Diese besondere Art der Zuneigung – „Nelly & Monsieur Arnaud“ von Claude Sautet

Von Bernd Berke

In den neueren Filmen von Claude Sautet geht es um das knappe Scheitern der Liebe. Das Augenmerk gilt dem Prozeß, in dessen Verlauf Mann und Frau einander um Haaresbreite verfehlen. Unerbittlich ist dabei die Zeit: Eben wäre es vielleicht noch die Liebe gewesen, jetzt ist es ein anderes, ganz eng verwandtes (aber eben verwandeltes) Gefühl. So ging es in „Ein Herz im Winter“, so geht es in „Nelly & Monsieur Arnaud“.

Die beiden Hauptpersonen sind eine junge Frau, die sich gerade von ihrem Mann getrennt hat, und ein älterer Herr, vormals Richter in den französischen Kolonien, der seit längerem allein wohnt und nun biographische Bilanz ziehen, aufs Wesentliche zusteuern will: Er möchte seine Memoiren als Buch herausbringen.

Arnaud ist also drauf und dran, sich an die Welt zu wenden, während Nelly gerade in sich geht und ihr Seelenleben zu ordnen sucht. Zwei Lebensmomente mit Schnitt- und Kreuzungspunkten. Das folgende Spiel aus Näherung und Distanz ist hier schon im Keim angelegt. Nelly (die berückend schöne Emmanuelle Béart) hat Schulden und sucht einen Job, Arnaud (Michel Serrault) ist vermögend und braucht eine Schreibkraft, die seine Erinnerungen tippt. Wie passend! Also gibt er ihr schon mal 30 000 Francs extra und engagiert sie gegen weitere Bezahlung. Ein leiser Hauch von Prostitution umweht diesen Tauschakt im Café, jenem beliebten Ort der Balance zwischen Öffentlichkeit und Intimät.

Zunächst sind es Arbeitstreffen, nachmittags in Arnauds gediegener Wohnung. Aber wer könnte einer Nelly lange widerstehen? Schon ihr Augenaufschlag, wenn sie an Arnauds Computer sitzt – auch Maler wie Vermeer oder Renoir hätten sich wohl in diesen Anblick verliebt.

Nach und nach rinnt also in die tägliche Gewohnheit ein beiderseits anschwellendes Interesse aneinander, untergründige Erotik Inbegriffen. Auch als Zuschauer empfindet man es bald als grob und störend, wenn die anderen Menschen in diese sich mehr und mehr verwebende Zweisamkeit hereinplatzen – ob nun besuchsweise oder am Telefon.

Der noble Herr wird plötzlich richtig eifersüchtig

Als Nelly gar vom Verleger, der Arnauds Erinnerungen herausbringen soll, recht irdisch umworben wird, ziehen Wolken auf: Arnaud mag sich zwar keine Eifersucht eingestehen, er strengt sich an, eine lebenslang eingeübte noble Haltung zu bewahren. Doch dann bricht es – für einige Augenblicke – umso heftiger aus ihm hervor.

Die Beziehung, so mag es scheinen, bleibt ungelebte Möglichkeit. Oder sollte sie sich doch schon kostbar erfüllt haben, auch und gerade ohne sexuelle Vollbringung? Es bleibt in der Schwebe. Am Ende jedenfalls begibt sich Arnaud mit seiner wieder aufgetauchten Frau auf eine jahrelange Weltreise.

Wir sehen noch, wie Nelly und er erstmals wieder verschiedene Wege gehen. Sie tragen ihre „ganze Geschichte“ noch sichtbar als töricht-schöne Verwirrung in den Köpfen, halten noch einmal inne und sind schon bleibender Erinnerung gewiß. Dann schreiten sie zögernd ins „Leben danach“.

Sautet läßt sich völlig auf die Gesichter und Gesten seiner Schauspieler ein, die Kamera erfaßt jede zuckenden Mundwinkel in Großaufnahme. Dabei entsteht ein psychologisch feinstens gesponnener, geradezu zärtlicher Film, der allen Nuancen einer besonderen Zuneigung innig nachspürt.




Im Land der erloschenen Seelen – Zwei Einakter von Tennessee Williams in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Wenn Figuren von Tennessee Williams die Bühne betreten, sind ihre Lebens-Hoffnungen meist schon erloschen, und wir erleben nur noch das Nachglimmen ihrer versengten Seelen. „Etwas Unausgesprochenes“ (Stücktitel) lastet dann bleischwer auf den Gemütern.

In Wuppertal hat Regisseur Holk Freytag diesen Einakter mit „Plötzlich letzten Sommer“ verknüpft – ein seit der Doppel-Uraufführung (1958) gängiges Verfahren. So gerät auch der Übergang zwischen beiden Dramen wundersam fließend. Auch das karge, atmosphärisch stimmige Bühnen-Arrangement im Foyer (mit knarzigen Korbstühlen und einer hell angestrahlten Rose) bleibt gleich.

Im Kerzenlicht beginnt „Etwas Unausgesprochenes“, jene Einsamkeits-Etüde für zwei Personen und ein Telefon. Es scheint, als müßten Miss Cornelia Scott (Rena Liebenow) und Grace (Eike Gercken), die seit 15 Jahren zu zweit unter einem Dach wohnen, einander so vertraut sein wie innere Stimmen.

Doch in Wahrheit herrscht knisternde Befremdung zwischen ihnen. In der Schwebe bleibt, ob Cornelia sich einst eine lesbische Beziehung zu Grace erträumt hat. Das ganze Verhältnis ist derart unklar, daß sich all das Verschwiegene in einer nur mühsam gebändigten Aufgeregtheit der beiden Frauen Bahn brechen will. Die eine wirkt dabei burschikos, die andere zerbrechlich wie Glas, doch beide sind nervlich zerrüttet.

Die zwei Schauspielerinnen tupfen das alles sozusagen nur hin, wozu große Disziplin gehört. Nichts wirkt exaltiert, man ahnt nur andeutungsweise die Halbschatten der Seele, die ungesunde Selbstbeschränkung dieser Menschen, die immer etwas ganz heiß herbeiwünschen, es aber zugleich hartnäckig leugnen und verbergen.

Rena Liebenow spielt auch eine Hauptrolle in „Plötzlich letzten Sommer“. Nun ist sie Mrs. Venable, Mutter des verstorbenen Dekadenz-Lvrikers Sebastian, mit dem sie an den elegantesten Orten „wie Skulpturen gemeißelte Tage“ erlebt hat. Sie glaubt zumindest fest daran.

Dramaturgie aus dem Dampfkessel

Das mit den Skulpturen könnte von Rilke stammen, doch ansonsten ist es schwächerer Williams: hitzige Sprachbilder, überfrachtete Psychologie, Dramaturgie im Dampfkessel.

Mrs. Venable ist jedenfalls zutiefst verletzt, weil Sebastian die letzte Sommerreise seines Lebens nicht mit ihr, sondern mit der jungen Catharine (Eike Gercken) gemacht hat. Nun will sie Catharine die Schuld am Tod des Sohnes anlasten, sie sodann für verrückt erklären lassen und einer gefährlichen Hirnoperation bei Dr. Cukrowicz (Hans-Christian Seegcr) zuführen. Schrecklich genug.

Doch was die junge Frau im Diagnose-Gespräch dem Arzt erzählt, ist mindestens ebenso schlimm: Sebastian habe in den Armutsvierteln der Knabenliebe gefrönt und sei am Ende von einer Jungenschar geradezu kannibalisch zerfetzt worden. Ist es Fieberwahn oder Wahrheit?

Die Regie setzt Musikuntermalung (bis hin zur Gregorianik) und schließlich auch Halleffekte ein, um die Weite des Seelenlandes zu ermessen. Sinnfällig wird gezeigt, wie die Figuren auseinanderdriften, jede auf ihren eigenen Stern. Großartig Eike Gercken, deren Schilderungen auch ohne tonale Zutaten bedrückend bildkräftig im Raum stehen.

Termine: 11., 17., 25. Januar, jeweils 19.30 Uhr. Karten: 0202/563 44 44.




Wenn die Gespenster aus den Grüften der Geschichte steigen – „Der Blick des Odysseus“ von Theo Angelopoulos

Von Bernd Berke

Theo Angelopoulos ist ein Mann der Grenzbezirke. Seine Filme spielen meist im leeren Niemandsland zwischen den Staaten, gleichsam auf äußerstem Vorposten am Saum unserer Zeit. Auch „Der Blick des Odysseus“ scheint sich in unbestimmte Fernen zu richten. Doch er hat ein Ziel.

Der antike Mythenheld tritt hier als griechischer Filmemacher mit dem Kürzelnamen „A“ in Erscheinung. Dieser kehrt aus dem US-Exil heim und begibt sich auf die Suche nach den sagenhaften Filmen der Brüder Manakis vom Beginn des Jahrhunderts. „A“ will auf den uralten Zelluloidstreifen „die Unschuld“ der Bilder wiederfinden.

Klingt etwas anstrengend. Und tatsächlich gibt es ja kaum einen Regisseur, der mit höherem Kunstanspruch daherkommt als Angelopoulos. Doch seine flehentliche Odyssee hat durchaus reale, wenn auch schwer faßbare Hintergründe: die seit dem Zusammenbruch des Kommunismus aus den Grüften der Geschichte aufsteigenden Gespenster.

Zu Beginn gerät der Filmemacher in einen furchterregenden Fackelzug dumpfer religiöser Fundamentalisten. Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus, so erfährt man auf der dreistündigen Suchreise durch Europas Südosten, werden solche totgeglaubten Geister wieder schrecklich wach – Jugoslawien ist nur das krasseste Beispiel.

Dorthin, nach Sarajevo, führt die Fahrt am Schluß, und eine nur erahnbare Erschießungsszene im dichten Nebel raubt einem vollends den Atem. Darin stecken mehr Andacht und Mitleiden als in jedem Nachrichtenbild des Krieges. In Sarajevo findet „A“ auch jenen alten Mann, der die ersehnten Filmdosen verwahrt, ihren Inhalt aber mangels richtiger Emulsion immer noch nicht entwickeln kann. Ein Spannungsmoment.

Angelopoulos unternimmt seine Suchreise mit betörend langsamen Bildern. Die meisten Einstellungen dauern just bis zu dem Moment, in dem sich das Auge daran „gesättigt“ hat. Beispiel: Viele, viele Minuten lang wird die mit einem Kran vollbrachte Demontage einer riesigen Lenin-Statue gezeigt, sodann deren Verschiffung. Und siehe da: Man gewinnt der vermeintlich so statischen Szenerie immer wieder neue grandiose Ansichten ab. Es sind Denkbilder. Zudem haben alle Augenblicke – wie ein Zaubergeflecht – ganz innig miteinander zu tun, jeder spiegelt und erweitert den anderen.

Wenn „A“ (ruhige Kraft: Harvey Keitel) auf seiner sonst so einsamen Irrfahrt verschiedenen Frauen begegnet, so ist das wie eine mehrfache Prüfung im Märchen. So, als dürfe er seine Suche erst nach diesen Etappen fortsetzen. Überall ist Exil: Mit der Hauptfigur ziehen wir, ebenso verunsichert wie fasziniert, durch Orte größtmöglicher Verlassenheit und Fremde, an denen nur noch die nationalistischen Dämonen der europäischen Historie zu hausen scheinen. Gegen derlei Phantome aus dem Vorkriegs-Kontinent muß die Reinheit der Bilder wiedergewonnen und gegen die Abstumpfung mobilisiert werden. Eine Rettungstat also, eines Helden würdig.




Bilder wie lockende Früchte – Essener Retrospektive zum Werk von Félix Vallotton

Von Bernd Berke

Essen. Mit Superlativen sollte man vorsichtig sein. Trotzdem: In Essen ist jetzt die weit und breit wohl schönste Kunstausstellung des Jahres zu sehen. Zumindest im Ruhrgebiet hat es heuer nichts gegeben, was der Essener Retrospektive über Félix Vallotton gleichgekommen wäre.

Vallotton wurde 1865 in Lausanne geboren. Zwar kam er schon 1882 nach Paris, doch dort malte er anfangs noch nach Schweizer Art: Alpen-Motive, gelegentlich auch mit weidenden Kühen. Mag sein, daß die Franzosen dies ein bißchen rückständig gefunden haben. Alsbald jedenfalls verlegte sich Vallotton auf Porträts, mit denen man im wohlhabenden Paris mehr Geld verdienen konnte. Daraus erwuchs ein erster Gipfel in Vallottons Schaffen: Intérieurs, also Bildnisse, deren Gefühlswerte mit atemberaubender Genauigkeit von Zimmern und deren Einrichtung bestimmt werden. Es ist, als atmeten diese Bilder ihre Stimmungen leise aus.

Vielsagender Hut auf dem Stuhl

Wie konnte dieser Mann die Stofflichkeit erfassen und betörend sinnlich wiedergeben! Im „Bildnis der Eltern“ (1886) glaubt man den samtenen Sesselbezug mit Händen greifen zu können, so haarfein ist er gemalt. Wunderliche Versteckspiele, die eigentlich Enthüllungen waren: Auf dem Gemälde „Der Besuch“ (1887) ist kein lebendes Wesen zu sehen. Nur ein Hut liegt auf dem Stuhl. Und doch ist der ganze, unterschwellig erotische Charakter der Visite im Requisit atmosphärisch eingefangen.

In der Graphik, die gleichfalls mit herausragenden Beispielen vertreten ist, erprobte Vallotton die Wirkung flächiger Darstellung. Von der Figürlichkeit ließ er sich durch derlei Experimente nicht abbringen. Nach und nach schmolzen freilich alle überflüssigen Details weg, und Vallotton gelangte zu einer prägnanten Formensprache, in der die gezeigten Menschen und Dinge nur noch sie selbst zu sein scheinen – ganz ungestört und doppelt wirklich. Wie Früchte, die unmittelbar vor einem liegen und in die man sogleich hineinbeißen kann.

So rinnt denn der Sand wie ein Urbild jeden Sandes, und das Gebirgsmassiv wird zur reinen Struktur, zum allzeit gültigen Zeichen. Die prallen Akte scheinen majestätisch aus den Rahmungen steigen zu wollen. Für Momente vergißt man, daß diese Bilder aus Ölfarbe und Leinwand bestehen.

Ausflüge bis ins Traumreich

In Vallottons Universum haben etliche Stilrichtungen Platz. Manche Landschaften sind symbolistisch behaucht, späte Aktbilder haben die Neue Sachlichkeit angeregt, wieder andere Werke deuten voraus auf surrealistische Traumwelten oder gar auf die abgründige Leere in den Entfremdungs-Szenen eines Edward Hopper. Drei badende Frauen scheinen in einer Art Teersuppe zu versinken, ein Rückenakt im giftgrünen Wasser und vor schwarzblauem Himmel wirkt wie ein monumentales Phantom der Körperlichkeit. Solch visionäre Kunst stößt Pforten der Wahrnehmung auf. Weiche Drogen fürs Auge.

Museum Folkwang, Essen (Goethestraße). 26. November bis 18. Februar 96. Di.-So. 10-18 Uhr, Do. 10-21 Uhr. Mo. geschlossen. Eintritt 10 DM, Katalog 39 DM.




Im „Faust“ wird mit der Maus geblättert – Wie sich Goethes Weltendrama auf einer CD-Rom liest

Von Bernd Berke

Heute legen wir ’ne heiße Scheibe auf: Goethes „Faust“. Dabei geht’s nicht etwa um eine neue Punkgruppe, die sich frech den klassischen Namen anmaßt, sondern um Johann Wolfgang höchstselbst. Dessen Weltendrama ist jetzt auf einer silbernen Datenplatte (CD-Rom) erschienen.

Entsprechendes Laufwerk vorausgesetzt, kann man entweder ein Suchprogramm oder den kompletten „Faust I“ mit allen Begleittexten und sonstigen Zutaten auf die Computer-Festplatte holen. Letzteres kostet freilich mit happigen 8 Megabyte fast so viel Speicherplatz wie das gesamte „Windows“-System (Version 3.1), also die kleinen Bildfenster zum Anklicken mit der Maus.

Und was hat man davon? Nun, bestimmt keine gemütliche Lektüre zum Kaminfeuer. Die Seiten erscheinen mit einer gelbgrau melierten „Tapete“ hinterlegt. Hübschhäßlich.

Man blättert mit dem Mauszeiger. Dieser verwandelt sich zwar nicht in eine Faust (haha), wohl aber in ein kleines Händchen, das auf vor- und rückwärts gespitzte Symbol-Dreiecke deutet. Mit der richtigen Hand in einem richtigen Buch geht’s schneller, vom sinnlichen Gefühl beim wirklichen Blättern ganz zu schweigen. Jedenfalls könnte einem angesichts der flimmrigen Texte schon dieses „Faust“-Zitat einfallen: „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten…“

Wo der Hund begraben liegt

Aber die Computer-Ausgabe hat mehr zu bieten. Bestimmte Goethe-Sätze kann man z. B. so ansteuern, daß sich Fenster mit punktgenauen Erläuterungen öffnen. Früher hat man in den Fußnoten oder den Erläuterungen am Ende eines Bandes nachgesehen, nun gräbt man eben direkt unter der Text-Oberfläche. Sodann kann man sich, wenn einem der Sinn danach steht, müßige Späße erlauben: zum Beispiel nachsehen, in welcher Zeile zum ersten Mal Gretchen erwähnt wird und wo sie dann wieder auftaucht. Diese Statistik wollten wir immer schon mal aufstellen. Wir haben uns nur nicht getraut.

Außerdem merkt sich das System die zuletzt aufgeschlagene Seite und kniffelt – wie niedlich! – eine virtuelle Büroklammer an den Rand. Apropos Rand: Wo man ehedem vielleicht seine Anmerkungen hingekritzelt hat, kann man nun ein elektronisches Notizkärtchen aufrufen und seine Ergüsse darauf plazieren. Gepriesen sei der Fortschritt!

Noch’n Test: Wo kommt im „Faust“ das Wort „Hund“ vor? Suchfunktion starten – und man erfährt es. Stelle für Stelle. Erster Fundort: Seite 13 mit dem Zitat „Es möchte kein Hund so länger leben.“ Freilich interpretiert das Programm die Tiergattung doch recht eigenwillig und zeigt später ganz stolz „hund-ert“ oder sogar „gesc-h u n d-en“ vor. Liegt also auch da des Pudels Kern?

„Da steh‘ ich nun, ich armer Tor…“

All das hätte man notfalls ohne Computer bewältigt. Doch auf der (übrigens erstaunlich preiswerten) CD-Rom ertönen an einigen Stellen auch noch Schauspielerstimmen, die Textpassagen auf Abruf vorlesen. Und ein paar kleine Bildchen von alten Theaterzetteln, Goethes Handschrift usw. gibt’s obendrein.

So etwas nennt man heutzutage wohl mutimedial. Es könnte aber auch noch Leute geben, die ihr nüchternes Fazit aus dem „Faust“ beziehen: „Da steh‘ ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor.“

Goethe: „Faust I“. CD-Rom im Reclam-Verlag (14,90 DM). In derselben Reihe: Kafka „Die Verwandlung“, Storm „Der Schimmelreiter“, Lessing „Nathan der Weise“, Schiller „Wilhelm Tell“ u. a.




Die Dame darf sich am Manne emporranken – Münster: „Als die Frauen sanft und engelsgleich waren“

Von Bernd Berke

Münster. Der Ausstellungstitel zergeht auf der Zunge: „Als die Frauen sanft und engelsgleich waren“. Doch Vorsicht! Ein wenig emanzipatorische Absicht steckt schon dahinter, wenn nun in Münster Porträts der Aufklärung und des Biedermeier gezeigt werden.

Diesmal geht es im Landesmuseum weniger um künstlerische Spitzenqualität (obgleich auch die punktuell vorhanden ist), sondern um sozialpsychologische Aussagekraft: In so manchem Bildnis treusorgender Gattinnen und Mütter oder träumender Jungfrauen läßt es sich lesen wie in Büchern. Beispiel: Ein Bräutigam steht vor einem Baumstamm, seine Herzensdame umgibt sich mit Efeu. Will heißen: Sie darf sich hingebungsvoll an ihm emporranken.

Selbst erlauchte Geister des 18. und 19. Jahrhunderts mochten von Gleichberechtigung nichts hören. Schiller dichtete im „Lied von der Glocke“: „Der Mann muß hinaus ins feindliche Leben“ und befand, daß drinnen die „züchtige Hausfrau“ walte. Johann Gottfried Herder ließ gar wissen, krähenden Hennen und lesenden Frauen gehörten die Hälse umgedreht. Wen wundert es da, daß weit weniger bekannte Maler jener Zeit schon die Kinder ins Schema einfügten: Der Bub pflanzt triumphierend eine Siegesfahne auf, das treuherzige Mädel hält sich an seiner Spielpuppe fest.

Die Lesende sitzt im weichen Licht

Na schön, ein bißchen schlechtes Gewissen macht man(n) sich heutzutage schon draus – doch es ist schwer, sich dem Liebreiz vieler Darstellungen zu entziehen. Wenn etwa Luise Seidler mit den zarten Schwestern „Pauline und Melanie“ (um 1829) wehmutsvoll in die Ferne schaut oder Caroline von der Embde ein „Lesendes Mädchen am Fenster“ (1850) sitzen läßt, von weichem Licht umflort und sinnend, so ist dies eben auf Erden herabgekommene Himmelsschönheit. Wenn man die erst einmal genossen hat, so mag später noch über Rollenzuweisungen gegrübelt werden.

Ausstellungsmacherin Hildegard Westhoff-Krummacher ist nicht mit biestigem Feminismus, sondern mit heiterem Interesse an die Sache herangegangen. Sie hat z. B. festgestellt, daß im Gefolge Jean-Jacques Rousseaus („Zurück zur Natur“) auch Maler den Frauen die Mutterschaft schmackhaft machen wollten. So tritt das naturhafte bürgerliche Weib der lüsternen Adligen entgegen. Letztere klimpert zwar mit kostbarem Geschmeide, aber die „wahre Frau“ schmückt sich mit Sprößlingen…

Hausherr macht sich zum Narren

Die zur Erbauung des Hausherrn versammelte Familie ist gängiger Themen-Standard. Doch wenn Johann Peter Hasenclever die Bildformel in „Der achtzigste Geburtstag“ (1849) aufgreift, wirkt der im gloriosen Lichtkegel hockende Ehrenmann wie ein armer Narr in seinem Patriarchen-Glück. Da erhebt sich schließlich doch die Frage, ob nicht auch die Männer gelitten haben. Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist es nur ein Schritt.

Selbst Details wie die Haartraçht sind wichtig. Während Frauen Zumeist brave Mittelscheitel trugen, wischte sich selbst der Halbglatzen-Herr noch ein paar dynamische Strähnen in die Stirnpartie. Na, wenn es dem Selbstbewußtsein gedient hat…

Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster (Domplatz). 19. Nov. bis 11. Feb. 1996. Täglich außer montags 10-18 Uhr. Katalog 45 DM.

 

 




Suche nach der höheren Wahrheit – Werkschau über Kasimir Malewitsch im Kölner Museum Ludwig

Von Bernd Berke

Köln. Ganz eigene Wege geht die Kunst, mit Polit-Floskeln ist sie nicht zu begreifen. Kann man ein Gemälde schlankweg „konservativ“ oder „fortschrittlich“ nennen? Nein. Auch die Werke von Kasimir Malewitsch (1878-1933) lassen ahnen, wie sehr solche Worte ins mehrdeutige Flimmern geraten müssen.

Malewitsch gilt als Heros der Moderne. Mit seinem aus geometrischen Elementen gefügten, sogenannten Suprematismus wollte er von einer „höheren“ Wahrheit hinter der sichtbaren Wirklichkeit künden. Doch eine famose Werkschau im Kölner Ludwig-Museum untermauert jetzt die These, daß Malewitsch dabei aus uralten Quellen schöpfte: Er orientierte sich am Bildaufbau und am Farbschema frommer russischer Ikonen.

Szenen aus dem einfachen Leben

In seiner Frühzeit hatte der in Kiew geborene Künstler nahezu alle gängigen Stile erprobt. Um 1903 gefiel er als Impressionist und malte belebte Prachtboulevards. Zwischendurch gab er sich als ätherischer Symbolist oder wob Jugendstil-Ornamente. Dann wieder gestaltete er Szenen des einfachen Lebens und der frohen Tätigkeit („Dielenbohnerer“, 1911).

Der Umschwung vollzieht sich, als Malewitsch Bühnenbild und Kostüme für die Oper „Sieg über die Sonne“ (1913) entwirft. Seine futuristischen Szenen-Phantasien entspringen dem Geist der Geschwindigkeit und der Geometrie, sie sind entschieden stilisiert und typisiert, ebenso wie die Figurinen, also die Gestalt-Umrisse der Darsteller. Es tritt auf: der wie im Windkanal funktionsgerecht umgeformte Mensch des technischen Zeitalters. Im Gefolge der Sowjet-Revolution stand solcher Umbau des Körpers dann vollends für utopische Heilserwartung.

Als Formexperimente verpönt waren

Auch Malewitsch, ansonsten ein höchst eigensinniger Mensch, läßt sich von der revolutionären Stimmung mitreißen. Er glaubt – wie so viele andere – den Zeitgeist mitlenken zu können. Welch eine fatale Illusion! Offiziell erwünscht waren zunehmend der „Sozialistische Realismus“ und die Glorifizierung heldenhafter Proletarier, verpönt die Form-Experimente.

Doch in den frühen 20er Jahren hat Malewitsch noch Gelegenheit, sein Formenvokabular aus Kreuzen, einfarbigen Quadraten, Ellipsen und Rechtecken durchzubuchstabieren. Wieder und wieder dreht und wendete er solche Elemente, gruppiert sie immer neu. Kunst aus dem Baukasten.

Zurück zu den Anfängen

Wirklich aufregend wird die Schau mit dem Spätwerk Malewitschs. 1927 hatte er die einzige Auslandsreise seines Lebens, die ihn nach Berlin führte, aus bis heute ungeklärten Umständen abgebrochen und war nach Moskau zurückgekehrt. Große Teile seines Werkes ließ er an der Spree zurück. Wollte Malewitsch diesen Verlust vielleicht wettmachen, indem er malerisch zu seiner Frühzeit zurückkehrte und Bilder bäuerlichen Lebens malte? Und: War die Wiederkehr der Gegenständlichkeit am Ende konservativ oder progressiv?

Was den Kunsthistorikern zu schaffen macht: Malewitsch datierte diese Arbeiten listig auf den Beginn des Jahrhunderts zurück. So tragen sie denn auch in Köln teilweise ratlose Aufschriften wie „Schnitterinnen – 1909/10 o d e r nach 1927.

Verblüffend die Kombinatorik, mit der Malewitsch nun die Richtungen zusammenzwingt: So vereint er Porträts im Renaissance-Stil mit grell modernistisch leuchtenden Grundfarben. Bemerkenswert auch jene gesichtslosen Wesen, die wie Schneiderpuppen aussehen. Man könnte sie heute gar als Kritik am anonym gewordenen sozialistischen Menschen verstehen. Doch falls der Künstler es so gemeint hat, hat er seine Absicht gut maskiert…

Bis 28. Januar im Museum Ludwig, Köln (am Dom). Di.-Fr. 10-18Uhr, Sa./So. 11-18. Mo. geschlossen. Katalog: 48 DM.




Durst-Erlebnis zwischen Lippe und Glasesrand – Luigi Pirandellos „Sechs Personen suchen einen Autor“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Auf der Bühne sieht’s ja aus wie in einem Speditionslager. Für Luigi Pirandellos modernen Klassiker „Sechs Personen suchen einen Autor“ (Regie: Paolo Magelli – Bühne: Jean Bauer) hat man in Wuppertal allerlei Gerümpel aus dem Möbel-Fundus in die Szenerie gestellt. Das Theater handelt von sich selbst und führt seine Mittel vor, auch die angestaubten.

In eine Schauspielprobe platzen jene sechs Personen, ein loser Verbund mit skandalös-inzestuöser und selbstmörderischer Vorgeschichte. Irgendein Schriftsteller, dem diese Figuren eingefallen sind, hat sie nicht ins Bühnenleben entlassen wollen. Nun geistern sie herum und wollen ihr Drama auf eigene Faust dem Theater andienen.

Der unnachgiebige Zergliederer Pirandello zeigt das Skelett eines möglichen, jedoch immer wieder in Frage gestellten und letztlich verweigerten Stückes. Im Spiegelkabinett von Schein und Sein glimmt alsbald die betrübliche Erkenntnis auf: Das Leben kann es nicht mit dem Theater aufnehmen, weil es nicht zur fest umrissenen Form findet; und das Theater kann sich erst recht nicht mit dem wahren Leben anlegen, weil es den eigentlich ungestalteten Rohstoff zu sehr auf konstruierten Sinn und Wirkung hin stilisiert.

Kompliziert genug: Schauspieler stellen auf der Bühne eine Handvoll typisierter Schauspieler (Diva, Trottel, Naivchen, Zampano) dar, andere Schauspieler die Gruppe der gespenstischen Lebe-Wesen. Ein Theaterdirektor (Nikolaus Kinsky) versucht das Chaos zu regieren, was sich doch dem künstlerischen Zugriff hartnäckig entzieht.

Für die Zuschauer ist’s ein ständiges Durst-Erlebnis zwischen Lippe und Glasesrand. So trocken kann Theater sich geben, wenn es seine eigenen Grundlagen untersucht, statt buchstäblich wie ums Leben zu spielen, spielen, spielen.

Doch so ausgedörrt wie in Wuppertal müßte es nicht sein. Schon die Eingangsszene, wenn die Schauspieler zur Probe hereinschlendern, wäre gewiß plastischer und auch komischer zu haben. Allem erkennbaren Bemühen und Vermögen der Schauspieler zum Trotz, wirkt das „Geschehen“ (wenn man es denn beherzt so nennen will) über weite Passagen diffus, gelegentlich auch konfus. Es ist aber auch unmenschlich schwer, einen Text zu spielen, der ganz bewußt immerzu kurz vor der Stück-Werdung innehält.

Friederike Tiefenbacher in der Rolle der Stieftochter, die als Hure im Hinterzimmer eines Hutsalons dem Vater (Horst Fassel) als Kunden begegnet, trifft die richtige Melange zwischen lasziver Verdorbenheit und verletzter Tugend. Wenn das Schauspieler-Trüppchen ihre und die weiteren Tragödien nachzustellen sucht, rutscht man freilich – gegen den ausdrücklichen Willen von Signore Luigi Pirandello – zu sehr ins Parodistische ab. Aus der doch so fragilen Bordellszene wird da nahezu ein gestisch angedeuteter Brutalporno. Eine Selbstkritik des Theaters, das heutzutage manchmal mit Schock-Effekten die Leute locken will?

Es gibt aber auch frappierende szenische Einfälle. Beispiel: Wenn etwa eine Passage aus lauter gesprochenen Ziffernfolgen (Sie: „21-22?“ – Er: ,,76!“) entwickelt wird, so spürt man einiges vom typisch theatralischen Schwebezustand zwischen verzweifelter Sinnproduktion und zungenfertig vorgetragener Absurdität.

Termine: 15., 17., 18., 19. und 22. Nov. (letzte Vorstellung), jeweils 19.30 Uhr (Karten: Tel. 0202/5634444).




Kinderbücher für alle „Menschen im Aufbruch“ – Inge Meyer-Dietrich erhält den 10. Literaturpreis Ruhrgebiet

Von Bernd Berke

Im Westen. Erstmals bekommt eine Kinderbuchautorin den Literaturpreis Ruhrgebiet: Inge Meyer-Dietrich (51) darf sich über die Aufwertung ihrer oft schmählich vernachlässigten Sparte freuen.

Die Preisträgerin stammt aus dem Sauerland. Sie wurde in Altena geboren, wuchs in Bochum auf und lebt heute in Gelsenkirchen-Buer. Kinderbücher („Plascha“, „Rote Kirschen“) lägen ihr am Herzen, weil sie so gern „Menschen im Aufbruch“ schildere, sagte die dreifache Mutter gestern. Die Auszeichnung, vormals an so bekannte Autoren wie Max von der Grün und Josef Reding vergeben, ist mit 15 000 DM datiert. Inge Meyer-Dietrich setzte sich gegen 34 andere Nominierungen durch, u. a. mit Geschichten über die gelungene Integration polnischer Kinder im Revier.

Für die beiden mit je 5000 DM gepolsterten Förderpreise waren diesmal satirische Texte gefragt. Die Jury bewertete 159 Einsendungen. Es kristallisierte sich übrigens kein Thementrend heraus: Scharf gespottet wird über alles und jedes, ob über Höhen der Politik oder Niederungen des Privatlebens – beziehungsweise umgekehrt.

Ein Förderpreis geht nach Dortmund: Ulla Diekneite (38) ist bisher als Mitglied des Kabarett-Duos „Extra 2″ (mit Conny Reisberg) hervorgetreten. Für den Wettbewerb verfaßte sie jene Kurzgeschichte über eine junge Frau, die verzweifelt einen Job sucht und der die abenteuerlichsten Qualifikationen abverlangt werden.

Jury bescheinigt sich selbst „gute Fischzüge“

Mit dem 28jährigen Studenten Thomas Brandt (Dusseldorf) kürte man außerdem einen Neuling im Kulturbetrieb. Sein Text handelt von einem ebenso fiktiven wie findigen Reisebüro, das Autobahn-Staus im Revier als Abenteuerurlaube anbietet. Brandt, der gerade über seiner Magisterarbeit brütet: „Wissenschaft ist mir eigentlich zu trocken. Ich erfinde lieber etwas.“

Der Revier-Literaturpreis, ausgelobt vom Kommunalverband Ruhrgebiet (KVR), wird zum 10. Mal vergeben. Vor drei Jahren wurde der Betrag für den Hauptpreis um 5000 DM erhöht. Heute ist man froh, wenn man ihn erhalten kann. Jurymitglied Volker W. Dcgener findet, daß man immer wieder „gute Fischzüge“ gemacht habe. Einige der früheren Förderpreisträger hätten sich zumindest in literarischen Nischen eingerichtet.

Schließlich wurde auch wieder die alte Klage über das Fehlen eines großen Belletristik-Verlages im Revier erhoben. Nur ein leuchtendes Beispiel wußte man zu nennen: „Grafit“ (Dortmund) habe sich im Krimifach bundesweites Renommee verschafft. Das kann doch nicht alles gewesen sein .. .




Häßliche Armut, Schönheit der Kunst – „ArmutsZeugnisse“ im Dortmunder Ostwall-Museum

Von Bernd Berke

Dortmund. Wenn Künstler die Armut darstellen, können sie leicht in eine Falle tappen. Denn jedes bißchen „Zuviel“ an schöner Linie, an ausgeklügelter Form und Ästhetik wird diesem Thema nicht mehr gerecht. Die Ausstellung „ArmutsZeugnisse“ im Dortmunder Ostwall-Museum enthält viele Beispiele für Balancen und Abstürze auf dem schmalen Grat.

Der vom Dortmunder Fritz-Hüser-Institut für Arbeiterliteratur konzipierte (und von einigen Unternehmen gesponserte) Überblick belegt, daß Armut nach der Jahrhundertwende und in den 20er Jahren ein zentrales Feld der Kunst gewesen ist. In der NS-Zeit wurde das Thema unterdrückt, und im Wirtschaftswunder-Optimismus der 50er Jahre wollte niemand mehr daran erinnert werden.

Zu Zilles Zeiten war’s noch nicht so kompliziert

Erst mit den Krisen der 80er Jahre kam das soziale Menetekel erneut auf. Doch nun werden kaum noch direkte Darstellungen riskiert. Auf abstrakten Farb- und Formenwerten – so etwa bei Felix Droese – lasten nun Inhalt und Ausdruck. Dies erweist sich zuweilen als Überfrachtung. Gelegentlich müssen Schriftzüge im Bild das Thema erst benennen. Andere Künstler retten sich in distanzierte Ironie. Ist Armut am Ende gar nicht mehr künstlerisch zeigbar?

Zu Zeiten eines Heinrich Zille und einer Käthe Kollwitz, mit denen der Rundgang beginnt, schien alles einfacher zu sein. Zille gewährt Einblicke ins vielzitierte Milljöh, die jedoch jetzt als eine Art Folklore verkostet werden könnten. Und schwächere Arbeiten der Kollwitz wirken aus heutiger Perspektive leicht bittersüßlich, wie auf bloße Rührung angelegt. Das kann man von George Grosz und Otto Dix nicht behaupten. Sie zeigen die grotesken Fratzen und Phantome der Armut mit anklagender, immer noch schmerzhafter Deutlichkeit. In der Neuen Sachlichkeit weicht derlei Vehemenz dann wieder einer unterkühlten Glätte.

Auf interessante Nebenwege führt ein Raum mit Eigenbesitz des Hüser-Institutes. Hier sieht man Bilder der sogenannten „Vagabunden“ um Hans Tombrock. Generell gilt: Ein karger Holzschnitt sagt über Hunger, Ausbeutung und Wohnungsnot oft mehr als ein Ölbild. Denn schon mit der Farbe kann die Beschönigung beginnen.

Ein spezielles Exponat sind Teile jener gerichtlich umstrittenen „Klagemauer“, die ein Obdachloser vor Jahren auf der Kölner Domplatte errichtet hat. Das Erscheinen dieser Vielzahl von Papp- und Papierstücken (mit handschriftlichen Aufrufen gegen Elend und Krieg) in einem Museum zeigt nochmals den Zwiespalt: Dokumente eines Notstandes, in der Freizeit konsumierbar.

„ArmutsZeugnisse“. Dortmund. Museum am Ostwall. 5. Nov. bis 31. Dezember, Di-So 10-17 Uhr. Eintritt 4 DM (ermäßigt 1 DM). Katalog 38 DM.




Aus Lust und Liebe wird rohe Gewalt – Düsseldorf: Karin Beier inszeniert „Sommernachtstraum“ in neun Sprachen

Von Bernd Berke

Düsseldorf. In grauer Vorzeit wurden alle Wesen in eine männliche und eine weibliche Hälfte geteilt. Seitdem, so will es der griechische Mythos, gibt es die Sehnsucht nach Vereinigung. Und irgendwann fiel die Menschheit in babylonische Sprachverwirrung. Seither, so steht’s in der Bibel, ringen wir um Verständigung. Karin Beiers Düsseldorfer „Sommernachtstraum“-lnszenierung handelt von den Folgen beider Ur-Trennungen.

In neun bunt durcheinander gewirbelten Sprachen wird Shakespeares Stück vom internationalen Ensemble gespielt: Italienisch, Englisch, Französisch, Hebräisch, Ungarisch, Polnisch, Bulgarisch, Russisch und Deutsch.

Man muß sich erst an den schwindelerregenden Wechsel der Idiome gewöhnen. Doch die so verschiedenen Sprachmelodien verleihen dem Text musikalische Qualität, als spielten da diverse Instrumente eines Orchesters; schrille Mißklänge inbegriffen. Denn die Figuren und ihre Sprachen hetzen einander auch schon mal mit nationalistischen Untertönen. Jedes Wort birgt Gefahr.

Wenn die Körper zu reden beginnen

Vor allem aber: Shakespeares unverwüstliche Liebes-Wirrnis. mit der man auf der Bühne so manches wilde Phantasie-Abenteuer riskieren darf, wird im polyglotten Chaos ungeheuer körperbetont dargeboten. Wie im Urlaub: Menschen, die einander sonst nicht verstehen, reden mit Händen und Füßen. Hier erlebt man hochgezüchtete Kunstformen solcher Bemühungen. Sie münden mal in tanztheatralische Figuren à la Pina Bausch, mal in die vollends famosen Clownerien des (beileibe nicht nur) komischen Handwerker-Haufens, der hier mit Bohrmaschinen zum Satyrspiel antritt. Über den aufgebockten Bühnenboden, in den allerlei Falltüren eingelassen sind, werden nur hie und da ein paar Tücher gespannt und drapiert. Schon kann es losgehen mit der Ideenflut, mit unbändigem Spaß und blutigem Ernst.

Karin Beier beweist, auch unter erschwerten Bedingungen der vielen Zungenschläge, ihr enormes Geschick im Umgang mit Schauspielern. Gelegentlich wirkt das Ensemble wie ins absolute Spielglück „freigelassen“; mag die Szene denn rollen, wohin sie auch will. So bekümmert man sich auch nicht allzu sehr um integren Text, sondern dichtet munter hinzu und borgt Zeichen auch aus trivialen Bereichen (Comics, Kino, Fernsehen, Horror).

Zupackende Frauen und hilflose Männer

Elfenkönig Oberon und Athens Herrscher Theseus werden hier vom selben Manne gespielt (Paolo Calabresi mit perlendem Parlando). Er ist Doppel-Regent im Tages- wie im Traumreich (durch das der Puck in Damenschuhen stöckelt) und präsentiert die Szenen wie ein Impresario.

Unnachgiebig enthüllt werden zumal die Demütigungen und Gewaltakte, die aus Liebe und Lust erwachsen. Die Frauen werden heftig handgreiflich in ihrer Liebessucht, sie reißen den Männern geradezu Hemd und Hosen runter. Dies macht die Herren so hilflos, daß sie sich in Aggression flüchten. Jedwede erotische Anziehung endet als brutale Abstoßung, gewaltsames Mitschleifen, Schlagen oder Würgen. Dunkle, unbeherrschbare Macht der Triebe. Liebe oder Haß? Es scheint fast egal zu sein. Oh, jammervolles Begehren. Gegen solche Härten werden – wie poetische Wunschbilder – jene hauchzarten Szenen gesetzt, durch die von fernher leise ein magisches „Kling-Klang“ zu wehen scheint.

Phänomenal, wie sich Karin Beier eine gleichsam kindliche Sicht bewahrt hat. Manchmal wähnt man sich auf dem Spielplatz. Dann setzt es z.B. Pitsche-Patsche-Ohrfeigen, und alle tummeln sich mit heißen Köpfen und Geschrei. Doch derlei wunderliche Alberei kann sogleich in untröstliche Trauer übergehen – wie ein lachlustiger Kindertag in plötzliche Tränen.

Termine: 3., 4., 5., 18. Nov. Karten: 0211/36 99 11.

 




Seelenhauch zwischen Himmel und Erde – „Jenseits der Wolken“ von Antonioni und Wenders

Von Bernd Berke

Hinter jedem Kinobild verbirgt sich eines, das der Wahrheit näher kommt. Dahinter steckt wieder eins, nochmals authentischer. Und so fort. Doch die volle Wahrheit hat noch kein Mensch je gesehen. So sinniert ein Regisseur (John Malkovich) in „Jenseits der Wolken“, dem Gemeinschaftswerk von Michelangelo Antonioni und Wim Wenders. Ein akuter Fall von Tiefsinn?

Gelegentlich beschleicht einen der Gedanke, dieses Opus schwebe als körperloser Seelenhauch zwischen Himmel und Erde. Gut vorstellbar, daß dies ein Anteil von Wim Wenders ist, der ja stets den wahren, den kaum noch faßbaren Empfindungen nachspürt. Wenders ist dem Altmeister Antonioni (83), der seit einem Schlaganfall künstlerisch geschwiegen hat, beim Herstellen dieses Vermächtnisses wohl erheblich zur Hand gegangen. Die Buchvorlage freilich stammt von dem Italiener.

Der Film besteht aus vier Episoden, die ein vielteiliges Sinn-Puzzle bilden.Nomadische Phantasie-Streifzüge des besagten Regisseurs führen durchs unwegsame Gelände der Geschlechter.

Zuerst begegnen sich ein Mann und eine Frau im italienischen Provinzhotel. Innig ersehnen sie eine Liebesnacht und meiden sie doch. Erneuter Verzicht, als sie sich zwei Jahre später durch Fügung wiedertreffen: Der Mann, offenbar Vorbote (oder gar Apostel?) einer neuen Keuschheit, nimmt vom Liebeslager Reißaus: Er wolle sich die Gefühle, von denen er nun angefüllt sei, nicht durch schnöden physischen Vollzug rauben lassen. Zuvor hat das umwölkte Paar ausgiebig philosophische Sätze miteinander getauscht. Nun steht sie am Fenster und schaut ihm traurig nach. Im Comic würde es hier heißen: „Seufz!“

Die tiefen Blicke der Vatermörderin

Den unbehausten Regisseur zieht’s in die nächste Stadt: von Ferrara nach Portofino. Dort, vor elegischer Küsten-Kulisse, fasziniert ihn ein Ladenmädchen (Sophie Marceau). Ihre tiefen, tiefen Blicke! Da verrät sie ihm, daß sie vor Jahresfrist ihren Vater ermordet habe. Mit zwölf Messerstichen. Dieser Anzahl, die sich nach dem Empfinden des Regisseurs so unwirklich anhört und doch so verflucht wahrhaftig ist, wird nahezu biblische Bedeutung beigemessen.

Sodann trägt es uns weiter nach Paris. Dort erleben wir ein facettenreiches Rondo der Trennungen und des Findens neuer Partner. Auslöserin ist ein junges Mädchen, das einen Ehemann in mittleren Jahren der Gattin (Fanny Ardant) abspenstig macht. Schließlich geht in Aix-en-Provence ein lebenslustiger Filou einem ätherisch lächelnden Mädchen bis in die Kirche nach. Doch sie muß ihn enttäuschen: Tags darauf wird sie, nur noch eine Braut Christi, als Nonne ins Kloster gehen. Noch so eine keusche Gestalt.

Höhere Sphären der Vergeistigung

An zentraler Stelle wird jene Geschichte von den Indios erzählt, die mitten auf dem Wege verharren, um erst einmal „auf ihre Seelen zu warten“. So wird denn auch die Handlung getragen von melancholischer Verweigerung jeglichen schnellen Zugriffs im Leben. Auch weibliche Nacktheit sieht in solchen Zusammenhängen verletzlich aus, als dürfe sie nur bei Strafe der Trivialität angetastet werden.

Trotz alledem ist’s nicht nur fromme Liturgie, sondern auch Kino. Viele (Über)-Empfindlichkeiten gehen wirklich in den Bildern und im sensiblen Spiel der Darsteller auf. So verströmt das Ganze denn doch eine gewisse ruhige Kraft. Sie entspringt wohl höheren Sphären der Vergeistigung. Möglich, daß man sich unbeschwerter fühlt, wenn man hiernach aus dem Kino kommt. Fast wie auf Wolken.




Geschmacklich aufs Glatteis – Streckenweise unsägliches Musical „Asyl“ in Krefeld

Von Bernd Berke

Krefeld. Selten begibt sich ein Theater so aufs Glatteis wie jetzt die Vereinigten Bühnen in Krefeld/Mönchengladbach: Sie spielen zum bitterernsten Thema Asyl – ein Musical.

Es war bestimmt alles bestens gemeint. Man wollte sich an den landläufigen Musical-Boom anhängen und dabei kritische Inhalte „transportieren“. Lag das nicht nah? Doch nach der Krefelder Uraufführung von „Asyl“ (Text: Olaf Baumann, Musik: Stephan Benger) kann man sich fragen: Was hätte ferner gelegen als dies?

Erzählt wird die Geschichte des jungen Schwarzen Manuel Makumba, der aus afrikanischer Bürgerkriegsnot nach Deutschland flüchtet und um Asyl bittet. Mit einer freiheitlich-demokratischen Samba wird er „willkommen“ geheißen, doch dann lernt er den schmutzigen „Behörden-Blues“ kennen.

„Hungersnot und Pestilenz / kosten deine Existenz“

Der Anfang spielt noch in Afrika. Da ertönt der Song „Hungersnot und Pestilenz / kosten deine Existenz“. Unbekümmerter Reim, fürwahr. Satirisch soll es sein, unfreiwillig zynisch ist es geworden.

Natürlich verfallen nachher die deutschen Amtspersonen sofort in militärisches Gehabe. Derlei Klischees drängen sich wie von selbst auf, denn die rockbetonten Liednummern zählen nur zur Pop-Handelsware Klasse B.

Es gibt auch stimmig-grimmige Szenen: jene etwa, in der Makumba amtlicherseits in einen Müllcontainer gepfercht wird, um den sich alsbald die „linken Freunde“ scharen. Stimm- und gesinnungsstark lassen sie „Multikulti“ hochleben. Ins absurde Tänzchen mischen sich auch türkische Müllmänner.

„Dem Asylanten, dem geht’s gut…“

Wenn jedoch die zunehmend faschistischen Sprüche, mit denen Makumba in Deutschland gepeinigt wird, in ebenso schmissige Rock-Rhythmen gegossen werden wie die grundgute Gegenmischung, so wirkt das – wohl oder übel – als Anreiz zum Mitklatschen, dem manche im Publikum prompt erliegen. Auch sie wollen nichts Böses, es hat sie eben mitgerissen: „Dem Asylanten, dem geht’s gut / Den packt nie die Arbeitswut“. Welch ein Hit.

Mit der Figur des Makumba (stimmlich passabel: Dennis Durant) hat man sich zudem einen edlen Vorzeige-Schwarzen zurechtgebogen. Er ist fraglos der beste Mensch weit und breit. Wie zum Lohne sorgen zwei groteske Amor-Putten mit ihren Pfeilen dafür, daß er und die „Vorstadt-Perle“ Katharina füreinander entflammen…

Je engagierter hier gespielt wird, desto näher gerät man durch schiere Innigkeit an den Rand der Geschmacklosigkeit. Am Schluß freilich, wenn die bräunlichen Horden (in Trainingsanzügen und mit am Hintern „festgewachsenen“ Bar-Säuferhockern) in einer schrecklichen Walpurgisnacht „den Neger abfackeln“ wollen, gewinnt die Inszenierung (Matthias David) momentweise etwas von jener Dringlichkeit, die ihr über weite Strecken fehlt.

Weitere Termine: 1., 9., 12., 14., 18. November. Karten: Theater Krefeld (Theaterplatz 3): 021 51/805-1 25.




Gefährlich lockt das Weib – Frankfurt: Groß angelegte Kunstschau zur Erotik in der Wiener Moderne

Von Bernd Berke

Frankfurt. Wie haben sich diese Herren mit dem Bildnis der Frau abgeplagt! Sie war ihnen die gefährlich lockende Sirene, das animalische Wesen oder die rätselhafte Sphinx. „Sehnsucht nach Glück“ heißt eine großartige Frankfurter Ausstellung zur Wiener Moderne der letzten Jahrhundertwende. Wo aber ist das Glück?

Zentralfiguren der umfangreichen, mit Raritäten gespickten und aus allen Weltteilen zusammengetragenen Schau (rund 200 Exponate) sind Gustav Klimt und Egon Schiele. Zudem wird der Umkreis der 1897 gegründeten „Secession“ einbezogen, mit deren Wirken die (gleichfalls in Beispielen gezeigte) akademisch-bombastische Salonkunst von „Malerfürsten“ wie Hans Makart überwunden werden sollte. Spitzenwerke von internationalen Gästen der damaligen Gruppenausstellungen (z. B. Edvard Munch) runden das pralle Zeitbild ab.

Auf eigenen Pfaden unterwegs

Die Frankfurter Auswahl ist im Zusammenklang mit dem Österreich-Schwerpunkt der Buchmesse entstanden. Und siehe da, es verhält sich ähnlich wie auf dem Felde der Literatur: Auch die bildenden Künstler des Alpenlandes haben sich ihre speziellen Pfade zur Moderne gebahnt. Mit Schubladenbegriffen wie Symbolismus und Jugendstil ist dies schwerlich zu fassen.

In der Schirn-Kunsthalle hat man gut daran getan, die Beweisführung nicht ausufern zu lassen, sondern sich auf ein Thema zu konzentrieren – eben die Darstellung von Eros und Sexualität.

Obwohl die Grundformel eigentlich „Kunst plus Weib gleich Lebensglück“ lauten sollte, erbeben die meisten Werke in lasziven Angst-Lust-Phantasien vor der Frau. Das Weib erscheint fast immer im Rollenschema zwischen Hure und Madonna. Kein Zweifel allerdings, daß gerade aus derlei seelischen Verkantungen und Zerklüftungen mitreißende Kunst erwachsen ist.

Gustav Klimt läßt einige nackte Damen als stumme und gänzlich anonyme „Goldfische“ (1901/02) durchs erotische Bassin schwimmen. Nach historisierenden Anfängen mit plüschig wucherndem Dekor, erobert sich Klimt mit dem Bildnis der „Sonja Knips“ (1898) buchstäblich neuen Freiraum, denn er beläßt eine große leere Fläche neben der eleganten Frauenfigur. Alsbald wird er solche Felder mit Ornamenten füllen – ein Weg in die Abstraktion. Schlüsselbild für diese Entwicklung ist „Pallas Athene“ (1898), die damals mit ihrer in Goldflitter eingefaßten, unerbittlich fordernden Erotik für Skandale sorgte. Gipfelwerk einer zum Sprechen gebrachten Ornamentik ist „Die Jungfrau“ (1913), sogkräftige Zusammenschau der Stufen von Unschuld und „Sünde“.

Der Mann als Opfer seiner Triebe

Dem Manne bleibt in solchen Szenarien und (jeweils anders abgestuft) in denen etlicher Zeitgenossen (u. a. Oskar Kokoschka, Lovis Corinth, Fernand Khnopff) meist nur die Rolle eines an den Rand gedrängten Voyeurs, eines hilflosen Opfers der Triebe. Tödlicher Akt des Verderbens: Max Klingers nixenhafte „Sirene“ (1895) reißt ihren Partner ins wild wogende Meerwasser der Lüste. Es wirkt wie ein verzweifelter Gegenangriff, wenn Egon Schiele das Fleisch der Frauen zeigt, als sei es gegeißelt worden. Vollends auf die Nachtseite treibt der mit exquisiten Tuschfederzeichnungen vertretene Alfred Kubin das Thema. Er wirbelt den dunklen Bodensatz der sexuellen Alpträume auf.

Die Summe des Unglücks und der gescheiterten Ansprüche, Kunst und Leben zu versöhnen, verrät sich in den Selbstporträts. Besonders angesichts der hochmütig-verkrampften Abwehrposen, mit denen sich Egon Schiele selbst vergegenwärtigt hat, kann einen das Frösteln erfassen.

„Wiens Aufbruch in die Moderne“. Schirn Kunsthalle, Frankfurt/Main (Römerberg). Bis 3. Dezember, tägl. außer montags 10-19 Uhr. Mi/Do 10-22 Uhr. Katalog 49 DM.




Rauchzeichen der Seele – Wayne Wangs Film „Smoke“

Von Bernd Berke

Was wiegt eigentlich der Rauch einer Zigarette? Schwer zu sagen. Da könnte man sich ebensogut gut fragen, wie gewichtig eigentlich die menschliche Seele sei.

In Wayne Wangs neuem Film ‚ „Smoke“ (Drehbuch vom New Yorker Romancier Paul Auster) gerät das Leben beinahe unmerklich auf die Feinwaage. Zentrum des zunächst ganz zerstreut und episodisch wirkenden Erzähl-Kosmos, der jedoch insgeheim von sinnreich verknüpften Zufällen gelenkt wird, ist ein kleiner Tabakladen in Brooklyn.

Hier trifft man sich, quatscht ein bißchen über dies und das. hier kauft man seinen Rauchbedarf. Der leicht zerknautscht wirkende Auggie (Harvey Keitel), der hinter der Theke steht, ist der gute, wenn auch gelegentlich etwas mürrische Geist: Sozialhelfer, Weltweiser, Philosoph. All dies. Und ein herzhafter Mensch obendrein.

Auggie hegt eine archivarische Leidenschaft: Jeden Morgen, pünktlich um 9 Uhr, geht er zur anderen Straßenseite ‚rüber, baut sein Stativ auf und fotografiert den Laden. Über 4000 Bilder hat er schon in Alben gesammelt.

Was täglich unbemerkt geschieht

Gleichen sich diese Zufalls-Schnappschüsse wie ein Ei dem anderen? Ansichtssache. Auggie findet, es seien Sinnbilder dessen, was tagtäglich überall auf Erden geschieht und was man sonst kaum bemerkt. Unscheinbares menschliches Treiben und vergehende Zeit sind darin eingefangen. Manchmal auch bedeutend mehr: Eines Abends entdeckt der Zigarren-Kunde und Schriftsteller Paul (William Hurt), dem Auggie die Alben zeigt, seine Frau auf einem der Fotos. Paul bekommt einen Weinkrampf, denn sie ist inzwischen bei einem Überfall erschössen worden – mit ihrem Baby im Bauch,

Als schwebe die Handlung auf spiraligen Rauchschwaden hin und her, ist fortan oft von Verlusten und Wiederkehr die Rede. Auggies Ex-Freundin Ruby taucht nach 18 Jahren auf und erbettelt Geld für eine angeblich gemeinsame Tochter, die schwanger und dem Rauschgift Crack verfallen sei. Ein schwarzer Jugendlicher begibt sich auf den Weg zu seinem lang vermißten Vater. Suche nach verlorener Zeit, nach entbehrtem Zusammenhang. Da wird auch schon mal biographisch geflunkert. Wer keinen Halt mehr hat, denkt sich einen aus. Der Film ist gesättigt mit lauter kleinen Geschichten, die daraus entspringen.

Versteht sich, daß durchweg geraucht wird, was die Lunge hält. Schon darin ist’s ein Werk gegen den amerikanischen Trend zur Abstinenz. Vor allem aber zeigt Wayne Wang eine engelhafte Geduld beim Aufspüren von Nuancen, beim Beobachten von Gesichtern und Gesten. Kurz: Bei der Herstellung von Wahrhaftigkeit.

„Smoke“ hüllt den Zuschauer ein wie sanfter Rauch: schwerelos und doch von etlichem Gewicht.




Die artige Avantgarde – Wuppertals Museum zeigt Ausstellung über Worpsweder Künstlerkolonie

Von Bernd Berke

Wuppertal. Idyllen, wohin man auch blickt: Die Bäuerin stillt am Ackersrande ihr Kind. Der Pfarrer hält eine Andacht im Freien – und alle lauschen demutsvoll. Die alte Märchenerzählerin spinnt Geschichten aus, die Kleinen bleiben ganz brav dabei. Es herrscht, so scheint es, tiefer Frieden im Land.

Der Eindruck von artigen, frommen und tugendsamen Zeiten läßt kaum den Gedanken aufkommen, daß die berühmte Künstlerkolonie Worpswede bei Bremen, in der solche Bilder entstanden sind, bei den Zeitgenossen als ein Posten der Moderne gegolten hat. Paßt das denn zusammen: heile Welt der Ackerkrume und avantgardistischer Anspruch?

Unverfälschte Natur gesucht

Otto Modersohn, Fritz Mackensen, Heinrich Vogeler, Fritz Overbeck und Hans am Ende wollten, nach dem Beispiel französischer Freiluftmaler, in möglichst unverfälschter Naturnähe leben und diesem Hochgefühl bildlichen Ausdruck verleihen. Eine in Bremen zusammengestellte, beachtliche Ausstellung im Wuppertaler Von der Heydt-Museum erinnert jetzt an diesen Künstlerkreis, der anno 1895 – vor genau 100 Jahren – mit seinen Beiträgen zur Mammut-Ausstellung im Münchner Glaspalast (1931 abgebrannter Prachtbau) den triumphalen „Durchbruch“ erfuhr.

Bemerkenswert: Hätten die Worpsweder damals in München nicht im Kontext von lauter konservativen Akademiemalern ausgestellt, sondern bei der freimütigen „Sezession“, so wäre wohl kaum eine Differenz aufgefallen. So aber bemerkten Kritik und Publikum den Unterschied sogleich und priesen ihn.

Weiterer Coup, um am Kunstmarkt zu reüssieren, waren die Riesenformate, die sogleich alle Aufmerksamkeit in Beschlag nehmen und auf den ersten Blick imponieren sollten. Fritz Mackensens „Gottesdienst im Freien“ (1895) war beispielsweise so großflächig geraten, daß der Künstler das Bild in der wärmeren Jahreszeit lieber nicht im Atelier ließ, sondern draußen an eine Friedhofsmauer lehnte. In Wuppertal sieht man eine etwas kleinere Vorstudie.

In der eigentlichen Worpsweder Gruppenphase (1894 bis 1899) kamen bei manchen Kunstbetrachtern gewisse Untertöne ins Spiel. Mit „Worpswede“, so befanden sie, schließe man endlich wieder künstlerisch zum Konkurrenten Frankreich auf, dessen Impressionisten die Szene so lange und nachhaltig beherrscht hatten. Manche Leute suchten und fanden bei den Worpswedern etwas Kerniges und „Echtes“, nicht vom französischen Raffinement Verdorbenes. Am deutschen Wesen…

Jenseits der bloßen Idylle

Gegen solche Zuweisungen konnten sich die Worpsweder schlecht wehren. In Wuppertal werden ihre Arbeiten nicht – wie sonst so oft – als Hervorbringungen einer Gruppe behandelt, denn man will die individuellen Unterschiede nicht verwischen. Also wird jedem Künstler eine eigene Raumflucht gewidmet, so daß die stilistischen Eigenheiten jeweils klar hervortreten.

Es wird zum Beispiel deutlich, daß Heinrich Vogeler die entschiedenste Neigung zu floralen Jugendstil-Ornamenten entwickelte oder daß Hans am Ende eine verspielte Vorliebe für Windmühlen-Motive hegte. Auch die Gewichtung von Figuren und Landschaften handhabt jeder ein bißchen anders. Und es gibt herrliche Landschaftsbilder in dieser Schau – mit satten Herbstfarben, geheimnisvollen Mooren und wunderbarem Wolkenspiel. Es ist eben Kunst, die über bloß naive Idyllen hinausweist.

Die Worpsweder Maler. Vom 22. Oktober 1995 bis 14. Januar 1996 im Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Elberfeld, Turmhof 8). Di bis So 10-17 Uhr, Do 10-21 Uhr. Katalog 38 DM.

 




Jeder Dichter braucht seine eigene Legende – Gespräch mit Robert Gernhardt auf der Buchmesse

Von Bernd Berke

Frankfurt. Robert Gernhardt (57), früher von der Kritik eher als Satiriker, Parodist und erlesener Humorist behandelt, gehört seit ein paar Jahren im öffentlichen Urteil einer höheren Gewichtsklasse an und wird endlich als der ernsthafte Dichter wahrgenommen, der er (auch) ist. Ein Gespräch auf der Frankfurter Buchmesse, wo sein neuer Band „Wege zu Ruhm“ (Haffmans) vorgestellt wird.

Fühlen Sie sich wohl mit Ihrem gestiegenen Ansehen bei der Kritik?

Robert Gernhardt: Ich fühle mich am wohlsten, wenn ich nicht fest zugeordnet werden kann. Ich nehme mir nach wie vor die Freiheit, auch mal einen Band mit Bilderwitzen zu veröffentlichen. Die Freiheit hat nicht jeder.

Wenn ein Peter Handke zum Beispiel plötzlich Witze zeichnen würde…

Gernhardt: Ich glaube, das würde das Handke-Bild doch sehr verstören. Obwohl man als Literat immer noch mehr Möglichkeiten hat. In der Bildenden Kunst sind die Zuordnungen noch viel strenger.

In Ihren nicht durchweg ernst gemeinten Ratschlägen für angehende Schriftsteller in „Wege zu Ruhm“ haben Sie an alles gedacht, auch an die Wahl des richtigen Pseudonyms. Nach dem Klangvorbild von „Pablo Picasso“ wird z. B. scherzhaft „Igor lncasso“ erwogen, was ja schon auf erwartete Einnahmen hindeutet.

Gernhardt: Im Grunde würde ich von diesem Namen abraten. Der Künstler sollte eigentlich stets den Bedürftigen raushängen. Der Leser will in der Regel keinen satten Künstler. Zwei Sachen machen ja den Ruhm aus: das Werk und die Legende. Bei der Frage nach dem Werk habe ich mich an Georg Christoph Lichtenberg gehalten, der es in zwei Worte gefaßt hat: „Laßt’s laufen.“ Goethe hat auch seinen „Werther“ laufen lassen – und der läuft bis heute. Mein Buch handelt mehr von der Legende.

Sie empfehlen sogar, sich frühzeitig die richtige, also legendenträchtige Todesart auszusuchen.

Gernhardt: Richtig. Man stirbt besser nicht auf den Champs Elysées bei Gewitter, durch einen herabstürzenden Ast erschlagen, denn das ist Ödön von Horváth schon passiert. Es wäre also ein Plagiat. Das Lesepublikum will immer neue Legenden von Außenseiter-Künstlern.

Was passiert denn einem jungen Menschen, der Ihr Buch rundweg für bare Münze nimmt?

Gernhardt: Nun, er kann sich schon einiges zu Herzen nehmen. Zum Beispiel sollte er zusehen, daß er ausgefallene Berufe betreibt. Leichenwäscher, Nachtportier oder dergleichen.

Haben Sie so was mal gemacht?

Gernhardt: Das ist nicht so doll bei mir. Ich hab‘ mal am Tiefbau gearbeitet. Sie treffen da einen wunden Punkt. Ich sollte tatsächlich meine eigene Legende noch mal überprüfen. Einer Journalistin hab‘ ich mal untergejubelt, ich sei bei der Fremdenlegion gewesen, und sie hat’s geschrieben. Das wäre vielleicht ein Baustein für eine Legende gewesen. Oder auch, wenn man im Knast das Schreiben anfängt – wie Jean Genet.

Aber Sie werden doch der Legende zuliebe nicht in den Knast wandern wollen?

Gernhardt: Nein, nein. Aber wenn man schon mal drin ist, sollte man es nutzen. Auf jeden Fall „kommt“ Knast bei der landläufigen Kritik besser als Hauptseminar und Fortbildungskurse.

Den vielbeschworenen „großen Roman zur deutschen Einheit“ dürfen wir von Ihnen wohl nicht erwarten?

Gernhardt: Oh, nein! Den hat doch der Grass gerade geschrieben. Wenn ich eine Rolle habe im Restaurant zur deutschen Literatur, dann nicht am Fenster, sondern am Nebentisch oder im Bistro. Jawohl, ich gehöre zur „Bistro-Bande“.




Wenn die Zeit den Dichter krank macht – ein Gespräch mit Peter Rühmkorf auf der Buchmesse

Von Bernd Berke

Frankfurt. Peter Rühmkorf, 1929 in Dortmund geboren, zählt zu den versiertesten Sprach-Artisten der deutschen Literatur. Jetzt ist sein Werk „Tabu 1 – Tagebücher 1989-1991″ (Rowohlt, 624 Seiten, 54 DM) erschienen, scharfzüngige Zeitschau der „Wende“-Phase aus erschütterter linker Sicht – und bewegender Bescheid von den Leiden des Alterns. Ein Gespräch auf der Frankfurter Buchmesse:

Sie Verraten in Ihrem Buch einige peinliche Dinge über Prominente. Zum Beispiel, daß der Dramatiker Rolf Hochhuth gelegentlich Selbstgespräche auf öffentlichen Toiletten führt. Ist das nicht Tratsch?

Peter Rühmkorf: Ich wollte kein Schlüsselloch-Buch schreiben. Trotzdem sind mir im Laufe der Jahre einige kleine Szenen über den Schirm gehuscht, die ich mitgenommen habe.

Am wenigsten haben Sie sich selbst geschont. Sie schildern detailliert ihre körperlichen Beschwerden.

Rühmkorf: Es kommt ja nicht nur auf den rohen Inhalt an. sondern darauf: W i e ist es gemalt? Wenn Rembrandt, der junge Dürer oder auch Horst Janssen sich selbst gezeichnet haben, wie unbarmherzig sind die mit sich umgegangen! Weil es einen berechtigt, scharf auf die übrige Welt zu blicken.

Warum die Zeit von 1989 bis 1991?

Rühmkorf: In meiner Biographie gab es bestimmte Brüche. Einen Bruch im Rücken, weil mir ’ne Bandscheibe rausflog. Dann starb mein altes Mütterchen. Und dann kam auch noch die deutsche Einheit.

Das Thema hat Sie offenbar sehr beschäftigt.

Rühmkorf: Zutiefst. Schon als die APO, die Außerparlamentarische Opposition der 60er Jahre, sich in Luftblasen auflöste, habe ich mich gefragt, wie mein Ego überhaupt noch zusammenhielt. Ähnlich war es hier.

Trügt der Eindruck, daß Sie den Prozeß der Vereinigung, den Sie als Vereinnahmung verstehen, noch schärfer kritisieren als Günter Grass?

Rühmkorf: Grass hat eine ganz andere Methode. Ich wollte zeigen: hier das Privatleben – dort der geschichtliche Horizont. Wo paßt es zusammen und wo klafft es unvereinbar? Und weil ich die Haltung zu meinem eigenen Lande bis in meinen Organismus hinein als kritisch erlebt habe, wollte ich diese Gemütslage festhalten. Ich reagierte damals auf den Zuwachs der Nation mit Verweigerungssymptomen, ich wurde krank.

Welche Rolle spielt der Rausch? Sie verzeichnen häufig ihren Alkoholkonsum oder auch Haschisch-Proben.

Rühmkorf: Ich bin ein Sucht-Charakter. Ich habe ein süchtiges Verhalten zum ganzen Leben. Ich bin auch arbeitssüchtig. Und ich habe ein Sucht-Verhältnis zum Fernsehen.

Es gibt wohl kein anderes Tagebuch, in dem Fernsehen so oft vorkommt.

Rühmkorf: Das stimmt. Ich habe hinterher fast einen Schrecken bekommen. Aber das Fernsehen hat etwas Verbindendes. Wenn ich immer nur über Leute spräche, die keiner kennt, wäre es uninteressant. Über den Schirm flimmern die bekannten Gestalten. Und: Die moderne Fernseh-Schnittechnik ist meiner literarischen Methode verwandt. Diese rasanten Abfolgen. Ähnlich ist es mit dem Tagebuch. In einem Moment sind wir in meinem Gärtchen, im nächsten auf der Bonner Bühne.

Sie sind mit Günter Grass befreundet, und Sie haben Arbeitskontakte mit dem Kritiker Marcel Reich-Ranicki gepflegt. Wie haben Sie den Streit um Grass‘ Roman „Ein weites Feld“ erlebt?

Rühmkorf: Ich habe Ranicki daraufhin einen gemeinsamen Auftritt abgesagt. Ich habe ihm nicht seine Kritik im „Spiegel“ verübelt, sondern, daß er Grass im „Literarischen Quartett“ in die Nähe von Goebbels gerückt hat. Da ist für mich ein Punkt erreicht, wo alle Solidaritäten aufgekündigt werden.




Lektüre der Zukunft kommt direkt aus der Steckdose – Buchmesse: Elektronische Technik immer bedeutender

Von Bernd Berke

Frankfurt. Es ist schon erstaunlich: Mögen andere Branchen auch klagen – der Buchhandel, so scheint’s, wächst und gedeiht. Und das, obwohl man doch allenthalben den Verfall der Lesekultur beschwört. Zur Eröffnung der 47. Frankfurter Buchmesse wurden gestern die neuesten Zahlen bekannt. Danach verzeichnete man bis zum Herbst ein Umsatzplus von zwei Prozent gegenüber 1994.

Signal für den Wohlstand: Auch die Messe selbst ist nochmals angeschwollen – auf 6497 Verlage an Einzelständen (plus 2392 kollektiv präsentierte) und auf 330 000 verschiedene Bücher (davon 93 000 Neuerscheinungen). Weltmeister in der Produktion neuer Titel sind übrigens die Briten vor Deutschland und den USA.

Gewiß: Ein Teil des Geldes wird mittlerweile mit elektronischen Medien (CD-Rom) verdient. Gerhard Kurtze, Vorsteher beim Börsenverein des Deutschen Buchhandels, vermag aber nicht zu sagen, um welche Größenordnungen es dabei geht.

Der Computer gehört dazu

Immerhin: Rund neun Prozent der deutschen Haushalte verfügen bereits über Personalcomputer mit CD-Rom-Laufwerk, aber nur in Frankreich hat man schon exakte Statistiken zur Mediennutzung. Danach werden etwa 7,5 Prozent des Buchhandels-Umsatzes mit Multimedia-Produkten erzielt.

Doch kaum sind die silbernen Datenscheiben normaler Bestandteil der Buchmesse, da öffnet sich schon ein neues Einfallstor für die Computertechnik. Kurtze kündigte einen ersten Versuch der Verlage mit „Online“-Informationen an, der schon auf der Messe seine Premiere erlebt und Mitte 1996 zur breiteren Pilotphase ans Netz gehen soll. „German Publishing Infoline“ (GPL) heißt das Wortungetüm.

Volltexte von zu Hause aus abrufen

Dahinter verbirgt sich die Möglichkeit, per Computer von daheim oder irgendwo sonst zum Beispiel umfangreiche Buchkataloge abzurufen und elektronisch durchzublättern. Schon bald sollen sogenannte „Volltexte“ – also Inhalte ganzer Bände – durch die Leitung kommen. Solche Bücher aus der (Telefon)-Steckdose darf man dann natürlich nur gegen Nutzungsgebühr anzapfen.

Bei den herkömmlichen Büchern zwischen zwei Deckeln gibt es unterdessen ein Problem, das der Elektronik nicht droht: außerordentlich gestiegene Papierkosten, die – so bedauerten die Spitzenfunktionäre des Handels in Frankfurt – nicht mehr ohne weiteres auf die Preise aufgeschlagen werden könnten.

Bücher aus und über Österreich sind diesmal das Schwerpunktthema der Buchmesse. Erstmals wird damit ein deutschsprachiges Land besonders hervorgehoben. Doch die Autoren und Verlage aus der Alpenrepublik wollen zeigen, daß sie nicht als Sonder- und Spezialfall „deutscher“ Literaturen abgehandelt werden können, sondern einen höchst eigenständigen Beitrag zum Weltgeist leisten.

Warten auf die Preisvergabe

Festliche Krönung der Messe soll – wie in jedem Jahr – die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Paulskirche sein. Doch um die Preisträgerin, die Orientalistin Annemarie Schimmel, gibt es bekanntlich heftige Debatten, die auch jetzt nicht verstummen wollen. Der Börsenverein verteidigte auch gestern die Entscheidung seiner Jury.

Die Preisvergabe stehe für die Hoffnung, einen vernünftigen Dialog mit dem Islam in Gang zu setzen und so dem Fundamentalismus gerade Einhalt zu gebieten, hieß es sinngemäß. Von wem der ursprüngliche Vorschlag kam, Frau Schimmel zu ehren, wurde nicht verraten. Gerhard Kurtze vom Börsenverein wollte nur zwei Gerüchte vom Tisch haben: Die Anregung sei weder von Bundeskanzler Kohl noch von Bundespräsident Herzog gekommen.

Frankfurter Buchmesse, 11. bis 16. Oktober für Fachbesucher (fürs allgemeine Publikum nur Samstag/Sonntag, 13. und 14. Okt.), jeweils 9 bis 18.30 Uhr. Tageskarte: 12 DM.

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KOMMENTAR

Wird die CD-Rom bald schon altmodisch sein?

Denken wir mal ein wenig voraus: Es ist gut möglich, daß wir bald nicht nur Bücher mit nostalgischen Gefühlen betrachten, sondern daß wir in naher Zukunft auch von der „guten alten CD-Rom“ reden.

Diese Datenplatten, die das Buch nicht ablösen, aber ergänzen sollen, wären nämlich dann schon wieder veraltet. wenn auf breiter Front eintritt, was gestern zum Start der Frankfurter Buchmesse als Testprojekt angekündigt wurde: Die Verlage wollen Texte. Bilder und Töne kompletter Bände per Telefonnetz („online“) zur Verfügung stellen.

Das hört sich verführerisch bequem an, hätte man doch die Möglichkeit, gegen Gebühr praktisch immer und überall auf solche Angebote zurückzugreifen. Sprich: Es gäbe keine Ladenschlußzeiten für Leser. Wäre das nicht sogar ein Zugewinn an Kultur?

Doch zugleich taucht auch ein Menetekel am Horizont auf: Während die Buchhändler sich auf die CD-Rom-Technik noch einstellen konnten, indem sie – mehr oder weniger widerstrebend – die Platten einfach mit in ihr Angebot aufnahmen, so könnten sie mit der neuen Variante ausgespielt werden. Denn das Buch, das „aus der Steckdose“ quillt, hätte eigentlich keinen Zwischenhandel mehr nötig. Der Verbraucher könnte direkt mit dem Verlag in Verbindung treten. Und dann müßte der heutige Buchhändler entweder aufgeben oder selbst zum Anbieter, zum Verleger werden.

Da droht also auf mittlere Sicht eine ganze Branche „wegzubrechen“. Die Frage ist, ob man diese Entwicklung ganz dem freien Spiel der Kräfte überlassen sollte.

Bernd Berke




Schattenspiele aus dem Geist der Zeit – Werkschau über Christian Schad in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Auch wenn einer seine Künstlerkarriere mit magisch zerrinnenden Bildern wie „Haschisch“ (1913) beginnt, kann er noch zum getreulichen Realisten werden. Derlei Ernüchterung im Lauf der Jahre widerfuhr Christian Schad (1894-1982), den man vor allem als eine Leitfigur der „Neuen Sachlichkeit“ kennt.

Freilich: Etwas schwer zu Fassendes, durchaus Rätselhaftes aus seinen Anfängen hält sich auch später als Unterströmung. Kein platter Oberflächen-Realismus also, sondern einer mit Tiefgang. Davon zeugt nun auch eine Ausstellung in der Kunsthalle Wuppertal-Barmen. Zu sehen sind 107 Arbeiten von Schad: Zeichnungen, Druckgraphik und sogenannte „Schadographien“. Darunter versteht man (vom Dadaismus inspirierte) Experimente mit Gegenstands-Abzeichnungen auf fotografischen Platten und Fotopapier. Es sind Schattenspiele aus dem irrlichternden Geist des technischen Zeitalters.

Viele dieser staunenswerten Zwitter aus menschlicher Inspiration und chemisch-physikalischem Automatismus galten lange als verschollen.

Realismus bis unter die Haut

Man hat die frühesten Schöpfungen im Nachlaß des Dadaisten Tristan Tzara entdeckt, den Christian Schad in seiner Schweizer Bohème-Zeit (um 1915-1918 in einer kriegsfreien . Oase) kennengelernt hatte. In jenen Jahren und in den Zwanzigern entstanden Schads zeichnerische Sozialreportagen aus schummrigen Nachtcafés, Bordellen und Unterwelt-Winkeln. Zumal die Erotik ist hier selten ohne Groteske zu haben. Ein Realismus bis unter die Haut. Doch nie wird Schad so ganz und gar bitterböse wie ein George Grosz oder Otto Dix. Man kann in Wuppertal direkt vergleichen, denn ein Raum mit Eigenbesitz ist eben jenen Zeitgenossen Schads gewidmet.

Die Ausstellung macht einen abrupten Sprung von den späten 20ern mitten in die 50er Jahre. Offensichtlich hat Christian Schad, der vormals in Italien den klaren Blick an Bildern Raffaels geschult hatte, in dieser langen Zwischenzeit einen gewissen künstlerischen Kraftverlust erlitten. Zur NS-Zeit n i c h t als „entartet“ verfemt und gegen seinen Willen gelegentlich sogar als mögliches Vorbild hingestellt, hatte er sich von 1935 bis 1942 völlig aus dem Kunstbetrieb zurückgezogen. Er war Kaufmann, lernte Chinesisch, betrieb Yoga. Erst ein Auftrag der Stadt Aschaffenburg zur Kopie eines mittelalterlichen Madonnen-Bildes von Grünewald, brachte Schad wieder zurück an die Staffelei.

Versuche auf dem neuen Markt

Nach dem Kriege war der mittlerweile auf Abstraktion geeichte Zeitgeist dem Realisten nicht günstig. Schads subtile kleine Porträtskizzen lassen noch den einstigen Stilbildner ahnen. Um 1960 nahm er auch die Produktion von Schadographien wieder auf. Und er stellte 1970 eine Porträt-Bilderserie her, die ganz stark an Andy Warhols Siebdruckreihen erinnert. Es wirkt, als habe er – mehr lustlos denn verzweifelt – Anschluß beim damals Marktgängigen gesucht.

Christian Schad: Zeichnungen, Graphik, Schadographien. Kunsthalle Wuppertal-Barmen (Geschwister-Scholl-Platz), Tel.: 0202/563-6231. Bis 12. November, geöffnet Dienstag bis Sonntag 10-17 Uhr. Katalog (über Schadographien) 28 DM.

 




In der Zeichnung zeigt sich der wahre Meister – Ausstellung in Münster reicht von Dürer bis Beuys

Von Bernd Berke

Münster. Zeichnungen gelten oft als bloße Vorstufen zu großen Ölgemälden, ja als eigentlich unfertige Kunstwerke. In Münster ist man ganz anderer Meinung. Mit der Ausstellung „Zu Ende gezeichnet“ will das Landesmuseum beweisen, daß ästhetische Abrundung und Perfektion sehr wohl auch mit dem Stift erzielt werden können.

Von Dürer über Picasso bis hin zu Beuys wartet die Schau mit rund 200 Exponaten und etlichen großen Namen auf. Alle Stücke stammen aus dem offensichtlich hervorragend bestückten Kupferstichkabinett zu Basel.

Die historische Spannweite zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert eröffnet reizvolle Vergleichsfelder. Die Geschichte schnurrt wie im Zeitraffer ab. Um 1500 war auch die Zeichenkunst ganz selbstverständlich in biblischen und mythischen Stoffen verankert, sie stand auf verläßlichem Grund. Somit war auch die Formensprache fest gefügt, denn sie spiegelte ja die weitgehend intakte kosmische Ordnung. Doch ein Bild wie Ludwig Schongauers „Vorbereitung zur Kreuzigung Christi“ muß für damalige Gemüter schockierend gewesen sein. Höchst sachlich werden hier die Instrumente zur biblischen Qual bereitet; fast so, als übe man ein ganz biederes Handwerk aus.

Kühne Ausschnitte kündigen die Moderne an

Über Berühmtheiten wie Albrecht Dürer (Bildnis des Salzburger Kardinals Matthäus Lang, um 1518), Hans Holbein den Älteren, Hans Baldung und Albrecht Altdorfer, gelangt man allmählich in die barocken Gefilde. Hier ragt natürlich ein Peter Paul Rubens (u. a.: „Die Kreuzigung Petri“, um 1638) heraus. Folgt man der chronologischen Hängung, so steht man später vor sanften romantischen Landschaften und dann – vielleicht der interessanteste Teil der Zusammenstellung – im Vorhof der Moderne.

Der Bruch kündigt sich zunächst in ganz leichten, aber schon befremdlichen Perspektiven-Verschiebungen an, in der Wahl kühner Ausschnitte. Wenn etwa der eines übertriebenen Fortschrittswahns eigentlich unverdächtige Adolph von Menzel anno 1880 den „Blick in einen besonnten Hof mit einer Frau an einer Wasserpumpe“ zeigt, so hat er die jahrhundertelang gewohnte Zentralsicht längst hinter sich gelassen. Es geht nicht mehr um Abbildung der Wirklichkeit, sondern um ihre Splitter und Essenzen. Georges Seurats „Spaziergängerin mit Sonnenschirm“ (um 1882) steht für den Übergang des festumrissenen Gegenstandes ins impressionistische Flimmern. Im Gefolge des Kubismus löst sich dann die Form vollends auf.

Spannend ist es nun zu beobachten, wie einfallsreich die Künstler seither auf den Formenschwund „geantwortet“ haben. Vielfältig und manchmal verzweifelt sind die Versuche, diesem Zustand wieder neue tragfähige Konzepte abzugewinnen. Die Skala der Möglichkeiten reicht von hauchzarten Entwürfen am Saum des Verschwindens (Wols, Cy Twombly) bis hin zu ungehobelter Kraftprotzerei („Neue Wilde“).

Die stilistische Vielfalt ist also mindestens ebenso breit wie in der Ölmalerei. Außerdem befindet man sich, indem man Zeichnungen anfertigt oder auch nur betrachtet, meist noch ein Stückchen näher am Ursprung, an der „Geburt“ der bildlichen Idee als bei geduldig ausgeführter Schönmalerei. Und: Wenn ein Künstler nicht auf der Höhe seiner Mittel wäre, so verriete sich das in der Zeichnung mitunter deutlicher, als wenn er mit Ölfarbe gar manche Schwäche überdeckt und vertuscht.

„Zu Ende gezeichnet“. Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster (Domplatz). Bis 5. November, tägl. außer montags 10-18 Uhr. Katalog 35 DM.




Wo Deutschland am schönsten war – Reise-Impressionen von William Turner in Mannheim

Von Bernd Berke

Mannheim. „Deutschland ist schön.“ So tönte es uns sonor aus einer bayerischen Bierwerbung entgegen. Im 19. Jahrhundert, als die germanischen Gegenden wohl noch viel schöner gewesen sind, muß der berühmte englische Maler William Turner ähnlich gedacht haben.

Ob der des Deutschen kaum kundige Künstler vor den Landschaften zwischen Rhein, Donau und Elbe „marvellous !“ oder „wunderbar !“ ausgerufen hat, wissen wir nicht. Wir wissen aber, daß er in der nachnapoleonischen Zeit zwischen 1817 und 1844 gleich sieben Deutschland-Reisen unternommen und dabei Hunderte von Bildern angefertigt hat. Rund 150 Beispiele, vorwiegend Zeichnungen und Aquarelle, zeigt jetzt die Mannheimer Kunsthalle. Die Ausstellung (Versicherungswert: rund 80 Millionen DM) lohnt auch weitere Wege.

Im Verbund mit dem vorzüglichen Katalog vermittelt die Schau nicht nur ein bedeutendes Stück Kunsthistorie, sondern auch eine Geschichte des Reisens. Besonders Turners erste Touren ins kleinstaatlich zersplitterte „Deutschland“ (das es damals ja noch gar nicht als einheitliches Gebilde gab) müssen beschwerlich gewesen sein: Erst 1827 fuhren Dampfschiffe auf dem Rhein.

Strapaziöse Zeiten für einen Touristen

Zuvor ruderte man, setzte Segel, oder die Boote wurden vom Ufer aus mühsam mit Pferdekraft gezogen. Die Rheinlandschaften (ab Köln südwärts) waren alsbald Turners Lieblingsrevier, später kamen vor allem die Gestade von Mosel und Neckar hinzu. Zumal die grandiose Schloßkulisse Heidelbergs hatte es dem Engländer angetan. Vergleichbar häufig hat er nur noch die imposante Festung Ehrenbreitstein bei Koblenz skizziert. Auch Hamburg, Berlin, München, Nürnberg und Dresden hat sich Turner angesehen. Eigentlich hat er nur um Westfalen und Niedersachsen einen weiten Bogen gemacht.

Turner war sozusagen als Rucksacktourist mit leichtem Gepäck unterwegs, vielfach stramm zu Fuß. Also konnte er keine großen Ölbilder auf sperriger Staffelei malen, sondern füllte Skizzenbücher und aquarellierte. Aber wie! Was vielen der damaligen Kritiker „verschwommen“ vorkam, erwies sich später als genialer Vorgriff auf impressionistische Luftigkeit. Waren die frühen Bilder noch deutlich vom romantischen Zeitgeist geprägt, so befreite sich Turner Zug um Zug von solcher Beschränkung. Nun entstanden veritable Farbwunder wie etwa bei der besagten Festung Ehrenbreitstein, die im wechselnden Tageslicht gleißt und zauberisch illuminiert wird.

Goldener Frieden und Überfluß

Nach den am Ort hingehauchten Skizzen und Vorarbeiten (im Nachlaß fanden sich etwa 5000 Blätter mit deutschen Motiven) entstanden daheim in England zahlreiche Stiche und Ölbilder, von denen Mannheim ein grandioses Beispiel präsentiert: „Heidelberg“ (Öl auf Leinwand, 1844/45) ist die rückwärtsgewandte Utopie einer rauschenden Festlichkeit vor rekonstruiertem historischen Hintergrund. Ein Bild, aus dem goldener Frieden und Überfluß geradezu quellen. Ach, wenn es doch in Deutschland seither immer so gewesen wäre!

William Turner in Deutschland. Kunsthalle Mannheim (Anreise per Bahn ratsam, Fahrzeit ab Dortmund ca. 3 Stunden 45 Minuten). Ausstellung bis 14. Januar 1996 (anschließend Kunsthalle Hamburg). Geöffnet di/mi 10-17, do bis so 10-18 Uhr, montags geschlossen. Eintritt 12 DM, Katalog 49 DM.

 




Die Winnetou-Klischees muß man ganz rasch vergessen – Ausstellung über indianische Kulturen in Münster

Von Bernd Berke

Münster. Vorurteile beiseite: Wenn wir ganz allgemein von „den Indianern“ reden, dann ist es ungefähr so. als wenn sich ein Nordamerikaner sämtliche Deutschen in kurzen Lederhosen und mit Maßkrügen vorstellt. Das und noch viel mehr lernt man jetzt in einer Ausstellung des Münsteraner Naturkundemuseums.

„Prärie- und Plains-Indianer“ heißt die mit 700 Exponaten ausgesprochen umfangreiche, jedoch sinnfällig gegliederte Schau. Mit den Plains sind die großen Grasebenen gemeint. Der Überblick richtet sich auf einen riesigen Landstreifen zwischen Mississippi (Osten) und Rocky Mountains (Westen), der sich nordwärts von Texas bis ins kanadische Saskatchewan erstreckt. In diesem Gebiet konnte man einmal rund 50 Grundtypen indianischer Kulturen deutlich unterscheiden, mit Verzweigungen waren es rund 1000 Untergruppen. Um nochmals den Vergleich mit Europa heranzuziehen: Manche dieser Stämme, wie zum Beispiel Sioux, Navajo, Arapaho, Shoshoni oder Cree, hatten weit weniger miteinander gemein als etwa Deutsche, Engländer und Franzosen.

Phantasien aus dem Kinderzimmer

Die Ausstellung beginnt mit dem liebevollen Nachbau eines mitteleuropäischen Kinderzimmers, in dem so gut wie alle Indianer-Klischees versammelt sind, die durch unsere Phantasie spuken. Wir sollen uns also Winnetou & Co. aus den Köpfen schlagen. Fast ein bißchen schade, aber wünschenswert. Auch auf Zeitgeist-Varianten des Klischees, die Verehrung der „edlen Wilden“, der spirituellen Lehrmeister im ökologischen oder esoterischen Sinne, sollen wir uns am besten gar nicht erst einlassen. findet Museumsdirektor Dr. Alfred Hendricks.

Nahezu alle Medien werden genutzt, um die Botschaft zu übermitteln: Filme und Dias führen ins Thema ein, Fotoabzüge dokumentieren das Leben in den heutigen Reservaten, Pflanzen und ausgestopfte Tiere repräsentieren die natürliche, inzwischen weitgehend vernichtete Umwelt, neuere indianische Kunst läßt den Spagat zwischen Aneignung hergebrachter Traditionen und Bewußtseinswandel ahnen. Einige Werke sind eigens für diese Ausstellung entstanden, so etwa ein fünf mal fünf Meter großes Sandbild von Joe Ben Junior.

Pferde und Zelte sind nur Nostalgie

Besonders anregend sind die Installationen und Aufbauten, etwa mit authentisch eingerichteten Tipis (Sioux-Sprache für: „benutzt, um darin zu wohnen“), Zelten also, die heute freilich fast nur noch zu besonderen Festivitäten (Powwows) aufgestellt werden. Längst wohnen auch Indianer in Häusern aus Stein oder Holz. Und sie sitzen auch nur noch ganz selten auf Pferden. Die Reittiere wurden damals übrigens erst von den Spaniern nach Amerika gebracht und lösten bei den indianischen Völkern nur ganz allmählich die Hunde als bevorzugte „Transporteure“ ab.

Starke Kontraste sind ein Prinzip der ebenso gelehrsamen wie unterhaltenden Schau. Zum Thema indianische Nahrungsgewohnheiten sieht man einerseits karges Trockenfleisch und Beeren, andererseits eine Vitrine mit Hamburgern und Supermarkt-Waren. Beabsichtigter Aha-Effekt: Mit diesem wertlosen Zeug haben wir die einst so naturnahen Indianer verdorben.

Das Aha-Erlebnis mit der Glühbirne

Überhaupt wird’s stellenweise gar zu schlicht pädagogisch: Um in einen Raum zu gelangen, der von der zerstörerischen Besiedlung durch die Weißen handelt, muß man über die lebensgroße Fotografie zweier indianischer Menschen schreiten. Soll selbstverständlich heißen: Wir haben die Kultur der amerikanischen Ureinwohner mit Füßen getreten. Da sieht man geradezu die Glühbirne vor sich, mit der einem ein Licht der Erkenntnis aufgehen soll.

„Prärie- und Plains-lndianer“. Westfälisches Naturkundemuseum. Münster, Sentruper Straße 285, direkt am gut ausgeschilderten Allwetterzoo (Tel. Museum: 0251/591-05).Bis 14. April 1996, tägl. außer montags 9 bis 18 Uhr. Eintritt 5 DM, Kinder 2 DM. Gruppenführung nach Voranmeldung 30 DM. Begleitbuch zur Ausstellung soll in Kürze erscheinen.




Selbst in der Liebeslust lauert Verzweiflung – Retrospektive zum Werk von Tomi Ungerer in Oberhausen

Von Bernd Berke

Oberhausen. Wenn der Zeichner und Cartoonist Tomi Ungerer von Liebesdingen erzählt, steht immer der Tod in der Nähe. Bizarre Körpermaschinen verbohren und verschrauben sich ineinander, daß es nicht nach Lust, sondern nach Verzweiflung aussieht. Vielleicht will er uns bedeuten, daß wir in diesen Zeiten zur Liebe gar nicht fähig sind?

Überhaupt ist der gebürtige Straßburger ein Pessimist von hohen Graden. Doch er kennt, wie jetzt eine umfangreiche Retrospektive mit 360 Exponaten im Schloß Oberhausen zeigt, auch idyllische kleine Fluchten vor dem Elend der Welt.

Nach Erfolgsjahren in New York hat sich Ungerer (inzwischen 64 Jahre alt) seit einiger Zeit auf die grüne Insel Irland zurückgezogen, wo er nebenher eine kleine Schafzucht betreibt. Auf manchen Bildern träumt er nun die Utopie von Frieden und Harmonie.

Verhaßte Technik macht sich breit

Doch auch in diesen entlegenen Winkel dringt allmählich der Moloch vor, den Ungerer offenbar abgrundtief haßt: die „verfluchte Technik“. So heißt denn auch eine der sieben Abteilungen des Oberhausener Überblicks. Auf einen schlichten Nenner gebracht: Von Menschen geschaffene Mechanik und Elektronik bringen die Erde um, man ist nirgendwo mehr sicher. Da schlagen sogar Bleistifte als Raketen ein, eine riesige Sprühdose vergiftet das All, und die Weltkugel trägt bereits einen wackligen Totenkopf, wenn sie sich mit einer Spritze den „goldenen Schuß“ setzt. Wichtig: Wenn man auf die Datierungen achtet, merkt man, daß Ungerer mit solchen schwarzen Visionen kein Nachbeter, sondern ein Vorläufer der Umwelt-Bewegung war.

Manchmal nimmt Ungerer gängige Begriffe allzu wörtlich oder greift zur einfachen Übertreibung. Es sind nicht seine besten Einfälle. Wäre ja auch ein Wunder, wenn er – bei einer Produktion von bislang rund 40 000 Blättern – immer ganz auf seiner Höhe bliebe. Überzeugend ist er dann, wenn Drastik und Verbitterung unmittelbar aus der Form erwachsen und nicht aufgesetzt sind. Dies gilt etwa für Ungerers Kriegs-Bilder mit schweinsköpfigen Faschisten, blutrünstigen Generälen und weinenden Gerippen. Derlei Szenarien erinnern gelegentlich an die Tradition eines George Grosz, John Heartfield oder Otto Dix. Freilich: Deren unerbittliche Schärfe erreicht Ungerer selten. Doch er zeigt das Obszöne am Krieg, das alle sexuellen Perversionen bei weitem übersteigt.

Die Zeichen der großen Misere schleichen sich auch ins Private ein, zumal auf den Kampfplatz der Geschlechter. Sexuelle Taten wirken in Ungerers Sicht oft wie plötzlicher Wahnsinn, der alle Gepflogenheiten außer Kraft setzt. Auf solche Verrenkungen könnte sogleich der Tod folgen. Es ist dies keine Pornographie zum leichten Konsum für Voyeure, wie manche Fundi-Feministinnen wähnen.

Der Teddybär ist erstochen worden

Selbst bei den Kindern, auf die Ungerer im wirklichen Leben noch vage Zukunftshoffnung setzt, scheint nicht alles in schönster Ordnung: Ein Teddybär ist brutal mit der Schere erstochen worden; ein kleiner Junge führt die Spielkameradin am Nasenring, als sei sie ein Tanzbär – und auf einem bösen Blatt vergnügen sich die Kleinen mit Fischebraten, wobei sie sich den Nachschub aus dem heimischen Aquarium angeln.

Sind wenigstens die Tiere brav? Auch nicht immer, denn sie nehmen sich die Menschen zum Vorbild: Der Kater, der sich seine Maus aus dem Münzautomaten zieht, ist gleichfalls der teuflischen Technik verfallen.

Tomi Ungerer: „Das Spiel ist aus“ – Werkschau 1956-1995. Städt. Galerie Schloß Oberhau. sen. Konrad-Adenauer-Allee 46 Tel. 0208/825-27 23) Vom 3. September bis 29. Oktober, tägl. 10-18 Uhr. Donnerstag 10-20 Uhr, Montag geschlossen. Eintritt 6 DM, Katalog 38 DM.




Kunst aus dem Verborgenen – Erstaunliche Kostproben aus Dortmunder Privatsammlungen

Von Bernd Berke

Dortmund. Zugegeben: Einen Mäzen wie Peter Ludwig, der komplette Museen aus seinen Kunstkollektionen bestücken kann, gibt es in Dortmund nicht. Doch auch hier wachsen hochkarätige Sammlungen.

Sie werden freilich – typisch westfälisch? – nicht mit Pomp und Getöse, sondern in aller Stille zusammengetragen. Jetzt bekommt man erstmals Kostproben zu sehen. Und man reibt sich erstaunt die Augen: Solche museumsreifen Exponate stammen also aus Dortmunder Privathäusern!

Bestand reicht für eine Fortsetzung

Mit der Ausstellung „Dortmund sammelt“ gastiert die bundesweit renommierte, vor allem mit Expressionisten hervorgetretene Galerie Utermann im Harenberg City-Center. Wilfried Utermann verfügt natürlich über vielfältige Kontakte zu Kunstsammlern. Er hat Einblick in die Schätze, die – zumal durch seine eigene Präsenz am Kunstmarkt – in Dortmund vorhanden sind. Er kennt so viele Kostbarkeiten, daß er sich schon jetzt eine Fortsetzung der aktuellen Schau vorstellen kann, etwa mit einer bislang weithin unbekannten Sammlung zum 18. Jahrhundert.

Deren Besitzer bleibt ebenso ungenannt wie die sieben Dortmunder, die zur jetzigen Schau exakt 101 sehenswerte Arbeiten aus dem Umkreis des Expressionismus und der Klassischen Moderne beigesteuert haben. Umso bekannter sind die Namen der Künstler: Max Beckmann, Lyonel Feininger, Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Käthe Kollwitz, August Macke, Emil Nolde, Max Pechstein, Pablo Picasso, Christian Rohlfs, Emil Schumacher.

Max Beckmanns „Blühender Garten“

Besonders von Beckmann („Blühender Garten“, 1933 / „Stilleben mit Fingerhut“, 1943) und Kirchner („Kokotten auf dem Kurfürstendamm“, 1914) sind Spitzenstücke zu sehen. Und die imponierende Liste ist nicht einmal vollständig.

Der Hausherr des City-Centers, Bodo Harenberg: .„Am liebsten würde ich diese Kunstwerke für immer hier behalten.“ Doch selbstverständlich wird die Ausstellung hernach wieder aufgeteilt und kehrt zu den sieben Eigentümern zurück. Harenberg legt Wert auf die Feststellung, daß es sich um eine doppelte Privat-Initiative handelt: die der Dortmunder Sammler und die des Dortmunder Galeristen. Man hört heraus, daß er sich ähnliches Engagement von der öffentlichen Kulturpolitik wünscht…

„Dortmund sammelt“. Ausstellung der Galerie Utermann im Harenberg City-Center, Königswall 21 (am Hauptbahnhof). 1. September bis 1. Oktober. Täglich (auch sa/so) 11-18 Uhr. Eintritt frei, Katalog 38 DM.




Die schnelle Gegenwart ist wie ein Spuk – Milan Kunderas Roman „Die Langsamkeit“

Von Bernd Berke

„Weshalb ist das Vergnügen an der Langsamkeit verschwunden? Ach, wo sind sie, die Flaneure von einst?“ So klagt Milan Kundera in seinem neuen Roman. Weiß er auch Rat und Hilfe?

Wer aus einem schlichten Überhol-Vorgang mit dem Auto einen literarischen und philosophischen Exkurs über „Die Langsamkeit“ (Buchtitel) entwickelt, muß seiner Mittel sehr sicher sein. Bei dem berühmten Tschechen („Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“), der seit vielen Jahren in Frankreich lebt, muß man nicht bangen. Neben dem Schweden Lars Gustafsson ist Kundera derjenige Gegenwartsautor, der hohe Reflexion und pralle Handlung am souveränsten verknüpft. Kein Vergleich mit dem schönen, aber konventionellen Themen-Vorläufer des Deutschen Sten Nadolny, der vor Jahren „Die Entdeckung der Langsamkeit“ betrieb.

Kundera hält die Romanform ungleich durchlässiger, offener. Ein Auslöser ist Vivant Denons Novelle „Nur eine Nacht“ aus dem 18. Jahrhundert über die Ehefrau eines Marquis und ihre erotische Eskapade mit einem Zweit-Liebhaber. Dem sagt sie nicht eilends: „Geh’n wir zu mir oder zu dir?“ Nein, sie betreibt im Vorfeld des Liebesspiels raffinierte Konversation, somit lustvolle Verzögerung. Keine wilde Jagd nach schnellen Multi-Orgasmen, sondern sorgsame Steigerung des Verlangens, selbst bei einer Eintages-Beziehung.

Kundera folgert: Aus solcher Langsamkeit erwächst wohlige Erinnerung, die heutige Rasanz hingegen fördere nur das Vergessen und Verschwinden. Die Essenzen der alten Novelle spielt Kundera auf verschiedenen Gegenwarts-Ebenen durch. Beobachter ist ein Autor, der mit seiner Frau ein abgelegenes Schloß aufsucht, wo sich all seine Gestalten wie im Spuk begegnen: zum Beispiel Vincent, Abgesandter einer hochmütigen Intellektuellen-Clique. Er steht für jene Ungeduld, die stets auf Revolte aus ist. Ein Gegenpol ist Berck, nur noch auf TV-Kameras begieriger Politiker und Eintänzer populärer Meinungen. Er steht für die Hatz nach Ruhm.

Historische Umbrüche nur als Minutendramen

Eile, wohin man auch blickt. Und schließlich ist da ein gleichsam aus der Zeit gefallener – tschechischer Insektenforscher, der ehemals von Kommunisten des Amtes enthoben und auf den Bau geschickt wurde. Nun, beim West-Kongreß nach der „Wende“ wird er zunächst mit Rührung betrachtet, dann aber alsbald wie ein Tölpel verhöhnt. Denn selbst ein epochaler Vorgang wie der Zusammenbruch des Realsozialismus ist im Zeitalter der Geschwindigkeit nur noch ein historisches Minuten-Thema. Und überhaupt: Die Krisengebiete des Erdballs verdrängen einander im löchrigen Gedächtnis der Medien-Konsumenten durch das schiere Tempo der Katastrophen.

Und so geraten auch die Figuren in einen Zustand der Formlosigkeit. Als würden sie allesamt vom Sog oberflächenglatter Schnelligkeit erfaßt, kommen sie in einer Art Geister- und Hexentanz samt erotischer Walpurgisnacht zusammen. Die ganze Historie mit ihren ehemals feinen Unterschieden droht als einziger Klumpen im Orkus der Gegenwart zu verschwinden.

Gegen derlei „postmoderne“ Gefahren setzt Kundera beschwörend (und nur verhalten hoffend) seine Wunschbilder der Langsamkeit. Man möchte ganz genüßlich langsam lesen, um dem Titel zu entsprechen – und tut’s doch schnell, weil Kundera mitreißend schreibt.

Milan Kundera: „Die Langsamkeit“. Roman. Hanser-Verlag. München. 150 Seiten. 34 DM.




Hansgünther Heyme wird 60: Lektionen von der Bühne herab

Von Bernd Berke

Ein Theater, das sich bloß kulinarisch gibt oder psychologische Feinheiten ausspinnt, ist seine Sache nicht. Er will das Publikum belehren. Dabei hat der Regisseur Hansgünther Heyme, der heute 60 Jahre alt wird, den Zuschauern manchmal staubtrockene Lektionen unterbreitet.

In Zeiten der Beliebigkeit ist Heymes Festhalten am Theater als einer „moralischen Anstalt“ sympathisch zu nennen. Irgendwie muß man ihn mögen, diesen „Dickkopf“, der nicht davon abläßt, etwa antike Dramen und deutsche Klassiker auf ideologischen Gehalt zu überprüfen. Ästhetisch war es aber doch gelegentlich zum Verzweifeln, wenn er etwa Goethes/Fausts „Gretchen“ kurzerhand eine Rockgitarre umhängte oder Schillers „Räuber“ ohne große Umschweife mit Neonazis kurzschloß.

In der jüngsten Theatergeschichte des Reviers spielt Heyme eine bedeutende Rolle: Sein vehementes Eintreten für den Bestand hiesiger Bühnen mag dem einen oder anderen Politiker ein wenig die Augen geöffnet haben. Ab 1985 war er Schauspieldirektor in Essen, und seit 1990 leitet er die Ruhrfestspiele, die er zum „Europäischen Festival“ umgestaltete und die er nicht etwa mit seinem Stil dominiert. Verschiedenste Positionen haben dort Platz – ein Zeichen, daß Heyme Lust und Laune nicht verhindern will. Nur: Er selbst kann sie eben schwerlich herbeizaubern, das überläßt er klugerweise anderen.

Gütiger Chef und Opfer der Rezensenten

Am „grünen Hügel“ in Recklinghausen schwärmen sie jedenfalls vom besten Chef, den sie je gehabt haben.

Ganz schlimme „Verrisse“ der „Kritiker-Mafia“ (so Heyme damals verbittert) ereilten ihn von 1979 bis 1985 in Stuttgart, wo er Nachfolger des im Streit nach Bochum gewechselten Claus Peymann geworden war. Schmerzlich vermißte man Peymanns poetisches Theater, das nun von Heymes zuweilen knochigen Konzepten abgelöst wurde. Oberbürgermeister Manfred Rommel gerierte sich gar als Oberrezensent und befand, Heymes Inszenierungen seien „eine Katastrophe“. Seither schweigen einige überregionale Zeitungen Heymes Arbeit tot.

Weitere wichtige Stationen waren Köln (1968-1979), dessen Schauspiel er – zeitweise mit dem Gegenpol Roberto Ciulli – leitete, und Bremen, wo er nach einem Jahr die Intendanz aufgab.

Prägend war die Begegnung des 22jährigen Heyme mit dem berühmten Erwin Piscator, dem er alsbald assistierte. Nach und nach fand er zu einem entschiedenen „Regie-Theater“, das kein Stück für bare Münze nimmt. Stets muß ein verborgener Kern freigelegt werden. Und da geht’s bei Heyme allemal politisch zu. Gewiß kein Fehler – vorausgesetzt, die Menschen auf der Bühne werden nicht zu leblosen Marionetten der Beweisführung.




Neuer Grass-Roman erhitzt die Gemüter – Heftiger Streit nach Reich-Ranickis Verriß im „Spiegel“

Von Bernd Berke

Schon lange hat es keine solch heftige Debatte mehr über Literatur gegeben wie jetzt, anläßlich des neuen Grass-Romans „Ein weites Feld“. Anlaß zur Freude? Nicht bei näherer Betrachtung. Denn es geht ja kaum noch um Literatur.

Für Aufruhr sorgt der gestrige „Spiegel“. Marcel Reich-Ranickis mehr als barsche Kritik an dem Buch („ganz und gar mißraten“) lieferte die Titelgeschichte, und eine Fotomontage auf dem Cover zeigt den gefürchteten Rezensenten-Papst, wie er Günter Grass‘ 784-Seiten-Opus buchstäblich in der Luft zerreißt – ritsch, ratsch! Reichlich geschmacklos, fürwahr.

Offenbar geht das Kalkül auf: Das Hamburger Magazin provozierte genau die Reaktionen, die es wohl beabsichtigt hatte. Grass selbst hat dem „Spiegel“ gestern den Abdruck eines fertigen Interviews untersagt. Der Göttinger Grass-Verleger Gerhard Steidl ließ es sich nicht nehmen, Reich-Ranicki einen „Harald Juhnke der Literaturkritik“ zu nennen. Und vor dem „Spiegel“-Gebäude stellte sich ein Häuflein von Demonstranten ein, das besagtes Titelbild mit dem iranischen Mordaufruf gegen Salman Rushdie und mit der NS-Bücherverbrennung 1933 in vage Beziehung setzte. Andere waren umsichtiger mit ihren Vergleichen.

Sperrfrist wurde zur Farce

Steidl hatte nicht weniger als 4500 Vorab-Exemplare vom „Weiten Feld“ an Kritiker und Freunde des Hauses verschickt, viele Autoren kommen pro Buch nicht mal auf eine vergleichbare Gesamtauflage. Schon damit war die ursprünglich vom Verlag genannte „Sperrfrist“ für Rezensionen („nicht vor dem 28. August“) eigentlich zur Farce geworden. Es begann denn auch folgerichtig allüberall eine Art Schnellesewettbewerb. Als dann das ZDF-Kulturmagazin „Aspekte“ und „Das Literarische Quartett“ (Vorsitz: Marcel Reich-Ranicki) vorfristig zur kritischen Tat schreiten wollten, als dann gar der Band in den Schaufenstern des Buchhandels auftauchte, gab’s kein Halten mehr: Jeder wollte mit seiner Rezension zuerst am Start sein.

Der „Spiegel“ wiederum hatte mit dem Steidl-Verlag einen exklusiven Vorabdruck aus dem Roman vereinbart, der durch die frühzeitige Verbreitung des Buchs praktisch hinfällig war. Für den entgangenen Coup, so kann man mutmaßen, haben die Hamburger jetzt bittersüße Rache genommen. Hat etwa „Spiegel“-Kulturredakteur Hellmuth Karasek seinem Mentor und Mitstreiter vom „Literarischen Quartett“, Reich-Ranicki, eine furiose Titelstory versprochen, wenn, ja wenn er nur gnadenlos gegen Grass zuschlage? Natürlich ist es nicht so gewesen. Und es war gewiß nur Zufall, daß Reich-Ranicki noch im April ’95, als Grass in Frankfurt erstmals Auszüge aus dem Buche las, noch wohlabgewogene Lobesworte für den Autor gefunden hat…




Todgeweihter Mann mit Checkliste – Françoise Sagans Roman „Und mitten ins Herz“

Von Bernd Berke

Gleich auf der ersten Seite von Françoise Sagans neuem Roman „Und mitten ins Herz“ erfährt der Pariser Architekt Matthieu, daß er wegen Lungenkrebs höchstens noch sechs Monate zu leben habe. Schrecklich. Was wird er tun?

Er gerät nicht ins Stammeln, sondern hat sich sprachlich unter Kontrolle: „Von allem, was noch zu entdecken gewesen wäre, hieß es Abschied nehmen“, sinniert er in der Übersetzung gedrechselt. Nur selten denkt er wirr: „Die kommenden sechs Monate würden also nicht nur grausam, sondern auch noch unerquicklich werden“, findet er. Ist unerquicklich denn schlimmer als grausam?

Matthieu spürt seinen Empfindungen so systematisch nach, als habe er eine Checkliste: Noch einmal den vollen Rausch des Daseins genießen, endlich mit sich ins Reine kommen und „wesentlich werden“, Selbstmord begehen, bevor ihn die Schmerzen übermannen. All dies und vieles mehr hakt er routiniert ab. Von der Bedrängnis eines Todkranken spürt man wenig. Immerhin blinkt einmal schwarzer Humor auf: Matthieu freut sich diebisch, daß er nun keine Francs mehr in die Parkuhren werfen muß, denn die Mahnungen werden ihn eh zu spät erreichen…

Natürlich ist dieser Matthieu auch ein Frauenschwarm. Wir sind in Paris! Die mit etwas verblassendem Ruhm behangene Sagan („Bonjour Tristesse“, „Lieben Sie Brahms?“) bzw. die Übersetzerin gewinnen diesem Umstand solche Formulierungen ab: „Seit kurzem hatte er einen ziemlich heftigen Flirt mit diesem unbefangenen, hübschen Pflänzchen, das mit seinen Reizen nicht geizte.. .“ Oder solch einen Satz, wie von zerschlissenem Brokat: „Das Licht hatte sich durch die schweren Vorhänge gestohlen, die ihr Liebesspiel vor dem hellen Nachmittag verbargen.“

Mit der schlimmen Nachricht bei den Frauen hausieren

Jedenfalls klappert Matthieu an diesem einzigen Tag, den der Roman nahezu in „Echtzeit“ schildert, hübsch nacheinander die Hauptadressen seines Lebens ab, denn er will allen die medizinische Wahrheit über sich verraten: der jungen Geliebten Sonia, der etwas älteren Ex-Geliebten Mathilde, der Ehefrau Hélène und seinem besten Freunde auch.

Die Reaktionen enttäuschen Matthieu. Diese Menschen wissen seinen nahenden Tod nicht recht zu würdigen, sie sind im Grunde nur mit der Wirkung des drohenden Verlustes auf sich selbst befaßt – bis auf jene frühere Geliebte, die er nach etlichen Jahren der Trennung aufs Geratewohl besucht. Mathilde will sich, wie er wohlwollend zur Kenntnis nimmt, mütterlich um ihn kümmern: „Sie würde alles für ihn tun: Sie würde sein Leiden und Sterben mit ihm teilen und ihm die Augen schließen.“

Gar nicht nötig. Denn am Ende geschieht das, was jeder halbwegs versierte Leser spätestens nach der Hälfte des Buches ahnt: Matthieu bekommt einen Anruf und erfährt, daß die morgendliche Krebs-Diagnose ein bedauerlicher Irrtum gewesen sei. Der Tod ist wie ein „Ätsch!“-Effekt. Und der Roman nur ein Geplänkel.

Françoise Sagan: „Und mitten ins Herz“. Roman. Aus dem Französischen von Kirsten Ruhland-Stephan. Ullstein-Verlag, 188 Seiten, 34 DM.




Die Geschichte des Reviers mit den Ohren erleben – Tondokumente der Nachkriegszeit im Essener Ruhrlandmuseum

Von Bernd Berke

Essen. Mit mehreren Sinnen kann man jetzt in Essen die Vergangenheit des Reviers erleben. Als Ergänzung zur Fotoausstellung „Bildberichte – Aus dem Ruhrgebiet der Nachkriegszeit“ gibt es seit gestern ein akustisches Archiv zum selben Thema. Es macht im Essener Ruhrlandmuseum Originaltöne aus der Zeit hörbar. als die Region in Schutt und Trümmern lag.

Die auf historische Rückblicke spezialisierte Redaktion „Zeitzeichen“ des Westdeutschen Rundfunks hat tief in den Radio-Fundus gegriffen. Dabei kamen uralte Hörbilder und Reportagen zum Vorschein. So etwa die Straßenumfrage eines Hasso Wolf bei Schwarzmarkthändlern, die bereits im Kindesalter Zigaretten, Schnaps oder Nähgarn feilboten. Übrigens gingen damals stets die kompletten Namen der Beteiligten über den Sender. „Datenschutz“ war noch ein Fremdwort.

Museumsbesucher können sich nun anhand einer Liste eine Art „Wunschprogramm“ zusammenstellen lassen. Mitarbeiter des Hauses steuern dann die gefragten Tondokumente via DAT-Rekorder sekundenschnell an – und sogleich ertönen historische Stimmen von A wie Konrad Adenauer bis Z wie Peter von Zahn. Insgesamt stehen acht Stunden Bandmaterial an fünf Hörplätzen zur Verfügung.

Da kann man zum Beispiel noch einmal jene bangen und frohen Minuten nachempfinden, in denen zu Weihnachten 1955 die Züge mit den Kriegsheimkehrern aus der Sowjetunion eintrafen. Fußballfreunde werden vielleicht einen Stadion-Kommentar von anno 1945 abrufen. Nur die Spielpaarung (Auswahl Westdeutschland gegen Süddeutschland) ist bekannt. Wie das Match ausgegangen ist und wer der enthusiastische Reporter war, weiß niemand mehr. Immerhin ist das Band noch vorhanden. Etliche andere Zeitzeugnisse, weiß Hasso Wolf, sind unwiederbringlich verloren. Anfangs löschte und überspielte man zahlreiche Dokumente wegen Bandmangels, später sortierte man aus Platzgründen aus.

Aufschwung und Krise der Kohleindustrie, Personen und Probleme der ersten NRW-Landesregierungen, aber auch die Entstehung der heutigen Kulturlandschaft sind weitere Felder der akustischen Rückschau. Und schließlich gibt es auch echte Raritäten wie die Stimme jenes Autokonstrukteurs in Neheim-Hüsten, der dort nach 1949 mit der Produktion des Sauerland-Wagens „Kleinschnittger“ begann: Kaufpreis rund 2000 DM, 60 km/h Spitze und 2 Liter Kraftstoffverbrauch auf 100 Kilometer. Da hatten wir es also schon, das Öko-Mobil…

Ausstellung „Bildberichte – Aus dem Ruhrgebiet der Nachkriegszeit“ (Ruhrlandmuseum Essen, Goethestraße 41; verlängert bis 17. September, di-so 10-18 Uhr, do 10-21 Uhr, Eintritt 5 DM, Katalog 29,80 DM). Bis einschließlich 20. August: Hörarchiv (Audiothek) zur Geschichte des Ruhrgebiets, zugänglich in den Öffnungszeiten des Museums.




Jede körperliche Regung fließt ins Bild – Aquarell-Werkschau des 80-jährigen Hann Trier in Hamm

Von Bernd Berke

Hamm. Wenn der Maler Hann Trier zu Werke geht, so sieht das beinahe aus, als rühre ein Schlagzeuger die Trommeln. In jede Hand nimmt er einen Pinsel und macht sich sozusagen zweifach über Papier oder Leinwand her. Die Vibrationen des Körpers gehen als fein abgestufte Farb-Klänge ins Bild ein. Das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm zeigt nun rund 100 Aquarelle des Mannes, der vor wenigen Tagen 80 Jahre alt geworden ist.

Der gebürtige Düsseldorfer Hann Trier gehört für Kunsthistoriker in die Reihe der großen „Informellen“, die nicht die Nachbildung der Außenwelt, sondern den Ausdruck ihrer Innenwelten im Sinn hatten. Der Hagener Emil Schumacher wird ebenso hinzugezählt wie Bernard Schultze und Gerhard Hoehme, wobei jeder von ihnen ureigene Wege beschritten hat.

Werkausschnitte von Schumacher und Schultze wurden unlängst in Hamm präsentiert. Über den Geburtstags-Anlaß hinaus ist es also ein Zeichen planvoller Kontinuität, wenn nun Hann Trier an die Reihe kommt.

Die Aquarelle, bevorzugtes Medium hauchzart verwehender Farb-Konzerte, werden in solcher Fülle erstmals gezeigt. Die meisten Stücke stammen aus dem sorgsam gehüteten Besitz des Künstlers, befinden sich mithin nicht auf dem Markt und werden so bald nicht wieder zu sehen sein.

Die Exponate reichen von 1946 bis 1986. Seither fertigte Trier kaum noch Aquarelle an. Erst im Vorfeld der Hammer Ausstellung begann er wieder damit. Diese neuesten Arbeiten setzen nun den Schlußakzent. Unmittelbar nach dem Krieg entstanden Bilder, die noch deutlich im Bannkreis des Kubismus und des Surrealismus stehen – Beispiele einer zeittypischen, noch nicht vollends persönlich ausgeprägten Figuration der späten 40er Jahre.

Freude an der puren Schnelligkeit

Der Kontakt zur „Ecole de Paris“ sowie ein längerer Aufenthalt in Süd- und Mittelamerika (1952-55) veränderten sodann die Bildersprache, die nun musikalischer, tänzerischer, duftiger wurde. Als Impuls kam die Faszination maschineller Geschwindigkeit hinzu, die sich hier freilich ganz als körperliche Aktion auslebt: Aus Bildern wie „Windpumpe“ (1950) oder „Schnellbahn“ (1951) spricht keine blinde Technik-Begeisterung, sondern Freude an purer Bewegung und Regsamkeit.

Irgendwann hat der Linkshänder Hann Trier angefangen, den Malgrund beidarmig zu bearbeiten. Daraus erwachsen oft schwebende Beinahe-Symmetrien, eigentümlich fragile Balancen, als sei’s eine munter wispernde Zwiesprache zwischen beiden Bildhälften. Kein Streit jedoch, sondern ein harmonisches Wogen.

Nicht Trend noch Zeitgeist, auch keinem vordergründig politischen Anspruch ist Hann Trier gefolgt, sondern sich selbst. Malen sei für ihn alltäglich wie essen, trinken oder einkaufen, hat er einmal gesagt. Und so entwickelt sich diese künstlerische Sonderwelt denn auch ganz selbstverständlich, ohne Aufhebens.

Nicht von ungefähr erinnern viele Bilder an biologische Formen, an fedrige Gewächse oder ungeahnte Anatomien aus haarfein „gestrickten“ Rippen und Wirbelsäulen. Körper wird Pflanze, diese wird Geist und so fort. Es ist, als habe der auch literarisch hochgebildete Hann Trier die unaufhörlichen mythischen „Metamorphosen“ (Wandlungen) des altrömischen Dichters Ovid vergegenwärtigen wollen. So naturhaft kann Kunst sein.

Hann Trier: „Metamorphose der Farbe. Aquarelle“ – Gustav Lübcke-Museum. Hamm. Neue Bahnhofstraße 9 – direkt am Hauptbahnhof). 6. August bis 10. September, tägl. 10-18, mi 10-20 Uhr, mo. geschlossen. Katalog 45 DM.




Sehnsucht nach der Sinnlichkeit des Südens – Barocke Schätze aus Budapest in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Gute Beziehungen zu Osteuropa tragen Früchte, auch kulturelle. Vor Jahresfrist konnte das Wuppertaler Von der Heydt-Museum Bilderschätze aus Bukarest („Von Cranach bis Monet“) zeigen, jetzt prunkt man mit Barock-Gemälden aus dem Budapester Museum der Bildenden Künste.

Wiederum locken ganz große Namen: Rembrandt, Rubens, Van Dyck, Frans Hals. Doch auch von weniger bekannten Künstlern sieht man Erstaunliches.

Aus einem üppigen Budapester Fundus von rund 3000 Gemälden (vor langer Zeit von den Dynastien Esterházy und Habsburg zusammengetragen) hat man 80 kostbare Stücke auf die Reise geschickt. Ohne Konzept wäre es pure Willkür gewesen. Leitlinie der Auswahl: Aus den Bildern soll die brennende Italien-Sehnsucht „nordischer“ Barockmaler sprechen.

Italien war als Vorbild Pflicht

Tatsächlich war es (nicht nur) im 17. Jahrhundert für flämische, niederländische und deutsche Maler Pflicht, entweder in Italien gewesen zu sein oder sich wenigstens an den dortigen Künstlern zu orientieren. Ob sie sich die Anregungen des Südens kraftvoll anverwandelt haben oder ihnen nur aufgesessen sind, daran bemißt sich die Qualität. Die Schau enthält Porträts, Stilleben, pralle Genrebilder aus dem täglichen Volksleben und Landschaften. Etliche Szenen wird man nur mit genauen mythologischen oder biblischen Kenntnissen aufschlüsseln können. Auch wirkt diese oder jene Ideallandschaft für heutige Betrachter vielleicht gar zu idyllisch.

Doch die allermeisten Werke sind von einer aufblühenden Sinnlichkeit, die uns unmittelbar angeht. Nicht nur nebenbei: Antike Mythen und Altes Testament sind aus dem Blickwinkel der Kunst bis zum Bersten mit Erotik angefüllt. Da erweist gar ein Mädchen dem ins Gefängnis gesperrten Vater ihre Tochterliebe, indem sie ihm die entblößte Brust zum Saugen reicht.

Schwarz in vielen Schattierungen

Wer das „Männliche Bildnis“ des Frans Hals sieht, muß sogleich begreifen, warum gerade dieser Künstler berühmt werden mußte. Wenn einer es auf diese Weise vermag, nachtschwarze Töne in verschiedensten Schattierungen erstrahlen, ja geradezu diamantenhaft gleißen zu lassen, gehört er eben zu den Allergrößten seiner Zunft.

Überragende Meisterschaft verrät auch jener „Männliche Studienkopf“ von Peter Paul Rubens, eigentlich bloße Vorübung zu einem größeren Altarbild und doch in sich vollendet. Das zerklüftete Gesicht des Greises tritt in grandioser Lebendigkeit hervor. Und man versteht: Rubens war keinesfalls nur ein Mann der großmächtigen dramatischen Effekte, sondern einer, der auch das intime Detail leuchten lassen konnte.

Rembrandts „Traum des heiligen Joseph“ vergegenwärtigt den Moment, in dem der Engel Joseph zur Flucht nach Ägypten überredet. Das Bild ist, auch wegen einer Anstückelung, inzwischen so fragil geworden, daß es als einziges unter Glas gezeigt werden muß. Dennoch kann man lange darin schwelgen: in den ungeheuer feinen Abstufungen goldbrauner Farbklänge, in der unmittelbar eingängigen Bildkomposition…

Wollust des Farbwechsels

Die italienischen Vorbilder werden freilich bei den weniger prominenten Malern wie Salomon Adler, Johann König, Jacob de Heusch oder Jan Lievens oft deutlicher. Da flammt zum Beispiel eine drastische Genreszene wollüstig in „venezianischen“ Farben auf. da werden komplette Bildschemata von Raffael übernommen und mit anderen Figuren gefüllt, oder es legen sich die harten Schlagschatten nach Art eines Caravaggio auf die Gestalten.

Ja, wenn der Norden den Süden nicht hätte! Dann wären Bilder und Gemüter finsterer.

„Rembrandt, Rubens, Van Dyck… – Italiensehnsucht nordischer Barockmaler“. Von der Heydt-Museum. Wuppertal-EIberfeld (Turmhof 8). 30. Juli bis 24. September, Di-So 10-17 Uhr, Do 10-21 Uhr. Eintritt 15 DM, Katalog 38 DM.




Acht Bilder und ein Name – „Weight and Measure Drawings“ von Richard Serra in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Eine Ausstellung mit acht Zeichnungen? Ja, lohnt sich denn da überhaupt der Weg zum Dortmunder Ostwall-Museum? Nun ja. Es sind Riesenformate, und sie stammen von einem Heros der neueren Kunst: dem Amerikaner Richard Serra.

Dortmunds Kunstverein, der mit dieser Schau am Ostwall gastiert, kann sich auch mit dem bloßen geographischen Verlauf der Wanderausstellung brüsten. Die bisherigen Stationen hießen New York, Baltimore und Lissabon. Nun ist Dortmund als einzige deutsche Stadt an der Reihe, es folgen Miami und eventuell Tokio. Da werden weltstädtische Träume wach.

Im Februar war Richard Serra kurz hier und hat den Ort des Geschehens inspiziert, die Hängung übernahm nun – nach exakten Vorgaben des Meisters – einer seiner Assistenten. Serras große Stahlskulpturen (für die er hierzulande weitaus bekannter ist) beziehen sich ebenso machtvoll wie subtil auf Außenräume. Auch seine Zeichnungen sollen nicht nur für sich bestehen, sondern Erscheinungsbild und Volumen der umgebenden Innenräume „gewichten“. Daher auch der Titel der Schau, „Weight and Measure“ (Gewicht und Maß).

Die acht gerahmten Hochformate, bis zu vier Meter aufragend, bringen dem Ostwall-Lichthof einen ausgeklügelten Rhythmus bei, der innig mit dem Raum zu tun hat und doch sanft von ihm absticht. Ein Wechselspiel aus Näherung und Abgrenzung, Wachstum und Schrumpfung von Flächen. Die schwarzen und weißen, in sich strukturierten Felder hat Serra mit Ölstiften teilweise zentimeterdick auf kostbares Japan-Papier aufgetragen. Es sind Zeichnungen, die nicht in der zweiten Dimension verharren, sondern heimlich, still und leise, aber doch entschieden in den Raum vordringen.

„Weight and Measure Drawings“. Zeichnungen von Richard Serra. Museum am Ostwall, Dortmund. 21. Juli bis 3. September, di-so 10-17 Uhr. Katalog 20 DM.




„Wo sind Sie, meine Null?“ – Schöne Stunden mit dem Übersetzungs-Computer

Kennen Sie sie auch – jene Zeitgenossen, die alles gar zu wörtlich nehmen und daher ziemlich unangenehm werden können? So einer sitzt jetzt bei uns auf dem Schreibtisch.

Er ist handtellergroß, besteht aus grauem Plastik, nennt sich „Hexaglot Square one“ und kostet stolze 699 DM. Seine Hersteller behaupten, es sei ein Übersetzungcomputer, der zwischen Englisch und Deutsch – in beiden Richtungen – ganze Sätze bewältige. Mal schauen.

Um die „Rohübersetzungen von hervorragender Qualität“ (Eigenwerbung) auf die Probe zu stellen, wollen wir dem Bürschchen mal ein paar einfache Fragen stellen. Was heißt „The United States of America“ auf Deutsch? Einschalten, Übersetzungsrichtung wählen, die Buchstaben auf winzigen Tasten eingehen. Das dauert ein bißchen. Dann drücken wir erwartungsvoll den Übersetzungsknopf „Translate“. Nach etwa zehn Sekunden verrät der Apparat: „Die vereinigten Zustände von america.“ Nanu. Meint er das etwa gesellschaftskritisch? Natürlich nicht: Er hat nur die „states“ nicht als Staaten erkannt, sondern, state (Zustand) in die Mehrzahl gesetzt. Kleines Dummerle!

Nehmen wir spaßeshalber ein paar Zeilen aus Popsongs, denn „We love rock music“ (was laut Gerät „Wir lieben Felsen Musik“ bedeutet). Das Antikriegslied „Where have all the flowers gone?“ wird hier zu „Wo sind alle Blumen gegangen?“ Ja, wo nur? Doch weiter, weiter! Es scheint lustig zu werden.

Die Liebe und das Angebot

Bob Dylans „The answer, my friend, is blowing in the wind“ erscheint auf dem kleinen Bildschirm-Display so: „Die Antwort, mein Freund, bläst Sie in dem (!) Wind.“ Bei Elvis Presleys „Love me tender, love me true“ (Lieb‘ mich zärtlich, lieb‘ mich treu) hat das Gerät seinen ersten Anfall und schlägt ernsthaft vor: „Lieben Sie mich Angebot, lieben Sie mich wahr.“ Jaja, Angebot und Nachfrage.

Nehmen wir an, ein Engländer oder Amerikaner, des Deutschen nicht mächtig, wolle seiner Angebeteten aus „Germany“ (ein Wort, bei dem der Apparat aufgibt) mit diesem Computer Avancen machen. Ist durch die Tipperei schon die Romantik dahin, ist sie’s erst recht mit solchen Sätzen: Aus „I need you so much“ (Ich brauche dich so sehr) macht die Elektronik „Ich brauche Sie so viel.“ Und dann wird das Kerlchen sogar beleidigend: „Where are you, my love?“ (Wo bist du, meine Lieb(st)e?) wird ausgespuckt als „Wo sind Sie, meine Null?“ Offenbar ein Tennisfan, der sich die Zählweise auf den Center Court („Love – fifteen“) zu eigen gemacht hat…

Elektronische Komplimente

Mehr Sprachwitze, bitte! Ganze Abende kann man damit verbringen. „You are so pretty“ (Du bist so hübsch) gerät zu „Du bist so ziemlich.“ Kein glühendes Kompliment, fürwahr. Und selbst, wenn’s – ähemm – richtig ernst wird, läßt uns der Helfer schmählich im Stich: „Let’s go to bed“ (Laß uns ins Bett gehen) schnurrt zu „Lassen ins Bett gehen“ zusammen. Lassen wir, lassen wir’s. Oder was?

Nicht nur Liebende, auch Touristen und Schüler wären mit so einem Ding wohl ganz schön aufgeschmissen. Da nützt es wenig, wenn man sich über Ohrhörer mit scheppernder Stimme englische Sätze vorsprechen läßt und die eingebaute Weltzeituhr aufruft, sollte man mal „far away from home“ („Weit auswärtig von Heim“) sein.

Drei Chancen kriegt der Schlawiner trotzdem noch. Wie überträgt er den alten James-Bond-Titel „Live and let die“ (Leben und sterben lassen)? Vollends erstaunlich: „Leben Sie und lassen Sie Würfel.“ Und die umstrittene RTL-Serie „Power Rangers“? Die heißt plötzlich „Strom Förster“. Na bitte, scheint ja ganz harmlos zu sein.

Und nun der große Trommelwirbel, denn es gibt tatsächlich auch korrekte Übersetzungen. Wichtige Frage des Reisenden: „Where is the next bar?“ – „Wo ist die nächste Bar?“ Man muß halt nur die richtigen Fragen stellen.




Passagen durch die Paarwelt – „Rendezvous in Paris“ von Eric Rohmer

Von Bernd Berke

Sie können nicht einfach lieben oder es lassen, sondern müssen alles ergründen. Nirgendwo sprechen die Menschen ausgiebiger über Feinheiten ihrer Gefühle, als in den Filmen von Eric Rohmer. Nun bittet der Altmeister zum „Rendezvous in Paris“.

Die Figuren der drei Episoden erleben Passagen durch die Paarwelt, sie sind am Ende jeweils allein. Der Titel könnte auch „Trennungen in Paris“ lauten. Zumal die Frauen fließen im Redestrom ungeklärter Gefühle. Im Zweifelsfalle sind sie es jedoch, die bewußter damit umgehen und sich einem Zustand kristalliner Klarheit nähern.

Wir sehen sie und ihre zeitweiligen Partner in einer Art Sonderwelt, ohne Ablenkung von amourösen Fragen. Allenfalls die Stadtlandschaft von Paris spielt vage hinein. Episode eins: „Rendezvous um 7″. Esther trägt den Keim der Eifersucht in sich. Ist ihr Freund Horace treu? Es hebt ein zauberischer Reigen der Zufälle an: Esther wird von einem jungen Mann angesprochen, der ihr beim Flirt die Geldbörse stiehlt. Ein anderes Mädchen findet das leere Portemonnaie und bringt es der Besitzerin. Sie nimmt Esther mit zu ihrem abendlichen Rendezvous – und ist ausgerechnet mit Horace verabredet. Wie im Fluge lösen sich nun die Verbindungen. Am Ende streben alle auseinander, hinweg ins Ungewisse. Es wirkt wie ein federleichtes Rokoko-Schäferspiel oder eine Liebes- und Lügen-Komödie von Marivaux.

Die Leiden der amourösen Festlegung

Episode zwei: „Die Bänke von Paris“. Ein Paar, beiderseits anderweitig gebunden, streift tagsüber ziellos durch verschiedene Parks. Ein mehr oder weniger poetisches Spiel der Liebe, eine Versuchung mit Grenzen, denn die Frau läßt sich nur hauchzart küssen. Sie scheut die Leiden der Festlegung, des Gewählthabens: Als sie ihren Gatten mit einer anderen in jenes Stundenhotel ziehen sieht, das sie eben – endlich zu allem entschlossen – selbst mit ihrem Liebhaber aufsuchen wollte, hebt sie diese Zweitbeziehung kurzerhand auf. Nun fühlt sie sich auf den Mann zurückgeworfen, der doch nur eine phantasievolle Ergänzung zum Ehealltag sein sollte.

Episode drei: „Mutter und Kind, 1907″. Ein Maler soll einer schwedischen Touristin Paris und besonders das Picasso-Museum zeigen. Doch schon bald ist er die unterkühlte Blondine leid. Vor Picassos Mutterbildnis sieht er ein brünettes Mädchen und folgt ihr wie magnetisiert durch die Straßen. Schließlich kommt sie mit in sein Atelier. Man spricht über Kunst und Leben, man versteht sich, man geht freundlich auseinander. Eine undeutliche Möglichkeit. Ein kurze flackernde Vision davon, wie das Leben verlaufen könnte. Mehr nicht – und doch ungeheuer viel. In wenigen Momenten leuchten ganze Biographie-Linien samt Nebenwegen auf.

Rohmer hat auch diesmal wieder diese frühlingshaften jungen Frauen für die Kamera entdeckt, die sich so natürlich bewegen, als sei gar niemand zugegen. Der Faun muß eine mythische Bachquelle kennen, der Nymphen entsteigen. Sein neues Werk hat wieder all diese kleinen Szenen zum Verlieben, dieses unvergleichliche Fluidum.

„Rendezvous in Paris“ ist abermals ein Rohmer-Film wie flirrendes Sonnenlicht zwischen Baumblättern. Es wird einem dabei ganz leicht zumute, obwohl es doch um lebenswichtige Angelegenheiten geht. Dies aber zeugt von höchster Kunst.




Wie sehr uns Heinrich Böll fehlt – Zum zehnten Todestag des Literaturnobelpreisträgers

Von Bernd Berke

So lang ist es schon her: Am 16. Juli 1985 (Sonntag vor zehn Jahren) ist der Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll gestoben. Wirkt der „gute Mensch von Köln“ noch nach?

Seine Erben lassen gelegentlich bisher unbekannte Schriften ans Licht kommen, demnächst soll etwa ein 1936 verfaßter Text erscheinen. Man ediert immer schön stückchenweise, damit das Geschäft nicht abreißt. Ebenso regelmäßig geraten die Bölls in Hader mit der Böll-Forschungsstelle an der Uni Wuppertal. Aber kann man das Nachwirkung nennen?

Es gibt heute keinen Autor von Rang, der an den Nahtstellen zwischen Literatur und Politik auch nur annähernd so viel Aufsehen erregt oder gar zum Repräsentanten taugt wie einst Böll. Günter Grass hat sich durch seine vorschnelle und gar zu harsche Ablehnung der deutschen Vereinigung ein wenig ins Abseits manövriert. Martin Walser hat den Gegenkurs eingeschlagen und zählt heute auch CSU-Finanzminister Theo Waigel zu seinen Freunden. Siegfried Lenz, sowieso nie sonderlich aufs Scheinwerferlicht versessen, hat sich noch mehr zurückgezogen. Hans Magnus Enzensberger gefällt sich in intellektuellen Volten, ist buchstäblich nicht zu fassen.

Von Botho Strauß zu schweigen, der sich weigert, den Vorwurf der Nähe zum Rechtsextremismus zu entkräften. Und die ostdeutschen Autoren hatten meistenteils damit zu tun, einander diverse Stasi-Tätigkeiten vorzuhalten.

Daß heute kein Schriftsteller, sondern ein Kritiker und Showstar wie Marcel Reich-Ranicki die Debatte via Fernsehen maßgeblich, ja beinahe monopolistisch bestimmt, ist ein Krisenzeichen. Kurz und traurig: Einer wie Böll, dessen Werke noch von vielen Menschen kontrovers diskutiert wurden, fehlt uns wohl.

Stimmen aus der Literatur werden heute ignoriert

Aber es sind eben ganz andere Zeiten. Eher unwahrscheinlich sind heute solche Vorgänge wie in den 70er Jahren, als etwa der erzkonservative Journalist Matthias Walden Heinrich Böll geistige Mit-Urheberschaft am RAF-Terrorismus vorhielt. Schwer nachzuvollziehen auch, daß prominente CDU-Politiker vom Rednerpult des Bundestages herab gegen Bölls Roman „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ zu Felde zogen. Heute ist man in Bonn geschickter und ignoriert kritische Stimmen aus der Literatur einfach.

Gewisse schrille Stimmen, die uns im Brustton einer „politischen Korrektheit“ aufklären wollen, kann man ja auch nur schwer ertragen. Böll war engagierter Moralist, nach seinen Kräften stets zum Helfen und Eingreifen bereit. Solche ehrenwerten Positionen sind nun vielfach zum Betroffenheits-Kult erstarrt, der sich nur noch rhetorisch über alle möglichen Themen ereifert.

Zurück zum Eigentlichen: Soll man Bölls Bücher erneut lesen? Ja, das sollte man. Seine kirchenkritischen Romane („Und sagte kein einziges Wort“, „Ansichten eines Clowns“): treffen auch heute noch manche wunden Punkte des Klerus und der falschen Frömmelei. Wichtiger wohl noch: Rund 50 Jahre nach Kriegsende, auch angesiçhts der deprimierenden Ereignisse in Ex-Jugoslawien, sollten wir uns zumal Bölls Erzählwerke aus der „Trümmerzeit“ noch einmal vornehmen: „Wanderer, kommst du nach Spa…“, „Wo warst du, Adam?“ und all die anderen. Man kann daraus ermessen, was Gewissen ist. Man kann Gedanken an Schuld und Sühne daran knüpfen. Auf daß uns die Empfindlichkeit für ideelle Werte nicht ganz abhanden kommt.




Bob Dylan und die Phantasie vom Jungsein – Auftritt in Dortmund vor kleinerem Publikum

Von Bernd Berke

Dortmund. Bob Dylan war hier, doch die ganz große Zugnummer ist er nicht mehr. Bei den vorigen Dortmunder Gastspielen, 1978 und 1987, konnte Dylan noch das weite Rund der Westfalenhalle 1 buchen. Diesmal mußte er sich mit der Halle 2 begnügen. Die Folk- und Rocklegende auf dem Abstellgleis?

Der mittlerweile 55jährige gilt als launisch. An einem Abend spielt er genial, am nächsten vielleicht lustlos und miserabel. Man wußte also nicht so recht, was man in Dortmund zu erwarten hatte. Doch dann durften die Auguren aufatmen. Erste Anzeichen der günstigen Stimmung: Dylan und seine Band begannen mit einer vergleichsweise moderaten halbstündigen Verspätung, und der Meister, der vorab jegliches Fotografieren untersagt hatte, war optimistisch hell gekleidet.

Ohne Ansage zur musikalischen Sache

Dylan mag keine Ansagen, keine verbale Zwiesprache mit den Zuschauern. Vielleicht will er sich ja nur nicht anbiedern. Jedenfalls ging es ansatzlos zur musikalischen Sache, und zwar so, als wolle man den Stones etwas streitig machen: laut, treibend, wummernd. Anfangs klangen einige Gitarren-Ausflüge noch etwas quallig und breiig aus den Boxen. Kein grandios entfesselter, sondern mit Mühsal beladener Krach. Da ließ sich auch technisch gegensteuern. Vor allem aber: Als hätte Dylan abwarten wollen, ob er die „richtige“ Sorte von Publikum vor sich habe, steigerte er sich samt Gefolge zusehends. Immer druckvoller wurde sein nasaler Sprechgesang, immer transparenter die Untermalung.

Klassisch schlanke Rock-Besetzung

Die Begleiter gingen tief mit hinein in seine Songs, loteten unverhoffte Melodie-Linien aus, verliehen dem berühmten Frontmann Fassung und Freiheitsraum zugleich. Da zeigte es sich wieder: Die klassisch schlanke Rock-Besetzung mit Lead- und Rhythmusgitarre, Baß und Drums ermöglicht die spontane Verständigung und damit das kompakteste Gruppenspiel.

Im ersten Teil des zweistündigen Konzerts (wahrlich die Pflichtlänge für 60 DM Eintritt) setzte nur „Señor“ einen sanfteren Akzent, Klassiker wie „All along the Watchtower“ wurden hingegen durch den Bluesrock-Wolf gedreht. Jubel kam auf, als die Einheizer-Phase beendet war und Dylan sich anschickte, das kollektive Gemüt zu streicheln. Im Mittelteil wurden die E-Gitarren beiseite gestellt. Für „Tangled up in Blue“ kam erstmals die Harmonika zum Einsatz – altgedienten Dylan-Fans ein Signal des Echten, das niemals vergehen möge. Es folgte eine der schönsten Passagen: ein wohlig ausschwingendes „It’s all over now, Baby Blue“, das wunderweiche Wellen warf.

So selig wurde es erst wieder bei den Zugaben, für die sich Dylan besondere Kostbarkeiten aufgespart hatte: „Stuck inside the Mobile with the Memphis Blues Again“ „Rainy Day Women“ und „Knockin‘ on Heaven’s Door“.

Doch eine Song-Zeile war den Fans (die wenigsten noch in der Maienblüte) die größte Labsal: „I was so much older then, I’m younger than that now.“ Damals war ich viel älter, jetzt bin ich jünger.“ Genau das wollten die meisten von Dylan bekommen: Nahrung für die Phantasie, daß ihre Jugend stetig wiederkehrt.




Verwehtes Menschenbild – Köln: Umfassender Querschnitt durch die Sammlungen des Peter Ludwig

Von Bernd Berke

Köln. Es läßt sich kaum ein Ausstellungs-Titel denken, der mehr ins Allgemeine spielt: „Unser Jahrhundert: Menschenbilder – Bilderwelten“. Unmöglich ist’s eben, die freischwebende Moderne mit allseits treffenden Schlagworten zu fassen. Auch um diese irritierende Vielfalt geht es jetzt in Köln, wo ein Querschnitt durch die famosen Sammlungen des Mäzens Peter Ludwig zu sehen ist.

Der gerade 70 Jahre alt gewordene Aachener Schoko-Magnat und promovierte Kunsthistoriker hat bekanntlich Bilder derart angehäuft, daß er sie auf ein ganze Kette von Museen verteilen konnte. Eine Essenz der Sektionen Gegenwart und jüngere Vergangenheit ist nun also vorübergehend an einem Ort beisammen. Die Leihgaben kommen aus den Ludwig-Museen in Oberhausen, Aachen, Koblenz, Wien, Budapest und St. Petersburg. Kölns Museum Ludwig steuert den Kernbestand bei und gibt die wohl unwiederbringliche Gelegenheit zur bündigen Gesamtschau.

„Ikonen“ der neuesten Zeit

Was Umfang und Anspruch betrifft, ist die Ausstellung mit Kölner Mammut-Unternehmungen der 80er Jahre („Westkunst“, „Bilderstreit“) vergleichbar. Auf den Kataloglisten finden sich 124 Künstlernamen aus 20 Ländern. 230 Arbeiten nahezu aller Größen des Jahrhunderts – von Picasso und Duchamp bis Warhol und Beuys – füllen die Räume. Besonders aus der Zeit nach 1945 enthält die Kollektion etliche „Ikonen“ wie die Suppendosen und Marilyn-Bildnisse des Andy Warhol oder die Monumental-Comics des Roy Lichtenstein. Die Auswahl wirkt, zumal auf dem Felde der Pop-Art, beinahe lexikalisch, hat aber auch aus dem Kreis derer zu Baselitz, Immendorff und Kiefer Spitzenstücke zu bieten.

Man mag den Kölner Museumsleuten vorhalten, sie hätten manches gar zu eng plaziert, so daß die Aura einzelner Werke leidet. Andererseits ergeben sich im dichten „Gewühl“ aufschlußreiche Gleich- und Gegen-Klänge. Da geraten etwa die gemalten bzw. gebauten Maschinenwelten eines Jean Tinguely und eines Konrad Klapheck ins optische Zwiegespräch, und der selbstironische Machismo eines Francis Picabia („Die spanische Nacht“, 1922) findet seine bonbonbunte Fortführung in Jeff Koons‘ Skulptur „Jeff and Ilona“ (1990), die den Künstler mit seiner Ex-Ehefrau, der früheren Porno-Darstellerin Ilona Staller, in flagranti auf dem Liebeslager zeigt.

Es lassen sich auch Leitlinien ziehen. Beispielsweise das Verwehen des herkömmlichen individualistischen Menschenbildes, etwa in seriellen Reihungen oder unter mikroskopisch-eindringlichen Künstlerblicken. Der Einzelne taucht im großen Ganzen unter oder löst sich (seit dem Kubismus) bildlich zur Collage anatomischer Teile auf.

Die Lockungen der Oberfläche

Die Lockungen glänzender Oberflächen und etwaige Untiefen dahinter sind ein weiteres Leitthema. Sie zeigen sich etwa in den hyperrealistischen Verspiegelungen der Wirklichkeit oder in der Pop-Art, die die zwiespältigen Genüsse der Konsumwelt feiert. Wenn freilich Christo, der’s damals noch ein paar Nummern kleiner gemacht hat, anno 1963 eine Rechenmaschine in Plastikfolie einwickelte, so war das eben noch keine Verhüllung, sondern wohl zorniges Packen – eine Geste gegen den Plunder der Zivilisation.

Entdeckung der Schau sind die jüngsten Erwerbungen des Peter Ludwig, der sich neuerdings vehement der chinesischen Kunst zuwendet. Zu nennen wären Fang Lijuns schmerzlich fratzenhafte „Gruppe 2″ und Huang Yongpings „Kiosk“ mit einem Papierbrei aus alten Zeitungen als Sinnbild der Vergänglichkeit. Es sind dies Bilder wie lang unterdrückte Aufschreie. China, so scheint es hier, schließt rasant zur Weltkunst auf.

„Menschenbilder – Bilderwelten“. Museum Ludwig, Köln (direkt am Dom). Bis 8. Oktober. Di-Fr 10-18. Sa/So 11-18 Uhr. Eintritt 13 DM. Katalog 49 DM.




Musik mit tiefen Wurzeln – Michelle Shocked in der Essener „Zeche Carl“

Von Bernd Berke

Essen. Manchmal singt sie glockenrein und mädchenhaft wie einst Joan Baez, dann wieder schwillt ihre Stimme an wie die einer Janis Joplin. Die Texanerin Michelle Shocked, jeder musikalischen Festlegung abhold, ist nach wie vor ein Geheimtipp. Sie hat aber eine treue Gemeinde um sich geschart. So auch jetzt in der Essener „Zeche Carl“.

Ihre Songs sind keine künstlichen Produkte. Wenn sie einen Refrain wie „I’ve come a long way“ singt, glaubt man ihr den langen Weg, den Staub auf den Stiefeln. Und wenn sie jenen „Cotton-eyed Joe“ hochleben läßt, fühlt man sich auf ein ländliches Fest in den südlichen US-Staaten versetzt.

Sie hat viel zu erzählen. Oft spricht sie sich in die Anfänge der Lieder hinein, oder sie unterbricht mittendrin den Fluß einer Melodie, berichtet von persönlichen Dingen, breitet ihr Leben vor dem Publikum aus.

Im braunen bodenlangen Kleid steht sie zwischen ihren beiden Begleitmusikern, eine schneeweiße E-Gitarre umgeschnallt, die sie hingebungsvoll handhabt. Sie wirkt zugleich verletzlich und doch „bodenständig“, kraftvoll, erdnah. Tatsächlich haben ihre Kompositionen tiefe Wurzeln im Blues und im Country-Genre. Doch Michelle Shocked verwandelt sich etliche Stilrichtungen an – vom Folk wie aus den 70er Jahren bis hin zu Anklängen an den ruppig-rauhen Lou Reed.

Erstaunliche Furcht auf offener Bühne

Ihre besten Songs aber klingen einfach wie Kinderlieder, gebaut aus wenigen einprägsamen Riffs: Aber sie kann eben auch entspannt swingen, schmerzhaften Blues von ganz unten heraufholen oder Rocknummern wahrhaftig „rollen“ lassen. So soll es sein. Auf eine solche Reise gehen wir mit.

Erstaunlich, daß sie ihrer eigenen Wirkung so wenig sicher zu sein scheint. Obwohl Songs wie „Anchorage“, „Homestead“ oder das wunderbar schwebende „5 a.m. in Amsterdam“ reichlich bejubelt werden, fürchtet sie plötzlich, „daß ich hier eure ganze Zeit vergeude“. Sie hoffe nur, haucht sie verlegen ins Mikro, daß ihr Auftritt „irgend einen Sinn“ habe. Wie untröstlich sich das anhört!

Doch wie um ihre eigenen Ängste zu bekämpfen, legt sie gleich darauf noch beherzter los. Und dann scheppern die zwei Gitarren mit dem Baß so grandios, daß keiner die Drums vermißt.

Vielleicht hat ihr Selbstbewußtsein unter dem Streit mit der Plattenfirma gelitten. Den Bossen war sie nicht kommerziell genug – und sie erhielt Studioverbot. Nun kann sie ihre auf eigene Faust aufgenommene CD „Kind Hearted Woman“ lediglich bei den Konzerten verkaufen. Das Elend einer Kreativen.




Hintergründiges Funkeln – Arbeiten des Farbtheoretikers Edgar Knoop in Hamm

Von Bernd Berke

Hamm. Wenn man vor den Bildem von Edgar Knoop steht, bleiben auch sie still, ja fast starr. Doch sobald man sich bewegt, nimmt man ein Flirren und Flimmern wahr. Was steckt dahinter?

Der gebürtige Dortmunder Knoop (Jahrgang 1936) lebt seit 1957 in München und ist dort seit 1972 Hochschullehrer für Farbtheorie. Hier ist also ein Fachmann und fundierter Theoretiker am Werke. Auch in der Praxis zeigt es sich: Gerade durch äußerst sparsam kalkulierten Einsatz bringt er die Farbe zur Wirksamkeit.

Knoops Ausstellung „Objekte – Projekte“ im Hammer Gustav-Lübcke-Museum (bis 16. Juli) enthält Collagen, Stelen (edel-schlanke Säulen), Reliefs, dickwollige Farb-Teppiche sowie Dokumente zu seinen Werken und Visionen für öffentliche Plätze.

Auf den ersten Blick wirkt die Zusammenstellung wie von aller Leidenschaft gereinigt, wie eine frostige Abfolge mathematisch vorberechneter Experimente mit Grundlagen der Kunst. Die geraden Linien verlaufen zumeist in Reih‘ und Glied, es herrscht vielfach quadratische Ruhe, oder es triumphiert der Goldene Schnitt.

Ist dies also Kunst vom Reißbrett, kühle Könnerschaft eines versierten Farb- und Formenforschers? Nein, das bewegende Moment der Emotion verbirgt sich nur, tritt nicht gleich in den Vordergrund. Derlei Zurückhaltung verweigert sich auch den Modeströmungen des Kunstmarktes. Knoop bleibt sich und – wenn man denn schon etikettieren will – der „konkreten Kunst“ treu, die zuletzt immer auf die Frage hinausläuft, was das Sehen überhaupt sei.

Insgeheim beginnen diese Arbeiten sich in der Phantasie des Betrachters zu regen: So hinterlegt der Künstler etwa breite dunkle Streifen mit einer glitzernden Spezialfolie. Das Licht trifft durch schmale Schlitze auf, wird gebrochen und ins Regenbogen-Spektrum zerstäubt. Daher also das besagte Flimmern und Funkeln. Und die quadratischen Formate werden so auf die Eckspitzen gestellt, daß – im Widerspiel mit Rahmung und Linien – eine eigentümlich kreisende optische Irritation entsteht. Hintersinnige Kopfkunst.