Auf dem Wege zum Urbild – Alexej von Jawlensky und einige Zeitgenossen in Duisburg

Von Bernd Berke

Duisburg. Für hiesige Museumsbesucher ist Alexej von Jawlensky (1864-1941) wahrlich kein Unbekannter: 1998 gab es eine reich bestückte Retrospektive am Dortmunder Ostwall, sodann eine (wegen Fälschungs-Verdachtes) höchst strittige Schau im Essener Folkwang-Museum. Nun ist Jawlensky gleichsam noch ein Stück weiter nach Westen gewandert und im Duisburger Lehmbruck-Museum „angekommen“.

Hier hat man einen etwas anderen Ansatz gefunden, um den Meister der Klassischen Moderne zu präsentieren. Unter den 100 Exponaten stammen 48 von Jawlensky. Das ist kein Manko, im Gegenteil. Sinnfällig wird sein Werk auf den künstlerischen Kontext der Zeit bezogen. Dabei konzentriert man sich vornehmlich auf Jawlenskys Schweizer Jahre von 1914 bis 1921. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte der russische Künstler, der bis dahin in München lebte (wo er mit Franz Marc die Gruppe „Blauer Reiter“ gründete), Deutschland verlassen müssen.

Kontrast zur wilden Szene der Dadaisten

Zunächst siedelte er sich in einem Dorf bei Lausanne an, wo er in Isolation verharrte und hauptsächlich wehmutsvolle Einsamkeits-Blicke aus seinem Fenster malte. Dann aber zog es ihn in die äußerst fruchtbare Emigranten-Szene Zürichs. Vor allem die Dadaisten hatten sich dort versammelt und provozierten als eine Art wüster Spaß-Guerilla mit oft grotesken Aktionen das Bürgertum. In Duisburg beschwören u. a. phantasievolle Masken den kreativen Mummenschanz.

Über diesem quirligen Umfeld schwebte der schon etwas ältere Jawlensky als eine Art Vaterfigur, vielleicht nicht so ganz von dieser Welt. Hatte er in München noch farbglühende Landschaften und Porträts geschaffen („Spanierin“, um 1911), so begab er sich nun mit religiöser Inbrunst auf den Weg vom Abbild zum Urbild des menschlichen Antlitzes.

Asketisch schmale Lippen

Immer meditativer und ikonenhafter geraten nun die Serien der frontalen Gesichter, meist in suggestiver Nahansicht. Charakteristisch die strichförmig geschlossenen Augen und asketisch schmallippige Mundlinien. Auf früheren Bildern hatten diese erleuchteten Wesen noch gelegentlich groß geschaut (oder: das Jenseits ins Auge gefasst), doch auch da standen ihre Pupillen schon seltsam senkrecht, von mystischer Entrückung kündend.

Dies alles wäre schon eine Ausstellung wert, doch gibt es zudem erhellende Querbezüge. Bestens trifft es sich, dass der Duisburger „Hausheilige“ Wilhelm Lehmbruck damals gleichfalls eine Zeit lang in der Schweiz weilte und sich Vergleiche mit seinen Skulpturen anbieten; beispielsweise mit jener Plastik, die Lehmbruck nach dem Bilde der aussichtslos vergötterten Schauspielerin Elisabeth Bergner („Betende“, 1918) schuf.

Auch bei Lehmbruck wird ein Drang ins Jenseitige spürbar, der Impulse von Jawlensky bezogen haben mag. Vielleicht war ja unerfüllte Liebe ein beiden Künstlern gemeinsamer Sublimierungs-Quell, denn auch Jawlenskys langjährige Verbindung mit der Malerin Marianne von Werefkin gilt als zwiespältig und erotisch nebulös. Nun aber Schluss mit Spekulation und Tratsch!

Vergeistigung durch Krankheit

Fakt ist, dass die Duisburger auch einige Exponate aus dem dadaistischen Bereich (Hans Arp, Sophie Taeuber-Arp, Marcel Janco, Hans Richter) zeigen – sozusagen als fröhlich-chaotische Kontrapunkte, neben denen Jawlenskys spirituelle Wesensart umso deutlicher hervortritt.

Dem Streben Jawlenskys näher verwandt sind jene wundervoll sanftmütigen Arbeiten von Paul Klee oder die ebenfalls famosen Bilder des Schweizers Ferdinand Hodler, der z. B. immer wieder eine Freundin porträtierte – zunächst in der Blüte ihres Lebens, später von Krankheit gezeichnet. Eine tief betrübliche, vom körperlichen Verfall erzwungene Vergeistigung.

Jawlenskys Schweizer Jahre endeten 1921, als er von Ascona nach Wiesbaden umzog, weil dort seine Förderin Emmy Scheyer wohnte. Bis zu seinem Tod (1941) lebte er dort. Zunehmend von Arthrose (Gelenksteife) geplagt, konnte Jawlenksy in den 30er Jahren nur noch formal einfache Bilder hervorbringen. Keineswegs zynisch gemeint: Vielleicht kam dies seinem Hang zum stillen, frommen Schauen sogar entgegen.

Jawlensky in der Schweiz. Lehmbruck-Museum, Duisburg. Bis 9. September. Di-Sa 11-17, So 10-18 Uhr. Eintritt 6 DM, Katalog 48 DM.

 




Die Hysterie als Ausdruck unserer Tage – Mülheimer Dramatikerpreis an René Pollesch

Von Bernd Berke

Mülheim. Es war eine spannende Spätsitzung, die uns die Jury der Mülheimer Stücketage diesmal bescherte. Lange quälte sich das sechsköpfige Gremium, gleichsam das „Dramaturgische Sextett“, mit einem Patt herum (drei Stücke mit je zwei Voten). Erst weit nach Mitternacht durchschlug man den gordischen Knoten. René Pollesch mit seinem knapp einstündigen Stückchen „world wide web slums“ wurde per Punkt-Abstimmung denkbar knapp zum Dramatiker des Jahres gekürt.

Damit hat man dem Zeitgeist heftig gehuldigt. Es braucht offenbar nur einer „Internet“ zu rufen und eine wildwüchsige Szenenfolge zum schicken Thema abschnurren zu lassen; schon finden sich flinke Juroren wie Robin Detje (Süddeutsche Zeitung), welche die Hysterie als einzig taugliche Ausdrucksweise unserer Tage feiern. Sollte dieser Trend einreißen, so dürfte noch manches schrille Elaborat bevorstehen.

Das quasi durch Elfmeterschießen oder „Golden Goal“ erkorene Mini-Drama, das im Kostüm einer TV-Seifenoper über die Bühne fegt, hat freilich nur das Zeug zur flotten Comedy. Da mag man das „Rasende“ des Textes noch so preisen. er rattert und tuckert doch eigentlich nur. Wortreich und besinnungslos beschreit er den Verlust der Körperlichkeit in den Computer-Netzen.

Hart und schnell wird abgerechnet

In des Autors eigener Inszenierung, die in Mülheim zu erleben war und die dem eindimensionalen und gelegentlich gar infantilen Text das wütende Tempo erst aufzwingt, mag dies noch halbwegs angehen. Doch damit dürfte die Sache auch schon an der Oberkante angelangt und „ausgespielt“ sein. Andere Bühnen sollten sich davor hüten.

Das harte Ringen der Jury kam nicht von ungefähr, denn es war diesmal eine weitgehend homogene, ziemlich durchwachsene Auswahl. Die Autor(inn)en der acht Beiträge, allesamt in den 60er Jahren geboren, haben fast durchweg ein neues Tempo ins deutsche Drama gebracht. Offenbar angestachelt von anglo-amerikanischen Vorbildern und den Benutzer-Oberflächen elektronischer Medien, wird hart und schnell mit dem ach so schrecklichen Dasein des Menschen abgerechnet.

Jury-Mitglied Susanne Schneider (ihres Zeichens Autorin) sprach vom „Triumph der kleinen Form“. Inhaltlich traf der ansonsten durch Arroganz glitzernde Robin Detje einen Kern: „Dramatiker, die über Selbstmord schreiben, wähnen sich offenbar schon auf der sicheren Seite.“

Lebensüberdruss gerät zum Lachstoff

Tatsächlich sah man in Mülheim etliches Elend und mancherlei Lebensüberdruss, der allerdings vielfach als Treibstoff für galgenhumoriges Lachtheater diente. Eine merkwürdige Mixtur. Achtbare Ausnahmen waren Moritz Rinke, der mit „Republik Vineta“ einen großen Entwurf im traditionellen Tonfall des Konversations-Theaters unternahm, und Roland Schimmelpfennig mit seinem zartsinnigen Traumspiel „Die arabische Nacht“, das denn auch bis kurz vor Schluss in der Jury-Debatte blieb.

Rasch aussortiert hatte man hingegen Igor Bauersimas „norway.today“, jenes mit suizidalen Gedanken zwar spielende, jedoch mit hier höchst seltener Hoffnung durchwirkte Drama, das die Publikumsstimme erhielt. Vielleicht ein Signal, auf das man hören sollte: Offenbar mögen sich selbst so versierte Zuschauer wie jene bei den Stücketagen nicht allzeit mit der ganzen Schwärze des Lebens befrachten lassen.

 




Ganz gierig auf die Wirklichkeit – Retrospektive von David Hockney in Bonn

Von Bernd Berke

Bonn. Selbst wenn dieser David Hockney einen simplen Stuhl malt, wird das Bild zum Ereignis: Das Objekt scheint auf den Betrachter zuzustürzen, es begrüßt ihn freudig.

Der berühmte Brite (Jahrgang 1937) mit kalifornischer Wahlheimat gebietet derart raffiniert über Perspektiven und Bildräume, dass einem die Objekte unfassbar nah rücken. Jahrzehnte lange Studien im historischen Bestand, von der Renaissance-Malerei bis zu Picasso, haben den Boden für atemberaubende Kunstfertigkeit bereitet.

Allein Hockneys grandios „inszeniertes“, über sieben Meter breites Panorama vom Grand Canyon würde einen Besuch in der Bonner Bundeskunsthalle lohnen, wo jetzt eine bundesweit bislang beispiellose Werkschau mit fast 100 Gemälden zu sehen ist.

„A Bigger Grand Canyon“ (1998) ist ein ungeheuer starkfarbiges Riesenformat, bestehend aus 60 Einzeltafeln. Hier können die Blicke wahre Wanderungen unternehmen, weil es so viele perspektivische Fluchtpunkte gibt. Da ist es, als liege die ganze volle Welt vor einem ausgebreitet.

Grandioses Gebirgspanorama

Das Gebirgs-Panorama überbietet jede Fotografie und ist eine phantastische Feier des Wirklichen. Dazu passt das Motto der Schau: „Exciting times are ahead“ – „Erregende Zeiten liegen vor uns“; ein Satz, in dem frohe Lebensgier mitschwingt.

Vielfach ist Hockney als etwas oberflächlicher Pop-Artist verkannt worden, als Maler der Leichtigkeit des Seins an kalifornischen Swimmingpools. Diese machen aber nur einen Bruchteil seines Schaffens aus und erweisen sich zudem als subtile Studien zu Zeit- und Raum. Kräuselungen des Wassers vor, beim und nach dem Sprung ins Nass machen das Verrinnen der Sekunden bewusst.

Von wegen Pop-Art. Hockney hat schon in den 60er Jahren Distanzierungen in die Bilder eingebaut. Als Jasper Johns bunte Zielscheiben malte, reagierte Hockney mit einer spiralförmig sich windenden Schlange. Botschaft: So leblos wie eine Zielscheibe muss Kunst nicht sein.

Vom Dackel bis zum Musentempel

Hockney gibt freilich die atmosphärische Essenz beispielsweise des Olympic Boulevard in Los Angeles (1964) oder eines Bungalows in Beverly Hills (1966) derart genau wieder, dass solche Bilder zu Pop-Ikonen wurden. Mit seinen Arbeiten der 70er, in denen er unterschiedlichste Stilelemente kombiniert, könnte Hockney auch als Anreger der „Postmoderne“ und ihrer zitatenreichen Spiele gelten. In diesem unbekümmerten Kontext erlangen gar seine beiden Dackel serielle Bildwürdigkeit.

Auch frühe „Love Paintings“ (ab 1960) sind zu sehen. Hier hatte es Hockney (zuerst verschlüsselt) gewagt, seine Homosexualität zum Thema zu erheben – auf dem Grat zwischen Abstraktion und Figur. Wohlgemerkt: Seinerzeit wurde diese Neigung noch strafrechtlich verfolgt.

Am hellsten aber leuchten eben doch neuere Schöpfungen wie diese: Landstraßen durchs liebliche Yorkshire winden sich so, dass man sozusagen die langsame, entspannte Fahrt verspürt – die Lust am Dasein und seinen Farben. Oder: Eine zum Museum gewordene Salzfabrik ragt glorios strahlend auf wie ein Tempel. Die Kunst und ihre Herbergen sind für einen Hockney eben das Höchste zwischen Erde und Himmel.

Bundeskunsthalle Bonn (Museumsmeile). Bis 23. Sept. Di/Mi 10-21, Do-So 10-19 Uhr. Eintritt 12 DM. Katalog 49 DM




Das Leben ist schlimm – und man lacht sich kaputt: Texte von René Pollesch, Sibylle Berg und Roland Schimmelpfennig bei „stücke 2001″

Von Bernd Berke

Mülheim. Der Mülheimer Dramatikerwettbewerb „stücke 2001″ bietet diesmal eher Bruchstückchen. Zeit und Welt werden als Scherbenhaufen besichtigt – und das geht meist unter zwei Stunden ab.

Drei weitere Texte, allesamt kurz, knapp und vorwiegend knackig, sind diese Woche ins Rennen um den Dramatikerpreis (Entscheidung am Sonntag) gegangen. Sieben von acht Bewerbungen sind damit „über die Bühne“, und es drängt sich ein Favorit auf.

Doch der Reihe nach: René Polleschs kunterbunt illustriertes Cyberspace-Drämchen „world wide web-slums“ eröffnete die zweite Halbzeit der Stücketage. Es gastierte die Hamburger Inszenierung, Regie führte der Autor.

Zwischen Schaumgummi-Schaukeln, Jukebox und Kletterwand turnen vier seelisch verwahrloste Internet-Freaks beiderlei Geschlechts munter umher. Im ratternden Techno-Tempo schnatternd, beklagen sie den Verlust ihrer Körperlichkeit in der Computerwelt.

Sie fühlen sich immerzu deplatziert („Es gibt keine coole Firma“), fürchten, dass man ihnen Computer-Chips unter die Haut gepflanzt habe und dass ihre Gesichter zu „Displays“ geworden sind. Technisch verquere Folge: Wenn’s diese Figuren miteinander treiben, kommt doch nur ein Kaufakt via Internet dabei heraus.

Mit solchen Angst-Visionen hechelt der Text dem rasenden Zeitenlauf hinterher. Er kleidet sich ins Gewand einer TV-Seifenoper und lädt famosen Wortmüll ab. So witzelt man sich durchs Elend. Endzeit in der Spaßgesellschaft. Man lacht sich kaputt übers ach so schlimme Leben. Es reicht aber nur für quicke Comedy.

Auch im Hochhaus kann ein poetisches Märchen beginnen

Auch Sibylle Bergs Beitrag „Helges Leben“, dargeboten vom Bochumer Schauspiel (Regie Niklaus Helbling), bewegt sich in lachlustigen Sphären, dem finalen Anlass zum Trotze.  Denn hier ist die Menschheit längst vollends „erledigt“. Jahre oder Jahrhunderte später: Putzige Tierchen (Tapir, Rehlein, Schnapphamster) gönnen sich ein Pläsierchen. Sie lassen sich von „Frau Gott“ und dem Tod (starke Rockmusik-Nummem: Erika Stucky und „Sina“) in einen Film über das rundum misslungene menschliche Leben jenes Helge versetzen.

Solch ein Negativ-Abzug zwischen Geburts- und Sterbe-Schmerzen ist flugs fertig. Glaube, Liebe, Hoffnung lassen sich wohlfeil denunzieren. Immerhin blitzt hier dann und wann die vage Ahnung eines besseren Daseins auf, zudem ist das Ganze sprachlich gefeilt. Ein Wechselbad: Über dem allzu flott festgestellten Elend der Gattung werden Spaße ausgegossen, dahinter flackert Verzweiflung. Manche halten’s für „Kult“, das Stück hat gar einen Fanclub.

Schließlich doch noch ein inniger Theatertraum: Roland Schimmelpfennigs „Die arabische Nacht“, vielerorts nachgespielt, war in der Leipziger Fassung zu besichtigen (Regie Franziska-Theresa Schütz). Weit spannt sich die Phantasie dieses Stückes zwischen einem zehnstöckigen Mietshaus und orientalischen Basaren aus. Hier ist die Welt nicht gleich fraglos verendet, sondern wundersam verwunschen. Selbst das Missliche, Brutale wird poetisch aufgehoben in diesem Märchen. Alles ist da: Liebeswünsche, Verlorenheit, Eifersucht, Mord. Doch die Vorfälle werden in ein anderes, dem Theater gemäßes Fluidum getaucht.

Ein solcher Text steht inmitten der gängigen Blut- und Samen-Dramatik (mitsamt ihren grotesken Varianten) ziemlich einzig da. Preiswürdig!




Sehnsucht des Fleisches – Patrice Chéreaus Film „Intimacy“

Von Bernd Berke

Immer mittwochs um zwei Uhr nachmittags besucht Claire den Barmixer Jay in dessen schäbiger Behausung. Hastig ziehen sie sich aus. Eine Zeitlang treiben sie’s wild miteinander. Bis zur Erschöpfung krallen sie sich ins Fleisch des Anderen. Ein existenzieller Vorgang. Doch danach geht sie wieder fort. Bis zur nächsten Woche.

Dieser Sex wird durch aufregende Anonymität befeuert. Doch in Patrice Chéreaus „Intimacy“ ist Fleischlichkeit nicht das Ziel allen Begehrens, sondern nur der Beginn. Der mit dem goldenen Berlinale-Bären gekrönte Film spürt dem Ungenügen an der bloßen geschlechtlichen Gier nach und sucht geradezu verzweifelt Wege, die von der schieren Lust zur Liebe führen könnten. Noch im wüstesten Getümmel der Körper nistet die kaum stillbare Sehnsucht, jemandem wahrhaftig anzugehören.

Sex lieber als Rausch denn als Fitness-Übung

Jay (Mark Rylance), aus eigenem Antrieb von Frau und Kindern getrennter Kettenraucher mit stets müden Augen und Bartschatten, ist der Welt überdrüssig. Sein einziger Fixpunkt sind jene Sextreffs mit Claire (Kerry Fox). Ihre Geschlechtsakte vollführen sie heftig, ernst und schweigsam. Wie innig ihr Tun ist, merkt Jay erst so recht, als er es mal mit einer Anderen probiert. Die erweist sich als Lifestyle-Schwätzerin, die den Sex für ihre Fitness einplant. Dann doch lieber den Rausch…

Zugleich wächst Jays Drang, mehr von Claire zu wissen. Eines Tages geht er ihr heimlich nach und findet heraus, dass sie abends in einem Kellerlokal Theater spielt – ausgerechnet das körperlich wie seelisch so zerbrechliche Mädchen Laura in Tennessee Williams‘ Stück „Die Glasmenagerie“. Jay kommt – für Claire von der Bühne aus nicht sichtbar – nun fast zu jeder Vorstellung. Er fragt ihren ahnungslosen Mann, einen Taxifahrer, nach ihr aus, scheint sich gar mit ihm anzufreunden. Eine Heimtücke, die später für bewegende Szenen sorgen wird, wenn dieser so gründlich betrogene Tropf die Wahrheit erfährt. Ein Untröstlicher mehr auf Erden.

Diese unruhigen Menschen im Transit-Zustand

Am Ende hat freilich niemand unmittelbar „gewonnen“. Sie alle haben eine lastende Erfahrung mehr, doch vielleicht auch die Aussicht auf ein ehrlicheres Leben. Etwaige Verbindungen sind noch mehr als zuvor gelöst; doch gelöst im Sinne größeren Freimuts tritt man diesem Befund nun auch entgegen.

Der in manchen Passagen mitreißende, gelegentlich etwas arg aufs Chaos versessene Film (er suhlt sich in Desaster, Suff und Drogen) zeigt allemal Menschen, die aus festen Zusammenhängen heraus geschleudert sind: Figuren im Transit-Zustand. Schon ihre Berufe (Barmixer, Taxifahrer, Schauspielerin) stehen für nächtliche Unbehaustheit.

Bisweilen führen ihre unebenen Wege ins seelische Niemandsland. Claires Theater-Freundin Betty (lächelnde Weisheit in Person: Marianne Faithfull) sagt, sie habe vor vielen Jahren den Tag durchlitten, an dem sie gleichsam selbst gestorben sei, weil eine große Liebe endete. Seither mache sie eben weiter mit dem Leben. Schmerzvoll zwar, doch auch gefasst.

Etliche Reißschwenks der Kamera vermitteln ansonsten innere Unruhe, ein rasendes Stolpern durchs schattenhafte Dasein. Gegen den Mahlstrom wehren sich die Menschen mit Ritualen, Eine Frau in Jays Bar bestellt seit Jahren immer den gleichen Drink, möchte jedoch stets gefragt werden, was sie denn diesmal wünsche. Weil sie wenigstens die Illusion von Selbstbestimmung haben will.




Leise kommt der Jammer – Jürgen Kruse inszeniert Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Da hat man vorher gewettet, welche Schätze der Regisseur Jürgen Kruse diesmal aus Rock- und Pop-Archiven heben würde, um sie mit ordentlichen Dezibel-Werten von der Bühne schallen zu lassen. Doch an dem fast vierstündigen Abend kommt es ganz anders.

Zwar setzt Kruse auch diesmal allerlei Musik (von Brenda Lee bis zu den Byrds) ein, doch nur als weiche Einbettung für den Text, den er mit großem Respekt vor dem Wortlaut inszeniert hat.

Auf dem Plan steht Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ (Uraufführung 1949), jenes tragische, manchmal auch ein klein wenig sentimentale Spiel vom Scheitern des „kleinen Mannes“ und seines amerikanischen Traums vom ungehinderten Fortkommen.

Ärmliche Wohnung in Brooklyn; lauter noch nicht abbezahlte Ratenkäufe. Trotzdem wirken die Möbel schon aufgebraucht. Wie in eine Puppenstube schauen wir in die zwei Etagen dieser Behausung (Bühnenbild: Steffi Bruhn). „Draußen“ dräut eine Hochhaus-Silhouette, man hört hektisches Hupen. Keine gute Gegend. Links von der Bühne, grinst „Uncle Sam“, der das Dach von einem Hause hebt und so in die Privatsphäre dringt.

Den Träumen folgen keine Taten mehr

Hierher kehrt der Handlungsreisende Willy Loman (stille Größe im Leid: Jürgen Rohe) von einer kläglich erfolglosen Verkaufstour zurück. Er trägt einen verschlissenen braunen Anzug. Der Mann spricht leise, mit brüchiger Stimme, die Schultern hängen herab. Sein ganzes Wesen ist nur noch ein mühsam wankendes Aufrecht-Erhalten, steifbeiniger Rest einer längst verbrauchten Würde. Ein Satzfetzen wird immer wieder gemurmelt: „Waagerecht oder senkrecht“. Ja, das ist hier die Frage: Wie sich einer im Kreuzworträtsel des Lebens noch behaupten kann, wenn alle Felder falsch ausgefüllt sind.

40 Jahre lang hat Willy der Firma gedient, nun kann er nicht mehr. Die beschädigten Träume ergießen sich nicht mehr in Taten, sondern bloß noch in (Selbst-)Gespräche. Phantasien von Großartigkeit („Ich bin überall beliebt“) wechseln mit Jammer („Man findet mich lächerlich“). Was einst Selbstentwurf war, ist nur noch Selbstbetrug und mündet schließlich in Selbstaufgabe. Ein „Versager“ in den Zeiten des Börsenwahns. Rings um ihn verdichtet sich ein simultanes Geisterspiel, eine Art „Gespenstersonate“. Die Traumlicht-Erscheinung des „im Dschungel“ reich gewordenen Bruders Ben (Ralf Dittrich) lockt Willy ins gefährlich Ungefähre.

Kruse lässt Millers Text in aller Ruhe dahin rinnen, er zerfleddert nichts, sondern lotet leise, umsichtig und mitleidend aus. So sehr hat er sich als Regisseur zurückgenommen, dass man gelegentlich gar ein paar rhythmische Akzente vermisst, die den Energiefluss stauen und wieder freisetzen könnten.

Am Ende tobt sich doch noch die Spaßgesellschaft aus

Präzise sezieren Kruse und seine Darsteller auch das freilich nicht rein „private“ Familien-Syndrom der Lomans: Da ist Linda (Veronika Bayer), die ihren Mann, trotz all‘ seiner Schwächen liebt, eine Heroine des Alltags im Morgenrock; da sind die Söhne Biff und Happy (Patrick Heyn, Johann von Bülow), noch jugendlich hitzig und albern, doch auch schon gebrachen. In ihrem Widerspiel mit dem Vater spürt man schaudernd die allzu kurze Spanne des Lebens: kaum gehofft, schon halb gescheitert. Generation für Generation.

Und die Musik? So behutsam verwendet wie hier, nimmt sie Stimmungen auf und trägt sie sanft weiter. Nur ganz am Schluss dröhnt, nach Willys Autounfall-Tod, eine Party mit dem „Starfucker“ der Rolling Stones. Fühllos stampft die Generation der Lebensversicherungs-Erben übers triste Schicksal des Handlungsreisenden hinweg. Da tobt sich die Spaßgesellschaft im Jugendwahn aus.

Frenetischer Beifall für alle.

Termine: 28. Mai, 17., 25. Juni. Karten: 0234/3333-111.




Monumente einer milden Harmonie – Claus Bury zeigt seine architektonischen Visionen in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Es sieht aus wie das Modell einer Stadt für die „Ewigkeit“. Da hat einer allerlei architektonisches Vokabular zwischen Babylon und Altägypten, Azteken-Bauten und so genannter Postmoderne durchgespielt.

Der Modellbauer, dessen Einzel-Entwürfe hin und wieder realisiert werden, heißt Claus Bury, wurde 1946 geboren und lehrt Grundlagen architektonischer Gestaltung an der Gesamthochschule Wuppertal. Jetzt stellt er seine zwischen 1980 und 2001 entstandenen Kreationen im Von der Heydt-Museum aus.

Damit man sich die vom Künstler imaginierten Dimensionen vorstellen kann, stehen im Museum Menschenfigürchen vor und zwischen all den Modellen von Torbögen, Pyramiden, Brücken, Säulen und Treppen. Manchmal wirken diese Menschlein ganz verloren im Monumentalen, oft aber auch gleichsam aufgehoben im großen Ganzen. Vielleicht stehen ja gar religiöse Vorstellungen dahinter. Zumindest spürt man eine Aura, die über den Zeiten und Individuen schwebt. Geometrische Maßverhältnisse wie der Goldene Schnitt oder baulich umsetzbare mathematische Zahlenreihen sind halt nicht an Tag und Stunde gebunden.

Gemeinschaftstaugliche Skulptur

Doch die Visionen sollen auch im Hier und Heute verankert sein: Bury begreift Architektur nicht zuletzt als soziales Phänomen, als gemeinschaftstaugliche Skulptur, die nicht nur frommen, sondern auch nutzen möge. Davon zeugt u. a. das Modell eines in viele Kammern gegliederten Theater- und Kinozentrums, das in Duisburg entstehen könnte. Wer glaubt, Bury ergehe sich in prekärer Imponier-Architektur nach Art des NS-Baumeisters Albert Speer, der irrt. Für friedliche, gelassene Anmutung sorgt schon das Material, nämlich mild duftendes Holz. Das Naturprodukt ist vergänglich, es verwittert. Schon manche Bury-Schöpfung, die sich im Freien erhob, musste alsbald wieder demontiert werden. Also doch kein Ewigkeits-Anspruch…

Überhaupt hat’s Bury auch mit der Natur. Baut er eine Brücke, so denkt er beispielsweise an die Form eines Fisches. Oder er schmiegt seine Konstruktionen in Gartenlandschaften ein. Bury erstrebt eine Kontemplation und Harmonie, die weit über den Moment hinaus weist.

Vom Heuhaufen zur dorischen Säule

Wahrhaft grandios der Eindruck jenes Raumes, in dem die meisten der insgesamt 59 Holz-Modelle (Maßstäbe von 1:10 bis 1:200) den erwähnten Eindruck einer Stadt vermitteln. Da ergeben sich zahllose Blickachsen. Monumentales wirkt bei Bury stets gefällig, niemals aggressiv, verstörend oder auch nur befremdlich. Gerade das macht jene Kunstkenner, die sich gerne irritieren lassen, misstrauisch. Rasch erheben sie den Vorwurf, hier liefere einer lediglich hübsches Design. Schaut man genauer hin, so nimmt man freilich fragile Balancen und Stufungen wahr. Die architektonischen Phantasien erweisen sich denn doch als sinnreich ausgeklügelt.

Auch die Mühen der Vorbereitung werden dokumentiert: Man sieht penible Skizzen sowie Burys Fotografien, die auf einige Inspirationsquellen hindeuten – vom traditionellen bäuerlichen Heuhaufen bis dorischen Säule, vom Schornstein bis zur Pyramide. Wie Burys Arbeiten auf freiem Felde wirken, kann man nun gleichfalls in Wuppertal (Südstraße) ermessen. Hier entstand die dreieinhalb Tonnen schwere, 12 Meter lange Lärchenholz-Brückenplastik „Elastisch – Schwebend“. Sie greift Formen der Umgebung auf und versetzt sie zugleich in ungeahnte Schwingungen.

Claus Bury -Spannungsbogen. Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Elberfeld, Turmhof 8). Bis 22. Juli, Di-So11-18, Do 11-20 Uhr. Katalog 48 DM.




Ruhr-Triennale: Die Euphorie steckt alle an – Kultur-Prominenz diskutierte in Duisburg

Von Bernd Berke

Duisburg. Eigentlich wollten sie über das Globalthema „Das Festival im 21. Jahrhundert“ reden. Aber die hochkarätige Runde im Duisburger Lehmbruck-Museum kreiste denn doch fast nur um „das Eine“: die „Ruhr-Triennale“.

Kein Wunder: Triennale Chef Gérard Mortier saß mit auf dem Podium. Er bat um Geduld: „Richard Wagner hat 20 Jahre lang nachgedacht, bevor er die Bayreuther Festspiele gründete. Gebt mir wenigstens noch Zeit bis Ende dieses Jahres.“ Denn natürlich lechzte man auch hier wieder nach Details zum Festival, welches ab 2003 das gesamte Revier leuchten lassen soll. Manche richten ja geradezu messianische Hoffnungen auf Mortier.

Besonders vorurteilsloses Publikum

Der revanchiert sich mit flammenden Komplimenten. In höchsten Tönen preist er das Ruhrgebiet, das ihn als „sozial-kultureller Raum“ fasziniere. Hier gebe es ein vorurteilsloses Publikum: „Die Leute glauben nicht, schon alles zu wissen.“ Also lasse sich hier das bildungsbürgerliche Inventar („Kanon“) viel besser durchrütteln als andernorts.

Die prominente Kritikerin Sigrid Löffler (ehemals beim „Literarischen Quartett“), die Mortiers Verdienste bei den Salzburger Festspielen bestens kennt, hegt gleichfalls großeErwartungen. Ein solches Festival brauche „eine magnetische Grundidee und eine magnetische Persönlichkeit“. Beides scheine bei der Triennale der Fall zu sein. Diese könne dem Revier einen ungeheuren Zuwachs an „Urbanität“ bescheren, denn Mortier stehe für aufregende ästhetische Herausforderungen.

Zum Leidwesen des Moderators Dietmar N. Schmidt (NRW-Kultursekretariat), der die verbreitete Triennale-Euphorie höchst skeptisch betrachtet, gibt sich auch Jürgen Flimm (Regisseur und Präsident des Deutschen BühnenVereins) zuversichtlich. Er sehe der Triennale mit „neugieriger Solidarität“ entgegen.

„Eine gute Idee findet ihr Geld“

Die Triennale, so Flimm weiter. werde die Kultur wohl ganz allgemein aufwerten und auch bestehenden Bühnen Nutzen bringen. Diese dürften sich allerdings nicht auf alten Lorbeeren ausruhen, sondern müssten sich mitreißen lassen vom neuen Schwung. Manche Sorgen seien kaum angebracht: „Es ist noch kein Stadttheater wegen eines Festivals geschlossen worden.“

NRW-Kulturminister Michael Vesper (Grüne) konnte sich also beruhigt zurücklehnen. Mit dem Slogan „Eine gute Idee findet ihr Geld“ versicherte er abermals, das Festival werde aus zusätzlichen Mitteln bestritten (im Jahresschnitt 40 Mio. DM). Da bleibt auch Norbert Lammert, dem kulturpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, nur noch Optimismus übrig: Das Revier besitze viel Kulturvolumen, aber noch nicht genug kulturelle Strahlkraft. Da komme ein solches Festival – auch im „Wettbewerb der Provinzen“ mit der Hauptstadt Berlin – gerade recht.

Eindeutiges Fazit: Friede – Freude – Triennale.




Der Diener aller Herren – Ruhrfestspiel-Doppelpremiere: Heyme verknüpft Shakespeare mit Goldoni

Von Bernd Berke

Recklinghausen. So mies können Menschen sein: Immer wieder spucken sie hier verächtlich voreinander aus. Hansgünther Heyme untersucht mit seiner Ruhrfestspiel-Doppelpremiere (Stücke von Shakespeare und Goldoni) Herr- und Knechtschafts-Verhältnisse. Die Figuren, denen man befremdet zuschaut, sind meist abgebrühte Interessenvertreter ihrer selbst, daher oft auch Überläufer und Verräter. Taktik rangiert allemal vor unverstelltem Gefühl.

Shakespeares „Der Kaufmann von Venedig (um 1596) wird vom Teatro de La Abadia in spanischer Sprache (mit Übertiteln) gegeben, Carlo Goldonis Komödie „Der Diener zweier Herren“ (1746) firmiert als Koproduktion mit dem Luxemburger Nationaltheater. Bei beiden Stücken, die am Sonntag im über fünfstündigen Doppelpack verabreicht wurden, führt Heyme Regie.

Der Festspielchef hat in den 150 Jahre auseinander liegenden Texten, die beide (teilweise) in Venedig spielen, etliche Ähnlichkeiten erblickt. Geld regiert hier wie dort die Welt. In beiden Fällen verkleidet sich eine Frau als Mann, um ihre Heirats-Interessen durchzusetzen. Juristische Finten prägen jeweils die Beziehungen. Dem finalen Hochzeitsreigen beider Stücke traut Heyme auch nicht, er sieht bereits das laue Unglück auf die Paare zukommen.

Doch ganz besonders richtet er sein Augenmerk auf jene deklassierten Diener-Gestalten, die in den zwei Stücken zentrale Rollen spielen. Shakespeare auf Spanisch: Welch eine Hitze, welch‘ ein rollendes Rasen! Zwischen all den kühlen Kacheln des Spielorts (Schwarzkaue der Recklinghäuser Zeche Blumenthal/Haard) beginnen die Worte zu glühen. Wir sehen (zum Text durchaus passend) gespreizte Posen voller Pathos und offenem Machismo, wie sie auf hiesigen Brettern sonst kaum denkbar sind.

Auch Shylock ist keine Lichtgestalt

Heyme und die höchst präsenten Darsteller (fulminant: Carmen Machi, sozusagen als „Diener aller Herren“) stilisieren das Spiel kunstvoll. Tänzerisch und opernhaft scheint das Tun und Treiben jener eitlen Gecken, die dem Juden Shylock mit ihrer Verachtung so arg zusetzen, dass er sich mit dem Schuldschein rächen will: Bei Nichtzurückzahlung des geliehenen Geldes darf er dem Kaufmann Antonio ein Pfund Fleisch aus dem Leibe schneiden…

Spanier gehen mit dem prekären Stoff im Prinzip unbefangener um, als Deutsche dies je könnten. Doch Heyme hat große, einfühlende Sorgfalt auf die Figur des Shylock verwendet. Gabriel Garbisu spielt den jüdischen Geldverleiher im schneeweißen Anzug keineswegs als unschuldige Lichtgestalt. Man versteht aber, was ihn zu seinen Rachegelüsten treibt. Lieber bliebe dieser Shylock geschäftlich-rational. doch die Verhältnisse sind nicht so.

Wenn dieser Shylock am Ende zur christlichen Taufe genötigt wird, kläglich dem Becken entsteigt und unter eine Brause taumelt, so ist dies wohl gar ein furchtbarer früher Vorschein der Vernichtungslager. Und die gelbe Nase, die er bis dahin trug, hat schon auf den Judenstern verwiesen.

Eine solch pralle Aufführung, die derlei Abgründe bedenkt, ist eine Menge wert. Große Pause mit Paella, Pasta & Co.

Rotation im immergleichen Chaos-Tempo

Dann der Goldoni in deutscher Sprache. Was in der Shakespeare-Inszenierung als latente Gewalt spürbar war, hat sich nun verfestigt, die Aggression ist jederzeit sprungbereit. In einer Tonne stecken Degen, mit denen man gar häufig kämpft. Die Gesellschaft, deren Hierarchien Heyme mit brechtischem Blick diagnostiziert, ist noch fratzenhafter geworden.

Doch was im „Kaufmann“ noch elegant gezirkelt wirkte, kommt nun eher trampelig daher. Die Aufführung rotiert im fast immer gleichen Chaos-Tempo um eine ziemlich leere Mitte. Manche Zuschauer flüchteten vorzeitig. Gegen Schluss kann man’s kaum noch ertragen, wie die Protagonisten immer wieder heillos auf die Bühne stürmen und brachial frontal spielen.

Stellenweise ist’s bewegend, wie der alte Diener Truffaldino die hochnotpeinlichen Balanceakte zwischen seinen Herrschaften vollführt. Doch Ekkehard Schall, gleichsam der prototypische Diener aller Zeiten und Klassen, packt diese Rolle so sehr beim Schöpfe, dass er sie zu zerreißen droht. Er hat starke, ganz lichte, chaplineske und eben brechtische Passagen, doch überdreht er die Tourenzahl. Um ihn herum gibt’s manch‘ gewittriges Chargieren. So wild und bunt kann Langeweile aussehen.

Termine: Nur das Goldoni-Stück: 15, 16., 17. Mai (20 Uhr) / Goldoni plus Shakespeare:19., 20., 26., 27.Mai (17 Uhr). Karten 02361/9218-0.




„Kultur im Revier gehört nicht an den Katzentisch“ – Thierse und Clement auf Zeche Zollern zum „Kulturforum der Sozialdemokratie im Ruhrgebiet“

Von Bernd Berke

Dortmund. Ein „Kulturforum der Sozialdemokratie im Ruhrgebiet“ ist am Samstag in Dortmund gegründet worden. In kulturellen Grundsatzreden skizzierten zwei hochrangige SPD-Politiker den thematischen Rahmen: Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, zugleich Bundesvorsitzender der 1983 noch von Willy Brandt angeregten Kulturforen, und NRW-Ministerpräsident Wolfgang Clement.

Rund 300 Teilnehmer aus Kultur, Politik und Wirtschaft hatten sich im Westfälischen Industriemuseum (Zeche Zollern II/IV) in Dortmund-Bövinghausen versammelt. Thierse ermutigte die Dortmunder, mit dem Pfund dieser musealen Einrichtung zu wuchern, denn es sei wohl das deutsche Industrieareal, welches am frühesten unter Denkmalschutz gestellt wurde. Überhaupt sei historisches Bewusstsein eine Stärke des Reviers. Den „Mythos Ruhrgebiet“ habe er sogar zu DDR-Zeiten in Thüringen wahrgenommen. Also sei es an der Zeit, auch hier ein SPD-Kulturforum ins Leben zu rufen.

Ob das Forum zum Gesprächskreis zwischen Künstlern und Politikern gerät, ob es als kulturelle Lobby, als loses „Netzwerk“ antritt oder sich völlig anders entwickelt (2002 ist ein Bundestags-Wahljahr), das alles ist noch nicht ausgemacht.

Neuer Auftrieb nach dem Ende der Ära Kohl

Thierse wünscht sich jedenfalls, dass die Debatten der Kulturforen „ins Regierungshandeln einfließen“. Nur im offenen, beiderseitig kritischen Dialog mit Kulturschaffenden könne seine Partei „auf der Höhe der Zeit“ bleiben. Gerade im Strukturwandel, bei dem das Revier vorangegangen sei, eröffne Kultur neue Denkfelder, neue Handlungsorientierung. Sie werde immer wichtiger und gehöre „nicht an den Katzentisch, sondern ins Zentrum politischer Kommunikation.“ In der Kohl-Ära hätten sich Künstler und Intellektuelle vielfach auf unverbindliche Positionen zurückgezogen, doch „seit 1998″ – so Thierse – seien Kulturfragen auch bundespolitisch wieder nach vorn gerückt.

Ministerpräsident Clement schwelgte in einer Vision des Ruhrgebiets von morgen. Die Region bekomme einen „ganz neuen Rhythmus“, auch und vor allem kulturell. Gérard Mortier werde hier mit der „Ruhr-Triennale“ gewiss „das aufregendste Signal der Erneuerung setzen“. Die öffentliche Kulturfinanzierung begreife er, Clement, ohnehin nicht als „Subvention, sondern als Investition in die Zukunft“. Vom neuen SPD-Kulturforum erwarte er, dass es eine „Plattform der Kreativität“ werde.

Das Forum wird getragen von den SPD-Bezirken Westliches Westfalen und Niederrhein. Schon daran sieht man: Revier ist nicht gleich Revier. Clement sprach über die Provinzialstraße, jene in mancher Hinsieht kaum überwindliche Grenzen zwischen westlichem und östlichem Ruhrgebiet. Und auch Dortmunds Oberbürgermeister Gerhard Langemeyer setzte sich von der Idee einer übergreifenden „Ruhrstadt“ ab.




Nur ein leiser Nachklang der modernen Impulse – Arbeiten von Hermann Schweizer und William Straube im Kunstmuseum Ahlen

Von Bernd Berke

Ahlen. Beruhigende Nachricht: Von den Überschwemmungen in Ahlen ist das dortige Kunstmuseum vor Wochenfrist gänzlich verschont geblieben. Weder Haus noch Bilder haben gelitten. Also zeigt man wie geplant die Doppelausstellung über William Straube (1871-1954) und Hermann Schweizer (1910-1988).

Es ist „Moderne aus der zweiten Reihe“. Beide Künstler haben allenfalls mittlere Bekanntheit erlangt. Dem in Herdecke geborenen Hermann Schweizer kommt ein regionaler Wirkungsgrad zu. Sein Abitur machte er in Hagen, das Referendariat absolvierte er in Dortmund und Bochum. Viele Jahre war er Kunsterzieher in Ahlen, wo er 1947 die Kulturgesellschaft mitbegründete.

In den Schuldienst trat Schweizer 1937 ein. Damals verfemten die Nazis moderne Regungen als „entartet“. Schweizer hat sich dem üblen Zeitgeist nicht hurtig angepasst, jedoch fortschrittliche Impulse gedämpft. Er malte realistische Porträts – selbst seinerzeit ein relativ unverdächtiges Genre. Ein Selbstbildnis (1934) oder die Porträts der Eltern wirken bieder. Der nüchterne Blick der „Neuen Sachlichkeit“ ist nur als leiser Nachklang spürbar.

„Dortmund in Schutt und Asche“

Die Folgen des Krieges schilderte Schweizer später mit Klage-Bildern wie „Dortmund in Schutt und Asche“ (1945). Doch erst häufige Reisen zu den Lofoten-Inseln inspirierten ihn zu einer neuen Formensprache. Die nördlich-dunklen Gesteinsformationen regten Schweizer in den 70er und 80er Jahren zu eigensinnigen Schöpfungen an. Mal türmen sich die Massive auf wie eine bedrohliche Mega-Stadt, mal wirken sie wie Kristallisationen einer künftigen Maschinenwelt. Es gibt einige bezwingende Stücke unter diesen zwischen Naturvorbild und Abstraktion flirrenden Arbeiten.

William Straube, der gleichfalls als Kunsterzieher tätig war, ist selbst ein lebenslang Lernender gewesen. Bereits als Künstler und Zeichenlehrer in Koblenz etabliert, zudem längst mit akademischen Weihen aus Berlin versehen, nahm er 1908 ein erneutes Studium an der Pariser Académie Matisse auf, und mit 45 Jahren ging er in Stuttgart noch einmal bei Adolf Hölzel „in die Lehre“. 1925 zog er sich vor großstädtischen Turbulenzen an den Bodensee zurück.

Die bunte Welt der Variétés

Straubes Werk geriet geradezu schulbuchhaft, man sieht gleichsam einigen Facetten der Moderne noch einmal bei der verspäteten Genese zu. Straube adaptiert etliche Einflüsse. Blätter aus Skizzenbüchern sind zu sehen, in denen er die Kompositions-Schemata der Alten Meister einübte.

Im Frühwerk fallen kubistisch gefasste Porträts auf, kantig-geometrisch überformte Gesichter. Formale Strenge hält damit Einzug, nachdem die allerersten Bilder im Bann des Jugendstils noch weicher und fließender erschienen.

Auch die Frische des Augenblicks stand Straube zu Gebote: Eine schwungvolle, bis ins Karikaturhafte reichende Serie kostet die Farb- und Bewegungs-Welt der Varietés aus. Es sind spontan vor Ort „notierte“ Skizzen, die hernach im Atelier koloriert wurden. Formal weitaus stärker reduziert, zeugen sodann Straubes Tunesien-Bilder davon, wie präzise er seine Mittel nun einzusetzen wusste. Doch vom Genialen ist es nur ein Abglanz.

Hermann Schweizer (bis 22. Juli), William Straube (Dauerausstellung). Kunstmuseum Ahlen, Weststraße 98. Tel. 02382/ 91 83-0. Geöffnet Di / Do 15-18, Mi/Fr 15-19, Sa/So 10-18 Uhr.

 




Schwierige Heimkehr nach dem Exil – Milan Kunderas Roman „Die Unwissenheit“

Von Bernd Berke

Prägnante Thesen stellt der tschechische Schriftsteller Milan Kundera, der seit 1975 in Paris lebt, seit jeher gern auf: Die (Alp)-Träume aller Menschen im Exil gleichen sich aufs Haar, behauptet er im Roman „Die Unwissenheit“.

Im Zentrum seiner streckenweise aufregenden Geschichte steht Irena, die nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten 1968 in Prag ihre Heimat verließ und just nach Paris übersiedelte. Nach der europäischen Wende des Jahres 1989 könnte sie den „Rausch der Großen Rückkehr“ (Kundera) auskosten und an ihr damals abgerissenes Leben anknüpfen. Kann sie es wirklich?

Das erste Wiedersehen mit ihren tschechischen Jugend-Freundinnen verläuft kläglich. Französischen Wein hat sie ihnen mitgebracht, doch die etwas gealterten Mädels trinken allesamt Bier, um ihre Prager Identität zu betonen. Ein Zeichen der Entfremdung.

Ähnlich ernüchternde Erfahrungen beim Versuch einer „Heimkehr“ macht Josef, der einst ins dänische Exil ging und nun ebenfalls Mühe hat, das Jetzt mit dem Damals zu verknüpfen. Dieser Riss in den beiden Lebensgeschichten kann offenbar nicht verheilen.

Diese große Leere um die Inseln des Gedächtnisses

Geradezu schattenhaft hat sich die einst so heiß gelebte und durchliebte Vergangenheit verflüchtigt. An diesen Befund knüpft Kundera lebensphilosophische Überlegungen. Zwar verankert er die Erzähl-Passagen in den historischen Zeitläuften, doch greift die Reflexion ins allgemein Menschliche aus, als hätten wir auf Erden letztlich alle eine Art Exil-Erfahrung gemacht: Woran erinnern wir uns überhaupt? Gibt es nicht eine große Leere rund um die kleinen Inseln des Gedächtnisses? Wie findet man in solchen Partikeln, in solcher „Unwissenheit“, sich selbst und den Zusammenhang wieder? Spannende Fragen, fürwahr.

Ohne erotische Beweisführung geht’s bei Kundera kaum: Wie im Experiment führt er Irena und Josef zusammen; zwei Menschen mit parallelen Biographien, die einander vielleicht die so arg vermisste Heimat werden könnten. Ihr Treffen beginnt verheißungsvoll: Schon ein paar tschechische Wörter wecken die lang entbehrte Geilheit. Sprache als Aphrodisiakum…

Prägeform jeglicher Nostalgie (sprich: Sehnsucht nach Rückkehr) ist für Kundera das Schicksal des Odysseus, der nach langer Irrfahrt zu Penelope heimkam. Doch hat er dort dauerhaft Halt gefunden?

Milan Kundera: „Die Unwissenheit“. Hanser-Verlag. 180 S.. 35 DM.

Das Buch wird heute (ZDF, 22.15 Uhr) im „Literarischen Quartett“ besprochen.




Verdünnung einer genialen Romanvorlage – Dostojewskijs „Der Idiot“ als Dramatisierung in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Es ist wie einst in Hildegard Knefs Lied: Die Birke braucht offenbar „Tapetenwechsel“. Jedenfalls macht sie sich in der Dämmerung auf den Weg und zittert quer über die Bochumer Bühne. Ist es bloß eine rumpelnde Mechanik, oder sind wir am magischen Ort, an dem die Dinge ihre Plätze wechseln?

Falls Magie hier walten sollte, dann hält dieses Phänomen nur für Sekunden vor. Und das wird auch so bleiben in Hans-Ulrich Beckers Inszenierung nach Dostojewskijs Roman „Der Idiot“ (1867/68), dessen Bühnenfassung der Regisseur zusammen mit Klaus Mißbach selbst erstellt hat. Hin und wieder ahnt man in diesen dreieinhalb Stunden zwar die Wucht oder den Zauber der genialen Vorlage, doch nur verdünnt. Und obgleich sie den Roman verkürzt, hat die Dramatisierung ein paar arge Längen.

Nach Jahren medizinischer Behandlung wegen epileptischer Anfälle kehrt Fürst Myschkin aus der Schweiz nach Russland zurück. Er kommt ohne Absicht. Nur hat er sich vorgenommen, in allen Fragen ganz offen, ehrlich, klar und „rein“ zu sein. Eine Art Unschulds-Engel, ein „Narr in Christo“, über den man sich amüsiert, der aber bei den Empfindsameren – zumal den Frauen – auch Sehnsüchte nach Läuterung weckt.

Manuel Bürgin gibt diese Gestalt nicht etwa als leidende (Christus)-Figur, sondern als naiven großen Jungen, der ins geile und geldversessene Getriebe der Welt gerät. Charisma versprüht er nicht, auch weckt er kaum Mitleid. Um ihn herum kristallisieren sich alle anderen Figuren nicht wie um einen Kern, sondern wie um ein Vakuum. Ein Hauch von einem Menschen.

Somit hat die Aufführung kein Gravitationszentrum und trudelt konventionell dahin. Die meisten Figuren entfalten sich nicht mit Widersprüchen, sondern sind auch auf Dauer so, wie sie anfangs erscheinen. Interessanter, weil (gegen das ätherische Klischee) als etwas trampelige Göre besetzt, ist die junge Generalstochter Aglaja (Bianca Nele Rosetz). Auch sie vermag Myschkins allzeit bereites Mitleid nicht in Liebe zu wandeln.

Ein schauriger Abgrund zwischen Eros und Caritas

Abgewetzte Möbel, allerlei Ikonen: die Bühne (Alexander Müller-Elmau) ist vollgestellt. In Bochum weht diesmal der Geist eines oft etwas uninspirierten Realismus‘, der die Sachen weitgehend zum Nennwert nimmt. Das gilt auch für die Musik (Thomas Hertel), die sich in gar zu eingängigen russischen Volksweisen ergeht. Ästhetisch überzüchtet ist das alles nicht, sondern brav.

Myschkin, wegen seiner Krankheit nicht zur sexuellen Tat fähig, trifft seine Gegenbilder: lauter Getriebene und oder Erloschene, die um die Liebe allenfalls feilschen. Und so erleben wir die Umkehrung: Myschkin erscheint als der eigentlich Gesunde, während die anderen nervös, hysterisch oder gar debil wirken.

Der rabiate Rogoschin (Thomas Büchel) kauft sich die schöne Nastassja (Katharina Müller-Elmau) als Ehefrau. Diese einst früh geschändete, allen als verworfen geltende Lebedame ist von Myschkins Klarheit zuinnerst berührt, stürzt sich aber doch mutwillig ins Unglück mit Rogoschin. Der wird sie schließlich im Eifersuchts-Wahn erstechen und mit Myschkin nächtliche Totenwacht halten.

Im Schlussbild wird jenes so ungleiche Männer-Duo sozusagen ineins geblendet: zwei sozusagen Nekrophile, letzten Endes gleichermaßen zerstörerisch, nun über den Leichnam des geopferten Weibes gebeugt. Der eine kannte gar kein Mitleid, der andere nichts als Mitleid. So tut sich am Ende des Abends denn doch noch ein schauriger Abgrund zwischen Eros und Caritas auf.

Termine: 4., 8., 9. und 30. Mai. Karten: 0234/3333-111.




Die Luftgeister des Leidens – Bochumer Uraufführung von „Der Narr und seine Frau heute abend in Pancomedia“

Von Bernd Berke

Bochum. Es war wohl das vornehmste deutsche Theaterereignis dieses Monats: Nicht der ursprünglich vorgesehene Peter Stein in Berlin, sondern Matthias Hartmann in Bochum inszenierte die Uraufführung des neuen Stückes von Botho Strauß. Und so herrschte am Samstag knisternde Spannung, als das Spiel begann.

Der Titel der 20-teiligen, in Bochum vierstündigen Szenenfolge passt komplett in kein Schauspielführer-Register: „Der Narr und seine Frau heute abend in Pancomedia“. Vermutlich wird man ihn aufs klangvolle Rätselwort „Pancomedia“ verkürzen – und darunter ist vielleicht die allumfassende (Tragi)-Komödie heutigen Menschseins zu verstehen, das sich (einem Stückzitat zufolge) „zwischen Ariel und Hiob“ spannt; ein Drahtseilakt also zwischen dem Luftgeist, der zum Höheren oder ins Flüchtige strebt, und der biblischen Figur erdenschweren Leidens.

Zentraler Ort ist die Empfangshalle des Hotels „Confidence“ (Vertrauen). In einem Saal des Etablissements, das in Erich Wonders magischem, durch und durch roten Bühnenbild an einen riesigen Uterus gemahnen mag, gibt es eine Dichterlesung. Die Schriftstellerin Sylvia Kessel (Dörte Lyssewski) nimmt etwas schüchtern am Tischchen Platz und trägt mit zunehmend brüchiger Stimme aus ihrem Roman „Rapunzelzopf oder Vom Ende der Greisenrepublik“ vor.

Bis zum Schluss in der Schwebe 

Diese gläsern empfindlichen, doch hin und wieder aufbrausenden Visionen aus einer überalterten Gesellschaft werden von einem notorischen Zwischenrufer unterbrochen. Es ist der Kleinverleger Zacharias Werner (Tobias Moretti), der das gesamte Programm seiner „edition 24″ in einem Rucksack bei sich trägt. Ständig mit dem Aufkauf durch einen großen  Buchkonzern des jovialen Großsprechers Brigg (Alexander May) bedroht, laviert sich dieser Mann durch eine geldverderbte, immerzu mit Handys und Börsenkursen befasste Welt.

Soll man diesem Werner glauben, dass er für die wirklich wichtigen Bücher kämpfen und sich auch für Sylvia Kessel bedingungslos einsetzen will? Oder ist er nur ein finanzieller und sexueller Filou? Wäre er am Ende gar nur ein unverdrossen durch die Zeit schweifender Narr? Es bleibt bis zum Schluss in spannender Schwebe, und das ist eine reife Leistung von Tobias Moretti, der mit der TV-Serie „Kommissar Rex“ halt sein gutes Geld verdient hat.

Eine grandiose Gesellschafts-Belauschung

Rings um die beiden Hauptfiguren, deren Liebes-Zukunft letztlich gleichfalls ungewiss, doch nicht gänzlich hoffnungslos bleibt (wie gut tut dies einmal, angesichts aller sonst so gängigen, pessimistisch-schwarzen Bühnen-Phantasien), entfaltet sich ein ungeheuer facettenreiches Panorama der Paare und Passanten. Die 31 Darsteller verkörpern in diesem rauschenden, manchmal zu Tableaus einfrierenden Reigen rund 100 Figuren in immer neuen Gruppierungen. Er ist eine grandiose Gesellschafts-Belauschung: Einmal geht eine Engels-Figur mit einem überdimensionalen Ohr in den Händen durch die Menschen-Pulks, allerlei markante Beziehungs-Satzfetzen einfangend.

Dies alles ist so sehr aus dem Heute geronnen und so unumstößlich zur Sprache gebracht, dass es zum Lachen reizt und gleichermaßen schmerzt. Botho Strauß zeigt hier ganz und gar, was das Theater vermag. Es ist, als spiele er dessen Möglichkeiten zwischen Alltags-Niederung und mythischem Fluge („Weltliebesbrand“, „Zerschlagt die Ideen“) bis zur Neige durch.

Wie in einem hellsichtigen Traum

Hartmann tut es ihm nach: Der allzeit gleitenden Bewegung des Textes folgend, wandelt er wie in einem hellsichtigen Traume durch all die Ticks und schrägen Manieren, die grotesken, innigen, sehnsüchtigen, absurden, witzigen, traurigen, desolaten, zu Tode bestürzten Momente.

Requisiten kommen wie von Zauberhand auf Rollen herein und hinaus. Mit Drehbühne und sphärischer Flüster-Musik (Parviz Mir Ali) ergeben sich daraus geradezu geisterhaft schön fließende Übergänge. Eins erwächst aus dem anderen und treibt das nächste aus sich hervor. Und wie die Narren bei Shakespeare, so spiegeln hier die beiden Varieté-Typen Alfredo und Vittoro (Fritz Schediwy, Ernst Stötzner) das Tun und Treiben. Man denkt an abstruse Dialoge eines Karl Valentin, doch auch an die urkomischen Verzweiflungen eines Samuel Beckett.

Wen dürfte man nur hervorheben aus dem starken Ensemble? Moretti und Lyssewski tragen das Gerüst. Sie haben sichtlich Bodenhaftung und vermögen dennoch – als leidvoll Freigesetzte – ins Jenseitige auszugreifen, ganz wie es Strauß entspricht. Doch ohne all die anderen gingen sie durch luftleere Räume.

Ein an Gedanken und Empfindungen, reicher, ein erhebender Abend. Frenetischer Beifall.

Termine: 15., 16., 22. April. 5., 6., 19., 20. Mai. Karten: 0234/33 33-111.




„Leo Kaplan“ – ein Romanheld in der erotischen Umlaufbahn

Von Bernd Berke

Leon de Winter kommt rasch zur Sache. Gleich auf den ersten Seiten ertappt er seinen Roman-Titelhelden Leo Kaplan beim Wesentlichen.

Der Enddreißiger, ein Autor in seiner bislang schlimmsten Schreibkrise, kann praktisch keinen lockenden Rockzipfel ungelüftet lassen. In den Worten de Winters: „Sollte er eine Seele haben, dann saß sie bei ihm zwischen den Beinen.“ Diesmal hat’s eine Studentin „erwischt“, die eine Arbeit über sein Werk verfassen will. Alsbald erkundet sie Sinnen und Trachten des Dichters auch auf physischem Terrain.

Im weiteren Verlauf der Handlung werden sich noch etliche Damen einreihen – von der hübschen Stewardess Paula, die Leo Kaplan im Flugzeug kennen lernt, über die diebische Hure in Kairo bis hin zur abgrundtief hässlichen einstigen Mitschülerin Roosje, mit der er es in einer Art „Gnadenakt“ treibt, weil sie doch so einsam geblieben ist. Dabei erfasst den zweifach Geschiedenen selbst die Rührung. Denn letztlich ist er ebenso allein. Dieses Gefühl lässt sich auch mit Sex nicht betäuben.

Die Eine, die Wahre nämlich, mit der er vor fast zwanzig Jahren als Student zusammen gelebt hat, die bekommt er dauerhaft nimmermehr. Dieser Ellen begegnet er nach all der Zeit in Rom wieder. Er ist auf Lesereise, sie mittlerweile Gattin eines treuherzigen niederländischen Diplomaten. Ein einziges Mal gehen Leo und Ellen dort noch miteinander ins Bett, als müssten sie einen Schlusspunkt unter dieses Lebenskapitel setzen.

Unter einer Glasglocke leben

Hals über Kopf hatte Leo sie damals in Amsterdam, in den wilden 60er Jahren, verlassen. Dabei hatten sie einander ergänzt – er als Nachfahre niederländischer Juden, sie als Abkömmling von Nazi-Kollaborateuren. Beide wollten loskommen von ihrer Abstammung, „unter einer Glasglocke“ wollten sie leben und nur der Liebe pflegen.

Aber plötzlich war ihm die „Revolution“ wichtiger gewesen. Zornig hatte Ellen ihm die rabiate Lüge entgegen geschleudert: Sie habe das gemeinsame Baby abgetrieben. Nun, in Rom, schmerzt der definitive Abschied so sehr, dass es Leo offenbar endgültig in eine erotische Umlaufbahn ohne Halt und Wiederkehr katapultiert. Weiblich bevölkerte Einsamkeit, sozusagen.

Für die ständigen Dreiecksverhältnisse drängt sich hier das Bild von drei Trapez-Artisten auf: Mann, Ehefrau und Geliebter in der Manege. Wie sie da schweben, sich fassen und lassen, das ist lebensgefährlich.

Das falsche Gehabe endlich ablegen

Gar nicht verquast kommen derlei Befunde daher, sondern saftig und beherzt zupackend. Der Niederländer Leon de Winter (46), bekannt durch Romane wie „Hoffmanns Hunger“, erzählt mit vielwissender Ironie, mit Bravour und vielfach melancholisch getöntem Witz von den fatalen Täuschungen der Liebe und von einem vielleicht zutiefst verfehlten Leben.

Der Held, der dieser drohenden Erkenntnis anfangs in allerlei seelische Bastionen, in Sex und Suff, in Genie-Phantasien, Attitüden und Posen ausweicht, legt solches Gehabe zusehends ab. Gestärkt durch seine allmählich wiederentdeckte jüdische Identität (und besänftigt durch eine Millionen-Erbschaft), stellt er sich seinem Schicksal schließlich mit offenem Visier, beseelt von höherer Heiterkeit.

So sehr steigert sich Leon de Winter zuweilen in seine Fabulierkünste hinein, dass die zahllosen Episoden und Ereignis-Ketten gleichsam ihre eigenen Bahnen ziehen – fast wie der bestürzend freie Leo. Am Ende löst sich alles dermaßen unverhofft ins Flüchtige auf, als würde sich der Roman in die Lüfte erheben. Ach, wer da mitfliegen könnte!

Leon de Winter: „Leo Kaplan“. Roman. Diogenes Verlag, 544 Seiten. 46,90 DM.

In einer Veranstaltung der Buchhandlung Krüger liest der Autor heute um 19.30 Uhr im Studio der Dortmunder Stadt- und Landesbibliothek (Königswall) aus dem Roman.




Henri Laurens und die Frau als „Bauwerk“ – eine Ausstellung in Bielefeld

Von Bernd Berke

Bielefeld. Er war ein „Späteinsteiger“ der Kunst: Erst mit etwa 30 Jahren fertigte der Franzose Henri Laurens (1885-1954) seine erste Skulptur.

Picasso hatte seine streng kubistische Phase schon vollendet und betrieb seine Formen-Analysen nun eher spielerisch, da begann Laurens gerade erst mit konzentrierten Untersuchungen dieser ästhetischen Materie. Vielleicht wollte er nachträglich und äußerst geduldig zur kubistischen Substanz vordringen, die den drangvoll-mühelosen Schöpfer Picasso nicht mehr zu interessieren schien.

So deutet es jedenfalls Bielefelds Kunsthallen-Direktor Thomas Kellein, der jetzt rund 60 Laurens-Arbeiten (überwiegend Plastiken) unter dem Titel „Frauenbilder, Frauenkörper“ präsentieren kann. Ungewohnt freigebig zeigte sich das Pariser Centre Pompidou: Sonst verleiht man nur ein bis zwei Werke pro Schau, diesmal sind es gleich elf.

Das Weibliche zog ihn hinan, es war sein zentrales Thema. Doch obwohl zumeist nackt dargestellt, ist die Frau bei Laurens weder lustvolles Luder noch gefährliche Verführerin, sondern vor allem anfangs eine Art „Bauwerk“, eine kubistische Konstruktion – mal dynamisch verschachtelt, mal zur Stille gelangt.

Der Künstler, solide ausgebildet als Baudekorateur, schuf immer wieder Frauenskulpturen mit sozusagen architektonischen Qualitäten. Gesichter und Leiber sind Stück für Stück aus Teilen gefügt wie Häuser oder gar Kirchen. Die Körper lassen tatsächlich so etwas wie Sockel, Raumfluchten, Fenster, Stockwerke, Erker und Dachgeschoss erkennen. Das Leben ist eine Baustelle…

Zwar füllte Laurens das kubistische Formen-Repertoire im Prinzip mit vitalen Wesen, doch seine Frauen sehen meist überzeitlich und überirdisch aus, als wollten sie sich abwenden von dieser Welt. Großartiges Beispiel ist „L’adieu“ (Der Abschied) von 1941. Geradezu embryonal in sich gekehrt sitzt diese schwer lastende Frauenfigur da, sie verbirgt ihr Antlitz vollständig. Mit dem täglichen Treiben will sie offenbar nichts mehr zu schaffen haben, sie ist wohl eine Mythenfigur des stummen Schmerzes.

Seit 1918 ließ Laurens seine bis dahin bevorzugten Materialien Holz und Blech beiseite und wandte sich dem Stein zu. Zugleich runden sich die Figuren zu üppigen Schwellformen, denen wiederum jede Erotik mangelt. Abermals scheint es so, als gehörten sie eigentlich in einen baulichen Kontext. So halten die drallen Damen ihre Hände bisweilen so unnatürlich flach über die Köpfe, als wären sie Stützfiguren, die einen Gebäudeteil tragen müssen. Und die Füße sind oft so verformt, als stießen sie an unsichtbare Wände.

Doch es gibt auch weniger zugerichtete, freiere Gestalten: In den 30er Jahren wirken Laurens Schöpfungen verspielter, die Skulpturen vollführen oft gleichsam tänzerische Gebärden, ihre Gliedmaßen geraten nahezu ornamental, sie verfließen freudig in die Lüfte.

Laurens war kein Mann für Jurys und Märkte. Er war vor allem ein Künstler für Künstler. Picasso, Léger, Archipenko und sein lebenslanger Freund Braque (mit ihren Frauen bildeten sie eine frohe „Viererbande“) schätzten ihn sehr. Doch der große Preis der Biennale in Venedig blieb ihm zweimal verwehrt. Künstlerkollege Alberto Giacometti war darob 1950 so verbittert, dass er seine eigenen Werke zurückzog. Und der greise Henri Matisse teilte seinen Preis für Malerei ausdrücklich mit Laurens. Eine generöse Geste von Genius zu Genius.

Henri Laurens: Frauenbilder, Frauenkörper. Kunsthalle Bielefeld (Artur-Ladebeck-Straße 5). 7. März bis 27. Mai. Geöffnet: tägl. außer Mo 11-18, Mi 11-21. Sa 10-18 Uhr. Eintritt 10 DM, Katalog 28 DM. Internet: www.kunsthalle-bielefeld.de




Ein Kapitän auf dem Meer der Geschichte – Alexander Kluges „Chronik der Gefühle“

Von Bernd Berke

Wir kennen es aus dem Privatleben und aus der Historie: Manchmal scheint sich die Zeit zu beschleunigen, dann fließt sie im Gleichmaß dahin, oder sie stockt. Aus der Dynamik solcher wechselnden Wahrnehmungen gewinnt Alexander Kluge (69) den ungeheuren Geschichten-Vorrat seiner über 2000 Seiten umfassenden „Chronik der Gefühle“.

Der Schriftsteller, Film- und Fernsehmacher denkt sich die Zeit, die ihr höchstes Tempo in Revolutionen erreicht, auch als Phänomen der wandelbaren Formen. Mal gleicht sie einem Tunnel, mal einem ruhigen weiten Meer. Diese Vorstellung eröffnet Wege für Zeitreisen. Und also navigiert Kapitän Kluge, stets von nervöser Neugier getrieben, mit seinen vielfältigen Beobachtungen quer durch die Epochen, wobei er oft Verbindungskanäle oder auch Gegenströme zwischen weit entfernten Ereignissen findet.

Keine Angst vor dem Umfang! Kluge selbst empfiehlt, der Leser solle sich in den Bänden nach Belieben umsehen. Man möge also blättern wie in einem Lexikon oder in den Seiten einer Zeitung: Man wird Bekanntschaft machen mit bizarren Kriminalfällen, erotischen Abgründen, Kriegsgräueln, Börsencrashs; mit Naturkatastrophen, Momenten der Machtausübung und des Machtverfalls, Neurosen und Niederungen des Alltags, mit Spiegelungen und Verzerrungen in den Medien. Ach, und überhaupt: Diese sich so nüchtern gebenden, doch immer wieder das Gefühl ergreifenden Texte scheinen just alles zu behandeln, was der Fall ist.

Ein Mann schwängert 26 Genossinnen in der Frankfurter Szene

Dank der durchlässigen Struktur der Bände (die gleichwohl zu einer Systematik unterwegs sind) beleuchten sich die Epochen gegenseitig. Hier können Vorfälle aus der NS-Zeit, aus Napoleons Ära, der Endphase der DDR und der Antike in „Parallel-Welten“ zusammentreffen. Aufregend!

Der gelernte Jurist Kluge, unermüdlich in der Detail-Recherche, sammelt Fakten, Fakten, Fakten. Auf dieser soliden Basis phantasiert er historische Bezüge herbei – freilich höchst plausibel argumentierend. Was wäre geschehen, wenn… Wenn etwa der Philosoph Martin Heidegger als Berater Hitlers fungiert hätte? Oder wenn die Sowjetunion 1929 nach der Börsenkrise die Konkursmasse des Westens „aufgekauft“ hätte? Und wie ging es zu, dass ein Portugiese in der linken Szene Frankfurts von 1967 bis 1969 gleich 26 Genossinnen schwängerte? Drei Beispiele von Hunderten.

Keine Denkhemmung, keine Ideologie

Besonders grandiose Passage: Kluge schildert die Bombardierung seines Heimatortes Halberstadt am 8. April 1945, aufgefächert in viele Perspektiven. Wie erlebten die Wächterinnen auf der Turmzinne das schreckliche Ereignis? Was widerfuhr einem Paar, das an diesem Tage heiraten wollte? Was fühlten die US-Piloten?

Bei all diesen Erkundungen gilt keine Denkhemmung, keine Ideologie, sondern es regiert dialektische Lust am Nachfragen, am Offenhalten der Alternativen. Es ist somit ideale Literatur zur Einübung demokratischer Tugenden.

„Chronik der Gefühle“ zählt zu den Hauptwerken deutscher Nachkriegsliteratur. Die frühesten Teile stammen von 1962, es kamen etliche Jahresringe hinzu – und seit den Wirren der „Wende“ (ein Schreibimpuls sondergleichen) ist nochmals eine beträchtliche Textmenge eingeflossen.

Ganz zu Beginn blickt der Autor (wie in einem Kameraschwenk) auf „0,0001 % der Lebenszeit“ eines Menschen. So rasch geht das also vorüber! Und man nimmt dieses menschliche Maß, das sich so oft an der „reißenden Zeit“ (Kluge) der Historie zerreibt, mit hinein in das große Buch.

Alexander Kluge: „Chronik der Gefühle“. 2 Bände (Band 1: Basisgeschichten / Band 2: Lebensläufe), zusammen 2036 Seiten. Suhrkamp Verlag. 98 DM.

Am Sonntag, 4. März (19.30 Uhr), stellt Kluge das Werk im Dortmunder Harenberg City-Center vor.




Ein lachender Lenin galt schon als frech – Schau mit DDR-Plakaten in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Unverdrossene „Linksaußen“ dürften an dieser Ausstellung ihre Freude haben. So häufig wie jetzt im Essener Plakatmuseum sieht man die Konterfeis der Herren Marx, Engels, Lenin oder Thälmann in unseren Tagen selten.

Man fühlt sich fast in die rebellischen 60er Jahre versetzt, als solche Bilder auch hiesige Wände zierten. Doch eigentlich geht’s bei der neuen Ausstellung gar nicht um derlei Vergangenheits-Beschau der „Joschka Fischer-Generation“, sondern quasi ums Gegenteil, nämlich den Überdruss an plakativer Indoktrination, die den Alltag der DDR prägte.

Rund 140 Beispiele für „Agit-Prop“ aus dem verblichenen zweiten deutschen Staat sind zu besichtigen. Von „Kunst“ kann selten die Rede sein. Schon der Begriff „Kunstgewerbe“ würde mancher Hervorbringung schmeicheln. Meist hingen die Werke nicht etwa in privaten Haushalten (da träumte man wohl eher vom West-Konsum), sondern in öffentlichen Einrichtungen – pflichtschuldigst angepappt.

Erstaunlich, dass die überwiegende Anzahl der Exponate aus den 80er Jahren stammt. So selbstgewiss trumpfen sie auf, als wäre mit Staat und Partei noch alles in bester Ordnung. Nur mühsam hatte man sich von Stereotypen in Sprache („Vorwärts zu…“ / „Nieder mit..,,“) und Bildformeln gelöst: So erscheint etwa der Kommunistenführer ErnstThälmann mit gereckter Faust, immer und immer wieder. Nur zaghaft wird er auf späteren Plakaten mit farbigen Überblendungen verfremdet.

Friedenstauben und „glückliche“ Kinder

Ähnlich langsame Mutationen gab es in Sachen Marx. In den 80ern darf der Urahn des Kommunismus auch schon mal ein wenig „poppig“ dargestellt werden. Doch man hechelt der ästhetischen Entwicklung meist weit hinterher, und kaum einmal gelingen überzeugende grafische Lösungen. Welch ein Unterschied zur kritischen DDR-Malerei jener Jahre, die derzeit im Schloss Cappenberg gezeigt wird (die WR berichtete).

Der lachende Lenin, ein T-Shirt mit Marx-Motiv tragend (1983), galt schon als relativ „freches“ Motiv. Noch mutiger war man bisweilen in der Kulturszene: Ein Theaterplakat zeigt den nunmehr todernsten Lenin, ringsum garniert mit Einschuß-Löchern.

Sodann die Serien zum NATO-Doppelbeschluss. Wer zählt all die Friedenstauben, die zu Beginn der 80er Jahre der „ruhmreichen Sowjetunion“ zugeordnet wurden, und wer die Totenköpfe, die allemal auf die US-Aggression hinwiesen? Ganz so simpel lagen die Dinge ja wohl nicht…

Es muss nervtötend gewesen sein, ständig solche Plakate vor Augen zu haben: Junge Pioniere mit Fackeln, angeblich „glückliche“ vietnamesische Kinder mit roten Fahnen, muntere FDJ-Mädels mit dcm Spruchband „Die Partei – das werden wir“. Irrtum. Sie wurden’s nimmermehr.

Deutsches Plakatmuseum, Essen, Rathenaustraße 2. Bis 22. März. Di-So 12-20 Uhr




Eingemauert und bereit zum Sprung – Cappenberg zeigt kritische DDR-Kunst

Von Bernd Berke

Selm/Cappenberg. Der Streit um die DDR-Kunst schwelt noch immer: Erst kürzlich gab es in Nürnberg Ärger wegen einer vom Künstler Willi Sitte erzürnt abgesagten Werkschau. An das Debakel von Weimar, wo NS- und DDR-Kunst gleichermaßen summarisch „erledigt“ wurden, erinnert man sich mit Schaudern. Im Cappenberger Schloss jedoch widerfährt den Malern aus dem verflossenen Staatsgebilde jetzt Gerechtigkeit.

Mit 110 Exponaten von 55 Künstlern versammelt die herausragende Schau, die nur in Cappenberg Station macht, vor allem kritische Impulse aus den letzten Jahren der DDR. Und der Drang zur Verneinung geht fast durchweg mit hoher Qualität einher.

Der Titel „Kassandrarufe und Schwanengesänge“ markiert die Richtung. Wie einst die antike Sagengestalt Kassandra, so mahnten die Maler. Und ihre Klagen glichen jener des mythischen Schwanes, der sterbend zu singen anhebt.

Bekannte Namen: Wolfgang Mattheuer, Werner Tübke, Hartwig Ebersbach, Willi Sitte, Volker Stelzmann – um nur einige zu nennen. Fast alle Arbeiten wurden schon im SED-Staat ausgestellt. Das Regime war in den 80er Jahren wohl schon zu kraftlos, um Widerspenstigkeit in den Künsten noch durch Bann zu brechen. Zudem war Duldung schlauer.

Als widerständig konnten (im Umfeld des unsäglichen „Sozialistischen Realismus“) bereits gewisse ästhetische Positionen gelten. Eberhard Goschel, der Dresdner Schule delikater Feinmalerei entstammend, zelebriert mit „Figur in der Landschaft“ eine fürs kollektive Denken unerträgliche Einsamkeit und begibt sich noch dazu auf den missliebigen Weg der Abstraktion.

Eine Abteilung ist Bildern gewidmet, die das Gefühl des Eingemauert-Seins bis zur kafkaesken Unerträglichkeit steigern. Grandioses Beispiel ist Mattheuers „Allein“ (1970): eine verzweifelte Figur, von einer Mauer weit überragt; droben lastet ein grauer Himmel, dessen Farbton in vielen Motiven bedrückend wiederkehrt. So beherrscht fahle Tristesse etwa Wolfgang Peukers Angstbild „Pariser Platz“ (1989).

Auf Joachim Völkners „Der Vorhof“ (1984) erscheint die Umgebung gar als Nachbarbezirk der Hölle. Kein Inferno ohne Konsumterror oder zumindest die Sehnsucht danach: Sighard Gilles „Autofahrer“ wirken, obwohl in Trabis gepfercht, wie westliche Dekadenzler. Auch Umweltvergiftung wurde gebrandmarkt: Die Leuna-Werke erscheinen 1979 bei Dieter Weidenbach im bedrohlichen Muster von Arnold Böcklins „Toteninsel“, in Jürgen Schäfers „Lebenslauf“ (1985) gleicht sich der menschliche Körper zusehends den Betonbauten an.

Das alles wollte man hinter sich lassen: Mattheuers „Prometheus“ (1982) reißt die Tür auf und springt – in die Freiheit oder in die große Leere?

Bis 17. Juni, Schloss Cappenberg (Selm). Di-So 10-17.30 Uhr. Eintritt frei. Katalog 50 DM




Ganz entspannt und an Erfahrung reich – Neueste Bilder des 96-jährigen Heinrich Siepmann in Mülheim

Von Bernd Berke

Mülheim/Ruhr. Da wird sogar die Zeitung mit den großen Buchstaben plötzlich wild auf kulturelle Erscheinungen: Wenn nämlich einer wie Heinrich Siepmann, inzwischen 96 Jahre alt, angeblich immer noch täglich an der Staffelei steht und – Zitat aus „Bild“ – ganz „geil aufs Malen“ ist.

Mag schon sein, dass der legere Siepmann sich so einen Ausruf hat entlocken lassen. Doch er enthält nicht die ganze Wahrheit. Zwar drängt es den betagten Mülheimer Künstler weiterhin zum Schaffen, aber nicht mehr mit genuin malerischen Mitteln, denn den Pinsel vermag ei nicht mehr richtig zu führen. Wie gut, dass ihm die Familie, allen voran seine rund zwanzig Jahre jüngere Frau Trude, treulich beisteht.

Heinrich Siepmann hat sich auf flüchtig bemalte Collagen sowie Pastelle verlegt. Doch das Formempfinden, in vielen Jahrzehnten geschult, hat ihn nicht im Stich gelassen. Der Geist ist wach.

Toilettenrollen und Tapete als Material

Recklinghausen präsentierte 1999 eine große Retrospektive zum Gesamtwerk, nun bekommen wir neueste Arbeiten zu sehen: Das Mülheimer Museum in der „Alten Post“ zeigt rund 50 Siepmann-Exponate, die allesamt anno 2000 entstanden sind. Und das ist nur etwas ein Drittel seiner Produktion im letzten Jahr. Man müsste sich vor dieser schöpferischen fast verneigen.

Collage also, titellos und fortlaufend durchnummeriert: C 1, C 2 usw. Nicht immer bis in die letzte Verästelung präzise, doch stets subtil austariert sind die Linien und Flächen der abstrakten Formationen. Beim Rohmaterial, das im künstlerischen Prozess völlig überformt wird, denkt man zuweilen an jene ärmlichen Nachkriegszeiten, als Siepmann der in Recklinghausen gegründeten Gruppe „Junger Westen“ angehörte – mit Thomas Grochowiak, Gustav Deppe, Emil Schumacher. Weltberühmt wie Schumacher wurde der entschiedene Sozialist freilich nie. Er blieb immer ein wenig im Schatten des Hageners.

Etwas von der anfangs zwangsläufigen Genügsamkeit scheint sich Siepmann jedenfalls bewahrt zu haben: In seinen Collagen verwendet er Papiertüten, Pappkerne von Klorollen, Ausrisse von Rauhfasertapete. Doch das bemerkt man erst beim zweiten Hinsehen. Auf den Bildern werden diese Dinge zu Geraden, Diagonalen und Farbfeldern. Die grafische Wirkung zählt.

Es sind spontane Setzungen, gesättigt mit Erfahrung. Wunderbar leicht fügen sich die meist auf Fotokarton geklebten Elemente zueinander. So, als könnte es gar nicht anders sein. Besonders auf den kleinen dreiteiligen Kompositionen (Triptychen) ergibt sich ein luftiges Auf und Ab der Formen, das schlichtweg die Seele des Betrachters erhebt.

Den Sylter Sand mit Händen greifen

Es ist eine entspannte, abgeklärte Kunst, aus der hie und da ein Schmunzeln zu leuchten scheint. Essenzen eines langen Künstlerlebens: Das gegenstandsferne, expressive Informel hat Siepmann ebenso durchschritten wie strengere, konstruktive Exerzitien, doch niemals ohne Seitenblicke auf die reale Dingwelt. Noch immer ist beides unaufdringlich gegenwärtig: die wirklichen Vor-Bilder und ihre künstlerische Überschreitung.

Frappierend die mit Pastellkreide gestalteten Blätter, meist auf Sylt entstanden. Obgleich sie gänzlich abstrakt scheinen, meint man doch, Meeresbläue zu sehen, die Brise zu spüren, den Sand mit Händen greifen zu können.

Heinrich Siepmann – 2000. Museum „Alte Post“, Mülheim/Ruhr, Viktoriaplatz 1. Ab heute, 15. Februar (Eröffnung 19.30 Uhr in Anwesenheit des Künstlers), bis 16. April. Di/Mi/ Fr 11-17 Uhr, Do 11-20Uhr. Sa/So 10-17 Uhr. Kein Katalog..




Mit Fernsehen in der Hölle eingesperrt – Sartres „Geschlossene Gesellschaft“ in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Dass es in der Hölle keine Bücher gibt, steht schon in Jean-Paul Sartres 1944 uraufgeführtem Stück „Geschlossene Gesellschaft“. In der Dortmunder Inszenierung von Philipp Preuss kommt erschwerend hinzu: Hier gibt es Fernsehen!

Ein alter Herr (Hans-H. Hassenstein) sitzt im Sessel und schaut sich eine Billard-Übertragung an. Monotoner geht’s kaum: „Klack-klack-klack“ machen die Kugeln. Nach einer Weile erhebt der Mann sich seufzend. Dieser „Kellner“ im satanischen Hotel der (Un-)Toten muss wieder alles herrichten für den Auftritt der Insassen. Am Ende wird er die Bühne ausfegen fürs nächste Mal. Und wieder wird er Billard glotzen. Ein diabolischer Kreislauf.

Hörproben einer quälenden Ewigkeit

Qualvolle Ewigkeit kündigt sich akustisch an. Eine Schallplatte fräst sich in einem Rillensprung fest: „Ratz, ratz, ratz . Bald spricht eine flackernde Glühbirne und legt lakonisch die Regeln dar. Fortan wird das Licht nie wieder verlöschen. Schlafloses Grauen. Kein Entrinnen.

Zwischen roten Blechwänden (Bühne: Ramallah Aubrecht) finden sich Inés, Estelle und Garcin ein. Auf Erden  sind sie durch aufgedrehtes Gas, Lungenentzündung bzw. Pistolenkugeln gestorben. Jetzt hat man sie im teuflischen Jenseits für immer miteinander eingesperrt, und sie werden Sartres Satz schmerzlich beweisen: „Die Hölle, das sind die Anderen.“ Sie zwingen einander gnadenlos zur Wahrheit – und die ist erbärmlich.

„Her mit deinen Geständnissen!“

Die Lesbierin Inés (herb, ziellos sehnsüchtig: Ines Burkhardt) hat eine Ehe mörderisch zerstört, die seelenleere und mannstolle Estelle (Astrid Rashed) hat ihr Kind ertränkt, der Journalist und Möchtegern-Held Garcin (Macho mit psychischen Dellen: Sébastien Jacobi) seine Frau gequält. Alles kommt heraus. Doch kein Folterknecht erscheint, das Trio erledigt die Bestrafungen selbst.

Geständniszwang also. Und die Türen sind von außen verriegelt. Dieser Terror gemahnt an die „Big Brother“-Situation. Darauf hebt die Inszenierung ab. Gar oft wird mit der Kamera hantiert. Die drei filmen sich selbst, sie filmen einander, richten das Objektiv ins Publikum, irren mit dem Gerät durchs Theater-Treppenhaus. Wer die Kamera hält, fordert gleich: Her mit deinen Geständnissen, deinem Sex, deinen Tränen! Und fast alles erscheint auf dem Bildschirm.

Die Seele versickert im „Nullmedium“

Dieser Einfall hat sich im neuesten Theater schon ein wenig totgelaufen. Die Dortmunder Variante hat freilich etwas für sich, sie betrifft einen Kern des Stücks: Während bei Sartre der bedrohliche Nebenmensch auch noch als notwendiger „Spiegel“ zur Ich-Findung dienen soll, versickert hier so manches folgenlos im „Nullmedium“ der flimmernden Bilder. Was bleibt, ist seelisches Ödland.

Doch die Aufführung wirkt nicht durchweg konzentriert, sondern etwas zerstreut und vorläufig. Ganz so, als sinne sie noch dem tieferen Gehalt ihrer Ideen nach. Wozu taugt denn das verschraubte, dem Stück hinzu gedichtete Gerede von den „anderen Anderen“, die die Hölle seien? Ausgang offen, was ja auch ein Vorteil sein kann.

Die Darsteller machen schon jetzt Beachtliches daraus. Es gibt einige bewegende Momente: So etwa, wenn Estelle aus ihrer schicken Attitüde in gläserne Verletzlichkeit abstürzt. Ganz zerzaust nun, ohne die Schminke und das Blond der Perücke. So schutzlos plötzlich, dass es beim Zuschauen weh tut.




Wundersame Wandlung der Gefäße: Wie sich Keramik der freien Skulptur nähert – Werke von Bruno und Ingeborg Asshoff in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Drei Gefäß-Röhren stehen ganz eng beisammen und recken sich aufwärts, als wollten sie Hölderlins Hymne „An den Äther“ entsprechen, derzufolge alles Lebendige in luftige Höhen strebt.

Dies hat mit üblicher Töpferware oder Kursen zwischen Drehscheibe und Brennofen gar nichts mehr zu tun. Hier wandelt sich Keramik zur freien Skulptur, sie ist dem täglichen Gebrauch enthoben.

Das Museum Bochum widmet zwei Hauptvertretern der Nachkriegs-Keramik eine Überblicks-Ausstellung, die über 50 Jahre Werkentwicklung anhand von erlesenen Beispielen nachzeichnet: Bruno und Ingeborg Asshoff haben ihr langes (Ehe)-Leben der Gestaltung irdener Materialien verschrieben.

Schon 1947 bezogen sie ihre erste Werkstatt in der ehemaligen Waschkaue am Schacht 5 der stillgelegten Zeche Mansfeld, ab 1967 nutzten sie den Frielinghof in Bochum-Querenburg. Der Fachwerkbau wurde bald zur Pilgerstätte für Sammler aus nah und fern. So stammen denn auch die meisten Bochumer Exponate aus Privat-Kollektionen.

Nicht mehr benutzen, nur noch betrachten

Kurz nach dem Krieg könnte die Schöpfung von Keramik wohl etwas Mythisches gehabt haben. Das archaische, seit Urzeiten geübte Handwerk stand gleichsam für einen Neuaufbau von Grund auf. Freilich blieben die Asshoff-Arbeiten, wenngleich handwerklich perfekt, bis in die 50er Jahre hinein noch der Konvention verhaftet: karge Krüge, schmucklose Vasen, weitgehend im Stil der Zeit, formal noch nicht allzu aufregend.

Allmählich allerdings werden die Gefäße von den Zwecken befreit und mutieren zu „Objekten“. Flaschen etwa buchten beutelförmig aus oder werden so schmal, dass sie umzustürzen drohen. Sie sollen nicht mehr benutzt, sondern nur noch betrachtet werden. Vasen wuchern wie Kürbisse oder quallenförmige Wesen. Ein weiteres Merkmal sind die länglich-schmalen Gießöffnungen etlicher Behälter. Als „Asshoffsche Enghälse“ wurden sie gar zum Fachbegriff der Zunft.

In den 80er und 90er Jahren weichen die meist biologisch inspirierten Formen einer strengeren Geometrie. Häufig haben Bruno (heute 87 Jahre alt) und Ingeborg (die 1998 verstarb) Asshoff ihre Werkstücke paar- oder gruppenweise zu „Vasen-Familien“ gefügt, geschmiegt oder auf gewisse Distanz gestellt und mit erstaunlich vielfältigen Glasur-„Häuten“ überzogen – mal schrundig und rau, mal glatt und glitzernd.

Renger-Patzsch rückte die Objekte ins wahre Licht

Man könnte argwöhnen, dass in derlei Ensembles auch Spuren der Ferne und Nähe in den Lebens-„Beziehungen“ zu finden sein müssten.“ Doch was soll’s. Jedenfalls hat das Paar künstlerisch so inniglich miteinander gewirkt, dass der jeweilige Einzelbeitrag kaum noch von Bedeutung ist. Vielleicht hat Ingeborg den manchmal spröden Gestaltungen gelegentlich einen Hauch von figürlicher Heiterkeit hinzugefügt, den es wohl sonst nicht gäbe.

Gemeinsam also haben sie dem keramischen Kosmos nach allen Seiten hin ausgeschritten. Allein die Varianzbreite der Ei-Formen ist verblüffend. Solche kreative Kraft sprach sich bis Japan herum, wo Asshoff-Arbeiten zum Bestand großer Museen zählen.

Eine wunderbare Beigabe in der Bochumer Schau verleiht dem keramischen Schaffen der Asshoffs nochmals Weihen: Der mit beiden befreundete berühmte Fotograf Albert Renger-Patzsch hat Teile ihres Werks ins wahre Licht gesetzt. Da wirken die Schöpfungen vollends so, als wären sie naturnotwendig gewachsen. Man könnte wahrhaftig an einen „höheren Bauplan“ glauben, der die Künste leitet.

Museum Bochum, Kortumstraße 147. Vom 11. Februar (Eröffnung 11 Uhr) bis zum 16. April. Di, Do, Fr, Sa 11-17, Mi 11-20, So 11-18 Uhr. Internet: www.bochum.de/museum




Macbeth auf der Suche nach dem Kick – Intendant Johannes Lepper inszeniert Shakespeare im Schlosstheater Moers

Von Bernd Berke

Moers. Überall wabert der Bühnennebel, und die Scheinwerfer leuchten so schockfarbig wie in einem Rock-Schuppen der frühen 70er Jahre. Es scheint, als hätte man Shakespeare mitsamt seinem „Macbeth“ unter Drogen gesetzt.

Fremder und ferner als Shakespeares elisabethanisches Zeitalter kommt einem dieser Einstieg im Schlosstheater Moers vor. Die Stimmen der Hexen, die Macbeth auf magisch-doppeldeutige Art den Aufstieg zum Königtum prophezeien, ertönen mit Verzerrer und Echo-Hall. Sodann verheißt der alte Beatles-Song „For the Benefit of Mr. Kite“ eine bizarre Show mit allseits garantiertem Vergnügen. Um im Genre zu bleiben: sozusagen „Best of Macbeth“ mit ein paar BonusTracks. Yeah!

Hausherr Johannes Lepper (auch Bühnenbild) hat das blutige Drama von der entgrenzten Machtgier tatsächlich inszeniert, als sei’s eine Show-Improvisation, eine mal lässige, mal überdrüssige, mal hysterisch aufwallende Probe aufs bereits tausendfach in Theatern gespielte Exempel.

Sie streiten wie im Kasperletheater

Seine nicht immer trefflichen Bilder sucht und findet dieser „postmoderne“ Zugriff zwischen Rock und Pop, Horror- und Gruftie-Ästhetik, Pornofilm und Variété, Comic und Hollywood-Kitsch. Sogar ein Bingo-Spielchen gehört zum Repertoire. Gewiss: Die winzige Bühne erlaubt keinen Panorama-Stil,. keine weitläufigen Aktionen, sie nötigt zum theatralischen „Tunnelblick“, zum (womöglich frechen) Konzentrat.

Offenbar haben alle Darsteller „Hier!“ gerufen, als es an die Besetzung der Hauptrollen ging. Lepper hat ihnen die Gunst erwiesen. Er lässt den Macbeth gleich von drei Schauspielern (Mike Hoffmann, Frank Wickermann, Jeffrey Zach) geben und verteilt die blutrünstige, ihren Gemahl zu etlichen Morden aufstachelnde Lady Macbeth auf zwei Damen (Stella-Maria Adorf, Sabine Wegmann).

Erst Athlet, dann Hänfling, dann Berserker

Aus dieser Mehrfach-Besetzung erwächst eher ein sich abnutzender Effekt als wahrer dramaturgischer Ertrag: Macbeth taucht zunächst als aggressiver Athlet auf, sodann als flatternd nervöser Hänfling, schließlich als wahnwitziger Berserker. Man könnte derlei Wandel auch spielen, doch hier herrscht Körper-Wechsel. Jede Identität ist eben dahin. Nun ja, so mag es denn zeitgemäß sein.

Mit seinen Armen imitiert Macbeth immer wieder angriffslustigen Flügelschlag, und er stoßt die Drohrufe eines Erpels aus. Ein Inbild der Gewalt-Anmaßung. Lady Macbeth, in ein blutrotes Kleidchen gehüllt und immerzu einen roten Ball in den Händen, tollt mit ihm zuweilen wie ein unartiges Kind umher. Dann wieder treiben sie’s gar ruppig. So sucht man den tierischen Kick, so geilt man sich auf zur nächsten Untat.

Und immer wieder hauen sie einander mit aus Zeitungen gekniffelten Papier-Pritschen, als würde Kasperle aufs böse Krokodil eindreschen. Da kann auch der edle König Duncan nur noch den lächerlichen Popanz im Schottenrock mimen.

Huldigungen nach Art eines Disney-Films

Und nicht etwa der gütige Malcolm wird am Ende neuer Regent, sondern Macduff nimmt, nachdem er Macbeth erstochen hat, die Huldigungen entgegen – bonbonbunt beleuchtet wie in einem Disney-Streifen. Merke: Mord ist Macht, und Macht ist Mord. Und die Show geht weiter.

Im Grunde aber sind all diese Gestalten nur bleiche Wiedergänger. Auf einem Bildschirm huschen zudem ihre flüchtigen Schatten einher. Vom Piano tröpfeln derweil melancholische Akkorde.

Etwas haltlos schien bisweilen die Inszenierung in ihrem Jux, aber auch in ihrem ernsten Drang. Doch selbst das Geschrei, in dem manche Textstelle markig hervortrat, manch andere jedoch unterging, scheint letztlich geisterhaft zu verwehen. Genau da horcht man plötzlich auf.




Ganz nah an den Wurzeln der Gewalt – Michael Hanekes phänomenaler Film „Code: Unbekannt“

Von Bernd Berke

Anne bügelt ihre Wäsche und sieht dabei fern. Die Kamera erfasst sie die ganze Zeit über frontal, wir sehen jede ihrer Regungen. In der Nachbarwohnung beginnt ein Kind zu wimmern. Die junge Frau stellt das TV-Gerät aus, hält inne und horcht. Ein Fall von Misshandlung nebenan?

Ihre Empfindungen schwanken. Doch nach ein paar Minuten wendet sie sich langsam wieder ihrem vorherigen Tun zu. Nun aber wirkt die vordem alltägliche Handlung nachhaltig verätzt. Später werden wir erfahren, dass die Nachbarstochter tot ist.

Regisseur Michael Haneke ist ein gnadenlos genauer Beobachter. Durchweg konfrontiert er uns in seinem phänomenalen Werk „Code: Unbekannt“ mit Episoden, in denen Gewalt gestaltlos droht oder sich entlädt. Die Figuren könnten wegsehen oder eingreifen. Ein wahrhaft dringliches Themenfeld.

Zwischen Ratlosigkeit und Zorn

Die prägnanten Sequenzen enden abrupt, mit scharfen Rissen und Sekunden der Dunkelheit, in denen Ratlosigkeit und Zorn nisten. Die Suchbewegung des Films richtet sich auf jenen „Code“, das System von Steuerzeichen, das hinter all diesen Vorfällen stehen könnte. Oder gibt es keine Regeln?

Sofort wird man in den Strudel gezogen. Jene Anne (beängstigend gut: Juliette Binoche) aus der Bügel-Szene, die wir später auch als Schauspielerin in einem Horrordrama erleben werden, redet dem Jugendlichen Jean zu. Der ist aus ländlicher Provinz geflohen und hat seinen Vater (Josef Bierbichler) zurückgelassen, der all sein Vieh töten wird. Weil er ohne Hof-Erben keine Zukunft sieht.

Dieser Jean also findet bei Anne, die mit seinem älteren Bruder Georges liiert ist, für ein paar Tage Unterschlupf. Nun zieht er los durch die Pariser Straßen – und entsorgt eine Brötchentüte, indem er sie achtlos einer Bettlerin in die bittend geöffneten Hände wirft. Entwürdigend! Der junge Farbige Amadou regt sich dermaßen darüber auf, dass er den Rücksichtslosen zwingen will, sich zu entschuldigen. Geschrei. Rangelei. Polizei wird geholt. Alle müssen mit zur Wache. Es ist der Anstoß für alles Folgende.

Nächste Szene: Starr blickt die Kamera auf eine Flugzeugtür. In lähmender Echtzeit sehen wir Passagiere einsteigen. Es ist eine gezielte Einlullung ins Banale. Schließlich taucht die Bettlerin von vorhin auf. Die Erkenntnis trifft einen nun blitzartig: Die Frau wird abgeschoben; eine schreiend ungerechte Konsequenz des Vorfalls mit der Tüte.

Aufgerüttelt oder abgestumpft?

Der Film fährt den Weiterungen nach, gleichsam mit weit aufgerissenen Augen missliche Verhältnisse betrachtend: in der Familie des jungen Farbigen, in der dumpfen Enge des Bauernhofs. im bitterarmen Rumänien (Herkunft der Bettlerin). Mit dem Kriegs-Fotografen Georges, der weltweit unterwegs ist und sich fragt, ob seine Bilder aufrütteln oder abstumpfen, nach welchen Code sie also wirken, kommt auch militärische Gewalt Betracht.

Und die Liebe? Im Hader mit seiner Freundin Anne gesteht der Fotograf, dass er noch nie jemanden glücklich gemacht hat. Haneke verlegt den Dialog in einen Supermarkt: Während die beiden konsumieren, erhitzt sich ihr Streit. Seelische Drangsal, mit Chips und Cola vermengt. Gegen Schluss wird Anne in der vollen U-Bahn von einem jugendlichen Araber angemacht, verhöhnt, bespuckt. Nur ein älterer Herr greift ein. In Annes Heulkrampf verdichtet sich das Menetekel dieses Films. Als sie durch städtische Kältezonen nach Hause wankt, wirkt sie so heimatlos wie die Bettlerin. Ungeschützt wie alle.

Ein Film, der keinen Trost birgt – und lange nachwirkt.




Ein Anti-Held aus der skeptischen Generation – Der Schauspieler Hansjörg Felmy wird heute 70 Jahre alt

Von Bernd Berke

Seine erste Rolle war in familiärer Hinsicht geradezu pikant: Hansjörg Felmy, damals gerade 18-jähriger Sohn eines Luftwaffen-Generals, betrat 1949 just in Zuckmayers Stuck „Des Teufels General“ die Bühne – in der Rolle eines Arbeiters. Am Beginn seiner Laufbahn stand das militärische Genre oft obenan. Heute wird Felmy 70 Jahre alt.

1956 hatte er sein Kino-Debüt er in Alfred Weidenmanns „Der Stern von Afrika“. Er spielte einen Fliegerleutnant, der keine Neigung zum „Heldentum“ zeigte. Felmy dürfte in jenen Jahren einiges zur Selbsterforschung der Nachkriegsdeutschen beigetragen haben, verkörperte er doch meist Männer, die entweder sarkastisch aufbegehrten (etwa in Kurt Hoffmanns Satire „Wir Wunderkinder“, 1958) oder die selbst in finsteren Zeiten aufrecht geblieben waren. Solche Streifen waren gewiss ehrenwerte Versuche, sich der Vergangenheit zu stellen. Sie entsprachen dem nüchternen Geist der „skeptischen Generation“.

Weitere Filmtitel aus seiner ersten großen Phase lassen ahnen, dass sich Felmy denn doch nicht auf ein Rollenprofil festlegen ließ: „Haie und kleine Fische“ (1957), „Der Greifer“ und „Herz ohne Gnade“ (beide 1958), „Rommel ruft Kairo“, „Buddenbrooks“, „Und ewig singen die Wälder“ (alle 1959), „Die zornigen jungen Männer“ und „Schachnovelle“ (beide 1960).

Unvergessen als Essener „Tatort“-Ermittler Haferkamp

Rückblick: Das Gymnasium in Braunschweig hatte er nur bis zur Mittelstufe besucht. Ab 1947 nahm er Schauspielunterricht. Nach Theater-Stationen in Braunschweig, Aachen und Köln lockte der Film. Hier errang Felmy frühen Ruhm und bekam in den 50er Jahren Traumgagen von bis zu 300 000 Mark. Das Geld dürfte ein Polster gewesen sein, als das deutsche Kino in den 60ern in eine tiefe Krise geriet und kaum noch tragbare Angebote kamen.

Felmy hielt sich seinerzeit auch mit Auftritten in zweitklassigen Streifen (Edgar Wallace-Adaptionen) im Geschäft, ansonsten kehrte er zur (Tournee-)Bühne zurück und trat ab 1966 (Dreiteiler „Flucht ohne Ausweg“) häufiger im Fernsehen auf, wo der wohl prominenteste Part seines Lebens noch auf ihn wartete.

Von 1973 bis 1980 spielte er den Essener Kommissar Haferkamp, einen der besten „Tatort“-Ermittler überhaupt, den man auch heute noch gern in Wiederholungen sieht. 1974 konnte ich Felmy für die WR bei „Tatort“-Dreharbeiten vor damals noch gängiger Hochofenkulisse in Duisburg beobachten. Es war ein relativ kurzer Termin, denn die Szene „saß“ sofort. Seither hat man so manchen Schauspieler gesehen, doch nur ganz wenige waren so professionell und dabei so angenehm uneitel.

Der erste richtige „Single“ im deutschen TV

Eine Spielanleitung brauchte dieser ungeheuer disziplinierte Darsteller kaum. Und so soll er denn auch einigen weniger erfahrenen Regisseuren das Leben recht schwer gemacht haben – wenn der Wählerische überhaupt noch Drehbücher akzeptierte.

In seiner „Tatort“-Rolle kultivierte Felmy vollends seinen Hang zum Understatement, zur sparsamen Geste, zur unaufdringlich-präzisen Charakterzeichnung. Und er war sozusagen der erste richtige „Single“ im deutschen Fernsehen. Die liebevoll ironischen Scharmützel des oft mürrischen Einzelgängers mit seiner Geschiedenen (Karin Eickelbaum) sind TV-Legende, ebenso wie der immergleiche Popeline-Mantel des Kommissars oder seine Vorliebe für Frikadellen und klaren Schnaps. Er war ein Anti-Held des Alltäglichen, von Melancholie umflort.

Zuletzt sah man Felmy in Mittelklasse-Produktionen wie „Abenteuer Airport“ (1990-93) und „Hagedorns Tochter“ (1994). Mit seiner zweiten Ehefrau Claudia Wedekind lebt er zurückgezogen in Bayern und Nordfriesland. Das Rauchen mag er trotz ernster Erkrankungen nicht aufgeben: „Ich will und werde mein Leben nicht verändern, nur um es zu verlängern. Wenn ich deswegen früher sterbe, habe ich eben Pech gehabt“, zitiert ihn eine Nachrichtenagentur. Vernünftig klingt das nicht. Aber es ist ein Standpunkt.

 




Im Fegefeuer der Intrigen – Matthias Hartmanns Bochumer Triumph mit der Schiller-Rarität „Der Parasit“

Von Bernd Berke

Bochum. Hand aufs Herz: Wer kennt Friedrich Schillers „Der Parasit“? Nein, nein. Keine Ballade ist’s, sondern ein richtiges Theaterstück. Und doch taucht es noch nicht mal im zweibändigen Hensel-Schauspielführer („Spielplan“) auf, der sonst fast immer Rat weiß. Es ist eine Rarität, die Bochums Intendant Matthias Hartmann zum Bühnenleben erweckt. Und zwar fulminant!

Die „Quote“ durfte man schon damals nicht ganz außer Acht lassen: Auf der Suche nach einer Komödie mit Kassen-Chancen stieß Schiller anno 1803 auf den Stoff des Franzosen Louis Benoît Picard. Er übertrug dessen Text, verwandelte die Verse in flüssige Prosa, verschob inhaltliche Akzente – und fertig war ein funkelndes, effektvoll gebautes Konversationsstück, bei dem man nie und nimmer an den sonst so ernsten Schiller denkt. Eine Gelegenheitsarbeit, kein Hauptwerk. In Bochum erweist sich freilich, dass darin eine Menge steckt.

Ein Mitläufer aller Systeme

Hartmann verlegt die Karriere-Intrigen im Dunstkreis eines Ministeriums in die Angestellten-Welt. Vor ehedem vielleicht gediegener, nun aber etwas verschlissen wirkender Kulisse (unmodische Wandfarben, verstaubter Gummibaum, schäbige Plastik-Planen / Bühnenbild: Petra Korink) betreibt jener „Parasit“ namens Selicour (einfach wunderbar präsent: Michael Maertens) seine Ränkespiele, um endlich Gesandter zu werden. Als erotische Zusatz-Trophäe lockt Charlotte (Lena Schwarz), 17jährigesTöchterlein des neuen Ministers Narbonne (Felix Vörtler).

Eminent komisch ist’s, wie dieser Selicour mit tausend Wort-, Bein- und Körper-Verdrehungen es eilfertig jedem recht machen will; wie er, wachsam in jeder Sekunde, dem Minister schmeichelt und dessen Mutter (Veronika Bayer) becirct, die darob ganz lüstern wird. Wie er jede Schwäche anderer für sich münzt, nach oben buckelt und nach unten keilt. Schon dem verwerflichen Vorgänger hat Selicour, Mitläufer (und Motor) jedes Systems, gedient. Nun schmäht er ihn. Er war ja schon immer dagegen.

Dieser Kerl ist so verflucht geschickt

Dieser Kerl ist so verflucht geschickt, dass selbst seine Gegner wankend werden. La Roche (Thomas Büchel), den Selicour kurzerhand entlassen hat und der aus Rachedurst eine Gegen-Intrige ins Werk setzen will, wird nach allen Regeln der Kunst umgarnt, als er sich beim Minister beschwert. Selicour bedient sich zudem virtuos der Fähigkeiten anderer: Dem redlichen Beamten Firmin (Ralf Dittrich) luchst er ein kluges Dossier ab, von dessen in Charlotte verliebtem Sohn Karl (Manuel Bürgin) erhält er glühende Gedichte.

Herrlich, wie Hartmann und die Darsteller den typenkomödiantisch zugespitzten Charakteren flackernde Doppeldeutigkeit ablauschen. Minister Narbonne (gestisch zwischen dem Komiker Heinz Erhardt und dem CSU-Altvorderen Franz Josef Strauß angesiedelt), hat zwar etwas Salomonisches, bei Konflikten will er stets beide Seiten hören. Doch lässt der Schelm nicht die Gegner wie Gladiatoren gegeneinander antreten?

Sogar mit Selicour, so wie Maertens ihn anlegt, kann man Mitleid haben. Aus kleinen Verhältnissen stammend, will er halt hinauf. Verzweifelt strampelt er sich ab bis zur Erschöpfung, schmort selbst gehörig im Fegefeuer seiner Intrigen. Als sich Erfolge (trügerisch) abzeichnen, kann er es nicht recht fassen, geschweige denn genießen. Wäre Selicours Seelendrang nur etwas anders gelagert, so taugte er zum guten Menschen, denn er kann sich doch so gut in alle hineinversetzen…

Drei Lösungen für das Lustspiel

Bis dahin war’s schon köstlich, man hat sich im Voraus auf jede Szene diebisch gefreut. Doch der Geniestreich folgt erst noch: Im Schnellgang spielt Hartmann drei Lösungen des Lustspiels durch – und alle scheinen irgendwie höllisch plausibel. Einmal obsiegt (der Vorlage gemäß) der seriös-zurückhaltende Firmin, dann zieht mit La Roche der nächste Opportunist seine Schleimspur, schließlich triumphiert Selicour.

Nicht etwa mutwillig aufgepfropft sind diese Varianten. sondern unmittelbar aus vorherigen Kernsätzen des Stückes geronnen. So wird’s unversehens ein ganz heutiges Drama: der Text als Spielmaterial wechselnder, einander überlagernder Bedeutungen.

Stehende Ovationen für alle Mitwirkenden. Bochum ist wieder eine zentrale Pilgerstätte des deutschen Theaters!




Fast wie im Revier: Aus Luxemburgs Industriewüste blüht Kultur

Von Bernd Berke

Luxemburg. Man stellt sich Luxemburg wohl ein wenig wie das Sauerland vor: sanfte Hügel, viel Grün, idyllische Dörfchen. Doch das ist nur die eine Seite: Mancherorts sieht es in dem kleinen Land so aus wie im Ruhrgebiet – ähnliche Probleme Inbegriffen. Und auch diese Parallele gibts: Wie im Revier, so entdeckt man auch in Luxemburg beim Strukturwandel die Kultur als zukunftsträchtigen Sektor.

Im aktuellen Partnerland der Ruhrfestspiele hat das Theater lange ziemlich brach gelegen. Doch jüngst stieg endlich das staatliche Kulturbudget, so dass sich allmählich auch ein Nationaltheater etablieren kann. Direktor Frank Hoffmann, der häufig in Deutschland inszeniert, schwebt ein „Europäisches Theater“ multikulturellen ZuSchnitts vor. Mit derlei Visionen kommt er Hansgünther Heyme nahe, der ja die Ruhrfestspiele zum Europäischen Festival erweitert hat. Hoffmanns Inszenierung nach Kafkas Roman „Das Schloß“ wird in Recklinghausen gastieren.

Die vorgesehene Nationaltheater-Spielstätte freilich, eine frühere Schmiede, muss noch umgebaut und mit einer Heizung versehen werden. Bei einer winterlichen Diskussionsrunde mit luxemburgischen Theaterschaffenden (die z. B. aus Frankreich, Finnland und Ostdeutschland stammen), froren hier alle Beteiligten. Doch innerlich erwärmten sie sich an günstigen Perspektiven. Die prestigeträchtige Zusammenarbeit mit den Ruhrfestspielen kommt als Impuls gerade recht.

Höchste Zeit, dass Luxemburg ein paar Francs mehr für die Künste aufbringt. Zu verdanken ist dies auch der Kulturministerin Erna Hennicot-Schoepges, von Haus aus Pianistin. Das insgesamt schwerreiche Großherzogtum, in dessen gemächlich wirkender Hauptstadt (nur 78.000 Einwohner) zahllose Bankpaläste und EU-Behörden strotzen, leistet sich übrigens Schulneubauten, von deren Palast-Charakter man in Deutschland nicht einmal zu träumen wagt.

Das gerade erwachende Luxemburger Theaterleben zeichnet sich durch zwei Be-sonderheiten aus: Es gibt keine festen Ensembles, man findet sich jeweils für bestimmte Produktionen zusammen. Zudem ist das Land (rund 400 000 Einwohner / Ausländeranteil 37 Prozent) dreisprachig. Manche Truppen spielen auf Deutsch, andere auf Französisch, wieder andere reden Letzeburgisch (eine dem Moselfränkischen verwandte Mundart). Da dürfte die Zielgruppen-Findung nicht leicht sein.

In der industriell geprägten Stadt Esch-sur-Alzette fühlt man sich an Dortmund-Hörde und das Areal des einstigen Hoesch-Werks Phoenix erinnert. Ein vom Arbed-Konzern geschlossenes Stahlwerk rostet bei Esch (Belval) majestätisch vor sich hin, ein paar Hochöfen wurden bereits nach China verkauft. Nun erfolgt – mit Hilfe von Arbed und einiger Ruhrgebiets-Firmen – der Umbau der ganzen Gegend. Dabei spielt auch Kultur eine Rolle.

Eine gigantische, 160 Meter lange Gebläsehalle auf dem filmreifen Gelände soll Schauplatz der Goldoni-Inszenierung des Ruhrfestspielchefs Hansgünther Heyme werden, die ab 13. Mai nach Recklinghausen kommt (Zeche Blumenthal/Haard). Selbst der phantasiereiche Theatermann hatte Mühe, sich das Stück „Der Diener zweier Herren“ in diesem rohen Ambiente vorzustellen. Bis zur Premiere am 1. April gibt’s noch viel zu tun, doch Heyme gefällt der wildwüchsige Ort mitsamt den „Spuren harter Arbeit“. Bisher beherrschen noch viele Füchse das Gebiet, die sich hier ihren Bezirk erobert haben – inmitten der maroden Stahl-Kolosse.

Nicht weit entfernt liegt jener vormalige, für 9 Mio. DM sanierte vormalige Schlachthof, in dem ein gleichfalls im Revier bekannter Mann sein Theaterglück sucht: Steve Karier, unter Leander Haußmann Schauspieler in Bochum, leitet die 1998 eröffnete „Kulturfabrik“, die sich (bemerkenswerte Quote) zu über 50 Prozent aus ihren Einnahmen trägt.

Das Einzugsgebiet reicht bis Lüttich, Saarbrücken und Trier. Mit jährlichen Subventionen von jetzt 750 000 DM entsteht hier ein ehrgeiziges Programm zwischen Rockmusik und Theater. Willy de Ville gastierte hier ebenso wie der ruhmreiche Regisseur Luc Bondy mit Becketts „Godot“. Der moderne Klassiker war die Ausnahme. Karier: „Sonst spielen wir kaum Stücke, die mehr als zehn Jahre alt sind. Neues Kultur-Leben blüht aus den Industrie-Ruinen…




Im Bannkreis zweier Meister – Münsteraner Ausstellung zeigt Einflüsse Klees und Kirchners auf Fritz Winter

Von Bernd Berke

Münster. Mit vollen Segeln und stolz beflaggt, sticht die Fregatte auf Paul Klees Bild „Abenteuer Schiff“ (1927) in See. Entschieden karger geht es auf dem Gemälde gleich daneben zu. Fritz Winter hat „Das Boot“ (1930) nur mit dem Nötigsten ausgerüstet. Es schaukelt ein wenig träge und traumverloren vor sich hin.

In der neuen Münsteraner Ausstellung „Klee – Winter – Kirchner“ begegnet man immer wieder solchen Doppelungen, die zum direkten Vergleich anregen. Eine Seh-Schule auf hohem Niveau. Die Gegenüberstellungen haben ihre kunstgeschichtliche Basis: Fritz Winter, 1905 in Altenbögge bei Unna als Sohn eines Bergmanns geboren, studierte von 1927 bis 1930 am berühmten Dessauer „Bauhaus“. Sein wohl wichtigster Lehrer war dort Paul Klee. Kein Wunder, dass es hier etliche Einflüsse gegeben hat.

Doch Winter segelte eben nicht nur im Windschatten Klees. 1929 nahm er brieflich Verbindung zu einer völlig anderen Künstlerpersönlichkeit auf – dem Expressionisten Ernst Ludwig Kirchner. Man traf und mochte sich gleich. Die Begegnung schlug sich gleichfalls deutlich in Winters Bildern nieder. Der junge Mann war eben noch prägsam.

In den Schattenzonen des Bewusstseins

Den zeitlichen Schlusspunkt setzt die interessante, in München zusammengestellte Schau mit dem Jahr 1934: Damals sahen sich Klee und Kirchner, die einander bis dato schätzten, aber nicht persönlich kannten, zum ersten und einzigen Male im Leben.

Klee ist einer der allergrößten Meister im staunenswert triftigen Einfangen des Ungefähren. In den Schattenzonen des Bewusstseins erfasst er sonst kaum wahrgenommene Unschärfen, Überlagerungen und Schwingungen. „Trauernd“ (1934) scheint sein Frauenbildnis in einem Muster aus Grau- und Rosa-Tönen auf- und abzutauchen; mal tief in sich selbst versinkend, dann neue Hoffnung schöpfend. Ungeheuer weich und fließend lebendig, als seien sie in jedem Augenblicke wandelbar, wirken solche Bilder.

Von derlei flüchtigen Figurationen hat sich auch Fritz Winter seinen Anteil abgeschaut und anverwandelt. Die Vergitterungs-Strukturen auf Klees „Der Tod“ (1927) und auf Winters titellosem Bild von 1929 weisen frappante Ähnlichkeiten auf. Doch bei allem Respekt vor Winter, der bislang eher als Größe der Nachkriegszeit geweitet wurde: Klees Formfindungen wirken allemal noch dringlicher und zwingender.

Die Strömungen und der Umriss

Sodann der zweite, so gänzlich anders gelagerte Einfluss: Im Sog Kirchners werden Winters Linienführungen wieder fester, eindeutiger. Solche Kunst verströmt sich nicht, sie lebt vom Umriss. Doch auch hier können Figuren zeichenhaft abstrahiert werden. Kirchner selbst sprach von bildlichen „Hieroglyphen“.

Zudem entdeckte Winter, von Kirchner darauf aufmerksam gemacht, die kreativen Kräfte des „Primitivismus“. Eine schöne „rohe“ Holzskulptur zeugt davon. Auch hier kann man also die Einwirkung des Arrivierten auf den Adepten bestens nachvollziehen – eine Folge der Hängung, die die Bilder zumeist paar- oder gruppenweise vor Augen führt.

Natürlich wollen wir Winter nicht als bloßen Nachahmer schmähen. Wer derart jung in die Bannkreise zweier Meister wie Klee und Kirchner gerät, muss schon enorme innere Selbstbehauptungs-Kräfte besitzen, um nicht „unterzugehen“. Winters eigener Sinn aber hat sich in diesem hochkarätigen künstlerischen Dreieck gefestigt.

Westfälisches Landesmuseum. Münster (Domplatz). 14. Januar (Eröff. 11 Uhr) bis 4. März. Tag. außer Mo 10-18 Uhr, Eintritt 5 DM, Katalog 34 DM.

 




Blanke Mechanik eines misslungenes Lebens – Emmanuel Boves bestürzender Roman „Ein Vater und seine Tochter“

Von Bernd Berke

Bücher haben, wie Menschen auch, ihre rätselhaften Schicksale. Unerfindlich ist es beispielsweise, warum ein Autor wie der Franzose Emmanuel Bove (1898-1945) erst so spät bei uns „entdeckt“ wurde.

Es bedurfte dazu erst einer Bove Übersetzung durch Peter Handke, der Boves Roman „Meine Freunde“ grandios ins Deutsche übertrug. Seither erscheinen seine Bücher gleich reihenweise. Sie gehören auf Ehrenplätze im Regal.

Jetzt hat der Bremer Manholt-Verlag Boves fulminante Erzählung „Ein Vater und seine Tochter“ vorgelegt, die im Original bereits 1928 erschien. Doch die Erzählweise mutet bis heute unverbraucht an.

Besagten Vater Jean-Antoine About (der Nachname bedeutet in der Schreibweise à bout etwa: „erschöpft“, „am Ende angelangt“) lernen wir in dem Moment kennen, als er ein Telegramm von seiner Tochter erhält. Sie kündigt nach Jahren der Abwesenheit ihre Rückkehr an.

Bove lässt uns nun die ganze Zerrissenheit des Mannes miterleben, der mitsamt seiner Wohnung verkommen ist, der von allen Nachbarn und Passanten im Pariser Viertel gemieden wird. Doch der Autor ergeht sich nicht in wolkiger Seelenschau, sondern blickt kühl auf die Außenseite des Geschehens, die das Innenleben freilich sehr präzise widerspiegelt. Lakonisch, klar und plastisch skizziert er die Vorgänge. Gnadenlos genau beobachtet er, wie About allmählich in Rage gerät, hin und her geworfen zwischen Glücksaufwallung über die Heimkunft der „trotz alledem“ geliebten Tochter und lang gehegten Bestrafungs-Wünschen.

Ein Mann wollte „nach oben“

Bald darauf kommt es gewiss zur Wiederbegegnung, und wir erfahren, was sie ihm ange- tan hat? Keineswegs. Bove lässt im Zeitraffer die Lebensgeschichte Abouts vor uns abschnurren – mit einer erschreckenden Zwangsläufigkeit, die sich aus den Wiederholungsmustern dieses Lebens ergibt: About, der von begrenzten Geisteskräften zehrt, dachte dennoch stets, er sei zu Höherem berufen. Seelisch starr, doch vom Feuer des Ehrgeizes versengt, strebt er als junger Mann mit Macht nach oben – zunächst im Tuchhandel, dann mit der Eröffnung eines Frisiersalons in Paris.

Nun glaubt er, es „geschafft“ zu haben. Doch natürlich ist er nicht wirklich „oben“. Seine Frau sieht neidvoll all die eleganten Damen im Salon und verfällt nach und nach der nächtlichen Halbwelt, wo sie sich von anderen Männern „aushalten“ lässt. Quälend zu sehen, wie About davor lange die Augen verschließt, weil er ihr doch ein behagliches Heim bereiten will. Je größer sein Harmonie-Bedürfnis, umso schlimmer der Zerfall…

Vernichtung der Selbstachtung

Geradezu herzzerreißend dann sein Auftritt in jenem anrüchigen Hotel, in das die Tochter geflüchtet ist. Als Künstlerin will sie leben – und dazu gehört für sie die „freie Liebe“. Vor ihrer Tür bekommt der Vater, der keine Frau je loslassen mag, einen erbärmlichen Tobsuchtsanfall. Es ist die anschwellende Vernichtung seiner Selbstachtung und Würde.

Und plötzlich bekommt man tiefes Mitleid mit diesem doch widerlichen Menschen. Da denkt man an keinen Geringeren als Dostojewski, der ja in seinen Figuren alle Untiefen der Selbst-Demütigung ausgelotet hat.

Die Rückkehr der Tochter führt zum finalen Zerwürfnis. Bove hat die Hoffnung Schicht für Schicht abgetragen – bis man die unverhüllte Mechanik eines misslungenen Lebens sieht. Das ist bestürzender und radikaler als manches, was sich heute so gebärdet.

Emmanuel Bove: „Ein Vater und seine Tochter“. Manholt-Verlag. 95 Seiten, 30 DM.

 




Gernhardt, Waechter, Bernstein – das Dreikönigstreffen des höheren Sinns und Unsinns in Menden

Von Bernd Berke

Menden. Man beachte den Unterschied: Es war kein Event, es war ein Ereignis. Der vor rund dreieinhalb Jahrzehnten geschmiedete Dreierbund des parodistischen Nonsens erneuerte sich am Samstag glorreich im Kinocenter Menden: Robert Gernhardt. F. K. Waechter und F. W. Bernstein waren da – gleichsam das Dreikönigstreffen des feinfühligen Humors.

Die Briten hatten „Monty Python“, unsereins hatte Loriot und diese drei: Zur Mitte der 60er-Jahre war’s, als das unvergleichliche Trio die „Welt im Spiegel“ (WimS) schuf, jene legendären Seiten für höheren Sinn und Unsinn, die dem Satiremagazin „Pardon“ beigeheftet waren. Als so genannte „Neue Frankfurter Schule“ haben sie gewiss den Humor des sensibleren Teils der 68er-Generation mitgeprägt.

Drei einflussreiche Pioniere des geistvollen, oft das Philosophische streifenden Ulks also. Gernhardt gilt längst auch der hochmögenden Literaturkritik als feste Größe, Waechter machte seinen weiteren Weg nicht zuletzt als Kinderbuch- und Theaterautor.

Wie schön, dass ihre Bruderschaft noch besteht. Und wie gut, dass sie ins sauerländische Menden fanden, wo der rührige Verein „Katastrophen Kultur e.V.“ ihnen allerdings weder das Theater Scaramouche (wegen angeblicher Einsturzgefahr geschlossen) noch das Theater am Ziegelbrand anbieten konnte. Also zog man ins Kinocenter. Und der große Saal war derart ausverkauft…

Es geht um „Mann und Maus, Mensch und Frau“

Gernhardt gab die globale Leitlinie vor: Um „Mann und Maus, Mensch und Frau“ werde es in den Texten aus 35 Jahren gehen. Sogar der „Page Herbert“, eine Figur aus den Anfangsjahren, hatte nochmals einen absurd-frechen Auftritt antiautoritären Zuschnitts: Wiederum dürfte er seinem zornigen König den Kauz ins Gesicht werfen und siedende Fettmasse hinterdrein gießen („…und das heiße Schmalz / zischt dir an den Hals^).

Oder dies: Die Viktor-Schlawenz-Gesellschaft will Leben und Werk dieses Mannes fördern. Doch leider gibt es nirgendwo einen, der so heißt. Tja. Die Goethe-Gesellschaft hatte eben unverschämtes Glück: Da lebte einer dieses Namens, der sogar Meisterwerke schrieb. Oder das: Ein selbsternannter Experte behauptet, die Zentralgestalt der Kunstgeschichte sei ja wohl die Bisamratte. Gewiss doch. Etwa bei Rembrandt, dem alten „Bisamratten-Pinsler“.

Oh, ihr tiefen Wonnen der Albernheit! Allerlei hintersinnige Dichtungen und Dramolette wurden mit verteilten Rollen gelesen. Sündiger Sex und seliger Suff bilden das Gerüst, um das sich ausgefeilte Reime ranken. Gar oft ist auch der Tod zu Gast, der alte Sensenmann. Doch selbst ihm wird Hohn und Spott zuteil.

Ältere Texte erklären sich aus der Reibung an überkommener Sexual-„Moral“ der 50er- und frühen 60er-Jahre. Damals waren es befreiende Akte, inzwischen sind sie mit Würde gealtert. Nicht Patina haben sie angesetzt, wohl aber Jahresringe. Ganz so wie F.K. Waechter, der immer noch die gleiche (inzwischen schlohweiße) Freak-Frisur trägt wie „damals“; ganz so wie Bernstein, der vielleicht Skurrilste, Verschrobenste von den Dreien (was einiges heißen will). Mag sein, dass es ihnen ergeht wie Bob Dylan, dem die Fans immer wieder die Songs aus den 60ern abverlangen. Sie lassen sich keinerlei Routine anmerken. Im Gegenteil. Hut ab!




Jedes Wort ist ein Versteck – Claude Chabrols Film „Süßes Gift“ mit Isabelle Huppert

Von Bernd Berke

In diesem Film wird viel geredet, doch kaum über das, was die Personen wirklich bewegt. Das Entscheidende bleibt allemal unter dem Mantel des Schweigens. Jedes Wort ist ein Versteck. Mit „Süßes Gift“ ist Claude Chabrol wieder so sehr in seinem Element wie lange nicht mehr.

Sein psychologisch subtiler, sanft eindringlicher Thriller schleicht sich in Hirn- und Herzwindungen des gehobenen Bürgertums, wo er haarfeine Lügengespinste und neurotischen Selbstbetrug aufspürt. Doch er bleibt bei solchen Erkundungen so diskret, dass man am Ende nicht sicher weiß, was tatsächlich geschehen ist. Es schwant einem nur. Eine Geschichte auf schwankendem Boden.

Durch Zufall erfährt Jeanne (Anna Mouglalis), dass sie vor rund 20 Jahren als Baby vielleicht mit Guillaume vertauscht und der falschen Familie in die Wiege gelegt worden ist. Der Säuglingsstation waren damals die Markierungs-Bändchen ausgegangen

Als Säuglinge in der Klinik vertauscht?

Seltsam nun: Aus Jeanne ist eine talentierte Klavierspielerin geworden. Und Guillaumes angeblicher Vater André Polonski (Jacques Dutronc) ist just ein berühmter Pianist. Guillaume hingegen hat gar kein Faible für Musik: Wenn Polonski in Tonkaskaden von Franz Liszt schwelgt, lässt der vermeintliche Sohn ungerührt seinen Gameboy piepsen oder lungert vor der Glotze herum. Und Polonskis erste Ehefrau sah Jeanne so ähnlich wie ein Spiegelbild. Nur Zufall?

Jeanne ist irritiert. Es ist, als sei sie im Leben nicht mehr richtig verankert. Sie besucht Polonski, fragt nach dem Vorfall im Kreißsaal. Der Pianist leugnet jede Verwechslung, fühlt sich aber der jungen Frau geistig gleich so innig verbunden, dass er ihr Privatstunden erteilt und sie gar für mehrere Tage einlädt. Liszt vierhändig, welche Harmonie! Oder is’s auch unterschwellige Erotik?

Damit kommt Polonskis zweite Ehefrau „Mika“ (Isabelle Huppert) ins Spiel der verdeckten Absichten. Auch sie, die eine Schokoladenfirma geerbt hat, umgarnt Jeanne mit geradezu schwesterlicher Fürsorge. Ist sie denn nicht eifersüchtig? Sie lässt sich nichts anmerken. Blass und mit etwas wässrigem Blick schaut sie um sich. Nur manchmal lacht sie eine Spur zu spitz,. Mit wachsender Verwunderung und Faszination sieht man Isabelle Huppert beim seelischen Versteckspiel und (paradox genug) der Koketterie mit dem Entdeckt-Werden-Wollen zu.

Die Trinkschokolade und das Schlafmitttel

Denn warum serviert diese „Mika“ ihrer Familie immerzu Trinkschokolade, warum verschüttet sie das Zeug zwischendurch so oft, und warum geht ihrem Gatten schon wieder das starke Schlafmittel Rohypnol aus? Befremdliche.

Da könnte es wohl Zusammenhänge geben, die auch auf den rätselhaften Auto-Unfalltod von Polonskis erster Frau zurückverweisen. Jeannes Mutter betreibt – wie günstig – ein gerichtsmedizinisches Labor. Dort wird die ominöse Schokolade heimlich getestet. Doch bis zum Schluss erfährt man nichts Genaues.

Selbst in Momenten scheinbarer Enthüllung bleibt ein Schleier vor der Wahrheit und allen Worten. Und wie von selbst stellt sich eine bizarre Komik des Verbergens ein. Trotzdem glauben wir genug gesehen zu haben. Wir ahnen nun wohl, wie viel böses Wissen jemand erträgt ohne Aufschrei, ohne sich zu offenbaren; wie sich diese Menschen in fatalen Wiederholungszwängen verfangen haben. Und wie sie dennoch weitermachen – auch nachdem sie in jene Abgründe geblickt haben, die sie füreinander sind.




Suff und Ernüchterung – Bertolt Brechts „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Sie legen als Vorspiel einen Schuhplattler hin, sie juchzen und jodeln ein wenig. Gerät Brechts Stück „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ etwa ins trübe Fahrwasser der volkstümelnden Unterhaltung? Nein, nicht einmal das!

Als wäre sie den Urhebern plötzlich selbst peinlich, bleibt diese Eingangs-Szene unerfindlich isoliert und folgenlos stehen, sie erstickt geradezu.

Der finnische Großgrundbesitzer Puntila (Claus Boysen) gibt sich als leutseliger Menschenfreund, sobald er besoffen ist. Doch wehe, er wird „sturzhagelnüchtern“ (Brecht). Dann verfolgt er seine Klassen-Interessen, entlässt reihenweise Knechte, beschimpft Matti als Aufwiegler und beleidigt alle Welt.

Matti lässt das Wechselspielchen für eine Weile über sich ergehen, doch er durchschaut die Lage gleich: Den Herrschenden kann man nie trauen. Das Bühnenbild (Monika Gora) im Essener Grillo-Theater zeigt’s ja schon: Man spielt unter einem Viadukt, das in der Mitte geborsten ist. Brückenschlag unmöglich.

Seltsamer Öko-Visionär auf einem Podest aus Stühlen

Matti-Darsteller Wolfram Bölzle leiert seinen Part lapidar herunter. Er kennt ja das Gehabe aller Besitzenden bis zum Überdruss. Boysens Puntila ist da schon (trotz aller Leibesfülle) etwas beweglicher: Wie er auf Freiersfüßen tänzelt und im Handstreich drei Verlobungen mit verwelkten Dorfmädchen unter Dach und Fach bringt, das ist die vielleicht noch beste Sequenz des Abends, der besonders nach der Pause in Langwierigkeit abgleitet. Am Schluss wird Puntila mit einer Kurbel auf (wackelige) Denkmalshöhe geschraubt und darf auf seinem Stuhl-Gebirge vom ländlich-schönen Finnland schwärmen. Ein Oko-Visionär? Ach was!

Theatralische Mangelwirtschaft: Vor allem den Nebenfiguren ist ein schmales Spektrum an Tonfällen und Gesten zugeordnet. Damit müssen sie halt auskommen. Der verschuldete Attaché (Rezo Tschchikwischwili), den Puntilas Tochter Eva (zickig aus lang unterdrückter Geilheit: Sabine Osthoff) nicht heiraten will, muss eben stets auf die gleiche Weise exaltiert sein, der Probst (Arno Kempf) allweil frömmelnd die Hände ringen. So versackt man in den schalen Konventionen der Typenkomödie. Wer gerade nicht redet, steht hilflos herum. Da hilft auch das ausgiebige Kreisen der Drehbühne mitsamt Schwimmbecken, Sauna-Hütte und Beiwagen-Motorrad wenig.

Gestaltloses Wabbeln wie im Alkohol-Nebel

Regisseur Matthias Kniesbeck hat Bertolt Brechts „Volksstück“ also ziemlich „un-brechtisch“ zugerichtet. Er lässt uns arg spüren, dass der Text in seiner ständigen Abfolge von Suff und Ernüchterung durch Monotonie bedroht ist, wenn man nicht hellwach bleibt und ihn entschieden packt. Mal plätschert diese Inszenierung nahezu operettenhaft dahin, dann wieder ergeht sie sich nur noch in haltlosem Geschrei, wobei ganze Text-Passagen akustisch auf der Strecke bleiben. Wie denn überhaupt mit der Sprache gehudelt wird.

Hier werden Haltungen nicht mit Lust am Erkennen hergezeigt, hier lässt man’s gestaltlos wabbeln und treiben wie im Alkohol-Nebel, von dem Puntila umwölkt ist. Doch ein rechter Sinn fürs Chaos entwickelt sich auch nicht, die Komik erreicht niemals den absurden Überschlag-Punkt, sondern fräst sich immer schnell fest.

Lang, lang ist’s her, es war im Januar 1985, doch man erinnert sich noch mit Freuden an die Köstlichkeit der Peymann-Ära: Damals richtete Alfred Kirchner denselben Text mit Traugott Buhre (Puntila) und Branko Samarovski (Matti) in Bochum ein – herrlich prall, schräg, als deftiges und doch sinnreiches Vergnügen. Aber man sollte nicht ungerecht sein: Das war eine völlig andere Liga.




Lebendes Monument des europäischen Kinos – Der französische Schauspieler Michel Piccoli wird heute 75 Jahre alt

Von Bernd Berke

In manchen Filmen hat er nur für Minuten die Bildfläche betreten, nur ein paar Sätze gesprochen. Kam einem der Titel in den Sinn, so wusste man freilich gleich: Oh, das war doch diese Geschichte, in der Michel Piccoli mitgespielt hat!

Der Schauspieler, der als Typus eher zurückhaltend wirkt, sich aber mit seinen Rollen immer wieder unvergesslich einprägt, wird heute 75 Jahre alt. In weit über 100 Filmen hat er nahezu mit allen anderen Größen des europäischen Kinos gespielt. Man denke nur an diese Frauen: Jeanne Moreau, Brigitte Bardot, Catherine Deneuve, Stéphane Audran, Romy Schneider, Hanna Schygulla, Liv Ullmann, Juliette Binoche, Sandrine Bonnaire, Emmanuelle Béart…

Meist wurden dem in Paris geborenen Charmeur, der aus einer italienischen Musikerfamilie stammt, Affären mit diesen Schönen angedichtet. Er selbst hat beteuert, niemals eine Frau wegen einer anderen verlassen zu haben. Gleichwohl ist der treue Gefährte in dritter Ehe liiert – mit einer Großgrundbesitzerin, was seinem Bekenntnis zum Sozialismus keinen Abbruch tut. Die bekannteste Verbindung, Nummer zwei (mit der Sängerin Juliette Gréco), währte von 1966 bis 1977.

Kurz ist das Leben, lang die Kunst: Schon seit 1945 war Piccoli, anfangs in kleineren Parts, auf Theaterbühnen und im Kino zu sehen. Der Durchbruch kam 1963 mit Jean-Luc Godards „Die Verachtung“: Hier stürzte sich Piccoli in einen ungeheuer intensiven Geschlechterkampf mit Brigitte Bardot. Auch Luis Buñuel wurde auf ihn aufmerksam und setzte ihn gleich in Serie ein: in „Die Milchstraße“, „Tagebuch einer Kammerzofe“, „Belle de jour“ (Die Schöne des Tages), „Das Gespenst der Freiheit“ und „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“.

Dieser Filmtitel wurde auch Piccoli selbst als Etikett angeheftet, wirkte der elegante Verführer und Salonlöwe doch nie wie ein Draufgänger à la Delon oder Belmondo, sondern bürgerlich selbstbeherrscht und gefasst. Auch Regisseure wie Alfred Hitchcock („Topaz“) und Claude Chabrol besetzten ihn in diesem Sinne.

Beherzter Kämpfer gegen die Vormacht von Hollywood

Doch das war nur die Vorderansicht. Man konnte ahnen, wie es in vielen dieser Gestalten brodelte, wenn man Piccoli auf hundert hintersinnige Arten rauchen sah; wenn man bemerkte, wie er unter halb geschlossenen Augenlidern Blicke blitzen ließ oder wie er Requisiten behandelte, als wolle er sie mitsamt der ganzen Menschheit erdrosseln: Hier lauerte ein gefährlicher Hang zum Zynismus, zum Abgründigen, zu Delirium, Perversion und Wahnsinn.

Dieses Doppelwesen und alle Schattierungen dazwischen, die er auffächerte wie kein anderer, machten Piccoli als Darsteller einzigartig. Die entgrenzte, explosive und düstere Seite hat er manchmal bis zum Exzess ausleben können, so in Claude Faraldos qualvoller Sozial-Phantasie „Themroc“ (1973). Da spielte er jenen Anstreicher, der urplötzlich alle Regeln der Zivilisation abstreift und als brüllender Tiermensch die Mitwelt attackiert.

In Marco Ferreris Ekel-Fest „Das große Fressen“ stopfte er sich (mit Philppe Noiret, Marcello Mastroianni und Ugo Tognazzi) den Wanst so lange voll, bis er unter majestätischen Blähungen verreckte.

Laugst ist Piccoli ein lebendes Monument des europäischen Kinos, für dessen Belange er immer wieder beherzt eingetreten ist – gegen Hollywoods kommerzielle Dominanz. Gewiss kein Zufall, dass Agnès Varda für ihre Hommage zum hundertjährigen Bestehen des Lichtspiels („Les cent et une nuit“ / Hundertundeine Nacht) gerade Piccoli als über allen cineastischen Epochen schwebenden „Mr. Cinéma“ vorsah.

Eine seiner wunderbarsten Rollen war 1991 der Maler Frenhofer in Jacques Rivettes„La belle noiseuse“ (Die schöne Querulantin). Emmanuelle Béart stand und lag ihm da stundenlang nackt Modell. Doch der Film hat gar nichts Anzügliches, sondern erweist sich als existenzielle Auseinandersetzung zweier starker Seelen und als exemplarisches Ringen um den künstlerischen Schöpfungsakt.




Robert Frank: Bilder aus den Randzonen des Sichtbaren – Arbeiten des Filmemachers und Fotografen in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Beim Umgang mit den vielen Bildern, die täglich auf einen einstürmen, befindet man sich zwangsläufig im Zwiespalt. Auch einem Manne wie dem Fotografen und Filmemacher Robert Frank (76) ergeht es nicht anders.

Er kennt den Impuls, aus dem Rauschen der unendlichen Bilder-Flut gültige, dauerhafte Momente festzuhalten. Doch vom Film her weiß er, dass es d a s eine Bild, welches für sich genommen alles aussagt, gar nicht geben kann. Denn alles ist im Fluss.

Das Museum Folkwang widmet Robert Frank jetzt eine anregende Ausstellung, die künstlerische Wegstrecken zwischen Überfülle und Zerfall der Bilder ausmisst. Zu sehen sind vor allem Fotografien und experimentelle Filme. Titel des Ganzen: „Hold still – keep going“, also etwa: Bleib da – geh‘ weiter. Da haben wir ihn wieder, diesen Zwiespalt.

Robert Frank, 1924 in Zürich geboren, wanderte 1947 in die USA aus. Anfangs verdiente er dort sein Geld u. a. mit Modefotos für „Harper’s Bazaar“, mit journalistischen Aufgaben und Werbung. 1958 machte in den Staaten sein Bildband „The Americans“ Furore. Er enthielt spontan und radikal subjektiv wirkende, freilich hinterrücks treffende, im Kopf flirrend nachwirkende Beobachtungen des dortigen „way of life“ und seiner Idole. Die Haltung oszilliert zwischen Sentiment und ironisch-kritischer Distanz. Daraus erwuchs eine Ästhetik, die mindestens in die 60er Jahre voraus deutete.

Erst aus der Sequenz erwächst so etwas wie „Wahrheit“

Frank misstraute längst den „dokumentarischen“ und erzählerischen Ansprüchen des Metiers. Nicht das Einzelbild verhieß ihm eine Annäherung an die „Wahrheit“, sondern –dem filmischen Beispiel folgend – ganze Sequenzen, oft scheinbar chaotisch collagiert, mit Schriftzügen unterlegt oder von ihnen durchkreuzt.

Nicht um vermeintliche objektive Anschauung geht es hier, sondern um Intuition, Gespür für den Moment und Sinn für den Zufall, für die Randzonen des Sichtbaren. Da darf ein Bildmotiv ruhig unscharf sein, es darf in die Schräge kippen, Gesichter dürfen mittendrin angeschnitten werden oder verwackelt aussehen. gekoppelt. Es wirkt bei Robert Frank umso authentischer, wie im frischesten Moment beim Schopfe gepackt und noch nicht von Reflexion überlagert. Wie Filmstreifen sind manche dieser Bilderfolgen gekoppelt. Das Auge des Betrachters irrt hin und her zwischen den fragmentierten Sekunden. Eine ungerichtete, zuweilen ratlos schwankende Wahrnehmung, wie sie ja eigentlich auch den Alltag prägt.

Karge Inventuren bis zum gähnenden Nichts

Karge Inventuren: hier eine bloße Hand, dort einfache Gerätschaften, nahezu leere Zimmer. Aufmerksamkeit im Wartestand, bereit zum Sprung. Manche Bilder sind Umkreisungen der Trostlosigkeit und des gähnenden Nichts. Doch sie künden auch von der Suche nach dem Einfachen, an das man sich halten kann.

Seltsam der Sog der Filme, wenn man sich auf die Fährnisse der Handkamera einlässt: Man sieht scheinbar banale Szenen wie die vom Farbigen, der fiebrig zwischen Autos umherläuft und an der roten Ampel für ein paar Cents Scheiben reinigen will. Immer wieder. Oder man leidet mit an der Einsamkeit jenes Mannes. der in der U-Bahn schwadroniert, während alle anderen betreten schweigen. Partikel von Sozialdramen, mit dem Seziermesser herausgelöst.

Robert Frank, der auch mit dem verrufenen Beat-Poeten Jack Kerouac unterwegs war, treibt es mitunter weit mit seinen Zumutungen: Über die „Rolling Stones“, für die er das Plattencover zu „Exile on Main Street“ entwarf, hat er 1972 Film „Cocksucker Blues‘ gedreht. Er war den Stones „zu hart“. Mick Jagger & Co. verboten die Aufführung. Die Jungs haben trotz aller Exzesse immer aufs Image geachtet.

Bis 11. Februar 2001 im Folkwang Museum, Essen (Goethestraße). Di-So 10-18, Fr 10-24 Uhr. Katalog 40 DM.

 

 




In der kleinen Stadt die Welt erkunden – Michael Zellers poetische Mitbringsel aus Schwerte

Von Bernd Berke

Schwerte. Der Schriftsteller Michael Zeller (56), anno 1999 „Stadtschreiber“ in Schwerte, hat jetzt den poetischen Ertrag seines Aufenthaltes vorgelegt. „Mein schöner Ort“ heißt das Buch. Doch dieser Titel täuscht bruchlose Aneignung idyllischer Gefilde nur vor. Zwar hat Zeller viel Liebenswertes entdeckt, aber manches hat ihn auch befremdet.

Als Freunde ihn fragten, wo um alles in der Welt dieses Schwerte zu lokalisieren sei, fiel ihm zuerst das bundesweit durch Staus bekannte Westhofener Kreuz ein. Die Stadt liege eben an der Autobahn. Blumiger ausgedrückt: „Schwertes Lage ist am Weg“.

Vielleicht hat .der Autor den Ort in seiner Rand- und Durchgangs-Lage als etwas formlos empfunden. Jedenfalls hat er – wie zum Ausgleich – seine Beobachtungen in eine uralte Form gegossen: ins klassische Versmaß des Jambus. Zuweilen sprengen Zellers Zeilen dieses Korsett, doch die suggestive Kraft der (ungereimten) Verse bestimmt den Fluss der Dinge in den 37 „Gesängen aus dem deutschen Alltag“ (Untertitel). Ein Auf- und ein Abgesang zu dieser Strecke der Lebensreise umrahmen, melancholisch getönt, die vielfältigen Stadt-Erkundungen, die sich in etlichen Passagen als Welt-Erkundung erweisen.

„Ihro Gnaden, der Investor…“

Man könnte sich fragen, ob es richtig sei, alle Themen über den gleichen rhythmischen Leisten zu schlagen. Doch Zeller gebietet über viele Tonlagen, auch Rilke und Hölderlin sind ihm spürbar vertraut. Und so ist es ein höchst redliches, sprachlich ausgefeiltes Buch geworden, beileibe keine provinzielle Literatur, sondern gültig weit über Schwertes Grenzen hinaus.

Kostprobe: „Seine Herrlichkeit hält Einzug / Ihro Gnaden, der Investor / Er, der meistgesuchte Mann / in deutschen Städten dieser Jahre / später dann der Steuerfahndung…“ Ähnlichkeit mit lebenden Personen wohl nicht rein zufällig: Diesem windigen Herrn rollen die Stadtväter den roten Teppich aus. Vorsichtshalber hat Zeller diesen Gesang mit dem Untertitel „Träumerei“ versehen. Wir haben verstanden.

Zeller erschließt der Lyrik einen weithin unterschätzten Themenbereich: die Nischen und Niederungen des Kommunalwesens. In der „Wahlpolka“, welche eine Kandidatenkür fürs Bürgermeisteramt schildert, greift Zeller die glatten Zeitgeist-Formeln der Politiker auf: „Jeder will der Schönste sein / bei der spröden Modenschau / Aus meist ,ganzheitlichem Ansatz‘ / soll dereinst ,Vernetzung‘ sein / und es werde ,angestoßen‘ / und es werde ,eingestielt‘ / wenn erst mal die Wahl geschlagen…“

Spurensuche zwischen Ruhr und Autobahn

Leitlinie für Zellers Suchbewegungen im Ort ist immer wieder die Ruhr. An ihren Gestaden registriert er mit Wehmut das Aussterben alten Handwerks. Hier trifft er auch jene Jugendclique, die etwas gelangweilt herumhängt, weil es kaum geeignete Treffs gibt und die Fahrt nach Dortmund ziemlich teuer ist.

Zeller besingt Industriebetriebe und die Justizvollzugsanstalt, das Grün, den Beton und die Verödung, den Gesangsverein, die türkischen Bürger und den Skandal beim Sportverein. Mag die Stadt auch klein sein, so ist sie doch ein weites Feld. Wenn man nur richtig hinschaut.

Auf der Suche nach einer deftigen westfälischen Mahlzeit entdeckt Zeller in Schwerte – wie überall im Lande – fast nur schmucklose Pizzerien, Pommes- und Döner-Buden. Der Historie eines besonders öden Lokals spürte er nach und fand heraus, dass hier früher eine jüdische Schule sich befunden hat. Heute beten dort Moslems. Diesen Wandel bedenkend, schlingt Zeller ein Band um alle diese Religionen – darin ein später Nachfahre Lessings, der mit seiner „Ring-Parabel“ im „Nathan“ zur Toleranz aufrief.

Ein wenig darf man die Schwerter nun wohl beneiden, denn: Nicht jede Stadt ward so besungen…

Michael Zeller: „Mein schöner Ort“. Verlag Ars Vivendi. 164 Seiten (mit CD = Lesung des Autors aus dem Band), 44 DM. 




Ein „Sturm“ im üblichen Rahmen – Shakespeares Drama am Dortmunder Schauspiel

Von Bernd Berke

Dortmund. Ganz träge bewegen sich die Gestalten auf dem schlingernden Schiff. Doch allmählich begreifen sie, dass der Kahn unterzugehen droht. Plötzlich wird aus Bräsigkeit helle Panik, es erhebt sich Geschrei, und das Wasser spritzt hoch – bis in die ersten Sitzreihen des Schauspielhauses.

„Der Sturm“ von William Shakespeare tobt mal wieder über die Bühne, seit Samstag herrscht schwere See in Dortmund. Sie lässt Neapels König Alonso samt Gefolge (darunter Antonio, unrechtmäßiger Herzog von Mailand) auf einem verlassenen Eiland stranden. Zauberkräftiger Beherrscher dieser Insel ist ausgerechnet Prospero, dem eigentlich Mailand zustünde, der aber vor zwölf Jahren von seinem Bruder Alonso schmählich auf offener See ausgesetzt wurde, mitsamt seiner kleinen Tochter Miranda.

Shakespeares mutmaßlich letztes Stück, schwankend zwischen heiterer Gelassenheit, Melancholie und Verzweiflung, lässt keine Rache zu. Der Büchermensch Prospero, Muster eines geistvollen Regenten, vergibt am Ende seinen einstigen Feinden und schwört aller magischen Macht ab. In Dortmund (Regie Hermann Schmidt-Rahmer/Bühnenbild Herbert Neubecker) verzeiht Prospero gleichsam zähneknirschend. Er ist der weltlichen Dinge müde, von Alters-Verzweiflung satt – und tröstet sich zum Sçhluss mit Dosenbier.

Das hier bisweilen eher tapsig als wundersam chaotisch wirkende Drama begibt sich auf sehr schräges Geläuf aus morschem Holz. Einige Planken werden herausgerissen, so dass Blicke ins buchstäblich „Bodenlose“ fallen. Man meint, derlei Bühnenaufbauten schon des Öfteren gesehen zu haben. In diesem Ambiente durchdringen einander die Welten: Hier Alonsos dümmliche Hofschranzen, da die von Prospero gezähmte Geisterwelt mit dem guten Laufwesen Ariel und dem bösen Erdling Caliban.

Ein Drang zur sinnreichen Form bleibt spürbar .

Beim oft simultanen Spiel wird es zuweilen eng auf der Bühne. Die Menschen sind niemals allein, sondern stets von Geistern und Träumen umfangen. Und beide Sphären sind geprägt von allerlei Knechtschafts-Verhältnissen; ein Umstand, den diese Inszenierung füglich betont. Doch allzu viel Erhellendes gewinnt sie dem Stoff so nicht ab, wie denn überhaupt ein Drang zur sinnreichen Form stets spürbar bleibt, doch Formvollendung sich nur selten einstellt. Mit der Zeit mag sich die Sache noch entwickeln. Die Premiere muss nicht das Maß aller Dinge bleiben.

Jede Figur bekommt ihre Attribute oder Schrullen zugeteilt, nicht immer erschließen sich die Motive: Prospero (Andreas Weißert) wandelt einher wie ein altgriechischer Philosoph, immer mehr bebenden Ernst in der Stimme, um bedeutsame Innigkeit bemüht. Alonso (Günther Hüttmann) ist kein König zum Aufschauen, sondern einer zum Knuddeln.

Wenn der Kulturlose in Büchern blättert

Gar gelenkig rollt und wälzt sich Prosperos nun 15-jährige Tochter Miranda (Birgit Unterweger) über den Bühnenboden – ein immerzu tollendes Kätzchen. So bezaubert sie Alonsos etwas unbedarften Sohn Ferdinand (Alexander Swoboda) und so weckt sie die Geilheit des wilden Caliban (hier die interessanteste Figur: Felix Römer). Der ach so Kulturlose wird ganz am Schluss in Prosperos Büchern blättern, und man darf raten: Paart sich hier Bosheit mit Wissensdurst, oder wird er sich zivilisieren?

Zwei Figuren gesellen sich dem Caliban zu wie eine brutale Ausgabe von Dick und Doof: Trinker (Sebastian von Koch) und Stephan (Rainer Galke), der eine ein arger Proll mit Bierdosen-Paletten und „saustarken“ Ballermann-Sprüchen, der andere ein feiger Depp mit österreichischem Zungenschlag. Es sind wandelnde Zugeständnisse ans Unterhaltungsbedürfnis, darin gar nicht so weit von Shakespeare entfernt.

Für Zauber und Poesie ist derweil der kahl geschorene, mit hellem Stimmchen singende Ariel zuständig, gespielt von Kindern (im Wechsel: Anna Bonkhoff, Christina Westermann), sehr lieb und somit nicht von dieser Welt. In ein solches Jenseits wären wir gern weiter entführt worden. Freundlicher Beifall im Rahmen des Üblichen. Er entsprach dem Anlass.

Termine: 24;, 26. November, 2., 17. und 29, Dezember. Karten: 0231/5027222.




Nach dem Kahlschlag – Im Marler „Glaskasten“ besichtigen Jochen Gerz und Jan Kopp Welt-Zerrbilder des „Weißen Mannes“

Von Bernd Berke

Marl. Völlig entblößt stehen diese Männer und Frauen da, jeweils ganz für sich allein und ziemlich ratlos blickend. Ringsumher liegen die traurigen Überreste gefällter Bäume. Keine paradiesische Nacktheit ist es, die sich hier offenbart. Im Gegenteil. Es sind Menschen nach einem Kahlschlag.

Der in Paris lebende Künstler Jochen Gerz, der zuletzt bundesweites Aufsehen mit seiner von der WR unterstützten Dortmunder Foto-Aktion „Das Geschenk“ erregt hatte (noch heute bekommt er zahlreiche Briefe von abgelichteten Teilnehmern), greift jetzt im Marler Museum „Glaskasten“ eine ökologische Untat auf, die sich 1999 in Kanada zugetragen hat. Ein riesiges Regenwald-Areal fiel dort den Bulldozern und Kettensägen zumOpfer.

Zugleich das Porträt einer Generation

Die Menschen, die Gerz auf neun Diptychen (große zweiteilige Bilder) zeigt, sind Bewohner jener gepeinigten Gegend; unter ihnen ein Greenpeace-Mitgründer, ein ausgewanderter deutscher Maler, ein Atomphysiker. Sie alle waren wegen der grandiosen Natur dorthin gezogen und konnten die wahnwitzige Abholzung auch mit einfallsreichen Protesten nicht verhindern.

Gerz lichtete sie hüllenlos, hätten sie keine Habe mehr, inmitten der zerstörten Landschaft ab. Die Gesichter stehen noch ganz im Banne der Verzweiflung, der Resignation. In die Fotos eingestellte Texte künden gleichfalls von dieser Gefühlslage, immer wieder ist dort von Vergewaltigung der Natur die bittere Rede. Ganz bewusst hat Gerz ältere Leute vor die Kamera gebeten. Makellose Körper würden wohl vom ökologischen Anliegen ablenken. Außerdem nennt der 60-jährige Künstler die erstmals gezeigte Installation „ein Porträt meiner Generation“. Eine Generation, die ihren Kampf verloren hat?

„White Ghost“ (weißes Gespenst) heißt die Arbeit. Einen solchen Namen hatten einst die Chinesen dem „weißen Mann“ gegeben. Der nämlich huschte nach ihrem Empfinden wie ein Geist, ohne innere Bindungen und also achtlos über alles Lebendige auf Erden hinweg.

Mit einer die Wirklichkeit verzerrenden „weißen“ Sicht auf die Welt befasst sich auch Jan Kopp (30). In Marl ist es guter Serien-Brauch, dass ein arrivierter Künstler mit einem jungen Kollegen gemeinsam ausstellt. Und Jochen Gerz bat eben seinen früheren Assistenten Kopp hinzu. Der hat das letzte Jahr in New York verbracht. In seinem Reisegepäck befand sich eine Kopie der Karl May-Verfilmung „Old Shatterhand“ (1963; bekanntlich mit Lex Barker, Pierre Brice & Co.), ein Streifen, der oft im Fernsehen abgenudelt worden ist.

Karl May und der Stich ins Surreale

Kopp ist dem Film mit einem listigen Konzept zu Leibe gerückt. In den USA (wo kaum jemand von Karl May etwas weiß) bat KOPP mutmaßlich amüsierte, jedenfalls von Haus aus englisch sprechende Museumsbesucher, einige Szenen gleichsam neu zu synchronisieren. Und so reden die Filmfiguren nun in gebrochenem Deutsch bunt durcheinander. An drei Projektionsstellen schnurren in Marl 28 kurze Sequenzen ab. 240 Stimmen sind zu hören, Old Shatterhand, Winnetou, Sam Hawkins und all die anderen sprechen – oft mitten im Satz wechselnd – mal männlich, mal weiblich, mal kindlich.

Resultat ist eine vielfache Verfremdung, mit der Kopp (erkennbar ein Kind der Fernseh-Generation) lässig spielt. Die wahre Welt liegt hinter lauter medialen Schleiern verborgen: Schon Karl May phantasierte sich ja seinerzeit in Sachsen einen „Wilden Westen“ zurecht, der von der Realität weit entfernt war.

Die naive Verfilmung mit ihrem Klischee vom „edlen Wilden“ Winnetou verhüllte den wirklichen Sachverhalt (sprich: Vertreibung oder Ausrottung der Indianer) noch drastischer. In der neuen „Synchronisation“ wirkt die Dramaturgie vollends grotesk, sie bekommt geradezu einen Stich ins Surreale.

Durchzogen werden die Gänge zwischen Gerz‘ und Kopps Arbeiten von einem „Biotop“ aus lauter wuchernden Topfpflanzen. Auch hier waltet wohl Ironie: Soll derlei Restgrün etwa alles sein, was von der Natur übrig bleibt?

Jochen Gerz/Jan Kopp. „Glaskasten“, Marl (Creiler Platz, am Rathaus). Ab Samstag, 11. November (Eröffnung 17 Uhr), bis 21. Januar 2001. Di-So 10-18 Uhr. Katalog 32 DM.




Ein Zeitreisender in fremden Weltzonen – „Nootebooms Hotel“

Von Bernd Berke

Bis in die letzten Winkel der Erde dringen sie vor und lassen ihre Leser später an der oft verstörenden Fremde teilhaben – die großen Reisenden der Literatur. Der famose, so früh verstorbene Engländer Bruce Chatwin („Traumpfade“, „Mein Patagonien“) zählte zu ihnen. Und auch der Holländer Cees Nooteboom („Rituale“) gehört dem Menschenschlag an, der immerzu in die Ferne strebt.

Mit „Nootebooms Hotel“ liegen nun gesammelte Aufzeichnungen aus den Jahren 1968 bis 2000 vor. Sie handeln nicht nur von entlegenen Ländern, sondern auch von Aufenthalten in Venedig oder Berlin, zudem von Erkundungs-„Fahrten“ durch Gefilde der Literatur, der bildenden Kunst – und nicht zuletzt von Zeitreisen durch die eigene Vorstellungswelt. Hinzu kommen Interviews und Begegnungen, etwa mit Federico Fellini, Umberto Eco oder just Bruce Chatwin – allesamt umgetriebene, ja besessene Leute, sozusagen herrlich „Verrückte“.

Selbst-Erfahrung wie im Auge des Orkans

Fern von touristischen Pfaden hat sich Cees Nooteboom oft allein in äußerst fremdartige Weltzonen gewagt; dorthin, wo ein Europäer im Grunde gar nichts mehr begreift. Beispielsweise in Gambia, Mali und Bolivien fand er sich an Orten wieder, deren Aura ihn seltsam ergriff, jedoch auch so ratlos ließ, dass er auf sein Inneres verwiesen war und irritiert in sich hineinhorchte.

Es ist bei dieser Selbst-Erfahrung wie im Auge des Orkans, wo die größte Ruhe herrscht: Ganz umfangen von nie geahnten Gerüchen, Geräuschen, Turbulenzen und Ritualen, gelangt dieser Reisende zu einem nahezu religiösen, wenigstens meditativen Glücksgefühl des inneren „Leer-Werdens“. Es erweist sich mit der Zeit als Zielgelände all seiner Bewegungen in der Welt, ja er verspürt in solchen Momenten „die Sehnsucht, nicht existieren zu müssen“. Davon macht sich ein ewig im Heimischen Verharrender wohl keinen Begriff…

Ur-Szenen des Menschseins

Nicht Mystizismus ist dies, bewahre! Sondern eine Vermessung der Fremdheit nach individuellem Maß, deren Resultate uns angehen. Nooteboom versteht es meisterlich, seine Erfahrungen zu vermitteln. Manchmal werden Fremdheit und Ausgesetztheit zwischen den Zeilen geradezu Angst erregend greifbar. Beispielsweise auf dem Markt in Mali meint man Ur-Formen oder Ur-Szenen der Menschheit und des Menschseins mitzuerleben, wie sie uns längst abhanden gekommen sind; ein Umstand, den Nooteboom zutiefst betrauert, wie er denn überhaupt viele unwiederbringlich verlorene Dinge und Zustände hegen möchte – ein Sammler, ein Bewahrer von hohen Graden und aus guten Gründen. Und hier erfasst den Mann, der ständig unterwegs ist, so etwas wie Heimweh nach der verflossenen Zeit.

Nootebooms Vorlieben sind ansteckend. Dass er unter allen Malern gerade Jan Vermeer und Edward Hopper mit unverbrüchlicher Zuneigung bespricht, zeugt von erlesenem Kunstverstand. Seine literarischen Exkursionen stimulieren die Leselust, etwa auf Bücher des bei uns weithin unbekannten Niederländers Slauerhoff, oder auf die Werke des berühmten Jörge Luis Borges, dessen labyrinthische Gänge durch Bibliotheken und Lektüren in Nootebooms Denken häufig wiederkehren.

Die Welt ist, wie sie nun einmal ist

Während sich die Texte der 60er und 70er Jahre noch vielfach engagiert mit politischen Verhältnissen befassen, freilich auch schon hinter den Schleier gängiger Ideologien blicken (Stichworte: Elend und Befreiung der „Dritten Welt“, Castro, Che Guevara), gelangt Nooteboom mit den Jahren zu einer abgeklärteren Haltung: Die Welt ist, wie sie ist, und so muss man sie zunächst einmal nehmen.

Ist es Resignation oder höhere Weisheit? Dreimal darf man raten. Eine bessere Einführung in Nootebooms Sinnen und Trachten als dieses Buch dürfte es jedenfalls schwerlich geben.

• Cees Nooteboom: „Nootebooms Hotel“. Suhrkamp-Verlag. 520 Seiten, 49,80 DM.

Nooteboom liest heute, 2. November 2000, beim Dortmunder Literaturfestival „LesArt“ aus dem besprochenen Buch: Im Theater Fletch Bizzel (Humboldtstraße) kommen ab 18 Uhr die Autoren Barbara Köhler und Andreas Maier zu Wort, um 20 Uhr beginnt Nooteboom. Karten: WR-Ticketshop 0231/9573-1369.




Gewalt frisst die Sprache auf – Matthias Hartmann inszeniert Kleists „Familie Schroffenstein“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Ringsum zugemauert, sieht die Bühne aus wie das Innere eines Mausoleums. Hier wird wohl kein freies Leben erblühen, das ahnt man gleich. Und richtig: Rechts und links, einander feindlich gegenüber, nehmen die beiden finsteren Clans Platz, die sich in „Die Familie Schroffenstein“ aufs Blut befehden.

Bochums neuer Intendant Matthias Hartmann hat etwas riskiert, indem er Heinrich von Kleists Stück erkor. Das Frühwerk aus dem Jahre 1800 gilt vielfach als unfreiwillig komische „Scharteke“. Doch weit gefehlt! In dieser Vorlage steckt wilder, entfesselter Furor – wie in Kleists Erzählung „Michael Kohlhaas“.

Sehr richtig schon Hartmanns Entscheidung, die in Spanien angesiedelte Urfassung („Die Familie Ghonorez“) zu wählen, deren bloße Rollen-und Ortsnamen schon ungleich mehr Hitze ausstrahlen als die spätere Eindeutschung mit all ihren Ottokars und Gertrudes.

Ein Erbvertrag als Quell des Übels

Zurück zum Eingangsbild. Wie undurchdringliche Menschen-Mauern sitzen die feindlichen Familien da. Vollends ungerührt bleiben sie, wenn einer aus der Phalanx hervortritt und etwa seine Irritation über diesem versteinerten Zustand bekundet.

Quell allen Übels: Ein fataler Erbvertrag besagt, dass beim Aussterben der einen Sippe deren gesamte Habe der anderen zufällt. Alsbald wünschen sie einander Pest und Verderben an den Hals – und als ein Kind zu Tode kommt, werden „die da drüben“ gleich des Mordes bezichtigt, was ungeheuerliche Steigerungen nach sich zieht. jedes Gerücht, jedes Missverständnis birgt jetzt Sprengkraft. Keiner will des anderen Worte wirklich hören. Wir erleben in Bochum vor allem das Drama einer nachhaltigen Sprach- und Sinn-Zerstäubung. Gewalt frisst die Sprache auf.

Bei Hartmann klappern die Clans zu Beginn mit Löffeln, als wollten sie den (Lebens)-Rhythmus der Gegenseite zerstören. Bedrohlich kakophon klingt es, passend untermalt von vier Musikern aus einem kleinen Orchestergraben. Raimond, Graf aus dem Hause Ciella (Fritz Schediwy), tritt wie ein krähenhafter Diktator ans Mikrophon und schwört bitterste Rache für besagten Kindstod. Er spuckt, krächzt, würgt und zerhackt die Konsonanten seiner Hass-Worte. So militant und gewaltbereit rasselt hier die deutsche Sprache, dass es zum Fürchten ist. Man lese nur nach: Es ist bei Kleist schon angelegt.

Die ganze Hysterie steht schon im Text

Auch wenn man bisweilen fürchtet, die Inszenierung könne zapplig aus den Fugen geraten: Ständiges Stammeln, hysterische Ausbrüche und marionettenhafte Ohnmachten sind aus dem Text herzuleiten. Überhaupt lauscht Matthias Hartmann jeder Sequenz ihre ganz eigenen, zumeist schrecklich dumpfen oder angstvoll kreischenden Tonfälle ab – und er verfügt über ein Ensemble, das diese dunklen verbalen Triebkräfte, die schier unaufhaltsame Dynamik der Feind-Bilder, auch fassbar macht. Statt eines dürr-theoretischen Regie-„Konzeptes“ waltet hier die sorgsame Arbeit am Gehalt der Szenen.

Raimond geriert sich zunehmend als blutgieriger Rache-Teufel. Fritz Schediwy legt die Rolle als wahres Pandämonium an. Man sieht ihm fassungslos zu, auch atemlos. Während seine Gemahlin Elmire (Ulli Maier) ihn vergeblich zu beschwichtigen sucht, treibt auf der Gegenseite Franziska (Veronika Bayer) ihren Alonzo (Ernst Stötzner) an. Bis dieser kühlere Kopf seinerseits Rache übt, dauert es lange. Doch dann ist das Schwungrad nicht mehr anzuhalten.

Gegenwelt der Liebenden

Sehr anrührend die machtlose Gegenwelt der Liebenden. Wie Romeo einst Julia, so liebt Raimonds Sohn Rodrigo (Johann von Bülow) die Tochter aus dem verfeindeten Hause, Ignez (Sonja Baum). Zuerst diese Angst voreinander, dann allmähliche Näherung, Überschwang frischen Glücks, doch auch schon das erste Necken und Keifen, daraufhin wieder verzückte Umarmungen. Ein ergreifendes Wechselspiel der Liebe. Später dieses bannende Bild: ihrer beider paradiesische Nacktheit als höchst bedrohte Utopie eines anderen Lebens.

Am Ende, über den Leichen ihrer Kinder, haben die Herrscher noch nicht genug vom Feldgeschrei. In babylonischer Sprachverwirrung irren alle gespenstisch umher, jeder nur mit seinen Worten, seinem Wahn beschäftigt. Wo sich bei Kleist am Ende eine gar zu späte Reue ergibt, lautet hier der allerletzte Satz: „Wir müssen vorwärts!“ Geht’s denn noch weiter hinab in die Hölle?

Frenetischer Beifall mit Bravos für alle. Fast wie zu Peymanns Bochumer Zeiten.

Termine: 1., 5., 11., 19., 20., 28. Nov. Karten: 0234/3333 111.

 




Der wahre Traum vom Theater – Auftakt zur Ära Hartmann mit Turrinis „Die Eröffnung“ und Marivaux‘ „Triumph der Liebe“

Von Bernd Berke

Bochum. Am Samstag pochte in Bochum das Herz unserer Theaterwelt. Die Spitzenkräfte der „Großkritik“ waren angereist – endlich einmal wieder, nach jahrelanger Ignoranz, mit der sie den vormaligen Intendanten Leander Haußmann abgestraft hatten. Nun aber galt es, den Beginn der neuen Ära Matthias Hartmann zu begutachten.

Gleich zwei Premieren wurden aufgeboten: Als Uraufführung gab’s Peter Turrinis dem Anlass angegossenes Stück „Die Eröffnung“ (Regie: Hartmann), hernach vollzog sich der „Triumph der Liebe“ (Regie: Patrick Schlösser) von Pierre Carlet de Marivaux, ein rokokohaft abgezirkeltes erotisches Intrigenspiel des 18. Jahrhunderts, als Vorbotschaft heutiger „Coolness“ und taktisehen Kalküls im Umgang der Geschlechter zu deuten. Keine schwere Kost also, doch beileibe keine Leichtgewichte.

„Ich eröffne Ihnen mein Leben. Ich bin für die Bühne geboren…“ So beginnt Turrinis Text, den „Der Mann“ (Michael Maertens) praktisch im Alleingang bewältigt. So vieles wird er uns noch „eröffnen“: sein Glück und Unglück, sein Jauchzen und sein Krächzen zum Tode. Vor allem aber seinen Traum vom Theater. Hierzu führt er einen weißen Kasten mit sich, in dem sich eine verkleinerte Maschinerie verbirgt – samt goldener Souffleusen-Muschel und einem Pappkrönchen für den „König der Schauspieler“. Für diesen hält sich jener Mann, der zunächst Handys feilgeboten hat. Denn irgendwann hat er alle großen Rollen gespielt – vom „Faust“ bis zum „Hamlet“ und retour. Auch den „Jeeeedermann“-Drohruf des Todes hat er parat, wirklich zum Steinerweichen.

Gefangen ist er im engen Bühnen-Geviert. Später windet er sich gar in einer Zwangsjacke, doch immer wieder träumt er sich weit über derlei Bedrängnis hinaus. Aber, ach, das Leben löst die Träume nicht ein: Der „Arsch“ seiner Freundin erscheint ihm plötzlich viel zu breit. Die Trennung von ihr macht ihn „Herz-los“, später findet er (oh, Anspielung auf Haußmanns liebstes Bühnen-Emblem) ein „dreckiges Herz“ im Staube. Kaum hat sich ein einzelner Zuschauer darob ein „Buh“ abgerungen, so erweist sich die unzerstörbare Theater-Lebendigkeit des Organs. Es pulsiert und blutet noch.

Auch dieser Text pulsiert. Zwischen Schmerz und Groteske wirbelt er gar vieles vom Urgrund des Theaterdaseins auf. Das Theater scherzt mit sich selbst (mal wie eine Bierzeitung, mal subtil), es ist auch bestürzt über sich, scheint jedoch rettende Kräfte zu bergen. Und es ist viel mehr als ein Kabinettstück, was Michael Maertens dem abgewinnt. Von Comedy bis Tragödie, von gepresstem Frust bis zum haltlosen Jubel durchmisst er die Gefühls-Skala. Rasender Beifall. Das Publikum war im Handstreich gewonnen.

Sodann: „Triumph der Liebe“. Bei Kerzengeflacker war die Bühne anfangs so düster wie nur je in in der Steckel-Epoche des Hauses. Ratternd raste der Text dahin, als sei er abgespeichert und werde nur nur angeklickt. Doch das betraf die erotischen Finten. Sobald sich daraus Gefühle (oder deren Surrogate) ergeben, fließt die Rede schmeichelnd; bis zum illuminierten Schlussbild, das in ein fernes Märchenreich zu weisen scheint. Dieser Triumph der Liebe dürfte eine bloße Illusion sein, nur Widerhall der Wünsche.

Hier entsteht Tiefgang ganz von selbst

Leonida, Prinzessin von Sparta (herb sich gebende Entschlusskraft: Johanna Gastdorf), will das Herz des jungen Agis (Patrick Heyn) gewinnen. Einst raubte ihr Geschlecht dem Seinen den Thron. Sie muss nun seinen Sippen-Hass überwinden. Zudem muss sie in jene Einsiedelei vordringen, in der Agis vom Philosophen Hermokrates und dessen Schwester Leonine vor der Welt beschirmt wird.

Ergo: Sie hat, um ihr Ziel zu erreichen, diese beiden in sich verliebt zu machen. Umstellt von Lauschern, setzt sie die zittrige Mechanik der Täuschungen in Gang. Köstlich, wie jene Versteinerten, die noch nie geliebt haben, allmählich errötend zu hoffen wagen: der eitle Philosoph (Armin Rohde), die altjüngferliche Schwester (Margit Carstensen). Zwei wunderbare Darsteller!

Einmal wird Bernd Spiers Gassenhauer „Das kannst du mir nicht verbieten“ gesungen, dazu leuchtet ein Gemälde von Michelangelo auf. Doch derlei Überwürzung ist schon ein rarer Ausrutscher ins Spaßtheater. Insgesamt geht die Sache einen anderen Gang, wobei Tiefgang wie von selbst entsteht. Auch zeugt der Zugriff erlesene Gestalt: Patrick Schlösser arbeitet souverän mit Symmetrien und deren Auflösung im zuckenden Taumel, mit Licht- und Schattenwerten sowie fast filmischen Einblendungen.

Nochmals Jubel. Nehmt alles nur in allem: ein verdammt starker Auftakt in Bochum.

Termine: 27, 28. Okt, 2., 10., 11., 15. und 16. Nov. (Die Eröffnung); 26. Okt, 4., 8. und 9. Nov. (Triumph der Liebe). Karten: 02 34/3333-111.