Das beruhigende Gefühl in der Dunkelheit – Die asketischen Arbeiten des Rolf-Gunter Dienst in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Lauter schwarze Bilder. Gut, daß wenigstens die Wände weiß sind. Denn ansonsten werden Besucher im Bürgersaal des Von der Heydt-Museums ringsum von Finsternis umfangen.

Doch Rolf-Gunter Dienst (55), der diese großformatigen düsteren Tafeln schuf, meint es nicht als Ausdruck der Bedrohung. Im Gegenteil: Er jedenfalls fühle sich im Dunkeln wohl, er fühle sich aufgehoben. Auch habe das Dunkel etwas „Egalitäres“ an sich, es mache alle und alles gleich.

Gedichte des irischen Nobelpreisträgers Seamus Heaney dienten als Inspiration zur dreizehnteiligen „Schwarzen Serie“, die erstmals das Atelier des Künstlers verläßt. In Heaneys Lyrik, so findet Rolf-Gunter Dienst, könne man die Dunkelheit oft mit Händen greifen. Zitat-Probe: „Aus schwarzem Rachen / Des Torfes zieht sich die scharfe Weide / freundlich zurück…“ Auch von „Höhlendunkel“ oder „Dämmersonnen“ ist in jenen Versen die Rede, die die Phantasie des Künstlers angeregt haben und die auch dem Besucher als vage Assoziations-Hilfe dienen könnten.

Bei näherer Betrachtung der Bilder ist die Schwärze vielfach mit verhalten farbigen Streifen durchsetzt, die wiederum aus feinsten Webmustern bestehen. Mal schimmert es violett, mal erdbraun durch. So entstehen nicht nur belebte Farbflächen, sondern auch imaginäre Räume. Ein einziges grünes Bild hängt noch im zentralen Raum der Ausstellung. Es wirkt, nach der Masse von Schwarz besehen, wie ein blitzheller Schock.

Jede Farbe erzeugt ihre eigene Welt

Die etwas ungünstig auf drei Etagen verteilte Schau zeigt ferner, wie der Künstler seine Ideen auch mit anderen Farbwerten durchgespielt hat. Mal hält er sich im „Bleistiftgebiet“ (Reihentitel) auf, und die winzigen Strukturen flimmern Grau in Grau, dann wieder gibt es Zwölfer-Serien von Aquarellen in Rot, Gelb, Blau und Grün. Jede Farbe erzeugt ihre eigene Welt.

All das aus kleinsten „Zellkernen“ bestehende Gewimmel erinnert an dichten Maschendraht oder an Ansichten unter dem Mikroskop. Die zahllosen gleichförmigen Bild-Elemente von Hand aufs Blatt zu bringen, so denkt man, könnte den Künstler bis dicht vor den Rand des Wahnsinns getrieben haben.

Sind es vielleicht Bilder, die auch aus einem Gefühl von Langeweile und Leere entstehen – oder aus unendlicher meditativer Geduld? Jedenfalls steckt in diesen Arbeiten viel mehr Mühe, als man zunächst vermutet. Und der Künstler selbst versichert, daß er keineswegs mit kühlem Herzen zur Sache geht, sondern sich durchaus von Emotionen tragen läßt.

Im Zeitungsfoto lassen sich diese kargen und asketischen Bilder jedenfalls kaum adäquat wiedergeben, man sollte sie sich schon in Wuppertal ansehen. Es ist übrigens nicht egal, in welcher Stimmung man dies unternimmt: Dem Ruhigen werden diese Bilder zusätzliche Ruhe spenden, den Unruhigen werden sie wohl noch nervöser machen.

Rolf-Gunter Dienst. Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen. 11. Januar bis 22. Februar im Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Elberfeld), Turmhof 8. Geöffnet Di-So 10-17 Uhr, Do 10-21 Uhr. Katalog 30 DM.

 




Lockungen einer Nymphe – „Lolita“, Adrian Lynes Neuverfilmung von Nabokovs Skandalroman

Von Bernd Berke

Es ist Hochsommer, es ist heiß. Sie liegt bäuchlings und barfüßig im Gras, spielt gedankenverloren mit ihren langen Zöpfen und blättert in einem Buch. Hinter ihr plätschert ein Springbrunnen. Sprühende Wassertröpfchen haben ihr Kleid so durchnäßt, daß sich ihre erblühenden weiblichen Formen abzeichnen. Nur unschuldiger Liebreiz oder auch schon ein Hauch bewußter Verführung?

Vorsicht, vermintes Gelände! Das Mädchen auf der Wiese ist anfangs gerade mal zwölf Jahre alt und heißt Lolita. Die skandalumwitterte Figur aus Vladimir Nakobovs Roman von 1955 hat, rund 40 Jahre nach Stanley Kubricks Kinofassung, abermals einen Filmemacher inspiriert und wohl auch in gewisser Weise erregt. Diesmal ist es Adrian Lyne, der die Geschichte jenes Literaten mit dem Doppelnamen Humbert Humbert (Jeremy Irons mit verliebtem Dauer-Dackelblick) nachzeichnet.

Der Intellektuelle wird unwiderstehlich von der Nymphe Lolita (frisch drauflos: die 15-jährige Schülerin Dominique Swain) angezogen und ins bittersüße Verderben geführt. Doch wer verführt wen? Wo ist die Grenze zwischen zärtlicher Zuwendung und sexuellem Mißbrauch? Ist er berechnend, ist sie durchtrieben? Kann sie überhaupt verantwortlich sein? Jedenfalls: Halb zieht sie ihn, halb sinkt er hin. Um in Lolitas Nähe zu bleiben, heiratet Humbert Humbert gar ihre ungeliebte Mutter Charlotte (Melanie Griffith), deren Unfalltod ihn insgeheim beglückt (seinen vorherigen Mordplan am Badesee läßt der Film ganz aus).

Nun also kann Humbert mit Lolita auf eine Hotelreise quer durch die USA gehen. Ein quälendes Road Movie, ein Trip durch Paradies und Hölle. Mal benehmen sich die beiden wie ein turtelndes Liebespaar, mal gesittet wie Vater und Tochter, mal ist sie ganz unbefangenes Kind mit beträchtlichem Kaugummi- und Comic-Verbrauch, dann wieder heult sie still in ihr Kissen – oder sie spielt trotzig ihre Macht aus: Entweder doppeltes Taschengeld oder keinen Oralsex mehr. Womöglich der erste Schritt in die Prostitution?

Wie beim Wettstreit ums süßeste Girl im nassen T-Shirt

Regisseur Lyne ist vorbelastet. In „Eine verhängnisvolle Affäre“ hat er eine furienhafte Geliebte auf ein braves Ehepaar gehetzt, in „9 1/2 Wochen“ Untiefen sexueller Auslieferung und in „Ein unmoralisches Angebot“ die Mechanismen zwischen Sex und Geld geschmäcklerisch bebildert. Ein Mann mit dieser Filmographie mußte früher oder später auf „Lolita“ stoßen. In den USA hat er sich mit dem Projekt Ärger eingehandelt. Es ist ja auch ein Dilemma: Die Kamera muß, um Humberts Begehren zu beglaubigen, permanent die Reize Lolitas ausstellen und doch halbwegs diskret bleiben. So kommt es, daß vor allem Lolitas entblößte Füße die Erotik verkörpern und daß ihre frühe, von Humbert hervorgelockte Verderbtheit sich in grell geschminkten Lippen äußert. Ein neckisches Spielchen der Andeutungen.

Geistige Dimensionen, mythische Qualitäten gar, erlangt man so nimmer. Der Zuschauer fühlt sich stets ein wenig wie beim Strandwettbewerb ums süßeste Girl im tropfnassen T- Shirt. Und der Showdown mit jenem Kinderporno-Finsterling Clare Quilty (Frank Langella), der dem zuweilen faustischen Humbert und dem Lolita-„Gretchen“ als mephistophelischer Schatten folgt, erschöpft sich letztlich im Action-Gerangel um eine Pistole.

Immerhin wird deutlich, daß es hier nicht nur um pure Lüsternheit, sondern zumindest seinerseits um eine dauerhafte, wenn auch höchst prekäre Liebe geht. Denn Humbert Humbert ist zu tätiger Sühne bereit, indem er später die von einem anderen Mann schwangere, zum unscheinbaren Heimchen gewordene Lolita selbstlos umsorgen will.

Doch im Vergleich zu Nabokovs genialem Roman, dessen ungeheuer vitaler Sprachfluß von der ersten bis zur letzten Seite zu fesseln vermag, bleibt dieser Film Flachware. Ja, man könnte als Leser geradezu zornig werden, daß ein solcher Streifen und seine Gesichter nun den Kopf besetzt halten und sich vor die Erinnerung an das Buch zu schieben drohen.




Im Theater steckt der Teufel – Grabbes „Scherz, Satire, Ironie…“ als Essener Lokalposse

Von Bernd Berke

Essen. Was kann der Christian Dietrich Grabbe denn dafür, daß zum Saisonende das „Junge Theater Casa Nova“ in Essen geschlossen wird? Selbstverständlich nichts, denn der Mann hat von 1801 bis 1836 gelebt. Und jetzt?

Jetzt läßt das „Casa Nova“ (kleinste Spielstätte der Theater & Philharmonie GmbH) den Dichter aus Detmold flugs antreten, um die kulturpolitische Misere der Stadt Essen erbost zu kommentieren. Man spielt Grabbes Stück „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“, und man modelt es – unter Verzicht auf tiefere Bedeutung – streckenweise zur Lokalposse um. Regisseur Peter Siefert hat grobkörnige kommunale Zutaten beigemischt.

Schrubb, schrubb, in der Hölle ist großer Hausputz. Also flüchtet der darob genervte Teufel zur Erde und stiftet hier Verwirrung – nicht nur in Liebesdingen. Die Gesellschaft überhaupt erweist sich unter seiner Fuchtel als Tollhaus der Eitelkeiten, aber auch der zugehörigen Depressionen.

Figuren wie der Dichter „Rattengift“ (Hans-Dieter Heiter), der im komischen Weltschmerz an seiner Feder knabbert, weil ihm partout nichts einfallen will, oder der trunksüchtige Schulmeister (Carlo Lauber) mit seinen ausgeklügelten Sauf-Ritualen (vorher dickes Tuch um die Stirn wickeln, damit der Schädel hernach nicht so hart auf der Tischkante aufschlägt) sind als „Theater-Futter“ derbe Vollwertkost.

Lächerliche Sparkommission

Köstlicher Beginn: Die in grotesken Turbulenzen wie geölt aufeinander reagierenden Ensemble-Mitglieder servieren den ellenlangen Stücktitel als fulminantes Sprechkonzert der zerhackten Worte. Dann dampft es kräftig, und man sieht: Der Teufel ist eine Frau (Christiane Heinicke). Ihm auf dem Pferdefuße folgt eine gravitätisch lächerliche „Struktur-Fusionierungs-Sparkommission“, die just auch dem Theater „Casa Nova“ den Garaus machen will, woraufhin sich ein leider sehr explizites Spott-Gewitter über Stadtspitzen, Kulturdezernent und Kritiker entlädt. Teuflisch, teuflisch? Nein, allzu offenkundig.

Trotzdem wird s noch ein leidlich unterhaltsames Spektakel. Das Stück, ein früher Vorläufer des absurden Theaters, ist eben in seinen Grundzügen unverwüstlich. Der Teufel wird zwischenzeitlich im Käfig eingefangen, als Köder dienen Kondome. Und weil Beelzebub schon einmal im Bühnenreich gewütet hat, wird das diabolischste aller Übel bloßgestellt: das Musical in seiner Essener Spielart. Das Grabbe-Finale besteht in einer bittersüßlichen Joseph“-Parodie. Ein Wink mit dem Zaunpfahl: Seht her, an solch schnöder Unterhaltung geht unser schönes Theater kaputt. Auf den Gedanken wären wir ja nie gekommen!

Termine: 31. Dezember 1997, 7., 9. und 30. Januar 1998. Karten 0201 / 81 22-200.




Ein fast schon harmlos wüster Weltenzirkus – Wolfgang Trautwein inszeniert Georg Büchners „Woyzeck“ in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Beim Militär wird der mittellose Mann nach Belieben geschurigelt, die Medizin demütigt ihn mit schäbigen Experimenten, und die dralle Marie hintergeht ihn mit einem strammen Tambourmajor. Geld weg, Frau weg, Ehre weg – der traurigste Blues. Schulbuchhaft gesagt: Georg Büchners „Woyzeck“ ist eine der großen Leidensgestalten unserer Dramenliteratur.

Aufwühlender Stoff also, den sich Wolfgang Trautwein am Dortmunder Schauspiel vornimmt. Blatt- und astlose Baumstümpfe hängen hier vom dunklen Himmel herab, im Hintergrund leuchtet grob skizziertes Liniengeflecht nach Art eines ausweglosen Straßen-Labyrinths (Bühnenbild: Thomas Gruber). Eine abgetötete Welt. Stumme Figuren zeigen anfangs ein Transparent mit unverständlichen Wortfetzen. Eine Welt, gegen die man auch nicht protestieren kann, weil die Sprache zerstört ist.

Dann aber betritt jener Woyzeck (Jürgen Uter) die Szenerie, und man ist erst einmal etwas beruhigt. Der Mann ist doch kein Häufchen Elend, kein Idiot. Der müßte sich doch wappnen können: Gegen den lachhaften Hauptmann (Heinz Ostermann), der ihn aufs geistige Glatteis führen will; gegen den Doktor (Andreas Weißert), der von oben an Schnüren einschwebt und seine höllischen Erbsenfreß-Versuche zu „erklären“ sucht, für die er Woyzeck karg bezahlt; gegen jenen Gockel von Tambourmajor (Thomas Gumpert), der Marie (Wiebke Mauss) mit Liegestützen und Macho-Geschwafel ächzend imponiert.

Ja, man fragt sich: Leidet dieser Woyzeck überhaupt so außerordentlich? Oder erlebt er nicht das normale Elend eines Abhängigen, der halt für seine Groschen manches über sich ergehen läßt? Vielleicht vermag er ja alles zu ertragen, nur bitte nicht den Verlust der Liebeshoffnung.

Überliefertes Volksgut zugleich als Keim und als Deckmäntelchen des Fürchterlichen: Ein groteskes Rumpelstilzchen (Günter Hüttmann) tapert umher, „Ein Jäger aus Kurpfalz“ und „Frau Wirtin“ werden im Wirtshaus gegrölt. Und zu Beginn haben wir das Ammenmärchen vom „Sterntaler“ gehört: Wer alles, alles hergibt, wird am Ende desto reicher belohnt. So nett geht’s nicht zu im wüsten Weltenzirkus, der freilich in Dortmund mit allerlei hübscher Akrobatik und dem Geflatter dressierter Tauben einen beinahe harmlosen Anschein bekommt.

Zwangs-Läufigkeit mal ganz wörtlich ausgelegt

Doch seitwärts hockt ein Soldat, dem beide Beine weggeschossen worden sind. Überhaupt zeigt sich der Anflug des Schreckens in dieser Inszenierung oft am Rande. Man kommt auch ohne das übliche Leidensgebrüll aus. Ein paar nachwirkende Szenen: Etwa jene elend sachliche, in der Woyzeck sich eine Mordwaffe kauft und sich nicht die Pistole, sondern nur das Messer leisten kann („Ein ökonomischer Tod“).

Die Personen verrennen sich immer mal wieder auf vorbestimmten Wegen, als sei die Bühne vielfach verstellt – stimmiger Ausdruck für wortwörtliche Zwangs-Läufigkeit. Eine steil ansteigende Fläche, die an eine Half-Pipe für versierte Skateboarder erinnert, dient mal als kaum übersteigbare gesellschaftliche Barriere, mal als Todes-Rutsche für die vom eifersüchtigen Woyzeck erstochene Marie. Originell auch die Idee, die Gasthaus-Gestalten in vereinzelte Bodenöffnungen zu stellen und dort wie Springteufel ihre Plätze wechseln zu lassen.

Diese unfeine Gesellschaft hat schließlich das Wort, wenn Woyzeck ins Wasser gegangen ist. Den Vorgang nehmen sie alle ungerührt zur Kenntnis. Es schrumpft die Tragödie und bleibt nahezu spurlos.

So mag es sein im TV-Zeitalter. Die Aufführung, durchweg solide, aber kaum einmal ergreifend gespielt, hält zwar eine gewisse Spannung wie kurz vorm Sprung in den Abgrund, dringt jedoch nicht wahrhaft in die Untiefen des Stücks vor. Es ist, als wolle man uns das Allerschlimmste ersparen. Wie fürsorglich!

Termine: 17., 19. Dez. 1997, 15., 16. Jan. 1998. Karten: 0231/163041.




Wer den Schattenbereich des Daseins erkundet – Javier Marías nahm in Dortmund den Nelly-Sachs-Preis entgegen

Von Bernd Berke

Dortmund. Bescheidenheit ist eine Zier: Javier Marías (46) gab dafür ein Beispiel, als er gestern den Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund entgegennahm. Ein wenig „peinlich“ sei ihm die hohe Auszeichnung, sagte der spanische Autor der versammelten Presse. Denn vor ihm hätten doch wichtigere Schriftsteller diesen Preis bekommen.

Bereits in seiner Dankesrede hatte der Autor des Bestsellers „Mein Herz so weiß“ einen ähnlich tiefen Ton angestimmt. Angesichts der bisherigen Träger des seit 1961 verliehenen Preises fühle er sich nur „wie eine Fußnote am Seitenende“. Das mochte ihm das Publikum denn doch nicht durchgehen lassen. Ein allgemeines „Ooooh“ schallte durch den Saal. Sollte gewiß heißen: Nun aber halblang…

Desto optimistischer preschte Dortmunds Oberbürgermeister Günter Samtlebe vor. Er schloß seine Ansprache mit der unschwer zu entschlüsselnden Anspielung, man hoffe, auch künftig von Marias zu hören – „etwa aus einem skandinavischen Land“.

Nun, der Lorbeer des Literaturnobelpreises mag für Marías einstweilen noch etwas zu hoch hängen, doch die Lobrednerin Sigrid Löffler („Das literarische Quartett“) sprach wohl allen Anwesenden aus dem Herzen, als sie befand: „Einen unwahrscheinlicheren Bestsellerautor hat es lange nicht gegeben.“ Denn Javier Marías stelle ja keine geringen Ansprüche an die Leser, seine Bücher „können nicht einfach weggelesen werden. Ihre Substanz behauptet sich und widersteht dem Verbrauch.“

Tatsächlich ist es ein bemerkenswertes Zusammentreffen, daß man für die weithin renommierte Dortmunder Auszeichnung einen Mann gefunden hat, der hohe literarische Güte inzwischen mit kommerziellem Erfolg verbindet. Ein Umstand, der sicherlich auch für die Kultur des Lesens hoffen läßt.

Der Preisträger selbst, der zum allgemeinen Erstaunen bekannte, noch niemals einen Computer bedient zu haben, widersprach allen Schwarzsehern, die behaupten, der Roman als Kunstform sei tot. „Ich glaube nicht, daß die Welt darauf verzichten kann… Es gibt viele Dinge, die wir nur wissen, weil die Literatur sie uns gezeigt hat.“ Diese sei lebenswichtig, „wenn wir nicht zu Primitiven werden wollen, vollgestopft mit praktischem Wissen.“ Die Künste allein könnten vordringen in jenen diffusen „Schattenbereich“ des menschlichen Daseins, der dringend erkundet werden müsse.

Die Feierstunde in der vollbesetzten Bürgerhalle des Dortmunder Rathauses besaß – vom Niveau der Reden bis zur dezenten Kammermusik – jene Würde, die man von einer solchen international beachteten Veranstaltung erwartet. Werbung also für eine Stadt, die auf der literarischen Weltkarte sonst keinen zentralen Platz einnimmt.




Blut und Feuer malen – Werkschau in Wuppertal zeigt die Obsessionen des Rudolf Schlichter

Von Bernd Berke

Wuppertal. Ginge es nur nach dem Themenspektrum, dann hätte der Mann sofort bei einem knallharten Privatsender anfangen können: Allerlei Totschlag und Lustmorde hat er gemalt oder gezeichnet, erhängte Frauen, Transvestiten, Lesben und immer wieder Huren.

Doch die simple Freudenhaus-Szene genügte ihm nicht immer, manchmal mußte es schon ein spektakulärer „Überfall auf ein Bordell“ sein. Auch ein Bildtitel wie „Zusammenkunft von Fetischisten und manischen Flagellanten“ deutet auf grellen Effekt.

Der im württembergischen Calw geborene Maler Rudolf Schlichter (1890-1955), der jetzt mit einer umfassenden Werkschau in Wuppertal präsentiert wird, hat er eine ziemlich rigorose katholische Erziehung „genossen“. Besonderen Ausgleich suchte er schon als Kind in drastisch illustrierten Karl-May-Bänden und – auf Heiligenbildchen.

Begegnung auf dem sexuellen Markt

Indianergemetzel und qualvolles Märtyrertum faszinierten also schon den Knaben. Am liebsten male er „Blut und Feuer“, hat der auch schriftstellerisch höchst produktive Künstler später einmal bekannt. Tatsächlich: Jene Figuren, die die wüsten Geschehnisse auf seinen Bildern überleben, können von Glück reden. Dabei war Schlichter im politischen Sinne Pazifist. Anders als zahllose andere Künstler, hat er sich (durch Hungerstreik) dem Einsatz im Ersten Weltkrieg entzogen.

„Angebot und Nachfrage“ heißt – ganz illusionslos – ein Bild, das einen Freier und eine Dirne auf dem sexuellen Markt der 20er Jahre zeigt. Ein Fall von „Neuer Sachlichkeit“. Dieser Kunstrichtung wurde Schlichter damals zugezählt. In Berlin schloß er Bekanntschaft mit Bert Brecht und anderen linken Intellektuellen. Viele von ihnen hat er porträtiert, meist mit spürbarer Sympathie. Schöner Kontrast; In Wuppertal hängt das Bildnis Brechts (proletarischer Schmalhans mit schwarzer Lederjacke) gleich neben dem des barock-bildfüllenden Schriftstellers Oskar Maria Graf.

In Schlichters Milieu-Studien sind Männer allerdings oft nur nachlässig behandeltes Beiwerk oder klägliche Opfer. Die große Liebe seines Lebens war „Speedy“. Bevor er die erhängten Frauen darstellte, hat er mit seiner Gespielin bizarre, im Katalog fotografisch dokumentierte „Strangulations-Experimente“ veranstaltet. Ein andermal hat er sie als Domina gemalt, die einem lustvoll zitternden Kerlchen den Stiefel ins Genick setzt. Überhaupt hat er Schnürstiefelchen gemocht und sie als erotischen Fetisch immer wieder in seinen Frauenbildern verwendet. Noch so ein armes Mannsbild: Der (gar nicht so) „Schöne Josef“ steht nackt zwischen drei Damen, die feixend Maß zu nehmen scheinen.

Anpassung oder listige Provokation?

Übrigens war es besagte „Speedy“, die Schlichter vom linken Wege abbrachte und zum Katholizismus zurückführte. Um den Lebensunterhalt zu sichern, ging die fromme Frau freilich auch gelegentlich der Prostitution nach – getreu dem Brechtschen Spruch: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“.

In den 30er Jahren, so hat es zumindest den oberflächlichen Anschein, näherte sich auch Schlichter der mal verlogen heroischen, mal gnadenlos kitschigen NS-Ästhetik. Den Schriftsteller Ernst Jünger zeigte er 1937 als ehernen Halbakt in felsig zerklüfteter Landschaft. Und wiederum war es die ausnehmend hübsche „Speedy“, die ihm für das Großbild „An die Schönheit“ (1935) Modell saß, nein lag. Hingegossen auf einen Blütenteppich rekelt sie sich sie da – fast wie von einer Leni Riefenstahl oder einem Arno Breker heraufbeschworen. Doch gerade das hielten die NS-Herrscher, denen Schlichter als „entartet“ galt, für eine besonders hinterhältige Provokation. Vielleicht war’s ja auch eine. Schlichter jedenfalls wurde 1938 gar verhaftet…

Nach dem Krieg fiel er gleichsam aus der Zeit. Er verschrieb sich einer an mittelalterlichen Meistern geschulten Feinmalerei und bekämpfte die damals marktbeherrschende Abstraktion. Ein Lebensabend in Verbitterung.

Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Elberfeld, Turmhof 8). Bis 1. März 1998. Di-So 10-17, Do 10-21 Uhr. Katalog 49 DM.




Wenn selbst die Gangster diskutieren – Wim Wenders‘ Film „Am Ende der Gewalt“

Von Bernd Berke

Filmproduzent Mike Max sitzt vor seiner Traumvilla in Malibu – mit wundervollem Blick aufs Meer. Doch er nimmt nichts von all der Schönheit wahr. Er steht unter Streß, es gibt Finanzprobleme. Also hat sich Max mit technischen Apparaten umgeben, ja gepanzert: Handy, Laptop, Fax & Co. umzäunen ihn beängstigend eng.

Selbst Max‘ Trennung von seiner Frau Paige (diesmal ziemlich geziert: Andie MacDowell) erfolgt per Mobiltelefon. Gleichzeitig schießt ihm ein Kindheitsgefühl durch den Kopf: Immerzu hat er sich damals, im Kino wie in der Wirklichkeit, bedroht gefühlt. Und heute? Da ist seine technische Abschottung gegen die sinnliche Welt vielleicht schon ein früher Anfang der Gewalt, weil sie blind macht für Mensch und Natur.

Max (Bill Pullman) ist die Hauptfigur in Wim Wenders‘ Film „Am Ende der Gewalt“. Er managt die Herstellung brutaler Action-Streifen. Zu Beginn hat man gesehen, wie die Stuntfrau Cat (Traci Lind) beim Dreh einer Explosionsszene ganz reale Gesichtsverletzungen erleidet. Und man ahnt schon: Gewalt ist viel mehr als diese eine Wunde auf der Haut, sie tut sich auf wie ein Riß in der Realität.

Geheimer Überwachungsapparat

Und Gewalt richtet sich nun gegen den, der mit ihrer Darstellung Millionen verdient hat: Zwei Ganoven entführen Max und drohen, ihn draußen am Highway zu erschießen. Davor hat Wenders freilich die Debatte gesetzt. Choreographiert wie im Slapstick-Film, läßt er die Gangster über den Sinn des Mordens diskutieren. Anderntags werden die beiden Kidnapper tot aufgefunden, Max hingegen ist spurlos verschwunden. Was ist geschehen?

Die Spur führt zum zweiten Handlungsstrang: Ex-NASA-Mann Ray Bering (Gabriel Byrne) hat fürs FBI insgeheim einen Überwachungsapparat aufgebaut. Kameras sind in allen Winkeln der Stadt installiert, die Infos laufen in einem Observatorium zusammen, in dem Ray einsam vor -zig Bildschirmen sitzt. Er wird seinerseits kontrolliert von zwielichtigen Herren. Warum also verlischt das Monitorbild, als sich Ray die Kidnapping-Szenerie heranzoomen will?

Hat das FBI nur perfekte Verbrechens-Bekämpfung („Das Ende der Gewalt, wie wir sie kennen“) im Sinn? Oder ist diese Utopie pervers, weil sie zur Selbstjustiz führen muß? Hat der „Große Bruder“ die Kidnapper beäugt und durch eine mit Kameras kombinierte Schußanlage gleich eliminiert?

Das Kind, der Singvogel und die sanfte Berührung

Wenders‘ gut zweistündiges Werk bezieht aus diesem Rätsel Spannung. Es ist eine beharrliche, meist gleitend leichte Suchbewegung durch die Sphären der Gewaltsamkeit zwischen Wort und Tat.

Vielfach aber leuchten auch Gegenbilder unschuldiger Friedfertigkeit auf: ein Kind mit Luftballon, ein Singvogel, ein Moment der Zärtlichkeit zwischen Mann und Frau. Mehr noch: Jener Ray, der eines Tages aussteigen will aus dem Überwachungs-Komplott, wird auf seinem Weg zur Arbeit immer wieder als bescheidener Wanderer gezeigt, der seine Lippen an einem Brunnen hetzt. Wie ein guter Hirte aus antiken Gefilden. Oder wie eine still durch die Zeiten gehende Figur von Peter Handke.

Max wiederum taucht, nachdem er den Kidnappern entkommen ist und unter Doppelmordverdacht steht, bei einer mexikanischen Einwandererfamilie unter, die ein Inbild gewaltfreier Freundlichkeit abgibt und Max gleichsam damit infiziert. Quellen der Hoffnung.

Der beharrliche, behütende Blick

Und dann ist da noch der fast naiv menschliche Polizist Doc Block (Loren Dean), der unter den Zynismen seiner Kollegen leidet und der an eine Erkenntnis der Teilchenphysik glaubt: Wenn man etwas ganz unverwandt anschaue, könne es sich verändern. Wer weiß, ob nicht auch die Überwindung der Gewalt zunächst eine Frage des „richtigen“ Hinsehens ist.

Einen solch großherzigen Blick, der eben nicht strikt überwacht, sondern im behütenden Sinne wachsam ist, erprobt Wenders am Ende: mit einer sich in die Weltweite ergießenden Kamerabewegung hebt er sich und uns über die Schauplätze hinweg. Eine fast schon göttliche Art des Schauens. Und er sah, daß es gut war? Nein. Aber, daß es einmal gut werden könnte.




Die Kunst braucht eine Seele – Ausstellung über Auguste Rodin und seine Wirkung im Marler „Glaskasten“

Von Bernd Berke

Marl. Das ist Gruppen-Dynamik im ganz elementaren Sinn: Umrundet man Auguste Rodins berühmte Skulptur „Die Bürger von Calais“ (1895), so ergeben sich immer wieder völlig neue, stets aber ausdrucksstarke Ansichten dieser sechs verzweifelten Menschen, die anno 1347 die Schlüssel der Stadt Calais an die englischen Belagerer abgeben mußten.

Von der einen Seite aus sieht man zum Beispiel ein veritables Gebirge von Körperteilen, von einer anderen – höchst filigran – das Spiel einzelner Muskeln.

Das grandiose Jahrhundert-Denkmal hat zahllose Bildhauer beeinflußt und ist jetzt erstmals in Deutschland zu sehen. Im Marler Skulpturenmuseum „Glaskasten“ wird einer von vier tonnenschweren Abgüssen gezeigt, die zu Rodins Lebzeiten entstanden sind. Auch weitere Schlüsselwerke des Franzosen gehören zur teuren Schau, die sich erst ab 50000 Besuchern rentiert. Falls das Ziel nicht erreicht wird, steht der Dortmunder Energiekonzern VEW mit einer sechsstelligen Ausfallbürgschaft für Verluste gerade.

Bis hin zu Bodenplatten und einer versenkten Säule

Konzept der Ausstellung: Rund 60 Skulpturen anderer Künstler (u. a. Lehmbruck, Hoetger, Kollwitz, Giacometti, Hrdlicka) lassen die Kraft- und Wirkungslinien hervortreten, die von Rodins Oeuvre bis in die Gegenwart reichen. Am Schluß des Rundgangs wird deutlich, wie die Skulpturen tendenziell Volumen verlieren und sich schließlich in die flache Ebene ducken. Carl Andre legt nur  noch Bodenplatten aus, Jochen Gerz versenkt gar eine Säule auf Nimmerwiedersehen in einer Erdöffnung. Damit ist wahrlich einNullpunkt erreicht.

Doch zurück zum Ursprung der Moderne und zum Zentrum der Ausstellung: Rodin, der zweimal von der Pariser Akademie abgelehnt wurde und sich daraufhin zugute hielt, dort nie „verbildet“ worden zu sein, durchbrach die herrschende Tradition seelenloser klassizistischer Glätte. Er beseelte das Material. Die Büste „Mann mit gebrochener Nase“, für die ein Stadtstreicher Modell saß, steht bereits für die Auflösung idealer und intakter Körperlichkeit. Figuren wie „Johannes der Täufer“ oder „Adam“ versetzte Rodin in derart expressive Bewegungen, daß die Zeitgenossen geradezu davor erschraken.

Das erste demokratische Denkmal

Auf die Spitze getrieben hat Rodin das dynamische Prinzip im vielfältigen Zusammen- und Widerspiel jener „Bürger von Calais“, die zugleich als erstes demokratisches Denkmal gelten. Denn sie erheben sich nicht mehr auf einem Ehrfurcht gebietenden Sockel. Der Betrachter, Bürger wie die Dargestellten, soll die Plastik „von gleich zu gleich“ anschauen.

Rodin verfuhr zwar konsequenter als andere, aber er war nicht etwa der radikalste Neuerer seiner Ära. Medardo Rosso („Konversation im Garten“, um 1896) löst die redenden Gestalten bereits fast zur Unkenntlichkeit auf. Die Skulptur wird zur zerklüfteten Landschaft, auf der sich das Licht impressionistisch brechen und streuen kann. Für die damalige Zeit eine unerhört abstrakte Schöpfung.

Der Rundgang führt an etlichen Kleinoden vorbei. Vom sonst nur als Maler bekannten Edgar Degas sieht man (posthum gegossene) Tänzerinnen-Figuren, von Henri Matisse zwei weibliche Akte. Die Leiber sind so geformt, als wären sie im Nu aus einem einzigen Block hervorgegangen.

Ganz anders das Verfahren von Auguste Rodin: Der hat vor den „Bürgern von Calais“ einzelne Kopf- oder Handstellungen erprobt, die er hernach In die Gruppe „einbaute“. Zudem hat er die Figuren erst nackt modelliert, bevor er sich an den Faltenwurf der Gewänder wagte. Auch so entsteht also Avantgarde: Schritt für Schritt.

Auguste Rodin – Werk und Wirkung. Skulpturenmuseum Glaskasten, Marl (Creiler Platz). Bis 1. März 1998. Di-So 10 bis 18 Uhr, Do bis 20 Uhr. Eintritt 10 DM, Katalog 40 DM.




Von Weltwundern und zerbrochenen Eiern – Jan Hoet bringt Spitzenstücke aus Gent in den Kunstverein Schwerte

Von Bernd Berke

Schwerte. Dieser Kontakt erweist sich als wahrer Segen: Der Belgier Jan Hoet, 1992 Chef der Kasseler documenta, ist seit Jahren gern gesehener Freund und Gast beim Kunstverein in Schwerte. Nun arbeitet Hoet als Direktor des Genter „Museum van Hedendaagse Kunst“. Und er hat für Schwerte in die Genter Schatzkiste gegriffen.

Mit rund 20 Kunstwerken ergibt sich ein Querschnitt durch die famose Genfer Sammlung. Und wann hat man in Schwerte oder auch nur in der näheren Nachbarschaft schon mal einen echten Francis Bacon oder einen Magritte bewundern dürfen?

Wer jetzt freilich euphorisch in die Ausstellung stürmen will, wird erst einmal optisch gebremst: Eine Art Senkblei baumelt von der Decke herab und versperrt den direkten Weg. Die Vorrichtung markiert den Anfang der Schau. Sie heißt „Universal Plumbob“ und stammt von Royden Rabinovitch. Das Werk erinnert an eine physikalische Versuchsanordnung, strahlt aber vor allem kontemplative Ruhe aus und bereitet einen vor auf das Eintauchen in die Welt der Kunst, auf die innigere Art des Schauens.

Der strenge Geruch der verströmten Zeit

So eingestimmt, nähert man sich beispielsweise Gerhard Richters „Pyramide“ (1966). Das ägyptische Weltwunder ist bewußt völlig „unscharf“ gemalt, es erhebt sich wie hinter einer Nebelwand. Eine Erscheinung von halluzinatorischer Kraft. Im selben Raum leuchtet alarmrot eine Platte, auf die Marcel Broodthaers „289 Eierschalen“ (Titel, 1966) geklebt hat, allesamt an der Spitze aufgebrochen. Aus scheinbar banalen Einzel-Elementen erwächst eigentümliche Suggestion. Aufs Ei kommt auch Guillaume Bijl zurück. Er hat ein kleines Nest mit Gelege aus drei Billardkugeln gebaut. Schlichter Titel: „Sorry“. Eine Abbitte an düpierte Vögel?

Große Namen: Von Francis Bacon sieht man das fratzenhafte Bildnis eines Kardinals(1955), von Panamarenko ein gekacheltes Terrarium mit drei Krokodil-Figuren (1967), von Bruce Nauman einen Videofilm über Gewalt, von Joseph Beuys die in einen Schrank gesperrten Kunst-Stoffe „Butter und Bienenwachs“ (1975), welche mittlerweile strengen Geruch absondern. Der Duft der verströmten Zeit…

Ab 16. Dezember wird dann noch als absolutes Spitzenstück „Manets Balkon“ (1950) hinzukommen, auf dem René Magritte die menschlichen Figuren durch Särge ersetzt hat.

In jedem Raum der Ausstellung finden sich jene nüchternen Schwarzweiß-Fotos von Zoe Leonard: Sie zeigen, immer wieder, eine Vagina in quasi gynäkologischer Frontalansicht. Doch die Künstlerin hat genau das Gegenteil von Pornographie im Sinn. Sie will zu einer unverstellten, noch nicht von Phantasien besetzten Körperlichkeit zurück.

Kunstverein Schwerte (Kötterbachstraße 2). Eröffnung heute um 20.00 Uhr mit Ansprache von Jan Hoet. Bis 18. Januar 1998. Di.Fr 16-19 Uhr, So 15-18 Uhr, Eintritt frei.




Rainer Fetting sieht in Willy Brandt den aufrechten Charaktermenschen

Von Bernd Berke

Dortmund. Ideale Ergänzung zur mit Spannung erwarteten Uraufführung der Willy-Brandt-Oper „Kniefall in Warschau“: Die WR präsentiert im Foyer des Dortmunder Opernhauses eine Ausstellung von Rainer Fetting.

Der Künstler hat sich bildnerisch intensiv mit dem 1992 verstorbenen Altbundeskanzler befaßt. Vor der ausverkauften Opern-Premiere (20 Uhr am kommenden Samstag) wird um 18 Uhr die Schau mit rund 80 Arbeiten eröffnet. Zu sehen ist auch eine kleinere Vorstudie zu jener Brandt-Skulptur, die den Eingangsbereich der SPD-Parteizentrale in Berlin beherrscht. Im Kleinformat wirkt Brandt beinahe ein wenig introvertiert oder zumindest sehr nachdenklich, während die größere Statue eher den Visionär zeigt.

Zur erlesenen Dortmunder Auswahl gehören auch malerische Arbeiten zum Themenkreis Brandt, außerdem einige Berlin- und Mauer-Bilder sowie originelle Variationen zu einem noblen Thema aus der Kunstgeschichte: Fetting löst Diego Velazquez‘ berühmte „Infantinnen“ aus der Haupt- und Staatsaktion heraus und stellt sie als Individuen dar.

Rainer Fetting weilte gestern mit seinem Berliner Galeristen Werner Tammen in Dortmund, um die Anstellung aufzubauen. Anschließend besuchte er die WR-Redaktion. Fetting: „Willy Brandt hat mich schon immer sehr interessiert.“ Allerdings nicht in erster Linie als politische Figur, sondern als aufrechter Charakter – und als visuelle Aufgabe. Auch hier also die Blickrichtung aufs Individuelle, ein vorwiegend emotionaler Zugang. Künstlerisch läßt sich ein solcher Ansatz nicht reibungslos und glatt umsetzen. Rainer Fettings Brandt-Figur wirkt denn auch zerklüftet und schrundig.

Natürlich wird der Künstler zur Premiere der Oper kommen. Ohne die Partitur von Philipp Kochheim zu kennen, verrät Fetting seine eigene Präferenz: Er würde Willy Brandt am liebsten Musik von den „Rolling Stones“ oder von Jimi Hendrix zugesellen. Und er könnte sich durchaus vorstellen, zu dieser Oper selbst einmal ein Bühnenbild zu entwerfen.




Die letzte Gala-Nacht der „TeleStars“

Von Bernd Berke

Im Recklinghäuser Süden scheint ein Nest zu sein, aus dem gelegentlich Fernsehprominenz schlüpft. Als am Samstag im Kölner Edelhotel „Maritim“ die begehrten „TeleStar“-Preise von ARD und ZDF verliehen wurden, gab es kraftvolles Lokalkolorit aus der Stadt der Ruhrfestspiele.

Fußballreporter Werner Hansch, zur allgemeinen Verblüffung Preisträger in der Sparte Information/Dokumentation (mit seinem wie gewohnt kernigen Bericht vom siegreichen Schalker UEFA-Cup-Finale), war in der weitläufigen Atriumhalle des Hotels mit einem TeleStar-Gewinner ganz anderen Zuschnitts ins Gespräch gekommen: Heinrich Breloer, Autor und Regisseur von „Das Todesspiel“, jenes bewegenden Dokumentar-Dramas über den „Deutschen Herbst“ des Jahres 1977. Hansch: „Wir haben festgestellt, daß wir beide die Marienschule in Recklinghausen besucht haben – unter dem selben Rektor.“ Hört, hört! Vielleicht sollte man hoffnungsvollen TV-Nachwuchs künftig sofort an dieser Lehranstalt rekrutieren.

Breloer bekam gleich dreifach bescheinigt, daß er für das wohl nachhaltigste Fernsehereignis des Jahres gesorgt hat. Nicht nur er selbst wurde für „Das Todesspiel“ ausgezeichnet, sondern auch Produzent Ulrich Lenze und Hauptdarsteller Hans Brenner, der den von der RAF entführten und dann ermordeten Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer ungeheuer nuanciert gespielt hatte. Brenner bewies auch in seinen Dankesworten Einfühlungsvermögen: „Für diese Rolle einen Preis zu bekommen, ist nicht unproblematisch.“

„Ich faß‘ es nicht. Wunderbar!“ gluckste hingegen Evelyn Hamann, als sie zur besten Seriendarstellerin („Adelheid und ihre Mörder“) ernannt worden war. Dieter Pfaff wurde derweil zum besten männlichen Serienhelden für seine Rolle des „Bruder Esel“ gekürt.

Entzückendes Tigerkleid

Was keinen mehr wunderte: Harald Schmidt durfte sich natürlich auch in Köln seinen Preis (in der Sparte Unterhaltungs-Moderation) abholen. Großes Gelächter gab’s im Saale, als Schmidt sich linkisch wie ein Pennäler gab und die Wahl „eine Überraschung“ nannte. Jedenfalls dürfte sein Pokalschrank allmählich gefüllt sein. Und man fragt sich, was für die nächsten Jahre noch bleibt.

Auf Länge gesehen (gestern im ZDF gab es nur Ausschnitte), erwies sich das Verfahren der Preisvergabe als etwas eintönig. Moderator Kai Böcking besorgte die Überleitungen, dann kamen die Lobredner (Hera Lind, Ulrich Wickert, Didi Hallervorden, Roger Moore und Co.) jeweils durch einen wabernden Trockeneis-Nebel auf die Bühne, öffneten schließlich den Umschlag mit dem Namen des Gewinners – und es folgte das meist herzlich belanglose Bitteschön-Dankeschön-Ritual.

Da ließ sich der allgemeine „Bussi Bussi“-Reigen der TV-Prominenz zur nachfolgenden Schlacht am Buffet schon entspannter an. Und Roswitha Schreiner (ehedem Martin Lüttges zierliche Mitstreiterin am Düsseldorfer „Tatort“) trug ein ganz entzückendes Kleid mit getigertem Muster, das die Fotografen in Scharen anlockte…

Im nächsten Jahr wollen ARD und ZDF die „TeleStars“ zumindest mit den „Goldenen Löwen“ von RTL zusammenlegen. Auch SAT.1 soll mitmachen, ziert sich aber noch. Kai Böcking wandelte den Werbespruch Senders ab: „SAT. 1 – Ich drück mich…“




„Königsberger Möpse“ und die Dichtkunst – Sprachpreis an Zyniker Harald Schmidt

Von Bernd Berke

Die ehrwürdige Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) feiert ihren neuen Preisträger: Der Mann habe außerordentliches Gespür für die „extensive Nutzung der unterschiedlichen sprachlichen Möglichkeiten“. Seine Texte zeugten von „geistiger Freiheit und politischer Widerborstigkeit“, er stehe in der Tradition von Dichtern wie Joachim Ringelnatz und Christian Morgenstern. Doch kein Belletrist wird hier gepriesen, sondern Harald Schmidt.

Der „Zyniker der Nation“ ist bekanntlich viermal in der Woche mit seiner Nacht-Show beim Privatsender SAT.1 im Programm. Er hat in diesem Jahr schon etliche Auszeichnungen kassiert: Ein Adolf-Grimme-Preis wurde ihm angetragen, und RTL beeilte sich, ihm einen „Goldenen Löwen“ zu verleihen. Im Vorübergehen nahm er eine „Bambi“-Figur mit, und am nächsten Wochenende könnte noch ein „TeleStar“ hinzukommen. Da mochte auch die in Wiesbaden ansässige Gesellschaft für deutsche Sprache nicht hintanstehen und vergab ihren „Medienpreis für Sprachkultur“ an „Dirty Harry“.

Spaßeshalber hat sich die WR daraufhin gestern von SAT.1 noch einmal eine Liste mit Schmidt-Sprüchen besorgt. Wir zögern nicht, daraus zu zitieren.

Beispiel eins: „Kennen Sie den Unterschied zwischen Panzerotti und Pavarotti? – Panzerotti sind gefüllte Nudeln und Pavarotti ist gefüllter Sänger…“ Beispiel zwei: „US-Präsident Bill Clinton läßt für ein gutes Footballspiel jede Sekretärin liegen“. Und wie definiert man den Exorzisten? Das ist einer, „der seinen Job macht auf Teufel komm raus“. Nicht sonderlich subtil. Auch jene „Königsberger Möpse“ in einem von Schmidt ersonnenen Erotik-Kochbuch sind eher rasch verderbliche Kicher-Ware.

Lassen wir also Ringelnatz und Morgenstern mal ganz beiseite, denn die haben mit der Sprache nicht gejuxt, sondern gezaubert. Konzentrieren wir uns auf Schmidt selbst, der ja übrigens auf Texte einer großen Schar von Gagschreibern zurückgreift und diese dann unnachahmlich präsentiert.

Die meisten seiner Scherze sind keine Sprachspiele, sondern blitzartige Witze, die ihre Einschlagwirkung aus dem aktuellen Hintergrund, dem Ritual des Vortrags und gezielten Tabubrüchen beziehen. Außerdem waltet das Lach-Gesetz der Serie, denn Schmidt greift sich Lieblingsopfer wie Model Claudia Schiffer oder Fußballer Lothar Matthäus immer wieder heraus.

So richtig werden sich wohl all jene über die Jury-Entscheidung ärgern, die Schmidt für einen Ausländerfeind (Polen-Witze) halten. Für diese und für die Gegenpartei haben wir noch einen gutnachbarlichen Spruch: „Prinz Wilhelm Alexander der Niederlande sucht eine Frau. Die Frau hat ein tolles Leben vor sich, sie wird die Herrscherin über acht Millionen Wohnwagen..“

 




Ist die Haut der Dinge schon die Botschaft? Ahlen präsentiert Italiens Top-Designer Alessandro Mendini als Maler

Von Bernd Berke

Ahlen. Sie ist vielleicht typisch deutsch – die strikte Trennlinie zwischen E- und U-Kultur, zwischen hochheiligem Ernst und Gebrauchswert. Die meisten Aussteller scheiden hierzulande streng die freie von der angewandten Kunst. In Ahlen will man jetzt diese Grenze überspringen, indem man das (bislang meist verborgen gebliebene) malerische Werk des italienischen Top-Designers Alessandro Mendini vorstellt.

Doch was heißt hier eigentlich Malerei? Ausstellungsmacher Peter Weiß hat den Begriff, ganz in Mendinis Sinn, sehr weitherzig ausgelegt. Für den 1931 geborenen Mailänder sind nämlich bereits in kreativer Absicht kolorierte Kannen oder Vasen keine Gebrauchsgegenstände, sondern just „Gemälde“. Auch die Farbe auf einem Haus, so findet er, sei nicht mehr Element der Architektur, sondern Malerei.

Man könnte den Verdacht hegen, daß hier ein Mann, dessen Design-Schöpfungen – trotz gelegentlicher Kühnheit – letztlich dem (Luxus)-Alltag verhaftet bleiben, ein Stückchen näher an die Hochkunst und somit an die „Ewigkeit“ heranrücken will. Wer aber diese Grenze gar nicht gelten läßt, wird besonderes Vergnügen an der Ausstellung haben.

Die Ahlener Retrospektive mit rund 110 Arbeiten setzt 1972 ein und reicht bis in die unmittelbare Gegenwart. Gleich zu Beginn dieser Zeitspanne hat Mendini eine Kommode mit einem Farbmuster nach Art von Wassily Kandinsky überzogen. Das noble Zitat aus der Kunsthistorie wird zur schieren Oberflächenerscheinung, die den Gegenstand freilich veredelt.

Ein Sessel mit zahllosen Farbpunkten

Ist also die Außenhaut der Dinge bereits die Botschaft, verbirgt sich nichts Höheres oder Tieferes dahinter? Ähnlich wie mit der Kommode verhält es sich, wenn Mendini einen „Proust-Sessel“ – zum Gedenken an den französischen Schriftsteller – ganz und gar mit flirrenden Farbpunkten übersät. Das Möbelstück (Kostenpunkt: rund 20 000 DM) mutiert so zum dreidimensionalen pointillistischen Bildzitat. Marcel Proust selbst, so der Hintergedanke, hat sich mit (zweitklassigen) impressionistischen und pointillistischen Bildern umgeben.

In dieser Ausstellung begegnet man allerdings einer solchen Vielfalt von Gestaltungsweisen, daß man den Urheber gar nicht recht fassen und festlegen kann. Ist dies alles wirklich einem einzigen Geiste entsprungen? Wahrscheinlich ja einem Geist der Postmoderne: Alles geht, alles ist möglich – das schwarzgelbe Schachbrettmuster, die mit Sand und Steinchen gefüllten Plexiglas-Stühle, die mit Standardmustern versehene Rauminstallation, der an Vergänglichkeit mahnende Tisch mit Totenkopf-Motiv auf der Platte.

Vielfach scheint der Künstler die Schablone anzulegen: Hat er einmal gefällige oder sonstwie bemerkenswerte Formen gefunden, beispielsweise eine stilisierte Schlangenfigur, ein Auge oder eine Art Schmetterlingswesen, so tauchen diese in etlichen Zusammenhängen immer wieder auf – mal als Teppichmuster, mal als Motiv eines Tafelbildes, mal als Bild-„Tapete“. Schlange hier, Schmetterling da. Und manches Gemälde erscheint mit seinen künstlich-cremig wirkenden Farben wie direkt vom Çomputerbildschirm kopiert. Der menschliche Genius zieht sich eben früh zurück, doch die einmal gefundene Form besteht weiter und führt ein Eigenleben.

An eine solch universelle (Wieder-)Verwendung von Bildelementen könnten sich geradezu philosophische Gedanken über Unendlichkeit knüpfen. Sie liegen dem gewieften Theoretiker Mendini, der auch als Zeitschriftenmacher für seine Ideen und Kreationen stritt und der in Gruppierungen wie „Alchimia“ viele Jünger um sich scharte, tatsächlich nicht fern.

Alessandro Mendini – „Entworfene Malerei. Gemalte Entwürfe“. Bis 1. Februar 1998. Di / Do 15-18, Mi / Fr 15-19, Sa / So 10-18 Uhr. Mo geschlossen. Kunst-Museum Ahlen, Weststraße 98. 02382 / 91 83 20. Eintritt 8 DM, Katalog 38 DM.




Den schönen (oder schrecklichen) Kern der Dinge zeigen – heftig gemalte Landschafts-Großformate von Bernd Zimmer in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Der Maler Bernd Zimmer reist durch die ganze Welt. Mal ist er – abseits touristischer Pfade – in der Südsee zu finden, dann wieder zieht es ihn in die Wüste Sahara oder nach Indien. Kann sich ein Mensch, der so unstet unterwegs ist, künstlerisch über Jahre hinweg treu bleiben? Oder sucht er immer wieder rastlos den völligen Neuanfang?

Beides ist der Fall. Zimmer (48), der jetzt im Dortmunder Harenberg City-Center ausstellt, ist seit seiner Frühzeit im Zeichen der „Neuen Wilden“ (Anfang der 80er Jahre in Berlin) kaum je von seinem Hauptwege abgewichen. Immer noch bevorzugt er die heftige Malweise, die stark leuchtenden Farben, die großen Bildformate. Und doch, so sagt er, beginne er mit jedem Bilde neu, denn er wisse nie, ob er „diesmal“ noch eine taugliche Bildformel finde. Bloß keine vorgefertigte Ästhetik, die entsteht immer erst im Malprozeß.

Von der Südsee bis zur Sahara

„Bilder-Landschaften“ heißt die Ausstellung. Doch die vom Künstler wahrgenommenen, flüchtig skizzierten, fotografierten oder gefilmten Naturschauplätze geraten nicht bruchlos ins Bild. Zimmer läßt seine Eindrücke viele Monate lang reifen, bevor er sie wieder aufgreift. Nun sind sie von allem Überflüssigen entschlackt, das innere Wesen tritt hervor.

Beispielsweise die Südsee, wo Bernd Zimmer auf den Spuren Paul Gauguins wandelte. Nicht als liebliches Paradies erscheint ihm die Inselweit, sondern als wild umtoste Gegend, bewacht von urzeitlichen Skulpturen, die vielleicht die technischen Götzen der Gegenwart abwehren sollen – denn auch in diesen entlegenen Winkeln gibt es ja längst Computer, Telefon und Fernsehen.

Die Farben von Feuer, Wasser, Luft und Erde

Naturphänomene, bereinigt und vergeistigt: Da sieht man keine konkrete Blume mehr, sondern die über und über gelb strahlende „Aura“ (Bildtitel) einer Blüte. Kein esoterischer Zauber, sondern Freilegung des schönen oder auch schrecklichen Kerns der Dinge. Das Elementare äußert sich in imaginierten Farben von Feuer, Wasser, Luft und Erde. Die Traumzeit ist angebrochen.

Die Wüstenbilder erstrahlen nicht etwa gelblich, sondern in Rottönen. Verborgene Schichten unter dem Sand scheinen vulkanisch hervorzubrodeln. Ein Gemälde zeigt einen Querschnitt durch den libyschen Wüstenboden. In unterirdischer Tiefe liegt ein blauer See.

Hinter allen Dingen verbirgt sich etwas. Ein Spaziergang evoziert die „Versuchung im Wald“ (1981). Bernd Zimmer erklärt: Damals sei ein Wanderer abgestürzt. Aus dem diffusen Bedrohungsgefühl entstand eine nebelhafte Welt, die vielleicht von Elfen und Trollen regiert wird.

Bernd Zimmer, „Bilder-Landschaften“. Harenberg City-Center, Dortmund. 31. Oktober bis 4. Dezember. Tägl. 10-18 Uhr, Eintritt frei. Katalog 48 DM.




Der Mensch geht unter, kein Trost ist in den Dingen – Becketts „Glückliche Tage“ (und „Glückliche Texte“) im Bochumer Schauspielhaus

Von Bernd Berke

Bochum. Ein Endspiel im Sport ist etwas halbwegs Erfreuliches, man könnte es gewinnen. Die Figuren in den Theater-Endspielen des ausgesprochenen Sportfans Samuel Beckett (1906-1989) haben jedoch von vornherein verloren, ja sie sind stets dem Verlöschen nah. So auch im Stück „Glückliche Tage“, das jetzt in Bochum Premiere hatte.

Vor die glücklichen Tage hatte Regisseur Dimiter Gotscheff freilich „Glückliche Texte“ gesetzt. Dieser erste Teil des Abends, gestaltet von neun Nachwuchskräften der Schauspielschule Bochum, speist sich aus dem ungeheuerlich ins Kraut schießenden Monolog des „Lucky“ in Becketts „Warten auf. Godot“, handelnd von der lachhaften Sinnlosigkeit allen Vernunft-Strebens. Die Worte, gerecht auf die Mitwirkenden verteilt, rattern hier nur noch als Rädchen einer besinnungslos rasenden Text-Maschine, welche wiederum die Körper antreibt.

Ringkampf mit den Stühlen

Männlein und Weiblein sind maskenhaft geschlechtsneutral geschminkt und kahlköpfig. Sie rennen auf Klingel-Kommando mit Stühlen umher, sie wimmern und seufzen, sie ringen auf Leben und Tod mit den Sitzgelegenheiten, sie rhythmisieren den Text zur Stakkato-Sprechoper: Tanz den Samuel Beckett. Bestimmt eine ersprießliche Gruppenerfahrung, auch mit gewissem künstlerischen Ertrag.

Nach der Pause dann „Glückliche Tage“: das Zweipersonen-Drama in sonst menschenleerer Wüstenei. Wir sehen die geschwätzige alternde Frau namens Winnie, erst bis zur Brust, dann bis zum Halse eingegraben, und im Bühnen-Hintergrund ihren „Gefährten“ Willie, von dem man bis kurz vor Schluß nur Hinterkopf und Hände wahrnimmt. Zeigt er der einsam plappernden Winnie mal aus der Distanz alle fünf Finger, flötet sie gleich: „Dies wird wieder ein glücklicher Tag gewesen sein“.

Ein landläufiger Ehekrüppel?

Meist aber blättert der Mann in der Zeitung, oder – spezielle Bochumer Beigabe – er onaniert freudlos-mechanisch über Pornoheften. Ein landläufiger Ehekrüppel also. Verharmlosung Becketts, der doch das Elend des ganzen Daseins im Sinn hatte? Aber wahrscheinlich kann man dies just mit dem Unglück der Paarweit faßlich darstellen.

Nun aber Winnie: völlig überschminkt, ja verschmiert, die Haare zerzaust, das hoffnungslos altmodische Kleid rosarot, schweinchenhaft. Groteske Kruste des Alters, erbärmliche Komik. Die grandiose Henriette Thimig treibt dieses klägliche Wesen nahezu im Sekundenwechsel durch alle Gefühlslagen – vom idiotisch glücksgierigen Glucksen bis zum tiefsten Jammer, von flackernder Aggression bis zum flehentlichen Betteln um geringste Zuwendung. Im zweiten Akt zersplittert sie Becketts Sätze so gründlich und virtuos, daß die Sprache als nutzloses Gebrabbel und Gestammel, als beliebiges Geräusch unter vielen auf Erden erscheint. Wenn sie nicht mehr ertönte und die Dinge unter sich wären, würde die Welt wohl nicht viel vermissen. Hier reicht die Inszenierung in erschreckende existentielle Untiefen.

Hoffnung ähnelt derVerzweiflung

Mit dem Unterleib in eine Treppe versunken, auf der allerlei Lebens-Müll verstreut liegt, kramt Winnie beständig in einer Tasche: Zahnpasta, Kamm, Bürste, Spiegel kommen zutage. Gegenstände, die nur im ersten Moment des Gebrauchs trösten. Sodann einePistole, für alle Selbstmord-Fälle.

In solcher Ödnis wirkt es bereits wie ein Lichtschimmer, wenn sich ihr am Ende Willie (Henning Orphal) zum Klang eines Operettenliedes („Hab mich lieb“) leibhaftig zu nähern sucht. Da ist kein Unterschied mehr zwischen rührender Hoffnung und Verzweiflung.

Termine: 5., 28., 30. November im Schauspielhaus Bochum. Karten: 0234/3333-11 1




Der Blick aufs Meer und auf die Moderne – Portugiesische Malerei in der Frankfurter Schirn

Von Bernd Berke

Frankfurt. Wie finden künstlerischen Strömungen ihren Weg bis zum Rande des Kontinents? Dieser Frage widmet sich in der Frankfurter Schirn-Kunsthalle die Ausstellung „Portugals Moderne – Kunst in der Zeit Fernando Pessoas“.

In Portugal, soeben als Länderschwerpunkt der Frankfurter Buchmesse in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit gerückt, haben sich Literaten wie Künstler wohl immer ein wenig vom übrigen Europa isoliert gefühlt. Der Blick des Landes ging stets vor allem aufs und übers Meer hinaus, nach Südamerika und Afrika.

Derweil entfaltete sich zu Beginn unseres Jahrhunderts in den Zentren Paris und Berlin die vielgestaltige Moderne, Und so bildeten just jene portugiesischen Künstler die Avantgarde, die sich in diesen beiden Metropolen umgetan hatten. Der Weltdichter Fernando Pessoa stand nicht nur literarisch im Zentrum, sondern beflügelte – durch seine Mitarbeit an Kunstzeitschriften – auch die bildnerischen Kräfte. Diese äußerten sich erstmals auf humoristischen und karikaturistischen Blättern entschieden im Geiste der Moderne. Gleichsam eine verspätete Geburt der Avantgarde aus dem filz. Sarkastischer Humor bewirkt Verzerrung und Fragmentierung des Sichtbaren. Daraus ergibt sich manche Zersplitterungs-Perspektive moderner Kunstrichtungen.

Sarkastischer Humor und Elend des Krieges

Aber nicht nur die Groteske, sondern auch der tiefe Schrecken des Jahrhunderts steht am Beginn dieser Entwicklung. Der Erste Weltkrieg: Christiano Cruz‘ Bild „Toter Soldat“ (um 1915) abstrahiert den Gefallenen zum universell gültigen Mahnmal.

Die Ausstellung gleicht einem Rundgang durch die zahllosen „-Ismen“ der ersten Jahrhunderthälfte. Kubismus, Futurismus, Dadaismus, Surrealismus – all das wurde, jeweils mit gewisser Verzögerung, auch in Portugal aufgegriffen.

Bernardo Marques wirft einen bösen Blick auf die halbfeine Gesellschaft in der Theaterloge – als wär’s ein Bild von George Grosz. Bei vielen kubistischen Bildern hat natürlich Picasso Pate gestanden. Immer wieder diese Vergewisserungen, daß man zum geistigen Kreis Europas zählt. Auch die Bilder eines Jorge Barradas aus der eleganten Welt des Luxus und der Moden, die sich am Pariser Chic orientieren, gehören in diesen Zusammenhang.

Der Diktator ließ die Künstler gnädig gewähren

Hier und, da, gewinnt man freilich den Eindruck, daß hier eben doch beflissene Nachzügler am Werke waren. Doch dann nimmt man die Spektren einer anderen Farbpalette wahr. Das Licht des Südens…

Und das Werk einiger Künstler gewinnt denn doch eigenständige Kontur auf gesamteuropäischen Niveau: Mario Eloys geheimnisvolle Szenarien der Nacktheit und der Angst bleiben ebenso im Gedächtnis wie die subtilen Bilder der Maria Helena Vieira da Silva, etwa jenes Selbstporträt (1932) als kleines Mädchen auf einer himmelwärts führenden Strickleiter.

Das diktatorische Regime Antonio Salazars (EinparteienStaat ab 1933) war geschickt genug, eine gebändigte Moderne gleichsam als Staatskunst zuzulassen. Die Künstler durften „modern“ bleiben, aber in Maßen…

„Portugals Moderne – Kunst in der Zeit Fernando Pessoas“. Schirn-Kunsthalle. Frankfurt. Bis 30. November. Tägl. außer Mo 10-19Uhr, Mi/Do10-22Uhr. Eintritt 10 DM, Katalog 48 DM.




Als die Rebellion noch ganz frisch war – Gespräch mit dem Autor F. C. Delius über seinen neuen Roman zur Studentenrevolte

Von Bernd Berke

Die Werkliste des Friedrich Christian Delius (54) ist lang. Das Spektrum reicht von herzhaften Attacken auf Konzerne („Unsere Siemens-Welt“, 1972) bis zum Romanzyklus über den „Deutschen Herbst“ des Jahres 1977. In „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ (1994) schilderte Delius die Gefühle eines kleinen Jungen zur Zeit der Fußball-WM 1954. Sein neuer Roman „Amerikahaus und der Tanz um die Frauen“ (Rowohlt-Verlag) spielt 1966, im Vorfeld der 68er Studenten-Rebellion. Ein Gespräch mit F. C. Delius auf der Frankfurter Buchmesse:

Warum die Revolte der 60er Jahre als Romanthema? Aus Nostalgie?

F. C. Delius: Ich bin im Grunde kein „68er“, sondern ein „66er“. 1966 fing die enorme geistige und kulturelle Bewegung an und erweiterte sich dann aufs Gebiet der Politik. Demonstrationen hatten noch einen ganz schlichten moralischen Impuls. Und eine dieser allerersten Demonstrationen – im Februar 1966 vor dem Amerikahaus in Berlin – versuche ich zu beschreiben. 1968 gab es bereits eine Verengung. Da waren viele schon überzeugt bis zur Selbstüberschätzung und sprachen von Revolution. Der Aufbruch ist eine Sache von 1966. Das war noch frei von Dogmatismus und Ideologie, es war die Erweiterung des Horizonts. Der erste Blick nach Vietnam…

Ihre Trilogie zum „Deutschen Herbst“ und das „Weltmeister“-Buch liegen vor. Jetzt also 1966. Haben Sie eine komplette Roman-Chronik der Republik im Sinn?

Delius: Den Ehrgeiz habe ich nicht. All diese Bücher haben sich aus ganz persönlichen Fragestellungen entwickelt. Mit den Romanen zum „Deutschen Herbst“ wollte ich meine Lähmung und meine Hilflosigkeit erkunden. Das „Weltmeister“-Buch hat mit meiner Kindheit zu tun.

Sie verknüpfen in Ihrem neuen Roman die politischen Vorgänge mit den sexuellen Problemen Ihrer Hauptfigur. Dieser Martin ist überaus schüchtern und kommt nicht recht an die Mädchen heran.

Delius: Es geht mir nicht nur in politischer Hinsicht um das Öffnen des Blicks, das Öffnender Person. Ich finde, daß immer ein Zusammenhang besteht zwischen dem Sexualleben und den politischen Gefühlen und Gedanken.

Im „Literarischen Quartett“ ist das Buch vor ein paar Tagen recht gut weggekommen. Aber die „Frankfurter Allgemeine“ hat Ihnen vorgehalten, Sie hätten „Ich war dabei“-Literatur geschrieben.

Delius: Das finde ich eher amüsant. Meine Figur ist ja gerade kein Held, sondern ein relativ schwacher Mensch mit einigen Macken. Er entspricht nicht dem Klischee, das sich von den 68ern gebildet hat. Damals waren viele arme Würstchen dabei, die trotzdem was bewegt haben und was Richtiges gedacht haben.

Für wen haben Sie das Buch in erster Linie geschrieben: Für die Apo-Generation, oder eher für jüngere Leute?

Delius: Ich denke beim Schreiben zunächst mal nicht ans Publikum. Ich muß erst gucken, daß das, was ich mir vorgenommen habe, auf die Reihe kommt. Erst dann kann es auf andere wirken. Aber gerade jüngere Leute finden das Buch glaubwürdig, weil ich nicht das Heldenepos eines fertigen Jung-Revoluzzers geschrieben habe, sondern von einem erzähle, der skeptisch beobachtet, der Angst hat und Scham kennt.

Was sagen Sie zu den landläufigen Vorwürfen, die deutsche Gegenwartsliteratur sei nicht welthaltig genug?

Delius: Das ewige Gejammer ist dumm. Die deutsche Literatur ist stärker, als man allgemein denkt.




Von „Pooh’s Corner“ bis zur „Lindenstraße“ – Gespräch mit dem Autor und Übersetzer Harry Rowohlt

Von Bernd Berke

Mit seiner Nonsens-Kolumne „Pooh’s Corner“ in der „Zeit“ hat sich Harry Rowohlt (52) eine treue Fangemeinde erschrieben. Die Beiträge liegen in zwei Büchern gesammelt vor (beide im Haffmans-Verlag). Doch der Sohn des berühmten Verlagsgründers Ernst Rowohlt gilt auch als einer der besten Übersetzer aus dem Englischen. Er war es, der Frank McCourts Bestseller „Die Asche meiner Mutter“ ins Deutsche übertrug. Druckfrisch liegen Padgett Powells „Edisto“-Romane (Berlin-Verlag) vor. Ein Gespräch mit Harry Rowohlt auf der Frankfurter Buchmesse:

Herr Rowohlt, den McCourt-Roman haben die meisten Leser geradezu verschlungen. Was machen Sie besser als andere Übersetzer?

Harry Rowohlt: Tja, ich weiß nicht. Eine gute Voraussetzung ist, daß Autor und Übersetzer wesensverwandt sind. Frank McCourt hab ich mal in New York angerufen, dort war es Vormittags elf Uhr. Und da war er, sehr zu meinem Entzücken, bereits besoffen. Man kann also von einer gewissen Wesensverwandtschaft ausgehen.

Haben Ihnen alle Bücher gefallen, die Sie übersetzt haben?

Rowohlt: Nein. Die ersten 40 waren ziemlicher Mist. Ich bin noch nicht lange in der Lage, mir die Sachen auszusuchen. Ich war mit dem Nachteil des Namens Rowohlt behaftet. Hätte ich früher etwas abgelehnt, hätte es gleich geheißen: Ja, das ist eben der Rowohlt, dieser arrogante Arsch. Vorteile hatte ich von dem Namen nicht. Ich war früher ziemlich arm, aber manche dachten, ich sei Millionenerbe. Von wegen!

Was bringt Ihnen die Frankfurter Buchmesse? Viele neue Aufträge?

Rowohlt: Bei dieser Messe habe ich zwei selbstgeschriebene Bücher, vier Übersetzungen und vier Tonträger mit Lesungen aus A. A. Milnes „Puh, der Bär“ und aus Texten von Flann O’Brien. Wenn also jemand ein Recht hat, sich auf der Messe rumzutreiben, dann doch wohl ich.

Wenn man Ihre Kolumne „Pooh’s Çorner“ liest, könnte man glauben, sie nähmen nichts auf der Welt ernst.

Rowohlt: Naja, wenn man in einem so hehren Umfeld wie der „Zeit“ seinen normalen Quatsch abdröselt, kann es passieren, daß man als etwas unernst verkannt wird. Im übrigen kenne ich keinen Schreibzwang. Ich muß nicht schreiben.

Also ist kein eigener Roman in Arbeit?

Rowohlt: Schon deshalb nicht, weil mein Kollege Eckhart Henscheid mir gedroht hat, wenn ich mit Romanen anfange, bricht er mir den rechten Arm. Und Robert Gerhardt hat den Unterschied zwischen „Ernstlern“ und „Spaßlern“ mal sehr klar gemacht: Die Ernsten brauchen in Deutschland viel weniger zu können als die, die über eine gewisse Leichtfertigkeit verfügen. Die Ernsten kriegen auch sehr viel mehr Geld. Sarah Kirsch liest 40 Minuten und kriegt 4000 Mark. Das krieg ich nicht, dabei les‘ ich viel länger als sie.

Besteht ihr Publikum eher aus jüngeren Leuten?

Rowohlt: Inzwischen ja. Es fing an mit diesen „Pinker-Elsen“, die immer zu Dichterlesungen gehen, aber die habe ich hoffentlich für alle Zeiten vergrault.

Allein schon durch Ihr äußeres Erscheinungsbild?

Rowohlt: Tja. Man tut halt, was man kann.

Stimmt es, daß Sie mal zu Ihren eigenen Lesungen nicht reingelassen wurden?

Rowohlt: Ja, früher mehrfach. Da hieß es: Nee, Sie kommen hier nicht rein, wir haben heute Abend eine Dichterlesung…

Damit wären wir bei Ihren Auftritten als „Penner“ in der „Lindenstraße“.

Rowohlt: Drei neue Folgen mit mir werden demnächst gesendet. Die Rolle habe ich mir übrigens selbst geschrieben. Einen Filialleiter wollte ich halt nicht spielen.




Die Druckware trotzt den Silberscheiben – Skeptische Töne zum Auftakt der 49. Frankfurter Buchmesse

Von Bernd Berke

Frankfurt. Probleme an allen Fronten des Buchmarktes: Die Umsätze wachsen bei weitem nicht mehr so üppig wie vor Jahresfrist. Die Europäische Kommission droht die für kleinere Verlage lebenswichtige Buchpreisbindung aufzuheben und damit den Lesestoff so zu behandeln wie jede beliebige andere Ware. Zudem bereiten das Hin und Her um die Rechtschreibreform sowie die immer schmalbrüstigeren Ankaufsetats öffentlicher Bibiliotheken Kopfzerbrechen – und das „Gespenst der Globalisierung“ erhebt gleichfalls sein schauriges Haupt.

Skeptische, ja stellenweise furchtsame Töne bestimmten gestern die Pressekonferenz zum Auftakt der 49. Frankfurter Buchmesse. Selbst das Geschäft mit elektronischen Publikationen, seit 1993 in die weltgrößte Bücherschau integriert, entwickelt sich nur im Kriechgang. Hatten Experten Anfang der 90er Jahre für die Jetztzeit einen satten Marktanteil von rund 20 Prozent vorhergesagt, so sind es nun tatsachlich gerade mal zwei bis drei Prozent.

Auch solche ernüchternden Zahlen lassen sich – mit etwas rhetorischem Geschick –freilich rasch ins Positive wenden. Gerhard Kurtze, Vorsteher beim Börsenverein des Deutschen Buchhandels, gestern in Frankfurt: „Das Buch hat sich als erstaunlich vital erwiesen“, sprich: Die gute alte Druckware hat dem Angriff der Silberscheiben (CD-Roms) und der virtuellen Text-Attacke aus dem Internet tapfer getrotzt.

Immerhin: Im deutschen Buchhandel ging’s zuletzt noch sanft aufwärts (1,7 Prozent Umsatzplus), aber die Konjunkturflaute wird nun (mit Verzögerung im Vergleich zu anderen Branchen) auch hier spürbar. Im Vorjahreszeitraum konnte man nämlich noch mit vier Prozent Steigerung prunken.

Appelle für den Erhalt der Preisbindung

In anderen Ländern sieht es sehr uneinheitlich aus: Die USA erleben beispielsweise einen Boom beim Bücherverkauf, in Frankreich und Italien weisen die Kurven hingegen nach unten. Der Buchmesse selbst geht’s unterdessen prima. Sie kann – fast schon Routine – abermals anschwellende Größe vermelden. Genau 9587 Aussteller sind diesmal in Frankfurt dabei – etwa 300 mehr als im letzten Jahr. Die stolze Steigerung hat man besonders osteuropäischen Verlagen zu verdanken. Dort scheint das zarte Pflänzchen des Buchgeschäfts allmählich wieder zu gedeihen. Daß die weltweit erzeugte, am Main präsentierte Titel-Produktion von rund 311 000 auf etwa 306 000 abgeschmolzen ist, läßt sich wohl verschmerzen.

Geradezu händeringend sind die Appelle an die EG-Kommission in Brüssel, die bewährte Buchpreisbindung doch um Himmels Willen beizubehalten. Andernfalls könnten wenige große Handelsketten mit knallhart kalkulierter -Billigware den ganzen Rahm abschöpfen, was wohl den Tod zahlreicher kleiner und mittlerer Verlage nach sich ziehen dürfte. Angesichts solcher Befürchtungen traf es sich gut, daß EG-Kommissionspräsident Jacques Santer gestern abend zur Messeeröffnung erschien. Man wird ihm einiges über den Segen der festgelegten Ladenpreise zugeflüstert haben.

Portugal ist der Schwerpunkt

Messedirektor Peter Weidhaas konnte auf erste Auswirkungen des diesjährigen Messeschwerpunkts Portugal verweisen: Insgesamt lägen in Deutschland nur 105 portugiesische Buchtitel übersetzt vor. Davon aber seien allein 40 in diesem Jahr herausgekommen, vermutlich aufgrund des Frankfurter Impulses. Mit rund 300 großen und kleinen Portugal-Veranstaltungen, die bis tief in die deutschen Regionen reichen, setzt man zudem auf Breitenwirkung. Hoffentlich kein Strohfeuer.

Weidhaas, der das Buch ein „Überlebensmittel“ und unabdingbar für „Zukunftsfähigkeit“ nannte, ermunterte dazu, nicht nur dem Hauptstrom der Messe zu folgen, sondern ruhig auch mal Unscheinbares und Kurioses aufzusuchen. Kein schlechter Vorschlag.

49. Frankfurter Buchmesse. Bis 20. Oktober (nur Samstag/Sonntag fürs breite Publikum, ansonsten für Fachbesucher). Tageskarte 10 DM, für Fachbesucher 25 DM.




Man fühlt schon, wie der Winter naht – Tschechows „Kirschgarten“ im Theater Oberhausen

Von Bernd Berke

Oberhausen. „Unser Leben ist verdammt dumm“, denn: „Wir spielen uns voreinander auf.“ Anton Tschechows Drama „Der Kirschgarten“ enthält Sätze, von denen sich mancher ertappt fühlen müßte. In Oberhausen hat sich nun Thomas Goritzki (Regie) dem modernen Klassiker genähert.

Die Gutsbesitzerin Ranevskaja (Elenor Holder) kehrt, von Leben und Liebe enttäuscht, nach langen Jahren aus Frankreich ins ach so rückständige Rußland zurück. Doch auch dort ist nichts mehr so, wie es war. Ihr Verwalter Lopachin (Andrea Bettini), aufgewachsen noch als Sohn eines Leibeigenen, zieht inzwischen die geschäftlichen Fäden. Er stellt die Dame von Welt vor die Wahl: Entweder, die Ranevskaja lasse ihre überschuldeten Güter freiwillig parzellieren und stückweise an Sommerfrischler verkaufen, oder das Ganze müsse in einem Rutsch zwangsversteigert werden. Jedenfalls habe man den ökonomisch nutzlosen Kirschgarten in Kürze abzuholzen. Geld kommt, Schönheit stirbt. Und mit ihr die Erinnerung an glücklichere Zeiten im Garten.

Die langen Momente des Stillstands

Das Stück zeigt die langen Momente des Stillstands vor dem Vergehen. Die Zeit zieht vorüber, aber sie will nicht wirklich voran. Die bittere Wahrheit wollen diese Leute nicht wissen. Sie warten, aber worauf denn eigentlich noch? Man redet, ißt, trinkt, träumt und tanzt ein wenig und – spielt sich voreinander auf.

In der Oberhausener Inszenierung äußert sich die Hilflosigkeit der Menschen angesichts der gesellschaftlichen Verwerfungen nicht zuletzt in Umstandskrämerei bis zum Slapstick. Anfangs scheint es, als werde hier das Stück verjuxt, wenn etwa einer um den Tisch herumgeht und ungeschickt alle Stühle umwirft. Doch dabei bleibt es nicht: Es ist mehr zum Weinen. Denn derlei Komik ist nur vordergründig, dahinter lauert ersichtlich das Menschenweh, lauern Melancholie, Überdruß und ein Hauch von Hysterie. Den Nuancen und Zwischentönen derart gemischter Gefühle spürt man in Oberhausen mit staunenswerter Trennschärfe nach.

Die Regie bleibt variabel in der Staffelung der zahlreichen Gruppenszenen (kein leichtes Handwerk, fürwahr). Darsteller, die gerade keinen Text sprechen, stehen also nicht einfach abwartend herum, sondern spielen mimisch und gestisch weiter. Immer wieder gelingen Augenblicke von solcher Eindringlichkeit, daß man die Lebenswege der Figuren – gleichsam verlängert in die imaginäre Zeit vor und nach dem Stück – plastisch vor sich sieht.

Man glaubt zu wissen, was aus ihnen wird: aus dem ewigen, dem Selbstmord zugeneigten Pechvogel Epichodov (Jeffrey R. Zach); aus der zwitschernd munteren Tochter Anja (Simone Kabst); aus der altjüngferlichen, streng gewissenhaften Pflegetochter Varja (Kornelia Lüdorf); aus dem nervösen Zimmermädchen Dunjasa (Sabine Maria Reiß); aus dem Studenten Trofimov (Mark Oliver Bögel), der von Menschenstolz palavert und hochmütig „über der Liebe stehen“ will – und worauf es mit all den anderen hinauslaufen könnte.

Jahreszeiten, Seelenstimmungen: Das Stück, das im Frühling beginnt, endet im Herbst. Und man spürt schon, wie der Winter naht…

Nächste Termine: 15., 25., 29. Oktober (jeweils 19.30 Uhr). Karten: 0208 / 85 780.




Lebensmuster im Pullover – Rosemarie Trockel stellt in ihrer Geburtsstadt Schwerte aus

Von Bernd Berke

Schwerte. Das schlichte Foto, aufgenommen bei einer Klassenfahrt im Jahre 1966, zeigt zwei Mitschülerinnen. Meist verschwinden solche Erinnerungen in alten Kartons oder Alben und werden selten hervorgekramt. Ganz anders bei einer Künstlerin wie Rosemarie Trockel. Da lagern sich im Laufe der Zeit immer mehr Gedanken und Assoziationen an –und aus einem solchen Foto wird eine ganze Bilderserie.

Mit der Ausstellung ,„Gudrun“ (so heißt eine der Schulfreundinnen auf besagtem Foto) kehrt die hoch gehandelte Rosemarie Trockel abermals an ihren Geburtsort Schwerte zurück. Es ist die dritte Ausstellung, die ihr der rührige Kunstverein ausrichtet. Bei der jüngsten documenta in Kassel erregten Frau Trockel und Carsten Höller Aufsehen mit einem „Haus für Schweine und Menschen“, in Schwerte präsentiert sie nun einige Hundeporträts.

Zurück zum Foto mit jener Gudrun. Die trug damals einen Pullover mit Strickmuster, das wie eine Geheimschrift wirkt. Und so erwächst aus einer „Kleinigkeit“ mit den Jahren ein wahres Bilder-Geflecht mit Kreuz- und Querverweisen. Da taucht zunächst ein Bild des Revolutionärs Ernesto „Che“ Guevara auf, neben dem die Schauspielerin Barbra Streisand sitzt – bekleidet mit einem Pullover, der ähnlich gemustert ist wie damals der von Gudrun. Zufall oder mysteriöse Fügung?

Aus vier Fingern werden Hasenohren

„Che“ wiederum, Ikone der rebellischen 60er, macht beidhändig „Victory“-Zeichen. Seine vier gereckten Finger mutieren in einem der nächsten Bilder zu vier Häschen-Ohren in einer Art Witzzeichnung, die aber insgeheim vom weiblichen Gefühl des Bedrohtseins handelt. Sodann sieht man Gudruns Gesicht in zwei zeichnerischen Momentaufnahmen, und auch das Pullovermuster wird eigens wie unter der Lupe vorgeführt. Waltet hier ein Seh-Zwang? Etwa so: Überall mag sich etwas Entscheidendes verbergen, da heißt es wachsam bleiben und offen für jede Botschaft, für jede Inspiration.

Ins Muster des Pullovers könnte das Muster des ganzen Lebens eingewoben sein. Wer weiß, wer weiß.  Jedenfalls hat sich Rosemarie Trockel intensiv mit C. G. Jungs Lehre von den Archetypen (Urbildern) befaßt, die im kollektiven Unbewußten der Menschheit ihr ewiges Wesen treiben sollen.

Triebkräfte der Biographie

Trockels Bilderserien entstehen nicht nach Plan und Schema, sondern dann, wenn die Künstlerin visuelle „Bausteine vorfindet, die in verborgener Entsprechung zu den bisherigen Elementen stehen. Daraus ergibt sich ein rätselhaft-faszinierendes Puzzle, eine bildnerische Meditation über Details und Triebkräfte der eigenen Biographie, die ihre wichtigsten Impulse wohl in den 60er Jahren bekommen hat – damals, zu Gudruns Zeit.

Auch andere Bildreihen sind aus Keimen jener Jahre entstanden. Ein Foto zeigt eine diffuse Menschenmenge, wahrscheinlich im Londoner Hyde Park. Damit wäre das Kernthema freie Rede und somit der Befreiung angestimmt. Schicht um Schicht wird daraus eine Gruppe von Arbeiten, die just um den Freiheitsdrang kreisen, allerdings auch um dessen Pervertierung: Ein Paar, das sich der „freien Liebe“ erfreut, wird mit der Kamera aufgenommen wie für einen Pornostreifen.

Alles Sichtbare ist beseelt

In vier Trockel-Videofilmen, die man sich in Schwerte ansehen kann, findet man Motiv-Partikel der Tafelbilder wieder. In die wandelbaren Punkt-Raster einer gefilmten Vogelschar, die sich zum Flug nach Süden sammelt, löst sich auch die erwähnte Liebesszene auf, und eine Art Chaostheorie wird mit Wollknäueln durchgespielt. Womit man wieder beim Pullover wäre.

Und die Hunde? Rosemarie Trockel hat ihren Terrier „Fury“, dessen Hunde-Freundin sowie – als lokale Zugabe – Vierbeiner aus Schwerte so einläßlich porträtiert, als seien es bedeutende Menschen. Wenn schon Pullover beseelt sind, dann erst recht die Tiere.

Rosemarîe Trockel. Kunstverein Schwerte, Kötterbachstraße 2. Bis 9. November (geöffnet Di-Fr 16-19 Uhr, So 15-18 Uhr).




Keiner weiß, wo das Handy gerade klingelt – Hellmuth Karaseks listiges Buch über Mobiltelefone

Von Bernd Berke

Das Buch war fällig. Denn keine technische Errungenschaft hat den Alltag zuletzt so erobert wie das Mobiltelefon, sprich: das Handy. Also sollten wir die menschlichen und kulturellen Folgen des Gebrauchs bedenken. Genau das hat Hellmuth Karasek („Das Literarische Quartett“) getan.

„Hand in Handy“ heißt sein neues Buch. Der Titel klingt mit fortschreitender Lektüre gar nicht mehr rätselhaft. Karasek schildert besonders die Konsequenzen, die das mobile, ja tendenziell ortlose Gequatsche für unser Liebesleben hat. Statt wie früher Hand in Hand miteinander zu gehen, treffen viele Leute jetzt lieber – Hand in Handy – fernmündliche, möglichst unverbindliche Verabredungen (neudeutsch: Dates).

Das Fremdgehen wird leicht gemacht

Die Kunst des Fremdgehens hat laut Karasek mit dem Aufkommen des Handys (in Deutschland seit 1992) einen ungeahnten Schub erlebt. Denn nun kann niemand mehr wissen, wo der angerufene Partner sich mit seinem grenzenlos transportablen Handy befindet, weil man ja überall unter derselben Nummer erreicht wird. Beispiel: Vielleicht ist er gar nicht bei der Tagung in X, sondern bei dieser Schlampe inY…?

Welches Mißtrauen daraus erwächst, beschreibt Karasek in der Leidensgeschichte eines Berliner Ehepaares. Sie finden jedenfalls nicht zu der Haltung, die der Autor empfiehlt: „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“.

Karasek entgeht auch nicht, daß gerade das Handy sehr einsam machen kann, zumal wenn es an eine Mobilbox (Anrufbeantworter) gekoppelt ist. Gerade wer theoretisch allzeit und überall erreichbar ist, wird gehörig ins Grübeln kommen, wenn ihn nur ganz wenige erreichen wollen…

Wohin mit dem ganzen Gefühl?

Teilweise arg komische Beobachtungen auf Flughäfen und in Messehallen gehören natürlich zum Thema. Wenn ganze Heerscharen von Leuten mit Nadelstreifen, Schlips und Attachékoffer wie auf geheimes Kommando zu ihren Handys greifen, um irgendwem zu erzählen, daß sie „gleich losfliegen werden“, so hat das einen Ballett-Effekt mit Slapstick-Qualität. Dieselben Leute schalten die Geräte zwar während des Fluges murrend ab (weil’s aus guten Gründen verboten ist, die Piloten-Frequenzen zu stören), aber spätestens dann wieder ein, wenn sie am Ankunftsort im Taxi sitzen: „Bin jetzt gelandet.“ Daran knüpft Karasek eine These, die man unbesehen glauben darf: daß die Gesprächs-Inhalte um so banaler werden, je weiter die Telefontechnik sich entwickelt.

Viele dynamisch-flexible Herrschaften übersehen zudem, so findet Karasek, daß sich persönliche „Wichtigkeit“ längst nicht mehr mit einem Handy beweisen läßt. Inzwischen sind die kleinen Apparate millionenfach verbreitetes Gemeingut. So viele Entscheidungsträger kann’s ja wohl gar nicht geben…

Und noch eins: Beim Handy kann man keinen Hörer mehr aufknallen, sondern nur noch den Knopf fürs Gesprächsende drücken. Auch solche Kleinigkeiten zeitigen sozial bedeutsame Folgen. Wohin mit dem Frust, den man früher mit einem beherzten Kracher-auf die Telefongabel loswerden konnte? Soll man etwa das liebgewordene Handy vor die Wand werfen?

Hellmuth Karasek: „Hand in Handy“. Verlag Hoffmann und Campe. 159 Seiten, 28 DM.




Endlich mehr Leben ins Museum holen – Pläne des neuen Bochumer Direktors Hans Günter Golinski

Von Bernd Berke

Bochum. Mit der Entscheidung für Hans Günter Golinski (43), der am 1. November neuer Direktor des Museums Bochum wird, hat die Stadt auf personelle Kontinuität gesetzt. Der Mann arbeitet seit immerhin acht Jahren im Hause. Doch er will einiges anders machen als sein bisheriger Chef Peter Spielmann.

„Wir werden in der ganzen Fachwelt als Ghetto für Ostkunst wahrgenommen“, klagte Golinski gestern. Das Museum brauche endlich ein zeitgemäßes Profil. Die Zeiten des „Kalten Krieges“, in denen es verdienstvoll war, vorwiegend Künstlern aus Osteuropa ein hiesiges Forum zu schaffen, seien vorbei. Das könne man heute in den Ursprungsländern besser.

Golinski will eine strenge Inventur der Bestände vornehmen und Lücken schließen. Damit sich die Bochumer mit der Sammlung identifizieren, sollen deren bessere Stücke dauerhaft gezeigt werden. Kulturdezernentin Ute Canaris: „Wer Besuch von außerhalb bekommt, muß sagen: Komm, wir gehen mal in unser Museum!“

Ganz auf Kunst des 20. Jahrhunderts konzentriert

Nach dem Vorbild des Wuppertaler Von der Heydt-Museums, das nützliche Kontakte mit Budapest und Wien geknüpft hat, möchte Golinski von der Zusammenarbeit mit anderen Museen profitieren. Bislang vernachlässigte Verbindungen mit Kunsthistorikern der Ruhr-Uni und der örtlichen Szene („Galerie m“) könnten Leben ins Museum bringen, dessen Dienstleistungs-Qualität mit einem Restaurant und einem Shop gesteigert werden soll. Außerdem will man einen lang vermißten Förderverein gründen.

Im Zuge der Neubesetzung wird Bochums Museumslandschaft umgestellt: Von Stadtgeschichte und anderen Aufgaben wird das Museum entlastet, das sich somit ganz auf die Kunst des 20. Jahrhunderts konzentrieren kann. Im Museum selbst wird eine Stelle gestrichen und die Dotierung dem Ausstellungsetat (150.000 DM pro Jahr) zugeschlagen. Effekt: etwas mehr Geld, aber auch mehr Streß. Golinski wird, entgegen bisherigen Gepflogenheiten, vorerst nur für fünf Jahre zum Museumsleiter bestellt. Ein gewisser Erfolgsdruck…




Aus kleinen Punkten entsteht die Welt – Kölner Wallraf-Richartz-Museum zeigt Werke der Pointillisten

Von Bernd Berke

Köln. Augenflimmern garantiert: Um unendlich viele kleine Punkte dreht sich jetzt alles im Wallraf-Richartz-Museum. Denn die Künstler des Pointillismus (von französisch „Le Point“ – der Punkt) haben ihre Bilderwelten just aus lauter Farb-Fleckchen erzeugt. Anreger dieses Stils war Georges Seurat. Er hatte sich im langweiligen Militärdienst Anfang der 1880er Jahre mit Physik-Büchern eingedeckt und aus der Lektüre weitreichende Schlüsse für die Malerei gezogen.

Die Farben, so befand Seurat, dürften nicht flächig und vermischt aufs Bild gelangen, sondern müßten – ewigen optischen Gesetzen folgend – in ihre Bestandteile zerlegt werden, in Punkte aus „reinen“ Farbwerten. Der sinnliche Gesamteindruck werde sich dann in der Wahrnehmung des Betrachters ergeben.

„Auf den Spuren von Georges Seurat“ heißt die Kölner Schau. Mal ehrlich: Von Seurat selbst findet man hier weit weniger als von seinen Spuren. Am eigentlichen Seurat-Eckchen ist man vorüber, ehe man sich’s versieht. Zehn Kleinstformate, flirrende Landschaften vor allem – das war’s auch schon. Vier weitere Bilder werden nach Abschluß der Londoner Seurat-Retrospektive hinzukommen. doch auch das ist nicht die Welt. Seine Gemälde, so heißt es in Köln, seien schwerer zu leihen als die von Rembrandt oder Van Gogh, manche Museen hätten die Meisterwerke regelrecht an ihren Wänden „festgenagelt“.

Günstige Orte und Wetterlagen

Gleichwohl hat die Präsentation respektablen Umfang. 174 Bilder sind zu sehen, vorwiegend aus den Jahren 1887 bis 1895. Manche Werke lassen sich nur entfernt mit dem Pointillismus in Verbindung bringen, sie wirken wie willkommene oder auch überflüssige Zugaben – je nachdem. 47 Künstler sind vertreten, einige dürften nicht einmal Experten ein Begriff sein. Entdeckungen sind also möglich. Eines der schönsten Bilder – zärtliche Rückenansicht einer jungen blonden Frau – stammt gar von einem gänzlich „unbekannten Künstler“.

Doch auch Berühmtheiten haben sich zumindest zeitweise mit dem Pointillismus befaßt: Maurice Denis zeigte seine friedsame Familie in feinstens gepunkteter Kleidung, Vincent van Gogh fing einen Augenblick nervösen Aufflammens der Natur ein („Aprikosenbäume in Blüte“), Henri Matisse wendete die Punkte-Technik aufs Genre des Stillebens an, und sogar Paul Gauguin, dem dieser kleinteilige Stil eigentlich wesensfremd war, bediente sich seiner in einer kurzen Phase.

Es gibt ersichtlich besonders günstige Orte, Jahreszeiten und Wetterlagen für den Pointillismus, der sich aus der Freilichtmalerei der Impressionisten entwickelt hat: Das Frühlingsblühen gehört allemal dazu, aber auch Nebelschwaden über Meeren und Flüssen, Lichtspiegelungen auf Wogen und Wellen – Momente also, in denen sich die Farben sowieso aufzulösen scheinen. Baumblätter und Wasser werden zuweilen von ein und demselben Flimmern erfaßt – ein Schritt zum Abschied vom konkreten Gegenstand. Hier hat dieser Stil neue Horizonte des Sehens erschlossen. Für Stadt- und Arbeitswelten war er hingegen einfach nicht „zuständig“.

In Deutschland blieb der Stil Nebensache

Von Paul Signac, der nach Seurats Tod den Pointillisten als Großmeister galt, sind etliche Spitzenstücke zu sehen. In der Münsteraner Werkschau war Signac allerdings unlängst noch umfassender vorgestellt worden. Raumbeherrschend in Köln sein Idyll „In der Zeit der Harmonie“ (1894/95), ein Vorläufer des Jugendstils: Girlanden spielender und tanzender Menschen winden sich durch eine utopisch-ideale Landschaft, Mensch und Natur sind aufs Schönste vereint.

In Deutschland blieb der Pointillismus Episode. Der Hagener Mäzen Karl-Ernst Ostbaus war einer der wenigen, die die Bedeutung erkannten. Seine Empfehlung regte Christian Rohlfs an, die Lichtstreuung rund um die „Türme von Soest“ im Ansatz pointillistisch darzustellen; aber nicht nach der reinen Lehre, sondern mit strichförmig gerichteten Farbpartikeln, die schon auf den Expressionismus vorausweisen.

„Pointillismus -Auf den Spuren von Georges Seurat“. Wallraf-Richartz-Museum, Köln (am Hauptbahnhof). Bis 30. November. Di 10.20 Uhr; Mi-Fr 10-18 Uhr, Sa/So 11-18 Uhr. Eintritt 13 DM, Katalog 56 DM.




Gar hübsch schnurrt die Mechanik ab – Molières „Der eingebildet(e) Kranke“ am Westfälischen Landestheater

Von Bernd Berke

Castrop-Rauxel. Neue Stufe der Gesundheitsreform: Einfach nicht mehr zu den Ärzten gehen, sondern auf die Selbstheilungskräfte der Natur vertrauen. Behandlungen und Medikamente richten sowieso nur Schaden an.

Nein, nein, das ist kein neuer Sparvorschlag voll Minister Seehofer, sondern so legt es uns bereits der Dramatiker Jean Baptiste Molière (1622-1673) nahe. Sein Stück „Der eingebildet(e) Kranke“ hatte jetzt zum Saisonauftakt am Westfälisehen Landestheater (WLT) Premiere.

Man spielt die moderne Übersetzung von Tankred Dorst, und die setzt mit den Verbesserungen just schon beim Titel an: „Le malade imaginaire“ heißt nun auf Deutsch nicht mehr „Der eingebildete Kranke“, sondern „Der eingebildet Kranke“. Kein Arroganter also, der krank ist, sondern ein Mensch, der sich lediglich einbildet, krank zu sein.

Genug der Spitzfindigkeiten. Unverwüstlich ist das Drama jenes allzeit jammerndenArgan (Hubert Schedlbauer), der seine Tochter partout mit dem lachhaft steifen Nachwuchsmediziner Thomas Diafoirus (Guido Thurk) verheiraten will, nur damit Papa stets über einen Leibmedikus für seine tausend Zipperlein verfügt. Am Ende bringt das schlaue Dienstmädchen Toinette (Vesna Buljevic) alles ins rechte Liebeslot.

Die erprobte Ansammlung „dankbarer“ Rollen läßt sich selbst mit gebremsten Kräften halbwegs unterhaltsam auf die Bühne bringen. Hypochonder, Geizhälse und scheinheilige Erbschleicherinnen wird s halt immer geben.

In Castrop-Rauxel ist die winzige, fast puppenhafte Szenerie mit goldenem Rahmen eingefaßt wie ein kostbares, schier unantastbares Gemälde. Und tatsächlich: So recht beherzt traut man sich – unter der Regie von Lothar Maninger – nicht an diesen Klassiker der Typenkomödie heran. Es sieht so aus, als habe man uns jegliche Überraschung ersparen wollen. Und so schnurrt das Ganze sehr brav mit der hübschen Mechanik einer Spieluhr ab. Gerafftes Röckchen hier, gravitätisches Staksen da. Die zwischenmenschlichen Beziehungen als höchst berechenbares Räderwerk.

Auf Tiefenschärfe wird nahezu ganz verzichtet, man hat den Figuren lediglich ein paar Attribute beigegeben, mit denen sie sich in wohlfeilen Slapstick flüchten können. Der Notar wankt als Balancekünstler mit meterhohem Bücherturm herein, der als Gesangslehrer verkleidete Liebhaber Cléante (Ulrich Mayer) trägt eine Note auf dem Jackett und darf immer mal wieder einen Opernarien-Kiekser von sich geben. Argan selbst tapert – Söckchen aus, Söckchen an – deppenhaft zwischen medizinischen Fußbädern, Fläschchen, Bettpfannen und Klistieren herum. Der Komik entbehrt all das nicht, doch es ist nur der halbe Spaß. Und ein kurzer: Nach eindreiviertel Stunden (Pause eingerechnet) ist’s vorüber. Keine abendfüllende Sache, weder zeitlich noch sonst.

Termine: 14. September (Castrop-Rauxel), 25. Sept. (Mülheim), 21. Okt. (Hamm). Karten: 02305/1617.




Die Kunst strebt nach Unendlichkeit – Rolf Nolden und Norbert Kricke im Ahlener Museum

Von Bernd Berke

Ahlen. Viele Künstler hüllen sich in melancholisches Schweigen, wenn sie etwas über ihre Arbeit sagen sollen. Weil die Kunst für sich selbst sprechen soll. Vielleicht meinen sie auch, daß wir sie sowieso nicht verstehen. Es gibt aber auch solche, deren Rede in eigener Sache überfließt. Zu ihnen zählt Rolf Nolden, der jetzt vom Kunstmuseum Ahlen präsentiert wird.

Man muß sich die Situation vorstellen: Nolden hat die Ausstellung eigenhändig aufgebaut, rund 14 Tage lang. In dieser Phase war er nahezu allein mit den leeren Räumlichkeiten. Bis alles so war, wie er es wollte, hat er immer und immer wieder Feinabstimmungen von Form, Farbe und Material vorgenommen, hat Fluchtlinien, Perspektiven, Horizonte und Blickachsen neu ausgerichtet. Denn dasselbe Kunstwerk wirkt in jedem Raume anders.

Auf diese stillen Exerzitien folgt die Eröffnungs-Pressekonferenz – und nun darf Nolden endlich mitteile, woran ihm gelegen ist. Da sprudelt es aus ihm heraus. Da zitiert er Denker wie Descartes, Kant, Albert Einstein oder Stephen Hawking und diverse Kunstrichtungen als Kronzeugen. Auch erzählt er von seinem Zimmernachbarn während c des Studiums, jenem angehenden Chemiker, der sich mit vielgestaltigen Kristallbildungen befaßte.

Diagonal in die vierte Dimension

All das führt Nolden stets zu seinem Kerngedanken zurück: Kunst könne uns geistig in die vierte Dimension, könne uns letztlich in die Unendlichkeit führen. Der Titel der Ausstellung deutet an, daß auch keine Zeitgrenzen gelten: „Vergegenkunft“ – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft also, in einem Wort geballt.

Und wie gelangt man zur womöglich befreienden Endlosigkeit? Einer gängigen These zufolge ist die Diagonale ein Königsweg. Und so gehört denn auch die ausgreifende, den Raum organisierende und über ihn hinaus weisende Schrägung zu den bevorzugten Mitteln des Rolf Nolden. Auf dieser Basis erhebt sich – in Tafelbild und Skulptur – eine Vielfalt von Ausdrucksformen. Denn schier endlos ist die Anzahl der Kombinationen, wenn Linien einander durchkreuzen, ins Leere laufen, in Flugbewegung zu geraten scheinen oder in erhabener Ruhe ihren Zielpunkt finden. Erfahrung, Formbewußtsein und Überlegungen zu Maß und Zahl sind unerläßlich, damit ein solcher Ansatz einerseits variabel bleibt und andererseits nicht ins Chaos der Beliebigkeit trudelt.

Noch weiter fächert sich Noldens Skala auf, wenn man bedenkt, mit welchen Materialien er arbeitet. Er baut beispielsweise einen seitwärts pfeilfömig zugespitzten Turm aus dünnen Glasscheiben, eigentlich fragil wie ein Kartenhaus und doch von monumentaler Standfestigkeit. Dann kombiniert er in Quadern und Säulen das grünlich schimmernde Glas mit Ummantelungen aus Stahl – Dialog zwischen Durchlässigkeit und Dichte. Oder er legt eine Kunst-„Pipeline“ mit Röhrenstücken in ausgeklügelter Abfolge der Proportionen. Auch dies kann man sich verlängert vorstellen – eben bis ins Unendliche.

Flankiert wird die Nolden-Schau durch eine Gruppe zeichnerischer Arbeiten von Norbert Kricke (1922-1984). Ganz grob gesagt: Was Nolden die Diagonale ist, war Kricke die gebogene Linie, die er sich als unendliche Menge von bewegten Punkten dachte. Oft wirken die Krümmungen wie Abbilder mikroskopischer oder atomarer Verläufe. Auch hier also der Drang, sich einer verborgenen Dimension zu nähern.

Kricke, der zeitlebens mindestens 40 000 Zeichnungen schuf, hat zu grandioser Reduktion gefunden. Manche Blätter zeigen nur noch eine einzige Linie, die freilich nicht achtlos gestrichelt worden ist, sondern nur so und nicht anders ihren Weg nehmen darf.

Rolf Nolden/Norbert Kricke. Kunstmuseum Ahlen, Weststraße 98. 02382 / 91 83 0. Bis 26. Oktober, Di/Do 15-18 Uhr, Mi/Fr 15-19 Uhr, Sa/So 10-18 Uhr. Eintritt 5 DM.




Auch das Theater braucht einen Libero – Gespräch mit dem WLT-Intendanten Harald F. Petermichl

Von Bernd Berke

Castrop-Rauxel. Das Westfälische Landestheater (WLT) behält seinen Sitz auf absehbare Zeit in Castrop-Rauxel. Von einem Umzug nach Iserlohn ist derzeit nicht mehr die Rede. Das – und einiges mehr – erfuhr die WR im Gespräch mit dem WLT-lntendanten Harald F. Petermichl (40).

Der gebürtige Bayer und bekennende Fußballfan arbeitet seit 1991 am WLT. Er ist nach dem Weggang seines Ko-Direktors Norbert Kronisch (der Intendant in Osnabrück wurde) alleiniger Leiter der Bühne. Petermichl steckt mitten in den Vorbereitungen zur Saison, die am 6. September mit „Der eingebildete Kranke“ beginnt.

Was ändert sich beim WLT, nachdem Sie Solo-Intendant geworden sind?

Harald F. Petermichl: Ich würde meine ganze bisherige, Arbeit in Frage stellen, wenn ich sagen würde: „Ab jetzt machen wir alles ganz anders.“ Wir haben offenbar eine recht gute Mischung gefunden – zunehmend auch für jüngere Zuschauer. Wir sind beim WLT ein eingespieltes Team – wie eine Fußballmannschaft.

Und Sie sind der Mittelstürmer?

Petermichl: Eigentlich sollte ich Libero sein. Immer da stehen, wo’s brennt.

Apropos brennen. Wie steht s mit den Finanzen?

Petermichl: Die Zuschüsse sind seit 1994 nicht mehr erhöht worden. Vom Land gibt es 4.2 Millionen Maik, vom Landschaftsverband um die 800.000, von der Stadt Castrop-Rauxel 325.000 und von den 16 Mitgliedsstädten unseres Trägervereins insgesamt rund 90.000 Mark. Die bekommen dann auch Rabatt, wenn sie unsere Stücke buchen.

Wie wirkt sich das Einfrieren der Subventionen aus?

Petermichl: Die Preise steigen, und wir müssen rundum sparen. Aber jetzt sind wirklich alle Reserven aufgebraucht. Schon ein Prozent Tariferhöhung bedeutet: Wir haben 50.000 Mark im Jahr weniger. Um so betrüblicher, daß manche Kommunen gleichfalls sparen und ihre Gastspiel-Buchungen reduzieren. Manche buchen nur noch unsere Revue. Da bekommen die Zuschauer ein ganz falsches Bild von unserer Arbeit. Als ob wir ein Revuetheater wären!

Eine Versuchung, nur noch gängige Stücke anzubieten?

Petermichl: Es ist halt eine Mischkalkulation. Zwei bis drei Stucke müssen sich gut verkaufen, dann kann man sich auch ein paar riskantere leisten, zum Beispiel diesmal George Taboris „Weisman und Rotgesicht“. Wenn man nur noch auf die Kasse schielt, geht auch der Spaß flöten.

Sie gastieren häufig in Südwestfalen. Was ist denn eigentlich aus dem Plan worden, daß Ihre Bühne dort einen neuen Standort bekommt und ins Parktheater Iserlohn umzieht?

Petermichl: Im Moment liegt das auf Eis. Es wird seit fast zwei Jahren zwar irrsinnig viel drüber gesprochen, doch es gab immer nur unverbindliche Absichtserklärungen. Es liegt bis heute kein konkretes Angebot aus Iserlohn vor, dem man entnehmen kann: Wenn wir da hingehen würden, dann hätten wir die und die Vorteile. Außerdem herrscht bei uns keine große Begeisterung über einen eventuellen Umzug. Die Schauspieler sind es ja gewohnt, alle zwei bis drei Jahre woanders hinzuziehen. Doch die Leute aus Technik und Verwaltung fühlen sich an Castrop-Rauxel gebunden; Es ist ja auch ein guter Standort für uns, das Verhältnis zur Stadtverwaltung ist bestens. Wir bespielen Orte im ganzen Land, und da liegen wir hier ziemlich zentral.

Was steht auf dem neuen Spielplan?

Petermichl: Zwei markante Beispiele: Als klassisches Stück haben wir Schillers ..Kabale und Liebe“ im Programm, als musikalische Produktion die „Urlaubsrevue“, eine unterhaltsame Geschichte des Reisens von der Kutsche bis zum Flugzeug, garniert mit vielen populären Liedern.

Sie selbst proben zur Zeit Michael Endes „Jim Knopf“. Ist Kindertheater bei Ihnen Chefsache?

Petermichl: Nun, das hat auch mit meiner Biographie zu tun. Ich komme vom Kinder- und Jugendtheater her, und ich halte es einfach für eine wichtige Sparte. Es ist die einzige Theaterform, mit der man noch alle sozialen Schichten erreicht. Wenn der Intendant das Kinderstück macht, ist das auch ein Zeichen.




Zum Schluß bleibt noch die Altersmilde – Robert Gernhardts „Lichte Gedichte“

Von Bernd Berke

„Ist der Mensch nicht mehr im Bilde, / bleibt ihm noch die Altersmilde.“ Klingt fast nach Wilhelm Busch, ist aber von Robert Gernhardt.

Der Dichter (Jahrgang 1937), in den 60er Jahren Mitbegründer der „Neuen Frankfurter Schule“ subtil-parodistischen Humors, gilt längst als einer der wichtigen deutschen Schriftsteller dieser Zeit. In seinem neuen Lyrikband geht es denn auch um die allzeit großen Themen der Literatur – Liebe, Tod und Vergänglichkeit. Gernhardts nach wie vor sprungbereiter Witz hat eine tiefere Grundierung erhalten als ehedem.

Acht Kapitel hat das Buch. Es beginnt mit Lust- und Liebesdingen sowie elegischen Bemerkungen zur (schwindenden) Natur. Kunstsinnige Betrachtungen, Reise-und Alltags-Impressionen schließen sich an. Auch sportliche Momente eines Boris Becker, die erhabene Häßlichkeit eines Recklinghäuser Hotels oder das montägliche Unbehagen im fast menschenleeren Möbelhaus werden besungen.

Die Schlußteile („endlich“, „herzlich“) aber handeln vom nahenden Alter und vom Tode: „Das Leben ist ein Fenster / in dem du kurz erscheinst.“ Unmittelbarer Anlaß war eine Bypass-Operation, der sich Gernhardt unterziehen mußte. Aus dem lyrischen Tagebuch des Krankenhaus-Aufenthaltes: „So nach und nach bleiben / ich und mein Körper / allein.“

Hier bereitet der Reim keine Pein

Robert Gernhardt orientiert sich an alten Traditionen der Gattung. Er zählt zu den ganz wenigen Gegenwartsautoren, deren Gedichte sich reimen und sich dennoch nicht verstaubt anhören. Im virtuosen Spiel mit Sprachebenen läßt Gernhardt etwa den hohen Ton in kalkulierte Kalauer abstürzen und somit anders nachhallen: menschlicher, herzensnäher. So gewinnt er der Überlieferung unverhoffte Töne ab. Und man merkt, daß dieser Autor auch Maler ist, so fein unterscheidet er Farben und Licht in ihren Nuancen.

Das „Klinik-Lied“ geht so: „So lieg ich hier / und denke mir / mein Teil zu manchen Dingen: / Nicht alles muß gelingen / Du mußt’s nicht immer bringen. / Du mußt nicht immer siegen. / Nur laß dir eins beibiegen: / Beim Aufdernaseliegen / gib bitte nicht den Heitern – / versag nicht auch beim Scheitern.“ Ein sprachliches Kleinod, in seiner bewußt hergestellten Holprigkeit auch rhythmisch durchdacht. Es schöpft aus dem Verzagen eine weise Gelassenheit.

Resignation schleicht sich nicht nur in den persönlichen Bereich. Auch der Zustand der Welt ist beklagenswert: „Kaum atmest du wegen der Eichen auf / da gehn schon die ersten Kastanien drauf / Natur.. . / Kaum erholt sich dein Land von der Trockenheit / da macht sich bereits wieder Hochwasser breit / Natur“.

…doch nichts im Portemonnaie

Und der Kulturbetrieb? Hurtig wechselnde Moden, Dichternamen als schnellverderbliche Handels-Ware: „Eine Zeitlang war Peter Handke das Thema / Dann war auf einmal Durs Grünbein das Thema / Im Grunde war keiner der beiden das Thema / Das Thema war immer: Erfolg.“ Selbst der wird oft schäbig vergütet. Gernhardt entwirft den Beschwerdebrief des verschuldeten Picasso an den Kunsthändler Kahnweiler: „Erst hab ich blau in blau gemalt / Sie haben äußerst mau gezahlt. / Dann hab ich s mit Rosé versucht / doch nichts im Portemonnaie verbucht. / Nun wären also Kuben dran – / Sie schaffen nicht mal Tuben ran…“

Zum Menschentrost gibt es gottlob die Dinge, die keinen Überdruß dulden. Beispiels^ weise das – freilich auch schmerzliche – Liebes-Begehren („Freundinnen im Speisewagen“) oder die schöne Dauer des Beisammenseins: „Schneiden und Scheiden“ zeigt das stets bedrohte, aber unbedingt bewahrenswerte Idyll eines Paares beim gemeinsamen Pflaumenschneiden:
„Man kann beim Entkernen Gefühle erleben, / die schlichtweg erheben. / Zum Beispiel das, nicht allein zu sein / Dann das Gefühl, zu zwein zu sein. / Sowie die Gewißheit: Was immer ihr tut – es wird gut…“ Da vernimmt man eine fast volksliedhafte Einfachheit (nicht Naivität!), die schlichtweg berührt.

Robert Gernhardt: „Lichte Gedichte“. Haffmans Verlag. 263 Seiten. 36 DM.




Wer die Träume der Kindheit festhält… – Einzigartiges Museum der Jugendwerke in Halle/Westfalen

Von Bernd Berke

Halle/Westfalen. Als Hannah zarte drei Jahre alt war, kritzelte sie die zerbrechliche Gestalt eines kleinen Mädchens aufs Blatt. Es hat ein gesundes und ein ganz verschattetes, offenbar verletztes Auge. Viele Jahre später kannte man Hannah Höch als dadaistische Künstlerin. Nun zeichnete sie beispielsweise eine „Maschinenfrau“ mit metallischer Brust und – einem genau so verletzten Auge. Träume oder Besessenheiten aus der Kindheit festzuhalten – ein Kennzeichen des Genies?

Sinnliche Studien zu dieser Frage lassen sich im ostwestfälischen Idyll betreiben: Am schmucken Kirchplatz zu Halle (bei Bielefeld) erhebt sich ein 750 Jahre altes Haus mit wunderschön winkligen Räumen und knarrenden Stiegen, das ehedem Kloster und Gefängnis war. Heute beherbergt es das weltweit einzigartige, kürzlich zehn Jahre alt gewordene „Museum für Kindheits- und Jugendwerke bedeutender Künstler“.

Lebenslange Arbeit am selben Motiv

Erste (unglaublich inspirierte) Stricheleien eines Paul Klee sind hier ebenso zu bewundern wie beispielsweise die Kindheits-Einfälle des Ernst Fuchs, jenes Wieners also, der sich immer gern mit markanten Mützen zeigt. Schon als kleiner Junge hat er Figuren am liebsten mit solchen Kopfbedeckungen gezeichnet – sogar dem Elefanten setzte er eine auf. Als er dies Bild in Halle wiedersah, kamen ihm die Tränen. Tiefer Einblick in den kaum veränderlichen Kern des eigenen „Ich“…

Museumsleiterin Ursula Blaschke erforscht solche lebenslangen Motiv-Wiederholungen akribisch, sind sie doch Schlüssel zum späteren Werk – und eine Art Echtheitsbeweis: Motive, die eine(r) schon als Kind ganz innig aufgegriffen hat, können nachher schwerlich marktgängige „Maschen“ sein.

Frau Blaschke glaubt, daß man das wirkliche Genie schon bei Dreijährigen erkennen könne: „Picasso oder Paul Klee haben in diesem Alter völlig anders gezeichnet als andere Kinder.“ Tatsächlich zeigen Klees früheste Tierfiguren schon etwas vom sanften Humor des reifen Werks, und auch die Spiralform – Sinnbild für Unendlichkeit – hat er schon als Knabe mit Vorliebe gepflegt.

Die stolzen Eltern bewahren alles auf

Klees Vater hat die Bilder des Filius beschriftet, datiert und aufgehoben. Überhaupt sind es häufig die stolzen Eltern, die diese Bilder für die Nachwelt erhalten. Museumsleiterin Blaschke hat viele Kontakte zu Nachfahren berühmter Künstler geknüpft, so daß sie etliche Dauerleihgaben bekommt, die andere vergebens erflehen.

„Keimlinge der großen Kunst“ nennt Frau Blaschke solche frühen bildnerischen Äußerungen: Ernst Ludwig Kirchner brachte schon mit vier Jahren einen Mann mit Zigarette und blauem Anzug zu Papier – Vorwegnahme eines expressionistischen Bildes. Otto Dix malte mit zehn Jahren nahezu museumswürdige Stilleben, Konrad Felixmüller wagte sich im selben Alter an große Ölgemälde.

Wenn Ursula Blaschke durch die Sammlung führt, ist das ein Erlebnis, so sehr ist die mit Engelszungen begabte Frau von ihrer Mission überzeugt: „Ich möchte, daß die Menschen durch Kunst beseelt werden“, sagt sie. Ganz gleich, ob sieben Punks aus Berlin erscheinen (die erst mal beruhigt werden müssen), ob sich eine Gruppe von Pfarrern aus dem Sauerland oder der Bundespräsident samt Gefolge ansagen: Zum Abschluß der Rundgänge setzt man sich still im Kreise hin. Und nun soll sich jeder sein inneres „Traum-Bild“ ausmalen, das die Ausstellung in ihm ausgelöst hat. Vielleicht kommt mancher dabei einem Geheimnis seiner Kindheit auf die Fährte. Der lebendige Atem der Kunst ist hier ohnehin ganz nah zu spüren.

Museum für Kindheits- und Jugendwerke bedeutender Künstler. Halle / Westfalen, Kirchplatz 3. Wechselnde Sonderausstellungen. Geöffnet Do bis So 10 bis 17 Uhr, Di/Mi nach Voranmeldung (05201 / 1 03 33). Über die Autobahn A 2, Abfahrt Rheda-Wiedenbrück, dann der Beschilderung nach Halle bzw. zum dortigen Gerry-Weber-Stadion folgen.

 




Ein Mann sucht seine Frauenformel – Matthias Polityckis „Weiberroman“

Von Bernd Berke

«Wie sollte man dermaßen viel Frau aushalten? Wo man doch erst 21 war und sich nach einem Mädchen sehnte“, seufzt Gregor Schattschneider. Jaja, da gibt es Unterschiede. Gerade weil Gregor, Held in Matthias Polityckis „Weiberroman“, ständig im Gefühls-Chaos steckt, hält er formal auf Ordnung im Seelen- und Hormon-Haushalt: Er stellt lauter Frauen-Hitlisten auf, und einmal tastet er sich gar zu einer „Frauenformel“ vor, gegen die Einsteins Relativitätstheorie oder Heisenbergs Weltformel Kinkerlitzchen sind.

Gregor in drei Lebensphasen: Anfang der 70er Jahre erleben wir seine Pubertätsnöte in Lengerich (Münsterland), gegen Ende der Dekade studiert er in Wien – und ausgangs der 80er Jahre begegnen wir dem Taugenichts, der mit 32 Jahren immer noch kein Examen zuwege gebracht hat, in Stuttgart. Wie soll er auch sein Uni-Studium abschließen, wo er doch als Hauptfach das „Studium der Weiber“ gewählt hat?

Jugendliebe im Münsterland

1972 in Lengerich taucht eines Tages „Die Neue“ in der Foto-AG auf: Kristina heiß sie! Bisher haben die Jungs aus dem Gymnasium nur verächtlich von „den Weibern“ geredet, jetzt plötzlich beginnen sie von solchen Mädchen zu schwärmen. Herrlich nun die Detailmalerei, mit der Politycki eine Jugend in der damaligen Provinz schildert.

Es war die Zeit, da man in Parka und Jeans herumschlurfte, in der man samstags den Billigplattenspieler „Hit Master“ anwarf, um (per Mikrofon) die neuesten Rock-Scheiben aufzunehmen. Wehe, wenn plötzlich die Eltern ins Zimmer taperten. Dann war – wie symbolträchtig – die Aufnahme von Led Zeppelins „Stairway to Heaven“ (Treppe zum Himmel) wieder hin.

Der Autor versteht es wunderbar, in diese örtlich und zeitlich präzis verankerte Geschichte den Verlauf einer ersten Liebe einzuflechten – stets ironisch gebrochen und daher höchst glaubhaft.

Um jeden Blick wird gezittert

All die unsichere Zeichen-Deuterei, bei der vor jedem Blick der Angebeteten gezittert wird. Dann aber auch die Jungmänner-Ausflüge nach Osnabrück, wo die Stripperin Larissa auftritt, erstes Exemplar der nächsten erotischen Stufe, Vollweib nämlich.

Richtig auf den Frauen-Trip kommt unser Gregor erst in Wien. „Am Plüschrand der Ereignisse“ (welch‘ schöne Formulierung) spricht ihn im „Popclub“ eine gewisse Tania an – für den Wohngemeinschafts-Freak eigentlich eine unmögliche Ziege im weißen Overall und silbernen Stiefeletten. Die Zahnarzthelferin mit Wiener Dialekt scheint strohdoof zu sein. Wie sich Gregor vor seinen Kumpanen schämt, wenn sie den Mund auftut! Doch Tania hat andere Qualitäten. Bei dieser Gelegenheit müssen wir allerdings verraten, daß der Autor alle „Stellen“ geschwärzt hat. Wie überaus gemein…

„Was will uns dieses Playmate sagen?“

Groteske Quälerei einer ungleichen Beziehung: Gregors Lavieren zwischen fleischlicher Lust und geistiger Abneigung bereitet unbändiges Lesevergnügen. Klar, daß nebenher mancher Seitensprung und Kneipenzüge mit finalem Vollsuff fällig sind. Auch absolviert man im trauten Macho-Kreis „Playboy“ Seminare und analysiert die Aufklappseiten: „Was will uns dieses Playmate sagen?“

Nicht nur wegen solcher Ablenkungen erreicht die Aufregung um den „Deutschen Herbst“ der RAF-Attentate Gregor in Wien nur gedämpft. Politycki (Jahrgang 1955) porträtiert seine und Gregors Generation, die zwischen APO und Punk geistig heimatlos bleibt, als ziemlich unpolitisch. Zieht mal eine Demo vorbei, macht man sich über Rechtschreibfehler auf den Transparenten lustig.

Muskulöses Mädchen aus der Metzgerei

In Stuttgart läßt sich Gregor von der Chefstewardess Katarina aushalten, einer kühlen Schönen im Designer-Schick der neonbeleuchteten 80er Jahre. Nach fünf Jahren geht Gregor dieses Outfit so auf die Nerven, daß er ins andere Extrem fällt und sich der erbarmungswürdig schwäbelnden Metzgerei-Verkäuferin Karla („Mensch, kapiersch des ned, i ben schwanger!“) in die muskulösen Arme wirft. Im komischen Kontrast der beiden Frauen steckt viel vom zwiespältigcn Zeitgeist der 80er.

Pfiff bekommt das Buch auch durch Polityckis Maskierung als Autor. Er läßt „Ecki“, einen Freund Gregors, als Herausgeber einer Ausgabe des „Weiberromans“ auftreten, der eigentlich von Gregor stamme. Immer wieder mäkelt dieser Ecki in Fußnoten am Inhalt hemm. So nimmt man Kritikern den Wind aus den Segeln; Dabei war’s hier doch gar nicht nötig.

Matthias Politycki: „Weiberroman“. Luchterhand. 421 Seiten. 44 DM.




Zutritt in ein Zauberland – Werkschau des 95-jährigen Woldemar Winkler in Hamm

Von Bernd Berke

Hamm. Es fällt „Diamantregen über Aschenputtels Goldschuh“, oder man begeht die „Muschelzeremonie unterm Baldachin“. Doch wenn man „Erinnerung in Schweigen vergräbt“, erschrickt man vielleicht vor den „Zerpeitschten Ausgeburten des Fieberreichs“. Die Bilder-Titel des Woldemar Winkler (95) hören sich an wie poetische Parolen für den Einlaß in ein Traum- und Zauberland. Solche Sphären lernt man jetzt im Hammer Gustav-Lübcke-Museum kennen.

Winkler, der aus der Nähe von Dresden stammt und seit 1949 bei Gütersloh lebt, war bereits in den frühen 1920er Jahren künstlerisch tätig – im gedanklichen Sog eines André Breton, der im Surrealistischen Manifest (1924) zum Aufspüren geheimer Entsprechungen zwischen entferntesten Dingen aufrief. Winkler orientierte sich zudem an Paul Klee und Wassilv Kandinsky. Sie forderten, daß die Kunst nicht mehr das Sichtbare zeigen, sondern Verborgenes erst sichtbar machen sollte. So heißt denn auch ein Bild WoldemarWinklers ganz programmatisch: „Halte die Augen geschlossen, wenn Du mehr sehen willst“. Und die ganze Ausstellung bekam folglich den Titel „Begegnung mit dem Unsichtbaren“.

166 Werke aus den Jahren von 1920 bis 1996 sind in Hamm zu sehen. 1924 porträtiert sich der damals 22jährige noch realistisch als proletarischer Typus mit Schiebermütze, der einem Text von Brecht entstiegen zu sein scheint. Collagiert ist dieses Selbstbildnis mit einem eingeklebten Zeitungsausschnitt, der sich mit den Jahrzehnten tief ins Bild eingesogen hat und nun wie gemalt wirkt. Presse-Ausrisse, auch inhaltlich ganz gezielt ausgewählt, hat Winkler oft in seine Werke eingefügt. Ein Mann, der die Zeitläufte beachtet, aber in seiner Kunst weit darüber hinaus gelangt.

Verwandlung der Fundstücke

Woldemar Winkler ist Sammler: Fundstücke aller Art, mal im Rohzustand belassen, mal formbewußt bearbeitet, sind Grundlage seiner Arbeit. Ein Vitrinenschrank in der Ausstellung läßt vage ahnen, wie sehr Winklers Haus damit angefüllt sein muß – mit besonderen Blättern, Wurzeln, Zweigen, Steinen, Muscheln, aber auch Eierkartons, Gliedmaßen von Puppen, Packpapier und tausend anderen Sachen. In Winklers Kunst werden sie zu Zeichen einer ins Übersinnliche driftenden Welt. Da wird der Eierkarton plötzlich zum Tiergesicht und der scheinbar leblose Stein zum mythischen Ur-Zeichen. Figuren, die aus dem Unbewußten aufsteigen. Um solche Wandlungen glaubhaft zu gestalten, muß man wohl auch im Wortsinne „Seher“ sein.

In all den Jahren kein Stilbruch

In der Fläche bändigen lassen sich viele dieser Material-Eruptionen nicht. Also häufen sich Gegenstände und Bemalungen vielfach zu sogenannten Assemblagen (etwa: „An- ‚ Sammlungen“), die in gläsernen Schaukästen dreidimensional dargeboten werden.

Einen heftigen Stilbruch hat es in all den Jahrzehnten eigentlich nie gegeben, nahezu sämtliche Werke atmen gleichen Geist. Doch dieser Zusammenhang wirkt keineswegs eintönig, denn Winkler läßt seine Fundsachen zu immer wieder neuen Formen anwachsen. Ein Grundzug der Winklerschen Phantasien ist übrigens erotischer Natur – nicht von der zotigen Art freilich, sondern im Sinne einer vom heiligen Eros beflügelten Aneignung der vielfältigen Formenwelt. Ein Agavenblatt reckt sich unter dem Titel „Stachelwege der Lust“ in die Höhe.

Lange auf den Erfolg gewartet

Anders als etwa der Hagener Emil Schumacher (84), der im Vergleich zu Winkler eine halbe Generation jünger ist und schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg mit informellen Bildern Erfolg hatte, mußte der Gütersloher lange auf Anerkennung warten. Inzwischen aber gibt es dort eine Winkler-Stiftung, betrieben von der Sparkasse, die auch die Werkschau in Hamm gesponsert hat. Und man muß es als besonderes Ereignis werten, daß der Künstler zur Eröffnung (Sonntag, 11.30 Uhr) erscheinen will.

Woldemar Winkler – „Begegnung mit dem Unsichtbaren“. Gustav Lübcke Museum, Hamm (Neue Bahnhofstraße 9 – Tel. 02381 / 17 57 01). 3. August (Eröffnung 11.30 Uhr) bis 21. September. Di-So 10-18 Uhr, Mi 10-20 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 3 DM. Katalog 30 DM.




Kunst aus dem Geiste der Unordnung – „Gefährdetes Gleichgewicht“ in der Bochumer „Galerie m“

Von Bernd Berke

Bochum. Häuser und Straßen zerfließen, vom Himmel regnen Bäume herab. Natur und Zivilisation werden in einen Strudel hineingerissen. 1919 malte Chaim Soutine diese in völliger Auflösung begriffene „Landschaft bei Gagnes“. Das Bild ist wie ein erster Grundakkord zur Ausstellung in der renommierten Bochumer „Galerie m“: „Gefährdetes Gleichgewicht“.

Galerist Alexander von Berswordt-Wallrabe (54) spürt in hochkarätigen Werken aus eigenen Beständen und einigen Leihgaben einem allgemeinen Muster in der Kunst dieses Jahrhunderts nach: Der Ausstellungstitel meint verlorene Balance und Verunsicherung auf allen Ebenen, in vielfältigen Formen und vor allem: Verformungen.

Erlesen schon der Auftakt: Chaim Soutine und Lovis Corinth leiten gegenständlich zum Thema hin. Auch Edvard Munch („Zwei Menschen“) gehört noch in diese Abteilung. Er malte eine Szene abgrundtiefer Fremdheit zwischen Mann und Frau, und der Franzose Auguste Chabaud zeigt in depressivem Rostrot einen gähnend leeren Hotelflur, auf dessen Treppe man gerade noch einen menschlichen Fuß verschwinden sieht. Im Wortsinne bestürzende Einsamkeit. Offenbar bleibt nur die hastige Flucht. Aber wohin?

Als werde es nie wieder Gewißheit geben

Ist man derart eingestimmt und auf unsicheres Gelände geführt worden, fällt auch das Verständnis der abstrakten Arbeiten leichter. Den Übergang markiert die „Große Meditation“ (1936) von Alexej Jawlensky, eine düstere Struktur, erst bei näherem Hinsehen als Ur-Form eines leidenden Gesichts erkennbar. Sodann Josef Albers: Er läßt 1940 mehrfach den Buchstaben „X“ übers Bildgeviert paradieren („Marching X“); ganz behutsam, aber dann doch nachhaltig verstörend ist hier jedwede Linie aus dem Lot gerückt. Gefährdetes Gleichgewicht eben.

In seiner „Struttura pulsante“ (pulsierende Struktur) variiert Gianni Colombo das Thema anno 1960 mit maschineller Hilfe: Ein Motor treibt Dutzende von Styropor-Quadern an, die sich durch eine Art Zufallsgenerator verschieben und knarzend aneinander reiben. Bevor das Kunstwerk erstmals in Betrieb gesetzt wurde, herrschte Gleichmaß. Seitdem aber bringt die Arbeit aus sich selbst immer neue Chaos-Varianten hervor – sozusagen eine fortwährende Geburt der „Unordnung“. Und nun ist es, als könne nie wieder Ruhe einkehren, als werde es nie wieder Gewißheit geben.

Auch die Zahlen halten keinen Trost bereit

Das irritierende Flimmern von Op-art-Kompositionen (Victor Vasarely, Bridget Riley) spielt die Grundidee brüchig gewordener Sicherheiten ebenso durch wie François Morellets witziges Schieflage-Experiment mit Rahmen und Hängung eines Bildes oder eine arithmetisch ausgeklügelte Bodenplastik von David Rabinovitch, die ihre Bedrohlichkeit aus dem Fundus der Mathematik erzeugt. Auch die scheinbar objektiven Zahlen bergen mithin keinen sicheren Trost mehr. Im Gegenteil.

Unübertreffliche Formfindungen jenseits jeder Beliebigkeit sind schließlich jene Skulpturen des Amerikaners Richard Serra, der in Deutschland just durch die „Galerie m“ bekannt wurde. Das „Kartenhaus“ aus mehreren Bleiplatten, ganz fragil ausbalanciert: Mahnmal einer gerade noch abgewendeten, aber stets gegenwärtigen Gefährdung. Eine tonnenschwere Stahlplatte im Innenhof, an einer Seite leicht abgesenkt, bekam den Titel „Tod“. Aus dem mächtigen Quader quillt leise, aber unabweisbar eine tiefe Trauer über Vergänglichkeit.

„Gefährdetes Gleichgewicht“. – „Galerie m“, Bochum, Nevelstraße (Haus Weitmar). Tel. 0234 / 4 39 97. Bis 10. September Mi, Fr, Sa. 17-19 Uhr und nach Vereinbarung. Katalog (Richter-Verlag, Düsseldorf) 28 DM.




Die reine Gegenwart genießen – „Ein kurzes Buch über die Liebe“ von Jochen Schimmang

Von Bernd Berke

Der Erzähler geht so gern durch Kölns urige Quartiere. Dermaßen ans Herz gewachsen ist ihm sein „Veedel“, daß er sogar „Touristen aus anderen Teilen der Stadt“ mißtrauisch beäugt. Manchmal sucht er Kinos und noch öfter Kneipen auf. Und da er langsam in die Jahre kommt, schaut immer sehnsüchtiger den jungen Frauen nach.

„Ein kurzes Buch über die Liebe“, immerhin 45 Kapitel und 316 Seiten lang, hat der Kölner Autor Jochen Schimmang geschrieben. Hauptperson ist ein nicht sehr erfolgreicher Schriftsteller. Der belauscht anfangs im Straßenlokal ein junges Paar, dessen Liebe zu erkalten beginnt. So darf es eben nicht kommen, sagt er sich.

Die Probe aufs eigene Exempel bleibt ihm nicht erspart: Denn bald begegnet dieser Literat der jungen Vera, die mit dem Arzt Dr. Rüben verheiratet ist. Bei einer Autorenlesung sehen sie einander zum ersten Mal – und sind rasch ein heimliches Paar. Von Liebe wollen sie indes niemals reden. Sie vereinbaren statt dessen nebulös, einander „Gefühl und Härte“ zu geben und nehmen sich vor, ohne Ansprüche die erotische Gegenwart zu genießen.

Ein Bescheidwisser erzählt

Zu dumm nur, daß Vera die Frau seines Lebens zu sein scheint. So sehr wächst die Zuneigung, daß man einander gar nicht mehr verändern will. Hier hat sich Schimmang eine große Aufgabe gestellt: Nicht frühzeitiges Scheitern, sondern anhaltendes Glück zu schildern.

Schließlich aber die Schattenseite: Im Liebestaumel schmelzen alle selbstverordneten Regeln dahin, und dem zuvor auf seine Bindungslosigkeit bedachten Mann kommt der Satz „Ich will dich heiraten“ in den Sinn. Das kann nicht gutgehen…

Vom Erzähler vermittelt das Buch ein Doppelgesicht. Einerseits legt er es auf Ehrlichkeit an und gibt auch böse Phantasien zu, andererseits prunkt er mit seiner geballten Kennerschaft.

Unter dem Bescheidwisser-Gehabe leidet mitunter auch die Gabe zu genauer Beobachtung. In weniger inspirierten Passagen schrumpft das Erzählen zum bloßen Feststellen und Erwähnen, zum umständlichen Erörtern oder haltlosen Ausplaudern. Dann sieht es ganz so aus, als entspringe die Geschichte just dem etwas ungalanten „Geständniszwang“, von dem im Buch öfter die Rede ist.

Jochen Schimmang: „Ein kurzes Buch über die Liebe“. Roman. Verlag Schöffling & Co., 316 Seiten, 39,80 DM.




„Verunglückte Spaziergänge“ und mehr von der Video-Künstlerin Katharina Wibmer im Marler „Glaskasten“

Von Bernd Berke

Marl. Betritt man die Ausstellungsräume im Untergeschoß des Marler Skulpturenmuseums „Glaskasten“, so findet man nahezu völlig leere Flächen vor. Auf der Fensterbank steht ein im Baumarkt gekaufter Gartenzwerg in bunter Reihe mit Hase, Frosch und Huhn – Kitsch aus Keramik. Ansonsten stapeln sich hie und da ein paar Videorecorder und Bildschirme. Öde und langweilig? Abwarten.

Denn wenn die Bildschirme erst einmal zu flimmern beginnen, kommt gespenstisches Leben in die Räume: Katharina Wibmer (31) aus Gräfelfing stellt hier aus. Im Vorjahr hat sie den 7. Marler Video-Kunstpreis bekommen, und es ist gute Tradition, daß der (ansonsten undotierten) Auszeichnung eine Würdigung im ZDF-Kulturmagazin „Aspekte“ und eine Einzel-Präsentation im „Glaskasten“ folgen.

Im aus Ziegeln gemauerten Halbrund befinden sich fünf TV-Geräte, an der Stirnwand hängt ein, großer Projektionsschirm. Mitten in dieser Installation sitzend, macht der Besucher Bekanntschaft mit einer verstörenden Fremdheit.

Denn Katharina Wibmer zeigt hier sechs Szenen-Abläufe, in denen sie sich – optisch stark verzerrt – durch eine verfremdete Natur bewegt. Hier erscheint der im Gras absurd auf der Stelle tretende Fuß klumpig-riesengroß, daneben das mit dem Fischaugen-Objektiv aufgenommene, ganz verlegen und verloren wirkende Gesicht oder der ins Monströse angeschwollene Hals. Momente eines gleichermaßen faszinierenden wie erschreckenden Körperteil-Theaters, das vom Unbehagen angesichts des Da-Seins in der verbliebenen Natur zu handeln scheint.

Künstlerin tritt in Distanz zu sich selbst

Die Künstlerin spricht von einer Ansammlung „verunglückter Spaziergänge“. Sie tritt bei solchen Arbeiten in Distanz zu sich selbst, nennt sich als Kunst-Figur „Franzi“ und behandelt sich wie eine Art Puppe oder Marionette. Signale der Entfremdung.

Einige Meter weiter stehen drei Bildschirme nebeneinander. Nun beginnt ein ruckhaftes Erscheinen und Verschwinden der Bilder – ähnlich wie bei jenen Orangen, Zitronen und Erdbeeren in den Sichtfenstern „einarmiger Banditen“. Hier sind es allerdings keine Früchte, sondern das Gesicht der Künstlerin, eine Pistole und eine Narrentröte. Es kommt zu abstrusen (Un-)Gleichzeitigkeiten, Begegnungen und Abstoßungen. Alles wird gerüttelt und geschüttelt. Dazu ertönen knarzende Geräusche. Der ratternde Automatismus wirkt zwischendurch wie Slapstick, man lacht unwillkürlich. Und doch ist auch hier die maschinenhafte Fremdheit und Fremdbestimmung des Körpers unterschwelliges Thema.

Niedliche Natur ist nicht mehr möglich

In weiteren Installationen hetzen diverse Spielzeuge irrwitzig über eine Batterie von Monitoren – oder man kann im „Weltmobil“ selbst mit vielfachem Überschalltempo über einen Bildschirm-Globus sausen. Trotz rasanter Tempi ist für diese auf den ersten Blick unscheinbare Ausstellung Zeit und Muße nötig. Damit die geheimen Strukturen der Arbeiten halbwegs erkennbar werden, muß man erst (anregende) Seh-Arbeit leisten.

Standfotos dokumentieren weitere, in Marl nicht vorgeführte Videoarbeiten. Und der eingangs erwähnte Gartenzwerg in Tierbegleitung? Nun, der flankiert die Arbeit mit den Natur-Spaziergängen und steht wohl für eine naive Niedlichkeit der Naturaneignung, die eigentlich längst nicht mehr möglich ist.

Marl, Skulpturenmuseum „Glaskasten“, Creiler Platz (am Zentrum „Marler Stern“ / Rathaus). Bis 24. August. Di-So 10-18 Uhr. Statt eines Kataloges gibt es für 25 DM eine Videokassette mit Arbeiten der Künstlerin, dazu ein Info-Beiheft.




Der Abschied vom alten Plunder – „Wien um 1900″ im Wuppertaler Museum

Von Bernd Berke

Wuppertal. Auf kostbare Art wird man in dieser Ausstellung empfangen. Geht man die Treppe hinauf, schaut man schräg von unten auf ein Damenbildnis: In sattem Purpurrot leuchtet Hans Makarts Porträt der Dora Fournier-Gabillon. Ihr Kleid sieht sündhaft teuer aus. Wenn man genauer hinschaut, entdeckt man aber Risse im Gemälde. Der Künstler selbst hat wütend darauf eingedroschen, als ihn die Dargestellte nicht heiraten mochte.

Wie sich die Kunst. in „Wien um 1900″ (Ausstellungstitel) von solch opulenten Salonbildern zum ornamentalen Jugendstil und schließlich zum Expressionismus entwickelte, das kann man nun im Wuppertaler Von der Heydt-Museum studieren, in einer klug konzentrierten Schau mit Porträts und Interieurs, ergänzt durch kunstvoll gestaltete Möbelstücke und Gebrauchsgegenstände jener Epoche.

Einmal mehr kann Wuppertal (in Kooperation mit Museen in Wien und Amsterdam) erlesene Namen aufbieten: Klimt, Kokoschka und Schiele sind mit prägnanten Arbeiten vertreten.

Daß es besagter Malerfürst Makart mit praller Fülle hielt, beweist ein Blick in sein Atelier. Eduard Charlemont hat diesen mit allerlei Plunder vollgepfropften Raum um 1880 gemalt. Auch Makarts malerischer Dekorations-Entwurf fürs Schlafzimmer der Kaiserin Elisabeth („Sissi“) ist mit historisierender Prachtentfaltung überladen.

Doch gekrönte Häupter waren schon nicht mehr die einzigen Herrscher. Das bürgerliche Zeitalter hatte längst begönnen. Und so wirkt Gustav Klimts Bild der in hauchzarten Stoff gehüllten Unternehmergattin Sonja Knips (1898) kaum minder kostbar als Makarts monarchische Schwelgereien, wenngleich schon viel klarer im Aufbau.

Malerische Erforschung des Seelenlebens

Ein besonderes Stück ist Broncia Koller-Pinells „Sitzende“ (1907). Die Künstlerin hat diesen Frauenakt ganz ohne laszive Zwischentöne gestaltet, es geht um Körperlichkeit, wie sie eben ist. Eine Besinnung aufs „Eigentliche“.

Nun richtet sich der Blick zunehmend aufs Innenleben. Zunächst erkennt man diesen Perspektivenwechsel auf den Familienbildnissen: Des Künstlers kleine Welt und trautes Heim. Intime Interieurs, zumal die sanft bläulich gehaltenen eines Carl Moll, strömen Ruhe aus.

So friedlich bleibt es nicht. Denn es folgen Selbstbildnisse. Hier schaut man vollends nach innen, in die Untiefen der Seelen. Koloman Moser stellt sich 1916 als Märtyrer dar, was auch genereller Kommentar zur Lage der Künstler sein dürfte. Egon Schiele verleiht dem Verleger Eduard Kosmack (1910), der hypnotisch begabt gewesen sein soll, bereits durch die gepreßte Körperhaltung etwas Explosives, mühsam Gebändigtes.

Richard Gerstls Doppelporträt der „Schwestern Karoline und Pauline Frey“ hat sich weit vom bloßen Abbildungs-Realismus entfernt und wirkt gerade deshalb eindringlich. Mit subtilen Andeutungen hat der Maler die Charaktere der beiden Schwestern bloßgelegt. Erschütternd: Gerstls Selbstbildnis als lachender Mann. Bald darauf hat sich der Künstler das Leben genommen. Was er uns zeigt, ist das letzte Lachen eines Verzweifelten.

Wien um 1900 – Der Blick nach innen“. Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Elberfeld, Turmhof 8). Bis 5. Oktober. Di-So 10-17 Uhr, Do 10-21 Uhr. Katalog 39 DM.

 




Sabbel, Babbel, Schnüß und Goschen – Nützlich und vergnüglich zugleich: Das neue „Wörterbuch deutscher Dialekte“

Von Bernd Berke

Deutschlands geographische Fläche ist vergleichsweise klein. Da sollten eigentlich alle Mitglieder der Sprachgemeinschaft einander leicht verstehen. Sollte man theoretisch meinen. Doch wir alle wissen, daß es ganz anders sein kann. Wenn ein Bayer oder Ostfriese so richtig in ihrem Dialekt loslegen, verstehen andere Landsleute fast nichts mehr. Ein wenig Abhilfe schafft vielleicht das neue „Wörterbuch deutscher Dialekte“.

Am interessantesten ist wohl der mittlere Teil des Buches. Hier findet man das, was die Fachleute eine Synopse nennen. Auf deutsch: eine direkte tabellarische Gegenüberstellung der Ausdrücke aus zehn deutschen Hauptdialekten (wobei das Westfälische dem Westniederdeutschen zugeschlagen wird). Insgesamt 292 hochdeutsche Stichwörter und ihre jeweiligen Dialekt-Ausformungen werden erfaßt.

Man glaubt es kaum, welche herrliche Vielfalt entsteht, wenn all diese Mundarten ins Spiel kommen. Für eine einzige Sache hat jeder dieser zehn Dialekte oft sechs oder sieben verschiedene Worte. Etliche (wie etwa „Gaudi“ aus dem Bayerischen) haben via Radio und Fernsehen längst Eingang in die allgemeine Umgangssprache gefunden.

Gar viele Ausdrücke für Brötchen und Beule

Daß das „Brötchen“ nicht überall so genannt wird, ist einigermaßen bekannt. Dieses Backwerk heißt um Berlin herum Schrippe, in Bayern verlangt man Semmeln, in einem bestimmten Teil Bayerns allerdings auch Kipfeln, im Schwäbischen sagt man „Weck“, in Hamburg und Schleswig-Holstein beißt man ins „Rundstück“. Hauptsache knusprig.

Wahrend ein Wort wie „arbeiten“ fast im ganzen deutschen Sprachraum verwendet wird (nur Schwaben und Franken bevorzugen „schaffen“, Revierbürger auch schon mal „malochen“), wird etwa die Beule fast hinter jeder Autobahnabfahrt anders genannt: Knuppe, Knust und Brusche heißt sie in nordwestlichen Gegenden, Horn und Hübel in Sachsen, Knörzchen und Kneul in Hessen, Bühl oder Dotz im Rheinland, Bause und Baber im Pfälzischen, Binkel bei den Bayern. Und das ist nur eine winzige Auswahl der in diesem Falle oft spöttisch-schadenfroh gemeinten Begriffe.

Südlich der Weißwurstlinie wird’s deftig

Noch deftiger wird es bei der Wendung „Halt den Mund“. Im Nordwesten soll man Maul, Schnute, Sabbel oder Babbel halten, in Sachsen Gusche oder Labbe, im Rheinland die Schnüß – und in Bayern klingt s erst richtig derb: „Holt dei Fotzen.“ Wahlweise darf man dort auch die Pappen oder Goschen schließen.

Kurz und gut: Bei diesem Lexikon halten sich Nutzen und Sprachvergnügen aufs schönste die Waage. Und es bietet noch weitaus mehr als eine allgemeine Einführung, Übersichtskarten und besagte synchrone Wortlisten. In einem weiteren Teil werden die Dialekt-Wortschätze nach 15 Sachgruppen aus allen Lebensbereichen (Haus und Wohnung, Kleidung, Natur usw.) unterteilt. Und schließlich kann man eine ganze Menge Sprichwörter und Redewendungen kreuz und quer durch die Dialekt-Regionen miteinander vergleichen.

Allein die meist kernigen Sprüche, die dem „Volksmund“ beispielsweise zu einem Tier wie der Ziege oder einem Ort wie der Kneipe entschlüpft sind, füllen hier jeweils mehrere Seiten. Süffiges Beispiel aus dem Rheinland: „En deer Pint vekiire nuur Schnapsüüle“. Einen solchen Satz muß man sich natürlich ganz breit und genüßlich gesprochen vorstellen. Wie trocken hört sich im Vergleich die Übersetzung an: „In diesem Lokal verkehren nur Schnaps-Eulen“.

Ulrich Knoop: „Wörterbuch deutscher Dialekte“. Bertelsmann Lexikon Verlag. 478 Seiten. 69,90 DM.




Schöne Sauferei des Nebels – Ein Buch gegen den Zeitgeist: Über den Zusammenhang von Tabak und Kultur

Von Bernd Berke

Wo findet man das sonst noch? Ein Buch, das sich eindeutig f ü r den Rauchgenuß erwärmt und dazu solche Sätze ins Feld führt: „Ich behandle das Leben als etwas Unangenehmes, über das man durch Rauchen hinwegkommen kann.“ Dies gestand einst der Dichter Robert Musil.

Ähnlich denken und fühlen die meisten Menschen, die in dem Buch vorkommen: „Auf leichten Flügeln ins Land der Phantasie – Tabak und Kultur“ heißt das Werk wider den Zeitgeist. Mit Freude an der Sache und anekdotischer Würze beschreibt der Autor Detlef Bluhm zunächst, wie Christoph Columbus das Kraut bei den Indianern vorfand und nach Europa brachte. Passendes Zitat vom Edel-Feuilletonisten Victor Auburtin: „Die Indianer haben das Tabakrauchen erfunden, welches die größte aller Erfindungen ist und der einzige wirkliche Kulturfortschritt seit Anbeginn der Zeit.“ Welch‘ nette kleine Übertreibung. Jedenfalls meint auch Bluhm, daß Rauchen die Phantasie anrege.

Als man fürs Qualmen ausgepeitscht wurde

Die „Sauferei des Nebels“, wie das Rauchen poetisch genannt wurde, wird durch die Epochen begleitet. Mal war das Schnupfen oder Kauen des Tabaks gesellschaftsfähig, mal galten Zigarre oder Pfeife als schick – und schließlich (Zeit ist kostbar) die kurzlebige Zigarette. Aufgerollt werden auch die dem Staatssäckel so dienliche Erfindung der Tabaksteuer und die erschröckliche Historie der Rauchverbote: Zeitweilig stand im alten Persien und China die Todesstrafe auf Verstöße, in Moskau blieb es anno 1643 beim Auspeitschen oder Naseaufschlitzen. Damit verglichen, sind die puritanischen Bemühungen in den heutigen USA, wo neuerdings selbst Hinrichtungs-Kandidaten die letzten Lungenzüge verweigert wurden, ein Nichts.

Nikotin galt lange als Heilmittel

Rauch-Zeichen waren immer auch gesellschaftliche Signale, besonders in der bürgerlichen Revolution von 1848 und in den 1920er Jahren beim Emanzipations-Prozeß der Frauen. Übrigens: Um 1910 gab es 20 000 Zigarettenmarken in Deutschland, und die Ärzte hielten Nikotin lange Zeit für ein Heilmittel.

Man hört zumal von geistiger Hochprominenz, die fast durchweg dem Tabak frönte in Klammern nennen wir jeweils das Sterbealter: Karl Marx (64), Sigmund Freud (82) und Albert Einstein (76) taten es oft und gern. Über alle Gräben hinweg haben auch diese Autoren eines gemeinsam: Charles Dickens (58), Thomas Mann (80), Bert Brecht (58), Jean-Paul Sartre (74), Georges Simenon (86) und Max Frisch (79) – um nur wenige zu nennen – pafften, was die Lungen hielten. Der Tenor Enrico Caruso (48) erwirkte eine Sondererlaubnis fürs Zigarrenrauchen hinter der Bühne, der Filmregisseur Luis Buñuel (83) war ein ebenso fanatischer Raucher wie sein Kollege Orson Welles (70). Von Humphrey Bogart ganz zu schweigen.

Der ungekrönte König aller Raucher

Als ungekrönter König aller Raucher gilt freilich Italo Svevo („Zeno Cosini“, „Ein Mann wird älter“), der seinem Laster viele Texte widmete, immer wieder aufhören wollte, es nie schaffte – und den inneren Kämpfen eine ganze Philosophie des Qualmens abgewann. Goethe war jedoch ein Spielverderber. Wenn Schiller bei ihm rauchen wollte, mußte er vor die Tür gehen.

Goethe wußte vielleicht nicht, was ihm entging. Wie sprach doch Thomas Mann durch Hans Castorps Mund im „Zauberberg“: „Ich verstehe es nicht, wie jemand nicht rauchen kann, – er bringt sich doch, sozusagen, um des Lebens bestes Teil und jedenfalls um ein ganz eminentes Vergnügen! Wenn ich aufwache, so freue ich mich, daß ich tagsüber werde rauchen dürfen…“

Detlef Bluhm: „Auf leichten Flügeln ins Land der Phantasie – Tabak und Kultur“. Transit-Verlag, Berlin. 160 Seiten. 34 DM.




Wie der Mensch entschwindet – Die Leidens-Bilder des Tom Wood in Schloß Cappenberg

Von Bernd Berke

Selm-Cappenberg. Man fühlt sich seltsam verunsichert, wenn man die Bilder des Briten Tom Wood betrachtet. Genau das ist beabsichtigt.

Wood (Jahrgang 1955) spürt dem universellen Schmerz nach, der aus der fragilen Identität des Menschen herrührt. So jedenfalls beschreibt er selbst seinen künstlerischen Antrieb.

Eine der großformatigen Arbeiten, die jetzt als Deutschland-Premiere im Cappenberger Schloß gezeigt werden, ist in Los Angeles entstanden, und zwar kurz vor dem letzten größeren kalifornischen Erdbeben. Als Wood wieder daheim in Halifax (West Yorkshire / England) war und die schlimmen Nachrichten aus den USA vernahm, überarbeitete er das Bild. Ein einsamer Mensch wird jetzt geradezu von blauen Farbwogen überflutet; Sinnbild einer allzeit brüchigen, jederzeit bedrohten Existenz. „Corpus“ heißt die Ausstellung, und man denkt vielleicht auch an „Corpus Christi“, mithin ans überzeitliche Leid.

Immer wieder solche Szenen: Menschenfiguren werden verschluckt, verschlungen oder zumindest gefährlich eingehüllt von diffusen Farb-Erscheinungen. Flüchtige Wesen vergehen in weiten Wüsteneien, entschwinden in Rauch oder Nebel, verschwimmen in den Wassern. Die untröstlichsten Werke schuf Wood nach dem Tod seiner Mutter, den er als vollkommen sinnlos empfunden hat. Nun richten umherirrende Gestalten den leeren Blick nur noch nach innen, auf verzweifelter Suche nach einem Ausweg.

Katholische Liturgie als Theatralik

Wie eine sarkastisch-fröhliche Bejahung von Absurdität wirken hingegen die Gemälde, die von religiösen Stoffen inspiriert wurden. Wood gehört nicht der Anglikanischen Kirche an, sondern ist katholisch. Als Kind war er Meßdiener. Liturgische Rituale vor teilweise leeren Kirchenbänken habe er irgendwann als grandiose Theatralik empfunden, sagt er heute. Seine gemalten Visionen von Heiligen (St. Anselm etwa stellt sich vor, wie er einst durch einen stürzenden Stuhl zu Tode kommen wird) wirken denn auch wie Bühnen-Inszenierungen.

Man mag sich an Symbolismus erinnert fühlen, hier und da auch an die verzerrten Leidensgesichter eines Francis Bacon. Derlei Vergleiche sind jedoch nutzlos. Jeder soll seinen eigenen Zugang finden. „Ich stelle nur Fragen, die Antworten geben die Betrachter“, sagt Wood.

„Corpus“ – Bilder von Tom Wood. Schloß Cappenberg in Selm. Bis 14. Sept, täglich außer Mo 10-17 Uhr. Eintritt frei, Katalogheft 18 DM.




Warnung vor der „gelben Gefahr“ – Roman zur Übernahme Hongkongs durch China: „Kowloon Tong“ von Paul Theroux

Von Bernd Berke

Ab heute gehört die brodelnde Finanzmetropole Hongkong zur kommunistischen Volksrepublik China. Das historische Ereignis zwischen Bangen und Hoffen erschöpft sich nicht nur in Tagesnachrichten. Auch der Roman zum „Chinese takeaway“ liegt auf deutsch vor: „Kowloon Tong“ von Paul Theroux.

Theroux ist nicht irgendwer. Sein Buch „Mosquito Coast“ wurde 1986 von Peter Weir erfolgreich verfilmt, die Hauptrolle spielte Harrison Ford. Der Amerikaner Theroux, immer für einen Bestseller gut, zählt zu den großen Fernreisenden unter den Schriftstellern – ähnlich wie Cees Nooteboom oder der so früh verstorbene Bruce Chatwin. Auch in Hongkong kennt der weitläufige Mann sich bestens aus. Und so läßt er denn auch immer wieder Detailwissen über örtliche Gepflogenheiten einfließen, vorzugsweise über den Umgang mit Sex, Essen und Alkohol.

Wo der Geist der Kolonialzeit weht

In Hongkongs Viertel Kowloon Tong (etwa: „Teich der neun Drachen“) lebt Neville Mullard, genannt Bunt. Der ; inzwischen 43jährige ist als Sohn britischer Eltern in Hongkong aufgewachsen und hat soeben die traditionsreiche Textilfirma geerbt, die sein Vater mit einem nach Hongkong geflohenen Chinesen aufgebaut hatte. „Imperial Stitching“ heißt die Fabrik, die vor allem Aufnäher für Clubjacken und Livreen herstellt –very british. Der kolonialistische Geist ist hier noch rege.

Doch die Vorzeichen der Übernahme sind deutlich: Etliche Leute fahren über die Grenze und kaufen Immobilien in China, von dort wiederum strömen Heerscharen von Huren nach Hongkong, und viele Menschen besorgen sich anderwärts den Zweitpaß, um die Stadt jederzeit verlassen zu können. „Und man konnte nichts tun. Es war wie ein Tiefdruckgebiet, das Hongkong demnächst überziehen sollte“, heißt es einmal.

Herr Hung ist nur am Anfang höflich

Bunt, der jede Veränderung im Leben haßt, wohnt noch bei seiner königstreuen Mutter Betty, fährt den alten Rover, lauscht noch dem uralten britischen Radiogerät. Wie ein Uhrwerk absolviert er die Aufsicht über die Fabrik – und frequentiert verstohlen diverse Bordelle. Eines Tages aber wird alles anders. Da wird er mit einem Chinesen namens Hung konfrontiert. Der bietet ihm an, die florierende Fabrik zu kaufen. Bunt lehnt empört ab.

Hung läßt bald die höfliche Maske fallen. Es stellt sich heraus, daß er ein hohes Tier beim rotchinesischen Militär ist und schon mal das Terrain in Hongkong arrondiert. Die Fabrikfläche wird für eine Kaserne gebraucht. Hung kreist Bunt ein, indem er dessen Priyatleben ausspioniert. Bald hat er auch herausgefunden, daß Bunt sich eine Stickerin seiner Fabrik als heimliche Geliebte hält. Der Druck wird immer stärker, gewaltsamer.

Eine Welt der Dominanz-Verhältnisse

Theroux schildert eine Welt der Dominanz-Verhältnisse: Die Mutter herrscht über den Sohn, der gebietet via Geldbeutel über die Huren, während China sich allmählich Hongkong untertan macht. Sexuelle Obsessionen und Politik verschmelzen bedrohlich.

Der Autor plustert allerdings jenen Hung mit allen Mitteln zum überlebensgroßen Haß-Popanz auf und gibt sich überhaupt der Angst vor der „gelben Gefahr“ bedenklich bruchlos hin: „Für die Chinesen war die Welt ein einziger Spucknapf. – „Ganz China war eine Geheimgesellschaft“. – „.. .alle waren sich einig, daß China ein einziger Alptraum war“. Solche Sätze häufen sich vor allem im Schlußteil. Woran man sieht, daß weite Reisen nicht unbedingt zur Völkerverständigung führen, sondern manchmal die Abneigungen erst recht verfestigen.

Paul Theroux: „Kowloon Tong“. Roman. Aus dem Amerikanischen von Erica Ruetz. Hoffmann und Campe. 254 Seiten. 38 DM.




Dieses Leben, das die Menschen zermalmt – „Der Pianist“: Drei Erzählungen von Viktorija Tokarjewa

Von Bernd Berke

Will man erfahren, was entschlackter Stil ist, so sollte man die Erzählungen der Russin Viktorija Tokarjewa lesen. Mit ein paar prägnanten Skizzen-Strichen ist die Erzählsituation aufgebaut – und schon befindet man sich mittendrin.

Drei Erzählungen enthält ihr Band „Der Pianist“. In der Titel-Geschichte geht es um jenen Klaviervirtuosen Mesjazew, dessen Familienleben desolat verläuft. Nach einer Deutschlandtournee gerät er vollends in die Sinnkrise und kommt in ein Sanatorium. Dort lernt er die Vamp-Frau Ljulja kennen und (mitten im Schnee) körperlich lieben, wobei Eierlikör über ihren Pelzmantel rinnt – Bild einer Sinnlichkeit, die haltlos alles besudelt.

Eine verzehrende Sucht nach dem ganz anderen Leben bricht sich düster Bahn. Drang nach Freiheit und zugleich die Angst vor davor vereinen sich zu einem fatalen Gemisch. Die Episode führt nach und nach zur völligen Zerstörung des familiären Restzusammenhalts. Was bleibt, ist Melancholie. Dieser Zerfall spiegelt die mehr als mißliche gesellschaftliche Lage in Rußland, wobei die wenigen Polit-Einsprengsel zuweilen fatal klingen, so als seien Dissidenten in erster Linie Defätisten und als bedeute Demokratie vor allem Schrankenlosigkeit.

, Kosmische Liebe“ zeigt wiederum zwei tief vereinzelte Menschen, die sich für kurze Zeit ineinander festkrallen: Jelissejew, Fotograf einer Filmcrew, und seine Kollegin Lena, deren Mann gerade gestorben ist. Beide Lebensläufe werden im Fortgang ihrer kurzen und heftigen Beziehung wie im Brennspiegel eingefangen. Wir hören von allseits nutzlos verkümmernden Talenten, von Alkoholismus, Bindungsunfähigkeit und einem Selbstmordversuch. Alle leiden unter einem Leben, das die Menschen nach und nach zermalmt. Erneut stehen Einzelschicksale fürs große Ganze. Schale Lockungen des Westens werden in Kontrast gesetzt zur althergebrachten russischen Seelentiefe.

„Löffelweise Kaviar“ gibt es in der gleichnamigen Abschluß-Erzählung. Nick, nicht mehr ganz junges Schauspieltalent aus England, ist soeben von seiner Frau verlassen worden. Ein 83jähriger Milliardär bietet ihm nun die vermeintliche Chance seines Lebens: Nick soll mit ihm in dessen russische Heimat reisen und sich dort – gegen Bezahlung – stellvertretend für den siechen Greis kulinarisch und erotisch amüsieren.

Geldsegen und noch dazu Genuß sofort? Nein, es ist ein perfider Teufelspakt. Denn Nick muß wirklich alle Wünsche des Alten erfüllen, beispielsweise Kaviar buchstäblich fressen bis zum Erbrechen. Auch seine neue Liebe wird zerstört, als die Frau von der beschämenden Vereinbarung erfährt. Da fühlt sie sich als sexuelles Versuchsobjekt. Ein literarisch überzeugender, manchmal gar überwältigender Band. Wenn nur diese ideologischen Spurenelemente nicht wären…

Viktorija Tokarjewa: „Der Pianist“. Erzählungen. Diogenes. 167 Seiten. 34 DM.