Das Paradies am Abgrund – „Reservate der Sehnsucht“ in der früheren Dortmunder Union-Brauerei

Von Bernd Berke

Dortmund. Die mit Bildschirmen übersäte Wiese gehört nicht etwa zu einem Stadtpark, sondern wurde in einem Turmgeschoß auf dem früheren Gelände der Dortmunder Union-Brauerei eigens angelegt. Die Grünfläche ist Teil der umfangreichen Ausstellung „Reservate der Sehnsucht“.

Die Schau soll der seit Jahren aufgelassenen Industriebrache, deren Zukunft völlig ungewiß ist, vorübergehend neues Leben einhauchen. 35 Künstler aus 12 Ländern präsentieren auf 4000 Quadratmetern vor allem videotechnische Installationen und Fotografie.

Der besondere Reiz ergibt sich aus Kontrasten zwischen dem verrottenden Brauerei-Gebäude und den künstlerischen Antworten auf diese Umgebung. Neben der Jawlensky-Ausstellung am Ostwall bietet Dortmund damit ein zweites Großereignis der Bildenden Kunst.

***

„Erschütternd und zugleich faszinierend“ fand Ko-Kuratorin Iris Dressler den Anblick, der sich im November 1997 im ehemaligen Gebäude der Dortmunder Union-Brauerei bot. „Überall“, so die Frau vom örtlichen Kunstveranstalter „hARTware projekte“, „häufte sich damals der Schutt.“ Hier sollte eine Ausstellung gezeigt werden? Jetzt, nach rekordverdächtig kurzer Vorbereitung, ist sie fertig. Und der Gang durch vier Etagen des gigantischen Industrieturms gerät zum Abenteuer.

Die mit einem Etat von 900 000 DM erstaunlich günstig erstellte Schau (Hauptförderer: Land NRW, Kultur Ruhr GmbH), bestückt auch mit Arbeiten namhafter documenta- und Biennale-Teilnehmer wie Flatz und John Armleder, gibt sich schon im Ansatz illusionslos. Fraglose Voraussetzung ist das vielbeschworene „Ende der Utopien“. Im Unbehagen der Bewußtseins-Trümmer möchte sich der Mensch allerdings irgendwie einrichten: Also sucht er letzte „Reservate der Sehnsucht“ – so heißt denn auch die Unternehmung.

Das Logo – eine kleine Palme neben dem „Dortmunder U“ (Union-Symbol) – beschwört den alten Traum nicht ohne Ironie: „Unter dem Pflaster ist der Strand“. Noch weiß niemand, was künftig mit der Industrie-Brache geschehen soll. Jetzt haucht (leider nur zeitweise) die Kunst dem Gelände neues Leben ein. Es ist freilich vielfach elektronisch erzeugt. Viele der 35 Künstler aus 12 Ländern drücken sich mit Video- oder Computertechnik aus. Das wiederum paßt zum Dortmunder Traum vom avancierten Medien-Standort.

Das „U“ erzeugt eine majestätische Blickachse

Vier riesige Geschosse mit insgesamt rund 4000 Quadratmetern werden „bespielt“, aufwärts geht’s per Fahrstuhl oder über schmale Treppen. Doch halt! Gleich ganz unten darf man ein wenig im Paradies schwelgen. Die beiden Künstlerinnen vom „ipfo“ (Institut für Paradiesforschung, Dortmund / Münster) lassen via CD-Rom geläufige Vorstellungen vom idealen Urzustand zu Computer-Bildern gerinnen.

In der nächsten Raumflucht machen historische und aktuelle Fotos klar, daß das „Dortmunder U“ eine der wenigen majestätischen Blickachsen der Innenstadt erzeugt. Ein machtvolles Wahrzeichen, bereits Inszenierung für sich.

Das nächsthöhere Stockwerk ist flächendeckend begrünt worden. Auf der schon etwas modrig duftenden Wiese (oh, Vergänglichkeit!) wird es jeweils sonntags um 16 Uhr – frei nach dem Gemälde von Edouard Manet – ein „Frühstück im Grünen“ geben.

Natur ist nur noch als ferne Ahnung vorhanden

Doch die Picknick-ldylle wird mehrfach durchbrochen: Da sind die trostlos gekachelten Wände und rostige Reste der einstigen Braustätte, vor allem aber Video-Installationen, in denen Natur bestenfalls virtuell, als ferne Ahnung vorhanden ist; oder nur noch als Restgrün wie auf jenen horriblen Fotos, die unwirtliche Folgen des Alpentourismus (Walter Niedermayr) bzw. künstliche Kulissen bundesdeutscher Freizeitparks zeigen.

Es gibt Stationen in dieser Schau, an denen man nachhaltig mit eigenen und kollektiven Ängsten konfrontiert wird. Einmal sieht man sich durch eine Art Labyrinth geschleust, an dessen Ende man schaurige, mit Kissen gefüllte Wannen vorfindet. Durch Bodengitter wirft man schaudernd Blicke in tiefe Abgründe des Baues.

Durch eine Installation des Künstlers Flatz muß man sich durchkämpfen. Er hat Dutzende von Sandsäcken so dicht an dicht gehängt, daß man nicht ohne Hiebe vorbeikommt. In einem weiteren Raum ist man allseits umgeben von endlos abgespulten Aufnahmen eines kleinen nervösen Vogels, der aus dem Käfig heraus will. Ein Inbild der Unfreiheit. Wer sich hier eine Stunde aufhielte, der wüßte wohl, was Psychoterror ist.

Schließlich Jan Peter E. R. Sonntags Sound-Kreation im Turmgeschoß: Sie klingt, als werde gleich das ganze Gebäude ins Firmament abheben. Vielleicht finden wir sie ja dort: die neue Utopie.

„Reservate der Sehnsucht“. Früheres Gelände der Union-Brauerei, Dortmund (Zugang Ritterstraße). 21. August (Eröffnung 19 Uhr) bis 4. Oktober. Di-So 11-20 Uhr. Eintritt 10 DM (ermäßigt 5 DM). Kataloge 25 und 15 DM, zusammen 30 DM.




Der Kick in der Kunst – Ausstellung rund um den Fußball im Mönchengladbacher Schloß Rheydt

Von Bernd Berke

Mönchengladbach. Worum dreht sich (manchmal) das ganze Universum? Der Künstler Heinz-Josef Mess hat da so seine Vermutung – und äußert sie im Bilde: Mitten im endlosen galaktischen Nebel thront ein Zentralgestirn, das uns irgendwie bekannt vorkommt. Es ist ein Fußball. Wie sehr Kultur mit Kult und Kult wiederum mit Kicken zu tun hat, untersucht jetzt eine Ausstellung im ehrwürdigen Mönchengladbacher Schloß Rheydt.

Der Ball ist rund, das Spiel dauert 90 Minuten, das Runde muß ins Eckige, „Grau is‘ alle Theorie, entscheidend ist auf m Platz“ – derlei zeitlose Fußball-Weisheiten lassen auch Künstler nicht ruhen. Die pfiffige Gladbacher Schau versammelt staunenswerte Stücke. Wer hätte etwa gewußt, daß der berühmte Pop-Künstler Andy Warhol nicht nur eine Marilyn Monroe, sondern auch den Kölner Torwart Toni Schumacher als Glamour-Star porträtiert hat?

Wie eine Reliquie: Originalabguß von Netzers Schuh

Warhols Antipode Joseph Beuys hatte exakt den gleichen Club im Sinn, als er 1978 ein mit Geißbock-Maskottchen verziertes Schlüsselbund kurzerhand per Signatur zum Kunstwerk erklärte.

Besonderen Drall bekommt die Ausstellung durch Traum-Kombinationen zwischen Kunst und Kultgegenständen der Fans: Wimpel, Trikots, Pokale und dergleichen. Letztere werden wie Reliquien mit grünem Samt drapiert, beispielsweise ein Originalabguß von Günter Netzers Schuh oder ein Abdruck vom Fuße des Berti Vogts, der sich die Ausstellung demnächst anschauen wird.

Ironische Antwort auf den Kult um Vereinsfarben: Stefan Banz hat einer nackten Frau den schwarz-gelben Dress von Borussia Dortmund direkt auf die Haut gemalt, ein unbekleideter Mann trägt derweil das Schalker Königsblau. Auch sein „bestes Stück“ ward beim Kolorieren nicht vergessen…

Der Künstler Dag Seemann zeigt den Fußball als Religionsersatz dieser Zeit: Die von ihm kreierte Abfolge (altgriechische Amphora, Abendmahls-Kelch und WM-Trophäe) spricht für sich.

Die Aggressivität des Sports ist gleichfalls künstlerisches Thema. Thomas Virnich etwa hat ein kleines Spielzeug-Fußballfeld aus Blech gründlich zerfetzt und dann mit dem Lötkolben bearbeitet. Die versengten Stellen künden nicht vom hehren „Fair geht vor“, sondern gleichsam von einer „Taktik des verbrannten Rasens“. Der Werktitel zielt in die gleiche Richtung: Beim Match ist es „Drunter und drüber“ (1995) gegangen.

Abstrakter, aber ebenso faszinierend ist die Spuren-Suche von Susken Rosenthal. Sie hat sämtliche Spielzüge einer Länderspiel-Partie zwischen Argentinien und Deutschland auf ein verdunkeltes Spielfeld graviert. Resultat: ein Gewitter aus energetischen Linien mit bedrohlichen Ballungen. Dem Spiel-Verlauf wird hier ein Eigenwert zuteil, der sich von den Spielern selbst gelöst und sich zeichenhaft weit über sie erhoben hat.

Daß „das Spiel an sich“ machtvoller sein könnte als das arme kleine Individuum, teilt als Angstvision auch Dieter Asmus mit: Sein „Torwart“ (1970) wird von einem gigantischen roten Ball schier überrollt.

Weitaus kühler gibt sich Gregor Russ, der die Markierungslinien des Spielfelds auf 72 Bildern variiert: Anstoßkreis, Elfmeterpunkt und Fünfmeterraum mutieren dabei zu geometrischen, nach Regeln optischer Schönheit frei kombinierbaren Elementen.

„Heimspiel. Fußball: Kult und Kunst“. Mönchengladbach, Städt. Museum Schloß Rheydt, Schloßstr. 508. Bis 4. Okt. („Verlängerung möglich / kein Elfmeterschießen“). Tägl. außer Mo 11-19 Uhr. Katalog 29 DM.




Glühende Landschaften der Seele – Dortmunder Ostwall-Museum wartet mit betörender Jawlensky-Ausstellung auf

Von Bernd Berke

Dortmund. Psychologen haben allerhand Farb-Therapien entwickelt, mit denen sie ihren Klienten heilsame Gefühle einflößen wollen. Doch die üppigsten Feste der Farbe werden nun mal in der Kunst gefeiert – und eins der schönsten begeht man nun im Dortmunder Ostwall-Museum: 150 Ölgemälde des Alexej von Jawlensky (1864-1941) und rund 30 Werke von Zeitgenossen werden aufgeboten, um die Sinne zu betören.

Museum-Kustos Tayfun Belgin stapelte gestern reichlich tief: Einen „kleinen Beitrag“ zur Jawlensky-Debatte wolle man leisten. Er selbst und die Sponsoren werden wohl wissen, daß sie der Stadt und dem Umland ein Ereignis ersten Ranges beschert haben.

Leidiges Thema seit dem Essener Reinfall mit gefälschten Jawlensky-Aquarellen: Bis zum stichhaltigen Beweis des Gegenteils hält Tayfun Belgin alle in Dortmund gezeigten Bilder für echt, man habe die Herkunftswege geklärt. Generelles Problem allerdings: Jawlensky sei „ein miserabler Buchhalter“ seiner eigenen Produktion gewesen.

Nun aber stracks zum Genuß! Grandios schon der Auftakt im Lichthof des Museums, das übrigens die zweitgrößte Jawlensky-Kollektion Europas aufweist. Hier geht es erst einmal realistisch zu. Man bestaunt opulente Porträts („Maria“, „Hélène im spanischen Kostüm“) aus Jawlenskys Frühwerk. Vergleichsbilder etwa von Ilja Repin und Anders Zorn runden den ersten Eindruck ab: Auch ein Jawlensky hat sich – natürlich – im Horizont seiner Zeit bewegt und sein Schaffen konventionell begonnen.

Meisterliche Behandlung von Farbwerten ist freilich schon erkennbar. Das Haar der „Blondine“ (1894) erstrahlt nahezu überirdisch. Farbe als geistige Erscheinung. Das Streben nach farblicher Harmonie bestimmt Jawlenskys Werk um die Jahrhundertwende. Im „Stilleben mit Samowar“ (1901) erklingen die Tonwerte wie zarte Musik, später wird die Skala kräftiger: Da ergießt sich glühendes Fühlen in ebenso glühende Farben. Außerordentlich die Perspektive im Bild „Schwarzer Tisch“ (1901). Am obersten Rand setzen Blumen und ein Teller sparsame Farbakzente, der Tisch scheint – seines festen Halts beraubt – auf den Betrachter zuzurutschen.

Im Schmerz richtet sich der Blick ganz nach innen

Jawlensky suchte nach einem Stil, mit dem er nicht so sehr die sichtbare Stofflichkeit erfassen, sondern vielmehr in die Innenwelt der Gefühle vordringen konnte. Zeitweise orientierte er sich an Van Gogh (deutlich in Jawlenskys „Stillleben mit Zitrone und Hyazinthe“, 1901) oder an den flirrenden Farbpunkten der Pointillisten. In Dortmund belegt eine Landschaft von Paul Signac diesen Einfluß.

Häufig wiederkehrendes Motiv auf Jawlenskys Landschaften (u. a. aus Murnau) sind jene Wegbiegungen, deren Verläufe wohl immer auch den Lebens-Weg bedeuten: Wege des Innehaltens, Wege der Sehnsucht. Auf dem Bild „Einsamkeit“ ist zwar keine menschliche Figur zu sehen, doch ein Telegrafenmast ragt 1 ganz allein vor einem von fernher leuchtenden Gebirge auf. Schwankende Häuser und Hügel lassen das Erschauern vor Natur und Dingwelt spürbar werden. Es sind Landschaften der Seele.

Die Dortmunder Schau sättigt nicht nur die Lust am Schauen, sie schickt sich überdies an, Fachfragen aufzuwerten. Beispielsweise: War Jawlensky Expressionist? Der direkte Vergleich der Jawlensky-Arbeit „Stilleben mit bunter Decke“ (1910) mit „Die roten Teppiche“ (1906) von Henri Matisse weist jedenfalls in eine andere Richtung.

Die obere Etage ist zum großen Teil den vielfach variierten Kopf-Bildern vorbehalten. Es gibt ganze Serien maskenhafter Häupter mit bannenden Blicken, aber auch kühl und konstruktiv „gebaute“ Köpfe, die gleichwohl träumerischen Ausdruck annehmen können.

Am Ende stehen Einkehr und schmerzliche Abwendung von der Welt: Der bereits schwer erkrankte Jawlensky nannte diese auf Grundlinien reduzierten Antlitze „Meditationen“. Sah man vorher oft beschwörend weit aufgerissene Augen, so sind diese nun stets geschlossen. Im Leid richtet sich der Blick nach innen.

Alexej von Jawlensky – Reisen, Freunde, Wandlungen. Museum am Ostwall, Dortmund. 16. August bis 15. November. Eintritt 13 DM, Katalog 49,80 DM.

__________________________________________________________

Zweifel an Jawlensky-Bild gesät

Dortmund. (bke) Vor einem halben Jahr hatte das Essener Folkwang-Museum eine Jawlensky-Ausstellung gezeigt, die etliche Fälschungen enthielt. Gestern weckte ein Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) Zweifel an einem Bild, das ab 16.August in der Jawlensky-Schau des Dortmunder Ostwall-Museums zu sehen sein soll.

Es geht um die Arbeit „Heilandsgesicht: Die heilige Stunde – Letztes Schauen“, die aus einer Wiesbadener Privatsammlung nach Dortmund kommt. Hierbei handele es sich, so jedenfalls die FAZ, „um eine offensichtliche, bis hinein in die eigentlich zufällige Ausfransung von Pinselstrichen detailversessene Kopie des allerdings vom Kopisten nicht genau verstandenen“ Jawlensky-Bildes „Heilandsgesicht: Letztes Schauen“.

Ostwall-Kustos Tayfun Belgin, zuständig für die Dortmunder Schau, sagte gestern auf WR-Anfrage, er halte das Bild aus guten Gründen für echt. Jawlensky habe oft Kopien eigener Motive angefertigt und „leider manchmal auch schlechte Bilder“ produziert. Der FAZ-Beitrag erschöpfe sich in Behauptungen und bleibe Beweise schuldig.

(Meldung erschienen 11.8.1998)

 




Am Quell des Eigensinns – Martin Walsers unverkennbar autobiographischer Roman „Ein springender Brunnen“

Von Bernd Berke

Manche Völker haben gefürchtet, die Fotografie könne den Menschen die Seele rauben. Doch sie vermag vielleicht auch das Gegenteil: Als der fünfjährige Johann – ganz allein, ganz für sich – von einem Wanderfotografen aufgenommen wird und dann dieBilder sieht, erlebt er sich erstmals als abgesondert, aber auch geradezu königlich abgehoben von allen anderen Wesen – kurz: als beseeltes Individuum.

Martin Walser schildert Johanns Wachsen und Werden in seinem neuen, unverkennbar autobiographisch bestimmten Roman „Ein springender Brunnen“.

Wie der Autor selbst, so ist jener Johann 1927 in Wasserburg/Bodensee geboren. Noch bevor der Junge in die Schule kommt, haben die Nazis die Macht an sich gerissen. In drei subtil durchkomponierten Kapitel-Schritten breitet Walser Szenen aus den Jahren 1933, 1938 und 1945 aus.

Hier haben wir einen großen Entwicklungsroman, einen mit prallen Lebensdingen und sinnlichem Dialekt gesättigten Dorfroman – und einen politischen Roman aus provinziellen Bezirken des „Dritten Reiches“.

Walser, der gleichsam zu den Ursprüngen seines Schreibens vordringt, läßt sich nie dazu hinreißen, seine Figuren zu denunzieren, aber er umreißt ihr Tun und Treiben sehr deutlich. Das ist ungleich triftiger, als wenn uns jemand ein wohlmeinendes Heldenepos vorgesetzt hätte. Derlei hätten wir nicht so sehr gebraucht, dies aber ist ein notwendiges Buch.

Streckenweise könnte man argwöhnen, Walser wolle uns ein ländliches Idyll ausmalen, mit Genre-Szenen aus dem Bilderbuch. Ein bißchen „Waldbauernbub“ wie von Rosegger, ein wenig „Lausbubengeschichten“ wie von Thoma? Gewiß nicht! Der Autor läßt zwar ahnen, was „Heimat“ im friedlichen Sinne bedeuten könnte, aber er zeigt, daß gerade in solche Sehnsüchte die Nazi-Ideologie einsickern konnte wie schleichendes Gift. Das trügerische Gefühl wohliger Nähe und des Aufgehobenseins im Dorfe wird immerzu gebrochen.

Als im allzeit verschuldeten Gasthof der Eltern die NS-Versammlungen jede andere Geselligkeit polternd verdrängt haben, erträumt sich der inzwischen zehnjährige Johann eine Gegenwelt im Zirkus, der gerade im Dorf gastiert. Er verguckt sich in die kleine Artistin Anita (eine wundervoll zarte Kinder-Liebesgeschichte!) und beginnt Gedichte zu schreiben. Doch dann wird der Clown, der sich in der Manege ein paar zeitkritische Witze erlaubt hat, von braunen Horden halbtot geprügelt.

Aus sprachlichen Differenzen erwächst dichterischer Drang

Dieselbe Verstörung erfaßt Johann, als ein jüdischer Mitschüler aus dem NS-Jungvolk“ ausgestoßen wird. Doch Johann leistet nicht, was denn auch wenig glaubhaft wäre, heroischen Widerstand, sondern hegt statt dessen seine Eigenheiten, um sich innerlich abzusetzen. Gleichzeitig tut er mit bei der Hitlerjugend, und kann es später kaum erwarten, an die Kriegsfront zu kommen. Gerade sein an sich edler Wunsch, sich hilfreich zu bewähren, macht ihn anfällig für Mißbrauch.

Walsers Roman handelt zuinnerst auch von den Bewegungskräften der Sprache. Schon früh hat Johann vom Vater gelernt, kostbare Ausdrücke zu sammeln und anschaulich „in den Wörterbaum“ zu stecken. Für sexuelle Nöte steht zwar in der katholisch-prüden Gegend kein taugliches Vokabular zur Verfügung, eigentlich nur ein onanistisches Stammeln.

Doch auf Dauer erweist sich, daß Johann eben doch ganz andere Wortfelder durchstreift als etwa sein Freund Adolf, Sohn der lokalen NS-Größe Brugger. Bei den Bruggers wird fordernd und kernig gesprochen, niemals sanft und klingend. Aus solchen Differenzen erwächst Johanns im Keim schon dichterischer Drang, landläufige Redensarten überhaupt abzuwehren und solche zu finden, die wahrhaft für ihn selbst gelten – endlich ein Quell des Eigensinns, der Widersetzlichkeit. Schlußsatz des Romans: „Die Sprache, dachte Johann, ist ein springender Brunnen“. Er möge weiterhin reichlich sprudeln.

Martin Walser: „Ein springender Brunnen“. Roman. Suhrkamp-Verlag. 413 Seiten, 49.80 DM.




Zerstörte Sehnsucht nach dem ruhigen Leben – „Amerikanisches Idyll“ von Philip Roth

Von Bernd Berke

Seymour Levov, Sohn jüdischer Einwanderer in New Jersey, wird wegen seiner blonden Haare von allen Leuten nur „der Schwede“ genannt. Er brilliert als Baseball- und Basketball-Crack, wird Ausbilder bei den US-Marines, übernimmt die Handschuh-Fabrik seines Vaters und heiratet eine Schönheitskönigin.

Ein fast schon zu idealtypisches amerikanisches Leben. US-Autor Philip Roth, seit Jahr und Tag für den Nobelpreis im Gespräch, beleuchtet das Phänomen dieses überangepaßten Menschen, der niemals unangenehm auffallen will, in seinem weit ausgreifenden Roman „Amerikanisches Idyll“.

Im Frühjahr hat Roth dafür den Pulitzerpreis bekommen. Schon jetzt liegt das Buch in der schnellen, aber keineswegs schludrigen Übersetzung von Werner Schmitz vor. Leicht kann dessen Aufgabe nicht gewesen sein. Denn der Autor nähert sich, nach einer anfänglichen Baseball-Studie, nicht ohne Umschweife dem eigentlichen Thema. Etwas umständlich wägt er z. B. die Frage, ob ein Roman überhaupt der Wahrheit eines Menschen wie Levov beikommen könne. Manch ein Satz windet sich in dieser Phase über viele, viele Zeilen.

Wenn man diese Barrieren überwunden hat, so wird man freilich mit einer faszinierenden Geschichte belohnt: Als habe er seine anfänglichen Bedenken abgestreift, beginnt Roth nun wirklich zu erzählen. Und wie!

Wenn er etwa die quälenden Gespräche des liberalen Levov mit seiner 10jährigen, sich zunehmend linksradikal gebärdenden Tochter Merry wiedergibt, hält man mitunter den Atem an. Hat man je eine dichtere Fallstudie des Generationenkonflikts im weltweit rebellischen Jahr 1968 gelesen? Merry ist es, die das sorgsam ausbalancierte Leben, das amerikanische Idyll ihres Vaters ins Chaos stüizt. Sie knüpft Kontakte zur Terrorgruppe „The Weathermen“ und zündet aus wahnwitzigem Protest gegen den Vietnamkrieg eine Bombe vor dem Dorfladen. Ein Zufalls-Passant stirbt. Merry taucht in den Untergrund ab, wo sie weitere Menschenleben auslöscht.

Wie fühlt sich der Vater einer Terroristin?

Es ist der fürchterliche Bruch in der bisher so erfolgreichen Assimilierungs-Geschichte der jüdischen Familie. Bisher allseits bewundert („Er ist unser Kennedy“), kann Seymour Levov an sich selbst nur noch als Vater einer Mörderin denken. Wie besessen verfolgt er die Lebensgeschichte seiner Tochter bis zu den frühesten Anfangen zurück und zermartert sich das Hirn: Was habe ich falsch gemacht? Und nun bröckelt Levovs ganzes, bisher so intaktes Weltbild dahin. Verlust des Urvertrauens in den American Way of Life, zumal in diesen Jahren der Watergate-Skandal auffliegt.

Rückblenden in die 40er und 50er Jahre beschwören „bessere Zeiten“ herauf: Aufbruchstimmung nach dem Zweiten Weltkrieg, Blüte des stolzen Handschuh-Gewerbes. Passagenweise gerät der Roman fast zum Lehrbuch dieses Metiers, wie er denn überhaupt manchmal selig in Details schwelgt. Roth gelingt die Gratwanderung: Er weckt Verständnis für Levovs Sehnsucht nach dem normalen, unaufgeregten Leben – und zeigt doch die schreienden Widersprüche zum Elend der Welt.

In allen Nuancen schildert Roth, wie Eltern sich fühlen müssen, wenn ihr Kind als Terroristin gejagt wird. Der Roman zeichnet in oft grandioser Manier die Spuren geschichtlicher Wirren im Leben einzelner Menschen nach, und er reicht auch ins Existentielle. Roth läßt uns zweifeln, ob vor manchen Tatsachen nicht jede Phantasie kapitulieren muß. Und er wirft die Sinnfrage auf, ob das Leben überhaupt „planbar“ ist, oder ob nicht schon ein kleiner Zufall den Zerfall herbeiführen kann.

Philip Roth: „Amerikanisches Idyll“. Roman. Hanser Verlag, München. 463 Seiten. 45 DM.

 




Die Zeche als Erlebnispark – „Zollern II/IV“ ist 100 Jahre alt: Zentrale des Westfälischen Industriemuseums wird aufpoliert

Von Bernd Berke

Dortmund. Schwarzkaue, Lohnhalle, Steiger, abteufen. Solche Bergbau-Begriffe werden selbst im Revier allmählich museal. Am 1.August ist es genau 100 Jahre her, daß der erste Spatenstich für die damals hypermoderne Zeche Zollern 11/IV in Dortmund-Bövinghausen gesetzt wurde. 1966 kam, wie man so sagt, „der Deckel auf den Pütt“. Längst ist das Areal Schmuckstück und Zentrale des auf neun Standorte verteilten Westfälischen Industriemuseums. Und hier tut sich derzeit einiges.

1999 will man mit einer Fülle neuer Attraktionen locken. Industrielandschaft als Freizeitpark? Genau. Aber in der Substanz möglichst authentisch. Die beiden Fördertürme etwa, die das Gelände überragen, wurden zwar aus Gelsenkirchen und Herne geholt, gleichen jedoch dem Jahren abgebauten Exemplar. Grundlegender Bewußtseinswandel: In den 60er Jahren ließ man Abriß oder Zweckentfremdung zu, ließ wertvolle Dinge verrotten. Spätem schaffte man alles mühselig wieder heran, Stück für Stück. ..

Jetzt ist man fleißig dabei, die gesamten Tagesanlagen der Zeche auf Vordermann zu bringen, etwa zur Mitte nächsten Jahres will man mit Um- und Ausbauten fertig sein. Ein neuer repräsentativer Eingang, Restaurant, Museumsshop – alles ist im Werden.

Ausbau an allen Ecken und Enden

Dr. Ulrike Gillhaus, Museumsleiterin der Zeche Zollern, legt Wert auf spannende Vermittlung: „Wir wollen eine Erlebnis-Strecke schaffen.“ Vor allem Kindern werde man keinen Langweiler-Lehrstoff zumuten. Die Kleinen dürfen agieren und z. B. einige Gerätschaften selbst ausprobieren. Mit einer großen Wechselausstellung will man in der früheren Schwarzkaue des allseits aufpolierten Museums aufwarten. Die Schau „Arbeit und Kultur im Bergbau“ (etwa ab Juli 1999) soll Hierarchien auf der Zeche nicht verkleistern, sondern betonen.

Der Direktor, der Steiger, der Kumpel – sie verstanden jeweils etwas anderes unter Arbeit und unter Kultur, zu der auch Freizeit und Sport gehören. Die völlig neu gestaltete Dauerschau wird in den „Malocher“-Alltag der Bergleute einführen und Themen wie Entlohnung, Hygiene und Unfallverhütung aufgreifen. Auch zusätzliche Zeitzeugnisse, wie eine Original-Dortmunder Zechenlok von 1913 (derzeit noch Zierde eines Bochumer Spielplatzes), kommen bald hinzu.

Pioniertat des Denkmalschutzes

Wem nützt die schönste historische Stätte, wird sie nicht mit Leben erfüllt? Ulrike Gillhaus sieht die Zukunft von Zollern nicht nur im Ausstellungs-Betrieb: „Wir wollen überhaupt ein Kulturforum sein.“ Und so überläßt man historische Räume den nichtkommerziellen Vereinen und Initiativen sogar kostenlos. Seit kurzem dient das ehemalige Magazin als Bühne für Theater und Stadtteilfeste, als Tagungszentrum und Übungsraum örtlicher Chöre. Regelmäßig gibt es Veranstaltungen der Volkshochschule oder der Musikschule, und demnächst will sich das Kommunale Kino der VHS mit einer Zweigstelle niederlassen.

Sogar heiraten kann man/frau bald in Zechen-Atmosphäre: Am 28. August wird hier das Jawort bei der ersten standesamtlichen „Ambiente-Hochzeit“ gegeben. So soll es sein: ein Museum, rundum im Alltag der Bürger verankert.

Zeche Zollern II/IV steht übrigens für eine Pioniertat. Schon 1969 wurde die Jugendstil-Maschinenhalle unter Denkmalschutz gestellt – als erster Industriebau der Bundesrepublik. Bald freilich wird man die ganze, inzwischen baufällige Halle Stein für Stein abtragen, reparieren und wieder zusammensetzen müssen – eine Arbeit, die sich über Jahre hinziehen wird. So ist das auf Zollern: Kaum hat man das Bauensemble auf der einen Seite herausgeputzt, muß man auf der anderen schon wieder mit der Pflege beginnen.

Zeche Zollern II/IV, Dortmund-Bövinghausen, Grubenweg 5 (Führungen: 0231/69 61-0). Geöffnet täglich 10-18 Uhr.




„Der Druck ist weg, der Ehrgeiz nicht“ – Der Schauspieler Götz George wird 60 Jahre alt

Von Bernd Berke

So viel Aufhebens ist von einem 60. Geburtstag lange nicht mehr gemacht worden: Im Fernsehen gibt es reihenweise Sendungen mit ihm und über ihn, die Deutsche Presseagentur schnürte ein umfangreiches „Themen-Paket“. Er hat’s aber auch wirklich verdient: Götz George, der heute 60 Jahre alt wird.

Die wirklich dauerhaften Stars des deutschen Kinos und Fernsehens kann man an einer Hand abzählen – neben Mario Adorf gehört Götz George unbedingt zum erlesenen Kreis. Der gebürtige Berliner gilt als überzeugter „Preuße“, was Pünktlichkeit und Arbeitseifer angeht. Doch in diesem Rahmen ist er zu jeder Spontaneität fähig, heißt es.

Sein Rollenspektrum umfaßt gleichsam alle Farben des Regenbogens, er hat sich nie auf eine Couleur festlegen lassen: Bereits 1953, mit 15 Jahren, hatte er sein Kinodebüt – neben Romy Schneider in „Wenn der weiße Flieder wieder blüht“.

Fassbinder drehte ihm den Rücken zu

Ein Sonnyboy also? Von wegen. Wolfgang Staudtes Filme „Kirmes“ (1960) und „Herrenpartie“ (1963), in denen George mitwirkte, setzten sich ernsthaft und kritisch mit der deutschen NS-Vergangenheit auseinander. Dies war ein Thema, das Götz George auch biographisch beschäftigte, hatte sich doch sein Vater, der große Charakterdarsteller Heinrich George, für Nazi-Propaganda einspannen lassen.

Seltsam, daß die deutschen Autorenfilmer Götz George in den späten 60er Jahren völlig aus den Augen verloren haben. Bei Rainer Werner Fassbinder hätte George beinahe eine Rolle bekommen. Doch als er am Treffpunkt erschien, soll Fassbinder ungerührt weiter am Flipper gespielt und dem Schauspieler den Rücken zugedreht haben. Da ging George seiner Wege. Man hat schließlich seine Selbstachtung. Und es gab beispielsweise Karl-May-Filme, die ihn über Wasser hielten.

Doch dann begann seine ganz große Zeit: Am populärsten wurde er hierzulande als „Tatort“-Kommissar Horst Schimanski, den er von 1981 bis 1991 vehement verkörperte. Selbst nicht frei von einer gewissen kriminellen Energie, fluchte sich das „Rauhbein“ des Ruhrgebiets (bei hohem Pommes- und Dosenbier-Verbrauch) meist prügelnd, aber auch mit sentimentalen Anwandlungen, durch 29 Duisburger Fälle.

„Schimi“ als Rebell in der Ära Kohl

Viele kluge Köpfe haben sich schon an Deutungen dieser Figur versucht. Eine These besagt: „Schimi“, das sei einer der letzten Unangepaßten in der Ära Kohl gewesen; einer, der linke Utopien der 60er und 70er Jahre hinter sich gelassen, sich sein soziales Gewissen aber bewahrt habe. Sei s drum. Zahlreiche neuere Erfolge des deutschen Films sind eng mit seinem Namen verknüpft: „Schtonk“ und „Rossini“ beispielsweise.

Seiner schauspielerischen Mittel enorm sicher, wagt sich George auch an heikelste Rollen heran. So spielte er den KZ-Kommandanten Rudolf Höß in „Aus einem deutschen Leben“, den Mörder Haarmann in „Der Totmacher“ – und derzeit steht er als furchtbarer KZ-Arzt Mengele vor der Kamera. „Die Täter sind immer interessanter als die Opfer“, findet George, der sich seine Rollen längst nach Gutdünken aussuchen kann: „Der Druck ist weg, der Ehrgeiz nicht.“

Heute im Fernsehen: „Schimanski – Blutsbrüder“ (Krimi, 1997 – ARD, 20.15 Uhr), »Glückwunsch, Götz George!“ (ARD, 23.00 Uhr), „Blauäugig“ (Politdrama, 1989 – ZDF, 23.45 Uhr).




Iserlohn: Ein Hauch der weiten Welt im Goethe-Institut – abseits der Metropolen

Von Bernd Berke

Iserlohn. 140 Goethe-lnstitute gibt s in aller Welt, wo man die Menschen mit deutscher Sprache und Kultur bekannt machen möchte. Gelegentlich müssen aus Finanznot ein paar Standorte aufgegeben werden, doch in den ganz großen Metropolen bestehen die „kulturellen Botschaften“ weiter. Arbeitet ein solches Institut in New York? Natürlich. Und in Sydney? Selbstverständlich. In Rio de Janeiro? Na, klar. Nun kommt’s aber, was nur wenige wissen: Eine dieser Einrichtungen hat ihren Sitz in Iserlohn.

Munteres Stimmen- und Sprachengewirr an der Stennerstraße, wo das Iserlohner Goethe-Institut über zwei prächtige alte Villen verfügt. Gerade hat die Pause zwischen zwei Deutsch-Stunden begonnen. 130 Sprachschüler aus aller Welt büffeln derzeit hier meist im achtwöchigen Kursus, der 175 Unterrichtsstunden umfaßt. Im Sommer herrscht Hochsaison, denn die meisten Schüler kommen in ihren Ferien. Jene von der Südhalbkugel werden dann in unserem Winter anreisen.

Schon von der ersten Minute an wird ausschließlich Deutsch gesprochen, zuerst mit „Händen und Füßen“, später zunehmend versiert. Und es „hat“ schon etwas, wenn man erlebt, wie sich etwa Japaner und Afrikaner miteinander in unserer Sprache verständigen.

Leute aus allen Ländern der Erdkarte waren hier schon zu Gast, auch – müßige Testfrage – von den Tonga-Inseln. Warum gerade Iserlohn im Jahr 1960 als Standort auserkoren wurde, vermag auch der Leiter des Institutes, Dr. Günther Hasenkamp (41), nicht zu sagen. Nach Goethe-Lehr- und Wanderjahren, die ihn u. a. nach Budapest und Kalkutta führten, verschlug es den Anglisten und Slawisten erst im Vorjahr hierher.

Klassiker in allen Ehren – aber es zählt der Alltag

Die große Zeit des Instituts um 1990, in der bis zu 20 Lehrkräfte auch zahlreiche Aussiedler aus Osteuropa betreuten, hat er nicht mehr erlebt. Heute sind neun Lehrer hier tätig, denn die Förderung der Aussiedler-Kurse ist stark zurückgefahren worden.

Im Foyer steht zwar unübersehbar eine Goethe-Büste, und man hält den Klassiker auch sonst in hohen Ehren – als Schöpfer des Begriffes „Weltliteratur“ etwa, ganz im Sinne eines gleichberechtigten Gebens und Nehmens zwischen den Kulturen. Doch im Sprachunterricht legt man Wert auf die Verständigung in Alltagssituationen. Den „Faust“ kann man ja später immer noch lesen.

Meist sind es Stipendiaten oder Mittelschichtskinder, Studenten oder bereits Berufstätige, die sich in Iserlohn mit der deutschen Sprache befassen. Denn die Kursgebühren (2760 DM fürs achtwöchige Intensiv-Training) kann nicht jeder aufbringen, obwohl sie –umgerechnet auf die Stundenzahl – maßvoll sind.

Erlebnis-Programm in den größeren deutschen Städten

Kein Kurs ohne Begleitprogramm. Hasenkamp: „Die Schüler wollen ein Erlebnis-Deutschland kennenlernen“. Der Abstecher nach Berlin oder Frankfurt gehört deshalb ebenso dazu wie etwa die „Stadtrallye“ durch Iserlohn, der Besuch von Ausstellungen in ganz Westfalen, der Burg Altena oder der Disco in Dortmund. Und kürzlich saßen sie in Iserlohn multikulturell vor dem Kneipen-Fernsehschirm, um die Spiele der Fußball-WM zu sehen. Deutsch lernen von Heribert Faßbender…

Gute Erfahrungen hat man in Iserlohn mit der „Tandem“-Bildung gemacht, will heißen: Es kann sich jeder beim Goethe-Institut melden, der etwa sein Italienisch oder auch Chinesisch aufpolieren möchte. Irgend eine passende Sprach- und Hobby-Partnerschaft findet sich so gut wie immer.

Mit einem Jahresumsatz von rund 2,5 Mio. Mark ist das Iserlohner Goethe-Institut auch ein Wirtschaftsfaktor der Stadt. Vom Auswärtigen Amt gibt es keinen Zuschuß. Alles wird selbst erwirtschaftet.

Goethe-lnstitut Iserlohn, Stennerstraße 4.

_______________________________________________________

Nachtrag: Die Iserlohner Zweigstelle des Goethe-Instituts wurde zum 31. Dezember 1999 geschlossen – rund eineinhalb Jahre nach Erscheinen des obigen Beitrags.




Piacssos Lust am Wandel – Museum Bochum zeigt 140 Lithographien des Spaniers

Von Bernd Berke

Bochum. Bezwingende Kraft des Genies: Vor Jahr und Tag hat Bochums Museumsdirektor Dr. Hans Günter Golinski an einem Seminar teilgenommen, in dem ein bißchen am Weltruhm des Pablo Picasso gekratzt werden sollte. Mögliches Motto: „Der überschätzte Spanier“. Doch gegen das kaum überschaubare Jahrhundertwerk kam man mit rebellischem Sinn und Krittelei nicht so recht an. Und jetzt ist Golinski heilfroh, daß er eine Picasso-Schau in seinem Hause zeigen kann.

Die Museumsräume mußten eigens auf unter 50 Lux abgedunkelt werden, so empfindlich sind die 140 Blätter aus den Jahren 1925 bis 1960. Beim Aufbau trug Golinski ständig das Lichtmeßgerät bei sich. Die druckgraphischen Schätze gehören schließlich der Westdeutschen Landesbank und den Westfälischen Sparkassen, die die insgesamt 750 Arbeiten umfassende Kollektion des holländischen Druckereibesitzers Huizinga erworben haben und sie ab 2001 dauerhaft in Münster präsentieren wollen.

Ein Hauch vom südfranzösischen Lebensgefühl

Der Bochumer Museumsdirektor gewinnt dem Lichtmangel einen besonderen Reiz ab: Ein wenig „wie hinter halb geschlossenen Fensterläden in Südfrankreich“ könne sich der Besucher hier fühlen. Nun ja. Etwas anders ist’s dort unten freilich schon.

Doch die zumeist dort entstandenen Kunstwerke entschädigen fürs entgangene reale Flair des sonnigen Südens. Picasso erweist sich hier abermals als grandioser Einsammler von Anregungen aller Art, die er seinem schier grenzenlosen Bildkosmos einverleibt. Auf bestimmte Formensprachen wollte er sich nicht festlegen. Gott, so sinnierte er einmal, habe Giraffen und Elefanten geschaffen, ohne auf einen einheitlichen „Stil“ zu achten.

Das Verfahren der Lithographie (Flachdruck vom Stein) kam seinem flackernden Drang zur spontanen Schaffensweise entgegen. Hinzu kam die Zeitstimmung: Nach der Begegnung mit dem Drucker Fernand Mourlot kam sich Picasso ab 1945 immer öfter auf die Lithographie zurück.

Der Krieg war vorbei, man atmete tief durch und wollte nun jede Freiheit genießen. Etliche Arbeiten haben den Charme des skizzenhaften Anbeginns aller künstlerischen Schöpfung, nur wenige sind „klassisch“ streng ausgearbeitet. Und doch darf kein Strich hinzugefügt oder entfernt werden, das vermeintlich „Unfertige“ ist auf seine Weise vollendet. Fortwährend befindet sich das Werk in experimenteller Bewegung: Man sieht in Bochum oft verschiedene Zustände ein- und desselben Motivs, Stimmungen wechseln gelegentlich mit der Tageszeit. Alles fließt, alles ist im Wandel.

Thema und Variationen: Eine ganze Wand ist mit (Friedens)-Tauben gefüllt, ganze Raumfluchten mit Frauengesichtern, oft wie Sonnen oder Blumen wirkend, wie es schönen Frauen zukommt (zumal den Lebensgefährtinnen Jacqueline Roque und Françoise Gilot). Auch findet man subtile Szenen zwischen Maler und Modell – gleichermaßen künstlerische wie erotische Selbstvergewisserungen, meist unterschwellig spannungsgeladen, selten erlöst und erfüllt.

Vielfältige Mischungen aus Angst und Lust treten da zutage. Der Faun (auch so ein Lieblingsmotiv) spielt die Flöte nicht nur lockend, sondern so, als wolle er sich zugleich Mut machen und böse Geister verjagen. Übrigens sind in Bochum keine sonderlich drastischen sexuellen Darstellungen zu sehen, die es von Picasso zuhauf gibt. Selbst Frauenakte wirken in dieser Zusammenstellung eher vergeistigt.

Verblüffende Reduzierungen aufs Wesentliche kann man auch anhand der Stierkampfbilder studieren. Aus wenigen Strichmustern ergeben sich aufregende Vogelperspektiven auf jene Arenen, in denen sich das Drama zwischen Leben und Tod abspielt.

Pablo Picasso, Lithographien. Museum Bochum, Kortumstraße 147 (Tel. 0234 / 910-2237). Bis 30. August. Di/Do/Fr/Sa 11-17, Mi 11-20, So 11-18 Uhr. Begleitbuch 39 DM.




Der Kommissar sehnt sich nach heiler Welt – Donna Leons neuer Krimi führt die Bestsellerliste an

Von Bernd Berke

Eine US-Amerikanern mit ausgesprochenem Faible für Italien steht an der Spitze der deutschen Bestsellerliste: Donna Leon mit „Sanft entschlafen“. Was ist dran an diesem Krimi?

Suor Immacolata ringt mit ihrem Gewissen. Die junge Frau, bis vor kurzem Nonne und immer noch gläubig, will kein falsches Zeugnis ablegen wider ihre Nächsten, aber dann wendet sie sich doch an Kommissar Brunetti: Ausgerechnet in jenem Altenheim des Ordens, in dem auch Brunettis Mutter betreut wird, haben sich rätselhafte Todesfälle gehäuft. Und es sieht so aus, als seien die Verstorbenen zuvor gedrängt worden, ihr Hab und Gut der Kirche zu vermachen. Wer weiß, wer weiß…

Brunetti ist eine eingeführte Figur, Donna Leon hat bereits fünf Romane über die Fälle des beleibten Ermittlers vorgelegt, die allesamt in Venedig spielen. Eigentlich dem Wohlleben zugeneigt, ist Brunetti doch von einem Gerechtigkeitssinn beseelt, der ihn aus müßigen Tagträumen oder kulinarischen Vergnügungen reißt. Vollends zornig wird er, wenn er an Augiasställe wie die korrupte Verwaltung oder das marode Gesundheitswesen Italiens denkt.

Im vorliegenden Falle kann er aber nur äußerst diskret ermitteln. Schon ein falscher Zungenschlag kann alles verderben. Denn zum einen ist alles zunächst nur vager Verdacht, zum anderen muß Brunetti hohe Kleriker und adlige Herrschaften mit Samthandschuhen anfassen. Bei den ersten Befragungen kommt denn auch kaum etwas heraus.

Ein Geheimbund, mit dem man sich nicht anlegen sollte

Der Kommissar ist drauf und dran, die Akten zu schließen. Hirngespinste einer Frau, die im Kloster etwas weltfremd und überängstlich geworden ist? Doch dann wird just diese Suor Immacolata, die jetzt wieder bürgerlich Maria Testa heißt, Opfer eines schweren „Unfalls“, und kurz darauf kommt ein Zeuge in seinem Badezimmer zu Tode. Das kann wohl kein Zufall sein. Tatsächlich führt die Fährte alsbald zu Fällen von Kindesmißbrauch und zu einer erzkonservativen Geheimorganisation katholischer Fundamentalisten, mit der man sich nicht ungestraft anlegt.

Als Leser begleitet man diesen Brunetti bei seinen Nachforschungen gern. Beruflich mit einer verderbten Welt konfrontiert, die ebenso faulig ist wie das Brackwasser in Venedigs Kanälen, hat dieser Kommissar selbst etwas liebenswert Anheimelndes, verkörpert er doch eine Ahnung davon, was heile Welt bedeuten könnte. Denn er ist Fixstern in einem Mikrokosmos gelingender menschlicher Beziehungen – ganz so, als sei die Utopie des richtigen Lebens nur einen Schritt entfernt.

Wenn nur die Spitzen der Gesellschaft nicht wären…

Mit seiner feministisch und sozialistisch angehauchten Frau Paola führt er auch nach vielen Jahren eine gute Ehe nach dem Leitsatz „Was sich liebt, das neckt sich“; seine Kinder Raffi und Chiara sind recht wohlgeraten, seine Sekretärin ist stets charmant und überaus klug, die übrigen Mitarbeiter enorm diensteifrig. Nur: Sobald es höher hinauf geht zu den Gipfeln der venezianischen Gesellschaft, weht ein eisiger Wind.

Ein Krimi in (unaufdringlich) linksliberaler Tradition also, geschrieben auf beachtlichem Niveau und bis in bizarre Nebenrollen hinein auf prägnante Charakterisierungen bedacht. Kleine Besessenheiten der Figuren werden ebenso ironisch abgehandelt wie tiefere Einsichten, etwa über die Habgier und die Vergänglichkeit irdischen Besitzes.

Bemerkenswert, daß ein solch ambitioniertes Buch Platz eins unserer Sellerliste erklimmt. Keine Nahrung für Kulturpessimisten: Wo sich Werke z. B. von Donna Leon, Javier Marias, Peter Hoeg oder Umberto Eco so gut verkaufen, dürfte es um die Lesekultur nicht gar so schlecht bestellt sein, oder?

Donna Leon: „Sanft entschlafen“. Kriminalroman. Diogenes-Verlag. 336 Seiten, 39 DM.




Beim Fußball singt es sich nochmal so schön – Musikwissenschaftler erforschen das Stadion-Phänomen

Von Bernd Berke

Als Borussia Dortmund am 7. Dezember 1996 beim 1. FC Köln antrat, gewannen die Westfalen nicht nur auf dem grünen Rasen (3:1), sondern auch sängerisch: 25 verschiedene Lieder stimmten die Dortmunder Fans im Lauf des Spiels an, die Domstädter brachten es nur auf 14 – schon damals ein abstiegsverdächtiger Wert. Von wegen sangesfrohe Rheinländer!

Woher wir das wissen? Vom Fachmann. Der Kölner Musikwissenschaftler Guido Brink (Jahrgang 1968) untersucht das Phänomen der Fußball-Fangesänge seit Jahren. Jetzt haben er und der Würzburger Musikprofessor Reinhard Kopiez die Resultate im Buch zusammengefaßt. Es kommt gerade recht zur Fußball-WM.

Vier bis neun Takte sind genug

Brink zur WR: „Im Grunde müßte man bei jedem Spiel einer Liga-Saison reinhören.“ Doch pro Begegnung wären zwei Wissenschaftler im Einsatz, um dann wochenlang ihre Erkenntnisse auszuwerten.

Brink und Kopiez standen beim besagten Match und beim Dortmunder Rückspiel in den Fanblöcken. Sie hielten die akustischen Früchte mit Digital-Recordern fest. Neben Strophen und Refrains, oft in Kneipe, Bus oder Bahn eingeübt und im Stadion von „Ober-Fans“ angestimmt, kamen Kurzgesänge (knappe Tonfolgen auf Namen wie „Aaan-dy Möl-ler“) und wortlose Rhythmen in Betracht.

Die Forscher fanden heraus, daß sich Fußballfans gern beim Schlager der 70er Jahre, Volksliedern, anglo-amerikanischen Traditionals („When the Saints…“, „Over in the Gloryland“) und Popsongs der letzten Jahrzehnte bedienen. Stets gilt: Vier bis neun Takte sind genug. Die Melodien müssen eingängig sein, sie sollten für „Endlosschleifen“ taugen und dürfen keine sonderlichen Höhenschwankungen haben. Sogar den maximalen Oktaven-Umfang, bevorzugte Tonleitern und das mittlere Metronom-Tempo haben die Forscher gemessen.

Beileibe keine Neandertaler-Kultur

Die Vorlagen werden mehr oder weniger originell umgetextet, wobei gehässige Schmähgesänge (z. B.: „Ihr seid Kölner / asoziale Kölner“ (nach Bonnie Tylers „It’s a Heartache“) oft Vorrang genießen. Brink flachst: „Böse Menschen haben viele Lieder.“ Auf den Stehtribünen werde eben Dampf abgelassen, das Stadion sei „keine Kuschelecke“. Aber: Um eine primitive „Neandertaler-Kultur“ handele es sich nicht, sondern um einen der letzten noch nicht kommerzialisierten musikalischen Freiräume. Der Fangesang sei zudem eine kultische Handlung, mithin ein Stück Sinngebung. Hört, hört!

Brink tippt auf Bayern München als deutschen Meister dieser Disziplin. Bayern-Fans hätten in einem ganz normalen Spiel 53 verschiedene Melodien abgesungen. Ein Grund: „Die haben einen versierten Trompeter, der die Lieder anstimmt.“ Sakra!

Die Geburtsstunde heutiger Fangesänge läßt sich ziemlich genau markieren: Ende 1963 sangen sie beim FC Liverpool „You’ll never walk alone“, den Hit von Gerry & The Pacemakers. Bei der WM in England (1966) kam dann jener Klatsch-Rhythmus auf, der auch Dave Dees Song „Hold Tight“ antrieb.

Von den Beatles zu den Bayern

Noch Beispiele gefällig? Es gibt vielseitig verwendbare musikalische Steilpässe. Auf den Refrain des Beatles-Klassikers „Yellow Submarine“ singt man bundesweit „Zieht den Bayern / die Lederhosen aus“ oder auch „Eins-zwei-drei und wieder mal vorbei!“ Die armen Kölner wurden zur selben Tonfolge so verulkt: „Ihr seid nur / ein Karnevals-Verein“. Auch der Gassenhauer „Go West“ von den Pet Shop Boys ist variabel: In Gelsenkirchen singt man darauf das pathetische „Steht auf. wenn ihr Schalker seid“, in Dortmund das triumphale „Ole, hier kommt der BVB“. Und welchen Reim machen wir uns nun auf Bertis Buben?

Reinhard Kopiez/Guido Brink: „Fußball-Fangesänge“. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg (mit Demo-CD), 39,80 DM / Das ARD-Fernsehen sendet heute um 23.00 Uhr einen Beitrag zum Thema.




Chiffren der Leiblichkeit – Rosemarie Trockels Paare

Von Bernd Berke

Düren. „Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei“, heißt es schon in der Bibel. Daß der junge Mann alsbald sein Elternhaus verlassen und „einem Weibe anhangen“ werde, ist gleichfalls in der Heiligen Schrift überliefert. Mit Freuden und Leiden der Paarwelt haben sich seitdem Heerscharen von Künstlern befaßt.

Letztgültige Auskunft ist auf diesem Gebiet natürlich nie zu erhoffen. Drum ist’s ja ein ewiges Thema. Mit ihrer Ausstellung „Paare“ reiht sich denn auch die 1952 in Schwerte geborene documenta-Teilnehmerin Rosemarie Trockel (die in Düren just den mit 25 000 DM dotierten Preis der Günther-Peill-Stiftung erhält), in die Phalanx der Fragenden ein. Doch sie fragt so nachdrücklich wie nur wenige.

Der Mensch als kuschelndes, kosendes Wesen

Die ausgestellten Fotografien und Zeichnungen sowie ein Videofilm zeigen immer wieder Paare, Paare, Paare; meist in der landläufigen Version weiblich – männlich, im Einzelfalle gleichgeschlechtlich. Auf den Fotos sind sie durchweg nackt und in mancherlei Positionen der Nähe und Umschlingung zu sehen. Der Mensch als kuschelndes, kosendes Wesen. Auf Gedeih und Verderb.

So illusionslos genau und an entscheidenden Punkten doch diskret ist der Blick, daß er jeden Voyeurismus weit hinter sich läßt. Genitalien bleiben verborgen. Es geht hier ja auch weniger um erotisches Verlangen, erst recht nicht um sexuelle Turnübungen, sondern vielmehr um das Aufspüren und Festhalten kostbarer Momente menschlicher Intimität überhaupt. Die drückt sich eben mit Haut und Haaren, Gesten und Gliedmaßen aus – und sie wirkt in der Summe wie eine Geheimschrift der Leiblichkeit. Es sind Chiffren einer Sprache, die uns zutiefst berührt.

Selig, zärtlich – und schon preisgegeben

Kostbare Momente allein? Das nun auch wieder nicht. Die geradezu schmerzhaft deutlich von einer konkreten Umgebung freigestellten, ins umgebende Weiß „ausgesetzten“ Leiber dürften, all ihrer innigen Zweisamkeit zum Trotz, auch gemeinsam vereinzelt oder gar gefährdet sein. Dabei hat doch Rosemarie Trockel, in deren Bildern sich Furcht und Hoffnung genau die Waage halten, nur frischverliebte Paare für ihre Studien ausgesucht. So selig, so zärtlich – und schon so preisgegeben.

In den Zeichnungen führt Rosemarie Trockel das Thema weiter. Seltsame Mutationen, Durchdringungen und Symbiosen sind zu besichtigen. Mann und Frau sind beispielsweise durch ein gemeinsames Ohr miteinander verbunden, oder sein Bartwuchs geht unmittelbar in ihren Haarschopf über. Beide wirken nicht liebend verdoppelt, sondern jeweils wie versehrt. Andere Männerfiguren tragen die Bildnisse ihrer Partnerinnen als unabweisbare Brandzeichen des Schicksals auf den Körpern – übermächtige Bindungskraft, die eine Art Resignation nach sich zieht.

Und die Alternative? Mindestens ebenso schmerzlich: „I am alone“ (Ich bin allein / einsam) lautet der Aufdruck auf dem T-Shirt eines Mannes mit leerem Blick. Kein selbstbewußter Single, fürwahr. Eine durch ein stilisiertes Schlüsselloch gesehene Frau hat derweil ihren Pulli vorn hochgekrempelt: „I love my…“ steht darauf – und gleich unter dem Schriftzug wogen ihre Brüste. Traurige, absurde Niederungen der Selbstanpreisung auf dem Liebesmarkt…

Rosemarie Trockel: „Paare“. Leopold-Hoesch-Museum. Düren, Hoeschplatz. Bis 30. Juli, Mi-So 10-13 und 14-17 Uhr, Di 10-13 und 14-21 Uhr.




In Mülheim mag man’s gern monströs: Dea Loher erhält für „Adam Geist“ den Dramatikerpreis

Von Bernd Berke

Mülheim/Ruhr. In Mülheim mag man’s gern monströs: Die sechsköpfige Jury des Dramatikerwettbewerbs „stücke 98″ plagte sich am Ende nur noch mit den zwei längsten und sperrigsten von acht Beiträgen herum. Zuvor hatte man alles halbwegs Bekömmliche aussortiert. Gewogen und zu leicht befunden.

Gegen 1 Uhr nachts stiegen die imaginären Rauchzeichen auf, und Moderatorin Sigrid Löffler konnte das Resultat verkünden: Dea Lohers fast fünfstündige Passionsgeschichte „Adam Geist“ wurde mit fünf Jury-Stimmen gekürt, Elfriede Jelineks fünfeinhalbstündiges „Sportstück“ kam mit einem Votum auf Rang zwei. Da half es wenig, daß Frau Jelinek in der Publikumsgunst an den Abstimmungsurnen ganz vorn lag.

Die Jurorin Ursula Rühle (Dramaturgin in Köln) hatte vielleicht das entscheidende Stichwort in die Debatte geworfen, als sie sich generell für Stücke aussprach, die „das Theater überfordern“. Und die Zuschauer nicht minder, möchte man seufzend hinzufügen. Denn der über alle Maßen anstrengende Leidensweg des „Adam Geist“ kommt ohne jede Entwicklung aus. Es werden lediglich Stationen der Peinigung abgeschritten. Wenn man nicht schon zur Pause die Stätte des Mißvergnügens verlassen hatte (was etliche Zuschauer vorzogen), so sah man hier der ausgiebigen Zerstörung einer Figur zu, die eben von vornherein keine Chance hat.

Sei s drum, Mitgefühl ist nicht erwünscht, ja geradezu verboten: Andreas Kriegenburg vom Schauspiel Hannover meinte zu seiner „Adam Geist“-Inszenierung, Mitleid erwachse nur aus Bequemlichkeit, es habe –man beachte – keine „revolutionäre Dimension“, man solle derlei Rituale dem Fernsehen überlassen, das Theater habe anderes zu tun. Hört sich ein wenig töricht an, oder?

In der Gesamtschau aller acht Beiträge fiel die stark monologische, gelegentlich gar autistische Struktur der meisten Stücke auf. Der Verzicht auf Handlung ist fast schon die Regel, und man horcht bereits gespannt auf, wenn Figuren einmal miteinander sprechen, wenn sich dramatische Konflikte in Rede und Gegenrede entfalten. Statt dessen gab’s oft wuchtige Symbolik, weitschweifige Litaneien und Selbst-Erklärungen, gelegentlich mit lyrischer, aber eben kaum theatralischer Qualität.

Noch eine harte Maßnahme aus Hannover

Immerhin konnte sich diesmal niemand über männliche Dominanz beschweren: Als sei eine Quotenregelung in Kraft, stammten jeweils vier Stücke von Frauen (Loher, Jelinek, ~ Kerstin Specht, Simone Schneider) und vier von Männern (Oliver Bukowski, Volker Ludwig, Daniel Call, Albert Ostermaier). Bezeichnende Einlassung der Jury: Oliver Bukowskis Text „Nichts Schöneres“, der (ohne Anbiederung) vielleicht publikumswirksamste von allen, werde gewiß an vielen Häusern aufgeführt, er habe mithin keine Preis-Förderung mehr nötig. So kann man s auch wenden .. .

Vor derJury-Diskussion war mit Albert Ostermaiers „Tatar Titus“ (erneut eine harte Maßnahme des Schauspiels Hannover) der letzte Beitrag über die Bühne gegangen, auch dies überwiegend ein ungebremster Monolog der Sprach-Zertrümmerung. In einem gottlob nur einstündigen Konzentrat wird (Shakespeares „Titus Andronicus“ folgend) die Anfälligkeit von Autoren für die Macht, die prekäre Allianz zwischen Schwert und Schrift erwogen, genauer: schwerwiegend gewälzt.

Ostermaiers (unbewältigtes) Vorbild Heiner Müller lugt durch jede dritte Zeile. Viel Ausdruckswille, wenig eigene Substanz. Als Lesetext mag s angehen. Doch auf der Bühne ist’s Anti-Drama und Theaterentleerungs-Theater, das nur dem eigenen Klang nachhorcht. Wäre nicht der Darstelle! Hannes Hellmann gewesen, der die uferlosen Textflächen hie und da zur Reibung brachte, so hätte man noch mehr gelitten.




Der geile Drang des Menschen – Jürgen Kruse inszeniert Goethes „Urfaust“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Mephisto meint es ehrlich mit der Gottverleugnung. Muß er Worte wie „heilig“ oder „beten“ aussprechen, so beginnt er zu krächzen und die Silben herauszuwürgen, daß er einem fast leidtut. Wenn dann in Jürgen Kruses Bochumer „Urfaust“-Inszenierung jene Zeilen der Rolling Stones erklingen, welche „Sympathie mit dem Teufel“ bedeuten, so summt man eben leise mit. Mh, mh, mh.

Goethes erst 1887 in der Abschrift eines Hoffräuleins entdeckter „Urfaust“ enthält bereits die meisten Hauptmotive des „Faust I“, freilich in roherer, noch nicht klassisch geglätteter Form: Einmal geistert in Bochum eine gravitätische Figur daher (es mag der alte, saturierte Geheimrat Goethe sein) und hält dem noch so ungeschlachten Faust angewidert den Mund zu.

Es fehlt noch die finale Rettung

Es fehlen im „Urfaust“ noch der „Prolog im Himmel“ sowie der ausdrückliche Teufelspakt, und wenn am Ende Gretchen „gerichtet“ ist, widerruft noch keine göttliche Stimme von oben: „gerettet“. Goethes frühes Drama ist nun mal erdnäher. Das muß Jürgen Kruse gereizt haben.

Ein übergreifendes „Konzept“ waltet hier nicht, es wäre Kruse wohl zu bestimmend. zu eindeutig. Statt dessen das schöne Chaos und die Lust, etliches spontan aufzugreifen. Die Bühne (Steffi Bruhn) sieht aus wie ein unaufgeräumtes, mit allerlei Plunder vollgestopftes Kinderspielzimmer.

Am Bühnenhimmel schweben Fischskelett, Sonnenblume, Erdbeere und Puppen. Weinkrüge und Madonnenfiguren säumen den vorderen Bühnenrand. Eine Anhäufung, in der man allseits rasch vielerlei Theater-Alchemie erproben kann. Wozu haben wir denn jetzt grad mal Lust? Nicht die schlechteste Art, diesen Text aufzubereiten. Zumal Kruse ihn keineswegs wahllos wegwerfend ausschlachtet, sondern weitgehend integer darbietet.

Simultan sind die Sphären sofort da. Während Selbstquäler Faust (Wolfram Koch) links in seinem Studierzimmer den öden Weltenlauf bedenkt („Habe nun, ach…“), sieht man rechts die Kindfrau Gretchen, mit Fäden buchstäblich ganz versponnen in ihr kleines Unschulds-Reservat.

Mit Teufels Beistand Weiber und Länder zerstörend erobern

Auch die fühllose Mitwelt ist samt Geistern stets präsent, sie beobachtet das Geschehen meist von einem Umlauf aus, der sich als Halbrund über die Bühne zieht. Lemurenhafte Wesen wie vom Planeten der Affen mischen sich drein, wie denn überhaupt Jürgen Kruse wieder seinem Hang zu populärer Kultur zwischen Comic, Rock (erneut eine Auswahl der Sonderklasse, gebt ihm eine Radiosendung!) und Horror frönt. Seine Fangemeinde lechzt danach.

Aufs Zelt hat jemand eine primitive Erdkarte gekrakelt, ein wabbeliger Kontinent firmiert kurzerhand als „Busch“. Da haben wir wohl das Weltbild des unbehausten Faust, des Kolonialisten, der mit Teufels Beistand Länder wie Weiber zerstörend erobert. Faust mag Mephisto noch so als „Tier“ beschimpfen, er hat ihn schließlich gerufen und angestachelt. Wer ist hier das Ungeheuer? Der faustische Mensch in seinem dunklen geilen Drang.

Auch Gretchen ist nicht gar so himmelsrein: Als sie Fausts Schmuckgeschenk entdeckt, läßt sie die Perlen lüstern in den Mund gleiten. Mephisto (Sabine Orléans) tritt beileibe nicht als dürrer Versucher in Erscheinung, sondern als properer Kumpan; er hat – mit Verlaub – sinnliches Volumen. Und er ist die einzige Figur, die ihrer selbst inne bleibt.

Wie’s ausgeht, weiß man ja. Das geschändete Gretchen („Meine Ruh ist hin…“) wird wegen Mutter- und Kindsmord in den Kerker geworfen. Judith Rosmair, greulich bluttriefend, steigert Gretchens Wehklagen zum furios-wahnhaften Finale zwischen hexenhaftem Fauchen und Engels-Singsang. Kein Exorzist, der dieser Besessenen helfen könnte, aber ein Premierenpublikum, das frenetischen Beifall spendete.

Termine: 3./4./12./13. Juni Karten: 0234/3333-111.




Leibesübung für den Krieg – Elfriede Jelineks „Sportstück“ beim Mülheimer Dramatikerwettbewerb

Von Bernd Berke

Mülheim. Freunde militärischer Zucht könnten ihre Freude an dieser Inszenierung haben: Regisseur Einar Schleef muß bei den Proben ein echter Schleifer gewesen sein, so zackig hat er die Hundertschaft der Mitwirkenden in Elfriede Jelineks „Ein Sportstück“ gedrillt.

Die fünfeinhalbstündige „Kurzfassung“ des Stücks, das bei manchen Theaterfreaks mittlerweile Kultstatus genießt, ging am Sonntag ins Rennen um den Mülheimer Dramatikerpreis. Ein Ereignis war’s allemal.

Gellende Trillerpfeife, markiger Schrei: „Achtung – fertig – los!“ So werden die ausgiebigen Haßtiraden auf jedwede Ertüchtigung gestartet, denn: Im Sport, so findet Frau Jelinek, wird der Körper als Hochleistungsmaschine gepanzert und zugerichtet für jederlei brutale Konkurrenz, er wird letzten Endes kriegstauglich gemacht. Sport ist Mord, das Trikot eine Uniform. Ob dies in Zeiten von Computer-Schlachten noch das einzige Problem ist, sei dahingestellt. Immerhin geht’s bei Jelinek auch um den technikgerechten Umbau des Leibes.

Die Autorin breitet eine reichhaltige Beweisführung zur Gewaltsamkeit gestählter Körper aus. Familienpsychologische Aspekte (Mütter verlieren ihre Söhne an Sport und Militär, wie denn überhaupt Frauen meist Leid-Tragende sind) kommen ebenso in Betracht wie rabiates Fan-Wesen, Aufpeitschung durch Medien und Zeitgeist-Moden wie diverse Fitness-Umtriebe. Und immer droht der Faschismus.

Jelineks Text besteht vornehmlich aus einer Reibung gedehnter Monologe, vermutlich ist er eher zum Lesen als für die Bühne geeignet. Die präzis komponierte und formstrenge Sprech-Partitur besitzt freilich enorme rhythmisch-lyrische Qualitäten und setzt durch einige Kalauer hie und da erstaunlich selbstironische Akzente.

Auch das Theater hat seine Südkurve

Die rhythmischen Elemente hat Einar Schleef, den sich Frau Jelinek als Regisseur am Wiener Burgtheater gewünscht hatte (bevor sie ihn verwünschte), ins Monströse gesteigert. Die Hauptlast der Textmassen stemmen bei ihm vielköpfige Chöre, die zumeist im Turndreß anzutreten haben. Deren Bewegungs- und Sprecheinsätze klappen auf die Hundertstelsekunde genau.

Also vernimmt man ungeheure Dauer-Salven, als sei’s ein ratternder Rap-Gesang. Und es fließt so viel Schweiß, daß man wahrlich von Theater-Spitzensport reden kann. Die längste Chorpassage dauert ohne Atempause fast 40 aggressionsgeladene Minuten, sie provozierte in Mülheim zunächst höhnisches Klatschen und „Aufhören! „-Rufe, hernach aber auch Jubel wie im Stadion. Das Theater hatte diesmal seine Südkurve.

Freilich geht die Entlarvung faschistoider Züge des Sports bei Schleef einher mit Anfälligkeit für faszinierende Momente dessen, was im Stück gegeißelt wird. Einige Szenen haben einen Beigeschmack von „Reichsparteitag“. Hoffentlich sind nicht zu viele Auslandsgastspiele geplant. Ohne Sprachkenntnisse könnten sie andernorts denken, daß „es“ bei uns wieder losgehe…

Einmal bleibt der Chor ganz stumm

Allerdings erschöpf sich die Inszenierung, die Jelineks Text machtvoll hervortreibt, dann aber wieder unter sich begräbt, nicht nur in solchen zwiespältigen Exerzitien. Sie erinnert phasenweise auch an eine gravitätische Messe nach exakten liturgischen Vorgaben, verarbeitet Einflüsse neuen Tanztheaters, schaufelt zusätzliche Materialien (Kleist, Hofmannsthal) herbei und entwirft grandiose Szenenbilder.

Ja, der Abend hat sogar meditative Momente. So sitzt uns der Chor, als gehöre er einer eingeschworenen Sekte an, einmal in schwarzer Einheitskleidung minutenlang stumm gegenüber. Ein Psycho-Trick, mit dem die Zuschauer auf eigenes Denken und Verhalten verwiesen werden? Da haben wir ihn nun, den Grübelstoff für die nächsten Wochen. Man darf gespannt sein, wie die Jury den Text bewertet.




Chaos in Küche und Kneipe – Stücke von Volker Ludwig und Kerstin Specht beim Mülheimer Dramatikerwettbewerb

Von Bernd Berke

Mülheim. Oft ist das Theater seiner Epoche voraus, doch manchmal hat es Mühe, mit dem Lauf der (technischen) Welt Schritt zu halten. Da keimt die Versuchung, Zeitnähe durch Äußerlichkeiten zu bekunden. Nimmt man die Auftakt-Ereignisse des Mülheimer Dramatikerwettbewerbs „stücke 98″ zum Maßstab, so geschieht dies vorzugsweise durch den Bühnen-Einsatz von Mobiltelefonen.

Sowohl in Volker Ludwigs klotzigem Berliner Szene-Musical „Café Mitte“ (Grips-Theater, Regie Rüdiger Wandel) als auch in Kerstin Spechts unaufdringlich frauenbewegtem Küchenmärchen „Die Froschkönigin“ (Staatstheater Stuttgart, Regie Markus Trabusch) zirpen die Handys. Ludwig gewinnt dem Auftritt telefonierender Wichtigtuer die wohl beste Gesangs- und Tanznummer des Abends ab, bei Specht vibriert der schnurlose Quälgeist so unvermittelt, daß manch ein Zuschauer schuldbewußt in die Jackentasche greift.

Trostlosigkeit mit Staubsauger

Lange vor dem Handy ertönt in „Die Froschkönigin“ das Geräusch des Staubsaugers als Signatur trostlosen Hausfrauendaseins. Mutter (Helga Grimme) macht mal wieder sauber. Dann wickelt sie behutsam das Kabel auf, stellt die Küchenstühle zurecht, steigt auf einen hinauf – und legt ihren Hals in einen Strick, der von der Decke baumelt. Doch nicht einmal das klappt.

Das Stück versinkt nun keineswegs im Sumpf der Depression, sondern schnurrt ab wie eine Spieluhr. Gewiß steckt Sarkasmus dahinter, doch leichtfüßig hangelt sich Kerstin Specht an Grimms Märchen vom „Froschkönig“ entlang. Vollends verdichtet wird der Stoff freilich nicht, es bleibt bei schön beiläufig auf gereihten Miniaturen.

Einfach Frau sein ohne Last

Die verwitwete Mittvierzigerin bedient ihre beiden unverschämten Nesthocker-Kinder und jenen Faulpelz Stefan König (Klaus Weiss), der sich bei ihr einnistet. Auf sein Geheiß sorgt sie als Hellseherin fürs Einkommen. Wüßte sie doch auch fürs eigene Leben Rat! Ihr Tagtraum: „einfach Frau sein“ ohne Last. Den erfüllt sie sich am Ende durch beherzte Flucht in eine Versorgungsehe mit Kreditkarten-Zugriff. Wenn schon (anders als im Märchen) das Wünschen nicht mehr hilft, muß frau eben zusehen, wo sie bleibt…

Zuvor hatte man dreieinhalb Stunden in Volker Ludwigs Kneipe „Café Mitte“ zugebracht – oder soll man sagen: vergeudet? Berlin köchelt hier im eigenen MetropoIen-Saft, harmlos und Tourismus-tauglich. Der Autor hat alles zum Chaos verrührt, was im Handbuch wohlmeinender Sozialpsychologen steht: Ossi-Wessi-Reibereien, Punks, Skins, Fixer, Russenmafia, Multikulti-Sehnsüchte und mehr. Das meiste klingt, als sei Ludwig mit den erstbesten Dialogen zufrieden gewesen. Hier gibt s fast alles zum Einstiegspreis.

Eine Botschaft wie von Guildo Horn

Die angejazzte Rockmusik (Uli Buhl), lauer Querschnitt durch diverse Jahrzehnte, kann dem Kuddelmuddel um die Straßenkinder Keule, Schnuffi und Ratte nicht aufhelfen. Hätten ihre Eltern sie nur richtig liebgehabt (so eine fast schon Guildo-Horn-verdächtige Botschaft), dann wären sie allemal glücklicher. Und hätte das Grips-Theater nicht bleibende Verdienste angehäuft, so müßte man auch einige Darsteller schelten. Lassen wir das. Nur dies: Sollte Ludwigs Stück gewinnen, so schicken wir 1999 Bruno Knusts umgekrempelte „Dortmund-Revue“ ins Rennen. Dann rappelt’s im Karton.

Ganz anders wird’s am Sonntag zur Sache gehen. Dann gibt es für gestählte Zuschauer Einar Schleefs mit Spannung erwartete fünfstündige Kurzfassung (!) des „Sportstücks“ von Elfriede Jelinek. Die hat soeben den Büchnerpreis bekommen. Legt die Mülheimer Jury vielleicht noch etwas drauf?




Normal für alle Ewigkeit – Die Holzskulpturen des Stephan Balkenhol in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Wie unhöflich! Gleich die erste Skulptur dreht einem beim Betreten des Museums den Rücken zu. Man muß erst um den „Großen klassischen Mann“ herumgehen, um sein hölzernes Gesicht zu sehen. Doch er blickt keineswegs zurück, sondern schaut in unbestimmte Fernen – und legt dabei den linken Arm so geziert hinter den Kopf, als habe er die Geste bei einer antiken Plastik abgeschaut, sie aber nicht so ganz ernst nehmen können.

Ansonsten sieht die Figur ganz und gar durchschnittlich aus. Braune Hose, weißes Hemd, keine besonderen Kennzeichen. Sozusagen ein „Stino“, also ein Stinknormaler. Nun schweift der Blick zur gleichfalls frappierend gewöhnlichen „Großen Frau mit grüner Hose“, die – entschieden weggerückt vom männlichen Pendant – auf ihrer eigenen Holz-Insel wartet. Auch sie starrt ins Leere und kreuzt die Arme vor der Brust, in altägyptischer Manier. Ein banaler Augenblick, festgehalten wie für die Ewigkeit. Bildnis einer bewegungslosen Zeit und somit vielleicht gar die ideale Kunst zur Ära Helmut Kohl?

Schon endlos lange und für immer scheinen diese Figuren so dazustehen. Sie schauen in doppeltem Sinne „unverwandt“, will heißen: ohne Unterlaß und beziehungslos. Es sind keine Individuen, sondern anonyme, unaufgeregte, ja unangreifbar wirkende Gestalten. Eine Überhöhung alltäglicher Momente? Schmerzlich verfestigte Gesten der Verlegenheit und Entfremdung gar? Von beidem wohl ein wenig. Und gewiß eine vage, aber nachhaltige Irritation. Ohne Pathos, ohne Belehrung.

Splitter und Späne sind noch sichtbar

Stephan Balkenhol, dessen neuere Arbeiten jetzt in Wuppertal zu sehen sind, kann sich mit derlei Skulpturen vor Anfragen kaum retten. Oft produziert er die Nacht durch, gleichsam „just in time“, also zeitlich punktgenau nach Bestellung. Sieht man die Wuppertaler Auswahl, kann man die Interessenten gut verstehen.

Im zweiten Raum vollzieht sich ein stilles Ereignis. Wiederum jeweils aus einem ganzen Holzklotz hervorgetrieben, sind hier „Zehn tanzende Paare“ (1996) kaum bestimmbaren Alters in ihren gemessenen Bewegungen eingefroren. Die Herren allesamt in schwarzen Hosen und weißen Hemden, die Damen in züchtigen Kleidchen eines Standard-Zuschnitts. Von daher erzkonventionell und auch keinem bestimmten Jahrzehnt zuzuordnen. Doch überhaupt nicht geschönt. Denn die bemalten Holzfiguren sind an der Oberfläche roh und rissig, hie und da krümmen sich noch Splitter und Späne.

Es ist auch Kunst zum Schmunzeln

Balkenhols Serie „Architekturskizzen“ nimmt auf groteske Weise architektonisch Maß an der menschlichen Gestalt. Die Vorzeichnungen wirken karikierend, die an den Wänden aufgereihten dreidimensionalen Ausführungen auf kleinen Holzpodesten vor allem in der Summe bizarr: ein immer wiederkehrendes kleines Mannsbild, paßgenau eingefügt in ein gebautes Viereck; oder von einer Säulenordnung eingezwängt wie in einen Schraubstock.

Ein anderer Herr wird von einer Hausform mit Satteldach flunderflach und rücklings auf den Fußboden gedrückt – nur Kopf, Hände und Füße schauen noch her aus, als zappelten sie hilflos. Das Haus ist sein fremdartiger Körper, sein Körper ein Haus. „Architekturmodell Mann“ heißt (mit leicht ironischem Unterton) diese Arbeit, die auch unsere Naturferne betreffen mag. Sollte sie dergleichen tiefschürfende Hintergründe haben, so ist s doch zunächst mal eine Schmunzel-Kunst.

Subtil und zugleich witzig geht Balkenhol auch sonst mit Figürlichkeit um: Man belächelt vier hölzerne Männerakte im Mini-Format, die große Wandtafeln mit gezeichneten Frauenakten zu bewundern scheinen. Und man freut sich über schwebende Holzreliefs von Männerkörpern oder drei pickende Hühner auf einem schraubenförmigen Sockel. All das sieht aus, als sei es auf etwas lachhafte Art fehl am Platze. Und doch möchte man mehr und mehr davon sehen.

Stephan Balkenhol. Kunsthalle Wuppertal-Barmen, Geschwister-Scholl-Platz. Bis zum 28. Juni. Geöffnet Di-So 10-17 Uhr. Katalog 28 DM.




Gemälde wie heftige Eruptionen – Künstlergruppe „Cobra“ in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Als sie die deutsche Kriegs-Okkupation überstanden hatten, dürsteten sie nach Freiheit. Sie wollten sich von keinem mehr etwas vorschreiben lassen, nicht einmal von ihresgleichen. Zum Zeichen ihrer giftigen Abwehrbereitschaft gründeten sie 1948 die Künstlergruppe „Cobra“.

Es waren überwiegend Künstler aus Dänemark, Belgien und den Niederlanden, die den Namen der Gruppe aus den Anfangsbuchstaben ihrer Hauptstädte formten: Co(penhagen), Br(üssel), A(msterdam).

Schon 1951 löste sich die Formation auf. Ohnehin ging jeder seinen eigenen Weg. Ein wunderbarer Wildwuchs. Absolute Freiheit war eben wichtiger als etwaige Geborgenheit. Jetzt zeigt das Dortmunder Ostwall-Museum 143 Werke von 23 Cobra-Mitstreitern. Auch Vorfreuden und Nachwehen der Gruppenbildung gehören dazu.

„Tier, Nacht, Schrei, Mensch“

Einen Schlüsseltext zum vagen Gruppengeist schrieb der Niederländer Constant: Kunst sei im Grunde kein Gebilde aus Farben und Linien, sondern sei „Tier, Nacht, Schrei, Mensch“ – oder all das zusammen. Auf der Suche nach dem Ursprung allen Ausdrucks stieß man aufs Unbewußte, auf Träume, Rausch und Märchen. Man ließ sich von Zeichnungen Geisteskranker ebenso inspirieren wie von Kinder-Kritzeleien. Und siehe da: Der ersehnte Schlaf der Vernunft gebar nicht nur Ungeheuer, sondern vielfach ästhetische Lösungen, die heute noch überzeugen.

Etliche Bilder der Dortmunder Retrospektive gleichen gewaltigen Eruptionen. Schritt für Schritt läßt sich dies anhand einer Bilder-Reihung von Karel Appel verfolgen: erst die Geometrie, dann die zunehmende Auflösung. Asger Jorns „Verbrecher“ scheint aus dem Urschlamm der Gewalt aufzusteigen, die Bildfläche sieht aus, als sei sie besudelt von Blut und Dreck. Ein einziges Entsetzen. Da bleibt nur die Flucht, der Sturz ins Formlose.

„Zwei Sonnen“ (Titel) läßt Carl-Henning Pedersen neben einer gelbroten Figur aufgehen, die in ein Meer zu kippen scheint. Inbild einer alles hinwegflutenden Katastrophe wie am „Jüngsten Tage“. Der famose Lucebert richtet den visionären Blick auf tierhafte Gestalten, die das Innerste der Betrachterseele gleichsam anspringen. Fauchende Schrecksekunden der Freiheit.

Gruppe Cobra. Museum am Ostwall, Dortmund. Bis 12. Juli. Di-So 1017, Mi 10-20 Uhr. Eintritt 6 DM. Katalog 55 DM.

 




Sehnsucht nach Tralala – Zwei neue Schlager-Bücher zur Einstimmung auf den „Grand Prix“ mit Guildo Horn

Von Bernd Berke

Am nächsten Samstag gilt’s. Dann muß der „Meister“ Guildo Horn beim „Grand Prix Eurovision de la Chanson“ zeigen, ob er in der Champions League des Schlagers bestehen kann. Bevor wir uns aber mit Nußecken zur Fernseh-Party rüsten, ist Besinnung ratsam. Zwei neue Bücher sagen uns, was die Schlagerwelt im Innersten zusammenhält.

Eine ganze Phalanx von Autoren hat die an kultverdächtigen Abstrusitäten so reiche Geschichte des „Grand Prix“ nachgezeichnet – von 1956 bis 1997, also bis ins „Jahr eins vor Guildo“. Unfeine Täuschung: Obwohl der Trierer, der uns alle so schrecklich lieb hat, in den Texten überhaupt nicht vorkommt, prangt sein Konterfei auf dem Titel. Man muß das Eisenzeitig schmieden…

Inhaltlich aber ist s ein gelungener Band mit schrillen Bildern und hilfreichen Siegertabellen seit Anbeginn. Der sarkastische Titel „L’Allemagne deux points“ (Deutschland zwei Punkte) deutet die Richtung an. Das eigene Nest wird freudig beschmutzt.

Die Iren vorn, die Finnen hinten

Doch auch andere Länder entgehen der Ironie nicht; beispielsweise, wenn die Daseinsfrage erwogen wird, warum Irland zuletzt auf Sieg nahezu abonniert war, während die „Grand Prix“-verrückten Finnen noch nie einen vorderen Platz ergattern konnten; vielleicht, weil sich deren Titel nur stockend nachsingen lassen?

Das Phänomen des Euro-Schlagerwettbewerbs wird von allen Seiten beleuchtet. Die oft schrulligen Eigenheiten der am großen Tralala beteiligten Nationen kommen ebenso respektlos zur Sprache wie die Psychologie eines Ralph Siegel, des bisherigen Lordsiegelbewahrers deutscher Schlager-Seligkeit. Die Wandlungen des TV-Studio-Designs seit den 50er Jahren geben ebenso Auskunft über den Zeitgeist wie die Kleidung der Stars und Sternchen. Wie etwa France Gall, Katja Ebstein oder Mary Roos sich gaben – das sind Dokumente erster Güte!

Als Historiker wagen die Autoren auch eine Epocheneinteilung. Die ganz große Zeit des „Grand Prix“ seien die Jahre von 1968 bis 1981 gewesen, als Oma, Eltern und Enkel oft noch gemeinsam mitfieberten – und manche nach dem seichten Zeug ganz süchtig wurden.

Da macht es „Ring Ring“ oder „Boom Boom“

Das Waterloo des deutschen Schlägers gab s im Jahre 1974, als die Gruppe Abba just mit dem Titel „Waterloo“ gewann, während Cindy & Bert („Sommermelodie“) auf dem letzten Rang landeten. Nur Nicole konnte 1982 (mit „Ein bißchen Frieden“) die Scharte als Siegerin auswetzen. These: Gerade weil das Lied so provinziell und bieder gewesen sei, habe man es einer Deutschen gern „abgekauft“.

Ansonsten aber hieß es meist bedauernd (oder hämisch?): „Deutschland – zwei Punkte“. Ganz klar, denn mit ausgeklügelten internationalen Titeln wie „Pump, Pump“, „Lalala“,„Ding-a-Dong“, „Ring Ring“, „Boum badaboum“, „Boom Boom“ und „Boom-Bang-ABang“ konnte man nie konkurrieren. Goldrichtig also, daß sich Guildo Horn („PiepPiep Piep“) aufs europaweit gängige Stammeln einstellt.

Italien, die Südsee und das Soziale

Ein Mann mit dem Pseudonym André Port le roi zeichnet verantwortlich für das Buch „Schlager lügen nicht“. Auch hier grinst Guildo Horn auf dem Titel, der auf gerade mal zwei Seiten als Scharlatan abgebügelt wird. Sich gierig an den Trend, hängen und dann meckern, das haben wir gerne.

Der Autor vertieft den Grundkurs aus dem „Grand Prix“-Buch. In manchmal kurzschlüssiger Weise koppelt er die bekanntesten Trailer-Zeilen ah politische Phasen der letzten Jahrzehnte. Es gibt eben die typischen Schläger der Adenauer-, Brandt-,Schmidt- oder Kohl-Ära.

Belustigt verfolgt man das stete Hin und Her zwischen rockigen Akzenten (Peter Kraus, Drafi Deutscher) und Volkstümelei, zwischen vorsichtiger Emanzipation (Gitte, Rita Pavone) und Macho-Reaktion (Günter Gabriel). Auch wechselnde Moden der Italien-, Südsee- und Sozial-Schlager (Udo Jürgens) plätschern vorüber.

Übrigens werden die Perlen deutscher Sehnsuchts-Lyrik abgedruckt, Strophe für Strophe. Da hat man was fürs Leben.

„L’Allemagne deux points – Ein Kniefall dem Grand Prix“. Ullstein. Reihe „Fun Factory“. 160 Seiten. 22,90 DM / „Schläger lügen nicht“. Klartext-Verlag, Essen. 223 S., 19,80DM.




Dreißigjähriger Krieg als bitteres Lehrstück – Hansgünther Heyme inszeniert Strindbergs „Gustav Adolf“

Von Bernd Berke

Marl. „Der französische Gesandte ist wieder da.“ – „Die Schotten rasen.“ – „Tilly ist in der Schlacht gefallen.“ So aufgeregt schallt’s von der Bühne herab. Wahrhaftig: August Strindbergs „Gustav Adolf“ ist in Marl ein wahres Boten-Stück. Immer wieder eilt in Hansgünther Heymes Ruhrfestspiel-lnszenierung einer herbei, um neueste Nachrichten aus dem Dreißigjährigen Kriege zu verkünden.

Worum geht’s bei diesem oft etwas atemlosen Schlagwort-Theater der historischen Raffung? Anno 1630 griff jener Schwedenkönig Gustav Adolf ins europäische Kriegsgeschehen ein. Seine Truppen landeten auf Usedom und zogen sodann (gegen kaiserliche bzw. katholische Verbände Wallensteins und Tillys) durch zerrissene „deutsche“ Gebiete zu Felde. Stettin, Magdeburg, Nürnberg, Lützen. So viele Städte, so viele Tote.

Ein sperriges Ungetüm

Strindbergs 1903 in Berlin uraufgeführtes Drama ist seit 1965 nicht mehr gespielt worden. Seinerzeit führte in Wiesbaden gleichfalls Hansgünther Heyme Regie. Eine Ausgrabung aus eigenen Beständen, wenn man so will. Nun ahnt man, warum sich so lange kein anderer an das sperrige Ungetüm herangetraut hat.

In der Eisenlagerhalle der Marler Zeche „Auguste Victoria 1/2″ sitzen die Zuschauer auf harten Kirchenbänken, als sollten sie ein wenig Buße tun für historische Schuld. Als Mahnung wallt zudem ein 600 Quadratmeter großes, schwarzes „Grabtuch“ mit Sterbedaten aus den Weltkriegen rings um dem Raum.

Vorn, auf der schrägen Bühne mit dem kalt glitzernden Metallboden, geht’s nicht minder mahnend zu. Strindberg, von dem wir bislang gedacht haben, er sei Spezialist für Geschlechterkämpfe, hat hier die Absurdität der großen Völkerschlachten dargestellt und Heyme macht ein bitteres, manchmal reichlich steifleinenes Lehrstück wie von Brecht daraus; mit Trompetenschall, Chorpassagen und Sprechgesängen.

Wer ist Freund, wer ist Feind?

König Gustav Adolf (Peter Kaghanovitch), von vier Generälen flankiert (alle weiblich – warum eigentlich?), wirkt anfangs ganz von seiner Mission erfüllt. Er kämpfe für die protestantischen Glaubensbrüder, meint er unumwunden. Doch welche Verwirrung entsteht im kriegerischen Getümmel: Gewisse Verbündete erweisen sich als Katholiken, manche Gegner als evangelisch. Von denen wiederum nennen sich die einen Protestanten, andere Lutheraner oder Reformierte. Da kenne sich einer aus.

Der Krieg um den Glauben wird zum Krieg als Selbstzweck. Die große Unübersichtlichkeit führt Gustav Adolf schließlich zu friedfertiger Toleranz à la „Nathan der Weise“: „Im Haus des Herrn sind viele Wohnungen“, auch für Juden und Moslems. Seiner Zeit gedanklich weit voraus, wird er damit zum „modern“ anmutenden, tragisch einsamen Menschen – „ohne Freund und Feind allein“. Eben doch ein Strindberg.

Den historischen Hauptstrang bekommt Heyme nur grob in den Griff: viel Getrampel und Gemaule, donnernde Theatralik. Doch in den leiseren, gleichsam familiären Szenen und bei einigen Nebenfiguren (Wolff Lindner, Wolfgang Robert) wird, hinter all dem klobigen Belehrungs-Ernst der Unternehmung, auch feinerer Nebensinn spürbar.

Termine: 5, 6,, 7„ ,8, Mai (20 Uhr). Eisenlagerhalle, Zeche Auguste Victoria 1/2 in Marl, Victoriastraße in Marl-Hüls.




Krachlederne Verwirrung – Rauminszenierungen des Belgiers Guillaume Bijl in Recklinghausen

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Der Raum ist rundum mit roter Tapete ausgeschlagen, darauf prangen hier und da goldene Schriftzüge in altehrwürdiger Fraktur. Über der ganzen Szenerie liegt dezent gedämpftes Licht. Welch eine feierliche Einstimmung. Hier wird man bestimmt edle Dinge zu sehen bekommen. Und dann? Dann erkennt man an den Wänden acht alte und abgewetzte Lederhosen hinter Glas. Nanu?

Es will fast so scheinen, als trieben die Ruhrfestspiele mit ihrer Kunstausstellung diesmal argen Schabernack. Denn tritt man näher an die Schaustücke heran, so sieht man auch noch Messing-Schildchen, mit denen besagte Lederhosen bekannten Menschen zugeordnet werden: Eine soll angeblich der Verhaltensforscher Konrad Lorenz getragen haben, eine zweite habe der Dichter Stefan Zweig angezogen, weitere hätten dem Bergfex Luis Trenker oder dem CSU-Altvorderen Franz Josef Strauß gehört. Letzteres könnte beinahe wahr sein. Doch wer’s glaubt…

Seh-Erwartung wird gezielt unterlaufen

Wenn Seh-Erwartungen dermaßen gezielt unterlaufen werden, muß wohl Hintersinn im Spiele sein. Der weithin renommierte belgische Künstler Guillaume Bijl (Jahrgang 1946), vor Jahren auch schon mal im Dortmunder Ostwall-Museum präsentiert, hat für das vielteilige Arrangement mit den bajuwarischen Beinkleidern samt einschlägigen Dokumenten gesorgt. Die Arbeit beansprucht das gesamte Erdgeschoß der Recklinghäuser Kunsthalle. Betrachter sollen eben meinen, sie seien in ein wirkliches, offenbar erzkonservatives Museum mit volkskundlichen Exponaten geraten.

Mit geschickt eingefädeltem Sinnentrug geht’s in der ersten Etage raumgreifend weiter. Hinter einer Kordel-Absperrung und ringsum verlegten roten Teppichen liegt ein riesiger Stein ehrfurchtgebietend auf dem Sockel. Guillaume Bijl will uns glauben machen (und zugleich daran zweifeln lassen), dies sei ein Meteorit, der anno 1932 auf die Erde gestürzt ist. Info-Tafeln an den Wänden erläutern die „Hintergründe“ und verstärken den Eindruck der astronomischen Sensation noch. Potzblitz!

Im zweiten Stock sieht man schließlich drei plastische Szenen aus der Prähistorie des Menschen: „Steinzeitler“ beim Feuermachen, bei der Bärenjagd und bei der Höhlenmalerei, also gleichsam in der Geburtsstunde der Kunst. Hier verhält sich die Sache schon ein wenig anders, denn derlei nachgestellte Szenen aus der Vorzeit können ja auch im Fachmuseum nur vage Annäherungen an eine vermutete Wirklichkeit bedeuten.

Keine bloße Parodie auf Museen

Drei irritierende Ausflüge also in die Kultur-, Erd- und Menschheits-Geschichte. Guillaume Bijls Raum-Inszenierungen schillern zwischen chamäleonhafter Anverwandlung und Verfremdung. Es sind, wenn darin auch subtiler Humor aufleuchtet, beileibe keine bloßen Parodien auf tatsächliche Museen, sondern komplexe Zeichen-Systeme, die einen auf geradezu philosophische Fragen stoßen können: Wie verändern sich die Objekte, wenn sie im Museum gezeigt werden? Mit welchem Mitteln trügt der Schein? Was ist überhaupt echt und wahr, was ist falsch? Ist nicht jede bildhafte Darstellung geschichtlicher Tatsachen sowieso schon Erfindung, Kopfgeburt, Gedankenkonstruktion?

Spaß beim Sehen, Stoff zum Nachdenken. Was will man mehr?

Kunstausstellung der Ruhrfestspiele: Guillaume Bijl. 3. Mai bis 5. Juli. Kunsthalle Recklinghausen (am Hauptbahnhof). Di-Fr 10-18Uhr, Sa/So 11-17Uhr. Katalog 35 DM.




Schritt für Schritt zur Kunst – Dortmunder Galerie Utermann im neuen Domizil

Von Bernd Berke

Dortmund. Die Dortmunder Galerie Utermann zählt zu den feinen Adressen der Branche. Zumal mit ausgesuchten Expressionisten bewegt man sich im Edel-Segment des Marktes, in dem Preise oft nur „auf Anfrage“ genannt werden. Jetzt verfügt man über ein neues Domizil der Sonderklasse.

Das 1956 errichtete, behutsam und stilsicher umgerüstete Haus Silberstraße 22 bietet im ersten Geschoß einen fünf Meter hohen Ausstellungsraum, der den Kunstwerken auf rund 250 Quadratmetern Luft und „Atem“ verschafft. Zu den von der Ruhrkohle AG langfristig gemieteten Räumen gehört ein riesiger Tresor, der als Depot dient. Clou der Liegenschaft ist ein umfriedeter Garten, der Skulpturen zu besonderer Geltung kommen läßt. Selbst alteingesessene Dortmunder dürften dieses grüne Idyll mitten in der City bislang übersehen haben.

Als Wilfried Utermann und seine Frau vor etwa eineinhalb Jahren an dem Gebäude entlang flanierten, stand sogleich fest: „Dies wäre der ideale Standort für unsere Galerie“. Weil sich die Verhandlungen verzögerten, schaltete sich Oberbürgermeister Günter Samtlebe persönlich zugunsten Utermanns ein.

Samtlebe ist denn auch am Mittwoch, 29. April (18 Uhr), ein Eröffnungsgast der ersten Ausstellung am neuen Platze. Werke zweier Größen der Nachkriegskunst treten in einen subtilen Dialog ein: Ölbilder von Fritz Winter (1905-1976) und Bronzeskulpturen von Karl Hartung (1908-1967). Winters schwebeleicht wirkende Bildräume und Hartungs körperhafte Plastiken markieren zwei Königswege der Formensprache in den 50er Jahren.

Bei der Wandgestaltung ließ sich Utermann von Fotos aus New Yorker Galerien der 30er Jahre anregen. Dem weißen Anstrich zog er eine dezente Leinen-Bespannung vor, denn: „Wir wollten keine Wartesaal-Atmosphäre haben.“ Auch der Treppe zum Ausstellungsraum mißt er Bedeutung zu. Anders als in der bisherigen Ladengalerie an der Betenstraße, wo man sofort „mittendrin“ stand, könne man sich hier – Schritt für Schritt – innerlich auf die Kunst einstimmen.

Galerie Utermann, Dortmund, Silberstraße 22. Tel.: 0231 / 90 63 300). Ausstellung Winter / Hartung: 30. April bis 18. Juli. Di-Fr 10-18, Sa 10-14 Uhr.




Der Idiot auf der Klippe – Edith Clever inszeniert die Uraufführung von Botho Strauß‘ „Jeffers – Akt I und II“ in Berlin

Von Bernd Berke

Berlin. Botho Strauß, unser vielleicht empfindsamster, aber auch umstrittenster Theaterdichter. hat einen erlesenen Geistesverwandten gefunden – den amerikanischen Lyriker Robinson Jeffers (1887-1962). Ihm huldigt Strauß in seinem neuen Stück „Jeffers – Akt l und II“. Ebenso leichtgläubig wie schwerblütig hat Edith Clever die Uraufführung für die Berliner Schaubühne inszeniert.

Jeffers war – ganz wie Strauß – ein Eremit der Literatur. Aus der Abgeschiedenheit von Carmel an Kaliforniens Küste verdammte er die moderne Zivilisation und allen Gegenwarts-Plunder im Namen einer gleichsam überirdischen Schönheit der Steine, des Meeres und der Falken. Der Naturfriede gedeihe am besten ohne Menschen, befand Jeffers in langen Poemen. Ökologie radikal, sozusagen. Nur: Für wen denn eigentlich noch?

Solch entschiedene Abkehr vom schnöden Menschenalltag hat es auch Strauß seit langem angetan. War es ihm in früheren Stücken gegeben, aus haarfeiner Beobachtung gängiger Bewußtseins- und Beziehungs-Formen unvermittelt ins Mythische abzuheben, so setzt er diesmal gleich ganz oben beim Mythos an.

Auf der Bühne kreisen die Steine

In „Akt I“ vernehmen wir zwei lange Monologe von Jeffers (Bruno Ganz) und seiner todkranken Frau Una (Edith Clever). Zwischen ihnen besteht keine mindere „Appartement-Liebe“, sondern eine unendliche Kraft der Sehnsucht. Wie zwei alte Rosensträuche wachsen diese beiden Menschen immer mehr zusammen, heißt es an einer Stelle.

Nach Unas Tod sinniert Jeffers über derlei Schönheit bewegungslosen Gleiçh-Bleibens auf einer „Insel hinter der Zeit“ – und schmäht alle Intellektuellen, denen er als reaktionärer „Idiot auf der Klippe“ gilt. Während er still dasitzt, kreisen auf der Bühne die Steine. Siehe, das finale „Heil“ einer menschenleeren Welt scheint nahe…

Mit Hilfe etlicher Jeffers-Originalzitate vermag es Strauß, aus den Lebensbilanzen des Paares einen hochpoetischen Gesang von einfachem Dasein und Dauer zu destillieren. Edith Clever und Bruno Ganz, die Größen der guten alten Schaubühnen-Zeit, sind – wie ihre Figuren – zwei, die nichts mehr forcieren oder beweisen müssen. Sie müssen nur reden, schon leuchtet etwas auf. Da schwebt, aus Jeffers und Strauß Elfenbeintürmen, tatsachlich ein hauchzarter Geist. Ein Mirakel des Theaters – und ein wundervoll milder Nachklang der vergehenden Schaubühnen-Ära.

Dem milden Nachklang folgen die Nachwehen

Doch dann heben die doppelt so langen Nachwehen an. Leider hat Strauß es nicht beim kostbaren Kleinod „Akt I“ bewenden lassen, es drängte ihn, Jeffers Gedicht „Mara“ in szenische Form zu pressen. Das Unglück beginnt mit dem Explosions-Blitz eines Zeppelinabsturzes, den einige Farmer und Töchter des Landes saufend begaffen. Nach diesem Menetekel der Zivilisation sehen wir sie später noch bei einem Hillbilly-Tanzvergnügen. Strauß hochmögende Worte in einer Saloon-Atmosphäre – das ist arg und sorgt des öfteren für unfreiwillige Komik.

Kern der Geschichte: Farmer Bruce (Bruno Ganz) muß argwöhnen, daß es seine jungeFrau Fawn (Karoline Eichhorn) mit seinem Bruder treibt; eine Leidenschaft, die sich in gurrenden Ausrufen wie „Oh, du Tier!“ artikuliert. Man schreibt zudem dasJahr 1939. Jenseits des Ozeans hat Hitler-Deutschland Polen überfallen. Schmutz also aus den Radio-Nachrichten, Lüge und Schmutz auch in den Seelen – dies treibt Bruce allmählich in einen Wahn, in dem „alle Zeit stillsteht“.

Hoher Ton und niederes Tun

Noch so einer an der Kante zur menschenleeren Welt, bis zu deren Grenze ihn die einstige Wasserleiche und jetzige Algenteppich-Hure „Mara“ (somnambul: Corinna Kirchhoff) geleitet. Hoher Ton und niederes Tun geraten wirr durcheinander. Mystisches Raunen, bedeutungsschwere Erstarrung und derber Mummenschanz ergeben ein unfrohes Gemenge, in dem selbst Bruno Ganz unterzugehen droht. Groteske1 Geisterstunden.

Großer Beifall für „Akt I“, Buhkonzert für Regie und Autor am Schluß von „Akt II“. Ein Abend, zwei Weiten.

Termine der Schaubühnen-Produktionen im Hebbel-Theater, Stresemannstraße 29: am  23., 24., 25. April, 6., 7.. 8. Mai (20 Uhr).




Im Vollrausch durch die Techno-Szene – Rainald Goetz‘ wildwüchsiger Frontbericht „Rave“

Von Bernd Berke

Worum geht s eigentlich im Kern bei den Raves, jenen Endlos-Parties zu gewitternder Techno-Musik? Hören wir den 44-jährigen Veteran Rainald Goetz, der sich offenbar immer noch tapfer auf der Szene rumtreibt: „Mädchen kennenlernen. Drogen nehmen. Musik hören.“ Kommt einem bekannt vor.

Goetz weiß natürlich genau, wovon er redet, denn: „Ich ging hin und tanzte mit. Das Gefühl war toll.“ Geht’s vielleicht präziser? Aber ja: Es war – so Goetz – „schon hart. Aber irgendwie eben auch geil“.

Ist das der zeitgemäße literarische Sound der späten 90er Jahre? Oder stammelt da einer, der ein nahezu religiöses Erweckungs-Erlebnis gehabt haben muß und dem nun versierte Plattenaufleger („DJs“) wie Sven Väth oder Westbam als göttliche Wesen erscheinen? Jedenfalls durfte sich Goetz den Party-Gurus bis ins Allerheiligste nähern. Er stand gleich neben den Plattentellern – und er ruft dem Leser unablässig zu: „Ich war dabei“.

Immer sind sie die „Chefs im Exzeß“

Auf 271 Seiten seines wildwüchsigen, offenbar weitgehend unlektorierten Brachial-Buches „Rave“ nimmt uns der gleichsam „in Zungen“ redende Prophet Goetz mit durch die Techno-Clubs der Republik. Und er zeigt’s allen ahnungslosen Spießern mal so richtig. Denn er und seine weitverstreuten Cliquen sind, wie er auf Seite 224 stolz vermeidet, allemal „Chefs im Exzeß“.

Daran würde man nach der Lektüre nie zu zweifeln wagen. Denn mal hängen die Leute verdammt cool in München ab, dann wieder tanzen sie in Berlin bis zum nächsten Morgen – und gehen auch danach noch lange nicht auf ihre Zimmer, es sei denn zum Pim… nun ja, zur Triebabfuhr halt.

Und weiter geht’s: Mal werfen sie haufenweise Drogen in Köln ein, dann wieder saufen sie wie die Stiere in Frankfurt. Oder sie kombinieren gleich alle Rauschmittel. Auch Ibiza wird zwischendurch heftig heimgesucht. Echt stark, Alter!

Er kennt so viele schrille Leute 

Es dürfte schwerfallen, ein anderes Buch zu finden, dessen Personal sich mit Trunk, diversen Kräutlein und Chemie permanent so zielstrebig um den Verstand bringt wie hier. Prädikat: Zugeknallter geht s nicht. Seltsam nur, daß sich Goetz dermaßen über die Szene-Journalisten aufregt, die den Techno-Trends hinterherhecheln. Er selbst tut ja im Grunde nichts anderes.

Doch der Autor, der den Lesern schon so knallharte Bücher wie ,Irre“, „Krieg“ und „Kontrolliert“ vorsetzte, kennt so viele schrille Leute, also das gibt s gar nicht. Oftmals referiert Goetz den Saum des Wahnsinns streifende Dialogfetzen mit zahllosen Szene-Bekanntschaften, die immer hübsch namentlich aufgelistet werden (wobei die Mädchen meist als reichlich dusselige, aber zur Ausschweifung bereitwillige „Mäuse“ auftreten). Da lernt man, wie überaus „krass“ und „kaputt“ (Goetz-Zitat) es am Techno-Standort Deutschland zugeht. Freilich gibt’s trotzdem nichts Besseres: „Aber noch absurder und kaputter als jede noch so schlimme Drogenkaputtheit war natürlich generelle Abstinenz.“

Sprache zerhacken und in Trance fallen

Und so gerät das Buch streckenweise zur unreflektierten Feier sprachloser Trance. Es ist schon eine spezielle Art von Literatur. Seit sich der mit Gespür für Aufsehen begabte Ex-Medizinstudent Rainald Goetz vor Jahr und Tag beim Ingeborg-Bachmann-Autorenwettbwerb mit einer Rasierklinge die Stirn aufschlitzte, gilt er als Enfant terrible des belletristischen Betriebes.

Vielleicht läßt sich sein neues Werk ins beinharte Genre der Frontberichte eingliedern: Ganz früher erzählten die ergrauten Veteranen vom Weltkrieg, dann waren die 68er-Rebellen mit dem Prahlen an der Reihe, und jetzt sind eben die Techno-Heroen dran.

Phasenweise gelingt es Goetz, seiner atemlos zerhackten Sprache einen treibenden Rhythmus mitzugeben, der dem Thema durchaus entspricht und einen gewissen Sog ausübt. Doch die selbstgefälligen Endlos-Wiederholungen des „Ich war dabei“ zerren gehörig an den Nerven.

Rainald Goetz: „Rave“. Suhrkamp-Verlag, 271 Seiten. 38 DM.




In Paris die neue Leichtigkeit des Seins erfahren – Richard Fords beachtliche Novelle „Abendländer“

Von Bernd Berke

Ein Amerikaner in Paris: Charley Matthews aus Ohio hat gerade seinen Erstlingsroman „Das Dilemma“ herausgebracht und will nun seinen französischen Verleger besuchen. Doch der hat über Weihnachten plötzlich keine Zeit mehr für den Gast und das fällige Besichtigungsprogramm.

Nun müssen Charley und seine Begleiterin Helen selbst sehen, wie sie in der Metropole zurechtkommen. Mit dieser gelinden Ernüchterung beginnt „Abendländer“, das neue Buch des US-Autors Richard Ford, der zumal durch seinen grandiosen Roman „Der Sportreporter“ bei uns bekannt wurde.

Krise in der Lebensmitte: Fords trauriger Held Charley hat eine gescheiterte Ehe hinter sich. Ob er seine jetzige Gefährtin Helen liebt oder sie eben nur gern hat und mit ihr schläft, ist zunehmend fraglich. Auch so ein Dilemma.

Charley spricht lediglich ein paar Brocken Französisch und fühlt sich deshalb in Paris noch mehr auf sich selbst zurückgeworfen, zumal sich die von Historie allseits übersättigten Franzosen, wie Charley findet, so ganz anders bewegen und anders reden als US-Bürger. Abendland ist nicht gleich Abendland. Mißtrauische Seitenblicke auf vorlaute amerikanische (und deutsche) Touristen bestärken ihn in diesem Gefühl.

Zugleich fällt ein Schatten der Vergänglichkeit auf die Tage in Paris: Da Helens Krebskrankheit wieder auszubrechen scheint und sie schon tagsüber erschöpft im Hotel schläft, läßt sich Charley allein durch die Stadt treiben wie durch einen Ozean.

Schon bald genießt er es, die fremde Sprache nicht zu verstehen, denn es entlastet ihn von der sonstigen Bedeutungsschwere der Worte und verfeinert das Gespür anderweitig. Der ehemalige Dozent will die Chance ergreifen, vom trockenen Buchwissen zu ungeahnter Lebendigkeit zu finden.

Fühlt er sich zunächst unbehaglich, wie an einem seelischen Nullpunkt, so freut er sich bald darauf, in der Millionenstadt nur ganz am Rande vorzukommen und alle Eindrücke möglichst pur auf sich wirken zu lassen. Bloß keine Festlegung. Mal sehen, was mit einem geschieht, wenn man niemanden kennt und „unsichtbar“ ist. Neue Leichtigkeit des Seins.

Da ist einer (längst nicht mehr touristisch) unterwegs; unterwegs zum eigenen Leben. Scheinbare Belanglosigkeiten gewinnen nun plastische Bedeutung. Selbst ein Spielzeugkauf für seine schmerzlich vermißte Tochter wird zum Akt der Selbstfindung.

Richard Fords angenehm unaufdringlich instrumentierte Erzählung läßt Seite für Seite spüren, was es heißen kann, sich auf eine neue Lebensphase einzulassen. Ende offen – wie im wirklichen Dasein.

Richard Ford: „Abendländer“. Novelle. Berlin Verlag. 154 Seiten. 29,80 DM.




Betrübt vom Lauf der Welt – Lübcke-Museum in Hamm zeigt Karl Hofers Bilder aus der Sammlung Deyhle

Von Bernd Berke

Hamm. In der Mitte des Bildes steht der Künstler, ganz auf sich allein gestellt, die Hände zum Selbstschutz erhoben, aber eigentlich hilflos. Denn ringsum drohen maskenhafte Fratzen. „Selbstbildnis mit Dämonen“ hat Karl Hofer (18781955) diese Arbeit genannt. Und wahrlich: Er hat zeitlebens dämonische Erfahrungen machen müssen.

Die vielfältige Hofer-Werkauswahl, die jetzt in Hamm zu sehen ist, stammt aus der Sammlung des jüngst in Finanzprobleme geschlitterten Musical-Magnaten Rolf Deyhle, dem freilich das Land Baden-Württemberg just mit einer sicher hilfreichen Kreditbürgschaft zu Diensten war.

Zurück zum weniger lukrativen Leben des Künstlers Karl Hofer: Unglücklich verlief schon seine Kindheit. Kaum war er auf der Welt, starb sein Vater. Die Mutter verarmte und mußte als Haushaltshilfe ihr Dasein fristen. Bald konnte sie sich um den Sohn nicht mehr kümmern, und er kam ins Waisenhaus.

Auch nach dem Krieg ein Außenseiter

Zwar konnte er als junger Mann mit Hilfe von Mäzenen Kunst studieren, ja, er etablierte sich bis Ende der 20er Jahre als Meister der „Neuen Sachlichkeit“ und honoriger Akademie-Professor. Doch dann griffen die Nazis nach der Macht. Die Bilder Hofers, der schon 1931 vor dem heraufziehenden Unwesen gewarnt hatte, wurden als „entartet“ verfemt. 1936 malte er einen Hungernden, der verzweifelt an einem mageren Knochen nagt. Ein krasses Armuts-Zeugnis – und somit im „Dritten Reich“ mehr als mißliebig.

Nach dem Krieg, als nahezu alle Kunstwelt der Abstraktion frönte, geriet Hofer erneut in eine heftig befehdete Außenseiterposition, denn vom realistischen Abbild des Menschen und der Dinge hat er sich nie verabschiedet.

Kein Wunder, daß man vorwiegend freudlose Bilder zu sehen bekommt. Auch wenn Hofer Liebespaare oder Gruppen darstellt, wirken die Menschen seltsam vereinzelt. Nie schauen sie einander an, die Blicke irren betrübt ins Leere.

Von 1907 bis 1954 reicht die Auswahl der 66 Werke. Schon das früheste Ölbild, ein nackter „David mit der Schleuder“, kündet von Entfremdung: David steht nicht wirklich in der Landschaft, sondern davor wie ausgestanzt, von der Natur abgestemmt. Später sind die Figuren oft von knittrigen Höhlen-Formationen umgeben, aber nicht wohlig umhüllt, sondern ins schmerzliche Alleinsein gestellt.

Bildnis zweier sanftmütiger Schwestern

Für Hofers Verhältnisse ungewohnt idyllisch und delikat gemalt sind manche Landschaftbilder aus dem Tessin, doch eines läßt aufmerken: Da hat Hofer einen Bauzaun vors schöne Panorama plazierte. Die heile Welt ist abgeriegelt. Fast schon eine Vorform ökologischen Unbehagens.

In vielerlei Stilrichtungen hat sich Hofer umgetan. Die Bildnisse badender Mädchen lassen Einflüsse von Paul Cezanne ahnen, die Stilleben der 20er Jahre sind gewiß nicht ohne Kenntnis des Kubismus entstanden. Behutsame Auflösung plastischer Körper in Farbflächen war freilich schon das Höchste an Abstraktion.

Die oft resignierende, gelegentlich auch depressive Grundstimmung verdichtet sich – mit gutem Grund – in den Bildern aus der Trümmerzeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein brennender Hampelmann schreit vor Schmerzen. Kein Kinderspiel. Ein gebrochener Mensch geht durch eine zerstörte Stadt, ein anderer kriecht vollends am Boden.

Doch es gibt auch ergreifende Momente der Zärtlichkeit in dieser Ausstellung: Zwei Schwestern, sanftmütig sinnend, so zart wie von Botticelli hingehaucht. Gleichfalls in ihre Innenwelt versunken ist die junge Frau, die sich „Nach dem Bad“ (Titel, 1934) abtrocknet – ganz so, als suche sie nach einem tröstlichen Gefühl.

Karl Hofer. Gustav Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstraße 9. Tel.: 02381 / 17 57 01. Bis 28. Juni. Di-So 10-18, Mi 10-20 Uhr. Eintritt 7 DM. Katalog 25 DM.




Mit Melodien durch die Liebeswirren gleiten – Kinofilm „On connaît la chanson“ von Alain Resnais

Von Bernd Berke

Marc hat ganz gerötete Augen. Die Tränen fließen. Er schneuzt sich in sein Taschentuch. Camille will mit ihrer Schwester Odile eine Wohnung besichtigen und erscheint verfrüht am Treffpunkt. Sie glaubt, daß der Mann richtig weint – und schon beginnt sie, sich in den offenbar empfindsamen Menschen zu verlieben. Doch der Kerl erweist sich später als eiskalter Immobilienmakler. Und das Taschentuch? Nun ja, eine simple Erkältung.

Beileibe kein Einzelfall in Alain Resnais‘ Film „On connaît la chanson“ (etwa: „Man kennt das Lied“). Jede Geste ist schon ein halbes Mißverständnis – oder eine bewußte Maskierung wahrer Absichten und damit Quell des Unglücks.

Das Besondere an diesem Meisterwerk: Resnais verfremdet die vielfach verwobenen Episoden seines Liebesreigens sinnreich und kunstvoll mit Musik. Mitten in den Szenen und Sätzen legt er den männlichen und weiblichen Stadtneurotikern plötzlich lippensynchron Schlager und Chansons in den Mund. Danach, als sei nichts gewesen, reden die Leute weiter wie gehabt.

Die verwendeten Melodien kennt in Frankreich jedes Kind, und auch für unsere Ohren klingt mancher Ton vertraut. Völlig klar, daß ein solch spezifisch französischer Film im Original mit deutschen Untertiteln ins Kino kommt. Was klingt wohl zärtlicher: „Ich liebe die Mädchen“ oder „J’aime les filles“?

Tröstliche Floskeln des Liebeslebens

Hier also kann es sogar geschehen, daß auf einmal Sylvie Vartan oder France Gall einem verliebten Gockel ihre Stimmen leihen, daß eine Frau wie Charles Aznavour oder Gilbert Becaud singt. Anfangs nimmt man solche gezielten Stimm-Brüche mit leichtem Stirnrunzeln zur Kenntnis. Doch die Sache geht wundersam schwebeleicht auf.

Amüsiert vernimmt man die gelegentlich „trivialen“, zuweilen aber einfach tröstlichen Formeln und Floskeln des Gefühlslebens. Erhellend komisch sind die Kontraste zwischen der Schwerkraft des Lebens, und dem Leichtsinn der Lieder. Und man spürt: Sogar das Leiden an der Liebe ist manchmal zum Lachen, aber kein Liebender ist als solcher lächerlich…

Die Chemie der Beziehungen gerät jedenfalls schön durcheinander: Die anfangs erwähnte Camille (Agnes Jaoui), die sich mit Stadtführungen durch Paris ihr Studiengeld verdient, wird insgeheim von Marcs zerstreut-sensiblem Hilfsmakler Simon (André Dussollier) angebetet. Der gibt sich als Hörspielautor aus, weil das nicht so elend prosaisch klingt.

Wenn alle einander im Unklaren lassen

Camilles Schwester Odile (Sabine Azéma) begegnet derweil ihrer alten, längst verheirateten Jugendliebe Nicolas und gerät darob über ihren stets ermatteten Gatten Claude ins Grübeln: „Meine Ehe ist nicht übel. Eigentlich ganz normal“, sinniert Odile. Doch wie sehnsuchtsvoll sie dabei in unbestimmte Fernen blickt! Und dann spitzt sie die Lippen zu einem Liebeslied, das die laue Zufriedenheit vollends verneint.

Claude und Nicolas halten ihrerseits heimlich Ausschau nach neuen Frauengeschichten. Bei jener Party, mit der Odile und Claude am Ende ihre neue Wohnung einweihen, kulminieren und kollabieren all diese Verhältnisse. So lange es nur irgend ging, haben diese Menschen einander im Unklaren gelassen. Sie haben falsche Berufe erfunden und sich falsche Gefühle angemaßt. Aus Angst vor dauerhafter Verantwortung, aus Verstellungslust oder aus purer Depression.

Doch von derlei Erdenschwere spürt man kaum einen Hauch, so charmant und elegant gleitet dieser Film daher.




Sprache frißt Liebe auf – Goethes Trauerspiel „Clavigo“ im Essener Grillo-Theater

Von Bernd Berke

Essen. Mit seinem Trauerspiel „Clavigo“ machte Goethe 1774 nicht viel Federlesens. Nach einer Art Wette im traulichen Kreise hat er das Drama binnen einer Woche sozusagen „hingefetzt“. Doch das Stück hat Bestand. Goethe war eben gut. Nun eilt ihm das Essener Schauspiel hinterher und hält sich an die alte Fußball-Weisheit: „Das Spiel dauert 90 Minuten“. Schöne Kurzweil?

Clavigo (Denis Petkovic) befindet sich auf dem Karrieretrip, er rechnet sich Chancen beim spanischen Hofe aus. Als Star-Autor läßt er sich gern von liebenden Musen beflügeln, doch rasch langweilen sie den Sturm- und Drang-Menschen auch wieder. Folglich hat er die süße Französin Marie sitzenlassen, also schmählich entehrt.

„Daß man so veränderlich ist!“, staunt der Wankelmütige über sich selbst. Denn zwei Seelen wohnen, ach, in seiner Brust. Auch ein romantischer Träumer glaubt er zu sein und als solcher meint er Gewissensbisse zu haben. Doch die werden ihm vom Einflüsterer Carlos (stark: Manfred Meihöfer) geradezu mephistophelisch ausgeredet – im Sinne schrankenloser Selbstverwirklichung, die dem Genie zustehe. Frauen schänden? Na, klar! Wenn’s dem eigenen Fortkommen dient…

Der Rechthaber als Springteufel

Gegenspieler Beaumarchais schnellt in Essen wie ein Springteufel auf die Bühne. Der Ehrenmann ist nach Madrid geeilt, um seine Schwester Marie (puppenhaft naiv: Sigrid Burkholder) zu rächen. Anders als bei Goethe, läßt er sich hier in diesem brennenden Wunsch nie erweichen. Seine erste Unterredung mit Clavigo beginnt mit gewundenen diplomatischen Floskeln, doch bald fällt die Maske: Mit blutroten Handschuhen angetan, will sich der Rechthaber am Feinde nur gewaltsam gütlich tun. Überhaupt verbirgt die schöne Sprache diesmal nur Falschheit, ja, sie erweist sich im Lichte der wahren Triebe und Interessen als Gesülze. Deutlich wird die liebes- und lebensfressende Gewalt wohlgesetzter Worte bei gleichzeitiger Seelenkälte.

Versöhnung gibt‘ s in der Essener Inszenierung (Regie: Erich Sidler) nicht, höchstens Kumpanei. Und wo bei Goethe die finalen Todesfälle empfindsam beredet werden, ist’s in Essen flugs getan: ein Stich, ein Satz, vorbei.

Am Ende die rohen Tat-Sachen. Unbehauste Welt: keine Möbel, fast keine Gegenstände (Bühne: Miriam Möller). Man sieht anfangs nur einen breiten, ganz flachen „Cinemascope“-Ausschnitt mit blaßblauem Hintergrund. Dieser Einblick, der Distanzen und Künstlichkeit betont, weitet sich langsam, zugleich sinken die Figuren allmählich zum Bühnenboden herab. Vom Himmel des Idealismus werden sie herabgeholt, stellenweise auch etwas achtlos herabgezerrt. Doch einen interessanten Ansatz, das Stück bei den Hörnern zu packen, hat man gefunden. Der Text hält es aus.

Termine: 9., 23. April, 2., 17. Mai. Karten: 0201/8122-200.




Mozarts Handschrift und die verrätselte Welt – Gerhard Roths Roman „Der Plan“

Von Bernd Berke

Konrad Feldt, Bibliothekar in der Nationalbücherei von Wien, leidet an einer Berufskrankheit Er ist vernarrt in Schriftgut jeder Sorte. Der Lesesüchtige betrachtet die ganze Welt wie einen Text, den man erst entziffern muß.

Diesen Buchstaben-Mann schickt der österreichische Autor Gerhard Roth (Romanserie „Die Archive des Schweigens“) in seinem neuen Opus „Der Plan“ durch Japan, wo Feldt Vortrage über die Wiener Bibliothek halten soll. Aber das ist nur ein Vorwand. Nichts Kulturbeflissenes hat Feldt im Sinn. sondern Kriminelles.

Jedenfalls versteht Feldt in Nippon auf einmal nichts mehr. Andere Sprache, fremde Schrift, verworrener Sinn. Fortan muß er sich alle Bestandteile der Wirklichkeit nach Art von Rebus-Rätseln zusammenreimen. Sein Text der Welt ist völlig durcheinander geraten.

Das macht Feldts Vorhaben um so gefährlicher: In Wien hat er einen unschätzbar wertvollen Papierfetzen mitgehen lassen, den Ausriß aus einer Notenhandschrift Mozarts zum „Requiem“. Den will er in Japan für eine Million Dollar an den Antiquitätenhändler Dr. Hayashi versilbern. Wie der aussieht, weiß Feldt nicht. Wird der Unbekannte etwa Mittelsmänner vorschicken, wird er versuchen, Feldt das Manuskript zu rauben?

Große Namen fallen wir reife Früchte

Die telefonische Verabredung verschwiegener Treffpunkte führt zu einem bedrohlichen Verwirrspiel, zu einer nicht mehr planbaren „Schnitzeljagd“, bei der es um Leben und Tod geht. Überall in diesem Labyrinth könnten Gefahren lauern, niemandem – vielleicht nur den eigenen Instinkten – kann man trauen.

Feldt legt sich die japanischen Eigenheiten nach Mustern zurecht, die ihm zu Gebote stehen: Immer wieder fallen ihm zu den Situationen, in die er gerät, Vergleichsmodelle aus europäischer Literatur und Malerei ein, was sich bei Roth vielfach zum „name dropping“ auswächst: Dante, Celan, Rimbaud, Pessoa, Botticelli und Pasolini werden flugs in einem Atemzug genannt – die großen Namen fallen auch sonst wie reife Früchte.

Seltsames geschieht: Frau Sato, einheimische Begleiterin, die man Feldt auf der Reise zur Seite stellt, wird seine Geliebte, entzieht sich dann aber auf ätherische Weise, um wie aus dem Nichts wieder aufzutauchen. Der Antiquar wird erschossen, Feldt entgeht dem Anschlag mit knapper Not.

Ein durch riskante Forschungen versehrter Erdbeben-Experte tritt auf wie ein Todesbote. Und siehe da: In heftigen finalen Erdstößen zersplittert am Ende die Welt wie beim Jüngsten Gericht – und damit verblassen auch die Rätselbilder von ihr. In den Momenten der Katastrophe scheint die Wirklichkeit gräßlich greifbar, nicht mehr verstellt vom Trug und Trost der Worte. Die Stunde der wahren Empfindung.

Roth erntet in diesem Roman (gelegentlich etwas unausgereifte) Früchte einer eigenen Lesereise durch Japan. Er wird nicht müde, etwa die Sitten in japanischen Schwitzbädern zu schildern. Und er mixt die Genres: Mal liest sich das Buch wie ein Reiseführer, dann wie ein Thriller, ein Kultur-Feature oder die Vorlage zu einem Katastrophenfilm. Ein Puzzlespiel für geübte Leser.

Gerhard Roth: „Der Plan“. Roman. S. Fischer Verlag. 301 Seiten, 39,80 DM.




In finsteren Zeiten – „Jugend ohne Gott“ nach Ödön von Horváth am WLT in Castrop-Rauxel

Von Bernd Berke

Castrop-Rauxel. Gewiß doch: Die Weißen seien den Schwarzen wohl überlegen. Freilich: „Auch die Neger sind Menschen“, schränkt der Geschichtslehrer verschämt ein. Genug. Das reicht. Schon beschweren sich die Eltern der Schüler über die „Humanitätsduselei“, schon fordern die Pennäler eine andere Lehrkraft von deutschnationalem Schrot und Korn.

Wahrlich, sie lebten in finsteren Zeiten: 1937 schrieb Ödön von Horváth den Roman „Jugend ohne Gott“, eine wie mit dem Seziermesser vollführte Freilegung alltäglicher Verhaltensweisen im Totalitarismus. Die illusionslos knappe und klare Prosa eignet sich wegen der vielen Dialoge bestens für eine Bühnenumsetzung.

Metallische Töne im Studio des Westfälischen Landestheaters (WLT): Sechs frei hängende, plattgewalzte Stahl-Rechtecke beherrschen die karge Bühne. Schlagen oder treten die Schauspieler vor diese Bleche, so hört man jenes bedrohlich flatternde Geräusch, das aus einer menschenleeren Welt zu kommen scheint.

Und tatsächlich: Sind es denn noch wirkliche Menschen, die einander hier bespitzeln und denunzieren? Oder sind es nicht schon seelenlos starrende Wesen in einem geist- und gottfernen „Zeitalter der Fische“ wie Horváth es nennt?

Im Wehrerziehungslager müssen die Jugendlichen vor dem Feldwebel (Britta Kohlhaas) zackig exerzieren. Sie tun es bereitwillig. Im Marschtritt üben sie asiatische Kampftechniken. Dazu wummert Techno-Musik. Zudem wird der gängige, erotisch nicht gerade attraktive Mädchentypus der Zeit „Venus mit Rucksack“ genannt. Aha, aha: Kraftsport, Techno und Rucksack. Da hört man Zeitgeist trapsen, geradewegs in unsere Gegenwart hinein. Ob’s auch stimmig ist?

Schüler „Z“ (Peter Stemler) hat sich einen Rest von Eigensinn bewahrt, er schreibt im Lager heimlich Tagebuch und liebt nächtens ein streunendes Mädchen. Der Lehrer (Frank Schikore) bricht das Tagebuch-Kästchen auf, „Z“ aber verdächtigt den Mitschüler „N“ (Jens-Peter Fiedler), der bald darauf tot aufgefunden wird, erschlagen mit einem Stein. Wer war’s?

Vor Gericht tun sich Abgründe auf: Schüler „T“ (Karsten Leyer), der mit dem kalten Fisch-Blick, wollte alles mal selbst sehen, Geburt und Tod. Nur um zu wissen, wie es ist. Ansonsten unberührt, fühllos.

Einfach und klar wie die Vorlage ist Marc Wernlis redliche Inszenierung geraten, er hat die Szenenfolge in kurze scharfe Auf- und Abblenden gegliedert. Allerdings wird man das Gefühl nicht los, er habe zu früh Bescheid gewußt und den Stoff gar nicht so genau erkundet.

Im insgesamt passablen Spiel des jungen Ensembles fehlen gelegentlich feinere Nuancen. Die Brüllerei klingt immer gleich. Sie haben’s aber auch nicht leicht. Oft binnen Sekunden müssen sie ihre Rollen wechseln und beispielsweise plötzlich den eigenen Vater spielen. Das schlaucht.

Nächste Termine: 5. März, 10.30 Uhr (Castrop-Rauxel), 1 1. März, 10.30 Uhr (Olpe, Stadthalle). Infos und Karten unter 02305/1617.




Des Menschen Fleisch in Lust und Leid – Der streitbare Wiener Bildhauer und Maler Alfred Hrdlicka wird heute 70 Jahre alt

Von Bernd Berke

Provokation ist das Lebenselixier des Wiener Malers und Bildhauers Alfred Hrdlicka, der heute 70 Jahre alt wird. Hrdlicka würde gewiß glauben, er hätte etwas falsch gemacht oder seinen Elan verloren, wenn sich eines Tages niemand mehr über ihn und seine Werke aufregt.

Manchmal schoß der Berserker weit übers Ziel hinaus. 1994 etwa, als er den Sänger Wolf Biermann wegen dessen Kritik an der PDS einen „Arschkriecher“ nannte und ihm gar „die Nürnberger Rassegesetze an den Hals“ wünschte. Eine schreckliche verbale Entgleisung, die er wohl auch selbst bedauert hat. Aber er ist nicht der Mann, der klein beigibt und sich öffentlich entschuldigt. Als angenehmen oder gar pflegeleichten Menschen wird man ihn nicht bezeichnen können, sondern nur als unbequemen, unbeugsamen.

Kommunismus als Richtschnur

In der Kunst ist Hrdlicka einem ins Extreme getriebenen Realismus auf fast schon sture Weise treu geblieben. Das mißfiel den Verfechtern dezenter Abstraktion. Hrdlickas Darstellungen geiler oder geschundener Körper (die uralten Themen: Eros und Tod) sind von einer kraftgenialisch und manchmal brutal anmutenden Überdeutlichkeit. Vergrößert und vergröbert erscheinen Genitalien, aber auch zerfetzte Gliedmaßen. Es sind schmerzliche Darstellungen der Lust und des Leidens, auch des Mitleidens. Das Bild des Menschen wird auf fleischliche Gegenwart fokussiert, ob als intakte Figur oder als verrenkter Torso. Faszination durch Gewalt und der Abscheu vor ihr werden zuweilen eins.

Hrdlicka wurde am 27. Februar 1928 als Sohn eines kommunistischen Gewerkschafters in Wien geboren. Auch er selbst orientiert sich am Kommunismus, war aber klug genug, 1956 nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands aus der Partei auszutreten.

Entschieden antifaschistisch

Als Künstler stellt er sich ganz entschieden in die sozialkritische Tradition der Linken. Immer wieder hat er entsprechende Aufträge bekommen: 1981 schuf er für Wuppertal eine tonnenschwere Skulptur des Friedrich Engels, 1985/86 für Hamburg ein mehrteiliges Gegen-Monument zum dortigen NS-Kriegerdenkmal aus dem Jahre 1936, und 1988 erhielt Wien sein „Mahnmal gegen Krieg und Faschismus“. All diese Projekte zogen jahrelangen Streit um Gestaltung und Finanzen nach sich. Doch durch derlei Kleinigkeiten hat sich Hrdlicka noch nie beirren lassen.

Von Beherrschung der Technik und des Materials zeugen nicht nur seine Plastiken, sondern auch Radierzyklen wie „Tausendundeine Nacht“, „Roll over Mondrian“, „Wie ein Totentanz“ oder zeichnerische Werkgruppen wie zu Thomas Manns Novelle „Der Tod in Venedig“.

Hrdlicka fühlt sich vom Kunstbetrieb gelegentlich vernachlässigt, doch es hat in den letzten Jahren bedeutende Retrospektiven gegeben. 1994 war er im Dortmunder Harenberg-Center höchst präsent, 1997 richteten ihm Franfkurt und Wien eine große Werkschau aus.

 




Mann aus kaltem Marmor – Ernst Jünger starb mit 102 Jahren in seiner schwäbischen Zuflucht Wilflingen

Von Bernd Berke

Als der Zweite Weltkrieg endete. war der Schriftsteller Ernst Jünger bereits 50 Jahre alt. Selbst 1914, als der Erste Weltkrieg begann, war er kein Kind mehr, sondern ein 19-Jähriger. Jünger, der gestern mit 102 Jahren starb, hat eine ungeheure Lebensspanne, hat nahezu unser gesamtes Jahrhundert durchmessen. Manche haben ihn allein deswegen in mythische Höhen entrücken wollen.

In jüngster Zeit etwa näherten sich Autoren wie Botho Strauß und Rolf Hochhuth dem Phänomen Ernst Jünger „auf den Knien ihres Herzens“, wie jenes herrlich windschiefe Kleistsche Sprachbild lautet.

Falls man auch nur ein wenig liberalen Geist bewahrt hat, darf man dies nicht vergessen: Der am 29. März 1895 in Heidelberg als Sohn eines Apothekers geborene Ernst Jünger hat den Zerfall der Weimarer Demokratie und noch das Heraufdämmern der NS-Diktatur pathetisch gefeiert.

Vision vom perfekten Körper des Soldaten

Den Jugendlichen zog’s fort zur Fremdenlegion. Vielleicht hat er sich Freiheit und Abenteuer erträumt. In den Ersten Weltkrieg stürzte er sich dann – wie so viele – mit schäumender Begeisterung. Vierzehn Verwundungen trug er davon.

1920 erschien sein literarischer Erstling „In Stahlgewittern“. Weit entfernt von Ernüchterung nach den furchtbaren Schlachten, pries Jünger die „stählernen“ Soldatenkörper und deren „Erlösung“ im allumfassenden Blutrausch. Liest man diesen Text gegen den Strich, so kann er freilich eine höchst wertvolle Lektüre zur Entschlüsselung des Jahrhunderts sein. Dann enthüllt das Buch nämlich sehr präzise die Triebkräfte jener „Männerphantasien“, wie sie Jahrzehnte später von Klaus Theweleit namhaft gemacht wurden.

Jünger selbst schritt – äußerlich kalt bis ans Herz – so gut wie unversehrt durch alle kommenden Katastrophen, nie wieder warf er sich an vorderste Fronten. Der erklärte Geistes-Aristokrat legte sich eine Attitüde der Unnahbarkeit zu. Er stand über allem.

Proletarier als kraftstrotzende Titanen

1932 erschien Jüngers Buch „Der Arbeiter“. Der Autor ließ sich damals zwar auch vom bolschewistischen Menschenbild inspirieren, doch in den Proletariern sah er beileibe keine ausgebeutete Klasse, sondern kraftstrotzende Titanen, die mit dem Rhythmus eiserner Maschinen verschmelzen. Ein ähnlich mitleidloser Männerbund wie das Militär. Für Frauen war in dieser grausigen Welt eigentlich kein Platz, auch nicht für Opfer der Gewaltsamkeit.

Die Nazis verachtete Jünger insgeheim als niedere Plebejer, nachdem er selbst ihren Un- : geist mit heraufbeschworen hatte. Im besetzten Paris residierte er als einer der deutschen Statthalter im Stab des dortigen Wehrmachts-Befehlshabers. Das Inferno der Eroberung hatte er auch schon mal bei einem guten Glas Wein als ästhetisches Schauspiel goutiert. Ein Herrenreiter, der auf Ordnung hielt, sich aber vom flammenden Chaos faszinieren ließ und gelegentlich mit Rauschmitteln experimentierte. Derlei Erfahrungen komprimierte er in dem 1970 erschienenen Band „Annäherungen. Drogen und Rausch“.

Daß ihn gerade französische Intellektuelle so verehren, hat vielleicht mit deren Hang zu erzdeutschen Gegenbildern gallischer Leichtigkeit zu tun: Wagner, Nietzsche, Heidegger, Jünger. Vier tiefe teutonische Abgründe, in die man jenseits des Rheins mit wohligem Schaudern blickt.

Politik im Zeichen der Biologie

Einzelne mag Jünger mit Anstand vor dem Tode gerettet haben, doch das schlimme Ganze hat er ohne Gegenwehr geschehen lassen, als beträfe es ihn gar nicht. Stets neigte er dazu, Politik und Geschichte unter biologischen Vorzeichen zu sehen, wie unabwendbare Naturereignisse. An all dem änderte auch sein Werk „Auf den Marmorklippen“ (1939) wenig, das als Schlüsselroman über Konflikte zwischen NS-Bonzen gedeutet werden konnte. Das vierjährige Publikationsverbot, das die Alliierten 1945 über ihn verhängten, kam jedenfalls nicht von ungefähr.

Oft hat man Jüngers Sprachstil über die Maßen bewundert. Doch neben jenen wie aus kaltem Marmor perfekt gemeißelten Passagen gibt es auch Blendwerk. Die Klarheit ist im Kern oft schiere Banalität. Nicht selten schrieb Jünger unerträglich gravitätisch, indem er noch die geringsten Dinge aus seinem Umkreis zu Ausformungen des Weltgeistes erklärte.

Seine seit 1980 erschienenen Alterstagebücher „Siebzig verweht“ (inzwischen fünf Teile) zeigen ihn mit seiner Insektensammlung, mit Ur-Mutter Erde und der Ewigkeit eisig allein, erhaben über alle Gegenwart. Zu solchen überzeitlichen Höhen zog es auch Staatsmänner wie Kanzler Kohl und Frankreichs verstorbenen Staatspräsidenten Mitterrand hinan, die Jünger gemeinsam im oberschwäbischen Wilflingen besuchten, wo der Autor seit 40 Jahren zurückgezogen lebte.




Als das „Milljöh“ noch frisch und lebendig war – Zeichnungen von Heinrich Zille im Kölner Kollwitz-Museum

Von Bernd Berke

Köln. Über Heinrich Zille rümpfen viele Kunstkenner die feinen Nasen.Gar zu lieblich erscheinen aus heutiger viele seiner „Milljöh“-Studien.

So kommt es.‘ daß weite Teile seines populären Werkes nicht in Museen vorgezeigt werden, sondern in Privatsammlungen vor sich hin schlummern. Das Kölner Kollwitz-Museum macht nun eine Ausnahme und holt rund 180 Zille-Zeichnungen aus solchem Schattendasein.

Zilles Gesamtwerk war für Jahrzehnte schmerzlich halbiert, die Bestände fast zu gleichen Teilen auf den Osten und Westen Deutschlands verstreut. Seit der Vereinigung ist der umfassende Zugang problemlos möglich. Davon profitiert auch die im Hannoveraner Wilhelm-Busch-Museum getroffene Auswahl, die Köln in konzentrierter Form erreicht und die einmal wieder den Zeichner würdigt. Zuletzt waren weitaus häufiger Zilles Fotografien gezeigt worden.

Besonderes Augenmerk gilt hier nicht den detailliert ausgeführten Arbeiten, sondern den meist vor Ort entstandenen, flüchtigen Skizzen, also der noch ganz lebensfrischen Phase im Werkprozeß.

Zudem sind vorwiegend Arbeiten der Jahrhundertwende zu sehen. Später, nach dem Ersten Weltkrieg, produzierte Zille praktisch nur noch en masse für Illustrierte – in eingefahrenen Bahnen, mit ausformulierten bildnerischen Floskeln und einem recht starren Typen-Arsenal.

Deftiges Treiben in Kneipen und Schaubuden

Den Skizzen aber sieht man noch an, dass der künstlerische Autodidakt Zille einen wachen Sinn für bildkräftige Situationen und knorrige Charaktere hatte. Es macht den Reiz dieser Ideenfindungen aus, daß sie eben noch nicht so pittoresk und pausbäckig wirken wie so viele „fertige“ Bilder.

Zille interessierte sich vor allem fürs deftige Treiben in proletarischen Kneipen („Budiken“), billigen Varietés und lärmerfüllten Schaubuden. In den Vierteln der armen Leute erschrak er über unvorstellbar beengte und schmutzige Lebensverhältnisse. Mit seiner Lithographie-Serie „Des Lebens satt“ (um 1899) wies er auf eine erschütternde Folge der desolaten Zustände hin: Manche Menschen sehen keinen Sinn mehr und wollen nur noch „ins Wasser gehen“. Ein kleines Mädchen versucht verzweifelt, die Mutter vom Sprung von der Spree-Brücke abzuhalten. Ein Aufschrei. Solchen Bildern merkt man das ratlose Mitleiden an.

„Fleischkrieg in der Markthalle“ (um 1908) zeigt den Ansturm der Mittellosen auf die Metzgerstände. Ein spektakuläres, nahezu filmreifes Bild. Gelegentlich verwendet Zille auch Extremformate bis hin zu einer Vorwegnahme der Breitwand. Das Elend in „Cinemascope“…

Angesichts der Kölner Bilder ahnt man es schon hie und da, im späteren Werk wird es überhand nehmen: Zilles Bilder sind gelegentlich so überschaubar „erzählerisch“ angelegt, daß man sie der wackeren Gebrauchskunst zurechnen muß. Da bleibt kaum ein Rätsel mehr übrig und somit auch kein Zauber, sondern manchmal nur noch folkloristische Ver-kitschung.

Die so bitter notwendige, nüchterne Feststellung der Tatsachen scheint schließlich eine Art selbstzufriedener Resignation sich zu ziehen: Seht her, so sieht sie aus, unsere niedliche Not! Veränderbar erscheinen die geschilderten Verhältnisse jedenfalls nicht mehr.

Heinrich Zille. Bis 5. April im Kollwitz-Museum, Köln, Neumarkt 18-24 (Neumarkt-Passage). Tel. 0221/227-2363. Öffnungszeiten: Di-So 10-17 Uhr, Do 10-20 Uhr, Mo geschlossen. Katalog 48 DM.

 




Bunter war die Mode nie – Dortmunder Ausstellung „Künstler ziehen an“: Avantgarde-Kleidung 1910-1939

Von Bernd Berke

Dortmund. Der Hemdkragen aus blitzendem Aluminium, die Weste papageienhaft bunt, der Anzug mit allerlei farbenfrohen Mustern und lustigen Stoff-Ansteckern. Wäre es nach den Avantgarde-Künstlern gegangen, würden besonders die „Herren der Schöpfung“ nicht so gezwungen grau in grau herumlaufen, wie sie’s meistens tun. Die Dortmunder Ausstellung „Künstler ziehen an“ zeigt Schöpfungen am Schnittpunkt zwischen Alltagsmode und Hochkultur, entstanden zwischen 1910 und 1939.

Metropolen unter sich: Ursprünglich sollte die Schau in der Welt-Modehauptstadt Paris gezeigt werden. Der Plan scheiterte auf höchster politischer Ebene (beim Treffen Kohl / Chirac) an Etat-Fragen. Dann war das New Yorker Metropolitan Museum im Gespräch, konnte aber erst fürs Jahr 2001 zusagen. Wer zu spät kommt, den bestraft das Ausstellungswesen…

In Dortmund griff man jedenfalls sofort beherzt zu – und erhielt jetzt gar eine auf rund 300 Exponate erweiterte Fassung. Zeitgenössische Originalkleider und später nachgeschneiderte Stücke findet man ebenso wie Stoffproben und zeichnerische Entwürfe. Übrigens: In der Museumsvitrine wird etwa aus der schlichten Hose ganz von selbst ein Kunst-Stück, das man ernsten Sinnes wie eine Skulptur umschreitet.

Ein Extra-Hut für rasante Geschwindigkeit

 

Der durchweg anregende Rundgang durchs Museum am Ostwall beginnt mit den modischen Kapriolen der italienischen Futuristen, die der Kunst rasante Bewegung einpflanzen wollten. Und so entwarf Aldo De Sanctis schicke Kopfbedeckungen nicht nur für Regen- und Sonnenwetter (letztere mit Luftlöcher-Klimazone), sondern auch einen wohl für Autofahrer gedachten schnittigen „Hut der Geschwindigkeit“.

Die metallischen Hemden, deren tapfere Träger auf Dauer vor Schmerzen gejault haben dürften, zeugen gleichfalls von eherner Technik-Begeisterung und einer Art Rüstungs-Bereitschaft. Zur gleichen Zeit zwang Giacomo Balla Grau raus, indem er um 1930 clownsbunte Herrenanzüge aus filzartig aufgerauhter Wolle schneidern ließ, in denen er schon mal selbst einherstolzierte.

Auch dafür, daß sich die Futuristen blindlings mit Mussolinis Faschismus eingelassen haben, findet sich in Dortmund ein Belegstück: Der Anzug, dessen Kolorierung sich aus den italienischen Nationalfarben rot, weiß und grün herleitet, firmiert – scheinbar ganz arglos – als Modell „fascista“. Nichts ist unpolitisch, auch die Mode nicht.

Befreiung und Rückkehr der Zwänge

Diese Erkenntnis gilt auch für die textilen Anstrengungen der russischen Avantgarde, die einen zweiten Schwerpunkt der Ausstellung bildet (ein dritter ist dem Bauhaus-Umkreis gewidmet). In der russischen Abteilung sieht man z. B. geometrisch bestimmte Kleidungs-Entwürfe von Kasimir Malewitsch und Ljubow Popowa oder Stoffmuster nach Ideen von Alexander Rodtschenko.

Während die italienischen Künstler meist Einzelstücke herstellten, drängte es die russischen nach der Oktoberrevolution auch auf diesem Felde in die industrielle Fertigung. Ihre Visionen einer Bildwerdung des „Neuen Menschen“ sollten möglichst massenhaft produziert werden. Hinter diesem Antrieb lauert freilich die Gefahr des Kollektivismus.

In eine ähnliche Richtung driften die reformerischen Entwürfe des Mannes mit dem Künstlernamen Thayaht: Er dachte sich im Geist der Utopie die „tuta“ aus, ein schlichtes weißes Kleidungsstück, das just für die ganze Menschheit vorgesehen war.

Zweischneidige Sache also: Wenn Künstler Mode erfinden, so sind sie vielleicht anfangs auf Befreiung von Zwängen und Einschnürungen aus. Doch manchmal kommen die Zwänge hinterrücks wieder.

„Künstler ziehen an“. 8. Februar bis 19. April (Di-So 10-18, Mi 10-20 Uhr). Ausstellung des Museums für Kunst und Kulturgeschichte im Museum am Ostwall (Ostwall 7 / Infos: 0231/50 26 717). Eintritt 12 DM, Katalog 49 DM.

 

 




Stückeschreiber, Macho, Poet und manches mehr – Bertolt Brecht vor 100 Jahre geboren

Von Bernd Berke

Bertolt Brecht würde am 10. Februar 100 Jahre alt werden. Theater und Verlage würdigen das Gedenk-Ereignis mit zahllosen Neuinszenierungen und Büchern. Stehen wir damit vor einer Wiederentdeckung seiner Werke, oder wird die Fülle der Publikationen jene „Brecht-Müdigkeit“ noch verstärken, die sich in den letzten Jahren bei manchen breit gemacht hat?

Was fällt einem denn zu Bertolt Brecht noch ein? Soll man etwa abermals seine berühmten Theaterstücke („Dreigroschenoper“, „Mutter Courage“ „Galilei“ und all die anderen) herbeten? Soll man wieder einmal die Vitalität seines Frühwerkes („Trommeln in der Nacht“, „Baal“, „Hauspostille“) gegen die ausgefeilten Techniken und Formeln späterer Arbeiten ausspielen?

Soll man gar, wie rigorose Kritiker dies getan haben, behaupten, sein ach so „trockenes“ Lehr- und Verfremdungs-Theater habe sich längst überlebt? Es werde nur ein Teil der Gedichte im Gedächtnis bleiben, befinden diese Skeptiker. Damit würde die einst überlebensgroße Figur der politischen Dichtung plötzlich zu einem Liebeslyriker schrumpfen. Darf das denn wahr sein? Nun, zumindest steht fest, daß Brecht (auch) wundervolle Liebesverse verfaßt hat. Beispiel, gewiß entstanden nach einer schönen Liebesnacht:

„Als ich nachher von dir ging / An dem großen Heute / Sah ich, als ich sehn anfing / Lauter lustige Leute. – Und seit jener Abendstund / Weißt schon, die ich meine / Hab ich einen, schönern Mund / Und geschicktere Beine. – Grüner ist, seit ich so fühl / Baum und Strauch und Wiese / Und das Wasser schöner kühl / Wenn ich s auf mich gieße.“

Laxheit in Fragen geistigen Eigentums

Mag sein, daß Brecht diese tänzelnden Zeilen geschrieben hat, während eine seiner häufig wechselnden Frauen für ihn schuftete; während sie seine Texte ins Reine tippte oder Ideen für ihn ausbrütete, die er hernach „nur“ noch zu formen brauchte – bevor er wieder mit ihr zu Bette ging. Möglich, daß manch ein Einfall in seinem Werk gar nicht von ihm stammt, sondern von der oder jener ausgenutzten „Muse“ – von Elisabeth Hauptmann etwa oder Margarete Steffin.

Brecht, genialer Verwerter traditioneller Vorlagen bis hin zur Bibel, hat derlei Fälle schon mal ganz cool mit dem Eingeständnis seiner „Laxheit in Fragen geistigen Eigentums“ beiseite gewischt. Der Kerl mit der Lederjacke war nicht nur als Analytiker, sondern auch als Praktiker ein Kenner der Ausbeutung. Er war ein Macho. Aber davon gab es unzählige – nicht nur in der Literatur. Wenn deren Worte allesamt „erledigt“ wären, so stünde es schlecht.

Natürlich kann sich die Beschäftigung mit einer Jahrhundert-Figur wie Brecht nicht darin erschöpfen. Sie kann nicht den Gegner Hitlers und den politischen Emigranten ignorieren, der sich („öfter als die Schuhe die Länder wechselnd“) über halb Europa bis in die USA durchschlug und listig ein Verhör des Ausschusses für „unamerikanische Umtriebe“ überstand. Man darf ohnehin den stilbildenden Theatermann nicht außer acht lassen. Und man kann seine internationale Wirkung gar nicht übersehen. Welcher andere deutsche Stückeschreiber wird denn weltweit nachgespielt?

Jede Generation erlebte ihn anders

Mit Bert Brecht hat jede Nachkriegs-Generation eigene Erfahrungen gesammelt bzw. zunächst versäumt. Wer nämlich bis in die frühen 60erJahre hinein, zu Zeiten der Adenauer-Republik, in Westdeutschland Pennäler war, kannte ihn vielleicht nur als böses Gerücht. Als ostzonalen Kommunisten eben, der sich – man wußte nicht so recht, wie – mit dem SED-Regime gemein gemacht haben soll. Auf unseren Bühnen und in den Schulen kam er damals nur in Einzelfällen vor. Man ließ dort lieber Idylliker wie Carossa und Bergengruen lesen…

Im Laufe der 60er änderte sich das gewaltig. Besonders im Vor- und Umfeld der Revolte von 1968 gehörte Brecht, als einer der wenigen Schriftsteller überhaupt, zum Pflichtprogramm. Obwohl man damals den „Tod der Literatur“ ausrief: Seine bunten Bände aus der Edition Suhrkamp standen neben denen von Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und Karl Marx. Und wie gut paßten einem, wenn man damals jung gewesen ist, etwa die sinnreichen „Geschichten vom Herrn Keuner“ ins Lebenskonzept: Jemand, der diesen „Herrn K.“ nach vielen Jahren wiedersieht, sagt ihm ins Gesicht, K. habe sich aber gar nicht verändert. Was anderen als Lob gilt, läßt diesen K. nur erbleichen. Ja, diese Verlegenheit hat man verstanden. Verändern wollte man sich und alles. Möglichst täglich.

Um die Mitte der 70er Jahre stellte sich die seither vielbeschworene „Brecht-Müdigkeit“ ein. 1978 glaubte Hellmuth Karasek feststellen zu müssen, Brecht sei „mausetot“. Im Zeichen einer „Neuen Subjektivität“ wurden linke Autoren wie Franz Xaver Kroetz abgewertet, während ein subtiler Einzelfall-Beobachter wie Botho Strauß plötzlich höchste Weihen genoß. Parallel dazu ließ man Brecht links liegen und holte Rilke wieder hervor.

Man kann wohl den Rückschluß wagen: Wer immer wieder so gründlich „umgewertet“ worden ist wie Brecht, dessen Werk muß eben genügend Wert und Substanz besitzen, um verschiedenste (Miß)-Deutungen zuzulassen.

Andererseits könnte man argwöhnen, man habe mittlerweile jeden denkbaren Aspekt in Brechts Oeuvre diskutiert, so daß man die Gesamtausgabe gleich in die Regale mit der vermeintlich folgenlosen Klassik stellen kann.

In diesem Gedenkjahr wird es aber dermaßen viele Neuinszenierungen seiner Stücke geben, daß Akzent-Verschiebungen nicht ganz auszuschließen sind. Wer weiß. Vielleicht entdecken wir hier und da doch noch einen „anderen“ Brecht! Und vielleicht kommt man ja eines Tages doch noch auf den Satz zurück, den sich der Mann mit der Zigarre einst als Grabinschrift gewünscht hat: „Er hat Vorschläge gemachte Wir / Haben sie angenommen“.

_____________________________________________________

Brecht-Zitate: „Erst kommt das Fressen…“

Was ist schon der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?

Der Radwechsel

Ich sitze am Straßenrand
Der Fahrer wechselt das Rad
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
Mit Ungeduld?

Dauerten wir unendlich
So wandelte sich alles
Da wir aber endlich sind
Bleibt vieles beim alten.

Alle Künste tragen bei zur größten aller Künste, der Lebenskunst.

Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.

Wenn die Irrtümer verbraucht sind / Sitzt als letzter Gesellschafter / Uns das Nichts gegenüber.

Wenn Deutschland einmal vereint sein wird – jeder weiß, das wird kommen, niemand weiß wann – wird es nicht sein durch Krieg.

Der junge Alexander eroberte Indien. / Er allein? / Cäsar
schlug die Gallier. / Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?

Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist /
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt1

Ja, mach nur einen Plan
Sei nur ein großes Licht!
Und mach dann noch nen zweiten Plan
Gehn tun sie beide nicht.
Denn für dieses Leben
Ist der Mensch nicht schlecht genug.
Doch sein höh’res Streben
Ist ein schöner Zug.




Ein Roman wie eine träge Umwälzpumpe – „Morgen in der Schlacht denk an mich“ von Javier Marias

Von Bernd Berke

Jetzt ahnen wir, warum Borussia Dortmund 1997 gegen Juventus Turin das Finale der Champions League gewinnen konnte. Der spanische Autor Javier Marias („Mein Herz so weiß“) hat es 1994 vorausgesehen, als er seinen jetzt bei uns erschienenen Roman „Morgen in der Schlacht denk an mich“ schrieb: Juventus ist nachhaltig geschwächt, weil in Turin der Satanskult überhand genommen hat.

Der Ich-Erzähler des Romans, der über Hunderte von Seiten geisterhaft anonym bleibt und sich uns schließlich mit dem Namen Victor vorstellt, entnimmt den Befund einer italienischen Zeitung.

Diesem Victor ist nichts Satanisches, aber doch Gespenstisches widerfahren: Er hat Marta, deren Gatte gerade geschäftlich in London war, daheim besucht, mit ihr gespeist und sich schon auf den erotischen „Nachtisch“ gefreut. Doch da fühlt sich Marta plötzlich schlecht und immer schlechter. Sie stirbt schließlich in seinen Armen. Ein unerklärlicher, fast schon lachhaft absurder Tod. Martas zweijähriger Sohn bleibt allein im Kinderbettchen zurück. Als der Erzähler die Wohnung verläßt, nimmt er die Kassette mit rätselhaften Stimmen von Martas Anrufbeantworter mit und es sind 80 Romanseiten vorüber.

Bereits „Mein Herz so weiß“ begann ja mit einem solch mysteriösen Todesfall. Auch hat der anglophile Marias, 1997 Nelly-Sachs-Preisträger in Dortmund, erneut seinen Romantitel bei Shakespeare entliehen. Und wiederum bildet die gängige Marotte, halb angefangene Spielfilme im Fernsehen möglichst ohne Ton laufen zu lassen und irritiert dem verlorenen Zusammenhang nachzusinnen, einen Schwer- und Ankerpunkt der meist unendlich langsam sich fortwälzenden Erzählbewegung.

Charaktere sind nur Bausteine in einem Rede-System

Es gibt etliche weitere Parallelen zum vormaligen Bestseller. Hat Marias also sein Themenspektrum gefunden und gefestigt, oder soll man sagen: Er hat sich darin verfangen und verstrickt?

Mit Martas Tod beginnt eine Art Spuk, der Erzähler selbst kommt sich namenlos unwirklich vor. Auch andere Menschen erscheinen ihm wie verwunschen: Ob eine Straßenhure In Madrid identisch mit seiner Ex-Ehefrau ist, dessen ist Victor nicht einmal gewiß, als sie für Geld mit ihm schläft. Kurzum: Er fühlt sich wie auf der „Rückseite der Zeit“. Und er wird niemals müde festzustellen, daß ohnehin alles menschliche Sein so flüchtig wie geringfügig sei und der allfälligen Auflösung entgegenstrebe. Kaum variiert, werden derlei Denkfiguren immer wieder umständlich aufgegriffen und seitenweise nahezu wortgleich wiederholt. So kommt es, daß der Erzählstrom häufig stockt und quälend gestaut wird.

Auf verschlungenen Wegen lernt Victor, gleichsam ein Spion im Haus des Todes, nach und nach Martas Angehörige kennen – ihre Schwester Luisa, ihren Vater, den alten Tellez, am Ende ihren Ehemann Dean, der auf den allerletzten Seiten noch eine Enthüllung nachliefert.

Doch nur tapfere Leser werden sich dahin durchkämpfen. Die Figuren werden kaum zu Charakteren, sondern nur zu Bausteinen eines Rede-Systems. Sie alle äußern sich letztlich im gleichen Stil und greifen immer wieder exakt jene „philosophischen“ Stichworte auf, die der Erzähler längst vorgegeben hat. Kreuz- und Querbezüge werden eher künstlich herbeigeredet als kunstvoll geknüpft. Selbst der spanische König, dem auch ein Kapitel-Auftritt vergönnt ist, findet nicht aus diesem geschlossenen Kreislauf einer zum Fatalismus neigenden Melancholie heraus. Dieser Roman tuckert wie eine trage Umwälzpumpe vor sich hin: Alle bekräftigen immer wieder dasselbe…

Javier Marias: „Morgen in der Schlacht denk an mich“. Roman. Klett-Cotta, 428 Seiten. 44DM.




Was ist echt, was ist falsch? – Vom Unbekannten mit Schlapphut und der Essener „Jawlensky-Ausstellung“

Von Bernd Berke

Essen. Ein richtiger kleiner Kunst-Krimi verbirgt sich hinter der neuen Ausstellung im Essener Folkwang-Museum. Man stelle sich vor: Da tauchte vor Jahren ein anonymer Herr mit tief ins Gesicht gezogenem Schlapphut auf und führte dem deutschen Markt Hunderte von Aquarellen des modernen Klassikers Alexej von Jawlensky (1864-1941) zu. Von der Existenz einer solchen Werkgruppe hatte bis dato auch die Fachwelt nichts gewußt oder auch nur geahnt.

Spurlos ist der „große Unbekannte“ mit dem Schlapphut dann wieder verschwunden – und er hat ein bisher ungelöstes Rätsel hinterlassen: Sind die angeblich zwischen 1906 und 1920 entstandenen Aquarelle echt, oder handelt es sich um raffinierte Fälschungen?

Die Frage konnte nicht einmal naturwissenschaftlich geklärt werden. Stichprobenartige Materialuntersuchungen (Papier- und Farbsorten usw.) ergaben zwar keine Hinweise auf Fälschungen, doch die Herkunft des Riesenkonvoluts von 600 Aquarellen (waren sie in Revolutions- und Kriegswirren versteckt worden?) ist nun einmal höchst dubios. Einige Experten haben die Echtheit heftig bestritten.

Ein Wagnis fürs renommierte Museum

Es bedeutet also ein gewisses Wagnis, wenn jetzt das renommierte Folkwang-Museum diese Dinge ausstellt. Das Unterfangen könnte den guten Ruf ankratzen. Andere Häuser mochten dergleichen nicht riskieren, die Ausstellung hat keine weitere Station.

Museumsdirektor Georg-W. Költzsch sah sich denn auch zu Klarstellungen genötigt: Keinesfalls werde die Schau von Privat-Galerien mitfinanziert, die an einer Aufwertung der Aquarelle interessiert sein könnten. Man wolle selbst an der Klärung mitwirken und sei für alle Thesen empfänglich. Eine hochkarätig besetzte Fachtagung könne womöglich erste Aufschlüsse geben. Im Falle eines Nachweises werde man auch Fälschungen zugestehen. Költzsch: „Wir stellen uns dem Härtetest.“

„Wir wollen es wissen!“ sagt auch Prof. Michael Bockemühl (Kunsthistoriker an der Privatuni Witten/Herdecke), der die Ausstellung maßgeblich mitbetrieben hat und die Bilder für echt hält. Bockemühl: „Bisher gibt es kein stichhaltiges Argument dagegen.“ Man habe einen Briefwechsel zwischen Alexej von Jawlensky und seinem Bruder aufgefunden, in dem von einer Vielzahl von Aquarellen die Rede sei.

Ratlose Parole: „Das Auge ist der Richter“

Die Ausstellung führt eine Auswahl von 37 Ölgemälden (darunter Leihgaben aus dem Hagener Osthaus- und dem Dortmunder Ostwall-Museum), welche unstreitig von Jawlensky stammen, mit 150 der zweifelhaften Aquarelle zusammen. Motto der Auswahl: „Das Auge ist der Richter“. In aller Ratlosigkeit stellt man die Frage nach Original und Fälschung jetzt auch subjektiver Betrachtung anheim.

Es befinden sich ersichtlich einige dermaßen unausgereifte Aquarelle in der Ausstellung, daß sie wohl schwerlich von Jawlensky stammen können. Zugleich sind solche minderen Stücke aber auch ein Argument gegen die Fälschungs-Hypothese. Welcher Nachahmer würde solche Werke in die Welt setzen, wenn er doch den Eindruck erwecken will, sie stammten von einem großen Künstler? Und welcher Kopist würde überhaupt 600 Aquarelle produzieren und damit die Preise per Überangebot wieder nach unten drücken?

Etliche Aquarelle zeugen aber von meisterlichem Duktus, der auf Jawlensky hindeutet. Hier und da weist die Strichführung auf den sicher zugeschriebenen Ölbildern und den motivisch vergleichbaren Aquarellen (Porträts, Mittelmeer-Landschaften usw.) frappierende Ähnlichkeiten auf. Nur: Auch dies könnte auf einen geschickten Fälscher schließen lassen…

Museum Folkwang, Essen (Goethestraße / Tel.: 0201 / 884 53 14). Bis 22. März. Di-So 10-18, Do 10-21 Uhr. Katalog 45 DM.

 




Das Revier soll leuchten – Pläne der Kultur Ruhr GmbH für die nächsten Jahre

Von Bernd Berke

Dortmund. Sage niemand. daß man bei der Kultur Ruhr GmbH keine Visionen hat: „Weltmusik vor der Haustür“, „inszenierte Landmarken“, allerlei Gesamtkunstwerke und zahllose kulturelle „Vernetzungen“ – ja, das alles und mehr hatte die Gesellschaft mit beschränkter Haftung im Gepäck, als sie jetzt im Dortmunder Harenberg City-Center mitteilte, wohin – bis übers Jahr 2000 hinaus – in Sachen Revierkultur „die Reise geht“. Nach rund eineinhalb Jahren Vorarbeit hat sich ein Kern von 18 größeren Projekten herausgeschält. Doch längst nicht alle sind wirklich schon spruchreif.

Prof. Karl Ganser, Aufsichtsratsvorsitzender der Kultur Ruhr GmbH, legt Wert darauf, daß man keine teuren Stars ins Ruhrgebiet einfliege. Vielmehr sollen alle Vorhaben aus der kulturellen Substanz der Region selbst hervorgehen. Subventionierte Häuser und freie Szene arbeiteten dabei endlich einmal Hand in Hand. Kennzeichen etlicher Pläne: Die Industrielandschaft werde direkt ins künstlerische Geschehen mit einbezogen. Und „Vernetzung“ ist (wie so oft) das gängige Zauberwort.

Ein Star kommt doch: US-Künstler Richard Serra („Terminal“-Stahlplastik am Bochumer Hauptbahnhof) soll die Schurenbach-Halde zwischen Essen und Gelsenkirchen als riesige Landschafts-Skulptur gestalten. Die Halde wird nach seinen Vorgaben gepflügt und dann mit einer Walzstahlplastik gekrönt. „Erhabene Ruhe“ soll der Ort sodann vermitteln – Beispiel für „Landmarken“-Projekte.

Dortmunder „U“ – ein „Ort der Ungewißheit, des Stillstands“

Auch Dortmund bekommt etwas ab. Die hiesige „Landmarke“ ist das „Dortmunder U“, weithin sichtbarer Leucht-Buchstabe über dem früheren Gelände der Union-Brauerei. Noch weiß niemand, was mit diesem Innenstadt-Areal geschehen soll. An diesem „Ort der Ungewißheit, des Stillstands“ (Ganser) werden etwa 25 Künstler noch im Sommer 1998 womöglich zukunftsträchtige Zeichen setzen. Hintergedanke: Künftige Investoren sollen animiert werden, mit der bedeutsamen Stätte nicht nur kommerziell, sondern auch kreativ umzugehen. Ähnliche Impulse könnte der künstlerische Zugriff auf den Förderturm der ehemaligen Zeche Königsborn in Unna geben. Hier befindet man sich aber erst in der Ideenphase.

Jede Menge Festivals vor Industriekulissen

Ein weiteres Projekt trägt den neudeutschen Arbeitstitel „Connected Cities“ und soll die Revierstädte mit noch nicht näher bezeichneten Performance- und „Netzaktionen“ virtuell verknüpfen. Umfangreiche Ausstellungen im Essener Ruhrlandmuseum sowie in den Industriemuseen sind gleichfalls vorgesehen. Zur Jahrtausendwende soll hier „ein letzter Rückblick“ auf die unvergleichliche Gestalt dieser Industrieregion gerichtet werden.

Hochfliegende Pläne auch auf dem klingenden Sektor: Ein 1999/2000 anstehendes Festival „Musik-Theater Revier“ soll E-Musik und Industriekulisse auf unerhörte Weise verschmelzen: Wagner-Töne im Gasometer, Kompositionen von Edgar Varèse in einer Kokerei, geistliche Musik in alten Fabriken. Außerdem sollen Stücke für Maschinen geschrieben werden, z. B. eine Sinfonie für Sirenen…

Weitere Projekte der Kultur Ruhr GmbH (Tochter des Kommunalverbands Ruhrgebiet, des Vereins Pro Ruhrgebiet und der IBA Emscherpark) seien im Schnelldurchgang genannt: Festival mit „Weltmusik vor der Haustür“, möglichst bestritten von Revierbewohnern aus allen Ländern, „Jazz-Podium Ruhr“, „Internationales Chor-FestivaI“, „Fortissimo“ (gleichsam schwimmende Musik auf Schiffen, Rhein-Herne-Kanal), ein „Don Quichote“ als vielsprachige Euro-Theaterproduktion und „Ruhrwerk“, ein alle Künste vereinendes Bühnen-Projekt, frei nach einem Einfall von Bert Brecht.

NRW-Kulturministerin IIse Brusis war jedenfalls von der Ideenflut beeindruckt. Das alles werde dem Revier „neuen drive“ geben, befand sie.




„Götter Helden + Idole“: Eröffnungsschau in der völlig umgebauten Ludwig Galerie Schloß Oberhausen

Von Bernd Berke

Oberhausen. Welch ein verwirrender Empfang im Museum. Wer jetzt den Hauptflügel des Schlosses Oberhausen betritt, steht gleich vor einer Buddha-Figur. Das wird wohl eine Ostasien-Ausstellung sein, könnte man denken. Doch gleich hinter der ehrwürdigen Skulptur lächelt, achtfach vervielfältigt, Andy Warhols knallbunte Marilyn Monroe. Daneben wiederum zieht Warhols doppelter Elvis Presley zwei Colts. Buddhismus, weiblicher Eros und Rock’n’Roll. Ja, worum geht es denn hier eigentlich?

Auflösung folgt sogleich: Die Premieren-Schau der für 10,7 Mio. DM gänzlich umgebauten Ludwig Galerie im Schloß heißt „Götter Helden + Idole“. Solche Gestalten, die die Sehnsucht nach übermenschlichen Vor-Bildern stillen sollen, hat es eben zu allen Zeiten gegeben. Als religiöse Bildnisse diese Bedürfnisse nicht mehr befriedigten, haben die Stars aus Film und Pop-Musik das Erbe angetreten.

Die Ausstellung, größtenteils aus den weltweit verteilten Beständen der famosen Ludwig-Sammlungen bestückt, vereint somit ebenso kontrast- wie aufschlußreich Idole aus allen Kulturen und Epochen: Antike Heldenporträts stehen neben christlichen Heiligenfiguren und furchtlosen Rittern. Man bestaunt den Totem mit übergroßem Gemächt, Picassos Mischformen aus Mensch und Stier (Minotauren) sowie das vollends erkünstelte Idol Michael Jackson. Von Filmplakaten herab überwältigen entrückte Schönheiten wie Sarah Bernhardt oder Marlene Dietrich durch superbe Erotik. Und eines der rissigen Bilder von Anselm Kiefer zeigt, daß man auch mit architektonischen Pathosformeln Eindruck schinden kann.

Geschichte der Imponier-Gebärden

Der Rundgang soll nicht in erster Linie kunstgeschichtliche Kenntnisse vertiefen, sondern spontane Assoziationen hervorrufen. Man erfährt eine Menge über die bildlichen Strategien, mit denen Menschen optisch in Bann geschlagen und zur Ehrfurcht gebracht werden sollen, ja man könnte respektlos von einer „Kulturgeschichte der Imponier-Gebärden“ sprechen.

Es fällt auf, daß praktisch alle Idole, seien es indische oder afrikanische Gottheiten, seien es Rockstars, dem Betrachter frontal gegenübertreten. Manche Figuren haben geschlossene Augen, sie beachten einen nicht; andere starren herausfordernd oder furchterregend. Vielleicht haben die Idole selbst Angst, daher müssen sie uns Respekt einflößen. Gelegentlich ist dazu überhaupt kein Gesicht nötig, es reicht die Körperhaltung eines Torsos, um Macht und Würde auszudrücken.

Aggression oder unendliche Ruhe

Zwei Grundsorten von Idolen scheint es zu geben: Die einen legen es auf aggressive Bezwingung des Betrachters an, bei den anderen steckt in unendlicher Ruhe die überlegene Kraft. Allen gemeinsam ist, daß sie nichts Individuelles mehr ausstrahlen. Genau deshalb wirken sie überirdisch.

Eine weit ausgreifende Schau also zum Start des in eineinhalb Jahren völlig umgestalteten Museums, das am Sonntag von Ministerpräsident Johannes Rau und Peter Ludwigs Witwe Irene eröffnet wird. Vor den historischen Baukörper hat der Düsseldorfer Architekt Prof. Fritz Eller eine filigrane Glas-Stahlkonstruktion gesetzt. Effekt: Sonst stehen Vitrinen im Museum, hier scheint es fast, als sei das Museum einer riesigen Vitrine einverleibt worden. Durchs feine Entrée wurde auch mehr Platz für die Kunst geschaffen. Kurz und gut: Das Revier hat eine neue Attraktion.

Ludwig Galerie Schloß Oberhausen. Konrad-Adenauer-Allee 46 (über A 42, Abfahrt OB-Zentrum). Eröffnungs-Ausstellungen über „Götter, Helden + Idole“ (Katalog 38 DM) sowie zur Geschichte der Micky Maus (Nebengebäude), jeweils bis 13. April. Tägl. außer Mo. 10-18 Uhr. Eintritt 8 DM.




Spröder Charme und Lockung des Geldes – Impressionen aus Europas Kulturhauptstadt Stockholm

Aus Stockholm berichtet
Bernd Berke

Man stelle sich vor: Ein Theater, das auf seinen sieben Bühnen bis zu 1400 Aufführungen im Jahr abliefert und von morgens 10 Uhr bis zum späten Abend in Betrieb ist. In dem Gebäude herrscht schon tagsüber ein Kommen und Gehen wie in einer deutschen Großstadt-Fußgängerzone am Samstag. So etwas gibt s vielleicht nur in Stockholm, der neuen „Kulturhauptstadt Europas“.

Stockholms „Stadsteater“, einst mit sozialistischer Zielsetzung städtisch gegründet und künstlerisch meist im Schatten des königlichen „Dramaten“, befindet sich im riesigen Glas- und Beton-Kasten „Kulturhuset“ am „Sergels Torg“ inmitten der Stadt.

Melancholie am Saum des Kontinents

Nein, schön ist dieses Zentrum der schwedischen Hauptstadt nicht. Man erschrickt über Architektursünden sonder Zahl. Eine Internationale Bauausstellung, die einige Scheußlichkeiten hatte mildern können, wäre im Kulturjahr keine üble Sache gewesen. Immerhin gibt’s eine Fachkonferenz zum Thema.

Es lastet zu dieser Jahreszeit immer noch eine fast durchgehende Dämmerung auf der Stadt. Derlei Düsternis hat wohl schon manchen Winter-Touristen mit sanfter Melancholie erfüllt. Die Schweden trösten sich mit der Vorfreude auf helle Mittsommerwochen.

Besucher der Euro-Kulturhauptstadt, die mit rund 1200 Veranstaltungen lockt, tun jedenfalls gut daran, sich vor allem die Altstadt rings ums königliche Schloß anzusehen. Hier spürt man den (spröden) Charme dieser Kapitale. In besagtem Schloß verrichtet König Carl XVI. Gustav nur noch seine Amtsgeschäfte, ansonsten residieren er und seine Gattin Silvia draußen vor den Toren der Stadt – im idyllischen Schloß Drottningsholm.

Bestens erhaltenes Barocktheater

Auf dem gleichen Areal erhebt sich auch das 1764-66 erbaute, wohl besterhaltene Barocktheater der Welt mit einer fabelhaften Illusionsbühne und funktionierender Maschinerie. Hier gibt es im Sommer Ballett und Musiktheater vor historischer Kulisse, in diesem Jahr z. B. Opern von Gluck. Für König und Königin sind zwei Zuschauersessel in der ersten Reihe reserviert.

Peter Wahlqvist, Intendant des Stadsteater, hofft mit allen Veranstaltern der „Kulturhauptstadt“, daß Schweden nun ein wenig aus seiner kulturellen Randlage in Europa herausfindet. Umgerechnet rund 120 Mio. Mark stehen zur Verfügung, mit rund 60 Ländern in aller Welt kooperiert man. Bereits der famose Auftakt war außereuropäisch: Ein japanisches Feuerwerk zauberte tausend Farben an den Himmel über Stockholm.

Robert Wilson, Peter Brook und Pina Bausch gastieren

Mit gutem Geld lassen sich Berühmtheiten des Welttheaters in die von Ostsee-Schären umsäumte Millionenstadt holen. Beispielsweise Robert Wilson, Robert Lepage, Peter Brook und – erstmals seit über 16 Jahren in Schweden – Wuppertals Tanztheaterchefin Pina Bausch. Wilson inszeniert August Strindbergs „Ein Traumspiel“, Lepage führt im Stockholmer E-Werk bei Fernando de Rojas „Celestina“ Regie, Brook zeigt Mozarts „Zauberflöte“, Pina Bausch unter anderem „Café Müller“.

Die bekanntesten Kulturschaffenden Schwedens steuern gleichfalls Neues bei: Film- und Theaterregisseur Ingmar Bergman sorgt für die Uraufführung von Per Olov Enquists Stück „Bildermacher“, der Dramatiker Lars Noren hat sein Drama „Personenkreis 3:1″ für die Bühne eingerichtet (zu neuesten Querelen zwisehen Noren und Bergman siehe Meldung auf dieser Seite).

Ein 69 Meter langer Mythos der Seefahrt

Das meistbesuchte Museum der Stadt heißt „Vasa Museet“. Hier kann man das erst 1961 geborgene, 69 Meter lange Kriegsschiff „Vasa“ fast im Originalzustand bestaunen. König Gustav II Adolf hatte es anno 1625 in Auftrag gegeben. Der Größenwahn des Monarchen, nachträglich eine weitere Kanonen-Etage obenauf setzen zu lassen, brachte die Dimensionen des Schiffs völlig aus der Balance. Schon bei der Jungfernfahrt im Jahre 1628 vor Tausenden von Zuschauern, kenterte und sank der „stolze“ Dreimaster – in Schweden ein Mythos von „Titanic“-Ausmaßen. Just vor diesem Schiff sollen im Rahmen des Kulturjahres die Berliner Philharmoniker spielen. Das werden erhabene Momente sein.

Programme der Euro-Kulturhauptstadt sind (in englischer Sprache) erhältlich über: Box 16398, SE-10327 Stockholm, Schweden (Tel.: 0046 8-698 1998).