wie ein gutmütig verwirrter Onkel. Sein Sohn Malcolm (Marco Massafra), der schließlich nach dem Tod des Usurpators Macbeth die Königswürde erbt, kommt als routinierter Rhetoriker ohne sonderliche Moral oder Sehnsüchte daher. Er könnte ein gewiefter Politiker aus neueren Epochen sein. Doch anders als im Stück bereiten die Hexen auch ihm schon das Menetekel. Es fällt Schnee auf ihn herab. Kältere Zeiten.

Sehr herzlicher Beifall nach Bochumer Art, vereinzelte Buhrufe.

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Zur Person

  • Die Regisseurin Lisa Nielebock wurde 1978 in Tübingen geboren.
  • Nach einigen Jahren als Schauspielerin in der Freien Theaterszene (Tübingen, Stuttgart, München) studierte sie Regie an der Folkwang-Hochschule in Essen.
  • Es folgten diverse Regie-Assistenzen, etwa am Bayerischen Staatsschauspiel in München und bei den Ruhrfestspielen.
  • Seit 2005 ist sie als Hausregisseurin am Schauspielhaus Bochum engagiert.
  • Dort inszenierte sie u.a. Sarah Kanes „Phaidras Liebe“ und Henrik Ibsens „Gespenster“. Besonderen Zuspruch fand ihre Bochumer Deutung von Kleists „Penthesilea“.

(Der Beitrag stand am 9. Juni 2008 in der „Westfälischen Rundschau“)




Zum Tod von Peter Rühmkorf: Hochseilartist der Sprache

Welch eine betrübliche Nachricht! Peter Rühmkorf ist tot, der wohl vielseitigste und wortmächtigste Gegenwarts-Lyriker deutscher Sprache. Man hat bang damit rechnen müssen, denn der 78-Jährige war seit längerer Zeit schwer krebskrank. In seinem letzten Lyrikband „Paradiesvogelschiß” hat er davon bewegendes Zeugnis abgelegt.

Zuletzt schrieb er von Angst getrieben, dass er dieses und weitere Werke nicht mehr werde vollenden können. Aus seinem geliebten Hamburg hatte sich der gebürtige Dortmunder bereits ins Lauenburgische Land zurückgezogen – fernab vom Lärm und Streit der Welt, dem der couragierte Mann nie ausgewichen war.

Just gestern hatte ihm die Stadt Kassel noch den „Literaturpreis für grotesken Humor” zugesprochen, der ihm nun posthum verliehen wird. Einer der früheren Preisträger war Robert Gernhardt gewesen, mit dem Rühmkorf eine enge Freundschaft und die unbändige Freude am Spiel mit der Sprache verband.

Entschieden links,
aber nie fanatisch

Rühmkorf war ein eminent politischer Kopf, ein ausgemachter Linker. Als Lektor beim Rowohlt-Verlag (ab 1958) mischte er kräftig im literarischen Betrieb mit. Legendär auch seine frühe Zeit beim einstigen Studentenkurier „Konkret”, wo er es auch mit dem späteren „Spiegel”-Chefredakteur Stefan Aust und der nachmaligen RAF-Terroristin Ulrike Meinhof zu tun bekam. Gerade selbstherrlich radikale, gewaltsame „Lösungen” waren Peter Rühmkorf jedoch zuwider. Und überhaupt: Die Literatur sollte nach seinem Verständnis nicht von Politik überwuchert werden.

In wenigen funkelnden Zeilen konnte er zuweilen das vermeintlich Niedrigste und das Höchste zusammenbringen – edelsten Wortklang und gewöhnlichsten Alltag. An solchen Bruchlinien bewegte er sich mit scharfer Intelligenz und mit einem ungeheuer differenzierten Wortschatz. Virtuos wie sonst keiner mehr, experimentierte er mit Versmaßen, Rhythmen und Reimformen. Ein ganz und gar staunenswerter Hochseilartist der Sprache.

Intensiv hat sich Rühmkorf mit der literarischen Tradition auseinandergesetzt – beginnend mit den Wurzeln in den „Merseburger Zaubersprüchen” und bei Walther von der Vogelweide, weiter über Klopstock und Hölderlin, bis hin zu seinen „Hausgöttern” Heinrich Heine und Gottfried Benn. Fürwahr eine weite Spanne.

Seine Lyrikbände sollten eigentlich zur literarischen Grundausstattung gehören. Die Tagebücher sind eine reiche Quelle deutscher Nachkriegsgeschichte aus linker Nahansicht. Vorwiegend war’s eine schmerzliche Bilanz der Enttäuschungen, die einem dennoch Mut einflößte. Mit seinem bereits 1967 herausgebrachten Band „Über das Volksvermögen” hat Rühmkorf zudem eine breite Schneise für überlieferte Volkspoesie geschlagen. Gar vieles geriet da zu frech-fröhlichen Inspirationsquellen: ordinäre Toilettensprüche, Kinderreime, Abzählverse, Reklameslogans und deren Parodien. Rühmkorf hat gezeigt, welches Widerstands-Potenzial in derlei (vorher übersehenen) Texten schlummert.

In einem Interview mit der „Zeit” hat Rühmkorf im Frühjahr sein Krebs-Martyrium geschildert und gesagt: „Ich habe keine Angst vor dem Absprung in andere Welten.”

In seinem letzten Gedichtband steht freilich dieser ebenso lapidare wie eindringliche Appell „An den Tod”:

„Fort – fort, /
dies kann die Welt noch nicht gewesen /
und bumms zu Ende sein. /
All diese Bücher wolln ja noch gelesen /
und die Hosen aufgetragen sein.”

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Peter Rühmkorf wurde am 25. Oktober 1929 in Dortmund geboren, wuchs in Niedersachsen auf und lebte mit seiner Frau Eva (frühere Landesministerin in Schleswig-Holstein) bis vor einiger Zeit in seiner Wahlheimat Hamburg.

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Wichtige Buchtitel:

„Irdisches Vergnügen in g” (1959, Gedichte)

„Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich” (1975, Essays/Gedichte)

„Haltbar bis Ende 1999” (1979, Gedichte)

„Bleib erschütterbar und widersteh” (1984, Essays)

„Außer der Liebe nichts” (1986, Gedichte)

„Lass leuchten!” (1993, Erinnerungen/Gedichte)

„Tabu I” (1995, Tagebücher von 1989 bis 1991)

„Wenn – aber dann. Vorletzte Gedichte” (1999)

„Tabu II” (2004, Tagebücher von 1971 bis 1972)

„Paradiesvogelschiß” (2008, Gedichte)




Ansgar Nierhoff: Stahl als Mittel der Wahl

Idyllischer Ort für Kunst: Die „Alte Mühle” zu Schmallenberg zeigt Arbeiten eines der wichtigsten deutschen Bildhauer. Für den gebürtigen Mescheder Ansgar Nierhoff (66) ist es auch eine Rückkehr in heimatliche Gefilde.

Nierhoff ist beileibe nicht „irgendwer”. Er hat auch schon an der Kasseler documenta teilgenommen. Dort war’s vermutlich komfortabler. In Schmallenberg gestaltete sich bereits die Anlieferung seiner Skulpturen schwierig, es war Millimeterarbeit. Um dem Lkw samt Kran den engen Weg zu bahnen, musste sogar ein Zaun demontiert werden.

Nierhoff, der seit 1965 in Köln lebt, hat immer noch ein Domizil im Hochsauerland, wo er häufig ausgedehnte Waldgänge unternimmt. Ursprung der Schmallenberger Schau war der wanderbare Waldskulpturenweg, der von hier bis nach Bad Berleburg führt, dem (mit anderen Werken bestückten) zweiten Ort der Ausstellung. Den künstlerischen Brückenschlag leitete anno 2000 just Nierhoff ein – mit der Stahltor-Skulptur „Kein leichtes Spiel”.

Nach und nach will man in Schmallenberg alle Künstler des Waldskulpturenwegs vorstellen. Jetzt also Nierhoff. Auch hier ist Stahl das Mittel seiner Wahl. Schon kleinere Arbeiten wiegen so viel, dass die Statik der „Alten Mühle” einiges aushalten muss.

Nierhoff geht von Grundformen aus: Kreis, Kugel, Würfel, Rechteck, Zylinder. Durch präzis berechnete Schnitte gestaltet er sie immer wieder neu. Wenn etwa ein Würfel zerteilt und dann wieder zusammengefügt wird, ergeben sich Bruch- und Verbindungslinien, die dem Ganzen andere Energien einflößen. Ruhige, konzentrierte Kraft teilt sich da mit. Zuweilen legt sich Rost als Patina auf die Skulpturen. Ein doppelwertiges Zeichen des Verfalls, aber auch der Dauer.

Einige Stahlringe scheinen achtlos hingeworfen zu sein, doch der Eindruck trügt: Nierhoff verbringt viel Zeit damit, solche Arbeiten exakt auszurichten, Werk und Ort aufeinander abzustimmen. Wer will, kann in den ebenfalls ausgestellten Zeichnungen Vorstudien zu den Plastiken erblicken. Man kann sie aber auch als eigenständige Schöpfungen werten.

Zu welcher Leichtigkeit sich Stahl aufschwingen kann, erweist sich an Nierhoffs „Faltungen”. Als sei’s Papier, hat der Künstler die Metallflächen hie und da ein wenig geknickt. Alle Härte ist verschwunden.

Schmallenberg, „Alte Mühle” (Unter der Stadtmauer 4). Bis 17. August, Mi-So 15-18 Uhr, Eintritt frei. Tel.: 02972/48 106 – Weitere Werke draußen (Kapelle auf dem Werth, Friedenskapelle Fredeburg usw.).

Bad Berleburg, Museum der Stadt (Goetheplatz 3). 17. Juli bis 17. August. Di und Fr-So 15-18 Uhr, Eintritt frei.




Zwei Brüder in wachsender Wut – Sam Shepards „Goldener Westen“ bei den Ruhrfestspielen

Recklinghausen. Sam Shepards Stück „Goldener Westen“ verpflanzt sozusagen die verfeindeten biblischen Brüder Kain und Abel in den „Wilden Westen“. Das passt schon recht gut zum Amerika-Schwerpunkt der Ruhrfestspiele. Also Hat sich Intendant Frank Hoffmann den Text vorgeknöpft.

Eigentlich könnten die Geschwister Austin (Drehbuchautor) und Lee (wildes Leben als kleinkrimineller Tramp) ihre Talente vereinen und gemeinsam Geschichten aushecken. Womöglich war’s ja großes Kino!

Statt dessen wächst ihre Wut und staut sich gefährlich. Sie versuchen einander zu übertrumpfen, doch ihre konkurrierenden Lebenslinien führen gleichermaßen ins leere Chaos. Auch ein allmählicher Rollentausch (Austin säuft und klaut, Lee lernt mühsam schreiben) ist nur betrüblich. Und der alte amerikanische Traum von Freiheit in grenzenloser Weite erweist sich bei all dem als was? Natürlich als brüchig. Über die Küche im Haus ihrer (nach Alaska verreisten) Mutter kommen die beiden traurigen Gestalten im Stück nicht hinaus.

Das Drama ist 1979 entstanden. Regisseur Hoffmann will es jedoch auf die neuere Stimmung im Westen trimmen, die seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 herrscht. Wohl deshalb hört man es anfangs im Dunkeln apokalyptisch rumoren. Auch werden einige Requisiten zu vagen Vorzeichen der inzwischen längst eingetretenen Zukunft umgemodelt. Ein Fernsehgerät erweist sich beispielsweise als Computerbildschirm. Aha.

Aber sonst? Ist fast alles beim alten geblieben. In braver Texttreue lässt Hoffmann die Handlung abschnurren, ohne ihr gegenwärtige Dringlichkeit abzugewinnen. Happen fürs Publikum: hie und da etwas Slapstick als Beigabe.

Dennoch brodelt es in der Inszenierung, denn der Deutsch-Türke Oktay Özdemir (Filmerfolg „Knallhart“) gibt den rüden Lee sturzvital: mal ruhelos, mal betont lässig, aber stets auf dem Sprung. Er verkörpert die Rolle, als wolle er nicht so bald wieder etwas anderes spielen. Seine heiseren Ausbrüche klingen zuweilen nach deutschen Problemvierteln, sie könnten sofort in rhythmischen Rap-Gesang münden. Da wähnt man sich unversehens doch näher an heutigen Zuständen. Austin-Darsteller Eralp Uzun hat jedenfalls seine liebe Not, da mitzuhalten.

Termine: 29., 30., 31. Mai. Kleines Theater im Festspielhaus Recklinghausen. Karten: 02361/9218-0.

(Der Beitrag stand am 29. Mai 2008 in der „Westfälischen Rundschau“, Dortmund)




40 Jahre danach: Abrechnung mit den 68ern – Persönliche Erinnerungen und nachträgliche Analysen zur Revolte

Von Bernd Berke

Vierzig Jahre ist es nun schon her, doch das Thema scheint schier unerschöpflich: Was ist vom Mythos des rebellischen Jahres 1968 geblieben? Was wirkt weiter? Was hat sich womöglich „erledigt“? Mit solchen Fragen befassen sich in diesen Jahr etliche Buchautoren. Eine Auswahl:

Höchst provokant geht Götz Aly zu Werke, ein einstiger Mitstreiter der Revolte. Verglichen mit damals, vollzieht er eine komplette Kehrtwende. Schon der Titel seiner Abrechnung, „Unser Kampf 1968″, der gefährlich an Adolf Hitlers „Mein Kampf“ anklingt, lässt es ahnen. Zwar kann auch Aly bis heute die Anstöße zum Aufstand (verdrängte NS-Vergangenheit, Vietnamkrieg, Springer-Presse) nicht ganz leugnen, doch wendet er ansonsten alles gegen die studentischen Akteure.

Als wolle er sich und seine Generation nachträglich selbst bestrafen, bezeichnet Götz die Studentenrevolte als eine „Bewegung“, die manches mit den verhassten Vätern aus der NS-Zeit gemein gehabt hätte – bis hin zur Figur des Anführers, dem laut Aly „machthungrigen“ Rudi Dutschke.

Seine Quellen waren u. a. Akten vom Verfassungsschutz. Skepsis wäre da angebracht gewesen. Statt dessen: schnöder Verrat an der eigenen Jugendzeit! Wolfgang Kraushaar vom Hamburger Institut für Sozialforschung vertritt ähnliche Thesen, doch ungleich leiser. Sein mit Anmerkungen gespicktes Buch „Acht und Sechzig. Eine Bilanz“ kehrt totalitäre Versuchungen und Tendenzen der Revolte hervor, wie sie seinerzeit schon der Philosoph Theodor W. Adorno angeprangert hat.

Andere sagen’s gänzlich anders: Laut Peter Schneider war Rudi Dutschke ein Mensch „reinen Herzens“, und Reinhard Mohr attestiert dem Studentenführer schlichtweg mitreißendes Charisma. Der Schriftsteller Peter Schneider (Romanerfolg „Lenz“) hat für „Rebellion und Wahn – Mein 1968″ seine Tagebücher von damals neu gelesen – mit wachem Sinn für beide Lebensphasen. Er macht die Impulse seiner jungen Jahre nicht nieder, sondern nimmt sie wichtig, ohne sie zu glorifizieren. Ein betrüblicher Befund: Das Private sei in jenen Jahren unterm Politischen verschüttet worden. So bemerkt Schneider heute mit Erstaunen, dass er damals eine Liebesgeschichte durchlitten hat, die im Grunde mindestens so bedeutsam war wie all die Demos, in deren Sog man anfangs eher per Zufall hineingeraten sei.

Reinhard Mohr („Spiegel online“) ist kein Achtundsechziger, sondern ein Nachgeborener. In „Der diskrete Charme der Rebellion“ betrachtet er die Dinge aus ironischer Distanz, was als Gestus des „Darüberstehens“ nicht immer angenehm ist. Recht ausführlich zeigt er die Vorgeschichte: Stumpf- und Biedersinn der Adenauer-Zeit; erste Gegenkräfte, etwa bei den Schwabinger Gaudi-Krawallen der frühen 60er Jahre.

Mohr schildert Konflikte zwischen dem strengen Studentenbund SDS und der „Spaßguerilla“ rund um die „Kommune 1″. Kommunarde Fritz Teufel, so erfahren wir, habe viele Groupies gehabt, während Dutschke verbissen die Klassiker las. Mohrs Fazit: Vieles sei neoromatische Halluzination gewesen, Selbstüberschätzung aus bloßen Stimmungen heraus – mit Ausläufern bis in die RAF-Terrorszene. Diese Schattenseiten vergisst kein Autor.

Rudolf Sievers verfolgt mit „1968 – Eine Enzyklopädie“ eine völlig andere Absicht. Mit Texten zum bewegten Jahr (Marx, Adorno, Marcuse, Enzensberger, Dutschke, Flugblätter usw.) will er den Zeitgeist von ’68 wieder lebendig machen. Manches liest sich mit Gewinn, doch man steigt nicht zweimal in den selben (Zeit)-Fluss.

Hans-Peter Schwarz hat sich einer Hassfigur der „68er“ gewidmet: In „Axel Springer. Die Biografie“ lässt er dem Mann, dessen „Bild „-Zeitung die Stimmung gegen Dutschke und Genossen seinerzeit anheizte, größtmögliche Gerechtigkeit widerfahren. Es waltet Verständnis für die Motive des Großverlegers. Springer habe „Schneid“ besessen und sich nicht gängigen Meinungen anbequemt. Als nach dem Attentat auf Dutschke die „Bild“-Lieferwagen brannten, habe er freilich tief betroffen über einen (Teil)-Verkauf seines Imperiums nachgedacht.

Die Kulturgeschichte der 60er Jahre, die nachhaltiger gewirkt haben dürfte als alle politisierten Debatten, kommt leider in allen Bänden zu kurz. Auch wird die „Provinz“ kaum in den Blick genommen. Meist nur Berlin, Frankfurt und Paris – das ist nicht die ganze Wahrheit.

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SERVICE

Die vorgestellten Bücher

  • Götz Aly: „Unser Kampf 1968″. S. Fischer Verlag. 256 Seiten, 19,90 Euro.
  • Peter Schneider: „Rebellion und Wahn. Mein ’68“. Kiepenheuer & Witsch, 364 Seiten, 19,95 Euro.
  • Wolfgang Kraushaar: „Acht und Sechzig. Eine Bilanz“. Propyläen. 256 S., 19,90 Euro.
  • Reinhard Mohr: „Der diskrete Charme der Rebellion“. Wolf Jobst Siedler Verlag (wjs). 238 S., 19,90 Euro.
  • Rudolf Sievers (Hrsg.): „1968. Eine Enzyklopädie“. Edition Suhrkamp. 475 Seiten, 18 Euro.
  • Hans-Peter Schwarz: „Axel Springer. Die Biografie“. Propyläen. 600 S., 26 Euro.
  • Außerdem zu nennen:
  • Gerd Koenen / Andreas Veiel (Hrsg.): „1968. Bildspur eines Jahres“ (200 Pressefotos der Zeit). Fackelträger, 190 Seiten, 29,95 Euro.
  • Lothar Menne: 1968. Unter dem Pflaster lagen die Träume“. Goldmann Verlag, 250 S., 14,95 Euro.
  • Michael Ruetz: „1968. Die unbequeme Zeit.“ Steidl Verlag, 224 S., 40 Euro.
  • Norbert Frei: „1968. Jugendrevolte und globaler Protest“. dtv premium, 288 S., 15 Euro.

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EXTRA

Generation ’68 im Revier

  • In Paris gingen sie auf die Barrikaden – und in Berlin. Aber an Rhein undRuhr – gab es da auch die zornige Generation ’68?
  • Der Autor Manuel Gogos beantwortet die Frage auf seiner Feature-CD „Die Revolution mit der Heizdecke“ (8,50 Euro) klar mit ja. In Bonn rauchten freche Studis die Zigarren des Rektors, in Köln rockte sich die Band CAN in Trance, selbst an den Werkstoren im Revier wurde erregt diskutiert. Was haben die Kinder der Revolution gewollt? Warum verflossen Pop und Protest?
  • Als Studenten auf die Barrikaden gingen und Arbeiter mehr Rechte einforderten, war Norbert Kozicki gerade 15.
  • Der Aufbruch faszinierte den heutigen Sozialwissenschaftler. Was den Pazifisten begeisterte: Die jungen Rebellen entdeckten ’68 eine neue, unblutige Waffe – die Sprache.
  • Genau das ist Thema von Kozickis Buch „Aufbruch in NRW. 1968 und die Folgen“ (7,95 Euro).
  • Beide Titel sind im Rahmen der „mediathek für Nordrhein-Westfalen“ ab sofort in den WR-Leserläden zu haben.

 




Fußgänger sehen mehr von der Welt – An der Uni Kassel existiert der einzige Lehrstuhl zur Spaziergangswissenschaft

Von Bernd Berke

Dortmund/Kassel. Heute schon spazieren gegangen? Ganz entspannt im Hier und Jetzt des Waldes? Gut so. Aber haben Sie gewusst, dass es eine Spaziergangswissenschaft gibt? Kein Scherz. Im hiesigen Fachjargon heißt sie Promenadologie, im englischen Sprachraum strollology.

Es begann in den 1980er Jahren. Damals beackerte der Soziologe Lucius Burckhardt (1925-2003) wohl als erster das neue Forschungsfeld. Typisch deutsch: Nicht einfach gehen, sondern übers Gehen nachdenken? Jedenfalls wollte er „die Umgebung in die Köpfe der Menschen zurückholen“. Sein Nachfolger als Dozent an der Uni Kassel war der Berliner Martin Schmitz. Er ist überzeugt: „Spaziergänge können helfen, unsere Städte bewusster zu planen.“

Promenadologie hilft Raumplanern und Architekten

Worum geht’s den Spazierforschem also? Um unsere Wahrnehmung, unseren Blick auf Landschaften, Städte und Dörfer. Mit den schnellen Verkehrsmitteln, so eine Grundannahme, hat sich unser Hinschauen verändert. Indem wir mit Autos oder Billigfliegern durch Gegenden hindurch oder über sie hinweg sausen, bemerken wir viele Details gar nicht und ignorieren hässliche Ecken.

So sehen Stadtplanungen denn auch häufig aus: kein Gespür mehr für Übergänge, Abstände, Nuancen und Details. Schmitz: „Selbst Architektur-Studenten sind auf diesem Gebiet oft unterbelichtet. Sie kennen nicht einmal das Umfeld ihrer Unis.“ Die Spaziergangswissenschaft will für „Entschleunigung“ sorgen. Wer langsam und entspannt geht, sieht mehr. Kurzum: Man will gezielte Hilfestellung geben für Architekten, Stadt- und Raumplaner. Schmitz: „Daraus können neue Impulse entstehen.“

Wie auch immer: Die Spazierforschung dürfte ein Neben- und Hilfsfach bleiben – mit allenfalls mittelfristigen, unterschwelligen Wirkungen. Es gibt Ansätze in der Forschung, den „Spazierwert“ von Regionen auf einer Skala von 1 bis 10 zu bewerten. Schmitz hält nicht viel von solchen Hitlisten. Sie verstellen vielleicht den Blick dafür, was man verändern kann.

Wenn der Weg gar nicht mehr zählt

Dabei ist genaues Hinsehen nötiger denn je. Denn neuere Entwicklungen, so Schmitz, lassen den genauen Blick noch mehr vergehen. Seit Navigationsgeräte weit verbreitet sind, interessiert meist nur noch die Ankunft am Ziel, nicht mehr der Weg – der wird ja schon ohne eigenes Zutun berechnet. Von Computer-Programmen wie Google Earth ganz zu schweigen, mit denen man virtuell blitzschnell an jeden Punkt der Erde gelangt. Wahrscheinlich kein Zufall, dass kürzlich der Kinofilm „Jumper“ so erfolgreich war: Da geht es just um „Teleportation“, also die Fähigkeit, sich sofort in jede Weltecke zu beamen. Gegenbewegungen gibt es freilich auch. Zu nennen wäre die Pilger-Mode im Gefolge von Hape Kerkelings Dauerbestseller „Ich bin dann mal weg“.

Die globale Mobilisierung hat weit reichende Folgen: Wenn man jederzeit überall sein kann, sieht es irgendwann überall ähnlich aus. Besonders die gleichförmigen Fußgängerzonen gefallen den Spazierwissenschaftlern nicht. Es klingt paradox, aber gerade diese Gehflächen wollen sie teilweise wieder durch Autoverkehr beleben.

„Durchmischung“ heißt das Zauberwort, mit dem Wohnen, Einkaufen und Arbeiten wieder näher zueinander rücken sollen. Solche Maßnahmen seien wirksamer, als wenn man (wie in Frankfurt oder Berlin) historische Häuserzeilen oder Stadtschlösser nachbaut, findet Schmitz.

Ihre Grundlagen holt die Promenadologie nicht zuletzt aus der Literatur. Vor allem im Roman sind Orte und Landschaften reine Kopfgeburten. Dieser Befund macht klar, dass auch Stadtbilder in erster Linie mit Phantasie zu tun haben. Sprich: Man kann sie sich für die Zukunft eben auch ganz anders vorstellen.

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HINTERGRUND

Lucius Burckhardt, Martin Schmitz

  • Der spätere „Erfinder“ der Spaziergangswissenschafft, Lucius Burckhardt (1925-2003) war in den 50er Jahren in der Sozialforschungsstelle in Dortmund tätig.
  • Er betrieb intensive Feldstudien zur Wohnsituation im Ruhrgebiet.
  • 1955 veranstaltete er in Dortmund den Kongress „Der Stadtplan geht uns alle an“.
  • In den 80ern entwickelte er an der Gesamthochschule Kassel das neue Fach.
  • Martin Schmitz  (1956 in Hamm geboren) studierte bei Burckhardt und verlegte später dessen Buch. In Kassel hat er den einzigen deutschen Lehrstuhl für Spaziergangswissenschaft inne.
  • Auch an der Uni Leipzig gibt es Seminare zur Spaziergangswissenschaft.
  • Der Künstler Gerhard Lang hat Aktionen im Sinne des Fachs veranstaltet: „Spazieren als künstlerischer Akt“.
  • Lucius Burckhardts Standardwerk: „Wer plant die Planung?“ Martin Schmitz Verlag, Berlin. 360 Seiten. 18,50 Euro.



Wenn uns die Gier beim Kragen packt – über ein menschliches Grundgefühl

Von Bernd Berke

Ja, darüber kann man sich von Herzen moralisch empören: Wie schrecklich gierig sind doch jene Menschen, die viele Millionen auf dem Konto haben und dann auch noch Steuern hinterziehen! Oder Leute, die an der Börse zocken, bis nichts mehr geht. Anlässe zur Entrüstung gab’s jüngst genug. Aber ist man selbst frei von solchen Regungen?

Wohl kaum. Die Gier ist zwar mit einiger Mühe halbwegs beherrschbar, doch gehört sie zur menschlichen Grundausstattung. Erst wenn wir Lust- und Glückshormone wie das Dopamin abgeschafft hätten, wäre vielleicht auch die Gier verschwunden. Bei allem furchtsamen Respekt vor der Gentechnik: Damit ist auf mittlere Sicht denn doch nicht zu rechnen.

Geiz und Neid sind nur die Spiegelbilder

Unsere Wirtschaft und das Profitstreben, auf dem sie basiert. sind nicht allein rational zu erklären. In Banken- und Börsenkrisen ahnen wir, wie sehr das ganze Metier von Stimmungen, Mutmaßungen (eben: Spekulationen) und schwankenden Gefühlen abhängt. Wahrlich keine, verlässliche, logische Mechanik.

Wenn uns die Gier beim Kragen packt, so tritt noch ein Effekt ein, der an die sprichwörtlichen Lemminge erinnert. Viele tun irgendwann mit, wenn eine anschwellende Masse etwas vormacht; schon aus Angst, eine Gewinnchance zu verpassen. Auch da ist’s wie im Sprichwort: Den Letzten beißen die Hunde. Doch der hat dann hoffentlich wenigstens etwas fürs weitere Leben gelernt.

Ohne Habgier würde ja der ganze Kapitalismus nicht funktionieren. Wenn keiner mehr (und immer noch mehr) haben wollte als die anderen, so würde der Antrieb zu Geschäften aller Art fehlen. Die Gier besiegt auch die Angst vor etwaigen Risiken.

Maßlosigkeit gehört wesentlich dazu. Man kriegt den Hals nicht voll. Es ist wie beim steinreichen Enterich Dagobert Duck, der bekanntlich in Geld und Gold badet. Die Schatzkammern können nie groß genug sein. Und wehe, es fehlt ein einziger Taler.

Wer ängstlich seinen Besitz hortet, verhält sich nur spiegelbildlich. Beim Geiz ist gleichfalls Habgier der Antrieb – wenn auch in defensiver Spielart. Doch die „Geiz-ist-geil“-Phase, so hämmert man uns weiblich ein, sei sowieso vorüber. Im Zeichen des (schon brüchigen?) Aufschwungs darf und soll wieder gescheffelt und geprasst werden. Keine Zeit für Askese oder fürs „Maßhalten“, wie es einst der Altkanzler Ludwig Erhard empfahl. Statt dessen heißt es wieder: „Ich will alles – und zwar jetzt.“

Die katholische Kirch rechnet die Habgier (Lateinisch: avaritia) zu den berühmten „Sieben Todsünden“ – ebenso wie den Neid. Ein beliebtes, weil schauriges Thema in der Kunst. Nicht nur Hieronymus Bosch und Otto Dix haben sich drastisch und orgiastisch ausgemalt, wie der teuflische Sündenpfuhl wohl ausschauen mag.

Die Gier kann sich, weil sie zu Sucht und Exzess tendiert, wahl- und zügellos auf schier alles richten. Gier nach Geld ist beileibe nicht die einzige Form. Man denke nur an die rauschhafte Gier nach Sex oder Drogen. Eine solche Aufzählung könnte schier endlos geraten. Auch hier ist wohl die Biochemie der Hormone am Werk. Sie gibt keine Ruhe. Gier ist ein großes Lebensthema, das alle betrifft. Und Natürlich hat sie auch zutiefst mit unserer Sterblichkeit zu tun. Lebten wir ewig, müssten uns nicht ständig einbilden, etwas Unwiederholbares zu yersäumen und ein für allemal „zu kurz“ zu kommen.

 

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HINTERGRUND

Auch für Künstler ein Thema

  • Die sieben Todsünden nach dem Verständnis der katholischen Kirche:
  • Stolz, Neid, Zorn, Faulheit, Geiz, Gier und Wollust.
  • Das Thema hat immer wieder Künstler inspiriert. Das Spektrum reicht von Bert Brechts „Die sieben Todsünden der Kleinbürger“ bis zum Song der Simple Minds:„Seven Deadly Sins“.
  • „Gier“ ist ein häufiger Titel von Kunstwerken. Zu nennen sind etwa Erich von Stroheims monumentaler Film „Gier“ (Greed) von 1924, Gabriele Wohmanns Erzählsammlung „Habgier“ oder der Roman „Gier“ von Elfriede Jelinek.
  • Neueres Sachbuch: Hans Leyendecker „Die große Gier“ (Rowohlt, 299 S., 19,90 €).



Rühmkorfs „Paradiesvogelschiß“: Auf jedem Blatt ein goldener Spruch

Es gibt wohl keinen lebenden deutschen Lyriker, der an den gebürtigen Dortmunder Peter Rühmkorf (78) heranreicht. Der Mann gehört in die ganz großen Traditionslinien deutscher Dichtung; vielleicht gar auf die Höhen eines Heinrich Heine, auf den er sich immer wieder bezogen hat.

Jetzt ist der Gedichtband „Paradiesvogelschiß” erschienen. Rühmkorfs Gesundheitszustand, so hört man, sei sehr bedenklich. Er hat geglaubt, das Werk schon nicht mehr vollenden zu können. Der passionierte Hamburger, seit Jahrzehnten in der Hansestadt verwurzelt, hat sich mit seiner Frau in ein Reetdachhaus im Lauenburgischen zurückgezogen. Auch das ist ein Zeichen des Abschieds.

Die wunderbar klappernden Verse des einleitenden Gedichts „Paradiesvogelschiß” erinnern von fern her an Fontanes „Ribbeck von Ribbeck”. Sie besagen, dass manches, was man im Leben als „Mist” beklagt, sich irgendwann als Geschenk erweisen kann. In diesem Falle düngt der zunächst verhasste Vogelmist einen Baum mit zauberhaften Blättern, von denen man – alt und schwach geworden – Witz und Ideen pflückt: „Und genieß dich getrost als Beschenkten!”, heißt es am Schluss. Man spürt da ein abendliches Glänzen.

„. . . auf jedem Blatt steht ein goldener Spruch” – Diese Zeile dient zugleich als Überschrift für den folgenden Teil, der über die Hälfte des Buchs einnimmt. Er besteht vorwiegend aus Zwei- und Vierzeilern, die auf den Seiten wie versprengt aussehen. Oft reißen Gedanken unvermittelt ab. Eine Wort-Werkstatt, in der manche Silbe unbehauen liegen bleibt. Zudem finden sich Zitate, die von schwindenden Schreibkräften und Lebensgeistern künden: „Früher die ganze Flur / Dir zu Belieben, / fast eine Furche nur / ist dir geblieben.”

Schwundstufen auch ringsum: Rühmkorf schreibt mehrmals, dass Lyrik insgesamt bedroht sei, weil immer weniger Menschen die Feinheiten verstünden. Er fürchtet folgenlose Flüchtigkeit wie beim Fernsehen: „Gedichte, die den Lesenden enteilen / flott wie bei ntv die Durchlaufzeilen . . .”

Vor diesem Erwartungshorizont scheint das dichtende Ich zu verzagen. Umso erhebender, wenn es sich denn doch immer mal wieder zu funkelndem Galgenhumor aufschwingt. Beispiel:

An den Tod

Fort – fort, /
dies kann die Welt noch nicht gewesen /
und bumms zu Ende sein. /


All diese Bücher wolln ja noch gelesen /
und die Hosen aufgetragen sein.

Man könnte die sanft verzweifelten und doch ungemein standhaften „Krebsgedichte” des verstorbenen Robert Gernhardt (über seine Chemotherapien) mit diesen späten Gedichten Rühmkorfs vergleichen. Die Kunst des Reimens stand bei beiden in hoher Blüte. Sie traten gelegentlich gemeinsam auf.

Rühmkorf hält im dritten Teil des Bandes Rückschau aufs Leben. Oft milder gestimmt als ehedem, dennoch auf dem Posten. Versöhnlicher Seufzer: Er habe sich mit Anstand behauptet, sei hie und da „noch einmal davongekommen”, habe dies und das genossen. – Man liest es mit Freuden und Wehmut.

Peter Rühmkorf: „Paradiesvogelschiß”. Gedichte. Rowohlt. 140 Seiten. 19,90 €.




Paarbilder: Das Glück und seine Grenzen

Hamm. Diese Ausstellung beginnt buchstäblich mit Adam und Eva. Warum denn auch nicht? Schließlich geht es um Paare in der Kunst.

Max Beckmanns Radierung von 1917 zeigt das biblische Ur-Paar nach der Vertreibung aus dem Paradies – in schutzloser, gar nicht lustvoller Nacktheit. Es waren Zeiten des Krieges. Auch Peter August Böckstiegels Gemälde „Abschied” (1915) zeugt davon. Der Maler war soeben zum Militär einberufen worden, seine Frau schmiegt sich zum bangen Abschied noch einmal an ihn – geradezu grünlich erbleicht.

„Liebe. Love – Paare” heißt die Schau im Hammer Gustav-Lübcke-Museum; ganz so, als hätte man drei starke Wortsignale zugleich aussenden wollen. Jedenfalls stehen große Namen im Katalog, beispielsweise Emil Nolde, Edvard Munch („Eifersucht”) und Andy Warhol (Siebdruck „The Kiss”, 1963).

Signale der
sexuellen
Verfügbarkeit

Die Streifzüge durch Paarwelten führen durch sehr verschiedene seelische „Klimazonen”. Hie Max Pechsteins ungezwungene, recht freizügig erträumte Südsee-Szenerie (1921), dort Rudolf Schlichters etwas schwüle Impressionen aus der lesbischen Subkultur Berlins („Tanzlokal”, 1920). Hie George Grosz‘ sarkastische Karikaturen fetter Geldsäcke im Bordell, dort die ausgemergelten Proletarier, die ihr allzu kurzes Glück vor dem Fabriktor auskosten wollen. Selbst die größte Liebe ist gesellschaftlich mitgeprägt. Just gegen solche Zustände begehren viele Künstler im Namen der Natur auf.

Alle Fährnisse und Untiefen der (ehelichen) Verbindungen finden ihren bildlichen Ausdruck. Bei Frank Kupka („Der Traum”, 1906/1909) schwebt das Paar in schier grenzenlosen Glücksgefühlen, bei Magnus Zeller („Liebespaar”, 1919) herrscht bereits gemeinsame Alltags-Erschöpfung vor. Im ernüchterten Stil der Neuen Sachlichkeit schuf Jan Oeltjen 1927 sein „Selbstbildnis mit Elsa”. Im grellroten Kleid drängt seine Gefährtin nach vorn, er bleibt mit irritiertem Gesichtsausdruck im Hintergrund. Sie war Bildhauerin, er Maler – und sie konkurrierten beruflich. Es soll eine schwierige Ehe gewesen sein. Wer dieses Bild ansieht, kann es schmerzlich ahnen.

Spätestens seit den 1960er Jahren wachsen grundsätzliche Zweifel an haltbaren „Beziehungen” – zuerst in den seismographischen Künsten. Beim Pop-Artisten Richard Lindner gerinnt das Paar-Universum zur grellen, sexuell aufgeladenen Signalwelt der Fetische – im Zeichen allseitiger Käuflichkeit und Verfügbarkeit in der Warenwelt. Andy Warhol zeigt den Moment vor dem Kino-Kuss als Bildstörung, Roy Lichtenstein das Comic-Klischee vom Liebesweh. Jedes Gefühl ist nur indirekt vorhanden, als medial vermittelter Abklatsch.

Letzte Ausläufer der Auswahl ragen, etwa mit (Foto)-Arbeiten von Anna und Bernhard Blume oder Rosemarie Trockel, bis in die Gegenwart. Es sind vor allem mehr oder weniger ironische Inszenierungen von Zweisamkeit. Doppelbödiges, hintersinniges Spiel der Täuschungen. Aber auch verzweifelte Versuche, zu den Ursprüngen zurückzufinden. Bis dahin herrscht einstweilen viel Verwirrung. Nur eins ist gewiss: Die Sehnsucht höret nimmer auf.

„Liebe. Love – Paare”. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm (Neue Bahnhofstraße 9). Bis 1. Juni. Di-So 10-18 Uhr. Eintritt 6 €, Katalog 29,90 €.




Was die Kunst zum Klingen bringt – Arbeiten von Peter Vogel in Bergkamen

Bergkamen. Die meisten Objekte ragen schlank auf, sie wirken federleicht: Es sind filigrane Türmchen, allseits licht- und luftdurchlässig. Doch diese Skulpturen haben es in sich, denn sie stecken voller Technik.

Alles ist da fein miteinander vernetzt: Relais, Photozellen, Motoren, Schaltkreise, Widerstände, Transistoren, Magnete, Kondensatoren – und Lautsprecher, Wozu dieser ganze Aufwand? Damit Ausstellungs-Besucher am zweckfreien Spiel der Kunst ihre Freude haben – so auch jetzt in der Städtischen Galerie „sohle 1″ in Bergkamen.

Steht man nämlich vor diesen Arbeiten und wirft seinen Schatten darauf, so entwickeln sie für eine gewisse Zeit ihr Eigenleben. Das Mindeste ist, dass sie leuchten, blinken oder rotieren. Oft aber erzeugen sie auch Klänge. Jede dieser Maschinen „verhält sich“ anders, erscheint somit als Individuum. Schon seltsam, wenn der eigene Schatten solche Wirkungen hervorruft.

Der in Freiburg lebende Peter Vogel (Jahrgang 1937) befasst sich seit den 1970er Jahren mit solchen tönenden Apparaturen. Damals war Wechselwirkung zwischen Kunst und Betrachter besonders gefragt – wohl auch im Namen des Freiheitsdranges nach 1968. Auf schier alles selbst Einfluss nehmen zu können, das war eine Sehnsucht des fortschrittlichen Zeitgeistes. Allerdings: Wenn man’s bedenkt, so sind diese Kunst-Klänge vorherbestimmt. Man löst sie lediglich aus.

Bemerkenswert der Werdegang Vogels: Er ist Physiker und hat in der Hirnforschung gearbeitet, versteht also fachlich einiges von Wahrnehmungs-Mustern. Auch an frühesten Versuchen zur Computer-Graphik hatte er mit ausgeprägtem Pioniergeist Anteil. Irgendwann konnte er dann seine Leidenschaft für Kybernetik (Bewegungslehre) mit musischen Einflüssen des Elternhauses (Vater Maler, Mutter Bildhauerin) glücklich vereinen.

Im Bergkamener Obergeschoss erstreckt sich eine mehrteilige Klangwand, die man „spielen“ kann wie ein Instrument: Steht man hier, ertönt eine Trommel; geht man dorthin, setzen elektronische Bläser ein. Noch ein paar Schritte weiter gesellen sich Streicher und Keyboard hinzu. Bewegt man sich hin und her, so schwellen diese Laute wechselweise an und ab. Vogel macht sich solche Effekte zunutze, indem er gelegentlich Tänzer einsetzt, die mit ihrem rhythmischen Schattenwurf die Töne besonders virtuos hervorrufen.

Damit hätten wir also schon drei Kunstformen beieinander: Skulptur, Musik und Tanz. In solchen Grenzgebieten fühlt sich der Freiburger wohl, der schon verschiedentlich Musik-Festivals wie etwa die renommierten Donaueschinger Musiktage bereichert hat.

So ästhetisch das alles wirkt, so ausgeklügelt ist es. Der Eigenbau der Apparate verlangt hohe Präzision. Und die Beschallung richtet sie nach peniblen „Partituren“, deren Umsetzung mal an Minimal Music, mal fast an Techno-Sounds erinnert.

Schön ist’s, wenn technischer Verstand sich auf diese Art verwirklicht, indem den Spieltrieb anspricht. Fast schon eine Utopie: So harmlos, so menschenfreundlich kann Technik sein.

Peter Vogel – Licht, Klang, Bewegung. Interaktive Klangobjekte. Bergkamen, Städtische Galerie „sohle 1″ (Jahnstr. 31). Bis 25. Mai. Geöffnet Di-Fr 10-12 und 14-17, Sa 14-17, So 11-18 Uhr.

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INFOS

  • Peter Vogel wurde 1937 in Freiburg geboren, wo er auch heute lebt.
  • Nach dem Physikstudium entwickelte er medizinische Geräte.
  • Für einen Schweizer Pharma-Konzern arbeitete er von 1965 bis 1975 in der Gehirnforschung.
  • 1969 erste Experimente mit beweglichen Plastiken.
  • Seit 1975 ist Vogel freischaffender Künstler.
  • Schon länger her: Eine Werkschau zeigte 1997 das Skulpturenmuseum „Glaskasten“ in Marl.
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(Der Beitrag stand am 27. März 2008 in der „Westfälischen Rundschau“, Dortmund)




Manfred Deix: Explosion der Gemütlichkeit

Oberhausen. Drei Namen, drei Marken: Helnwein – Haderer – und Deix. Österreich hat wahrlich nicht nur einen Zeichner hervorgebracht, der menschliches Treiben mit bitterbösem Blick schildert. Und bei der Ludwig Galerie Schloss Oberhausen haben sie diese „hundsgemeinen” Kerle ganz besonders ins Herz geschlossen.

Jetzt also Manfred Deix. Er zeigt samt und sonders Typen, vor denen es einen graust. Widerliche Fleischberge, ekelhafte Visagen, geifernde Gier, abgründige Lustbarkeiten. Durch und durch vulgär geht es da zu – ja, es ist ein einziges Vulgarien. Doch Deix behauptet, er übertreibe keineswegs. Augen auf! Solche Herrschaften könnten einem tatsächlich begegnen.

Schwarzeneggers
bizarre Jugend

Der Kurator der umfangreichen Schau, Prof. Peter Pachnicke, sieht bei Deix etwas schwellend „Barockes” am Werke, während dessen Freund und Konkurrent Haderer eher für graziles Rokoko stehe. So findet jeder Cartoonist seine kulturhistorische Nische. Man muss sich abheben; erst recht in einem übersichtlichen Land wie Österreich. Trotzdem werden sie meist in einem Atemzug genannt. Künstlerschicksal.

Man fragt sich, ob Deix auch in ferneren Ländern derartige Aha-Erlebnisse auslöst. Dort dürfte die Wahrnehmung weniger detailscharf sein. Denn thematisch und typologisch quillt vieles ganz tief aus den Innereien der Alpenrepublik. Gerade mal süddeutsche Gefilde können sich direkt mitgemeint fühlen, dann aber lässt es wohl schon nach. Braucht etwa jedes Land seinen eigenen Deix?

Polit-Darsteller Österreichs sind bevorzugte Ziele des Spotts. Allen voran Figuren wie Waldheim und Haider. Doch auch ihre Anhänger, die Rassismus hinter explosiv gefährlicher Gemütlichkeit verbergen, geben geradezu apokalyptische Bilder her. Deix hat sie bis zur Kenntlichkeit entstellt. Kein Soziologe schaut so scharf hin.

Satte 238 Arbeiten summieren sich in Oberhausen zur Werkschau. Fast durchweg sind es Kleinformate. Um den Rundgang optisch zu rhythmisieren, hat man jedoch einige Motive auf nie zuvor gesehene Übergröße aufgeplustert. Namenloser Schauder, wenn die Groteske den Betrachter auch noch in solchen Dimensionen überfällt.

„Special Guest: Arnold Schwarzenegger” hieß es auf den Einladungskarten zur Oberhausener Eröffnung. Manche haben nachgefragt, ob „Arnie” vorbeischauen werde. Nicht doch! Aber Deix hat sich dem Aufstieg seines steirischen Landsmanns zum Gouverneur von Kalifiornien äußerst hartnäckig gewidmet. Er phantasiert sich in eine bizarre Kindheit und Jugend des einstigen Hollywood-Muskelprotzes und „Terminators” hinein und zeigt den Mann später auch schon mal bigott und bitterlich weinend, weil er leider, leider wieder einen Hinrichtungsbefehl unterzeichnen muss.

Abgründig auch jene Bilderreihen, auf denen ungeschlachte Erzspießer sich in unheimlicher Weise an kleinen Kindern belustigen, ja aufgeilen. Pornöse Phantasien dringen da bis in die letzten Hirnwindungen von Hintertupfingen. Fleisches-Lust als Fleisches-Ekel. Erhebt da vielleicht doch ein Moralist seinen Zeigefinger? Nein, da leidet einer am Zustand der Zeit – und spaßt das Schlimmste zornig nieder.

„Deix in the City”. Ludwig Galerie Schloss Oberhausen. Bis 8. Juni. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr. Eintritt 6,50 Euro. Zwei Kataloge: 14,90 und 17,95 Euro.

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ZUR PERSON:

  • Manfred Deix wurde 1949 in St. Pölten (Niederösterreich) geboren.
  • Im zarten Alter von etwa acht Jahren, so sagt er selbst, habe er für andere Jungs auf deren dringliches Verlangen hin nackte Frauen gezeichnet. Zum Lohn gab’s ein paar Groschen – erste Einnahmen eines Künstlers.
  • 1960 (mit elf Jahren also) brachte Deix wöchentliche Comicstrips bei einer Kirchenzeitung (!) unter.
  • Ab 1968 Kunststudium an der Wiener Akademie.
  • 1972 Erste Beiträge für Magazine. Von nun an ging es steil bergauf.
  • 1980 erstes Cartoon-Buch, dem viele weitere folgten.