Fragen zu den Honoraren mag Lafontaine überhaupt nicht – Buchpremiere von „Das Herz schlägt links“ im Frankfurter Saal „Harmonie“

Von Bernd Berke

Frankfurt. Es klang wie Ironie: Ausgerechnet den Saal mit dem Namen „Harmonie“ hatte der Econ-Verlag auf der Frankfurter Buchmesse reserviert, damit Oskar Lafontaine endlich offiziell sein schon vor Erscheinen heftig diskutiertes Buch „Das Herz schlägt links“ vorstellen konnte.

Zu vielen Hunderten waren die Journalisten gekommen, und sie rissen den Verlagsleuten das Buch förmlich aus den Händen, just weil Lafontaine eben nicht in Harmonie mit der SPD lebt. Dutzende von Kamerateams suchten ein Bild des Tages einzufangen. Für Minuten schwebte während der Pressekonferenz ein herzförmiger roter Luftballon durch den Raum. Wer wollte, konnte darin ein Symbol sehen.

Ob Lafontaine auf dem bevorstehenden SPD-Parteitag in Berlin eine Rede halten und Gerhard Schröder die Leviten lesen wolle? „Warten wir erst mal ab, ob ich überhaupt dazu eingeladen werde“, meinte der Kanzler-Kritiker, lächelnd wie eine Sphinx. „Im vertretbaren Rahmen“ werde er auch künftig an Parteiveranstaltungen teilnehmen, lässt der Ex-Vorsitzende wissen. „Aber auf Jobsuche bin ich nicht. Keine Sorge. Ich habe genug zu tun“.

„Die wollten mir einen reinwürgen“

Natürlich erhebt sich auch die Frage, was er denn sage zum barschen Ausruf des Literaturnobelpreisträgers Günter Grass („Halt’s Maul, Oskar, trink deinen Rotwein“). Lafontaine: „Den zweiten Teil des Rats werde ich gern befolgen, den ersten nicht.“ Es sei schon erstaunlich, wenn ein Schriftsteller anderen den Mund verbieten wolle. Doch dann, halbwegs versöhnlich: „Meine Freundschaft ist belastbar. Vielleicht denkt Grass ja noch einmal nach…“

Viel dünnhäutiger reagiert er, wenn nach seinen Vorabdruck- und Autorenhonoraren gefragt wird. „Wer hat Sie hierher bestellt?“, fertigt er einen ab, der dazu etwas wissen will. Lafontaine wittert eine gezielte Medien-Kampagne: „Die Meute wollte mir einen reinwürgen.“ Mit dem Buch selbst habe sich noch niemand sachlich auseinander gesetzt, die Debatte darüber müsse erst noch beginnen. Stattdessen reite man auf den Honoraren herum. Lafontaine: „Soziale Gerechtigkeit entsteht nicht dadurch, dass jemand auf seine Einkünfte verzichtet.“

Kein gutes Haar am Schröder-Blair-Papier

Zuvor hatte er einzelne Buchkapitel knapp erläutert. Er bekräftigte seine Kritik am „Schröder-Blair-Papier“, das sich an der Sprache des Marketings und der Werbung orientiere. Das „gedankenlose Geschwätz“ von der Flexibilität des Arbeitsmarkts, könne er nicht mehr ertragen. Menschen seien nicht so verfügbar wie Kapital. Und auch dieses soll möglichst gebändigt werden: Die Finanzströme bedürften der ordnenden Hand des Staates. Ex-Kanzler Helmut Schmidt denke ebenso.

Auf die Leitideen des Humanismus und der Aufklärung dürfe man aus wirtschaftlichen Gründen nicht verzichten. Überhaupt: Unter der von Schröders Regierung beschworenen „Modernisierung“ verstehe er, Lafontaine, jedenfalls nicht einen Wettlauf um Sozialabbau, sondern um ökologische Erneuerung, Gleichberechtigung der Frauen und dergleichen.

In der ganzen Finanzdebatte solle man die weiter bestehenden Lasten der deutschen Vereinigung nicht vergessen, findet Lafontaine. Nur dürfe man die entsprechenden Defizite nicht bei Rentnern und Arbeitslosen eintreiben. Und er ließ auch durchblicken, wie er dem Staat das fehlende Geld verschaffen würde: „Deutschland hat immer noch eine der niedrigsten Steuerquoten in Europa.“

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Der Beitrag stand am 14. Oktober 1999 im Politikteil der Westfälischen Rundschau.




Die Melancholie des Hofnarren – Meisterwerke aus dem Prado in der Bonner Bundeskunsthalle zu sehen

Von Bernd Berke

Bonn. Als Diego Velázquez um 1640 den Kriegsgott Mars malte, sah er keinen machtvollen Herrn über Tod und Leben vor sich, sondern einen erschöpften Fußsoldaten, der all der Kämpfe müde zu sein scheint. Das Bild setzt einen von vielen Glanzpunkten jener Ausstellung, mit der jetzt das berühmte „Prado“-Museum aus Madrid einen Teil seiner Sammlungen in der Bonner Bundeskunsthalle vorstellt.

Hervorgegangen sind die überreichen Prado-Bestände aus den königlichen Sammlungen Spaniens. Die Bonner Schau konzentriert sich auf die Zeit Philipps IV. Unter dessen Regentschaft machte Velázquez nicht nur als Höfling und vor allem Hofmaler Karriere, sondern durfte (gleichsam als Kurator) die Kunstsammlung des Monarchen gezielt ergänzen. Sein erlesener Geschmack prägt also bis heute die Schatzkammern in Madrid.

Die dortigen Depots sind mittlerweile dermaßen gefüllt, dass der Prado erweitert und die Sammlung umgeschichtet wird. Diesem Umstand verdanken wir die Bonner Auswahl. Erst ein einziges Mal waren größere Teile der Sammlung außer Landes gegangen, und zwar zwangsweise: 1939, während des Spanischen Bürgerkriegs, wurden Kunstwerke zum Schütze nach Genf ausgelagert.

Velázquez, Rubens, Lorrain, Poussin…

Man protzt in Bonn nicht mit Masse, es sind 68 Werke zu sehen. Aber welche! Allein sechs Ölgemälde von Velázquez, dazu etliches von Peter Paul Rubens, Claude Lorrain, Nicolas Poussin und Francisco de Zurbarán. Hinzu kommen einige Künstler, die sich mit wechselndem Geschick an Velázquez orientierten.

Ein Meisterstück, das durch unmittelbare Konfrontation Mitleid weckt, ist Velazquez‘ Bildnis „Der Hofnarr Sebastián de Morra“. Der kleinwüchsige Mann diente damals zur Belustigung bei Hofe. Doch der Maler löst ihn aus diesem Zusammenhang und zeigt seine tiefe Melancholie. Man blickt ins Gesicht des Opfers der derben Spässe. Ein geradezu unwiderstehlicher Appell, die Würde zu wahren.

Überwältigend sodann die fleischlichen Dramen von Rubens, der stets den dynamischsten Augenblick der Mythen erfasst. Seine nackte Glücksgöttin „Fortuna“ (um 1636) taumelt auf einer zerbrechlichen Glaskugel. Puren Horror hinterlässt der rasende Gott „Saturn“ (1636), der eines seiner Kinder frißt, er reißt ihm mit bloßen Zähnen einen Fetzen aus der Brust. Irrsinniger Grund: Es ward ihm prophezeit, dass der Nachwuchs ihn vom Thron stürzen werde. Erschütternder lässt sich blutige Machtgier nicht darstellen. In den uralten Mythen steckt eben mancherlei.

Der lachende und der weinende Philosoph

Eine besondere Qualität der Ausstellung liegt darin, dass viele Bilder erstmals seit langem wieder in ihrem ursprünglichen Zusammenhang gezeigt werden, was im Prado selbst zuletzt nicht möglich war. Wie sehr sich das auswirkt, sieht man etwa anhand der beiden Denker, die Rubens imaginiert hat: „Demokrit, der lachende Philosoph“, der offenbar ein gutes Tröpfchen nicht verabscheut, und „Heraklit, der weinende Philosoph“, hängen nun als Sinnbilder grundverschiedener Gemütszustände beisammen.

Von ganz anderer, unendlich beruhigter Art sind die idealen Landschaften des Claude Lorrain. Zu grandioser, erhabener Weite öffnet sich der blassrot schimmernde Horizont, vor dem „Tobias und der Erzengel“ (1639) sich nahezu verlieren.

Nicht alle 68 Werke sind gleich stark, wie denn auch! Beispiel: Während Velázquez die Vorliebe seiner Zeit fürs Bizarre mit dem geschilderten Hofnarren ins Gegenteil kehrte, hat Juan Carreno de Miranda ein dickes kleines Mädchen als „Die nackte Mißgestalt“ (1680) nur noch als Objekt zur Schau gestellt.

Museo del Prado zu Gast in der Bundeskunsthalle Bonn (Museumsmeile, Friedrich-Ebert-AIlee 4). Bis 23. Januar 2000. Di/Mi 10-21, Do-So 10-19, Fr nur für Gruppen ab 9 Uhr. Eintritt 10 DM (ermäßigt 5 DM). Katalog 49 DM.




Siepmann-Retrospektive: Freiheit im Gerüst

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Heinrich Siepmann war immer ein ungemein stetiger und fleißiger Künstler. Allein 1220 Ölgemälde umfasst das Werkverzeichnis, das jetzt zur Retrospektive in Recklinghausen vorgelegt wird.

Kürzlich litt der 94jährige an einer Lungenentzündung – und was tat er? Er zeichnete im Krankenbett einige ganz wunderbare Pastelle. Gewiss trug das Schaffen zur Genesung bei: Am Sonntag will Siepmann zur Eröffnung seiner Werkschau in die Kunsthalle kommen.

In der so folgenreichen Künstlergruppe „junger westen“, die sich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg formierte, tat sich Siepmann u. a. mit dem vor wenigen Tagen verstorbenen Hagener Maler Emil Schumacher und mit Gustav Deppe zusammen, der am 1. September dieses Jahres starb. Nun ist Siepmann, neben Thomas Grochowiak, einer der letzten lebenden Zeitzeugen des damaligen Aufbruchs.

Fenster-Bilder als frühe Vorläufer

Ganz anders als Emil Schumacher, von dem zur Erinnerung drei Bilder der Schau vorangestellt sind, hat sich Siepmann niemals dem Abenteuer der freien Gestik verschrieben. Vielleicht ist es just eine psychologische Grundfrage, welchen Weg man in der Gegenstandsferne wählt: Siepmann jedenfalls bedurfte stets der geometrischen „Gerüste“, die seine Arbeiten in Form halten.

Frühe Vorläufer waren jene „Fenster-Bilder“, also Ausblicke durch Rahmungen, die die Architektonik des Bildgevierts bestimmten. Daraus wurden alsbald abstrakte Linien und Balken, die Siepmann mit dem Lineal zog, dann aber doch malerisch ausfüllte. Nicht leblose Farbflächen erstrecken sich hier, sondern solche, denen man die Machart, die Spuren der Arbeit ansieht. Keine seelenlose Fabrikation, sondern Werk der Hände.

Außerdem unterlegt der Künstler seinen Bildern nicht etwa rechteckige Standard-Gerüste, sondern bringt die Ursprungs-Berechnung – immer wieder neu, immer wieder anders –  behutsam aus der Balance. Ganz leicht aus der Lot- oder Waagerechten gekippte Linien dynamisieren das Bild, erzeugen ästhetische Spannungszustände zwischen (meist vorherrschender) Planung und einer Ahnung von Chaos. Denn Ordnung allein wäre nur das halbe Leben.

Siepmanns bemerkenswert reichhaltige Farbpalette vergegenwärtigt man sich am besten anhand der feinstens nuancierten Weiß-Abstufungen. Doch auch das Rot taucht in mancherlei Schattierungen und Mischformen auf. Auf diese Weise gewinnen die Werke an Räumlichkeit und Tiefe.

Das Spiel darf heiter sein

Rund 70 Gemälde und 40 Collagen (vorzugsweise mit Wellpappe, Tapetenresten und Büttenpapier) von 1947 bis heute sind zu sehen. In seinen neuesten Arbeiten, etwa bei den eingangs erwähnten Pastellen vom Krankenlager, lockert sich die vormals manchmal doch etwas strenge Konstruktion.

Es scheint so, als habe Siepmann in seinen Neunzigern (am 30. November wird er 95) noch einmal eine ungeahnte Freiheit des heiteren Spiels entdeckt. Dies sehend, freut man sich mit. Denn man kann sich hinzu denken, dass niemals aller Tage Abend sein muss. Besser noch: Ein Stück davon kann man sich bewahren. Das Museum gibt nämlich die Pastelle zum Freundschaftspreis von je 400 DM ab.

Heinrich Siepmann. Retrospektive. Kunsthalle Recklinghausen (am Hauptbahnhof / Tel. 02361/501931). 10. Oktober bis 28. November, Di bis So 10-18 Uhr. Katalog (komplettes Werkverzeichnis) 148 DM.




Mühsam gebändigte Bestie – Werner Herzogs Film „Mein liebster Feind“ über Klaus Kinski

Von Bernd Berke

Mit dem 1991 gestorbenen Klaus Kinski hat Werner Herzog fünf Kinofilme gedreht. Kinski dürfte dabei Hunderte von Tobsuchtsanfällen ausgelebt haben. Er hat Herzog oft schier zur Verzweiflung getrieben, aber auch immer wieder zutiefst gerührt.

Solch einen Berserker kann man schwerlich vergessen. Werner Herzog erinnert sich so plastisch und drastisch, dass er seiner schwierigen Beziehung zum Hyper-Egomanen Kinski einen aufwühlenden Film widmen konnte: „Mein liebster Feind“.

Der Regisseur hat noch einmal die Stätten der meist wüsten Begegnungen mit Kinski aufgesucht. Dort erzählt er uns davon. In Archiv-Ausschnitten sehen wir sodann Kinski auf seiner wahnwitzigen „Jesus-Tournee“, in etlichen Filmszenen und bei den Drehs zu „Aguirre – Der Zorn Gottes“, „Fitzcarraldo“, „Nosferatu“, „Woyzeck“ und „Cobra Verde“.

Im südamerikanischen Dschungel herrschten ohnehin chaotische Bedingungen. Noch dazu drohte der durch Winzigkeiten beleidigte Kinski häufig, die Brocken ganz hinzuschmeißen. Herzog bellte einmal zurück: „Wenn du jetzt gehst, erschieße ich dich“. Heute sagt er: „Manchmal fehlt mir Kinski“.

Es liegt zuinnerst an dieser Hassliebe, dass man jetzt noch spürt, welche flammende Energie diese Filme Kinskis Präsenz verdanken. Herzog vermochte genau dieses unstete, gefährliche Flackern aus dem Schauspieler herauszuholen. Eine mühsam gebändigte Bestie.

Manchmal lief die Kamera damals weiter, wenn Kinski zwischen den Szenen immer wieder ausrastete, wild herumschrie, Mitwirkende beschimpfte oder gnadenlos schlug. Er war wohl wirklich so ungeheuer verletzlich, reizbar und aggressiv (oder schlichtweg „verrückt“?), wie es das Klischee besagt.

„Jeder Mensch ist ein Abgrund“

Als Kinski sich einmal bis zur Erschöpfung ausgetobt hat („Ihr Idioten, ihr Arschlöcher…“), sagt Herzogs Erinnerungs-Stimme aus dem Off: Dies sei ein vergleichsweise milder Anfall gewesen. Oha! Tatsächlich trugen sich beide gelegentlich mit ernsthaften Gedanken, einander umzubringen. Zwei Todfreunde, wenn man so will. Herzog, auch er auf seine (ungleich stillere) Art ein besessener Grenzgänger, bestätigt also die umlaufenden Kinski-Klischees, sucht sie aber dann zu durchbrechen.

In Gesprächen mit Eva Mattes (die im „Woyzeck“ die Marie spielte) und Claudia Cardinale (Kinski-Partnerin in „Fitzcarraldo“) wird klar, dass die Furie Kinski auch entspannte, einfühlsame, ja geradezu hilflos zärtliche Seiten hatte. Nur konnte die Stimmung von einer Sekunde zur anderen wieder umschlagen. „Jeder Mensch ist ein Abgrund“, fauchte Kinski – Georg Büchners Text gemäß – im „Woyzeck“. Er wußte wirklich, wovon er sprach.

„Wir waren bereit, miteinander unterzugehen“, sagt Herzog mit gepresster Stimme über sich und Kinski. Für ihn habe immer nur gezählt, was im Kino zu sehen war. Die Filme seien viel wichtiger als die Personen. Alle Qualen werden da nebensächlich. Herzogs Film zeigt uns nicht die graue Asche, sondern das anhaltende Nachglühen solcher Obsessionen.




Günter Grass: Streitbar ist der Geist – Der deutsche Schriftsteller erhält in diesem Jahr den Literaturnobelpreis

Von Bernd Berke

Seit so vielen Jahren stand Günter Grass immer wieder ganz oben auf den Favoritenlisten, wenn es an die Vergabe des Literaturnobelpreises ging. Nun endlich ist es so weit: Grass, der bereits 1959 mit der „Blechtrommel“ seinen wohl nachhaltigsten Bucherfolg hatte, wurde vom schwedischen Komitee auserkoren.

Noch vor wenigen Tagen, am 19. September, hatte Grass (auch auf Einladung der Westfälischen Rundschau) in Dortmund aus seinem neuen Buch „Mein Jahrhundert“ vorgelesen. Dabei wirkte er so vital und entspannt, als wüsste er schon Bescheid…

Selbst der „Kritikerpapst“ Marcel Reich-Ranicki bedauert längst, dass er Grass‘ „Blechtrommel“-Roman seinerzeit weit unterschätzt habe. Wenn man jetzt in Reich-Ranickis gerade erschienenen Lebenserinnerungen die Schilderung seiner allerersten Begegnung mit Grass liest, so spürt man die starke Ausstrahlung, ja das Charisma, das Grass schon damals besessen haben muss. Als junger Mann kam er seinerzeit auf Besuch nach Warschau. Furchterregend sollen seine Augen geblitzt haben, und der Mann wirkte offenbar ein wenig trunken. Wahrscheinlich lag es just daran, dass er sich seinerzeit an die Arbeit zur „Blechtrommel“ begeben hatte. Ein Wort-Besessener, trunken von Sprache.

Neben der geradezu barock ausufernden, lebensprallen und grotesken Schelmen-Geschichte des kleinwüchsigen Blechtrommlers Oskar Matzerath, die die furchtbare deutsche Vergangenheit aus der Zwergen- und Irrenhaus-Perspektive unerhört scharf insAuge fasste, sind die Novelle „Katz und Maus“ (1961) und der Roman „Hundejahre“(1963) jene Werke, die Grass schon früh in den Rang einer „Galionsfigur“ der deutschen Literatur erhoben.

Mit der Ausprägung der deutschen Einheit gehadert

Grass hat, in stärkerem Maße als etwa Heinrich Böll, stets die Fähigkeit besessen, Kontroversen um sein Werk und seine Person hervorzurufen. Gut in Erinnerung ist noch jeher heftige, weit in den politischen Raum ausgreifende Streit um seinen Roman „Ein weites Feld“ (1995).

Grass hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er von der vereinnahmenden Art, mit der der Westteil Deutschlands 1989/90 die Vereinigung der Nation betrieb, nichts hält. Noch kürzlich hat er mit Martin Walser darüber gestritten. Grass über die Ausprägung der Einheit: „Es liegt immer noch kein Segen drauf.“

Grass war übrigens alles andere als ein Freund der „realsozialistischen“ DDR. Den Arbeiteraufstand gegen das SED-Regime hatte er 1953 mit eigenen Augen verfolgt. 1966 wurde sein darauf fußendes Theaterstück „Die Plebejer proben den Aufstand“ uraufgeführt, in dem auch die zwiespältige Rolle Bertolt Brechts unter die Lupe kam. Das verzieh ihm die offizielle DDR erst 1987. Grass verließ zudem den Schriftstellerverband VS, weil er dessen Solidarität mit verfolgten DDR-Kollegen vermisste.

Häufig mischte er sich politisch ein

Immer wieder hat sich Grass, darin ein Erbe der Aufklärungs-Tradition, mehr oder weniger geschickt in die Politik eingemischt. Die Zahl der Aufrufe und Resolutionen, die seine Unterschrift tragen, dürfte Legion sein. Für Willy Brandt ging der entschiedene Pazifist auf SPD-Wahlkampftour. Das haben ihm viele konservative Geister auf ewig übel genommen. Als die SPD 1992 dem strittigen Asylkompromiss zustimmte, kehrte er der Partei allerdings den Rücken.

Politischer Unmut schlug sich vielfach auch in Beurteilungen seiner weiteren Werke nieder. Manche Kritiker behaupteten, Grass‘ politische Engagement mindere seine ästhetische Potenz. Diese Denkfigur hat sich zum Vorurteil verfestigt. Bücher wie „örtlich betäubt“ (1969), „Aus dem Tagebuch einer Schnecke“ (1972), „Der Butt“ (1977),„Kopfgeburten“ (1980), „Die Rättin“ (1986), „Zunge zeigen“ (1988) und „Unkenrufe“ (1992) litten jedoch nur bedingt darunter, denn die breite Leserschaft blieb Grass treu.

Der am 1. Oktober 1927 in Danzig geborene Günter Grass, der seiner Heimatstadt einen Platz auf der literarischen Weltkarte sicherte, wirkte anfangs als Bildhauer. Auch ist er ein begabter Zeichner und Grafiker. Famoser Zufall: Noch bis zum 7. Oktober ist im Dortmunder Harenberg City Center eine Auswahl seiner Aquarelle und Lithographien zu sehen. Eine Ausstellung, die nun gleichsam besonders geadelt erscheint.

Ein Gefühl der Entwurzelung

Literarisch hatte sich Grass zunächst mit Lyrik und Kurzprosa hervorgetan. „Die Vorzüge der Windhühner“ hieß 1956 seine erste Veröffentlichung. Bereits 1955 hatte er sein Debüt bei der legendären „Gruppe 47″.

Grass, dessen Werke früher bei Luchterhand herauskamen und heute im Göttinger Steidl Verlag erscheinen, hat einmal gesagt, er empfinde sich immer noch als Mensch ohne Heimat, als Flüchtling: „Ich habe nirgendwo Wurzeln geschlagen“. So zog und trieb es ihn von Düsseldorf nach Paris, Berlin, für einige Monate gar nach Indien und zuletzt nach Lübeck, in die Vaterstadt von Thomas Mann und Willy Brandt. An Repräsentations-Wirkung kommt er – spätestens seit dem gestrigen NobelpreisEntscheid – nun wohl einem Thomas Mann gleich. Als sein literarisches Vorbild aber hat er stets Alfred Döblin („Berlin Alexanderplatz“) genannt.

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Kommentar

Längst überfällig

 

So ist manchmal das Leben: Da hatte Günter Grass gestern die Nachricht erhalten, dass man ihm endlich den lange erwarteten Literaturnobelpreis zuerkannt hatte – und dann musste er mittags zum Zahnarzt. Doch er wird es verschmerzt haben.

Das Stockholmer Nobelpreiskomitee hat eine längst überfällige Wahl getroffen. Grass repräsentiert wie kein zweiter lebender Schriftsteller den Aufbrach der deutschen Nachkriegsliteratur. Sein 1959 erschienener Roman „Die Blechtrommel“ wirkte in jenen Jahren befreiend. Auf einmal wehte wieder ein Hauch von Weltliteratur durch das Land.

Wie schon oft, so hat das Komitee auch diesmal einen eminent politischen Schriftsteiler gekürt. Sicher: Wenn Grass sich in die Zeitläufte einmischt, muss man mit seinen Positionen nicht immer einverstanden sein.

Heraus aus dem Elfenbeinturm

Grundsätzlich aber ist es wünschenswert, dass Autoren, speziell jene vom Range eines Günter Grass, nicht im Elfenbeinturm verharren, sondern sich gelegentlich beteiligen am Streit der Welt. Sie sind nicht selten in der Lage, einen anderen Ton in die Debatte zu bringen. Und es schadet ihrer poetischen Produktion keineswegs, wenn sie sich auf politischem Felde auskennen. Die strikte Grenzziehung zwischen beiden Bereichen ist ein altes deutsches Leiden.

Nun gratulieren sie alle – auch wenn sie schon mal mit Grass gehadert haben. Es ist gar zu schön, dass Bundeskanzler Gerhard Schröder Zeit gefunden hat, um „alles“ von Grass zu lesen. Welcher andere Autor kann das von sich behaupten?

Die kulturellen Wissenslücken

Die Auszeichnung für Grass schmücke die ganze deutsche Kultur, hieß es gestern mehrfach. Diese EinSchätzung ist mit Vorsicht zu genießen. Denn tags zuvor hatte ein Umfrage-Ergebnis ans Licht gebracht, dass es um das kulturelle Wissen – gelinde gesagt – nicht gut bestellt ist. Viele Deutsche kennen beispielsweise Goethes „Faust“ oder Leonardos Bild „Mona Lisa“ nicht.

Es ist ein wenig wie mit dem Spitzen- und dem Breitensport. Wenn alle nur zuschauen, wie einige wenige Höchstleistungen erbringen, so ist es doch etwas betrüblich. Nun muss ja nicht jeder gleich dichten. Aber etwas häufiger lesen dürfte schon sein. Beispielsweise die Bücher von Grass. Machen wir’s dem Kanzler nach.

                                                                                                                       Bernd Berke




Den Verrat an der Liebe im kühlen Rückblick betrachten – Harold Pinters Stück „Betrogen“ in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Über die vielfach verwahrlosten Liebesdinge kann man sich aufregen. Man kann sie aber auch erst einmal nüchtern registrieren – wie beispielsweise Harold Pinter 1978 mit seinem Stück „Betrogen“. Heinz Kreidls Dortmunder Inszenierung behält den kühl feststellenden Gestus der Vorlage bei.

Emma betrügt ihren Mann Robert mit dessen bestem Freund Jerry. Der wiederum ahnt jahrelang nicht, dass Robert eingeweiht ist. Und Emma erfährt erst spät, dass ihrem Mann die unverbrüchliche Männer-Freundschaft im Grunde wichtiger ist als die Ehe. So stehen sie am Ende alle als Betrogene da.

Digitale Jahreszahlen

Doch was heißt hier „Ende“? Pinter hat einen simplen aber effektvollen Kunstgriff angewendet: Sein Stück beginnt mit dem Schluss und arbeitet sich – Szene für Szene –  zum Anfang zurück. So weiß man schnell, was aus all den Beteuerungen geworden ist: Lug und Trug. Umso mehr kann man sich auf das „Wie“ konzentrieren.

In Digitalziffern leuchtet die Jahreszahl „1999″ über der von Peter Schulz gestalteten Bühne. Beim gegenwärtigen Ende fängt es an: Emma (Silvia Fink) trifft noch einmal ihren Ex-Liebhaber Jerry (Jürgen Hartmann) am Stehtisch eines kargen Bistros. Doch sie haben sich nichts mehr zu sagen. Sehr genau zeigen die beiden Darsteller die schmerzliche Anspannung der häufigen Gesprächspausen, das Leiden an der leeren Banalität des Geredes. Was von der Liebe übrig blieb, ist außer Unbehagen so gut wie nichts. Selbst die Erinnerung schwindet.

Die Mechanik des Geschehens

Die Drehbühne als Rad der Zeit: Szenische Rücksprünge führen in die Jahre 1997 bis 1990. Man kann dabei ein leichtes Schwindelgefühl bekommen. Kühl, kühler, am kühlsten: Auf dem Schreibtisch vor einer Aluminium-Jalousie spielt Ehemann Robert (Marcus Off) Schach mit sich selbst. Zug um Zug und ziemlich sachlich erörtern er und Jerry den Tatbestand des fortgesetzten erotischen Betruges. Aufwallungen hat man recht rasch wieder im Griff. Das Gespräch kann sich bald den jungen Autoren zuwenden, die der Verleger Robert und der Agent Jerry betreuen. Und überhaupt: Man sollte halt mal wieder zusammen Squash spielen…

Wir sehen Emma und Jerry im gemieteten, gerade mit dem Nötigsten möblierten Liebesnest. Wahre Leidenschaft ist es selbst damals nicht gewesen. Wir erleben Emma und Robert auf Reisen im Hotel. Früher sind sie in Venedig aufgeblüht, jetzt nur noch in ehelicher Routine befangen; erstarrt und aufgewühlt zugleich, verwundbar durch jedes Wort, jeden Blick des anderen.

Die Inszenierung, durchweg sehr solide, betont die widerstandslos ablaufende Mechanik der Vorgänge, sie zeigt das Geschehen von der Oberfläche her, ohne oberflächlich zu geraten. Manchmal gleicht das Leben eben einem Boulevardstück. Die Abgründe kann man sich selbst ausmalen.

Ohne Requisiten kämen diese Figuren wohl gar nicht aus. Seltsam verhaken sich ihre Sätze ineinander. Sie kreisen um sich selbst und kommen nicht recht voran. In dieser Wortnot hält man sich an den Gegenständen fest, als müsse man sich so des Daseins vergewissern: Ein Ball, aus dem die Luft entwichen ist, eine Schachfigur, ein Frauenschuh, eine Melone, ein Buch, ein Weinglas, Zigaretten, ein Stück Stoff. Vielleicht sind ja wenigstens diese Dinge verlässlich.

Termine: 30. September, 2., 26.. und 27. Oktober. Karten: 0231/502 72 22.




Willkommen im Land der Gespenster – Leander Haußmann inszeniert Ibsens „John Gabriel Borkman“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Dumpfe Schritte hallen aus dem Zimmer oben. Auf und ab, auf und ab. Da stapft er umher, der frühere Bankdirektor John Gabriel Borkman, dieser einsame Wolf. Man hat ihn des Betruges überführt und abserviert. Seither hat er sich nicht blicken lassen, hat acht Jahre in Klausur verbracht und krude Phantasien ausgebrütet („Wir Ausnahmemenschen“). Doch das ganze Unglück ist noch nicht heraus. Erst jetzt wird es in Henrik Ibsens Stück enthüllt.

Vor vielen Jahren hat Borkman – der Karriere wegen – die Frau seines Lebens von sich gewiesen. Statt Ella hat er aus purem Opportunismus deren Schwester Gunhild geheiratet. Davon hat sich keine der drei Seelen mehr erholt. Es war ein Mord am Geist der Liebe. In Leander Haußmanns Bochumer Inszenierung des innigen Gesprächs-Dramas macht sich folglich die Eiszeit breit.

Nur noch das Versäumte betrauern

Die Bühne (Franz Havemann) ist anfangs vollgestellt mit staubigem Mobiliar. Man spürt, wie die Menschen, die in diesem Raum allmählich erstarren, körperlich eingezwängt werden durch lauter Plunder und Lasten der Vergangenheit. Die Zeit des Tuns ist längst vorüber, die Figuren können nur noch bitterlich dem Ungenügen nachsinnen.

Wenn die Schwestern Ella (Traute Hoess) und Gunhild (Margit Carstensen) einander hier nach vielen Jahren erstmals wieder begegnen, so ist auch jedes Wort anstößig. Jede Bemerkung enthält Sprengstoff. Denn Ella hat John Gabriel Borkmans und Gunhilds Sohn Erhard großgezogen, und nun – von tödlicher Krankheit bedroht – möchte sie ihn für den kleinen Rest ihres Lebens noch einmal zu sich nehmen. Die Mutter wiederum will ihn auch nie wieder loslassen.

Die Rivalinnen von einst haben ein Ersatz-Streitfeld gefunden. So zerren sie beiderseits an ihm und zehren von ihm. Erhard (Andreas Pietschmann) soll zur Linderung der Leiden herhalten, er soll alle Enttäuschungen tilgen. Dabei will der Student doch unbeschwert seine Jugend genießen. Einmal japst und rülpst er herum, um sich Luft zu verschaffen in der ihm zugemuteten Enge. Einer der ganz wenigen billig verjuxten Momente.

Das schmerzliche Verwehen der Zeit

Der junge Mann wirkt fahrig, haltlos, nervös. Das Scheitern ist auch ihm schon eingeschrieben. Unrettbar verpfuschtes Dasein allenthalben. Haußmann beweist haarfeines Gespür fürs schmerzliche Verwehen der Zeit. Obwohl er und die SchauSpieler (vor allem Peter Rauch als Hilfsschreiber Foldal – mehr als ein Kabinettstück!) dem Text komödiantische Facetten abgewinnen, bleibt der Grundton doch elegisch. Einmal bedecken angegilbte Zeitungsseiten den Fußboden. Ein Sinnbild all der vergeudeten Tage, Wochen, Jahre.

Die Schwestern sind – durchaus sinnvoll – etwas „gegen den Strich“ besetzt. Traute Hoess sieht robuster aus, als es die Rolle eigentlich zulässt, Margit Carstensen hingegen beklagenswert verhärmt. Ihr früherer „Sieg“ (die Heirat) blieb ohne Ertrag. Ebenso wie Borkman (Ezard Haußmann, der sein Elend im schlaksigen Konversationston vorzeigt) lassen die Schwestern sich nie ganz von Emotionen hinreißen (was verteufelt schwer zu spielen ist). Es ist, als gebe es da eine Bremsvorrichtung.

Die wahren Gefühle sind eben längst erstorben und wohl auch erstickt unter kitschigen Erwartungen: Ella findet gar die Muße, ein blinkendes Eiffelturm-Modell auf den Tisch zu wuchten, als Erhard seine Geliebte Fany (Maren Eggert) vorstellt, mit der er vor all dem flüchten will. Dazu ertönt der Schläger „Ganz Paris träumt von der Liebe“.

Bei eisiger Kälte ins Nirgendwo

Es sind Szenen von grotesker Art, die jederzeit in eine böse Endlos-Schleife eingefädelt werden könnten, in furchtbar-komisch verewigte Wiederholungen à la Thomas Bernhard oder Samuel Beckett.

Gegen Ende brechen Borkman und Ella bei eisiger Kälte ins Nirgendwo auf. Die mit Hub und Schub vielbewegte Bühne ist nun beinahe leer. Schneewehen vernebeln den Blick wie im Traum, und es huschen trollhafte Geister herbei. Bereits im Jenseits angelangt, schneidet Borkman ihnen Grimassen. Schließlich sagt er belustigt: „Schön hier bei euch.“ – Willkommen im Gespensterland!

Furioser Premieren-Applaus.

Termine: 25., 26. Sept; 3., 8. Okt. Karten: 0234/3333-111.




Eine schrille Zicke namens Iphigenie: Durchs Wasser patschen und Worte hervorwürgen – Wie Regisseur Volker Lösch mit Goethe umspringt

Von Bernd Berke

Essen. Im Essener Theatercafé trug eine Kellnerin zur Premiere ein T-Shirt mit der offensiven Aufschrift „Zicke“. Doch wer hätte gedacht, dass dieses Wort hernach auf der Bühne so konkrete Gestalt annehmen würde? Da gebärdete sich Goethes „Iphigenie auf Tauris“ als kreischiges Furienwesen. Überhaupt wurde Goethe im Zerrspiegel gezeigt.

„Wasser – Der Film“. So etwas gab’s vor einigen Jahren mal im Kino. Jetzt haben wir gleichsam „Wasser – Das Stück“. Denn Volker Löschs barsche Inszenierung des Goethe-Klassikers führt uns in einen ringsum turmhoch eingemauerten Bezirk. Dort tut sich vor dem Sockel, auf dem Iphigenie als Diana-Priesterin waltet, ein Planschbecken auf, in dem die Darsteller fortan immer wieder herumpatschen.

Mit Goethe an den Baggersee

Iphigenies Bruder Orest taucht einmal sogar minutenlang unter. Bei allem Staunen über die sportlich-technische Leistung (Atemgerät unter der Oberfläche?): Da ersäuft jeder Sinn. Es tobt sich ein blosses Körpertheater aus, dem der Text nur noch ein vager Anlass zu sein scheint. Mit Goethe an den Baggersee…

Beim Dichter ist Iphigenie, die sich aus dem Barbarenstaat des Königs Thoas nach Griechenland zurücksehnt, eine sanftmütig Leidende. Sie hat Thoas überredet, die Menschenopfer am Altar der Göttin Diana abzuschaffen. Überhaupt steht sie für eine Abkehr von wilden Rache-Mythen, von hin und her wogenden Geschwister-, Gatten- und Elternmorden in des Tantalus‘ Geschlecht. Unter Gefahr für Leib und Leben scheut sie schließlich gar die Lüge, die ihr und ihrem Bruder Orest zur Flucht vor Thoas‘ wachsendem Zorn verhelfen könnte. Derlei Lauterkeit und Edelmut galten schon Goethe selbst als „verteufelt humanistisch“.

Vulgäre Psychopathologie

Nun aber die Essener „Iphigenie“, die von Hannah Schröder verkörpert wird. Sie nölt, jault und quiekt dermaßen drauflos, dass man sich fragt, warum Thoas diese – mit Verlaub – Zîcke zur Frau nehmen will. Thoas (Claus Boysen) tappt wie ein trüber, tumber Tanzbär einher. Er und Iphigenie würgen vielfach einzelne Worte und Sätze hervor, brechen sie brachial aus dem Verstext heraus, als seien sie nicht mehr sagbar. Dabei ist es doch nur unsäglich, was man hier mit der Vorlage anstellt!

Orest (Benjamin Morik) und sein Gefährte Pylades (Denis Petkovic) kommen als offenbar schwules Duo wie zwei Preisboxer daher. Mit seinem Schwesterlein darf Orest auch schon mal hospitalistisch schaukeln. Vulgäre Psychopathologie der Sagenwelt.

Damit sie wach bleiben, werden die Zuschauer nach jeder Szene mit Missionen traktiert und von der Bühne her grell angestrahlt. Am Schluss ahnt man auch, warum sich Iphigenie so schrill benimmt – wegen der argen Männerwelt. Thoas, bei Goethe am Ende zur Friedfertigkeit überredet, brüllt hier sein finales „Lebt wohl!“ nur widerwillig heraus. Orest und Pylades gefallen sich beim stummen Nachspiel in bewaffneten Posen, während Iphigenie verzweifelt ein Schlupfloch in jener großen Mauer sucht. Die Männer sind eben nicht friedensfähig, und daran leiden auf ewig die Frauen. Dachten wir’s uns doch…

Termine: 24. Sept., 1. und 2. Okt. Karten: 0201 /8122-200. 




Günter Grass: Der Gesichte ein Gesicht geben – Dortmunder Lese-Auftritt mit dem Buch „Mein Jahrhundert“

Von Bernd Berke

Dortmund. Rekordandrang zur „Kultur im Tortenstück“ im Dortmunder Harenberg City Center: Als Günter Grass gestern aus seinem Buch „Mein Jahrhundert“ las, lauschten ihm über 500 Menschen andächtig. Wäre mehr Platz gewesen, so wären gewiss doppelt so viele gekommen.

Zuerst fielen die Farben auf: Nicht nur, weil zugleich eine Ausstellung mit Grass‘ Lithographien und seinen farbenfrohen Original-Aquarellen zum Buch eröffnet wurde. Grass, mit dunkelgelbem Jackett und Weste angetan, erquickte sich auf dem Lesepodium aus einem Glase, das einen guten Rotwein darbot. Auch das ist Kultur.

Ein gemütlicher Frühschoppen also? Keineswegs. Der 71-Jährige hatte am Abend zuvor in Köln gelesen und hatte gestern noch einen Auftritt in Duisburg vor sich. Dortmund war freilich nicht nur das mittägliche Zwischenspiel, sondern ein Ereignis für sich. Hierher kam Grass auf Einladung der Westfälischen Rundschau, des Harenberg Centers und der Buchhandlung Krüger.

Offen gesprochen: Wir haben das „Jahrhundert“-Buch vor einigen Wochen nicht allzu günstig rezensiert. Und ich meine weiterhin, dass es nicht der ganze große Wurf des Autors geworden ist. Wahr ist aber auch: Beim Vorlesen, zumal durch Grass selbst, gewinnen die Texte ganz enorm.

Mit beinahe sprudelnder Lebendigkeit las Grass ein Dutzend Jahres-Episoden. Er trug die Geschichten fast wie ein Schauspieler vor, unterstrich die Worte durch Gesten. So wurden manche Gestalten, die sich aus den Tiefen des meist schrecklichen deutschen Jahrhunderts schwankend nahten, greifbar. Man verstand, was das heißt: der Geschichte ein Gesicht geben.

So etwa jene tanzfreudige Frau von 1921, die einen Brief an Kurt Tucholsky schreibt; der Galerist, der 1933 schaudernd den Nazi-Aufmarsch zur „Machtergreifung“ erlebt; die Kinder, unter ihnen der kleine Günter Grass, die 1937 „an der Pissbude“ auf dem Schulhof den spanischen Bürgerkrieg nachspielen. Oder die Trümmerfrau von 1946, die Dichter Brecht und Benn am Grabe Kleists, anno 1956; Willy Brandts historischer Kniefall 1970 in Warschau, der sogar einen konservativen Journalisten beeindruckt. Ein Text, der die Zuhörer besonders bewegte. Herzliches Lachen dann über jenen Opa, der sich 1978 plötzlich den Punkern anschließt. Doch auch da gab’s einen politischen Hintersinn.

Applaus zwischen den Episoden, Riesenbeifall am Schluss. Den Blumenstrauß, den er bekam, reichte Grass sogleich an seine Schwester Waltraut weiter. Die wohnt nahebei – in Lüdenscheid. Dann ging’s zum Signieren, wobei Grass, Pfeife rauchend, auch Sonderwünsche („Schreiben Sie bitte: ,Für Hans-Jürgen“‚) erfüllte. Auch hier ein frappierender Andrang. Man dachte schon, die Schlange höret nimmer auf…




Satelliten über dem Kuhstall – Hagen: NS-Kunst mit bäuerlicher Wirklichkeit konfrontiert

Von Bernd Berke

Hagen. Osthaus-Museumsleiter Dr. Michael Fehr ist kein Freund des Augenschmauses ohne Hintersinn. Lieber zeigt er Bilder-Folgen, die Gedankenspiele anregen. Darauf zielt auch die Schau „Landschaft und bäuerliches Leben in Südwestfalen“ ab.

Ausgangspunkt sind jene Bilder, die zwischen 1938 und 1944 in den Hagener Museums-Fundus eingingen und seit Kriegsende aus gutem Grund im Depot blieben. Quelle der Ankäufe waren seinerzeit die „Großen Sauerländischen Frühjahrsausstellungen“. Dort gab es Kunst, die den NS-Machthabern genehm war: Bruchlos wurde der Mythos vom treudeutschen Landmann bedient. Das war verlogen, denn gerade in jener Zeit wurde die Rationalisierung bäuerlicher Betriebe vorangetrieben.

Das Schlagwort „Nazi-Kunst“ trifft nur bedingt. Nicht alle diese Werke, die vielfach tradierte Formen aufgreifen, sind gleich schlecht. Ja, es ergeben sich gelegentlich gar ästhetische Anklänge an Arbeiten etwa einer Käthe Kollwitz, die als Kontrast gezeigt werden. Doch bei Kollwitz ist bäuerliche Arbeit kein heroischer Akt für Blut und Boden, sondern irdische Mühsal. Und wenn ein Ewald Mataré ein Rind zur Skulptur formt, so. kommt die behutsame Abstraktion dem Wesen des Tieres ungleich näher als jene muskulösen Wunder-Viecher der meisten NS-Maler.

Der beherrschende Blick von oben

Minder begabte Künstler hielten sich oft an die Überlieferung eines von oben herab beherrschenden Blicks auf die Landschaft. Gespenstisch, wie diese Sicht heute technisch auf den Begriff gebracht wird: Man sieht einen Lehrfilm zur Satelliten-Navigation, mit der aus dem All sämtliche Anbaugebiete der EU metergenau kontrolliert werden. Eine Museumswand ist mit Formularen tapeziert, die ein Bauer heute ausfüllen muss. Sein Hauptarbeitsplatz ist nicht der (automatisierte) Kuhstall, sondern der Computer. Der- Dortmunder Landwirt Erhard Freudenberger, der die Schau mitgestaltet hat, bestätigt es seufzend.

Nicht nur die ausgestellten Schulbücher und Schautafeln lassen es ahnen: Trotz aller Technik wird unsere Vorstellung immer noch vom Rösslein geprägt, das der Bauer im Märzen anspanne. Mit solch grotesken Bewusstseins-Verspätungen geht man am besten ironisch um. Der Künstler Bernd Gutzeit (vormals Karikaturist der WR) hat es getan. Seine raumgreifende Installation mit ausgestopften Tieren und allerlei altem bäuerlichem Gerät lässt uns schmunzeln, aber auch wehmütig spüren, dass diese Welt längst im Meer der Zeit versunken ist.

Osthaus-Museum. Hochstraße 73. Vom 19. Sept. bis 31. Okt.




Pubertäts-Hölle in Rauch und Flammen – Marius von Mayenburgs „Feuergesicht“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Tierquälerei, Inzest mit der geistig wirren Schwester, vielfache Brandstiftung, Elternmord. Wenn in Marius von Mayenburgs Stück „Feuergesicht“, das jetzt in Wuppertal Premiere hatte, am Ende alles in Flammen aufgeht, hat die Hauptfigur Kurt ihr Vernichtungswerk getan.

Kurt, dieser Rebell ohne konkreten Grund, findet Welt und Menschen ganz pauschal zum Kotzen. Schon seine Geburt glaubt er als Geisterbahnfahrt erlebt zu haben. Nun, da er seine Pubertät durchleidet, will er sich – typisches Zitat – „rauskappen aus den Verbindungen und einzeln werden, raus mit den fremden Gedanken und alles dicht machen, nach außen keine Fühler mehr, nur noch Waffen, wie eine Qualle…“ Zurüstungen eines Amokläufers.

Mayenburg mag’s sprachlich heftig. Steigt Kurt mit seiner Schwester Olga ins Bett, so sieht er sich gleich „auf dem Matratzenrand detonieren“. Gemach! Von Anfang an steht der Text dermaßen unter Dampf, dass man etliche Ventile öffnen müsste. Mayenburg berauscht sich verbal an Phänomenen und Phantomen der Gewalt. Er scheut indes die Mühen der Herleitung.

Die Eltern sind nur Popanze

Auch fehlt jede ernstliche Gegenkraft. Kurts Eltern sind nur Popanze. Der Vater (Hans Richter) liest sabbernd Hurenmord-Berichte in der Zeitung, die Mutter (Andrea Witt) drischt derweil hohle Sozialhelfer-Phrasen. Kurts Tun verweigert sich jeder Erklärung, doch der Mutter gilt das Feuerlegen als „Hilfeschrei“ des armen, armen Sohnes. Derlei familiäre Karikaturen lassen sich gar leicht denunzieren. Für solche Spiegelfechterei bräuchte man kein schweres Schwert.

Doch Mayenburg (27) gebärdet sich als Wüterich, ständig schreit er Feurio, Zeter und Mordio. Wohl nur ein ganz junges Regieteam wie jetzt in Wuppertal kann dem spatpubertären Furor dieses flackernden Sturm- und Drang-Elaborats halbwegs beikommen. Anja Niemann (Regie) und Birgit Stoessel (Ausstattung) lassen den in Dutzende von Mini-Szenen zersplitterten Text rasant losrattern, so als solle möglichst schnell ein Ende erreicht werden.

Mit Nuancen muß man sich hier eh nicht aufhalten. Der hitzige Sud aus Horror und grauslicher Komik strebt rasch strudelnd dem Ausguss zu. Ein Tisch, ein Tuch, karge Stühle, weiß gestrichene Bierflaschen, leere Papierfetzen – so ist die Vorhölle des Nichts „möbliert“. Bloß keine Umstände.

Vor eine weiße Wand starren

Montiert wird die Szenenfolge nicht mit barschen Blenden, sondern mit geschmeidigen Übergängen zwischen den Sequenzen, durch die jener mit Punkerfrisur versehene Kurt (Christian Doll) selbst etwas ratlos pöbelt und trudelt, während seine in sich gekehrte Schwester (Martina Reichert) ein paar innigere Szenen still rasenden Wahns zeigen darf.

Am Ende ist man weder schlauer noch sonderlich „betroffen“. Man hat nicht tief in den Abgrund geblickt, sondern in sinnlose Leere gestarrt wie vor eine weiße Wand. Auch eine Erfahrung. Aber was kommt danach?

Die nächsten Termine: 15., 19., 22. September im Pavillon der Kulturinsel Kluse (direkt neben dem Schauspielhaus).




Goethe zum Schmökern und Staunen – eine Bücherschau zum 250. Geburtstag des Dichters

Von Bernd Berke

„Rätin, er lebt!“ soll seine Großmutter erleichtert der Mutter zugerufen haben, als er endlich den ersten Schrei tat. „Mehr Licht!“ hat er angeblich selbst geflüstert, als er 1832 starb. Sozusagen zwischen den beiden Momenten verfasste er seine allzeit, aber immer wieder anders gültigen Klassiker vom „Werther“ bis zum „Faust“. Die WR hat einen stattlichen Stapel neuer Bücher über Goethe gesichtet.

Der muntere Knabe guckt oben aus dem Fenster. Doch was tut er denn da? Lachend wirft er Tassen und Teller aufs Straßenpflaster. Klirr! Drunten stehen Leute und feuern ihn an: «Mehr! Mehr!“ Das schöne Familien-Geschirr…

Die Szene, die Goethe selbst in seinen Lebenserinnerungen „Dichtung und Wahrheit“ beschreibt, trug sich in seiner Vaterstadt Frankfurt am Main zu – und kann jetzt auch im Comic-Strip betrachtet werden. Das Leben des Dichterfürsten in bunten Bildchen mit Sprechblasen? Ja, wenn es der Leseförderung dient. Das Goethe-Institut und die Stiftung Lesen haben sich in die Edition eingeklinkt. Folglich tauchen keine Kürzel wie „Ächz“ oder „Sabber“ auf, sondern vornehmlich edle Originaltexte des Olympiers („Zum Sehen geboren“ / „Zum Schauen bestellt“, Ehapa Verlag, 2 Bände, je 52 Seiten, je 19,80 DM).

Mit „Goethe – Sein Leben in Bildern und Texten“ (Insel Verlag, 414 S. Großformat, 39,80 DM) kann man visuell in die damalige Ära eintauchen: So also hat Goethes Puppentheater ausgesehen, so sein Geburtshaus und so die Stadt Frankfurt zur fraglichen Zeit.

Zwei weitere Bildbände widmen sich dem Zeichner und Kunstkenner. Erstaunlich preiswert: „Goethe und die Kunst“ (Hatje, 644 S., 49,80 DM). Hier werden auch Themen wie „Wolkenstudien der Goethezeit“ aufgegriffen. Und man lernt, dass Goethe wichtige Künstler seiner Zeit wie Turner oder Goya praktisch ignoriert hat. Er war eben auch nur ein Mensch. Freilich einer, der fleißig zeichnete und von dem 2700 Blätter erhalten sind. Etliche stellt das Buch „Goethe. Der Zeichner und Maler“ (Callwey, 208 S., 99,90 DM) vor. Stets spürbar: die Freude am prallen Blühen der Natur.

„Goethes äußere Erscheinung“ (Insel-Taschenbuch. 200 S., 27,80 DM) besteht aus vielen Goethe-Porträts und Eindrücken der Zeitgenossen. So schrieb der Mime Wilhelm Iffland: Goethe hat einen Adlerblick, der nicht zu ertragen ist.“ Und Freund Friedrich Schiller bemerkte: „Er ist von mittlerer Größe, trägt sich steif und geht auch so; sein Gesicht ist verschlossen, aber sein Auge sehr ausdrucksvoll.. .“

Viele wollen Goethe ans Leder. So wurde ausgerechnet der so oft in weibliche Wesen Vernarrte als schwul „geoutet“, als Rabenvater oder politischer Reaktionär gebrandmarkt. Hier setzt auch dieses Buch an: W. Daniel Wilson „Das Goethe-Tabu“ (dtv, 414 S., 24,90 DM),

Wilson möchte partout beweisen, dass Goethe als Geheimrat in Weimar ein perfides Spitzelsystem aufgebaut habe, welches sich nicht nur gegen Studenten, sondern auch gegen Autorenkollegen wie Herder und Fichte gerichtet habe. Zudem habe er gnadenlos junge Burschen als Soldaten außer Landes verkauft. Just das Gegenteil liest Ekkehart Krippendorf aus den Quellen heraus: In „Goethe. Politik gegen den Zeitgeist“ (Insel. 232 S., 44 DM) würdigt er den Dichter als Förderer der Toleranz und der Abrüstungspolitik.

Federn lässt der Mythos des Dichters wiederum im Roman von Hugo Schultz: „Goethes Mord. Der Seelenmord an J. M. R. Lenz“ (Edition Isele, Eggingen. 441 S, 44 DM). Hier wird ein Verhalten beleuchtet, das Goethe nicht gerade sympathisch macht. Kaum einen seiner Zeitgenossen ließ er neben sich gelten. Besagten Dichter Lenz hat er ebenso kühl abblitzen lassen wie Heinrich Heine, Heinrich von Kleist oder Jean Paul – wahrlich keine zweitklassigen Schreiberlinge.

Ein wenig ins andere Extrem verfällt Gertrud Fussenegger in „Goethe – Sein Leben für Kinder erzählt (Lentz-Verlag/Herbig, München. 224 S., 24.90 DM). Hier ist sozusagen jede Zeile von Dankbarkeit erfüllt. Aber der Text klingt durchaus kindgerecht und gaukelt kein Wissen vor, das wir Heutigen nicht haben können. Der historische Abstand wird nicht verkleistert, sondern mit Würde gewahrt.

„Hat er, oder hat er nicht – und wann mit welcher?“

Wer sich ausgiebig mit Dichters Erdenwallen befassen will, greift vielleicht zu den Wälzern von Nicholas Boyle: „Goethe“ (Verlag C. H. Beck. Band 1: 1749-1790. 884 S., 78 DM / Band 2: 1790-1803, 1115 S., 88 DM). Der Brite geht wirklich in die Einzelheiten. Einen dritten Band ähnlichen Kalibers will er noch nachreichen. Bemerkenswert übrigens, dass Sigrid Damm: „Christiane und Goethe“ (Insel, 49,80 DM), eine intensive biographische Erkundung über Goethe und seine Frau Christiane Vulpius, seit Wochen die Sachbuch-Bestsellerliste anführt.

Falls man es lieber knapp und alphabetisch sortiert mag, erwirbt man das „Taschenlexikon Goethe“ (Piper, 316 S., 16,90 DM). Der Text gibt sich flockig. Unter dem Stichwort „Frauen“ erhebt sich die Frage: „Hat er, oder hat er nicht – und wann mit welcher?“ Hehe!

Nähern wir uns den Texten des Meisters selbst: „Verweile doch“ (Insel, 512 S.. 39.80 DM) heißt eine Auswahl von 111 Goethe-Gedichten mit Interpretationen. Ausgerechnet Marcel Reich-Ranicki knöpft sich Goethes berühmte Kritikerschelte vor… „Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent“. Reich-Ranickis bezeichnender Befund: Das sei Volksverhetzung…

Dass auch Genies nicht immer auf einsamer Höhe stehen, lässt die schmale Kollektion „Goethes schlechteste Gedichte“ (Residenz-Verlag, 95 S., 19.80 DM) ahnen. Die Herausgeber haben hier vor allem auf‘ Gelegenheitslyrik (zu Geburtstagen, Jubiläen usw.) zurückgegriffen, die Goethe nebenbei aus dem Handgelenk schüttelte. Kostprobe: „Die Welt ist ein Sardellen-Salat / Er schmeckt uns früh, er schmeckt uns spat“. Nun ja. Gemein ist’s, solche lässlichen Sünden zu sammeln.

Ungleich ernsthafter gehen die Herausgeber der auf 40 Bände angelegten Gesamtausgabe vor. Soeben erschienen: „Goethes ästhetische Schriften 1816-20. Über Kunst und Altertum 1-11″ (Deutscher Klassiker Verlag. 1622 S., 198 DM). Titel und Preis lassen ahnen, dass wir es hier mit einem Monument penibler Germanistik zu tun haben. Die Erläuterungen beginnen bereits auf Seite 617, umfassen also rund 1000 Seiten und erdrücken Goethes Worte nahezu.

Auf Reisen war meistens ein Diener dabei

Eigentlich unglaublich: Für 99,90 DM kann man 22 Bände Goethe („Berliner Ausgabe“) nebst wichtigen Briefen, den Gesprächen mit seinem Vertrauten Eckermann und 120 Artikel aus dem Goethe-Handbuch erwerben. Allerdings nicht zum gemütlichen Schmökern, denn es handelt sich um einen Daten-Silberling für den Computer. Mit Suchfunktionen kann man z. B. herausfinden, an welchen Stellen Goethe etwa Worte wie „Liebe“ oder „Italien“ verwendet hat. Um den elektronischen Kraftakt „Goethe – Zeit, Leben, Werk“ (CD-Rom, 99,90 DM) mit Textmassen, Bildern und Tönen zu bestehen, haben sich die Verlage Metzler, Aufbau und Schroedel mit dem Südwestrundfunk (SWR) und der Stiftung Weimarer Klassik vereint.

Goethe unterwegs, Goethe als Feinschmecker – auf dem Buchmarkt gibt’s alles: „Goethe auf Reisen“ (Weltbild, 144 S., 39,90 DM) verknüpft den historischen Rückblick mit Reisetipps für heute. Goethes Touren waren weit beschwerlicher als unsere, er hatte aber meist einen Diener dabei.

Goethe war also ein Genießer, der sich manche Mühsal abnehmen lassen konnte. „Zu Gast bei Goethe“ (Wilh. Heyne Verlag, 215 S., 68DM) fuhrt uns an den Tisch des Lukullikers, der „Welsches Huhn mit Trüffeln“ oder  „Leipziger Allerlei mit Krebsen“ verzehrte. 40 Rezepte aus der Weimarer Hofküche kann man nachbrutzeln.

Der Dichter hasste Hunde und Raucher

Zum Schluss zwei besonders originelle Bücher. „Goethes merkwürdige Wörter“ (Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 216 S., 58 DM) macht anhand von über 1000 Begriffen bewusst, wie weit wir uns sprachlich von Goethes Epoche entfernt haben. Der Blumenliebhaber hieß bei ihm noch „Blumist“, für Pedanterie schrieb er „Kahlmäuserei“. Sagte er „Geilheit“, meinte er Übermut und „Dreistigkeit“ bedeutete ihm Zuversicht. Ein gar schönes Museum der deutschen Sprache.

Angriffslustig gehen Oliver Maria Schmidt und J. W. Jonas in „Gute Güte, Göthe!“(Haffmans-Verlag, 220 S., 24 DM) zu Werke. Unter der Überschrift „bebende Bärte“ werden Goethe-Deuter der verflossenen Jahrhunderte dem Gelächter preisgegeben: lauter salbungsvolle Rechthaber und Erbsenzähler der komischsten Sorte. Welch eine herrliche Realsatire zur Wirkungsgeschichte Goethes!

Schmunzelnd lernen wir hier auch Goethes Abneigungen kennen: Der leidenschaftliche Weintrinker hasste Hunde, Raucher, Brillen, Lärm, Sauerkraut und das „Zerknaupeln“ (Kneten) von Kerzenwachs. Außerdem gab er geliehene Bücher nie zurück. Dem Haffmans-Band entnehmen wir das passende Schlusswort, ein Zitat von Walter Benjamin aus dem Jahr 1932 (100. Todestag Goethes): „Jedes in diesem Jahr über Goethe eingesparte Wort ist ein Segen“. Schon gut. Wir schweigen.

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Der Text stand am 28. August 1999 in der Wochenendbeilage der Westfälischen Rundschau.




Die neuen Zeichen am Himmel – Überblick zum Spätwerk von Joan Miró in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Die Sonnenfinsternis hätten wir nun also recht glücklich hinter uns gebracht. Doch halt! Schon gibt es neue Himmelszeichen. Sogar ein völlig verfinstertes Zentralgestirn, aus dem dunkle Tropfen herabfallen, gibt es nun im Museum am Ostwall zu sehen. Es gehört – man glaubt es kaum – zu einer „schwarzen Serie“ von jenem Joan Miró, dessen Werke uns doch stets so froh und bunt erschienen sind. In Dortmund aber will man uns eben den „anderen Miró“ zeigen.

Die rund 60 Gemälde, 23 Skulpturen und 40 Grafiken, die in Dortmund präsentiert werden, stammen aus den Jahren 1966 bis 1981. Es geht also um das Spätwerk des 1893 in Barcelona geborenen und 1983 in Palma de Mallorca gestorbenen Künstlers. In dieser Dichte und Breite war das Altersschaffen in Deutschland bislang nicht zu sehen.

Lust auf „Mord an der Malerei“

Miró vollzog einen teilweise entschiedenen Bruch mit jenen liebenswerten Bildern, die zahllose Kalenderblätter oder auch T-Shirts zieren und die man sich (mal ehrlich!) schon ein wenig leidgesehen hat. Wecken sie auch vielfach freudige Gefühle, so hätte man’s doch gern auch mal etwas heftiger, sperriger. Das kann man haben. Jetzt in Dortmund.

Schon in den 30er Jahren war Miró, der die Ländereien des Kubismus und des Surrealismus durchschritten hatte, die Arbeit an der Staffelei zur Qual geworden. Am liebsten hätte er „die Malerei ermorden“ wollen. Ein Grund für die Wut war wohl auch die ärmliche Enge seiner Wohnung in Paris. Ein großes Atelier mußte her, dann konnte man vielleicht endlich aufatmen und von vorn beginnen…

Miró fand sein ersehntes Refugium 1954 auf Mallorca, damals noch eine ruhige, von Touristenmassen verschonte Insel ohne scheußlichen „Ballermann“. Statt dessen gab’s dort noch 77 Kürbissorten.

Erotik als Quelle des Schöpferischen

1956 ließ sich der Katalane auf Mallorca ein geräumiges Atelier nach seinen Wünschen errichten. So groß war es geraten, daß den Künstler anfangs eine Angst vor gähnender Leere befallen haben muss. Er hortete nun allerlei Fundstücke – rostige Nägel, leere Dosen, interessant geformte Steine. Hinzu kommen einfache Bildträger wie Sackleinen oder billiges Holz. Eine Kunst, die nicht stolz triumphiert, sondern so wirkt, als wolle sie wieder am Nullpunkt anfangen.

Manche der vorgefundenen Objekte wurden hernach Bestandteile von Bronze-Skulpturen. Ein Hammer, an passender Stelle eingefügt in eine Figur („Personnage“, 1971), kann auf diese Art auch schon mal obszön wirken.

Überhaupt finden sich in der Dortmunder Schau etliche Beispiele für die erotische und somit schöpferische Anverwandlung der Welt. Sexualität ist ein reich sprudelnder Quell dieser schwebenden, kreisenden, gärenden, pulsierenden, sich gleichsam unaufhörlich selbst gebärenden Symbolsprache Mirós, die der Musik so eng verwandt ist, wie es Malerei nur sein kann.

Ein zweiter Born sind eben jene kosmisch inspirierten Zeichen, von denen anfangs die Rede war. Diese sozusagen planetarische Traumwelt wird bevölkert und durchhuscht von vielerlei irrlichternden Gestalten. Da die meisten Bilder keinen Titel tragen, sind der Phantasie kaum Grenzen gesetzt. Kichernde Kobolde treiben da ihr Wesen, aber auch bedrohliche Phantome.

Den Moment des Schocks einfrieren

Von „Schocks“, die seine Produktion anregten, hat Joan Miró einmal gesprochen. Solche Anstöße konnten von allem ausgehen; von einem rasenden Auto oder einem Staubkorn. Bisweilen, so zeigt die (von Tayfun Belgin aus den Beständen der Miró-Stiftung auf Mallorca nach Belieben getroffene) Dortmunder Auswahl, bleiben diese Schocks im Spätwerk geradezu brutal präsent. Ganz so, als habe der Künstler den Schreck des allerersten Augenblicks bewahrt und eingefroren.

Selbst in der eher lieblich angelegten Serie „Allegro vivace“ gibt es ein Bild mit dem Titel „Der Raub“. Eine andere Arbeit heißt „Rette sich, wer kann“, und eine bebend „Eifersüchtige“ scheint vor lauter Leid explodieren zu wollen.

Wohlig umsonnte Altersmilde zeigt sich hier kaum, sondern Furcht und Schrecken treten oft fratzenhaft hervor. Oder auch der schiere Zorn, woher auch immer rührend. Wenn es dann einmal heiterer zugeht, kann man sich doppelt darüber freuen. Weil es der Finsternis abgerungen ist.

14. August bis 14. November. Museum am Ostwall, Dortmund. Eintritt 13 DM, Katalog 45 DM.




Die Welt wird zur Falle – Der geniale Filmregisseur Alfred Hitchcock wurde vor 100 Jahren geboren

Von Bernd Berke

Lange Sequenzen, ja ganze Filme von Alfred Hitchcock spielen auf engstem Raum – auf einem kleinen Boot, in einem einzigen Zimmer. Hier kann sich die Angst ganz dicht an die Figuren drängen, sie allseits umfangen. Auch für die Kino-Zuschauer gibt es kein Entrinnen vor der Spannung. Hitchcock, morgen vor hundert Jahren geboren, hat die menschlichen Abgründe zutiefst ausgelotet.

Der räumlichen Reduzierung entspricht in seinen Filmen oft die körperliche Fragmentierung. So sind, besonders im mörderischen Moment, Täter wie Opfer nur in Partikeln zu sehen – zitternde Hand, starrer Hals, geweitetes Auge. Am berühmtesten wurden die atemlos und klingenscharf gegeneinander gesetzten Schnitte in der Duschszene von „Psycho“. Wahrscheinlich hat Hitchcocks Frau, die Cutterin und Drehbuchautorin Alma Reville, hier ihren Einfluss ausgeübt. Die Szene weckt jedenfalls so archaische Ängste wie etwa die ganz allmählich sich zu ungeheurer Dunkelheit ansammelnde Bedrohung durch „Die Vögel“.

Sexuelle Obsessionen

Der streng katholisch erzogene Hitchcbck, der äußerlich so harmlos, so schnubbelig-wabbelig wirkte, dürfte in seinem Werk auch verborgene sexuelle Obsessionen verarbeitet haben. „Das Fenster zum Hof“ handelt natürlich vom Voyeurismus. Der Meister selbst brachte ausdrücklich „Vertigo“ mit Nekrophilie und „Marnie“ mit Fetischismus in Verbindung. Zudem treibt Hitchcock mit Vorliebe Blondinen (Grace Kelly, Ingrid Bergman, Kim Novak, Tippi Hedren, sogar die biedere Doris Day) als Opfer durch alle Schluchten des Schreckens.

Freilich kommen sexuell aufgeladene Themen (auch wegen der damals rigiden Zensur) stets raffiniert verhüllt und unterschwellig zur eminent filmischen Sprache, die meist auch ohne Tonspur aussagekräftig bliebe. Gerade deshalb wirken die Szenen umso wuchtiger nach, zumal Hitchcock keine entlastende „Moral der Geschichte“ liefert.

Erschütterung der Identität

Nachhaltige Erschütterung der Identität ist ein weiteres Gravitationszentrum. Vielfach werden Menschen verwechselt und geraten unversehens in den Teufelskreis von Schuld und Sühne. Niemand ist, was er zu sein vorgibt, die Welt wird zum Hinterhalt, zur Falle. Der eigene Ehemann scheint – wie Cary Grant in „Verdacht“ – mörderische Absichten zu haben, doch auch das ist nicht gewiss. Es bleibt lange in der Schwebe.

Zwei Begriffe gingen dank Hitchcock in die Cineasten-Sprache ein: Suspense und MacGuffin. Beispiel für Suspense: Jemand trägt unwissentlich eine Bombe bei sich. Bei Hitchcock weiß das Publikum immer mehr als der Held, nämlich dass und wann die Ladung explodieren wird. Derweil bewegt sich die Figur völlig ahnungslos und redet belangloses Zeug. Daraus erwächst eine schier unerträgliche Dehnung der Zeit. Bis heute spricht man, wenn etwa ein Fußballspiel auf Messers Schneide steht, vom Krimi à la Hitchcock.

MacGuffins sind jene unscheinbaren, oft mit hinterhältigem Humor eingeschleusten Vorwände, die eine Geschichte anstoßen und später gar keine Rolle mehr spielen. In „Psycho“ stiehlt Janet Leigh anfangs ihrem Chef 40.000 Dollar, die hernach völlig unwichtig und quasi nebenher „entsorgt“ werden.

Die Franzosen huldigten ihm

Bis dahin eher als ordentlicher, kommerziell erfolgreicher Filmhandwerker gewertet, wurde Hitchcock seit Ende der 50er Jahre recht eigentlich erst von den französischen Filmemachem der „Nouvelle vague“ entdeckt. Eric Rohmer, Claude Chabrol, Jacques Rivette und François Truffaut huldigten dem Briten. Truffaut, dessen vielstündige Interviews unter dem Titel „Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?“ zum filmkundlichen Wegweiser wurden, hat gelegentlich Kamerapositionen und Schnittfolgen seines Idols detailliert nachgeahmt.

Truffaut, der oft zur eigenen Inspiration tagelang Hitchcock-Filme angeschaut hat, stellte ihn neben die Allergrößten: Hitchcoçk sei ein genialer „Künstler der Angst“ in der Nachfolge eines Edgar Allan Poe oder Franz Kafka. Und weiter: „Ihre Mission ist es, uns an ihren Ängsten teilhaben zu lassen. Dadurch helfen sie uns, uns besser zu verstehen“.




Der Mensch ist dem Menschen ein Rätsel – Claude Chabrols Film „Die Farbe der Lüge“

Von Bernd Berke

Im Wald liegt die Leiche der zehnjährigen Eloise. Das Mädchen ist erwürgt worden. Kurz vor ihrem Tod hat sie einen Zeichenkursus besucht. Kein Wunder, dass die Kommissarin zuerst den Lehrer verdächtigt.

So geradlinig beginnt Claude Chabrols „Die Farbe der Lüge“, doch dabei bleibt es nicht. Der Altmeister aus Frankreich verstrickt seine Figuren (und die Zuschauer) in ein dichtes, bald kaum noch durchschaubares Gespinst der Verstellungen.

Lügen, so erfahren wir bei dieser faszinierend kühlen filmischen Feldforschung in der bretonischen Provinz, können Menschen auf verschiedenste Art; etwa, indem sie wortreich die Wahrheit umkurven, indem sie das Wesentliche verschweigen – oder durch bewusste Maskierung ihrer wirklichen Absichten. Ja, nicht einmal Offenheit hilft weiter: „Wenn man sagt, was man denkt, ist es auch nicht die Wahrheit. Das wäre zu einfach“, heißt es einmal.

Eine Kommissarin aus dem Nirgendwo

Die Lüge ist hier so allgemein wie ein unentrinnbares Element, das durch alle Beteiligten hindurchflutet. Besagter Zeichenlehrer René (Jacques Gamblin) lebt mit Viviane (unaufdringlich präsent wie stets: Sandrine Bonnaire) zusammen. Spürbar wird die Kraft, die die beiden gegen alle Widrigkeiten verbindet. Doch im Grunde sind sie füreinander ebenso undurchschaubar wie alle anderen Personen: Der Mensch ist dem Menschen ein Rätsel, und das Leben erweist sich als Abfolge bloßer Mutmaßungen – ganz wie die Ermittlungen zum Kriminalfall.

René, ohnehin in einer künstlerischen Schaffenskrise, knickt unter dem ungeheuren Mordverdacht seelisch ein. Die Eltern melden nach und nach ihre Kinder aus seinem Kursus ab. Man weiß ja nie…

Folgenlos rauschende Fernsehbilder, wabernder Nebel

Um sich nicht vollends in Renés Depression hineinziehen zu lassen, lenkt sich Viviane ein wenig, aber nicht sexuell mit Desmot (Antoine de Caunes) ab. Dieser bisweilen lachhaft eingebildete Schriftsteller, charmanter Schwadroneur mit häufigen TV-Auftritten und Frauengeschichten, will sich auch schon mal mit gefälschten Zitaten wichtig machen. Zudem ist er, wie sich später herausstellt, offenbar an einem Handel mit gestohlenen Kunstwerken beteiligt.

Optische Entsprechungen solcher Ungewißheit sind jene folgenlos vorbeirauschenden Fernsehbilder, vor denen die Figuren vielfach mit starrem Blick sitzen; und dieser Nebel, der in schwarzblauer Nacht durch die zerklüftete Küstenlandschaft wabert. Die Kommissarin (Valeria Bruni-Tedeschi) wirkt eigenschaftslos, als sei sie aus dem Nirgendwo hergekommen. Auch sie greift zur Lüge. Die Befragung eines Verdächtigen zeichnet sie mit dem Bandgerät auf, obwohl sie das Gegenteil versprochen hat.

Der Mädchenmord und ein weiterer werden schließlich zwar Tätern zugeordnet, doch nicht wirklich aufgeklärt. Und der Film nimmt mit einem unübersetzbaren Sprach-Anklang am Ende eine Wendung ins nahezu Surreale. René, nunmehr vollends verdüstert, sieht sich selbst schon an der Schwelle zum Totenreich. Viviane, die bis hierher treulich zu ihm hält, ruft mehrfach seinen Namen, und im Französischen hört es sich genau so an wie „renée“ (wiedergeboren). Ist es die Kraft der Liebe, die selbst die Lüge und den Tod überwinden kann?




„Die Ehe – das sind zwei Geschichten“ / Neuer Roman des Büchner-Preisträgers Arnold Stadler

Von Bernd Berke

Figuren in deutschen Romanen haben oft viel Zeit, über sich und ihr Leiden an der Welt nachzudenken. So auch in „Ein hinreissender Schrotthändler“, dem neuen Werk des kürzlich gekürten Büchner-Preisträgers Arnold Stadler. Sein ichschwacher Erzähler, dem kein eigener Name gegeben wird, ist ein mit 45 Jahren früh pensionierter Geschichtslehrer.

Die Ehe dieses Mannes, der mit einer Ärztin liiert ist, tröpfelt sozusagen nur noch dahin. Der Resignierende redet davon, als gehe es um Konjunkturdaten: „… die Ehe war ohnehin eine krisengeschüttelte Branche, die krisengeschüttelte Branche schlechthin…“ Kinder hat man sowieso nicht in die Welt gesetzt. Auch dazu äußert der Enttäuschte seine düstere Meinung: „Für meine Person wollte ich keinen sogenannten Stammhalter. Damit sie nachher auf dem Kindergeburtstag streiten und Krieg spielen und .sich umbringen wollen?“

Fremder Schönling in Trainingshose

Eigentlich kein Wunder, daß Gattin Gabi abtrünnig wird, sobald der Schönling Adrian auftaucht. Wie aus dem Boden gewachsen, steht dieser Asylbewerber eines Tages in seiner Adidas-Hose vor der Tür. Fortan geistert diese Kunstfigur wie ein Phantom durch die Handlung. Gelegentlich würgt er den Hausherrn und verlangt Geld. Trotzdem adoptieren sie ihn. Die einfachste Lösung. So kann er hier bleiben und die Ehefrau beglücken. Man findet sich mit allem ab, denn man ist ja finanziell „saniert“ und fährt seinen Benz. Ein gut wattiertes Unglück also.

Allmählich aber wächst beim Erzähler denn doch ein Gefühl nachhaltiger Entfremdung: „Meine Frau, und ich: das sind zwei Geschichten unter einem Dach, von denen ich nur die eine kenne.“

Anlässlich einer Beerdigung treibt ihn das Weh weg aus dem Wohnort Köln und hin in seine alte, hassgeliebte Hinterwäldler-Heimat, über die er mit seiner Frau (hochnäsige Hamburgerin) nie wirklich hat sprechen können: Kreenheinstetten bei Meßkirch.

Und nun weitet sich der Roman zum eindringlichen, aber gleichwohl köstlich unterhaltsamen Lamento über Kindheits-, Sprach- und Heimatverlust.

„Die Heimat wird immer weniger“ lautet eine Kapitel-Überschrift. In der Tat ist die ehedem hinterletzte, aber anheimelnd gewesene Provinz jetzt durchtränkt mit dem Gift der schnöden Gegenwart. Rosemarie, seine Freundin aus der Zeit kindlicher Doktorspielchen, verdingt sich als Immobilienmaklerin, ihr Mann verhökert japanische Geländewagen. Andauernd zirpen die Handys, und einen Selbsterfahrungs-Workshop für Sexaholics (Sexsüchtige) gibt’s auch schon in Meßkirch, wo einst der Schwergewichtsdenker Martin Heidegger grübelte.

Traurigkeit hinter der Maskerade

Glaubt auch niemand mehr an Gott, so bekommt man hier doch noch eine „Seele“. So heißt die landesübliche Brezel, bei deren Anblick dem Erzähler ganz warm uns Herz wird. Wie sich einst Marcel Proust vom Duft eines Gebäcks zur „Suche nach der verlorenen Zeit“ verleiten ließ, so auch Stadler und sein Antiheld.

Arnold Stadler würzt sein Klagelied mit komischen, schrulligen, abstrusen Details. Stilistisch gibt er sich oft bewusst lässig und streut so manchen Kalauer ein. Für das Lächerliche hochnotpeinlicher Situationen hat er einen besonders wachen Sinn. Kurz und gut: Die Sache liest sich munter ‚runter.

Doch hinter solcher Maskerade springen urplötzlich Traurigkeit, ja Untröstlichkeit hervor, manchmal in unscheinbaren Nebensätzen. Das Leiden am verfehlten Leben wird durch Stadlers Komik um keinen Deut verkleinert, sondern umso greller hervorgetrieben. Und dies ist wirklich eine Kunst.

Arnold Stadler: „Ein hinreissender Schrotthändler“. Roman. DuMont Verlag. 237 Seiten.




Ein Kraftkerl mit empfindlicher Seele – Überblick zum Werk des Malers Lovis Corinth in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Durch eine grüne Tür stürzt „Der geblendete Simson“ auf den Betrachter zu. Seine Hände liegen verkrampft in eisernen Ketten, bis auf einen Schurz ist er elend nackt. Um die Augenpartie klebt ein verschmierter Verband, aus dem Blut rinnt. Eine geschundene Gestalt, die uns die ganze Wucht ihres Schmerzes entgegenschleudert.

Da behaupte noch ein Kunstlexikon, Lovis Corinth (1858-1925) sei Impressionist gewesen; nur deshalb, weil er häufig flirrendes Licht in seinen Bildern flackern ließ oder weil er manchmal unter freiem Himmel gemalt hat. Nein, dieser ausdrucksmächtige Berserker ist, wenn denn schon Stil-Schubladen geöffnet werden müssen, mindestens ebenso sehr Expressionist gewesen. Das belegen die 61 Gemälde und 70 Papier-Arbeiten, die jetzt in Wuppertal zum Werküberblick vereint sind.

Blühende Gärten als Feier des Lebens

Der auch körperlich imposante Kraftkerl war allerdings ein hochsensibler Mensch. Immer wieder hat Corinth seine seelischen Zustände in Selbstporträts fixiert. Anhand dieser gemalten Zwischenbilanzen kann man ihm einige Höhen und Tiefen nachfühlen. Auf dem letzten Selbstbildnis aus dem Todesjahr 1925 ist das Antlitz des Künstlers fast durchsichtig schmal geworden, sein Blick ist gebrochen und nach innen gerichtet. Selbst die Farben (verwaschenes Grau, bleiches Rot) haben alle Kraft eingebüßt.

Völlig anders die Bilder vom Beginn des Jahrhunderts, als der im ostpreußischen Tapiau geborene Corinth nicht nur künstlerisch im Saft stand! 1902 malte er sich selbst mit einer halbnackten, noch etwas scheu dreinschauenden Schönen. Es war Charlotte Berend, erste Elevin in Corinths 1901 gegründeter Berliner Malschule für Damen. Bald darauf wurde sie seine Ehefrau. Als sie, wie man damals wohl sagte, in „gesegnete Umstände“ kam, malte Corinth zur Lebensfeier blühende Gärten und später eine vollkommen zufrieden in sich selbst ruhende „Donna Gravida“, was just „schwangere Frau“ bedeutet.

Vorbilder Frans Hals, Manet und Cezanne

Üppig schwellende „Rubens-Leiber“ hat Corinth mit spürbarer Lust verewigt. Die ungeheure Fleischlichkeit der vierköpfigen „Frauengruppe (Freundinnen)“ von 1904 kündet von Sinnenfreude, die „Salome“ (1900) freilich von gefährlichen Begierden. Höchst delikat in der Farbbehandlung zeigt Corinth die „Dame mit Weinglas“ (1908), eines jener Bilder, die an sein großes Vorbild Frans Hals heranreichen, den er neben Cezanne und Manet am meisten verehrte, während er Monet für „schwächlich“ hielt.

Corinth befand, man dürfe die französischen Impressionisten nicht nachäffen, sondern müsse eine entschieden deutsche Kunst schaffen. Was immer dies sei, hier klingt Corinths Zungenschlag für heutige Ohren ein wenig befremdlich.

Manchmal nah an der Karikatur

Ob nun deutsch oder nicht, seine Bilder überzeugen, ja überwältigen oft – nicht zuletzt durch eine zupackende Charakterisierungs-Kunst, die gelegentlich das Karikierende streift. Angesichts der „Logenbrüder“ (1898/99), dieser trinkfreudigen Versammlung von Freimaurern, wird man schmunzeln – etwa über jenen Versicherungsmakler mit Hang zum Höheren, der verklärt gen Himmel blickt. Auch wirkt auf Corinths Porträt der damals tonangebende Kunstkritiker Julius Meier-Graefe, der dem Künstler anfangs nicht so gewogen war, ziemlich diabolisch. Und das Bildnis der betagten „Mutter Rosenhagen“ zeigt überdeutlich die Spuren des Alters. Nicht sehr galant. Wer’s idyllisch mag, wird gleichfalls fündig: Corinths Walchensee-Landschaften verströmen ein Behagen vor der Natur, das auch den Betrachter mit Ruhe erfüllt.

Lovis Corinth. Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Elberfeld, Turmhof 8). 1. August bis 19. September. Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Katalog 35 DM.




Das Leben als Mutprobe – zum 100. Geburtstag von Ernest Hemingway

Von Bernd Berke

„Es ist nicht schlimm“, sagte er. „Und Schmerzen machen einem Mann nichts.“ – Ein Zitat aus „Der Alte Mann und das Meer“. Der Tonfall ist unverkennbar. Punkt, fertig, keine Debatten. Keine Weicheier-Fragen wie „Wann ist der Mann ein Mann?“ Der Schriftsteller Ernest Hemingway hätte wohl schlicht geantwortet: „Immer.“ Und er hätte zur Bekräftigung den nächsten Whisky gekippt.

Dieser Kerl von altem Schrot und Korn wurde heute vor 100 Jahren in Oak Park (US-Staat Illinois) geboren. Die tonangebende Literaturkritik urteilt inzwischen sehr nüchtern über ihn. Maureen Dowd, Starkolumnistin der „New York Times“, behauptete gar: „Hemingway war schon eine Parodie seiner selbst, als er starb“. Und: „Zusammen mit anderen Macho-Schriftstellern wie Jack London, Irwin Shaw und Norman Mailer ist sein Werk aus der Mode gekommen.“ 1950 hatte im selben Weltblatt noch gestanden, Hemingway sei der wichtigste anglophone Autor seit Shakespeare.. .

Freizeit-lndustrie in seinem Namen

Über literarische Qualität wird kaum noch geredet, wenn der Name Hemingway fällt. Statt dessen steht er als (bröckelndes) Denkmal für ein kerniges Männerleben zwischen Hochseefischerei, Großwildjagd, Stierkampf, Kriegsreportagen und alkoholischen Exzessen. Die eine oder andere Frau gab’s als Gattin oder Geliebte auch noch –vorzugsweise demütig. Auf diesen etwas ranzigen Geschmack von Freiheit und Abenteuer, auf Hemingways „muskulösen Existentialismus“ (so der Kritiker Paul Ingendaay in der FAZ) gründet sich eine Freizeit-Industrie mit läppischen Ähnlichkeits-Wettbewerben, touristischen Routen entlang seiner Kneipen-Touren (Key West in Florida, Kuba) und Hemingway-Lizenzen für Gewehre, Füllfederhalter, Brillen oder Möbel.

Sein vielfach verfilmtes Werk, 1926 mit „The Sun Also Rises“ (deutsch „Fiesta“) beginnend und 1954 mit dem Nobelpreis für „Der Alte Mann und das Meer“ (1952) gekrönt, wird lukrativ ausgeweidet. Hemingways Söhne schustern posthum greifbare Fragmente zu schnellfertigen Büchern zusammen. Man darf vermuten, daß der alte Ernest dies ebenso gehaßt hätte wie den Umstand, daß ausgerechnet einer seiner Sprößlinge als Transvestit lebt.

Die erste Flinte mit zehn Jahren

Mit zehn Jahren bekam der Arztsohn Ernest Hemingway seine erste Jagdflinte. Das prägt. Mit 18 wurde er Reporter beim „Kansas City Star“. Die schmucklos-präzise Nachrichtensprache hat großen Einfluß auf seine späteren Bücher ausgeübt, die wiederum eine ganze Generation von Literaten geprägt haben. Hemingways knapper Stil, aus deutscher Sicht das pure Gegenteil etwa eines Thomas Mann, wurde als „Depeschen-Prosa“ bezeichnet. Tatsachlich versuchte er, jede überflüssige Emotion oder Reflexion aus seinen Romanen und Erzählungen zu verbannen. Seine besten Texte beginnen gerade deshalb wie von selbst zu funkeln. Solche Wonnen der Wortkargheit haben vielleicht die deutlichste Entsprechung in der Filmweit: Hemingway schrieb ungefähr so, wie Humphrey Bogart spielte.

Im Ersten Weltkrieg als Ambulanzfahrer schwer verletzt, verliebte sich der 19jährige Hemingway in die Krankenschwester Agnes von Kurowsky, der er in dem Roman „In einem anderen Land“ (1929) ein Andenken bewahrte. Vom „Toronto Star“ nach Paris entsandt, lernte er literarische Größen wie Gertrude Stein, Ezra Pound und F. Scott Fitzgerald kennen. Bald hörte er selbst zu den Berühmtheiten.

Stierkampf und Trunksucht

In „Tod am Nachmittag“ stilisierte Hemingway 1932 den spanischen Stierkampf zum Sinnbild menschlicher Existenz: das Dasein als unaufhörliche Mut- und Bewährungsprobe im Angesicht des Todes. „Die grünen Hügel Afrikas“ (1935) entstand nach einer Safari im damaligen Tanganjika, „Haben und Nichthaben“ (1937) war sein einziger Roman, der in Amerika spielte. Mit seiner Geliebten Martha Gellhorn zog er als Berichterstatter auf republikanischer Seite in den Spanischen Bürgerkrieg, die literarische Ausbeute hieß „Wem die Stunde schlägt“ (1940). Ins von den Deutschen befreite Paris zog er als einer der ersten US-Amerikaner ein.

Am 2. Juli 1961 erschoß sich der künstlerisch kraftlos gewordene, deprimierte und trunksüchtige Schriftsteller. War er am eigenen Männlichkeitsanspruch gescheitert? Mitten im „Kalten Krieg“ bemerkenswert: Sowohl US-Präsident John F. Kennedy als auch dessen Widersacher Fidel Castro, dem Hemingway 1959 nach der kubanischen Revolution die Ehre des Besuchs erwiesen hatte, bekundeten Trauer. Sozusagen unter Männçrn. Und noch ein Mann der politischen Tat nennt, wie man hört, „Papa Hem“ seinen Lieblingsautor: Bundeskanzler Gerhard Schröder. Aber daraus ziehen wir nun keine Schlüsse.




Hinter der Abstraktion lauert schon das Nichts – Gefühle direkt aufs Bild bringen: Werke von Jackson Pollock in Düsseldorf

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Reichlich rabiat muß er gewesen sein, der amerikanische Maler Jackson Pollock (1912-1956). Eine vom Künstler-Kollegen Willem de Kooning verbreitete Anekdote besagt, Pollock habe auf einer Party mit bloßer Faust ein Fenster eingeschlagen, um für Frischluft zu sorgen. So geht’s natürlich auch…

Bei einer schicken Vernissage pinkelte Pollock auch schon mal beherzt in den Kamin der Gastgeber. Rund elf Monate, nachdem der Filmstar James Dean tödlich mit dem Auto verunglückt war, starb auch Pollock – nur 44jährig – 1956 am Lenkrad. Er war sturzbetrunken. Ein Hollywood-Film mit Ed Harris, der im nächsten Jahr herauskommt, wird sein wildes Leben nachzeichnen. Man wundert sich nur, daß dies so spät geschieht.

Hollywood verfilmt sein wildes Leben

Solche voyeuristischen Blicke auf Dinge des Lebens und Sterbens mögen interessant sein. Doch in der Pollock-Schau der Düsseldorfer Kunstsammlung NRW gilt es, nicht Grob-, sondern Feinheiten zu würdigen.

Für alle Zeiten berühmt wurde Pollock, als er ab 1947 die wohl spontanste Form der Kunst ausübte: Er ließ die Farbe vom Pinsel oder direkt aus der Tube auf die Bilder tropfen (sogenanntes „dripping“, aus dem sich Pollocks späterer Spitzname „Jack the dripper“ ergab). Im engen Atelier lagen die Bilder auf dem Boden, Pollock ging herum und ließ seinen Regungen Lauf. Im gelenkten Zufall konnten Gemütszustände ganz unmittelbar durch Körperbewegungen auf die Leinwand gebannt werden. Von diesem „action painting“ sieht man in Düsseldorf einige prachtvolle Proben.

Weitaus wichtigste Quelle der konzentrierten Auswahl (rund 50 Werke) war das New Yorker Museum of Modern Art (MoMA), wo 1998 mit 150 Bildern eine große Pollock-Retrospektive zu sehen war, die an London weitergereicht wurde.

Im Kreisen der Formen der Schmerz des Kreißens

„Birth“ (Geburt) heißt ein um 1938 entstandenes Bild. Es illustriert den Vorgang des Werdens nicht, sondern drückt ihn schmerzlich aus. Im Kreisen der Formen meint man das Kreißen zu spüren. „The Flame“ (Die Flamme, ca. 1940) flackert nicht als Abbild, sondern scheint den Bildträger direkt zu versengen.

Auch die Kunst eines Pollock kam nicht voraussetzungslos zur Welt. Manche Einflüsse, etwa aus der indianischen Kunst, von Picasso oder den Surrealisten (die eine „automatische“, das Unbewußte freisetzende Bildschöpfung anstrebten), werden von Fall zu Fall deutlich.

Auch kleine Formate (Zeichnungen, Druckgraphik) entfernen sich zunehmend von erkennbarer Gegenständlichkeit. Es ist, als habe Pollock hier die seiner Ausdruckskraft gemäßen Formenvorräte gesichtet und das bildnerische Arsenal angefüllt, um es hernach zur ungeheuren Eruption zu bringen.

Galaxien einer grenzenlosen Freiheit

Bilder wie „Free Form“ (Freie Form, 1946) oder „Shimmering Substance“ (Schimmernde Substanz, 1946) sind Orgien scheinbar regelloser Linienmuster und Farbballungen. Mit grandioser Geste manifestiert sich solch neu gefundene, schier grenzenlose Freiheit in Monumentalbildern wie „Nummer 1 A“ (1948), „Nummer 31″ und „Nummer 32″ (beide 1950). Jede dieser Arbeiten entwirft radikal einen eigenen Bildkosmos. In solchen Galaxien können die Augen des Betrachters halt- und endlos schweifen.

Es war ein Gipfel, auf den Pollock die abstrakte Malerei getrieben hatte. Doch zugleich war es ein Nullpunkt, hinter dem das Nichts lauerte. Von Depressionen geplagt, verfiel er fortan in eine düstere, längst nicht mehr selbstgewisse Schwarz-Malerei. Kunst vor dem gähnenden Abgrund…

Man kann es sich schön zurechtlegen: Pollock war wie ein Komet, der leuchtend aufstieg und rasch niederging. Stoff für Legenden. Die Wahrheit sieht vermutlich anders aus, doch wer will sie kennen?

Jackson Pollock. Bis 3. Oktober in der Kunstsammlung NRW, Düsseldorf, Grabbeplatz. Eintritt 12 DM. Katalog 24 DM.




„art open“ in Essen: Mumpitz des Jahres oder mutiges Durcheinander?

Von Bernd Berke

Essen. Plakate in der Stadt? Fehlanzeige. Irgendein Hinweis am Messegelände? Nichts. So klammheimlich wollen die Veranstalter der als Weltkunstschau angepriesenen „art open“ bis zum 8. August über eine Million Besucher nach Essen locken?

Plakatflächen seien ausgebucht, hieß es gestern zur Pressekonferenz. Vielleicht hätte man sich ja frühzeitig darum kümmern müssen. Zu sehen gab’s nur wenige der angeblich 900 Kunstwerke von der Steinzeit bis heute, die man in fünf Messehallen zeigen will. Zwei Tage vor Eröffnung herrschte vielfach gähnende Leere, in etliche Bereiche wurden die Journalisten wohlweislich gar nicht geführt. Ein Katalog war auch noch nicht fertig.

Selbst ein Mikrofon, mit dem man die versammelten Berichterstatter akustisch hätte erreichen können, war nicht vorhanden. Derweil übertönte eine Voodoo-Kultgruppe aus Benin jedes unverstärkt gesprochene Wort. Das sei ein Ritus, den man nicht einfach abbrechen könne, hieß es.

Voodoo als Schwerpunkt

Voodoo ist ein, wenn nicht d e r Schwerpunkt dieser obskuren Schau. Voodoo-Figürchen durfte man also bestaunen, es folgten diverse russische Ikonen, sodann vorwiegend zweit- bis drittklassige Bilder zwischen Barock und 19./20. Jahrhundert, offenbar größtenteils aus kleineren osteuropäischen Museen geliehen, die über ein paar Devisen-Scherflein froh sein dürften.

Je ein Bild von Rubens („Gottvater, von den Evangelisten verehrt“) und El Greco („San Juan“) sollten „später“ noch eintreffen. Ist dies nun der Mumpitz des Jahres, oder kann die Regellosigkeit und billige Beliebigkeit gar befreiend wirken? Lassen wir die Antwort gnädig offen.

Von 30 auf unter 10 Mio. DM ist der Etat abgespeckt worden. Auf Veranstaltungen im Freigelände hat man völlig verzichtet, wobei man sich von der Messe Essen eh stiefmütterlich behandelt fühlt.

Verzehr soll das Finanzrisiko mindern

Dieter Walter Liedtke, Mentor des Ganzen, der unser aller Bewußtsein mit der Ausstellung und seiner simplen Kunst-Erklärungsformel erweitern will, tapste etwas ratlos durch das, was er da (nicht) angerichtet hat. Angeblich steht Liedtke für finanzielle Risiken gerade. Mit über 1 Million Besuchern (ob diese Zahl wohl je erreicht wird?) soll sich die Sache selbst tragen; bei freiem Zugang (Konzert-Eintritte kosten aber kräftig) rund um die Uhr. Gewinn bringen soll ein Verzehr von etwa 30 DM pro Kopf. Dann zahlt man für Bier oder Saft also 10 DM? Nein, gerade mal 3 DM. Höchst rätselhaft.

Der weltbekannte Ausstellungsmacher Harald Szeemann (documenta, Biennale in Venedig), nicht mehr mit der „art open“ befaßt, war gestern gleichwohl zugegen. Vieles, so Szeemann, mißfalle ihm an der Schau. Doch Liedtke selbst, der ein mutiges Durcheinander angestiftet habe, sei das eigentliche Kunstwerk; seine „Spinner-Potenz“ gehöre in ein „Museum der Obsessionen“. Da sagt’s mal einer.




Immerzu Krieg mit Pausen – Günter Grass zieht in seinem neuen Buch „Mein Jahrhundert“ Bilanz

Von Bernd Berke

Alle ziehen Bilanz, auch Günter Grass. Im letzten von 100 Texten seines Buchs „Mein Jahrhundert“ läßt er seine verstorbene Mutter auferstehen. Und also redet sie 1999: „Nun aber soll ich erzählen, wie es früher gewesen ist. Sag ich ja, Krieg war, immerzu Krieg mit Pausen dazwischen“.

Jedem Jahr des verfließenden Jahrhunderts ist im „neuen Grass“ ein kurzer Text gewidmet. Nach der Lektüre muß man glauben, dies sei in seinen Untiefen vor allem eine deutsche Epoche gewesen. Nur sporadisch schweift der Blick über die Grenzen.

Die schlimmen Zeiten beginnen gleich anno 1900, als ein bayerisches Regiment auf Kaisers Befehl ausrückt, um den Boxeraufstand in China niederzuschlagen. Als Wegmarken folgen die Weltkriege mitsamt allen Vor- und Nachwehen, mit Massenarbeitslosigkeit, Inflation, militärischer wie mentaler Aufrüstung und späteren Prozessen gegen Kriegsverbrecher, aber auch allfälligen „Kameradschaftstreffen“. Vergangenheit, die nicht vergehen will.. .

Der Erzähler ist allgegenwärtig

Grass schlüpft in allerlei Rollenprosa, mischt Fakten und Fiktion. Als allgegenwärtiger Erzähler versetzter sich in Akteure der jeweiligen Zeit hinein, bringt sich aber auch gelegentlich selbst ins historische Spiel: z. B. 1953 als Zaungast des Ostberliner Arbeiteraufstands, 1959 just als Autor der „Blechtrommel“, 1965 als SPD-Wahltrommler.

Historische Stichproben: Grass leiht seine Stimme einem Mann aus der Menge, der 1908 als Kind die flammenden Reden des Sozialisten Karl Liebknecht gehört hat. 1910 denkt eine Frau aus dem Ruhrgebiet über die Krupp-Kanone „Dicke Berta“ nach, bevor 1911 der Kaiser von einer kampfkräftigen Flotte träumt. 1933 spricht ein liberaler Galerist, der Max Liebermanns Ekel vor dem NS-Staat beschreibt.

Ernst Jünger redet mit Remarque

1937 erscheint Grass selbst als kleiner Junge, der auf dem Schulhof den Sieg des Faschisten Franco im Spanischen Bürgerkrieg nachspielt. 1946 äußert sich eine „Trümmerfrau“, 1955 will ein Häuslebauer ein Atombunker-Loch im Garten graben und stürzt hinein. 1962 hören wir jenen Glaser, der den Angeklagtenstand für den Eichmann-Prozeß gebaut hat. 1989 wirken Szenen der Maueröffnung im TV auf einen Ostberliner wie ein Kalte-Krieger-Film, 1997 bekommt das geklonte Schaf „Dolly“ seinen Auftritt.

Grass hat einige Phasen des Jahrhunderts nicht Jahr für Jahr abgehandelt, sondern als verklammerte Fortsetzungsgeschichten. So läßt er Ernst Jünger und seinen politischen Gegenpart Erich Maria Remarque über den ganzen Ersten Weltkrieg plaudern, das Inferno des Zweiten Weltkriegs wird aus der verzerrten Perspektive eines Treffs früherer Frontberichterstatter ins Auge gefaßt.

Die Konstruktion schimmert durch

Detail-Recherchen ließ Grass von einem jungen Historiker erledigen, und offenbar hatte er die Zeittafel immer bei sich, so umständlich fügt er dies und jenes ein. Das Gerüst der Konstruktionen scheint häufig durch. Über weite Strecken liest sich das alles wie braver Schulfunk, wie ein geschichtliches Ratespiel. Elan ist kaum zu spüren.

Grass fordert den Leser nicht allzu sehr. Nach ein Paar Absätzen ist die Aufgabe jeweils umrissen. Sodann wird die Sache mit Anstand, aber ohne sonderlichen literarischen „Überschuß“ fortgeführt. Etliche erfundene Zeitzeugen scheinen dem Kern der Verhältnisse nicht näher zu kommen als ein distanzierter Beobachter.

Im Steinbruch der Geschichte

Erstaunlich unaufwendig und schmucklos kommt die Sprache daher. Fundstücke, die einen Zeitabschnitt auf den Begriff brächten, sind selten. Auch Grass‘ Aquarelle, einer Sonderausgabe beigegeben, illustrieren die Sachverhalte und Gefühlslagen nur.

Grass entwirft kein großmächtiges Panorama des Jahrhunderts, sondern ein hie und da schimmerndes Kaleidoskop ohne vorschnelle Gewißheiten. Durch Kreuz- und Querbezüge, wie etwa jene mehrfach aufgegriffene Geschichte martialischer Kopfbedeckungen (Pickelhaube, Lederkappe, Stahlhelm) gewinnt die Erzählung zuweilen etwas tieferen Atem. Doch insgesamt erleben wir ein ziemlich mühevolles „Abarbeiten“ im Steinbruch der Geschichte.

Günter Grass: „Mein Jahrhundert“. Steidl Verlag. 384 Seiten, 48 DM / Ausgabe mit Aquarellen des Autors: 416 Seiten Großformat, 98 DM (beide ab 10. Juli im Buchhandel)




Warnung vor dem Ungeist – Gerhard Schneiders Olper Sammlung mit Bildern verfemter Künstler der NS-Zeit

Von Bernd Berke

Olpe. Gerhard Schneider hat eine höchst ehrenwerte Passion: Seit rund 15 Jahren sammelt er Bilder, deren Urheber zur NS-Zeit als „entartet“ verfemt und seither vielfach vergessen wurden.

„Ich will diese Künstler nicht zu großen Heroen stilisieren, aber man muß ihnen ein würdiges Andenken bewahren“, sagt der ehemalige Lehrer, der heute in Olpe-Rhode lebt. Jetzt zeigt er abermals eine Auswahl seiner Kollektion beim Olper Kunstverein Südsauerland. Seit 1992, als man dort den ersten Querschnitt aus Schneiders Depot präsentierte, ist die Sammlung schon wieder um ein Mehrfaches angewachsen.

Leitlinie ist die „expressive Gegenständlichkeit“, doch die rund 80 Werke könnten verschiedener kaum sein. Das weite Themenspektrum reicht von lieblichen Landschaften und arglosen Porträts bis hin zu Mahnungen vor wachsendem Ungeist und zur erschütternden Darstellung von KZ-Greueln.

Gar manches, aber nicht alles lohnt unter rein künstlerischen Gesichtspunkten eine Wiederentdeckung. Wichtiger sind zuweilen die Schicksale der Bilder und der Künstler: Auf der Rückseite einer Arbeit prangt noch ein Erlaß Hitlers, der die Beschlagnahme anordnete…

Die meisten blieben „namenlos“

Die meisten Künstler sind „namenlos“, doch ein paar prominentere sind vertreten: George Grosz schuf 1933 das bittere Bild „Der Held“. Es zeigt einen Kriegsinvaliden mit Krücke. Otto Pankoks Porträt einer Zigeunerin („Hoto II“) wurde 1937 von den Nazis in der Schandausstellung „Entartete Kunst“ dem Hohn .preisgegeben.

Hans Grundig zeichnete 1938 eine Rotte jaulender Hunde, die gleichsam die ganze Weltklage gen Himmel senden. Der Dortmunder Hans Tombrock ließ einen Dämon über einer düsteren Menschenmasse erscheinen.

Gerhard Schneider befaßte sich anfangs mit alten Stichen à la Merian. Eines Tages sah er Valentin Nagels „Frau mit Schleife im Haar“. Sie faszinierte ihn so, daß er seine Sammeltätigkeit völlig anders ausrichtete – auf die Verfemten; ganz gleich, ob sie im Exil oder in der „inneren Emigration“ tätig waren.

Längst gilt Schneider bundesweit als Fachmann. So erscheint in Kürze im Wienand-Verlag ein fast 500 Seiten starker Bildband über seine Sammlung.

Kunstverein Südsauerland. Großer Saal im Kreishaus Olpe, Westfälische Str. / Vom 4. Juli bis 8. August, So bis Fr 15.30 bis 18.30 Uhr.




Wenn Rubens dem Voodoo-Kult begegnet – Wirre Pläne zu einer „Weltkunstschau“ in den Essener Messehallen

Von Bernd Berke

Essen. Vollmundiger kann man eine Schau nicht ankündigen: Die „spektakulärsten Ausstellungsräume der Welt“ würden sich ab 10. Juli in fünf Essener Messehallen für eine „kulturelle Revolution“ auftun, und zwar 24 Stunden am Tag bei freiem Eintritt.

„Erstmals“, so tönen die Veranstalter weiter, werde man bei diesem „Event“ die Entwicklung der Kunst wirklich verstehen können. Das klingt so merkwürdig wie so manches am Projekt „art open“.

Die wahrhaft simple Formel, die uns zum Verständnis aller Künste führen, ja sogar „jede Idee erklären“ soll, lautet so: „Leben (Bekanntes) + Bewußtseinserweiterung (Innovation) = Kunst“.

Aha! So einfach ist das also. Ersonnen wurde die Wunderformel vom gebürtigen Essener Dieter Walter Liedtke (54), der auf Mallorca ein kleines Museum mit Selbstgemaltem betreibt, bisher aber vor allem durch die Erfindung eines „luftgepolsterten Turnschuhs“ auffiel, was nicht unbedingt als Qualifikation für die Weltspitze der Kunst taugt.

Ungenannte „Originalwerke“

Liedtke („Alles ist Kunst“) will sich in Essen bei seiner „Weltkunstausstellung“ nicht lumpen lassen. Hier ist nur Platz für eine kleine Auswahl aus dem bisherigen Wust marktschreierischer Pressemitteilungen: angebliche „Originalkunstwerke“ von Rubens, Picasso, Dalí, Beuys und vielen anderen (wobei bisher kein einziges Werk benannt wird); eine Schau über die Steinzeit; dazu die (natürlich) „europaweit erste“ Ausstellung zum Voodoo-Kult. Rubens und Voodoo – welch eine aparte Kombination!

Doch damit längst nicht genug im Gemischtwarenladen: Talkshows („Werden wir alle zu Genies?“), Filme, Konzerte von Klassik bis Techno, die bisher nicht so arg vermißte „Weltpremiere“ des Ex-Scorpion Hermann Rarebell mit seinem „Monte Carlo Pop Orchester“ und viel anderes Zeug füllen die Programmpläne.

Erleuchtung wie in einer Sekte

Dafür bürgt als Regisseur ein gewisser Vladimir Egorov, „am 25. Juni 1953 im Ural geboren“ und Absolvent der Moskauer Zirkusschule. Der gut Mann wird so zitiert, als habe er bei einer Sekte den Weg der Erleuchtung beschritten: „Als ich von der ,art open‘ hörte, fand ich meinen Lebensinhalt in Liedtkes Kunstformel wieder.“

Wahrhaft erstaunlich: Ruhrgebiets-Kunsttalente sollen ebenso präsentiert werden wie nicht weniger als 2000 (!) internationale Künstler, die vorführen sollen, warum diese Erde liebenswert ist. Namen? Fehlanzeige. Schließlich sollen die Besucher (man rechnet ganz locker mit einer Million bis zum 8. August – aber haben Sie schon mal ein einziges „art open“-Plakat gesehen?) ihren röhrenden Hirsch gegen wahre Kunst tauschen oder im Wettstreit auf allen möglichen Gebieten selbst kreativ werden, z. B. indem sie aus abgeschnittenen Haaren Bilder und Skulpturen zaubern. Gipfel: Eine Massenhochzeit „in vier Religionen“ soll die „spirituelle“ Bedeutung der Heirat beweisen. Ganz klar: Auch die Ehe ist ein Kunstwerk.

24 Stunden am Tag – alles kostenlos?

Überdies gehen die Veranstalter mit hochkarätiger Schirmherrschaft hausieren. Spaniens Königin Sofia soll ebenso eingewilligt haben wie Michail Gorbatschow und Norbert Blüm. Der hat sich darauf eingelassen, weil er sich mit Sofia und „Gorbi“ in bester Gesellschaft wähnte. Auch der Name Harald Szeemanns, des hochrenommierten documenta- und Biennale-Machers, ziert noch die „art open“-Werbung. Doch Szeemann soll seine Zusage als Ausstellungsleiter des Bereichs Bildende Kunst bereits zurückgezogen haben. Falls es so ist, war er wohl gut beraten.

Die Messe Essen, die die Inhalte der Schau lieber nicht kommentieren mag, teilt unterdessen mit, daß laut Ordnungsamt eine 24stündige Öffnungszeit auf keinen Fall in Frage komme. Gleichwohl wird noch damit geworben. Man stelle sich vor: Versicherungssummen, Wachdienst rund um die Uhr, Anmietung der Messehallen samt Freigelände – das kostet enorm. Und dies alles bei freiem Eintritt? Man wird sehen. Und man darf zweifeln.




Gehäuftes Dichterlob aus Dortmund – Das „Literarische Quartett“ gastierte in der neuen Botta-Bibliothek

Von Bernd Berke

Dortmund. Marcel Reich-Ranicki und die Seinen gastieren mit ihrem „Literarischen Quartett“ (ZDF) für gewöhnlich an Orten, die den schönen Künsten sehr zugeneigt sind. Gern plaudern sie beispielsweise in altehrwürdigen Universitäts-Städten wie Tübingen, in der Festspielstadt Salzburg oder zur Buchmesse in Goethes Geburtsstadt Frankfurt am Main. Nun aber ließen sie sich in Dortmund herbei.

Tagelang hatte sich das ZDF-Team in der Stadt- und Landesbibliothek umgetan, hatte Beleuchtungs-Feinheiten und dergleichen geprobt. In einigen Bereichen mußte dafür gar die Ausleihe eingeschränkt werden. Aber was tut man nicht alles für die Leute vom Fernsehen. Rund 150 Besucher durften die Live-Sendung am Ort des Geschehens genießen. Schön zu sehen, wie Sigrid Löfflers Teint (Minuten vor der Sendung) noch etwas nachgepudert wurde; nett zu hören, wie sich Marcel Reich-Ranicki nach dem Zustand des Mineralwassers erkundigte…

Als alles tadellos gerichtet war, fing’s denn auch an. Mag sein, daß man sich hier von Reich-Ranicki ein paar Einleitungssätze mehr erhofft hatte als nur die schlichte Mitteilung, man befinde sich diesmal in der neuen Bibliothek zu Dortmund, die von Mario Botta entworfen wurde. Punkt. Schluß. Schon schritt man zur üblichen Buch-Behandlung. Der kulturelle Wanderzirkus auf Durchreise. Wo waren wir eigentlich gestern?

Trösten wir uns damit, daß diesmal weder der Präzeptor noch seine Mitstreiter Hellmuth Karasek, Sigrid Löffler oder die Gastkritikerin Eva Demski zu Verrissen aufgelegt waren. Vielleicht hat ja die milde Stimmung auch ein ganz klein wenig am Genius loci (Geist des Ortes) gelegen?

Marcel Reich-Ranicki ist in der Runde ein vulkanisches Ereignis

Dermaßen gehäuftes, zumeist auch noch einhelliges Lob für die besprochenen Bücher hat man jedenfalls im „Quartett“ all die Jahre über wohl noch nie vernommen. Reich-Ranickis Schlußbemerkung, man sei kein verlängerter Arm der Verlags-Werbeabteilungen, schien diesmal beinahe nötig.

Sigrid Damms Abhandlung „Christiane und Goethe“? Ein Meisterwerk! Hanna Kralls „Da ist kein Fluß mehr“? Unvergleichlich! Ernst Weiß‘ „Der arme Verschwender“, James Salters „Dämmerung“, Erri de Lucas „Das Meer der Erinnerung“? Oh, allesamt auch nicht zu verachten.

Was man daheim am Fernsehgerät nicht mitbekommt: Reich-Ranicki versinkt, wenn er zwischendurch nicht gezeigt wird, immer mal wieder in eine Art Erschlaffung, in einen Dämmerschlaf, aus dem er freilich schlagartig, ja fast explosiv auffährt, sobald er das Wort ergreift. Der Mann ist schon ein vulkanisches Ereignis.

An witzigen Momenten fehlte es auch diesmal nicht. Man hätte das Publikum in der Bibliothek gar nicht, wie zuvor geschehen, eigens bitten müssen, eine lebhafte Zuhörerschaft zu sein. Der Streit, ob Goethe ein übler Opportunist gewesen sei, hatte einfach Sketch-Qualität. Hellmuth Karasek verstieg sich zur gewagten Behauptung, ein Genius, der Gedichte wie „Wanderers Nachtlied“ verfaßt habe, dürfe ruhig auch ein Fiesling gewesen sein. Und Reich-Ranickis rhythmischer, nahezu lyrischer Merksatz, als der Name des Serbien-freundlichen Dichters Peter Handke fiel, dürfte gleichfalls in die „Quartett“-Annalen eingehen: „Es wird gebeten, über Handke nicht zu reden“.




Wenn Kubas alte Männer in die Saiten greifen… – Der Film „Buena Vista Social Club“ von Wim Wenders

Von Bernd Berke

Gute Musik ist wie das Leben: Quell aller Freuden, Born jeder Traurigkeit. Mit WimWenders entdecken wir nun einen aus unserer Sicht weithin unerforschten Kontinent der Klänge. Sein Film „Buena Vista Social Club“ macht uns mit einigen kubanischen Musikern und ihrer Welt vertraut. Von Stund‘ an wird man diese Töne nicht mehr missen mögen.

Der Film gerät zum Plädoyer gegen ästhetische Nivellierung auf anglo-amerikanischen Verschnitt und gegen Jugendlichkeitswahn im PopGeschäft: Wenn diese vitalen alten Herren des „Buena Vista Social Club“, mehrheitlich zwischen 70 und 90 Jahre alt, zu singen beginnen, wenn sie in die Saiten und Tasten greifen, vergißt man alles andere. Es ist eine rare Ansammlung von Könnern, die wir einzeln und als Gruppe erleben. Ihre Lieder haben einen ganz eigenen Swing, einen speziellen Blues, besonderen Schmelz.

Vor allem aber diese Menschen: diese lebenssatt zerfurchten, wahrhaft würdevollen Gesichter eines Compay Segundo, eines Rubén Gonzalez, eines Ibrahim Ferrer, einer Omara Portuondo! Jene Mischung aus Entspanntheit, verhaltener Kraft und unbeugsamer Lebensfreude, die jeden Ton einhüllt und beglaubigt.

Diskret auf den Spuren der Könner

US-Gitarrist Ry Cooder, begnadeter Stil-Verwandlungskünstler, der die fast schon vergessenen Musiker noch einmal triumphal zusammenholte und sich zu staunenswerten Sessions mit den Kubanern zusammenfand, hat wohl daran getan, seinen Freund Wim Wenders auf diese Entdeckung aufmerksam zu machen.

Wim Wenders und sein kleines Team sind auf den Spuren des „Social Club“ durch Havanna gestreift und haben dort gleichsam den Wurzelgrund dieser Musik aufgespürt: Armut und Verfall, Volksfrömmigkeit und Stolz. In diesem Umfeld klingt alles authentisch, weil (noch) nicht nur für eine diffuse „Weltmusik“ vereinnahmt.

Wenders wahrt die Diskretion, er rückt den Musikern nicht forsch zuleibe, sondern umkreist sie mit großem Respekt. Trotz dieser Vorsicht hat man das Gefühl, dass man ihnen sehr nahe kommt.

Wir begleiten sie ins Aufnahmestudio, zu Konzerten nach Amsterdam und – Verpflanzung in eine andere Welt – in die ruhmreiche New Yorker Carnegie Hall. Es war der ganz große und zugleich letzte Auftritt dieser Formation. Wehmut schwingt im Finale mit: Wird es je wieder eine solche Musik geben? Und welch ein Erfahrungsschatz schwindet dahin, wenn diese Leute nicht mehr leben .. .

Auch dies wird im Verlauf des Films klar: Fidel Castros Kuba ist reichlich marode, die jahrzehntelange US-BlockadePolitik hat die Insel schwer getroffen. Doch die Musik, die hier gedeiht, reicht ungleich weiter und tiefer als alle Ideologien. Und wer (Achtung, Werbebotschaft!) nach diesem Film die gleichnamige, mit einem Grammy-Preis gekrönte CD verschmäht, dem ist wohl nicht mehr zu helfen.

 




Essenz des Reviers mit Kassenbrille: Herbert Knebel stellt seine neue CD „Live in Gelsenkirchen“ vor

Von Bernd Berke

Gelsenkirchen. Pressekonferenz mal anders: „Besorcht euch mal da drüben Schnittkes, dann könnter zwei Sachen zugleich tun: fressen und fragen“. So locker springt Herbert Knebel mit Journalisten um. Anlaß: Im Dunstkreis des Schalker Parkstadions will er Appetit auf seine neue CD wecken.

„Herbert Knebel – Live in Gelsenkirchen“ heißt das neue Werk des oft saukomischen Comedy-Mannes, der vor allem als ewig nörgelnder Frührentner den Ruhrgebiets-Humor bereichert hat. Die 13 Sketche tragen lakonische Titel wie „Zahnschmerzen“, „Hundescheiße“, „Spaßbad“ und „Vampire“. Bis zum 16. August müssen die Fans freilich auf die Scheibe warten.

Wenn Knebel (bürgerlich: Uwe Lyko, wohnhaft in Essen) seine Requisiten (Prinz-Heinrich-Mütze, Kassenbrille) absetzt, erkennt man ihn kaum. Sobald er aber verkleidet ist, wächst er von selbst in seine Rolle hinein. So auch gestern „auf Schalke“. Originalton Knebel: „Meine CD kannze so wechhören, da lachße dich scheckig, echt“.

Die „Knechte von Sony“ (Knebel), Leute von der Plattenfirma also, lassen eine kurze Kostprobe hören: Jener Frührentner begibt sich samt Enkeln ins Spaßbad zu Herne-Wanne („Wanne hattense also schon, mußte nur Wasser rein“), das ihm allerdings wie ein „Terrorbad“ vorkommt, denn ein kleiner Steppke klaut ihm die Brille. Knebel wankt blindlings aufs Dreimeterbrett – und dann beginnt das Chaos, das eben keiner so schräg erzählen kann wie er.

Warum Gelsenkirchen? Weil die Schalker (allen voran Fußballmanager Rudi Assauer, der Knebel zur Seite sitzt) so nett sind, „da können sich die Schwatzgelben aus Dortmund ’ne Scheibe von abschneiden“. Außerdem sei Gelsenkirchen „die Essenz des Reviers“.

Von Musicals („Jupp‘ m Essen – is doch Seh…“) hält Knebel ebenso wenig wie vom Strukturwandel im Revier, der sei vielfach das Werk seelenloser Technokraten. Und der Wandel entzieht, so mag man hinzufügen, seiner Rentnerfigur ein wenig den Wurzelboden.

Sportlicher Schlußpunkt: Fußballfan Knebel, als Jugendlicher bei Hamborn 90 am Ball („Ganz gemächlich im Mittelfeld – wie Effenberg“), tritt auf Schalke zum Torwandschießen gegen einen anderen Revier-Komödianten, Piet Klocke, an. Sie treffen beide nicht.




Bitterböser Schwank ist Stück des Jahres – Oliver Bukowski bekam für „Gäste“ den Dramatikerpreis / Stücke von Elfriede Jelinek und Theresia Walser

Von Bernd Berke

Mülheim. Lang haben sie diskutiert, die Juroren der Mülheimer Theatertage „stücke 99″. Zum Schluß, gegen 1 Uhr in der Nacht zum Sonntag, stand es beim Dramatiker-Wettbewerb auf Spitz und Knopf zwischen Elfriede Jelinek und Oliver Bukowski. Und dann entschieden die Übermüdeten plötzlich hopplahopp: Büchnerpreisträgerin Jelinek, in Mülheim noch nie erfolgreich, ging auch diesmal leer aus. Oliver Bukowskis Beitrag „Gäste“, bitterböse und bizarre Bauern-Tragikomödie aus deutscher Ost-Provinz, wurde zum Stück des Jahres erkoren.

Es war ein Resultat, mit dem sich ein Großteil des Publikums (dessen Kollektivstimme freilich an Peter Turrinis „Die Liebe in Madagaskar“ ging) gut abfinden konnte. Denn diabolisch geschickt maskiert der aus Cottbus stammende Bukowski (Jahrgang 1961) sein Drama vom „Heilsbringer“, der ein unterwerfungswilliges Dorf heimsucht, als Schwank herkömmlichen Zuschnitts, um nach und nach die Erwartungen desto gründlicher zu unterlaufen. Die vermeintliche Gaudi mündet mit erschreckender Konsequenz im Selbstmord einer Protagonistin. Unerbittlich genau ist Bukowskis Blick für menschliche Hinfälligkeit und Verzweiflung. Sein handfestes, ja zuweilen derbes Theater ergeht sich zudem in einer famos austarierten Kunstsprache, die gleichwohl nicht erkünstelt wird.

Wie ein schwebendes Klangereignis

Ganz und gar nicht handfest, sondern ein schwebendes Klangereignis von großer sprachschöpferischer Kraft ist Elfriede Jelineks „er nicht als er“, am Schlußtag des Wettbewerbs dargeboten vom Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Jelinek begibt sich auf eine Gratwanderung zwischen sprachlich-seelischer Anverwandlung und Selbstbehauptung: Mit ungeheurer Intensität befragt sie Leben und Werk des unbedingt lesenswerten Schweizer Dichters Robert Walser (1878-1956; „Räuber-Roman“, „Der Gehülfe“, „Geschwister Tanner“), der in einer Nervenheilanstalt endete.

In hohem Maße dem (Mit)Leiden zugeneigt, erkundet Jelinek auch die eigenen Gefährdungen. Letztmögliche Literatur, letzte sprachliche Aufgipfelung vor dem Verstummen? Eine Handlung gibt es praktisch nicht, der nur rund 15 Manuskriptseiten umfassende Text hat eher prosaische als dramatische Gestalt. Regisseur Jossi Wieler hat die harsche Herausforderung angenommen und vier sprechende sowie zwei stumme Rollen daraus destilliert. Die sprachlich bis ins Detail durchkomponierten, mit lyrischen Qualitäten gesättigten Wortfolgen („Durchseihen des Seienden“) sind keineswegs Lesestoff fürs stille Kämmerlein, sondern drängen wie eine Partitur zur tönenden Verwirklichung.

Lyrischer Jelinek-Text ist nichts für schwache Darsteller

Besser als das prominente Hamburger Ensemble (André Jung, Marien Diekhoff, Ilse Ritter, Lore Stefanek) wird man den hohen Schwierigkeitsgrad schwerlich meistern können. Wehe, wehe, wenn schwächer besetzte Bühnen sich an den empfindlichen Jelinek-Text wagen, der gewiß noch manches germanistische Seminar beschäftigen wird…

Vor Jelinek war Martin Walsers eminent begabte Tochter Theresia (Jahrgang 1967) mit ihrem ebenso illusionslosen wie poetischen Drama „King Kongs Töchter“ (Theater Neumarkt, Zürich / Regie: Volker Hesse) in den Wettbewerb gegangen. Denkbar weit entfernt vom gängigen Markt-Ideal fideler und allzeit konsumwilliger Senioren, stößt sie uns ins siechende Elend einer Alten-Verwahrstätte. Dort begehen, gleichsam schwarze Krähen in weißen Kitteln, drei Pflegerinnen eine Art Walpurgisnacht, einen gelegentlich makabren Totentanz zwischen hilflos sabbernder Geilheit und anrührender Erinnerungs-Melancholie ihrer Schutzbefohlenen.

Fast schon ein Karneval des bevorstehenden Ablebens: trostlose Komik, traurige Triebe, grelle Schminke, hoch die Schnabeltassen! Auch dieses physisch überaus präsente Stück hätte einen Preis verdient.




Ringen mit dem Zeitgeist – Stück von Botho Strauß und Thomas Hürlimann beim Mülheimer Dramatikerwettbewerb

Von Bernd Berke

Mülheim. Es gibt Leute, die nicht an Zufall, sondern nur an Bestimmung glauben. Die Würden bedeutungsvoll raunen und den Kopf wiegen, wüßten sie dies: Gleich in zwei Dramen des Mülheimer Dramatikerwettbewerbs „stücke 99″ kahl jener Taschenschirm mit dem putzigen Namen „Knirps“ vor. Ob sich daraus eine Aussage übers Gegenwartstheater gewinnen ließe?

Mal im Ernst: Mit Botho Strauß‘ „Der Kuß des Vergessens“ sowie Thomas Hüriimanns „Das Lied der Heimat“ (beide in Mülheim vom Züricher Schauspiel gezeigt) ist der Wettbewerb in die Zielgerade eingcbogen – und beide Autoren erwähnen nun mal beiläufig den kleinen Regenschutz.

Das Paar als Maß aller Dinge

Bei Strauß rückt ein roter Schirm am Schluß gar in den Blickpunkt: Unter seinem Dach findet sich (wundervoll gespielt von Otto Sander und Anne Tismer) jenes Paar zusammen, um das das ganze Stück kreist. „Versuchen Wir’s!“ sagen sie am Ende zaghaft. Und was wollen sie versuchen? Das Zusammenbleiben, die Dauerhaftigkeit, gar über den Tod hinaus. Zuvor hat Strauß jene „Zufalls“-Bekannten Ricarda und „Herrn Jelke“ durch ein Lebens-Labor der Liebesversuche gesandt.

Strauß ringt um den überzeitlichen Mythos des Paares, das er „Vierfüßer“ nennt. Er stellt diesen Mythos gegen alles Geschwätz der Gegenwart, gegen den flüchtigen Zeitgeist der umtriebigen Gesellschaft, in der das Paar freilich immer wieder zu versinken droht. Als „unzertrennlich und unvereinbar“ zugleich empfinden sich die Liebenden. Damit knüpft Strauß fast nahtlos bei Loriot an, der uns aufs komischste nahegelegt hat, daß Männer und Frauen eigentlich nicht zueinander passen…

Natürlich geht Botho Strauß ungleich dringlicher zu Werke. Gerade weil er den gängigen Jargon unserer Jahre verachtet und daher angewidert, aber genau hinhört, formt er ihn so trefflich nach wie kein anderer. Überdies gibt er auch dem Körper-Theater Raum. Nicht nur wortstark ist sein Text, er hat auch einen Leib.

Große Lebenslügen eines kleinen Landes

Die Inszenierung hat Matthias Hartmann besorgt, der designierte Nachfolger Leander Haußmanns als Bochumer Intendant. Er weckt abermals die schönsten Hoffnungen, treibt er doch Strauß‘ Text das Hochfahrende aus, ohne die Bedeutung zu schmälern oder Nuancen zu verschenken.

Strauß wäre somit ein Anwärter auf den Preis. Und Thomas Hürlimann? Nun, der hat sich „seine“ Schweiz als solche vorgeknöpft, die großen Lebenslügen eines kleinen Landes. „Das Lied der Heimat“, wie Hürlimann es vernimmt, klingt vorwiegend falsch.

Es beginnt mit dem Nationaldichter Gottfried Keller und seinen nach 1848 bitter enttäuschten liberalen Hoffnungen. Die Schweiz, so grantelt Keller als Greis, sei nur noch ein Basar, keine wahre Republik. Die wie ein Lied mit Refrains komponierte Handlung gipfelt in einem Vorfall des Jahres 1942: Eine vor den Nazis geflüchtete Polin gerät in ein Schweizer Internierungs-Lager. Ausgerechnet sie, noch dazu glühende Anhängerin des Neutöners Arnold Schönberg, komponiert gezwungenermaßen ein verlogenes Schweizer Heimatlied, mit dem sich der Lagerkommandant nach dem Krieg krumm und dumm verdient.

Jetzt greifen die Damen ein

Das kurze, in Werner Düggelins Inszenierune auch kurzweilige, gelegentlich kabarettistisch getönte Streiflicht-Stück kommt harmlos daher. Vielleicht ist Hürlimann ja besonders durchtrieben, indem er seinem Reigen erst ganz zum Schluß Bedeutsamkeit einflößt. Doch die Szenen wirken wie aufs Geratewohl aus dem Baukasten zusammengestückelt. Allerdings gibt der Text genug her, um auch hier exzellente Züricher Schauspielkunst (Fritz Lichtenhahn, Mathias Gnädinger, Verena Buss) vorzuführen.

Nachdem bisher sechs Herren den Wettbewerb bestritten haben, greifen nun die Damen ein: Es folgen noch Theresia Walsers „King Kongs Töchter“ (heute, 19.30 Uhr) und Elfriede Jelineks „er nicht als er“ (Samstag, 16 und 19.30 Uhr). Karten: 0208/455-4113.




Erlöst vom Streit der Welt – Essener Villa Hügel gibt Einblicke in Koreas Schatzkammern

Von Bernd Berke

Essen. Mit Schätzen aus Japan und China haben hierzulande bereits viele Ausstellungen geprunkt. Korea blieb stets im „toten Winkel“ unserer Wahrnehmung. Rare Ausnahme war 1985 eine Schau in Hildesheim und Köln. Doch die wird nun durch „Korea – Die alten Königreiche“ in der Essener Villa Hügel an Umfang und Bedeutung übertroffen.

Sicher: Kulturgeschichtliche Ausstellungen solcher Art überwältigen oft mit 500 oder mehr Exponaten. Essen gibt mit 200 Prachtstücken einen vergleichsweise konzentrierten Einblick. Doch darunter befinden sich etliche „Nationalschätze“ der Halbinsel, die noch nie außer Landes gegeben wurden. Prof. Berthold Beitz und Prof. Paul Vogt von der hochkarätigen Kulturstiftung Ruhr haben wohl nicht nur Renommée, sondern auch Überredungsgabe in die Waagschale geworfen. Sie konnten zudem auf die Erfolgsgeschichte der Villa Hügel verweisen, wo z. B. 1995 rund 250000 Menschen Kleinode aus China bewundert haben.

Das feine Lächeln des Nachdenklichen

Eingangs der Korea-Schau wird man in erhabener Stille empfangen: Der sitzende Buddha (10. Jhdt.), sichtlich weit hinaus über allen Zwist der Welt, strahlt die ganze Seelenruhe des Erlösungsweges aus. Vollkommen entspannt wirkt auch ein „Nachdenklich sitzender Miruk (Maitreya)“ (frühes 7. Jhdt.) aus vergoldeter Bronze. Sein feines Lächeln stimmt den Betrachter mild.

Bis vor wenigen Jahrzehnten hat man vielfach geglaubt, die koreanische Kunst sei eher ein Seitenzweig der chinesischen. Doch neuere Funde und Forschungen belegen die eigenständige Schöpferkraft im „Land der Morgenfrische“. Kultur kommt auch in Korea von „Kult“, sie speist sich aus religiösen Sphären. Drei Wurzeln hat die Kunst, und aus allen sprießt bis heute vielfältige Inspiration: aus dem Schamanismus, dem Buddhismus und dem Konfuzianismus.

Aus der frühen Schamanenzeit, die alle Dinge als beseelt begriff, sieht man vor allem Gerätschaften zur Beschwörung guter und böser Geister, z. B. verzierte Ritual-Rasseln und einen Steindolch (4. Jhdt. v. Chr.). Keramik-Vögel oder ein Horn in Pferdeform dienten als Behältnisse für den Opfertrank, der wohl in Trance versetzte. Auch Menschenopfer waren üblich. Zuweilen folgten Hunderte einem Herrscher in die Gruft.

Masken-Umzüge gegen das Unrecht

Prachtvoll vergoldete Kronen, Hauben, Ohrgehänge oder gar güldene Schuhsohlen sollten als funkelnde Grabbeigaben die Gunst höherer Mächte auch im Jenseits bewirken. Weltlicher verwendete man jene grotesken Holzmasken (12./13. und 19. Jhdt.), die bei gleichsam satirischen Umzügen gegen jederlei politisches und familiäres Unrecht getragen wurden. Auch Korea hatte seinen „Karneval“. Daß der Geist des Schamanismus noch sehr lange wach blieb, besagt ein buntes Gewand, das eine erst 1993 verstorbene Schamanin trug.

Eleganter und filigraner wirken jene Schöpfungen, die aus dem Buddhismus erwuchsen, der in den damaligen, bis weit ins heutige China sich erstreckenden drei Reichen (anno 668 vereinigt) nacheinander zwischen 372 und 528 n. Chr. zur Staatsreligion wurde. Die Reliquien, Buddhas sterbliche Überreste, wurden in reich dekorierten Pagoden und Schreinen aufbewahrt.

Sittenstreng und gesetzestreu

Ein monumentales Gemälde („Ritual für die hungrigen Geister“, 1759) schildert den Weg der Ahnen aus dem Jammer des bisherigen Lebens ins höhere Dasein. Steinplatten mit Tierkreiszeichen (Hase, Schwein) zeugen ebenso von überlegener Materialbeherrschung wie Keramik, etwa ein zierlicher Pinselständer in Drachenform.

Die moralische Entschiedenheit des (Neo)-Konfuzianismus bewirkt eine oft berückend schlichte formale Klarheit in der Kunst. Das Augenmerk richtet sich hier auf den ausgeprägten Ahnenkult und auf eine edle Gilde von Literaten, die als Beamte öffentlich wirkten, sich hernach aber zunehmend in die Askese zurückzogen. Hauchzarte Tuschzeichnungen vergegenwärtigen ein Treffen der Zunft, ein Literatenzimmer aus Bambus lässt uns einen Schritt weit in diese sittsame Welt eintreten.

 

Ein höfisches Zeremonialgewand (19. Jhdt.) läßt auf selbstbewußte Machtentfaltung schließen, ein königliches Edikt (776) wurde eigens in einer kostbaren Dose verwahrt. Es muß eine Zeit gewesen sein, in der Gesetze über alle Zweifel erhaben waren.

„Korea – Die alten Königreiche“. Villa Hügel, Essen. 5. Juni bis 17. Oktober. Täglich 10-19, Di 10-21 Uhr. Eintritt 12 DM, Katalog 50 DM.




Über die Schädelstätte zur großen Philosophin gehen – Markus Lüpertz‘ kraftvolle Studien der Vergänglichkeit in der Essener Zeche Zollverein

Von Bernd Berke

Mit der Vergänglichkeit allen Lebens kann man verschieden umgehen: Manche schicken sich drein und werden vielleicht fromm, andere überlassen sich dem Trübsinn, wieder andere machen auf Erden das beste daraus und schlürfen jede kostbare Minute. ZumStamme dieser sinnlichen Leute gehört wohl auch der Künstler Markus Lüpertz.

Der 58jährige, der sich als Erbe der „Malerfürsten“ geriert, präsentiert in der kulturell umtriebigen Essener Zeche Zollverein rund zwei Dutzend zumeist neuere Ölbilder unter dem Leitbegriff „Vanitas“, was just Vergänglichkeit bedeutet. Es sind vorwiegend Stilleben, die das Bewußtsein vom Tode wachhalten, die ihm in ihrer kraftvollen Machart aber auch entschieden widerstehen. Gerade wenn man sich die Endlichkeit stets vor Augen hält, ist man vielleicht eher bereit, den Tag zu ergreifen – und das Schöne zu pflücken; zumal, wenn man auf die 60 zugeht und dem nahenden Alter kraftstrotzend trotzen will.

Die Ausstellung ist eine wahre Schädelstätte. Mal liegt der allgegenwärtige Totenkopf gleichsam grinsend auf dem Tische, mal hat er frech auf dem Hintern einer ausgelassen sich bewegenden Figur („Totentanz“, 1997) Platz genommen, als wolle er sich auch in frohen Lebenslagen nicht abweisen lassen. Geradezu liebevoll schmiegt sich der hohle Schädel an ein wabbeliges Organ („Tod küßt Lunge“), er leistet einem Kürbisgesicht zu „Halloween“ (1987) gespenstische Gesellschaft, zeigt sich mit Ratten oder Fischen – und manchmal vollführt er seine Grimassen solo, ohne alle Beigaben. Zuweilen wird Gevatter Tod in Gitterstrukturen eingesperrt: Bleib drinnen!

Barocke Stilleben sind die Vorbilder, doch deren Inventar wird bei Lüpertz schon mal wild verwirbelt. Hier stürzt eine Kerze, dort brennt ein raketenförmiger Fisch. Das ist oft wirklich kraftgenialisch „hingefetzt“, wirkt wie nur halbwegs fertig, sich selbst und dem Betrachter überlassen.

Bemerkenswert eine Bilderserie, in der Lüpertz realistische Landschafts-Ansichten zwischen abstrakte Strukturen einblendet, als seien es Fenster-Ausblicke. Nur ein simpler Effekt der Gegenüberstellung oder ein subtiles Spiel, in dem die Darstellungsweisen einander wechselseitig befragen und deutlicher hervortreiben?

In der Nachbarhalle finden sich vier Lüpertz-Skulpturen, die auf dem ungeheuer weiten Areal so recht zur Geltung und zu eigenem „Atem“ kommen. Drei bunt bemalte, ineinander verschlungene, ja nahezu neurotisch in sich verkapselte Bronze-Figurationen stehen unter dem Motto „Männer ohne Frauen“ (1995). Man meint, die seelischen Windungen der Einsamkeit zu sehen, als hätten sie organische Form angenommen. Turmhoch über das unbeweibte Trio erhebt sich, triumphal aufragend, „Die Philosophin“, deren massiver Leib freilich eher an eine Kugelstoßerin gemahnt. Vielleicht betreibt dieser bronzene Gast aus matriarchalischen Zeiten ja das Denken als Hochleistungssport.

Markus Lüpertz: „Vanitas“. Bis 22. August. Essen, Zeche Zollverein. Hallen 5 und 6 (Gelsenkirchener Str. 181). Mi 15-18, Do/Fr 15-20, Sa/So 11-18 Uhr.




Apokalypse mit Abwasch – Leander Haußmann inszeniert die Uraufführung von Edward Bonds „Das Verbrechen des Einundzwanzigsten Jahrhunderts“

Von Bernd Berke

Bochum. Links kauert eine Ruine. Auf schräger Holzplanke kann man bis auf einen beengten Platz balancieren. In dessen Mitte steht ein wackeliger Tisch, rechts erhebt sich windschief ein notdürftig gezimmerter Verschlag als kaum menschenwürdige Behausung. Das wie für alle restlichen Zeiten unwandelbare Elendsquartier (Bühnenbild: Franz Havemann) ist Schauplatz eines Endzeit-Spiels.

Der Brite Edward Bond (64) läßt sein Stück „Das Verbrechen des Einundzwanzigsten Jahrhunderts“ anno 2090 spielen. Die Welt besteht weithin nur noch aus Schutt und Asche, eine brutale, fürchterlich anonyme Militärmacht kontrolliert die abgeriegelten Bezirke. Von den Tätern erfährt man nichts Näheres, man schaut nur den Opfern eine Weile beim Vegetieren zu.

Das Drama, jetzt unter Regie von Leander Haußmann in Bochum uraufgeführt, stößt uns ins „Säuberungsgebiet“, in dem versprengte Flüchtlinge umherirren und um die letzten kargen Wasser- und Nahrungs-Reserven kämpfen. Man muß nicht 91 Jahre vorausdenken, um derlei Verhältnisse zu imaginieren…

Auch die Sprache ist nur noch Ruine

Bond, der seine Stücke gern wortkarg betitelt („Sommer“, „Gerettet“), verwendet auch hier eine Sprache, die vielfach aus Ein- oder Zweiwortsätzen besteht. Mit hervorgeschnappten Wortbrocken beginnt der anfängliche Disput um einen Becher Wasser, den Grig (Ralf Dittrich) von Hoxton (Margit Carstensen) erfleht. Nicht nur die Häuser, auch die Sätze sind Ruinen. Und menschliches Verhalten ist zurückgestutzt auf elementare Antriebe des bloßen Überlebenswillens. Die Figuren  nehmen einander durch Witterung wahr, sie erschnuppern die vermutlich gefährliche Gegenwart der anderen.

Der Abend hangelt sich zuweilen zäh über manche Leerstellen hinweg – und wahrscheinlich gibt das Stück auch nicht mehr her. Bond bastelt sich seine apokalyptische Vision aus Versatzstücken zurecht. Es treten keine „Charaktere“ auf, sondern wandelnde Chiffren der Katastrophe. Auch gibt es keine erzählbare Entwicklung, keinen Fortgang. Alles ist schon zu Beginn ausweglos und bleibt so. Es beschleicht einen das Gefühl, man habe solche Befunde bei Samuel Beckett schon wesentlich konsequenter und gültiger gestaltet gesehen. Und Sätze wie „Wir rammeln die Sterne vom Himmel“ hätte der Ire nicht im Traum benutzt.

Mit Bond betreten wir gar einen vergleichsweise gemütlichen Flecken im Niemandsland. Immer wieder sehen wir, wie aus einem Kanister (mit komfortabler Zapf-Vorrichtung) Waschtage und Geschirrspülen bestritten werden. Fehlt nur das Bügeleisen. Der Alltag, wie bruchstückhaft auch immer, geht selbst in dieser Zivilisations-Wüste unterm öden Bildschirm-Himmel irgendwie weiter. Oder sollte gerade in solcher „Normalität“ am Ende aller Geschichte der eigentliche Schrecken bestehen?

Zwei weitere Personen betreten die Szene: Grace (Annika Kuhl) will ihre vermeintliche Mutter Hoxton steinigen. Und der als Schmerzensmann geradezu auftrumpfende Kriminelle namens Sweden (Andreas Pietschmann), der seinen Kontroll-Chip aus dem Leibe geschnitten hat und deshalb von der Armee des Augenlichts beraubt wird, ersticht buchstäblich blindlings die beiden Frauen. Nach finaler Selbstamputation wankt er auf blutigen Beinstümpfen.

Eifriges Theater der Grausamkeit

Derlei morbide Akte wirken hier wie willkürlich schockierende „Zugaben“, die fast ebenso gut unterbleiben könnten. Es ist, als hätte Bond mit seinem Theater der Grausamkeit der kürzlich verstorbenen Sarah Kane (ihr ist der Text gewidmet) nacheifern wollen. Und es scheint so, als vollführe Sweden seine Morde vor allem deshalb, weil er merkt, daß er diese Frauen braucht (als Pflegerinnen, Wegweiserinnen, Huren), sie ihn hingegen nicht. Es ist nicht zum Aushalten.. .

Von wegen „Bochumer Spaß-Theater“. Sie können auch anders: Sieben erbärmliche Heullaute, ausgestoßen in einem klinisch weißen Raum, verhallen am Schluß. Die Darsteller stehen alles Klagen tapfer durch. Doch die Apokalypse haben sie über weite Strecken nur behauptet, selten aber zutiefst gezeigt.

Dennoch unbändiger Premierenjubel des Haußmann-Fanclubs. Ob das Abo-Publikum auch so reagieren wird, darf bezweifelt werden.

 




Der Augenblick, in dem die Ordnung schwindet – Arbeiten des Heidelbergers Michael Bacht am Dortmunder Ostwall

Von Bernd Berke

Dortmund. Unordnung beflügelt mitunter die Kreativität: Als Michael Bacht (51) ein Atelier in einer früheren Tabakfabrik bezog, war diese nicht leergeräumt. Es lagen haufenweise Zigarrenschachteln herum. Bacht warf sie nicht weg. Für einen Künstler kann jeder Zufallsfund tauglich sein.

Und siehe da: Später gingen „Buchobjekte“ daraus hervor. Das sind dünne, aufgeschichtete Kartons, in denen man theoretisch blättern könnte wie in Romanen. Doch sie sind eingefaßt in Gestelle aus Stahl und Stein. Die „Bücher“ sind starre Skulpturen geworden.

Der Heidelberger, der im Dortmunder Ostwall-Museum einen Querschnitt durch sein vielgliedriges Schaffen der 80er und 90er Jahre zeigt, liebt jene anfänglichen Zufalle, deren weiteren Verlauf er ein wenig (aber nicht zu sehr) steuern kann. Wenn etwa Karton sich mit Farbpigmenten vollsaugt, entstehen zwar einander eng verwandte Bilder-Serien nach einem gewissen Plan, doch es bleibt Raum für kleine Überraschungen, Abweichungen, kurz: fürs Unvorhergesehene.

„Strikte Anordnung“ heißt eine Arbeit im Lichthof. Sie wirkt wie eine Ansammlung trost- und fensterloser Reihenhäuser, in deren Mittelspalten sich Asche ausbreitet – Zeichen der Vergänglichkeit. Dahinter hängen vier Fotografien, die das allmähliche Anwachsen eines roten Laserstrahls zum wirren Knäuel festhalten. Da haben wir sie wieder: die Momente, in denen Ordnung und Übersichtlichkeit schwinden.

Meditation mit Pflastersteinen

Gar zu viel Ordnung ist diesem Künstler eben suspekt. In einer ironischen „Hommage“ an Piet Mondrian, der bekanntlich phasenweise wie mit dem Lineal malte, hat Bacht dessen Hauptfarben (rot, gelb, blau) verwendet, jedoch in einer Art Dornenhecke so verzweigt, daß sich die Töne vermischen. Der Wildwuchs wird freilich formal „gehalten“ von einem schwarzen Kreuz, das wie ein Gerüst im Geäst steckt. Schieres Chaos wäre halt auch keine Kunst…

In den bewegten 60er Jahren begann Bach sein Studium. Erinnerungen daran sind Thema dieser Installation: Einige Pflastersteine (!) hängen, nunmehr ganz still und mit Papier-Zwischenlagen gedämpft, in einer stählernen Konstruktion. Eine etwas wehmütige Meditation über den einst so handfesten Protest?

Der Künstler hat sich eingehend mit Zen-Meditation befaßt. Selbst geschichtlich angeregte Werke geraten eher kontemplativ: Ein Feld aus verstreuter Asche, davor einige Spitzhacken, die freilich von aufgesetzten Kugeln in Ruhestellung gehalten werden. Der Künstler deutet an, dies beziehe sich auf die Nachkriegszeit, als aus Schutt und Asche der Wiederaufbau erfolgte – oft allzu rasant und gedankenlos. Bachts Entwurf eines Mahnmals zum Gedenken an die Opfer des 2. Weltkrieges, gedacht für einen bunkerartigen Raum, besteht aus hell angestrahlten Spiegel-Kreuzen, deren Formen sich geisterhaft an den Wänden abzeichnen.

Doch manchmal, wie zur Entspannung, überläßt sich Bacht den raschen Einfällen des Augenblicks. Schauen wir in eine Vitrine: Was bedeutet dieses an einen Kleiderbügel geklemmte Spielzeug-Kamel? Eine Anspielung auf jenen berüchtigt teuren Kamelhaarmantel, in dem Kanzler Gerhard Schröder posierte. Oh, allzu flotter Scherz!

Museum am Ostwall, Dortmund. Bis 20. Juni. Di-So 10-17, Mi 10-20 Uhr. Eintritt 4 DM.




Sprachpanscher, Plauderstündchen und Windmühlenflügel – der Kampf des Dortmunders Professors Walter Krämer

Der Dortmunder Professor Walter Krämer hat offenbar seinen Lebensinhalt gefunden: Unerbittlich zieht er zumal gegen englische Wörter zu Felde; die sich in die deutsche Sprache einschleichen.

Zum Zeichen der nationalen Aufgabe prangt in schwarz-rot-goldenen Lettern das Logo des „Vereins zur Wahrung der deutschen Sprache e. V.“ (VWDS). Vorsitzender: Walter Krämer. Mitgliederzahl: rund 5000. Ein zackiges Häkchen, vielleicht ein stilisierter Schutzzaun gegen fremde Spracheinflüsse, verunziert den Briefkopf des Vereins.

Nachdem die wackeren Wortwächter vordem Telekom-Chef Ron Sommer und die Hamburger Modeschöpferin Jil Sander zu „Sprachpanschern des Jahres“ gekürt haben, liegt nun die neue Vorschlagsliste auf dem Tisch. Hohe Tiere stehen mitsamt ihren Sünden darauf: Bahnchef Johannes Ludewig („Inter City Night“), Lufthansa-Boß Jürgen Weber („Check-in“), der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Ralf Breuer („Private Banking“), und VW-Lenker Ferdinand Piëch („Volkswagen foundation“). Ertappt hat man auch den Dortmunder RTL-Reporter Heiko Waßer, der sich bei Formel-1-Berichten Ausdrücke wie „warmup“ und „speed“ zuschulden kommen ließ. Schäm‘ er sich!

Niemand ist gegen die Sprachpolizei gefeit: „Verhört“ wurden auch Ilona Christen und Arabella Kiesbauer. Doch ausgerechnet diese Talk-Damen, denen sonst ihre ,Schmuddelthemen“ vorgehalten werden, sprechen laut Krämer „ein recht gutes Deutsch“. Na, dann ist ja alles in Ordnung. Übrigens: Ob Krämer und seine Mitstreiter wohl einen deutschen Begriff für Talkshow parat haben? „Sprechschau“? Plauderstündchen? Es gab Zeiten, in denen Sprachbewahrer gar Worte wie Motor („Zerknalltreibling“) und Nase („Gesichtserker“) eindeutschen wollten…

Gewiß ist es löblich, sich für den Erhalt deutscher Sprachkultur einzusetzen. Die Franzosen (die geschichtlich allerdings anders dastehen) sind auch nicht zimperlich, man kann dort für öffentlich verbreitete Anglizismen sogar belangt werden. Doch viele Dinge, die Krämer finster anprangert, erledigen sich durch pure Lächerlichkeit von selbst. Und manche seiner eifernden Bemühungen erinnern arg an Don Quijotes Kampf mit den Windmühlenflügeln. Wie ist der noch mal ausgegangen?

                                                                                                                 Bernd Berke




Der Drang zur Leinwand – Ex-Beatle Paul McCartney stellt in Siegen weltweit erstmals seine Gemälde vor

Von Bernd Berke

Siegen. Gezeichnet hat Paul McCartney schon in den guten alten Beatles-Zeiten. Als diese Ära längst vorbei war und Paul auf die 40 zuging, sagte er sich: „Jetzt musst du noch mal was Neues anfangen“. Also begann er zu malen. Das tut er nun seit etwa 16 Jahren – „vor allem zu meinem eigenen Vergnügen“, wie er gestern in Siegen verriet. Dort, in der vermeintlichen Provinz, zeigt er weltweit erstmals seine Bilder.

Davon wird man im Siegerland noch sehr lange reden. Der Kollege Wolfgang Thomas aus der Siegener WR-Lokalredaktion, seit rund 30 Jahren im Geschäft, kann sich nicht erinnern, je auch nur annähernd einen solchen (Medien)-Rummel um ein örtliches Ereignis erlebt zu haben.

Entspannung an der Staffelei

Musikalische Fragen waren bei der gestrigen Pressekonferenz zur Schau „Paul McCartney Paintings“ strikt unerwünscht, doch der Ex-Beatle ließ immerhin wissen, daß es zwischen „sounds and colours“, Tönen und Farben also, manche Entsprechungen gebe. Er bekannte, beim Malen vom „spirit of freedom“ (Geist der Freiheit) inspiriert zu werden – und den habe nun mal der einstige Mit-Beatle John Lennon beispielhaft verkörpert. Allerdings: „Wenn ich male, höre ich nie Musik.“

Jedenfalls könne er sich an der Staffelei besser entspannen als beim Komponieren, denn: „Vom Malen muß ich nicht leben“. Auf die Frage, ob die Präsentation seiner Öl- und Acryl-Gemälde seinen musikalischen Weltruf mindern könne, meinte Sir Paul: „Ich habe immer etwas riskiert; schon damals mit den Beatles.“

Sei’s drum. Entspannung hin, Vergnügen her – als Maler will Paul McCartney allemal ernstgenommen werden. Und damit kommen wir zur Gretchen-Frage, um die man sich auch als eingefleischter Beatles- oder McCartney-Fan nicht herumdrücken sollte: Wie gut sind seine Bilder?

Auf einem sanften Trip

Nun ja. Paul McCartney, der vom Künstler Willem de Kooning in seinem Maldrang bestärkt wurde, ist eben nicht von dessen Schrot und Korn. Gelegentliche Abstecher in Quellformen der Groteske („Shock Head“) und ins Surreale („White Dream“) können kaum verhehlen, daß hier keine ordnende (oder auch kunstvoll zerstörende) Kraft waltet, sondern ein wohliges Sich-Treibenlassen im Reich der Farben. Etliche Bilder haben etwas Unentschlossenes, geradezu Verwaschenes. Farbskala und Machart taugen oft eher für Plattencovcr oder Underground-Comics als für eine Kunsthalle. Die Formen wirken vielfach zerstoben, aber nicht wirklich explosiv. Kunst auf einem sanften Trip.

Paul McCartney liebt es, hier und da Farbschlieren nach Lust und Laune dick aufzutragen, dann wieder kratzt er Spuren in die Leinwände. Manchmal sieht man auch noch die Fingerabdrücke. All das deutet auf tätig-frohe Selbstverwirklichung nach dem Leitsatz: Einfach mal loslegen und sehen, was daraus wird. Und so ist denn gewiß nicht alles souverän gewollt an diesen Bildern, sondern sieht aus wie nebenher unterlaufen: Passiert ist passiert. Mal so, mal so.

Anregung durch keltische Fundstücke

Bevor Paul seine Bildidee wahrmacht (Kritiker auf den Kopf stellen und ringsum einrahmen), muß man rasch sagen, daß unter den 75 Exponaten auch recht achtbare Werke sind. Die von keltischen Funden angeregten Arbeiten zählen dazu, aber auch konzentriertere Stücke wie „Boxer Lips“ und „Chinaman“.

Überhaupt spürt man Wonne, Inbrunst und Passion, mit denen Paul McCartney der Leinwand zu Leibe rückt. Auch wenn ihm nicht alle künstlerischen Mittel zu Gebote stehen: Über bloße Freizeitmalerei ist er deutlich hinaus. Und die Siegener dürfen sowieso mächtig stolz sein auf den Coup, diese Sachen hergeholt zu haben.

„Paul McCartney Paintings“. Siegen, Kunstforum Lyz (St.-Johann-Str. 18). DerWeg dorthin ist bestens ausgeschildert. 1.Mai bis 25. Juli, Di-So 10-20 Uhr. Eintritt 12 DM, Katalog 39,50 DM, Plakat 12 DM.




Ein freundlicher Riese – Christos gigantischer „Mauerbau“ aus 13000 farbigen Ölfässern im Gasometer Oberhausen

Von Bernd Berke

Oberhausen. Dieser Christo schafft es einfach immer wieder: Anfangs, wenn man nur von den Projekten des Verhüllungskünstlers und seiner Gefährtin Jeanne-Claude hört, schüttelt man vielleicht noch den Kopf. Doch das ist bloßer Phantasiemangel. Man muß stets nur eine Weile abwarten. Und jetzt muß man’s nicht mehr: Das Ereignis ist da!

Sobald Christos Ideen verwirklicht sind, ist man überwältigt. So war’s 1995 beim verhüllten Reichstag, so ist es nun im Oberhausener Gasometer, wo Christo 13 000 bunte Ölfässer zur Riesenmauer („The Wall“) geschichtet hat. Christo und seine Gefährtin Jeanne-Claude kehren die üblichen Verhältnisse um: Die bloße Vorstellung klingt prosaisch, die reale Umsetzung erweist sich hingegen als poetisch…

Kein besserer Ort ließe sich für diese Installation finden als just der Gasometer. Sieht man die gigantisch aufgetürmte Ölfässer-Wand vor sich, so wird einem auch die ungeheure Ausdehnung des Industriedenkmals erst so recht bewußt. „The Wall“ füllt die gesamten 68 Meter Durchmesser des Gasometers aus und ragt 26 Meter auf; haushoch zwar, aber in den Dimensionen des 110 Meter hohen Gasometers fast bescheiden. Steht man ganz nah davor, so kann einem freilich ein wenig bange werden. Doch keine Angst: Das Wunderwerk wird von einer massiven Stütz-Konstruktion ehern gehalten.

Niemals an eine Verhüllung gedacht

Obwohl für den Faßanstrich handelsübliche Industriefarben verwendet wurden, ist die Leucht-Wirkung phänomenal, vor allem im Kontrast zum Grau-in-Grau der stählernen Industrie-Kathedrale. Koloriert wurden die Fässer, die später wieder in den Wirtschafts-Kreislauf zurückwandern, nach einem ausgeklügelten System: Rund 45 Prozent der Behälter gleißen hellgelb, 30 Prozent schimmern rötlich, der Rest weist blaue, graue, grasgrüne und weißliche Tönungen auf. Viele, viele bunte Kreise? Nein: Mehr Farbe, als das Auge trinken kann.

Projektleiter Wolfgang Volz, der den dreimonatigen Aufbau des „freundlichen Riesen“ für Christo überwachte, ist mit täglich 15 bis 20 Kräften ausgekommen – eine feine Organisationsleistung. Volz gestern zur WR: „Pannen hat es überhaupt nicht gegeben. Im Gegenteil: Es ging schon fast zu glatt.“

Christo und Jeanne-Claude sonnen sich derweil im Scheinwerferlicht etlicher Fernsehteams und im Blitzlicht zahlloser Pressefotografen. Auf die Frage, ob sie je an eine Verhüllung der Fässer gedacht hätten, reagieren sie allergisch. Ihre letzte Verhüllungs-Idee stamme von 1975. Jeanne-Claude: „Wir sind keine Verhüllungskünstler.“ Christo nickt. Weitere Frage: Ob wir bei „The Wall“ auch an die Berliner Mauer denken sollten? Jeanne-Claude schelmisch: „Es gibt auch eine chinesische Mauer…“

Nun denn. Jetzt nichts wie hin nach Oberhausen: Nachzählen, ob es wirklich genau 13 000 Fässer sind.

Christo & Jeanne-Claude: „The Wall“ (und Doku-Ausstellung zu früheren Christo-Projekten). Gasometer Oberhausen (A 42, Abfahrt OB-Zentrum). Bis 3. Oktober, täglich 10-20 Uhr. Eintritt 10 DM, Familienkarte 20 DM. (Infos: 0208/80 37 45).




Ein Halt in der Bilderflut – Selbstbefragungs-Schau „Museum der Museen“ in Hagen

Von Bernd Berke

Hagen. Museumschef Michael Fehr erkennt die Zeichen der Zeit: Gegen heftige Medien-Konkurrenz muß sich jede Kunstsammlung behaupten. Sie muß sich als Halt in der Bilderflut erweisen; als Ort, an dem man Bilder noch wirklich wahrnimmt und nicht nur flüchtig hinschaut.

Die neue Schau im Hagener Osthaus-Museum befaßt sich hintersinnig mit dem Wesen der Institution. Archiv, Sammelpunkt, Laboratorium, Wunderkammer, Stätte der Utopie – all das und etliches mehr kann ein Museum sein. Seit jeher haben Künstler diese Funktionen kundig und kritisch überprüft. So auch hier. Das „Museum der Museen“ (Titel) ist auf viele Räume verteilt und gesellt sich so zu den hauseigenen Beständen. Das stiftet zunächst etwas Verwirrung, aber auch viele subtile Querbezüge.

Michael Badura hat ein imaginäres „Museum der Klumpen“ fotografisch dokumentiert – Anspielung auf Sammlerfleiß, der auf „komplette“ Kollektionen aus ist und nie ans Ziel kommt. Just als Sammler gehen Martin Schack (Dortmund) und sein Augsburger Kunstpartner Schreiner zu Werke: Sie nehmen alle möglichen Fundstücke aus Telefonzellen mit, kleben sie auf, katalogisieren sie – von der zertretenen Zigarettenkippe bis zur achtlos zerknüllten Notiz. Hübsche Geschichten ließen sich dazu ausdenken. Schnell hatten die Künstler ein „Museum“ des Liegenlassens beisammen. Bei Fundsache No. 1000 soll Schluß sein.

Sammeln und Fetischismus

Ungleich ernster: Von verlorenen Gegenständen gelangen wir zu vermißten Menschen. Aus Verlust-Meldungen des DRK-Suchdienstes haben die Leute vom Berliner „Bilderdienst“ eine Diaschau erstellt: Gesichter wie aus einer Welt, in der es nur noch Verschollene gibt. Wolfgang Stiller (Berlin) hat ein Zimmer gebaut, in dem sich bizarr wuchernde Gebilde aus streng riechendem Latex häufen. Schöpfen und Sammeln hat wohl auch mit Fetischismus zu tun.

Der New Yorker „Salon de Fleurus“ führt uns in ein fiktives Land, aus dem ein Zeichner allerlei Ansichten zu Kunst, Natur und Technik mitgebracht habe. Als vollends virtuell erweist sich Hans-Peter Porzners Münchner „Museum für Moderne Kunst“, das nicht nur mit trügerischen Einladungskarten für sich wirbt. Es sind schon Leute von weither an die Isar gereist, um die erfundene Sammlung zu sehen. Sie haben (echten) Ärger gemacht.

Aus dem „Museum of Jurassic Technology“ (Los Angeles) kommt der üppigste Beitrag: eine Wunderkammer, gespeist aus dem barocken Geiste eines Universal-Gelehrten, des in Geisa (Thüringen) geborenen Jesuiten Athanasius Kircher (1602-1680). Der hat u. a. die Laterna Magica ersonnen. Magisch erscheint denn auch die Ansammlung kurioser Arrangements, Apparaturen und 3D-Animationen, die hier zu bestaunen sind. Das Wundersame, heraufbeschworen mit modernsten Mitteln – auch dies könnte eine Aufgabe fürs Museum der Zukunft sein.

Osthaus-Museum, Hagen, Hochstraße 73. Vom 24. April bis 20. Juni. Di-So 11-18 Uhr.




Sabbern, lallen, gackern, brüllen – Lars von Triers Film „Idioten“

Von Bernd Berke

„Geh’n wir?“ – „Ja!“ So lakonisch lautet der letzte Dialog in Lars von Triers Film „Idioten“. Ähnlich kurzentschlossen werden – vielleicht schon lang vorher – manche Kinobesucher das Weite suchen. Denn hier schaut man zwei Stunden lang einer Schar von Menschen zu, die stets das Verrückteste tun wollen, das sich gerade denken läßt.

Egal, ob im feinen Restaurant, in Wald und Flur oder in der biederen Wohnstraße: Sie kleckern und sabbern, sie gackern, lallen oder brüllen drauflos, simulieren beklemmende Angstzustände oder finden sich täppisch zum Gruppensex zusammen.

Der kühle Möchtegern-Guru Stoffer und seine sektenähnliche Gefolgschaft benehmen sich aus eigenem Entschluß wie geistig Minderbemittelte. Zwischendurch wird todernst diskutiert, was man geleistet habe und wie glaubhaft man schon sei. Der Weg ist das Ziel, möchte man ihnen zurufen.

Dahinter steckt eine krude Vorstellungswelt: Das intellektuelle Häuflein (Abendschullehrer, Werbemenschen usw.) will der Gesellschaft die Fratze zeigen, alle Spießer demaskieren und den jeweils anders gepolten „Idioten in sich“ entdecken, mehr noch: ihn lieben lernen, ihn stolz und sozial auffällig vor sich hertragen.

Einer fixen Idee hat sich auch Regisseur Lars von Trier, dem wir den wunderbar „unmöglichen“ Liebesfilm „Breaking the Waves“ zu verdanken haben, verschrieben: dem „Dogma 95″. Das heißt: Kino im Rohzustand. Verboten sind demnach u. a. künstliches Licht, Kamerastative, nachträglich beigemischter Ton, Requisiten, die nicht sowieso am Platze vorhanden sind, Genrestoffe, jegliche Verfremdung von Ort und Zeit. Alles soll sich im Hier und Jetzt zutragen und mit wackliger Handkamera eingefangen werden.

Von Trier und andere Dänen (zuletzt Thomas Vinterberg mit „Das Fest“) sind unterwegs zu einer höheren Form des Dilettantismus. Also wankt und schlingert es auf der Leinwand unentwegt, so daß man selbst ein wenig „verrückt“ wird, wenn man diesen Leuten bei ihrer entbehrungsreichen Seelenarbeit an der Idiotie zuschaut. Die verstörte Kamera wischt über die Szenen wie ein ständig abirrender Blick.

Seltsame Heilige zwischen den Wohlstandskindern

Manche Gaga-Aktionen haben nur die Aussagekraft einer Bierlaune, doch andere greifen ins existentielle Befinden des Menschen und wirbeln sein tierisches Urerbe auf. Dann geht’s beim Zusehen an die Substanz, so sehr wird man in die Szenen hineingerissen. Kino aushalten, heißt die Devise.

Lars von Trier hat wieder eine seiner seltsamen „Heiligen“ aufgeboten, die völlig entrückt und doch insgeheim überaus stark sind aus wirklichem Leid: Karen (Bodil Jörgensen) schlüpft vor lauter Einsamkeit bei der Gruppe unter.

Die anderen haben den Spuk auf Dauer nicht nötig und kehren ins Bürgerleben zurück. Nur Karen braucht die wahnhafte Grenzüberschreitung tatsächlich. Quälend intensiv die Schlußszene, in der sie ihre seelisch leblose Familie mit frisch entdeckter Idiotie konfrontiert. Da wirkt sie erleuchtet, ganz wie von einer anderen‘ Welt. Und es ist ein heilsamer Akt der Selbstbefreiung: „Geh’n wir?“ – „Ja!“




Uferlos schwappt die Gewalt herüber – Sarah Kanes ultrahartes Theaterstück „Zerbombt“ im Bochumer „ZadEck“

Von Bernd Berke

Bochum. Dies zur Warnung gleich vorweg: Sarah Kanes Theaterstück „Zerbombt“ beschwört das nackte Grauen herauf. Da wird ein totes Baby verspeist, und einem Manne werden bei lebendigem Leibe die Augäpfel aus dem Kopf gebissen. Hier müßte man eigentlich schon verstummen.

Ein paar Dinge gibt’s aber noch zu sagen über die Aufführung (Regie: Uwe Dag Berlin) im „ZadEck“, dem Kellertheater unterm Bochumer Schauspielhaus. Sarah Kane, die britische Autorin, hat sich im Februar mit nur 28 Jahren das Leben genommen. Bochum hat daher die Premiere zeitlich vorgezogen. Freitod verleiht einen Nimbus…

Der englische Zeitungsreporter lan (Steve Karier), Mittvierziger, Ausländerhasser, unheilbar lungenkrank und zuständig für Berichte über widerliche Sexualstraftaten, haust im Hotel mit der viel jüngeren Gate (Elena Meissner). Sie lieben einander nicht, scheinen aber miteinander verkeilt auf Gedeih und vor allem Verderb. Denn keiner von beiden flüchtet vor dieser schmierig-düsteren Zweisamkeits-Hölle aus Flüchen, Suff, Drohungen, Weinerlichkeit und erbärmlich erzwungenem Sex, bei dem Gate wie eine Gummipuppe benutzt wird.

Von Trieb-Abfuhr müßte man hier reden, so wie man von Müll-Abfuhr spricht. Wenn lan mit seiner Pistole fuchtelt, antwortet Gate reflexhaft: „Drück doch ab! Erschieß mich!“ Nähe als Nahkampf. Die Gewalt ist also schon da, sie wird nur noch gesteigert: In dieses Hotelzimmer-Schlachtfeld bricht (verkörpert durch einen Soldaten – Peter Jordan) ein veritabler Kriegszustand herein, und zwar so heftig, so form- und uferlos, daß es hirnzerstäubend surreal wirkt.

Kern des 1994 verfaßten Stückes: Die Greuel in Bosnien (wir setzen hinzu: im Kosovo) können überall hinschwappen. Merke: Ein Herzstück der Gewalt, die uns überflutet, sitzt in uns selbst.

Theater als moralische Anstalt? Nein! Theater zum Tode. Das Stück nennt und zeigt nicht nur kaum vorstellbare Aggressionen, es weckt auch welche. Diese richten sich nicht nur gegen Zustände der wirklichen Welt, sondern auch gegen die Autorin oder das Theater, die uns derlei zumuten.

Verdacht eins: Sarah Kane, die den Text nach TV-Nachrichten aus Bosnien schrieb, hat sich wehrlos in den Sumpf der Sinnlosigkeit ziehen lassen. Kurzschlüssig, ohne begriffliche Anstrengung, hat sie Britannien mit Bosnien überblendet und die schlimmsten Phantasien lediglich angehäuft. Verdacht zwei: Die Theater glauben solche Stoffe zu brauchen, um die Generation der Horrorfilm-Konsumenten zu erreichen. Doch bei steigendem Härtegrad droht Abstumpfung.

Die Schauspieler machen – wie so oft – alles mit: Röchelnd und würgend, die Worte oft hervorkotzend, wühlen sich die drei Darsteller tief hinein ins schier ausweglose Elend. Sie flößen einem aber nicht nur Angst und Ekel ein, sondern lassen – fast unglaublich – in gewissen Momenten etwas anderes aufscheinen: Verletzlichkeit. Reste zerfetzter Zärtlichkeit gar. Hier erfüllt sich vielleicht ein Anspruch der Autorin, die in der schlimmsten aller Weiten noch Zeichen der Hoffnung aufspüren wollte. Doch es sind nur Spuren. Und Sarah Kane selbst haben sie nicht mehr genügt.

Ein ohnmächtiger Abend, nach dem entsetztes Schweigen passender als Beifall wäre.

Termine: 5., 15., 29. Mai. Karten: 0234/3333-111.




Wo gar nichts harmlos ist – Essen: „Belgrader Trilogie“ / Biljana Srbljanovićs bittere Emigranten-Komödie

Von Bernd Berke

Essen. Sie hassen die geistige Enge und die materielle Dürftigkeit ihrer Heimatstadt – und verzehren sich doch vor Sehnsucht, diese einmal (in besseren Zeiten) wiederzusehen. Biljana Srbljanović zeigt in ihrer „Belgrader Trilogie“ Menschen, die vor Milosevic und dem entfesselten serbischen Nationalismus in alle Welt geflüchtet sind. Aufgebrochen sind sie, doch nirgendwo angekommen.

Die drei Episoden des Stückes, jetzt als deutsche Erstaufführung im Essener Grillo-Theater zu sehen, spielen jeweils zu Silvester (oft Prüftag menschlicher Beziehungen) in Prag, Sydney und Los Angeles.

Rasch wird der Schmerz betäubt

Die serbischen Emigranten führen ein eher bescheidenes Leben. Die Brüder Kica und Mica schlagen sich in Prag mit einer unfreiwillig grotesken Eintänzer-Nummer durch, die sie in ihrer kläglichen Behausung proben. Schlimme Nachricht per Telefon: Micas Geliebte Ana hat daheim anderweitig geheiratet. Zur raschen Betäubung des Schmerzes kommt ein leichtes Prager Mädchen gerade recht.

In Sydney treffen sich zwei Ehepaare, die einander in Belgrad nie leiden mochten. Nun fechten sie die Animositäten zwischen Suff und schnellem Sex am Eßtisch so quälend aus, als kämen sie geradewegs aus dem „Virginia Woolf“-Stück von Edward Albee. In Los Angeles schließlich, also im Dunstkreis Hollywoods und seiner Verheißungen, werden eine Pianistin, die hier als Barfrau arbeitet, und ein Schauspieler, der sich als Möbelpacker verdingt, Opfer einer absurden Gewaltorgie.

Die Autorin, die in Jugoslawien mit einer Fernseh-Comedyreihe debütierte, filtert aus ihren im Grunde bitterernsten Szenen kein düsteres Lamento, sondern entwirft verblüffend theaterwirksame Szenen von zuweilen grauslicher Komik. Und siehe da: Es berührt einen starker als ein Klagelied.

Der Text ist schnell hart und rüde wie eines jener neueren britischen Stücke. 1995 geschrieben, drängt er ganz von selbst zur jetzigen Aktualität. Kein Wunder, daß Regïsseur Jürgen Bosse das Silvesterfeuerwerk am Schluß ins Getöse eines kriegerischen Infernos münden läßt. Man kann das Wort „Belgrad“ derzeit (und auf längere Sicht) nicht harmlos denken.

Auch sonst verleiht die Inszenierung, als stünde sie unter Dampf, den Dingen heftig Nachdruck. Überdeutlich agieren die Zicken, Schlampen, Memmen und Brutalos. Grell werden die Figuren herausgestellt, der Abend gerät fast zur Typenkomödie.

Völlig aus der Zeit gefallen

Doch das Leid der Gestalten wird nicht etwa verkleistert. Das starke Ensemble arbeitet zwei Grundmotive der Verzweiflung heraus: Ständig wollen diese Menschen die Uhrzeit wissen, als seien sie aus der Zeit gefallen. Und so elend gierig stürzen sie sich aufeinander, als spürten sie sonst ihre Existenz nicht. All ihre Beziehungen bleiben freilich schal.

Man lacht also viel, aber man leidet auch mit. Und irgendwann fühlt man das Selbstverständliche: Serben sind keine Monster, sie werden höchstens ins Finstere getrieben. Wie wundervoll wäre es, könnte dieses Volk einmal heimkehren nach Europa!

Die 29jährige Biljana Srbljanović, entschiedene Gegnerin des Milosevic-Regimes (aber auch der NATO-Strategie), kam nicht zur Essener Premiere. Sie harrt am Ort des Schreckens aus/ denn sie fürchtet, daß sie hernach nicht mehr nach Belgrad einreisen darf und ihren Gefährten nicht mehr wiedersieht.




Die gespenstische Kehrseite des Bürgers – Bühnen-Rarität „Blunt, oder der Gast“ von Karl Philipp Moritz

Von Bernd Berke

Dortmund. Hier rollt der Mond als beleuchteter Ball auf dem Boden, dort duckt sich ein Nachttopf unterm Stuhl. Hier steckt ein Schädel auf dem Stab, dort sieht man Grabkreuz und Schreibpult. Es scheint so, als sei diese Welt in ihre Bestandteile zerstreut worden. Vielleicht ist eine Katastrophe geschehen, sie muß aber auch ihre verzweifelt komischen Seiten gehabt haben.

Mitten in der Dortmunder Szenerie zu »Blunt, oder der Gast“ erhebt sich eine Puppentheaterbühne. Durch die kleine Öffnung stecken Blunt (Achim Conrad) und seine Frau Gertrude (Heidemarie Gohde) die Köpfe und beklagen ihr armseliges Dasein. Grotesk kurzschlüssig, ohne Umschweife des Gewissens, verknüpft sich das Lamento mit Mordgedanken, die Blunt gegen einen reichen Gast (Michael Masula) hegt, den man im Hause beherbergt. Den Kerl abmurksen und ausrauben – schon wäre man samt Töchterlein Adelheid aus dem Gröbsten heraus…

Das „Blunt“-Fragment des Karl Philipp Moritz (1756-1793; Verfasser des berühmten Romans „Anton Reiser“) wurde erst vor wenigen Jahren von Heidelberger Germanistik-Studenten entdeckt und als Laienspiel gegeben. Sodann nahm sich Stuttgarts Schauspiel des erstaunlich modern gezimmerten Textes an, jetzt also ist Dortmund an der Reihe.

Ein Denkmal falschen Familienfriedens

Besagter Blunt setzt seinen Mordplan um – und muß dann erfahren, daß er nicht irgendeinen Logis-Gast, sondern seinen eigenen, seit Jahren totgeglaubten Sohn erstochen hat. Der hätte sich anderntags zu erkennen gegeben, er hätte seinen Reichtum freiwillig teilen und Hochzeit halten wollen. Weh und Ach! Blunts Gejammer ist groß. Regisseur Axel Richter zeigt uns freilich keine wuchtige Tragödie, sondern die Farce, die erschröckliche Moritat.

Wie mondsüchtige Schlafwandler bewegen sich die Figuren. Freilich sind sie allzeit bereit zu überdrehten Posen und zu einer Sprachbehandlung, die jede Silbe geradezu gewaltsam hervortreibt. Hat man es sich da schauspielerisch nicht zu leicht gemacht?

Wir sehen die gespenstische Kehrseite des (Klein)-Bürgertums, auf der Nachtmahre gedeihen. Den treudeutsch-blutrünstigen Verhältnissen werden Leierkasten-Melodien vorgespielt: Mal erklingt die (viel später als das Stück entstandene) Nationalhymne, mal das Liedlein von den Gedanken, die frei sind.

Freie Gedanken? Und wie! Im zweiten Teil wird die Handlung gleichsam zurückgespult, die Bluttat im entscheidenden Moment zurückgenommen. Hernach scheint es ganz so, als wäre gar nichts geschehen. Notorisch deutscher Umgang mit Schuld? Die Beteiligten gruppieren sich zur glorreichen Apotheose, zum lächerlichen Denkmal der Schuldlosigkeit: Friede sei der Familie. Doch es ist ein falscher Friede.

Die Inszenierung könnte etwas Nachbesserung vertragen. Hie und da scheint es, als nehme man den Text nicht für voll und als dürfe man schon mal ein wenig schludern. Das aus Kindern bestehende „Affenorchester“, das die Groteske begleitet, ist natürlich niedlich. Es verleiht aber der Produktion einen Beigeschmack unverbindlicher Nettigkeit. Dabei wollten wir uns doch gar nicht so rasch beruhigen.

Termine: 13., 14. März, 1. April. Karten: 0231 / 50 27 222.