Herrlich blühender Irrsinn – Junge Regie-Hoffnung: David Bösch inszeniert „Romeo und Julia“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Was sind das nur für wilde Burschen? Sie toben herum wie nicht gescheit, sie röhren Rocksongs, spielen dazu heftig Luftgitarre und brüllen („Bumm, zack, bumm“) manchmal wie aggressive Comic-Figuren.

Nun, die kampflustigen Sturm- und Drang-Kerle heißen Mercutio und Benvolio. Sie wollen ihren Freund Romeo über dessen fruchtlose Liebe zu Rosalinde hinwegtrösten und ihn zu schnellen Sex-Abenteuern mit willigeren Mädchen anstacheln. Zu dumm nur, dass dieser Romeo sich bei der nächsten Fete in eine gewisse Julia aus der feindlichen Sippe Capulet verknallt. Die tragischen Folgen sind bekannt.

Der heiße Kern der Liebesgeschichte

Sehr dynamisch und phasenweise eminent komisch legt der junge Regisseur David Bösch (Jahrgang 1978) das berühmte ShakespeareLiebesdrama „Romeo und Julia“ in Bochum an. Man nehme die eh schon etwas schnoddrige Übersetzung von Thomas Brasch, spitze sie nochmals listig zu und streiche das vielköpfige Gefolge aus den Häusern Montague und Capulet. Dann hat man den heißen Kern, und der wirkt frappierend modern. Das reimt sich nicht nur wörtlich, sondern auch als Inszenierungs-Leitlinie.

Bösch erschöpft sich nicht in Übermut und Überschwang, sondern findet dann auch zartere, bewegende Bilder für die allererste Begegnung des legendären Paares. Es ist ein urplötzliches, verrücktes Aufblühen. Geradezu physisch spürt man den Hauch ersehnter Küsse, der die beiden umweht. Auch das Kindliche, noch Ungelenke dieser blitzartigen Liebe kommt zum Ausdruck. Übrigens: Der hierbei sehr stimmig und dezent eingesetzte Pop-Song „Consequence“ ließ viele Besucher rätseln. Lösung: Die ungemein eingängige Melodie stammt vom Album „Neon Golden“ der bayerischen Gruppe „Notwist“.

Es war der Handy-Ton und nicht die Lerche

Später, in der Balkonszene, könnte es glatt heißen: Es war der Handy-Ton und nicht die Lerche. Denn ganz ohne Nachtigall führen die beiden ihre mobilen Gespräche – bis hin zum angedeuteten Telefonsex. Überhaupt lassen sich Julia (Julie Bräuning) und Romeo Johannes Zirner) zu herrlicher (und dämlicher) Unvernunft hinreißen. Ein gar schöner Irrsinn.

Derweil deutet das Szenen-Geviert mit Wasserbecken, Neonlicht-Stäben und Beton-Quadern (Bühne: Volker Hintermeier) auf scheußlichen Neureichtum hin. Kein Ort für erotische Utopien.

Gewiss: All das ergreift einen nicht zutiefst. Doch der jugendfrische, leicht ironisch getönte Zugang eröffnet Spielräume, um die altbekannte Geschichte leichten Sinnes (aber eben nicht leichtsinnig) zu entfalten. Das ist schon einiges, auch wenn’s gelegentlich noch an einer Ökonomie der Mittel mangelt. Die zwar rasanten Fechtszenen sind denn doch ein wenig zu lang geraten. Vielleicht sollen sie ja auf ungebrochene Dominanz der Männerwelt verweisen.

Am Ende bleibt ein Geisterreigen

Beachtliche Besetzung bis in die Nebenrollen hinein: Ebenso handfest-sinnlich wie empfindsam spielt Martina Eitner-Acheampong die rührend besorgte Amme der Julia. Bernd Rademacher als Julias Vater ist ein schmieriger Conferencier der Machterhaltung, in übler Kumpanei mit seinem linkischen Wunsch-Schwiegersohn Paris (Thomas Büchel). Fabian Krüger vollführt irrwitzige Bauchredner-Dialoge mit einem geknoteten Taschentuch-Püppchen; ein Kabinettstück, das freilich die Grenze zur Albernheit streift.

Das erste und letzte Wort hat der über allen stehende und doch so ratlose Prinz (Manfred Böll). Vergebens predigt er Frieden, hilflos preist er Poesie, Licht und Liebe. Am Ende kann er uns nur einen Geisterreigen zeigen: Erst im Jenseits sind alle Figuren kampflos beisammen – beim Totentanz.

Tosender Beifall für eine veritable Regie-Hoffnung und das Ensemble!

Termine: 2., 8., 15., 19., 22. und 27. November. Karten: 0234/3333-111.




Peter Rühmkorf: „Ich wollte Tag für Tag mein Ich zusammensetzen“

Den „großen Roman“ hat er nie geschrieben, als Dramatiker blieb er glücklos. Doch Peter Rühmkorf gilt vielen als wichtigster lebender Lyriker in Deutschland. Jetzt hat er – mehr als 30 Jahre „danach“ – unter dem Titel „Tabu II“ bei Rowohlt seine Tagebücher von 1970/71 vorgelegt. Es war die Zeit des beginnenden RAF-Terrors, des allmählichen Zerfalls der APO (Außerparlamentarische Opposition) – und eine Zeit, in der Rühmkorf in Hamburg eine heimliche Liebschaft hatte. Ein Gespräch mit Rühmkorf auf der Frankfurter Buchmesse.

Frage: 1970 waren Sie knapp über 40 Jahre alt, und da haben Sie etwas Erschreckendes geschrieben, nämlich dass ein Mann sich ab 40 am besten einbalsamieren lassen soll…

Peter Rühmkorf: Mh. Habe ich das wirklich geschrieben?

Nun, das genaue Wort lautete wohl „mumifizieren“. Aber Sie haben sich damals doch auch ganz schön ins Leben gestürzt: St. Pauli, die Kneipen…

Rühmkorf: Naja, einerseits war ich heimisch wie meine Katze, die in den Aufzeichnungen ja eine große Rolle spielt. Aber sie büxte manchmal aus. Und auch ich habe mich in die Welt begeben. St. Pauli hatte so einen gewissen Hautgout, dass es mich da öfter hingezogen hat. Ich war häufig mit dem Autor Hubert Fichte dort, der damals noch gelebt hat. Er kannte verschwiegenste Winkel auf St. Pauli. Damals ging es dort noch richtig familiär zu.

Jetzt wohl nicht mehr?

Rühmkorf: Heute weht da ein ganz scharfer Wind. Es gibt Bandenkriege.

Sie haben damals ein sehr junges Mädchen kennen gelernt, eine Schülerin, noch dazu Kapitänstochter.

Rühmkorf: Oh, das war eine gefährliche Partie. Mit Lolitas hatte und habe ich nichts im Sinn. Aber junge Mädchen in dem Alter, in dem die Schoten kurz vorm Platzen sind, die haben einen großen Reiz – vor allem dann, wenn man selbst so’n bisschen das Alter in die Knochen steigen fühlt.

Hatten Sie damals kein schlechtes Gewissen gegenüber Ihrer Ehefrau?

Rühmkorf: Doch, doch! Auch das hat mich an den Schreibtisch getrieben. Das wollte mit aufs Papier. Ich dachte kürzlich noch: Wenn das jetzt als Buch `rauskommt – hoffentlich lässt sie sich nicht scheiden! Als Flaneur kannte sie mich ja schon, das hat sie mit dem Mantel der Liebe zugedeckt. Aber ein festes Verhältnis in Hamburg über so lange Zeit, von dem sie absolut nichts wusste… Ich lese zu Hause nie Manuskripte vor, ich zeige immer nur Gedrucktes. Das Buch habe ich ihr mit Bibbern und Zagen in die Hand gedrückt. Aber wenn etwas gut geschrieben ist, dann überwiegt bei ihr das literarische Vergnügen. Es ist ein Pflaster für die Wunden.

Die Episode steht zunächst im Vordergrund, dann aber kommt mehr und mehr das Politische ins Spiel.

Rühmkorf: Die Außerparlamentarische Opposition hat sich damals in Gruppen und kleinste Grüppchen zersplittert. Der Zusammenhalt der Linken ging verloren. Fast wie seinerzeit in der Französischen Revolution. Aber gottseidank hatten sie 1970 keine Guillotine mehr! Man hat mich nur einige Male bei öffentlichen Veranstaltungen von der Bühne gepfiffen. Ich bin an den Rand der Linken gespült worden. Das war auch ein Motiv, dieses Tagebuch zu beginnen. Ich wollte wissen, welchen roten Faden ich in meinem Leben noch verfolgen sollte. Ich wollte mein eigenes Ich wieder zusammensetzen. Tag für Tag, aus dem Moment heraus, mit ganz knappen Skizzen.

Sie beschreiben die Baader-Meinhof-Gruppe als eine Art Tourneetheatergruppe des Terrorismus.

Rühmkorf: Ja. Damals gab es überall Mitmach-Theater, mobiles Theater, das die Menschen einbeziehen wollte. Die Schauspieler kamen von den Bühnen herunter. Alles fauler Zauber! Und Baader-Meinhof passte in die Zeit. Sie erschienen mir als das allermobilste Reise-Theater: gefälschte Pässe, Perücken, immer neue Gewänder, den Colt in der edlen Aigner-Tasche. Ein eigenartiges Spektakel, für das sich die ganze Republik interessierte…

INFO:

Am 25. Oktober 2004 wird der in Dortmund geborene Rühmkorf 75 Jahre alt. Er wird daher in diesem Herbst besonders oft gerühmt und ausgiebig veröffentlicht. Neben seinen Tagebüchern ist jetzt u.a. auch ein bebilderter Band zu seiner Biographie erschienen: „Wenn ich mal richtig ICH sag“ (Steidl Verlag).

Zur Erläuterung, weil sie indirekt im Gespräch vorkommt: Seine Frau Eva Rühmkorf war in jenen frühen 70er Jahren reformfreudige Gefängnisdirektorin und wurde später Kultusministerin von Schleswig-Holstein.

(Das Gespräch führte Bernd Berke / Der Beitrag ist in ähnlicher Form am 23. Oktober 2004 in der „Westfälischen Rundschau“ erschienen)




Magie eines Flügelschlags – Rebecca Horn in der Kunstsammlung NRW

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Hier sieht es aus wie auf einer mysteriösen Kultstätte: Ringsum stehen stumme Steine, irgendwo im Zirkel befinden sich ein Fernglas und eine fragile Schale mit tiefblauem Wasser.

Von oben her kreist, motorisch getrieben, eine lange Stange mit gefährlicher Spitze über dem Boden – bis sie auf ein aus dem Boden ragendes Gegenüber trifft. In diesem Moment steht alles still wie zum Anbeginn der Zeiten. Doch irgendwann regt sich sachte eine Schmetterlings-Figur und scheint damit die Kausalkette wieder in Gang zu setzen.

Man weiß ja, welche (un)heimliche Kraft dem Flügelschlag eines Schmetterlings zugeschrieben wird. Bewegt sich ein solch luftiges Wesen irgendwo auf Erden, so betrifft das angeblich den ganzen Kosmos. Wie dem auch sei. Die Installation der 1944 geborenen Rebecca Horn heißt jedenfalls „Circle for broken landscapes“ (Kreis für zerbrochene Landschaften) und beschwört eine mit Erwartung angefüllte Aura herauf, die auf heilsame Kräfte hinauslaufen könnte.

Die Kunstsammlung NRW (K 20) in Düsseldorf richtet der multimedial schöpferischen Rebecca Horn (es gibt auch ein filmisches Werk, und derzeit sinnt sie über ein Opern-Projekt nach) nun auf zwei Etagen die vielgliedrige Werkschau „Bodylandscapes“ (Körperlandschaften) aus, die bis in die 1960er Jahre zurückgreift.

Das gekräuselte Wasser lässt eine Schrift zittern

Eigentlich möchte K 20-Direktor Armin Zweite das Augenmerk endlich einmal auf Horns filigrane Zeichnungen richten. Die Künstlerin selbst hatte diesen Teil ihres Oeuvres wegen zahlloser Umzüge meist in Abstellräume verbannt, nach eigenem Bekunden nahezu vergessen und erst kürzlich die eigenen Schätze wieder gehoben. Also bekommt man jetzt noch niemals öffentlich gezeigte Raritäten auf Papier zu sehen. Trotz alledem: Neben den magischen Installationen verblassen die Blätter ein wenig, obwohl auch sie formal und impulsiv bezwingend sind.

Geradezu feierlich wirkt der Ablauf der Zeit bei diesen kinetischen Objekt-Versammlungen. Beispielsweise so: verdunkelter Raum. Abermals ein beweglicher Stab. Er streicht sanft über die Wasseroberfläche in einem Becken. Das Wasser kräuselt sich, eine Schrift-Projektion gerät dadurch ins Zittern. Der Gedanke an die Flüchtigkeit der Worte wird auch wachgerufen, wenn ein Goldstab in ein Aschefeld „schreibt“. All das könnte bald verwehen.

Verletzlicher Körper, bizarre Apparaturen

Die Zeichnungen, oft Ideen-Studien für spätere Performance-Auftritte, lassen Beweggründe ahnen. Es geht offenbar um schmerzliche Identitätssuche, um lange Prozesse der Ichfindung, durchwirkt mit Anwandlungen des Selbsthasses. Immer wieder wird der fragmentierte menschliche Körper, wird das waidwunde Ich an teils bizarre Apparaturen angeschlossen, also entgrenzt und anders zugerichtet.

Mal erscheint der weibliche Leib monströs wuchernd (etwa mit übergroßen Handschuhen, steilen Riesenhüten oder einer Maske aus Bleistiften), dann poetisch überhöht (mit Federkleid und Schwingen) oder in geschlechtliche Groteske getrieben: Brüste sind ein vielfach verzerrtes Leitmotiv. Neuere Zeichnungen ergehen sich im gänzlich freien Gestus, es sind seismographische Aufzeichnungen wechselnder Stimmungslagen – unter Titeln wie „Der Paradiesvogel stürzt durch mein Herz“.

Es häufen sich Verletzungs-Phantasien, Meditationen über latente Gefahr und Aggression: Eine scharfe Schere schwebt wie ein Damoklesschwert über einem Vogel-Ei; beim blitzenden Messer-Ballett treten „Liebe“ und „Hass“ gegeneinander an. Ein Endspiel mit offenem Ausgang in quälender Zeitlupe.

Kunstsammlung NRW (K 20), Düsseldorf, Grabbeplatz. Bis 9. Januar 2005. Di-Fr 10-18, Sa/So 11-18 Uhr. Eintritt 6,50 Euro, Katalog 28€.

 




Eine Sause am Abgrund – Jürgen Gosch inszeniert Ibsens „Peer Gynt“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Saisonstart im Bochumer Schauspielhaus und dann gleich mit Henrik Ibsens ausuferndem Weltendrama „Peer Gynt“ (Uraufführung 1876), das in jenen Zeiten als „nordischer Faust“ galt. Regisseur ist Jürgen Gosch, seit seiner Düsseldorfer „Sommergäste“-lnszenierung (Gorki) wieder in höchster Gunst stehend. Ganz großes Theater also?

Zunächst einmal „armes“ Theater, minimale Ausstattung: Man begnügt sich mit einem schwarzen Spielraum, einer „Black Box“ (Bühne: Johannes Schütz). Der Boden ist sandig bestreut; eine lichte Substanz, die optisch als Schnee durchgeht und in der sich Spuren des chaotischen Geschehens abzeichnen.

Als Requisiten reichen Birken-Äste

Als Requisiten reichen einige Birken-Äste, die zu allerlei Verrichtungen taugen und auch schon mal einen ganzen Wald hergeben. Häuser und Seefahrt werden imaginiert, indem sich Schauspieler-Gruppen ballen – mal in Pyramidenform, mal als von Gischt umtoster Schiffskörper. In derlei Szenen ist spontanes Impro-Theater gefragt, und die Bochumer bringen es zu gewisser Vollendung – allen voran Ernst Stötzner. Keiner chargiert so hintersinnig, brüchig und doch alltagsprall wie er.

Aus dem ohnehin etwas gestaltlosen Stück bedient man sich wie aus einer Wunderkiste. Der vierte Akt, der den ruhelos sein wahres Selbst suchenden Peer Gynt nach Afrika und ins „Tollhaus zu Kairo“ trieb, entfällt komplett. Der Rest wird, auf Basis“ einer zuweilen derb-drastischen Neuübersetzung (Jürgen Gosch und Klaus Missbach lassen nur vereinzelt Reimpaare als sprachliehe Mahnmale stehen), in Grundlinien nachskizziert.

Spürbarer Gruppengeist

Manche Sequenzen, wie etwa das bübische Herumtollen Peer Gynts mit seiner Mutter (Veronika Bayer), das dörfliche Hochzeitsfest seines Rivalen Mads Moen oder das quiekende Treiben der schweinsgesichtigen Trolle, werden mit viel kunterbunter Randale pastos ausgepinselt, so dass mancher Satz beim Spektakel der im Grunde todtraurigen Orgien untergeht. Die seelische Verwahrlosung auf dem Dorfe trägt geradezu präfaschistisehe Züge. Grellfarbige Kostüme deuten auf eine kindsköpfige Sause hin. Doch es ist Lustbarkeit am Abgrund.

Bei Gosch sind stets alle (auch die gerade nicht direkt beschäftigten) Schauspieler auf oder an der Bühne präsent, gespielt wird fast drei Stunden ohne Pause. Leitidee: Wer seine Mitstreiter ohne Unterlass agieren sieht, statt hinter der Szene seinen Einsatz abzuwarten, nimmt Energiefluss auf. Tatsächlich wird bei den nur 12 Darstellern ein Gruppengeist spürbar, der über allem waltet und rasante. Rollenwechsel gleitend leicht wirken lässt.

Knallbunt lärmend geht’s also im schwarzen Kasten meist zu. Als graue, gleichsam erst noch einzufärbende Gestalt tobt, kobolzt, wankt und taumelt Peer Gynt (Oliver Stokowski) durch die Welt, doch stets mogelt er sich ums Wesentliche herum. Der verarmte Sohn eines Säufers verausgabt sich schier atemlos als Draufgänger, schamloser Lügner, Größenwahnsinniger, Außenseiter, Verbannter, Vogelfreier. Die ganze Skala hinab.

Da hilft kein Psycho-Jargon

Stokowski stürzt sich koppheister ins Gewoge. Eben noch quatschselig berlinernd, stimmt er im Nu eine verbale Bravour-Arie an, vollführt Eisläufer-Sprünge oder sonstwas Wildes. Da gerät einer bei der Ich-Suche ins Rotieren; einer, der rabiat mit „Weibern“ umspringt, letztlich aber nicht faustisch auf Weltbeherrschung aus ist, sondern tiefes Ungenügen am Irdischen durchleidet – vielleicht ein Verwandter von Büchners „Lenz“.

Herzlich wenig nützt bei all dem ein pseudo-psychologischer Jargon der Verständigung, der hier mehrfach parodiert wird. Mit einem windelweichen „Gut, dass wir drüber geredet haben“ ist es nicht getan. Auch fromme Choräle reichen nicht hin. Hier hilft nur dies: reinste Liebe, Glaube, Hoffnung. Solche biblischen Grundwerte verkörpert scheu und leise die Zuwanderer-Tochter Solveig (Catherine Seifert), die ein Leben lang treulich auf Peer Gynt wartet. Am Ende darf er im Schoße dieser immer noch mädchenhaften Allmutter ruhen.

Also doch noch ein Traumspiel, eine irrsinnige Fügung, wider alle Vernunft! Und gerade deshalb so ergreifend.

Nächste Termine: 3., 10., 29. Okt. Karten: 0234/3333-111.




Auf der Nachtseite des Begehrens – Jane Campions Film „In the Cut“ mit Meg Ryan

Von Bernd Berke

Nervös irrt die Kamera umher und tastet die Oberflächen-Phänomene des New Yorker Straßenlebens ab. Zwei Energieströme spürt sie auf: Hier scheint alles unterschwellig gefährlich zu sein, doch auch erotisch aufgeladen. Die Haut all dieser vielen Menschen giert nach Berührung, aber zugleich ist sie höchst verletzlich.

Aus dieser Mixtur destilliert die zu einigem Ruhm gelangte neuseeländische Regisseurin Jane Campion („Das Piano“) knisternde Spannungswerte: Ihr Film „In the Cut“ gerät zum Thriller in der Tradition der „Schwarzen Serie“, zum verschatteten Spiegelkabinett heutiger Liebesverhältnisse.

Eine verräterische Tätowierung

Frannie Avery (hier eher melancholisch, also gegen ihr bisheriges, eher patent-biederes Spektrum besetzt: Meg Ryan) ist eine erfolgreiche Mittdreißigerin. Sie lehrt Literatur und verdingt sich als Autorin. Privates Glück ist freilich nicht in Sicht, es drohen Depressionen. Letztlich sehnt sie sich nach Verlobung, Hochzeit, Kindersegen. Doch gegen derlei Träume setzt Jane Campion das Sündenbabel New York: „Sex and the City“, von der Nachtseite her gesehen.

Hier, so suggeriert der Film, wird die Frau in erster Linie zum Lustobjekt der Männerwelt. Es überwiegt der schnelle, rohe Sex. Etwa so: Eines Abends sieht Frannie in einer schummrigen Bar, wie eine Frau mit blau lackierten Fingernägeln einen tätowierten Typen oral befriedigt. Die unfreiwillige Beobachterin ist angewidert, doch auch seltsam fasziniert.

Anderntags wird jene Frau ermordet und zerstückelt aufgefunden. Einige Körperteile liegen vor dem Haus, in dem Frannie wohnt. Also bekommt sie Besuch von einem „Bullen“ namens Malloy (smart mit neurotischem Einschlag: Mark Ruffalo), der die Sache untersucht – und exakt jene Tätowierung auf dem Handrücken trägt!

Energieströme aus Gefahr und Erotik

Frannie wittert Gefahr. Zugleich fühlt sie sich von dem Macho sexuell ungemein angezogen. Malloy erweist sich denn auch als „Könner“ zwischen den Laken. Ihr schwant: Vielleicht reicht Zartsinn ja nicht aus, um sexuelle Gipfel zu erklimmen?

Sie verliert also im übertragenen Sinne den Kopf – und könnte ihn bald buchstäblich verlieren. Denn nun beginnt ein riskantes Spiel um Begehren, Erlösungswünsche und Auslöschung.

Dantes „Inferno“ in der New Yorker U-Bahn

Der Frauenkiller macht weiter und bringt auch Frannies verzweifelt lebensgierige Halbschwester um. Er könnte gar wissen, wo Frannie wohnt. Denn die wird von einem Maskierten überfallen und ihrer Papiere beraubt. Derweil findet die Literatin überall passende Texte für ihren Gemütszustand; so etwa, wenn Zeilen aus Dantes „Inferno“ auf einem U-Bahn-Plakat prangen.

Alle Männer, die hier samt und sonders irgendwann verdächtig werden, haben auch sanftere Seiten. Ein manchmal brav, dann wieder bedrohlich wirkender farbiger Student verpasst Frannie unversehens einen galanten Handkuss – ein Zeichen wie aus einer anderen, ritterlichen Welt. Und ein Kerl, der oft recht rüde schwafelt, sich aber auch mit Signalen kultivierten Lebens umgibt, benimmt sich am Ende besonders seltsam…

 




Wenn das Böse einmal in der Welt ist – Pedro Almodóvars Film „La mala educación“ (Die schlechte Erziehung)

Von Bernd Berke

Kommt nach vielen Jahren ein alter Schulkumpel vorbei und sagt mal wieder „Hallo“. Man erkennt ihn kaum noch. Eine Überraschung, aber keine umwerfende. Freilich: Beim spanischen Kult-Filmemacher Pedro Almodóvar erwächst daraus in „La mala educadión“ (Die schlechte Erziehung) eine abgründige Geschichte.

Dieser Ignacio, der da unversehens auftaucht, ist angeblich Schauspieler geworden und begehrt gleich eine Kino-Rolle von seinem Schulfreund Enrique, mittlerweile ein bekannter Filmregisseur.

Freund? Beileibe nicht nur. Denn als Zöglinge eines erzkatholischen Internats waren die beiden einst heftig ineinander verliebt. Dies wird wieder aufgewühlt, als Enrique nun ein Manuskript liest, das Ignacio aus der Tasche gezogen hat: Die Erzählung „Der Besuch“ (und somit auch Almodóvars Film) führt zurück in jene Schulzeit.

Pater Manolos verderbliches Wirken

Diese Erzählung schildert, wie Pater Manolo, ihr heimlich auf Knaben versessener Literaturlehrer, die beiden Jungs rabiat voneinander getrennt hat, um den kleinen Ignacio innerlich bebend anhimmeln zu können. Daraus quellen hier Ur-Szenen des Bösen, mit denen das Leben aller Beteiligten ein für allemal vergiftet wird, als sei der Teufel am Werk.

Fortan liegt auf ihren Biographien buchstäblich kein Segen mehr. Denn damals haben die Jungen und letztlich auch der Geistliche (der denn auch später Buchverlegen wird) ihren Glauben an Gott verloren. Und nun entfaltet sich das, was einst schon der Großdichter Dostojewski erkannte: Wenn Gott tot ist, dann ist – philosophisch betrachtet – „alles erlaubt“. Lüge, Treulosigkeit, Mord. Almodóvar häuft Fragen auf diesen Befund: Wie weit kann man unter solchen Umständen gehen, was kann man selbst ertragen? Aber auch, etwas konkreter: Ist Enriques Besucher wirklich der Ignacio von damals?

Strammstehen oder Liebliches singen

Zwischen die für Almodóvar typischen Bonbonfarben, die nur vage konturierten Identitäten, die gleitenden Rollenwechsel und Geschlechter-Travestien sickert also einige Düsternis und Schwärze. Dass die Kirche im Schatten des Diktators Franco viel Unheil angerichtet hat, bildet einen straffen Themenstrang des spanischen Kinos (Buñuel, Saura), an den hier angeknüpft wird.

Die Jungs müssen vor den Patres entweder stramm exerzieren (Liegestütz) oder ihnen etwas Liebliches vorsingen. Klebrig genug. Doch solche Kleriker sind nicht das einzige Problem. Das Verhängnis zeigt sich hier abermals allgemeiner, existenzieller, es dringt in alle Ritzen und zeugt sich fort.

Das dunkle Kino als Zufluchtsort

Regisseur Enrique, in mancher Hinsicht wohl eine Art Selbstbildnis Almodóvars, überwindet seine anfängliche Schaffenskrise, indem er den Ignacio-Erzählstoff mit der Kamera erkundet. Also wird auch noch eine irrlichternde Film-im-Film-Studie darüber geliefert, welche Wahrheit(en) das Kino nur umkreisen und welche es vielleicht ergründen kann. In mehreren Szenen und Zusammenhängen erscheint Hier der dunkle Kinosaal als Zuflucht für jene Stunden, in denen man die Wirklichkeit gar nicht mehr aushält. Wahrlich ein unstet flimmernder Trost.

 




Die Zerlegung der sichtbaren Welt – Ausstellung zum Medienkunstpreis „Nam June Paik Award“ in der Dortmunder Phoenixhalle

Von Bernd Berke

Dortmund. Welch ein famoser „Spielort“ für die Künste! Die Phoenixhalle auf dem früheren Hoesch-Stahlwerksgelände erweist sich jetzt mit der Schau zum „Nam June Paik Award“ erneut als Stätte, zu der man pilgern sollte. Wenn der Weg dorthin nur etwas besser ausgeschildert wäre…

Im Namen des berühmten koreanischen Videokünstlers Nam June Paik lobt die Kulturstiftung NRW (Präsidentin: Ilse Brusis) zum zweiten Male ihren Preis für Medienkunst aus – just auf dem Felde also, wo Dortmund neue Schwer- und Glanzpunkte setzen will. Es war folgerichtig, mit der Schau der nominierten Künstler diesmal hierher zu kommen.

Hochkarätige, weitläufig besetzte Jurys gingen und gehen für Dortmund ans Werk: Die Vorauswahl ist bereits erfolgt, am 13. Oktober (19 Uhr) wird der Preis vergeben. Chefsache: NRW-Minister Präsident Peer Steinbrück wird die mit 25.000 Euro dotierte Auszeichnung überreichen. Außerdem gibt’s einen mit 15.000 Euro ausgestalten Förderpreis.

Die Weltelite des Genres ins Land holen

Nun werden in der Phoenixhalle die Arbeiten der verbliebenen Kandidaten auf die Probe gestellt. Die Künstler kommen aus etlichen Ecken der Welt: Brasilien, Japan, Ungarn, Libanon, Kanada, USA. Man will eben keine NRW-Nabelschau betreiben, sondern eine Elite des Genres ins Land holen.

Erster flüchtiger Eindruck: allseits Geflacker und Getösse. Doch im Sog mancher Installation kann man auch auf meditative Spuren geraten.

Namensgeber Paik (lange in Düsseldorf, heute in den USA lebend) empfängt die Besucher mit seiner runden Wunderscheibe „Mercury“: Zwölf simultane Videosequenzen stimmen darauf ein, dass diese einst von ihm angestoßene, längst ungemein vielfältig gewordene Kunstgattung gern die sichtbare Welt zerlegt und auf ungeahnte Arten anders zusammensetzt; gelegentlich so, dass einem zunächst Hören und Sehen vergeht. Auf dass man dann die Wahrnehmung neu sortiere.

Album des Lebens mit 150.000 Bildern

Beispiel: das Duo „exonemo“ (Kensuke Sembo, Yae Akaiwa). Bei ihrer Arbeit kann man Hand anlegen und das Video-Bildergewitter steigern oder drosseln. Die zufallsgesteuerte optische Mixtur erinnert ans Verfahren jener DJs, die Ähnliches mit Tönen veranstalten. Und es entstehen rasante Kombinationen – so etwa ein Flugzeug, das durchs Wohnzimmer zu sausen scheint.

Ungleich ruhiger geht’s bei den Brasilianern Angela Detanico und Rafael Lain zu: Video-Aufnahmen von einer Bootsreise im Mekong-Delta (Vietnam) wurden aufwendig durch die Pixel-Mühle gedreht und erscheinen „nur noch“ als Farbstreifen, dazu kommen asiatische Klänge aus einem Kofferradio. Staunenswert: Nach und nach erahnt man in der scheinbar totalen Abstraktion die Stimmung der Tageszeiten oder Wasser-Bewegungen.

Irritierendes Raumerlebnis: Szabolcs KissPál (Ungarn) zeigt auf einer Großleinwand schlicht den Himmel und Vögel, die pfeilschnell durchs Bild kreuzen. Lucien Samaha blättert gar ein digitales Album seines Lebens auf, mit bislang 150 000 Elementen – vom abgelichteten Essenste bis zur schritte Fete. Samaha bleibt zudem selbst in der Schau, um mit Besuchern zu reden. Viel Gesprächsstoff!

Phoenixhalle Dortmund, Ortsteil Hörde, Ecke Rombergstraße / Hochofenstraße). 4. Sept. bis 7. Nov. Di und Do bis So 11-20, Mi 11-17 Uhr. Katalog 15 Euro.




Wer das große Nichts umkreist – Lars Gustafssons philosophischer Thriller „Der Dekan“

Von Bernd Berke

Manche Klappentexter aus Buchverlagen sollte man etwas zügeln. „Lars Gustafssons bester Roman“ – so wird „Der Dekan“ auf dem Einband angekündigt. Waren also alle bisherigen Bücher schlechter? Und: Welche volltönende Anpreisung gibt’s denn beim nächsten Werk?

Schwamm drüber. Jetzt geht es erst einmal um diesen „Roman“, der das Genre-Etikett nicht so recht einlöst. Denn es sind fragmentarisehe, ja streckenweise fetzenhafte Aufzeichnungen, mit denen uns der seit vielen Jahren in Austin/Texas lebende, für sein bisheriges Werk verehrungswürdige Schwede konfrontiert. Hinzu kommt ein alter Literaten-Trick: Die Texte werden als gerettete, teilweise beschädigte Überbleibsel „aus Spencer C. Spencers Papieren“ ausgegeben.

Zu allem Überfluss herrscht Konfusion beim fiktiven Urheber. Immer wieder betont dieser Spencer, dass er gar nicht mehr wisse, wo anfangen und aufhören mit seinen Aufzeichnungen. Kurzum: Das Ganze fasert dermaßen aus, dass man vor manchen Rätseln steht. Vor welcher schrecklichen Erfahrung ist Spencer in eine Pension am Rande der Wüste geflohen?

Rätsel und Mysterien zuhauf

Bis dahin war er jedenfalls Philosophie-Professor just in Austin – und zuletzt rechte Hand des mächtigen Dekans der Fakultät. Um Letzteren werden nun einige Mysterien gewoben: Er ist an den Rollstuhl gefesselt, scheint aber allgegenwärtig (und allwissend) zu sein. Doch immer, wenn’s konkreter werden könnte, verlieren sich die Spuren, weil Spencers Manuskript beschädigt ist, mittendrin abbricht – und überhaupt, weil alles unbegreiflich zu sein scheint.

Sodann kommen dunkle schamanistische Praktiken ins (vor allem gedankliche) Spiel, mitsamt bewusstseinserweiternden Rausch-Pilzen. Der Dekan scheint in irgend einer geheimen Verbindung zu derlei Dingen zu stehen. Doch nichts Genaues weiß man nicht. Immerhin erfahren wir, dass der Dekan früher im Vietnamkrieg gekämpft hat – auf mörderischste Art. Nun also philosophiert er mit Spencer zuweilen stundenlang über das Gute und Böse, Gott und die Welt, Hölle und Paradies. Auch von einem faustischen Pakt ist irgendwann die Rede, den ein Fußballtrainer mit dem Teufel schließt, damit sein Team endlich mal gewinnt. Wenn Goethe das geahnt hätte!

Gustafsson umkreist in seiner wildwüchsigen Kreuzung aus Campus-Geschichte und Philosophie-Thriller das große Nichts und die umfassende Leere. Sowohl die Mathematik (Erfindung des „Null“-Wertes) als auch die Natur werden zu Zeugen aufgerufen, dass solche Leere gleichsam der Normalfall des Daseins sei. Ein nahezu nihilistischer Zustand, in dem dann fast alles möglich ist…

Zwischen Spannung und Düpierung

Auf anderer Ebene geht es um steinreiche Mogule der Technologie-Branche, die in Marmor-Palästen göttergleich auf den Bergen thronen. Einer von ihnen ist Spencers Cousin Derek, der seinem Verwandten einst keinen Cent fürs Studium leihen mochte und ihm hernach die Geliebte ausspannte. Den Kerl müsste man beseitigen, denkt Spencer. Und auch der Dekan hat einen solchen Feind. Vielleicht helfen ja schamanistische Mittel?

Gustafsson lässt die drohende Leere auch formal fühlbar werden. Man mag ihm diesmal nicht durch alle Windungen willig folgen, eben weil sie vielfach ins frustrierende Nichts führen. Doch man bleibt, obwohl öfters ins Vakuum geleitet, bis zur letzten Zeile dabei – geradewegs zwischen Spannung und Düpierung.

Lars Gustafsson: „Der Dekan“. Roman. Hanser Verlag. 190 Seiten. 17,90 Euro.




Eine Frau zwischen Sein und Nichtsein – Jacques Rivettes Film „Die Geschichte von Marie und Julien“

Von Bernd Berke

Jetzt bitte die Denkerstirn in Falten legen, denn im neuen Film von Jacques Rivette geht es schier um alles: Liebe, Tod, Zeitlichkeit und Erlösung; noch dazu jeweils um deren Gegensätze (also Hass, Leben, Ewigkeit, Verdammnis). Und um die Galaxien dazwischen. Man könnte ins Grübeln kommen über diesen reichen, brokatschweren Stoff.

Doch er wird ja gar nicht abstrakt verhandelt, sondern (auch im Sinne einer fast religiösen Inkarnation) wahrhaft fleischlich verkörpert. Über 150 Minuten erzählt Rivette ausgiebig „Die Geschichte von Marie und Julien“. Gelegentlich gibt er sich den Anschein eines kaltblütigen Beobachters. Doch es häufen sich Geheimnisse ohnegleichen, und am Ende steht man fast ehrfürchtig vor einem Mysterium der Liebe.

Marie und Julien begegnen einander anfangs gleich zweimal. Eine unterkühlte Szene bricht ab, die zweite zeigt ein Treffen mit wärmeren Gefühls-Valeurs. Aus derlei rätselhaften Perspektivenwechseln wird der Zuschauer nicht mehr entlassen.

Verschattetes Wesen aus einer anderen Sphäre

Julien (Jerzy Radziwilowicz) repariert, eingesponnen in seine einsame Wohnung, Teile von Turmuhren, deren Zahnräderwerke wie Folterinstrumente wirken. Vom Leben erwartet dieser traurige, etwas schwerfällige „Diener der Zeit“ nicht mehr viel. Seine Tage verrinnen bei tickenden Uhr-Geräuschen in verdunkelten Räumen. Nur eine Katze lebt bei ihm. Sie heißt „Nevermore“ – wie der Rabe in Poes berühmtem Gedicht und somit bereits Beschwörung düsterer Grenzwelten.

Erst die seltsam herkunfts- und berufslose Marie weckt Julien aus seiner Melancholie. Die ebenso animalische wie auratische Emmanuelle Béart (die mit Rivette schon „Die schöne Querulantin“ drehte) ist hier mal lockende Sirene, mal unbehaust Flüchtende, mal ganz Alltagsweib oder kapriziöse Geliebte, dann wieder schutzbedürftige Kindfrau, die sich in embryonale Haltungen zurückzieht. Vor allem aber ist sie ein seltsam verschattetes Wesen wie aus einer anderen Sphäre.

Kein Blut nach Verletzungen

Warum wirkt sie zuweilen so abwesend? Warum baut sie, als sie bei Julien einzieht, eine Dachkammer so penibel um? Weiß sie überhaupt selbst, was sie da tut? Oder ist alles nur ein Traum?

Weitere Handlungsebene, gleichfalls mit Rätseln angefüllt: Ohne sonderliche Lust oder kriminelle Energie erpresst Julien eine Frau, die als „Madame X“ (Anne Brochet) firmiert und der er mit Dokumenten schaden kann. Denn sie verkauft vermeintlich „antike“ Seide mit gefälschten Zertifikaten und soll überdies ihre Schwester in den Tod getrieben haben. Letztere geistert fortan als bleiche Wiedergängerin durch die Handlung. Diese junge Frau wiederum scheint in der selben gespenstischen Zwischenzone zu wandeln wie Marie, die (wie Julien herausfindet) sich einst aus Liebeskummer erhängt haben soll und nun nach Verletzungen nicht einmal blutet.

Zutiefst verwirrend, ja hirnzerstäubend: Julien hat vielleicht all die Zeit mit einer Untoten geschlafen, die durch seine Liebe „erlöst“ werden wollte. Die innigen Rituale des Eros mit all ihren VerIetzungs-Phantasien waren also womöglich Übergange zum Tode. Eine derart porös gewordene „Wirklichkeit“ könnte sich nun in eine endlose Warteschleife der Ungewissheit einfädeln. Doch den Schluss, der eine verrückte, geradezu jenseitige Hoffnung leuchten lässt, sollte man nicht verraten.

Ein ungemein vielschichtiger, irrlichternder Film zwisehen Sein und Nichtsein.




Der Krebs und der Krieg – Robert Gernhardts erschütternde „K-Gedichte“

Von Bernd Berke

Robert Gernhardts „K-Gedichte“ sind ein erschütterndes Buch. Vor allem dann, wenn man weiß, wie der Autor bisher geschrieben hat. Denn Gernhardt hatte bislang eigentlich noch jedem Thema tröstende Komik abgewonnen oder notfalls abgerungen. Nun aber geht es an die Reserven des Lebens.

Gewiss: Schon 1996 hatte Gernhardt, Kopf der „Neuen Frankfurter Schule“ des parodistischen Humors, Moll-Töne anstimmen müssen. Seinerzeit war er ernstlich herzkrank und musste sich einem Eingriff unterziehen. Schon die daraus geronnenen „Herzgedichte“ führten Klage gegen körperliche Unbill.

Jetzt kommt es noch schmerzlicher. Gernhardt ist an Krebs erkrankt und durch die Vorhölle langwieriger Chemotherapien gegangen. Töricht wäre es zu sagen, man konnte sein Leiden in ganzer Tragweite mitempfinden. Wer solches nicht am eigenen Leibe erlitten hat, bleibt weit außen vor.

Doch Gernhardts „K-Gedichte“ nehmen einen ziemlich mit. Das „K“ steht in diesem Band für Krebs und Krieg, nur sehr bedingt für eine Komik der Hinfälligkeit. In Teil eins geht es um die Krankheit, in Teil zwei um den Krieg im Irak.

Kampf um den Körper, wuchernde Schlachten

Dabei verschränken sich mitunter die Bereiche: Der Kampf gegen den drohenden körperlichen Verfall gleicht einem furchtbaren Krieg, die Schlachten im Nahen Osten wiederum wuchern wie ein Geschwür, doch eben nicht naturwüchsig, sondern willentlich von Menschen herbeigeführt. Das Gedicht „5. Mal. Beginn der Chemo“ blendet beides ineinander:

„Krebskrieger fängt sein Tagwerk an: / Auf denn, Chemie! Heut heißt es: Ran!

Krebskriegerweiß, daß unterliegt, /wer Krebs nur kriegt und nicht bekriegt.

Krebskrieger muß aufs Ganze gehn. / Er stellt die Frage: Wer packt wen?

Packt Mann den Krebs? Packt Krebs den Mann? / Krebskrieger fängt sein Kriegswerk an.“

Da lauert schon Resignation, sie überwiegt aber noch nicht. An anderer Stelle heißt es allerdings:

„Dürrer werden, matter werden / Abschied nehmen von der Erden, / nach und nach – zuerst vom Kiez. / dann vom Heim, dann vom Hospiz, / dann, zum Sterben durchgewunken…“

Man könnte einwenden, der Reim mindere die Wirkung. Doch bei Gernhardt ist just das Gegenteil der Fall. Derlei Abgründe, nahezu heiter vorgetragen etwa im Tonfall eines Wilhelm Busch (letztlich aber immer in Gernhardts ureigener Melodie), klaffen umso tiefer. Zuweilen erinnern die Verse an barocke Vergänglichkeits-Lyrik.

Das Tröstliche herbeizitiert

Zur Abwehr des Schrecklichen beschwört Gernhardt einiges herauf – die Schönheit Italiens, die Freuden des Lebens; auch Hund und Katze, die keine leutseligen Genesungswünsche absondern, sondern trostreich da sind. Doch all das schmeckt schal, so lange der Krebs nicht „besiegt“ ist. So mündet der Zyklus in einen dringlichen Appell, zur Krebsvorsorge-Untersuchung zu gehen – Zeilen, die in jeder Arztpraxis hängen könnten.

Die Kriegs-Gedichte, gehalten in der altehrwürdigen Form des Sonetts, sind wohl eine nur allzu verständliche Anstrengung, sich nicht allein aufs persönliche Leiden zurückwerfen zu lassen. Mit Furor wird das Amerika von George W. Bush als kriegstreiberisch gebrandmarkt, worüber sich reden lässt. Problematisch wird es, wenn Gernhardt das Geschehen in die NS-Nachbarschaft rückt („Sternbanner hoch! Kampfhelme gut verschlossen! / USA marschiern mit heißem Jünglingstritt…). Das ist denn doch eine ziemlich verwegene Zuspitzung.

Robert Gernhardt: „Die K-Gedichte“. S. Fischer Verlag. 102 Seiten. 14 Euro.




Die Treue des Verführers – Peter Handkes Buch „Don Juan (von ihm selbst erzählt)“

Von Bernd Berke

Hier steht etwas, worüber sich Feministinnen ärgern dürften, nämlich ein Zitat über offenkundig devote Damen: „Ihn, Don Juan,…betrachteten jene Frauen als ihren Herrn, den alleinigen, auf immer…“

Der alte Mythos des Frauenverführers Don Juan lebt also wieder auf, unverfrorener denn je? Nicht doch! Peter Handke, der die legendäre Figur erscheinen lässt, meint „Herr“ ausdrücklich nicht im Sinne von „Gebieter“.

Überdies hegt der Autor ein eher keusches Verständnis von Verführung. Vom Körperlichen ist in seinem neuen Buch „Don Juan (erzählt von ihm selbst)“ nur im Vorübergehen die Rede, buchstäblich en passant: Dieser Don Juan ist ein Vagabund. Eines Tages aber sitzt er unvermittelt in Haus und Garten des namenlosen Ich-Erzählers auf der Île de-France (weit vor den Toren von Paris), lässt sich bewirten und erzählt dafür just eine Woche lang seine Erlebnisse der vorherigen sieben Tage. Der Gastgeber erweist sich als gutgläubiger Zuhörer.

Es herrschen Eigenmaß und Eigenzeit

Handke setzt Stunden und Orte nach Gutdünken, hier herrschen Eigenmaß und Eigenzeit. In sieben Ländern, so die Geschichte, sei Don Juan in jenen sieben Tagen gewesen – die immense Strecke reicht von Georgien über Syrien und die nordafrikanische Enklave Ceüta bis nach Holland und Norwegen. Und überall hat Don Juan je eine bestürzend einsame, doch wunderschöne Frau so besonders angeschaut, dass sie ihm gleich verfallen ist. Sein Blick weckte ihr Begehren. Er selbst nennt diese Phase füglich seine „Frauenzeit“. Don Juans Diener lieferte derweil die Farce, indem er sich jeweils die hässlichsten Frauen aussuchte und sie halb lüstern, halb widerstrebend herzte.

Um Sexualität geht es bei Handke allenfalls unterschwellig, auch wenn da anfangs ein Geschlechtsakt in freier Natur zelebriert wird. Doch sein Don Juan ist auf anderes aus: auf den heiligen, alles umfassenden Eros, auf eine innere „Bewegung“, die den ganzen Leib und Geist ergreift, kurzum auf Erweiterung des Bewusstseins, das sich öffnet für die reine Wahrnehmung der vollen Welt.

Belagert von Amazonen

Don Juans karge Berichte, die so vieles aussparen, ziehen gleichwohl den Ich-Erzähler des Buches in Bann. Als gegen Ende die versammelten Frauen sein Refugium bedrohlich wie Amazonen belagern, blüht seine Hoffnung aufbessere Tage: „Sogar ich, der, was Frauen anging, mich längst als ausgezählt ansah, dachte… auf der Stelle: / ,Zählt mich neu dazu.‘ Mit diesen Frauen da war noch etwas zu erleben – Gott weiß was.“

Auch dabei geht’s wohl nicht um Orgien. Zitat: „Ich kann es bezeugen: Don Juan ist ein anderer. Ich sah ihn als einen, der treu war – die Treue in Person.“ Doch wem ist er treu? Sich selbst? Einer Vielzahl von Frauen? Seiner untröstlichen Traurigkeit, allen Frauen zum Trotz? Der Leser darf es für sich entscheiden.

Vergleichsweise heitere Prosa

Zwischendurch gerät Don Juan in arge Verwirrung und krankhaften Zählzwang, er wird im rein zeitlichen und mitmenschlichen Sinne „taktlos“. Doch das gibt sich. Wie dies denn überhaupt eine vergleichsweise heitere Handke-Prosa ist.

Der Autor bekräftigt Visionen und Erleuchtungen mit allemal sorgsam abgewogenen Worten, zudem mit allerlei Doppelungs-Formeln wie „noch und noch“ oder gar „gelbgelb“, wenn es denn unvergleichlich gelb sein soll.

Dringlich wirkt diese Erzählweise, doch oft auch wunderbar entspannt wie ein langes Mantra. Es macht tatsächlich Lust aufs Unterwegssein, auf Ruhe im steten Wandel – und noch auf manches mehr…

Peter Handke: „Don Juan (von ihm selbst erzählt)“. Suhrkamp. 159 Seiten; 16,80 Euro.




Das Glühen der ganzen Welt – Wuppertaler Kandinsky-Schau für viele Bilder eine Deutschland-Premiere

Von Bernd Berke

Wuppertal. Manchmal fragt man sich, wie die Leiterin Sabine Fehlemann es schafft, im Von der Heydt-Museum beinahe Schlag auf Schlag beachtliche Ausstellungen zu zeigen. Sie selbst hat darauf eine plausible Antwort: Die gut ausgestattete Brennscheidt-Stiftung, die ihrem Haus zuteil wurde, sorgt für komfortable Bedingungen.

Fehlemann: „Der städtische Ausstellungs-Etat ist bei Null angelangt, doch aus den Stiftungsmitteln fließen Jahr für Jahr 250.000 Euro.“ Rundum in der Region dürfte leiser Neid aufkommen, denn mit dem Betrag lässt sich einiges anfangen, was andernorts unmöglich ist.

Neuester Wuppertaler Coup (in Kooperation mit dem Wiener Kunstforum) ist jetzt eine Schau mit Werken von Wassily Kandinsky (1866-1944). Der in Moskau als Sohn eines Teehändlers geborene Künstler, „nebenher“ studierter Jurist, gilt als Pionier der Abstraktion.

Aus Provinzmuseen der früheren Sowjetunion

Über 60 Gemälde, Aquarelle, Holzschnitte und Zeichnungen werden chronologisch präsentiert. Die Exponate stammen vorwiegend aus Provinzmuseen der ehemaligen Sowjetunion (Ekaterinburg, Eriwan, Kasan, Krasnodar, Omsk, Nishni Nowgorod). Etliche Werke waren noch nie in Deutschland zu sehen. Und die kläglich darbenden Institute die fälligen Leihgebühren gewiss gebrauchen.

Das Spektrum beginnt mit Arbeiten um 1900, Landschaften und Stadtansichten zumeist, die noch ganz gegenständlich und recht realistisch erscheinen. Daneben werden Motive aus Märchen, russischer Volkskunst und Volksfrömmigkeit als Inspirationsquellen erkennbar. Sie führten Kandinsky bereits zu einer flächigen, farbbetonten Darstellung.

Der Abschied vom Abbild lag seinerzeit ohnehin „in der Luft“, Doch wohl niemand hat ihn rascher, entschiedener und fiebriger vollzogen als Kandinsky. Um 1908 schwellen die Farbklänge in seinen Bildern machtvoll an. Strahlend gelbe oder lodernd rote Häuser in München bzw. im bayerischen Dörfchen Murnau (wo er mit seiner damaligen Gefährtin Gabriele Münter lebte) setzen fulminante Akkorde. Alsbald ist Kandinsky sozusagen bei einem Glühen der ganzen Welt angekommen. Sommerliche Wiesen etwa wirken wie entflammt.

So und nicht anders hat es wohl werden müssen

In den folgenden Jahren lösen sich solche Farbkompositionen und Improvisationen (bezeichnend, dass man hier gern in musikalischen Begriffen redet) vollends vom Gegenständlichen. Die Genese der Bilder gerät gleichsam zum zweiten, spirituell geleiteten „Schöpfungsakt“, somit zu einer Art Ersatzreligion, die Kandinsky auch in pathetischen Texten zelebrierte. Unvergleichlich jedenfalls seine Art, gänzlich freie und spontane Formfindungen hochkonzentriert auf Papier oder Leinwand zu bannen.

Anhand der „Komposition VII“ lässt sich in Wuppertal der Schaffensprozess nachvollziehen. Vier aufschlussreiche Fotografien (im November 1913 von Gabriele Münter aufgenommen) dokumentieren den rasanten Fortschritt des Bildes, das binnen vier Tagen entstanden ist. Das Gemälde blüht daneben üppig auf, und man ahnt: So und nicht anders hat es wohl werden müssen.

Die Ausstellung setzt im Jahre 1921 den Schlusspunkt. 1922 kehrte Kandinsky, der Deutschland im Ersten Weltkrieg verlassen hatte (und später der Russischen Revolution als Kunst-Experte diente), nach Berlin, Weimar und Dessau zurück. Diese Zeit als Lehrer am ruhmreichen Bauhaus wäre wieder ein ganz anderes Kapitel. Es endete 1933 abrupt, als Kandinsky vor den Nazis nach Frankreich flüchtete.

Wassily Kandinsky: „Der Klang der Farbe (1900-1921). Wuppertal, Von der Heydt-Museum, Turmhof 8. Vom 1. August bis zum 19. September. Katalog 29 Euro.




Schmerzliches Wunder einer Liebe – „Before Sunset“ mit Julie Delpy und Ethan Hawke

Von Bernd Berke

Ohne Rückblick gehts hier nicht: Vor genau neun Jahren brachte Richard Linklater seinen Film „Before Sunrise“ (Vor Sonnenaufgang) heraus. Damals lernten sich die Französin Celine und der Amerikaner Jesse kennen. Sie verlebten in Wien nur einen einzigen, jedoch himmlischen Tag miteinander.

Dann aber, so die Legende, haben sie einander just neun Jahre lang aus den Augen verloren. Nach dieser Distanz setzt nun Linklaters Fortführung „Before Sunset“ (Vor Sonnenuntergang) ein.

Die Fiktion wird also sozusagen in Echtzeit aufgegriffen. Abermals spielen Julie Delpy und Ethan Hawke die Rollen. Jesse macht auf einer Autorenreise Station in Paris, wo Celine seit Jahren lebt. Flammendes Erstaunen seinerseits, als sie in der Buchhandlung auftaucht. Jetzt hat er freilich nur noch ein paar Stunden bis zum Rückflug in die USA. Wird’s also erneut so ein allzu kurzes, schmerzlich süßes Wunder zwischen den zweien, die doch füreinander bestimmt zu sein scheinen?

Sofort ist die Vertrautheit wieder da

Selbst nach so vielen Jahren „fremdeln“ sie nicht. Sofort ist diese Vertrautheit wieder da; wie ein Fluidum, das nicht vergehen kann. Im Nu sprechen sie so innig über ihr Leben, als hätten sie nie etwas anderes getan.

Warum sie einander „damals“ nicht wie verabredet wiedersahen? Das Drehbuch will es so: Celine musste zur Beisetzung ihrer Großmutter gehen, somit hat Jesse am Treffpunkt vergebens gewartet. Telefonnummern hatten sie aus jugendlichem Leichtsinn nicht ausgetauscht. Daher die endlose Funkstille. Hätte sie ihn denn nicht via Internet-Recherche oder über seinen Verlag erreichen können? Schwamm drüber. Glauben wir’s halt.

Film- und Handlungsdauer sind deckungsgleich: Unter der Fuchtel vermeintlichen Zeitdrucks eilen die beiden durch Pariser Straßen im flirrenden Licht, gehen ins Bistro, fahren mit dem Boot auf der Seine, bewundern aus der Ferne Notre-Dame, sitzen schließlich in Celines Wohnung – und reden, reden, reden. Ganz beseelt.

Neun Jahre des Lebens versäumt

Den Austausch übers Berufliche (sie arbeitet für eine Öko-Organisation, er ist eben Schriftsteller) bringen sie rasch hinter sich. Wie sich zeigt, sind sie beide privat nicht glücklich geworden. Er dümpelt lustlos durch seine Ehe, nur der kleine Sohn bindet ihn emotional.

Sie hat sich durch diverse Beziehungen gehangelt und ihre Illusionen verloren. Immer dringlicher schwebt die Versäumnis- oder Sonnenuntergangs-Frage über ihren Häuptern: Was wäre gewesen, wenn sie vor neun Jahren zusammen geblieben wären? Man möchte heulen über all die verschenkte Zeit. Wenn sie doch wenigstens jetzt die Gelegenheit ergreifen würden!

Zarter Zauber des Spätsommers

Ein solch handlungsarmer, aus getupften Impressionen, wehen Erinnerungen und Hoffnungsschimmer bestehender Film braucht Darsteller mit Ausstrahlung und einigem Esprit. Keine Frage, dass zumal die überaus charmante Julie Delpy darüber verfügt. Wenn sie so belebend spricht und so inständig singt (melancholisches Lied zur Gitarre – über den schönsten „One-Night-Stand“ des Lebens), dann schmilzt man(n) ziemlich dahin. Ethan Hawke hat keinen leichten Stand, behauptet sich aber mit immer noch jungenhaftem Charme.

Zarter Spätsommer-Zauber weht durch diesen Film. Und Jesse könnte seinen Abflug ja verschieben. Vielleicht sogar für immer? Am Ende bleibt es ungewiss. Ein Holzklotz, wer da nicht romantisch seufzt!

 




Wurzeln und Früchte des Terrors – Luc Bondys Inszenierung von Martin Crimps „Cruel and Tender“ bei den Ruhrfestspielen

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Über Luc Bondys Inszenierung „Cruel and Tender“ (Grausam und zärtlich) stand kein guter Stern: Halb leer blieb zur Premiere das Ruhrfestspielhaus, trotz des ruhmreichen Regisseurs. Sodann fiel die Übersetzung der englischen Produktion mehrmals aus.

Überdies litt Darsteller Joe Dixon unter einer Halsinfektion, so dass er nur mit Mikro-Verstärkung antreten konnte. Dies freilich sorgte für einen Verfremdungseffekt, der zum sprachlich prononcierten (Anti-)Konversationsstück passt, in dem politische wie „private“ Sphäre in Elementarteilchen zerlegt werden.

Der Brite Martin Crimp hat „Cruel and Tender“ nach Vorbild geformt: Sophokles‘ Drama „Die Frauen von Trachis“ dient als Folie. Deianira wartet dort auf die Heimkehr des ! kriegerischen Herakles. Bei Crimp wartet Amelia (Kerry Fox, bekannt aus Patrice Chéreaus Film „Intimacy“) auf ihren Gatten, einen General, der in Afrika Terroristen bekämpft und offenbar kein Massaker auslässt.

Amelia verkündet schon anfangs redselig den Befund, dessen Untiefen dann allerdings eindringlich durchmessen werden: Terroristen und deren Widersacher zeugen stets neuen Terror, der tief ins Zwischenmenschliche reicht (weil er letztlich daraus hervorgeht). Auch geschlechtlich scheint das Übel vorgeprägt. Schon kleine Jungs wollen immerzu schießen.

Die Frau grausam genommen – wie einen Feind in der Schlacht

Die Tragödie begibt sich, weil der General das afrikanische Mädchen Laela (Georgina Ackerman) und deren Bruder als Vorboten schickt. Amelia soll sich um die beiden kümmern. Angeblich hat der General die Kinder aus humanen Gründen gerettet, tatsächlich will’s der Unhold nach seiner Heimkehr mit der Schwarzen treiben. Amelia lügt sich ‚was von toleranter Ehe vor, doch in ihr wimmert Eifersucht. Aus rasender Liebe wird sie ihren Mann vergiften. Sie hängt an dem Monster: Grausam zärtlich habe er sie ehedem „genommen“ – wie einen Feind in der Schlacht. Ein richtiger Mann also, findet sie. In derlei Sex-Gemenge lauert von jeher Gewalt.

Famose Kerry Fox! Indem sie zwischen Verzweiflung, Trotz, schier aus dem Nichtsgeschöpfter Kraft und etlichen anderen Emotionen oszilliert, beweist sie ungeheure Präsenz. Amelias „Warteraum“ beim Airport ist ein gestaltloser Ort des Transits zum Tode (Bühnenbild: Richard Peduzzi). Mit Kosmetik und Fitness-Übungen hält sie sich hier bereit für ihren Bezwinger, zankt sich mit widerspenstigem Personal, selbstgerecht taktierenden Einflüsterern und ihrem rüden Sohn.

Der General (Joe Dixon) kehrt erst nach Amelias Freitod zurück. Obgleich durchs Gift nur noch ein röchelndes Wrack, will er sogleich wieder herrschen und zwingen. Er ist durch die Hölle gegangen (irgend jemand musste es schließlich tun?!) und rühmt sich des Sieges über den Terror. Gleichzeitig wittert er überall Gefahr. Dieser paranoide Berserker weckt Furcht – und sogar Mitleid; fast so, wie antike Dramatiker es wollten.

Termine: 12. und 13. Juni. Karten: 02361/92 18-0

 




Die Welt der Sonderlinge – Carl Spitzweg in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Um es nur gleich zu sagen: „Der arme Poet“, jenes millionenfach gedruckte Motiv, fehlt in der Wuppertaler Spitzweg-AusStellung. Wenn ein ambitioniertes Museum auf einen Künstler aufmerksam macht, so will es ja gerade nicht die gängige Sicht bestätigen, sondern möglichst neue Aspekte hervorheben.

Noch dazu ist es schier unmöglich, das verbliebene Münchner Exemplar (eine weitere Fassung wurde in Berlin gestohlen) auszuleihen. Also denn: Kunstkenner mit arroganten Avantgarde-Anwandlungen dürften die Nase rümpfen. Denn Carl Spitzweg (1808-1885) ist heute weithin als harmloser Idylliker des Biedermeier verrrufen, wird aber von vielen (konservativen?) Geistern recht innig geliebt. Hier darf die Betrachterseele ruhen, hier muss sie sich eben nicht mit ausgeklügelten Minimal-Differenzen zwischen monochromen Quadraten und dergleichen modernen Schwierigkeiten plagen.

Das Von der Heydt-Museum zeigt 75 Gemälde und 165 Zeichnungen Spitzwegs. Letztere stammen aus Münchner Privatkollektionen und wurden noch nie in solcher Breite präsentiert. Man gerät somit näher an den Moment der Ideenfindung als bei den sorgsam ausgeführten Ölgemälden. Und die Einblicke in Spitzwegs Skizzen-Werkstatt zeugen allemal von künstlerischer Redlichkeit.

Staunenswerte Akkuratesse

Der Münchner Kaufmannssohn Carl Spitzweg war zunächst wohlbestallter Apotheker. Bei einem Kuraufenthalt überlegte er sich’s anders und fing ein gänzlich neues Leben als Künstler an. Die Grundlagen erarbeitete er sich als Autodidakt, außerdem lernte er manchen Kniff von Malerfreunden wie Moritz von Schwind.

Spitzweg verfügte zweifellos über Talente, die ihn über die meisten Zeitgenossen erhoben. Der Mann konnte beachtliche Landschaften malen, in denen Menschlein nur noch als anekdotische Staffage dienen. Staunenswert auch seine Akkuratesse bei geradezu winzigen Bildformaten. Jedes Detail ist bis aufs Tüpfelchen ausgeführt und durchgestaltet, kleine Charakterstudien sind auf typisierte Weise gültig.

Für heutige Begriffe haltbarer wirken freilich die Werke, in denen es Spitzweg etwas legerer angehen ließ und wo er nicht auf jede Kleinigkeit versessen war. In manchen Partien nähert er sich gar einem nahezu abstrakten Verständnis der Bildfläche, was allerdings noch kein Verdienst an sich ist. Aber es erweitert das Spektrum.

Das Vergnügen kommt ganz leise

Der Rundgang führt, wie kaum anders zu erwarten, vornehmlich durch jene immer etwas versponnene, verschrobene Welt der Sonderlinge, Hagestolze, schrulligen Experten („Käfersammler“) und Einsiedler. Wenn Spitzweg menschliche Schwächen enthüllt, so verzeiht er sie zugleich. Ironie kommt nur in Spurenelementen zum Vorschein, doch gerade dieses unaufdringliche Moment bereitet zuweilen leises Vergnügen.

Fast immer wirken seine Ansichten so naturfriedlich, als hätte sich jemand behaglich aus einem Fenster gelehnt und die Welt mit einigem Wohlgefallen betrachtet. Balsamisch ist’s, man nimmt es leichten Sinnes hin. Unsere Welt ist ja ruhelos genug.

6. Juni bis 25. Juli. Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Elberfeld, Turmhof 8). Geöffnet Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr). Katalog 19,80 Euro.




Drogen, Sex und alte Meister – Werkschau des Comic-Zeichners Robert Crumb in Kölner Museum Ludwig

Von Bernd Berke

Köln. Seine rüden Bildergeschichten wimmeln von bekifften und sonstwie zugedröhnten Freaks, deren Köpfe zuweilen gar explodieren. Beängstigend dickbrüstige und wadenstramme Weiber werden in jeder denkbaren Stellung zu (willigen) Lustobjekten. Mit solchen Underground-Orgien, mit Figuren wie „Fritz the Cat“ und „Mr. Natural“, hat der US-Comiczeichner Robert Crumb seit den 1960er Jahren Berühmtheit erlangt. Jetzt gibt’s eine Werkschau des Berüchtigten im edlen Kölner Ludwig-Museum.

Crumb selbst, mittlerweile 60 Jahre alt, sieht das ganz gelassen: „Irgendwas müssen sie ja an ihre Wände hängen“, sagt er, als sei’s ihm wurscht. Überhaupt scheint er nicht an irdischen Gütern zu hängen – außer an diesen beiden: „Sex und gute Musik – das macht mich glücklich“, bekennt er in Köln. Glaubhaft versichert Crumb, er sei seit seiner katholisch geprägten, absurd verkorksten und verklemmten Jugend überaus sexbesessen. Wenn man seine Bilder sieht, hegt man daran keinerlei Zweifel.

Wucherungen im Welttheater

Die Ausstellung bietet mit ihren rund 200 Exponaten jedoch weitaus mehr als diese etwas platte Erkenntnis. Auch ein vermeintlich wilder Mann wie Crumb (der persönlich recht sanftmütig wirkt) hat künstlerische Wurzeln in der Hochkultur. Er selbst nennt Hieronymus Bosch, Pieter Breughel und Honoré Daumier. Tatsächlich haben die surreal-bizarren  Wucherungen seines amerikanischen Welttheaters einiges mit dieser Ahnengalerie gemein. Doch im direkten Vergleich mit solchen Größen möchte er sich denn doch nicht ausgestellt sehen. Als Antwort auf den Kölner Ausstellungstitel „Yeah, but is it Art?“ (Ja, aber ist es auch Kunst?) zuckt er nur die Achseln und murmelt: „I don’t know.“ Nie habe er beim Zeichnen an Museumswände gedacht, stets nur an gedruckte Heftchen.

Crumb hat aber beileibe nicht nur Comics geschaffen. Zahllose Skizzen, Zeichnungen er oder Entwürfe für Plattencover zeugen von manischer Produktivität – getreu seinem Motten „Wenn ich nicht zeichne, bin ich nichts.“ Erstaunliche Blätter Crumbs sind in Köln zu sehen, so etwa sehr präzise Hand-, Fuß- und Kopfstudien, wie aus den Ateliers der alten Meister. Wenn die Phantasie wirksam detonieren soll, braucht’s eine derart solide Grundlage.

Der Blick auf die Comics verändert sich im Kontext des Museums: Hier achtet man weniger auf die wüsten Inhalte und viel mehr auf Komposition, Strichführung, Licht- und Schattengebung. Bei näherem Hinsehen wird klar: Crumb, der erste Strips schon als Kind zu Papier brachte, beherrscht seine Mittel souverän.

Bürgerschreck oder erschrockener Bürger?

Und der Sex? Und die Drogen? Nun, Crumb zeigt all das drastisch und dynamisch genug. Doch tief in diesen Bildern stecken Angst und sogar Entrüstung. So hat er sich denn auch nie mit der Szene gemein gemacht, sondern sie aus der Halbdistanz beobachtet. Vielleicht trifft der alte Spruch vom Bürgerschreck zu, der eigentlich ein erschrockener Bürger ist. Wenn Crumb das Hippie-Gewoge und dessen Ausläufer darstellt, so immer auch die Nachtseiten: Orientierungsverlust und chaotische Verwahrlosung in schier schrankenloser „Freiheit“.

Erfolg und jeder Anflug von Käuflichkeit sind Robert Crumb verdächtig. So ließ er Fritz den Kater in der somit letzten Story kurzerhand sterben und den geschwätzigen Guru „Mr. Natural“ schließlich in einer Irrenanstalt verschwinden. Solches Loslassen hält wohl jung.

Robert Crumb: „Yeah, but is it Art?“ Köln, Museum Ludwig (am Hauptbahnhof). Bis 12. September. Di-Do und Sa/ So 10-18, Fr 11-18 Uhr. Eintritt 7,50 Euro. Katalog (sehr ratsam): 28 Euro.




Der Mann aus dem Nichts – Tankred Dorst inszeniert sein Stück „Ich, Feuerbach“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Woanders warten sie ewig und drei Tage auf „Godot“. In Tankred Dorsts Drama „Ich, Feuerbach“ ist es ein Theaterregisseur namens Lettau, der sich partout nicht blicken lässt. Verdacht in beiden Fällen: Wenn jemand dermaßen abwesend ist, so könnte es sich um ein nahezu göttliches Wesen handeln.

Lettau also kommt nur als Leerstelle vor, der abgetakelte Schauspieler Feuerbach hingegen ist schmerzlich vorhanden. Nach sieben Jahren Bühnen-„Pause“ will er heute im Theater aus Goethes „Tasso“ vorsprechen. Doch er trifft nur einen jungen Schnösel an, der sich als Regie-Assistent ausgibt, vom Beruf aber rein gar nichts zu verstehen scheint.

Aus dieser fruchtlosen Begegnung erwächst inniges „Theater im Theater“, durchsetzt mit Anekdoten von den Abgründen des Metiers. Gelächter und Verzweiflung halten sich die Waage. Eine trampelige Frau (Martina Eitner-Acheampong) mit Hund taucht auf, und immer wieder betreten Bühnenarbeiter die Szenerie, sie werkeln gespenstisch schweigsam vor sich hin. Der Betrieb geht weiter, doch das Theater ist wohl längst tot.

Tankred Dorst (78) selbst inszeniert in den Bochumer Kammerspielen sein 1986 uraufgeführtes Stück, das sich erneut als Schauspieler-„Futter“ par excellence erweist. Dorst hat den Text modifiziert: In der Erstfassung lief es darauf hinaus, dass Feuerbach jene besagten sieben Jahre in einer Psychiatrie zugebracht hat und nun seine letzte Chance sucht.

Dieser existenzielle Ansatz bleibt erhalten, wird aber neu eingefärbt durch einen Seitenblick auf theatralische Zeitläufte: Das auf Video-Orgien versessene Regiehandwerk der Gegenwart (Grüß Gott, Herr Castorf!) braucht den Schauspieler eigentlich gar nicht mehr. Der Regie-Assistent (Alexander Maria Schmidt) gibt unbedarft die Parole aus: Es reiche doch, wenn ein Darsteller auf der Bühne Nudeln isst und dabei er selbst bleibt. Sinn und Bedeutung? Nebensache!

Landstreicher mit Loriot-Touch, der mühsam seine Würde im Wahn zu wahren sucht: Wolf-Dietrich Sprenger vollbringt als derart „überflüssig“ gewordener Feuerbach eine Atem beraubende, manchmal stockende, jedenfalls sonderbare Equilibristik. Er zeigt sich und deklamiert unentwegt, doch wir wissen nicht, wer er ist. Er kommt aus dem Nichts und wankt am Ende ins Nichts. Ein Mann im Paradox: abgeschabt seine Würde, würdevoll seine Scham; unverschämt kommt seine Demut daher, demütig seine Anmaßung, und in geradezu leutseliger Weise lässt er bestürzende Einsamkeit ahnen. Vielleicht ist er als Darsteller wirklich ein Genie (gewesen), dieser verrückte Heilige, der in einer quasi-religiösen Szene nackt mit den Vögeln spricht. Ein Mann mit Visionen, der „in Zungen redet“, wie pathologisch auch immer.

Alexander Maria Schmidt ist als Regie-Assistent ein trotz aller geckenhaften Tumbheit gelegentlich gewitzter Widerpart: Er durchläuft die Skala zwischen Ratlosigkeit, Naivität, Entsetzen und Hilfsbereitschaft, die aber jedes Fettnäpfchen findet: „Bekommen Sie denn keine Sozialhilfe?“ will er, halbwegs mitfühlend, von Feuerbach wissen. Grundfalsche Frage an einen, der aufs Unbedingte und Grenzenlose aus ist.

Tosender Beifall nach Bochumer Art.

Termine: 22., 29. Mai, 9.. 27. Juni. Karten:,0234/3333-111




Fern vom Streit der Welt meditieren – Ausstellung „Comment rester zen / gelassen bleiben“ am Dortmunder Ostwall

Von Bernd Berke

Dortmund. Mit dem Wort „meditativ“ ist man oft schnell bei der Hand. Kaum geht’s mal ein wenig stiller zu im Getöse der Welt, so gebraucht man das Etikett gern. Jetzt aber sorgen im Dortmunder Ostwall-Museum 15 Künstler aus der Schweiz für ausgiebige und tiefere Kontemplation.

„Comment rester zen / gelassen bleiben“ heißt die zuvor in Paris gezeigte Schau mit Videos, Tafelbildern, Objekten und Installationen, die auf denkbar sanftmütige Weise mancherlei auratisch oder spirituell getönte Zustände beschwört. Kurator Michel Ritter vom Centre Culturel Suisse in Paris will denn auch ganz entschieden den Blick „nach innen“ richten und größtmöglichen Abstand nehmen von der (medialen) Allgegenwart der Gewalt. Die brennende Aktualität dieser Anti-Position muss man nicht langwierig erläutern: Die Folter-Bilder und das Enthauptungs-Video aus dem Irak spuken dieser Tage in allen Köpfen.

Mit höheren Weihen des Zen-Buddhismus hat das Motto der Ausstellung nur bedingt zu tun, der Begriff ist vielmehr in die französische Alltagssprache eingeflossen und bedeutet ungefähr: „So beruhige dich doch.“ Der deutsche Untertitel lautet schlichtweg: „Gelassen bleiben.“

Eine Anleitung zur Weltflucht? Oder das Aufrufen neuer Kräfte aus eigenen Seelengründen? Es dürfte jedenfalls zum besonderen Erlebnis werden, beispielsweise aus dem hektischen Getriebe der Einkaufszone in diese Ausstellung zu kommen: In einer Raum-Installation von Sylvie Fleury darf man sich als Besucher gar auf eine (beheizbare) Meditationsmatte legen, über asiatisch beschriftete Wandbehänge nachsinnen oder ein ebenso geheimnisvolles Video betrachten.

Einem aus Textilstoff gefertigten Schamanen namens „Baba“ (geschaffen von Vidya Gastaldon) wird man hier begegnen oder auch einem „leibhaftigen“ weißen Buddha, der sich monumental zur Ruhe gelegt hat, jedoch aus ganz ungewichtigem Styropor besteht. Nic Hess hat dieses Denk-Mal einer unverhofften Leichtigkeit errichtet.

Allüberall walten die ewigen Mysterien: Jürg Hassler und Hannes Bossert erkunden in einem Videofilm die Erdkräfte unter unseren Füßen, Daniele Buetti vergegenwärtigt mit einem Licht-Objekt Energieströme, als sei’s ein Sternenfeld. Sarah Glaisens Film, in dem ein Stück Eis unendlich langsam schmilzt, dauert drei Stunden. Und Ceal Floyer führt – gleichfalls filmisch – vor, wie Tinte, die aus einem Stift ausfließt, ganz allmählich einen immer größeren Kreis-Fleck erzeugt. Wer da genügend Geduld mitbringt, könnte in eine Art Trance geraten.

David Lamelas erhob sich im Fesselballon über die Ebenen und Häuser der schweizerischen Stadt Fribourg. Die Bilder von der langsamen Fahrt wirken so beruhigend wie alles Weitere in dieser Schau, die so leicht „konsumiert“ werden und doch in ungeheure Fernen führen kann. Danach sollte man man gaaaanz besänftigt sein.

Ostwall-Museum, Dortmund. Vom 16. Mai (Eröffnung 11.30 Uhr) bis 11. Juli. Di/Mi/Fr/So 10-17, Do 10-20, Sa 12-17 Uhr. Eintritt 3 Euro, kein Katalog.




Im blauweißen Rausch: Schalke-Musical „nullvier – keiner kommt an Gott vorbei“ in Gelsenkirchen

Von Bernd Berke

Gelsenkirchen. An gewisse Hinge muss man zwar fair, aber doch subjektiv herangehen. Wenn Schalke 04 sein Hundertjähriges mit einem Musical im Gelsenkirchener Musiktheater feiert, dann lässt einen dies als Dortmunder (der eben mit dem rivalisierenden BVB fiebert) nicht kalt. Hier also ein „Leidensbericht“ aus dem fremden Vergnügungs-Bezirk.

Ein paar illustre Premierengäste ließen sich blicken: allen voran Nationalmannschafts-Teamchef Rudi Völler und Schalker Recken aus großen Tagen (Klaus Fischer, Rolf Rüssmann & Co.).

„nullvier – Keiner kommt an Gott vorbei“ heißt das fast dreistündige Spektakel mit Musik von Enjott Schneider. Story der vom Verein bestellten Produktion: Schalke steht in den 80ern (zeitgerecht: Bühne von Knut Hetzer, Kostüme von Judith Peter) vor dem Abstieg, weil der spiel- und trunksüchtige Leitwolf Stephan Krause (halbseiden bis zum Klischee: Sören Kruse) absichtlich einen Eifer versieht hat.

Bitte erst nach Saisonschluss sterben

Alle Hoffnungen richten sich nun aufs unverdorbene Jungtalent „Jojo“ Schrader (jugendlich-naive Variante eines „Erlösers“ mit zuweilen schmalziger Stimmlage: Rasmus Borkowski). Der fiese Krause intrigiert auf Dauer vergebens.

Dazu die zuckersüße Liebesgeschichte: „Jojo“ verknallt sich in die Cello spielende (Kultur verschmilzt mit Kickerei!) Unternehmertochter Louisa (Carina Sandhaus). Als die einen Unfall baut und mit Vespa-Roller ins Tattoo-Studio rast, landet sie geradewegs auf Jojo, während der sich das SchalkeEmblem eintätowieren lässt.

Wetten, dass Jojo im letzten Saisonspiel das entscheidende Tor schießt und nach einigen Irrungen Louisa erringt? Zum Schluss vereinen sich erotische Verzückung und Fußball-Enthusiasmus nahezu rauschhaft.

Und die Sache mit Gott? Nun, die ist das Schönste. Denn „Der Alte“ (Heinz W. Krückeberg) bringt echten Revier-Witz ins Spiel, indem er Gott (Andreas Windhuis) um Sterbeaufschub bis zum Saisonende bittet. Der gemütliche Gott wiederum, anfangs weiß gekleidet, trägt hernach ein bläulich schimmerndes Gewand.

Wohlfeiles Sticheln gegen den BVB

Klar, dass man gegen Schwarzgelb stichelt: Den Bösewicht Krause kriegen Jojo und seine Freunde klein, weil sie ihm mit BVB-Tätowierung drohen. Da winselt er: „Bitte alles – nur das nicht!“ Haha. Geschenkt!

Enjott Schneider ist in erster Linie als Filmmusiker („Schlafes Bruder“, „Stalingrad“ usw.) hervorgetreten. Auch seine neue Schöpfung hört sich an wie ein dienender Soundtrack. Doch hier müssten sich die Töne mehr aufdrängen. Nirgendwo findet die leidlich flotte Partitur mit solidem Big Band-Sound (musikalische Leitung: Kai Tietje) aus eigener Kraft zu einem wahren Ohrwurm.

Abstecher in Disco-Rhythmen, Operettenseligkeit oder Orientalik helfen kaum. Die schmissigsten Stellen sind geborgt: „Steh‘ auf, wenn du Schalker bist“ (nach „Go West“ von den Pet Shop Boys) ist der Hit des Abends. Tatsächlich steht das Publikum auf und klatscht frenetisch wie in der Fankurve. Nur notorische Dortmunder bleiben säuerlich sitzen.

Bonbonbuntes Frauenbild der 50er Jahre

Buch (Michael Klaus) und Songtexte (Bernd Matzkowski) stammen leider nicht aus einer Hand. Manches reimt sich recht hilflos. Aber man darf bei solchem Stoff auch nicht zu filigran ziselieren.

Zum Fußball fallen der Regie (Matthias Davids) prägnante Szenen zwischen Büdchen, Umkleide und Training ein, zur Liebe weniger. Da lauert Kitsch, und man arbeitet sich noch an einem bonbonbunten Frauenbild der 50er Jahre ab.

Dass manche Gesangsleistungen begrenzt sind, wird vergleichsweise klar, wenn – neben allen Gästen – Richetta Manager (Ensemble-Star im Musiktheater im Revier) als Tätowiererin Aurora unwiderstehlich gospelt.

„Das eingeschworene Publikum johlt begeistert, und die Chose dürfte zum Selbstläufer werden: Hier kann Blauweiß in Träumen von gottgefälligem Ruhm schwelgen.

Nächste Termine: 11., 13., 16., 28., 29. Mai (teils ausverkauft), weiter bis 30. Juni. Karten (8,50-41,50 Euro): 0209/40 97 200.




Ein Künstler, der die Gegensätze liebt – Ausstellung der Ruhrfestspiele präsentiert Günther Förg

Von Bernd Borke

Recklinghausen. Fast ist’s wie beim Dichter Ringelnatz, der einst diesen Werkstoff im Reime besang: Da gibt man den Dingern einen ganz kleinen Stips – und da sind sie aus Gips. Aus dem eher unedlen Material, geradezu unförmig aufgeschichtet, hie und da „wild“ bemalt, wuchern zudem in schönster Regellosigkeit solche Fragmente hervor: Dichtungsgummi, Latex-Fetzen, Bruchstücke eines Sägeblatts oder zerbeulte Getränkedosen.

Trash-Kunst von der Müllhalde, Überbleibsel vom Baumarkt? Was die puren Materialien anbelangt: ja, irgendwie schon. Es sind spontan verwendete Fundstücke. Doch der Künstler erhebt (ironischen) Geltungs-Anspruch, denn diese Skulptur-Collagen quellen auf hehren weißen Podesten vor sich hin – wie ferne klassische Vor-Bilder, doch so ganz anders geformt.

Günther Förg, 1952 in Füssen geborener documenta- und Biennale-Teilnehmer, scheut weder große noch kleine Gesten. Bei ihm relativiert sich ja alles mit Leichtigkeit. Geschwind überspringt er Gattungsgrenzen der Kunst. Auch sind Konzept und Zufall bei ihm keine Gegensätze. Sogar Pfusch würde nicht großartig auffallen.

Recklinghausens Kunsthalle präsentiert rund 120 neuere Plastiken, Gemälde und Fotografien von Förg, und zwar im Rahmen der Ruhrfestspiele. Das ist diesmal nicht selbstverständlich.

Streit hinter den Kulissen

Es gab Streit hinter den Kulissen, und es blieb lange ungewiss, ob die neue Festspiel-Direktion (Chef: Frank Castorf) die bildende Kunst überhaupt noch einbeziehen wollte. Kunsthallen-Chef Ferdinand Ullrich musste nach überstandenem Gezerre in Windeseile planen: „Hätten wir keine Festspiel-Ausstellung mehr, so wäre das eine Katastrophe für das Haus.“

Mit dem Titel hat man sich sprachlich angeschmiegt: „make it new“ (Mach’s neu) heißt die Förg-Schau, während die gesamten Festspiele unter dem Motto „No fear“ (keine Angst) stehen.

Vor der Eingangstür erhebt sich ein massiver, von Förg weiß getünchter Aluminium-Block: Einladung und Bremswirkung halten sich die Waage. Besagte Gips-Gebilde empfangen den Besucher sodann reihenweise im Erdgeschoss.

Der Betrachter muss sich recken

Im ersten Stock sieht man eigens für diesen Ausstellungsort gefertigte Tafelbilder, darunter ein zwölf Meter langes Riesenformat. Malerisch flott zitiert werden hier etwa die schmalen Fensteröffnungen der Kunsthalle, eines früheren Weltkriegs-Bunkers. Kann etwas zugleich geöffnet und geschlossen wirken? Diese Vexierbilder schon!

Unterm Dach der Kunsthalle muss man sich recken: Hoch an die Wände hat Förg seine Architektur-Fotos gehängt, die zumeist nüchterne Bauhaus-Architektur aus dem Prag der 1920er Jahre zeigen. Förg will jedoch nicht dokumentieren. Seine schwarzweißen Lichtbilder erfassen willkürliche Ausschnitte, sie wirken wie im Vorübergehen aufgenommen, sind gelegentlich unscharf und verwischt. Zu allem Überfluss nimmt Förg es ganz bewusst in Kauf, dass sich das einflutende Licht auf der Verglasung spiegelt. Hier kann sich der Besucher nicht bequemen.

Irritierend auch das Umfeld: Förg, der gern in Serien denkt und handelt, hat sich 18 satteldachförmige Pulte bauen lassen und sie jeweils beidseits mit sichtlich flugs entworfenen Acryl-Malereien verziert, so dass sich 36 „Motive“ ergeben. Gitter- und Fensterstrukturen überwiegen bei diesem äußerst freien Spiel mit architektonischen Vorgaben. Und auch hier gibt’s flirrende Doppelwirkungen: behaust und unbehaust, standfest und flüchtig.

Günther Förg: „make it new“. Kunsthalle Recklinghausen (am Hauptbahnhof). Eröffnung Sonntag, 2. Mai. Bis 18. Juli. Katalog 21 Euro.




Die Schweiz kommt schräg

Schweizer Impression (Foto: Bernd Berke)

Schweizer Impression (Foto: Bernd Berke)

Basel/Genf/Dortmund. Drei Tage, fünf Städte, zwei Sprachzonen. Es war ein straffes Kurzreise-Programm, das die Schweizer Kulturstiftung „Pro Helvetia“ und die Organisation „Präsenz Schweiz“ arrangiert hatten. Unterwegs gab’s manchen Vorgeschmack auf die vielen Gastpiele der Schweizer Kultur ab Mai in NRW. Zentrum mit rund 100 der 160 Veranstaltungen wird Dortmund sein.

Die 37. Internationalen Dortmunder Kulturtage tragen den Titel „scene: schweiz“. Nicht so sehr mit Glanz und Gloria der Künste will das Alpenland bei uns prunken, sondern den Blick eher auf „Alternativen“ auf diverse Freie Szenen richten.

Eröffnet wird der Reigen, der zahlreiche Dortmunder Spielorte (u. a. Konzerthaus, Theater Fletch Bizzel, Jazzclub „domicil“) umfassen wird, allerdings festlich; so mit einem klassischen Ballett des Grand Théatre de Genève am 16. Mai (18 Uhr) im Opernhaus. Die renommierte Compagnie, die im altehrwürdigen Gehäuse am heimatlichen Standort Genf über eine der modernsten Bühnen-Maschinerien Europas verfügt, wird einen Querschnitt durch ihr jüngstes Schaffen darbieten. Es dürfte eine ästhetisches Ereignis ersten Ranges werden. Tatsächlich geradezu paradiesisch schön: die Szenen aus dem Tanzstück „Para-Dice“. Ballettfans aus Dortmund und der Region können sich schon darauf freuen.

Der Hauptlinie des Festivals entspricht jedoch eher die freie Tanztruppe im Théâtre Sévelin, die sich auf einem alten Fabrikgelände in Lausanne niedergelassen hat. Gründer und Leiter Philippe Saire, der hier die einzige reine Tanzbühne der Schweiz etabliert hat, huldigt einem aufregenden, ja bisweilen aufwühlenden Körper-Theater, das hie und da an die wundersamen Exerzitien der Pina Bausch erinnert. Um Liebeslust, Liebesweh und sexuelle Identitäten geht es hier wie dort. Am 4. Mai wird die Compagnie Saire ab 20.30 Uhr in der Dortmunder Reinoldikirche auftreten, danach in Bonn, Aachen und Düsseldorf. Vorführen wird man die Produktion „Les Affluents“ (etwa: die Zusammenfließenden). Vielfältige Begegnungen der Geschlechter setzen dabei die geradezu „obszön“ wirkende Urgewalt des Eros, jedoch auch ungeahnt zärtliche Momente frei. Das Gastpiel soll nicht ohne Folgen bleiben: Mit dem Tanzhaus in NRW (Düsseldorf) will man künftig dauerhaften Austausch pflegen.

Natürlich wird nicht nur getanzt. Einige kabarettistisch, clownesk oder satirisch geprägte Schweizer Bühnenproduktionen kommen ab 12. Mai im Dortmunder „Fletch Bizzel“ heraus. Es wird zudem etliche Filmvorführungen geben. Emil Steinberger wird am 21. Mai zur Lesung im Schauspielhaus erwartet.

Vor allem aber wird die bildende Kunst ihre „Auftritte“ haben: Im Museum am Ostwall lautet das Motto vom 16. Mai bis 11. Juli: „comment rester zen“ (frei übersetzt: Wie man gelassen bleibt). Hier spüren Schweizer Künstler den schweigsam schwingenden Kräften meditativer Weltbetrachtung nach.

Bereits ab 1. Mai (bis 4. Juli) wird die imposante Dortmunder „PhoenixHalle“ auf dem westlichen Gelände des früheren Hoesch-Stahlwerks von mehr als 20 Schweizer Künstler(inne)n bespielt, und zwar mit neuesten Ausformungen der Foto-, Video-, Computer- und Internet-Kunst. Kostproben waren in Basel zu sehen. Manches scheint schöne, gar naive Spielerei zu sein, anderes ist vielleicht unterwegs zur Vision kommender, vollends technisch bestimmter Zeitalter. Federführender Gastgeber der Schau „So wie die Dinge liegen“ ist der von Deutschlands Kunstkritikern jüngst preisgekrönte Dortmunder „hartware medien kunst verein“ (Iris Dressler, Hans D. Christ).

Ein visuelles Großereignis namens „Wind der Hoffnung“ freilich konnte sich Dortmund nicht sichern, aus logistischen Gründen musste man abwinken und Oberhausen den Vortritt lassen: Ein fast 60 Meter hoher Fesselballon mit 35 Metern Durchmesser wird (vom 26. Mai bis 31. November) im Inneren des 117 Meter hohen Gasometers aufgepumpt – „passt und hat Luft“. Kurator Wolfgang Volz, der am selben Ort schon Christos Fässer-Invasion („The Wall“) zum Event mit 400 000 Besuchern machte, plant dazu Ton- und Lichtinszenierungen (Musik von Philip Glass) sowie eine bündige Dokumentation über die phänomenale Schweizer Abenteurer-Familie Piccard, deren anekdotenträchtige Nachlässe sich im Musée du Léman zu Nyon am Genfer See befinden. Auguste Piccard fuhr als erster Mensch mit einem Ballon in die Stratosphäre hinauf, sein Sohn Jacques stellte in einer Krupp-Spezialkapsel den nicht mehr zu verbessernden Weltrekord im Tieftauchen (rund 11000 Meter) auf – und dessen Filius Bertrand wiederum umrundete 1999 in jenem Ballon, der in Oberhausen gezeigt wird, die gesamte Erdkugel. Das soll’s dann aber auch gewesen sein: Bertrand hat zwei Töchter, die auch nach dem Willen des Vaters das landesübliche Leben genießen möchten…

Noch wird letzte Hand angelegt ans Programm der Kulturtage, das komplett am 20. April in Dortmund vorgestellt werden soll. Für Lukas Heuss, Betreuer der internationalen Projekte bei „Pro Helvetia“, ist jedenfalls die Zielrichtung klar: Die Schweiz will weg vom Klischee aus Bergidyll und Geldwäsche, ja Heuss findet sogar: „Diese Imagepflege haben wir bitter nötig.“ Eine „freche, kunstvolle, selbstkritische Schweiz“ solle statt dessen sichtbar werden.

Ins Umfeld gehören z. B. auch der Schweiz-Schwerpunkt der Wittener Tage für Neue Kammermusik (23. bis 25. April) und das Jazzfest „europhonics“ (im Herbst im neuen „domicil“-Haus an der Dortmunder Hansastraße). Die Schweiz kommt also auf breiter Front: mit manchmal schrägen Bildern, Klängen, Szenen. Alphorn, ade!

(Der Beitrag ist zuerst am 15. April 2004 in der „Westfälischen Rundschau“ erschienen)




Ein Glimmen in den Ascheresten der Gefühle – Eric-Emmanuel Schmitts Zweipersonenstück „Enigma“ in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Der Dichter-Titan Abel Znorko lebt seit vielen Jahren als Eremit auf einer Insel in Polarnähe. Nähert sich jemand seiner Behausung, greift er zum Gewehr und feuert. Kein schöner Zug des Nobelpreisträgers.

Reales Vorbild könnte J. D. Salinger („Der Fänger im Roggen“) sein, dem man nachsagt, es mit ungebetenen Gästen ähnlich rabiat zu halten.

Dabei hat Znorko dem vermeintlichen Journalisten Erik Larsen doch schriftlich ein Interview genehmigt. Und nun empfängt er ihn mit solchen Salven. Dann aber lässt er ihn herankommen; freilich nur, um ihn eisgrau abweisend zu behandeln. Eric-EmmanuelSchmitts Erfolgsstück „Enigma“ ergeht sich fortan in dialogischen Sinn-Wendungen, die das Gesagte und für wahr Gehaltene immer wieder umstoßen.

Wenn alle Fassaden abgetragen sind, bleiben zwei verflucht einsame Männer zurück, deren Gespräche um eine bestürzend abwesende Frau kreisten. Znorko, der sich von ihr getrennt hatte, um gerade in dieser Distanz die reine Liebe zu wahren, wollte ihr brieflich verbunden bleiben. Larsen hingegen hat mit ihr gelebt. Die ferne und die nahe Liebe, gleichermaßen fruchtlos. Ob in den Ascheresten der Gefühle noch etwas glimmt?

Harald Demmer hat das wortreich gewundene Zweipersonen-Drama im Dortmunder Schauspiel-Studio inszeniert. Die wenigen Requisiten künden von einsamer Verwahrlosung: zwei schäbig senffarbene Sessel; ein dürftiges Bar-Eckchen mit Hochprozentigem, ein achtlos gehäufter Bücherstapel mit Znorkos eigenen Werken, ein Plattenspieler, ein Bild vom weiten Wolkenhimmel. Nichts, was vom Dialog-Duell ablenken könnte.

In Berlin begab sich jüngst Mario Adorf in die Znorko-Rolle, in Paris übernahm Alain Delon den Part. Ein Fall für gereifte Prominenz also. Es lag ziemlich nahe, den Autor in Dortmund mit Claus Dieter Clausnitzer zu besetzen. Anfangs hört man ihm und seinem existenziellen Widerpart Pit Jan Lößer (als Larsen) denn auch äußerst gespannt zu, man vernimmt da buchstäblich jedes Knistern zwischen ihnen.

Auch gekürzt trägt das Stück nicht über die ganze Distanz

Doch selbst in gekürzter Form „trägt“ das Stück nicht über die gesamte Distanz. Gewiss enthält es einige klug gesetzte Pointen und Denkanstöße. Doch allzu planvoll und willkürlich stellt Schmitt seine „Geheimnisse“ aus dem Baukasten her. Ständig sucht er Überraschungen, bis es halt keine mehr sind und man sie eh schon in irgend einer Form erwartet. Edward Elgars musikalische „Enigma“-Variationen (1899), die bei der Namensgebung Pate standen, dürften ungleich rätselhafter sein.

Die Mängel der Text-Vorlage, die zu oft mit überzeitlichem Gestus auftrumpfen möchte (ein Autor muss hier eben Nobelpreisträger sein, und als Krankheit kommt nur Krebs in Frage), lasten auf den Schauspielern.

Vielleicht könnte man gegensteuern, indem man vollends boulevardesk oder aber gänzlich unterkühlt spielt. Doch in Dortmund lassen sie sich gelegentlich hinreißen zu bitterem Ernst. Es kommt dann zu heftigem körperlichen Gerangel und überdeutlichen Verzweiflungs-Gesten. Man tut dem Text damit wohl zu viel Ehre an, denn allem ersten Anschein zum Trotz lotet er gar nicht so furchtbar tief.

Gleichwohl hat die Inszenierung immer wieder sehr konzentrierte Phasen – und die beiden Darstellet finden vielfach zu subtileren Zwischentönen. Clausnitzer lässt schmerzlich spüren, wie sehr der schroffe und unwirsche Znorko ein Echo aus der übrigen Welt ersehnt. Und Lößer zeigt zum Erbarmen, wie dringlich auch Larsen des heilsamen Zuspruchs bedarf.

Termine: 1., 9, 17. April, 14., 30. Mai. Karten: 0231/50 27 222.




Der Mensch in hundsgemeinen Perspektiven – Bilder von Johannes Grützke in Olpe

Von Bernd Berke

Olpe. Fast alle Menschen auf Johannes Grützkes Bildern wirken, als habe sie einer im falschen, im denkbar peinlichsten Moment ertappt. Sie schneiden allerlei krampfhafte Grimassen; krähend lachen sie, als wären sie völlig entgeistert – und vom Ebenmaß oder Schönheit dürften sie nicht einmal träumen.

Der Berliner Grützke, vieldeutig funkelnder Ironiker und Sarkast unter Deutschlands (kritischen) Realisten, firmiert eigentlich als ausgesprochener Großstadt-Maler. Doch jetzt hat es eine Reihe seiner Bilder ins sauerländische Olpe verschlagen, noch dazu in den Saal des Kreishauses. Ob sich die Leute, die dort in den nächsten Wochen tagen, unter den stechenden Blicken der Grützke-Gestalten immer behaglich fühlen werden?

Klaus Droste vom Olper Kunstverein Südsauerland hat die Schau in Zusammenarbeit mit der Essener Galerie „KK“ erstellt. Die meisten Stücke dieser ausschnitthaften Retrospektive (Ölbilder, Lithos, Radierungen, Pastelle von 1964 bis 2004) sind daher käuflich zu erwerben.

Sie starren dich an wie nicht gescheit

Grützke zeigt seine Figuren (darunter häufig Varianten seiner selbst, mit spezifisch grünlichem Bartschatten) in gewagten Anschnitten, so dass im Extremfalle kopflose Wesen herumgeistern. Auch lässt der Künstler den Modellen derart hundsgemeine Draufsicht-Perspektiven angedeihen, dass ihre quellend fleischlichen Körper zu aberwitzigen Verkürzungen gestaucht werden. Überdies rücken sie einem so beängstigend nah, als wollten sie im Nu das Bild verlassen. Und vielfach starren sie den Betrachter an wie nicht gescheit. Herrlich grauslich.

„Schule der Neuen Prächtigkeit“

Grützke (Jahrgang 1937) trat 1973 pompös hervor, als er u. a. mit Matthias Koeppel (Erfinder der erzkomischen Kunstsprache „Starckdeutsch“) die „Schule der Neuen Prächtigkeit“ ausrief. Malen und fürstlich auftrumpfen wie die alten Meister, aber nichts und niemanden ernst nehmen, so könnte die Devise gelautet haben. Büstenhafte Figuren aus dem traditionellen Kanon tragen denn auch schon mal schnöde moderne Armbanduhren und schauen drein wie untote Wiedergänger nach überlangen Videonächten.

Der Dämon des Grotesken

Eine Wegmarke in Grützkes späterem Schaffen war das über 30 Meter lange Wandbild zur gescheiterten 1848er Bürger-Revolution, gemalt für die ehrwürdige Frankfurter Paulskirche (1991). Bilder zu diesem Themenkreis, den Grützke mit Herzblut verfolgt, finden sich nun in Olpe.

Hauchzarte, ätherische Porträts zeugen davon: Inhaltlich stets am klassischen Bildungsgut orientiert, hat Grützke allemal das Zeug zur wunderbar seidigen Feinmalerei. Doch meist ergreift der Dämon des Grotesken von ihm Besitz. Dann fährt der Pinsel wie ein Kobold drein.

Kreishaus Olpe. 28. März (Eröffnung 17 Uhr in Anwesenheit des Künstlers) bis 21. April.




Die Kannibalen wollen doch nur spielen – Paolo Magelli inszeniert Nestroys „Häuptling Abendwind“ als Insel-Karneval

Von Bernd Berke

Mülheim. Dschungel-Drama ganz anders: Österreichs Theater-Urviech Johann Nepomuk Nestroy (1801-1862) verlegte seine Burleske „Häuptling Abendwind“ in exotische Gefilde, damit er europäische Gebräuche umso trefflicher zerrspiegeln konnte. Ja, jegliche nationale Staatlichkeit gerät hier ins Fadenkreuz des Witzes. Fast schon ein anarchistischer Ansatz.

Paolo Magelli (Regie) und Gralf-Edzard Habben (Bühnenbild) haben die grelle Rarität fürs Mülheimer Theater an der Ruhr in Szene gesetzt. Ein abgezirkeltes Halbrund markiert den Bühnenausschnitt, der wie eine gläserne Schneekugel wirkt. Darin leuchten Südsee-Farben: Alles so schön bunt hier! Es herrscht allerliebste, spielzeughafte Künstlichkeit. Am Schluss werden Bühnenarbeiter kommen und dies alles auf offener Szene abbauen: Es war nur ein Spiel, nun ist es aus.

Wenn zwei Herren jeweils des anderen Gattin verspeist haben

Die abstruse Geschichte stellt alle abendländische Konferenz-Diplomatie parodistisch auf den Kopf: Häuptling Abendwind (Rupert J. Seidl) erwartet den „Staats“-Besuch des Nachbar-Häuptlings mit Namen „Biberhahn, der Heftige“ (Volker Roos). Wie sich herausstellt, haben die in knappen Schurz-Kostümen stolzierenden und meist dröhnenden, doch zuweilen auch geziert parlierenden Herren jeweils heimlich des anderen Gattin verspeist. Als Witwer also sehen die kannibalischen Fürsten sich nun wieder. Ihr Beratungsthema: die verhasste Entdeckung ihrer Inselwelt durch Europäer. Gegen solche „Globalisierung“ wollen sie sich wappnen.

Weil das Jagdglück bei der Tierhatz nicht hold war, will Abendwind seinem Gast halt einen menschlichen Fremdling und Friseur namens Arthur (Albert Bork) servieren, der als Schiffbrüchiger auf der einsamen Insel gestrandet ist. Des Herrschers Leibkoch Ho-Gu (Klaus Herzog) wetzt schon die Messer. Doch mit diesem Arthur, der sich flugs in Abendwinds 16jähriges Töchterlein Atala (Nicola Thomas) verguckt, hat’s eine besondere Bewandtnis..

Mit ein paar wienerischen Tonfällen beginnt das Spektakel. Doch derlei Anklänge verlieren sich. Es werden etliche hinterlistige Dialekt-Anspielungen ausgelassen (die in unseren Breiten zum Großteil erklärungsbedürftig wären). Doch vor allem wird Nestroy einiges von seiner funkelnden Bosheit genommen.

Dünne Decke der Zivilisation vorsichtig lupfen

Hie und da lupft man die dünne Decke der Zivilisation, doch nur ganz vorsichtig. Magelli erspart uns eine blutige Menschenfresser-Orgie. Diese leichthändige Inszenierung will gar nicht mehr sein als Farce, Burleske, Inselwitz, Karneval, Slapstick und Geierabend. Solche Gefilde werden allemal recht stilsicher angesteuert. Sich begnügen bringt auch Vergnügen.

Mit Schmäh und gezieltem Über-Dreh grantelt man die Couplets und Lieder des Jacques Offenbach, die hier innig zum Stück gehören. Herrlich schräg und fast falsch tönt’s – genau so ist es richtig. Manchmal klingt es beinahe schon nach Brecht/Weill, doch auch Mozart hallt noch nach. Zwischendurch dringt mancher bedrohliche Urklang wie aus unvordenklicher „Traumzeit“ der Aborigines hinein. Ein weißer Bär (Simone Thoma), Sinnbild des Irrationalen, tapst durch die Szenerie, bis er ein für allemal verschwunden ist. Hier ist kein Platz mehr für kultisch verehrte Wesen.

Gespielt wird mit Lust am absurden Detail. Man tollt und kobolzt zwischen Plastikpalmen. Jeweils ein Schauspieler genügt, um die beiden Völker der Herrscher erzkomisch darzustellen (Fabio Menendez, Steffen Reuber). Und jener „Hulla-Hulla“-Kriegsgesang der Papatutuaner, eine Art Nationalhymne der wilden Staatsgäste, hört sich glatt nach „Humba, Humba, Täterää“ an. Kamelle!

Termine: 25., 27. März, 22., 30. Art April. Karten: 0208/5 99 01 88.




Wie eine Bußpredigt zur Umkehr – „Der Untenstehende auf Zehenspitzen“ von Botho Strauß

Von Bernd Berke

Botho Strauß gilt als erklärter Widersacher der Gegenwart. Hier und jetzt verbucht er lauter Verluste. In seinem neuen Buch führt er abermals Klage: Es schwinde jede wahre Sinnlichkeit, es verflüchtige sich jeder feste Glaube.

Es wachse hingegen die Abstumpfung, und süchtige Sex-Mechanik habe den „heiligen Sexus“ verdrängt. Allmählich vergehe sich auch die Fähigkeit, das Vermisste auszudrücken, weil die dafür nötige Sprache kaum noch gebräuchlich sei.

Angesichts solch düsterer Befunde war es umso erstaunlicher, jüngst von einer raren Begegnung mit dem äußerst zurückgezogen in der Uckermark lebenden Autor zu lesen. Strauß, so die FAZ-Sonntagszeitung, habe sich in seiner Einsiedelei ein privates DVD-Kino mit allem HighTech-Komfort eingerichtet. Hin und wieder bitte er die Dorfbewohner zu Filmabenden (nicht nur stilles Kunstkino, sondern „Matrix“, „Blade Runner“ und dergleichen). Per Internet forsche Strauß zudem stets nach Neuerungen auf dem DVD-Sektor.

Das Internet als Menetekel der Sinnleere

Doch keine Bange, Strauß ist nicht etwa zum besinnungslosen Technik-Freak mutiert. Für alle, die seinen mythischen Feinsinn als gewisse Gegenkraft zur Banalität schätzen, rückt er jetzt im Buch „Der Untenstehende auf Zehenspitzen“ die Verhältnisse wieder zurecht. Gerade das Internet, in dem alles zugleich vorhanden und gleich unwirklich ist, dient ihm als Menetekel anschwellender Sinnleere. Doch Rettendes wächst wohl auch: Die herrschende Desorientierung sei vielleicht ein Nährboden fürs gänzlich Unerhörte.

Der Band enthält Reflexionen, Notizen, gedankliche Essenzen. Am Horizont dieser Aufzeichnungen droht konkret der Umbau des Menschen, durch Klon-Technik oder computerelektronische Invasionen des Leibes und der Seele. Manche Zeit-Genossen, so stellt Strauß bestürzt fest, hätten sich bereits in solcher Zukunft eingerichtet, indem sie effektiv, cool und folgenlos durchs Dasein „surfen“. Cool sei man nur unter Missachtung fremden Leids..

Sehnsucht nach neuer Frömmigkeit

Dagegen versucht Strauß, als sei’s zum letzten Male, vor- und überzeitliche Mächte zu beschwören: die Poesie mit ihren uralten Welt-Bildern, die auf einsamen Wanderungen beobachtete Natur, die Vorboten höherer „Erscheinungen“, mithin auch Religion und Mythen – und das wunderbar‘ „törichte“ Staunen wie aus Kindertagen.

Strauß ersehnt neue „Passion“ und Frömmigkeit, wünscht sich „Aufschub“ in rasender Zeit. Man ahnt: Wir sind mitten in einer traditionsbewussten Bußpredigt der Umkehr und des Innehaltens.

Strauß schreibt an gegen missliche Folgen der Aufklärung und Selbstverwirklichung. Er wolle sich nicht befreien, sondern (gleichsam auf Zehenspitzen) aufblicken und Kostbares „empfangen“. Und er bekennt eine „Schuld“ aus APO-Zeiten, als auch er über allem soziopolitischen Geschrei einen Dichter wie Georg von der Vring übersehen habe, der 1968 starb.

Windkrafträder löschen alle Dichter-Blicke

Die Landplage der Ökologie bringt ihn in Harnisch: „Eine brutalere Zerstörung der Landschaft, als sie mit Windkrafträdern zu spicken und zu verriegeln, hat zuvor keine Phase der Industrialisierung verursacht. Es ist die Auslöschung aller Dichter-Blicke von Hölderlin bis Bobrowski.“ Recht hat er.

Manches könnte man schrullig oder „reaktionär“ finden, wenn es denn so simpel zufassen wäre. Strauß‘ haarfein ausdifferenzierter Kulturpessimismus stellt jedoch trennscharfe Diagnosen und deutet womöglich gar auf Heilkräfte in der Krise hin. Denn hier wird zwar hochfahrend gedacht, aber demütig empfunden. Wer zornig wird wegen der Strauß’schen Gegenaufklärung, der darf noch diesen Satz des Autors wägen: „Jede Meinung ist mir fremd, doch ich genieße sie.“

Botho Strauß: „Der Untenstehende auf Zehenspitzen“. Hanser, 169 Seiten, 17,90 Euro.

 




„Den Menschen nicht absacken lassen“ – Dortmunder Autor Josef Reding wird 75 Jahre alt

Von Bernd Berke

Dortmund. Er gilt als durchaus gesprächig, auch in eigener Sache. Doch literarisch äußert er sich sehr knapp und unprätentiös. Ohne Umschweife und fast schmucklos steuern Josef Redings Kurzgeschichten und Gedichte auf die Realität zu. Er möchte rasch wirken, da halten gedrechselte Feinheiten nur auf.

Reding, 1929 in Castrop-Rauxel als Sohn eines Filmvorführers geboren und seit 1965 in Dortmund lebend, wird heute 75 Jahre alt. Weit über 30 Bücher gibt es von ihm, übersetzt in 16 Sprachen und vielfach preisgekrönt. Den kurzen Formen blieb er durchweg treu.

Ein Gedicht über Dortmund beginnt so: „Meine Stadt ist oft schmutzig; / aber mein kleiner Bruder / ist es auch / und ich mag ihn. / Meine Stadt ist oft laut; / aber meine große Schwester / ist es auch / und ich mag sie.“

Einfache Sätze, klare Botschaft. Kein Wunder, dass solche lehrhaften „Gebrauchstexte“ Eingang in Schulbücher gefunden haben. Reding begreift Kinder als hoffnungsvolle Zielgruppe. Sie könnten die Welt noch ändern.

Früh die heiklen sozialen Themen aufgespürt

Sein erstes Buch („Silberspeer und roter Reiher“) erschien 1952, bevor Reding sein Abi machte. Zwei Jahre lang arbeitete er ganz handfest als Betonwerker, dann erst begann er ein Studium. Sehr zeitig erkannte Reding soziale Themen, die erst später breit debattiert wurden. So griff er etwa 1954 in „Trommlerbub Ricardo“ den Kolonialismus und die Ausrottung mexikanischer Indianer auf. Seine dokumentarische Textmontage „Friedland. Chronik einer Heimkehr“ (1956) schildert die Leiden der Heimatvertriebenen. Andere stießen erst jüngst auf dieses lange politisch verminte Themenfeld.

In Harlem und New Orleans engagierte sich Reding für die Bürgerrechtsbewegung des Martin Luther King (Buch: „Nennt mich nicht Nigger“). Drei Jahre lang lebte und half er in den Lepragebieten Asiens, Afrikas, Lateinamerikas. Reding stellt sich stets auf die Seite der Schwachen.

Seine Leitsterne sind Mitmenschlichkeit und notfalls gewaltloser Widerstand. Davon zeugen auch Tagebücher wie „Reservate des Hungers“ (1964) und „Menschen im Müll“ (1983). Redings Engagement ist christlich motiviert, Ethik geht im Zweifelsfalle vor Ästhetik. „Ich bitte im Grunde darum“, schrieb er einmal, „den Menschen nicht absacken zu lassen, ihn nicht aufzugeben.“ Doch in der Literaturgeschichte sind leider die gütigen, wohlmeinenden Menschen nur selten die Avantgarde gewesen.




Peter Paul Rubens auf Schritt und Tritt entdecken – ein Streifzug durch Antwerpen

Von Bernd Berke

Antwerpen. Was wahr ist, muss wahr bleiben: Mag auch Europas französische Kulturhauptstadt Lille heuer die größte Rubens-Ausstellung zeigen, so klingen doch die Grundtöne seiner Lebensmusik besonders in der belgischen Hafenmetropole Antwerpen nach. Einladung in eine wunderschöne Stadt – zu Rundgängen auf den Spuren des Peter Paul Rubens:

In Antwerpen, der Stadt seiner Vorfahren, hat der 1577 in Siegen geborene Barock-Meister (nach Kölner Kindheit und unterbrochen durch italienische Lehr- und Wanderjahre) gewohnt und gewirkt; sporadisch ab 1589, dauerhaft von 1608 bis zu seinem Tod 1640.

Es „rundet“ sich weder das Geburts- noch das Sterbedatum, dennoch kann man füglich von einem „Rubens-Jahr“ sprechen. Als hätten sich die Städte verabredet, rücken auf einmal überall seine Werke in den Mittelpunkt. Antwerpen wollte erst 2005 einen Rubens-Zyklus beginnen, doch das Palais des Beaux-Arts in Lille preschte vor und trieb die Belgier zur Eile.

Neben diesen beiden Kommunen, die nun auf Basis eines gemeinsamen flämischen Erbes halbwegs vernünftig kooperieren, beteiligen sich u. a. Genua, Kassel, Braunschweig und New York am Reigen. Wenigstens Lille und Antwerpen sollte der Reisende koppeln, die Distanz mit Bahn oder Auto beträgt knapp zwei Stunden.

Vielleicht ist die Zeit wieder reif für seine Kunst

Vielleicht ist die Zeit einfach mal wieder besonders „reif“ für Peter Paul Rubens, für seine überwältigende Dynamik und Dramatik, die er (nach eher verhaltenen Anfängen) etwa ab 1612 mit leuchtenden Farben und oft diagonal zugespitzten Kompositionen noch jedem mythologischen oder biblischen Thema abgewann – bevor sich das Spätwerk des Gichtkranken auf intimere Porträts und Landschaften konzentrierte.

Geradezu berüchtigt sind die schwellenden, ungeheuer fleischlichen Körper seiner Frauenfiguren. Mit ihren drallen Formen hielten sie gleichsam ein malerisches Markenzeichen allzeit im Gedächtnis – bis hin zu jenen Heirats-Annoncen, in denen sich „Rubens-Damen“ anpreisen.

Propagandist der Gegenreformation

Einen wirksameren Bild-Propagandisten hat die Gegenreformation jedenfalls schwerlich hervorgebracht. Mit Marienverehrung und Verherrlichung der Eucharistie hat ausgerechnet Rubens, Sohn eines Calvinisten, eben jene Glaubensdinge betont, von denen sich die Protestanten verabschiedet hatten. Überdies genoss der polyglotte Mann auch als weltgewandter politischer Diplomat einen blendenden Ruf.

Dies bietet keine andere Stadt: Mit etwas Phantasie begegnet man dem barocken Künstler in Antwerpen (Slogan: „Entdecke P. P. Rubens“) auf Schritt und Tritt. Denn hier steht das famose Rubens-Huis, in dem der Maler mit Familie und zahlreichen Werkstatt-Schülern gelebt hat. Die vor allem im Hofbereich wahrhaft großbürgerliche Wohnstatt am Wapper hat Rubens nach italienischen Vorbildern gestaltet – mit ehrwürdigem Portal und zauberhaftem Garten.

Auch als Sammler häufte er Kostbarkeiten an

Drinnen findet man nicht nur manche Bilder von Rubens‘ eigener Hand, sondern auch anderweitige Schätze, die er gehortet hat. Die Hinterbliebenen sollten gut versorgt sein: Eine deshalb nach seinem Tod geführte Verkaufsliste enthielt rund tausend Nummern, darunter Gemälde vom Werkstatt-Gefährten Anthonis van Dyck, aber auch von Dürer, Tizian und Tintoretto; zudem antike Skulpturen, für die der wohlhabende Rubens einen Pantheon errichten ließ. Anhand der Aufstellung ließ sich mit ziemlicher Sicherheit sein Kunstbesitz rekonstruieren. Jetzt werden die Kostbarkeiten in der Schau „Rubens als Sammler“ (bis 13. Juni) erstmals in solcher Breite gezeigt.

Der virile Herr stellte gerne pralle Frauenleiber dar

Hochinteressant sind die (kon)genialen Kopien oder auch beherzten Retuschen, die Rubens vor allem nach Werken venezianischer Maler schuf. Vergleicht man sie mit den Originalen, so zeigt sich, dass Rubens häufig weibliche Kleider-Ausschnitte erheblich tiefer ansetzte oder gar üppige nackte Brüste prangen ließ, wo das Vorbild sich noch züchtig gab. Der virile Herr (drei Kinder mit Isabella Brant, vier mit seiner zweiten Frau Helene Fourment) war eben kein Kostverächter.

Auf sinnreich zusammengestellten „Stadtspaziergängen“ kann man in Antwerpen auch sonst seine Wege beschreiten, so etwa geradewegs vom Rubens-Huis zur St. Jacobskirche in der Lange Nieuwstraat. Man schreitet just durchs Privat-Portal, das seinerzeit dem honorablen Rubens vorbehalten war. Hier wurden einige seiner Kinder getauft, hier befindet sich sein Grabmal, gekrönt vom Bild „Maria, umringt von Heiligen“. Hernach wendet man sich zum Rockoxhuis in der Keizerstraat, benannt nach Nicolaas Rockox, dem damaligen Bürgermeister. Er war mit Rubens befreundet und verschaffte ihm manche Aufträge.

39 Deckenbilder bei einem Brand zerstört

Weiter geht’s: An den Entwürfen zur St.-Carolus-Borromäuskirche hat Rubens selbst mitgewirkt, abermals im italienischen Stile. Seinem Einfluss also verdanken wir den Barockturm und die mit Posaunenengeln geschmückte Fassade. Für die Seitenschiffe entwarf er nicht weniger als 39 Deckenbilder, die 1718 bei einem Brand zerstört wurden. In der St.-Pauluskirche am Veemarkt erstrahlen 15 Gemälde zum Mysterium des Rosenkranzes. Sie stammen von Rubens („Die Geißelung Christi“ und anderen, kaum minder begnadeten Künstlern wie van Dyck, David Teniers und Jacob Jordaens.

In der Liebfrauenkathedrale darf man u. a. Rubens‘ berühmte Triptychen „Die Kreuzaufrichtung“ und „Die Kreuzabnahme“ bewundern. Letztere entstand ab 1611 im Auftrag der örtlichen Schützengilde. Fürs selbe Gotteshaus schuf Marten de Vos gar eine kulinarische „Hochzeit zu Kana“ auf Geheiß der Wirte und Weinhändler.

Reichhaltige Bibliothek des Malers

Rubens hat nicht nur gemalt, sondern auch viel gelesen. Davon kann man sich bis 13.Juni im Museum Plantin-Moretus am Vrijdagmarkt überzeugen. Bücher aus seiner reichhaltigen, mühsam rekonstruierten Bibliothek sind hier erstmals zu sehen. Lateinische oder griechische Titel aus etlichen Bereichen (Botanik, Archäologie, Mathematik, Architektur) belegen den universalen Bildungsanspruch.

Am Anfang seiner zweiten Ehe kaufte Rubens galante spanische Liebesromane von Lope de Vega und Cervantes. Wahrscheinlich hat er die anregenden Schriften mit seiner Gattin im Schlafgemach gelesen.

Anreger einer aufgewühlten Romantik?

Antwerpens Königliches Museum für schöne Künste steht nicht beiseite, wenn es um Rubens geht. Schließlich verwahrt man hier einige wichtige Werke, von denen nur wenige an Lille ausgeliehen worden sind. Ein Bildersaal prunkt mit monumentalen Formaten wie „Die letzte Kommunion von Franz von Assisi“. Hier knüpft nun bis 13. Juni eine Sonderausstellung an, die Rubens‘ Fernwirkung erkundet. Farbschwelgerei gegen klare Linie: Rubens soll als Anreger einer aufgewühlten Romantik erscheinen und somit als Gegenpol des ruhigen Klassizismus.

Die These geht nicht so recht auf, bzw. sie ließe sich auch mit ganz anderen Exponaten aufstellen. Doch wer wird jammern, wenn die Behauptung mit herrlichen Werken von Ingres, Delacroix oder Courbet illustriert wird? Dass auch ein Genius wie Rubens nicht vom Streit der (Kunst)-Welt verschont blieb, belegt in dieser Schau ein Zitat des Dichters Charles Baudelaire, der den Maler als öden Quell aller Banalität gescholten hat. Wer sich so ereifert, ist wohl noch lange nicht „fertig“ mit Rubens.

Informationen: „RubensHotline“: 0032/70 233 799. Internet: www.rubens2004.be (beides auch auf Deutsch).

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P. P. Rubens aus Siegen

Wie kam es, dass Peter Paul Rubens 1577 gerade in Siegen geboren wurde? Dahinter steckt eine dramatische Vorgeschichte.

Rubens‘ Vater Jan, ein bis dato angesehener Jurist, hatte sich auf eine amouröse Geschichte mit seiner Klientin Anna von Sachsen eingelassen. Deren Gatte war kein Geringerer als Wilhelm von Oranien. Dem Ehebrecher Jan Rubens drohte gar die Todesstrafe. Die verzweifelte Anna und Jan Rubens‘ außerordentlich großmütige Ehefrau Maria Pypelinx setzten sich unermüdlich für ihn ein. So wurden Jan und Maria „nur“ für einige Jahre nach Siegen verbannt. Und hier begab es sich, dass…

 




Die Musik der Farben – Bildertausch auf Zeit: Köln zeigt Werke der Gruppe „Blauer Reiter“ aus München

Von Bernd Berke

Köln. Der Presseandrang war gestern nicht ganz so groß, als hätten Bayern München und der 1.FC Köln ihre Kicker ausgetauscht. Doch ein hochkarätiger Bilderwechsel zwischen den beiden Metropolen beschäftigt die Szene schon seit Wochen. Geradezu atemlos wurde jeweils vermeidet, welche Kunstschätze wann, wie, wo und warum auf die Reise gingen.

Nun ist es so weit: Fast 1000 Werke von Pablo Picasso hängen (aus Beständen des Kölner Ludwig Museums kommend) im Münchner Lenbachhaus. Und 65 sonst in München verwahrte Gemälde der legendären Künstlergruppe „Der Blaue Reiter“ sind am Rhein zu sehen. Die Debatte wird nicht so bald verstummen: Offenbart der bloße Tausch schiere Ratlosigkeit, oder ist er kulturpolitisch beispielhaft?

Luftiger präsentiert als am angestammten Ort

Vergleicht man lediglich die Anzahl der Exponate, so muss man argwöhnen: Die Münchner haben die Kölner über den Tisch gezogen, fast wie beim Fingerhakeln. Doch zum Picasso-Konvolut zählen etliche kleinere Papierarbeiten, und außerdem kann man ästhetische Dinge ohnehin nicht aufrechnen.

Was also bietet Köln? Einen ordentlichen Querschnitt durch die Münchner Kollektion. Nicht jeder hiesige Kunstfreund fährt alleweil an die Isar. Was dort an farbigen Wänden hängt, wird in Köln auf keuschem Weiß und mit größeren Zwischenabständen präsentiert. Man kann sich also mehr aufs Einzelwerk konzentrieren als am angestammten Ort.

Such nach dem „Geistigen in der Kunst“

Den größten „Auftritt“ hat Wassily Kandinsky, doch auch Franz Marc, August Macke, Alexej Jawlensky und Gabriele Münter sind prominent vertreten. Münter war es, die 1957 dem Lenbachhaus ihren privaten Kunstbesitz vermachte – bis heute der Löwenanteil der Sammlung.

Die Gruppierung „Blauer Reiter“ war in Bayern verankert. 1908 zogen Kandinsky und seine Gefährtin Gabriele Münter nach Murnau ins Voralpenland. Jawlensky und seine Freundin Marianne von Werefkin gesellten sich hinzu. Kandinsky wurde zur nervös treibenden Kraft bei der Suche nach dem „Geistigen in der Kunst“. Freischwebend wie Musik sollten Farben „erklingen“.

1911 gab es die erste gemeinsame Ausstellung. Als Kandinsky sich 1914 von Munter trennte, zerfiel die Gruppe schon. Auch künstlerisch hatte man sich verschieden entwickelt.

Die stille Sensation ist Gabriele Münter

Bei Kandinsky kann man den Weg von russischen Folklore-Anklängen bis in die Abstraktion verfolgen. Von Marc sieht man postkartenberühmte, kristalline Tierbilder („Der Tiger“), von Jawlensky grelle, dann meditative Köpfe, von Macke jene anmutigen Szenen im Zoo und vorm Hutgeschäft.

Die stille Sensation aber ist: Gabriele Münter! Ihr Gestus bleibt bei allem Neuerungswillen unaufdringlich. Ihre Bilder sind psychologisch durchtränkt und inniglich dingfromm. Keine brachiale, sondern eine sanftmütig lächelnde Avantgarde.

Museum Ludwig, Köln. 13. März bis 27. Juni. Di bis Do und Sa/So 10-18, Fr 11-18 Uhr. Katalog 31 Euro.

 




Luftige Bilder zum Durchatmen – Werke von Max Liebermann in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Pomp und Pathos der Gründerzeit waren ihm wesensfremd. Max Liebermann (1847-1935) stammte aus großbürgerlichem Hause. Von früh auf an gediegenen Reichtum gewohnt, hatte er das Imponiergehabe von nationalistischen Emporkömmlingen eben nicht nötig. Doch den Künstler bewegte das Leben jener Menschen, die mit harter Arbeit ihr kärgliches Dasein fristeten.

Im stilistischen Gefolge der niederländischen Genremalerei (die sich freilich oft in derben Zechgelagen und erotischem Handgemenge genügte), malte Liebermann Bauern, Knechte, Mägde, Korbflechter, Gänserupferinnen, Näherinnen oder Waisenkinder – und zwar keineswegs „von oben herab“.

Keine Sozialkritik, aber auch keine falsche Idylle

Diese zumeist erdfarben dunklen Bilder lassen den einfachen Leuten ihre Würde. Von barscher Sozialkritik sind sie eben so weit entfernt wie von verlogener Idylle. Statt dessen: Realistisch feststellen, was ist! Doch diese Sichtweise reichte schon, um ihn im Kaiserreich als „Apostel der Hässlichkeit“ mit vermeintlich „anarchistischen“ Neigungen zu brandmarken. Jedweder Naturalismus galt als suspekt. Dahinter verbarg sich wohl die Angst vor der schlichten Wahrheit.

Wuppertals Von der Heydt-Museum präsentiert jetzt einen Werk-Überblick mit 120 Liebermann-Arbeiten, darunter etwa 90 Gemälde. „Poesie des einfachen Lebens“ lautet der Titel, der ein Zitat des Künstlers aufgreift. Der französische Impressionismus (vor allem Manet) setzt sich mit den Jahren als prägender Einfluss durch. Liebermanns Palette hellt sich deutlich auf, der Pinselstrich wird freier und freier, bis hin zu pastos verteilten „Farb-Pfützen“.

Das Leben am Strand, im Biergarten, beim Pferdesport

Die arbeitenden Menschen rücken allerdings in den Hintergrund. Jetzt ergeht sich eine damalige, gewiss halbwegs betuchte Freizeitgesellschaft an Stränden (Noordwijk, Scheveningen), in Biergärten (München, Leiden) oder beim gehobenen Pferdesport. Herrlich luftig wirkt etwa das Bild „Polospieler“. Geht man näher heran, so sieht man, dass die durch rasche Bewegung nahezu verwischten Reittiere aus ingeniös dahingetupften Farbflecken bestehen.

Auf stille Art bezwingend auch die stets zurückhaltenden, äußerst subtil charakterisierenden (Selbst)-Porträts. Albert Einstein, Thomas Mann und Ferdinand Sauerbruch haben ihm Modell gesessen. Liebermann mied dabei jegliches optische Auftrumpfen; erst recht bei den späteren, eine abgeschirmte Ruhe beschwörenden Rückzugs-Idyllen aus dem Garten seiner herrschaftlichen Villa am Berliner Wannsee. Bilder zum Durchatmen!

Legendär sein Ausruf, als die Nazis 1933 die Macht an sich rissen und der fassungslose Liebermann die Fackelzüge sah: „Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte!“ Die NS-Herren verfemten den Maler des liberalen Großbürgertums wegen seiner jüdischen Herkunft als „entartet“. Verbittert ist Max Liebermann gestorben.

Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Turmhof 8). So., 14. März bis 23. Mai. Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Katalog 34,80 Euro.




Exzess und Geborgenheit – Berlinale-Sieger „Gegen die Wand“ von Fatih Akin

Von Bernd Berke

Wahrlich, das gibt es im deutschen Kino höchst selten: Dass ein Film die raue Wirklichkeit nahezu ungefiltert auf die Leinwand bannt, ja uns geradezu damit anspringt – und noch dazu eine überlebensgroße Liebesgeschichte erzählt. Auch wenn Fatih Akins „Gegen die Wand“ kein zwingender Berlinale-Sieger sein sollte, so ist er doch der Ehren würdig.

Der 40-jährige Cahit (auf barsche Weise einprägsam wie derzeit kaum ein Darsteller in unseren Breiten: Birol Ünel) ist „ganz unten“ in den Gossen des Alkoholismus angelangt. Im Vollrausch pflanzt der Deutsch-Türke seinen rostigen Ford frontal gegen eine Hamburger Betonwand. Offenkundig ein Selbstmordversuch.

„Ich will leben, tanzen, ficken“

In der Klinik setzt ihm das schöne Mädchen Sibel zu (ebenbürtiger Widerpart: Sibel Kekilli, über deren vorherige Pornofilme wir hier kein Wort mehr verlieren, weil’s nichts zur Sache tut). Sibel also hat sich die Pulsadern so gezielt aufgeschlitzt, dass sie nicht inLebensgefahr schwebt, wohl aber ihren sittenstrengen türkischen Eltern entkommt. Sie bedrängt Cahit nun mit sanfter, dann roher Gewalt: Er solle sie gefälligst heiraten. Sie wolle nur ihre Freiheit und werde ihn in Ruhe lassen. Klares Ziel: „Ich will leben, tanzen, ficken.“

Cahit stößt sie anfangs rüde zurück. Wahrscheinlich keimt aber hier schon die Liebe, gegen die beide sich lange wehren. Irgendwann heiraten sie zwar, allerdings nur pro forma. Doch als sie seine versiffte Säufer-Hütte nach und nach mit Leben füllt, lässt sich der Berserker Zug um Zug besänftigen. Ein vages Gefühl von „Zuhause“ beschleicht ihn, obwohl sie fast jede Nacht mit einem anderen schläft und nie mit ihm.

Sibel ist stärker als er, sie zieht ihn aus dem Sumpf, obwohl beide schon mal gemeinsam „koksen“. Exzess und Geborgenheit passen hier wunderlich zusammen. Doch dann begeht Cahit einen Eifersuchts-Mord und kommt in den Knast. Wird Sibel wie versprochen auf ihn warten, oder wird sie andere Wege gehen? In Istanbul trifft man sich Jahre später wieder…

Neben dem furiosen Auf und Ab dieser Liebe gerät die desolate Umgebung ins Visier. An vorwiegend trostlosen Orten skizziert Akin andere Frauen- und Mannsbilder.

Musterstück eines neuen deutsch-türkischen Filmgenres

Da ist die Friseuse Maren (Catrin Striebeck), mit der es Cahit gelegentlich treibt, die sich nicht nur im Bett als rabiate, illusionslose „Punkerin“ geriert; Sibels Cousine Selma hingegen macht eiskalt Karriere im Istanbuler Hotelgewerbe. Zwei herzlose Gestalten, die nicht entfernt an Sibels Vitalität heranreichen. Zudem erleben wir in Cahits Umfeld üble Beispiele türkischen Macho-Verhaltens: Die Frau daheim trage ihr Kopftuch und hege die Kinder, der Mann besucht der weil das Freiwild im Bordell. Eine Liebe, die sich gegen solche Rollenvorgaben behauptet, wiegt doppelt.

Hier haben wir sogleich das schwer zu übertreffende Musterstück eines Filmgenres: Diese Melange aus deutschen und türkischen Tönungen ist bislang einzigartig. Zuweilen wechseln die zwischen beiden Ländern wurzellos gewordenen Figuren das Idiom mitten im Satz. Mentale und seelische Akzente neigen sich im Verlauf der Handlung freilich immer mehr der türkischen Seite zu. So driftet denn das Geschehen auch zusehends von Hamburg nach Istanbul, wo es lauter, bunter, lebendiger, gefährlicher zugeht.

Schon vorher hat die Hansestadt eher wie eine zufällige Metropolen-Staffage gewirkt, Menschen deutscher Abstammung kommen praktisch nicht vor. Man sieht eben eine andere Seite dieses Landes. Fatih Akin beweist hier genaueste Milieukenntnis. Bestürzend authentisch, ohne falschen Zungenschlag, entfaltet sich das wuchtige Drama.




Bevor die alten Orte vergehen – Die Bilderwelt des Rolf Escher auf Schloss Cappenberg

Von Bernd Berke

Selm/Cappenberg. Hier sind die alten Werte noch in Kraft: immenser Fleiß, geduldige Beschäftigung mit den Sujets, altmeisterliche Sorgfalt in der Ausführung. Auch die schweigsamen Motive des Künstlers Rolf Escher scheinen vom Stillstand der Zeit zu künden – oder zumindest von der Sehnsucht, sie möge langsamer, behutsamer fließen und nichts wegreißen.

Auf Schloss Cappenberg wird dem 1936 in Hagen geborenen Escher jetzt die größte Retrospektive ausgerichtet, die seinem Werk je zuteil wurde. Rund 250 Zeichnungen, Aquarelle und druckgraphische Arbeiten aus den letzten 30 Jahren sind im herrschaftlichen Gemäuer zu sehen. Wie gut sie gerade hierher passen! Denn Escher sucht stets altehrwürdige Stätten auf, auf die sich eine Patina der Überlieferung gelegt hat. Selbst in New York interessierten ihn nur die ältesten Hochhäuser mit architektonischen Schnörkeln.

„Der letzte Leser“ erscheint als Skelett

Mit Verlaub: Man fragt sich, wie es ein Mann mit solchen Vorlieben am vergleichsweise gesichtslosen Wohnort Essen aushält. Gar manches wirkt schon ziemlich morbide und dem baldigen Verfall anheimgegeben. Geschichtsträchtig aber ist es allemal: In Venedig hat sich Escher vielfach umgetan, in München und Wien, London und Paris, in Barcelona, Lissabon und Dresden; zudem in etlichen traditionsreichen Theatern oder Bibliotheken des Kontinents, in deren Kabinetten man Lust bekommen könnte auf schier endloses, zeitvergessenes Stöbern – bis schließlich „Der letzte Leser“ (Bildtitel) als Skelett erscheint und auf fast barocke Weise an Vergänglichkeit gemahnt.

Finaler Auftritt für verlassene Häuser

Das „Damals“ weht durch alle Räume: In Weimar geistert die Historie in Gestalt von Klassiker-Büsten oder einer Goethe-Maske stumm durchs Bild. „Mitteilungen aus verlassenen Häusern“ heißt ein Escher-Zyklus. Tatsächlich existieren manche Paläste und Villen schon jetzt nicht mehr, die der Künstler bildlich erfasst, mit sanfter Emphase angereichert und somit bewahrt hat. Hier haben sie ihren finalen Auftritt, mit leiser Wehmut wird ihnen die Bühne bereitet.

Einen wunderbar altmodischen Friseursalon in Lissabon hat Escher nachts aufgesucht. Doch nicht leblos bleibt bei ihm der leere Raum: Wo keine Menschen sind, führen die Dinge mitunter ihr Eigenleben, sie steigern sich hinein in eine magische Realität der verblassenden Farben. Und manchmal stehen sie gleich für menschliche Begebenheiten: Leere Stuhlreihen wandeln sich zu Zeichen der Erwartung, als hätte der Künstler ihnen Seele eingehaucht. Und zwei abgewetzte alte Taschen firmieren höchst glaubhaft als „Alterndes Paar“, sozusagen eine ledrig gewordene Liaison mit den Schrammen der vielen Jahre.

Rolf Escher – „ZeitOrte“. Schloss Cappenberg, ab 29. Februar bis zum 6. Juni 2004. Di-So 10-17 Uhr, Katalog 22 Euro.




Wenn Ibsen uns anbrüllt – Volker Lösch murkst in Oberhausen den „Volksfeind“ mit Skandal-Gehabe ab

Von Bernd Berke

Oberhausen. Sieben rote Laufbahnen auf ansonsten leerer Bühne streben stracks auf den Zuschauerraum zu. Es sieht so aus, als könnte hier gleich eine Sprint-Konkurrenz beginnen. Tatsächlich kommt man fix aus den Startblöcken, und die Ziellinie ist auch zeitig erreicht: In knapp 90 Minuten ist das Stück abgetan, bei dem es sich um Henrik Ibsens „Ein Volksfeind“ handeln soll.

Der Kleinstadt-Arzt Dr. Stockmann hat entdeckt, dass das Wasser aus der Heilbad-Quelle des Ortes verseucht ist. Diesen Umweltskandal will er sogleich in der Zeitung publik machen. Der Redakteur ist Feuer und Flamme, schwingt linksradikale Phrasen. Auch alle anderen wollen den Arzt lauthals unterstützen. Doch Stockmanns Bruder ist Bürgermeister und vertritt touristische Interessen. Nach und nach kippen die Opportunisten um und huldigen der Stadtspitze im Namen einer „kompakten Majorität“. Als wär’s ein Stück von heute.

Grotesk gehetzte Figuren eilen über die Laufbahn

Unter der Regie von Volker Lösch geht alles rasch und lärmend vonstatten. Die eingangs erwähnten Laufbahnen (Bühne: Carola Reuther) werden weidlich genutzt. Die Figuren, grotesk gehetzt von Karriere-Geilheit und ökonomischen Zwangslagen, sausen hier ständig auf und ab wie in einer schrillen Spielshow. Sie kommen kaum zu Atem, mithin nicht zur Sprache. Deshalb müssen sie Ibsen japsen – oder bellen, brüllen und juchzen.

Dennoch: Bis zu einem gewissen Grad sind Bewegungsabläufe und Figurenzeichnung stimmig angelegt. Prägnant arbeitet Jeff Zach das Doppelwesen des beileibe nicht nur edlen Stockmann heraus. Der Doktor ist von seiner Öko-Mission so erleuchtet, dass fiebriger Glanz in seinen Augen glimmt. Auch Frank Wickermann als Bürgermeister findet zur ansehnlichen Parodie amtlichen Krisengejammers, mit kaum verhohlenen Drohungen unterfüttert.

Doch dann wird das Stück brachial abgemurkst: Um uns zu beweisen, dass in Dr. Stockmann ein verbaler Amokläufer steckt, lässt Lösch ihn gegen Ende (assistiert von der Ehefrau und der ihm fast inzestuös ergebenen Tochter) eine rabiate Volks(feind)-Rede auskotzen, direkt vor die Zuschauer hin. Es ist eine kalkulierte Überschreitung des reinen Spiels. Und darauf darf man entsprechend antworten.

Zuschauerinnen per Zuruf als „Fotzen“ bezeichnet

Merke: Wir alle, die wir da ach so bräsig sitzen, sind jene Stimmvieh-Idioten, die nichts tun gegen herrschende Mächte. Gewiss treiben diese famosen Theaterleute unterdessen täglich die Revolution voran, nicht wahr? Leider muss Klartext her: Nicht nur pauschal, auch per Einzelzuruf werden Frauen im Zuschauerraum als „Fotzen“ bezeichnet, zudem krähen die Schauspieler, dass sie in diesem „verfickten Saal‘ nicht auftreten wollen. Ach, dann lasst es eben bleiben! Müßig zu erwähnen, dass Stockmann sich bei seiner wüsten Tirade splitternackt auszieht und sich wie ein geschundener Christus geriert. Vermutlich dient auch dies der Wahrheitsfindung.

Geradezu putzig, dass Intendant Johannes Lepper die Abonnenten brieflich vorgewarnt hatte. Einige Premierenbesucher taten der Truppe den offenbar heiß ersehnten Gefallen, Reißaus zu nehmen. Andere gaben sich abgebrüht, manche lachten. Mit ungleich minderen Mitteln ausgestattet als vor Jahrzehnten Peter Handkes „Publikumsbeschimpfung“, feiern hier ausgeleierte, kläglich ins Leere laufende und niemals ironisch gebrochene „Provokationen“ schaurige Auferstehung. Welch ein bequem subventioniertes Skandal-Gehabe!




Im Sandkasten beginnt das Lebensdrama – Gerhard Henschels „Kindheitsroman“

Schon bald erfasst einen bei Lektüre ein gewisser Unmut. Seite um Seite werden kleine und kleinste Begebenheiten beschworen, etwa solche Erlebnisse bei einer Bahnfahrt: „Für uns hatte Mama Schnitten mit Jagdwurst und Käse eingepackt und zwei Flaschen Sprudel. Den kriegten wir in unseren Kababechern zugeteilt. Wiebkes Becher war rot… Als ich aufs Klo mußte, brachte Mama mich hin, aber das Klo war besetzt. Im nächsten Waggon war noch eins.“

Warum soll uns dieser Kleinkram interessieren? Weil sich mit zunehmender Lesedauer ein Sog entwickelt, dem man nur schwer entrinnen kann. Dies wiederum liegt daran, dass wir alle jene Dinge erlebt haben, die hier äußerst detailfreudig in quasi anekdotischen Häppchen ausgestreut werden.

Heißer Atem des unmittelbaren „Jetzt“

Der „Kindheitsroman“ von Gerhard Henschel (Babyboomer-Jahrgang 1962; zeitweise Satiriker bei „Titanic“) versammelt Hunderte, ja Tausende von Bruchstückchen aus dessen eigener Frühzeit zwischen 1964 und 1975. Da war Henschel zwischen zwei und dreizehn Jahre alt und wuchs in Koblenz auf.

Der Weg führt vom Brabbeln bis zur Pubertät, vom herzigen Sandkasten-Drama bis zum onanistischen Gekritzel ins Schulheft. Einige Phänomene (Plattenhits, TV-Sendungen, Fußball-ldole) sind zwar zeitgebunden, doch es strömt ein Fluidum, das wohl jeglicher Kindheit eigen ist – weit übers Individuelle hinaus. Also taucht man doch tief ein in diese scheinbar läppischen Einzelheiten. Und man fragt sich, warum noch kein Autor diese Jedermann-Idee mit jener (fast penetranten) Konsequenz umgesetzt hat.

Das gesamte Inventar des Alltags

Nach und nach wird das gesamte Inventar eines Kinderalltags aufgerufen; mit allen möglichen Streichen, Verfehlungen, fiebrigen Peinlichkeiten, naiven Sprüchen, doch auch mit ersten Liebesregungen, unbändiger Daseinsfreude und wacher Neugier. Zwischen Krabbelgruppe, Spielplatz, Schulhof und Kinderzimmer weht der heiße Atem des unmittelbaren, ach so vergänglichen „Jetzt“. Wohl jeder Leser dürfte spezielle Klangnuancen aus dem „Sound“ des Familienlebens wiedererkennen.

In all dem verbirgt sich auch Zeitgeschichte. Allein die langen Listen über Geschenke, die der Ich-Erzähler, sein Bruder und seine beiden Schwestern zu Weihnachten oder zu Geburtstagen erhalten haben, zeugen von materiellen und lebensweltlichen Entwicklungen des ganzen Landes; teils schmerzlich kommt die spielerische Einübung der Geschlechterrollen hinzu.

Eltern und Lehrer als Karikaturen

Henschel, dessen Familienroman „Die Liebenden“ viele Kritiker entzückt hat, gibt sich erneut lebensnah und bodenständig. Gänzlich verzichtet er auf eine Reflexion aus Erwachsenensicht. Statt dessen arbeitet er sich, just aus der jeweiligen Kinderperspektive, gleichsam Tag für Tag vor. Jede Altersstufe hat ihr eigenes Recht, ihre eigenen Stunden der wahren Empfindung.

Dafür zahlt Henschel einen Preis: Vor allem die Großen, aber auch kindliche Freunde und Feinde aus der Nachbarschaft erscheinen klischiert. Doch selbst darin steckt innere Wahrheit. Die „Mama“ löst beim Fernsehen jede knifflige Quizfrage, ihre Kinder aber nervt sie mit vorgestanzten Ermahnungs-Sätzen. Erst recht tapern die Lehrer als Karikaturen einher, so wie man sie als Kind eben wahrnimmt.

Staunenswert, dass da jemand noch so genau über seine Kindheit Bescheid weiß und derart viel Sammelfleiß investiert. Henschel muss ein präzises Gedächtnis haben; einiges hat er sich vielleicht nachträglich erzählen lassen, auch konnte er auf zeitig geführte Tagebücher zurückgreifen. Ein kundiger „Reiseführer“ jedenfalls, mit dem der Leser in Gefilde der eigenen Kindheit gelangen kann.

Gerhard Henschel: „Kindheitsroman“. Hoffmann und Campe. 494 Seiten, 22,90 Euro (ab heute im Buchhandel).




Kulturhauptstadt 2010: Essen tritt offiziell an – Ruhrgebiet soll jetzt an einem Strang ziehen

Von Bernd Berke

Essen/Bochum. Eigentlich ging es „nur“ darum, welche Stadt mit ihrem Briefkopf für die Revier-Bewerbung zur europäischen Kulturhauptstadt 2010 einsteht. Dennoch lagen die Nerven der beiden Kulturdezernenten Oliver Scheytt (Essen) und Hans-Georg Küppers (Bochum) gestern ziemlich blank, als die KVR-Verbandsversammlung zur Abstimmung schritt.

Noch bevor das Resultat verkündet wurde, sah man dem Mienen- und Gebärdenspiel der „Kontrahenten“ an, wie die Sache ausgegangen war. Küppers blickte ein wenig betrübt drein und nahm tiefe Trost-Züge aus seiner Zigarette, Scheytt hingegen schwoll an vor Stolz. „Natürlich bin ich ein bisschen enttäuscht“, bekannte Küppers später: „Aber jetzt ziehen wir den Karren gemeinsam.“ Oh, friedliche Kultur! Wenn etwa Schalke die Dortmunder Borussen schlägt, gibt es danach weitaus weniger verbalen Schmusekurs.

Bochum unterlag nur knapp

Essen (z. B. mit Weltkulturerbe Zollverein, Aalto-Oper und Folkwang Museum) hat also Bochum (Schauspielhaus, Jahrhunderthalle usw.) in der Vollversammlung des Kommunalverbandes Ruhrgebiet (KVR) mit 23 zu 20 Stimmen bei einer Enthaltung knapp distanziert. Bei einem Patt wäre gelost worden.

Ganz gleich, wie das Ergebnis zustande gekommen ist (Gerüchte wollten sogar von telefonischer Einflussnahme im Vorfeld wissen): Nun möchten beide Städte, möglichst im Verbund mit dem gesamten Ruhrgebiet, an einem Strang ziehen. Zunächst gilt es, die weiteren NRW-Bewerber Köln, Münster sowie den Kreis Lippe (um Detmold) auf die Plätze zu verweisen.

Insgesamt noch 16 deutsche Kandidaten im Rennen

So geht’s jetzt weiter: Bis zum 30. Juni wird die NRW-Landesregierung, beraten von einem hochkarätigen Fachgremium, ihre Entscheidung über den Bewerber aus dem Lande fällen. Dann führt der Weg politisch weiter bergauf: Das Bundesaußenministerium ist am Zuge, es bereitet die Entscheidung des Bundesrates vor. Ist klar, welche Stadt (oder Region) deutschlandweit den Vorzug genießt, so wird der Europäische Rat der EU wohl Ende 2005 darüber befinden. Fest steht jedenfalls: 2010 ist Deutschland mit einer Kulturhauptstadt an der Reihe. Insgesamt sind derzeit noch 16 Kandidaten auf dem Parcours – von Bremen und Lübeck bis Augsburg und Potsdam. Harte Konkurrenz.

Kosten-Horizont von 48 Millionen Euro

Beim Kommunalverband Ruhrgebiet (ab 1. Oktober 2004: RVR = Regionalverband Ruhr) wertet man die gestrige Abstimmung als „historisch“. Verbandspräsident Gerd Willamowski versprach, im Erfolgsfalle werde nicht nur Essen profitieren: „Die gesamte Region wird Spielfeld der Kulturhauptstadt sein.“

Willamowski betonte, dass eine Ernennung zur Kulturhauptstadt „ein riesiges Stadtentwicklungsprojekt“ bedeute – fast so wie (dem Revier entgangene) Olympische Spiele. Essen müsste, wenn es die Palme fürs Revier erringt, für die Jahre 2007 bis 2010 eigens insgesamt 6 Millionen Büro bereitstellen. Dezernent Oliver Scheytt hält dies für machbar. Hinzu kämen rund 12 Mio. Euro vom Regionalverband, (vielleicht) ebenfalls 12 Mio. Euro vom Land, 8 Mio. Euro vom Bund und 1 Mio. Euro aus EU-Töpfen. Macht 39 Mio. Euro. Da das gesamte Projekt auf 48 Millionen taxiert wird, sollen Sponsoren etwa 9 Mio. Euro aufbringen.

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Kommentar

Ein neues Ziel

Eitel Zuversicht herrschte gestern in Essen, weil die Kommune als „Bannerträger“ (so die Sprachregelung) für die Revier-Bewerbung zur Kulturhauptstadt 2010 gewählt wurde. Von den wahrlich zahlreichen und gewichtigen Kandidaten aus anderen Landstrichen war da nur noch am Rande die Rede. Das Revier, so schien es, fasst überaus selbstbewusst ein neues, ein europäisches Ziel ins Auge. Salopp gesagt: Olympia war vorgestern, jetzt lautet die Parole eben: „Kulturhauptstadt“! Man darf sich auf spannende Debatten und eine hoffentlich faire Konkurrenz freuen.

Indem die Versammlung des Kommunalverbands Rühr (KVR) die Wahlentscheidung traf, bekam das Geschehen tatsächlich einen überörtlichen, regionalen Anstrich. Doch wir wollen nicht gleich wieder von der ominösen „Ruhrstadt“ sprechen.

Heikle Frage der Finanzierung

Es ist noch nicht heraus, wie sehr sich die anderen Gemeinden des Ruhrgebiets für die Bewerbung ins Zeug legen werden. Mit immerhin 12 Millionen Euro will der Kommunalverband (und künftige Regionalverband Ruhr) die Stadt Essen unterstützen, sollte sie sich denn bundesweit durchsetzen. Heikel wird es, wenn’s um das bei den Kommunen so knapp vorhandene Geld geht. Per Verbands-Umlage müssten auch jene Mitglieds-Städte besagte Summe mitfinanzieren, die vielleicht gar nicht viel vom Ertrag spüren würden.

Gibt es etwa „Spielverderber“?

Wenn KVR-Verbandsdirektor Gerd Willamowski schon jetzt verspricht, das gesamte Revier werde „Spielfläche“ der Kulturhauptstadt sein, so richtet sich der darin verborgene Appell weniger an die kleineren Revierstädte, sondern vorwiegend an Dortmund und Duisburg, die sich von Essen (und Bochum) ein wenig an den Rand gedrängt fühlen könnten. Hier wie dort glaubt man beim KVR noch vornehme Zurückhaltung zu spüren, was die Bewerbung angeht. Sollte es sich da etwa um „Spielverderber“ handeln?

Wohl kaum. Doch man wird aus Dortmunder, Hagener oder Duisburger Sicht gewiss fragen und sorgsam prüfen dürfen, ob die Veranstaltung die in Aussicht gestellte regionale Breitenwirkung entfaltet. In diesem Sinne: Glückwünsche nach Essen, Daumendrücken fürs Revier. Fürs ganze Revier.

                                                                                                                       Bernd Berke

 

 




Die Revolution der Cineasten – Bertoluccis Film „Die Träumer“

Von Bernd Berke

Dieser Film knüpft etliche Gedanken- und Emotions-Ketten: Vorabend der Revolte im Mai 1968. Noch dazu Paris. Und dann ein Amerikaner in Paris: Der junge Mann in Bernardo Bertoluccis „Die Träumer“ heißt Matthew und pilgert Abend für Abend in die seit jenen Tagen legendäre Cinémathèque.

Dort laufen Hollywood-Klassiker (von Howard Hawks bis Fred Astaire) und die frischen Filme der Nouvelle Vague (Truffaut, Rivette, Godard). Unvergessliche Kinozeiten. Und in jeder Sequenz das Versprechen der Freiheit. Als der Kulturminister den Leiter dieses Kino-Tempels aus politischen Gründen entlässt, wird der Ort zur Keimzelle der Studentenbewegung.

Sexuelle Spielchen, von der Revolte abgesondert

Bei den Demos lernt Matthew die Zwillingsgeschwister Theo und Isabelle kennen, die gleichfalls passionierte Cineasten sind. Als deren Eltern Urlaub machen, haben die drei ihren Platz für Freiheits-Experimente: Das Trio spinnt sich in der groß bürgerlichen Wohnung in einen Kokon ein. Die brodelnde Realität der Straße nimmt man hier kaum noch wahr. Bertolucci gewinnt daraus eine subtile, anspielungsreiche Studie über Wirklichkeit und Träume, Kunst und Künstlichkeit, politische und persönliche Befreiung.

Schon, zu Beginn, als Matthew im Kino sitzt, erhebt sich eine zentrale Frage: Ist die Leinwand ein Fenster zur Realität, oder ist sie im Gegenteil eine unüberwindliche Grenze?Matthew kultiviert einen weltfrommen Blick, der das göttliche Maß der Dinge noch im Muster einer Tischdecke wahrnimmt. Man möchte ihm beipflichten, wenn er (im hitzigen Streit mit Theo) Buster Keaton gegen Chaplin oder Hendrix gegen Clapton ins Feld führt. Denn Matthew plädiert offenherzig, die neurotischen Geschwister hingegen ziemlich verbiestert.

Doch bis zu einem gewissen Grad lässt sich Matthew hineinziehen. Mit Theo und Isabelle buchstabiert er vorwiegend sexuelle Grenz-Erweiterung anhand von Kino-Mythen durch. Jede Geste ein Filmzitat. Daraus entwickelt sich eine Art Pfänderspiel. Wer das vorgeführte Szenenfragment nicht errät, muss bizarre Aufgaben erfüllen. So soll sich Theo (ähnelt dem frühen Bob Dylan: Louis Garrel) nach dem Wunsch seiner Schwester vor einem Konterfei von Marlene Dietrich selbst befriedigen. Die anderen sehen zu.

Theo stürzt sich in die Realität

Theo wiederum nötigt Matthew und Isabelle zum Beischlaf in der Küche. Er schaut nur flüchtig hin, als sie’s tun – und brät sich Spiegeleier. Cool bis zum Anschlag. Doch die schöne Isabelle, bis dahin zur Revolutions-Ikone stilisiert (wie die Barbusige auf dem berühmten Delacroix-GemäIde), ist noch Jungfrau gewesen.

Derlei mit inzestuösem Begehren durchsetzte Spielchen tendieren zur Selbstüberforderung. Die Stimmung verdüstert sich bis zum Rand des Selbstmords (sogar der ist ein Kino-Zitat: nach Bressons „Mouchette“) und zur hilflosen Regression in verlorene Kindheit: Die drei Salon-Revolutionäre (Mao- und Che-Kultgegenstände stets in Reichweite) verkriechen sich in einem Wohnzimmer-Zelt. So finster erscheint Isabelle die Lage, dass sie nachts den Gashahn aufdreht.

Rettung durch einen Pflasterstein

Rettung bringt ein Pflasterstein, der das Fenster zertrümmert und die Luft der rebellischen Straße einlässt. Da ist sie wieder, die Realität! Theo stürzt sich hinein: Gleich ist er bereit, Molotow-Cocktails zu werfen. Auch seine „revolutionäre“ Energie scheint neurotisch getönt.

Schlussbild: Die Szene friert ein, und man hört Edith Piafs Chanson „Je ne regrette rien“. Doch, doch, da gäbe es manches zu bedauern – und Bertolucci weiß das natürlich. Bis ins Detail ist sein meisterlicher Film durchkomponiert und mit Verweisen gespickt. Nichts an ihm ist Zufall.




Mit Haut und Haaren erlebte Weltgeschichte – Geert Maks famoses Buch „Das Jahrhundert meines Vaters“

Von Bernd Berke

„Gerüche. Teer und Taue, das müssen die ersten Dinge gewesen sein, die mein Vater gerochen hat.“ Mit dieser sinnlichen Impression beginnt der niederländische Autor Geert Mak ein ganz großes Unterfangen: In „Das Jahrhundert meines Vaters“ hat er nicht nur dessen Biographie und die seiner yerzweigten Familie, sondern ein tiefgreifendes Porträt des eigenen Landes verfasst – von 1899 bis in die Jetztzeit.

Das anfängliche Zitat bezieht sich auf die Segelmacher-Werkstatt des Großvaters. Das Leben ist hart genug, doch immerhin kann man die Dinge, die einen angehen, noch anfassen, riechen oder schmecken. Der allmähliche Verlust solcher Unmittelbarkeit ist eines der zahlreichen Themen dieses Buches, das in den Niederlanden ein ungeheurer Verkaufserfolg war. Dort wurden über 500.000 Exemplare abgesetzt. Hochgerechnet auf die deutsche Einwohnerzahl, entspräche dies etwa einer Auflage von 2,5 Mio. Stück. Auf dem Umschlag der deutschen Ausgabe legt uns kein Geringerer als Cees Nooteboom („Rituale“) Maks Werk wärmstens ans Herz. Der Mann hat recht.

Quer durch die Jahrzehnte entfaltet Geert Mak ein historisches Panorama, das sich immer wieder im Kleinen, Fassbaren, Familiären bricht und spiegelt. Es gibt wenige Bücher, in denen dies so plausibel gelingt und in denen so viel (kritische, doch mitfühlende) Gerechtigkeit allen Generationen gegenüber waltet.

Gerechtigkeit für alle Generationen

Es ist also mit Haut und Haaren erlebte Historie. Viele alte Briefwechsel und Tagebücher wurden da gesichtet, etliche Verwandte noch rechtzeitig befragt. Doch Mak blättert auch in vergilbten Zeitungen und Annalen, zitiert erhellende Statistik oder kluge Essays.

Anfangs streifen wir durchs ländliche Schiedam, erfahren manches über die traditionell gefügte Lebenswelt jener Zeit. Der Vater des Ich-Erzählers (Letzterer ist identisch mit Geert Mak) wird später Pfarrer, woraus sich Exkurse über protestantische Richtungen ergeben.

Doch auch die soziale Frage rückt ins Blickfeld: Es gab Zeiten, da lebensgefähröich schuftende Arbeiter (etwa in den Häfen) entweder überhaupt keinen oder nur zwei Tage Urlaub im Jahr hatten.

Handlungsstränge verzweigen sich auf Indonesien und die Niederlande

In den späten 1920er Jahren übernimmt der Vater eine Pfarrstelle in der damaligen holländischen Kolonie Indonesien, wo die Familie zwisehen Faszination und lange zementierten Vorurteilen schwankt – wiederum ein Spiegelbild der seinerzeit gängigen Politik. Die Mutter furchtet, dass ihre Kinder „verindischen“, also müssen die älteren Geschwister zurück in die Niederlande, um dort zur Schule zu gehen.

Diese Trennung der Familie ermöglicht es Mak, zwei historische Stränge der 1930er Jahre abwechselnd zu verfolgen. In Europa wütet der NS-Staat, und der Überfall auf die Niederlande wird mit allen, tief in den Alltag reichenden Konsequenzen geschildert.

Kolonialzeit und faschistisches Regime

Mak blendet nicht aus, dass einige seiner I.andsleute den neuen faschistischen Machthabern zu Diensten waren. Vor allem aber formiert sich, auch in kirchlichen Kreisen, alsbald auch ein untergründig wirksamer Widerstand. Südostasien gerät zur gleichen Zeit unters Joch japanischer Truppen. Die dort gebliebenen Holländer werden in die Zwangsarbeit gedrängt oder kommen mitsamt den Kindern in Gefangenenlager.

Ein klein wenig schwächer wird das Buch gelegentlich in den Nachkriegsteilen (Stichworte z. B.: Flutkatastrophe 1953, Provo-Bewegung um 1967/68). Manche Passagen klingen nun nach (sehr achtbaren) Leitartikeln. Dennoch lernt man vieles hinzu über unser Nachbarland und seine Sicht auf uns Deutsche.

Am Ende hat man jedenfalls wahrhaftig das ebenso lastende wie erhebende Gefühl, mit der (längst ins Herz geschlossenen) Familie Mak ein ganzes Jahrhundert durchschritten zu haben. Wir wünschen uns mehr Geschichtsbücher dieser Art!

Geert Mak: „Das Jahrhundert meines Vaters“. Siedler Verlag. 571 Seiten, 28 Euro.

 




Das Geflüster der Dingwelt – Bilder von Giorgio Morandi in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. „Ich habe das Glück gehabt, ein ereignisloses Leben zu führen.“ Das bilanzierende Zitat in der Wuppertaler Ausstellung über Giorgio Morandi (1890-1964) ist typisch für diesen Mann.

Nur äußerst selten ist der scheue Morandi überhaupt aus seiner Heimatstadt Bologna herausgekommen, und die Annalen verzeichnen lediglich eine einzige Auslandsreise – in die nahe Schweiz. Auch seine malerischen Vorbilder (Cézanne, Vermeer, Velazquez) kannte Morandi nur aus Büchern. Zudem hatte er sein Lebtag keinerlei „Frauengeschichten“, weder ehelich noch sonstwie. Nein, nein: Mit Männern war auch nichts. Er lebte einfach immer mit seinen drei Schwestern zusammen und malte, malte, malte.

Eingesponnen in den eigenen Kokon

Und niemals trumpfte er auf, sondern hielt sich stets an bescheidene Bildfonnate. Es ist ein wahrer Sonderling und Hagestolz der Kunst, den das von der Heydt-Museum jetzt mit 126 Exponaten (Ölbilder, Radierungen, Zeichnungen) präsentiert. Auch in den wirrsten Zeiten blieb er unbeirrbar, eingesponnen in den eigenen Kosmos – oder auch Kokon. Über zwei Weltkriege hinweg hielt er seinem schmalen Motivvorrat die Treue: Flaschen, Vasen, Schalen und dergleichen schlichte Behältnisse „bevölkern“ seine Stillleben.

„Natura morta“ (tote Natur) heißt die ausgesprochen kontemplative Schau mit Leihgaben aus vielen Städten, darunter auch Siegen, wo Morandi 1962 den Rubenspreis erhalten hat.Allein diese Ausstellung würde schon den (arg gekappten) Jahresetat des Wuppertaler Hauses überschreiten – und das bereits im Januar. Die Brennscheidt-Stiftung sorgt dafür, dass der Betrieb mehr als ordentlich weiter geht.

Zurück zu Morandi. 1925 entstanden zwei Selbstbildnisse. Doch der Mann, den wir da sehen, wirkt dermaßen zurückhaltend, als wolle er am liebsten verschwinden und sich ungeschehen machen. Weitere Selbstporträts hat Morandi vernichtet. Fortan schuf er nur noch jene Stillleben, die vor allem in den ruhebedürftigen 50er Jahren hohe Geltung hatten und etwa auf den ersten beiden documenta-Schauen in Kassel gezeigt wurden.

Tagelang die Gefäße ordnen

In Bologna herrscht(e) oft Wolkenwetter. Damit hatte Morandi seine liebe Not, war er doch auf perfekte Lichtverhältnisse aus. Tagelang soll er die Gefäße, die er malen wollte, hin und her geschoben haben, bis alles in seinem Sinne stand und das Wetter „stimmte“. Die Bilder entstanden jeweils ganz rasch. Man sieht’s an den Pinselspuren.

Die scheinbar leblosen Dinge werden in erdhaften Farben ganz leise beredt, als wären es doch (verschlüsselte) Selbstporträts, die uns etwas zuflüstern wollen. Auf jede Lichtschwingung und jeden Schattenhauch kommt es hier an. Mal wirken die Gegenstände plastisch, dann wieder breiten sie sich als reine Malereignisse in der Fläche aus. Mitunter erlangen sie gerade zu mystische Qualitäten. Eine stille Weit als Hallraum für ungeahnte Erscheinungen.

Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Turmhof 8). 11. Januar bis 7. März. Katalog 39 Euro.




Mit den Worten des Jahres auf Zeitreise gehen – schon seit den 70ern gibt es die Liste

Von Bernd Berke

Es ist schon ein liebgewordenes Ritual: Alljährlich ermittelt die Gesellschaft für Deutsche Sprache (Wiesbaden) die „Wörter des Jahres“. Im Rückblick erweist sich die Auswahl über Jahrzehnte hinweg als trefflicher Indikator des jeweiligen Zeitgeistes. Begeben wir uns zum Jahreswechsel auf eine kleine Reise durch die Wortgefilde, durch sprachliche Klimazonen.

Es überwiegen seit jeher bestimmte Bereiche: politischer Streit, wirtschaftliche Mängel, neue Ausprägungen des Lebensstils, Katastrophen, Skandale und Krankheiten. Regelmäßig gibt es die Liste seit 1977/78, doch versuchshalber kürte man bereits die Worte des (nicht allzu süffigen) Jahrgangs 1971. Da zitterte noch ein klein wenig Apo-Geist von ’68 nach, denn „aufmüpfig“ galt damals als besonders zeitgemäßer Begriff. Doch die vordem gefürchtete Revolte hatte damit schon einen eher putzigen Anstrich bekommen. Ansonsten befanden wir uns auch sprachlich im Vorfeld der Öko-Bewegung. Mit sanfter Macht kam das Wort „Umweltschutz“ auf. Und noch dazu die „heißen Höschen“.

Die albernen und die ernsten Wendungen

1977 setzte sich das seither fast zuschanden gerittene Wort „Szene“ an die Spitze, dahinter kamen (im „Deutschen Herbst“ der RAF-Morde) „Terrorismus“ und „Sympathisant“. Etwa seit 1978 reden wir vom „Geisterfahrer“, der sich seinerzeit mit den „Singles“ und den Tanzwütigen („Disco“) um die Plätze balgte, während „Die Grünen“ oben rangierten. 1979 gesellte sich das Schlagwort „alternativ“ hinzu.

1980 kam der „Asylant“ (eigentlich ein Unwort) zur Sprache, zudem betrieb man Rasterfahndung“ und debattierte über „Instandbesetzer“. 1981 machte sich die „Nulllösung“ breit – ursprünglich militärisch gemeint, später ironisch auch auf unfähige Amtsträger gemünzt. Im selben Jahr rappelte es zudem in der „Zweierkiste“, wie manche ihre wackligen Techtelmechtel seither nennen.

Die „Talfahrt der Wirtschaft“ geriet 1982 ins Visier der Sprachfprscher, 1988 folgte „Gesundheitsreform“. Von beiden können wir heute singen. Die Immunschwäche „Aids“ stand 1985 erstmals in der Tabelle und 1987 auf dem Spitzenplatz. 1985 war „Glykol“ (Weinpanscherei), 1986 „Tschernobyl“ Wort des Jahres.

Neuer Schub mit der deutschen Vereinigung

Wende und deutsche Vereinigung brachten einen Schub: „Reisefreiheit“, „Montagsdemonstration“, „Trabi“ (1989), „neue Bundesländer“ (1990), „Besserwessi“, „abwickeln“ (1991), danach „Fremdenhass“, „Rechtsruck“ sowie „Lichterkette“ (1992), doch auch „Ostalgie“ (schon 1993, lange vor einschlägigen TV-Shows). Enger können Hoffnungen, erste Enttäuschungen und ernste Gefahren kaum zusammenrücken.

Seit 1993 wird vermehrt vom „Sozialabbau“ gesprochen, seit 1996 vom „Sparpaket“; es waren – wie wir jetzt wissen – nur Vorgeplänkel. „Multimedia“ und „Datenautobahn“ etablierten sich 1995, ein Jahr darauf war’s die „Globalisierung“. Den deutschen „Reformstau“ beklagt man seit 1997, als auch jener „Ruck“ (aus der Rede des Bundespräsidenten Roman Herzog) durchs Land gehen sollte und der „Elchtest“ eine heimische Edelmarke blamierte.

Durch neuere Schöpfungen zieht sich oft eine Spur von Albernheit: 1998 hieß es lauthals „piep, piep, piep!“ (nach Guildo Hörn) und „Ich habe fertig!“ (nach Giovanni Trapattoni). Werden die Zeiten seitdem ernster, nimmt’s mit der Spaßgesellschaft ein Ende? Anno 2000 wollte man angeblich „brutalstmöglich“ die „Schwarzgeldaffäre“ aufklären, man regte sich über „Leitkultur“, „BSE-Krise“ und „Kampfhunde“ auf. Noch finsterer das Jahr 2001 mit der allfälligen Wendung „der 11. September“ und „Milzbrandattacke“. Da nehmen sich „Teuro“ und „Pisa-Schock“ (2002) fast harmlos aus.

Beim neuesten Wort des Jahres („Das alte Europa“) wird einem aber wieder warm ums Herz. Gewiss: US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld hat es nicht so nett gemeint. Doch mit einem Zusatzwörtchen klingt es behaglich: das gute alte Europa.

• Komplette Listen stehen im Internet unter: www.gfds.de




Wenn der Schmerz nachlässt

Weihnachten ist bekanntlich ein Fest der frohen Botschaft, manchmal nicht nur im religiösen Sinne. Achtung, scharfkantige Überleitung: Auch NRW-Kulturminister Michael Vesper hat in den letzten Tagen und Wochen halbwegs frohe Kunde verbreitet.

Von exorbitanten, Existenz gefährdenden Kürzungen im Kulturbereich war anfangs die Rede. Überall ertönten Alarmrufe. Doch nach und nach stellte sich heraus, dass es allenthalben glimpflicher ausgehen wird. So bleiben die beiden NRW-Kultursekretariate (trotz finanzieller Opfer) nach eigenem Bekundem weiterhin „arbeitsfähig“.

Auch die Literaturbüros im Lande sehen sich vorerst auf ähnliche Weise gerettet. Und jüngst schrieb sogar (wie berichtet) Ministerpräsident Peer Steinbrück an Sebastian Heindrichs, den Intendanten des Westfälischen Landestheaters (WLT) in Castrop-Rauxel. Tenor: Es stünden Kürzungen bevor, doch die würden nicht gar so schlimm ausfallen wie ursprünglich befürchtet.

Schön, wenn der Schmerz auf diese Art etwas nachlässt Und man muss das faktische Vorgehen bewundern: Erst die fürchterlichen Instrumente zeigen, dann mit leichterem Besteck operieren Erst den ganz großen Hammer vorweisen, dann mit dem kleineren Klopfen. Anschließend sind alle dankbar für die (relativ) frohe Botschaft. Und das nicht nur zur Weihnachtszeit.

Bernd Berke




Später Abschied von der Lebenslüge: Kinofilm „Der menschliche Makel“ nach Philip Roth – mit Anthony Hopkins

Von Bernd Berke

Die Besetzung deutet auf ein Premium-Produkt hin: Anthony Hopkins, Nicole Kidman, Ed Harris. Für die Vorlage gilt das gleiche: „Der menschliche Makel“ stammt als Roman von Philip Roth, dem seit vielen Jahren nobelpreisverdächtigen US-Schriftsteller.

Roth muss dem Filmregisseur Robert Benton (Klassiker: Scheidungsdrama „Kramer gegen Kramer“) ziemlich freie Hand gelassen haben. Ganze Stränge des Buches sind gerafft. Dennoch wirkt die Geschichte erstaunlich schlüssig. Schon zum Vorspann sieht man einen Autounfall auf eisglatter Straße. Am Ende wird der Film in aller Dringlichkeit darauf zurückkommen. Schicksalhaft schließt sich der Kreis eines Lebens.

Ostküsten-Professor stürzt über ein einziges Wort

Bis dahin wird erzählt vom aufhaltsamen Niedergang des Ostküsten-Professors Coleman Silk (kluge Halbdistanz zu seiner Rolle: Hopkins), der über ein einziges wehes Wort stürzt. Zwei seit Wochen abwesende Studenten nennt er im Seminar ironisch „spooks“. Im Buch kapitulierte der deutsche Übersetzer vor dem doppelsinnigen Ausdruck und behalf sich mit einem Extra-Vorwort. „Spooks“ bezeichnet allgemein etwas Geisterhaftes, stand aber in unseligen Zeiten auch für Menschen schwarzer Hautfarbe – etwa im Sinne von „lichtscheue, dunkle Gestalten“.

Diese kaum noch gültige Nebenbedeutung wird dem Professor zum Verhängnis. Uni-Gremien denunzieren den liberalen Mann als Rassisten. Sie statuieren ein Exempel politischer Korrektheif, während US-Präsident Bill Clinton wegen der Lewinsky-Affäre in Verruf gerät. Niemand entkommt dem Gesellschafts-Klima. Vor Aufregung stirbt Silks Frau, als sie von dem Vorfall hört. Ihr Tod wirft den Professor vollends aus der Bahn. Später begibt er sich in eine haltlose, jedoch auch anrührende und vitalisierende Affäre mit der jungen Putzfrau Faunia (nach Lars von Triers „Dogville“ abermals eine glamourfreie Nicole Kidman). Und Silk vertraut sich dem Autor Nathan Zuckerman (Gary Sinise) an, der seine Lebensgeschichte aufschreiben soll. Zwischen beiden wächst eine mild melancholisch getönte Freundschaft.

Was nie mehr ganz zu tilgen ist

Letztlich aber muss Coleman Silk sich selbst erkennen, er darf dies keinem anderen überlassen. Reinen Tisch machen, bevor der Tod naht. Allmählich enthüllt er seine Lebenslage: Silk, hellhäutiger Sohn schwarzer Eltern, hat sich eine falsche jüdische Biographie zugelegt. Rückblenden in die späten, jazzig swingenden 1940er Jahre führen zu den Gründen: Eine große Liebe scheiterte damals an den Rassenschranken, als das strohblonde Mädchen seine Eltern kennen lernte. Wer wollte da Silks Identitäts-Wechsel verurteilen? Doch eine solche Entscheidung zieht eben einen „Makel“ der Unaufrichtigkeit nach sich, der nie mehr ganz zu tilgen ist.

Moral ist eben nicht messbar

Das wort- und themensatte Kino-Kammerspiel zehrt von starken Darstellern. Man blickt in seelische Schluchten und mag keine Figur verdammen. Diskrete Botschaft: Moral ist eben nicht messbar, und ein selbstgerechtes Tribunal reicht schon gar nicht an ein widersprüchliches Menschenleben heran.

Nicole Kidman ist die illusionslose, vogelfreie, ruppige, verzweifelte, lüsterne Faunia, deren Kinder vor Jahren bei einem Brand umgekommen sind und die immer noch von ihrem Ex-Mann (lakonisch, funkelnd mehrdeutig: Ed Harris) bedrängt wird, einem eisig einsamen Vietnam-Veteran. Dieser Verfinsterte setzt auch ihrem Lover Silk zu, der sich als alternder „Achilles auf Viagra“ bezeichnet und die wohl letzte Bettgeschichte im Spätherbst seines Lebens genießen will. Endlich mal etwas tun, ohne zu grübeln.