Den Fallensteller kann man niemals fangen – Das irrlichternde Werk von Sigmar Polke in der Bonner Bundeskunsthalle

Von Bernd Berke

Bonn. Der Mann ist verknallt in Bilder mit Raster-Pünktchen: „Ich liebe alle Punkte, mit vielen Punkten bin ich verheiratet. Ich möchte, daß alle Punkte glücklich sind. Ich bin auch ein Punkt.“ Hier setzen wir wirklich mal einen Punkt und fragen: Redet da einer, der nicht ganz bei Verstand ist? Oh, nein. Da spricht ein irrlichternder Ironiker. Und einer der wichtigsten deutschen Gegenwartskünstler. Name: Sigmar Polke. Geboren 1941.

Bonns Bundeskunsthalle richtet ihm die bisher größte Retrospektive aus – mit rund 220 Arbeiten aus allen Schaffensphasen seit 1962, noch dazu fast lauter Großformate. Da darf man seine Augen schätzungsweise über etliche tausend Quadratmeter Kunst schweifen lassen.

Auf Polke, der sein Faible für flimmernde Raster listig mit Kurzsichtigkeit „erklärt“, könnte Bert Brechts berühmter Satz zutreffen: „In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen.“ Polke selbst hat der Schau den Titel gegeben: „Die drei Lügen der Malerei“. Bereits das dürfte eine Falle sein. Es gibt ja viel mehr Lügen – und Wahrheiten.

Schon als Gerhard Richters Mitstreiter in der losen Gruppierung „Kapitalistischer Realismus“ machte sich Polke in den 60er Jahren sowohl über die Pop-Art als auch über den Sozialistischen Realismus lustig. So ist es bis heute: Geistig rastlos, schlägt er ständig neue Haken, entwischt stets, ist schon wieder ganz woanders.

Wenn nicht einmal die Farben Bestand haben

Manchmal freut sich Polke, wenn seine Bilder allmählich schwinden. Er benutzt Materialien wie Silberjodid oder Ruß auf Glas, deren Spuren sich verwischen. Er verwendet Pigmente, die sich bei wechselnder Temperatur wie das sprichwörtliche Chamäleon verhalten. Nicht einmal der Farbwert hat also Bestand.

Festlegung auf einen Stil ist Polke sowieso ein Greuel. Und er macht keinen Unterschied zwischen erhaben und trivial. Daher kann auch alles der Inspiration dienen. Polke verbindet in ein und demselben Bild naturgetreuen Realismus und Karikatur. Er verknüpft afrikanische Plastik mit niedlichen Bambi-Figuren, er umgibt den Umriß des berühmten Dürer’schen Hasen – als sei s ein einziger Abwasch – mit den Karo-Mustern von Trockentüchern. Wie er denn überhaupt seine Bilder oft mit endlos reproduzierbaren Mustern unterlegt oder überblendet: Tapeten, Kacheln, Stoffbahnen. Und seltsam: Was auch immer er sich anverwandelt, es gerät unter seinen Händen wahrhaftig zur Kunst. Wie bei jenem Midas, dem alles zu Gold wurde, was er berührte.

Der Schamane hat s auch mit der Politik

Zuweilen gebärdet sich Polke, der in den 1970ern gelegentlich rauschhafte Farbschlieren-Bilder unter Drogeneinfluß erzeugt hat, auch schon mal als Schamane. Höhere Wesen hätten ihm befohlen, keine Blumen, sondern Flamingos zu malen, heißt es neben einem Bild, das – Flamingos zeigt. Auf Schautafeln dokumentiert Polke die Resultate „telepathischer Sitzungen“ mit Künstlern früherer Zeiten: „Absender Max Klinger – Empfänger Sigmar Polke“.

Freilich: Auch über solche Anwandlungen mokiert er sich wieder – und malt auf einmal „politische“ Bilder über Flüchtlingslager und Tropenwälder. Doch der hintersinnige Fallensteller ist erneut zugange: Während die Mysterien unterschwellige Ironie enthalten, ist in den Polit-Schinken unversehens Magie am Werk, so etwa, wenn das Raster-Bildnis des früheren US-Präsidenten Reagan dank mehrerer Kopien langsam vergeht, als sei der Mann ein Opfer des nuklearen Schreckens geworden.

Sigmar Polke. Die drei Lügen der Malerei. Bundeskunsthalle Bonn (Museumsmeile). 7. Juni bis 12. Oktober. Di und Mi 10 bis 21 Uhr, Do bis So 10-19 Uhr. Eintritt 8 DM. Katalog 78 DM.

 




Theater kann ein schönes Abenteuer sein – Zum 60. von Claus Peymann

Von Bernd Berke

Es war die „Publikumsbeschimpfung“, mit der Claus Peymann erstmals weithin Aufsehen erregte. Doch der Regisseur, der 1966 Peter Handkes Stück im Frankfurter Theater am Turm uraufführte, hat sich eigentlich nie mit den Zuschauern, sondern viel lieber mit Politikern angelegt. Morgen wird Peymann, noch Intendant der Wiener „Burg“, ab 1999 dann Chef des Berliner Ensembles, 60 Jahre alt.

Theaterkundige Revierbewohner trauern natürlich besonders Peymanns Bochumer Ära (1979 bis 1986) nach. Als er nach Wien wechselte, gab es sogar Leute, die für seine Premieren bis an die Donau pilgerten – ganz ähnlich, wie ihm Anhänger aus Stuttgart (wo er von 1974 bis 1979 als Schauspieldirektor arbeitete) nach Bochum nachgereist waren.

Peymann hat vermeintlich staubtrockenen Klassikern wie Goethes „Iphigenie“ frisches Leben eingehaucht. Stücke, die man für gar nicht mehr spielbar hielt, etwa Kleists „Hermannsschlacht“, gerieten unter seiner Ägide zu aufregenden Abenteuern. Doch das Theater verdankt Peymann auch wegweisende Uraufführungen, zumal der Stücke von Thomas Bernhard („Vor dem Ruhestand“, „Minetti“ , „Ritter, Dene, Voss“) und Peter Handke („Der Ritt über den Bodensee“, „Zurüstungen für die Unsterblichkeit“).

Trunken vor lauter Spielfreude

Ohne grandiose Schauspieler wie Gert Voss, Kirsten Dene, Traugott Buhre oder Martin Schwab, wäre Peymann wohl nicht erklärter Favorit der Feuilletons geworden. Doch eine seiner größten Leistungen besteht ja just darin, hochkarätige Ensembles zusammengeführt, inspiriert und lange beieinander gehalten zu haben. Peymanns oft herrlich spieltrunkener Inszenierungsstil war nie „Regietheater“ in dem Sinne, daß die Darstellet durch starre Konzepte an den Rand gedrängt worden wären.

Feinde hat er sich auch gemacht. Als er in Stuttgart Spenden für die zahnärztliche Behandlung der inhaftierten RAF-Terroristin Gudrun Ensslin sammelte, kam es zum politischen Eklat. Mißtrauisch empfing man ihn später auch in Wien. Österreichs Kulturkonservative fürchteten, der „Piefke“ Peymann (Sohn eines Bremer Studienrats) werde die Traditionen am Burgtheater gefährden.

Immerhin: Er hob die Preise für bessere Plätze drastisch an und verbilligte die anderen. Das galt besonders der giftigen Wiener Presse schon als sozialistische Untat. Doch als Peymann das Publikum mit grandiosen Inszenierungen wie „Richard III.“ von Shakespeare auf seine Seite zog, konnte man ihm nicht mehr so viel anhaben. Nun wagte er es auch, im November 1988 (zum 100jährigen Bestehen des Burgtheaters) Thomas Bernhards „Heldenplatz“ auf die Bühne zu bringen, jenes Stück, in dem die NS-lastige Historie des Hauses bohrend zur Sprache kam.

Im „Heldenplatz“-Umfeld kam es gar zu einer Art Regierungskrise in Wien. So etwas gibt es eben nur in Österreich, wo Theater und Oper eine geradezu staatsbildende Rolle spielen wie sonst wohl nirgendwo auf der Welt. Vielleicht wird Peymann einen Hauch dieser Atmosphäre im nüchternen Berlin vermissen.




Hossa und der tiefere Sinn – Das Buch „Schlager, die wir nie vergessen“ deutet populäres Sangesgut

Von Bernd Berke

Peter Kraus zählte zu den zaghaften Vorboten sexueller Freizügigkeit. Freddy Quinn („Junge, komm bald wieder“) formulierte, wie später nur noch Heintje („Mama“), in wenigen Zeilen die geballten Müttersorgen der Nation. Drafi Deutscher („Marmor, Stein und Eisen bricht“) stand – im Vorfeld des rebellischen Jahres 1968 – für wachsende Aufruhrstimmung. Daß sich aus prägnanten Liedern Zeitgeist pur destillieren läßt, erfährt man in dem neuen Buch „Schlager, die wir nie vergessen“. Keine Schande, wenn man beim Lesen mitsummt.

Nicht weniger als 34 Autoren, darunter Koryphäen wie Eckhard Henscheid, Robert Gernhardt und Brigitte Kronauer, machen sich – in zumeist erhellenden Kurzbeiträgen – über 57 Interpreten und deren markanteste Titel her. Die tönende Chronik der Republik beginnt mit Rudi Schurickes Schmachtfetzen „Capri-Fischer“ (Version von 1946) und reicht bis zu den Gruppen „Ideal“ und „Trio“ (ihr Singsang „Da da da“ wird als Ausdruck unbekümmerter Postmoderne gedeutet) sowie Herbert Grönemeyers „Männer“-Song von 1984.

Wer sich nur lustig machen will…

Es zeigt sich, daß ironischer Umgang mit dem Thema zwar ratsam ist, daß aber jene Autoren die ergiebigsten Beiträge liefern, die den Schlager bis zu einem gewissen Punkt halbwegs ernst nehmen. Wer sich von vornherein nur lustig machen oder kulturkritisch dozieren will, kann diesen Massenprodukten auch nicht ablauschen, was in ihnen steckt. Selbst hinter einem unscheinbaren Ausruf wie „Hossa“ (Rex Gildo in „Fiesta Mexicana“) verbirgt sich ja zuweilen tragisches Geschick.

Gelegentlich wird allzu weit ausgeholt: Johannes John nennt „Ein Bett im Kornfeld“ von Jürgen Drews (1976) einen Nachläufer der Anakreontik (idyllisch-erotische „Schäferlyrik“) des Rokoko, ja, er schlägt noch einen Haken zum mittelalterlichen Dichter Hartmann von Aue und dessen Wortschöpfung vom „Verligen“, das die Hauptbeschäftigung amourös reger Faulpelze präzis bezeichnete. In der waghalsig erreichten Zielkurve heißt es schließlich, Drews habe mit seinem Lied die alte Burschenherrlichkeit bedient und neckisches „Verbal-Petting“ betrieben. Nun ja.

Sozialpädagogisches Anliegen

Da leuchtet es schon eher ein, wenn Gus Backus („Da sprach der alte Häuptling der Indianer“, 1961) als typische Figur der Amerikanisierung und zugleich als deren bubenhafter Parodist herauspräpariert wird. Nachvollziehbar auch, daß Juliane Werding („Am Tag, als Conny Gramer starb“, 1972) dem Schlager mit „sozialpädagogischem Anliegen“ jene Bresche schlug, in die dann auch Gitte oder Udo Jürgens springen konnten. Ganz naheliegend ist es gar, das Schaffen von Nicole („Ein bißchen Frieden“, 1982) im Zusammenhang der damals erstarkten Friedensbewegung gegen die NATO-Nachrüstung zu betrachten.

Wenn der Erfolg einer Daliah Lavi („Willst du mit mir gehn?“) auch mit dem Willen zur Wiedergutmachung an den Juden erklärt wird, spürt man ein gewisses Unbehagen – vielleicht deshalb, weil etwas „dran“ ist? Freilich: Wencke Myhres „Beiß nicht gleich in jeden Apfel“, das just 1966 zu Beginn der Großen Koalition zwischen CDU und SPD herauskam, als heimliche Warnung vor dem „Sozialismus“ zu interpretieren, erfordert Phantasie. Und wer hätte gedacht, daß Peter Alexander mit „Hier ist ein Mensch“ (1970) die Fackel der ursprünglich linken Utopie vom aufrechten Gang der Gattung weiter getragen hat?

Vico Torrianis kleine Ferkelei

Eine Hoch-Zeit des deutschsprachigen Schlägers waren natürlich die 50er Jahre. Damals wurde den Wirtschaftswunder-Deutschen jede Spielart von Fernweh und Exotik angedient. Caterina Valente sang beispielsweise 1957 „Wo meine Sonne scheint“, und wenn man dem Autor Dieter Bartetzko glaubt, so lenkte der Text – die historische Stunde erkennend – ungute deutsche Eroberungs-Gelüste ganz geschickt in sozialverträgliche Reiselust um.

Wie auch in der Reklame, so traten sexuelle Rollenklischees im Schlager der 50er klar zutage. Zudem war auch das populäre Sangesgut ausgesprochen prüde und verdruckst. Desto größer die Freude nachfraglichen Enthüllens: Peter von Matt stellt klar, daß es in Vico Torrianis so harmlos klingendem „Kalkutta liegt am Ganges“ letztlich nur „um das Eine“ gegangen sei, gleichsam hinter vorgehaltener Hand sei gar von einer Erektion die verschämte Rede gewesen. Doch die kleine Ferkelei verbarg sich hinter Jux-Wortspielen. Auf ähnliche Weise entsteht übrigens auch große Dichtung.

„Schlager, die wir nie vergessen“. Verlag Reclam Leipzig. 292 Seiten. 19 DM.

 

 

 




Kunst soll wirken wie ein Nackenschlag – Werkschau über Bruce Nauman in Wolfsburg

Von Bernd Berke

Wolfsburg. Mal ehrlich: Was hat Wolfsburg schon zu bieten? Das gigantische VW-Werk, gewiß. Aber in dessen Schatten ducken sich ein barackenartiger Bahnhof und eine beklagenswert öde Innenstadt. Ausgerechnet hier soll ein Juwel der deutschen Kulturlandschaft zu finden sein? Aber ja!

Das imposante Kunstmuseum Wolfsburg, im Grundriß etwas größer als ein Fußballfeld, verfügt über finanzielle Mittel, von denen man andernorts höchstens träumt. Jetzt bietet man mit einer Schau über den US-Künstler Bruce Nauman erneut ein Ereignis der Sonderklasse.

Während etliche Häuser in den Metropolen mit jährlichen Ankaufsetats von nicht einmal 100 000 Mark (ein Witz angesichts der Kunstmarkt-Preise) wirtschaften, schöpft man in Wolfsburg aus dem Vollen. Das erst vor drei Jahren eröffnete Museum hat bereits umfangreiche Eigenbestände angehäuft. Ständig kauft man namhafte Werke hinzu: Hier ein Bild von Andy Warhol oder Anselm Kiefer, da einen Kunst-Iglu von Mario Merz oder eine Video-Installation von Nam June Paik.

Mit öffentlichen Mitteln ist das nicht zu schaffen, sondern nur mit einer reich ausgestatteten Privatstiftung, die vor allem aus Vermögensanteilen am Volkswagen-Versicherungsdienst (VVD) gespeist wird. Hier dürfte der alte VW-Werbeslogan zutreffen}: „Da weiß man, was man hat.“

Weiter nach Paris und London

Die Nauman-Schau, die in Wolfsburg Premiere hat, teilt man sich mit ersten Adressen. Sie wandert ins Pariser Centre Pompidou und in die Londoner Hayward Gallery. Kunsthallenchef Gijs van Tuyl und sein Team haben eine Ausstellung von seltener Suggestionskraft inszeniert. Der Rundgang ist schneckenförmig angelegt, auf daß man erst hinausfinde, nachdem man ins Zentrum vorgedrungen ist.

Das ist ganz im Sinne Naumans. Er gibt dem Betrachter gern die Wege vor. So schickt er ihn etwa in einen nur 50 Zentimeter schmalen, viele Meter langen Raumschlauch, an dessen Ende man seinem eigenen elektronischen Abbild begegnet. Ein andermal kann man sich – dank eines ausgeklügelten Kamera-Aufbaus – beim Gang um ein Karree selbst hinter den Ecken verschwinden und gleichzeitig die Leute hinter einem auftauchen sehen. Seltsame Zeit-Verschiebung.

Schon in den 70er Jahren hat Nauman (Jahrgang 1941) mit der damals noch ganz neuen Video-Technik experimentiert, seither hat er alle Feinheiten ausgelotet. Ein Kunstwerk solle sein wie „ein Schlag in den Nacken“, es solle umweglos aufs körperliche Befinden einwirken. So lautet ein immer wieder eingelöstes Bekenntnis Naumans, des Stamm-Teilnehmers der documenta, der sich seit zehn Jahren vom Kunstbetrieb zurückgezogen hat, keine Interviews mehr gibt und lieber in New Mexico Pferde züchtet.

Inspiriert von Cage und Beckett

Drei abgedunkelte Räume mit TV-Bildschirmen, auf denen menschliche Köpfe rotieren. Sie stammeln unaufhörlich Lautfolgen wie „Okay-okay-okay“ oder auch nur „Mh-mh-mh“. Man fühlt sich in dieses kreiselnde Wahn-System eingesperrt und faßt sich unwillkürlich an den Hals: Dreht der sich auch schon? Kurz darauf gerät man vor das Videowerk „A poke in the eye“ (etwa: Ein Stoß ins Auge). Ganz langsam tastet die Kamera ein Gesicht porengenau ab und irrt immer wieder zu den Augen hin. Zumal wenn man den Titel vorher kennt, erfaßt einen ein Gefühl der Bedrohung als Kitzel in der Magengrube. Solche Regungen hat der Künstler wohl nicht nur an sich selbst erprobt, sondern auch kühl vorausberechnet.

Der einstige MathematikStudent ließ sich von Wiederholungs- und Montage-Strukturen etwa in Werken des Komponisten John Cage, des Schriftstellers Samuel Beckett oder des Filmregisseurs Jean-Luc Godard anregen.

Viele Installationen sind höchst komplex, sie beziehen z. B. Neonlicht, Texte oder Klänge ein. Man muß es erleben. Und man wird in eine Art Trance zwischen Irritation und Meditation geraten.

Kunstmuseum Wolfsburg, Porschestraße 53 (Tel: 05361 / 266 966). Ausstellung Bruce Nauman bis 28. September. Di 11-20 Uhr, Mi-So 11-18 Uhr. Eintritt 7 DM. Katalog 45 DM.




Zimmerschlacht nach Lust und Laune – Jürgen Kruse inszeniert Andreas Marbers „Rimbaud in Eisenhüttenstadt“

Von Bernd Berke

Bochum. „Blöööd ist es auf der Welt zu sein / Sagt die Biene zu dem Stachelschwein.“ Welch eine Gaudi, wenn diese Schläger-Verballhornung auf der Bochumer Kammerspiel-Bühne gegrölt wird. Mittendrin ruft Intendant Leander Haußmann, der sich als „Rimbaud in Eisenhüttenstadt“ (Regie: Jürgen Kruse) diesmal auch Titeldarsteller-Ehren gönnt, ins Publikum: „Und nun alle! Auch die Kritiker, die sollen ihre Stifte mal loslassen!“ Von wegen.

Rimbaud also. Dieser „wilde“ französische Dichter (1854-1891), dem schon früh die Lyrik nicht mehr genügte und den es hinaustrieb ins Unbedingte. Sodann ausgerechnet Eisenhüttenstadt, aus dem Boden gestampfte Industrieansiedlung der früheren DDR, Inbegriff genormter Enge zwischen Plattenbauten. Mit solch gegensätzlichen Gewürzen hat Andreas Marber (Jahrgang 61, Hausdramaturg in Bochum) sein Stück abgeschmeckt. Jürgen Kruse setzt den Text mit allen erreichbaren Mitteln und im wegwerfenden Gestus aggressiven Angewidertseins unter Dampf.

Es wird – zumal vor der Pause – im Publikum oft gelacht, freilich vielfach kopfschüttelnd, wenn sich etwa Rimbaud Kokain via Staubsaugerrohr in die Nase zieht oder das Überraschungsei einen Präser enthält. Sachen gibt’s…

Stilsicher versiffte Behausung

Die gut dreistündige Zimmerschlacht (hoher Sudelfaktor mit Bier- und Blutspritzern) spielt sich in der stilsicher versifften Einraum-Behausung Rimbauds ab. Dieser ostdeutsche Anarcho-Rebell der Nach-Wendezeit, der auf die reichen Westler schimpft und „vergossene Worte“ des Ostens bewahren will, lebt an seiner Endstation. Mit allen hat er Streit: Die „Süddeutsche Zeitung“ mochte seine zynische Hymne auf Michael Jacksons Kinderschändungen nicht abdrucken. Und in der Stadtbücherei hat man ihm Hausverbot erteilt, als er dort entnervt das „Kochbuch der Anne Frank“ verlangte…

Nun tänzelt auch noch sein schwuler Gespiele Dr. Martin Wolf (Komödiant von Gnaden: Torsten Ranft) aus dem evangelischen Predigerseminar zu Wittenberg herbei, um sich im lachhaften Jargon der Selbsterfahrung von Rimbaud zu trennen – vage Reminiszenz an die historische Dichter-Liebe zwischen Rimbaud und Paul Verlaine, außerdem Gelegenheit zu derben Antiklerikal-Scherzchen („Sinn-Hode“ statt „Synode“).

Derweil irrt Rimbauds hirnkranke Frau mit Namen Vera Vernunft (Annika Kuhl) umher und produziert kleine Sprechopern der Vergeßlichkeit: „Oh, oh, oh – Weil, weil, weil…“ Ihre weitgehend stumm-verzweifelte Rolle wird in Erinnerung bleiben.

Zwischen Aufwallung und Achselzucken

Später gesellt sich eine Kammerjägerin (Henriette Thimig) hinzu, früher bei der Stasi, die auf anderer Ebene mit der „Schädlingsbekämpfung“ fortfährt. Auch wankt hin und wieder eine Riesen-Ratte über die Bühne. Schließlich erscheint ein Mann im weißen Kittel (Marquard Bohm), den man angesichts all dessen erwarten durfte. Als Vera kurzerhand aus dem Fenster springt, brüllt Rimbaud wie am Spieß, doch plötzlich verstummt er und holt sich ein Pils aus dem Kühlschrank.

Derlei willkürliche Abfolge von Aufwallung und Achselzucken bildet ein Grundmuster. Theater nach dem schieren Lustprinzip: Wo Jürgen Kruse „Bock“ hatte, hat er rotzig etwas hin-inszeniert. Zuweilen hat das gleichsam dreckigen Charme.

Leander Haußmann muß wenig Filigranarbeit leisten, er kann sich just austoben mit gehörigem Talent zur Raserei. Die gesamte Darbietung folgt quasi der Rimbaud’sehen Chaos-Regel. Sie könnte jederzeit enden, aber auch immer so weitergehen.

Natürlich öffnet Jürgen Kruse wieder den Plattenschrank. Er beweist exzellenten Spürsinn für starke Rock-Titel und absolut schräge Schläger. Das ganz andere Musiktheater im Revier.

Im nicht frenetischen Beifall ertönten auch Buhrufe.

Termine: 29. Mai, 18. Juni. Karten: 0234/3333-111.




Vom Königsthron hinab ins Schulungshotel – Peter Handke und Susanne Schneider bei den Mülheimer Stücketagen

Von Bernd Berke

Mülheim. „Heute ein König!“ schallt es uns aus einer Pils-Werbung entgegen. „Künftig ein König!“ rufen uns die Dramatiker Botho Strauß und Peter Handke zu. Ihre neuen Stücke sorgten für den wahrhaft majestätischen Auftakt der Theatertage in Mülheim. Dann freilich ging’s steil hinab in die Niederungen des ökonomischen Alltags. Susanne Schneiders „Wir Verkäufer“ war der dritte von acht Beiträgen im Wettbewerb.

Nachdem in Botho Strauß „Ithaka“ der alte Odysseus sein Königtum blutrünstig zurückerobert hatte, bekamen es die Zuschauer mit Handkes monarchischen Phantasien zu tun: Das Frankfurter Schauspiel gastierte mit „Zurüstungen für die Unsterblichkeit“. Schon der Titel läßt ahnen, daß Handkes Sprache gleichsam wallt wie ein Königsgewand. Wohltönend und vielschichtig ist Handkes Sage aus der abgelegenen Enklave, der ein neuer König ein ewig währendes Gesetz allumfassenden Friedens (darunter tut man’s nicht mehr) geben soll. Claus Peymann hatte seine Darsteller bei der Wiener Uraufführung durch eine Art Feenmärchen tändeln lassen. Die Figuren der Frankfurter Fassung (Regie: Hans Hollmann) staksen indes stocksteif einher.

Den Vorhang zu und alle Fragen offen

Im Mittelgrund der stets düsteren Bühne baumelt geometrisch geordnetes Gestänge. Ästhetische Avantgarde der 50er Jahre. Dies gilt auch für die maßvoll neutönerische Musik, die immer wieder erklingt. In dieser Inszenierung mit ihren stur-schematischen Auf- und Abgängen wenig inspirierter Darsteller hat man nicht einmal den Umgang mit dem Vorhang rationell gelöst: Zuweilen wird für eine Fünfzehn-Sekunden-Szene eigens langwierig zu- und dann wieder aufgezogen. Warten ist das halbe Leben.

„Verstanden?“ fragte Handkes Wander-Erzählerin mehrmals textgemäß in die Publikumsrunde. „No!“ schallte es in Mülheim aus vielen Mündem zurück. Tatsächlich ist es schwer, in diesem Drama den Faden zu finden. Anhand der Frankfurter Darbietung scheint es sogar aussichtlos.

Schneeberg soll soziale Kälte anzeigen

Den roten Faden sah man in „Wir Verkäufer“ um so schneller. Denn die Stuttgarter Autorin Susanne Schneider, die in der Gast-Inszenierung (Badisches Staatstheater Karlsruhe) auch Regie führt, gibt über weite Strecken mit biederem Realismus den Ablauf einer Verkaufsschulung wieder, die eine Westfirma arbeitslos gewordenen Ostdeutschen angedeihen läßt. Schmerzlich beigebracht werden den „Ossis“ in diesem kapitalistischen Fegefeuer die Psychotricks des Verhökerns. In den Schulungspausen gibt’s Kummersuff, Karaoke-Singsang und natürlich Fragmente aus beschädigten Ost-Biographien.

Video-Aufnahmen von echten Schulungen dienten der Autorin als Anregung. Wie Fertigteile baut sie aus der DDR überkommene Redewendungen („Fakt ist.. ..“, „…hat Weltniveau“) ein. Auch sonst kommt einem vieles reichlich bekannt vor. Und es hätte schon um 1990 exakt so geschrieben werden können. Heute wirkt es abgestanden. Daß gar ein immer höher werdender Schneeberg rund ums Schulungshotel als Sinnbild für wachsende soziale Kälte herhalten muß, ist kläglich. Rar sind die Szenen-Momente, in denen das deutsch-deutsche Elend sich wenigstens halbwegs verdichtet.

Dank der großartigen Münchner Inszenierung muß derzeit Botho Strauß „Ithaka“-Text favorisiert werden. Man darf aber wohl die Prognose riskieren: Strauß wird den Preis trotzdem partout nicht bekommen, und zwar wegen politischer Bedenken. Außerdem folgen bis zum 6. Juni ja noch fünf konkurrierende Stück, darunter die von Elfriede Jelinek und Urs Widmer.




Jüdisches Museum Westfalen: Die Würde der Tradition

Von Bernd Berke

Dorsten. Es ist nicht ganz leicht, das „Jüdische Museum Westfalen“ zu finden. Ein Hinweisschild erblickt man in Dorsten erst dann, wenn man die umgebaute alte Villa an der Julius-Ambrunn-Straße auch schon vor sich sieht. Und obwohl die Stadt ja nicht allzu groß ist, scheinen die wenigsten Einwohner den richtigen Weg weisen zu können.

Ein bißchen traurig ist dies lokale Schattendasein schon. Aber das Museum, weit und breit das einzige seiner Art, setzt ohnehin mehr auf Fernwirkung. Zumal aus den Niederlanden kommen häufig Besucher hierher, aber auch aus den USA und Israel.

Vor fast genau fünf Jahren wurde die Stätte der Erinnerung vom örtlichen „Verein für jüdische Geschichte und Religion“ begründet. Stadt und Land bezahlten den Ausbau des Domizils und trugen Betriebskosten. Die Betreuung der wertvollen Exponate muß dennoch weitgehend ehrenamtlich geleistet werden.

Einen Sammelschwerpunkt bilden kostbare jüdische Kultgeräte zu den Feiern im Jahreskreislauf. Größte Aufmerksamkeit gilt der Geschichte jüdischen Lebens in Westfalen. Torarollen, Bücher und Bilder sieht man hier ebenso wie etwa silberne Speisenbehältnisse zu bestimmten Festtagen.

Ein erschütternder Fund füllt einen Weidenkorb im Erdgeschoß: jene Sammlung von Büchern, die vor einigen Jahren auf einem Dachboden in Bottrop gefunden wurden. Diese Bücher haben jüdischen Familien gehört, die in Konzentrationslager deportiert wurden. Ausführlich dokumentiert man die Entwicklung des Antisemitismus, der im Mittelalter bereits Wurzeln geschlagen hatte.

Das Museum befaßt sich vornehmlich mit der Historie des Judentums, weniger mit Israels gegenwärtiger Entwicklung. Es dominiert die Würde des althergebrachten Kultes und damit die orthodoxe Lesart. In dieses Konzept fügt sich nun die bis 15. Juni dauernde Ausstellung des Künstlers Uri Shaked aus Tel Aviv ein. Seine „Bilder zu den jüdischen Festtagen“ erzählen, in scheinbar „naivem“ Duktus und frohen hellen Farben, von Menschen, die aus ihrer Religion heitere Hoffnung schöpfen. Die Gesichter aller Figuren, auch wenn sie in Rückenansicht gezeigt werden, sind stets dem Betrachter zugewandt. Es wirkt wie eine Einladung zur Teilhabe.

Jüdisches Museum Westfalen. Dorsten, Julius-Ambrunn-Straße 1 (in Bahnhofsnähe an der A 223). Tel. 02362/45 279. Di-Fr 10-12 und 15-18 Uhr, So 14-17 Uhr. Eintritt 5 DM. Bestandskatalog 280 Seiten, 38 DM.

 




Mitteilungen aus der Studierstube – Patricia Dunckers hitziger Roman „Die Germanistin“

Von Bernd Berke

Eigentlich fängt dieser Roman vielversprechend an: Angetrieben von einer mysteriösen Germanistin, begibt sich der Ich-Erzähler, ein junger Romanistik-Student aus Cambridge, auf die Suche nach dem Menschen, der hinter seinem Examensthema steckt.

Er schreibt seine Abschlußarbeit über den französischen Autor Paul Michel, von dem er natürlich alles mehrfach gelesen hat. Wie sich erweist, ist Paul Michel nicht nur ein Mann, dem schrankenlose Freiheit über alles geht, er ist zudem offensiv und selbstbewußt schwul – und eines Tages hat man ihn wegen einiger Gewalt-Eskapaden in eine Irrenanstalt eingewiesen. Die Germanistin findet: Man muß den Mann da herausholen, ihn retten. Und sie schickt den Studenten vor.

Der also reist – in Patricia Dunckers Roman „Die Germanistin“ – von England nach Frankreich und dringt bis zu diesem Paul Michel vor, der von 1947 bis 1984 wirklich gelebt hat, zwischenzeitlich als kommende Größe der französischen Literatur galt, dann für verrückt erklärt wurde und an Aids gestorben ist.

Schwülstige Schwärmerei

Michels wirrer Blick und das aggressive Benehmen machen dem Studenten zunächst angst, doch schon bald freunden sich die beiden an. Resultat: Paul Michel wird aus der geschlossenen Anstalt entlassen, bekommt immer öfter Freigang und darf schließlich mit dem Studenten durch Südfrankreich reisen. Natürlich vermittelt all das dem Studenten ein ganz neues Lebensgefühl, so daß die Autorin ausgiebig Gelegenheit bekommt, über die Beziehung zwischen ihren beiden Helden wie eine törichte Jungfer in schwülstige Schwärmerei zu geraten.

Fragt sich nur noch: Welches Interesse hatte die Germanistin an all den Fährnissen? Mit dieser Frage hält die Autorin das Interesse wenigstens auf Sparflamme. Ihre Figuren aber bleiben blutleere Phantome, ihre Szenen wirken meist geschmäcklerisch arrangiert und zurechtgebogen.

Zudem muß man sich durch viel angelesenes Zeug quälen, durch kaum entschlackten Archiv-Stoff und Mitteilungen aus der Studierstube, um zu den wenigen anschaulichenPassagen zu gelangen. Ein Roman-Konstrukt aus dem Elfenbeinturm der literaturwissenschaftlichen Fachwelt, künstlich erhitzt mit einer ständig beschworenen, aber nie beglaubigten Sehnsucht nach dem „wirklichen Leben“.

Die stärksten Stellen stammen von fremder Feder. Es sind Real-Zitate aus dem Briefwechsel zwischen Paul Michel und dem französischen Denker Michel Foucault, der den Jüngeren als seinen einzigen wahrhaftigen Leser schätzte und zugleich fürchtete. Um dieses innige Autor-Leser-Verhältnis kreisen auch Patricia Dunckers heiße Hoffnungen. Ach, wie vergebens!

Patricia Duncker: „Die Germanistin“. Roman. Berlin Verlag. 235 Seiten, 38 DM.

 




Lebensbilanz mit Verlusten – Sibylle Mulots Roman „Das Horoskop“

Von Bernd Berke

Mit seinem Roman „Netzkarte“ ließ uns einst Sten Nadolny teilhaben an einer Fahrt kreuz und quer durchs Netz der deutschen Bahn. Natürlich kam es dabei vor allem auf die menschlichen Begegnungen an. Auch Sibylle Mulot schildert in ihrem Buch „Das Horoskop“ den Verlauf einer langen Bahnfahrt. Wieder geht es um eine Bekanntschaft, die die Ich-Erzählerin schließt.

Der Weg führt von Basel nach Paris. Eine ausgedehnte Strecke, auf der wir nach und nach einiges über jene verhalten elegante Mitreisende Edit erfahren, die ihre Kindheit in Ungarn und Wien verbracht hat, Solotänzerin gewesen ist und einen französischen Fabrikanten geheiratet hat. Zu ihm kehrt sie jetzt zurück, nachdem sie ihre todkranke Mutter besucht hat. Und sie hat eine ganze Tasche voller Marzipan im Gepäck, die sie ängstlich durch den Zoll schmuggelt.

Was diese Frau innerlich beschäftigt: Ihr Sohn, für den sie doch – in offenbar grandios vergeblicher Liebesmüh – all das Schöne Marzipan besorgt hat, hat seit vielen Jahren jeden Kontakt mit ihr abgebrochen, ohne jeden zwingenden äußeren Anlaß, aber gewiß mit inneren Beweggründen. Edit kennt mithin weder ihre Schwiegertochter noch ihre Enkelkinder. Dieser Verlustposten ihrer Lebensbilanz setzt ihr so zu, daß sie schon eine Wahrsagerin aufgesucht und ihr Horoskop nach Wiedersehens-Chancen befragt hat.

Familie als Keim des Übels und der Hoffnung

Kunstvoll verknüpft Sibylle Mulot die Fensterblicke auf die vorbeiziehende Landschaft mit der allmählich sich abzeichnenden, zum Teil verdorrten „Landschaft“ dieses Frauenlebens. Als schließlich Paris in Sichtweite kommt und die Häuser immer dichter beieinander stehen, verdichtet sich auch das imaginierte Netz der familiären Bezüge und Beziehungen.

Und der Blick weitet sich ins Allgemeinere: Am Beispiel der gelinde verzweifelten, aber unverdrossen ihre Glücksansprüche behauptenden Edit lernt man, wie sehr die Menschen seelisch an ihre Familien gekettet sind, auch und gerade wenn Beziehungen – als seien es Bahnstrecken – „stillgelegt“ zu sein scheinen. Familie als Keim des Übels und der Hoffnung.

Die Ich-Erzählerin, leider immer eine Spur überlegter als ihre Mitreisende (was dem Buch gelegentlich eine etwas besserwisserische Note verleiht), wehrt sich innerlich gegen Edits Anspruch auf den Sohn und versucht, sich in die Lage von Kindern zu versetzen, die ihren Eltern ein für allemal Adieu sagen. Einerseits herrscht allseits Wahlfreiheit in den Beziehungen, andererseits strebt jeder Mensch nach Sicherheit und Halt. Gefühle sind Widersprüche, sie folgen keiner Logik und sind oft furchtbar ungerecht.

Ein elegischer Ton zieht sich durch diese Erzählung. Mit der Ankunft des Zuges tritt – nicht so paradox, wie es klingt – jene Überraschung ein, die man als Leser die ganze Zeit über erwartet hat. Doch vielleicht setzt erst mit dieser Ankunft die Wirkung dieses Buches ein.

Sibylle Mulot: „Das Horoskop“. Diogenes-Verlag, 125 Seiten. 29,90 DM.




Die guten Götter werden schon für Frieden sorgen – Botho Strauß‘ „Ithaka“ als Auftakt zu den Stücketagen

Von Bernd Berke

Mülheim. Nein, ein Festival im üblichen Sinne sind die Mülheimer Theatertage diesmal nicht. Der Wettbewerb neuer deutschsprachiger Stücke zieht sich – als eher lose Folge von acht Gastspielen – über fast vier Wochen bis zum 6. Juni hin. Von gewisser Dauer war schon der Auftakt am Sonntag Abend. Die Münchner Kammerspiele gingen mit Botho Strauß‘ Antiken-Anverwandlung „Ithaka“ (Regie: Dieter Dom) an die Startlinie. Und das hieß: viereinhalb Spielstunden mit Odysseus. Doch es war nicht die berühmte Irrfahrt.

Odysseus (Bruno Ganz) ist bei Strauß, der sich in vielen mythologischen Details an die Vorlage von Homer hält, bereits nach Ithaka heimgekehrt. Eine üble Rotte von Freiern belagert Odysseus‘ Gattin Penelope (Gisela Stein), die mächtige Kummerspeck-Schwarten angesetzt hat und sich auch damit die Zudringlichen vom Leibe zu halten sucht.

Genußsucht, Sport und Prahlerei

Unterdessen ist das gesamte Gemeinwesen verkommen. Es fehlt eben der Herrscher, einer, der – salopp gesprochen – in diesem Saustall aufräumt. Statt dessen regieren, wie es einmal bündig heißt, „Genußsucht, Sport, Prahlerei“. Scheinbar gelassen, doch innerlich zornbebend, hört sich der als Bettler verkleidete Odysseus all die Schreckensbotschaften an. Und dann handelt er…

Zu diesem Sachverhalt hat Botho Strauß ein geradezu klassisch-formbewußtes Stück gedrechselt. Es kommt einem so vor. als habe er – wie so viele Autoren vor ihm – just bei den „Alten“, sprich in der Antike anknüpfen wollen, um dort Halt und Heilsamkeit zu finden, die nach seinem Empfinden der heillosen Gegenwart abhanden gekommen sind. Man hat aus dem Text überdies herauslesen wollen, daß sich der Autor nach einer Führer-Figur sehne. Unsinn!

Denn nachdem Odysseus die versammelten Freier im Bogenschießen gedemütigt (Wetten, daß der Held zwölf Äxte auf einen Streich mit dem Pfeile trifft?) und sodann samt lüsternen Mägden niedergemetzelt hat, erhebt sich ja erst die eigentliche Frage: Was kommt nach solch blutigem Sieg? Eine fundamentalistische Diktatur? In diesem Falle müssen es die allerhöchsten Mächte richten: Zeus und Pallas Athene („Girlie“ aus dem Götterhimmel: Sibylle Canonica) sorgen für Frieden im Lande – und dafür, daß das Volk alle vorherigen Untaten vergißt. Wortwörtliches Resultat: „Herrscher und Untertanen lieben einander wie früher. Daraus erwachsen Wohlstand und Fülle des Friedens den Menschen.“ Naiv anmutende und etwas prekäre Gründungslegende, fürwahr.

Die Großtat des Bruno Ganz

In Dieter Dorns Inszenierung wirkt all das jedoch so, wie es ja wohl auch gemeint sein dürfte: human und manchmal gar von heiterer (Selbst)-Ironie beseelt. Zumal der wunderbare Bruno Ganz als Odysseus nimmt Strauß‘ Sprache alles Gravitätische, läßt ihr gleichwohl den edlen Klang – und macht sie zugleich faßbar. Eine Großtat sondergleichen. Im Zentrum der dramatischen Aufmerksamkeit steht außerdem das Paar Odysseus-Penelope, das einander endlos zu verfehlen droht. Ein altes Strauß-Motiv.

Zu sehen war ein Spitzenprodukt deutschen Qualitäts-Theaters, ästhetisch völlig auf der Höhe, S-Klasse sozusagen. Und damit ein verheißungsvoller Auftakt für die Stücketage, die mit ihren Blicken über den regionalen Tellerrand alljährlich das vielleicht sachkundigste Publikum im Revier versammeln.

Der Beitrag des nächsten Edel-Dichters folgt am kommenden Samstag: Dann wird das Frankfurter Schauspiel mit Peter Handkes „Zurüstungen für die Unsterblichkeit“ auftreten. Die Zuschauer sind gewappnet und gerüstet.




In der Steppe vom Sandkorn erzählen – Peter Handkes Roman vom Abenteuer der Wahrnehmung

Von Bernd Berke

Peter Handke scheint die Ödnis zu lieben. Nachdem er seinen Lesern zuletzt das Langstrecken-Exerzitium „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ auferlegte, siedelt er auch seine neue Hauptfigur im Niemandsland an, wo kaum etwas von wahrer Empfindung ablenkt. Jener Apotheker von Taxham (Flecken bei Salzburg) wohnt in einer „Zwickelwelt“ zwischen Bahnlinie, Flughafen und Autobahn-Tangenten. Dort, wo die Ausläufer der Technik in spärlichen Bewuchs übergehen.

Dieser Apotheker wird als unauffälliger, aber „uneingemeindeter“ Mensch beschrieben. Mit seiner Frau lebt er in gütlicher Abgrenzung, die Kinder sind aus dem Haus, vielleicht hat er sie gar vertrieben. Der Mann fühlt sich mal aufgehoben, mal aber auch gefährdet in seinem Alleinsein. Doch der Erzähler will ihm das Geheimnis nicht entreißen: „Keine Erklärungen, keine Begründungen, in der Schwebe lassen „, heißt es einmal. Wie ein Aufbruch ins Ungefähre klingt ja auch der Titel: „In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus.“

Handke unterlegt seine Geschichte mit dem Prägemuster mittelalterlicher Abenteuer-Epen. Eine Art Prüfung hat auch der Apotheker zu bestehen. Er wird zum „Gezeichneten“, indem er ein dunkles Wundmal auf der Stirn trägt – vielleicht das Signal todbringender Krankheit, vielleicht aber auch der Verheißung. Jedenfalls verläßt er nun sein Haus und gerät in eine rätselhafte, verwunschen wirkende Welt. Zugleich verstummt er, um desto genauer zu schauen und zu hören. Zum Beispiel auf eine furiose Grundsatz-Rede über die tiefe Feindschaft zwischen Mann und Frau.

Ein fruchtbares Verirren, ein neues Maßnehmen

Zwischendurch wird er von zwei Desperados begleitet, einem ehemaligen Ski-As und einem Dichter. Ein seltsam dahertaumelndes Slapstick-Trio. Die ganze Reise aber erweist sich – wie könnte es bei Handke anders sein – als „fruchtbares Verirren“, als Gelegenheit zum neuen Maßnehmen an der Welt, an der Wunderkammer namens Wirklichkeit.

In der „Nachtwindstadt“ Santa Fe ereignet sich ein prachtvolles Fest mit faszinierenden Ritualen. Rotten eines völlig fühllosen Menschenschlages drohen im Landstrich die Oberhand zu gewinnen. Schließlich treibt es den Apotheker, diesen Abenteurer der Wahrnehmung, als Eremiten in eine Steppe hinaus. Die Schilderung dieser Wüstenei zwischen den Städten, an deren Rändern wahnwitzige Extremsportlcr aufkreuzen, ist vollends grandios. So aufregend kann Ödland sein, wenn jeder Flügelschlag eines Vogels und jedes Sandkorn, jeder Vorgeschmack und Nachklang so innig erzählt werden.

Der Dichter soll reden wie ein Bergsteiger am Seil

Staunenswert, wie Peter Handke unscheinbarste oder fremdartigste Erscheinungen mit größtmöglicher sprachlicher Einfühlung faßt. So gerüstet, kann er sich mit seinen Figuren erneut auf ferne Vorposten hinauswagen und so zusagen dem Niemandsland Neuland abgewinnen. Ob es auch fruchtbar ist?

Wo aber dieser Erzähler nichts weiß, da stellt er keine Behauptungen auf, sondern tastet sich fragend an die Dinge heran. Das eben unterscheidet Handke etwa von Botho Strauß. Er handelt nicht mit Meinungen, sondern mit Wahrnehmungen. Pures Erzählen der Gegenwart, das Schwerste von allem, ist ihm genug.

Bezeichnender Satz: „So dichten, wie Bergsteiger miteinander reden, während sie am Seil hängen“. Kein überflüssiges Wort also. Freudig bestätigende, knappe Feststellungen wie „Ja. So ist es.“ sind Zielpunkte solchen Schreibens, das freilich allzeit bedroht ist, auf schwindelerregender Anhöhe nur noch in sich selbst zu kreisen.

Peter Handke: „In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus“. Roman. Suhrkamp-Verlag. 316 Seiten. 48 DM.




Ausblick ins Wunderbare – Neues Programm im Dortmunder „Luna“-Varieté

Von Bernd Berke

Dortmund. Wohin nimmt man Besuch von außerhalb mit, wenn man zeigen will, daß Dortmund eine „richtige Großstadt“ ist? Vielleicht ins Westfalenstadion. Doch es ist nicht immer Samstag, und Borussia-Karten sind rar. Na, dann eben in die Westfalenhalle. Oder aber: ins Variété „Luna“! So etwas hat beileibe nicht jede Gemeinde. Und dort gibt’s jetzt auch noch ein knackfrisches Programm.

„Live aus dem Luna“ lautet das Motto. Allabendlich kommen sogar die Typen eines (aktiven) Fernsehsenders, der die Show ausstrahlt und aufgekratzte Stimmung verlangt. Zwei schrille Regie-Helferinnen zeigen dem Publikum auf Täfelchen, was zu tun ist: „Applaus total!“ oder „Ausflippen!“ Wie es bei manchen echten Sendern eben so zugeht.

Das Variété hat gut spotten. Denn die Konkurrenz solcher TV-Mätzchen braucht man nicht zu fürchten. Die Zuschauer haben hier alles ganz nah vor Augen. Und nebenbei liegt das Genre auch im Trend des internationalen Theaters, das sich immer mehr circensische Elemente einverleibt.

Was also gibt es live zu sehen? Zum Beispiel das „Duo Nico“ aus Prag. Der junge Mann nimmt einen Dolch in den Mund und balanciert Trinkgläser auf dieses Messers schmaler Schneide. Wenn er den Dolch Spitze auf Spitze mit einem Schwert setzt und mit den wackligen Waffen gefährlich herumturnt, stockt dem Publikum der Atem. Seine Partnerin zeigt später, wie irrwitzig sie Dutzende von fluoreszierenden Hula-Hoop-Reifen kreisen lassen kann. Schön fürs Auge, hart für die Hüfte.

Triumph über die läppische Schwerkraft

Die beiden „Perris“ aus Rom führen Balanceakte an den Grenzen der Physik vor. So überaus schräg „klebt“ die Artistin droben an der Leiter, daß einem ein Sturz viel wahrscheinlicher vorkommt als das Gelingen. Toller Triumph über die scheinbar läppische Schwerkraft.

Für die komische Note sorgen – neben dem Berliner Conférencier Michael Genähr, der mit trockenem Charme durchs Programm führt – diesmal die „Stepinskis“. Die zwei Damen werden als VHS-Kursteilnehmerinnen aus Sprockhövel vorgestellt, kommen aber in Wahrheit auch von der Spree und sind natürlich alles andere als blutige Anfängerinnen. Bei ihren Stepptanz-Nummern gucken sie so begnadet blöd aus der Wäsche, daß man fast vergißt, wieviel Können in ihrer Darbietung steckt.

Fürs Übersinnliche sorgt der Bühnenzauberer Patrick Droude aus Paris. Sein Auftritt mit morbidem Beigeschmack ist ästhetisch so ausgeklügelt, daß er auch einen Weltstar „magischen“ Theaters wie Robert Wilson begeistern müßte. Eine Metallkugel, die wundersames Eigenleben entwickelt, und eine kerzengerade im Raume schwebende Frau – sie erscheinen nicht wie bloße Tricks, sondern wie Ausblicke ins wahrhaft Unerklärliche.

Übrigens: Zu einem Nonsens-Quiz werden jeweils zwei Leute aus dem Publikum auf die Bühne geholt. Bei der Premiere hat’s auch mich erwischt. Doch davon kein Wort mehr.

Luna-Varieté. Dortmund-Hombruch. Harkortstraße 57 a (Tel. 0231 / 77 31 96). Bis 29. Juni, Mi-Fr 20.00 Uhr, Sa 20 und 23 Uhr, So 15 und 19 Uhr.




So wienerisch hat’s hier noch nie geklungen – Großer Andrang zur Lesung von Ernst Jandl in Dortmund

Von Bernd Berke

So wienerisch hat es hier wohl noch nie geklungen. Der österreichische Dichter Ernst Jandl (71) trug bei seinem allerersten Leseauftritt in Dortmund lauter „Stanzen“ vor – Vierzeiler in alpenländischer Kunst-Mundart. Noch einer der verständlichsten Verse: „wissd bled samma r olle / owa so bled samma ned“.

Man hätte es ahnen können: Jandls famose Laut-Dichtungen haben schon andernorts Menschenmengen mobilisiert. So war s denn auch in Dortmund. Die Schlange im Museum für Kunst und Kulturgeschichte wand sich von der Rotunde im ersten Stock bis hinunter zur Hansastraße. Nach einigem Geschiebe kamen schließlich auch die Leute ‚rein, die nicht wohlweislich Karten reserviert hatten.

Jandl tat ihnen allen jedoch nicht den Gefallen, seine bekannten Zugnummern wie „Ottos Mops“ oder den Verwechslungs-Klassiker mit „lechts und rinks“ vorzutragen. Statt dessen also die Stanzen. Nach Art von Schnaderhüpferln, jenen Spottliedern mit abschließendem Jodler, täuschen diese Gedichte einen herzhaft volkstümlichen Tonfall vor. Aber die Inhalte! Alles , andere als gemütlich.

Körperlicher Verfall und Geschlechtsmerkmale

Jandls Alterswerk kreist vornehmlich um den nahenden Tod und körperlichen Verfall. Beispiel verzweifelter Komik und komischer Verzweiflung: „meine fiass schdeng im fuassboad / mei zahnbiaschdl schdeggd ma r im mäu / und dazwischen schauri zua / wia rosch in fafäu.“ Übersetzung wohl überflüssig.

Bei Teilen des Publikums machte sich vor der Pause schon mal ein wenig Unmut breit, weil Jandl viele drastische Zeilen über körperliche Ausscheidungen und – fast schon, besessen – über sekundäre Geschlechtsmerkmale wie „Dutteln“ verfaßt hat. Doch im Dialekt klang’s nahezu nett. Der Unmut gab sich also. Und die eisten lauschten Jandls Versen geradezu ergeben und ergriffen, um nur ja keine Feinheit zu verpassen. Schließlich hatte man ja auch 12 DM Eintritt berappt.

Doch was soll’s. Jandl ist unbezahlbar und unverwechselbar. Nicht zu vergessen: Jandl wurde vom Ziehharmonika-Spieler Erich Meixner begleitet. Der verlieh den Texten noch eine zusätzliche Dimension. Man konnte so recht „nachschmecken“, daß gar manche Strophe von Jandl wohl beim Heurigen entstanden sein muß.

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(wegen eines Druckerstreiks im Dortmunder Lokalteil der Westfälischen Rundschau)

 




Autoren sollen die Schulbänke drücken – NRW-Literaturrat wagt neuen Vorstoß

Von Bernd Berke

Im Westen. Wenn es um Aus- und Weiterbildung von Schriftstellern geht, spielen derzeit zwei südwestfälische Orte in den Überlegungen des NRW-Literaturrates eine besondere Rolle.

Die „April-Akademie“, kürzlich von der Wiener Schule für Dichtung in Lüdenscheid abgeschlossen (die WR berichtete), gilt als ein Modellfall. Und die Fernuni Hagen könnte (mit ihren landesweit 29 Anlaufstellen) eines Tages Zentrale einer allseits gut erreichbaren Autoren-Hochschule werden.

Der Literaturrat ist Sprachrohr für rund 30 Institutionen – vom Schriftstellerverband (VS) bis zu den Verlagen und Buchhandlungen. Der Vorsitzende Dr. Eugen Gerritz hält nicht viel vom literarischen Geniekult. Bildende Künstler, Schauspieler und Musiker würden von Meistern ihres Faches ausgebildet, Schriftsteller aber werkelten allein vor sich hin, oft auch ohne Hilfe von kompetenten Verlagslektoren. Selbst Goethe, so das Paradebeispiel, sei sich nicht zu schade gewesen, in Leipzig eine Art Autorenschule zu besuchen. Ausnahmeschriftsteller wie Nabokov hätten Kurse abgehalten.

Bessere Bestseller angepeilt

Überhaupt sei das Feld anderswo viel besser bestellt: In den USA habe fast jeder Autor handwerklichen Schliff an einer Hochschule bekommen. Bei uns aber stecke die Literatur in „selbstverschuldeter Isolation“. An Schulen und Unis gehe es fast nur um Deutung, nicht ums Verfassen von Texten. Daraus folgt die trübe Aussicht: „Germanisten produzieren immer wieder Germanisten.“

Bei näherer Betrachtung betrifft Gerritz‘ Plädoyer für eine geregelte Autorenausbildung freilich nicht so sehr die Spitzenprodukte der Zunft, sondern eher die Qualität des breiten Text-Ausstoßes. „Ich möchte, daß wir bessere Bestseller bekommen“, präzisiert Gerritz. Ernstzunehmende Autoren im publikumswirksamen Sektor kämen heute fast nur aus den angelsächsischen Ländern. Außerdem erhofft sich der Literaturrat von ausgebildeten Autoren spezielle Fertigkeiten, zum Beispiel mehr professionelle Drehbücher für Film und Fernsehen, gekonntere Opern-Libretti, Schlager- und Musical-Texte. Jeder hört tagtäglich, daß in diesen Bereichen besonders viel im Argen liegt.

Gerritz will jetzt seine „10 Thesen gegen die Isolation der Literatur unter den Künsten“ in Einzelgesprächen und bei Fachtagungen den Kulturpolitikern schmackhaft machen. Auch Einrichtungen wie die Fernuni Hagen, der Dortmunder Studiengang Journalistik oder die von Rundfunkanstalten in Köln betriebene „Schreibschule e. V.“ sollen in die Debatte einbezogen werden. Gerritz zuversichtlich: „Heute geht es nicht mehr darum, ob man Literatur lehren kann, sondern nur noch: wie!“




Was die Walnuß der Eiche erzählt – Botho Strauß und sein Tagebuch „Die Fehler des Kopisten“

Von Bernd Berke

Botho Strauß ist beileibe nicht der erste Autor des Jahrhunderts, der aus der Stadt flüchtet. um innere Einkehr auf dem Lande zu finden. Aber er ist derzeit der Bekannteste. Ihn zog’s aus dem brodelnden Berlin in die Weiten der ostdeutschen Uckermark, eine Gegend „unter dem ärmsten Himmelsstrich“. Dort hat er sich und seinem Sohn Diu ein Haus bauen lassen, dort schrieb er sein neues Buch „Die Fehler des Kopisten“. Ist es das Dokument einer Flucht aus Zeit und Welt?

Also schreibt Strauß, auf einsamer Warte der Natur ansichtig: „Und die Eiche sagt, was das Rauschen der Walnuß ihr eingab.“ Oder auch: „Die Goldammern rasten in der Eiche. Ihr einfältiger Staccatoruf: Wie wie wie / hab ich dich lieb.“ Solche Sätze klingen fast nach Biedermeier und Gartenlaube; als wäre der Autor, der doch wie kaum ein anderer fähig ist zur trennschärfsten Wahrnehmung und Formulierung, selbst gern unterwegs zu einer grandiosen Einfalt angesichts dessen, was von der Schöpfung übrig ist.

Eines Tages kommt die „digitale Magie“

Andererseits sinnt er mit einigem Tiefgang nach über das verwehende Bild des Menschen zwischen Internet und Biotechnologie. Erst von einem nach-technischen Zeitalter erhofft er sich so etwas wie „digitale Magie“. Zwiespalt, Wirrnis oder höhere Weisheit: Einerseits registriert Strauß die (gescheiterten) Ost-Biographien im Dorfe. Sieht er jedoch einen Hirten, ist jener gleich Bote der Mythenwelt.

Nach „Salto rückwärts“ sieht in diesen Tagebuch-AufZeichnungen manche Passage aus. Nicht mit dem bitterernsten Furor seines vielfach mißverstandenen (weil mißverstehbaren) „Anschwellenden Bockgesangs“ predigt er hier die Rückkehr zu Mythos, Ritual und Kulthandlung, sondern manchmal geradezu entspannt, doch mit leiser Dringlichkeît, immer wieder aphoristisch zugespitzt: „Jedes Tabu ist besser als ein zerstörtes.“

Mit dem Papst einer Meinung

Seinen Fimmel für rare Fremdworte („mnemogene Reize“) hätschelt Strauß weiterhin und beschädigt damit seine Sprache. Daß er gern entlegene Lektüre zur geistigen Abgrenzung heranzieht, läßt solch eine Hinleitung ahnen: „Reck-Melleczewen zitiert das von Ortega angeführte Wort Hermann Weyls …“ Das vernimmt vielleicht mancher ebenso ehrfürchtig wie diese Redewendung: „Mit Aristoteles und dem Papst teile ich die Überzeugung, daß …“ Bescheidener und wahrhaftiger klingt dies: „Es ist kein Kunststück, aus jeder Masse Eliten zu züchten. Wohl aber ist es eins, die Verblödung in der Breitenausdehnung zu begrenzen.“

Einschulung führt ins Verderben

Mit dem Papst teilt Strauß übrigens manche Meinung. Schärfste Verwünschungen schleudert er gegen Marx und Brecht. Er geißelt die „pornographische Rundumbetreuung“ des Bürgers, die unweigerlich zu realen Perversionen wie Kindesmißbrauch führe. Seinen kleinen Sohn, der – von Strauß nahezu vergöttert – als bewegendes Zentrum all dieser Notizen fungiert, mag der Dichter nicht im Geiste kritischen Mißtrauens aufwachsen sehen, sondern in Glauben und Gebet.

Nüchterne demokratische Erziehung ist Strauß ein Greuel. Dius Einschulung kann aus solchem Blickwinkel nur ins allmähliche Verderben naturhaft-guter Anlagen führen. Strauß als später Nachfahre Jean-Jacques Rousseaus. Viel lieber sähe er seinen Jungen (und also die Welt) mit althergebrachten Formen des Kampfes, der Trauer und des Glücks vertraut. Formlosigkeit, aus der jegliche Gewalt hervorgehe, sei das Grundübel dieser Epoche. Und unser aller Leben? „So viel Vorgeschmack auf die Hölle. So wenig Nachgeschmack vom Paradies.“

Das Elend der Zeitgenossenschaft

Gegen gängiges Psycho-Gewäsch zieht Strauß zu Felde, gegen mediale Verseuchung und Zeitgenossenschaft überhaupt. Und er, der „Ungesellige“, der die Menge („die schnell bewegten Fleischklumpen“) abgründig verachtet, aber schönste Worte für Freude und Leiden im Angesicht einzelner Menschen findet, seufzt über den üblichen Umgang: „Irgendwann wird man der alltäglichen Durchtriebenheit müde.“

Wolkenzug, Tiere und Pflanzen der Uckermark bergen Trost, wecken aber auch brennende Sehnsucht. Vom „Einstweh“ nach Kindheit und Vergangenheit ergriffen, wird der Autor ganz schwebenden Sinnes oder wunderbar hellsichtig. Wie mitfühlend er das Dahinschwinden alter Menschen beschreibt! Als Beobachter und Diagnostiker, der sich bewußt weit außerhalb der Zeitströmung ansiedelt, bleibt Strauß unentbehrlich. Doch seinen Therapie-Angeboten mag man nicht immer trauen.

Botho Strauß: „Die Fehler des Kopisten“. Hanser. 208 S., 34 DM.




Fünf Minuten nach dem Abendmahl ist alles ganz anders – Cappenberg zeigt Kunst aus dem Atelier von Tiepolo

Von Bernd Berke

Selm-Cappenberg. Man muß nur den richtigen Zeitpunkt erwischen. Beispielsweise das biblische Abendmahl einmal nicht in vollem Gange zeigen, wenn Jesus und seine Jünger noch bei Tische versammelt sind, sondern – die Situation fünf Minuten danach. Da ist Bewegung in die sonst so gravitätische Szenerie geraten. Man sieht gerade noch, wie einer aus dem Räume eilt, die Tafel wird derweil bereits abgeräumt und gesäubert.

Domenico Tiepolo hatte diese skurrile Idee anno 1743, als derlei Bilder Leuten von strenger Denkungsart noch als lästerlich gelten konnten. Jener Domenico war einer der begabten Söhne des ungleich berühmteren Spätbarock-Meisters Giovanni Battista Tiepolo (1696-1770). Dem Venezianer und seinem straff organisierten Atelier, in dem Söhne und sonstige Schüler je nach Auftragslage eingesetzt wurden, ist nun eine bemerkenswerte Ausstellung im Schloß Cappenberg gewidmet.

Kreativer Wirrwarr der Studienblätter

Gezeigt werden 108 Zeichnungen und Druckgraphiken aus dem Berliner Bestand der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die abermals Cappenberg als ihr bevorzugtes „Schaufenster“ in NRW nutzt. Betreut hat die Schau Dr. Hein-Thomas Schulze Altcappenberg, der damit – der Nachname läßt es ahnen – an den Ort seiner Kindheit zurückkehrt.

Tiepolo, von dem es z. B. in Würzburg und Udine grandiose Deckenfresken gibt, tritt mit den bescheideneren Bildformaten natürlich nicht als Gigant in Erscheinung. Gleichwohl erkennt man den Genius auch in der kleinen Form, so etwa im kreativen Wirrwarr der Studienblätter. Ein Novum in der Kunstgeschichte war seinerzeit, daß der experimentierfreudige Tiepolo seriell arbeitete und bestimmten Motiven Dutzende von Varianten und Ausdruckswerten abgewann. So zeichnete er von der Heiligen Familie nicht weniger als 75 Fassungen. Mal wird das Wunder der Geburt Christi betont, dann wieder die Durchschnittsfamilie hervorgehoben oder gar ein parodistischer Strich riskiert.

Auch eine Kreuzabnahme zeigt Tiepolo dermaßen gewagt von unten her, daß Jesus hilflos verrenkt aussieht. Es war bereits die Ära der Aufklärung, der dogmatische Glaube begann zu schwinden. Tiepolos Welt ist denn auch nicht mehr felsenfest, sondern – in Scherzi und Capriccios – aus den Fugen geraten. Die vom Philosophen Jürgen Habermas für unsere Zeit diagnostizierte „neue Unübersichtlichkeit“ – es gab sie wohl schon damals. Jedenfalls haben Tiepolos gelegentlich radikale Darstellungen auch Goya beeinflußt.

Schräge Typen im gierigen Venedig

Besonders interessant sind Skizzen und Studien für Tiepolos große Deckengemälde. Der Künstler erprobt hier, fast einem Werbestrategen vergleichbar, ebenso phantasievoll wie rationell die optischen Wirkungsmöglichkeiten, die er später nur noch „abrufen“ muß. Tiepolo zeigt Figuren aus Bibel und Mythologie in extremer, manchmal nahezu abstrakter Untersicht, ganz so, als erblicke man sie mit zurückgelegtem Kopf an der Decke. Früher hat man Tiepolo einmal vorgeworfen, er übertreibe auf diese Weise Nasenlöcher und Fußsohlen seiner Gestalten. Heute schätzt man die kunstvolle Verzerrung. Mit famosem Kalkül plant Tiepolo bei seinen Deckenstudien zudem unfehlbare „Blickfänger“ ein, zum Beispiel geweitete Augen, die direkt auf den Betrachter gerichtet sind.

Ob bei Skizzen oder ausgeführten Arbeiten: Tiepolo erzielt stets eine lichte Plastizität, die verblüfft. Seine Söhne Domenico und Lorenzo sind, wie sich in Cappenberg feststellen läßt, mehr als nur bemühte Schüler. Zumal Lorenzos Karikaturen von schrägen Typen, die damals das polizeistaatlich stickige, aber unterschwellig lust- und lebensgierige Venedig bevölkerten, sind fürwahr kleine Geniestreiche.

„Kalkül und Phantasie“ – Giovanni Battista Tiepolo und sein Atelier. Schloß Cappenberg (Selm-Cappenberg). Bis 22. Juni. Di-So 10 bis 17.30 Uhr. Eintritt frei, Katalog 25 DM.




Auf der Klippe zum Tod – Die Irland-Bilderzyklen von K. H. Hödicke in der Kunsthalle Wuppertal-Barmen

Von Bernd Berke

Wuppertal. Grenz-Erfahrungen haben den Maler K. H. Hödicke von jeher inspiriert. Als Berlin noch in zwei Hälften zerfallen war, hatte der renommierte Anreger der „Neuen Wilden“ ein Atelier in einer Stadtwüstenei direkt an der Mauer, so daß er in den Ostteil blicken konnte. Seit 1981 verbringt er jeden Sommer im geteilten Irland. Dort sind jene Bilderzyklen entstanden, die jetzt das Wuppertaler Von der Heydt-Museum präsentiert.

Was gibt es in der einsamen zerklüfteten Gegend von Connemara im Nordwesten der Insel zu sehen? Nun, der Motivkanon ist auf eine Weise begrenzt, die das innere Erleben bereichert. Gerade in der faszinierenden Kargheit kann sich der Künstler, nicht abgelenkt durch grelle Vielfalt, um so intensiver mit den Nuancen des Sichtbaren und mit dem eigentlichen Malvorgang befassen.

Die Vielfalt der Schafe

Salopp gesagt: Wer beispielsweise immer wieder Schafe zeigt, kann Schafe immer wieder anders zeigen. Die Tiere treten tatsächlich auf etwa der Hälfte der rund 80 ausgestellten Bilder in Erscheinung. Es scheint so, als habe Hödicke die Schwankungen seiner seelischen Befindlichkeit in den wolligen Wesen dargestellt. Mal trotten die Schafe ruhig als Gruppe daher, mal stehen sie einzeln da wie Monumente, oder ihre Gestalt blitzt nur auf wie eine Karikatur des Kreatürlichen. Andere werden zu Markte gebracht und verkauft, wieder andere als blutige Opfertiere dargebracht. Auf einigen Arbeiten rücken die hohlen Schädel toter Lämmer ganz in den Vordergrund und fügen sich zu düsteren Ornamenten an der Grenze zur Abstraktion.

Häufig wiederkehrende Motive in dieser raun (und übrigens völlig frauenlosen) Welt sind auch die Vegetation – und Kneipenszenen, freilich nicht aus touristischem Blickwinkel gesehen, sondern stets existentiell verdichtet. Die Bilder aus den Pubs wirken seltsam dumpf und bedrückend. Hödicke zeigt triste Ansichten des Trunks: Von Wind und Wetter, Lebenssorgen und Alkohol gegerbte Gesichter, einsam aufragende Gläser, eine Anzahl von Beinen auf Barhockern, unter denen ein Hund vor sich hin stiert.

Feuerrote Fuchsien

Ein in seiner ganzen Gestik unterschwellig aggressives Musikanten-Bild aus diesem Zyklus greift – lautmalerisch verballhornt – einen irischen Werbeslogan gegen Alkohol auf, der auch zum Ausstellungstitel wurde: „Havapaintamilkaday“, entzerrt und übersetzt etwa: Trinke täglich einen Pint (ca. einen halben Liter) Milch. Vertrackte Anspielung: „Pint“ wird von den Iren etwa wie wie „Paint“ ausgesprochen – und das wiederum heißt malen. Das tägliche Bild – ein Lebens-Mittel des Künstlers.

In der westirischen Pflanzenwelt haben es Hödicke besonders die feuerroten Fuchsien angetan. Mit ihnen und mit roten Lampions feiert er wahre Orgien glühender Farbigkeit. Eingefaßt in bedrohliches Schwarz, werden die Blüten zu Fanalen eines Lebens auf der Klippe zum Tode. Einer leuchtenden Fuchsienhecke gibt er den Untertitel „Wo sind die Heckenschützen?“ Ganz so, als sei die Naturschönheit durch den (nord)irischen Konflikt vergiftet.

Des weiteren sehen wir Grenzzäune und Pfosten, Stacheldraht, einen bildfüllenden tiefbraunen Torf-Abstich oder zwei Männer, die ein Boot tragen. Einfache Dinge, einfaches Tun. Fast wie in archaischen Zeiten.

K. H. Hödicke – „Havapaintamilkaday“ – Irland-Bilder 1981-1996. Kunsthalle Wuppertal- Barmen, Geschwister-Scholl-Platz. 20. April bis 1. Juni. Di-So 10-17 Uhr. Katalog 39 DM.




Neugierige Leute in fremden Badezimmern – Max Goldts erzkomische Kolumnen unter dem Buchtitel „Ä“

Von Bernd Berke

Mit eminent komischen Kolumnen im Satireblatt „Titanic“ ergötzt Max Goldt allmonatlich jene Leute, die er gern liebevoll als „Lesefröschchen“ anredet. Das Buch mit dem ergreifenden Titel „Ä“ versammelt Goldts neuere Beiträge.

Mit dem inflationär verwendeten Begriff „Kult“ sollte man vorsichtig sein. Aber Max Goldt wird es sich gefallen lassen müssen, daß man seiner Schreibe dieses Etikett aufpappt. Für solche blitzenden Nebenbei-Beobachtungen, die Goldt hundertfach zufallen, muß man eben wahre Muße und wachen Geist besitzen: daß im deutschen Fernsehen für alles geworben wird, aber nimmer für Salz; daß kein Mensch mal die Courage hat, die übliche Dekorations-Ananas am Frühstücksbüffet im Hotel aufzufuttern; daß ökologisch behauchte Schickis gern zum Edel-Bio-Türken gehen und sich dort mit „Grüß dich, Mehmet“ anbiedern.

Halsbrecherische Überleitungen

Wer, außer eben Max Goldt, wagt es schon, aus den Untiefen des täglichen Leben geschürfte Wahrheiten so gelassen auszusprechen: „Fast jeder, der in einer fremden Wohnung aufs Klo geht, macht das Badezimmerschränkchen auf und guckt, was drin ist.“ Und dann, diskret ins Naßraum-Detail gehend: „Resttröpfchengetränkte Klofußumpuschelungen sind nicht sehr hübsch.“

Goldt, der mit zuweilen halsbrecherischen Überleitungen durchs Gelände seiner Einfälle kurvt, hat ein feines Gespür für verschrobene Alltags-Komik. Von gängigen Meinungen läßt er sich dabei nie beirren. Und er schreibt gleichsam das intime Kollektiv-Tagebuch- seiner Generation mit: Wer, der heute so etwa zwischen 30 und 50 ist, hätte als Schüler denn etwa nicht die wöchentlichen Hitparaden („bis Rang 50″) in seine Schulhefte gepinnt? Aber kaum einer gibt‘s zu. Und bei folgenden Sätzen zu den tiefen Gräben von damals, ja, da weht einen doch das ganze Pennäler-Elend wieder an: „Ich war katholisch-Pelikan-Nesquick. Bei Kindern, die evangelisch-Geha-Kaba waren, roch es anders…“

Das Verhalten von lästigen Fetengästen weiß Goldt so trefflich zu skizzieren wie die gelangweilte Art des Personals in „Szene“-Kneipen. Die „Beschriftung der Bevölkerung“ (Texte auf Jacken und T-Shirts) entgeht ihm ebenso wenig wie der Witz am Warensortiment von Aldi. Wer je im ländlichen Schwaben war, wird vielleicht diese üble Übertreibung genießen: „Aus jedem Fenster blickt eine gute Hutzelantin mit kartoffelverdreckten Händen, die Arme auf ein Sofakissen gelagert. Im Hintergrund…ein Kanarienvogel oder sonst ein Zwitschikus…“

Wie man Deutsche in Paris erkennt

Gerade in Klischees stecken, wenn man sie so umstülpt wie Max Goldt, leuchtende Erkenntnisse. Was schwatzen die Leute denn schon im Internet? Mutmaßlich so etwas: „Was ist deine Levis-Größe? – 32/32 – Toll, ich habe auch 32/32, da können wir uns doch treffen, wenn du mal in Lüdenscheid bist.“

Und woran erkennt man deutsche Touristlnnen in Paris? Meistens „daran, daß sie sich um die Straßenmusikanten am Centre Pompidou scharen, mit dem Kopf wackeln und mit um den Po gebundenenPullovern ekstatisch tanzen… Die Deutschen müssen immer zeigen, wie unverkrampft sie sind, und ihre Ich-bin-die-Desirée-aus-Tübingen-und-habe-soviel-Körpergefühl-wie-der-gesamte-Senegal-Show abziehen.“ Ertappt!

Max Goldt: „Ä“. Kolumnen. 204 Seiten, 32 DM.




Wo man trinkt, da läßt sich’s dichten: „Wasser genügt nicht“ – Gasthausgedichte von Johannes Kühn

Von Bernd Berke

Seltsam, daß ein Ort, an dem so viel Freizeit hingebracht wird, nicht mehr poetische Texte hervorruft. Die Kneipe ist hierzulande nahezu dichtungsfreies Gelände.

Wo ist sie geblieben, die Tradition sinnenfroher Trinklieder? Ein Ire würde über derlei verbale Abstinenz nur den Kopf schütteln. Doch jetzt scheint endlich Abhilfe zu nahen: „Wasser genügt nicht“ nennt Johannes Kühn seinen Band mit Gasthausgedichten.

Kühn ist Stammgast in einem saarländischen Dorfausschank. Vom Ecktisch aus, den Stoß Papier vor sich, beobachtet der Lyriker das tägliche Treiben in diesem sozialen Biotop. Sein Gedichtband beginnt mit litaneihaften Einladungen des Wirtes, doch bitteschön an Tisch oder Tresen Platz zu nehmen. Ein therapeutisches Angebot mit pekuniären Triebkräften, denn verdienen will er auch, der gute Mann. Den Durst der Kundschaft würde er am liebsten herbeihexen:

„Seid ihr zu kurz gekommen / im Leben? Tretet ein bei mir! / Ich habe Gläser aus Kristall / mit langen Stielen. / Und was hineinkommt, das stammt / aus Weinbergen, / in die im Sommer / die rasenden Sonnentage springen, / die Trauben unter Blättern zu beglühn. / Sie blasen Flammen über jede Dolde.“

Zeilen von bezwingender Rhythmik und satter Sprachkraft, weit über den unmittelbaren Anlaß hinaus. Und es sind ja auch keine bloßen Kneipenlieder, sondern es ist der Blick auf die Welt aus besonderer Perspektive, gleichsam die optisch Brechung des großen Ganzen in jenem Glase, das vor dem Dichter steht. Denkt man an Oden von Friedrich Hölderlin, liegt man nicht so falsch. Den nämlich verehrt Kühn als Lehrmeister. Und in seinen allerbesten Momenten kommt er ihm nah.

Im Verlauf des Bandes wird das zuweilen komische, zumeist jedoch tragische Typen-Panoptikum vorgeführt, das sich im Wirtshaus einfindet. Wir hören von elend lauten Schwätzern, Sturzbetrunkenen, einsam vor sich hin sabbernden Gestalten. Manches gerinnt zur Genre-Szene wie auf alten Gemälden.

Ohne ein Wort Dialekt zu schreiben, vermittelt Kühn den anheimelnden, im Grunde aber stets etwas stumpfen und herb-säuerlichen Geschmack einer Region, die offenbar von wachsender Armut geprägt ist. Die Rest-Idylle dieses abgelegenen Winkels, in dem gelegentlich noch Schafhirten den Weg kreuzen, ist allzeit bedroht. Es ist, als seien manche Menschen, die hier auftauchen, die letzten ihrer Art, und als wolle der Dichter auch sie bewahren, indem er gegen das rasche Dahinschwinden von Natur, Geborgenheit und Heimat anschreibt. Angesichts gefällter Dorfbäume heißt es resignierend:

„Was brauchen wir? / Nur die Maschine, / die Sägemehl / zurückstanzt / zu einem Prachtbaum… Keinen Grashalm kann der Mensch bis heut erschaffen.“

Auch im Gasthaus entgeht man, allen Beschwörungen des Wirtes zum Trotz, nicht immer den Gedanken an die Ungastlichkeit der Welt. Und doch spendet die Kneipe als ein Ort der Zuflucht Hoffnung

„Zufrieden wird man nicht mit Morden, / doch mit Bier.“ Wie wahr, wie wahr.

Johannes Kühn: „Wasser genügt nicht“. Gasthausgedichte. Hanser Verlag. 132 S., 26 DM.

 




Marilyn Monroe und die Liaison mit dem Unglück – Neuer Deutungsversuch über ihre Ehe mit Arthur Miller

Von Bernd Berke

Es gibt diese exorbitanten Beziehungen, in denen Gefühlslagen ihrer Zeit in Liebesdingen zum Ausdruck kommen und dann von vielen, vielen Menschen nachgeträumt werden. Auch dann, wenn es eigentlich Alpträume sind. Else Lasker-Schüler und Gottfried Benn, Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, John Lennon und Yoko Ono hatten solch beispielhafte Verhältnisse – oder auch Marilyn Monroe und Arthur Miller.

Aus exemplarischen Verbindungen zwischen berühmten Männern und Frauen bestreitet Rowohlt Berlin eine ganze Buchreihe. Jetzt ist Christa Maerkers Band zur Liaison Monroe/Miller erschienen.

Schon die Zeitgenossen, allen voran die Presse, sehen in der Verbindung zwischen dem Hollywood-Star und dem Dramatiker („Tod eines Handlungsreisenden“, „Hexenjagd“) eine geradezu mythische Qualität und bringen es auf die gemeine Formel: „Kopf heiratet Körper“. Die Autorin Christa Maerker sucht dies (wie so manche Biographen vor ihr) zu entkräften, wo sie nur kann. Sie schildert Marilyn Monroe als hypersensible junge Frau, die als Kind zwischen wechselnden Pflegeeltern und Heimen hin und her geschubst wurde.

Rilke-Lektüre in den Drehpausen

Ihr Vater hatte sich aus dem Staub gemacht, die Mutter war dauerhaft psychisch krank. Sarkastisch gesagt: Allerbeste Voraussetzungen für eine negative Muster-Biographie, für fortwährendes Unglück, das sich in der Ehe mit dem etwas unterbelichteten Ex-Baseballstar Joe DiMaggio Bahn bricht.

Die darstellerisch überaus begabte Marilyn (bürgerlich: Norma Jeane Mortenson), die sich völlig verwandelt, sobald sie nur in ein Kameraauge blickt, liest in den Drehpausen z. B. Rilke-Gedichte und straft damit das Klischee vom blonden Dummchen offenbar Lügen. Oder ist es nur ein Fall von verzweifelter Ambition, gar von Persönlichkeits-Spaltung? Im Gefolge der Psychologin Alice Miller entdeckt Christa Maerker in Marilyns Lebenslauf jedenfalls das „Drama des begabten Kindes“.

In Hollywood zählt vor allem Marilyns leiblich-weibliche Erscheinung. Dabei will sie eben kein Kurvenstar sein, sondern unbedingt ernsthafte Rollen spielen. Welch eine Schmach, daß ausgerechnet der sonst so stockseriöse Laurence Olivier sie beim ersten Augenschein ein „süßes kleines Ding“ nennt und sich sofort verknallt. Auch er also…

Der ideale Ersatzvater?

Sie sehnt sich danach, das Star-Gehabe abzulegen und – es sind die 50er Jahre – endlich für einen Mann kochen, putzen und waschen zu dürfen. All den Rollen-Zwiespalt bekämpft sie mit Alkohol, Tabletten, flüchtigen Liebschaften.

Geradezu magnetisch bewegen sich alsdann die Lebenslinien von Marilyn und Arthur Miller aufeinander zu. Miller schien, so befindet Christa Maerker, der ideale Ersatzvater für Marilyn zu sein, sie habe ihn „Daddy“ genannt. Freilich wird das frische Eheglück schon 1956 getrübt, weil (so die Deutung) beide „zu hoch geträumt“, weil sie zuviel Erlösung voneinander erwartet hätten. Bis 1962 quälen sich die zwei dahin, Marilyn tröstete sich mehr schlecht als recht mit Yves Montand, mit John F. Kennedy und anderen.

Vor lauter Liebe das Atmen vergessen

Christa Maerker kann gar nicht umhin, sich aus vorhandenem Material zu bedienen, zumal aus Millers Autobiographie „Zeitkurven“ und Donald Spotos Marilyn-Biographie. Man kann es ihr kaum verübeln, daß sie parteilich aus Frauenperspektive schreibt (im Zweifel immer für Marilyn) und Arthur Miller jede klitzekleine Verfehlung vorrechnet.

Gelegentlich stochert Frau Maerker etwas ratlos in den Quellen herum und kramt diverse psychologische Erklärungsmuster hervor, dann wieder gibt sie sich allwissend, als sei sie stets dabei gewesen. Über Marilyns erste Begegnung mit Miller schreibt sie: „Als Marilyn seine Hand berührt, vergißt sie zu atmen… Marilyn Monroe hält die Luft an, schüchtern, ängstlich, hoffnungsvoll und beseelt, und Arthur Miller stößt sie in einem Erleichterungsseufzer aus.“

Trotz Solcher Schwächen versteht es Christa Maerker, das Interesse an ihrer Darstellung wachzuhalten. Kein Wunder. Von vielfältig schillernden Phänomenen wie Marilyn Monroe wird man noch sehr lange reden und raunen.

Christa Maerker: Marilyn Monroe / Arthur Miller (Reihe „Paare“). Illustriert mit Schwarzweiß-Fotos. Rowohlt Berlin. 186 Seiten, 34 DM.




Nicht als Sau geboren, sondern zur Sau gemacht – Marie Darrieussecq und ihr erstaunliches Roman-Debüt „Schweinerei“

Von Bernd Berke

Wie schreibt man Bestseller? Schwer zu sagen. Aber ein Grundrezept scheint es zu geben: Man habe eine markante Idee, die sich auf dem Markt der Möglichkeiten behauptet. Sodann verbeiße man sich in den Einfall und treibe ihn auf die Spitze.

In Patrick Süskinds „Das Parfüm“ taugte das feine Geruchsempfinden der Hauptperson als besonderes Markenzeichen, in Sten Nadolnys „Die Entdeckung der Langsamkeit“ die besondere Zeit-Erfahrung des Heiden – und bei Marie Darrieussecq ist es nun eine junge Frau, die sich in ein Schwein verwandelt. Figuren, die man sich ein für allemal merkt.

Die namenlose Ich-Erzählerin des Romans „Schweinerei“ ist anfangs so attraktiv, daß es die meisten Männer mit ihr treiben wollen. Überall stellen ihr schmierige Typen nach: in der Metro, vor der Kabine im Schwimmbad und am Arbeitsplatz. Aus Not hat sie jenen Job bei einer Kosmetikfirma angenommen. Für einen Hungerlohn (gezahlt in Euros, denn man schreibt das Jahr 1999) ist sie dort im Hinterzimmer der vorwiegend perversen männlichen Kundschaft zu Willen.

Sie ist also sozusagen von lauter maskulinen Ferkeln umstellt, die sie zur Sau machen und mutiert allmählich wirklich zum Schwein, so als wüchse sich ihre verzweifelte Opferrolle zur Groteske aus. Es ist wie ein stummer, drastischer Protest: Zuerst wird ihre Haut seltsam rosig, dann wird sie immer fetter, bekommt Borsten und grunzt.

Mörderische Diktatur der Tierhasser

Immer gebieterischer meldet sich sodann die Lust auf Trüffel und rohe Kartoffeln, es wachsen Zitzen statt der Brüste – und schließlich wird ihr sauwohl zumute, wenn sie sich im Schlamm suhlt. Menschliche und tierische Empfindungen mischen sich qualvoll. Doch solche Zwischenzustände scheinen – in unmenschlichen Zeiten – am Ende auch eine Perspektive des Überdauerns zu eröffnen.

Die Metamorphose schützt allerdings nicht völlig vor der gierigen Männerwelt: Auch mit dieser „Miss Piggy“ wollen manche Herren ihr schmutziges Vergnügen haben. Und dann bricht auch noch eine fürchterliche Diktatur der Tier- und Naturhasser aus, deren Schergen die Silvesternacht aufs Jahr 2000 mit blutigen Sex- und Ekel-Orgien begehen. Ein bißchen Orwell, ein bißchen Marquis de Sade. Apokalypse allenthalben.

Marie Darrieussecq (geboren 1969), deren Romanerstling 1996 in Frankreich der Millionenerfolg war, schlägt sofort jenes stets etwas gehetzt wirkende Erzähltempo an, das sie bis zum Schluß durchhält. Sie wechselt nie den Gang, fährt geradeaus und in Kurven immer gleich schnell.

Ein machtvoller Mitteilungsdrang wird hier spürbar, ein sprachlicher Sog, der vielleicht kommende literarische Großtaten ankündigt. Doch diesmal braucht die Autorin noch viel zu viele Worte, um nur ja all die Einzelheiten des körperlichen Wandels ihrer Anti-Heldin zu beglaubigen. Überdies hat sie Mühe, solche Äußerlichkeiten mit inneren Vorgängen zu verknüpfen.

Die Hauptfigur ist naiv und damit immun gegen so manche Zumutung. Noch die viehischsten Taten nimmt sie achselzuckend zur Kenntnis. Als sie sieht, wie eine andere Frau nach einer massenhaften Vergewaltigung hingerichtet wird, heißt es über den Mörder lapidar: „Da war ich doch enttäuscht von ihm.“ Hinter solchen Bemerkungen verbirgt sich bodenlose Bitterkeit über eine Welt, die immerzu aus Tätern und Opfern besteht.

Marie Darrieussecq: „Schweinerei“. Roman. Übersetzt von Frank Heibert. Carl Hanser Verlag, 151 Seiten. 34 DM.




Zum Geist des Theaters gehört auch der Streit – Bochumer Ausstellung über Bühnenbilder von Gunilla Palmstierna-Weiss

Von Bernd Berke

Bochum. Schon mit 14 Jahren hat sie literarische Texte von Felix Timmermans aus dem Flämischen ins Schwedische übersetzt und als Buch publiziert. Zur gleichen Zeit betätigte sie sich als beachtliche Bildhauerin. Von der doppelten Liebe zur Literatur und zum Bildnerischen, die sich alsbald im Theater bündelte, ist diese Frau bis heute beseelt. Gunilla Palmstierna-Weiss, Witwe des berühmten Autors Peter Weiss, müßte es gar nicht betonen: „Ich bin keine Berufs-Witwe. Ich bin berufstätig.“

Jetzt stellt die Schwedin im Museum Bochum ihre bühnenbildnerischen Arbeiten aus. Zu sehen sind vor allem exakte Modelle – im Puppenstubenformat, freilich auf staunenswertem Kunstniveau. Frau Palmstierna-Weiss (Jahrgang 1928) ist selbstbewußt genug, um sich als Ko-Regisseurin solcher Größen wie Ingmar Bergman oder Peter Brook zu begreifen. Auch mit Fritz Kortner, Hans Lietzau und vielen anderen hat sie zusammengearbeitet.

Bestechende formale Klarheit

Wenn sie vom Werden gewisser Inszenierungen erzählt, begreift man, daß Theater nicht zuletzt aus Streit-Prozessen hervorgeht. Ohne Krach hinter den Kulissen ist wahre Produktivität kaum zu haben. Zumal mit Ingmar Bergman hat sich Frau Palmstierna-Weiss besonders gern auseinandergesetzt. Oft mußte nicht sie nachgeben, sondern er.

Die Bühnenbilder, Theaterplakate und Kostüm-Figurinen füllen in Bochum eine weitläufige Etage. Die Arbeiten bestechen sogleich durch entschiedene formale Reduktion und Klarheit. Nichts wuchert hier ohne Sinn, alle Elemente verweisen auf den Geist des Stückes. Gerade deshalb haften solche Schöpfungen mehr im Gedächtnis als jeder aufdringliche Firlefanz, weil sie dem ästhetischen Ganzen dienen und zuinnerst mit dem jeweiligen Stück verknüpft sind. Das ist heutzutage schon eine bemerkenswerte Qualität.

Bertolt Brechts Kreidekreis auf dem Fußballfeld

Auf bestimmte Stücke ist Gunilla Palmstierna immer wieder zurückgekommen: Fünfmal hat sie Strindbergs „Fräulein Julie“ bildnerisch gedeutet, gleichfalls fünfmal auch seinen „Totentanz“. Natürlich hat sie auch die Werke ihres Mannes („Trotzki im Exil“, „Die Ermittlung“, „Gesang vom Lusitanischen Popanz“ usw.) des öfteren ausgestattet.

Ihre Einfälle sind nicht weit hergeholt, sondern zwingend: Mozarts „Figaro“ rückt Frau Palmstierna-Weiss mit strenger Bauhaus-Ästhetik zuleibe, Lorcas „Bluthochzeit“ begeht sie mit Anspielungen auf Francisco Goya, für Shakespeares „Was ihr wollt“ stellt sie ein elisabethanisches Theater auf die Szenerie, Brechts „Kaukasischer Kreidekreis“ wird zum Anstoßkreis eines Fußballfeldes – und für Peter Weiss‘ „Der neue Prozeß“ collagiert sie Tafeln aus Reportagefotos mit Ausschnitten aus Gemälden von Hieronymus Bosch – Sinnbilder der Hölle auf Erden.

Farbiger Abglanz des einstigen Bühnenlebens

Die Bochumer Ausstellung wirkt so durchdacht und stimmig, daß sie (unerfüllbare) Lust auf die zugehörigen Inszenierungen weckt. Wie schade, daß es die höchstens noch als Filmaufzeichnungen gibt, daß Theater so flüchtig ist: „ Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze…“

Immerhin haben wir in Bochum einen farbigen Abglanz des einstigen Bühnenlebens. Und wir erfahren sehr sinnlich, welch enorme Bedeutung Farbskala und Lichtführung für die Stimmungswerte einer Regiearbeit haben. Gunilla Palmstierna stuft alle Bühnen- und Kostümelemente genau aufeinander ab. Farbtabellen, die an komplizierte Stundenpläne erinnern, zeugen von dieser Feinarbeit. Und wie grundlegend sich ein Bühnenbild durch wechselnde Beleuchtung verändert, das kann man als Besucher mit dem Dimmer-Schalter an einem Modell selbst ausprobieren. Es werde Licht…

Gunilla Palmstierna-Weiss. Bis 6. April im Museum Bochum, Kortumstraße 147. Di/Do/Fr/Sa 11-17, Mi 11-20 Uhr, So 11-18 Uhr, Mo geschlossen. Katalog 18 DM.




Kultur muß bohrende Fragen stellen – August Everding in Dortmund: Musicals sind nur „Amüsemang“

Von Bernd Berke

Dortmund. Die dichte Bühnen-Landschaft des Reviers findet er einfach großartig. Daß man hier gelegentlich zwei Varianten derselben Oper in zwei benachbarten Städten sehen könne, sei doch eine Gnade. Dies sagt einer, der es wohl wissen muß: August Everding, Generalintendant der Bayerischen Staatstheater, Präsident des Deutschen Bühnenvereins und Inhaber vieler anderer ehrenvoller Kulturämter. Gestern weilte der gebürtige Bottroper – „erstmals seit 30 Jahren“ – in Dortmund.

Bei einer Pressekonferenz im Dortmunder Harenberg City-Center, wo er am Abend aus seinem Buch „Zur Sache, wenn’s beliebt“ las. machte sich der ungebrochen vitale und redegewandte Everding (nächtliche Schlafzeit: vier Stunden) abermals für öffentlich geförderte Kultur stark. Er verstehe gut das Unterhaltungsbedürfnis und den Run aufs Musical, er selbst inszeniere hin und wieder ein solches. Aber wirkliche „Kultur“ sei das alles nicht – und auch kein echtes Amüsement, sondern, wie der Berliner schnoddrig sage, bestenfalls „Amüsemang“. Nach einem Musicalabend „sind alle Fragen gelöst und alles ist befriedet“. Kultur müsse hingegen bohrende Fragen stellen, müsse eine Art Unfrieden stiften. Dies werde eine Produktion, die ohne öffentliches Geld wirtschaften müsse, niemals riskieren.

Mit einem halben Liter Wasser durch die ganze Wüste

Subventionen tun also not. Everding kennt die Zahlen, kennt die Verhältnisse genau: „Private Sponsoren geben jährlich 550 Mio. DM für Kultur. Bund, Länder und Gemeinden wenden pro Jahr 15 Millarden DM dafür auf – ungleich mehr also, aber nur „gerade mal ein Prozent des Bruttosozialprodukts.“ Sollte dieser Betrag gekappt werden, dürfe sich Deutschland nicht mehr Kulturnation nennen.

Irreführend sei schon die landesübliche Wortwahl. Everding: „Es ist ganz falsch, wenn man sagt, die Theater sollten „sparen“. Sparen könne im Grunde nur, wer zuviel Geld habe. Beim Theater komme man sich aber inzwischen so vor, als müsse man „mit einem halben Liter Wasser durch die ganze Wüste gehen.“ Und wie soll es dann richtig heißen? Everding: „Wir können nicht sparen, sondern uns höchstens noch mehr einschränken.“

Berliner Größenwahn? – „Ich bleibe in München!“

Einschränken? Ja, beispielsweise durch Theaterfusionen, wie es sie landauf landab immer häufiger gibt. Everding sieht darin freilich kein Allheilmittel. Eine Kooperation wie bei der Rheinoper Düsseldorf / Duisburg habe sich bewährt, beim neu gebildeten „Schillertheater“ (Wuppertal und Gelsenkirchen) müsse man die Entwicklung abwarten. Grundsätzlich gelte: „Jedes Stadttheater ist erhaltenswert, der Vielfalt wegen.“

Everding nahm in Dortmund auch zu neuesten Gerüchten Stellung, die Wiens Burgtheater-Intendant Claus Peymann – wie berichtet – in einem „Spiegel^-Gespräch aufgebracht hatte. Everding, so hatte Peymann lanciert, sei weit und breit der einzige Mann, der ein gigantisches Berliner „National-Theater“ der Zukunft leiten könne und der (im Verein mit Berlins Kultursenator Radunski) auch gezielt darauf hin arbeite.

August Everding stellte gestern klar: „Ich bleibe in München!“ Eine Zusammenfassung der Berliner Bühnen unter dem Dach eines National-Theaters wäre nach seiner Meinung sowieso Größenwahn. Everding allergisch: „Wenn ich schon das Wort ,national‘ höre…“




Wo man fürs Theater den roten Teppich ausrollt – „Helios“-Truppe zieht von Köln nach Hamm

Von Bernd Berke

Hamm. Ein kultureller Vorgang von Seltenheitswert: Da siedelt eine Bühne aus der Metropole Köln an den östlichen Rand des Reviers um und wird im bisher theaterlosen Hamm bald über eine eigene Spielstätte verfügen.

Die Rede ist vom „Helios“-Theater, benannt nach dem altgriechischen Sonnengott. In Köln hielt es die 14köpfige Truppe nicht mehr, weil sie inmitten der kulturellen Fülle am Rhein nicht mehr sonderlich auffiel und weil, so findet „Helios“-Chefin Barbara Kölling, die dortige Kommunalpolitik den freien Theatern kein gutes Pflaster bereite.

Ganz anders in der Provinz. In Hamm, wo bislang nur Tourneebühnen Station machten, rollt man den „Helios‘-Leuten, allesamt ausgebildete Profis, den roten Teppich aus und behandelt sie fast wie ein Stadttheater. Durch Umschichtungen im Etat gelang das Kunststück: 100.000 DM pro Jahr, etwa ein Viertel des Gesamtbedarfs, erhält die Gruppe von der Kommune, die zudem den VHS-Bürgersaal theatertauglich umbaut. Hinzu kommen Landeszuschüsse und Sponsorengeld.

„Helios“ soll in Hamm pro Jahr zwei bis drei Premieren herausbringen und künftig von hier aus Gastspiel-Tourneen starten. Enge Kooperation ist mit den Städten Unna, Kamen und Lünen vorgesehen, aber auch Arnsberg zählt zur Dauerkundschaft. Mit derlei Regionalbezug sieht man sich selbst gar als „Modellfall (Kölling), was auch die Geldgeber beim Land zur Großzügigkeit bewogen habe. Dazu beigetragen hat wohl auch der Ruf der Gruppe, die bei etlichen Festivals (wie etwa dem Dortmunder „Theaterzwang“) aufgetreten ist.

Weil die „Helios“-Produktionen landes- und bundesweit offeriert werden, konkurriert die Gruppe direkt mit dem Westfälischen Landestheater (WLT), das seine Fäden von Castrop-Rauxel aus zieht. Und was wird bei „Helios“ gespielt? Vorzugsweise eine eigenwillige Mischung aus (zumeist selbstverfaßten) Texten, Tanz und Musik. Für Kinder hat man stets etwas im Angebot. Doch die neueste Eigenschöpfung handelt von einer „starken Frau“ der Historie, der Nobelpreisträgerin Marie Curie. Die Hammer Premiere am 1. März ist bereits ausverkauft. Ein gutes Omen.

Infos/Karten: Kulturamt Hamm 02381 / 17 55 55.

 




Handke im Sonnenschein – Claus Peymann inszeniert „Zurüstungen für die Unsterblichkeit“ am Wiener Burgtheater

Von Bernd Berke

Wien. Auf der Bühne des Burgtheaters war am Samstag viel von Vorfrühlings-Hoffnung die Rede. Und als die Uraufführung von Peter Handkes „Zurüstungen für die Unsterblichkeit“ nach vier Stunden vorüber war, funkelte eitel Sonnenschein: Der Dichter, sonst allen Auftritten vor der Menge abhold, kobolzte – nach kurzer Verlegenheitsfrist – mit Regisseur Claus Peymann vor dem frenetisch jubelnden Publikum.

Zwei Herren, die schon einige Kapitel Theatergeschichte geschrieben haben, benahmen sich für ein paar Sekunden wie zwei fröhliche kleine Knaben.

Kein Gegenwartsautor, ausgenommen Botho Strauß, hat sich so sehr dem weihevollen Ton verschrieben wie Handke. Auch im neuen Stück spricht er oftmals wie ein Seher oder Prediger. Dies wird wieder Scharen von Spottdrosseln auf den Marktplatz rufen. Doch nach Peymanns Uraufführung werden sie’s nicht leicht haben.

Schwere Passagen wirken federleicht

Denn der hat vorgebaut. Er hat mit seinem Ensemble diesem hie und da zum monologischen Vortrag neigenden Text wundersames Bühnenleben eingehaucht. Ohne ironisch zu denunzieren oder die Sache herabzustufen, läßt er selbst schwerste Passagen federleicht und gelöst erscheinen.

Schutt- und Aschelandschaft, schräg zum Zuschauerraum hin gekippt (Bühnenbild: Achim Freyer): Dies ist die namenlose, lang isolierte, dann von fremder Macht kriegerisch unterworfene Enklave. Man hat schon gerätselt, welche Ländereien Handke meint. Österreich, von Deutschland beherrscht? Anspielungen auf Ex-Jugoslawien? Halten wir’s mit Goethe: Wer den Dichter will verstehen, muß in Dichters Lande gehen.

Verheißungsvolle Augenblicke sammeln

In der Enklave, die später aufblüht, lebt ein Volk, das in seine Niederlagen immer vertieft und vernarrt war, das nie einen Helden oder nennenswerte Historie hervorgebracht hat. Fruchtbarer, gleichsam jungfräulicher Humus also für völligen Neubeginn. Und damit ein Nährboden für das fortwährende Projekt des Peter Handke: Durchs wahrhafte, gänzlich unvoreingenommene Anschauen der Dinge Raum, Ziel und Maß zu gewinnen für ein würdigeres Erdendasein. Dies sind denn auch „Zurüstungen für die Unsterblichkeit“: beständiges Ansammeln verheißungsvoller Dinge und Augenblicke, um, wenn schon nicht gleich zum Sinn, so doch vorderhand zum „Nicht-Unsinn des Lebens“ (Stückzitat) vorzudringen.

Zwei merkwürdige Helden, die in der Enklave geboren werden, sollen die neue Ära ins Werk setzen: die Vettern Pablo (Gert Voss), stets drangvoll kampf- und siegbereit, und Felipe (Johann Adam Oest), ein ewig fröhlicher Versager. Jeder hat seinen Teil der Wahrheit. Der eine pulvert auf, der andere besänftigt. Grandios, wie Voss und Oest diese eher als Prinzipien entworfenen Wesen als Charaktere von Fleisch und Blut gestalten.

Das weitere Personal wirkt wie ein fernes Nachglühen praller Shakespeare-Welten: Die Erzählerin (Anne Bennent), als holde Elfe im regenbogenfarbenen Röckchen, mit taubeglänzter Sprache und träumerischen Gesten alle beschwingend; ein Idiot (Urs Hefti) als gelegentlich weiser Narr; das durch eine einzige Figur dargestellte Volk (Martin Schwab), allergisch gegen Botschaften, mit bescheidenem Wohlstand zufrieden…

Zwischen Drachen und Fabeltieren

Sprachmächtiges Künden, aber auch Clownerie wechseln mit Passagen wortloser Begebenheiten, bei denen das „ganz Andere“ als Möglichkeit aufscheint. In der herrlich wandelbaren Szenerie, in der Drachen aufsteigen, Vögel fleuchen oder Fabeltiere einherziehen, entfaltet sich ein kaum erschöpfliches Denk- und Sinn-Spiel, ein eigentümlicher Sagen- und Legendenstoff von neuem, unerhörtem Königtum und Gesetzgebung zum ewigen Frieden.

Lauscht man genau, hat freilich schon Handke selbst dem Pathos immer wieder die Spitze geknickt. Das „Königsdrama“ (Untertitel) handelt weniger von Gekrönten als vom Königsweg zur befriedeten Menschlichkeit. Es ist von hier und jetzt, auch wenn es entschieden übers „Heute“ hinaus will. Und jene allzeit die Enklavenbewohner bedrohende „Raumverdränger-Rotte“, die mit „1-D-Brillen“ und Echo-Saugern alle räumlichen oder zeitlichen Staffelungen (und damit jede Sehnsucht) von der Erde tilgen will, kann man sich gut als Vorhut einer entseelten, technisch-virtuellen Zukunft vorstellen.




Der Zauberer zeigt, was hinter den Dingen leuchtet – Zeichnungen und Aquarelle von Paul Klee in Hamm

Von Bernd Berke

Hamm. Einige wenige Künstler sind über Zweifel ziemlich erhaben. Pablo Picasso zählt dazu – und gewiß auch Paul Klee. Wollte sich einer erdreisten, Klee herabzustufen, so würde sich dieser Jemand selbst disqualifizieren. Umso erstaunlicher, daß von solch einem Künstler wesentliche Werkteile noch nicht zusammenhängend gezeigt worden sind. Unglaublich gar, daß man noch viele verschollene Bilder aufspüren kann.

Die jetzt in Hamm eröffnete Ausstellung „Paul Klee – Reisen in den Süden“ birgt stille Sensationen. Denn die Klee-Expertin Frau Dr. Uta Gerlach, die 107 Aquarelle und Zeichnungen zusammengetragen hat, konnte 13 Arbeiten auftreiben, von denen man geglaubt hatte, sie seien auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Weitere 26 Werke werden entweder erstmals oder (nach Jahrzehnten im Depot) erneut öffentlich gezeigt.

Paul Klee (1879-1940),. hat sein Oeuvre selbst akribisch dokumentiert. Ab 1911 hat er rund 10 000 Blätter und Leinwände numeriert und ins Werkverzeichnis aufgenommen. Er war offensichtlich kein Jäger-Charakter unter den Menschen, sondern ein Sammler, der wohl auch an die Nachwelt dachte. Jedenfalls erleichtern seine Listen heute die korrekte Zuschreibung.

Südliche Reisen in das andere Licht

Reisen in den Süden also, Reisen ins Licht. Hier waren Farbklänge zu entdecken, die der Norden einfach nicht hergab – zu schweigen vom meteorologischen und menschlichen Klima, das die bereitwilligen Sinne anregt und öffnet.

Die Italienfahrt von anno 1901 hat man, des geringen künstlerischen Ertrages wegen, ausgeblendet 1914 fuhr Klee mit August Macke und Louis Moilliet nach Tunesien. Über diese legendäre Trio-Tour war 1982 im Landesmuseum Münster eine große Ausstellung zu sehen, an die in Hamm einige Stücke erinnern. Weitere Stationen sind Sizilien (1924), Italien und Elba (1926), Südfrankreich und Korsika (1927).

Der Schwerpunkt aber liegt, der ägyptologischen Sammlung des Gustav-Lübcke-Museums gemäß, auf Klees Streifzügen durch das Land am Nil (1928/29). Einige Motive, die Klee dort vorgefunden hat, kann man hier sogleich in archäologischen Originalen bewundern.

Klee, Meister der Abstraktion, hat sich innig an der Natur geschult. Hellwache Wahrnehmung landschaftlicher Realität beweisen zahlreiche Skizzen von Felsformationen oder Küstenlinien, die fast als Vorläge für Landkarten dienen könnten. Klee nahm sie ins Werkverzeichnis auf. Es sind tatsächlich keine bloßen Abbilder der Wirklichkeit, sondern bereits künstlerisch inspirierte Vergewisserungen.

Wo alles Farbe und Bewegung wird

Hochinteressant ist es nun zu sehen, wie solche Landschaften oder auch Häuser zu gültigen Chiffren umgestaltet werden. Es ist, als habe Klee einen magischen Blick, der die Dinge in eine andere, wahrhaftigere Welt überführt, in der alles Farbe und strömende Bewegung wird.

Vielfältig sind die Ausdrucksformen: Von einer solchen Feinheit der Strichführung zeugen manche Blätter, daß man denkt, Klee habe etwa die diesigen Luftschichten, gleichsam den Schleier vor den Dingen, mitgezeichnet. Andere Arbeiten, wie etwa die „Scene vor einer arabischen Stadt“ oder „Predigt für Wüstentiere“, sind kleine Grotesken feinsinnigen Humors. Die „Ruinen von Git“ werden pointillistisch dargestellt und wirken wie ein antikes Mosaik. „Blick in das Fruchtland“, eines der subtilen Farbstreifen-Bilder Klees, weckt die Ur-Idee gedeihlichen Wachstums auf der guten Mutter Erde.

Klee schuf eigene Hieroglyphen, überließ sich dem Rätsel der Sphinx und zitierte geisterhaft die Pyramidenform herbei. Doch nie wird der Blick dieses Seelen-Zauberers touristisch. Immer zeigt er unendlich viel mehr, als man mit bloßem Auge sehen kann.

Paul Klee – „Reisen in den Süden“. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstraße 9. Bis 13. April, täglich (außer montags) 10-18 Uhr, mittwochs bis 20 Uhr. Eintritt 12 DM. Katalog 52 DM.




Ein braver Willy Loman – „Tod eines Handlungsreisenden“ in einer wenig aufregenden Inszenierung

Von Bernd Berke

Dortmund. Die Wohnung der Lomans wirkt in Hans Winklers Dortmunder Bühnenbild ungeheuer aufgeräumt, alles ist schrecklich fein an seinem Platz. Wie in einer Puppenstube. Wenn der Handlungsreisende Willy Loman nach Hause kommt, hilft ihm seine Frau Linda eilfertig in die Pantoffeln. Hier scheint die Welt noch in alter Ordnung zu sein – ganz im Sinne der 50er Jahre.

Damals ist sie ja auch entstanden, Arthur Millers dramatische Elegie vom „Tod eines Handlungsreisenden“ – und sie ward zum mehr oder weniger qualvollen Lernstoff zahlloser Englischstunden, freilich auch zum Glanzstoff für berühmte Schauspieler von Heinz Rühmann bis Dustin Hoffman.

Andreas Weißert sieht aus wie eine fatale Kreuzung aus Andy Warhol und Loriot, wenn er mißmutig die Szene betritt. „Pappa ante portas“, wie es bei Loriot hieß, sprich: Der Vater wird von nun an oft daheim sein und den Seinen auf die Nerven gehen, denn in seinem Job gilt er nur noch als Niete.

Doch so komisch wie bei Vicco von Bülow geht es hier beileibe nicht zu, auch wenn sich die Regie (Clemens Bechtel) müht, den einen oder anderen Lacher herauszukitzeln. Die Lebenslüge, mit der Willy Loman sich vormacht, er oder seine verbummelten Söhne Biff (Joachim Meyerhoff) und Happy (Jörg Ratjen) würden eines Tages das ganz große Los des amerikanischen Traumspiels ziehen, mündet in Wahn und Fieber, ist letztlich selbstmörderisch. Gern nähme Loman das Leben wie einen Sport. Nur allseits beliebt müsse man sein, dann finde sich schon das weitere. Dabei sind in Wahrheit schon die nächsten Raten fällig…

Seltsam schlingernder Weg durch das Stück

Seltsam schlingernd führt der Weg in Dortmund durch das Stück. Mal treten die Personen recht polterig und maulend auf, dann wieder etwas steifbeinig, zögerlich und verdruckst. Daran ändern auch die gelegentlich vollführten Revueschritte, Sinnbild der Leichtfertigkeit, wenig: Überblick, Formsinn und Eleganz sind nicht gerade die Tugenden dieser Inszenierung, wohl aber im einzelnen eine sympathische Engelsgeduld mit den Figuren, die Platz und Zeit bekommen, sich zu entfalten, wenngleich der Ertrag an Zwischentönen diesem liebevollen Zuwarten nicht durchweg entspricht.

In jenenTraumszenen, in die Loman unversehens hineingleitet und in denen seine Söhne plötzlich wieder als Kinder in kurzen Hosen hemmtollen, wird ziemlich hohl und haltlos gealbert. Da wird etwas zuschanden, was zuvor sensibel errichtet wurde.

Die Tragik als Familiensyndrom

Andere Passagen wiederum, so etwa Lomans hoffnungsloser Besuch beim Chef Howard (Thomas Gumpert), besitzen starke Binnenspannung, da sitzt jedes Wort wie ein Pfeil. Auch das Schweigen ist dann kein bloßes Stummsein, sondern beredt und schmerzlich aufgeladen mit Bedeutung. Und Felicitas Wolff als Lomans Ehefrau Linda hat intensive Momente als Ikone der Duldsamkeit. Überhaupt wird klar ausgeleuchtet, daß sich die Tragik nicht auf Willy Loman beschränkt, sondern als Familiensyndrom alle erfaßt.

Ein paar sentimentale Weitschweifigkeiten hat man dem Text (hier in der Kino-Übersetzung von Volker Schlöndorff) ausgebtrieben. Dennoch bleibt das Unterfangen insgesamt zu brav und behutsam. Vielleicht hat der junge Regisseur denn doch zuviel Respekt. Produktiv zergliedert oder gestülpt hat er das Stück an keiner Stelle. So bleibt in Dortmund abermals der Eindruck einer soliden, aber nicht wirklich aufregenden Theaterarbeit.

Termine: 29. Jan., 13. und 14. Feb.




Nur ein kleinbürgerliches Ferkel – Uraufführung von Franz Xaver Kroetz‘ „Der Dichter als Schwein“

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Man stelle sich vor, jemand ließe immerzu ein Tonbandgerät etwa in seiner Wohnküche mitlaufen. Alle Worte und auch jeder Mist, den man schwätzt, würden aufgezeichnet und sodann schriftlich für Mit- und Nachwelt festgehalten. Schrecklicher Gedanke. Und schon eine schnurgerade Hinleitung zu Franz Xaver Kroetz‘ Stück „Der Dichter als Schwein“, das jetzt in Düsseldorf zur Uraufführung gelangte.

Bereits zwischen 1986 und 1988 hat Kroetz diesen ungefügen Text aus seiner Feder rinnen lassen. Mit guten Gründen hat sich seither niemand heranwagen wollen an dieses allseits ausufernde, so gut wie unverdichtete Geplapper, das – je nach Durchgangstempo – ungekürzt wohl für vier bis fünf Stunden Spieldauer gut wäre, von der Substanz her aber auf einige gedrechselte Aphorismen zusammenschnurren müßte.

In Düsseldorf, wo derzeit offenbar auch das Telefonbuch eine reelle Bühnenchance hätte, erlebt man nun die vorweihnachtliehe Bescherung, eine seltsame Mixtur aus Kraftmeierei und Weinerlichkeit.

Gipfelsturm zum fäkalischen Frohsinn

Rund um den Dichter Toni Keck (Jörg Pose) hat Kroetz all das aufgehäuft, was für unbürgerlich gilt. Dieser Keck ist ein Säufer, er treibt’s heftig bisexueil mit Inge (Veronika Bayer) und dem Schauspieler Max (Marcus Kiepe), die er ansonsten beide wie Sklaven behandelt, und er hat sich bei den Eskapaden wohl einen Tripper eingefangen.

Trotz all der Bemühungen bringt’s der Mann aber nicht zum wirklichen Schwein, sondern bloß zum kleinbürgerlichen Ferkel. Er wirkt wie ein reichlich unseriöser Verkäufer in eigener Sache.

So beginnt das Stück: Gerade hat Keck wegen eines Vorabendsuffs eine Lesereise nach Kairo platzen lassen (Ach, wäre er doch abgeflogen!), da klingeln auch schon seine drei Telefone: Regiegrößen wie Zadek und Peymann oder das Goethe-Institut wollen ihn unbedingt sprechen. Anhand dieser Telefonate serviert Kroetz klägliche Bruchstücke einer „Dramentheorie“. Wir erfahren beispielsweise, daß Gentechnik schwer fürs Theater umzusetzen sei, da man ja die Gene nicht sehen und zeigen könne. Potzblitz!

Hernach ist manchmal von der Nichtigkeit der Welt und oft von Sperma oder Exkrementen die ungebremste Rede. Als Keck seine bäuerlichen Bekannten in Bayern aufsucht, darf sich jeder mal so richtig vollsudeln, indem er/sie auf dicken Haufen von Hundescheiße ausgleitet und sich die stinkenden Schuhe sogleich am TV-Gerät abstreift. Welch ein Gipfelsturm fäkalischen Frohsinns!

Der Schmarrn läßt sich schwerlich mit Sinn durchdringen

Genug. Der Schmarrn läßt sich schwerlich mit Sinn durchdringen, man kann ihm nur ein paar Applikationen aufnähen – oder besser gleich: auf einen Schelmen anderthalbe setzen. Die Dramaturgie und die tapfere Regisseurin Thirza Bruncken haben zu mindest ein Drittel der Textmasse gekürzt. Dafür Dank.

Kroetz‘ Figuren werden wie Genre-Marionetten behandelt, und das läßt sich mit den versierten Darstellern auch passabel an. Mal agieren sie gravitätisch mit gepuderten Perücken, sozusagen in Opernkluft, dann wieder verfallen sie gezielt in dumpfes Bauerntheater oder hampeln in Revue- und Slapstick-Manier herum. Vermutlich sind derlei Wechselspiele ja auch postmodern – oder so ähnlich.

Man verbirgt zudem keineswegs, daß man über eine Drehbühne verfügt. Die saust in einem Akt ohne Unterlaß wie ein Karussell umher. Dabei bekommt man doch schon vom bloßen Text einen Drehwurm.

Das Stück konnte also nicht gerettet werden. Die Schauspieler hatten halt was zu spielen. Der Betrieb geht weiter. Fragt sich nur, wie: Bei dieser Uraufführung klafften enorme Lücken im Parkett, der Beifall war begrenzt. Erosionserscheinungen?

Termine: 27., 30. Dezember 1996 – 3. und 10. Januar 1997.




Damit die Erinnerung nicht erstarrt – Wilhelm Genazinos Prosaband „Das Licht brennt ein Loch in den Tag“

Von Bernd Berke

Alles, was einem geschehen ist, erstarrt allmählich in der Erinnerung. Ein vages Vorzeichen des Todes. Gibt es ein Entkommen? Wilhelm Genazinos famoser Prosaband „Das Licht brennt ein Loch in den Tag“ begibt sich auf die Suche nach dem Fluchtweg.

Durchaus rätselhaft erscheint dem literarischen „Ich“ die Welt. Es beklagt seine „Verlegenheit vor dem Leben“. Auch seinen Erinnerungen traut dieser Mann nicht. Also schreibt er Briefe an offenbar ferne Freunde und Freundinnen – stets verbunden mit der Bitte, den Verfasser eines Tages, falls nötig, an frühere Vorlieben, Gewohnheiten und kleine Obsessionen zu erinnern.

Ein solches weitverstreutes „Erinnerungsdepot“ könnte vielleicht Halt bieten. Denn dieser Ängstliche, der seine Briefe nur mit ,„W.“ unterzeichnet, mag sich andererseits nicht abfinden mit dem bloß archivarischen Gedächtnis. Er notiert als Gegenmittel: „Es genügt, das innere Fortsprechen der Ereignisse ernst zu nehmen und ihm zu folgen.“

Und also streunt er, scheinbar ziellos, durch seine Erinnerungen, wo er etwa Kindheits-Lieblingsworte wie „Pauspapier“ vorfindet Und er flaniert als anonymer Beobachter durch die Stadt. Sein schweifender Blick registriert, vornehmlich in Restaurants und auf Bahnfahrten, zumeist unscheinbare, aus seiner Sicht aber befremdliche Szenen aus dem Dasein der anderen: den Angestellten, dessen Attaché-Koffer in der Bahn aufspringt und den peinlichen Blick auf lachhaftes Spielzeug freigibt; die Hure, die mit eiskalter Routine ihre grotesk gestaffelte Preisliste herunterrattert; den Arbeitslosen, der in der City Kindertrompeten feilbietet; das tagsüber verkrustende Butterbrot, das den Geist einer ganzen Ehe versinnbildlicht. Und dies sind nur die faßbarsten Vorfälle.

Eine ganz eigentümliche Chemie der gemischten Empfindungen und Zwischen-Zustände kommt in den 115 Kurzkapiteln zustande, oft melancholisch grundiert und der Verzweiflung zugeneigt, aber kleinste Zeichen der Hoffnung aufsuchend. Und die liegen am Ende wohl gar nicht in der peinvollen Erinnerung, sondern im Trost des Vergessens, im „bildlosen Abschied“, wie es einmal heißt.

Das Außerordentliche an Genazinos Prosa: Sie erfaßt all die flüchtigen Vorgänge amSaum zwischen Wirklichkeit und Wahn, an der Grenze zum Unsagbaren in einer staunenswert unaufwendigen Sprache. So rätselhaft die Inhalte sein mögen, so wundervoll leicht ist dieses Buch doch zu lesen. Und diese lakonische, aber feinstens tarierte Sprache führt keinerlei Thesen, Beweise oder auch nur Meinungen mit sich, sondern nur banges Staunen und Fragen. In dieser unaufdringlichen, aber höchst eindringlichen Art ist das heute von kaum einem anderen Autor zu erwarten.

Wilhelm Genazino: «Das Licht brennt ein Loch in den Tag“. Prosa. Rowohlt-Verlag, 126 Seiten. 32 DM.




Leiden am falschen Leben – Anna Badora inszeniert Tschechows „Iwanow“ in Düsseldorf

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Kaum ist der Bühnenvorhang beiseite gezogen, da läßt Iwanow einen kleinen weißen Flugdrachen quer über die karge Szenerie segeln. Das gibt schon den ersten Beifall. Nimm’s leicht – nimm Tschechow.

Doch eigentlich ist dieser Iwanow (Artus-Maria Matthiessen), eine frühe Schöpfung des russischen Dichters, von namenloser Melancholie befallen. Erschöpft hat sich Iwanows Liebe zu seiner Frau Anna (Anke Schubert). Überhaupt hat sich seine Lebensenergie verflüchtigt. Alles ist ihm zur Neige gegangen. Um diesen bedauernswerten Menschen kreist und trudelt das Stück wie um eine leere Mitte.

Regisseurin Anna Badora, bislang von der Kritik nicht eben verwöhnte Intendantin des Düsseldorfer Schauspielhauses, will sich offenbar nicht nachsagen lassen, sie habe das Rätsel von Iwanows „Krankheit zum Tode“ nicht gelöst. Als süßsaure Typenkomödie führt sie das Bestiarium einer versoffenen und geldgierigen, vor allem aber zutiefst gelangweilten Gesellschaft vor, die nur noch in gelegentlichen Zornesausbrüchen Reste von Lebendigkeit verspürt.

Selbstgerechter Tugendbold als Gegenpol

Als moralischer Gegenpol geriert sich Annas Arzt Lwow (Thomas Schendel), der Iwanow als betrügerischen Mitgiftjäger entlarven will. Doch dieser penetrant selbstgerechte Tugendbold ist kaum weniger widerwärtig als die latenten Rassisten, die Intriganten, Zinswucherer und Zyniker, die dieses Drama bevölkern.

Das Leiden an solcher Umgebung läßt Iwanow also verzagen. Zudem krankt er am Utopie-Verlust. Sein Studienfreund Pavel Lebedew (Wolfgang Reinbacher) münzt einen verräterischen Satz auf Iwanows Jugendträume: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.“ Die Sentenz stammt nicht von Tschechow, sondern von Theodor W. Adorno, dem Vordenker der 68er-Studentenrevolte. Iwanow, einst leidenschaftlicher Verfechter der Landreform und des alternativen Wirtschaftens, gleicht einem gescheiterten „68er“. Auch eine Deutung.

Sie hilft freilich nicht weiter, wenn sich die Geschlechterfrage stellt. Iwanow verläßt allabendlich seine unheilbar schwindsüchtige Frau Anna (die einst seinetwegen ihren jüdischen Glauben aufgab und von ihren Eltern verstoßen wurde) und treibt sich im Salon seiner Gläubiger, der Lebedews, herum. Könnte er deren blutjunge Tochter Sascha (Bibiana Beglau) heiraten, wäre er aller Schulden ledig. Ein Schuft, aber mehr noch ein Schmerzensmann: Sein Gefühl allseitiger Sinnlosigkeit vergiftet jegliches Kalkül.

Untiefen des Textes kaum ausgelotet

Für derlei Verwehen und Vergehen, ja für jederlei Hinfälligkeit findet die Inszenierung keinen Ton. Meist steht sie zu fest auf dem Boden des vermeintlich gesunden Menschenverstandes, sie verfehlt den grassierenden Wahn, gerät nicht ins melancholische Schweben.

Stattdessen kommen die Akteure vielfach stampfend, dampfend oder gar schenkelschlagend daher. So können, trotz guter Ansätze in psychologischer Feinzeichnung, die Untiefen des Textes nicht ausgelotet werden. Selbst Iwanow und Anna wirken nicht wirklich versehrt, sondern so, als simulierten sie.

Nicht jene Fassung wird gespielt, in der Iwanow am Ende einfach tot niedersinkt, sonder jene, in der er sich erschießt. Ein Knalleffekt, nach dem die Schlußszene zum Tableau erstarrt.

Das Gefühl, recht ordentlich unterhalten worden zu sein, und ein gewisses Unbehagen halten sich die Waage. Das Premierenpublikum war angetan. Aber vom Geiste Tschechows war dieser Abend nicht.

Termine: 12., 13., 16., 22. und 25. Dez. – Karten: 0211/36 99 11.




Sanfte Spiele des Lichts – Münster: Der Neo-Impressionist Paul Signac und sein Einfluß auf die Moderne

Von Bernd Berke

Münster. Der französische Maler Paul Signac (1863-1935) verfocht eine Theorie: Wenn der Künstler die Farben in lauter winzigen Punkten auf die Leinwand setze, so müsse der Betrachter später nur in der richtigen Entfernung vom Bild stehen. Dann würden sich alle Tönungen auf natürlich gemischte Weise zeigen. Die Sache hat nur zwei Haken: Signac selbst hielt sich in der Praxis nicht an seine These – und sie stimmt auch gar nicht.

Anno 1944 hat ein US-Physiologe das Dogma von der „optischen Mischung“ widerlegt. Doch das tut der opulenten Münsteraner Schau über den Neo-Impressionisten Paul Signac und die von ihm beeinflußten Künstler überhaupt keinen Abbruch, im Gegenteil. Denn Signac und die anderen setzten die Vorgaben eben nicht sklavisch um.

Den Realismus hatte damals längst die Fotografie für sich gepachtet. Im Grunde geht es deshalb für die Maler zwischen 1890 und 1910 darum, die Gegenstände hinter sich zu lassen, indem sie die Farbe von der Bindung an dargestellte Menschen und Objekte befreien. Diesem Zweck dient auch der punktuelle Aufbau der Gemälde. Das schiere Flirren der vielen Farbpartikel überstrahlt die Inhalte.

Signac setzt eigentlich gar keine Punkte, sondern strichförmig gerichtete Tupfer. Er verwendet stets die Farben des Prismas, keine verwaschenen Töne. Vielleicht liegt es schon daran, daß seine Bilder unvermischte Freude an der Harmonie hervorrufen.

Jede Schattierung hat ihr Echo

Besonders die an sich schon flüchtigen Erscheinungen, wie etwa vom Nebel eingehüllte Landschaften oder das Spiel des Lichts auf Wasserflächen, erfaßt Signac auf unvergleichliche Art. Immer wieder hat er die Buchten von St. Tropez gemalt. Es ist sanfte Bewegung in diesen Bildern, als ob die Wellen wirklich schaukelten. Auch die Augen des Betrachters finden hier keinen dauerhaften Halt, sie müssen hin und her, kreuz und quer schweifen.

Und wie genau hat Signac seine Farben komponiert! Probe aufs Exempel: Würde man auch nur kleinste Partien der Bilder verdecken, so geriete alles aus dem Gleichgewicht. Jede Farbschattierung hat ihr Echo, ihre Entsprechung.

Die Münsteraner Ausstellung ist, zumindest für Deutschland, eine Pioniertat. Sie wertet das Werk von Paul Signac, der bisher immer etwas hinter seinem Zeitgenossen Georges Seurat verborgen blieb, mit guten Gründen auf und hebt ihn als Anreger gar auf eine Höhe mit Van Gogh.

Im breiten Strom der Kunstgeschichte

Freilich hat man die Einflüsse, die von Signac ausgegangen sein sollen, hie und da doch ein wenig überstrapaziert. Zwar hat auch ein Henri Edmond Cross seine Arbeiten punktförmig aufgebaut, doch neben Signac muß er geradezu als Kleinmeister untergehen.

Die vielleicht schönste Ausstellung des Jahres in Westfalen bietet jedoch Weltkunst en masse: Man will an ausgewählten Beispielen zeigen, daß solche Größen wie Henri Matisse, Maurice de Vlaminck oder André Derain anfangs Anregungen von Signac bezogen haben. Das gelingt auch recht gut, sind hier doch direkte Einflüsse nachweisbar. Signac wird zudem, worauf man nicht ohne Weiteres gekommen wäre, als Anreger auch des deutschen Expressionismus um Heckel, Kirchner und Rohlfs sichtbar. Mittler war der Hagener Mäzen Karl-Ernst Osthaus, der bereits 1901 ein Bild Signacs erwarb.

Schwieriger wird es schon, wenn etwa Werke von Wassily Kandinsky, Alexej Jawlensky, Piet Mondrian oder des nachmaligen Futuristen Umberto Boccioni von Signac hergeleitet werden. Allerdings: Im breiten langen Strom der Kunstgeschichte hat vieles unterschwellig miteinander zu tun. Genießen wir also die ganze schöne Schau als prachtvolle Schule des Sehens.

„Farben des Lichts“. Paul Signac und der Beginn der Moderne von Matisse bis Mondrian. Westfälisches Landesmuseum, Münster (Domplatz). 1. Dezember 1996 bis 16. Februar 1997. Di-So 10-18 Uhr. Eintritt 10 DM. Katalog 48 DM.

 




Schaubude des Unglücks – Nicky Silvers „Zwillingsbrut“ als deutsche Erstaufführung in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Was kommt heraus, wenn man bitterernste psychologische Fälle in die Form einer Seifenoper gießt? Nun, zum Beispiel so etwas wie Nicky Silvers US-Stück „Zwillingsbrut“, das jetzt als deutsche Erstaufführung (Regie: Harald Demmer) im Dortmunder Schauspielstudio gegeben wird. Das populäre Genre wird boshaft-lustvoll bedient und zugleich entlarvt.

Bernadette ist eine hysterische Schreckschraube, quasselsüchtig zum Steinerweichen, als nahezu niedliche Neurotikerin gespielt von Wiebke Mauss. Ihr Zwillingsbruder Sebastian (wie von Woody Allen erdacht: Michael Fuchs) betritt als erfolgloser und hochverschuldeter Ostküsten-Intellektueller die bonbonbunte Bühne der Beschädigten.

Bei Mutters Begräbnis, der ein von der Brause katapultierter Duschkopf den Garaus gemacht hat, begegnen sich die Geschwister. Im nervösen Pingpong der Fix-und-Fertig-Dialoge à la TV-Comedy zeigt sich hartnäckiger Hang zum Unglück. Bloß kein beschauliches Leben führen, es wäre ja wohl nicht zum Aushalten, oder?

Ausbruch zwecklos: Bernadettes Mann Kip (Thomas Gumpert), der nicht mehr Zahnarzt, sondern Maler sein und nackend-naturnah in Afrika leben will, ist eine hüftsteife Lachnummer. Für Sebastian hat der ganze Wahn beim Kindergeburtstag mit dem tristen Frohsinnsterror seines Miet-Clowns begonnen; damals, als sich Bernadette die Haare anzündete, weil sie den sengenden Geruch mochte. Jetzt, seit dem elf Jahre zurückliegenden Aids-Tod seines Freundes Simon, hat der schwule Sebastian keinen Menschen mehr richtig berührt. Nur der Briefwechsel mit einem Mörder im Knast (Christoph Schlemmer) hält sein Interesse am Leben halbwegs wach. Lockung des Abgrunds.

Verstorbene Mutter erscheint in Engelsgestalt

Sodann blitzen die Messer: Sebastians erbärmlich einsame Psychologin (Ines Burkhardt) sticht sich in einem Anfall von Gottsuchertum die Augen aus und vegetiert als zerlumpte Büßerin dahin. Ein geldgieriger Stricher schneidet Sebastian beim Oralsex beinahe das Kostbarste ab. Prompt erscheint die verstorbene Mutter in Engelsgestalt dem verwundeten Sohn und enthüllt: Sebastian ist bei einer Vergewaltigung gezeugt worden. Grelle Effekte in dichter Staffelung.

Ein Panoptikum von Schuld, Sühne und Selbstverstümmelung. Schaubude monströsen Unglücks, Verzweiflungs-Comic. Ganz recht also, wenn man das rasierklingenscharfe Stück in Dortmund auch mit den Mitteln der Schmiere ins Schrille schraubt. Beachtliche Schauspieler, die dies vollbringen, ohne daß es peinlich wird.

Und dann gibt es noch jene Traumspiel-Einschübe, in denen die Phantome eines besseren Daseins herumgeistern. Wenn sich Bernadette am Ende von ihrem Mann lossagt, um mit ihrem Baby und Sebastian eine Dreifaltigkeit zu bilden, kann man sich dies freilich nur als minimalen Glücks-Rest vorstellen: als endgültige Flucht in die Regression, in den seelischen Embryonalzustand. Solches Weh erfaßt keine handelsübliche Seifenoper.

Termine: 30. Nov., 1., 5. und 6. Dez., Karten: 0231/16 30 41.




Charakter-Komödien mit Huhn und Schwein – Helme Heines liebenswerte Bilderwelt in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Hühner, Hühner, Hühner. Und dann und wann ein Hahn. Federvieh hat’s dem Zeichner Helme Heine (55) offenbar besonders angetan. In seinem bekanntesten Bildband („Freunde“) erlebte ein stolzes Hähnchen mit Maus und Schwein allerliebste Abenteuer. Das Buch wurde weltweit millionenfach verbreitet und ist – so Heine – „meine Rentenversicherung“. Jetzt stellt er in Dortmund über 100 Originalblätter und 35 Objekte aus.

Man erlebt hier einen sehr vielseitigen Helme Heine, der nicht nur witzig-bunte Bildergeschichten für Kinder erfindet, sondern z. B. auch mit Theaterregie, Design oder Werbung reüssiert. Kunst geht nach Brot.

Der gebürtige Berliner, selbst übrigens kinderlos, hat vor vielen Jahren in der Nachbarschaft des legendären Fernseh-Zoologen Bernhard Grzimek gewohnt. Liegt’s etwa daran, daß Heine ein solches Faible für alles Animalische samt zugehöriger Komik entwickelt hat? Seine Hühner gibt’s inzwischen auch als Stofftiere, die – es weihnachtet bald – in einem eigens neben die Ausstellung gerückten Shop feilgeboten werden. Außerdem hat Heine einige der Knuddelviecher in (echte) Legebatterien gesteckt. Geht’s denen nun gut – oder wie?

Auf einer Schautafel verknüpft Heine die Hühner-Gestalt ironisch mit diversen Nationalcharakteren. Das französische Huhn trägt ein Baguette unter dem Flügel und pafft eine Selbstgedrehte. Das deutsche Huhn kommt krachledern daher, das amerikanische mit Mickey-Mouse-Öhrchen. Hühner dieser Welt – es ist wirklich zum Gackern! Auch von den Salzburger Oster-Festspielen gibt es was zu berichten. Gegeben wird die erschütternde Tragödie der Saison: Ein Huhn liegt gemeuchelt auf der Bühne, ein anderes küßt leidenschaftlich den Hasen und im Gestühl hält die fein gefiederte Gesellschaft den Atem an.

Alle Haltungen werden vor dem Spiegel erprobt

Auch wenn sich Helme Heine gelegentlich dem Kitsch geradezu wild entschlossen an die Brust wirft (Bau eines Schäfchenbettes), wird er doch nie platt. Eine gewisse, gleichsam frohen Mutes hingenommene Brüchigkeit ist seinen sämtlichen Schöpfungen eigen. Liebenswert bleiben sie immer.

Alle seine Figuren – ob Mensch, ob Tier – agieren mit genau beobachteter und feinsinnig wiedergegebener Körpersprache. In Heines Atelier steht ein großer Spiegel, vor dem er sämtliche Haltungen erprobt. Alles muß stimmen, muß „sitzen“. Seine Figuren und die knappen Texte entstehen also im Sinne einer Theater-Inszenierung. Charakterkomik, wenn man so will.

Ökologische Positionen sind vage zu erschließen (eitle Bärin trägt Stola mit Menschenkopf; Reh stakst auf Gewehrläufen statt Beinen), doch Heine ist kein Agitator. Selbst seine zunächst etwas verstörend wirkenden Kreuz-Installationen (Damenschuh ans Kreuz genagelt; grinsendes Gebiß wächst aus einem Balken) sind als Gruppierung halb so schlimm. Der Mann, der lange in Afrika lebte und heute ein Domizil in Irland hat, ist offenbar zu abgeklärt und weltweise, um sich noch im Übermaß zu erregen.

Helme Heine: „Der schöne Schein – Eine Reise durch seine Welt“. Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Dortmund, Hansastraße 3 (Führungen 0231/50-26028). Bis 9. Feb. 1997. Di-So 10-17Uhr. Eintritt 4 DM. Katalog 49,80 DM.




Kindheit mit Lederhosen und flotten Seifenkisten

Von Bernd Berke

Ja, genau! So hat es ausgesehen, das Gesicht jener Jahre. So haben wir damals als Kinder dreingeschaut: reichlich brav, höchstens mal verhalten frech – und noch ganz bescheiden gekleidet. Kein Gedanke an Markenware. Die kurze robuste Lederhose war schon ein ziemlicher Luxus. Wie hat man sie später gehaßt. Und irgendwann denkt man dann doch mit einem Anflug von Rührung an solche Zeichen der Dürftigkeit.

Es war die Zeit, in der so viele Jungen noch Klaus, Peter oder Wolfgang hießen – und die Mädchen vorzugsweise Barbara, Petra, Gisela oder Monika. Die einen wurden noch zum Höflichkeits-„Diener“ angehalten, die anderen trugen Zöpfe oder Pferdeschwänze und machten artige Knickse. Wie lang ist das her, eine versunkene Lebenswelt. Es waren die 50er Jahre, deren biographische Verarbeitung in letzter Zeit eine ganze Bücherflut ausgelöst hat. Immer mehr Mosaiksteinchen werden zum Bild der Adenauer-Ära zusammengesetzt.

Auf schwer beschreibbare Weise hängt man ja, wenn man damals aufgewachsen ist, mit etlichen Herzfasern an all diesen Anblicken und Gestalten, eben am Repertoire jener Jahre. Mit Erich Borrmanns Bildband „Kindheit im Ruhrgebiet in den 50er Jahren“ rückt einem dieses ganze Inventar noch näher, weil einem eben auch noch die Gegend vertraut ist.

Keinerlei Zeitkritik, nur pure Nostalgie

Nun gut, nicht alle Bilder haben die gleiche Qualität, aber sie vermitteln durchweg Zeitgeist. Man hätte sich zudem etwas weniger altbackene Begleittexte gewünscht, sie entstammen wirklich noch dem muffigen Geist der Fünfziger. Keine Spur von gedanklicher Durchdringung oder gar von Zeitkritik, nur pure Nostalgie und Idyllik. Trotz allem: Man hätte das Buch gern mindestens doppelt so dick, denn es läßt sich nun mal darin schwelgen.

Als Kind (Jahrgang‘ 52) habe ich noch ein paar Zipfel jener Zeit erlebt. Und es kommt mir vor, als hätte ich all diese Gesichter und Momente in dem Buch schon mal gesehen – den kleinen Kohlenschaufler mit Vaters übergroßem Hut auf dem Kopf; die Schulklasse, die in braven Zweierreihen ins Gebäude trottet und sich dort hinter die schäbigen Bänke mit den Tintenfäßchen klemmt; die Turnstunde mit diesen latschigen Gummisohlen-Sportschuhen; die Abschiedsszenen mit Eltern bei der Kinderlandverschickung (ja, so hießen damals gewisse Ferienfahrten); die barfüßigen Mädchen beim Seilchenspringen, andere beim Tausch von glitzernden Kleebildchen; die kleinen Schumis von damals in ihren tollen Seifenkisten. Und und und.

Seltsame Vorstellung, daß alle diese Kinder heute zwischen 40 und 50 Jahre alt sind. Sieht man solche Bilder, so ahnt man vage, was Menschen dieser Generation unterschwellig miteinander verbindet. Eine aus gleichen Erfahrungen gewachsene Art von Verstehen, über etliche individuelle Unterschiede hinweg. Heute verläuft die ganze Sache wohl ungleich diffuser.

Abenteuer zwischen Ruinen – Übung fürs Konsumleben

Der Weltkrieg war noch nicht allzu lang vorbei. Auf den Straßen sah man noch so viele Verwundete und Versehrte, denen Arme oder Beine fehlten. Wir tobten derweil, bis in die frühen 60er Jahre hinein, auf Trümmer- und Ruinengrundstücken herum. Und die Baustellen des Wirtschaftswunders wurden gleich fröhlich mit in Beschlag genommen. Welch ein Abenteuer!

In diesem Buch begegnen sie einem wieder: Kinder, die in Schutt und Asche der Revierstädte von Unna bis Bottrop spielten – anfangs ganz ohne industriell gefertigte Hilfsmittel und daher notgedrungen einfallsreich. Schon der Tretroller war ja ein begehrtes Ding. Auch Fernsehen hatte kaum jemand, das kam erst ein Paar Jährchen später. Also ging’s nach der Schule zum Straßenfußball auf dem Kopfsteinpflaster. Heute bin ich Uwe Seeler – und ihr?

Das Ruhrgebiet, auch dies kann man den Fotos entnehmen, war damals einerseits noch viel ländlicher, andererseits deutlich von der Schwerindustrie geprägt. Eine ganz spezielle Mischung, wie es sie sonst nirgendwo gab.

Der Dortmunder Verkehrskindergarten, in dem Fahrräder und Tretautos streng regelgerecht herumkurvten, war hingegen schon ein Vorbote kommender Motorisierungs-Konjunktur. Es muß ungefähr die Zeit gewesen sein, als die Jungen das Autoquartett entdeckten. Exakt so hitzig vertieft wie diese drei, die auf Erich Borrmanns Foto die PS-Zahlen und Höchstgeschwindigkeiten gegeneinander ausspielen (kleine Übung fürs spätere Konsumentenleben), müssen wir wohl auch dagehockt haben. Da fühlt man sich fast, als wäre man im Bild drinnen – und kommt sich nach diesem Augenblick der imaginären Verjüngung ein kleines bißchen älter vor.

Erich Borrmann: „Kindheit im Ruhrgebiet in den 50er Jahren“. Wartberg Verlag, 34281 Gudenberg-Gleichen, 64 Seiten Großformat, Schwarzweiß-Fotos, 29,80 DM.

In gleicher Ausstattung im selben Verlag: Erich Borrmann „Dorfleben am Hellweg in den 50er Jahren“. 29,80 DM.

(Der Beitrag stand in der Wochenendbeilage der Westfälischen Rundschau)




Aus dem Würfel wächst das Bild der idealen Stadt – Messing-Werkgruppe von André Volten in Duisburg

Von Bernd Berke

Duisburg. Der Würfel ist ein stets gleichförmiges Ding mit ebenmäßigen Kantenlängen. Das gilt im Alltag. Doch wenn ein Künstler ins Würfel-Spiel eingreift, wird alles anders. Erst recht, wenn es sich um eine Größe wie den niederländischen Staatspreisträger André Volten (71) handelt.

Volten hat viele Zeichen im öffentlichen Raum der Städte gesetzt. Den Duisburgern bescherte er einen Stahlbrunnen, den der Volksmund „Waschmaschine“ getauft hat. Volten ist darüber nicht etwa verbittert: „Was einen Namen trägt, ist akzeptiert, ist lebendiger Besitz.“ Nun richtet ihm Duisburgs Lehmbruck-Museum bereits die zweite Retrospektive aus – eine Würdigung, die bisher nur ganz wenigen Künstlern zuteil wurde.

Als Material für seine Würfelkunst wählte Volten das sonst höchst selten verwendete Messing. Der fast bleischwere Stoff wirkt erstaunlich leicht, seine Oberfläche ist empfindlich wie dünne Haut. In unpoliertem Zustand sendet Messing einen seidig-matten Schimmer aus, der die gesamte Ausstellung durchpulst und ihr beinahe etwas Mystisches verleiht.

Doch Volten ist alles andere als ein haltloser Mystiker. Seine Kunst erwächst aus Rationalität und Präzision. Der passionierte Schachspieler und Bach-Hörer (beides deutet auf logisch-mathematische Neigungen hin) baut penible Holzmodelle, bevor er sich an die millimetergenaue Verfugung der Messing-Barren begibt. Kennt man Voltens Vorlieben, so denkt man unwillkürlich an J. S. Bachs Komposition „Die Kunst der Fuge“. Es ist wohl nicht nur ein Wortspiel…

Der Würfel dient, einem philosophischen Grundsatz oder chemischen Element vergleichbar, als Regelmaß aller Dinge. Dieses Basis-Motiv wird in rund 60 mehrteiligen Arbeiten variiert – durch Spaltungen, Schnitte, berechnete „Wucherungen“, Auftürmungen, fragile Balancen.

Museumsdirektor Christoph Brockhaus will zeigen, daß all diese Formen zur lebendigen Vielfalt der Natur zurückführen. Deshalb präsentiert er zum Vergleich einige Mineraliensteine. Tatsächlich: Die Verwandtschaft der Strukturen ist kaum zu leugnen.

Voltens Würfel-Konstruktionen addieren sich zum subtilen Inbild einer idealen Stadt, die Freiräume läßt und bewohnbar wirkt. Der großen Klarheit wächst unversehens etwas Spielerisches zu. Äußerst konzentriert wirkt diese Kunst, wie von allem Überflüssigen entschlackt – und mehr noch: in einem fast religiösen Sinne rein.

André Volten: Konstruktion und Struktur – Messingskulpturen 1965-95. Lehmbruck-Museum, Duisburg (Düsseldorfer Straße 51). Bis 5. Januar 1997. Di.-Sa. 11-17 Uhr, So. 10-18 Uhr. Katalog 25 DM.




Sprachphilosophie aus der Bauernstube – Brian Friels Stück „Translations“ zum englisch-irischen Konflikt in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Anno 1833 in einem irischen Dorfe. So weltfremd sind die Leute, daß sie nur Gälisch reden und als Erwachsene lieber lateinische und griechische Brocken hinzulernen, als sich die Sprache der englischen Kolonisatoren anzueignen. Oder ist dies schlaue Verweigerung?

Brian Friel hat seinem Stück „Translations“ (Übersetzungen) auch eine quasi politische Dimension gegeben. Doch darüber hinaus entwirft der Text eine staunenswert vielschichtige Reflexion über Sprache – und dies anhand von Dialogen in einer bäuerlichen Stube. Leider müssen wohl etliche Nuancen des englisch-irischen (Sprach-)Konflikts im Deutschen verlorengehen.

1991 spielte man in Freiburg den Text des irischen Autors unter dem interpretierenden Titel „Sprachstörungen“. In Essen (Regie: Katharina Kreuzhage) bleibt es beim Original „Translations“. Ort der Handlung ist besagte Dorfschule, in der der versoffene Hugh (liebenswert knorrig und knarzig: Berthold Toetzke) auch Knechten und Mägden die antiken Sprachen beizubiegen sucht. Hei, wie quietschen da die Griffel auf den Schiefertafeln!

Verbale Vorzeichen der Gewalt

Doch das seltsame, eigentlich schon verstörte Idyll der rückständigen Verschrobenheit wird bedroht, wenn zwei Engländer als Landvermesser auftauchen. Sie machen sich, als militärischer Vortrupp, die Gegend nicht nur kartographisch untertan, sondern erobern sie auch sprachlich, indem sie die urtümlichen gälischen Kehllaute der Orts- oder Flurnamen durch hier eher platt und geschäftlich klingende englische Neuschöpfungen ersetzen. Sprache als Enteignung, als „Entsorgung“ von Geschichte und Herkunft, als Vorbotin künftiger Gewalt.

Während der englische Leutnant Yolland (Michael Schütz) dabei gelinde Skrupel verspürt, hat sich der Ire Owen (Axel Holst) dem Zeitenwandel anbequemt. Der Mann, der den Engländern als Übersetzer assistiert, bleibt freilich wortkarg, wenn das Eigentliche gesagt werden müßte. Er täuscht seine Landsleute über ihre desolate Lage hinweg. Sprache als Lüge.

Eine unsagbare Liebe

Schon eingangs hat man gesehen, wie die junge Irin Sarah (Katrin Brockmann) ihren Namen hersagen soll und sich jeden einzelnen Laut abringen muß. Schmerzlich erfährt sie die Sprache als Zwang. Und als sich zwischen Yolland und Maire (Marie Therese Futterknecht), die einer des anderen Sprache nicht reden, eine englisch-irische Liebe anbahnt, sind sie ganz auf ihre hilflosen Gesten zurückgeworfen. Buchstäblich unsagbar ist diese Liebe – in der quälenden Szene mischen sich Komik und Verzweiflung.

Am Ende wird die Sprache in wahnhaftes Gebrabbel ausufern. Sie ist nun gleichsam geisterhaft allgegenwärtig, doch ihre herkömmliche Bedeutung ist zerstört, denn inzwischen haben die Engländer mit soldatischer Gewalt gedroht. Im Bühnenhintergrund lodert schon das Feuer.

Gottlob hat die Regie der Versuchung widerstanden, die sprachliche Kolonisation etwa auf west-ostdeutsche Verhältnisse umzumünzen. Überhaupt enthält sich die konzentriert zu Werke gehende Inszenierung aller Mätzchen. In einem schlichten, just spieltauglichen Bühnenbild (Wolf Münzner schuf einen grünlich schimmernden Raum mit himmelwärts weisender Leiter) stellt sich das homogene Ensemble ganz in den Dienst des Textes. Beachtliche Vergegenwärtigung einer lohnenden Vorlage.




Konsalik, die Droge und der Fremdenhaß – zum Roman „Die Ecstasy-Affäre“

Von Bernd Berke

„Haben Sie schon mal einen Konsalik gelesen?“ fragte kürzlich süffisant die Frankfurter Allgemeine Zeitung, als es um den Streit über geplante WDR-Verfilmungen einiger Bestsellerromane ging. „Faschistoid“ lautet ein gängiger Vorwurf gegen den Fließbandschreiber Heinz G. Konsalik, dessen rund 150 Bücher schlankweg als trivial gelten. Was ist dran? Um das festzustellen, muß man ihn eben doch lesen. Zum Beispiel sein neues Produkt „Die Ecstasy-Affäre“.

Ecstasy also. Der Routinier Konsalik greift ein aktuelles, mutmaßlich medienwirksames Thema auf. Mit 75 Jahren wohl nicht der ideale Gewährsmann für diese Materie, schildert er die Glücks- und Ausdauer-Droge, die bei durchtanzten Nächten der Techno-Szene modisch wurde, als Ausgeburt schierer Dämonie. An diesen Pillen, so muß man hernach meinen, wird „unser ganzes anständiges Deutschland“ schändlich zugrunde gehen.

Gymnasiast lernt Bardame kennen

Konsalik zimmert sich eine hanebüchene Geschichte zurecht: Der pianistisch begabte, aber äußerst schüchterne Münchner Gymnasiast Robert Habicht (18) begegnet im Freibad der bildschönen Ulrike Sperling (33). Es kommt bald, wie es bei diesen Namen kommen muß: Habicht und Sperling vögeln, was das Zeug hält. Ulrike erweist sich als Bardame. die sich noch dazu als Chefin eines Ecstasy-Händlernetzes anheuern läßt, den armen Robert als Dealer einspannt und ihm vor gemeinsamen Bettspielen die mörderischen Aufputschpillen yerabreicht…

Dabei will der brave Junge Ulrike nur aus dem Bordell-Milieu retten, kommt er doch aus einer guten deutschen Familie: Vater bayerischer Regierungsrat und Briefmarkensammler, Mutter brave Hausfrau. Fassade, Fassade. Mit äußerst begrenzten Stilmitteln sucht Konsalik nun die Hölle zu entfesseln: Eine vietnamesische Mafia bemächtigt sich der gesamten Ecstasy-Infrastruktur, nachdem sie die polnische Konkurrenz bestialisch liquidiert hat. Dagegen, so Konsalik, seien selbst die deutschen Kriminellen nur arme Würstchen – ganz zu schweigen von der Polizei.

Um Logik und glaubhafte Charaktere schert sich Konsalik wenig. Es ist geradezu lachhaft, wie sich hier – oft von einer Buchseite zur anderen – die Leute wandeln, weil es dem Autor gerade in den Kram paßt. Er verteilt seine An- und Absichten mit der Zufalls-Gießkanne auf die Personen.

Erschöpfung nach der Botschaft

Es geht ihm ja auch offenbar um etwas anderes: Ecstasy dient lediglich als Anlaß, einen starken Staat zu fordern, der sich entschieden gegen „die“ Ausländer wehrt, die hier niemals als Normalbürger, sondern ausschließlich als Mafiosi jedweder Nation auftreten. Um seine Meinung (oder soll man sagen: seine paranoiden Ängste?) in die Handlung einzuschleusen, denkt sich Konsalik einen Kommissar namens Reiber aus, den er – mehr oder weniger geschickt – als Sympathieträger einführt und den er dann öffentliche Vorträge halten läßt.

Dieser Reiber zieht heftig gegen fremdländische Elemente, vom Leder und unterstellt der Politik pauschal, sie „streichele“ die Ausländer nur. Die ganze Hetze reicht mühelos für die Lufthoheit über den Stammtischen. „Faschistoid“? Wahrscheinlich bloß noch eine Definitionsfrage.

Daß bei den Tiraden einiges wirr durcheinander gerät, daß er Kriminalitäts-Statistiken gewaltsam zurechtbiegen muß, versteht sich fast von selbst. Nachdem Konsalik den Lesern immer und immer wieder eingehämmert hat, woran die deutsche Nation kranke, scheint er freilich zusehends das Interesse an seiner Story zu verlieren. Nach und nach läßt er fast alle Hauptpersonen umkommen und führt die ganze Affäre lieblos zu Ende. Seine „Botschaft“ hat er ja bereits dutzendfach ausposaunt.

Heinz G. Konsalik: „Die Ecstasy-Affäre“. Roman. Lübbe-Verlag. 477 Seiten. 39,80 DM.




„Die Ermittlung“: Eine Form für das Ungeheuerliche

Von Bernd Berke

Wuppertal. Aus dem blauen Bühnenhorizont schälen sich Dia-Projektionen heraus: ein Berg von Brillen, der Weg zu einem Lagertor, Blechdosen mit der Aufschrift „Zyklon B“. Man kann die unbegreiflichen Leiden im KZ nicht wirklich abbilden, man kann aber darauf hinweisen, Zeichen setzen. Man kann? Nein, man muss! Peter Weiss‘ „Die Ermittlung“, uraufgeführt 1965, bleibt nicht nur ein wichtiges, sondern ein notwendiges Stück.

Weiss (1916-1982) verhandelte in dem dokumentarischen Drama das ungeheuerlichste Verbrechen der Geschichte, den Massenmord in Auschwitz. Hauptsächliche Quelle war der Frankfurter Auschwitz-Prozeß (1963-65), ein literarisches Muster gaben Dantes Gesänge aus dem „Inferno“ der „Göttlichen Komödie“ vor. Eine Form für das Formloseste, was sich denken läßt. Und ein Inhalt, der es sehr schwer macht, überhaupt von theatralischer Umsetzung zu reden.

In Wuppertal, wo man zur Premiere vor beschämend halbleerem Hause spielte, liegen anfangs Dutzende von leeren Stühlen auf der Bühne. Sie werden im Verlauf der zwei pausenlosen Stunden nach und nach aufgestellt und am Schluß wie zu einem Scheiterhaufen geschichtet. Ein Vorgang, der nicht eben zwingend erscheint.

Regisseur Holk Freytag löst den gerichtlichen Zusammenhang des Stückes auf. Alle zwölf Beteiligten (sechs Männer, sechs Frauen) erscheinen in hellen Uniformen, sie gleiten ständig von Rolle zu Rolle: Jeder ist abwechselnd Angeklagter, Verteidiger, Richter oder Zeuge.

Einmal steht auf diese Weise einem Zeugen ein auf vier Sprecher verteilter Lageraufseher Kaduk entgegen, der zudem noch von chronischem Gelächter unterstützt wird. Übermacht der NS-Schergen, auch noch beim Prozeß? Schmerzhaft deutlich wird jedenfalls, auf welcher furchtbar fühllosen Sach- und Detailebene die Schrecken von Auschwitz vor Gericht abgehandelt werden mußten. Das Eigentliche war den weltlichen Richtern der Justiz und ihren Gesetzen nicht zugänglich.

Der Verzicht auf die Tribunal-Situation und die Rollenwechsel lassen freilich eine gewisse Undeutlichkeit aufkommen. Möglich, daß eine allseitige Kumpanei der Verleugnung gemeint ist oder gar der oftmals beschworene „Hitler in uns allen“. Aber Unkundige (speziell jüngere Zuschauer) könnten den fatal falschen Schluß ziehen, Täter und Opfer seien letztlich austauschbar.

Vielfach, besonders zu Beginn, wird im atemlosen Stakkato geredet. Das bringt nicht nur etliche Sprechfehler mit sich, sondern raubt manchem Satz die nötige Wirkungs-Zeit. Der Atem stockt einem allerdings immer dann, wenn die Inszenierung das Tempo verlangsamt, wenn sie auf dem Festhalten von Einzelheiten besteht, die jede noch so monströse Lager-,,Statistik“ übersteigen. Es werden ja in diesem Stück Untaten geschildert, die einem das Bewußtsein zerspalten müßten.

Es ist daher völlig richtig, daß das Ensemble sich am Schluß nicht zum Beifall verbeugt, sondern uns mit dem Schlußbild allein läßt. Hilflos sitzt man da. Und man versteht vielleicht, warum sich auch das Theater diesem Text nur hilflos nähern kann.

Die nächsten Termine erst wieder im Januar: 4., 5.. 8. und 10. Januar 1997.




Aktion im Gefrierzustand – Fluxus-Kunst aus der Sammlung von René Block in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Was ist „Fluxus“? In dem Begriff, der eine herrschende Kunstrichtung der 60er Jahre bezeichnet, steckt das lateinische Wort für „fließen“. Aha. Eine Kunst, die alles in Fluß hält? Doch der Künstler Robert Watts, der im Katalog der Wuppertaler Fluxus-Ausstellung zitiert wird, stiftet Verwirrung: „Das Wichtigste an Fluxus ist. daß niemand weiß, was es ist.“ Den Satz nimmt man amüsiert zur Kenntnis. Aber man kann sich nicht damit begnügen.

Rund 140 Arbeiten, darunter viele Relikte von Aktionen, versammelt die Schau in der Barmer Kunsthalle. Die Exponate stammen aus dem Fundus von René Block, der von 1964 bis 1979 mit seiner Berliner Galerie dem Fluxus aufhalf. Blocks Sammlung schlummert ansonsten in dänischen Lagerräumen, eine dauerhafte Heimstatt wird noch gesucht.

1993 war eine Auswahl in Nürnberg zu sehen. Wuppertals Kunst- und Museumsverein holt nun, zu seinem 50jährigen Bestehen, rund die Hälfte der Kollektion ans Licht; nicht ohne Hintergedanken: Mit der legendären Galerie „Parnass“ zählte die Schwebebahn-Stadt einst zu den Fluxus-Zentren. Joseph Beuys war hier häufig zu Gast.

Ein Raum der Ausstellung ist denn auch Beuys gewidmet. In einer Vitrine sieht man allerlei Kehricht samt Besen – Überbleibsel einer Berliner Fege-Aktion von 1972. An der Wand hängt einer jener berühmten Filzanzüge. Hinter Glas: Fettecken, eine „Sauerkraut-Partitur“ mit ganz strohig gewordenen Kohl. Dazu gibt’s Tafeln mit Lehrsätzen des Meisters, einen Konzertflügel, einen Schlitten (Zeugnis der Aktion, bei der sich Beuys tagelang mit Koyoten einsperren ließ).

Konservatoren haben heute alle Hände voll zu tun, vergängliche Erscheinungen wie Fettecken zu bewahren. Andererseits hat der Verfall seinen speziellen Charme. Klar ist: Solche Gegenstände, die in lebendiger Aktion verwendet wurden und dabei spät-dadaistisch anmutenden (Un-)Sinn entfalteten, sind im Museum nur noch tote Materie. Fluxus im Gefrierzustand. Gerade im Falle Beuys werden die Relikte für viele Bewunderer gar zu weihevollen Reliquien.

Dennoch spürt man, welch eine sprühend vitale Kunst hier am Werke gewesen sein muß: eine, die offen war für jede spontane Eingebung und die niemals „fertig“ und abgerundet sein wollte.

„… sonst sind Sie nur ein Zugucker“

Durch fröhliche Flüchtigkeit hoffte man, sich dem Kunstmarkt und den Museen zu entziehen. Grenzen zwischen den diversen Künsten und erst recht zwischen Kunst und Leben hat man geflissentlich ignoriert. Eine museale Einfriedung ist also ziemlich paradox.

Arbeiten von Nam June Paik bilden einen weiteren Schwerpunkt. Seine oft hintersinnig-meditative Medienkunst („Buddha, eine Kerze betrachtend“ / „Zen-Koffer“) mit in Ehren gealterten Radios, Vinyl-Schallplatten, TV-Geräten und Plunder des Alltags, ist freilich weit entfernt etwa von Artur Köpckes labyrinthischen Schrift-Comic-Collagen.

Überhaupt wurde in jener Zeit viel collagiert, gebastelt und auf Bildtafeln geschrieben. Mit dem herkömmlichen Malen hatte man es nicht so sehr. Es galt als bürgerlich.

Köpcke verdeutlicht die Fluxus-typische Offenheit mit diesem monströsen Werktitel: „Sie nehmen nur teil, wenn Sie dieses Aktionsstück, dieses Prinzip fortsetzen, sonst sind Sie nur ein Zugucker.“ Gemeint war, daß die Ausstellunsgbesucher seinem Werk immer weitere Taschentücher und Zettel hinzufügen sollten.

Kunst ohne Ende. Man sollte also nicht passiv bleiben. Wie hieß noch das Beuys-Bekenntnis? „Jeder ist ein Künstler.“ Bis zum Beweis des Gegenteils.

Kunsthalle Wuppertal-Barmen. Geschwister Scholl-Platz. Bis 1. Dezember. Geöffnet Di-So 10-17 Uhr, Do 10-21 Uhr.




Bilder, die wie offene Wunden bluten – Der frühere Wiener Aktionist Adolf Frohner im Dortmunder Harenberg-Haus

Von Bernd Berke

Dortmund. Seltsam, einen „Wiener Aktionisten“ stellt man sich anders vor: Prof. Adolf Frohner war in den frühen 60er Jahren als „Mittäter“ dabei, als Otto Mühl, Hermann Nitsch & Co. mit wüsten Kunst-Exzessen schockierten. Wenn Frohner jetzt in Dortmund seine Bilder erläutert, ist von jener Wildheit, die zwecks psychischer Entgrenzung alle, aber auch wirklich alle Körpersäfte öffentlich fließen ließ, kaum ein Rinnsal zu ahnen.

Keineswegs mit messianischem Eifer, sondern mit milder Ironie spricht Frohner (62) heute über seine Kunst. Doch die hat es, auch wenn der Österreicher sich früh von den blutigen Ritualen der Aktionisten abgewandt hat, eben doch „in sich“. Wenn man jetzt etwa ins Tiefgeschoß des Harenberg City-Centers kommt, meint man, einem Blutbad beizuwohnen – nur daß es nicht mit Körpern auf einer Bühne, sondern mit Frohners Vorzugsfarbe Rot auf Leinwänden angerichtet ist.

Über 100 großformatige Arbeiten sind in dieser wahrhaft museumsreifen Schau zu sehen. Sie ergeben in der Summe eine geradezu betäubende Ballung von Expressivität.

Frohner, dem der Aktionismus alsbald unheimlich geworden ist, weil sich Kollegen bis in Scharlatanerie oder gar in Selbstverstümmelung treiben ließen, hat jene frühen Jahre wie eine „Mutprobe“ erfahren. All diese Orgien, Mysterien und polizeilichen Nachstellungen unbeschadet überstanden zu haben, das hat ihn gefeit: „Mir kann nichts mehr passieren“, sagt er.

Ein Bild von 1985 heißt „Wieder Malerei“, und es gibt der Ausstellung den programmatischen Titel. In der Tat: Entschiedener ist selten gemalt worden. Biblische und mythologische Szenen (Adam und Eva, Kain und Abel, Ikarus, Das Urteil des Paris) muß man vielfach aus einem allseitigen Aufschäumen und Aufspritzen der Farben „herauslesen“. Doch dann findet man, daß diese Farbstürze kein haltloses Sich-Ausleben bedeuten, sondern den angemessenen Ausdruck des Leidens. Bilder als Wunden.

Wenn Adam und Eva aus dem Paradiese vertrieben werden, so läßt sich dies nicht mit pusseliger Feinmalerei erfassen. Auch nicht das brünstige Brüllen des Sexus oder Ausbrüche von Gewalt. Frohner bearbeitet zum Teil sehr originelle Bildträger. So gibt es jene Reihe von beidseitig bemalten Türen, die dem Künstler zufolge „ideales Menschenmaß“ sowie Doppelgesichtigkeit (öffnen / schließen) repräsentieren. Beispiel: Auf einer Türseite wimmelt es von „vielen Besuchern“, auf der anderen, glotzend leeren Seite, sind diese Figuren „alle weg“. Handfeste Kunst, Witz der hintersinnigen Art.

Auch Paravents, also Wandschirme, die ehedem erotisches Versteckspiel signalisierten, füllt Frohner mit furiosen Ausgeburten seiner Bilderwelt, und zwar jeweils Vor- und Rückfront beider Flügel. Frohner lachend: „Vier Bilder zum Preis von einem…“

Eine Besonderheit auch die Tafel mit Totenköpfen, 1988 als Mahnzeichen zum Jahrestag des 1938 von den Nazis erzwungenen „Anschlusses“ Österreichs entstanden. 50 Jahre, 50 Schädel. Das bildnerische Menetekel diente dem Dichter Erich Fried als Anstoß für die letzten Gedichte vor seinem Tod. So bringt eine Kunst die andere hervor.

Adolf Frohner – „Wieder Malerei“. Harenberg City-Center, Dortmund (Königswall 21). Bis 12. Dezember, tägl. 10-18 Uhr. Katalog 68 DM.