Bruchloser Wechsel an Bochums Bühne – Matthias Hartmann übergibt an Elmar Goerden

Von Bernd Berke

Bochum. Es herrscht Harmonie in der Bochumer Theaterweit: Elmar Goerden (40), designierter Intendant des Schauspielhauses ab 2005, stellte sich gestern glücklich strahlend im Rathaus der Revierstadt vor: „Es ist eine Freude, hier zu sein.“ Am liebsten, so Goerden, würde er nun jeden Mauerstein des Theaters mit eigenen Händen berühren.

Offenbar ist er ein Mann des sinnlichen Zugangs. Und seine guten Erinnerungen an Bochum reichen weit zurück. Als Jugendlicher, so der gebürtige Viersener, sei er vom Niederrhein an die Ruhr gepilgert, um Peymanns Inszenierung der Kleistschen „Hermannsschlacht“ zu sehen. Seither habe er gewusst: „Ich will zum Theater“.

Gesegnete Verhältnisse

Sodann pries er die „gesegneten“ Verhältnisse, die er in Bochum vorfinde. Unter Matthias Hartmann, so Goerden, stehe das traditionsreiche Haus „wie eine Eins da“. Es sei verwurzelt in der Region, das Publikum ströme zahlreich herbei und sei bestens gemischt. Elmar Goerden will daher für einen behutsam akzentuierten, bruchlosen Übergang sorgen und „das Rad nicht neu erfinden“.

Exakte Dramaturgie: Kaum hatte Goerden die lobenden Sätze gesprochen eilte der jetzige Amtsinhaber Hartmann in den Saal. Die beiden sind befreundet. Also kam’s zur herzlichen Umarmung, in die dann auch Bochums Kulturdezernent Hans-Georg Küppers einbezogen wurde.

Küppers rechnet fest mit der Zustimmung des Stadtrats im Januar. Er habe vor der Entscheidung „manche schlaflose Nacht verbracht“, denn die Messlatte für den Hartmann-Nachfolger habe hoch gelegen. Mit Goerden komme ein Intendant, der selbst Regie führe und daher interne Feinstrukturen viel genauer kennen werde als ein bloßer Verwalter.

Bisher am Münchner Residenztheater

Welche Schauspieler und weiteren Regisseure er ans Bochumer Schauspiel holen wird, mochte Goerden noch nicht verraten. Er habe bereits genaue Vorstellungen, müsse aber noch Gespräche führen. Vager Richtungsweiser: Am Münchner Residenztheater, wo Goerden derzeit als Oberspielleiter (Intendant: Dieter Dorn) wirkt, hat er zuletzt mit Darstellern wie Lambert Hamel, Oliver Nägele und Rudolf Wessely gearbeitet; beispielsweise in Stücken von Shakespeare, Lessing, Handke und Schimmelpfennig.

Jedenfalls gilt Elmar Goerden als Regisseur, der eine gewisse Texttreue wahrt und Stücke nicht nach Gutdünken „zertrümmert“. Mit seinen Worten: „Der Text ist für mich ein ernst zu nehmendes Gegenüber.“ Es sei ihm daran gelegen, in jeder Saison mindestens einen großen Klassiker^zeitgemäß zu befragen.

Das Bochumer Theater, so der bodenständig wirkende Goerden, könne man nur „mit einer besonderen Passion“ leiten. Dabei wolle er das hohe Gut des Ensemble-Gedankens besonders pflegen. Erkennt den Teamgeist übrigens aus anderer Warte: Goerden war bei Borussia Mönchengladbach mal auf gutem Wege zum Profifußball. Erst eine Verletzung stoppte seine Kicker-Ambitionen.




Die Aufklärung braucht mehr Rohstoff – Alexander Kluges imponierende Lesung aus „Die Lücke, die der Teufel lässt“

Von Bernd Berke

Dortmund. Eine solche geistige Bereicherung erlebt man nicht alle Tage: Alexander Kluges Dortmunder Präsentation seines voluminösen Essay- und Erzählungsbandes „Die Lücke, die der Teufel lässt“ (Suhrkamp-Verlag) geriet zum Lehrstück in Sachen intellektueller Durchdringung vielfältiger Stoffe.

Büchner-Preisträger Kluge beließ es im Harenberg City-Center nicht bei einer bloßen Lesung. Zwischendurch bat er auch schon mal den Verleger und Hausherrn Bodo Harenberg zum dialogischen Duett-Vortrag aufs Podium, wobei er das Publikum auf die feinen Unterschiede zwischen seiner Halberstädter Diktion und Harenbergs Magdeburger Zungenschlag hinwies. Landsleute unter sich.

Zudem extemporierte Kluge ganz spontan und oft weit über den ohnehin schon schier uferlosen Inhalt seines Buches hinaus. Ein übliches Seminar ist nichts dagegen. Was dieser Mann an Bildung „griffbereit“ mit sich führt und souverän stets neu sortiert, ist umwerfend. Man muss sich hüten, dass man sich nicht ganz unwissend vorkommt.

Vielleicht wachen die Toten über die Lebenden

Es war eine der impnierendsten Veranstaltungen der bald zehnjährigen Reihe „Kultur im Tortenstück“, die von Harenberg, der Westfälischen Rundschau und der Buchhandlung Krüger getragen wird.

Doch Kluge nimmt bei all dem eben keine Imponierhaltung ein, sondern bleibt stets verbindlich, gesprächsbereit und auf subtile Weise unterhaltsam. So spinnt er spannende Wissens-Netzwerke etwa zwischen Ovids „Metamorphosen“, dem „Anti-Fundamentalisten“ Montaigne und Heiner Müller, dass einern nahezu schwindlig wird.

Oder er sinniert darüber, ob all die Toten der Historie über uns Lebende wachen – ein Gedankengang, den man Anderen nicht ohne weiteres „abkaufen“ würde. Bei Kluge aber klingt’s redlich und plausibel. Sein mit rund 500 Kapiteln überreich quellendes Buch, so erläutert Kluge, sei nicht zuletzt als Erweiterung des Kantschen Aufklärungs-Begriffs gedacht. Nicht nur Verstandes-, sondern auch Gemütskräfte müssten gesammelt werden für kommende Zeiten. Kluge: „Die Aufklärung braucht mehr Rohstoff.“

Terrorismus beginnt oft mit „Robinsonaden“

Speziell vom Gift und vom vielerorts lauernden „Teufel“ (sogar im Weißen Haus soll er gesichtet worden sein) könne man dabei lernen, um das Böse zum Guten wenden. Apropos: Dem Terrorismus werde vielleicht schon der Boden entzogen, wenn Einzelne oder Gruppen sich nicht vom ganzen Gemeinwesen absondern könnten. Terror beginne oft mit einsamen „Robinsonaden“ und „theatralischen Vorkehrungen“.

In seinem ganz eigenen Erzählten sucht Kluge nach Reserven, Auswegen und verheißungsvollen Glücks-Momenten. Beispiel: Jene Berichte von menschlicher Liebes-Anziehungskraft über viele Generationen hinweg bergen nach seinem Verständnis einen Schatz der Hoffnung.

Kluge preist eine geradezu klösterliche Gattentreue (reinstens verkörpert im Roman „Die Prinzessin von Clèves“ der Comtesse de La Fayette) als hohen Wert, er argumentiert gegen schnelllebige Scheidungs-Bereitschaft. Und er verrät den Zuhörern auch persönliche Gründe: Als seine Eltern sich einst trennen wollten, habe er mit Leib und Seele dagegen angekämpft: Vielleicht sei er gar deswegen Jurist geworden: um als Friedensstifter derlei Brüche zu kitten.




Angst vor dem Verstummen – Deutsche Erstaufführung von Jon Fosses Stück „Schönes“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Verglichen mit den Bühnen-Gestalten des Norwegers Jon Fosse, wirken selbst die gelangweilten Figuren eines Anton Tschechow wie Action-Helden. Hier geschieht nahezu nichts, die Dialoge sind extrem karg. So auch in Fosses neuem Stück „Schönes“. Abermals klingt jede Zwiesprache derart lakonisch, als sei’s bereits eingeübte Tiefsinns-„Masche“.

Doch es ist eine geradezu schwatzsüchtige Lakonie, die redundant in sich kreist und unversehens schräge Komik (irgendwo zwischen Loriot und Kaurismäki) freisetzt. Die Figuren haben Angst vor dem Verstummen, vor der großen Leere.

Fosse (Jahrgang 1959), in den letzten Jahren wohl meistgespielter Dramatiker des Kontinents, lässt weite Deutungs-Spielräume klaffen. Bei der deutschen Erstaufführung in Bochum nutzt Regisseur Dieter Giesing diese schmerzliche Freiheit beharrlich und behutsam.

Das Bühnenbild (Karl-Ernst Herrmann) atmet raumgreifend Ewigkeit: Einander kreuzende (Boots)-Stege verlieren sich nach hinten in die melancholische Unendlichkeit eines einsamen Fjords, vorn ragt eine Planke bis zum Publikum. Die schwarze Silhouette eines Bootshauses wandert geisterhaft langsam über die schimmernde Szenerie. Die Zeit schleicht dahin und verrinnt. Worte kommen aus dem Nichts und versickern im Nichts.

Vor dem Horizont des Stillstands

Vor diesem Horizont des Stillstands verbringt ein Ehepaar mit fast erwachsener Tochter die Sommerferien. Die Frau (Catrin Striebeck) fühlt sich angeödet. Mal geht sie links den Strand entlang, mal rechts. Ein Buch lesen? Ach was! Antriebe und Interessen sind erloschen. Es schwillt in ihr lediglich eine zickige, ziellose Gier an, die sich eher zufällig auf Leif (Ernst Stötzner) richtet, den grandios maulfaulen Freund ihres Mannes aus Kindertagen. Dieser allzeit im Dorf gebliebene Sonderling („Hat sich so ergeben“) lässt sich wohl nur aus höflichem Mitleid auf eine Begegnung im alten Bootshaus ein.

Was dort wirklich geschieht, bleibt freilich ebenso ungewiss wie alles andere: Ahnt der Ehetrottel Geir (Burghart Klaußner) etwas? Warum erschöpft sich dann sein Aufbegehren darin, dass er seine Gitarre immerzu mit hackenden Griffen (verdruckster Frust-Gipfel: „Bang, Bang – I’ll shoot you down“) traktiert?

Anders als bei Ibsen wird hier nichts enthüllt

Warum hat Leif in der Pubertät alle Neugier auf die Welt verloren, warum haben er und Geir damals ihre Rockband aufgelöst? Wird die einstweilen halbwegs vitale, mitunter patzige Tochter (Julie Bräuning), die im Dorf einen farblos strotzenden jungen Mann (Manuel Bürgin) kennen gelernt hat, so heil- und haltlos enden wie ihre Mutter? Und warum preisen sie alle so kleinlaut die Natur? Ist sie ein unnennbar „Schönes“, vor dem der Mensch nur versagen kann? Ganz anders als bei Ibsen, mit dem man Fosse häufig vergleicht, wird hier nichts enthüllt. Die Eltern reisen. vorzeitig ab – zurück von der ländlichen in die städtische Seelen-Ödnis. Das ist alles.

Das wattierte Unglück in Hier und Jetzt

Irgend etwas ist vorgefallen und schief gelaufen, doch nun ist es, wie es ist. Existenziell und gnadenlos scharf umrissen stehen die Gestalten in reinster Gegenwart da, im allerdings gedämpften, wattierten Unglück des Hier und Jetzt. Und nun? Was soll noch werden? Dieses folgenlose Weh ergreift einen mehr, als wenn (wie in Gegenwartsdramen oft üblich) aller Schmutz und Ekel im Blut- und Spermastrom verrührt werden.

Dieter Giesings Inszenierung lässt beklemmende Atmosphäre ganz unaufdringlich quellen. Die Darsteller gewinnen diesem stockenden Text staunenswert viele Akzente, Rhythmen und Nuancen ab. Äußerst gespannt folgt man ihrer Expedition in die Leere.

Termine: 5, 6, 21. Dezember. Karten: 0234/3333-111.




Fernwirkungen menschlichen Tuns und Leidens – Alexander Kluges kolossales Buch „Die Lücke, die der Teufel lässt“

Von Bernd Berke

Da möchte man fast verzagen: 949 eng bedruckte Seiten erstrecken sich vor dem Leser, portioniert in rund 500 Kapitel mit Überschriften wie „Politische Ökonomie der Sterne“ oder „Das nachtödliche Gedächtnis für das im Schlaf Verarbeitete“.

Alexander Kluges mit Episoden, Essays und Fußnoten randvoller Band „Die Lücke, die der Teufel lässt“ ist in jeder Hinsicht gewichtig. Man kann sich die Lektüre freilich erleichtern, indem man (auch im Sinne des Autors) getrost kreuz und quer liest, schon mal Passagen auslässt, sich also freimütig umtut im ungeheuer vielfältigen Fundus, der mit mancher aphoristischen Zuspitzung ergötzt. Zitat: „Sozialismus setzt Überfluß voraus… Man könnte Sozialismus am besten auf einem Luxusdampfer ansiedeln.“

Der Misere Gegengifte abgewinnen

Büchner-Preisträger Kluge ist rastlos unterwegs zwischen allen Lebens- und Wissensbereichen, unstillbare Neugier treibt ihn um. Häufig verwendet er Dialog-Formen, die scheinbar fest gefügte Sachverhalte „verflüssigen“. Er sucht nach jener ominösen Lücke, die der Teufel lässt, sprich: nach Auswegen aus menschlichen oder politischen Zwangslagen. Kluge späht nach Fluchtpunkten und Perspektiven, forscht nach Gegengiften, die aus der Substanz misslicher Verhältnisse zu gewinnen wären.

Der auf allen Feldern staunenswert detailkundige Autor lässt sich auf jedwedes Phänomen ein. Ohne vorgeformte Meinung kann er umso tiefer die Abgründe etwa der NS-Zeit ausloten, so anhand einer gespenstischen Reise Hitlers. Zahllose Gespräche und Recherchen müssen der Niederschrift vorausgegangen sein.

Kann man die Nachgeborenen überhaupt warnen?

Sein Buch mäandert z. B. durch solche Themen: Sternenkunde, Zweiter Weltkrieg, Oper, Waffentechnik, Liebesalltag, U-Boote, Antike, Biosphäre, Marx und Islam, Kabbala und Mystik, Terrorismus. Einen von etlichen Schwerpunkten bildet die Atom-Katastrophe von Tschernobyl mit ihren möglichen Nachwirkungen für Hunderttausende von Jahren. Wie, so fragt Kluge, können Menschen Verantwortung über so lange Zeiträume hinweg übernehmen, und wie können sie die Nachgeborenen warnen? Denn wer weiß, welche Sprach- oder Bildform sich einmal durchsetzen wird.

Überhaupt erkundet Kluge Fernwirkungen menschlichen Tuns und Leidens. Er vermutet – neben allem Fragmentarischen – einen Zusammenhang: Mit epochalen Ereignissen komme jeweils eine Bewegung, ein Energiestrom in die Welt, der nicht mehr aufhört und alle künftigen Menschen betrifft. Eine Denkfigur mit Konsequenzen: Phantomhaft schmerzen uns Geschehnisse, die Jahrzehnte oder Jahrhunderte zurück liegen; vielleicht aber fließen uns aus den Tiefen der Geschichte auch Hoffnungsquellen zu. Diese Leitidee verfolgt Kluge bis in feinste Verästelungen und weit über alle Schulweisheit hinaus. Die stets vorläufigen Resultate teilt er in unverzierter, doch unversehens verdichtender Sprache mit. Und wo das Dokumentarische verstummt, montiert Kluge Fiktion und Phantasie hinein, die hier höchst real erscheinen.

Auch das Vergangene ist noch nicht durchweg entschieden

Kein Thema wird gleich über theoretische Kämme geschoren, sondern vielmehr auch emotional „aufgeschlossen“ und in oft geheimnisvolle Beziehungen gesetzt. Überzeugung, die sich beim Lesen einstellt: Einiges muss man als gegeben hinnehmen, gar vieles auf dieser (daher so spannenden) Welt ist noch nicht entschieden – selbst das Vergangene nicht.

Es gibt wenige Werke, die so viel Wirklichkeit und Reflexion umfassen. An Montaignes famose „Essais“ könnte man denken, oder an die ertragreichen Streifzüge von Klaus Theweleit. Sie sind einzigartig. Kluge aber auch.

• Alexander Kluge: „Die Lücke, die der Teufel lässt“. Suhrkamp Verlag, 949 Seiten. Kartoniert 24,90 Euro; Leineneinband 39,90 Euro.

• Am Montag, 8. Dezember 19.30 Uhr), liest Kluge im Dortmunder Harenberg City-Center aus dem Buch. Karten: 0231/9056166.

 




Als der Champagner strömte: Münsteraner Picasso-Museum zeigt Plakatkunst von Toulouse-Lautrec und Zeitgenossen

Von Bernd Berke

Münster. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es in Paris eine veritable „Galerie der Straße“. So nannte man die Unzahl der plakatierten Reklamebotschaften, wenn man denn Gefallen an den künstlerischen Ausdrucksformen fand. Wer eher den Stadtreinigungs-Aspekt im Sinne hatte, sprach allerdings despektierlich vom „Plakatwahn“ („Affichomanie“). Um 1890 wurde ein Gesetz gegen wildes Anheften erlassen.

Längst werden ästhetisch ambitionierte Plakate auf dem Kunstmarkt hoch gehandelt. In Münster sind jetzt sozusagen Spitzenprodukte der Zunft zu sehen, sie stammen von Henri de Toulouse-Lautrec und einigen seiner Zeitgenossen. Bis dato hatten Plakate meist nur schwarz-weiße Buchstaben-Botschaften übermittelt. Um 1890 aber gediehen Bildhaftigkeit und Farbrausch.

Die rund 160 Exponate kommen aus 20 europäischen Museen. Toulouse-Lautrec (1864-1901) hat insgesamt 31 Plakate geschaffen, immerhin 25 dieser Motive sind in Münster zu sehen. Im Vergleich mit den durchaus beachtlichen Schöpfungen damaliger Mitbewerber (z. B. des Wegbereiters Jules Chéret oder von Théophile-Alexandre Steinlen) kann man die besonderen Qualitäten Toulouse-Lautrecs ausmachen: die ungeheuer treffsichere Pointierung und auch den Mut zur Drastik. Manche Tänzerin oder Diseuse fühlte sich zunächst von ihm allzu gröblich dargestellt. Trotzdem bekam er die Aufträge, denn keiner war besser.

Plakate erwiesen sich als Medium, in dem momentane, augenblicksschnelle Wirkkräfte der Kunst erprobt werden konnten – auf schmalem Grat zum Kommerz: Die Ausstellung führt zu den berühmten, gelegentlich frivolen Konzertcafés („Moulin Rouge“, „Chat Noir“), sie präsentiert Star-Plakate von damals Jane Avril, La Goulue, Aristide Bruant), unternimmt Streifzüge durch die Produktwerbung (Absinth, Liköre, Lakritzbonbons) und widmet sich gar dem seinerzeit grassierenden „Fahrrad-Wahnsinn“, der von Fußgängern als bedrohlich empfunden wurde.

Schließlich mündet all dies in einen Raum mit Pablo Picassos frühen, von Toulouse-Lautrec angeregten Plakat-Versuchen. Man kann sagen: Es war nicht das angeborene Metier des genialen Spaniers.

Prächtige Stücke sind in Münster zu sehen, so etwa Steinlens prägnante Werbung fürs „Chat Noir“ mit riesiger schwarzer Katze, deren Kopf von einem gotischen Ornament umfangen ist – eine bemerkenswerte Würdeformel.

Toulouse-Lautrec wagte es unterdessen, einen kabarettistischen Auftritt von Aristide Bruant mit dessen markanter Rückenansicht anzukündigen. Bruant, von Haus aus Bahnarbeiter, der auf der Bühne die Bourgeoisie rüde beschimpfte, war davon angetan. Sein Gesicht kannte ohnehin jeder.

Drei Damen wollen endlich ins Lokal

Hinreißend sind jene drei rot gewandeten Damen, die auf Georges Redons Plakat sehnsüchtig die Wiedereröffnung des Lokals Marigny erwarten. Bezaubernd auch das Champagner-Plakat des Mannes, von dem sich Toulouse-Lautrec inspirieren ließ: Der famose Pierre Bonnard erfasst das Strömen und Perlen des Schampus derart Sinnlich, dass man ahnt, warum diese Ära „Belle Epoque“ genannt wird. Die Blondine jedenfalls, die das prickelnde Edelgetränk genießt, schmilzt selig dahin.

„Plakatwahn – Toulouse-Lautrec und die französische Plakatkunst um 1900″. Picasso-Museum Münster, Königsstraße 5. Bis zum 15. Februar 2004. Di-Fr 11-18, Sa/So 10-18 Uhr. Eintritt 5 Euro. Katalog 29,80 Euro.




Das Theater sieht sich als Pflichtaufgabe – beim Berliner Kongress zur Krise der Bühnen

Aus Berlin berichtet
Bernd Berke

Ein ums andere Mal konnte man staunen beim Berliner Kongress „Bündnis für Theater“. Debattenbeiträge kamen in dichter Folge von Teilnehmern aus Dortmund, Siegen, Köln, Bonn, Düsseldorf, Krefeld und Münster. Schließlich wunderte sich auch Moderator Hansjürgen Rosenbauer: „Eine alte Befürchtung wird wahr: NRW hat Berlin übernommen.“

Offenbar ist an Rhein und Ruhr das Bewusstsein für die Finanzkrise der Bühnen am meisten geschärft. Prominente Berliner Theaterleute, die im schmucken Kronprinzenpalais ein „Heimspiel“ gehabt hätten, blieben hingegen der Veranstaltung fern.

Auf einen zentralen Begriff konnten sich praktisch alle Anwesenden einigen. Bundespräsident Rau, seit geraumer Zeit mahnender Fürsprecher der Theaterkunst und Miturheber des „Bündnis“-Gedankens, gab das Stichwort vor: Kulturförderung dürfe von der Politik nicht mehr als freiwillige Leistung, sondern müsse als öffentliche „Pflichtaufgabe“ verstanden und auch verankert werden.

Das Gejammer ist man leid

Fortan kam der Kongress immerwieder auf das Zauberwort „Pflichtaufgabe“ zurück. Stünde es erst einmal (wie in Sachsen bereits geschehen) in den Gesetzen, so könnten Kulturmittel nicht mehr ohne weiteres gestrichen werden. Endlich einmal dürfte man sich dann „auf Augenhöhe“ mit anderen Bereichen sehen. Kulturstaatsministerin Christina Weiss möchte überdies erreichen, dass derlei kulturelle Verpflichtungen nicht nur auf dem Papier sich ausbreiten, sondern „vor allem in den Köpfen“.

Theaterleute und engagierte Kulturpolitiker sind das jammervolle Krisen-Gerede offenbar ziemlich leid. Amelie Niermeyer, finanziell gebeutelte Intendantin in Freiburg: „Wenn wir immer nur die Krise beklagen, hört uns irgendwann keiner mehr zu.“ NRW-Kulturminister Michael Vesper bilanzierte zum Schluss, dies sei gottlob „kein Jammer-Kongress“ gewesen, sondern ein selbstbewusster Auftritt der Theaterschaffenden nach dem Leitsatz: „Wir bieten das, was die Gesellschaft braucht.“ Genau so müsse die Kultur auf die Politik zugehen.

Boulevardisierung greift um sich

Beklagt wurde freilich das mediale Umfeld. Die Boulevardisierung greife derart um sich, dass man damit nicht mehr konkurrieren könne. „Wir dürfen nicht alle Mensehen erreichen wollen“, lautete ein bemerkenswerter Befund. Gewiss wolle man sich um jedes Publikumssegment bemühen, doch wenn etwa bei der ZDF-Sendung über „Die größten Deutschen“ ein Daniel Küblböck mehr gelte als manche Klassiker, so dürfe man solchen Entwicklungen nicht hinterherlaufen.

In vier thematischen Foren sichtete der Kongress etliche konkrete Ansatzpunkte – von der theatergerechten Reform der Tarifverträge bis hin zu neuen Marketing-Konzepten. Dortmunds OB Gerhard Langemeyer erläuterte die womöglich bundesweit beispielhaften Vorteile des Theater-Eigenbetriebes, der über die Verwendung kommunaler Mittel selbstständig entscheidet. Essens Kulturdezernent Oliver Scheytt suchte schließlich nach starken Bündnispartnern fürs Theater und hoffte, sie in Schulen, Medien und Kulturbetrieben anderer Sparten zu finden.

Idealistisch gab sich Wolfgang Suttner, Kulturdezernent von Siegen/Wittgenstein. Wenn Menschen erst einmal von Kultur „angezündet“ seien, so sei diese „nicht mehr so leicht kaputt zu machen“. Ihm wurde freilich entgegengehalten, dass eine Mehrheit kulturell zu „erkalten“ drohe. Sollte denn am Ende alles eine klimatische Frage sein?

 




Neuer Ruhrfestspiel-Chef Frank Castorf: Mehr Osten in den Westen bringen

Von Bernd Berke

Köln. Der Mann aus Berlin gehört zum Jetset der Kultur: Neulich eine Stippvisite in Sao Paulo, demnächst Los Angeles. Jetzt bat Frank Castorf (52), neuer Leiter der Ruhrfestspiele, zum eiligen Pressetreff – nicht etwa nach Recklinghausen, sondern ins feine Kölner Hyatt-Hotel. Die Domstadt hat schließlich einen Flughafen.

Man ist schwer beeindruckt. Auch dann, wenn Castorf über seine Festspiel-Ideen redet – und gar nicht mehr aufhören mag. Doch trotz Nachfragen wird nicht recht klar, was wir nun ab 1. Mai 2004 in und um Recklinghausen wirklich erleben werden. Die Sache ist wohl noch im Werden. Der zur Selbstironie fähige Kreativ-Chaot Castorf wird’s schon richten. Er verspricht originäre, aufs Festival zugeschnittene Produktionen, nennt aber allerlei Koproduktions-Orte wie Berlin, Zürich, Barcelona, Hannover, Avignon, Rotterdam und so fort. Allerorten einzigartig?

Kein Interesse an Zielgruppen

Der in der einstigen DDR aufgewachsene Berliner Volksbühnen-Chef Castorf befindet fürs Ruhrgebiet, nicht nur wegen Zuwanderung und EU-Erweiterung: „Es gibt immer mehr Osten im Westen!“

Also will Castorf das Recklinghäuser Festspielhaus, das ihn an den Berliner Ostbahnhof erinnert (warum nur?), mit blauer Neonschrift verzieren, die da lauten soll: „Ostbahnhof West.“ Der als „Stücke-Zertrümmerer“ etikettierte Regisseur: „Ich will den Ort nicht zerstören, sondern nur anders zurichten.“ Ansonsten hat er sich im Ruhrgebiet (gute Erinnerung aus DDR-Jahren: TV-„Rockpalast“ aus der Essener Grugahalle) noch nicht umgesehen. Ohnehin sagt er: „Zielgruppen interessieren mich nicht.“ Er wolle Impulse setzen, dann werde man sehen. „Nur Vorhang auf. Beifall, Vorhang zu – das ist doch langweilig.“ ‚

Sein Festivalmotto für 2004 soll „No Fear“ (Keine Angst) heißen. Castorf möchte gegen die Furcht beim Wegbrechen alter Strukturen im Revier angehen. Etwaigem Gejammer will er mit der Euphorie Südamerikas beikommen. Theatralische Truppen aus Brasilien und Kolumbien stehen für körpersprachliche Lebenslust, die sich von keinem Elend unterkriegen lässt. Und so, wie es dort Theaterprojekte mit Favela-Kindern gibt, will Castorf mit hiesigen, etwa türkischen Migranten arbeiten. Doch Genaues weiß man nicht. „Soziale Bewegung“ und Kampfgeist wolle man jedenfalls anregen – wie sich denn auch Castorf selbst als „guter Boxer“ versteht.

Projekte mit Marthaler, Schlingensief und Bondy

Etwas konkreter: Als große Festspielproduktion will Castorf selbst eine Dramatisierung von Erich von Stroheims legendärem Stummfilm „Gier“ („Greed“, 1924) unter dem Titel „Gier nach Gold“ präsentieren. Die genialisch-monströse Ur-Fassung dauerte damals rund 13, die fürs Kino abgespeckte Version zweieinhalb Stunden.

Amerika zum Zweiten: Christoph Marthaler schmiedet ein „Texas“-Projekt um Öl-Milliarden, Country-Musik und die Heimat des US-Präsidenten Bush. Franz Wittenbrink gestaltet einen Arbeiterlieder-Abend („Brüder zur Sonne, zur Freiheit“). Derweil soll sich der allzeit putzmunter provokante Christoph Schlingensief auf „Ruhrpott-Rallye“ mit Musik von Richard Wagner begeben. Weiteres Bildungsgut: Luc Bondy (Castorf: „Hohepriester bürgerlichen Theaters“) soll „Die Troerinnen“ nach Sophokles in Szene setzen.

Was sonst noch aus Castorfs Füllhorn quillt: Autokino (Lebensgefühl!), Publikums-Schlafsaal, polnischer Wochenmarkt, Container und Casting. Irgendwie, irgendwo, irgendwann…

Mehr soll dann am 5. Februar 2004 verraten werden – und zwar in Recklinghausen.




Proust auf dem Boulevard – Dortmund bringt Harold Pinters Drama über die „Suche nach der verlorenen Zeit“ heraus

Von Bernd Berke

Dortmund. Viele nennen ihn mit Ehrfurcht, die allerwenigsten dürften ihn je gänzlich gelesen haben: Marcel Prousts vielbändigen Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Am Dortmunder Schauspiel kann man das Epos jetzt in rund zweieinhalb Stunden durchmessen. Wie das?

Nun, der britische Dramatiker Harold Pinter hat anno 1972 auf der Basis seiner Proust-Lektüre ein Script erstellt, das von Joseph Losey verfilmt werden sollte. Dazu kam es nie. Viele Jahre später aber hat die Regisseurin Di Trevis den Text für die Bühne hergerichtet und fürs National Theatre in London inszeniert. Dortmunds Fassung (Regle: Hermann Schmidt-Rahmer) firmiert als deutschsprachige Erstaufführung.

Um die Wahrheit zu sagen: Mit Proust hat das Resultat nur noch von ungefähr zu tun. Schon Pinter sah sich genötigt, ungeheuer viele Feinheiten und Hunderte von Figuren des Ur-Textes zu opfern, er konnte nur Essenzen destillieren und Tupfer setzen. Gleichwohl ist’s ein Werk aus eigenem Recht.

Eine weitere Verlustmeldung betrifft die deutsche Übersetzung von Ingrid Rencher, in der gelegentlich unschöne Anglizismen („Das würdest du nicht“) durchscheinen. Eine schwierige Vorlage also.

Endlich beginnen – mit dem Leben und dem Schreiben

So sehen wir denn Prousts literarische Stellvertreter-Figur Marcel (entschieden gegen Prousts Typus besetzt, weil blond, sportlich und frisch: Manuel Harder) zumeist verhalten durch sein Werk und Leben (Leiden der Kindheit, Pariser Salons usw.) geistern. Oft sinniert er nur still, gelegentlich lacht er auf im Blitz nachträglicher Erkenntnis. Sein Fazit: Etliches hat er versäumt im unmittelbaren Dasein. Erinnerung tut schmerzlich not. Sein letzter Satz lautet, es sei „Zeit zu beginnen“. Mit dem Leben? Mit dem Schreiben?

Vor allem aber driftet Marcel durch einen triebgesteuerten Menschenreigen. Gar manches schnurrt hier letztlich auf boulevardeske Fragen an eine schrille „Szene“ zusammen: Wer trieb’s wann mit wem? Wer war schwul oder lesbisch? Ach, welch ein munterer Tratsch.

Durch sieben Türen müssen sie gehen: Im meist gleißend weißen Halbrund der minimalistischen Szenerie (Bühnenbild: Herbert Neubecker) kommen und verschwinden die Gestalten Proustscher Erinnerung. Ein Effekt, der anfangs überzeugt, sich aber abnutzt. Jedenfalls geht’s in dieser dekadenten Gesellschaft im Vorfeld des Ersten Weltkrieges vorwiegend kaltherzig, gierig und intrigant zu. Was wohlfeil zu beweisen war.

Sieben Türen und keine Erfüllung

Hier gleitet, auf spiegelglattem Boden, die Zeit gespenstisch rasch. Die Jahre überlagern sich, sie flackern mitunter fast simultan auf: Kaum sahen wir Marcel als kleinen Jungen, da erscheint er schon als kranker Mann. Denkwürdige Folge und eine Stärke des Textes, der irgendwie auch die mäandernde Vielfalt des Romans abbildet: Todesnähe folgt direkt auf selbstvergessenes Leben, Eifersucht stellt sich gleich nach erster Liebesblüte ein. Überhaupt findet hier niemand Erfüllung in Zweisamkeit. Da wähnt man sich in Gefilden von Botho Strauß.

Nicht leicht ist’s, sich im Gewimmel der aus Prousts Universum verbliebenen Gestalten zurechtzufinden. Ein pragmatischer Kritiker stellte in London die Frage: „Who is who?“ Auch in Dortmund ließe sich manches Rollenprofil wohl noch etwas schärfen (was freilich nicht im Sinne einer steilen Typisierung geschehen sollte). So aber bleibt es stellenweise bei Türenschlagen, Getrappel und Kostumvorführung.

Doch einige Figuren schleichen sich ins Gedächtnis ein, so besonders der ziemlich originalgetreue Dandy Baron de Charlus (Jens Weisser), die vor Sehnsucht waidwunde Odette (Silvia Fink) oder der linkisch sich aus dem Leben davonstehlende Swann (Bernhard Bauer); womit wir die Leistung der Anderen nicht schlankweg schmälern wollen.

Freundlicher Beifall fürs spürbare, jedoch nur zum Teil fruchtende Bemühen um einen problematischen Text. Ob andere Bühnen ihn nachspielen werden?

Termine: 13., 21., 29. November. 5.. 14, 20. Dezember. Karten: 0231/50 27 222.




Ein Netzwerk der Kunst und sein Mittelpunkt – Sammlung Krian im Dortmunder Museum am Ostwall

Von Bernd Berke

Dortmund. Das Dortmunder Museum am Ostwall öffnet sich jetzt einem großen Kreis miteinander befreundeter Künstler. Auch wenn diese Leute mittlerweile in alle Windrichtungen der Szene verstreut sind, so hat das Netzwerk doch einen Mittelpunkt just in Dortmund.

Der als Künstler, Sammler und Galerist („da entlang“ an der Kaiserstraße) umtriebige Erich Krian hat hier in Jahrzehnten eine umfängliche Kollektion aus diesem Zirkel angehäuft. „Die Sammlung hat sich sozusagen ereignet, sie war kein erklärtes Ziel“, sagt er zu den oft spontanen Gaben oder Tauschgeschäften unter Freunden. Gewiss werden einige aus diesem „munteren Haufen“ (Krian) heute um 17 Uhr zur Eröffnung kommen.

Was sonst bei Krian daheim dicht an dicht hängt und steht, kann sich nun am Ostwall gehörig ausbreiten. Etwa die Hälfte des Gesamtbestandes ist zu besichtigen. Auch für das Sammler-Ehepaar Krian dürfte dies ganz neue Einblicke in die nunmehr luftig präsentierte (und mit einem Katalog erschlossene) Kollektion bedeuten.

Mit seiner Frau Regina, die Design studiert hat und als Sonderschullehrerin arbeitet, hat sich Erich Krian bislang stets über Sammlungs-Zuwächse geeinigt. Tochter Jenny konnte wohl kaum anders: Auch sie hat mit dem Sammeln begonnen. So weit das Familiäre, das die Schau letztlich mitprägt.

Rund 200 Arbeiten von 40 Künstlern sind zu sehen: Kommilitonen, Mitstreiter, Weggefahrten Krians. Für ihn ist es mithin irgendwie auch eine Besichtigung des eigenen Lebenslaufes – und zumeist eine Begegnung mit jenen Künstlern, die er in seiner Galerie vertritt. Die Ostwall-Ausstellung dürfte den Marktwert kaum schmälern.

Der 1948 geborene Krian begann seinen Weg an der Werkkunstschule in Dortmund und war an der Düsseldorfer Akademie Schüler der Größen Rupprecht Geiger und Gotthard Graubner. Andere Künstler zieht’s nach solchen Weihen in die weite Welt, Krian entschied sich für die Rückkehr nach Dortmund.

Vierzig Künstler können wir hier nicht nennen. Manche haben inzwischen weithin von sich reden gemacht, so etwa Ulrich Langenbach, Willi Otremba, Peter Telljohann, Günther Zins oder Katharina Grosse.

Über wenige Kämme lassen sie sich eh nicht scheren. Man spricht in derlei Fällen gern etwas wolkig von „Positionen“ der Kunst. Vielfältig die Ansätze, durchweg acht- und haltbar die Qualität. Im Erdgeschoss sind eher zurückhaltende Arbeiten zu sehen, im oberen Stockwerk darf mehr Farbe walten. Man sehe selbst. Derweil denken die Krians über eine dauerhafte Heimstatt für ihren Fundus nach und erwägen eine Stiftung fürs Dortmunder Museum.

„Der erste Blick“. Sammlung Krian. 9. November 2003 bis 11. Jan. 2004. Di/Mi/Fr/So 1017, So 10-20, Sa 12-17 Uhr. Eintritt 3 Euro, Katalog 25 Euro.




Am Abgrund der Angst – aufregende Schau mit Graphik von Edvard Munch im Münsteraner Landesmuseum

Von Bernd Berke

Münster. Gute Laune verspürte der ansonsten oft schwermütige Edvard Munch (1863-1944) schon beim bloßen Anblick einer Kupferplatte. Die Freude, in die „jungfräuliche“ Fläche zu ritzen, übertraf mitunter selbst seine drangvolle Lust an der Malerei. Also zeigt das Landesmuseum in Münster etwas Wesentliches, wenn es jetzt den Graphiker Munch würdigt.

Die fast 200 Exponate stammen aus dem Berliner Kupferstichkabinett. Dort verwahrt man den (nach Oslo) weltweit größten Fundus an Munch-Druckgraphik meist im Dunkel des Depots, auch wegen konservatorischer Bedenken.

In Münster werden die Holzschnitte, Lithographien und Radierungen so großzügig präsentiert, als wären es Ölgemälde. Man muss nicht zentimeternah heranrücken, um filigrane Einzelheiten zu erspähen. Munch war ein Meister der höchst prägnanten Formen, die schon aus der Distanz ihre Wirkung ausüben.

Leitsatz des Künstlers: „Ich male nicht, was ich sehe, sondern das, was ich gesehen habe.“ Bilder der Erinnerung also, die die Realität eher schattiert herbeizitieren und psychologisch umso genauer treffen. Von Munchs Motiven fühlt man sich direkt, existenziell und exemplarisch angesprochen.

Ein sterbenskrankes Kind schaut ins Jenseits

Ein Beispiel: „Das kranke Kind“ (1894/1896), in mehreren Fassungen entstanden nach dem Tod seiner Schwester Sophie, die mit 15 Jahren an Tuberkulose starb. Zunächst wacht noch die untröstliche Mutter bei dem Mädchen, das später gänzlich aus dem Zusammenhang des Zimmers gelöst wird und (buchstäblich sterbensallein) dem Betrachter optisch ganz nahe rückt, während es sich seelisch schon weit entfernt hat. Traumverloren und körperlich schon transparent, schaut es in den Vorschein eines gleißenden Jenseits.

Auch die vermeintlich in vollem Saft Lebenden zeigt Munch oft als isolierte Figuren, wie ausgestanzt aus ihrer Umgebung. Selbst die Bilder aus seinen wilden Bohème-Jahren in Oslo und Berlin geraten düster, etwa nach dem Motto: Auch mitten im Saufen und Herumhuren sind wir vom Tod umfangen.

Überhaupt regiert die Angst: Die „Pubertät“ (vor Zukunftsschauer frierendes nacktes Mädchen) erscheint als allenfalls bang hoffendes Weh und Ach. „Eifersucht“, „Trennung“ oder auch „Die Geisteskranke“ sind so gültig verdichtet, dass man die Titel nicht lesen muss. Ungemein zielsicher auch die Porträts, so von Strindberg oder Ibsen.

Frauenbildnisse zwischen Madonna und „Sünderin“

Im Zentrum der aufregenden Münsteraner Schau aber stehen die Frauen; mal madonnenhaft, dann wieder sündig, zuweilen beides zugleich. Bestürzend, dass Munch eine Geliebte (Geigerin aus England) als verrucht schöne „Salome“ zeigt und sich selbst als Johannes. Biblisch gedeutet, hieße das: Sie hat ihn Kopf und Kragen gekostet.

Auf anderen Bildern erscheint das gefährlich lockende Weib als Vampir. Ein weiteres Mädchen küsst den knochigen Tod, eine Nackte ihren Liebhaber – mit inbrünstiger Gier, als ginge es danach ans Sterben. Lechzen am Rande des Abgrunds. Weniger bekannte Tierbilder geben dem kreatürlichen Dasein einen Drall ins Groteske. Und Munch hat einen umfangreichen Zyklus geschaffen, der die Schöpfungsgeschichte noch einmal neu mit Szenen aus dem modernen Seeleleben aufrollt. Statt Adam und Eva leiden hier Alpha und Omega als aus dem Paradies vertriebenes Paar.

Zu jener Zeit hatte Munch seine Kopenhagener Therapie (Angstzustände, Alkoholismus) bereits hinter sich. Die späteren Werke nähern sich wieder der realen Welt. Harte Arbeit, einfache Verrichtungen in karger Landschaft, manchmal am Rande des Genre-Idylls. Vielleicht Balsam für des Malers wunde Seele.

Edvard Munch – Graphik. Westfälisches Landesmuseum Münster (Domplatz). 9. November 2003 bis 1. Februar 2004. Di-So 10-18 Uhr. Katalog 25,50 Euro.




Sprache gegen die Diktatur in Schutz nehmen – Herta Müllers neues Buch „Der König verneigt sich und tötet“

Von Bernd Berke

Mit sprachlichen Reibungsflächen hat die 1953 geborene Autorin Herta Müller viele schmerzliche Erfahrungen gemacht. Aufgewachsen in einem gespenstisch schweigsamen, banatschwäbischen Dorf (deutschsprachige Minderheit in Rumänien), kam sie mit 15 Jahren aufs Gymnasium in der nahen und doch so fernen Stadt. Dort erst lernte sie nachträglich Rumänisch; noch dazu als Mädchen vom Lande den schnoddrigen städtischen Jargon mitsamt der ganz anderen Gestik.

Hinzu kam die verfälschende Zerrspiegel-Sprache des Ceausescu-Regimes, die in alle Beziehungen sickerte und gegen die man sich im Namen der wahren Empfindung tagtäglich wehren musste.

Als Herta Müller nach vielen Geheimdienst-Verhören, nach mancher Drangsal und Drohungen 1987 ins deutsche Exil ging, lernte sie westliche Sprechweisen und Wortfärbungen kennen. Ihr Befund, der uns zu denken geben sollte: Von existenziellen Leiden und Ängsten haben wir hierzulande meist kaum einen Schimmer, deshalb reden wir zuweilen so sorglos und unverantwortlich daher.

Unheimliche Macht der Gegenstände

In ihrem neuen Buch „Der König verneigt sich und tötet“ gibt Herta Müller Auskunft über Quellflüsse und Antriebe ihrer LIteratur, vor allem der Romane „Der Fuchs war damals schon der Jäger“ und „Herztier“.

Basis des Bandes sind Vorträge im Rahmen von Poetik-Dozenturen. Doch sie lesen sich absolut nicht wie eine branchenübliche Nabelschau vom Schreibtisch-Rand, sondern durchaus dringlich verdichtet.

Kein Wunder, dass diese Autorin für sprachliche Nuancen so hellhörig ist. Doch letzten Endes traut gerade sie, die mit ihren Wörtern fast immer genau ins Herz der Dinge trifft“ der Sprache nicht über den’Weg. Selbst feinfühlige Literatur könne das Leben und Leiden nur ansatzweise erhaschen, und nur in ganz raren, glückhaften Schreib- und Lese-Augenblicken könne sie einen womöglich produktiven „Irrlauf“ (so Müllers Ausdruck) im Kopfe in Gang setzen. Als mächtiger erweisen sich allemal unscheinbare Gegenstände (ein Nachthemd, ein Möbelstück), die sich im Gedächtnis einnisten, dort in nervöser Verzweiflung sprachlos kreisen und nicht mehr weichen wollen.

Wider den byzantinischen Größenwahn

Mit dem Titel gebenden König ist auch der fürchterliche Ceausescu gemeint, der im geradezu byzantinisehen Größenwahn alles nach seinem fratzenhaften Bilde formen wollte. Herta Müller lässt ahnen, wie verstörend es für alle weitere Lebenszeit gewesen ist, unter ihm und seinen Bonzen das Dasein gefristet zu haben. Mit anhaltender Verzweiflung schildert sie etwa, wie schon Fünfjährige im Kindergarten dem System vollends verfallen waren und vielstrophige Lobeshymnen auf Ceausescu singen wollten. Ganz zu schweigen davon, dass Menschen aus dem Freundeskreis der Autorin entweder zu Verrätern wurden oder ihre Dissidenz mit dem Leben bezahlten. Auch als Leser erfasst einen da heißkalte Wut.

Doch der schreckliche „Monarch“ (der vom Westen mit Samthandschuhen angefasst wurde, weil er zu Moskau Distanz hielt) wird nach und nach in ein engmaschiges Bilder-Geflecht verstrickt; wird beispielsweise überblendet mit dem König beim Schachspiel, was wiederum zum armseligen Leben des (von den Kommunisten enteigneten) Großvaters führt und sich überhaupt biographisch kunstvoll verästelt.

Es ist, als schlüge jeder Bereich (Wort)-Wurzeln im anderen. Daraus erwachsen eine unvergleichliche poetische Durchdringung – und eine tiefe, untröstliche Traurigkeit.

• HertaMüller: „Der König verneigt sich und tötet“. Hanser Verlag, 199 S., 17,90 Euro.

• Mit einer Lesung von Herta Müller beginnt am Montag, 3. November (19.30 Uhr im Theater Fletch Bizzel, Humboldtstraße 45) das Dortmunder Literaturfestival LesArt. Infos/Karten: 0231/50 27 710.

 




Flimm will Triennale im Spätsommer – Künftiger Festival-Chef stellte sich in Bochum der Presse vor

Von Bernd Berke

Bochum. Sonnenklar: Jürgen Flimm, ab 2005 Chef der RuhrTriennale, hat erst vor wenigen Tagen seinen Vertrag unterzeichnet und kann noch nicht mit fertigen Festival-Konzepten aufwarten. Doch er skizzierte gestern in Bochum schon mal „Ideen aus meinem Zettelkästen“.

So kann er sich etwa Programme auf der Basis von Renaissance- und Barock-Kompositionen vorstellen. Diese Epochen lägen uns innerlich gar nicht so fern: „Auch damals mussten neue Horizonte entworfen werden.“ Apropos: Ein alle Produktionen überspannendes Grundthema sei in unseren Umbruch-Zeiten kaum vorstellbar. Flimm: „Es herrscht Zersplitterung.“ Aber vielleicht ergebe sich ja ohne Absicht eine heimliche Leitidee.

„In Salzburg ist man altgierig, im Revier neugierig“

Flimm, der bei der RuhrTriennale nicht selbst inszenieren will, nannte zwei konkrete Wünsche: Schon seit längerem reize ihn Bernd Alois Zimmermanns Oper „Die Soldaten“ (nach J.M.R. Lenz). Auch für Luigi Nonos bislang fast nur konzertant gegebenes Musikdrama „Prometeo“ will Flimm eine theatralische Umsetzung anregen: „Konzertant ist doch eunuchenhaft.“ Gut möglich also, dass derlei Stoffe das Fundament für „Kreationen“ bilden, wie sie Flimms noch amtierender Vorgänger Gerard Mortier ersonnen hat: tiraditionelle Formen als Ausgangsmaterial für neue Mischungen und Erkundungen. Überhaupt zollt Flimm dem Belgier großen Respekt. Und er schwärmt vom Revier-Publikum: „In Salzburg ist man altgierig, hier im Revier ist man neugierig.“

Überhaupt keine Probleme mit Castorf

Weit gediehen sind Flimms Überlegungen, die RuhrTriennale im Sinne einer Entzerrung zeitlich neu zu postieren. Der Schwerpunkt soll nicht mehr im Frühjahr oder Herbst liegen, wenn etliche andere Festivals und Premieren anstehen, sondern im Spätsommer. Vor allem dürfe es keine Überschneidungen mit den Ruhrfestspielen geben, die dann unter dem Triennale-Dach von Frank Castorf (Flimm: „Mit dem habe ich überhaupt keine Probleme“) geleitet werden.

Zudem zeichnet sich eine Konzentration auf noch weniger Spielorte ab. Flimm sieht die Bochumer Jahrhunderthalle als zentrales Festspielhaus. Daneben dürfte der Duisburger Landschaftspark Nord Bestand haben, wo Flimm gerade einen WDR-Film dreht – die Kleist-Phantasie „Käthchens Traum“.

„Kürzungsschock“ ist überwunden

Für Koproduktionen mit Stadttheatern ist Flimm prinzipiell offen. Allerdings: Die Häuser zwischen Dortmund und Oberhausen müssten in erster Linie gezielt für ihre Städte spielen. Die Triennale stehe nur für besondere Projekte bereit, sie sei keine zweite Subventions-Quelle für kommunale Bühnen. Flimm bekannte, er habe den „Kürzungsschock“ (38 statt 42 Mio. Euro für die Triennale 2005 bis 2007) überwunden, und er sehe Spar-Möglichkeiten. Die musikalische Reihe „Century of Songs“ werde er aber fortsetzen.

Und wie hält es der Fußballfan mit dem Revier? Flimm ist Anhänger von Werder Bremen und derzeit sauer auf Schalke, das den Hanseaten den Torjäger Ailton abspenstig macht. Flimm: „Ich werde mich wohl auf Borussia Dortmund zubewegen Da geht mein Freund Müller-Westernhagen auch immer hin.“




Kultur muss jetzt Opfer bringen – Gespräch mit dem NRW-Minister Michael Vesper

Von Bernd Berke

Dortmund/Düsseldorf. In Krisenzeiten ist die Solidarität der Kulturschaffenden gefragt – quer über die Sparten hinweg, doch auch im jeweils eigenen Metier. Daran wird wohl NRW-Kulturminister Michael Vesper (Grüne) erinnern, wenn er sich am kommenden Samstag mit den Intendanten des Landes trifft.

Er will sie bewegen, ihr lieb gewordenes NRW-Theatertreffen aufzugeben, um durch diesen Verzicht den vier Landestheatern zu helfen. Das verriet der Minister der Westfälischen Rundschau (WR) am Telefon.

Verzicht auf Theatertreffen zugunsten der Landesbühnen?

Immerhin rund 120.000 Euro an Landeszuschüssen ließen sich einsparen, wenn jene alljährliche Leistungsschau der NRW-Bühnen entfiele, die viele Kritiker ohnehin für überflüssig halten. Mit dem so eingesparten Geld ließen sich die geplanten Kürzungen bei den vier Landestheatern (WLT in CastropRauxel, Detmold, Dinslaken und Neuss) ein wenig mildem.

Zur Zeit bekommen die vier Bühnen zusammen 13,8 Mio. Euro Landeszuschüsse, ab 2004 sollen es nur noch 12,0 Mio. Euro sein. Dabei müsste das WLT am meisten abspecken, denn es habe, so Vesper, bislang den höchsten Landesanteil (über 60 Prozent) am Gesamtetat – oder so herum betrachtet: Castrop-Rauxel steuert weniger bei als die anderen Gemeinden.

Sparzwänge in allen Bereichen

Vesper, von Amts wegen auch zuständig für Wohnen, Städtebau und Sport, sagte, ihm blute bisweilen das Herz, wenn er an all die nötigen Kürzungen denke. Doch bislang sei der Kulturbereich weitgehend verschont geblieben. Nun müssten Opfer gebracht werden. Auch der Zuschuss zur RuhrTriennale werde ja von 42 Mio. auf 38 Mio. Euro reduziert.

Kein Bereich werde von vornherein finanziell „auf Null gestellt“, aber die Beweislast, ob eine Ausgabe nötig ist, liege jetzt bei den kulturellen Institutionen. Jeder Anspruch müsse neu begründet werden. Vesper: „Das ist doch besser, als wenn wir mit dem Rasenmäher kürzen.“

Einschnitte auch bei Kultursekretariaten und Literaturbüros

Einschnitte drohen z. B. auch den Kultursekretariaten in Wuppertal und Gütersloh (nur noch 1,0 statt 1,5 Mio. Euro Zuschuss) sowie den fünf Literaturbüros, von denen eines in Unna angesiedelt ist. Alternative: Entweder bekommen alle fünf Büros nur noch je 80 Prozent ihres bisherigen Zuschusses, oder es wird ein Haus geschlossen (Vespers Formulierung: „…an ein anderes angegliedert“) – und die restlichen könnten vorerst mit ihrem gewohnten Etat wirtschaften. Vesper lobt in diesem Zusammenhang das Literaturbüro in Detmold: „Die haben landesweit die besten Projekte.“ Dieser Standort dürfte also ungefährdet sein.

Vom Schlimmsten verschont bleiben laut Vesper einstweilen die kommunalen Bühnen, die im Schnitt unter 5 Prozent ihrer Etats aus Landesmitteln bestreiten. Der Politiker sieht sie zudem durch das Gemeindefinanzierungsgesetz (GFG) abgesichert.

Kultur macht nicht einmal 1 Prozent des Landeshaushalts aus

Und was sagt Vesper zu bisherigen Reaktionen auf seinen Sparkurs? Nur die oft branchenübliche Alarmstimmung? Der Minister: „Da differenziere ich.“ Die Sorgen des WLT verstehe er sehr gut, manches werde noch in Gesprächen zu klären sein, wie er denn überhaupt mit allen Betroffenen reden wolle. Doch wenn der Deutsche Kulturrat vom „Todesurteil“ für manche Einrichtung spreche, so sei schon die Wortwahl geschmacklos.

Insgesamt, das weiß natürlich auch Michael Vesper, kann der NRW-Landeshaushalt nicht durch kulturelle Einsparungen genesen – und seien sie noch so rigide. Der Kulturbereich macht nicht einmal 1 Prozent des ganzen Landesetats aus.

Näheres wird man erfahren, wenn am 12. November der Doppelhaushalt 2004/05 in den Landtag eingebracht wird. Ende Januar 2004 soll das Paket verabschiedet werden. Dann werden die ganz harten Verhandlungen auf dem Kultursektor beginnen. Vesper: „Ich habe jetzt immer einen Taschenrechner dabei.




Eine Legende hebt ab – Sönke Wortmanns verklärender Film „Das Wunder von Bern“

Von Bernd Berke

Allzu viele bleibende Legenden hat die Bundesrepublik nicht hervorgebracht. Schon deshalb gehört der deutsche Sieg bei der Fußball-WM 1954 („Wir sind wieder wer“) unbedingt ins Kino. In seinem Film „Das Wunder von Bern“ trägt Regisseur Sönke Wortmann das Zeitkolorit mit breitem Spachtel auf.

Der in Marl geborene Wortmann, früher selbst ein begabter Kicker, hat sich viel vorgenommen: In etlichen Spielszenen sucht er den berühmten „Geist von Spiez“ zu beschwören, der die deutschen Balltreter um Fritz Walter und den kürzlich verstorbenen Helmut Rahn zum Titel getragen haben soll.

Zudem schildert er das in kohlenschwarzer Dürftigkeit geradezu pittoreske Ruhrgebiet jener Zeit – zwischen Zechensiedlung, Taubenschlag und Eckkneipe. Noch dazu erzählt Wortmann die (Familien)-Geschichte eines Kriegsheimkehrers – und die WM-Erlebnisse eines jungen Sportreporters aus München, der mit seiner schicken Frau als Kontrastfigur zur Revier-Tristesse daherkommt.

Wie passt das zusammen? Nun, der elfjährige Matthias Lubanski (Louis Klamroth) wohnt mit Mutter (Johanna Gastdorf) und zwei älteren Geschwistern in einer Essener Bergarbeitersiedlung, sie betreiben eine Schankwirtschaft. Einer der Nachbarn im Viertel heißt – Helmut Rahn! Täglich trägt Matthias ihm, der sein Ersatzvater oder starker Bruder sein könnte, die Tasche zum Training von Rot-Weiß Essen. Rahn wiederum, den sie alle „Boss“ nennen, redet dem Jungen (und sich selbst) ein, dass er wichtige Spiele nur gewinnt, wenn der kleine „Furzknoten“ Matthias im Stadion ist.

Sascha Göpel spielt das Essener Fußball-Idol als kernigen Reviertypen – immer einen deftigen Spruch auf den Lippen, öfter mal die Bierflasche am Hals und das Herz auf dem richtigen Fleck. Eines Tages kehrt Matthias‘ Vater (Peter Lohmeyer) aus russischer Kriegsgefangenschaft heim. Als der Kumpel wieder in „seinen“ Schacht einfährt und die Presslufthämmer dröhnen, glaubt er Maschinengewehre zu hören. Auch hat er sich von der Familie entfremdet, will aber sofort wieder das Heft in die Hand nehmen. Konfliktstoff! Und der wird schauspielerisch sorgsam, wenn auch nicht ganz klischeefrei abgetragen.

Bei Rahns Tor jubeln Mönche und Kommunisten

Parallel dazu durchleidet man noch einmal das ganze WM-Turnier. Trainer Sepp Herberger (knorrig-verschmitzter Patriarch: Peter Franke) sondert klassische Sprüche ab. „Der Ball ist rund, und das Spiel dauert 90 Minuten“. Diese unvergängliche Weisheit hat er (laut Film) von einer betagten Schweizer Hotelputzfrau.

Es ist einer der raren ironischen Momente, wenn Herberger ihre verbale Steilvorläge anderntags der WM-Journaille auftischt. Sonst vermisst man solche sanften Brüche. Die Heldensaga treibt zwischen Trübsal und Pathos voran. Meist ist die Geschichte gut „geerdet“, doch einige Szenen heben bedenklich verklärend ab.

Hauptsache fürs Revier, dass Rahn endlich aufgestellt wird. Mit jedem Sieg heilen (so Wortmanns Kurzschluss) auch die Wunden der Faimilie Lubanski. Hier gilt als das wahre Wunder von Bern, dass die Menschen vom Krieg und seinen Folgen genesen.

Der Vater leiht sich vom Pfarrer („mit Gottes Segen“) einen klapprigen DKW und tuckert mit Sohn Matthias zum WM-Finale. Man weiß ja: Wenn der Kleine vor Ort ist, kann’s klappen. Als Rahn das erlösende 3:2 gegen Ungarn schießt, jubeln hier alle mit – vom Mönch bis zum Ost-Berliner Kommunisten. Bestimmt will Wortmann damit keine neue „Volksgemeinschaft“ aufleben lassen. Doch der Regisseur hat sich mitreißen lassen vom Mythos, bis hin zum fragwürdigen Schluss: Wenn die WM-Gewinner mit dem Zug heim gekommen sind, schwebt die Kamera hoch und schwelgt im bäuerlichen Idyll, als sei die „deutsche Scholle“ der Urgrund, auf dem glorreiche Siege wachsen. Da sind, mit Schaudern sei’s gesagt, gewisse Entäußerungen der NS-Malerei nicht allzu fern. Zwiespältig genug! So kann’s gehen, wenn sich einer kopfüber in die Zeitgeschichte stürzt.




Die Macht der Kriegsfotografie – Susan Sontags neues Buch „Das Leiden anderer betrachten“

Von Bernd Berke

Morgen bekommt Susan Sontag den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. In ihrem aktuellen Buch widmet sich die amerikanische Essayistin der zwiespältigen Schaulust angesichts fremden Leids.

Das Thema lässt sie nicht los: Schon 1977 hat es Susan Sontag in ihrem Buch „Über Fotografie“ aufgegriffen. Damals war die Kriegsfotografie nur ein Bereich unter vielen. Jetzt richtet die hellsichtige Essayistin, die an diesem Sonntag in der Frankfurter Paulskirche den Friedenpreis des Deutschen Buchhandels bekommt, ihren medienkritisehen Blick ganz auf die bildlich erfassten Greuel.

„Das Leiden anderer betrachten“ heißt der Band. Schon im Titel schwingt Unbehagen mit, das wahrlich angebracht ist: In aller Regel sind wir räumlich so fern von den schrecklichen Geschehnissen, dass es fast obszön anmutet, Fotografien fremden Leidens anzuschauen.

Rütteln Fotos auf oder stumpfen sie ab?

Andererseits, so Susan Sontag, muss immer wieder auf Kriege und Völkermorde aufmerksam gemacht werden, damit man nicht vergisst und sich vielleicht sogar engagiert. Denkt man noch eine Windung weiter, erhebt sich freilich die Frage, ob solche Bilder tatsächlich nur aufrütteln oder ob sie nicht irgendwann durch Fülle und Allgegenwart abstumpfen. Kaum zu leugnen sei doch diese sehr zwiespältige Schau-Lust, die seit jeher den nackten und den geschundenen menschlichen Körper betrifft.

Selbst neueste Fotografien beziehen sich oft auf christliche Traditionsmuster. Die Vergegenwärtigung menschlichen Leides geht letztlich zurück auf religiöse Bildnisse: Christus am Kreuz, die Qualen der Märtyrer.

In früheren Jahrhunderten, so legt Susan Sontag dar, diente die (zeichnerische und malerische) Darstellung des Krieges der Heldenverehrung. Im Krimkrieg und anderswo waren dann Fotografen im staatlichen Auftrag unterwegs und hatten beruhigende Botschaften zu liefern. Von Leiden keine Spur. Neuerdings musste man im Irak-Krieg erleben, wie versucht wurde, den Strom der Bilder wieder stärker zu lenken.

Bilder im kollektiven Gedächtnis

Etwa seit der Zeit, als Francisco Goya (im 17. Jahrhundert) das organisierte Morden in seiner berühmten Bilderserie „Die Schrecken des Krieges“ denkbar drastisch und fratzenhaft zeigte, gibt es jedoch den nie mehr ganz zu unterdrückenden Impuls der Mahnung und Anklage, der sich später auch auf die Fotografie übertrug. Seither haben sich viele Bilder ins kollektive Gedächtnis eingebrannt, so etwa Robert Capas fallender Soldat aus dem Spanischen Bürgerkrieg der 1930er Jahre, so auch der Kopfschuss aus nächster Nähe oder die entblößten, schreiend vor dem Napalm-Inferno flüchtenden Kinder im Vietnamkrieg.

Susan Sontag kommt zu°dem Schluss, dass solche fürchterlich prägnanten Einzelaufnahmen nachdrücklicher wirken als Femsehbilder. Ihr Buch gibt die Fotografien nicht wieder, wohl weil die Autorin annimmt, sie seien präsent genug. Auch will sie etwaige Schaulust nicht bedienen, sondern ihre Bedingungen erkunden.

Gegen die Simulations-These von Jean Baudrillard

Anhand zahlreicher Beispiele macht sie klar, dass selbst gänzlich objektiv wirkende Dokumentarfotografie noch Elemente der Inszenierung enthält – und sei es nur durch den subjektiven Blickwinkel des Fotografen. Manche berühmte Kriegsfotografie entstand erst nach den Kämpfen und war gestellt, was ihren inneren Wahrheitsgehalt nicht unbedingt mindert. Technische Tricks oder auch Bildunterschriften könnten ein Foto manipulieren. Naive Betrachtung verbietet sich also.

Gänzlich verwirft Susan Sontag jedoch die Thesen des französischen Philosophen Jean Baudrillard, der letztlich alle Ereignisse und deren Abbildung als bloße Simulation auffasst. Einfacher Grund: Jene, die leiden, leiden schmerzhaft wirklich.

Eine würdige Friedenspreisträgerin

Simple Antworten gibt es auf diesem Felde nicht. Susan Sontag führt uns denn auch durch ein Labyrinth der Widersprüche. Gelegentlich muss auch sie eine gewisse Ratlosigkeit eingestehen. Doch man merkt in jeder Zeile, dass sie eine würdige Friedenspreisträgerin ist, so umsichtig und verantwortungsvoll geht sie zu Werke. Nicht jede ihrer Ideen ist neu oder originell, doch in der Summe ergibt sich eine Gedanken-Bewegung, die einen in jeder Hinsicht mitnimmt.

Susan Sontag: „Das Leiden anderer betrachten“. Hanser-Verlag, 151 Seiten, 15,90Euro.




„Das Leben ist ein Festival der Zufälle“ – Gespräch mit Wolf Wondratschek auf der Buchmesse

Von Bernd Berke

Wolf Wondratschek (60) zählte zeitweise zu den meistgelesenen deutschen Schriftstellern. Einst galt er, mit Bänden wie „Chucks Zimmer“ und „Carmen oder Ich bin das Arschloch der achtziger Jahre“, als führender „Pop- und Rock-Poet“ des Landes. Außerdem erregte er Aufsehen mit Texten über die ruppigen Milieus der Boxer und Bordelle. Die WR sprach mit ihm auf der Frankfurter Buchmesse:

Sein neuer Roman „Mara“ (Hanser, 202 Seiten, 17,90 Euro) gibt sich thematisch gediegener: „Titelheld“ ist ein berühmtes Stradivari-Cello (Beiname „Mara“ nach dem ersten Besitzer). Es erzählt in Ich-Form seine fast dreihundertjährige Geschichte quer durch die Epochen. Und es schildert das Leben der Virtuosen, die sehr unterschiedliche Temperamente verkörpern.

Das Instrument gibt es also tatsächlich, es ist viele Millionen wert. Heute spielt es der Österreicher Heinrich Schiff, mit dem der Roman denn auch endet. Dass es noch existiert, grenzt an ein Wunder. Denn 1963 ging es bei einer Havarie vor Argentinien über Bord und wurde zu nassem Kleinholz. Wahre Könner haben es wieder restauriert.

„Ich höre immer noch Grateful Dead“

Früher schrieb er über Jagger und Zappa, jetzt entstehen Romane über Mozart und Cellomusik. Hat sich Wondratschek mit den Jahren bürgerlich bemhigt? Der Autor wehrt sich gegen diese Annahme:

„Ich habe die klassisehe Musik keineswegs neu für mich entdeckt, sie ist nur in den Vordergrund getreten. Ich habe als Kind selbst Cello gelernt, lange bevor ich die erste Dylan-Platte hatte. Doch die Medien haben mich nun mal als Rock-Poeten inthronisiert.“

Es gebe keinen Bruch, allerdings verschlage es ihn von Zeit zu Zeit in andere Bereiche. Wondratschek: „Das Leben ist ein Festival der Zufälle. Aber der Autor von ,Mara‘ kennt sich immer noch sehr gut in ,Chucks Zimmer‘ aus. Ich höre immer noch Stones, Grateful Dead und Miles Davis. Aber eben auch Haydn. Vieles besteht nebeneinander.“

„In der Kunst ist man stets gefährdet“

Überdies gebe es Parallelen zwischen Komponisten, Cello-Virtuosen und Rockstars. Auch früher hätten Musiker in ihrer Kunst Dämonen heraufbeschworen und vielfach Drogen genommen. „Wenn man in der Kunst, egal in welcher, das Äußerste wagt, so ist man stets gefährdet; ganz gleich, ob am Schreibtisch, im Atelier oder auf der Bühne.“ Das heutige Konzertpublikum wisse von diesen Extremen meist nichts. Daher könne es weder diese Musik richtig verstehen noch einen Maler wie Immendorff. Wondratschek: „Man kann kein friedliches Familienleben führen und dann so denken wollen wie Nietzsche. Das Absolute ist kein Spaß!“

Ihm selbst sei seine Bordell-Thematik als Etikett angeheftet worden. Manche hätten naiv gerätselt, ob er schon mal ein Etablissement aufgesucht habe. Wondratschek: „Lächerlich! Ich bin nicht nur einmal trunken hineingewankt, sondern habe zehn Jahre auf St. Pauli gelebt, war mit Zuhältern und Mädchen befreundet. Ähnlich war es im Box-MiIieu. Ich war nie bloßer Tourist. Ich lasse mich auf Lebensumstände ein. Anders geht es auch gar nicht.“

Auch der Cello-Roman verlangte tiefes Eintauchen ins Thema. Wondratschek: „In den 300 Jahren ist unglaublich viel passiert. Es gab anfangs keine Sinfoniekonzerte im heutigen Sinn, Musik wurde nur im kleinen Kreis gespielt, sie war dem Adel vorbehalten. Also kommt die ganze Gesellschaftshistorie mit hinein. Und natürlich eine Liebesgeschichte…“




Muhammad Ali auf der Buchmesse: Der Stoff, aus dem die wirklichen Mythen sind

Frankfurt. Gar keine Frage: Es war d e r Auftritt der Buchmesse überhaupt. Als die Boxlegende Muhammad Ali sich endlich zeigte, drängelten sich Hunderte von Journalisten aus aller Welt. Als er dann bedächtig in einen vorbereiteten Boxring stieg und durchs Geviert zwischen den Seilen tappste, jubelte ihm die Menge der Messebesucher zu wie einem Messias.

Da könnte einer wie Dieter Bohlen tausendmal „titanenhaft“ zur Tür `reinkommen – und hätte nicht den Bruchteil jenes Schauders ausgelöst, wie er sich gestern in Frankfurt unfehlbar einstellte. Man weiß nicht, wie und warum. Doch für Sekunden fühlte man sich plötzlich, als befinde man sich näher am Herzen der Dinge. So wirkt der geheimnisvolle Stoff, aus dem wirkliche Mythen sind.

Dabei war es eine überaus zwiespältige Angelegenheit. Der schwer kranke Ali, der bekanntlich seit Jahren unter Parkinson leidet, kann sich gleichsam nur noch in Zeitlupe regen – welch ein betrüblicher Kontrast zu seinen großen Boxerzeiten! Dennoch hat man ihn zwecks Werbung für ein sündhaft teures Huldigungsbuch eingeflogen. Es war gewiss eine Strapaze, als die zahllosen Kamera-Teams ihn und seine Frau zu immer neuen Posen animierten: Fäuste ballen, Küsschen geben usw. Doch vielleicht hat es seiner müden Seele auch noch einmal gutgetan. Wie aus einer anderen Sphäre herbeigezaubert, kam das eine oder andere Lächeln auf sein Gesicht…

Mehr Rummel geht nicht. Damit verglichen hat es auch Doris Schröder-Köpf, immerhin Ehefrau des Bundeskanzlers, schwer, die Aufmerksamkeit auf ihr Anliegen zu lenken. Im Lesezelt der Buchmesse startete sie gestern mit weiteren Prominenten (Amelie Fried, Petra Gerster) die Aktion „Deutschland liest vor“. Die Idee stammt aus den USA und wurde in Berlin bereits vielversprechend umgesetzt: Erwachsene nehmen sich ehrenamtlich Zeit, um dem Nachwuchs in Kindergärten, Grundschulen oder Büchereien vorzulesen. Doris Schröder-Köpf wünscht sich noch mehr: „Es wäre schön, wenn sich dazu auch mal ein bekannter Fußballspieler bereit findet.“ Nur zu: Ihr Mann ist schließlich Mitglied bei Borussia Dortmund und kennt da ein paar Leute! Ohnedies lässt sich die Sache schon gut an: Einige namhafte Sponsoren aus der Wirtschaft machen mit, im nächsten Jahr soll’s auch Lesungen in den Filialen der größten Fastfood-Kette (raten Sie mal!) geben. Dort treffen sich nun mal viele Kinder.

Die Branchen-Diskussion wird derzeit beherrscht vom Streit um den Bertelsmann-Club. Darf der Verlagsriese Bestseller in preiswerteren Club-Editionen schon so früh nach der Erstausgabe anbieten, wie er dies jetzt vorhat? Ein weites, steiniges Feld, das wohl die Juristen beackern müssen. Manche andere „Bedrohung“ des Buchhandels erledigt sich hingegen wie von selbst: Die Elektronik hat diesmal keine eigene Halle mehr, sondern wurde friedlich ins Gedruckte integriert – beziehungsweise ins Tönende: Der staunenswerte Erfolg der Hörbücher wird sichtbar in imposanteren Ständen der einschlägigen Verlage.

Und wie steht’s mit dem pompös angekündigten Messeschwerpunkt „Film & TV“? Noch ziemlich dürftig! Etwas krampfhaft sucht man bei bräsigen Podiums-Diskussionen nach Querbezügen zum Buch. Eine „Ehe“ zwischen Film und Literatur hat man stiften wollen. Hier bleibt’s einstweilen bei der lockeren Beziehung.

(Der Bericht stand am 10. Oktober 2003 in der Westfälischen Rundschau, Dortmund)




Wolf Wondratschek: Ein Cello erzählt

Wolf Wondratschek (60) zählte zeitweise zu den meistgelesenen deutschen Schriftstellern. Einst galt er, mit Bänden wie „Chucks Zimmer“ und „Carmen oder Ich bin das Arschloch der achtziger Jahre“, als führender „Pop- und Rock-Poet“ des Landes. Außerdem erregte er Aufsehen mit Texten über die ruppigen Milieus der Boxer und Bordelle. Ein Gespräch auf der Frankfurter Buchmesse.

Sein neuer Roman „Mara“ (Hanser, 202 Seiten, 17.90 Euro) gibt sich thematisch gediegen: „Titelheld“ ist ein berühmtes Stradivari-Cello (Beiname „Mara“ nach dem ersten Besitzer). Es erzählt in Ich-Form seine fast dreihundertjährige Geschichte quer durch die Epochen. Und es schildert das Leben der Virtuosen, die sehr unterschiedliche Temperamente verkörpern.

Das Instrument gibt es also tatsächlich, es ist viele Millionen wert. Heute spielt es der Österreicher Heinrich Schiff, mit dem der Roman denn auch endet. Dass es noch existiert, grenzt an ein Wunder. Denn 1963 ging es bei einer Havarie vor Argentinien über Bord und wurde zu nassem Kleinholz. Wahre Könner haben es wieder restauriert.

Früher schrieb er über Jagger und Zappa, jetzt entstehen Romane über Mozart und Cellomusik. Hat sich Wondratschek mit den Jahren bürgerlich beruhigt? Der Autor wehrt sich gegen diese Annahme: „Ich habe die klassische Musik keineswegs neu für mich entdeckt, sie ist nur in den Vordergrund getreten. Ich habe als Kind selbst Cello gelernt – lange bevor ich die erste Dylan-Platte hatte. Doch die Medien haben mich nun mal als Rock-Poeten inthronisiert.“ Es gebe keinen Bruch, allerdings verschlage es ihn von Zeit zu Zeit in andere Bereiche. Wondratschek: „Das Leben ist ein Festival der Zufälle. Aber der Autor von ,Mara’ kennt sich immer noch sehr gut in ,Chucks Zimmer` aus. Ich höre immer noch Stones, Grateful Dead und Miles Davis. Aber eben auch Haydn. Vieles besteht nebeneinander.“

Überdies gebe es Parallelen zwischen Komponisten, Cello-Virtuosen und Rockstars. Auch früher hätten Musiker in ihrer Kunst Dämonen heraufbeschworen und vielfach Drogen genommen. „Wenn man in der Kunst, egal in welcher, das Äußerste wagt, so ist man stets gefährdet; ganz gleich, ob am Schreibtisch, im Atelier oder auf der Bühne.“ Das heutige Konzertpublikum wisse von diesen Extremen meist nichts. Daher könne es weder diese Musik richtig verstehen noch einen Maler wie Jörg Immendorff. Wondratschek: „Man kann kein angenehmes, friedliches Familienleben führen und dann so denken wollen wie Nietzsche. Das Absolute ist kein Spaß!“

Ihm selbst sei seine Bordell-Thematik als Etikett angeheftet worden. Manche hätten naiv gerätselt, ob er schon mal ein Etablissement aufgesucht habe. Wondratschek: „Lächerlich! Ich bin nicht nur einmal trunken hineingewankt, sondern habe zehn Jahre auf St. Pauli gelebt, war mit Zuhältern und Mädchen befreundet. Ähnlich war es im Box-Milieu. Ich war noch nie ein bloßer Tourist. Ich lasse mich auf Lebensumstände ein. Anders geht es auch gar nicht. Ich kann mir kein Thema vornehmen und dann ein bisschen was zusammen recherchieren.“

Auch der Cello-Roman verlangte tiefes Eintauchen ins Thema. Wondratschek: „In den dreihundert Jahren ist unglaublich viel passiert. Es gab anfangs keine Sinfoniekonzerte im heutigen Sinn, Musik wurde nur im kleinen Kreis gespielt, sie war dem Adel vorbehalten. Also kommt die ganze Gesellschaftshistorie mit hinein. Und natürlich eine Liebesgeschichte…“

(Der Beitrag stand in ähnlicher Form am 10. Oktober 2003 in der „Westfälischen Rundschau“, Dortmund)




Feilschen und flackern – Doppelpremiere in Bochum: „Minna von Barnhelm“ und „Electronic City“

Von Bernd Berke

Bochum. Doppelter Premieren-Hieb zum Saisonstart am Samstag in Bochum: Karin Beier setzte Lessings Lustspiel „Minna von Barnhelm“ in Szene. Intendant Matthias Hartmann servierte die Uraufführung von Falk Richters Globalisierungs-Stück „Electronic City“. Ein Kontrastprogramm, fürwahr.

Wollte man denn einen kleinsten gemeinsamen Nenner finden, so wär’s wohl dieser: Ökonomischer Druck lastet auf den Menschen mitsamt ihren Liebesregungen (oder dem, was davon bleibt).

Lessing zuerst: Jener Major von Tellheim, schnöde aus dem Militärdienst entlassen, daher zutiefst gekränkt und obendrein verschuldet, weist seine große Liebe Minna von Barnhelm nun von sich. Sein schroffes Ehrgefühl lässt die Verbindung nicht zu. Manche List muss Minna anwenden, um wieder anzubandeln. Geld erweist sich als treibende Kraft.

Den Touch der Kostümierung könnte man mit „mühsam verborgene Verwahrlosung“ umschreiben. Das Dekor (Bühnenbild: Thomas Dreißigacker) wird beherrscht von einer Wand mit grässlicher Nussbaum-Anmutung und einem schäbig ausgeflockten Bodenbelag. Auch eine tückische Klappcouch und piefige Lampen deuten auf frühe 1960er Jahre hin, deren Mobiliar derzeit wieder als todschick gilt. Sonderlichen Sinn für die Inszenierung gibt dieses Ambiente nicht her, es schmeichelt eher unserem schrägen Zeitgeist.

Altjüngferlicher „letzter Versuch“

Fisch oder Fleisch vermisst man gelegentlich auch in der Darstellung, die sich nur phasenweise zum Lust-Spiel bekennt, aber auch nicht ohne Scherzen ins Land gehen mag. Dem Text bleibt man recht treu, doch wird mit der hie und da gehudelt. Die Bemühungen Minnas (Johanna Gastdorf), den verstockten Tellheim (Michael Wittenborn) zurückzuerobern, wirken wie ein altjüngferlicher „letzter Versuch“.

Von Erotik spüret man kaum einen Hauch: Hier laufen eher zähe Verhandlungen zwecks Interessen-Abgleich. Am Ende wollen die beiden einander in entgegengesetzte Richtungen ziehen – landläufiges Gezerre zwischen den Geschlechtern.

Immerhin werden Tellheims Abgründe erahnbar: Der Kerl will lieber noch tiefer sinken, als sich in der Schuld anderer zu fühlen. Ein hölzerner deutscher Charakter, den es in dunkle Tiefen zieht. Gut, dass es die Nebenstränge gibt: Felix Vörtler als Wachtmeister und Angelika Richter als Minnas Zofe Franziska geben ein köstliches Komödien-Duo ab, Franz Xaver Zach als schmieriger – Hotelwirt trägt zum Vergnügen bei.

Zahlen-Codes und Onanie zum Pornokanal

Harscher Szenenwechsel in die Kammerspiele, wo Matthias Hartmann sattsam elektronisches Gerät aufgebaut hat, das freilich (wie er erläuterte) zuweilen nicht funktioniert. Die „hilfreiche“ Hotline habe man am Samstag auch nicht erreichen können. Dennoch: Man sieht ausgeklügelte Video-Sequenzen und Bilder von Live-Kameras, die leibliche Präsenz der Schauspieler (vorwiegend junge, gut gemixte Truppe) wird fast zur Nebensache. Technisch und logistisch ist’s meisterlich, darstellerisch geht die Sache auch in Ordnung.

Stromzufuhr tut not. Schließlich heißt das Stück „Electronic City“. Geschrieben hat’s Falk Richter, Jahrgang 1969. Im Premierenpublikum saß auch „Superminister“ und High-Tech-Fan Wolfgang Clement, der selbst beruflich mit Globalisierung ringt. Hier bekommt man atemlos aufgesagt, was es damit auf sich hat: In allen Metropolen der Erde sieht’s gleich aus, Manager und Hilfskräfte jetten heimatlos um den Globus, sie denken nur noch in Zahlen-Codes. Ansonsten onanieren sie zum Flimmern des Pornokanals im Hotel, um sich dann sofort wieder Laptop und Handy zuzuwenden. Merke: Simulation und medialer Overkill töten die Seele.

Glimmspuren der Zuneigung

Am Ende aber wollen es die Protagonisten Tom und Joy trotz aller Endzeit noch mal mit den Glimmspuren ihrer Zuneigung versuchen. Doch so, wie diese erloschenen Individuen verwechselbar werden, so auch diese Art des simultan tönenden und flackernden Theaters mit seinen überwiegend chorisch gesprochenen Zustands-Behauptungen, etwas Agitprop-Stakkato und Debatten-Geklingel plus Traumspiel-Fasern. Es bleibt kaum ein Rest von Geheimnis.

Hartmann lässt de sterilen Spuk die vielleicht bestmögliche Aufbereitung angedeihen. Mit diesem Text hält die Inszenierung allemal Schritt, mehr steckt kaum drin.




In Bochumer Theater regt sich stets ein guter Geist – seit dem Neubeginn vor 50 Jahren

Von Bernd Berke

Wenn denn ein guter Geist herrschen soll, so muss er auch begünstigt werden, und da bedarf es wohl einer Vorgeschichte: So haben die ersten beiden Intendanten die Grundsteine der großen Bochumer Tradition gelegt – schon lange vor dem Neubeginn von 1953: Saladin Schmitt (Intendanz 1919 bis 1949) und Hans Schalla (1949-1972) amtierten jeweils mehrere Jahrzehnte lang. Die Ensembles hatten Zeit, in aller Ruhe zu wachsen. Das Bochumer Intendanten-Leben schien, vom branchenüblichen täglichen Chaos abgesehen, ein langer ruhiger Fluss zu sein – angesichts heutiger Wechselgelüste auch im Theaterbetrieb fast unvorstellbar.

So reifte denn auch der oftmals gerühmte „Bochumer Stil“ heran – bei Schmitt vor allem in Gestalt prachtvoll dekorierter Klassiker-Aufführungen, die in eher gemächlicher Würde um den Text kreisten. Schalla hingegen brachte ungleich mehr Bewegung auf die Bühne; ganz gleich, ob in klassischen Dramen oder bei all jenen Texten, die in der NS-Zeit nicht hatten aufgeführt werden dürfen und die er nun „nachholte“.

Damit waren zwei Grundtöne angeschlagen, die auch später immer wieder nachklingen sollten. Statisches, eher düster grundiertes Theater sah man auch in der Ära Frank Patrick Steckel (1986-1995), höchst bewegte Zeiten mit Revue und manchmal herrlichem KIamauk gab’s zuvor bei Peter Zadek (1972-1979), eine gewisse Synthese beider Strömungen gelang in den allerbesten Phasen Claus Peymann (1979-1986), vorwiegend Theater für die Spaßgesellschaft erlebte man bei Leander Haußmann (1995-2000).

Seligste Zeiten: Bei Zadek spielten u. a. Hannelore Hoger, Ulrich Wildgruber, Eva Mattes und Rosel Zech, bei Peymann schwelgte man in Aufführungen etwa mit Kirsten Dene, Gert Voss, Therese Affolter und Branko Samarovski. Wer bietet mehr?

Allen Bochumer Spielleitern gemeinsam war eine Vorliebe fürs ungeheure Werk des William Shakespeare, der so etwas wie ein Hausheiliger an der Königsallee geworden und geblieben ist. Wer weiß, vielleicht ist am Ende er der gute, der waltende Geist von Bochum. Noch so eine langlebige Tradition jedenfalls, auf die auch die ansonsten so verschiedenen Bühnenchefs gern zurückkamen.

Der jetzige, beim Publikum so erfolgreiche Intendant Matthias Hartmann (seit 2000), der auch Entertainer wie Harald Schmidt und Helge Schneider ans Haus holte und 2005 nach Zürich wechseln wird, sollte also möglichst höchstselbst noch ein oder zwei große Dramen des Engländers auf dieBühne bringen, will er sich in die Überlieferung einreihen.

Damit nicht genug des ehern Bleibenden: Auch eine Darstellerin steht für schier unglaubliche, höchst erdverbundene Kontinuität. Damit kann natürlich nur Tana Schanzara gemeint sein. Bereits 1953, als am 23. September alles wieder neu begann, stieß die von manchen als heimlichen Regentin der (Revier)-Herzen angesehene Schauspielerin als Gast zum Bochumer Ensemble, seit 1954 gehört sie fest dazu. Intendanten und Mimen-Kollegen kamen und gingen, sie blieb – und kann gewiss so manche Theater-Anekdoten aus all diesen Jahren erzählen. Das wäre ein Buch wert.

Wäre aber nichts als Beharren in Bochum, so hieße das irgendwann Erstarrung. Immer wieder erwies sich diese Bühne auch als rechter Ort für weithin beachtete Uraufführungen. Nur scheinbar paradox: Auch das jeweils Brandneue ist somit schon gute Bochumer Tradition.

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• Die neue Bochumer Saison beginnt heute, 4. Oktober, mit zwei Premieren: Auf Lessings „Minna von Barnhelm“ (19 Uhr, Schauspielhaus) folgt die Uraufführung von Falk Richters Stück „EIectronic City“ (22 Uhr, Kammerspiele). Karten: 0234/3333 111.

• Das Jubiläum wird an diesem Sonntag, 5. Okt. (11-16 Uhr), mit einem Fest auf dem Theatervorptatz und in den Foyers gefeiert. Am Samstag/Sonntag (18. und 19. Oktober) gibt’s das Sonderprogramm „50 Jahre – 50 Stunden“.

 




Vater war dagegen – und dabei: Ulla Hahns „Unscharfe Bilder“

Von Bernd Berke

Eine Frau um die 50 will endlich die Wahrheit wissen: Was hat ihr Vater damals während des Weltkrieges in Russland getan? Hat er mörderische Schuld auf sich geladen?

Zwei Begebenheiten wecken in Ulla Hahns Roman „Unscharfe Bilder“ die etwas verspätet anmutende Wissbegier: Zum einen hat diese gereifte Studienrätin namens Katja Wild im doppelten Boden des Werkzeugkastens versteckte Liebesbriefe ihres Gatten entdeckt und sich getrennt. Damit ist ihr Sinn für verborgene, plötzlich ans Licht gerissene Geschehnisse geschärft. Vor allem aber hat sie eine Ausstellung mit dem Titel „Verbrechen im Osten“ gesehen und kommt vom Gedanken nicht mehr los, ihr Vater könne verstrickt gewesen sein. Hat sie ihn nicht gar auf einem der dokumentarischen Fotos entdeckt?

Der Roman greift also genau jenes Thema auf, das in den kommenden Wochen die Region nachdrücklich beschäftigen wird: Die schon im Vorfeld kontrovers diskutierte Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ ist ab 19. September im Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte zu sehen.

Konfrontation mit der Vergangenheit

Katjas Vater Hans Musbach, inzwischen 82 Jahre alter Witwer und seinerseits (pensionierter) Studienrat für Latein und Geschichte, nutzt die Antike gern als Fluchtburg, wenn er Biographien über Sulla oder Reden von Cicero liest. Alles so schön weit weg und doch überzeitlich bedeutsam. Immerhin hat er als Lehrer seine Schüler stets auf die Gefahren der Tyrannei hingewiesen. Doch nun setzt ihm auf einmal seine geliebte Tochter zu. Tagtäglich besucht sie ihn im schmucken Zimmer der Hamburger Seniorenresidenz mit Alsterblick und konfrontiert ihn mit dem Ausstellungskatalog. Er beginnt vom Kriege zu erzählen, schweift ab, schmückt aus, verliert sich in nahezu anekdotischen Details der Schlachten, will nach Ansicht der Tochter nicht zur ureigenen Sache kommen.

Aber wie kann er „Ich“ sagen, wenn sich doch alles im Kollektiv der Armee vollzogen hat? Wie kann er den unfassbaren’Krieg, die Sprache und auch noch die eigenen Erinnerungs-Bilder zur Deckung bringen? Ein zähes langes Ringen beginnt. So sehr verbeißen sie sich in ihren Dialogen, dass sie beide auch gesundheitlich darunter leiden.

Traurige „Helden“ des Erinnerns

Zwischendurch gibt es, gleichsam als „Urlaub von der Front“, Momente familiärer Zärtlichkeit. Dann sieht sich Katja wieder als Kind an der Hand des gütigen Vaters, dem sie nun Halt geben müsste. Doch ihr Wahrheitsdrang ist ebenso mächtig.

Man legt sich eine vage Formel zurecht: Der Vater war seinerzeit „immer dagegen und immer dabei“. Es erhebt sich die alte Frage: War Widerstand, war Neinsagen möglich? Wer das nicht selbst erlebt hat, so Musbach, solle sich nicht zu raschen Urteilen aufschwingen.

Die bislang vor allem mit Lyrik und erotisch gründelnden Romanen hervorgetretene Ulla Hahn hat offenkundig viel zum Kriegs-Thema recherchiert. Nicht durchweg hat sie ihre Erkenntnisse in Romanhandlung überführt, sondern einigen Stoff nur pflichtschuldigst abgearbeitet und dabei sprachlich zuweilen geschludert. So bleiben die Figuren letztlich eher Thesenschlepper, die unter ihrer Beweislast ächzen.

Nur selten verdichten sich die Befunde. Neben der Spur liegen die halbkomischen Genre-Szenen vom belanglosen Einerlei in der Seniorenresidenz. Vielleicht soll’s den Kontrast zur quälerischen Selbstbefragung steigern, wer weiß: Die Einen wiegen sich beim Tanztee. die Anderen werden zu traurigen „Helden“ des Erinnerns.

Ulla Hahn: „Unscharfe Bilder“. Deutsche Verlags-Anstatt. 288 Seiten, 18,90 Euro.




Die Gewalt und der Kunstanspruch – Gaspar Noés hirnzermarternder Film „Irreversibel“

Von Bernd Berke

Bei der Festspiel-Vorführung in Cannes gab es mehrere Ohnmachts-Anfälle, rund 200 Menschen verließen vorzeitig das Kino. Die Briten wollen den knallhartenStreifen allenfalls gekürzt für den Videomarkt freigeben.

Soll man ins Kino gehen, wenn ein Film lange Passagen enthält, bei denen man am liebsten davonlaufen würde? Eigentlich nicht. Doch Gaspar Noés Opus „Irreversibel“ (also: unumkehrbar) trägt den Kunstvorbehalt wie einen Schild vor sich her.

Raserei rückwärts in Zeittunnel

Knapp gesagt, geht es um Rache für eine Vergewaltigung. Doch Noé dreht den Stoff wüst durch den Wolf. Erzählt wird rückwärts, so dass man die wahnsinnigen Folgehandlungen schon vor den Anlässen kennt und stets verunsichert bleibt. Zudem trudelt die Kamera häufig im bösen Rausch. Schwindlig wird einem in diesem Tunnel der umgekehrt rasenden Zeit. Doch es kommt noch viel schlimmer.

Erste Szene: Ein fies verkommener Greis (sitzt er im Knast?) berichtet, dass er einst mit seiner Tochter geschlafen habe. Irgendwann erwähnt er das Lokal „Rectum“. Sofort segelt die Kamera los und irrt durch eine chaotische Verhaftungsszene mit viel Blaulicht. Was geht da vor?

Mit dem Feuerlöscher das Gesicht zerstört

Die nächste Sequenz (die ja zeitlich vorher spielt) ist reine Raserei, und die Kamera rast mit. Viele, viele Minuten lang sieht man schemenhaft, wie im höllisch roten Dämmerlicht zwei Männer durchs „Rectum“ hetzen und bestialisch schreiend einen Typen suchen. Das labyrinthische Gewölbe ist ein Sadomaso-Schwulenclub. Aus allen Ecken tönen Schmerzensrufe.

Marcus und Pierre aber sind auf echte Rache aus. Das erfährt man freilich erst später. Zunächst wirkt das Geschehen vollends grund- und bodenlos, damit umso schockierender. Optisch wie akustisch pulsiert und dröhnt die Szene wie besessen

Dann die hirnzermarternde Gewaltorgie: Pierre, eigentlich ein Mann des Wortes (wie sich nachher herausstellt), stößt einem Mann einen Feuerlöscher ins Gesicht – immer und immer wieder. Digitale Effekte zeigen täuschend echt die zusehends zerstampfte Kopfmasse. Dutzende Männer schauen zu, einer grinst. Da kann einem schlecht werden. Und man hegt Aggressionen gegen den Regisseur.

Die wohl schlimmste Vergewaltigung der Kinogeschichte

Weiter rückwärts spult sich die Geschichte, und man erleidet den „Grund“ der Rache (die sich am Falschen ausgetobt hat). Abermals will uns Noé mit allen filmischen Mitteln zwingen, ins Herz der Finsternis zu blicken: Neun ungeschnittene Minuten lang sieht man die wohl brachialste Vergewaltigung der Kinogeschichte. In einem Tunnel fällt ein Zuhälter aus purem anonymen Hass über die wehrlose Alex her (befremdlich, dass Monica Bellucci diese Rolle spielt). Der analen Penetration folgen zerstörerische Tritte in ihr Gesicht. Kinokritik hin oder her – man hält es nicht aus und schaut phasenweise weg.

Mit jeder Geburt beginnt das Elend neu

Was kommt noch? Vermeintlich heile Welt: Alex war Marcus‘ Freudin, sie erwartete ein Kind von ihm. Doch auch dies ist ein böses Omen. Denn schon in ihrem Liebesalltag sind Keime der (männlichen) Gewaltbereitschaft zu finden. Mit jeder Geburt, so wird suggeriert, beginnt das menschliche Elend neu. Der Film endet als Stroboskop-Gewitter im Urschlund des Zeittunnels; da, wo alles Übel begann.

Dieser Alptraum auf Zelluloid zerstört jeden Sinn, jeden Erklärungsversuch. Die Welt erscheint als unheilbares Jammertal. So tief stößt uns Noé in diesen Befund hinein, dass man glauben könnte: Es zieht ihn letztlich ins Jenseits, zur Erlösung vom Irdischen. Haben wir da etwa, unter brutalen Masken, einen religiös motivierten Film gesehen? Vielleicht. Ganz sicher aber ein Werk, das zum Himmel schreit – in jeglicher Hinsicht.




Adorno: Strenger Geist und lockere Momente

So will es das Klischee: Jeder „große Mann“ muss der Nachwelt mindestens einen Satz hinterlassen, den viele zu kennen meinen; besser noch, wenn der Ausspruch Rätsel aufgibt und die gesamte Existenz umgreift. Bei Theodor W. Adorno, der vor 100 Jahren (am 11. September 1903) geboren wurde, waren es diese Worte fürs kollektive Gedächtnis: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“

Man könnte sich den Sinn simpel zurechtlegen, etwa so: Wie man’s auch macht, man macht es verkehrt – in dieser unserer Gesellschaft. Adorno zufolge ist sie derart von Markt- undTausch-Verhältnissen durchwirkt, dass nichts und niemand sich dem Sog der „Verdinglichung“ entziehen kann. Also schlägt jedes Dasein letztlich fehl, alsogibt es nie und nimmer restlose Erfüllung. Wer sich für glücklich hält, irrt sich umso gründlicher, erliegt – um mit Adorno zu reden – der „Verblendung“. Ein bedrückender Befund, fürwahr. Und schweres, gewichtiges geistiges Gepäck!

Nur die würdigsten Werke der Kultur ließ er als Statthalter eines besseren Lebens gelten. Beispiel Musik: Der Mann mit dem absoluten Gehör, der zeitweise selbst als Komponist hervortrat,bewunderte und pries (ohne sonderliche Gegenliebe) anfangs den Zwölftöner Arnold Schönberg. Doch sobald der und seine Adepten um ein Jota vom Pfad der neuen Klangschöpfungen abwichen, setzte es beißende Kritik. Erst recht hielt der ansonsten tief in der deutschen Hochkultur des 19. Jahrhunderts wurzelnde Adorno absolut nichts vom Jazz. Von den Nazis in die britische, dann in die US-Emigration getrieben, glaubte er in Jazz-Rhythmen gar unterschwellig den Marschritt der SA-Stiefel zu hören. Da dürfte er sich, aus guten Gründen überempfindlich geworden, denn doch vertan haben.

Adorno, als Philosoph und Sozialwissenschaftler eine Jahrhundert-Gestalt, gilt als ungemein strenger und weitgehend pessimistischer Denker. Kein Phänomen, dass er ungeschoren hätte gelten lassen. Berühmt wurde seine Äußerung, „nach Auschwitz“ überhaupt noch Gedichte zu schreiben, sei „barbarisch“. Damit meinte er keineswegs nur Liebes- oder Heimatlyrik. Als er das schrieb, kannte er bereits die Werke von Paul Celan und Nelly Sachs, die das unnennbare Grauen dennoch in aller Zerrissenheit zu fassen suchten. Immer noch streiten sich die Gelehrten, ob Adorno sein Gedichte-„Verbot“ später gemildert habe. In ausgiebigen Umfrage-Forschungen hatte Adorno jedenfalls in Kalifornien den „Autoritären Charakter“ dingfest gemacht: starr, unnachgiebig, mit Vorurteilen beladen, zum „Führerprinzip“ und Faschismus neigend.

Tatsache ist: Die keinen Widerspruch duldende Auffassung, dass von Auschwitz her alles, aber auch wirklich alles neu überdacht werden müsse, hat Adorno zu einem der geistigen Gründerväter der Bundesrepublik gemacht. Heute speist sich so manches politische Handeln aus diesem Denken, dieser Haltung.

Zudem war Adorno ein wesentlicher Vordenker der APO-Revolte um 1968, deren radikalste Kräfte ihn hernach beiseite schieben wollten. Sozusagen mit Marx- und Engels-Geduld war er zu Diskussionen bereit. Doch es half ihm nichts, die Aktionisten setzten sich durch: Das von Max Horkheimer und Adorno geleitete, schon in Vorkriegszeiten ruhmreiche Frankfurter Institut für Sozialforschung wurde von Studenten besetzt und musste polizeilich geräumt werden. Zur Legende wurde das „Busen-Attentat“ dreier ach so linker Studentinnen, die sich vor dem höchst verunsicherten Adorno entblößten und ihn peinlich bedrängten. Welch ein Debattenbeitrag! Man wüsste nur zu gern, was später aus diesen physisch „argumentierenden“ Damen geworden ist.

Bis hierher und nicht weiter! Man könnte ja denken, Adorno sei allzeit unnahbar, streng und finster, ja geradezu lebensfeindlich gewesen. Nichts da! Zumindest häufen sich die vermeintlichen Widersprüche, so dass auch zwei neue Biographien (Angaben am Schluss) gelegentlich fast ins „Tratschen“ geraten: Der Mann konnte eben auch sehr entspannt sich geben. Den Jazz, den er angeblich so geschmäht hat, improvisierte er zuweilen selbst auf dem Klavier. Gern hat „Teddy“, wie Freunde ihn liebevoll nannten, mit anderen Professoren und Studenten in Frankfurt feuchtfröhlich gefeiert. Auch war er den Reizen weiblicher Schönheit keineswegs abgeneigt. Im Gegenteil: Großmütig toleriert von seiner Frau Gretel (promovierte Chemikerin, die ihm ohnehin den Rücken fürs ungestörte Arbeiten freihielt), hat er sich immer mal wieder in erotische Abenteuer verstrickt, und zwar alles inklusive. Und um das allzumenschliche
Maß zu füllen: Der leidenschaftliche „Bergmensch“ Adorno (am 6. Auhust 1969 starb der Erschöpfte nach einer Wanderung nah bei seinem Lieblingsgipfel, dem Matterhorn) hielt sich nicht nur gern im Frankfurter Zoo auf, sondern liebte die ZDF-Serie „Daktari“ mit dem Löwen Clarence und der Äffin Judy dermaßen, dass niemand ihn dabei stören durfte…

Auch gedanklich schritt Adorno selten stur geradeaus. Bei ihm, dem subtilen und wortmächtigen Dialektiker, enthielt vielmehr jede Wahrheit auch ihre Gegenthese und konnte „umschlagen“, sich also grundlegend verändern und den Verhältnissen anschmiegen. Seinem funkelnden, auch sprachlich ungeheuer geschmeidigen Verstand konnte sich beispielsweise auch ein Botho Strauß nicht entziehen. Der Dichter und Dramatiker notierte 1981 in seinem hellsichtigen Episoden-Band „Paare Passanten“ über Adorno: „Wie gewissenhaft und prunkend gedacht wurde, noch zu meiner Zeit! Es ist, als seien seither mehrere Generationen vergangen.“ So dürfte denn auch Adornos famose Aphorismen-Sammlung „Minima Moralia“ (die wohl ideale Einstiegs-Lektüre in sein Werk) auch Strauß als Musterstück gedient
haben.

Besagte Biographien sind spannend zu lesen, allen unterschiedlichen Ansätzen zum Trotz (Lorenz Jäger geht eher kritisch mit Adorno ins Gericht, Stefan Müller Doohm folgt sehr einlässlich seinen Wegen). Neidvoll erfährt man, wie die Eltern (Sängerin, Weinhändler) den Jungen allseits gedeihlich förderten und gewähren ließen. Vor allem aber: Adornos Begegnungen (und Reibereien) mit anderen linken „Ikonen“ wie Bert Brecht, Ernst Bloch, Herbert Marcuse, Walter Benjamin und Siegfried Kracauer zählen zum geistigen Kern-Geschehen des 20. Jahrhunderts, desgleichen seine harsche Auseinandersetzung mit dem so anders gearteten Philosophen Martin Heidegger und dessen verstiegener Sprache („Jargon der Eigentlichkeit“).

Schließlich jenes Lehrstück der Eitelkeiten und Empfindlichkeiten, das sich zwischen ihm und Thomas Mann
entfaltete: Adorno hatte den Nobelpreisträger denkbar intensiv in musikalischen Fragen beraten, als der Teufelspakt-Roman „Doktor Faustus“ über den Tonsetzer Adrian Leverkühn entstand. Zuerst voll des Lobes über Adornos fachkundige Klugheit, wollte Mann später nicht mehr allzu viel davon wissen und den Ruhm lieber allein ernten. Dabei hatte Mann ganze Adorno-Passagen nur unwesentlich verändert einmontiert. Verständlich, dass Adorno auf Klarstellung drängte. Das wiederum fand Thomas Mann nur noch lästig. Auch die größten Männer benehmen sich manchmal wie kleine Kinder.

Lorenz Jäger: „Adorno. Eine politische Biographie“. Deutsche Verlagsanstalt, München. 319 Seiten. 18,90 Euro.

Stefan Müller-Doohm: „Adorno. Eine Biographie“. Suhrkamp Verlag. 1032 Seiten mit
ausführlichem Anhang. 38 Euro.

(Der Beitrag stand am 6. September 2003 in leicht verkürzter Form in der „Westfälischen Rundschau“)




Eine junge Frau im Labyrinth der Erwartungen – Willem Frederik Hermans‘ Roman „Au pair“

Von Bernd Berke

So hat sich die 19-jährige Holländerin Paulina ihre Au pair-Tätigkeit in Paris nicht vorgestellt: Die Anwaltsfamilie, bei der sie arbeiten soll, pfercht das Mädchen in eine winzige, verdreckte. fast fensterlose und nicht einmal abschließbare Dachkammer. Ringsum dröhnt bis tief in die Nacht orientalische Musik.

Weitaus schlimmer: Der 13jährige Sohn, ein dickes Monster sondergleichen, bekennt sich als Hitler-Fan und will sogleich Sex mit der neuen Haushaltshilfe haben. Seine Eltern öffnen ohnehin stets ungeniert nackt die Tür. Allmählich gerät Paulinas ganze, bislang von kühlen Nordsee-Brisen aufgefrischte, rationale Weltsicht ins Wanken. Blanke Vernunft hilft in diesem gespenstischen Paris nicht mehr weiter.

Der niederländische Autor Willem Frederik Hermans (1921-1995), der auch bei uns posthumen Ruhm genießt, lässt abgründige Phantasien auf das Mädchen los, das so gern französische Literatur und Kunst studieren möchte. Doch ohne Zuverdienst kann sie sich das nicht leisten.

Seltsame Leute in der Generals-Villa

In seinem Roman „Au pair“, der 1989 in den Niederlanden erschien und erst jetzt bei uns herauskommt, schickt Hermans diese riesenhafte, 1,92 Meter große Blondine und Noch-Jungfrau Paulina in eine rundum rätselhafte, labyrinthische Welt. Immer wieder betrachtet sie sich nackt vor dem Spiegel, als müsse sie sich ihrer Erscheinung vergewissern. Zuweilen wirkt sie souverän, darin wieder kläglich naiv. Eine Figur mit den Umrissen einer mächtigen Göttin, doch zuinnerst verletzlich.

Sie bekommt via Au pair-Zentralbüro einen anderen Job – bei einer steinreichen Generalsfamilie. Dort wird sie plötzlich mit Luxus überhäuft und muss nichts dafür tun. Doch nur vorübergehend mildert sich ihre Situation.

Seltsamen Leuten begegnet sie in der Villa: Der knorrige General sammelt Bilder des Künstlers Constantin Guys, welcher aus dem selben holländischen Ort Vlissingen stammte wie Paulina. Hat man sie etwa deshalb ins Haus geholt? Was steckt dahinter?

Der Mittelteil des Romans, mit Exkursionen über Guys, den Komponisten und Chopin-Konkurrenten Alkan sowie Kants Moral-Philosophie, deutet höchstens auf diffuse Erwartungen an Paulina hin. Es sind, aller (weitschweifigen) Ausführlichkeit zum Trotz, wohl falsche Fährten.

Zweifelhafte Kurierdienste

Die gescheiterten Söhne des Generals (einflussloser Literaturkritiker und Möchtegern-Dichter der eine, wahnhafter Pianist und Quasi-Autist der andere) zählen ebenfalls zum schattenhaft flackernden Kabinett. Nur der Enkel, ein gewiefter Börsenmakler, schlägt aus der Art. So sehr preist man ihn an, dass Paulina schon wähnt, sie sei als Ehefrau für ihn ausersehen. Noch so ein Irrtum?

Schließlich scheint sich der Dschungel der Bedeutungen zu lichten. Die Familie will erreichen; dass Paulina als Geld-Kurierin in einer böchst windigen Affäre dient, die bis tief in die NS-Zeit zurückreicht. Doch dies ist kein Krimi mit eindeutiger „Lösung“. Hermans umkreist vielmehr das Thema der allzeit tauschbaren Wahrnehmung. Erzskeptisches Kern-Zitat: „Die Wirklichkeit schweigt. Sie zeigt nur das, was wir sehen, und sie spricht überhaupt nicht. Auf unsere Fragen gibt sie nur Antworten, die wir selbst formulieren und auch diese entsprechen größtenteils nicht der Wahrheit.“ Ob das nun wahr ist?

Willem Frederik Hermans: „Au pair“. Roman. Gustav Kiepenheuer Verlag. 495 Seiten, 19,90 Euro.




Erfindung der Landschaft – Flämische Meisterwerke von 1520 bis 1700 in der Essener Villa Hügel

Von Bernd Berke

Essen. Die Essener Villa Hügel hat’s weiter mit den flämischen Meistern. Vor Jahresfrist durfte man hier über zumeist intime barocke Stillleben aus den südlichen Niederlanden staunen. Jetzt schreitet der Besucher mit den Künstlern aus der Gegend um Antwerpen thematisch ins weit- und weltläufige Freie. Rund 130 Landschaftsbilder aus der Umbruchzeit zwischen 1520 und 1700 vereinen sich zum grandiosen Ereignis.

Schon in einzelnen, oft herrlich detailreichen Bildem kann man sich „umsehen“ wie in einer Wirklichkeit. Vor manchen Werken werden Blick und Atem spürbar geweitet, so etwa anhand von Jacques Fouquiers Bild „Bergige Flusslandschaft mit Jägern“. Welch eine duftige Transparenz! Man kann hier geradezu die einzelnen Luftschichten schweben sehen.

Zu Beginn der besagten Epoche ist die Landschaft allerdings noch bloße Staffage für religiöses Geschehen. Joachim Patinirs „Landschaft mit der Flucht nach Agypten“ und etliche andere Bibelszehen zeugen davon. Immerhin haben Wälder, Hügel und Auen den vormals herrschenden Goldgrund verdrängt. Die frommen Bilder werden also welthaltiger.

Erst ganz allmählich macht sich Realismus breit

Doch diese Landschaften sind noch Konstruktionen, innerlich geschaut und nicht real gesehen. Die Künstler arbeiten in Ateliers, nicht in freier Natur. Unwirklich etwa die ätherisch-bläulichen Fernen, vor denen sich die biblischen Gestalten meist in warmen Erdtönen abheben.

Mit der Zeit fließen aber realistische Beobachtungen mit ein, so dass die Landschaften „organischer“ wirken. Auch werden andere, nämlich weltliche Motive (Herri met de Bles: „Landschaft mit Bergwerk“, um 1555) aufgegriffen. Menschliche Eingriffe in die Gegend werden zum Thema, ganz gewöhnliche Leute betreten die Landschafts-Bühnen. Da zur gleichen Zeit die Kartographie Fortschritte macht, schärft sich das Bewusstsein für Örtlichkeiten. Schließlich treten Grundbesitzer als Auftraggeber hervor, welche ihren Besitz realistisch dargestellt sehen wollen.

Auch Kolportage und „Horror“ kommen vor

Ein erster Gipfel der wahrhaftigen Anschauung ist mit Pieter Bruegel d. Ä. erreicht. Man erlebt hier die „Erfindung der Landschafts-Ästhetik, die uns heute noch an gewissen Stätten auf den Foto-Auslöser drücken lässt.

Die in 13 Abteilungen weitgehend chronologisch gegliederte Schau verzeichnet auch Gegen-Bewegungen. Manche der „phantastischen“ Landschaften, deren Schöpfer auf dramatische Effekte setzen, könnten als Horrorfilm-Kulissen dienen. Gelegentlich drängt sich auch Kolportage (Frederik van Valckenborch: „Gebirgslandschaft mit Raubüberfall“, 1605) in den Vordergrund. Und die Seestücke mit ihren fürchterlichen Wellenbergen sind allemal symbolisch zu werten: Bedrohte Schiffe vergegenwärtigen die gefährliche Lebensfahrt. Erst recht erweisen sich die zahlreichen Höllen- und Paradies-Ansichten als pure Phantasie-Räume.

Bilder von Peter Paul Rubens als Krönung der Epoche

Die Ausstellung hat ein Ziel: Die Bilder von Peter Paul Rubens, so die nicht allzu gewagte These, bilden die geniale Summe und Überschreitung der Ära. Tatsächlich: Man schwelge nur in seiner mythologisch bevölkerten „Landschaft mit Meleager und Atalante“. Allein die Lichtführung, allein dieses Schimmern zwischen dunklen Bäumen – das ist größer als alle Wirklichkeit!

„Stadt Land Fluss“ – Die Flämische Landschaft 1520-1700. Villa Hügel, Essen (Haraldstraße). 23. August bis 30. November. Täglich 10-19, Di/Fr 10 bis 21 Uhr. Eintritt 7,50 Euro, Familie 15 Euro. Info-Telefon: 0201/61 62 90. Katalog 30 Euro. Internet: www.villahuegel.de




Als Fernsehgeräte noch Rembrandt und Leonardo hießen – Herne zeigt nostalgische TV-Ausstellung „In die Röhre gucken“

Von Bernd Berke

Herne. Allein das Ambiente lohnt einen Ausflug: Das schmucke Heiner Wasserschloss Strünkede liegt in einem herrlichen Park. Dazu und zu den sonstigen alltagsgeschichtlichen Schätzen gibt’s jetzt im „Glockenraum“ des Renaissance-Baus (16./17. Jahrhundert)eine Extra-Portion Nostalgie. Wer in den Nachkriegs-Jahrzehnten mit dem Fernsehen aufgewachsen ist, wird hier seine Aha-Erlebnisse haben.

„In die Röhre gucken“ heißt die kompakte Ausstellung des Emschertal-Museums. Im Titel schwingt Enttäuschung mit, doch die stellt sich allenfalls ein, weil die Schau nicht umfangreicher geraten ist. Mit mehr Zeit und Geld ließe sich das kulturhistorische Thema üppiger aufbereiten. So hat man eben überwiegend auf Eigenbesitz zurückgegriffen und die Bevölkerung animiert, in ihren Fernseh-Souvenirs zu kramen.

Im Zeitraffer also durcheilt der Besucher die Zeit zwisehen 1952 und heute. Wie sehr sich die Formen der TVGeräte gewandelt haben! Und doch schließt sich irgendwie der Kreis, wenn auch auf ungleich höherem technischen Niveau: In den frühen 50ern waren die Bildschirme noch zwangsläufig winzig, jetzt gibt’s (neben imposanten Riesengehäusen) jene Geräte im Handy-Format, die stolz ihre winzigen Displays vorweisen.

Als die sündhaft teuren Gerate noch „Raffael“, „Rembrandt“ oder „Leonardo“ hießen und manche sich für den Fernsehabend eigens fein machten, prunkten Truhen mit Edelholz. In den späten 60ern wurden sie schockbunt (Plastik, grellrot oder orange), und nun gibt sich die avancierte Technik eher „cool“.

Alte Geräteprospekte (ach, all die verschwundenen Marken wie Nordmende, SchaubLorenz, Graetz oder Saba!), Programmzeitschriften aus längst verflossenen Jahren und Fan-Kollektionen kommen hinzu. Eine ältere Dame klebte Illustriertenbilder ihrer Fernsehlieblinge (Lembke, Carrell, Biolek) fein säuberlich ins Album, andere sammelten z. B. jene Mini-Fernseher aus billigem Kunststoff mit aufgepappten oder per Walze rotierenden Bildchen.

An den Programm-Schwerpunkten hat sich nicht gar zu viel geändert. Ein Auszug vom 10. Januar 1954 verzeichnet zunächst die Fußballübertragung, dann den bunten Abend, der heute als Comedy-Show firmieren könnte. Nur: Damals lief die Kiste nicht rund um die Uhr.

Man sieht nicht nur dokumentarisch Relikte, sondern auch etwas Kunst: Bernd Ikemann (Jahrgang 1956), von dem Aquarelle zu sehen sind, gehört zur Generation, deren erste Fernseherlebnisse „Fury“, „Lassie“ oder „Bonanza“ hießen. Er kommt vom Thema einfach nicht los und malt immer wieder gutbürgerliche Wohnzimmer-lnterieurs mit TV-Geräten. Auf der Suche nach der flimmernden Kindheit streift er durch menschenleere Räume. Mobiliar und Fernsehapparat halten geisterhafte Zwiesprache miteinander.

Chaos fürchtete hingegen der DDR-Künstler Bernhard Heisig („Der Lichtbringer“, 1982). Simultan und kakophon branden die Programm-Partikel auf den Betrachter zu. Vielleicht war’s die Angst, mit Nichtigkeiten (aus dem damaligen Westen?) überschwemmt zu werden.

„In die Röhre gucken“. Emschertal-Museum im Schloss Strünkede. Herne, Karl-Brandt-Weg 5 (Nähe Abfahrt Herne-Baukau). Noch bis zum 21. September. Di-Fr 10-13 und 14-17, Sa 14-17 Uhr.




Wenn die kulturelle Mischung stimmt – Wuppertaler Ausstellung „Russisch Paris“ häuft Beispiele für internationalen Einfluss an

Von Bernd Berke

Wuppertal. Wenn zwei Kulturen aufeinandertreffen, so können sich die schönsten und buntesten Mischformen ergeben. Das gilt nicht nur unter lebendigen Menschen, sondern auch auf dem Felde der Malerei: „Russisch Paris“ heißt die neue Wuppertaler Ausstellung, die schon im Titel eine neue „Legierung“ schimmern lässt.

Gemeint ist der Einfluss russischer Künstler in der französischen Metropole, welche wiederum die Neubürger prägte. Die Schau erfasst den langen, wechselvollen Zeitraum zwischen 1930 und 1960. Vor allem aus politischen Gründen gab es seinerzeit etliche russische Einwanderungswellen in Paris.

Flucht vor Stalin an die Seine

In den 1930er Jahren lebten über 80 000 Russen an der Seine – darunter zahllose Maler, Bildhauer und Komponisten. Eine kreative Kolonie also. Sie kamen, als der stalinistische Terror tobte, als in der Sowjetunion nur noch „realistisch“ dienstbare Kunst im Sinne des Systems geduldet wurde.

Die selbstbewussten Franzosen haben den ästhetischen Zuwachs lange geflissentlich ignoriert und ihn später als eine erste „Ecole de Paris“ (Pariser Schule) flugs vereinnahmt. So geht’s auch.

Wuppertal ist einzige deutsche Station der mit über 270 Arbeiten sehr umfangreichen Auswahl, die noch nach Bordeaux (aber nicht nach Paris) wandert. Zusammengestellt als Beitrag zu den 300-Jahr-Feiern in St. Petersburg, stammen die Bilder und Skulpturen vor allem aus dem dortigen Staatlichen Russischen Museum. Heute ist man dort also stolz auf Namen wie Kandinsky, Chagall, Gontscharowa, Archipenko, Lipchitz, Poliakoff oder Zadkine; und auf Künstler, die bei uns noch zu „entdecken“ wären, wie z. B. Boris D. Grigorieff. Manchen merkt man die Herkunft nicht namentlich an: Auch die ruhmreiche Sonia Delauney, Schöpferin pulsierender Farbrhythmen, stammte aus Russland.

Sämtliche Exponate sind in Paris entstanden. Die Summe wirkt, trotz Kapitel-Gliederung, etwas diffus und wenig trennscharf. Katalog-Studium tut not.

„Freunde vom Montparnasse“

Fast alle Stilrichtungen sind im Mix der Ungleichzeitigkeiten vertreten –von erzkonventioneller Abbildnerei bis zu entschiedener Avantgarde oder heftiger Provokation (Chaim Soutine: „Schweine“, 1941).

Besonders interessant wird es, wenn just neue Mischungen sichtbar werden, wenn also Russen die französisehen Traditionen oder Atmosphären aufgreifen und sie sich so anverwandeln, dass ein „Drittes“, wahrhaft Übernationales entsteht.

Die anfangs häufig spätimpressionistisch und aus touristischem Blickwinkel dargestellte Stadt wirkt eher fade. Wenn östliche Motiv- und Gefühlswerte einfließen, kann der Zauber walten. Fast eine Regel: Wer immer sich Paris allzu sehr ausgeliefert hat, verlor ebenso an Spannkraft wie alle, die nur auf dem Hergebrachten beharrten. Und die Ausnahme: Marc Chagall, der sich fern der Heimat treu blieb.

1962 malte Maria Marevna ein melancholisches Gruppenporträt zwischen Kubismus und Ikone: „Freunde vom Montparnasse“. Da war die große Zeit der Russen in Paris vorüber. Die Schwerpunkte der Weltkunst lagen bereits in New York.

10. August bis 26. Oktober. Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Turmhof 8). Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Eintritt 5 Euro, Katalog 29 Euro.




Ein Piktogramm zieht sich aus – Bilderfahnen-Serie des Briten Julian Opie in Düsseldorf

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Rechnet man nach Quadratmetern gefüllter BiIdfläche, so gibt es jetzt im obersten Geschoss des Düsseldorfer „Ständehauses“ (K 21) enorm viel zu sehen. Doch inhaltlich reduziert sich die Sache gehörig, denn es geht nur um dies: Eine Frau zieht sich aus.

Der Brite Julian Opie (Jahrgang 1958) „bespielt“ den Riesenraum unter der gläsernen Kuppel mit insgesamt 15 lang und strahlend weiß herab hängenden (Kunst)-Stoffbahnen, die wie Fahnen oder Banner wirken. Jede „Flagge“ ist rund 7 mal 2.50 Meter groß.

Doch keine staatlichen Symbole prangen darauf, sondem die scharf konturierten, anonymisierten Ganzkörper-Bildnisse einer jungen Dame, die in drei trickfilmhaften Sequenzen diverse Kleidungsstücke ablegt. Mal fällt nach und nach die Jeans-Hose, dann sinken Kleidchen und Bluse zu Boden. Es sieht hie und da recht nett aus. wenn man sich denn ‚was Schönes hinzudenkt. Doch eine Offenbarung ist es gewiss nicht.

Ohne jede persönliche Note

„Bijou gets undressed“ (Bijou entkleidet sich) heißt die ganze Serie, die den Dialog mit der umgebenden Architektur aufnehmen soll. Weitläufig ist der Weg um die beidseitig bedruckten Fahnen herum, stets ergeben sich neue Perspektiven.

Zuweilen ragt die halb entblößte Frau monumental über dem Betrachter auf, dann wieder scheint sie sich hinter dem gläsernen Aufzugsschacht verbergen zu wollen. Im Grunde aber „will“ sie gar nichts, denn es geht ihr ja jede persönliche Note ab.

„Gezeichnet“ sind die weiblichen Umrisslinien mit einem Computerprogramm. Individuelle Züge fehlen, es handelt sich um eine idealtypische Figur – wenigstens nach den (Schlankheits)-Maßstäben der gängigen Produktwerbung.

Schlicht und einfach die Sachen ablegen

Diese Piktogramm-Frau, deren Kopf als ungefüllte Kreisform halslos über den Schultern schwebt, vollführt freilich keinen lasziven Striptease. Sie legt schlicht und einfach ihre Sachen ab; ohne Pose, ganz alltäglich, offenbar gedankenlos. Standardisiert, ja geradezu steril wirken ihre Haltungen. Eros und Sexus sind fern.

Nichts für Voyeure also. Für wen aber dann? Wahrscheinlich für alle, die grübeln wollen über den Schwund der Individualität in den Stadtwelten oder über das mittlerweile ziemlich Unspektakuläre des in allen Medien beäugten nackten Leibes. Kein Mythos, keine Erregung. Nirgends.

Julian Opie: Installation „Bijou gets undressed“. Bis 25. April 2004 im „Ständehaus“ (K 21), Düsseldorf, Ständehausstraße 1. Di-Fr 10-18, Sa/So 11-18 Uhr.

 




Flucht vor der herrschenden Dummheit – Martin Walsers Notizen „Meßmers Reisen“

Von Bernd Berke

Wenn ein Autor an zwei weit auseinander liegenden Stellen dieselbe Tendenz sehr ähnlich ausdrückt, dann führt dies auf eine Spur. So auch in Martin Walsers gerade erschienener Notizen-Sammlung „Meßmers Reisen“.

Da redet sich das literarisehe Ich auf Seite 44 ein, es wolle am liebsten „Das Weite suchen“. Auf Seite 151 klingt der Wunsch erneut an, diesmal lautet er schlicht so: „Sich aus dem Staub machen.“

Lapidare Halbsätze, doch wahrlich keine originellen Formulierungen, sondern Griffe ins Spracharchiv. Der Drang zur Flucht, ja zum Verschwinden aus alltäglichen Zusammenhängen äußert sich flau. Ganz so, als fehle letztlich doch die Kraft, irgend etwas hinter sich zu lassen. Da helfen, so ein weiterer Grundgedanke, nur Lüge und Verstellung, um dem Schlimmsten zu entkommen.

„Ich bin der Hauptbahnhof der Probleme“

Nicht immer also verdichten sich diese Notate zu markanten Aphorismen. Banale Aufzeichnungen („Die Nachrichten: Der Libero wird am Knie operiert, zehn Wochen lang nicht spielfähig.“) wechsein mit zuweilen knirschenden Kraftakten: „Ich bin der Hauptbahnhof der Probleme. Auf Gleis eins fährt ein der Tod, bitte, nicht einsteigen.“ Das mutet fast an wie ein allererster Prosa-Versuch.

Doch es gibt auch viele lohnende Fundstellen. Beispiele: „Die Klage entspricht der Pracht des Augenblicks. Der Jubelnde versäumt.“ – „Unterwegs weiß er oft nicht, fährt er hin oder zurück.“ – „Unterwerfung anderer dadurch, daß man erfolgreicher unglücklich ist als sie“ – „Die Unkenntnis ist immer größer als die Kenntnis.“ – „Man wird, wenn man länger allein ist, unwillkürlich feierlich oder säuisch. Man möchte auf irgendeine Art verkommen.“

Nur eine notdürftige Maskerade

Seltsam zersplittert wirkt das Buch. Walser hat hier jene Figur wiederbelebt, die er 1985 für „Meßmers Gedanken“ erfand. Aber er verwendet die notdürftige Maskerade nur dosiert. Oft bekennt sich ein kaum verhülltes „Ich“. Dieses Ich also rät sich selbst zum Rückzug: vor den täglichen Zumutungen der Welt, vor ihren Machtspielchen, vor der waltenden Dummheit – und vor den überall dröhnenden, von keiner Erfahrung gestützten Meinungen, mit denen sich viele Leute aufplustern. Da kann man, so erwägt Meßmer, nur alle rundweg ablehnen – oder allen recht geben. Ein Mann ohne Standpunkt.

Wer argwöhnt, die Attacken gegen Wichtigtuer bezögen sich aufs Zerwürfnis mit Marcel Reich-Ranicki (um den Roman „Tod eines Kritikers“) oder gar auf Walsers umstrittene Frankfurter Friedenspreisrede und deren Folgen, der kann nur sehr bedingt richtig liegen. Denn es bleibt teilweise rätselhaft, wann diese Notizen entstanden sind. Gewiss: Mal rumpelt ein Zug durch die DDR, mal wird Samuel Becketts 80. Geburtstag erwähnt (der 1986 begangen wurde). Ferner geht es um Beobachtungen und Befinden bei Bahnfahrten, Hotelaufenthalten, Lesungen und Vorträgen sowie um geringe Vorfälle während einer Gastprofessur in den USA. Was Walser dort festgehalten hat, scheint freilich am wenigsten zu fruchten. Häuft sich hier literarisches Rohmaterial?

Rettung durch den Geschlechtstrieb?

Mithin driften die Zeilen meist ins Zeitlos-Existenzielle. Untröstliche Alters-Schwermut und Einübungen des Todes breiten sich aus; oft als Angst aus allen Poren strömend, dann gebändigt durch fieberhaft gutes Zureden.

Als rettender Strohhalm bietet sich diesem betrübten Manne der Geschlechtstrieb an. Anders als der Kopf, glühe er nah am eigentlichen Lebenskern. Und die „Auswahl“ ist prinzipiell unendlich: „Von Frauen fasziniert zu sein ist für ihn schön. Jede ist einzig. Unvergleichlich. Er kann jede ganz lieben.“ Wohlan denn.

Martin Walser: „Meßmers Reisen“. Suhrkamp Vertag. 191 Seiten. 17,90 Euro.




Das Leben ist wichtiger als die Kunst – Düsseldorfer Schau über den Freigeist Robert Filliou

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Sein Herz schlug links: Dem französischen Künstler Robert Filliou (1926-1987) ging es um Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und immer um Veränderung. Da sollte alles fließen, nichts sich verfestigen. Deshalb galten ihm lustvolle Denkprozesse mehr als etwaige künstlerische „Ergebnisse“.

Hauptsache war der kreative Impuls. Filliou scherte sich nicht einmal darum, ob etwas gut, schlecht oder gar nicht gemacht war. Und so füllte er zahllose Holzboxen mit Fundstücken oder simplen Objekten (z. B. rote Socken) nach jener wurschtigen Anti-Regel. Die jeweils dritte Schachtel blieb leer: nicht gemacht eben. Er sei just ein „Genie ohne Talent“, hat Filliou einmal selbstironisch wissen lassen.

Schwierig ist’s, einem solchen Werk und seinem Witz posthum gerecht zu werden. Denn man kann ja nur die Relikte des fröhlichen Schaffens zeigen. Wenn Düsseldorfs Museum Kunstpalast jetzt eine Retrospektive mit rund 180 teilweise vielgliedrigen Exponaten präsentiert, dann läuft sie Gefahr, den einst so wachen und spontanen Geist „einzusargen“. Immerhin hat man auch Filme aufgetrieben, die von den munteren Aktionen zu Lebzeiten zeugen.

Uferloser Strom der Einfälle

Ab 1944 gehörte Filliou zur Résistance gegen die Nazi-Besatzung. In den 1950er Jahren war er als Wirtschaftsexperte für die UNO tätig. Weltweit, u. a. in Fernost, Kanada und Mali, hat er sich auch später umgetan. Stets hatte er soziale Utopien im Sinn, die er mit allerlei Netzwerken und Tauschbörsen animierte. Von 1968 bis 1974, in rebellischen Jahren also, hat Filliou in der regen Düsseldorfer Kunstszene gewirkt – im Umkreis von Joseph Beuys, Daniel Spoerri, George Brecht, Dieter Roth.

Die Schau vergegenwärtigt einen schier uferlosen Ideenstrom. Man spürt in diesem kopfgeborenen Chaos tatsachlich noch etwas von der permanenten Gärung, die alles zu verwandeln trachtete.

Jemand wie Filliou musste natürlich den Kunstbetrieb verulken: Eine Arbeit heißt „Wertloses Werk“, an einem Putzeimer mit Schrubber prangt das Pappschild „Bin in 10 Minuten zurück – Mona Lisa“, und zu einer „Ausstellung“ hat Filliou mal das Publikum freundlich ausgeladen. Daher kam auch niemand, und er war’s zufrieden.

Eine Mini-Galerie unter der Mütze

Filliou erweist sich als „Bastler“, der jegliches Ding zu verwenden wusste. Eine Art Glücksrad erzeugt beim Drehen nahezu poetische Zufalls-Sätze. Unter einer schlichten Papiermütze verbarg Fillou auf seinem Schopf eine „Galerie“ mit Mini-Exponaten, die er auf der Straße feilbot. Von diesem Einfall sind Fotos geblieben.

Eine Raumfolge (sie heißt „PoiPoi“ – nach einem Gruß- und Gesprächsritual in Mali) mit etlichen Werkzeugen soll die Besucher zum Mitschöpfen anregen. Jeder ist ein Künstler, wenn man’s so nimmt…

Die Meditation nach der Revolte

Filliou hat sich von Entdeckerlust leiten lassen, nicht von Fachdebatten. Man merkt, dass hier ein ziemlich freier Mensch zugange war, der nicht die Kunst, sondern das Leben verbessern wollte.

Grandioser Anblick zum Schluss: 5000 wahllos hingekippte bunte Spielwürfel zeigen samt und sonders den Wert „1″ obenauf. Kein Zufall, denn sie tragen diese Augen-Zahl auf allen Seiten. Letztlich eine spirituelle Aussage übers Schicksal. Gegen Ende seines Lebens zog sich Filliou denn auch in ein tibetisch ausgerichtetes Kloster in Frankreich zurück – die Meditation nach der Revolte.

Robert Filliou – „Genie ohne Talent“. Retrospektive. Bis 9. November im Museum Kunst Palast, Düsseldorf (Ehrenhof 4-5). Di-So 11-18 Uhr. Katalog 34 Euro, Kurzführer 50 Cent.




Die Wellen der Harmonie – Werkschau des Sylter Malers Siegward Sprotte im Cappenberger Schloss

Von Bernd Berke

Selm/Cappenberg. In einigen Räumen wogt es gewaltig. Wellen-Bilder der ruhigen oder der stürmischen Art wecken maritime Gefühle. Mitunter scheint gar die Gischt von der Leinwand spritzen zu wollen. Eigentlich kein Wunder: Der Künstler lebt seit 1945 auf Sylt.

Wandelbares Wasser: Mal erstarrt die See zum Eismeer, mal türmen sich nächtlichschwarze Wogen auf. Zuweilen genügt schon eine einzige hingetuschte Pinselgeste, um gleichsam das Bewegungsgesetz des Meeres zu evozieren. Auch Begleiterscheinungen geraten in den Blick: Algen, Quallen, Sand. Fehlt nur noch die Brise.

Dennoch ist das Meer zwar die allzeit leitende, aber beileibe nicht die einzige Passion des mittlerweile 90-jährigen Siegward Sprotte. Auf seiner seelischen Landkarte haben auch die Gipfel der Dolomiten, die eher lieblichen Gärten in und um Potsdam oder Landschaftsformationen zwischen Jamaika und Madeira ihren Platz. Sein Feld ist die Welt.

Vom Meeresspiegel bis zu den Gipfeln

Jetzt zeigt der Kreis Unna im Cappenberger Schloss mit rund 200 Exponaten die ganze Fülle und Breite des Lebenswerks. Die Ausstellung, die anhand von Skizzenbuch-Auszügen auch Einblicke in die Werkstatt des Künstlers erlaubt, stammt überwiegend aus dem Fundus der Sprotte-Stiftung, in deren Vorstand der Anwalt Manfred Schryen aus Unna sitzt. Daher das Gastspiel in unseren Breiten.

Die vielversprechenden Anfänge des Werks liegen in den frühen 1930er Jahren. Ein Selbstporträt von 1937 schwebt zwischen Neuer Sachlichkeit und „altdeutsch“- altmeisterlicher Auffassung.

Porträts von Hermann Hesse und Karl Jaspers

Der Gestus wirkt selbstbewusst, doch nobel zurückhaltend, ja fast fromm. Weitaus später, in den 50er Jahren, entstanden eher kürzelhafte Porträts berühmter Zeitgenossen, so etwa des gleichfalls von indischer Weisheit inspirierten Schriftstellers Hermann Hesse oder des Philosophen Karl Jaspers.

Insgesamt ist es ein Oeuvre abseits gängiger Moden, das sich fernhält von allen politischen sehen Verwicklungen und offenbar keine krisenhaften Brüche kennt. Vielleicht liegt es daran, dass die bildnerische Energie gelegentlich zu erschlaffen droht und allzu gefällige Arbeiten entstehen.

Sogar Rosenkohl kann unheilschwanger aussehen

Zutiefst beeinflusst vom Ideengut des indischen Philosophen Krishnamurti (1897-1986), der die Harmonie zwischen All und Ich predigte, strebt wohl auch Sprotte nach kosmischer Erfahrung, in der alles möglichst schmerzlos aufgeht. Nicht immer ist dies der Königsweg der Künste.

Doch die botanisierenden Bestandsaufnahmen gehen über in immer freiere Behandlung. Und das Spektrum reicht bis zu rauen, bedrohlichen Natur-Ansichten. Im Kriegsjahr 1941 wirkt selbst ein Rosenkohl-Bild unheilschwanger.

Siegward Sprotte, der kürzlich zum Ehrenbürger seiner auch zu DDR-Zeiten oft besuchten Geburtsstadt Potsdam ernannt wurde (übrigens ein Jahr nach Günther Jauch), hat seit vielen Jahren einen prominenten Freund: Bundesverkehrsminister Manfred Stolpe wird denn auch die Cappenberger Schau am Sonntag, 20. Juli (11 Uhr), eröffnen. Bestimmt mag er’s gern so harmonisch.

Siegward Sprotte. Schloss Cappenberg (Selm). 20. Juli bis 19. Oktober. Di-So 10-17 Uhr. Katalog 22 Euro.




Stunden der wahren Empfindung – Johan Simons inszeniert die famose Produktion „Sentimenti“ für die RuhrTriennale

Von Bernd Berke

Bochum. Stoffe mit Ewigkeitswert sind im Grunde oft einfach, schon die Antike hat Muster bereitgestellt. Wenn nun ein Mittvierziger ins Land seiner Jugend zurückkehrt, als seine Mutter stirbt, und sich an jene Zeit erinnert, als die Ehe der Eltern zerbrach, so bangt man dennoch: Was kann das Theater daraus gewinnen? Die Antwort lautet: alles!

Natürlich nicht irgendwie und immer. Sondern dann, wenn man den Stoff so überaus inspiriert entfaltet wie Johan Simons, Paul Koek und ihre Truppe ZT Hollandia. Aus der Freien Szene hervorgegangen und heute in Eindhoven tätig, hat die Formation jetzeine grandiose Kreation für die RuhrTriennale aus der Taufe gehoben: „Sentimenti“ verknüpft kühn Grundzüge von Ralf Rothmanns Roman „Milch und Kohle“ mit Opernmusik von Giuseppe Verdi. Siehe da: Diese Vorlagen steigern einander in zweieinhalb Stunden der wahren Empfindung zu ungeahnter Wirksamkeit.

Rothmanns Prosa beschwört mit frappanter Detail-Süffigkeit die 60er Jahre im Ruhrgebiet herauf. In jeder Textfaser spürt man den Beinahe-Jahrgangsgenossen aus der Region: Der 1953 geborene Autor wuchs im Revier auf und lebt heute in Berlin. Sein Erzähler Simon (dargestellt vom famosen Jeroen Williams) schildert, was er als Jugendlicher im Ruhrgebiet der 60er erlebte: Seine Mutter gab sich damals einem italienischen „Gastarbeiter“ hin, als der Vater nach einem Bergwerksunglück mit gebrochenen Beinen in der Klinik lag.

Kläglich hat der Vater dahingelebt: zwischen Malochhe im Schacht, Autoreparaturen und seinen geliebten Kanarienvögeln. Nun wirft ihn die Untreue zu Boden. Dem Sohn sind manche Erinnerungen an die Zeit der Burda-Schnittmusterkleider peinlich, doch er findet zu einem fast zärtlichen Umgang mit der Vergangenheit.

Selten aber fühlt man das Schmerzliche eines Ehebruchs so scharf und persönlich ergreifend wie hier, wo das Leben als vom Tode umsäumter Bezirk erscheint. Oh, hättet ihr eure Zeit auf Erden besser genutzt! Der allgegenwärtige Todesengel in Schwestern-Tracht wartet geduldig: Letztlich wird ihm doch jedes Wesen zuteil.

Die äußerst weitläufige Spielfläche in der Bochumer Jahrhunderthalle besteht im zentralen Bereich aus Unmengen von Kohlebriketts. Man kann diese 16 Tonnen Materie wörtlich nehmen: Bei aller Phantasie ist diese Aufführung zutiefst „geerdet“, sie basiert auf konkreten sozialen Verhältnissen.

Ruhrgebiets-Roman und Verdis Arien beflügeln einander

Doch sie führt auch himmelweit darüber hinaus. Wenn etwa die Mutter die Szenerie betritt, so zunächst noch nicht als lebensgierige und kokette Frau, sondern als monströs röchelndes Häuflein Elend, dem Tode schon bestürzend nah.

Überhaupt ist alles, was die Menschlein hier tun und treiben, von Vergänglichkeit umfangen. Lebensstufen gleiten beklemmend ineinander über, Figuren verschwimmen surreal, sie wiederholen Sätze wie in Trance. Mit sehr feinem Strich werden da die Hirnströme des Erinnerns nachgezeichnet.

Und zu alledem noch Verdi! Diese Bühne der Erinnerung erweist sich als idealer Hallraum für seine gleißenden Arien (aus „II Trovatore“, „La Traviata“, „Rigoletto“, „Don Carlos“, „Nabucco“, „Aida“) – notengetreu in eher kammermusikalischer Besetzung mit jazzigen Einsprengseln gespielt und von den Sängern, die sich wie hilflose Beschützer in die Handlung mengen, zur Essenz gebracht. Diese Klänge überhöhen das Geschehen nicht nur, sondern werden ihrerseits angefüllt mit neuer Gegenwart. Es gibt Momente, da könnte man heulen vor menschlicher Trauer und vor Theaterglück.

Doch die „Sentimenti“ erschöpfen sich keineswegs in Vergeistigung. Es gibt auch eine Dimension des Humors und barscher Körperlichkeit. Verzweifelt ziellose Begierde entlädt sich in sexuellen Attacken, Streit in Eruptionen des Schlagens und Tretens. Man spürt, wie es sich anfühlt, das anhaltend waltende Ungenügen – und sehnt sich nach der Gegenwelt.

Ganz großer Beifall.

Termine: 22, 25.. 26.. 28., 29. Juni. 1., 2., 3., 6. Juli. Karten: 0700/2002 3456.




Gastspiel bei der RuhrTriennale: Suzanne Vega und ihre kostbaren Etüden der Traurigkeit

Bernd Berke

Duisburg. Nebenan in Oberhausen rockten die betagten Rolling Stones, gleichfalls nahebei in Essen legte der Rapper Eminem los – jeweils vor Zigtausenden. Da hieß es: Sich fuchsig durchschlängeln auf den Revier-Autobahnen, um rechtzeitig von Dortmund bis zum Landschaftspark Duisburg-Nord zu gelangen.

Hier geht es intimer und erlesener zu, zumal es sich um eine Veranstaltung der RuhrTriennale handelt: In der imposanten Gießhalle tritt Suzanne Vega auf, die vielleicht kreativste Songschreiberin der letzten Jahre. Als Gitarrist steht ihr der Jazzer Bill Frisell zur Seite, der die gesamte angloamerikanische Abteilung des Triennale-Programms „Century of Songs“ betreut. Die Begleit-Band wurde eigens für die beiden Auftritte am Freitag und gestern Abend in Duisburg formiert.

Das schutzlose Kind schaut hervor

Das Programm, das in dieser Besetzung und Abfolge nie wieder erklingen wird, haben sie in gerade mal drei Tagen einstudiert. Ein Hauch von Exklusivität. Die 1959 geborene Amerikanerin mit den apart rötlich schimmernden Haaren wirkt noch immer mädchenhaft. Wie keine Zweite lässt sie hinter einem zuweilen herben Gestus – das schutzlose Kind in sich durchscheinen. Sie singt vorwiegend von allerlei Trennungen, Einsamkeiten und Ängsten. Mit samtig-seidener Stimme trägt sie verhaltene, kunstvoll in sich selbst versponnene Etüden der Traurigkeit vor.

Derlei melancholische bis verzweifelte (und manchmal trotzige) Gefühls-Nuancen hat Suzanne Vega auch in den Schöpfungen anderer Songwriter aufgespürt. Deren Lieder streut sie ins eigene Schaffen ein, z. B. Bob Dylans „It’s alright, Ma“, dem freilich in ihrer Interpretation die Schärfe des Originals fehlt. Hierfür ist sie ebenso wenig gerüstet wie für „Mack the Knife“ („Mackie Messer“, Brecht/Weill).

Viel lieber, weil vom Habitus her ungleich passender, hätte man etwa Songs von Leonard Cohen (vielleicht gar „Suzanne“?!) von ihren Lippen gehört. Doch Werke des Kanadiers stehen hier nicht auf dem Zettel.

Große Momente mit „Erie Canal“ und „Behind Blue Eyes“

Hingegen entlockt sie „Behind Blue Eyes“ von Pete Townshend („The Who“) oder dem Kinderlied „Erie Canal“ ganz neue, schwebende Qualitäten. Es sind die leider etwas raren, ganz großen Momente dieses Konzerts.

Überhaupt ist Vegas Sache nicht eine Musik des Immer-weiterVoranschreitens bis zum Ende der Welt, wie es einen etwa bei Neil Young erfasst und mitnimmt. Vielmehr verwehen ihre Refrains; zuweilen ins gänzlich Freie, manchmal in beinahe tonlose Regentags-Resignation.

Den Schwerpunkt des Abends bilden Suzanne Vegas eigene Songs – von „Marlene on the Wall“ über „Penitent“, „Gypsy“ und „Caramel“ bis hin zu ihren größten Erfolgen „Tom’s Diner“ und „Luka“.

Eigentlich sollten diese Kostbarkeiten im Zusammen- oder auch Widerspel mit Bill Frisell gänzlich neu arrangiert werden. Doch Frisell hat sich wohl freundlich gefügt, er tupft nur sparsame Arabesken hinzu. Aus den Wandlungsprozessen wird nahezu nichts. Offenbar hat sich Suzanne Vega auf nichts Unerhörtes einlassen wollen.

Also bleiben ihre Texte und Noten weitgehend „unbeschädigt“. Für sich betrachtet, sind sie ja auch ziemlich perfekt. Zudem kann man ihr Beharren gut verstehen: Vega ist Vega, und die Anderen sind eben die Anderen. Nur das sorgsam Ausgesuchte kann sie sich anverwandeln. Das geht halt nicht in wenigen Tagen.

 




Jürgen Flimm wird Chef der RuhrTriennale – ab 2005 als Nachfolger von Gerard Mortier

Von Bernd Berke

Im Westen. Der Favorit hat das Rennen gemacht: Jürgen Flimm soll ab 2005 neuer Leiter der RuhrTriennale und damit Nachfolger von Gerard Mortier werden. Der 61-jährige Flimm bleibt bis 2004 Schauspielchef der Salzburger Festspiele. Als Präsident des Deutschen Bühnenvereins war er kürzlich zurückgetreten. Dies hatte bereits Spekulationen über ein Engagement im Ruhrgebiet genährt.

Auf Flimm, den langjährigen Leiter des Hamburger Thalia Theaters, einigten sich alle Gremien: der Aufsichtsrat der Kultur Ruhr GmbH (Rechtsträger der Triennale) hat den einstimmigen Vorschlag der Findungskommission „zustimmend zur Kenntnls genommen“. Gestern gab auch der Aufsichtsrat der Ruhrfestspiele, die künftig unter dem „Dach“ der Triennale angesiedelt sind, grünes Licht. Damit könnte Jürgen Flimm am 11. Juli formell berufen werden.

Enorme Erfahrung in vielen Positionen

Bis auf Gastinszenierungen in Bochum (1974-79, Ära Zadek) hatte Flimm bisher kaum direkte Verbindungen zum Revier. Doch sonst bat er fast alles gemacht, was in der Theaterwelt möglich ist. Am 17. Juli 1941 in Gießen geboren, wuchs der Sohn eines Arzt-Ehepaares in Köln auf – mit evangelischem Hintergrund, zu dem er sich entschieden bekennt. Da sein Vater als Theaterarzt arbeitete, konnte Jürgen Flimm schon als Kind hinter die Kulissen blicken. Dies hat ihn, wie er sagt, fürs ganze Leben „infiziert“.

Neben dem Studium der Theaterwissenschaft, Germanistik und Soziologie in Köln absolvierte Flimm eine Schauspielausbildung und bekam 1968 sein erstes Engagement als Regie-Assistent an den Münchner Kammerspielen. 1972 wurde er Oberspielleiter in Mannheim, 1973 übte er die gleiche Funktion am Hamburger Thalia Theater (unter Boy Gobert) aus. Ab 1979 war er – als Nachfolger von Hansgünther Heyme – Schauspiel-Intendant in Köln. 1985 begann seine glorreiche, bis ins Jahr 2000 währende Ära als Thalia-Intendant. Unter seiner Ägide wurde die Bühne zur Pilgerstätte.

Lieber das „Erbe“ überprüfen, als Uraufführungen zu sammeln

Bei der Jagd auf Uraufführungen hat sich Flimm – anders als z. B. Claus Peymann – stets merklich zurückgehalten. Statt dessen erkundete er die klassischen Stoffe, zumal das Werk Georg Büchners, sorgsam neu. Überhaupt prüfte er am liebsten das „Erbe“: von Shakespeare, Goethe, Schiller, Lessing und Kleist über Schnitzler, Tschechow und Ibsen bis hin zu Brecht.

In den letzten Jahren hat Flimm auch zahlreiche Opern (u. a. Mozart, Wagner) inszeniert, und zwar für die „ersten Adressen“, so beispielsweise an der New Yorker „Met“, in Bayreuth und Salzburg.

Behutsamer Umgang mit den Klassikern

Bei all dem betätigte er sich nie, wie etwa Frank Castorf, als „Stücke-Zertrümmerer“, sondern aktualisierte die Werke behutsam, ohne ihren Handlungskern zu beschädigen. Flimm hat immer wieder betont, dass Theater mit Blick aufs Publikum entstehen müsse und nicht fürs eitle Ego der Macher. Auf Erdverbundenheit und „Revier-Tauglichkeit“ deutet auch sein großes Faible für Fußball hin. Flimm ist seit Jahrzehnten Mitglied bei Werder Bremen.

Blättert man in den Annalen, so stößt man auf einen möglichen Reibungspunkt mit dem designierten Leiter der Ruhrfestspiele, Frank Castorf, dessen Vorgesetzter Flimm als Leiter der RuhrTriennale wäre. In Interviews hat sich Flimm recht deutlich von Castorfs oft rabiater Form des „Regietheaters“ abgegrenzt.

Flimm kennt sich bestens in den Fährnissen der KulturpoHtik aus. Das langjährige SPD-Mitglied (Austritt u. a. mit Günter Grass nach der Asyldebatte) ist inoffizieller Kulturberater von Bundeskanzler Schröder. Von Flimm stammte die Anregung, das Amt eines Staatsministers für Kultur zu schaffen. Mit Bundespräsident Rau schuf er zudem ein „Bündnis für Theater“.

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Kommentar:

Eine ideale Wahl

Hätte man seine Wunschkandidaten für die Leitung der RuhrTriennale nennen sollen, so wären fraglos die Namen Claus Peymann und Jürgen Flimm gefallen. Mit anderen Worten: Die gestern getroffene Entscheidung für Flimm ist eine geradezu ideale Wahl.

Der 61-Jährige hat ungeheure, unschätzbar wertvolle Erfahrungen als Regisseur und Theaterleiter angehäuft. Auch in den Feinheiten der Kulturpolitik kennt er sich präzise aus. Zudem ist er in den Sparten Schauspiel und Oper höchst sattelfest. Was will man mehr? Flimm ist ein Theatermacher, der „vom Publikum her“ denkt. Es ging ihm nie, wie leider so vielen anderen Regisseuren, um schrankenlose Selbstverwirklichung auf Kosten der Stücke. Andererseits ist er kein bloßer Traditions-Verwahrer, sondern er schneidet die Stoffe durchaus aktuell zu.

Flimm gilt als gleichermaßen verbindlich wie durchsetzungsfähig und verhandlungssicher. Im politischen Raum pflegt er die allerbesten Kontakte. Nur: Wenn im Gezerre um die Düsseldorfer Koalition auch die RuhrTriennale unter die Räder geraten sollte, hätte selbst er wenig Chancen, den Schaden einzugrenzen.

Jedenfalls kommt es Flimm zugute, dass er sich stets als sehr kostenbewusster Bühnenchef erwiesen hat. Für den Fall einer Etat-Überziehung hat er andernorts sogar schon mal einen Verzicht auf große Teile seiner Gage angeboten.

Im Ruhrgebiet keinesfalls zu unterschätzen: Zu allem Überfluss hat Jürgen Flimm, ein langjähriger Freund des Trainers Otto Rehhagel, auch noch gehörig Ahnung vom Fußball. Auf seinen „Anstoß“ in den Kulturstadien des Reviers darf man sich schon jetzt freuen.

Bernd Berke




Technik kann die Tagträume beflügeln – Werkschau der Multimedia-Künstlerin Laurie Anderson in Düsseldorf

Von Bernd Berke

Düsseldorf. In den dezent abgedunkelten Räumen des Düsseldorfer Museums „kunst palast“ rumort es beständig aus Lautsprechern. Zudem hängen hier etliche Kopfhörer zur gefälligen Selbstbedienung. Dazwischen flackern Videos in Kabinetten. Ein medialer Overkill, der einen nur nervös macht? Im Gegenteil: Diese Ausstellung wirkt kontemplativ.

Kein Wunder, dass man hier fast mehr zu hören als zu sehen bekommt. Denn die 1947 in Chicago geborene Urheberin heißt Laurie Anderson und hat als Musik-Performerin (Song-Erfolg: „O Superman“) einige Berühmtheit am avantgardistischen Saum des Pop-Sektors erlangt. Seit rund 30 Jahren regt sie sich auf der Szene. Größen wie Peter Gabriel, Brian Eno oder Wim Wenders haben bei gemeinsamen Projekten ihre innovative Kraft schätzen gelernt.

Laurie Anderson äußert sich in zahllosen Medien-Mischungen: Musik, Filme, Fotos, Stimmen, mit Schriftzeichen gefüllte Räume, Objekte, Installationen und theatralische Auftritte gehören zum Arsenal.

Ihre besondere Stärke liegt nicht so sehr auf den einzelnen Feldern, sondern vielmehr in der Kombinatorik, deren Alchemie oft gespenstisehe Einblicke in unbewusste Bezirke eröffnet. Eine Papageien-Figur plappert Worte und Satzfetzen daher, die man sonst höchstens still zu denken wagt – „Unsinns“-Sedimente des Lebens. Doch man lausche nur: Vielleicht kommt hier eine ungeahnte Wahrheit zum Vorschein.

Vielfach exponiert Anderson ihren Körper. So trommelt sie mit den Händen an ihren Kopf, fängt die „Hirnschalentöne“ auf und gibt sie verstärkt zum entsprechenden Videofilm wieder. Der Mensch als schaurig verkabelter Automat, als Anhängsel der Technik – oder als kreatives Wesen, das sich stets mutig in neue Symbiosen begibt?

Die Geige ist ihr Lieblings-Instrument. Es mag formal für Weiblichkeit stehen, was die Künstlerin freilich auch ironisiert, indem sie ihren eigenen männlichen „Klon“ elektronisch erzeugt. Digital gerüstet, entlockt der Strich mit dem Geigenbogen einer Computer-Festplatte präparierte Klänge der astralen Art.

Meditative Momente zuhauf: Auf einem Sockel liegt ein Kissen. Der Besucher soll seinen Kopf darauf betten. Die sphärischen Töne, die nun aus den Federn dringen, könnten seine Tagträume beflügeln. Selbst ein unscheinbarer Tisch beginnt sanft zu vibrieren, wenn man die Ellbogen darauf stützt.

Von Laurie Andersons Qualitäten als technische Tüftlerin zeugen Planskizzen, die auch Performance-Situationen penibel im Voraus kalkulieren. Die reiche Phantasie fußt auf solidem Fundament.

museum kunst palast, Düsseldarf (Ehrenhof). Bis 19. Okt., di-so 11-18 Uhr. Katalog 15 €

 




Die Sehnsucht nach Ironie und Humor im Theater – Fritz Kater gewinnt den Mülheimer Dramatikerpreis

Von Bernd Berke

Mülheim. Herrje, was war das für ein Kopf-an-Kopf-Rennen beim Mülheimer Dramatikerwettbewerb „stücke 2003″! Um Mitternacht lag in der öffentlichen Jury-Diskussion Roland Schimmelpfennigs „Vorher/Nachher“ noch mit drei Stimmen in Front. Aber dann! Da wechselten unversehens zwei Damen des Gremiums (Luzerns Intendantin Barbara Mündel und die Schauspielerin Verena Buss), deren erklärte Lieblingsdramen bereits ausgeschieden waren, das Lager und plädierten nun unisono für Fritz Katers „zeit zu lieben zeit zu sterben“.

Jetzt stand es plötzlich drei zu drei. Traditionell wiegt in Mülheim das Votum des gesamten Festival-Publikums eine Jury-Stimme auf. Und das gab diesmal den Ausschlag: Die feucht-fröhliche und doch anrührende Groteske über das Scheitern einer Liebe zwischen Deutschland Ost und West lag in der Gunst der Besucher denkbar knapp vorn („Notenschnitt 1,99″). Ergo: Fritz Kater (bürgerlich: Armin Petras) bekommt diesmal den mit 10.000 Euro dotierten Preis.

Roland Schimmelpfennig hatte mit seinen 51 episodischen, oft surreal-märchenhaften Szenen, die gleichfalls um die schiere Unmöglichkeit der Liebe in diesen wehen Zeiten kreisen, das Nachsehen („Note 2,19″). Schade, schade.

Diese zwei am höchsten gehandelten Stücke erfüllten einen ansonsten meist vergebens gehegten Wunsch nach mehr Humor und (Selbst)-Ironie in der aktuellen Dramatik. Jurorin  Barbara Mundel wunderte sich: „MUSS Theater eigentlich immer nur schmerzen und verstören?“ In der Tat: Orgien des Weltekels und der allzeit rinnenden Körperflüssigkeiten wie Marius von Mayenburgs „Das kalte Kind“ gibt es mehr als genug.

Lebhaftes Desinteresse an Ulrike Syhas „Nomaden“

Geradewegs eine Zumutung war am Abschlussabend Ulrike Syhas ungelenker Versuch „Nomaden“, zwangsläufig hilf- und ratlos dargeboten vom Landestheater Tübingen. Das steife Stück spielt in einer endzeitlichen Stadt, in der offenbar diverse Terrorgruppen einander bekämpfen. Letztlich muss jeder jedem misstrauen, weil jeder jeden betrügen könnte. Ein schmaler Befund, der sodann endlos wiedergekäut wird.

Bis man überhaupt auseinander halten kann, wer wann mit wem oder gegen wen paktiert, ist die Aufmerksamkeit längst erstickt. Großmäulige Zeitgeist-Phrasen wie „Grammatik der Ödnis“ fallen wie faules Obst. Die nie nachvollziehbare „Räuberpistole“, die die Apokalypse stemmen will und sich in puren Behauptungen erschöpft, findet zu keiner eigenen Sprache, hat keinerlei konturierte Figuren – eine theatralische Wüstenei, die sozusagen lebhaftes Desinteresse weckt.

Eine gut geölte Sprach-Maschinerie

Ungleich anregender der vorletzte Beitrag im Wettbewerb, Martin Heckmanns Collage „Schieß doch, Kaufhaus!“ (Koproduktion Jena/Dresden, Regie: Simone Blattner). Fürchtet man zunächst, hier gebe es nur hektischen Sprach-Kampfsport und Turnmatten-Theater, so schälen sich aus dem Gruppenauftritt alsbald gliedernde Rhythmen heraus, als sei da eine bestens geölte Wort-Maschinerie am Werk. Die Tonlage oszilliert irgendwo zwischen Agitprop und Rap. Doch Heckmanns lauscht dabei auch kleinen, alltagsnahen Sehnsüchten und Nöten nach. Keine geringe Sache!

Wie kann man unter dem Bann der Globalisierung („Tenor der Ökonomie“) eine widerständige Sprache behaupten, und wie bringt man das Private darin unter? Mit solchen Fragen jongliert dieses pointierte Stück, das denn auch die allerbeste Publi- kumsnote erhielt.

 




Das schrille Krähen der Apokalypse – Thomas Ostermeiers Berliner „Nora“-Inszenierung gastiert bei den Ruhrfestpielen

Von Bernd Berke

Marl. Brütende Hitze herrscht in der Marler Eisenlagerhalle Victoria 1/2, dieser industriellen Stätte der Ruhrfestspiele. Doch was soll’s. Hier sieht man ein gepriesenes Hauptereignis der Theaterspielzeit: Henrik Ibsens „Nora“ in Thomas Ostermeiers Berliner Schaubühnen-lnszenierung lohnt manchen Schweiß.

Der moderne Klassiker von 1879 ist ein heimliches Stück der Saison. Viele Bühnen, darunter Dortmund, haben das dramatische Prägemuster weiblichen Aufbegehrens ins Programm genommen. Doch die Berliner Fassung im kühlen Bauhaus-Ambiente, das vom vorläufig wachsenden (aber stets bedrohten) Wohlstand kündet, dürfte bei weitem unerreicht sein. Dem frisch ernannten Bankdirektor Helmer (Jörg Hartmann) geht die Karriere so sehr über alles eheliche Maß, dass er Nora jederzeit opfern würde.

Gewaltphantasien wie aus Horrorfilmen

Bei Ostermeier flackern allerlei jetzige, vorwiegend medial aufgepeitschte Krisen-Gespenster durchs Geschehen. Es ist wie ein schrilles Krähen der Apokalypse: Eingestreute Slapstick-Nummern beschwören krude Gewaltphantasien wie aus Video-Ballerspielen oder blutigen Horrorfilmen herauf. Die Machtfrage zwisehen den Geschlechtern wird zuweilen körperlich drastisch ausgetragen: Nicht nur ihr Besitz ergreifender Gatte, dieses Laptop- und Handy-Monster, sondern auch der erpresserische Krogstad und der todkranke Hausfreund Dr. Rank geben sich so unverfroren, als sei Noras Leib durchaus „verfügbar“ wie der eines sadomasochistischen Pornostars. Erschreckend: All das kommt einem ziemlich plausibel vor. Ostermeier webt das Stück vom Tod der Emotionen ins Heute hinein, er zerrt es nicht bloß herüber.

Die anfangs so sorglos-flatterhafte Nora (umwerfend präsent: Anne Tismer) wirkt zunächst wie ein Plappermäulchen vom Schlage einer Verona F.: atemlos konsumgierig, über alles hinweg trappelnd.

Der Weg führt nicht ins Freie

Unter steigendem Leidensdruck wirft sich Nora in (hilflose) Posen der Selbstbehauptung, als wolle sie wenigstens aufrecht durchs Martyrium staksen. Zugleich wachsen Hysterie und Selbstentfremdung: Entgeistert betrachtet sie ihre Hände, die ein seltsames Eigenleben führen. Bin ich das noch. die da handelt?

Schließlich handelt sie ungeheuer haltlos! Sie geht nicht einfach fort, sondern feuert kaltblütig ein Pistolenmagazin auf ihren Mann ab: ein grotesker, gurgelnder Tod im heimischen Aquarium. Als Nora die Haustür hinter sich schließt, führt der Weg nicht ins Freie, sondern in ein Niemandsland fortwährender Verzweiflung.

Termin: Heute, 31. Mai (19 Uhr). Karten: 02361/92 180.




Gesellschaft voller Monster – „Unser täglich Wahnsinn“: Cartoons von Gerhard Haderer in Oberhausen

Von Bernd Berke

Oberhausen. Da muss einer etwas gründlich missverstanden haben: „Schöner Rasen“ heißt die Titelzeile der Zeitschrift, die am Fußboden liegt. Der Kerl, der sie achtlos hingeworfen hat, schaut aus dem Fenster – hinaus auf öden Asphalt und ein PS-starkes Auto. Nicht sattes Grün hat er im Sinn, sondern fulminante Fahrten ohne jede Rücksicht: „Schöner rasen“ eben.

Der österreichische Cartoon-Zeichner Gerhard Haderer, jetzt im Schloss Oberhausen mit einer 160 Exponate starken Retrospektive (Titel: „Unser täglich Wahnsinn“) gewürdigt, lässt durchweg ziemlich gemeine, unverschämte und hässliche Gestalten auftreten. Die Spezies, so könnte man meinen, wird mehrheitlich von „niedrigen Beweggründen“ angetrieben.

Doch da gibt’s auch noch die (gleichfalls unansehnlich gewordenen) Opfer – wie etwa jene Ehefrau, die vor ihrem Gatten kniet und offenbar seit Stunden putzt. Der Herr des Hauses trägt ein ekelhaft triumphales Grinsen zur Schau, als sei sie sein braves Haustier.

Krasse Typologie der hassenswerten Zeitgenossen

In der Summe ergibt sich eine abgründige und krasse Typologie vorwiegend hassenswerter Zeitgenossen, der Rundgang gleicht somit fast einem Horrortrip durch die Gesellschafts-Hölle. Ob Haderer (Jahrgang 1951) über all seinen messerscharfen Beobachtungen wohl zum Menschenfeind geworden ist? Oberhausens Museums-Kurator Peter Pachnicke („Haderer ist kein Karikaturist, sondern Realist“) glaubt jedenfalls, dass hier jeder Betrachter sich selbst erkennen könne. Nicht doch! Wer vor diesen Bildern steht, wird immerzu krampfhaft denken, dass „die Anderen“ gemeint sind. Sonst wäre es kaum auszuhalten.

Dumpfe Reaktionäre blecken da die Zähne. Hysterische Gesundheits- und Fitness-Fanatiker gehen mit ihrem elenden Narzissmus hausieren. Offenbar gedopte Bodybuilder lassen aufdringlich ihre grotesk geschwollenen Muskeln spielen, denn sie halten sich für Schönlinge sondergleichen. Andere sind weniger körperfixiert: Ganze Scharen fress- und fernsehsüchtiger Wohlstands-Monster lümmeln sich feist in den Wohnzimmern…

Bildaufbau nach altmeisterlichen Mustern

Haderer, der sich anfangs als Werbegrafiker verdingte, weiß sehr gut, wie man Aufmerksamkeit weckt und „Hingucker“ erzielt. Er stellt ästhetische Fallen, indem er die fiesen Leute und ihr infernalisches Ambiente mit geradezu biedermeierlicher Detailfreude ausmalt. Der Bildaufbau folgt oft altmeisterlich geprägten Mustern. Doch inhaltlich ist es eben das Gegenteil von Beschaulichkeit. Jede Idylle steht unter Verdacht, sie wird geradezu weggeätzt.

Zu den Oberhausener Schaustücken zählt auch eine Serie zum Leben Jesu, der hier just zum dauerbekifften Haschbruder mutiert und als solcher in Österreich für einen (etwas wohlfeilen) Skandal gesorgt hat. Haderer stellt klar: Die Zeichnungen seien kein Affront gegen das Christentum, sondern gegen die kitschige Bilderwelt, die sich in der Alpenrepublik mit bigotter Frömmigkeit verknüpft. Aber solche feinen Unterschiede kann man den besinnungslos Empörten wohl kaum erklären.

Gerhard Haderer: „Unser täglich Wahnsinn“. Ludwig Galerie Schloss Oberhausen, Konrad-Adenauer-Allee 46 (Abfahrt OB-Zentrum). Bis 7. September. Di-So 11-18 Uhr. Eintritt 5 Euro, Familien 9 Euro. Buch 49,90 Euro.




Lizenz zur Goethe-Zerlegung: Samuel Schwarz inszeniert die „Clavigo“-Tragödie in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Der Publizist Clavigo gleicht einem Schilfrohr im Winde. Frommt es seiner Karriere beim spanischen Hofe, so ist er flugs bereit, sein Heiratsversprechen zu brechen und Marie zu verlassen. Wird er aber von deren Bruder drangsaliert, so kehrt er eilends zu ihr zurück. Nicht wahre Reue ist’s, sondern letztlich Berechnung. Daher hat auch diese Haltung keinen Bestand.

War nicht auch der „Clavigo“-Autor Goethe ein solcher Wendehals und Fürstenknecht? „Aber ja!“ ruft uns die Bochumer Inszenierung des Schweizers Samuel Schwarz triumphierend zu. Und so schickt man sich an, den Klassiker, der dieses Stück in seiner „Sturm und Drang“-Phase (24jährig, binnen acht Tagen – wow!) hinwarf, zu dekonstruieren. Ist das nun raffiniert und schneidig oder nur frech?

Nur noch tauglich für ein B-Movie oder ein TV-Melodrama

Das Drama darf nicht für sich bestehen. Schon in einem angepappten Vorspiel wird der wankelmütige Clavigo (Maik Solbach) mit dem Verfasser Goethe überblendet. Später gibt es immer wieder epische Einschübe, die den Text perforieren. Maries rachsüchtiger Bruder Beaumarchais (Thomas Büchel) springt oft mitten im Dialog aus seiner Rolle und erzählt in prosaischer Rückschau, was er „damals“ getan und gesagt habe. Um Goethes Tonfall aufzugreifen: Oh, über diesen vermaledeiten Verfremdungseffekt!

Genüsslich wird ein Mer(c)k-Satz zitiert: Dieses ganze Stück sei „Quark“. So verwarf Goethe-Mentor Johann Heinrich Merck seinerzeit den „Clavigo“. Der Regisseur nimmt’s als Lizenz, den Text zu zerlegen. zerlegen. Er behandelt die Tragödie als gesunkenes Kulturgut, nur noch tauglich für ein B-Movie oder ein TV-Melodrama. Da geraten selbst die klassizistischen Figürchen, die anfangs auf ihren Podesten standen, ins trollhafte Tänzeln.

Mit kindlicher Beschwörungslust reagiert die Regie auf bloße Stichworte. Ist vom Blitz die Rede, schlägt er gleich ein. Geht’s um spanische Momente im Leben, so ertönen Flamenco-Akkorde. Wer wollte sich bei all dem noch um die feineren Regungen der Figuren kümmern? Sie sind ja eh in erster Linie Marionetten ihrer schalen Interessen.

Dramaturgische Schlaumeierei erobert die Bühne

Der totenbleiche, vampiristische Zyniker Carlos (Fabian Krüger), der dem Freund Clavigo die Karriere-Geilheit einflüstert und sich zum Spielleiter aufschwingt, scheint homoerotisch getönte Neigungen nur notdürftig zu bemänteln. Auf der anderen Seite sieht es so aus, als begehre Beaumarchais seine Schwester Marie inzestuös.

Hier wird die Dramaturgen-Schlaumeierei eines Programmhefts mitinszeniert: Ausführlich kann der französische Revolutions-Anreger und „Figaro“-Textautor Beaumarchais darlegen, wie schändlich er sich von Goethe im Stück verwurstet fühle. Ein zwielichtiger Gewährsmann. Auch wird Goethe vorgehalten, was in historischer Wirklichkeit aus den Figuren geworden ist ganz so, als dürfe Dichtung nicht Wahrheit verwandeln.

Wallende Vorhänge, ein Boden mit apartem Gittermuster (Bühnenbild: Chantal Wuhrmann, Andy Hohl); dazu allerlei schöne Figuren-Tableaus: Die Aufführung hat vielfach den Reiz eines Gemäldes. Doch sobald sie sich bewegt und sich in teilweise geckenhaften Kostümen (Rudolf Jost) erhitzt, neigt sie zur Überzeichnung und gerät aus den Fugen, Wenn etwa Marie (Lena Schwarz) sich erregt, dann mit wahnwitzigen Zuckungen (was schelmische Anwandlungen im nahezu selben Moment nicht ausschließt).

Im Suff Worte wie „Pissnelke“ und „Titten“ lallen

Überhaupt ist das antikisierende Gehäuse, das die Beaumarchais-Schwestern Marie und Sophie einzwängt, ein Tollhaus für Farce und Randale. Hausfreund Buenco (Johann von Bülow) säuft und nölt, darf Worte wie „Pissnelke“ und „Titten“ lallen und so dem Überdruss prollig-punkigen Ausdruck verleihen. Lustig, lustig – aber viel zu hoch dosiert.

Den Tod Maries und Clavigos Krokodilstrauer erlebt man nur als überdimensional irrlichterndes Schattenspiel. Goethes „Erbe“ erschleichen und dann so achtlos verschleudern; Geister beschwören, Geist verscheuchen. Da fahre doch ein Donnerwetter hinein!

Termine: 28. Mai; 1., 21., 24. Juni. Karten: 0234/3333-111.




„Ich bereue gar nichts“ – Gespräch mit dem scheidenden Ruhrfestspiel-Intendanten Hansgünther Heyme

Von Bernd Berke und Arnold Hohmann

Recklinghausen. Seit 1990 leitet er die künstlerischen Geschicke der Ruhrfestspiele. Jetzt absolviert Hansgünther Heyme seine 13. und letzte Saison in Recklinghausen. Über das Ende dieser Ära, die Zukunft der Festspiele unter dem Dach der RuhrTriennale und über seine persönlichen Vorhaben sprach die Westfälische Rundschau (WR) mit dem Theaterchef.

WR: Spüren Sie so etwas wie Abschiedsschmerz?

Hansgünther Heyme: Eigentlich nicht. Obwohl die künstlerischen Verluste durch die von Gerard Mortiers Gnaden gestoppten Projekte wie „Saul“ spürbar sind. Das hat uns ganz hart getroffen. Insofern ist es auch ein Schmerz: Denn das, was wir in Zusammenarbeit mit Mortiers RuhrTriennale machen wollten, ist fehlgeschlagen. Trotzdem haben wir ein gutes Programm. Und meine Zeit in Recklinghausen war insgesamt gut und sinnvoll. Ich bereue gar nichts.

Die Abgründe der NRW-Kulturpolitik

WR: Haben Sie schon persönliche Pläne für die nächsten Monate?

Heyme: Noch nicht viel Konkretes. Es gibt da ein „Prometheus“-Filmprojekt, gemeinsam mit dem Autor Christoph Hein. Ansonsten ist es wegen der Geldknappheit die mieseste aller Zeiten, um wieder ins „freie Wasser“ zu springen. Es ist fürchterlich, dass die Landesmittel für Theater jetzt weiter gekürzt werden. Also, die Kulturpolitik des Landes ist für mich sowieso ein Abgrund. Ganz furchtbar! Ich bin ja einer der alten Kämpen, die sich immer für die Theater der Region eingesetzt haben. Es gab Konfrontationen mit Rau, mit Clement. Daher bin ich gestählt in Gefechten mit Düsseldorf. Und wir haben sehr viel ‚rausgeholt, oder wir haben das Schlimmste verhindert. Aber jetzt ist es noch viel schlimmer. Die „Schlachten“ mit Herrn Vesper (NRW-Kulturminister, d. Red.) müssten geschlagen werden – und zwar ganz groß, von allen Intendanten.

WR: Spüren Sie die Konkurrenz der diesmal zeitlich parallelen RuhrTriennale?

Heyme: Oh ja, sehr. Wir schaffen das zwar; aber nur, weil wir früher mit dem Vorverkauf begonnen haben. Als die bei der Triennale aufgewacht sind, hatten wir bereits viele Karten abgesetzt. Die Auslastung liegt bei 70 Prozent. Aber mit der Triennale ist es derzeit ein feindliches Gegeneinander, kein Miteinander. Auch der Spielplan der „Akzente“ in Duisburg ist eindeutig gegen Recklinghausen gerichtet, denn das Land hat das Zusammengehen der Revierfestivals unter dem Titel „T 7″ zerschmettert. Vernünftige Absprachen zwischen den Festivals gibt es seitdem nicht mehr. Aber man darf nicht nur die Triennale bezichtigen, das wäre lächerlich. Die Krise reicht tiefer: Die Menschen geben nicht mehr so leicht Geld für Theater aus.

„Mortier hatte vom Revier keine Ahnung“

WR: Wie geht es wohl weiter mit den Ruhrfestspielen?

Heyme: Ich wünsche den Ruhrfestspielen die Anwesenheit derer, die hier die Zukunft gestalten. Wenn die aber nie da sind, wird es schwierig. Außerdem hoffe ich, dass eine Art von politischer Theaterarbeit fortgesetzt wird. Frank Castorf (designierter Ruhrfestspiel-Chef, d. Red.) ist das zuzutrauen. Was Mortier betrifft: Wenn die nächsten Ruhrfestspiele beginnen, ist der schon gar nicht mehr da, sondern in Paris. Er kam damals von Salzburg und hatte keine Ahnung, wie teuer es ist, große Hallen im Ruhrgebiet zu bespielen. Teurer jedenfalls, als gemachte Betten in Salzburg zu lüften…

WR: Droht bei den Ruhrfestspielen ein Vakuum?

Heyme: Ja, natürlich. Der eine künstlerische Leiter geht, der andere ist noch nicht da. Dabei müsste Castorf längst am neuen Spielplan arbeiten und die hiesigen Strukturen kennen lernen. Bei mir hat er sich bisher nicht erkundigt.

WR: Haben Sie die Mensehen im Ruhrgebiet so erreicht, wie Sie es wollten?

Heyme: Im Großen und Ganzen ja. Manchmal war es ein schweres Ringen. Fremdsprachige Produktionen sind selten ausverkauft. Aber es ist wichtig, dass diese Theatergruppen zu uns kommen.

WR: Bleiben Sie im Revier?

Heyme: Ich hab‘ Schwierigkeiten mit Städten, in denen ich mal gearbeitet habe. Nach meiner Essener Intendanz habe ich dort nie wieder eine Inszenierung gesehen. Mit Recklinghausen wird es auch so sein. Am liebsten würde ich im Ausland inszenieren. Griechenland. Spanien. Weg vom deutschen Mief.