„Heilen und Pflegen“: Neue DASA-Dauerschau zielt auf Wertschätzung fürs Gesundheitswesen ab

Mit 3D-Brille, Bildschirmen und hochsensitiven OP-Sticks: Ein DASA-Mitarbeiter führt eine virtuelle Operation am rund 120.000 Euro teuren Übungsgerät vor. (Foto: Bernd Berke)

Ich hab’s nicht durchgehalten. Habe keine Standfestigkeit bewiesen, als diese vermaledeite Bodenplatte heftig zu wackeln begann. Wer macht’s besser, einbeinig stehend und dann ganz plötzlich durchgerüttelt?

Wo ich gewesen bin? Auf einer der bei Ausstellungsmachern und beim Publikum so beliebten Mitmach-Stationen, konkret: in der DASA (Dortmunder Arbeitswelt-Ausstellung), die jetzt ihre völlig neu gestaltete Abteilung zum Thema „Heilen und Pflegen“ eröffnet hat – nach rund drei Jahren Planung und Umbau; gerade recht zu einem Zeitpunkt, wo man das Haus jetzt wieder ohne Zeitfenster-Termin und Test besuchen kann.

Kuratorin hospitierte eigens im Dortmunder Klinikum

An vielen Details merkt man, dass die technischen Möglichkeiten sich seit der vorherigen Themen-Aufbereitung (aus dem Jahr 2000) schon wieder gründlich gewandelt haben. Ko-Kuratorin Katrin Petersen (mit Sarah-Louise Rehahn) und ihr Team wollten keine halben Sachen machen. Frau Petersen, von Haus aus Kulturwissenschaftlerin, hat eigens eine Woche im Dortmunder Klinikum (Intensivstation, Notaufnahme) hospitiert und ist auch beim Rettungseinsatz mitgefahren. Gespräche mit vielen Praktikern sollten das Ausstellungs-Konzept realistisch unterfüttern. Dabei hat sich wohl die Zielsetzung konkretisiert, die Heil- und Pflegeberufe im günstigen Licht darzustellen. Die Ausstellung ist denn auch – wie es sozusagen im Kleingedruckten heißt – Bestandteil der „Konzertierten Aktion Pflege“ der Bundesregierung („Handlungsfeld VIII: Wertschätzung und Anerkennung“).

Kuratorin Katrin Petersen im angeregten Dialog mit dem Roboter „Pepper“, der hie und da als unterhaltsame Aushilfskraft in der Pflege eingesetzt wird. (Foto: DASA)

Das Gesundheitswesen steht bekanntlich auf der Tagesordnung, es ist im Laufe der Pandemie oft genug beredet worden, vom berühmt-berüchtigten, weil wohlfeilen „Balkonklatschen“ für Heil- und Pflegekräfte bis hin zu deren Arbeitsbedingungen und der (oft mangelnden) Wertschätzung. Letztere, so das erklärte Ziel der DASA-Schau, soll nachdrücklich befördert werden. Überdies will man reges Interesse am Berufsfeld wecken, dem in Deutschland insgesamt rund 5,7 Millionen Menschen angehören. Da ist dann aber auch so ziemlich alles dabei, mitsamt Verwaltungen, Krankenkassen und Pharma-Industrie, jedoch ohne die bloßen Wellness-Branchen. Lust auf Gesundheitsberufe? Nun ja: Auch hier bestimmt wesentlich das Sein (u. a. in Form fairer Entlohnung) das Bewusstsein.

Einmal selbst die Diagnose stellen

Nun aber auf die Strecke! Gleich eingangs begrüßt einen ein innerlich allseits verdrahteter, gläserner Mensch, Nachbau eines Dresdner Exemplars fürs Hygienemuseum von 1930. Wie das Original, so hebt auch diese Glasfigur ihre Hände in geradezu heilsverkündender Pose. Ursprünge in der Lebensreform-Bewegung der 1920er Jahre sind noch zu erahnen.

Der allseits transparent gestaltete Rundgang folgt sodann einem typischen Verlauf von Krankheit und Genesung: Es beginnt mit der Diagnose und führt über Rettung und Heilung hin zur nachfolgenden Therapie und zur Pflege. Inmitten all dieser Themenbereiche befindet sich eine Ruhezone, die nicht zuletzt daran erinnern soll, dass die Beschäftigten im wahrhaft „systemrelevanten“ Gesundheitswesen meist kaum Zeit für erholsame Pausen haben.

Nicht nur auf der anfangs erwähnten Schüttel-Station (ein Gerätetypus, mit dem auch schon zahllose verletzte Fußballer Teilübungen ihrer Reha absolviert haben) kann man seine Fähigkeiten erproben. Mehrfach gibt es solche Haltepunkte, an denen man selbst aktiv werden darf. In der ersten Abteilung gilt es (mit einer an der Berliner Charité entwickelten Simulation), ein virtuelles Kind z. B. auf eine Masern-Erkrankung zu untersuchen und sich einer schlüssigen Diagnose zu nähern. Zusätzlicher Clou: Fachbesucher-Gruppen können sich auf einem höheren Level zuschalten lassen, auf echtem Expertenniveau.

Was ist was? Diverse Krankheitserreger im Modell. (© DASA)

Vorbei geht’s an buchstäblich griffigen Modellen von Krankheits-Erregern (hier mal ohne Covid, aber mit etlichen anderen Bedrohungen), die auch wirklich zum Anfassen gedacht sind. Vielleicht werden Leute vom „Team Vorsicht“ damit noch bis zu den gaaaanz niedrigen Inzidenzen warten, die hoffentlich bald anliegen.

Hinein ins Rettungsfahrzeug

In der Nähe der Erreger-Modelle findet sich auch das vielleicht bizarrste Ausstellungsstück, der sogenannte „Blaue Heinrich“, ein transportabler, halbwegs diskreter Spucknapf für die Handtasche, seinerzeit gedacht für etwaigen Tuberkulose-Auswurf…

Im folgenden Rettungsbereich erwartet einen das größte Exponat, ein weitgehend originalgetreues Einsatzfahrzeug für den Notfall, das freilich keine Räder hat. Allerdings kann man sich in aller Ruhe das komplette Innenleben ansehen, ohne Angst und Stress, weil es ja eben kein Ernstfall ist. Der wiederum wird in einem dreidimensionalen „Wimmelbild“ mit Spielzeug nachgestellt. Knapp erwähnt werden dabei auch Attacken auf Unfallhelfer, aber da alles möglichst positiv sein soll, wird das unfassbare Phänomen nicht weiter verfolgt. Ebenso ausgespart bleiben etwa die Auswüchse diverser Sparwellen im Gesundheitswesen. Und auch der Tod, der nun einmal hinzu gehört, ist höchstens indirekt gegenwärtig. Hier wird er gleichsam überwunden und des Hauses verwiesen.

Hochmodernes Trainingsgerät für Operationen

Zurück auf den Parcours: Im OP-Bereich lassen sich Geschicklichkeitsübungen vollführen. Entweder versucht man mit einem Gestänge Fäden durch Ösen zu ziehen (gar nicht so leicht), oder man begibt sich gleich zu einem im wirklichen Medizinerleben verwendeten, virtuellen Trainingsgerät mit allem kostspieligen Komfort. Durch die Apparatur wird sogar die Haptik der menschlichen Organe übermittelt. Hier sollte man aber nicht selbst auf gut Glück loslegen, sondern auf eine Vorführung oder wenigstens Anleitung warten. Als Kontrast zur hypermodernen Technik sind in einer Vitrine historische Gerätschaften wie etwa chirurgische Handbohrer (um 1900) zu besichtigen. Ganz schön gruselig.

In den letzten Abteilungen geht’s ums Therapieren und Pflegen, wobei „Pepper“ seinen Auftritt hat, ein putziges Roboter-Kerlchen, das freilich das Pflegepersonal allenfalls mit kleinen Handreichungen zu entlasten, aber bislang keineswegs zu ersetzen vermag. Für (Quiz)-Spielchen mit Senioren oder Rekonvaleszenten steht Pepper allerdings bereit. Auf die Standard-Frage, ob er wirklich helfen könne, gibt er mit seiner niedlichen Stimme lieber gleich zu: „Wenn ich Kaffee bringe, geht die Hälfte daneben.“ Ein Schelm, der das programmiert hat.

DASA-Leute erproben Geräte in der Therapie- und Pflegeabteilung, ganz vorn der Fahrrad-Simulator mit Weltreise-Funktion. (Foto: Andreas Wahlbrink)

Weltreise mit dem Fahrrad

Neben Hi-Tech-Rollstühlen, Prothesen und ähnlichen Hilfsmitteln gibt es in diesem Bereich noch eine Station, an der man per Trainingsfahrrad in aller Welt unterwegs sein kann; ganz gleich, ob am Dortmunder Friedensplatz, in Brasilien oder Tasmanien – virtuell, versteht sich, aber ziemlich realistisch. Man strampelt tüchtig, sieht was von der weiten Welt und wird allmählich wieder fit.

Vertiefende Informationen zu all dem kann man sich an einigen Medienstationen verschaffen. Die Reihe der hierzu bereitgestellten Therapie-Liegestühle erinnert von fern her fast an eine Kur-Terrasse à la Thomas Manns „Zauberberg“. Sie ist aber deutlich nüchterner geraten als etwaige historische Vorbilder.

Dauerausstellung „Heilen und Pflegen“ auf knapp 800 Quadratmetern im Obergeschoss der DASA Arbeitswelt Ausstellung (angegliedert an die Bundesanstalt für Arbeitsschutz), Friedrich-Henkel-Weg 1-25, 44149 Dortmund.

Öffnungszeiten Mo-Fr 9-17, Sa/So 10-18 Uhr. Tel. Besucherservice: 0231 / 9071-2645. Eintritt wegen dauerhafter Inzidenz unter 50 jetzt ohne Test möglich, noch bis 13. Juni mit Termin-Anmeldung, danach ohne Zeitfenster.

www.dasa-dortmund.de

 




Immer wieder eine Idee voraus: „Totalkünstler“ Timm Ulrichs bereichert die Dortmunder Ostwall-Sammlung

Künstler Timm Ulrichs vor seinem Schaf im Wolfspelz, im Hintergrund Museumsmitarbeiterin Natalie Calkozan. (Foto: Bernd Berke)

Die Namen der deutschen Kunst-Weltberühmtheiten spricht er mit leichtem Befremden aus: Joseph Beuys, Gerhard Richter. Sie seien bei weitem überschätzt, findet der auch nicht gänzlich unbekannte „Totalkünstler“ Timm Ulrichs (81). Wenn er erst einmal ins Plaudern gerät…

Anlass seiner unterhaltsamen, zwischen einem Hauch von Selbstmitleid und gehöriger Selbstironie schwankenden Suada ist ein Konvolut von 23 seiner Arbeiten, die als Neuerwerbungen bzw. Schenkungen in den Besitz des Dortmunder Museums Ostwall (MO) übergehen. 18 davon, vorwiegend aus den 1960er bis 1980er Jahren, sind vom 11. Juni bis zum 18. Juli im MO-Schaufenster auf der 5. Ebene des „Dortmunder U“ zu sehen.

Timm Ulrichs spricht von einem wahren Adrenalinschub, den der erfreulich namhafte Betrag für den Ankauf bei ihm ausgelöst habe. Er sei es nicht gewohnt, mit seiner Kunst finanzielle Erfolge zu erzielen – nicht einmal in seiner Wahlheimat Hannover, „wo ich hängen geblieben bin“. Vor lauter Begeisterung habe er deshalb für Dortmund noch etwas Geschenktes draufgelegt. Seine kleine Auswahl fügt sich jedenfalls zum Fluxus-Schwerpunkt im Dortmunder Haus.

Wie eine geglückte Adoption

In seinem Alter, so der kinderlose Mann (er erwähnt es eigens), müsse man an den Tod und als Künstler an die Nachwirkung denken. Am liebsten sähe er möglichst viele seiner Werke in Museen verwahrt, dort seien sie sicher vor gewinnsüchtigen Käufern und Verkäufern. Die Übergabe ans Museum komme ihm vor wie eine geglückte Adoption der Werke. Ganz in diesem Sinne hat er sich in letzter Zeit sogar daran gemacht, einzelne Arbeiten vom Markt zu nehmen, indem er sie zurückkauft. Kein leichtes Unterfangen, denn Stücke, die es einst für eine Handvoll Deutsche Mark gegeben hat, werden nun doch für Tausende Euro gehandelt.

Timm Ulrichs, der immerhin rund drei Jahrzehnte lang (bis 2005) wohlbestallter Professor an der Kunstakademie Münster gewesen ist, sagt von sich, er habe „nie eine richtige Wohnung gehabt. Ich wohne nicht, ich hause. Als Messie…“ Bevor wir das noch für bare Münze nehmen, wollen wir lieber schauen, was fortan im Dortmunder Museum verbleibt.

All diese kleinen Hauptwerke

Der Künstler selbst bezeichnet die Auswahl als „repräsentativen Querschnitt“ durch sein Oeuvre. Noch das kleinste Objekt gilt ihm, wenn die Idee nur zündet, als Hauptwerk: die rauschenden Muscheln als „Hörspiel“, weitere Muscheln als überdeutliche Anspielung aufs weibliche Geschlecht, die Dose mit einem – Achtung, gelüftetes Geheimnis! – innen drin verborgenen Dosenöffner, sein 1975 auf der Kunstmesse Art Cologne erstelltes Selbstbildnis als Blinder mit dem Titel: „Ich kann keine Kunst mehr sehen!“

Ein paar weitere Beispiele:

Eines der auffälligsten Exponate (präsentiert auf der 4. Ebene) ist die lebensgroße Doppelskulptur „Wolf im Schafspelz – Schaf im Wolfspelz. Ein Verwandlungskunststück“ (2005/2010). Tatsächlich hat der Künstler die Tiere derart präparieren lassen, dass ihre Felle vertauscht sind. Dazu bedurfte es eines kostspieligen Gutachtens, das Ausnahmen vom Artenschutz bescheinigte. Das Ergebnis vermag zu irritieren. Ist es schlimmer, wenn das (vermeintlich) Böse sich als das Harmlose tarnt, oder ist es umgekehrt womöglich noch abgründiger? Tiere sehen dich an und stellen dir Fragen.

Die Sache mit Wolf und Schaf

Ein paar Meter weiter finden sich zwei spielzeuggroße Herden unter dem Titel „Schwarze Schafe“. Doch halt! Es steht zwar in dunkles Tier allein in einer weißen Herde, doch auch ein einzelnes weißes Tier in einer dunklen Herde. Was heißt denn hier Minderheit, was heißt denn hier „verrufen“? Immer wieder gelingt es Ulrichs, mit beinahe unscheinbaren Maßnahmen erhellende Gedankenspiele anzuregen. Mitunter meint man, das Ergebnis nahezu wissenschaftlicher Versuchsanordnungen zu sehen, wie etwa bei jenem schräg stehenden Pendel, auf dessen Realisierung er Jahrzehnte warten musste, weil es vorher keine genügend starken Magneten für solche Zwecke gegeben hat. Timm Ulrichs hat einmal Edison als sein größtes Vorbild bezeichnet, denn der habe 200 Patente aus allen denkbaren Bereichen gehalten. Doch vor und nach aller „Wissenschaft“ dürfte bei Ulrichs eine große Portion Spontanität im Spiele sein.

Noch einmal Timm Ulrichs (81), vor einer Fotografie seiner selbst aus dem Jahre 1975 (Aktion „Ich kann keine Kunst mehr sehen!“ / © Timm Ulrichs). (Foto: Bernd Berke)

Geradezu verlieren kann man sich in den endlos vielen Details der 50-teiligen Fotoreihe „Die Welt im Wohnzimmer. Das Fernsehgerät als Sockel und Hausaltar“ (2001/2008), das so manche vorgestrigen Sonderbarkeiten der Gemütlichkeit aufleben lässt, aber nicht kurzerhand denunziert. Gerade das Gerät, mit dem „die Welt ins Haus“ kommen soll, wird zum Schauplatz höchst privater Reliquien, die sich auf dem Apparat angesammelt haben; in diesem Falle vor allem in slowenischen Seniorenheimen vorgefunden. Eins steht fest: Mit den öden Flachbildschirmen geht so etwas nicht mehr. Flackernd hinter- und doppelsinnig erscheint auch die Arbeit mit einem echten und einem täuschend echt fotografierten Keilrahmen für Leinwände, dem edlen Bildträger der Künste, der hier ins Alltägliche zurückgeholt wird. Wie hieß doch Ulrichs Aktion von 1961: „Werbezentrale für Totalkunst & Banalismus“. Hehr und heilig ist ihm nichts. Und nichts ist selbstverständlich.

Das tätowierte Augenlid

Erstaunlich, wie früh er manche Ideen oder auch Eingebungen gehabt hat! Den Einfall, sein gesamtes Leben von der Geburt bis zum Tod zu filmen, hegte er um 1961 (!), als wirklich noch niemand vom Selfie-Wahn zu phantasieren wagte. Mit Tätowierkunst experimentierte er bereits in den frühen 70ern, als die heute so inflationären Tattoos allenfalls bei Seeleuten und manchen „schweren Jungs“ üblich waren. Just die Einbeziehung des eigenen Körpers, lange hernach im Kunstbetrieb als Neuheit beschrien, hat Ulrichs sehr (vor)zeitig betrieben. Mal ließ er sich so tätowieren, dass er selbst zur Zielscheibe wurde. Ein andermal ließ er sich die Filmabspann-Worte „The End“ aufs Augenlid schreiben. Hintergedanke: Beim allerletzten Schließen der Augen am Lebensende würde der Schriftzug erscheinen. Gelegentlich erklärte sich Timm Ulrichs zum lebenden Kunstwerk und stellte sich auch schon mal als Schlafender aus.

Heute würde man vielleicht flapsig sagen: Der Mann war „ganz weit vorn“. Hätte er auch nur eine dieser Ideen konsequent zu seinem Markenzeichen gemacht, wäre ihm vielleicht lukrativer Kunstmarkt-Erfolg beschieden gewesen. Doch das war seine Sache nicht. Mit immer neuen Ideen, nie so recht zu fassen, irrlichterte er durch die Kunstszene.

Wenn schon nicht Richter (der Ulrichs zufolge notfalls drei Bilder parallel pinseln könnte) oder Beuys („Den habe ich bei den Mutiples längst abgehängt“), wen ließe er denn dann gelten? Seine rigide Auswahl: In der Nachkriegskunst sei lediglich Dieter Roth (1930-1998) „satisfaktionsfähig“, dem übrigens 2016 im Museum Ostwall die Ausstellung „Schöne Scheiße“ gewidmet war. Zu seinen Anregern zählt er auch Dadaisten wie Richard Hülsenbeck (der in Dortmund begraben liegt) und vor allem Raoul Hausmann (1886-1971). Bei aller strengen Auswahl weiß Ulrichs: „Niemand steht für sich allein. Wir alle brauchen Gleichgesinnte.“

„Timm Ulrichs. Willkommen im Museum Ostwall“. 15. Juni bis 18. Juli 2021, geöffnet Di+Mi 11-18, Do+Fr 11-20, Sa+So 11-18 Uhr, Mo geschlossen. Museum Ostwall im Dortmunder U, „Schaufenster“ auf Ebene 5. Leonie-Reygers-Terrasse, 44137 Dortmund, Info-Tel. 0231 / 50-2 47 23.

www.dortmunder-u.de 

 




Entdecker in den Gefilden der Rockmusik: Alan Bangs wird 70 Jahre alt

Eine Reihe älterer Musikkassetten. Es sind hauptsächlich Auszüge aus Sendungen von Alan Bangs darauf festgehalten. (Foto: Bernd Berke)

Ja, so ist das halt: Immer mehr Leute, die man als Generationsgenossen (Frauen sind durchweg mitgemeint) empfindet, überschreiten die 70er-Linie. Nun ist der Musik-Moderator Alan Bangs an der Reihe, der am 10. Juni vor 70 Jahren in London geboren wurde und dessen Einfluss auf viele Menschen wohl immer noch anhält, obwohl er schon seit etlichen Jahren keine regelmäßige Hörfunksendung mehr hat.

Alan Bangs hat über Jahre hinweg und mit anhaltenden Folgen beileibe nicht nur meinen (Pop)-Musikgeschmack wesentlich mitgeprägt. Noch heute gibt es in traulichen Internet-Ecken spezielle Seiten, die seine Playlists von damals recherchieren und pflegen. Auf Umwegen lässt sich also Versäumtes nachholen. Den Sammlern sei Dank für so viel leidenschaftliche Fleißarbeit.

Legendäre Sendung „Nightflight“

Der Kult fing mit Alan Bangs‘ legendärer Sendung „Nightflight“ (rund 700 Folgen vom 25. Mai 1975 bis zum 9. April 1989) bei BFBS Germany an. Es war alles andere als das sonst meist übliche Abnudeln von Hitparaden. Von Anfang an horchte man bei Bangs auf. Er machte sich auf zu musikalischen Erkundungen, beseelt von spürsicherer Entdeckerfreude. Alan Bangs war imstande, Neuentdeckungen aus der Independent-Szene beispielsweise auch mit klassischer Musik zu kombinieren, wenn es ihn gelüstete und wenn es Sinn ergab. Tatsächlich: Da gewahrte man so manche gemeinsamen Schwingungen und Querverbindungen. Überhaupt gerieten „Nightflight“-Ausgaben zu abenteuerlichen Überfahrten in vordem ungeahnte Klanggefilde – oder eben zu geheimnisvoll gleitenden Flügen durch die Nacht.

Screenshot der Internet-Seite nightflights.de, die Alan Bangs gewidmet ist und nach eigenen Angaben die Inhalte von über 1100 Sendungen (!) auflistet.

Damals war die Kompaktkassette das Aufzeichnungsmittel der Wahl. Das mit den großen Tonbandspulen hatte sich weitgehend erledigt und wurde hauptsächlich noch von Freaks und Nostalgikern betrieben. Bis heute habe ich ein ganzes Konvolut von Kassetten verwahrt, auf denen vorwiegend Auszüge aus Sendungen von Alan Bangs die Jahrzehnte überdauert haben, klanglich immerhin noch einigermaßen tolerabel. Ein Schatz, auch und gerade in Zeiten von Streamingdiensten mit zig Millionen Titeln. Wobei diese ehedem unvorstellbare Fülle allemal als Weiterung und Ergänzung taugt.

Beim Formatsender „1 Live“ vergrault

So viele großartige Künstler hat man erstmals durch seine Sendungen (hernach kam vor allem noch die „Alan Bangs Connection“ auf WDR 1 in Betracht) kennen und schätzen gelernt. Seine recht sparsamen, jedoch substantiellen Anmoderationen – mit dem gewissen, die Authentizität steigernden englischen Akzent – erschlossen behutsam die je besonderen Qualitäten der Künstlerinnen und Künstler. Alan Bangs hat in Deutschland (jedenfalls in ambitionierten Kreisen) Leute wie etwa Kevin Coyne, Television, Patti Smith, Green on Red oder die Cowboy Junkies bekannt gemacht (weitere Namen im Anhang). Es war Musikvermittlung im allerbesten Sinne.

Im April 1995 begab sich eine zu Teilen schändliche Programmreform, die aus WDR 1 den Formatfunk „1 Live“ machte und in deren Verlauf so ziemlich die letzten Ecken und Kanten abgeschliffen wurden. Alan Bangs sah sich zunächst auf die Nachtschiene verbannt und wurde im September ’95 bei der krähend zwanghaft jugendlichen Welle vollends „vom Hof gejagt“, als er es wagte, zwischendurch eine längere Strecke mit Musik von Chopin zu bespielen. Seither ist er nur noch sporadisch bei deutschen Stationen (z. B. Bayern 2) aufgetaucht. Wir machen das Fass jetzt nicht ganz auf, aber: Von ähnlich gravierenden Vorgängen bei öffentlich-rechtlichen Kanälen hört man in letzter Zeit vermehrt. Bei dem oder jenem Kulturradio bleibt kaum ein solider Stein auf dem anderen. Eine Verfallserscheinung, gegen die sich weithin und weiterhin Protest erheben sollte.

Natürlich muss auch noch der von Peter Rüchel ersonnene Rockpalast im WDR-Fernsehen erwähnt werden, der in den 80ern mit Bangs-Moderationen zeitweise enorme Popularität erlangte. Wer damals am Bildschirm oder sogar live dabei war, wenn es in der Essener Grugahalle zur Sache ging, wird vernehmlich mit der Zunge schnalzen. Ich sage nur: Patti Smith. Van Morrison. Rory Gallagher. Hach!

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Ein bisschen Namedropping muss sein

Wenn ich so ins Verzeichnis meiner besagten und betagten Kassetten schaue, werde ich zum Namedropping animiert. Natürlich kennt man die Leute und Gruppen heute längst. Aber in der ersten Hälfte der 80er Jahre verhielt sich das noch anders. Da war Alan Bangs, der natürlich auch häufig Allzeit-Größen wie Neil Young, Bob Dylan oder die Rolling Stones spielte, zumindest hierzulande ein Pionier.

Nur ein paar Beispiele. Here we go:

Laurie Anderson, Band of Outsiders, Billy Bragg, Alex Chilton, Church, Dream Syndicate, Echo an the Bunnymen, Gang of Four, Gist, Go-Betweens, Rupert Hine, Robyn Hitchcock, Jesus & Mary Chain, Joy Division, Ed Kuepper, Natalie Merchant, OP8, New Order, Ramones, Rose of Avalanche, Michelle Shocked, Sisters of Mercy, Stranglers, Guthrie Thomas, Richard & Linda Thompson, Suzanne Vega, Violent Femmes.

Natürlich mochte ich nicht jeden einzelnen Song. Manche Protagonisten fand ich arg gewöhnungsbedürftig, z. B. das Penguin Café Orchestra, Cabaret Voltaire und Pere Ubu. Aber – und darauf kommt es an – man muss sich erst einmal darauf einlassen. Nur auf diese Weise kann differenzierter Geschmack entstehen.

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P. S.: Auf der Seite nightflights.de (siehe auch Screenshot) geben die Betreiber Gelegenheit, Alan Bangs mit persönlichen Worten zu gratulieren. Bangs möchte demnach gerne bei einer deutschen Radiostation seine Tätigkeit fortsetzen. Möge es gelingen. Das schon genannte Bayern 2, wo etwa ein Roderich Fabian und Kolleg(inn)en gelegentlich in ähnlichem Geiste auflegen, wäre vielleicht als Anlaufpunkt vorstellbar.

Weitere Netzadresse:

blog.nightflights.de




Eine Bühne für fiebrige Phantasien – Märchenbilder von Philipp Fröhlich in Wuppertal

Philipp Fröhlich: „Der Rattenfänger von Hameln – die Kinder I“, 2018. Öl auf Leinwand, 275×195 cm (© Philipp Fröhlich)

Schauen wir doch mal, was Philipp Fröhlich nach eigenem Bekunden nicht ist. Er ist kein Fotograf, obwohl er für seine Kunst das Mittel der Fotografie einsetzt, aber nur als vorbereitendes Hilfsmittel zu Dokumentations-Zwecken. Fröhlich ist auch kein Theatermaler, der bildhafte Kulissen für Inszenierungen herstellt. Allerdings ist er studierter Bühnenbildner mit höheren Weihen der Kunstakademie Düsseldorf (Meisterschüler von Karl Kneidl). Zudem bekennt er, fürs Kino gar keinen rechten Sinn zu haben. Dabei wirken seine Gemälde zuweilen, als seien sie in nostalgischem Technicolor ausgeführt. Das alles sind keine Widersprüche, sondern lediglich Klarstellungen, Differenzierungen.

Der 1975 in Schweinfurt geborene Philipp Fröhlich hat 1995 sein Abitur in Wuppertal gemacht, wo er nun in der Kunsthalle Barmen ausstellt. Ein „Heimspiel“ also? Nur sehr bedingt: Von 2002 bis 2016 hat er in Madrid gelebt, dann zog es ihn nach Brüssel.

Märchenthema ausgeschritten: Künstler Philipp Fröhlich. (Foto: Esther Fernández Garcia / © Philipp Fröhlich)

Fröhlich zeigt seine Variationen auf ein populäres, immer noch weithin im kollektiven (Unter)-Bewusstsein verwurzeltes Thema: Märchen.

Besonderheit seiner Vorgehensweise, erklärlich durch seine Bühnenbildner-Spezialisierung: Bevor er die Märchen-Momente malt, baut er das jeweilige Figureninventar und die Szenerien als spielerisch leicht veränderliche 3D-Modelle, die er vielfach fotografiert. Die Dreidimensionalität überträgt sich ersichtlich auf die Leinwände. Fröhlich hat die Situationen gleichsam schon vor dem ersten Pinselstrich geklärt und imaginär aufgebaut. Dennoch arbeitet er – Schicht für Schicht auftragend – an einem Bild mindestens vier bis sechs Wochen.

Am Beginn des (virtuellen) Rundgangs, den der Künstler selbst erläutert, sind Großformate zum „Rattenfänger von Hameln“ zu sehen (genaugenommen kein Märchen, sondern eine Legende). Sie üben einen kaum widerstehlichen Sog in die Bildtiefe aus.  Strategien wie etwa der Einsatz von Rückenfiguren, die ins Bild hineinlaufen und so die Betrachtenden „mitnehmen“, erinnern von fern her etwa an Caspar David Friedrich. In diesem Falle ist es, als eilte man als Betrachter den Kindern stracks hinterdrein ins Verderben. Tatsächlich wirken diese Bilder durchaus „bühnenhaft“, man könnte beinahe von selbst ahnen, dass das Theater Fröhlichs Metier ist. Diese Qualität teilt sich sogar online mit. Wie eindringlich müssen die Ölbilder erst wirken, wenn man leibhaftig davor steht? Wahrscheinlich aus der Nähe fast so, als wäre man vom Geschehen umfangen.

Philipp Fröhlich: „Da gab ihr Gretel einen Stoß, dass sie weit hineinfuhr, machte die eiserne Tür zu und schob den Riegel vor“, 2018. Öl auf Leinwand, 195×275 cm (©Philipp Fröhlich)

Eine zweite Serie vergegenwärtigt Szenen aus „Hänsel und Gretel“ – vom fatalen Entschluss der Eltern, die Kinder einfach im Wald zurückzulassen, über das verlockende Hexenhaus bis hin zu Hänsels Käfig-Gefangenschaft und schließlich dem Moment, in dem Gretel die Hexe ins grell lodernde Feuer stößt. Bemerkenswert, wie Fröhlich diese altbekannten, ungemein oft illustrierten Ereignisse in eine zeitgemäße Bildsprache überführt, die zwar im Prinzip gegenständlich bleibt, jedoch mit speziellen Perspektiven, Verwischungen und Andeutungen arbeitet, zuweilen bestürzend nah am Sujet. Es tut sich ein Spannungsfeld zwischen Realismus (z. B. Armutsverhältnisse, Waldnatur) und fiebrig gesteigerter Phantasie auf. Dabei wird die tiefenpsychologische Dimension dieser Vorgänge freigelegt. Man erschrickt, wenn man sich in diesen Bildern umsieht.

Weitere Haltepunkte der Schau sind u. a. Bilder zu „Die sieben Raben“ und zu einem schottischen Märchen („The Hobyahs“), das sich via Australien weltweit verbreitet hat. Da wird ein wachsamer Hund so aus Zorn übers Gebell dermaßen verletzt, dass er nicht mehr vor der rätselhaft dunklen Gefahr warnen kann. Im Märchen aber wird das Tier wundersam wieder zusammengesetzt. Solche Geschichten rufen nach Visualisierung. Zugleich stellt sich immer wieder die Frage, inwieweit heute noch „narrative“ Bilder möglich sind. Aber ist denn die Zeit des Erzählens vorüber?

Schließlich sind da noch die vier Arbeiten zum kurzen Märchen aus Georg Büchners „Woyzeck“ – vom bitterlich einsamen Kind, dem alle Illusionen über die Welt genommen werden: Der Mond ist nur ein Stück Holz, die Sonne ist eine verwelkte Sonnenblume, die ganze Erde ein umgestürzter Nachttopf. Mit dieser tieftraurigen Reihe, so sagt Philipp Fröhlich, sei seine Werkphase mit Märchenbildern ausgeschritten und abgeschlossen, er werde sich künftig anderen Themen zuwenden. Wohin seine Wege wohl führen werden? Und ob das Märchenhafte spurlos verschwinden wird?

Philipp Fröhlich: „Märchen“. Kunsthalle Barmen, Wuppertal, Geschwister Scholl Platz 4-6. Vom 3. Juni (Fronleichnam, 11-18 Uhr) bis 1. August, geöffnet Do-Fr 14-18 Uhr, Sa/So 11-18 Uhr. Eintritt 3 €, ermäßigt 2 €.

Stand 2. Juni: Zum Besuch derzeit k e i n negativer Corona-Test erforderlich. Eintrittskarten mit Zeitfenster zu buchen über www.wuppertal-live.de – Führungen vorerst nur digital.

 




Für das Echte gibt es keinen Ersatz: Bochums Theater verzichtet auf digitale Hamsun-Premiere

Lang entbehrt, nicht zu ersetzen: Blick ins Bochumer Schauspielhaus, nach Ende der Vorstellung. (Aufnahme vom November 2018: Bernd Berke)

Es war eine unscheinbare Mail, die uns heute aus dem Schauspielhaus Bochum erreicht hat – und doch ist sie in gewisser Weise bedeutsam. Inhalt: Die ursprünglich für den 29. Mai angekündigte Bochumer Theaterpremiere nach Knut Hamsuns Roman „Mysterien“ wird abgesagt.

Interessant ist die Begründung. Zitat aus der Presseinformation: „Wie sich im Laufe des Probenprozesses gezeigt hat, kann die Aufführung mit ihrer visuellen Einbeziehung des Theaterraums auf dem Bildschirm nicht ihre volle Wirkung entfalten.“

Die Premiere war als Streaming-Ereignis geplant, doch just diese (neuerdings oftmals erprobte) Form der Präsentation hat eben offenkundig ihre Grenzen. Ohne weitere Details zu kennen, darf man davon ausgehen, dass der jetzigen Absage redliche künstlerische Erwägungen zugrunde liegen. Regisseur Johan Simons und sein Team konnten es offenkundig nicht verantworten, für eine Online-Darbietung zu viele Kompromisse einzugehen. Das Stück soll zu Beginn der nächsten Spielzeit als analoge Premiere gezeigt werden.

Auch im Museum geht nichts über Präsenz

Und was lernen wir daraus? Nochmals und wie zur Bekräftigung das, was wir eigentlich schon längst gewusst haben: Die vielbeschworene Digitalität ermöglicht zwar Ausweichmanöver in Krisenzeiten, sie ist oft weitaus besser als gar nichts. Aber sie ist keineswegs geeignet, das klassische Theatererlebnis zu ersetzen. Das mag man auslegen, wie man will, mir erscheint es als Hoffnungszeichen – und als weiterer Beleg dafür, wie sehr wir der unmittelbaren Präsenz in Theatern und sonstigen Kulturstätten bedürfen.

Ähnliches gilt auch für andere Kunstsparten. Nur ein Beispiel: Jüngst hat das Museum Ostwall im „Dortmunder U“ den Versuch unternommen, die bereits geschlossene Retrospektive über Rainer Fetting quasi als Online-Aufzeichnung mit 360-Grad-Rundumsicht fortbestehen zu lassen. Sicher, da kann man sich nach und nach durch die Räume klicken und sozusagen virtuell vor die Bilder hinstellen, aber es wirkt doch eher wie die hilflose Parodie eines Rundgangs.

Wie lautete doch einst jener Werbespruch: „Für das Echte gibt es keinen Ersatz.“




Nach und nach kehrt die Kultur zurück – mit neuer Lust und neuen Formen

Eines von vielen Ausstellungshäusern der Region, die jetzt wieder öffnen dürfen: das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm, das wahrscheinlich ab 25. Mai wieder besucht werden kann. („Symbolbild“ / Aufnahme vom Juni 2020: Bernd Berke)

Es ist nicht mehr zu übersehen und zu überlesen: Jetzt und in den nächsten Tagen werden etliche, wenn nicht die meisten Museen wieder öffnen, werden Theater wieder erste (Freiluft)-Veranstaltungen anbieten, die nicht nur auf digitalen Wegen goutiert werden. Wir können das hier nicht einzeln nachhalten, jede(r) informiere sich bei den Kulturstätten, Kulturschaffenden und Festivals der Wahl.

Das Ganze ist kein „Pfingstwunder“, sondern hat eben mit stetig gesunkenen Corona-Ansteckungsraten zu tun. Man kann nur inständig hoffen, dass die daraus folgenden Lockerungen den Trend nicht wieder umkehren. Man kann nur hoffen? Nein, man kann sich auch weiterhin dementsprechend vorsichtig verhalten. Die allermeisten Kulturanbieter haben mit ausgefeilten Hygiene-Konzepten das Ihre getan. Ein Wiederbeginn ist ihnen und uns allen ebenso zu wünschen wie etwa dem Handel und der Gastronomie.

Experimente willkommen

Was sich schon seit einiger Zeit abzeichnet: Auch nach einem Abflauen der Pandemie (nach der das Virus mutmaßlich endemisch bleiben wird, wie wir es von der Grippe kennen; es sei denn, es entwickelten sich noch gefährlichere Mutanten oder andere Pandemien) – nach dem erhofften Abflauen also werden digitale Formen kultureller Präsentation ihren gesteigerten Stellenwert behalten.

Neuartige Mischformen – etwa aus Theater, Streaming, Film und anderen Künsten – sind im Entstehen begriffen. Um die Binsenweisheit anzufügen: Sie werden das leibhaftige Erlebnis keineswegs ersetzen, wohl aber sinnvoll ergänzen. Schon haben sich hie und da neue Gestaltungsweisen entwickelt, zunächst holprig, aus Not und Zwängen geboren, nunmehr mit einiger Kreativität vorangetrieben. Pauschales Lob gebührt allen, die an derlei Experimenten mit Herz und Seele beteiligt sind. Gewiss werden manche Ansätze auf Dauer scheitern, aber eigentlich ist fast jeder Versuch erst einmal zu begrüßen.

Die Finanzen nicht antasten

Nach deutlich über einem Jahr des wohlbegründeten Verzichts liegt es beinahe jenseits der Vorstellungskraft, sich imaginär in ein halb- oder gar vollbesetztes Theater, Konzerthaus oder Kino zu versetzen. Aber wenn alles gut geht, werden die alten Freiheiten nach und nach wiederkehren. Vor allem anfangs wird es wohl zu einem wahren „Run“ auf Kulturveranstaltungen kommen, die Tickets werden ein sehr knappes Gut sein. Da wird sich zeigen, wie sehr viele Menschen danach gedürstet haben – nicht so sehr nach schicken „Events“, sondern nach herrlich freiem Spiel und womöglich nach lang entbehrter Sinngebung. Und was schließen wir daraus? Dass niemand Hand an FInanzmittel für Kultur legen sollte. Auch darauf müssen wir im Vorfeld der September-Wahlen achten: Wo gelten kulturelle Belange etwas – und wo pfeift man darauf?




Der BVB feiert den Pokalsieg: Ach, wenn doch der Trainer und viele Spieler bleiben würden!

Dortmunder Jubel über den Pokalsieg (Screenshot der ARD-Übertragung)

Tja, was soll man da sagen, da ist man beinahe sprachlos: Mit einem verdienten 4:1 hat Borussia Dortmund gegen RB Leipzig den DFB-Pokal gewonnen. Darauf hätte man vorher nicht unbedingt gewettet. Nicht in dieser Höhe. Nicht in dieser Art und Weise.

Edin Terzic, bis vor kurzer Zeit noch Assistenz-Trainer von Lucien Favre, hat diese Mannschaft insgesamt und hat einzelne Protagonisten sehr schnell besser gemacht. Er hat spürbar Herzblut einfließen lassen. Spieler wie Marco Reus, Mo Dahoud und Manuel Akanji sind unter seiner Ägide geradezu aufgeblüht. Jadon Sancho hat sein Formtief überwunden. Und von Erling Haaland ist nur in den höchsten Tönen zu reden. Um nicht all die anderen zu erwähnen, die wesentliche Anteile am Erfolg haben. Mats Hummels ohnehin. Guerreiro, Bellingham. Aber auch der 35jährige „Oldie“ Łukasz Piszczek, der mit diesem Titel seine Profikarriere beendet, bei dem darob Tränen der Freude flossen und den die ganze Mannschaft heftig hochleben ließ. Das waren schon erhebende, ja berauschende Momente, wenn man es mit den Schwarzgelben hält!

Was nun?  Kaum auszudenken, wenn sie sich jetzt auch doch noch die Teilnahme an der Champions League sichern. Sie sind auf dem besten Wege. Man möchte es bedauern, dass Trainer Terzic nach dieser Saison entweder wieder in die zweite Reihe rückt oder bei einem anderen Club sein Glück sucht, weil es ja beschlossene Sache ist, dass Marco Rose als neuer Cheftrainer aus Mönchengladbach kommen wird. Doch es ist kaum anzunehmen, dass Terzic einen Verein finden wird, mit dem er so innig verbunden ist, wie mit dem BVB. Vielleicht sieht man ihn eines Tages, zum Spitzentrainer gereift, in Dortmund wieder. Hoffentlich behält die Mannschaft jetzt und bis dahin ihr enormes Potential. Zu dem oder jenem sagen wir laut und deutlich: hiergeblieben! Doch ob sie auf uns hören?

Und jetzt wird erst einmal gefeiert. Aber hübsch coronagerecht, nech?!




Südwärts ins Klischee der 70er Jahre – Klaus Modicks Roman „Fahrtwind“

Da stößt jemand beim Sortieren seiner Bücher auf eine Lektüre, die ihn in den 1970er Jahren beeindruckt hat. Beim zerfledderten Büchlein, in dem er seinerzeit die besten Stellen mit Zigaretten-Blättchen markiert hat, handelt es sich um „Aus dem Leben eines Taugenichts“, jene berühmte Novelle des Joseph von Eichendorff aus den frühen 1820er Jahren.

Besagter Jemand erinnert sich, dass er sich damals angesprochen gefühlt hat vom Eichendorffschen dolce far niente, von herrlicher Nichtsnutzigkeit also, die auch ihm damals als Lebensmodell vorgeschwebt hat – weitaus mehr jedenfalls als die trübe Aussicht, die Klempnerfirma seines Vaters mit dem Attribut „& Sohn“ fortzuführen. Also machte er sich auf den Weg, um das süße Nichtstun zu erproben, per Anhalter (ja, das gab’s noch) ging’s südwärts.

Trampen mit Gitarre

Damit beginnen ein paar pikareske Abenteuerchen in den Freiheit verheißenden frühen Siebzigern. Der junge Ich-Erzähler, der wohl dies und jenes mit dem 1951 geborenen Autor Klaus Modick gemein haben dürfte, packt also vor allem seine Gitarre ein, trampt los und überlässt sich den Zufällen. Dabei zieht ihn allemal das Ewigweibliche hinan – oder gelegentlich auch herab.

Doch, ach, es ist nicht der junge Mann von damals, der hier frischweg berichtet, sondern ein spür- und lesbar gereifter Herr, dessen Sichtweisen mitunter etwas altväterlich anmuten. Wenn er auf Seite 17 einen schwulen „Handelsvertreter für Herrenkosmetik“ beschreibt, der ihn beim Autostopp mitnimmt und sein Knie statt der Gangschaltung tätschelt, klingt es eher nach Stammtisch der 70er, als nach Jugendaufbruch jener Zeit.

Spinatwachtel, aus dem Leim gegangen

Auf Seite 19 merken Lesende womöglich schon wieder leicht irritiert auf. Denn auch der Blick auf gewisse ältere Damen ist nicht nur ungalant, sondern so gar nicht von männlichen Selbstzweifeln angekränkelt. Zitat: „Die andere hätte ihre Mutter sein können, war im Gesicht noch einigermaßen knitterfrei oder jedenfalls knitterfrei geschminkt, in den Hüften allerdings stark aus dem Leim gegangen.“ Derlei Perspektiven und Formulierungen schmälern tatsächlich das Lesevergnügen, das sich denn auch nur streckenweise einstellt.

Der Erzähler wird also im todschicken Mercedes-Roadster aufgegabelt von einer Schönen und deren Mutter, die ihn in ein unsägliches Hippiekitsch-Kostüm zwängt und gegen Honorar für Greise in einem Luxushotel bei Wien aufspielen lässt. (Anmerkung: Greise von damals haben höchstwahrscheinlich andere Musik hören wollen). Der Erzähler bildet sich jedenfalls ein, dass die schöne Tochter nach ihm schmachtet. Doch statt dessen ist die Mutter – als „mannstolle Matrone“ und „Spinatwachtel“ tituliert – hinter ihm her. Wie unangenehm. Schon allein sprachlich. Als die schöne Tochter hingegen den Erzähler verschmäht, ist seines Bleibens nicht länger. Der wahre Süden liegt ja auch nicht bei Wien, sondern – wie immer schon seit Goethe – in Italien.

Joints und Pop und Peace

Es werden im weiteren Verlauf jede Menge Joints gedreht und geraucht, zwischendurch sind auch schon mal Psychopilze („Narrische Schwammerln“) an der Reihe. Via Namedropping kommen etliche Popsongs von damals ins Spiel – und leider auch ein paar deutsche Texte, die der Gitarrero selbst gedrechselt hat. Ansonsten halt pastos aufgetragene 70er Jahre, zuweilen arg klischeebehaftet. Was klebt auf einem VW-Bus? Der Schriftzug „Make Love not War“ natürlich, samt Pril-Blumen, Peace-Zeichen und provokanter Zunge à la Rolling Stones. Und manches mehr. Danke. Das genügt.

Auch das Thema Homosexualität wird hie und da nochmals aufgegriffen, speziell in Gestalt zweier schwuler Motorradfahrer namens Billy und Wyatt (in Wahrheit Leo und Guido, aber die amerikanischen Namen spielen halt auf „Easy Rider“ an), die noch ein paar Vertauschungs- und Verwechslungs-Rätsel bereithalten, was die Binnenspannung der Geschichte jedoch kaum wesentlich steigert. Später geistert gar ein weiterer, bis zur Parodie effeminiert dargestellter Schwuler namens – Achtung! – Detlef herum. Ich hätte gedacht, dass just diese Namenswahl in diesem Kontext eigentlich nicht mehr geht. Da hab‘ ich mich wohl getäuscht, oder?

Dann eben Natalie statt Aurelie

Fürs Finale geht die Fahrt nach Rom, wo ein Künstler mit dem verballhornten Ibsen-Namen „Peer Gynter“ die reiseführende Rolle spielt. Er nimmt den Erzähler mit zur legendären Villa Massimo, wo seit Jahrzehnten deutsche Kulturschaffende aller Sparten ihre staatlich spendierten Stipendien genießen – ein Umstand, der dem eingangs erwähnten süßen Leben sehr nahe zu kommen scheint. Auch dies eine recht schlichte Vorstellung. Wie gut jedoch, dass die kaum minder ansehnliche Schwester der vormals erwähnten Schönen auftaucht und willig ist. Natalie statt Aurelie. Was soll’s. Hauptsache knackig.

Ein Happy End für so ziemlich alle Beteiligten folgt auch noch – wie einst bei Eichendorff, bei dem es schließlich hieß „– und es war alles, alles gut!“ So lautet auch Modicks letzter Satz. Womit er etwas mit Eichendorff gemeinsam hätte.

Ganz ehrlich: Ich habe Klaus Modick öfter als stets recht soliden, verlässlichen und unterhaltsamen Autor der „gehobenen Mittelklasse“ schätzen gelernt. Diesmal bin ich etwas enttäuscht.

Klaus Modick: „Fahrtwind“. Roman. Kiepenheuer & Witsch. 208 Seiten, 20 Euro. 

 




Mimimi, Boomer! – Formeln, die jede Diskussion abtöten

Bei manchen Diskussionen stehen einem halt die Haare zu Berge… (Foto: BB)

Hier und jetzt nur ein kurzer Einwurf, was Auseinandersetzungen in „sozialen Netzwerken“ angeht.

Es gibt diese schnellfertigen, zigtausendfach vorgeprägten Formeln, mit denen Argumente nicht nur ersetzt, sondern sogleich niedergebügelt werden. Ein paar dieser immer und immer wieder verwendeten Wortmarken, die bei manchen Leuten mutmaßlich auf Sicherungs-Taste liegen, lauten beispielsweise so:

„Mimimi“ (soll heißen: stell dich nicht so an, heul nicht oder auch triefend ironisch: heul doch!)

„Boomer“ (soll den Widerpart einer Alterskohorte zuordnen, die generell den Anschluss verloren und daher auch nichts mehr zu sagen hat respektive die Schnauze halten soll)

„Alte weiße Männer“ (haben nach der üblichen Lesart auf Erden alles versaubeutelt und sollten am besten bald sterben gehen)

Sehr beliebt ist auch die Geißelung eines sogenannten „Whataboutism“, will heißen: Regt sich eine andere Meinung, wird sie in Bausch und Bogen verworfen. Auf eine Behauptung darf man demnach nicht mit einer Gegen-Behauptung („Und was ist mit…“? / „And what about….?“) antworten. Das entspricht ungefähr dem kindischen Ansinnen: „Ich habe aber zuerst behauptet!“ Drum darf es fortan nur noch um diese erste Behauptung gehen und um keine andere. So lässt sich jede Diskussion schnell abtöten. Austausch von Meinungen? Fruchtbare Debatten? Ausgehaltene Widersprüche? Nichts da!

Derlei wohlfeile Ausrufe sind geeignet, Gesinnungsgenoss*innen auf den Plan zu rufen, die sofort eifrig beipflichten und weitere Invektiven anhäufen. Es sind somit auch beliebte Zutaten zum einen oder anderen gepflegten Shitstorm. Und immer lauert im Hintergrund die Neigung, die Gegenposition am liebsten komplett vernichten oder wenigstens dem vollständigen Vergessen überantworten zu wollen.




Wachsamkeit dringlich gefragt – eine Diskussion zum „Tag der Pressefreiheit“

Der 3. Mai ist „Tag der Pressefreiheit“. Da kann der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) nicht untätig bleiben. Doch obwohl man eine einschlägige (nicht ganz halbstündige) Video-Diskussion heute gleich auf vier Online-Kanälen eingestellt hat, dürfte die Zuschauerzahl recht überschaubar und eher auf Teile der Berufsgruppe beschränkt bleiben. Leider bewegt das für die Demokratie zentrale Thema nicht gerade die Massen. Drum tragen wir unser bescheidenes Scherflein zur Aufmerksamkeit bei.

Schmerzliche Vorfälle: Benjamin Piel, Chefredakteur beim „Mindener Tageblatt“, während der DJV-Video-Diskussion über Pressefreiheit. © DJV NRW. Screenshot aus https://www.youtube.com/watch?v=MwMzA1C2lf8

Es heißt wachsam zu sein, jetzt erst recht: Beim internationalen Vergleich durch die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ ist Deutschland in Sachen Pressefreiheit jüngst auf den 13. Rang zurückgefallen – vorwiegend deshalb, weil es hier mit stark zunehmender Tendenz tätliche Übergriffe auf Medienvertreter gegeben hat, zumal (aber nicht nur) bei sogenannten „Querdenker“-Demonstrationen. Diesen Sachverhalt griff die stellvertretende DJV-NRW-Landesvorsitzende und Gesprächsmoderatorin Andrea Hansen in ihren einleitenden Worten auf.

Defizite in der Polizeiausbildung

Längst nicht immer, so der DJV-Bundesvorsitzende Prof. Frank Überall in besagter Diskussion, herrsche unter den Polizeikräften das nötige Bewusstsein, dass und mit welchen Mitteln die Pressefreiheit bei Demonstrationen zu schützen ist. Die Lage sei von Bundesland zu Bundesland und mitunter von Stadt zu Stadt unterschiedlich. So seien neueste Erfahrungen in Frankfurt deutlich positiver zu bewerten als etwa in Stuttgart. Den Belangen der Pressefreiheit sei in der Polizeiausbildung „kein riesengroßes Modul“ gewidmet. Deshalb suche der Journalistenverband häufiger den Dialog mit angehenden Polizistinnen und Polizisten. Man hofft dabei ebenso auf mittel- und langfristige Wirkungen wie beim Bestreben, das Themenfeld häufiger in den Schulen zu vermitteln.

Ein bedrohlicher Vorfall in Minden

Benjamin Piel, Chefredakteur beim „Mindener Tageblatt“, brachte konkrete lokaljournalistische Aspekte in die Debatte ein. In der vermeintlich so beschaulichen Provinzstadt hat ein abscheulicher Vorfall diffuse Ängste in der Redaktion ausgelöst: Von einer Mindener Brücke baumelte eine aufgehängte Schaufensterpuppe, versehen mit dem Schild „Covid Presse“. Ein solches „symbolisches Bedrohungs-Szenario“ bleibe als Bild im Kopf haften und führe womöglich zu Selbstzensur. Der bloße Verweis aufs Grundgesetz, das die Pressefreiheit ja schließlich garantiere, reiche zur Beruhigung nicht aus. In der Redaktion habe sich denn auch eine Supervisions-Gruppe gebildet, um den Umgang mit der Bedrohung eingehend zu besprechen. Im Übrigen sagte Piel, er habe die Schauspieler-Videoaktion #allesdichtmachen mit ihrer pauschalen, undifferenzierten Kritik an „d e n“ Medien als schmerzlichen Fehlgriff empfunden.

Ganz andere Dimension in Belarus

Eine noch ganz andere Dimension der Bedrohung skizzierte die aus Belarus stammende und in Köln lehrende Prof. Katja Artsiomenka. In Belarus sei Journalismus sozusagen generell verboten, der journalistische Beruf praktisch abgeschafft, das Land nach außen nahezu vollständig abgeschottet. Dennoch solle man alle nur irgend möglichen Verbindungen dorthin aufrecht erhalten. Frau Artsiomenka mahnte dringlich, das Thema Pressefreiheit global zu denken und zu behandeln, sonst wachse auch hier die Gefahr einer Erosion. Als Vorboten misslicher Entwicklungen nannte sie den Einfluss russischer Propaganda in Deutschland.

Frank Überall erinnerte sich unterdessen an Gespräche mit tief besorgten Kollegen in der Türkei, die im Sinne der Pressefreiheit appellierten: „Sorgt dafür, dass wir nicht vergessen werden.“

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Hier noch ein Link zum Podiumsgespräch im YouTube-Kanal des DJV:




„Herzzerreißend lustig“: Albert Ehrensteins Erzählung „Tubutsch“ aus dem Jahre 1908

„Mein Name ist Tubutsch, Karl Tubutsch. Ich erwähne das nur deswegen, weil ich außer meinem Namen nur wenige Dinge besitze…“

Das sind Anfangssätze, die man sich merkt, die gleich einen kaum widerstehlichen Sog ins Nichts ausüben. Sie leiten Albert Ehrensteins 1908 verfasste und 1911 publizierte Erzählung „Tubutsch“ ein, mit der er auf einen Schlag bekannt wurde. Selbst der rigide Karl Kraus hat Ehrenstein alsbald zu schätzen gewusst. „Tubutsch“ ist ein gleichermaßen mitreißender wie niederziehender Text. Der Göttinger Wallstein Verlag hat ihn dankenswerterweise „wiederentdeckt“ und mit zeitgenössisch-kongenialen Zeichnungen herausgebracht. Sie stammen von Oskar Kokoschka, mit dem Ehrenstein seinerzeit gelegentlich zusammengearbeitet hat.

Wie in so manchen großen Texten, passiert im Grunde wenig, ja, die Ereignislosigkeit wird sogar unablässig beschworen. Jener Tubutsch, arm an Besitz, an Erlebnissen und an verbliebenem Lebenswillen, streift ziellos durch Straßen und Gassen von Wien. Kein kultivierter Flaneur, sondern ein haltlos Umherirrender. Auf seinenen Wegen halluziniert er Turbulenzen und surreale Vorgänge ohne Unterlass. In jedem Moment kann alles und nichts passieren.

Da tritt ein parfümierter Polizist (damals eine Ungeheuerlichkeit) ebenso auf wie ein zu ungeahntem Leben erwachender Stiefelknecht namens Philipp, der sich nach Nordamerika aufmachen und beim US-Präsidenten Theodore Roosevelt anheuern will. Oder es lässt einer sein Butterbrotpapier bei einer Zeitreise ins urgeschichtliche Cambrium liegen. Man kann das alles gar nicht aufzählend wiedergeben. Unterschiede zwischen profan und erlesen gelten eh nicht mehr. Der Ich-Erzähler stellt klar: „Leute wie ich (….) müssen ihr Sensorium unaufhörlich füttern und sei es mit Geschäftsschildern, um über gähnende Leere hinwegzukommen.“

Ist selbst der Tod nur eine Witzfigur?

Das Ganze türmt sich auf zur Groteske der umfassenden Resignation, zur ewigen Komödie der Verbitterung. Zitat: „Man glaubt, ich sei lustig? Ja! Herzzerreißend lustig! Dies alles ist nichts als Galgenhumor.“ Doch nicht einmal damit genug. Selbst die Aussicht auf den Freitod verheißt Enttäuschung, denn auch der Tod könnte sich als bloße Witzfigur erweisen, kläglich und ohne jede Würde. Ja, hat denn gar nichts tieferen Sinn?

Man muss sich ein wenig an Ehrensteins Stil gewöhnen, so fremdartig ragt er ins Heute hinein. Doch die Befürchtung geht fehl, hier habe jemand die Sprache nur vor-expressionistisch aufgesteilt. Die zuweilen wirr und fahrig erscheinenden Metamorphosen aller Menschen und Dinge, notabene in Sigmund Freuds Wien imaginiert, rufen durchaus Erinnerungen an psychoanalytische Traumdeutungen wach. Sie münden zwar in einen verzagten Rückzug, wenn nicht in Selbstentleibung, werden aber in einer ungemein beweglichen, fiebrigen, manchmal geradezu feurig „sprühenden“ Art vorgebracht. Dann wieder gibt es ein Innehalten, gibt es Momente erhabener Lakonie. Und an manchen Stellen könnte man glauben, hier schreibe einer fast schon wie Franz Kafka. Oder auch wie ein Karl Valentin. Gar vieles steckt drinnen.

Irrwitzig leerlaufende Warenwelt

Die einsamen Gänge durch die Stadt wirken nicht nur für jene Zeit ausgesprochen „modern“, sie künden wie nebenher auch von Untiefen der Klassenfrage und von einer irrwitzig leerlaufenden, rundum austauschbaren Warenwelt. Im Jahre 1908 war das ziemlich unerhört, also im Vorfeld des Ersten Weltkriegs, als noch gravitätische Sätze wie dieser mehrfach ironisch aufgerufene in Kraft waren: „Man muß das Dekorum wahren.“

Ein sehr schmaler, aber furioser Band, der die Lektüre allemal lohnt. Hernach sollte man sich das beklagenswert exemplarische Leben Albert Ehrensteins vor Augen führen, Karl-Markus Gauß gibt in seinem kundigen Nachwort eine Ahnung davon. Schon als Kind erlitt Ehrenstein antisemitischen Hohn und Demütigungen, später wurde er ins bitterarme Exil getrieben und vollends entwurzelt. Und wieder müsste man die Anfangssätze zitieren, die eben nicht von ungefähr kommen: „Mein Name ist Tubutsch, Karl Tubutsch. Ich erwähne das nur deswegen, weil ich außer meinem Namen nur wenige Dinge besitze…“

Albert Ehrenstein: „Tubutsch“. Mit 10 Zeichnungen von Oskar Kokoschka und einem Nachwort von Karl-Markus Gauß. Wallstein Verlag, Göttingen. 88 Seiten. 20 Euro.




Kein Verhandeln, kein Verzeihen – so isses, das verflixte Virus!

So ähnlich an vielen, vielen Dortmunder Hauswänden zu finden: Das Virus verbreitet sich eben auch in gesprühter Form. (Foto: Bernd Berke)

Schon seit geraumer Zeit kann ich mir das Grinsen nicht verkneifen, wenn ich die personalisierten Nachrichten vom Börsenindex DAX lese, der im Wirtschaftsjournalismus oft genug tatsächlich als Dachs oder gleich als menschelndes Wesen auftritt.

Mal tänzelt der Dax/Dachs „seitwärts“, mal bricht er nach oben aus, dann wieder klettert er mühsam aufwärts oder vollführt nur „Trippelschritte“. Mal tritt er sogar auf der Stelle, mal „schnuppert er Höhenluft“, schließlich stürzt er vielleicht ab. Und überhaupt sind auch Bulle und Bär nie weit, wenn der Dachs sich einstellt. Effekt: All das erscheint als naturwüchsig, als reine Biologie. Eine meiner Lieblingsformulierungen lautet übrigens: „Dax geht gefestigt ins Wochenende.“ Das hat der possierliche Geselle sich einfach verdient.

Derweil benimmt sich unser aller Corona-Virus offenbar ebenfalls wie ein humanoides Wesen, es ist ja nun – im Gegensatz zur Börse – zumindest auch ein biologischer Organismus. Ihm werden just allerlei menschliche Verhaltensweisen zugeschrieben oder abgesprochen, so jüngst wieder von der Kanzlerin im Bundestag. Ich zitiere mit Auslassungen:

„Das Virus verzeiht keine Halbherzigkeiten (…) Das Virus verzeiht kein Zögern (…) Das Virus lässt nicht mit sich verhandeln…“

Es verzeiht nicht, es verhandelt nicht. Sehen wir es nicht geradezu am Konferenztisch vor uns, mit all seinen stacheligen Ausbuchtungen, in all seiner Krönchenhaftigkeit, patzig und trotzig jeden Vorschlag ablehnend? Fast schon eine putzige Vorstellung, wenn man nicht wüsste, wie ernst es in Wahrheit ist.

Auch sonst haben wir schon manches über das Virus-Verhalten erfahren, beispielsweise: „Es“ macht keinen Urlaub, es kennt keine Ferien, es kennt auch keine Feiertage und keine Staatsgrenzen. Auch war schon zu lesen: „Das Virus trickst uns aus“ oder – neckischer noch – „Das Virus schlägt uns ein Schnippchen“. Und wie sagte Katrin Göring-Eckardt (Grüne) heute bei Anne Will so schön: „Das Virus freut sich über unsere Bedenken.“

Naja, und so weiter. Wir kennen uns da inzwischen ein wenig aus, jedenfalls mit der sprachlichen Darstellung. Ansonsten sind wir schon mal ziemlich ratlos.




Künstlersohn, Museumsdirektor und Stifter: Ulrich Schumacher gestorben

Liebenswerte Erinnerung: Künstlersohn Ulrich Schumacher mit einem KInderbildnis seiner selbst, das der Vater 1942 angefertigt hat. - Emil Schumacher: "Ulrich am Tisch" (Kohlezeichnung). (Foto: Bernd Berke)

Im März 2017 mit einer liebenswerten Erinnerung an seinen Vater Emil: Künstlersohn Ulrich Schumacher mit einem Kinderbildnis seiner selbst, das der Vater 1942 angefertigt hat. – Emil Schumacher: „Ulrich am Tisch“ (Kohlezeichnung). (Foto: Bernd Berke)

Traurige Nachricht aus Hagen: Der Museumsdirektor und Museumsstifter Ulrich Schumacher ist mit 79 Jahren nach langer schwerer Krankheit gestorben. Ohne ihn hätte es das Hagener Emil-Schumacher-Museum (ESMH) nicht gegeben, das seit 2009 zusammen mit dem Osthaus-Museum das Hagener Museumszentrum („Kunstquartier“) bildet.

Am 3. September 1941 als Sohn des berühmten Malers Emil Schumacher († 1999) und dessen Frau Ursula (geb. Klapproth) in Hagen geboren, studierte Ulrich Schumacher Kunstgeschichte u. a. bei Max Imdahl an der Ruhr-Uni Bochum. 1972 schloss er das Studium mit der Promotion ab. In der Folgezeit sichtete und katalogisierte er die bedeutsame Schenkung des Sammlerpaares Sprengel an die Stadt Hannover.

1976 kam er ans Museum in Bottrop und wurde dort 1983 Gründungsdirektor des damals neuen Josef Albers Museums, das er über Jahrzehnte leitete und weithin bekannt machte. Als Stifter und Museumsgründer beschenkte er seine Heimatstadt Hagen mit einer reichhaltigen Sammlung aus dem Nachlass seines Vaters. Aus diesem Fundus kann das Emil-Schumacher-Museum immer wieder neue, aufschlussreiche Ausstellungen zu Emil Schumacher und seinen Zeitgenossen bestreiten.

Ulrich Schumachers Bedeutung für die Museumslandschaft des Ruhrgebiets kann kaum überschätzt werden.




Zehn Jahre Revierpassagen – und wie weiter?

Unser Logo bleibt erhalten – Meeresfoto aus Boltenhagen/Ostsee (© Bernd Berke), Schriftgestaltung © Thomas Scherl.

Soso. Zehn Jahre sind also heute schon herum. Zehn Jahre Revierpassagen. Am 11. April 2011 sind die ersten Zeilen erschienen. Seither sind (auch aus dem Archiv) dermaßen viele Texte und Bilder hinzugekommen, dass der Speicherplatz beim Host mehrfach erweitert werden musste.

Ich wüsste nicht, welches Fazit ich ziehen sollte, das alle Fährnisse dieses Zeitraums beträfe und bündig zusammenfassen könnte. Im Laufe der Jahre, das muss man sich einfach eingestehen, haben die frischen Impulse aus der Anfangszeit etwas nachgelassen. Und die Reichweite? Ist hin und wieder ganz in Ordnung, aber gewiss nicht überragend. Allerdings gab es immer mal wieder Zuspruch und positive Rückmeldungen. Danke dafür.

Die Sache mit dem „Ehrenamt“

Auf Dauer hat es sich als misslich erwiesen, dass bloße Kulturberichterstattung ein „Verlustgeschäft“ ist, wenn keinerlei Subventionen oder Spenden fließen (und wenn man mal die „ideellen Werte“ außen vor lässt). Versucht einmal, Autorinnen und Autoren über eine Dekade bei Laune zu halten, wenn sie keine Honorare bekommen können. „Ehrenamt“? Gut und schön. Jedoch nicht für alle Tage…  Aber Spenden einwerben? Ist meine Sache nicht. Erst recht nicht in diesen Zeiten.

Sehr schwer hat es auch die Revierpassagen getroffen, dass Ende 2019 Martin Schrahn verstorben ist, einer der kenntnisreichsten und wortmächtigsten Mitarbeiter überhaupt. Seine Beiträge fehlen schmerzlich. Bis heute und für die kommende Zeit.

Vorfälle wie im richtigen Leben

Demgegenüber erscheint es geradezu läppisch, dass sich aus unerfindlichen Gründen zwischen zwei weiteren Autoren eine Differenz aufgetan hat. Der eine wollte nicht mehr weiter für die Revierpassagen schreiben, wenn der andere bliebe. Keine Namen! Doch welch eine kindische Attitüde, deren Ursache und Anlass nicht offen und ehrlich geklärt werden konnten. Ein weiterer Beiträger, hauptsächlich Buchautor, war durch den Tenor einer Rezension (die er sich von uns erbeten hat) so vergrätzt, dass er fortan keine Zeile mehr beigesteuert hat. Traurig wiederum: Ein ehedem reger Autor ist ernstlich erkrankt und seitdem auf Pflege angewiesen.

Andere Mitarbeiter(innen) sind in festen Jobs gelandet oder auf ihren vorherigen Posten mehr gefordert worden. Sie haben keine Extrazeit mehr fürs regelmäßige Bloggen. Ihnen alles Gute für ihre beruflichen Aufgaben.

Ihr seht: Bei den Revierpassagen sind halt im Laufe der Zeit einige Dinge vorgekommen, wie es sie auch im sonstigen Leben gibt.

…und dann kam noch Corona

Und dann kam schließlich noch Corona hinzu. Es mangelt(e) an Kulturveranstaltungen, über die sich noch berichten ließe. Gewiss: Man hätte zu einem reinen Buch- und Literatur-Blog übergehen können. Aber dann hätte man das Ganze wohl umbenennen müssen, vielleicht in „Leserevier“, „Textpassagen“ oder dergleichen. Außerdem wollen die vielen Bücher auch erst einmal gelesen und besprochen sein.

Und nun? Wird lockdownhalber nicht schäumend gefeiert, sondern nüchtern zurückgeblickt. Jedenfalls gebührt allen Autor(inn)en herzlicher Dank, die weiterhin am Projekt mitwirken.

Nach dem Lustprinzip

Für mich habe ich beschlossen, künftig etwas kürzer zu treten und den Ereignissen noch weniger hinterdrein zu laufen. Keine Termin- oder Nachrichten-Jagd also. Mit Tageszeitungen und deren personellen und technischen Ressourcen können wir eh nicht konkurrieren. Das haben wir zwar nie ernsthaft versucht, sondern bestenfalls das eine oder andere Zeichen gesetzt – zuweilen kräftiger, als dies wiederum auf den Kulturseiten der Ruhrgebiets-Tagespresse mit ihren arg begrenzten Umfängen möglich ist.

Fortan wird es hier jedenfalls noch deutlicher nach dem Lustprinzip zugehen.

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In eigener Sache, Ergänzung

P. S. Aus einigen Beiträgen zu den Revierpassagen und etlichen weiteren Texten ist inzwischen ein kleines Buch hervorgegangen (132 Seiten, 16 Euro). Es ist vor wenigen Tagen als BoD (Book on Demand) in Jürgen Brôcans „edition offenes feld“ erschienen und u. a. auf diesem Wege erhältlich.




Jede Menge Licht: Der Dortmunder Filmemacher Adolf Winkelmann wird 75

Adolf Winkelmann vor dem „Dortmunder U“, auf dem seine Film-Installationen laufen. (Foto: Roland Gorecki / Dortmund Agentur)

Sagen wir mal so: Adolf Winkelmann war so klug und weitsichtig, praktisch zeitlebens in Dortmund zu bleiben. In Städten wie Berlin oder Hamburg hätte er sich anfangs wohl gegen viele durchsetzen müssen, hier aber ist er sozusagen gleich singulär hervorgetreten und hat zeitig etwas gegolten. Von hier aus, in der „unaufgeregtesten Großstadt der Republik“ (wie die „Zeit“ mal schrieb), konnte er nach und nach bundesweit bekannt werden. Noch dazu dürfte sein Hiersein stets eine Herzensangelegenheit gewesen sein.

Von nichts kommt nichts: Der Mann, der an diesem Samstag (10. April) 75 Jahre alt wird, verfügt – ganz gleich, an welchem Ort – natürlich über technische und kreative Begabungen, die längst reiche Früchte getragen haben und zu großen Verdiensten angewachsen sind. Dortmunds Kulturdezernent Jörg Stüdemann würdigt ihn so: „Adolf Winkelmann ist ein herausragender Filmemacher, Ausbilder und als Künstler ein Glücksfall für Dortmund“, kurzum: „einer unserer wichtigsten Kulturbotschafter“. Wohl wahr. Wer, wenn nicht er? Wo doch andere große Söhne der Stadt – Peter Rühmkorf, Martin Kippenberger, Norbert Tadeusz usw. – anderswo ihren Weg gemacht haben.

Mit „Die Abfahrer“ (1978) und „Jede Menge Kohle“ (1981) hat Adolf Winkelmann sozusagen d i e authentischen Ruhrgebietsfilme jener Jahre gedreht, gleichermaßen komödiantisch wie präzise und zeitgemäß in der sozialen Beschreibungskraft. Gewiss keine Glorifizierung der Gegend, aber doch Liebe zur Region und ihren Menschen mitsamt allen Brüchen und Verwerfungen. Auch heute noch, beim Wiedersehen, haben diese frühen Filme Bestand. Das Kultpotenzial ist unverwüstlich, legendär zudem das Repertoire an schnoddrig-coolen Haltungen und Sprüchen Marke Revier, allen voran der Klassiker: „Es kommt der Tag, da will die Säge sägen.“

Es folgten kaum minder prägnante Streifen wie „Super“ (1984), „Peng! Du bist tot!“ (1987), „Der Leibwächter“ (1989) und das um den Revierfußball kreisende Werk „Nordkurve“ (1993). 2016 reichte Winkelmann mit der Romanverfilmung „Junges Licht“ (Vorlage von Ralf Rothmann) einen weiteren, alsbald ebenfalls preisgekrönten Ruhrgebietsfilm nach, der im Dortmund der 1960er Jahre spielt und höchst eindringlich die Kinder- und Jugendjahre eines Bergarbeitersohnes schildert. Wenn man so will, ist es eine Vorgeschichte zu den „Abfahrern“ und zu „Jede Menge Kohle“. Und es ist ein grandioser Heimatfilm der ganz anderen Art, der sich einfach „richtig“ anfühlt. Zwischendurch kam – neben etlichen anderen Produktionen – die bewegende und bestürzende Pharma-Skandalchronik „Contergan“ (ARD-Zweiteiler, 2007) heraus.

Mehrfach erhielt der Regisseur den Deutschen Filmpreis, auch der Grimmepreis blieb kein Einzelstück. Aber wir wollen nicht alle Trophäen aufzählen und nur noch kurz erwähnen, dass er 2003 zu den Gründungsmitgliedern der Deutschen Filmakademie gehörte.

Wenn man sich noch einmal vor Augen führt, welche Darsteller(innen) in Winkelmanns Filmen zu sehen waren, so weiß man, dass er mit seinem soliden Können und seinen Stoffen einige der Besten überzeugt hat. Die Skala reicht – um nur wenige Beispiele zu nennen – von Hermann Lause und Martin Lüttge über Günter Lamprecht und Gottfried John bis zu Matthias Brandt, August Zirner und Peter Fitz. Sogar in Nebenrollen (!) traten Größen wie Hannelore Hoger und Ulrich Wildgruber auf. Und selbstverständlich hatte die unvergessene Tana Schanzara mehrmals einen Ehrenplatz im Winkelmann-Kosmos.

Über alle Kinofilme hinaus, hat Winkelmann in Dortmund ein weithin sichtbares Zeichen seines Wirkens setzen können: Zum Ruhrgebiets-Kulturhauptstadtjahr 2010 entwarf er – als Krönung fürs „Dortmunder U“ – die „Fliegenden Bilder“, eine bei Tag und Nacht aufleuchtende Film-Installation hoch droben auf der ehemaligen Brauerei. Seine Arbeit steigert die Aura des ohnehin schon imposanten Dortmunder Wahrzeichens. Inzwischen gehören 150 Filme zum Bestand, darunter Szenen mit meterhohen Tauben (quasi die Wappentiere des einstigen Reviers), schwarzgelber Kickerseligkeit oder schäumendem Bier, doch auch Kreationen, die über regionale Befindlichkeiten hinausweisen. Außerdem gibt es zuweilen tagesaktuelle Bezüge. Um all das fortzuführen, nahm die nicht gerade übermäßig reiche Stadt richtig Geld in die Hände: Ende 2020 wurden die mit rund 6000 LEDs ausgestatteten Lamellen ersetzt und die Technik wurde runderneuert. Kostenpunkt dafür: 2,6 Millionen Euro. Aber wer will da kleinlich sein? So gut wie alle Auto-, Rad-, Bahn- oder Busfahrenden und alle Passantinnen, die seit 2010 in der Dortmunder Innenstadt aufgekreuzt sind, kennen diese Schöpfung aus Licht.

(Nicht nur) das Revier im Visier: Adolf Winkelmanns neues Buch im Verlag Henselowsky Boschmann.

Soeben neu erschienen ist Adolf Winkelmanns Buch „Die Bilder, der Boschmann und ich“ im Bottroper Verlag Henselowsky Boschmann (176 Seiten, 14,90 Euro): Im Gespräch mit dem Verleger Werner Boschmann erzählt Adolf Winkelmann über sein Leben und seine Kunst; eine ausführliche Retrospektive und eine längst nicht nur anekdotische Einführung ins Werk, an der man künftig schwerlich vorbeikommen wird.

Wer darauf wetten sollte, dass Winkelmann gebürtiger Dortmunder sein muss, hätte verloren. Der Filmemacher ist zwar durch und durch von dieser Stadt geprägt, er wurde aber am 10. April 1946 im sauerländischen Hallenberg am Rand des Rothaargebirges geboren. Als er etwa drei Jahre alt war, zogen seine Eltern in die größte Stadt Westfalens: Adolf Winkelmann wuchs in unmittelbarer Nähe zur Dortmunder Union-Brauerei (Jahrzehnte später just das „Dortmunder U“) auf, machte sein Abitur am hiesigen Helmholtz-Gymnasium und studierte von 1965 bis 1968 an der damaligen Werkkunstschule Kassel. Dort muss ihn das Heimweh ergriffen haben, denn danach zog er wieder nach Dortmund und blieb der Stadt treu. Hier hat er rund 40 Jahre lang als Professor für Film-Design an der Fachhochschule gelehrt und dabei Generationen von Filmschaffenden in Feinheiten des Metiers eingeweiht.

Die Stadt Dortmund erinnert in einer Geburtstags-Würdigung an Winkelmanns ersten Experimentalfilm, der vor fast 54 Jahren in Kassel entstanden ist und der da lakonisch heißt: „Adolf Winkelmann, 9.12.1967  11 h 54″. Der Filmemacher, damals 21 Jahre jung, habe größere Irritationen ausgelöst, als er sich beim Spaziergang selbst filmte. Sollte er damit gar das Selfie miterfunden haben?




Zwischen Pfandflaschen, Wildpinklern und Chronotopos: „Die Raststätte. Eine Liebeserklärung“

Rund 450 Autobahn-Raststätten gibt es in Deutschland. Rund eine halbe Milliarde Mal pro Jahr machen Menschen dort Halt, meistens kurz und flüchtig: zwecks Tanken, Toilette und Imbiss. Ein solch allgegenwärtiges Alltags-Phänomen verdient es zweifellos, in Buchform dargestellt zu werden. Erst recht, wenn es mit Sinn und Verstand geschieht.

Florian Werner war gut beraten, nicht landauf landab möglichst viele Raststätten abzuklappern, sondern sich fast gänzlich auf eine einzige zu konzentrieren: Garbsen Nord bei Hannover. Dennoch hat er einen weiten Themenkreis ausgeschritten, um nicht zu sagen: ein Panorama entworfen. So skizziert er zunächst die faschistisch geprägte (Vor)-Geschichte der Raststätten zur Mitte der 1930er Jahre (allererste Einrichtung: Nähe Chiemsee, nach Bauernhof-Vorbild) bis hin zum Niedergang in den 1970ern – Stichwort „Ölkrise“ – und zur späteren Privatisierung im wiedervereinigten Land, was einen rückblickenden Exkurs zum DDR-Pendant Mitropa mit einschließt. Architektur und Stilfragen kommen wie von selbst hinzu. Die sozusagen wunderbar trostlosen Fotografien von Christian Werner dokumentieren es ebenso beiläufig wie eindringlich.

Produktives Herumlungern

Vor diesem Hintergrund schickt sich Florian Werner an, sich in Garbsen Nord einzumieten und dort für einige Zeit gepflegt „herumzulungern“, wie er es selbst nennt. Eine solch lässige Haltung fördert jedenfalls aufschlussreiche Beobachtungen am Rande zutage. Nach und nach, ganz ohne Hast, zieht der Autor dabei kompetente Auskunftgeber zu Rate: Der Raststätten-Pächter (schon in dritter Generation) kann jede Menge aus dem Metier erzählen, auch das Gästebuch spricht Bände – u. a. mit Einträgen von Herbert Wehner, Udo Jürgens, Uwe Seeler und Alfred Biolek, wobei Letzterer in offenbar beschwingter Laune die Kulinarik dieses Rasthofs zu würdigen weiß – und das als TV-berühmter Kochlöffelschwinger vor dem Herrn. In aller Regel, wir wissen’s, kann man Rasthöfen auf diesem Gebiet jedoch keine höheren Ambitionen bescheinigen.

Dass man mit dem Chef des Ganzen spricht, ist selbstverständlich. Doch Florian Werner befragt ebenso intensiv den verarmten Flaschensammler, der dort die Müllcontainer nach Pfandgut durchsucht. Er trifft sich mit dem Politiker Victor Perli (Die Linke), der seit vielen Jahren unermüdlich das fragwürdige Monopol der Tank & Rast AG samt Bewirtschaftung der Sanifair-Toiletten kritisiert und vehement zur Verstaatlichung rät. Der Leiter der nächstgelegenen Autobahn-Polizweiwache, mit 18 Leuten für 2 mal 180 Autobahn-Kilometer (beide Fahrtrichtungen) zuständig, berichtet sodann aus seiner Perspektive und stellt beispielsweise fest, dass es in diesem Umfeld zwar etliche üble Verkehrsrowdys, aber – anders, als das Klischee es will – kaum Sexualdelikte gebe.

Besonderes Biotop mit 260 Pflanzenarten

Den wohl erstaunlichsten Auftritt aber hat ein „Extrem-Botaniker“, der in dieser vermeintlich so öden und ökologisch toten Zone etwa 260 (!) gedeihende Pflanzenarten identifiziert hat, die allesamt beim Namen genannt werden. Übrigens düngen notorische Wildpinkler das eine oder andere Gewächs. Allerdings sagt der von seinem Fachgebiet besessene Experte auch voraus, dass sich der Klimawandel just hier noch rascher und radikaler zeigen werde als andernorts. In Garbsen Nord könne man schon vorab sehen, worauf es mit weiten Teilen der gesamten deutschen Landschaft hinausläuft.

Doch halt! Da fehlt doch noch wer? Richtig: Als Florian Werner fast schon aufgeben will, einen auskunftsbereiten Fernfahrer aufzutreiben, findet er doch noch einen. Die ehedem als „Kapitäne der Straße“ idealisierte Berufsgruppe besteht, so sagt auch David, der für eine Dortmunder Spedition fährt, heute zu 90 Prozent aus „armen Schweinen“ osteuropäischer Herkunft, die unter skandalösen Bedingungen für Dumpinglöhne schuften. David selbst aber bekennt, seinen Beruf zu lieben. Ja, er sagt lieben.

Autobahn als intellektuelles Gelände

Es ist wie bei so vielen, ja eigentlich bei allen Themen: Sobald jemand näher hinsieht und sich eingehend befasst, erschließt sich ein vordem ungeahntes weites Feld – und (frei nach Goethe): wo man’s packt, da ist es interessant. Schließlich münden all die kleinen und größeren Befunde in Überlegungen „zu einer Philosophie der Raststätte“, womit denn Begriffe wie Telos, Chronotopos, linearer Zeitstrahl und sonstiges Vokabular ins Spiel kommen. In der Bibliographie des Bandes stehen die Namen von (einst) prägenden Schwerdenkern wie Michail M. Bachtin, Michel Foucault und Paul Virilio. Womit die Raststätte endgültig auch zum intellektuellen Gelände geworden wäre.

Doch keine Schwellenangst! Die Bildungsattitüde kommt selbstironisch daher. Florian Werner weiß seinen Stoff nicht nur gedanklich zu durchdringen, sondern durchweg unterhaltsam aufzubereiten. Und er selbst war wiederum dermaßen durchdrungen von seinem Thema, dass er sich später daheim in Berlin den lang vermissten Kick geben musste – in der nostalgischen Avus-Raststätte.

Florian Werner: „Die Raststätte. Eine Liebeserklärung“. Hanser Berlin. 160 Seiten. 22 Euro.

 




Unterwegs fast nichts erlebt – Andreas Maiers Anti-Reise-Roman „Die Städte“

Zählen wir mal kurz auf: Wer Andreas Maiers kompakte Romane wie „Das Zimmer“, „Das Haus“, „Die Straße“, „Der Ort“, „Der Kreis“, „Die Universität“ und „Die Familie“ (puh!) goutiert hat, meint vielleicht, im Leben des Autors quasi heimisch geworden zu sein. Doch das ist wohl ein Trugschluss. Wer weiß schon, welchen Anteil Findung und Formung an all dem haben.

Und überhaupt hat ja vieles seine Kehrseite – wie auch im neuen, abermals wortkarg benannten Buch „Die Städte“. Gewiss, da kommen einige Orte namentlich vor, doch falls man markante Reiseerlebnisse erwartet, wird man düpiert – oder auf andere Fährten geführt. Andreas Maier hält bei all dem einen lakonisch registrierenden Tonfall, der das Groteske an äußerer Mobilität bei innerer Unbeweglichkeit erst recht hervortreten lässt.

Bloß schnell an Nürnberg vorbei

Schon das Kapitel „Nürnberg, Brenner, Brixen“ hat es (nicht) in sich. Es erweist sich als Schilderung der alljährlichen, ungemein öden Familien-Anreise zum Sommerurlaub in Südtirol, die einer seltsamen Flucht gleicht, auf der man es unbedingt früh an Nürnberg vorbei geschafft haben muss. Da geht’s um irrwitzig eingerastete Rituale – wie und wann die Mutter im Auto etwas zum Verzehr anbietet, wie der Ich-Erzähler sich als Kind in seine Asterix-Hefte vergraben hat, wie die immergleichen Parkplatzmanöver und Einkäufe für die Ferienwohnung verlaufen sind. So sehen die gerafften Notizen zum „Geschehen“ denn auch aus:

„Tage drei Ausflug Kalterer See, Fahrtzeit eine Stunde hin, eine zurück.

Tag vier einkaufen, Mittagessen beim Stremnitzer, Sanitärgeschäft.

Tag fünf Fahrt zur Seiser Alm (45 min), dort parken auf einem riesigen Parkplatz…“

Ganz schön was los.

Von derlei Ferienreisen hält der Junge prinzipiell nichts: „…der Urlaub ist lang, und ich fürchte mich schon im voraus vor ihm, wie vor jedem Urlaub. Ich fürchte mich davor, wochenlang das Haus und mein Zimmer verlassen zu müssen und an einen anderen Ort zu kommen, wo ich mich zu anderen Menschen verhalten und mit ihnen reden soll…“

Im nächsten Kapitel geht es nach Athen. Schon aufregender? Von wegen. Der Erzähler, inzwischen ein paar Jahre älter, hat sich noch einmal hinreißen lassen, mit den Eltern zu fliegen und sich zugleich vorgenommen, ihnen die Reiselaune zu versauen.

Ouzo „wie ein Grieche“ schlürfen

Es geht also kaum um die Städte, sondern um Pein und Peinlichkeit des Reisens. Einigermaßen tragfähige Erfahrungen, so ahnen wir, macht höchstens der Sohn, wenn er stundenlang in einer Bar abhängt und sich – nach Landessitte Ouzo schlürfend – „wie ein Grieche“ fühlt, während die Eltern den Reiseführern zu den antiken Stätten nachhecheln. Oder sind das allseits nur Einbildungen? Sind das allesamt fruchtlose Unterfangen?

Sodann Biarritz. Nunmehr, mit 16 Jahren, unterwegs mit einem verkorksten Typen, der überall nur auf Brüste und Pos starrt, sich aber nicht traut, Mädchen anzusprechen. Ein kurzes, aber starkes, sozusagen leichthin verdichtetes Stück über klägliche Orientierungslosigkeit, aber auch Lässigkeit in diesem Lebensalter. Es weht einen geradezu an.

Und was ist mit Oulx (Skiort bei Turin)? Nun, da ist der Erzählende allein hingereist, fest entschlossen, sich dort umzubringen. Aber es wird nichts draus, das Ansinnen versandet. Und dann ist da ja noch diese verwirrend Schöne in der Pizzeria… Das Ganze mündet in eine einwöchige Sauferei und Fresserei. Auch keine Offenbarung. Aber doch irgendwie tröstlich.

Alles nur schön und eindrucksvoll

Der merkwürdige Dreiklang „Bangkok, Friedberg, Marrakesch“ verheißt gleichfalls abstruse Nicht-Erlebnisse. Eine Bekannte präsentiert Fotostapel von ihrer gerade mal fünftägigen Bangkok-Reise und vermag zu jedem Bild nicht mehr zu sagen, als dass dies und jenes schön und eindrucksvoll gewesen sei. Quälend für den Zuhörer.

Sich daran erinnernd, hebt der Erzähler, damals Student der Altphilologie, zu einer kleinen Suada über inhaltslose, sinnfreie Reise-Erinnerungen an: „Diese Erzählungen können zum Prahlen dienen, dann sind sie am unangenehmsten. Oft führen sie schlicht zur Förderung des Selbstwertgefühls beim Erzählenden (…) Die Zuhörer reagieren, indem sie Dinge ausrufen wie: Das ist ja schön, das ist ja toll, daß du das erlebt hast…“ Und so weiter, desillusioniert bis auf den Grund. Da grinst einen das Nichts an.

Schließlich Weimar, wo der Berichtende als junger Schriftsteller eintrifft – in der damaligen „Kulturstadt Europas“ (1999). Ein wahnwitziger Massentourismus ergießt sich (vermeintlich „auf Goethes Spuren“) in die kleine Stadt, dazwischen lungern immer wieder Neonazi-Trüppchen und Einheimische, die sich bedrängt fühlen, alle Fremden misstrauisch beäugen oder gar anblaffen. Nochmals eine Karikatur des Reisens und seiner Wirkungen.

Das bleibt man doch besser gleich zu Hause, oder?

Andreas Maier: „Die Städte“. Roman. Suhrkamp. 192 Seiten. 22 Euro.




Ruhrfestspiele in Corona-Zeiten: Machen, was möglich ist

Japanisch inspiriert: Szene aus der Eröffnungs-Produktion „Die Seidentrommel“. (Foto: Christophe Raynaud de Lage)

Intendant Olaf Kröck bringt es auf diese Formel: „Die Ruhrfestspiele 2021 finden statt – wenn möglich: in Präsenz.“ Man sei auf alle Eventualitäten vorbereitet.

Wenn die Corona-Entwicklung günstig verlaufe, könne man ab Anfang Mai mit Aufführungen vor (begrenztem) Publikum „jederzeit loslegen“. Andernfalls lasse sich eine misslichere Situation auch rasch „abfedern“ – mit rein digitalen oder hybriden Formaten, wobei mit Letzteren vielfältige Mischungen aus Leibhaftigkeit und Internet-Übermittlung mit Bezahlschranke gemeint sind. Der Intendant kann sich vorstellen, dass man Aufführungen der Festspiele vom Bett oder von der Badewanne aus anschaut. Welch‘ ungewohnte Perspektiven…

Auch bei der heutigen Ruhrfestspiel-Programmvorstellung musste eine Videoschalte die wirkliche Zusammenkunft ersetzen. Einzelne Produktionen gerieten derweil beinahe zur Nebensache, so sehr musste und muss man sich Gedanken machen über die mögliche Umsetzung. Fast schon trotzig klingt es, wenn Olaf Kröck sagt, die Ruhrfestspiele würden jedenfalls „nicht vorauseilend verschwinden“. Und weiter, mit einer altgedienten Theater-Redensart: „Der Lappen muss hoch!“ (sprich: Der Vorhang muss aufgehen). Um all die Fährnisse der Planung wird wohl niemand Kröck und das Team beneiden.

30 Prozent der Plätze besetzen

Theater und sonstige Bühnenprogramme in Corona-Zeiten – das bedeutet beispielsweise, dass die Spielstätten bestenfalls zu je 30 Prozent der Platzkapazitäten ausgelastet sein dürfen. Familiär und partnerschaftlich darf man beieinander sitzen, aber dann kommen jeweils mindestens 1,50 Meter Abstand. Eine Sitzverteilung nach dem Schachbrettprinzip (theoretische Auslastung dann: rund 50 Prozent) wird man nach aller Wahrscheinlichkeit nicht zulassen können. Da ist abermals ein „Team Vorsicht“ zugange.

Zum Konzept gehört auch eine Entzerrung der Spielstätten (nunmehr elf an der Zahl, bis hin zum Recklinghäuser Stadion Hohenhorst) und der Anfangszeiten. Wo in früheren Jahren möglichst viele Leute aufeinander treffen sollten, ist es diesmal umgekehrt. Nicht ausgeschlossen, dass ein Zutritt in kritischen Pandemie-Lagen erst nach negativem Corona-Test erfolgen kann. Die nächsten Wochen und Monate werden zeigen, was überhaupt geht. Phantasien reichen bis hin zu garantiert ansteckungsfreien Roboter-Aufführungen vor einzelnen Menschen…

„Utopie und Unruhe“

Nun aber doch noch ein paar inhaltliche Stichpunkte: Das Festival, heuer in der 75. Ausgabe, steht zum Jubiläum unter dem Motto „Utopie und Unruhe“. Weltweite gesellschaftliche Verwerfungen sorgten allseits für Unruhe, doch komme dabei auch einiges in Bewegung, was womöglich ungeahnte Utopien eröffne. So lautet (ganz grob skizziert) eine Leitlinie der Festspiele, an denen rund 650 Künstler(innen) aus 20 Ländern teilnehmen. Das Jubiläum wird mit einer eher unspektakulären, von Andreas Rossmann kuratierten Foto-Ausstellung begangen, die vorwiegend unkünstlerische, aber zeitgeschichtlich beredte Schnappschüsse des Publikums aus der langen Festspielgeschichte versammeln soll.

Die Eröffnungspremiere am 2. Mai trägt den Titel „Die Seidentrommel“ und wird als „modernes Nō-Theater“ angekündigt, also als Adaption einer traditionellen japanischen Bühnenkunst. Der Text zur Koproduktion des Festivals d’Avignon und des Théâtre de la Ville (Paris) stammt von Jean-Claude Carrière, für Regie und Choreographie sind Kaori Ito und Yoshi Oida zuständig. Die Veranstaltung wird als hybrides Format geplant, das heißt, dass man entweder hingehen oder sie zu Hause (kostenpflichtig) streamen kann.

„Neuer Zirkus“: Momentaufnahme der australischen Truppe Circa Contemporary Circus mit der Aufführung „Sacre“. (Foto: David Kelly)

Um den Nahostkonflikt kreist die Produktion „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ nach dem gleichnamigen Roman von David Grossmann. Zum Themenkreis Klimawandel setzt die Gruppe Rimini Protokoll die „Konferenz der Abwesenden“ in Szene. Henrik Ibsens Weltendrama „Peer Gynt“ wird als Projekt von John Bock und Lars Eidinger (Berliner Schaubühne) zu sehen sein, ebenfalls aus der Hauptstadt (Berliner Ensemble) kommt eine „Dreigroschenoper“ in der Regie von Barrie Kosky. Als Uraufführung steht „Arbeiterinnen“ auf dem Spielplan, eine polnisch-deutsche Koproduktion über drei Frauengenerationen im Ruhrgebiet und in Niederschlesien.

Erwähnt sei noch ein recht vielfältiger Schwerpunkt „Neuer Zirkus“, u. a. mit einem live gestreamten Auftritt des Circa Contemporary Circus, dessen Truppe die australische Heimat unter den waltenden Umständen nicht verlassen mag. Doch der Ruhrfestspiel-Auftritt mit der Produktion „Sacre“ am 14. Mai kann eben weltweit via Internet gesehen werden.

Hier ist nicht der Platz, um alle Punkte auch nur aufzuzählen, man muss schon das Programmbuch („virenabweisende Oberfläche“) wälzen oder im Netz nachschauen. Dazu bitte hier entlang:

Ruhrfestspiele. Geplant vom 1. Mai bis 20. Juni. 90 Produktionen mit 210 Terminen an 11 Spielstätten.

Kartenvorverkauf erst ab 19. April (nochmals verschoben). Info- und Karten-Hotline 02361 / 9218-0

Programmdetails und Online-Kartenverkauf:

www.ruhrfestspiele.de

(Mail: kartenstelle@ruhrfestspiele.de)




Wie die Kunst auf die Industrialisierung reagierte – „Vision und Schrecken der Moderne“ in Wuppertal

Conrad Felixmüller: „Hochöfen, Klöckner-Werke, Haspe, nachts“ (1927). Von der Heydt-Museum, Wuppertal. © VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Mit einem Stipendium ausgestattet, hätte der Künstler Conrad Felixmüller nach Rom reisen können, doch er hat sich fürs Ruhrgebiet entschieden und dort – beispielsweise – das Ölbild „Hochöfen, Klöckner-Werke, Haspe, nachts“ (1927) gemalt. Felixmüller war sichtlich fasziniert vom gigantischen Industriebetrieb, dessen stählerne Kolosse geradezu erhaben aufragen. Sein Bild kündet visionär vom Werden einer neuen Zeit.

Ganz anders zeigt Hans Baluschek die Folgen der Industrialisierung im Revier, so etwa mit seinem Bild „Arbeiterinnen (Proletarierinnen)“ von 1900. Viele, viele Frauen verlassen bei Schichtende das Werksgelände, sie kommen auf die Betrachtenden zu. Die elend gleichmacherischen Lebensumstände haben ihnen einen Großteil ihrer Individualität geraubt, nur noch bei näherem Hinsehen nimmt man kleine Unterscheidungs-Merkmale wahr. Ansonsten sind sie zur gesichtslosen Masse geworden. Ebenfalls ärmlich, aber schon selbstbewusster wirken einige Jahre später Baluscheks „Zechenarbeiterinnen auf einer Hängebrücke“ (1913).

Hans Baluschek: „Zechenarbeiterinnen auf einer Hängebrücke“, Aquarell, 1913 (Deutsches Bergbau-Museum, Bochum)

Zwischen solchen Gegensatz-Polen und etlichen Nuancen mehr bewegt sich die Wuppertaler Ausstellung „Vision und Schrecken der Moderne“, die vor allem mit Eigenbesitz des Von der Heydt-Museums (aber auch prägnanten Leihgaben, z. B. aus dem Dortmunder LWL-Industriemuseum) aufwartet, künstlerische Antworten auf die Industrialisierung in den Blick fasst und mit wenigen Ausläufern bis in die Gegenwart reicht.

Die Öffnungszeiten der Schau stehen unter Corona-Vorbehalt. Derzeit (Stand 26. März) bleibt das Museum vorerst weiter geöffnet – siehe auch den Nachspann dieses Beitrags. Auf jeden Fall gilt: vorher informieren!

Zurück zur Ausstellung, die sich durch acht Räume im ersten Obergeschoss zieht und im Rahmen einer Zoom-Videokonferenz von Beate Eickhoff (im Kuratorinnen-Team mit Antje Birthälmer und Anna Storm) vorgestellt wurde. Also kann ich leider noch nicht aus unmittelbarer Anschauung berichten.

Carl Wilhelm Hübner: „Die schlesischen Weber“, 1844 (Kunstpalast Düsseldorf)

Der einstweilen virtuelle Rundgang beginnt u. a. mit Carl Wilhelm Hübners Gemälde „Die schlesischen Weber“ von 1844, das eine Szene am Vorabend des berühmten Weberaufstands vergegenwärtigt. Fabrikant Zwanziger und sein Sohn mäkeln über die angeblich schlechte Qualität der angelieferten Heimarbeits-Tuchware, werfen sie achtlos zu Boden oder aschen gar verächtlich mit der Zigarre darauf ab. Verzweifelte Heimarbeiter und ihre Familien sind zu sehen, aber auch zwei Männer rechts im Hintergrund, die offenbar schon den Aufstand im Sinn haben. Ein historisch bedeutsamer Moment, der auf die Entstehung des Proletariats und des Sozialismus vorausweist. Aus derselben Zeit stammt Wilhelm Kleinenbroichs Bildnis „Kölnische Zeitung (Der Proletarier)“ von 1845. Dem Arbeiter kommen nach der Lektüre eines Artikels über die Gesindeordnung die Tränen. Es sieht aus, als könnte er alsbald einen Entschluss zur Gegenwehr fassen.

Kein Geringerer als Friedrich Engels (am 28. November 1820 im späteren Wuppertaler Ortsteil Barmen geboren), sonst eher der Literatur als den bildenden Künsten zugeneigt, hat übrigens just Hübners Weber-Bild gekannt und sehr geschätzt. Die ganze Ausstellung hätte ja auch im November des „Engels-Jahres“ 2020 beginnen sollen, woraus aber wegen Corona nichts wurde. Immerhin kann die Dauer der Schau nun bis zum 11. Juli 2021 verlängert werden. Die Leihgeber zeigen sich geduldig.

Einleitende Akzente setzen auch einige Arbeiter-Skulpturen, deren Urheber sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch an antiken Vorbildern ausrichten und traditionelle „Helden der Arbeit“ (bevorzugt Schmiede) darstellen. Bisweilen werden auch kräftige Arbeitsmänner nach dem Vorbild eines Adonis gestaltet. Zu nennen wären etwa Bernhard Hoetgers „Tauzieher“ (1902) oder Wilhelm Lehmbrucks „Steinwälzer (Die Arbeit)“ (1904). Hier waltet ein ganz anderer Geist als etwa in den Schriften von Marx und Engels, die den ausgebeuteten Proletarier nicht als Heros, sondern eher als zerlumpte, verzweifelte und nicht selten dem Alkoholismus verfallene Figur gesehen haben.

Bemerkenswert die schon von ziemlich zahlreichen Schloten durchsetzten Industrie-Landschaftspanoramen von Elberfeld und Barmen (Wuppertals Vorläufer als „Das deutsche Manchester“), die allerdings noch als herkömmliche Idyllen aufgefasst sind. Gesellschaftsporträts des regionalen Großbürgertums zeigen zudem, dass die höheren Herrschaften hierzulande zwar wahrlich im Wohlstand lebten, aber noch längst nicht so mit ihrer Habe prunken konnten wie die Pendants im industriell avancierten England.

Und so geht es weiter durch die Jahrzehnte, mit sehenswerten Arbeiten etwa von Marianne von Werefkin oder Max Beckmann („Die Bettler“, 1922); mit Bildern der furchtbaren Not von Käthe Kollwitz, Max Klinger und Heinrich Zille; mit bissig-aggressiven Anklagen von Georg Scholz („Industriebauern“, 1920) und Otto Dix (Blätter aus der Mappe „Der Krieg“), der die Industrialisierung des Krieges in aller Drastik ins Bild setzt, beispielsweise mit gespenstischen Gasmasken.

Carl Grossberg: „Der gelbe Kessel“, 1933 (Von der Heydt-Museum, Wuppertal)

Ganz anders dann ein neusachliches Bild wie „Der gelbe Kessel“ (1933). Der Künstler Carl Grossberg hat es keineswegs auf soziale Verwerfungen abgesehen, sondern offenkundig Auftragskunst im Sinne einer Ästhetisierung industrieller Apparaturen verfertigt. Noch einmal mit gänzlich verschiedenem Ansatz gingen die „Kölner Progressiven“ zu Werke. Die bekennenden Marxisten gaben sich im Dienst der sozialistischen Utopie ausgesprochen abgeklärt, emotionslos und unsentimental. Sie arbeiteten an einer stark vereinfachten, allgemein verständlichen Bildsprache des neuen Industrie-Zeitalters, die bei Gerd Arntz in flugschriftentauglichen Piktogrammen gipfelt (z. B. „Fabrikhof“, 1926). Doch wirken diese gewollt modernen Menschen nicht auch reichlich steril und gar zu „bereinigt“?

Berühmte Positionen der Industrie-Fotografie (Albert Renger-Patzsch, Bernd und Hilla Becher) dürfen in diesem Kontext nicht fehlen, sie setzen die industriellen Bauwerke geradezu skulptural in Szene, allerdings auf ganz unterschiedliche, mal monumental imposante, mal nüchterne Weise.

Schließlich die nur spärlich vertretene Gegenwartskunst. Hier knüpft Andreas Siekmann an die erwähnten Piktogramme von Gerd Arntz an. Einfach ist zwar die Bildsprache, einigermaßen kompliziert sind jedoch die konstruierten Zusammenhänge und Hintergedanken. Im Spätkapitalismus sind die Verhältnisse eben nicht einfacher geworden.

„Vision und Schrecken der Moderne“. Industrie und künstlerischer Aufbruch. Von der Heydt-Museum, Wuppertal, Turmhof 8. Bis 11. Juli 2021.

Vorerst weiter geöffnet

Update: Nach jetzigem Stand (26. März) bleibt das Museum vorerst geöffnet. Die Stadt Wuppertal will die „Notbremse“ – trotz einer Corona-Inzidenz von rund 170  – (noch) nicht ziehen und stützt sich auf eine Test-Strategie, sprich: Zutritt zu Geschäften („Click & Meet“) und Museen ist mit negativem Schnelltest vom selben Tag möglich.

Im Falle der weiteren Öffnung (Online-Tickets mit Zeitfenster, bitte unbedingt erkundigen): Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Eintritt 12 Euro. Katalog 24,50 Euro.

Telefon: 0202/563-6231

www.von-der-heydt-museum.de

 




In Hannover sprechen sie Hochdeutsch – wirklich besser als anderswo?

Das musste ja mal Gegenstand einer Studie werden: Sprechen sie wirklich in und um Hannover das „beste“ und reinste Hochdeutsch?

Es ist so: Von Hannover habe ich gar keine vernünftigen Bilder, wohl aber vom nahen Celle. Auch dort wird mutmaßlich besonders reines Hochdeutsch gesprochen. (Foto von 1979: Bernd Berke)

Tatsächlich gibt es dazu jetzt die Resultate einer bundesweiten Forsa-Umfrage. Am Projekt beteiligt: die Leibniz Universität Hannover und die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS). Die Internet-Seite der Sprachgesellschaft nennen wir denn auch als Quelle.

Und was ist dabei herausgekommen? Nun ja. Eine geringfügige Bestätigung mit gehörigen Abstrichen. Gerade mal 24% der insgesamt 2004 Befragten Internetnutzer*innen nannten Hannover und Umgebung als die Gegend, in der das lupenreinste Hochdeutsch gesprochen werde. 14 Prozent plädierten für Niedersachsen generell, immerhin 6 Prozent für Nordrhein-Westfalen. Nanu? Rheinländer und „Ruhris“ können damit schon mal nicht gemeint sein.

Mehr Zustimmung erhielt schon die Frage, ob man schon einmal davon gehört habe, dass in Hannover… na, Sie wissen schon. Hier sagten 51 Prozent ja, besonders aus dem Norden und der Mitte Deutschlands sowie vorwiegend Menschen über 60 mit Abitur. Was gutes Hochdeutsch eigentlich bedeute, wurde ebenfalls gefragt. In erster Linie genannt: Dialekt- und Akzentfreiheit sowie deutliche und klare Aussprache. Nun wissen wir darüber also auch Bescheid.

Doch bislang liegen nur Meinungen vor. Fertig ist die Studie noch lange nicht: Ob in und bei Hannover wirklich so gutes Hochdeutsch gesprochen wird, soll im weiteren Verlauf des Projektes erst näher untersucht werden. Wenn die Pandemie-Lage es irgendwann zulässt, sollen in der Stadt aussagekräftige Sprachproben aufgenommen werden.

Gut vorstellbar übrigens, dass etwa Bayern und Schwaben in ihren jeweiligen Idiomen sagen: „Nicht einmal einen ordentlichen Dialekt haben sie dort oben!“ Und: Hätten die Forsa-Leute nach der langweiligsten Landeshauptstadt der Republik gefragt, wäre am Ende vielleicht auch noch Hannover als Klischee bestätigt worden.

Apropos Hannover. Ein Zitat kann ich mir in dem Zusammenhang nicht verkneifen, nämlich die herrlich verschrobenen Sätze von Arno Schmidt: „Und was heißt schon New York? Großstadt ist Großstadt; ich war oft genug in Hannover.“

Und jetzt fiebern wir schon fieberhaft der nächsten stadtbezogenen Umfrage entgegen. Unser Vorschlag: „Gibt es Bielefeld wirklich nicht?“

 




Brief, Wolke und Apfel – Ikonen im Netz

Eines Tages werden sie vielleicht aufgebraucht sein, all die eingängigen Sinnbilder, Signale und Symbole.

Beißt man ein Stück aus einem Apfel heraus, erinnert er eventuell an… (Foto: Bernd Berke)

Heute weiß man gerade noch, was ein veritabler Brief ist, also kann man Mailprogramme mit einem Brief-Icon versehen. Schwieriger wird’s schon mit der Diskette, obwohl die eigentlich relativ neueren Datums gewesen ist. Dass sie nun noch auf zu speichernde Dateien verweist, ist schon ein rechter Anachronismus. Kinder kennen das Zeug schon gar nicht mehr.

Nehmen wir beispielsweise die Messenger-Dienste: Fast schon rührend gestrig der „klassische“ Telefonhörer, der für WhatsApp steht oder die Papier-„Schwalbe“, die im Namen von „Telegram“ lossegelt. Etwas dauerhafter dürften schon die verschieden stilisierten Sprechblasen von Signal, Threema, SMS und Facebook-Messenger sein. Wolken werden uns doch wohl vorerst erhalten bleiben.

Oder die Tiere, die für Browser stehen: der Fuchs von Firefox, der Löwe von Brave. Hoffen wir, dass man sich noch lange auf sie beziehen kann, ebenso auf das zwitschernde Vögelchen von Twitter, die Wölkchen diverser Cloud-Dienste, den angebissenen Apfel von Apple oder auch – nostalgischer Sonderfall – die Kompassnadel von Safari…

Je virtueller das Leben wird, umso mehr werden solche Lebewesen oder herkömmlichen Dinge an den Rand geraten oder vergessen sein. An welche sinnlichen Merkmale wird man sich dann noch halten können? Wird irgendwann alles nur noch durch Zahlenfolgen bzw. völlig abstrakte Darstellungen vergegenwärtigt? Oder wird es ein „Zurück zur Natur!“ geben?

Es deutet sich schon an, was womöglich bleiben wird: pure Farbkreise (Google Chrome) , aufwärts weisende Pfeile (Amazon) oder ein kapitaler Anfangsbuchstabe aus der mehr oder weniger hippen Designerschmiede (z. B. Netflix, Skype, PayPal, Word). Aber Vorsicht: Die Anzahl der Buchstaben ist endlich. Und beileibe nicht jede Gestaltung leuchtet unmittelbar ein.




Martin Kippenberger und die Arena des Lebens-Wettkampfs – zwei Ausstellungen in Essen

Sportfeld mit „Wimmelbild“: Essener Ausstellungsansicht von Martin Kippenbergers Installation „The Happy End of Franz Kafka’s ,Amerika'“ (Museum Folkwang, Essen, 2021 – © Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne – Foto: Simon Vogel)

Um einen flapsigen Spruch war Martin Kippenberger (1953-1997) nie verlegen. Von ihm stammt z. B. der Nonsens-Reim „Jetzt geh ich in den Birkenwald, denn meine Pillen wirken bald.“ Vor allem aber sprudelten seine künstlerischen Ideen wie aus einem Füllhorn hervor.

Manchmal hat sich Kippenberger auch Zeit genommen und über Jahre hinweg am selben Projekt gearbeitet. Was daraus werden konnte, ist nun im Essener Museum Folkwang zu besichtigen: „The Happy End of Franz Kafka’s ‚Amerika‘“ heißt dieses Opus magnum, das sich auf einem 20 mal 23 Meter großen Fußballfeld erstreckt. Man kann entweder außen herum gehen oder seitwärts auf zwei Tribünen Platz nehmen.

Zu sehen sind 50 Tisch-Stuhl-Kombinationen, 32 Einzelstühle, Skulptur-Elemente, verschiedene Wachtürme und Hochsitze, dazu Videos, u. a. mit Cheerleader-Anfeuerungen. Folkwang-Chef Peter Gorschlüter findet, dass man das Ganze zuerst als „Wimmelbild“ wahrnimmt, bevor man sich auf die vielen Einzelheiten konzentrieren kann. Im Katalog wird jedes der vielen Ensembles näher erläutert. Jegliches Detail (einige Elemente stammen von befreundeten Künstler*innen) hat seine Geschichte, seinen Deutungs-Spielraum.

Auf Schienen rund ums Spiegelei: weitere Kippenberger-Installationsansicht aus Essen. (Museum Folkwang, Essen, 2021 – © Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne – Foto: Simon Vogel)

Wenige Stichworte: Ein von Kippenberger verwendeter Aldo-Rossi-Stuhl, Ikone modernen Designs, wurde gezielt durchlöchert – eine Reminiszenz an schusswütige Western-Filme. Auf einer Art Kinder-Karussell fahren Schleudersitze im Kreis, rund um ein riesiges Spiegelei. Ein Tisch ist jenem nachempfunden, an dem Robert Musil seinen Jahrhundertroman „Der Mann ohne Eigenschaften“ verfasst hat. Ein weiteres Gebilde greift einen Sketch von Karl Valentin auf, der Schreibtischbeine so lange passend zurechtsägen wollte, bis praktisch nichts mehr übrig war. Und so weiter…

Der „Happy End“-Titel spielt auf Franz Kafkas Romanfragment „Der Verschollene / Amerika“ an. Dessen Hauptfigur Karl Roßmann muss sich in rätselvoller Fremde zurechtfinden. All die Tische und Stühle simulieren denn auch gleichzeitige, massenhafte Einstellungsgespräche mit höchst ungewissem Ausgang. Das stellenweise gespenstische, jedoch mit luzidem Witz funkelnde Großwerk erweist sich als Sinnbild des Lebens als Wettkampf, des unsicheren Ankommens in der Fremde, der permanenten Überwachung.

In der altehrwürdigen Villa Hügel begibt sich das zweite, deutlich stillere Kippenberger-Ereignis. Hier werden zwei Werkgruppen gewürdigt: Plakate und Künstlerbücher.

Die 100 Plakate aus dem Kippenberger-Kosmos nehmen sich im überaus gediegenen Ambiente der einstigen Krupp-Villa wie kleine Nadelstiche aus. Früher hätte das Ganze für einen Skandal getaugt. Inzwischen weiß man längst, dass Kippenberger seinerzeit der Richtige war, um den Kunstbetrieb provozierend auf Trab zu bringen. Auf gar spezielle Weise ist er, dem erst posthum große Ausstellungen gewidmet wurden, heute nobilitiert.

Kippenberger-Plakat in der Villa Hügel: „Gib mir das Sommerloch“ (Galerie Klein, Deutschland, Bonn, 1986 – Siebdruck, 83,8 x 59,5 cm) (© Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne – Foto: Jens Nober, Museum Folkwang)

Selbst seine beißend spöttischen Plakate sind heute fast schon nostalgische Anlässe zum Lächeln: Nein, wie rotzfrech er doch gewesen ist! Ganz gleich, ob er sich dem Publikum nackt, besoffen oder ernstlich verletzt gezeigt hat. Es war ihm völlig egal, wie unvorteilhaft er auf seinen Selbstdarsteller-Plakaten aussah. Es war just das Gegenteil heutiger „Selfie“-Optimierung.

In einer anderen Zimmerflucht, der Bibliothek des Hauses, werden die historischen Bestände nun dicht an dicht konterkariert von rund 120 Künstlerbüchern. Typisches Beispiel für den ironischen Zugriff: Als Künstlerkollege A. R. Penck sein majestätisches Buch „Die Welt des Adlers“ publiziert hatte, konterte Kippenberger mit niedlichen kleinen Bändchen. Titel: „Die Welt des Kanarienvogels“.

„The Happy End of Franz Kafka’s ,Amerika‘”. Museum Folkwang, Essen, Museumsplatz 1. – Bis 16. Mai 2021. Geöffnet Di bis So 10-18 Uhr, Do und Fr 10-20 Uhr. Eintritt 5 Euro. Katalog (ab April) 48 Euro. www.museum-folkwang.de – Zeitfenster-Tickets (erforderlich): https://museum-folkwang.ticketfritz.de

„Vergessene Einrichtungsprobleme in der Villa Hügel“. Plakate und Künstlerbücher von Martin Kippenberger. Essen, Villa Hügel, Hügel 1. – Bis 16. Mai 2021. Geöffnet Di bis So 10-18 Uhr. Eintritt 5 Euro, Kurzführer gratis. www.villahuegel.de

Ausstellung in der Villa Hügel verlängert

Update vom 20. Mai 2021: Die Ausstellung in der Villa Hügel (wieder geöffnet ab Dienstag, 25. Mai) wird bis zum 4. Juli verlängert!

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„Kind des Ruhrgebiets“

Martin Kippenberger war ein „Kind des Ruhrgebiets“. 1953 als Sohn einer Ärztin und eines Zechendirektors in Dortmund geboren, wuchs er in Essen auf – als „Hahn im Korb“, mit zwei älteren und zwei jüngeren Schwestern.

Martin Kippenberger 1994 mit einem Element seiner damals – in Rotterdam – erstmals gezeigten Kafka-Installation. (Foto: Wubbo de Jong / MAI – Maria Austria Institut)

1968 brach er die Schule ab und begann eine Dekorateurslehre, die er wegen Drogenkonsums nicht abschließen durfte. In den 70er Jahren warf er ein Kunststudium in Hamburg hin.

Bald aber lernte die jüngere Kunstwelt Kippenberger als begnadeten, gewiss nicht uneitlen Selbstdarsteller kennen, der jedoch auch diese Eigenschaft selbstironisch zu brechen wusste. Lebenshunger trieb ihn umher. In Florenz und Berlin hat er gelebt, auch in Paris (um dort Schriftsteller zu werden) und in Kalifornien. Und noch und noch.

Legendär seine Begabung zum Netzwerker, der überall Freunde um sich scharte. Der wohl wichtigste Zirkel war jener mit Werner Büttner, Albert und Markus Oehlen, nachmals den „Neuen Wilden“ zugerechnet, die die Rückkehr zur (heftigen) Malerei kraftvoll betrieben haben. Um 1977 war das, als auch die Punk-Bewegung aufkam, der Kippenberger manchen Impuls verdankte.

Und was geschah 2011 in seiner Geburtsstadt Dortmund? Eine Reinigungskraft schrubbte sein Werk „Wenn’s anfängt durch die Decke zu tropfen“ kurzerhand blank. Gut möglich, dass Kippenberger den Vorfall spaßig gefunden hätte. Aber da hat er nicht mehr gelebt. Am 7. März 1997, nur 44 Jahre alt, ist er in Wien an Krebs gestorben.

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P. S.: Demnächst erscheint eine längere Fassung des Ausstellungsberichts im Kulturmagazin „Westfalenspiegel“.

 




„Im Bann des Eichelhechts“ – Axel Hackes neue Abenteuer im Sprachland

Wohl einem Autor, dem die Ideen oder zumindest die Materialien nur so zufliegen, weil sie ihm haufenweise von seinen Leserinnen und Lesern zugesandt werden. Axel Hacke vergisst denn auch nicht, dafür im Nachspann seines neuen Buches Dank abzustatten. Er selbst versteht es meisterlich, all die Fundstücke zur vergnüglichen Lektüre zu arrangieren.

„Im Bann des Eichelhechts“ heißt das Opus, in dem Axel Hacke – wieder einmal – entzückende bis entsetzliche Sprachentgleisungen, Verhörer, Verleser und unfreiwillig komische Übersetzungsfehler auftischt. Hacke wähnt sich angesichts der überbordenden Fülle geradezu in einem jeder Logik enthobenen „Sprachland“, in dem ungeahnte, oft geradezu poetische Ausdrucks-Freiheiten herrschen. Ganz vorne und ganz hinten im Band sieht sich dieses Land liebevoll kartographiert.

Beim „Eichelhecht“ handelt es sich übrigens um den Irrtum eines Dreijährigen, der sich nach einem Waldspaziergang gesprächsweise an den Eichelhäher erinnern wollte. Respekt: Solch ein elaboriertes Missverständnis muss man mit drei Jahren erst einmal zustande bringen.

Die Tücken der indirekten Übersetzung

In ganz besonderem Maße erntet Axel Hacke diesmal auf dem weiten, weiten Feld der Kochrezepte und Speisekarten, zumal solchen, die aus dem Spanischen oder Italienischen übersetzt wurden – aber wie! Setzt man sich einmal auf die Spur (Wie konnte es nur zu diesen abenteuerlichen Formulierungen kommen?), so wird man im Gefolge Hackes häufig finden, dass es an der indirekten Übersetzung liegt. So geht es nicht gleich vom Spanischen ins Deutsche, sondern es wird zumeist der Umweg übers Englische genommen, womit die Zahl der Fehlerquellen sozusagen exponentiell steigt. Nicht zuletzt Übersetzungsprogramme sorgen beim Überschreiten der Sprachgrenzen für Heiterkeit. Immer noch.

Wenn die Scampi zum Gitter flüchten

Und so kommt es zu herrlichen Wortschöpfungen wie etwa „Tortenhuhn“, „Tinderfisch“ oder gar Gerichten wie „Fuck the duck until exploded“. Auch finden sich – weitaus harmloseres Beispiel – Zubereitungen wie „Französische Bekleidung“, was sich natürlich schlichtweg als wörtliche Übertragung von „French Dressing“ erweist. Auf ähnlich simple Weise geraten auch nahrhafte „Rechtsanwälte“ auf französisch-deutsche Menükarten, wenn nämlich Avocados im Spiel sind und an Advokaten sich anlehnen. Etwas komplizierter wird’s schon, wenn „Scampi alla griglia“ zu „Sie flüchten zum Gitter“ wird. Immerhin zeigt es sich bei hartnäckiger Recherche, dass die Entstehung dieser Wendungen noch durch Anklänge oder Doppelbedeutungen erklärbar ist, während andere Fügungen völlig sinnfrei daherschweben. Mehr wird dazu an dieser Stelle nicht verraten.

Axel Hacke erkundet jedoch nicht nur kulinarische, sondern auch etliche andere Bezirke im schier grenzenlosen Sprachland. So versucht er in einem Kapitel, sich deutsche Wörter mit möglichst vielen „e“-Lettern auszudenken – ein auch im Internet beliebtes Nonsens-Spiel. Stücker 18 sind es beispielsweise in:

ebereschenbeerengeleebecherchendeckelchen

Geht da womöglich noch mehr? Oder fällt man dabei irgendwann dem Wahnsinn anheim?

Was hat es mit den Tiftrienen auf sich?

Ergiebig sind auch übersetzte Gebrauchsanweisungen, mehrsprachige Schilder, Verhörer (speziell aus kindlicher Unwissenheit, z. B. „Tiftrienen“ statt „tief drinnen“), die einen mitunter ein halbes Leben lang begleiten können. Und dann wären da noch die phonetischen Anleitungen für beflissene Polen, die ausgewählte Sätze in verständlichem Deutsch aussprechen möchten. Beispielsweise:

„Zajt cwaj sztunden haben wija kajn waser.“ – „di szpyl-maszine yst fersztopft.“

Was nicht vergessen werden darf: Alle Achtung fürs Lektorat! Dermaßen viele Fehlleistungen und sonstige Sprachblüten quasi „korrekt“ (also „richtig falsch“, hehe) abzudrucken, hat sicherlich erhöhte Aufmerksamkeit und wahrscheinlich so manche ungläubige Rückfrage bei Axel Hacke erfordert.

Axel Hacke: „Im Bann des Eichelhechts und andere Geschichten aus Sprachland“. Verlag Antje Kunstmann. 264 Seiten, 22 Euro.

 




Endlich: „Dittsche“ ist wieder da!

Hobel klargemacht: Dittsche (Olli Dittrich, li.) und Ingo (Jon Flemming Olsen, re.) prosten einander zu, „Krötensohn“ (Jens Lindschau) ist per Videotelefonat auf dem Tablet nur virtuell gegenwärtig. (Screenshot aus der „Dittsche“-Folge von 7. März 2021)

Endlich, endlich! Er ist wieder da. Etwas über ein Jahr ist es her, dass „Dittsche“ zuletzt seine abgründig tiefgründelnde Bademantel-Philosophie verbreiten durfte. Dann kam die lange Corona-Pause. Und jetzt ist Ingos Imbiss-Stube wieder geöffnet – freilich nur zum Außer-Haus-Verkauf. Ganz wie im wirklich wahren Leben…

Dittsche ist jetzt berufstätig. Darauf legt er großen Wert. Hin und wieder fegt er nämlich die besagte Imbiss-Stube aus. Immerhin. Nach getaner Tat bringt er die lang vermissten Worte hervor: „Mach mal’n Hobel klar!“ (d. h. „Gib mir mal’n Bier!“) – und nach den ersten Schlucken  das unvermeidliche „Ah, das perlt aber…“ Hach, wie haben uns diese Wohllaute gefehlt!

Direkt an die letzte Folge von Anfang März 2020 anknüpfend, trug Dittsche anfangs wieder seine Super-Anti-Corona-Maske auf Mund und Nase, einen handelsüblichen Melitta-Filter. Darunter verbarg sich nun allerdings eine vorschriftsmäßige FFP2-Maske. Die wiederum, so verriet er, nehme er tagsüber auch zur Kaffee-Zubereitung. Filter ist Filter. Und Heißwasser tötet Viren ab. Biddää! Biddää!

Folgte eine Geschichte vom Herrn Karger, der seiner Frau ungewollt einen Meckischnitt verpasst hat. Und warum wohl? Weil der langjährige Ex-Friseur jene Trockenhaube aus dem Keller hochholte, die Dittsche im ersten Corona-Sommer als Grill benutzt hatte.  Bratfett-Reste waren halt noch drin – und die Haare der Gattin mussten elendiglich verschmurgeln. Ingo war fassungslos, als er das hörte.

Dittsche faselte sich schnell wieder warm und entwickelte abermals seine „Weltideen“. Tierschützer, bitte weghören! Wie der Installateur Frösche zur Rohrreinigung einsetzen könne: einfach per Flaschenpost zur Verstopfung schießen, dort pusten sie dann alles frei. Unterdessen könnten die jüngst auf Madagaskar entdeckten Mini-Chamäleons als farblich exakt angepasste Camouflage für Auto-Lackschäden dienen. Muss man auch erst mal drauf kommen.

Und als Trainer auf Schalke, wo sie in dieser Spielzeit schon den fünften Coach angeheuert haben, sollen (Dittsche zufolge) künftig nur noch rasch austauschbare Pappkameraden geradestehen – mal mit dem Konterfei von Guardiola, dann von Mourinho, Kloppo oder weiß der Geier wem…

Kurzum: Es war stellenweise wieder so herrlich hirnrissig, wie wir es lieben. Und schon freuen wir uns auf den nächsten Sonntag.

 

 

 




Lungern und hecheln – „Journalismus“, der entgeistert

Bei manchen Journalist*innen herrscht immer Alarmstufe Rot. (Foto: BB)

Manchmal kann einem dieses ganze journalistische Gewerbe, kann einem der ganze (kommerzielle) Medienbetrieb schwerstens auf den Senkel gehen.

Da ist beispielsweise der Lungerjournalismus in Gestalt von Kolleg*innen („man“ soll ja füglich gendern), die stundenlang auf Fluren herumhängen, um wenigstens einen einzigen knackigen Satz aus dem Munde hochwichtiger Polit-Darsteller*innen einzufangen. Ein paar Stunden später ist dies entweder der Talkshow-Aufreger No. 255 oder halt schon das Geschwätz von gestern. Solche Warte-Jobs mögen teilweise gut bezahlt sein, aber ach: Wie öde sind sie doch! Wenn sie sich nach einem solchen Tag ehrlich selbst befragen würden („Was hast du heute bewirkt?“), wie müsste die Antwort dann wohl lauten?

Twitter schlägt Tagesschau

Auch weiß man gar nicht mehr, worauf sich speziell die Fernsehleute so mächtig viel einbilden. Das Fernsehen hat sich als lineares, an Sendezeiten gebundenes Programmzeitschriften-Medium weitgehend erledigt, auf gewissen Kanälen werden die vielfach kläglichen Bildchen-Häppchen nur noch für Senioren versendet. Derweil heimsen YouTuber, TikToker, Influencerinnen und derlei hippes Völkchen mit fortwährender Selbstdarstellung die wahren Quoten und Followerzahlen ein. Manche Tweets haben mehr Zugriffe als die „Tagesschau“ um 20 Uhr, die früher einmal als Maß der Dinge gegolten hat. Und unversehens rückt der Hörfunk in Form von teilweise sehr intelligenten Podcasts wieder nach vorn, während auf mancher Radiowelle der eine oder andere Kulturabbau betrieben wird. Alles im Dienste der Quote, versteht sich.

…und immer nackt

Eine weiteres Phänomen, längst nicht nur bei den Boulevardblättern, könnte man Hecheljournalismus nennen. Den gab’s immer schon, doch er hat sich bis zum Wahnwitz beschleunigt und gesteigert. Da wird versucht, immerzu die Aufregung am Kochen und Brodeln zu halten. Da ist es immer mindestens „fünf nach zwölf“. Unverkennbare Signale sind Formulierungen wie „Die Lage spitzt sich zu“, „Pandemie (oder was auch immer) und kein Ende“, „…nur die Spitze des Eisbergs“, „Das Netz erregt sich über…“, „Wirbel um…“ Was einst Wetterbericht gewesen ist, kommt nun als ständiger Katastrophen-Alarm daher – mit Angstwörtern wie „Russenpeitsche“ und „Blutregen“.

In den Boulevard-Produkten geht’s nur noch im Sex-, Gewalt-, Panik- oder Streit-Modus zur Sache (nein: weit an der Sache vorbei), da herrschen ständig Zoff, Beef, Randale und dergleichen, man fetzt sich unentwegt. Sagt jemand ein, zwei kritische Sätzchen, heißt es gleich: „er ledert“, „er nagelt“, „geht auf jemanden los“. So so gut wie alles ist „Chaos“, „Wahnsinn“, „irre“, „der Hammer“, ist ein „Beben“ oder „Erdrutsch“, ist „Mega“. Dazu nach Belieben Schüsse oder Stiche. Und immer nackt.




Was Politiker sagen, wenn ihnen Corona keine Ruhe lässt

Speziell in solchen Nächten treibt es manche Leute um. (Foto: BB)

Sofern man sich durch die eine oder andere Nachrichtensendung, Doku oder Talkshow zu Corona-Themen gequält hat, wird man finden, dass in der Polit-Szene ein Modewort kursiert, das im Grunde sehr alt ist.

Nein, es hat nicht direkt mit fachlichen Fragen zu tun, erst recht nicht mit Feinheiten der Virologie. Noch der nüchternste Polit-Darsteller wird dieser Tage ein bestimmtes Wort benutzen, das anzeigen soll, wie ihm Corona bei Tag und bei Nacht keine Ruhe lässt. Nun ratet!

In Ordnung, ihr habt euch redlich bemüht. Das Wort lautet: umtreiben. Die Folgen von Corona treiben mich um. Die Situation der Gastronomie / der Kultur / der Senioren / der Pflegeberufe treibt mich um. Und so weiter, und so fort. Man sieht sie förmlich durch menschenleere Straßen wanken, schräg gegen Stürme gestemmt, den Mantelkragen hochgezogen, sie selbst gramgebeugt, umgetrieben noch und noch. Mitunter fragt sich jedoch, ob diejenigen wirklich umgetrieben oder eher umtriebig sind.

Das Wort wird zur bloßen Kennmarke

Nein, bewahre: Dies soll kein landläufiges Politiker-Bashing werden, dafür ist eine präpotente Kampagnen-Journaille zuständig, allen voran mal wieder das Blatt mit den vier großen Buchstaben. Wir wollen dem Gros der Parteipolitiker keineswegs die Empathie, die Mitleidensfähigkeit absprechen, aber wenn selbige immer und immer wieder mit demselben Ausdruck daherkommt, schimmert denn doch etwas Unechtes durch. Wenn man also vernimmt, wie Politiker sich seit einiger Zeit immerzu umgetrieben wähnen, sollte man hellhörig werden. Wer auch immer die Wendung zuerst benutzt hat, andere haben sie für tauglich befunden und alsbald nachgesprochen. Nun ist sie in fast aller Munde. Das Wort wird zur bloßen Kennmarke. „Lassen Sie mich durch, ich werde umgetrieben!“

Übrigens: Ich mag mich irren, aber mir scheint, dass Männer die Umtreibe-Formulierung viel öfter verwenden als Frauen. Deshalb unterbleibt auch an dieser Stelle das mit obligatorischer Sinnpause zu sprechende „Politiker*innen“. Sollte die ungleiche Häufigkeit etwa daran liegen, dass männliche Politiker glauben, ihre Empathie eigens betonen zu müssen, während sie bei den weiblichen immer noch als quasi naturgegeben gilt?




Lebensbild mit Leerstellen: Monika Helfers Familienroman „Vati“

Als wenn es das nicht schon länger gegeben hätte: Vielfach scheint Lesenden seit einiger Zeit das zum Trend ausgerufene „autofiktionale Erzählen“ zu begegnen, also Autobiographisches mit mehr oder weniger prononcierter literarischer Dreingabe. Oder eben umgekehrt: große Literatur, basierend auf Selbsterlebtem, mit erfundenen Einsprengseln. Und was der Mischungsverhältnisse mehr sind. Wie schwer es doch ist, sich im Ureigenen zur allgemeineren Gültigkeit durchzuringen! Nur den Besten gelingt es zu erzählen, was jede(r) erzählen könnte, aber eben nicht kann.

Die famose Französin Annie Ernaux (Jahrgang 1940 – „Die Scham“, „Die Jahre“, „Eine Frau“) wäre beispielhaft zu nennen, neuerdings auch eine noch frühere Vorläuferin, die just „wiederentdeckte“ Dänin Tove Ditlevsen (1917-1976), die schon seit den späten 1960er Jahren ihre Kopenhagen-Trilogie („Kindheit“, „Jugend“, „Abhängigkeit“) vorgelegt hat. In unseren Breiten kämen neben etlichen anderen etwa Anna Mayr („Die Elenden“) und Christian Baron („Ein Mann seiner Klasse“) in Betracht. Die heftigste Zeile steht auf dem Roman von Andreas Altmann, der da heißt: „Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend“. Ungleich sanfter tritt jetzt, auch schon zum wiederholten Male, Monika Helfer an – diesmal mit dem fürs heutige Empfinden treuherzig klingenden Titel „Vati“.

Seltsamer Hang zur „Modernität“

Tatsächlich erzählt die Österreicherin, die 2020 bereits die Familiengeschichte „Die Bagage“ vorausgeschickt hat, vorwiegend von ihrem Vater, einem kleinen, betont ruhigen Mann, der eine natürliche Autorität ausgestrahlt haben muss und auch manch verschrobenen, wilden oder wüsten Leuten Respekt abnötigte. Mit spürbarer Zuneigung und regem Interesse, aber auch mit Verwunderung sammelt Monika Helfer Szenen, Erinnerungen und Zeugnisse über ihn, so dass nach und nach ein vielfältiges, in manchen Belangen nach wie vor rätselhaftes Lebensbild entsteht. „Vati“ wollte er ausdrücklich genannt werden, weil es modern sei. Aus gleichem Grund pries er das freie Stadtleben, das er doch nur ganz punktuell wirklich aufgesucht hat. Da kenne sich eine(r) aus.

Irgendwann erhebt sich die Frage, warum sich die 1947 geborene Autorin diesem Thema relativ spät zuwendet. Vielleicht galt es denn doch, starke innere und äußere Widerstände zu überwinden. Vielleicht wird sie auch just von der erwähnten Welle autofiktionalen Erzählens mitgetragen. Wer weiß. Es ist aber zweitrangig. Wichtig ist allein, was sie aus dem Lebensstoff gewoben hat. Angenehm ist es, dass sie sich an keiner Stelle sprachlich aufplustert oder mit auktorialem Wissen prunkt. Vor allem aber schafft sie es, dass man um diesen „Vati“ bangt, dass er zur exemplarischen, lebensgroßen Figur gerät.

Ganze Bücher Wort für Wort abschreiben

Da geht es also anfangs um „Vatis“ geradezu erbärmlich ärmliche Herkunft, alsbald aber schon um seine früh erwachte Bücher-Leidenschaft. Schon mit 5 Jahren hatte er sich das Lesen beigebracht und war seitdem von Bibliotheken zutiefst fasziniert. Zuerst hat es ihm die eher schmale und läppische Bücherei eines reichen Baumeisters angetan, der dem Jungen erlaubt, Tag für Tag seine Bücher umständlich Wort für Wort abzuschreiben – ein beinahe mönchisches Exerzitium. Hingegen wütet der dumme Sohn des Baumeisters, der mit dem Lesen nichts anfangen kann, später bei der SS. Wenn sich das doch immer so eindeutig und wunschgemäß herleiten ließe…

Viele Jahre später kommen fiese Gerüchte auf, „Vati“ habe Bestände aus einer anderen Bibliothek für sich beiseite geschafft. Jedenfalls hat es mit Büchern für ihn eine besondere Bewandtnis. Selbst sein früher Tod wird am Ende mit Büchern zu tun haben.

Doch erst einmal zurück. Damals beim Russlandfeldzug hat er schwere Erfrierungen erlitten, es musste ihm ein Bein amputiert werden. Eine Krankenschwester im Lazarett hat ihm einen Heiratsantrag gemacht, sie wurde seine Frau und die Mutter von vier Kindern. Fortan spielen auch etliche Kurzauftritte der vielköpfigen Verwandtschaft (Onkel, Tanten usw.) mit in die Handlung hinein. Manche derb-knorrige Figur könnte durchaus im Volkstheater ihren Platz haben. Besagte Autofiktion kommt ja auch meistens wahrhaftiger und wirkmächtiger „von unten her“. Umso mehr, wenn sie – wie hier – spürbar in einer bestimmten Region verankert ist. Doch dumpfe Trunksucht gibt es überall.

…bis die Herren aus Stuttgart kommen

Nach dem Krieg leitet „Vati“ im Auftrag einer Stiftung ein Erholungsheim für Versehrte – unkonventionell genug und selbstverständlich mit Bücherei. Die Tschengla, wie die hoch gelegene Örtlichkeit heißt, hat eine Anmutung von „Zauberberg“. Doch eines Tages tauchen geschäftige Herren aus Stuttgart auf, die das beinahe weltentrückte, nur saisonal genutzte Heim zum lukrativen Hotel mit Ganzjahresbetrieb ausbauen wollen. Die Bibliothek spielt in den Plänen keine Rolle. Im Gegenteil.

Nach dem finalen Gruppenfoto mit den Heimbewohnern humpelt „Vati“ in eine Hütte und trinkt eine lebensgefährliche Flüssigkeit. Ist nun alles, alles aus mit der Familie, wie es die kleine Monika befürchtet? Zumindest ist es eine schwere Erschütterung, „Vati“ muss lange in einer Klinik bleiben, auch innerlich entfernt von seinen Kindern. Dabei war Tochter Monika gerade in puncto Bücher schon früh zu einer Vertrauten des Vaters geworden. Fühlt sie sich nicht als Hüterin eines imaginären Familienschatzes? Schon als Kind beschließt sie, dass ihr Name eines Tages auf Buchrücken stehen solle. So ist es dann ja auch geschehen.

„Ich bin müde. Ich klappe meinen Laptop zu…“

Erzählt wird ganz unumwunden aus der Tochter-Perspektive. Monika Helfer benennt und zitiert ihre Gewährsleute (zumal die Stiefmutter und die ältere Schwester Gretel), auch kommt sie gelegentlich auf ihre Schreibsituation zu sprechen: „Ich bin müde. Ich klappe meinen Laptop zu, dehne mich, es ist erst früher Nachmittag. Nicht das Schreiben macht mich müde, auch nicht das Erinnern. Ich setze die Müdigkeit professionell ein. Ich muss näher an die Träume heranrücken…“ Wesentlicher Werkstatt-Einblick oder verzichtbare Mitteilung?

Sodann die doppelte dramatische Zuspitzung: Die inzwischen elfjährige Monika verirrt sich mit ihrer älteren Schwester im Tiefschnee. Aber wer fragt noch danach, bekommt doch am selben Tag ihre Mutter Grete eine Krebsdiagnose und stirbt bald darauf. Die vier Kinder werden auf zwei Tanten verteilt, es beginnen Zeiten der beengten Verhältnisse, der seelischen Entbehrung.

Letztlich bleibt er unbegreiflich

Abermals ein unfassbarer Verlust. So innig war das Verhältnis des Vaters zu seiner verstorbenen Frau, dass ihr Tod ihn erneut aus der Lebensbahn wirft. Er zieht sich in ein Kloster zurück, in eine winzige Klause. So vereinsamt scheint er, dass man in seinem familiären Umkreis sogar überlegt, ob nicht eine ortsbekannte, durchaus menschenfreundliche Hure ihn heiraten solle. Oder vielleicht doch lieber Tante Irma, wenn sie sich vorher scheiden ließe? Bloß nicht dieses Alleinsein… Dann aber fängt „Vati“ doch noch einmal unversehens ein neues Leben an, heiratet, zeugt zwei weitere Kinder, wird Finanzbeamter. Aus welcher Kraftquelle er bei diesem Umschwung wohl geschöpft hat?

Bei all diesen Fährnissen verliert sich Monika Helfer auch schon mal in Einzelheiten, als wollte sie keine Erinnerung auslassen. Doch die Autorin findet auch immer wieder schnell in die erzählerische Spur. Sie gibt nicht vor, alles über den Vater zu wissen, sondern lässt Raum für Geheimnisse. Wie gut, dass sie nicht alles schlankweg „auserzählt“, sondern Leerstellen lässt, die nicht zuletzt durchs beharrliche Schweigen des Vaters klaffen, welcher partout keine Daseinsbeichte ablegen mag. Es wäre auch wenig glaubhaft gewesen.

Erstaunlich, wie „Vati“, der bis dahin so überwiegend „grau“, schwerblütig und manchmal abweisend gewirkt hat, just in einem Berliner Schwulenlokal lachlustig aufblüht, als er seine Tochter Renate in der Hauptstadt besucht und sie dort speisen. Ist es die lang vermisste Stadtluft, die ihn animiert?

Am Ende fragt sich, was man denn eigentlich über diesen Menschen erfahren hat und was man wirklich weiß. Fast wie im richtigen Leben: Der Mann hat im Lauf des Romans zusehends Kontur gewonnen und bleibt doch letztlich unbegreiflich, vermutlich auch und gerade für seine Kinder.

Entsprechend vage und nahezu verzagt klingt der isoliert stehende Schlusssatz, wie ein gerade mal durchwachsenes Zeugnis übers ganze familiäre Sein und Treiben. Er lautet:

„Wir haben uns alle sehr bemüht“.

Monika Helfer: „Vati“. Roman. Carl Hanser Verlag. 173 Seiten. 20 €.

 




Zwischen Pandemie und neuen Perspektiven – die Pläne der Kunsthalle Bielefeld

„Kompromisslos modern“: Jacoba van Heemskerck: „Meer mit Schiffen“, 1915, Öl auf Leinwand (© Kunstmuseum Den Haag)

Mag ja sein, dass es Bielefeld „nicht gibt“, wie Scherzbolde unermüdlich behaupten. Auf jeden Fall aber gibt es die Kunsthalle Bielefeld. Und die bzw. ihr Team hat jetzt per Videokonferenz Pläne für die nähere Zukunft vorgestellt. Eine Essenz: Auch nach der Corona-Pandemie dürfte es dauerhaft mehr digitale Angebote geben als ehedem, beispielsweise Online-Führungen. Und: Mehr als zuvor werden immer mal wieder die eigenen Sammlungsbestände im Blickpunkt stehen.

Die Schweizerin Christina Vegh, erst seit rund einem Jahr als Direktorin des Hauses tätig und noch dabei, die Kollektion in ihrer ganzen Breite und Tiefe kennenzulernen, sieht darin auch für andere Museen eine Zukunftsperspektive. Gewiss werde es weiterhin Wechselausstellungen geben, doch im Sinne einer größeren Nachhaltigkeit und Ressourcen-Schonung werde auch andernorts zunehmend Eigenbesitz in den Vordergrund rücken. Wahrscheinlich nicht nur eine ökologische, sondern auch eine finanzielle Frage. Derweil sorgt sich Frau Vegh bereits, dass das Medienecho eventuell leiser ausfallen könnte, wenn öfter Kunst aus eigenen Depots ans Tageslicht kommt. Gut möglich, denn die Presse bevorzugt seit jeher meist das Neue und Spektakuläre.

Flexibel genug, um Ausstellungen zu verlängern

Vorerst bleibt, wie alle deutschen Museen, auch die Kunsthalle Bielefeld geschlossen. Zum Glück war der Bielefelder Planungsrahmen so flexibel, dass die eigentlich schon „laufenden“ Ausstellungen bis zum 30. Mai verlängert werden können, darunter Monica Bonvicini mit ihrer Präsentation „Lover’s Material“ und Jeremy Deller mit „Wir haben die Schnauze voll“. Man ahnt hier schon, dass sie in Bielefeld appellative Titel schätzen. Übrigens hat es sich auch in Sachen Flexibilität ausgezahlt, dass mit Christina Vegh eine neue Leiterin angetreten ist: Ihre Planungen seien „noch nicht so zementiert gewesen“, wie sie sagt. Doch natürlich mussten auch Künstler(innen) und Leihgeber mitspielen.

„Lover’s Material“: Monica Bonvicini „In My Hand“, 2019 (© Monica Bonvicini and VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / Photo: Jens Ziehe – Courtesy of the Artist and Mitchell-Innes & Nash, New York)

Bis September sollen – ob nun zunächst per Online-Führungen oder möglichst bald leibhaftig –  Jeff Walls künstlerische Statements zum Themenkreis Denkmal und Sockel zu sehen sein. Sie nehmen u. a. direkten Bezug auf Auguste Rodins „Denker“, dessen Bielefelder Sockelplatz freilich noch für einige Zeit vielsagend leer bleibt, weil die Skulptur noch auf Reisen ist. Unterdessen wurden Menschen im Raum Bielefeld via Medien gebeten, sich Gedanken übers Denken und den Denker zu machen. Das eingesandte Material wird noch gesichtet und dann ausgebreitet. Termin zum Vormerken: Am 17. März um 18 Uhr unserer Zeit wird Jeff Wall in einem live gestreamten Künstlergespräch den Ansatz seiner „Interventionen“ näher erläutern. Er wird aus Vancouver (Kanada) zugeschaltet. (Anmeldung beim Mitarbeiter Matthias Albrecht / siehe dazu den Link zur Homepage am Schluss dieses Beitrags).

Klassische Moderne – nicht nur aus den Niederlanden

Und was wird sich im Sommer 2021 zutragen? Ab 19. Juni und bis zum 5. September werden Werke der niederländischen Künstlerin Jacoba van Heemskerck (1876-1923) gezeigt, die Überschrift lautet ganz entschieden: „Kompromisslos modern“. Heemskerck war im frühen 20. Jahrhundert in Berlin präsent, und zwar in Herwarth Waldens „Sturm“-Galerie, die 1912 im Gefolge der legendären Zeitschrift „Der Sturm“ (seit 1910) gegründet wurde. Ausgehend vom Pointillismus, eignete sie sich das kubistische und expressionistische Formvokabular an und gelangte schließlich zu kunsthandwerklichen Glasarbeiten. Beeinflusst von anthroposophischem Gedankengut, erstrebte sie eine „höhere Geistigkeit“, die in häufig wiederholten Motiven (Bäume, Segelschiffe) zum Ausdruck kommt. Die Schau setzt die Reihe über Künstlerinnen der Klassischen Moderne fort, die u. a. mit Sonia Delaunay und Sophie Taeuber-Arp begonnen hatte.

Zeitgleich zur Heemskerck-Retrospektive gibt es einen dazu passenden Einblick in die Bielefelder Sammlung: „Wir waren im Sturm“ versammelt Werke von Künstlern, die just zum erweiterten Kreis um den erwähnten Herwarth Walden zählten, beispielsweise Heinrich Campendonk, Marc Chagall, Robert und Sonia Delaunay, Paul Klee, August Macke und Gabriele Münter.

Ebenfalls für die Zeit vom 19. Juni bis zum 5. September vorgesehen sind John Millers Erkundungen zum Thema „Öffentlichkeit/Gegenöffentlichkeit“. Miller entwirft und konstruiert fotografisch bzw. filmisch festgehaltene Situationen, die von beigegebenen Texten dementiert werden – zuweilen durch Behauptung des schieren Gegenteils dessen, was zu sehen ist – womöglich eine fruchtbare Irritation, die vielfach im Stile von PowerPoint-Präsentationen erfolgt. Letzten Endes geht es auch darum, Widersprüche und Gegenmeinungen auszuhalten. Fürwahr kein geringes Thema in diesen gespaltenen Zeiten.

An Beuys kommt heuer niemand vorbei

Ab Herbst (9. Oktober 2021 bis 9. Januar 2022) schließt sich wieder eine dieser knackig betitelten Ausstellungen an: „Köpfe, Küsse, Kämpfe“ heißt die Werkschau von Nicole Eisenman aus New York, die vorwiegend aus zeichnerischen und malerischen Arbeiten bestehen und über zwei Etagen ausgebreitet werden soll. Angekündigt wird die künstlerische Sondierung künftiger Lebensmodelle, die – dem Zeitgeist entsprechend – zumal feministische und queere Anschauungen aufgreifen wird.

Schließlich noch Joseph Beuys, dem heuer alle Kunstwelt huldigt, denn er ist im Mai vor 100 Jahren geboren worden. Schelmische Titelfrage: „Beuys war nie in Bielefeld?!“ Nun ja. Ab 9. Oktober 2021 (und bis 9. Januar 2022) soll jedenfalls seine gigantische Baumpflanzaktion „7000 Eichen“ rückblickend gewürdigt werden, die zwar vor allem in Kassel, aber anno 1985 eben auch in Bielefeld ein paar Spuren hinterlassen hat. Also muss es Bielefeld wohl doch geben.

Kunsthalle Bielefeld. Artur-Ladebeck-Straße 5. Vorerst weiterhin geschlossen. Online: www.kunsthalle-bielefeld.de




Neustart bei den „Mitternachtsspitzen“: Da geht noch was…

Einladend: Christoph Sieber, der neue Gastgeber der „Mitternachtsspitzen“. (Foto: WDR/Melanie Grande)

Soso. Ein Schwabe also. Christoph Sieber (51), geboren in Balingen (etwa auf halbem Wege zwischen Stuttgart und Bodensee), fungiert nun als neuer Gastgeber der WDR-„Mitternachtsspitzen“. Als lediglich reingeschmeckter Rheinländer mit Wohnsitz in Köln.

Die altvertraute Kabarett-Comedy-Mixtur, ab jetzt also ohne den gewohnten, bei allem kritischen Sinn immer noch irgendwie „gemütlichen“ und menschenfreundlichen Colonia-Tonfall von Jürgen Becker, ohne Herbert Knebels ruhrischen Zungenschlag („Boah ey, glaubsse…“) und ohne die dröhnend entnervten Schlussmonologe von Wilfried Schmickler. Und da soll man sich gleich heimisch fühlen? Der Mensch braucht doch auch in solchen Dingen seine Rituale.

Zweimal gab’s Anspielungen darauf, dass Sieber und/oder die Zuschauer mit seinem neuen Job womöglich fremdeln könnten. Anfangs wollte so eine groteske Möhre den hierorts Unbekannten gar nicht erst in den Kölner Wartesaal ‚reinlassen. Später hatte er (als coronabedingt beschäftigungsloses Funkenmariechen) erst einmal ordentlich kölsche Tön‘ zu lernen. Tja.

Und was gab’s sonst?

Die beiden Schweinepuppen von Michael Hatzius nervten schon jetzt, bei ihren Debüt; besonders, wenn das Wildschweinchen Torsten unentwegt stotterte und einzelne Worte fast gar nicht herausbrachte. Mit bestenfalls durchwachsener, brav abgespulter „Ach Was!“-Komik wartete Philip Simon auf, der Scherzvorlagen wie den Vergleich zwischen US-Wahlen und Bundesliga zum x-ten Mal nachkaute. Wie Trump es gerne gehabt hätte, so auch Bayern München: Sobald sie führen, soll das Spiel vorbei sein.

Christian Ehring plauderte recht nett über das gepflegte Mittelmaß des Armin Laschet, die eher humorfrei wirkende Sarah Bosetti lieferte mal wieder 1 a politisch korrekte Minuten ab (diesmal über den mehr als latenten Rassismus in der unsäglichen WDR-Talkshow „Die letzte Instanz“). Sie drückte dabei weit offen stehende Türen ein.

Darstellerisch gleich doppelt hervorstechend: Susanne Pätzold als tief in seinem Machtwillen gekränkter Friedrich Merz auf der Couch des Psychiaters (einer Echsenpuppe, wiederum geführt von Michael Hatzius) und final im „Homeschooling“-Musical à la „Abba“. Das hatte echten Schwung.

Christoph Sieber (re.) mit Helge Schneider und dessen Sohn Charly. (Foto: WDR/Melanie Grande)

Bekanntester Gast war Helge Schneider mit einem Song über jenen „Boss“, der seinem geknechteten Mitarbeiter so gut wie nix bezahlt, denn – so die diabolisch vorgetragene Ansage: „Ich will reich werden!“ Am Schlagzeug saß übrigens Helges offenbar hochtalentierter Sohn Charly. Von wem er die Begabung wohl hat?

In seinen Überleitungen rechnete Christoph Sieber mit Figuren wie Verkehrsminister Scheuer oder Kardinal Woelki ab – wahrlich zwei Watschenmänner, wie sie zu Recht im Musterbuche aller Witzbolde stehen. Unfassbares legte Siebers knappes Aufklärungsstück über NSU-Morde und Verfassungsschutz bloß, es hätte auch gut in „Die Anstalt“ (ZDF) gepasst. Dort hatte Sieber ja schon einige Auftritte.

Kurzum: Die etwas zusammenhanglose Nummernrevue hatte zum Auftakt vereinzelt passable, doch selten wirklich starke Elemente zu bieten. Hinderlich wirkt sich freilich aus, dass man sich nach wie vor nicht vor Live-Publikum entfalten kann. Da kommt einfach keine Saalstimmung auf, es fehlt die Rückkopplung, die die Leute auf der Bühne beflügeln könnte. Auch Becker, Knebel und Schmickler hatten zum Schluss ihrer Ära mit diesem Manko ihre liebe Not.

Vorläufiges Fazit:  Sieber und seine Gäste werden sich warmspielen und es sicherlich bald noch etwas besser machen. Am liebsten demnächst mit leibhaftig anwesendem Publikum, und sei’s auch erst einmal reduziert.




„Das Monster von Minden“ und andere Schwergewichte: Kurzfilme auf den Spuren der westfälischen Dinos

Frisch lackiert: Modell des Wiehenvenators (Screenshot aus dem besprochenen Film / © LWL)

Wenn man den Zahnfund aufs ganze Tier hochrechnet, kommt man auf eine ungefähre Körperlänge von 9 Metern. Wachstumsringe in seinen Knochen deuten darauf hin, dass dieses imposante Wesen noch nicht einmal seine volle Größe erreicht hatte. Donnerwetter!

Wir sprechen vom „Wiehenvenator“, der im Erdzeitalter Jura (liegt etwa 200 bis 145 Millionen Jahre zurück) im heutigen Westfalen lebte. Wieso dieser Name? „Wiehen“, weil die Fundstelle im Wiehengebirge bei Minden lag; „Venator“, weil das mächtige Tier ein Räuber, genauer ein Raubsaurier gewesen ist. Der kapitale Bursche hat sich also im heutigen Westfalen herumgetrieben. Ab 1998 wurde die Fundstelle freigelegt: Zum Vorschein kamen Teile des Schädels, des Kiefers, der Beine, der Rippen und eben der Zähne. Daraus ließen sich mancherlei Rückschlüsse über die Gesamterscheinung des Dinos ziehen, wie der Wissenschaftler Dr. Achim Schwermann erläutert.

In einer Serie von drei kurzen Filmen will der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) unterhaltsame Einblicke in die akribische Arbeit der Paläontologen geben. Dazu hat man den Schauspieler und YouTuber (ohne diese Bezeichnung geht heute kaum noch etwas) Fabian Nolte engagiert, der auf möglichst muntere Weise mit Wissenschaftlern spricht und besonders durchs Münsteraner LWL-Museum für Naturkunde streift. Der Ansatz ist regional: „Saurierland Westfalen“ lautet die Serien-Überschrift. Ganz ehrlich: Ich habe im ersten Moment „Sauerland“ gelesen. Aber das nur ganz nebenher. Wir sind ja schließlich im Edutainment-Bereich, da darf man schon mal abschweifen.

Imposantes Museumsstück aus dem 3D-Drucker

Jetzt ist jedenfalls der erste von drei Filmen online. Wir erfahren unter anderem, dass der Wiehenvenator zwar an Land gelebt hat, aber nach seinem Tod ins (damals noch ganz anders ausgedehnte) Meer gespült worden ist. Dort wurden seine sterblichen Überreste von Sedimenten bedeckt und sind daher gut erhalten geblieben. Anhand der Fundstücke aus der Region Minden und anderen Weltgegenden haben die Wissenschaftler im Computer eine 3D-Animation erstellt, die sodann mit einem 3D-Drucker materialisiert wurde. Passend lackiert (hierbei spielte auch die Phantasie eine gewisse Rolle), steht der nach bestem Wissen rekonstruierte Wiehenvenator nun im Museum. Schau mir in die Augen, Großer…

Natürlich stellt Fabian Nolte auch die Pflichtfrage nach dem „Jurassic Park“, sprich: Könnte man Saurier durch aufgefundene DNA wieder zum Leben erwecken? Experte Achim Schwermann muss ihn enttäuschen: Höchst unwahrscheinlich sei das. In den verflossenen Jahrmillionen hätten sich allenfalls DNA-Schnipsel erhalten. Nolte findet es schade. Möchte er denn wirklich gern solchen Dinos an der nächsten Straßenecke begegnen? Schließlich trägt der Wiehenvenator auch in diesem Film den Beinamen „Das Monster von Minden“.

Der Film ist offenbar vor den Corona-Beschränkungen entstanden, soll aber im Lockdown den Appetit auf künftige Museumserlebnisse wachhalten. Zwei weitere Streifen – jeweils rund eine Viertelstunde lang – werden am 11. und am 18. Februar freigeschaltet: „Westphaliasaurus – Eine Paddelechse aus Westfalen“ und „Ichthyosaurus – Ein ,Fischsaurier‘ wird filetiert“. Küchentipps sind da wohl nicht zu erwarten.

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Alle drei Filme finden sich unter diesem Link.




Polar! Wirbel! Split!

O Mensch! O Wetter! (Foto: BB)

Es gab einmal Zeiten – nein, ich meine nicht „ohne Handy und Computer“, sondern: mit einfachem Wetter. Oder auch: einfach mit Wetter.

Es waren Zeiten, in denen nicht wegen jeder mittelprächtigen Schneeflocken-Ansammlung medial panisch aufgeschrien und „General Winter“ an die Eiger-Nordwand gemalt wurde. Zeiten, in denen es schlichtweg hieß, es werde in den kommenden Tagen kälter werden; vielleicht noch garniert mit ein paar Temperatur-Angaben. Es hat vollauf genügt. Daraus konnte man schon die entsprechenden Schlüsse ziehen. Pullover an, Mantel an, Mütze auf. Und so weiter. (Sicherlich gibt’s heute -zig YouTube-Videos, die das im Zuge deppenhafter Alltags- und Lebenshilfe erläutern: „Jetzt vorsichtig den Arm durch den Ärmel schieben… bis du die Hand wieder sehen kannst.“).

Wie im Polit-Betrieb, so herrscht jetzt auch rund um die Wetterkarte nur noch endlose Aufregung. Ständig werden wir angeschrien: Hochwasser! Hitzewelle! Schneechaos! Blitzeis! Und wenn das Virus mal eine kurze Verschnaufpause einlegt, werden die Wetterausbrüller erst recht umso lauter. Jetzt erzählen sie gerade uns etwas vom erschröcklichen „Polarwirbel-Split“, der uns spätestens am kommenden Wochenende bittere Kälte bescheren werde.

Polar! Wirbel! Split! Das klingt doch nach akuter Gefahr sondergleichen. Werden wir alle in Iglus hausen müssen? Wird uns der Russe die Gasheizung abdrehen, damit wir seinen vermaledeiten „Sputnik V“-Impfstoff kaufen? Hiiilfäääää!

So oder ähnlich geht’s auf allen Feldern der vernetzten Gesellschaft her. Wie soll man diese permanenten „Experten-schlagen-Alarm“-Zustände eigentlich mental verkraften? Der Blutdruck müsste ständig über die Normalmarke hinausschießen, wenn man das alles ernst nähme. Und der übelste Witz bei all dem? Der tatsächlich übermächtige Klimawandel geht im tagtäglichen Geschrei beinahe unter. Der Daueralarm trübt die Wahrnehmung der wirklichen Katastrophe.




Die WAZ schenkt kräftig ein: Gin und mehr mit Bergbau-Anmutung

Ein Ginflaschen-Verschluss anderer Provenienz – nicht bei WAZens zu erwerben. (Symbolfoto: Bernd Berke)

Wahrscheinlich haben die Trendsetter schon wieder eine andere Flüssigkeit ausgerufen, doch dem durchschnittlichen Genießer gilt wohl immer noch der Gin als d a s hochprozentige Getränk dieser Jahre. „Gib deinem Leben einen Gin!“ appelliert neuerdings eine Werbetafel im Supermarkt, wo dem Feuerwässerchen eine auffällige Extra-Präsentation zuteil wird.

Nicht nur in good old England, wo Gin immer schon besonders geschätzt wurde, weiß man, dass sogar die Queen sich in schöner Regelmäßigkeit ein paar Schlückchen gönnt. Nun ist der vermeintliche Hype auch im Marketing der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) angekommen. Frei nach Schiller: „Spät kommt er, doch er kommt…“ Diese leichten Verspätungen haben ja auch etwas sympathisch Schrulliges. Eile mit Weile – dem Zeitgeist gemächlich hinterdrein.

Mythos vom Kumpel in Ewigkeit

Doch was hat die WAZ mit dem Gin zu schaffen? Nun, ausweislich einer Eigenanzeige auf der heutigen Titelseite bietet das Blatt in seinem Shop „Mineur Gin“ an. Oh, là là! Französisch. Das klingt doch beim ersten Hinhören recht kultiviert und distinktiv. Mineur heißt Bergmann, kann jedoch auch „zweitrangig“ oder „minderjährig“ bedeuten, aber diese beiden Varianten kommen hier eher weniger infrage.

Zurück zum Mineur als Bergmann. Die WAZ wird gewiss bis in alle Ewigkeit den Mythos vom Kumpel pflegen, die Zechen gehören ja gleichsam zur DNA des Blattes. Und so prangen auf dem Flaschenetikett denn auch zwei Bergleute mit Helm und Hacke. Der Wahl- und Werbespruch dazu lautet „So ehrlich wie die Menschen im Ruhrgebiet“. Na gut, das ist ein bisschen dem Motto der Dortmunder Bergmann-Brauerei nachempfunden, deren Bier mit „Harte Arbeit, ehrlicher Lohn“ angepriesen wird. Sei’s drum.

Heimaterde, Kohlenjunge, Püttmann

Klickt man sich durch den WAZ-Shop, so findet man weitere – allesamt etwas krampfhafte – Ruhri-Anmutungen wie den „Gin Heimaterde“, den „Püttmann“ (Lakritzlikör mit demselben Kumpel-Bild wie beim „Mineur“), einen Kräuterlikör namens „Kohlenjunge“ und den „Mond von Wanne-Eickel“, eine im Profil halbmondförmige Buddel mit Apfel-/Birnen-Likör. Wohl bekomm’s.

Um ehrlich und beinahe sachlich nüchtern zu bleiben: Der „Mineur Gin“ hat 44,7% Vol. oder über 44 „Umdrehungen“, wie unverbesserliche Humoristen zu juxen pflegen. Hoffentlich stoßen nicht die Hacker damit an, die die Computersysteme der Funke-Gruppe (und somit auch der WAZ) bundesweit attackiert und für Wochen lahmgelegt haben. Aber das ist eine ganz andere Geschichte, über die wir nicht scherzen sollten. Sagen wir’s halt mit Wilhelm Busch: „Wer Sorgen hat, hat auch Likör.“




Mit Zuversicht durch schwierige Zeiten: Neue Leitung fürs Dortmunder Szene-Theater „Fletch Bizzel“

Neues Leitungsduo des Theaters „Fletch Bizzel“ in Dortmund: Cindy Jänicke und Till Beckmann. (Foto: Marcel Richard)

Mutig, mutig! Wer in diesen Tagen und Wochen ein Theater übernimmt, muss schon einige Zuversicht aufbringen. Die blanke Nachricht: Die Geschicke der Dortmunder Szene-Bühne „Fletch Bizzel“, seit rund 40 Jahren von Horst Hanke-Lindemann betrieben, gehen in jüngere Hände über. Cindy Jänicke und Till Beckmann werden das Haus offiziell ab 1. Februar leiten, das angestammte Team bleibt zum Teil dabei. Und was soll sich inhaltlich ändern?

Nun, die beiden „Neuen“, die schon reichlich Bühnenerfahrungen mitbringen, können auf einem soliden Fundament aufbauen. Die Ära Hanke-Lindemann ist eine dauerhafte Erfolgsgeschichte, der scheidende Spiritus Rector hat u. a. auch populäre Formate wie den Alternativ-Karneval „Geierabend“ oder das Kabarett/Comedy-Festival „Ruhrhochdeutsch“ entwickelt. Das 1979 gegründete „Fletch“, wie es häufig abgekürzt wird, genießt weit über Dortmund hinaus einen guten Ruf.

Auf solchen Lorbeeren wollen sich Cindy Jänicke und Till Beckmann jedoch nicht ausruhen. Bei einer Online-Pressekonferenz sprühten sie heute geradezu vor Ideenfülle. Die Präsentation geriet vielfach zum Namedropping aus der freien Szene. Wer da alles nach Dortmund kommen soll! Aus vielen Ecken und Enden der Republik (und darüber hinaus) sollen offenbar immer wieder andere, meist junge Leute ans Haus geholt werden, um neue Impulse zu setzen. Durch wechselvolle Berufs-Biographien (siehe Stichworte im Anhang) ist das neue Leitungsduo bestens vernetzt. Das dürfte sich auszahlen.

Hochkarätige „Spielkinder“

Mit den bisherigen Stücken wird „Tabula rasa“ (Till Beckmann) gemacht, sie verschwinden aus den Programmen. Till Beckmann stammt aus einer ausgesprochenen Schauspiel-Familie, die daraus hervorgegangene Truppe „Die Spielkinder“ bringt er mit ans „Fletch Bizzel“. Das lässt einiges erwarten: Zu dieser familiär zentrierten Gruppe gehören nämlich u. a. die in der deutschsprachigen Theaterwelt hochrenommierten Schwestern Maja Beckmann und Lina Beckmann sowie die Brüder Nils und just Till – mitsamt weiteren „Spielkindern“.

Pläne und Projekte betreffen u. a. Texte des Schriftstellers Ralf Rothmann („Milch und Kohle“ etc.) oder eine Art Talk-Reihe unter dem Motto „Strictly local“, die aktuelle Dortmunder und Ruhrgebiets-Themen schnell aufgreifen soll. Gemeinsam mit der journalistischen Recherche-Instanz „Correctiv“ will man ein neuartiges Format entwickeln, bei dem möglichst investigativ aufgeschlüsselte Themen zur Bühnenreife gelangen – vielleicht ein Wegweiser für bislang ungeahnte journalistische Ansätze?

Vielversprechend klingt auch ein Projekt über den windigen Revier-Unternehmer und Benzin-Tycoon Erhard Goldbach (Marke „Goldin“), der vor allem in den 1950er und 60er Jahren Furore machte. Daraus könnte ein handfester Wirtschafts-Krimi mit viel Regionalkolorit werden.

Schnell auf Entwicklungen reagieren

Hinzu kommen beispielsweise digital eingeleitete „Video Walks“ durch die Gefilde der Stadt sowie zahlreiche Workshops und Produktionen in den Bereichen Tanz und Musik. Auch die bildende Kunst wird nicht ausgespart, schließlich gibt es ja eine eigene kleine Galerie. Kurzum: Eigentlich haben die Neuen dermaßen viel vor, dass man schon beinahe fragen müsste, was sie denn n i c h t machen wollen…

Till Beckmann freut sich, dass das „Fletch Bizzel“ gleichsam ein „kleines wendiges Boot“ im Kulturbetrieb sei und rasch auf Entwicklungen reagieren könne. In diesen Zeiten äußerst ratsam: Stets werde man zusätzlich „einen Plan B und einen Plan C haben“. Nur ein Beispiel: „Wenn das Wetter es zulässt, werden wir auch draußen spielen.“

Geradezu Ehrensache, dass auch neues Publikum ins Haus geholt werden soll, nämlich möglichst junge Leute und gerne Migrantinnen und Migranten. Überhaupt hat sich die neue Leitung zum Ziel gesetzt, personell und programmatisch „divers“ (also vielfältig) zu agieren – eine ähnliche Leitlinie übrigens, wie sie die junge Intendantin des städtischen Schauspiels, Julia Wissert, für ihren Wirkungsbereich vorgezeichnet hat. Till Beckmann spricht denn auch mit größtem Respekt von Frau Wissert. Sie sage so kluge Dinge, dass er am liebsten ständig mitschreiben wolle. Er mag’s halt enthusiastisch.

Horst Hanke-Lindemann ergänzt aus langjähriger Erfahrung: Früher habe es noch große Unterschiede zwischen Stadttheater und freier Szene gegeben, inzwischen wachse da manches zusammen und mische sich.

Gründlicher Umbau des Hauses

Hanke-Lindemann, der beim „Geierabend“ und bei „Ruhrhochdeutsch“ noch aktiv bleiben will, wird auch weiterhin dem Trägerverein des „Fletch Bizzel“ angehören, aber keinesfalls in künftige Programm-Planungen eingreifen. „Man muss loslassen können.“ Die neue Leitung solle in Ruhe arbeiten und Dinge entwickeln.

Auch baulich tut sich unterdessen beim „Fletch“ im Dortmunder Klinikviertel (Humboldtstraße 45) eine ganze Menge. Dank verschiedener Fördermittel und in enger Absprache mit dem Vermieter entstanden und enstehen beispielsweise neue Büros, eine neue Sound-Anlage und vor allem eine avancierte Luftfilterung, die zumal mit Aerosolen klarkommen soll. Die Theaterleute rechnen vorsichtshalber damit, dass Corona uns alle noch auf Jahre hinaus beschäftigen könnte – zumindest als Thema.  Für alle nötigen Umbauten, so Hanke-Lindemann, werde man indes auch Sponsoren brauchen. „Mit 100.000 Euro kommen wir da insgesamt nicht aus.“

Und wann geht’s wieder los mit dem Spielbetrieb? Am liebsten Mitte April mit der ersten Premiere. Doch das weiß noch niemand so genau. Sagen wir’s mal mit dem alten Spruch: „Demnächst in diesem Theater…“

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Stichworte zur beruflichen Vita des neuen Leitungsduos

Till Beckmann: Geboren 1985 in Recklinghausen, aufgewachsen in Wanne-Eickel (Herne) und Dortmund. Ab 2006 „theaterkohlenpott“ in Herne. Literaturstudium an der Ruhr-Uni Bochum. Gastspiele u. a. bei der Ruhrtriennale, den Ruhrfestspielen, den Duisburger Akzenten und am Schauspiel Essen. Drehbuchautor für Adolf Winkelmanns Kinofilm „Junges Licht“. Regisseur beim „Geierabend“. Außerdem „Pangalaktisches Theater“ (Figuren- und Maskenspiel).

Cindy Jänicke: Dramaturgin, Theaterpädagogin und Kulturmanagerin, u.a. mit Stationen an der Berliner Staatsoper Unter den Linden, Schauspielhaus Wuppertal, Zürich und Stuttgart. Unter Dieter Dorn Gründung und Leitung des Jungen Schauspiels in München. Produzentin internationaler Projekte im Tanztheater. Weitere Theater-Tätigkeiten in Harare (Simbabwe), Kampala (Uganda) und Tansania. Kommt jetzt mit ihrer Familie aus Flensburg nach Dortmund.




Die visionären Erwartungs-Räume des Giorgio de Chirico – ein virtueller Besuch in der Hamburger Kunsthalle

Giorgio de Chirico: „Der Lohn des Wahrsagers“ (1913), Öl auf Leinwand. (Philadelphia Museum of Art, Louise and Walter Arensberg Collection, 1950 / VG Bild-Kunst, Bonn 2021 / Artist Rights Society (ARS), New York, SIAE, Rome – Foto: © Philadelphia Museum of Art)

Um mal positiv zu denken: Immerhin haben sich im Zuge der Corona-Pandemie die längst noch nicht ausgeschöpften Möglichkeiten des Digitalen auch hierzulande deutlich erweitert, besonders im Schulwesen und im Kulturbereich. Wäre ich gestern aus Dortmund zur Hamburger Kunsthalle angereist? Wohl kaum. Unter den obwaltenden Umständen: erst recht nicht. Wie gut also, dass es einen virtuellen Rundgang durch die neueste Ausstellung des Hauses geben konnte. Besser noch: Die Hanseaten haben eine famose Schau über die „metaphysischen“ Jahre des Giorgio de Chirico (1888-1978) zustande gebracht. Erfreut merkt man es selbst aus der Distanz – und bekommt Bilderdurst aufs analoge Erlebnis!

Gleich 35 Meisterwerke des Italieners, der auch 17 Jugendjahre in Griechenland und rund drei Jahre in Deutschland (München) verbracht hat, sind in der Hamburger Kunsthalle zu sehen. In dieser Dichte werden sie wohl nie wieder zusammenkommen, zumindest nicht in unseren Breiten. Und auch nicht zu einem solch vielsagenden Zeitpunkt. Denn woran könnten die leeren Plätze mit den fluchtenden Architekturen und den überlangen Schatten denn wohl erinnern, die De Chirico so unvergleichlich imaginiert hat? Unweigerlich müssen wir Heutigen an leere Straßen und Plätze beim Lockdown denken. Nein, man muss und soll nicht alles auf die Pandemie beziehen. Doch hier liegen solche Gedanken und Gefühle wirklich nahe.

Beeinflusst von Nietzsche und Schopenhauer, Böcklin und Klinger

Die spürbar von Giorgio de Chiricos Schaffen begeisterte, ja geradewegs beseelte Kuratorin Annabelle Görgen-Lammers skizzierte zur live gestreamten Eröffnung geistesgeschichtliche Hintergründe. De Chirico sei durch die Lektüre von Nietzsche und Schopenhauer beeinflusst worden, malerisch hätten u. a. spätromantische bzw. symbolistische deutsche Künstler wie Arnold Böcklin und Max Klinger Pate gestanden. Da es zum Wort „Stimmung“ keine italienische Entsprechung gibt, habe de Chirico dafür übrigens stets den deutschen Begriff verwendet. Im Bann solcher Einflüsse habe er eines Tages die Plätze von Florenz und hernach anderer Städte wie Turin wie zum allerersten Male gesehen. Es müsse wie eine Offenbarung oder Erscheinung gewesen sein. Oder soll man gar von Erweckung sprechen?

Nun entstanden jedenfalls ungemein einprägsame Bilder wie „Der Lohn des Wahrsagers“ (1913), das eine weitgehend leere Piazza mit scheinbar einladendem Torbogen, jedoch auch abweisendem Mauerwerk-Riegel zeigt. Miteinander konfrontiert werden eine antike Skulptur der Ariadne (die auf den Rauschgott Dionysos wartet) und eine seinerzeit moderne Eisenbahn – eine absurd „surrealistische“ Kombination avant la lettre, visionär vorausdeutend auf die spätere Kunstrichtung. Kuratorin Görgen-Lammers spricht von einem übernatürlichen „Raum der Erwartung“, der sich hier öffne und ausbreite, von einer ungeheuren, gleichsam ewigen Stille. Kann man so sagen, wenn man es nicht malt. Kunsthallen-Chef Prof. Alexander Klar sekundiert mit „Alpträumen in der Mitte der Gesellschaft“, die de Chirico traumwandlerisch evoziert habe. Auch ein verbaler Ansatz.

Giorgio de Chirico: „Das Gehirn des Kindes“ (Der Wiedergänger), 1914, Öl auf Leinwand (Moderna Museet, Stockholm, erworben 1964 – „The Museum of Wishes“ / VG Bild-Kunst, Bonn 2021 / Foto © Moderna Museet, Stockholm)

Das Bild, das André Breton unbedingt besitzen wollte

Allem realistischen Duktus zum Trotz: Leicht zu deuten sind die Schöpfungen de Chiricos keineswegs. Ein geradezu ikonisches Bild wie „Das Gehirn des Kindes“ (1914) zeigt weder ein Kind noch ein Hirn. Ein unbekleideter Mann in Halbansicht scheint ganz in sich selbst versunken zu sein. Vor ihm liegt ein gelbes Buch, das auf des Künstlers Nietzsche-Lektüre hindeuten dürfte. Er hat nämlich den „Zarathustra“ in der französischen Ausgabe gelesen, die damals just so ausgesehen hat. Ohne Hintergrund-Recherche kann man das schwerlich wissen. Dieses Bild, Ausdruck inniger Suche nach einer Vereinigung von Leiblichkeit und Geistigkeit, ist dem nachmaligen Surrealisten-„Papst“ André Breton so schlagartig aufgefallen, dass er es gekauft und vielen Freunden wie Max Ernst gezeigt hat. Es kann somit als eine Art verfrühtes Gründungswerk des Surrealismus gelten.

Die beiden bislang erwähnten Bilder sind aus Philadelphia und Stockholm ausgeliehen, das ganze Projekt ist eine Kooperation mit den Pariser Musées d’Orsay et de l’Orangerie. Erstaunlich, wie die weltumspannenden Museums-Netzwerke (und die Kontakte zu Privatsammlungen) sich trotz Pandemie als haltbar erwiesen haben. Weiterer glücklicher Umstand: Die Hamburger Kunsthalle gilt weltweit als führend, wenn es um gewisse Ausprägungen des 19. Jahrhunderts geht. Hier kann man auf Bestände der eigenen Sammlung zurückgreifen, welche zu de Chirico passen. Der kam nämlich – wie gesagt – auf deutsche Vorbilder wie Arnold Böcklin („Die Toteninsel“) und Max Klinger zurück, so etwa auf Böcklins „Odysseus am Strande des Meeres“ (1869), das in Hamburg als Eigenbesitz präsentiert werden kann und sich beispielsweise zum Vergleich mit de Chiricos Frühwerk „Sterbender Zentaur“ (1909) anbietet.

Giorgio de Chirico: „Sterbender Zentaur“, 1909, Öl auf Leinwand (Kunstsammlung Assicurazioni Generali / VG Bild-Kunst, Bonn 2021 / Foto © Photo Courtesy, Assicurazioni Generali)

Militärdienst und Spanische Grippe

Selbstverständlich darf man den historischen Kontext nicht ausblenden. Wesentliche Werke aus de Chiricos „metaphysischen Jahren“ sind zur umstürzenden Krisenzeit des Ersten Weltkriegs entstanden. Die allgemeine Erschütterung überkommener Weltbilder spiegelt sich in den Kunstwerken jener Epoche, wenn sie nicht gar in ihnen vorausgesehen wird. De Chirico wurde 1916 zum italienischen Militärdienst eingezogen, den er allerdings nicht an der Front, sondern in einer Schreibstube in Ferrara absolvieren konnte. Aber natürlich gingen die Schrecken der Zeit auch dort nicht spurlos vorüber. Und wenn wir schon von Pandemie reden: De Chirico erkrankte an der Spanischen Grippe, die damals Millionen von Menschenleben forderte. Der Künstler überstand die Infektion jedoch.

Die Hamburger Kunsthalle konzentriert sich auf de Chiricos metaphysische Phase, ungefähr von 1909 bis 1919. Kritik und Kunstmarkt haben ihm später die Abkehr von diesen „übernatürlichen“ Darstellungsweisen nicht verziehen. Die Bevorzugung seiner Pittura metafisica blieb natürlich auch Giorgio de Chirico nicht verborgen. Der Künstler, der ohnehin manches Detail in seiner Vita zu verändern beliebte (heute würde man vielleicht „faken“ dazu sagen), malte deshalb auch nach 1920 gelegentlich noch im vorherigen Stile, wenn er Geld brauchte. Dieselbe Marktmechanik rief freilich auch schon mal Nachahmer auf den Plan.

Giorgio de Chirico: „Der beängstigende Vormittag“, 1912, Öl auf Leinwand (Mart, Museo di arte moderna e contemporanea di Trento e Rovereto / Collezione VAF-Stiftung / VG Bild-Kunst, Bonn 2021 / Foto © Mart, Archivico fotografico e Mediateca)

Seitenblicke auf den komponierenden Bruder Alberto Savinio

Die Hamburger Ausstellung greift am Rande auch noch einen speziellen Aspekt auf, indem sie sich de Chiricos musikalisch hochbegabtem Bruder Andrea zuwendet, der vorwiegend als Komponist, aber auch als Autor und Maler tätig war. 1905 studierte er in München bei Max Reger, Giorgio de Chirico fungierte damals (nebenher) quasi als Dolmetscher. Andrea de Chirico nannte sich ab 1914 Alberto Savinio. Eine kurze Kostprobe aus seinem  musikalischen Schaffen erklang zur virtuellen Eröffnung der Schau, die damit fast schon zum Gesamtkunstwerk tendierte – eine Gattungsmischung, wie sie auch Savinio als Ideal vorgeschwebt hat. Ein von Giorgio de Chirico gemaltes Porträtbild des Bruders gehört gleichfalls zur Ausstellung, die ihrerseits nach dem Vorbild einer Piazza aufgebaut ist.

Insgesamt umfasst die Schau rund 80 Kunstwerke. Neben Bildern von de Chirico, Böcklin und Klinger zählen u. a. Werke von Pablo Picasso, Carlo Carrà, Giorgio Morandi und Alexander Archipenko dazu, so dass Giorgio de Chirico nicht als isoliertes Phänomen erscheint, sondern eingebunden in den Zusammenhang der Epoche(n).

Und die virtuelle Eröffnung? Nun ja, es fehlte eigentlich nichts. Diverse Grußworte wurden ebenso per Video übermittelt wie der eigentliche Rundgang. Obwohl die Kameraführung nicht immer ganz glücklich war, weckte der erste Überblick doch großen Appetit, gerade weil man nicht nach Belieben vor einzelnen Bildern verweilen konnte. In der Randspalte lief ein Live-Chat, an dem man ablesen konnte, wie angetan viele der rund 1200 Teilnehmer(innen) waren – und wie begierig auf echte, leibhaftige Museumsbesuche.

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De Chirico. Magische Wirklichkeit. Hamburger Kunsthalle, Glockengießerwall 5. Von 22. Januar bis 25. April 2021 (vorerst nur online, Museumsöffnung noch ungewiss).

www.hamburger-kunsthalle.de

Der Katalog (Hirmer-Verlag) wird im Museumsshop 29 Euro kosten und ist einstweilen für 34,90 € zzgl. Porto online bestellbar unter www.freunde-der-kunsthalle.de

Zusätzliche Publikums-Aktion der Kunsthalle: Fotos von (pandemiebedingt) leeren Straßen und Plätzen können eingesendet werden an submission@hamburger-kunsthalle.de Die eindrucksvollsten Fotos sollen dann im Eingangsbereich der Ausstellung gezeigt werden.

 

 




Kühne Visionen der Intendantin Julia Wissert: Dortmunds Theater soll Maßstäbe setzen

Selbstbewusst: Dortmunds Schauspielchefin Julia Wissert. (Foto: China Hopson)

Donnerwetter! Die (immer noch) neue Dortmunder Schauspielchefin Julia Wissert hat mit dem Theater jede Menge vor. Zum live gestreamten Gespräch eingeladen hatten die Theater- und Konzertfreunde Dortmund. Deren Vorsitzender Ulrich Wantia stellte die an sich schon kühne Frage, was Frau Wissert mit ihrem Team bis zum Jahr 2025 verwirklicht haben wolle.

Die Antwort fiel mindestens ebenso kühn aus: Nichts weniger als eine Komplett-Sanierung des Hauses schwebt Julia Wissert vor. Als erstes und bis dahin einziges Theater in Deutschland solle Dortmund den Standard für alle künftigen Bühnenbauten setzen. Es solle alle denkbaren Bühnenformen in sich vereinen und sich auch zur Straße hin öffnen können. Gewiss, für diese Vision müsse die Stadt dann auch schon etwas mehr Geld in die Hand nehmen. Und was soll auf den Bühnen zu sehen sein? Nun, eine Hybrid-Mischung aus Eigenproduktionen und hochkarätigen Gastspielen „aus aller Welt“.

Mehr noch: Bis (spätestens?) 2025 wolle man ein Netzwerk mit den Schulen gebildet haben, das sich längst nicht in bloßen Aufführungsbesuchen erschöpfe, sondern mit den Produktionen direkt in die Schulen gehen werde. Das Theater müsse in jeder Hinsicht (baulich, inhaltlich und überhaupt) komplett barrierefrei werden, bisher seien zumal die architektonischen Verhältnisse „katastrophal“. Die Spartengrenzen zwischen Oper, Schauspiel, Ballett sowie Kinder- und Jugendtheater sollen unterdessen vielfach überschritten werden. Überdies würden die Städtischen Bühnen auch als menschenfreundlicher Arbeitsplatz im Ranking ganz oben stehen. Noch etwas vergessen? Ach ja, ein klimafreundliches „Null-Emissions-Theater“ soll’s bitteschön auch werden.

Nach mancherlei Videokonferenzen haben just in diesen Tagen die wirklichen Proben wieder begonnen – unter erschwerten Hygiene-Bedingungen. Nichts bleibt, wie es war: Die Sicherheits-Abstände werden sozusagen bei allen Projekten notgedrungen mitinszeniert. In Corona-Zeiten sind sie am abermals vom Lockdown gebeutelten Haus zwangsläufig dabei, neue digitale Formate zu entwickeln. Die Online-Übertragung von Aufführungen reiche bei weitem nicht aus, so Julia Wissert. Es müsse eine ganz neue „digitale Dramaturgie“ entstehen. Sollten die rigiden Corona-Beschränkungen sich hierbei gar als Chance für neue Formate erweisen? Wenn gleichzeitig im Dortmunder Hafenviertel die Digitale Theater-Akademie entsteht, könnten es in der Tat spannend und zukunftsweisend werden. Doch seien wir vorsichtig mit Vorschusslorbeeren. Um einen berühmten Dortmunder Fußballer-Spruch abzuwandeln: Entscheidend is‘ auf den Brettern.

Julia Wissert, die auch ansatzweise verriet, wie ihre Bewerbung um den Dortmunder Posten verlaufen sei (zum Vorstellungsgespräch „erstmals im Leben einen Anzug getragen“ – und dann stürzte vor der Konzept-Präsentation ihr Computer ab), war – sozusagen von Amts wegen – des Lobes voll für die Stadt ihres Wirkens. Extrem positiv überrascht habe Dortmund sie mit der unglaublichen Offenheit der Menschen. Vorher hat sie u. a. auch am Bochumer Schauspiel gearbeitet. Zwischen Bochum und Dortmund, so Wissert, lägen Welten, Dortmund sei ungleich größer, kosmopolitischer, weltläufiger – „ein wahnsinniger Unterschied“. Da hüstelt selbst der Lokalpatriot leicht verlegen.

Ihr Dortmunder Lieblingsort ist übrigens der Botanische Garten Rombergpark („sensationell“), der im nächsten Jahr 200 Jahre alt wird – ein Jubiläum, zu dem auch die Theater- und Konzertfreunde beitragen möchten.

Und die nähere Zukunft? Für „spätestens Anfang April“ erhofft sich die Intendantin wieder echte Premieren vor leibhaftig anwesenden Zuschauern. Etliche Produktionen sind in der Pipeline, die dann „in dichter Abfolge“ aufgeführt werden sollen – fast schon eine Art Festival, das die Vielseitigkeit des neuen Dortmunder Ensembles zeigen werde.




Wie Heimat zu erfahren und zu schildern sei: Judith Kuckarts Dortmunder Hörfilm „Hörde mon Amour“

Blick auf die Siedlung Am Sommerberg/Am Winterberg in Dortmund-Hörde. (Screenshot aus dem besprochenen Film / © Judith Kuckart)

Dortmund vergibt bekanntlich (und endlich) ein Literaturstipendium. Das temporäre Amt, das andernorts meist Stadtschreiber(in) heißt, nennt sich hier Stadtbeschreiber*in. Die literarisch etablierte Judith Kuckart hat den Anfang gemacht. Ihr Dortmunder Aufenthalt begann im August und dauert bis Ende Januar 2021. Leider wurde auch ihre Tätigkeit von Corona eingeschränkt. Anders als vorgesehen, hat sie keine theatrale Umsetzung ihrer Ortserkundungen verwirklichen können, sondern einen rund einstündigen „Hörfilm“ produziert. Es ist ein „Heimatfilm“ ganz eigener Art.

Die 1959 in Schwelm geborene Judith Kuckart hat als Kind – aus traurigen familiären Gründen – „vier oder fünf Sommer“ im Dortmunder Ortsteil Hörde verbracht und kennt also noch das Alltagsleben in der früheren Stahlwerksgegend. In jenen Jahren war sie etwa 9 bis 14 Jahre alt. „Hörde war eine Schule fürs Leben“, sagt sie. Und Hörde sei für immer Teil ihrer „inneren Landschaft“. Ein „Downtown“ Dortmund, also eine zentrale Innenstadt, habe es für sie damals nicht gegeben. Folglich trägt der Film den Vorort liebevoll im Titel: „Hörde mon Amour“.

Westfälische Witterung

2017, als der Kongress der Autorenvereinigung PEN in Dortmund stattfand, hatte die heute in Berlin lebende Judith Kuckart Gelegenheit, erneut westfälische Witterung aufzunehmen. Zwar hat sie für die Stipendienzeit in der Nordstadt am Dortmunder Borsigplatz gewohnt, sich aber auf den Spuren ihrer Kindheitserinnerungen weit überwiegend wieder „auf den Hügeln von Hörde“ umgetan. Das 1340 gegründete (und 1928 nach Dortmund eingemeindete) Hörde hat schon immer ein gewisses Eigenleben geführt und lange Zeit mit Dortmund auf Kriegsfuß gestanden. Auch daraus bezieht der ebenso eindringliche wie wohltuend ruhige Film untergründige Spannungsmomente.

Die Autorin und Dortmunder Stadtbeschreiberin Judith Kuckart – hier in Berlin, März 2019. (Foto: Burkhard Peter)

Äußerst langsam und behutsam tastet die Kamera (Martin Rottenkolber) Einzelheiten ab, die Erinnerung in sich bergen (könnten): die Siedlung „Am Sommerberg“/„Am Winterberg“ im vogelperspektivischen Überblick; sodann geht’s Fassade für Fassade an verwitterten Häusern entlang. Auch sieht man eine typische Wohnung daselbst mit allen Einzelheiten, die nicht gerade auf Wohlstand hindeuten und wirken, als seien sie rücklings aus der Zeit gerutscht. Hinzu kommt ein verfallenes, inzwischen auch verwunschenes früheres Schwimmbad („Schallacker“), dessen Areal zur Stätte des Urban Gardening mutiert ist. Lauter wehmütige Ansichten von zumeist menschenleeren Orten. Kein Wunder, wenn dabei Kopfkino entsteht, zumal als Bezugspunkt ein kartographierter, aber nicht existierender Phantom-Ort bei New York aufgerufen wird, der zur Kultstätte für Jugendliche von weither geraten ist. Auch Hörde ist nicht zuletzt ein imaginäres Gelände.

„Schäbiges Paradies“

Nicht in den Bildern, wohl aber in den Texten dieses „Hörfilms“ scheint auf, wie sehr hier einst das pralle, wenn auch oft etwas ärmliche Leben sich begeben hat. Im besagten Schwimmbad, so heißt es, sei gleichsam alles Lebendige geschehen, es seien auf den Liegedecken in diesem „schäbigen Paradies“ auch Kinder gezeugt worden. Mittlerweile gibt es einen machtvollen und scharfen Kontrast, ein ganz anderes Hörde, das gleichfalls, wenn auch eher schaudernd, ins Auge gefasst wird: die Gegend rings um den künstlich erstellten Phoenixsee mit ziemlich seelenlosen Neubauten zu exorbitanten Preisen. Dies sind keine Kindheitsräume mehr, aber vielleicht Orte für unstete „Wandermenschen“, die allüberall ihresgleichen finden.

Judith Kuckart erinnert sich hingegen lieber an die Jahre um 1968, als die Frauen in der Hörder Siedlung ganztags im Morgenmantel umher gingen, die bescheidenen Haushalte führten und Kinder versorgten, während die Männer bei Hoesch malochten oder in der Kneipe zechten. Eine 1979 aus Jamaika zugewanderte Frau bedauert den späteren Wandel gleich zu Beginn des Films: Früher sei ihr der Lichtschein des Hochofenabstichs stets wie eine wärmende, tröstende Sonne erschienen, später sei hier und in anderen Stadtteilen jedoch „alles den Bach runtergegangen“. Um in Hörde herzlich und herzhaft heimisch zu werden, muss man wahrlich nicht dort geboren sein.

Wo wir uns sicher bewegen können

Fixsterne in Kuckarts Hörder Kindheitssommern waren mehrere Tanten, die dort gelebt haben. Eine von ihnen ist mit 24 Jahren gestorben, ihr kurz vorher geborenes Baby hielt sie bis zuletzt fest umklammert. „Oma Schüren“ (in Dortmund heißen Großeltern familiär häufig nach dem Stadtteil) ist gegen Ende einer Kinovorführung in der – bis heute als letztes Vorort-Lichtspielhaus existierenden – „Postkutsche“ in Aplerbeck gestorben. Heute kann niemand mehr sagen, welchen Film die Großmutter zuletzt gesehen hat.

Man ahnt, dass der Ton zum Film sich keineswegs in „Dönekes“ erschöpft, sondern wesentlich tiefer lotet, manchmal ganz unversehens. Nach und nach stellt sich mit zunehmender, freilich allemal sanfter Dringlichkeit die Frage, was eigentlich „Heimat“ sei und wie von ihr zu erzählen wäre. „Heimat ist der Raum, in dem wir uns immer sicher bewegen können“, heißt es an einer Stelle. Ob es zugleich ein konkreter Ort ist, steht allerdings dahin. Überhaupt ergeben sich viele Fragen: Ist die Heimat ein Ort oder ein Gefühl? Kann man sesshaft werden in der Sehnsucht nach Heimat? Kann man eine Heimat gründen oder entwerfen? Kann Sexualität eine Heimat sein? Und so fort. Hier lagert Stoff fürs eine oder andere weitere Buch im Sinne des „autofiktionalen“ Erzählens, der Selberlebensbeschreibung, angereichert mit fiktionalen Elementen, wie sie seit einiger Zeit wieder vermehrt Teile der Literatur prägt (und nicht die schlechtesten).

Um das Erzählte noch genauer zu verankern, versichert sich Judith Kuckart der Kenntnisse einiger langjährig ortsansässiger „Heimatexpert(inn)en“. Jede(r) von ihnen trägt ureigene Bruchstücke zum Mosaik der Heimatlichkeit bei. Und nein: Das berühmte Diktum von Ernst Bloch („…so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“) kommt an keiner Stelle vor.

„Hörde Mon Amour“. – „Hörfilm“ von Judith Kuckart, 2020. Zu sehen auf dem YouTube-Kanal des Dortmunder Literaturhauses: 

https://www.youtube.com/watch?v=v9iAHql-NJI

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Im Mai 2021 soll Anna Herzig übernehmen

P.S.: Als nächste Dortmunder Stadtbeschreiberin wird – vermutlich ab Mai 2021 – Anna Herzig aus Salzburg in der Stadt sein. Sie hat keine Dortmunder Kindheitserfahrungen, will aber hier an ihrem Roman „Die Auktion“ weiterarbeiten, der in einem Intercity zwischen Wien und Dortmund spielt…




„Was für ein Jahr!“ (Gesammelte Grußformeln, 2020er Corona-Edition) – Auch die Revierpassagen wünschen zu den Festtagen alles Gute!

Statt des Baumschmucks und/oder Feuerwerks… (Foto: Bernd Berke)

Freimütig zugegeben: Grüße zu Weihnachten und zum Jahreswechsel sind kein leicht zu absolvierendes Genre; ganz gleich, ob nun im Chefsprech (Grundmuster: Vieles ist geschehen, vieles bleibt noch zu tun – aber wir werden es schaffen, wenn sich alle ins Zeug legen) oder im sanftmütigen Achtsamkeits-Jargon.

Schauen wir uns doch in prägnanten Auszügen mal ein paar notgedrungen floskelhafte Beispiele aus aktueller Verfertigung an (siehe Quellen am Schluss des Beitrags), vorwiegend aus dem Kulturwesen der Ruhrgebiets-Region – und zwar ohne den hochmütigen Anspruch, es besser zu können. So beginnen die Texte nach der jeweiligen Anrede:

„…ein ereignisreiches Jahr geht zu Ende…“

„Ein bewegendes Jahr neigt sich dem Ende.“

„Ein turbulentes Jahr neigt sich dem Ende zu…“

„…ein bewegtes Jahr geht zu Ende.“

„Dieses Jahr war wirklich eine Herausforderung.“

„2020 war für uns alle ein Jahr der besonderen Herausforderungen.“

„…was für ein Jahr!!!“

„…2020 war ein besonderes Jahr.“

„…am Ende eines schwierigen, von Einschränkungen und Verlusten geprägten Jahres…“

„…vor genau einem Jahr haben wir auf ein tolles und ereignisreiches Jahr zurück geschaut und waren voller guten Mutes…“

„…blickt zurück auf ein Jahr, das von besonderen Begegnungen geprägt war – trotz der Ausnahmesituation.“

„Durch Corona hat sich Vieles verändert.“

„2020 war ein Jahr, das allen sehr viel abverlangt hat – im Privaten wie im Beruflichen.“

„…üblicherweise geben wir mit diesen Zeilen einen munteren Überblick über das vor uns liegende neue Halbjahr. Doch die vergangenen Monate haben…“

„…uns steht ein ereignisreiches Jahr bevor…“

Als Reaktion auf viele dieser Jahreswechsel-Formeln würde sich das entwaffnende Loriot’sche „Ach was“ eignen, das ja eh universell anwendbar ist. Doch natürlich folgen auf die einleitenden Floskeln jeweils kurze Jahresbilanzen und Ausblicke mit klugen, kreativen und kultivierten Gedanken zum verfließenden 2020.

Möge uns 2021 weniger Anstrengungen und Verdruss bereiten. Und vergesst nicht: Trump ist fast schon weg – und der Impfstoff ist unterwegs!

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Die Zitate (selbstverständlich ohne direkte Zuordnung) stammen aus Grußbotschaften von (alphabetische Reihenfolge):

DASA Arbeitswelt Ausstellung, Dortmund
Deutscher Chorverband
Deutscher Journalistenverband (DJV)
Gustav-Lübcke-Museum, Hamm
HMKV – Hartwarte Medien Kunst Verein, Dortmund
Kunsthalle Bremen
Kunsthalle Recklinghausen
Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Dortmund
Museum Ostwall im Dortmunder U
Regionalverband Ruhr, Essen
Ruhrfestspiele, Recklinghausen
Ruhr Museum, Essen
Schauspiel Dortmund
Spiegel online, Hamburg
(Die) Zeit, Hamburg

(Zitatliste wird noch bis zum Jahreswechsel ergänzt)




Es steht ’ne Waschmaschine vor der Tür – und: Der Ein-Mann-Schwertransport. Zwei kurze Geräte-Geschichten

Kultur is‘ ja leider auf Schwundstufe, also lasst uns mal eben über andere Sachen reden. Beispielsweise über Waschmaschinen. Vor einigen Tagen wurde eine bestellt, just am 16. Dezember sollte sie geliefert werden. Die bisherige war schlichtweg „hinüber“. Warum, das erfahrt ihr nachher.

Ein Gerät dieses Typs… (Foto: BB)

Prima: Die Neue sollte nicht nur zum Bestimmungsort getragen, sondern auch angeschlossen und eingerichtet werden. Der Rundum-sorglos-Service eines deutschen Versandhauses.

Das galt bis gestern.

Jetzt aber! 16. Dezember! Erster Tag im gehärteten Lockdown! Und schon soll auch auf diesem Gebiet so gut wie nichts mehr gehen. Kurz vor der Lieferung kommt die Mail, dass sie die über 75 Kilogramm schwere Maschine mitsamt der Verpackung lediglich v o r die Tür stellen werden (vielleicht bei schönstem Regenwetter). Anschluss? Nix da! Nicht in diesen Zeiten. Vielleicht nach dem 10. Januar. Oder 20. Februar. Oder 30. März. Oder 40. April.

„Alles muss man selber machen.“

Ansonsten wär’s halt vorerst nichts mit den heimischen Waschgängen, auch nicht mit dem 60-Grad-Programm, in dem beispielsweise die Stoffmasken mitlaufen. Wie bitte? Die Waschsalons hätten doch geöffnet? Ja, herrlich: „Mein wunderbarer Waschsalon“. Da kann man sich ja gleich in eine dichtbesetzte U-Bahn stellen und Aerosole einpfeifen. Immerhin: Die Masken lassen sich ja auch bügeln.

„Notfalls“ (es geht hier ja gar nicht um „Not“, das Wort wird viel zu oft missbraucht) müsste man die gute alte Handwäsche wiederentdecken – womöglich mit Waschbrett. Auf den Dingern kann man bekanntlich auch leidlich musikalische Rhythmen erzeugen. Womit wir denn doch wieder bei kulturellen Angelegenheiten wären. Irgendwie jedenfalls.

P. S. für zwischendurch: Es gibt natürlich weitaus Schlimmeres als solche Problemchen. Und der Lockdown ist offenkundig bitter nötig. Das musste gesagt werden.

Nun aber noch eine schlimmere Waschmaschinen-Story, die erklärt, warum die vorherige Maschine (brandneue „Testsiegerin“) bereits „hinüber“ war und die denn doch ein größeres Problem offenbart. Jener Online-Riese, den ich wohl nicht eigens nennen muss, lieferte sie mit einem einzigen Mitarbeiter (!) aus. Sonst kommen für derart schwere Gerätschaften immer zwei Leute, dieser arme Kerl musste jedoch allein ran. Zwar hatte er ein akkubetriebenes Stemmgerät, aber auch damit war es furchtbar schwer, die Maschine in den Waschkeller zu wuchten.

So ruckelte und titschte sie denn auf jeder einzelnen Treppenstufe derart auf, dass die Trommel danach offenbar eine extreme Unwucht hatte. Die Maschine „wanderte“ beim Schleudern heftig, stürzte schließlich „kopfüber“ vom Betonsockel und riss ihre Anschlüsse aus der Wand. Geradezu suizidal. Da nützte es auch nichts, dass eine Fachfirma den Schaden kostspielig beseitigte und die Maschine mit Hilfe einer Wasserwaage neu aufstellte. Resultat: nächste Wäsche, nächste „Wanderung“ – bis knapp vorm erneuten Absturz. Also abermals Retoure, also abermals Verdruss. Keinerlei Vorwürfe an den Mitarbeiter, aber an die frühkapitalistisch anmutende Personalplanung. Auch fragt man sich, was wohl mit diesem beschädigten Teil geschehen wird. Einfach auf den Sperr- oder Sondermüll damit? Bei diesem Anbieter keineswegs auszuschließen.

Nie wieder ein Großgerät über diese Firma, die einen einzigen Mann Waschmaschinen schleppen lässt, um Transportkosten zu sparen. Auch sonst wäre an Boykott zu denken. Nein, es wäre zu handeln.

 




Adieu, Monsieur Favre! Der BVB hat den Trainer entlassen – und was passiert jetzt?

Das war’s also für Lucien Favre in Dortmund. Die BVB-Bosse Hans-Joachim Watzke und Michael Zorc haben den Trainer (nach einer erbärmlichen 1:5-Heimniederlage gegen den Aufsteiger VfB Stuttgart) entlassen, im Boulevard-Jargon: „gefeuert“. Erstaunlich schnell, erstaunlich konsequent. Man denke vergleichsweise an das Gewürge rund um Nationaltrainer Jogi Löw nach dessen 0:6-Debakel gegen Spanien.

Die Luft ist ‘raus – jedenfalls aus diesem Ball. (Foto: Bernd Berke)

Tatsächlich vertrug sich das gestern so desolate Auftreten der BVB-Mannschaft überhaupt nicht mehr mit den hohen Ansprüchen des börsennotierten Vereins. Drei verlorene Heimspiele hintereinander, das kommt in Dortmund sozusagen gar nicht in die Tüte.

Gewiss liegt nicht jeder verlorene Zweikampf, jeder unterlassene Sprint, jede verpasste oder gar nicht erst generierte Chance in unmittelbarer Verantwortung des Trainers. Auch über die Leistungsverweigerung einzelner Spieler sowie das hie und da unglückliche Konstrukt des Teams wäre zu reden, wobei – nach meiner bescheidenen Meinung – der schon seit längerer Zeit als Spieler und Motivator herzlich wirkungslose Marco Reus von der Kapitänsbürde befreit werden sollte; vorzugsweise zugunsten von Mats Hummels.

Rätselhafte Einwechslungen

Die gestrigen Einwechslungen, nun aber wirklich ureigene Sache des Trainers, waren eigentlich nicht mehr nachvollziehbar: Wenn der BVB schon so abhängig vom (derzeit verletzten) Erling Haaland ist, warum bringt Favre dann den gelernten Mittelstürmer Youssoufa Moukoko erst fünf Minuten vor Schluss in Spiel? Weil er erst 16 Jahre alt ist? Du meine Güte! Statt dessen musste mit Reinier recht früh ein nicht allzu profilierter Auswechselspieler auflaufen, der gerade erst von einer Corona-Infektion genesen war…

Gewiss: Unter Lucien Favre (63) hat der BVB in 110 Spielen – das gestrige eingerechnet –einen beachtlichen Punkteschnitt von 2,08 erzielt, nur Thomas Tuchel war nach dieser Statistik einen Hauch erfolgreicher, er brachte es auf 2,09. Auch hat Favre mit der Mannschaft immerhin zwei Vizemeistertitel geholt, wobei man jedoch im ersten Jahr einen deutlichen Vorsprung gegenüber Bayern München leichtfertig verspielte. In der Champions League, in der sich der BVB mittlerweile dauerhaft etabliert hat, ist man jeweils im Achtelfinale ausgeschieden.

Kein Mann für Titel und entscheidende Spiele

Favre war offensichtlich kein Mann für die entscheidenden Spiele, das war auch schon bei seinen vorherigen Vereinen (Hertha, Gladbach, Nizza) so gewesen. Überall einige schöne Erfolge, doch niemals der Durchbruch zu Titeln. Das setzte sich auch in Dortmund fort. Wenn es beispielsweise gegen die Bayern ging, fuhr man regelmäßig Niederlagen ein. Zeitweise spielte der BVB zwar auch schon mal begeisternden Fußball, doch zwischendurchs gab’s immer wieder herbe Rückschläge und äußerst bräsige Darbietungen, vor allem gegen Teams aus der unteren Tabellenregion. Und wenn von Spitzentrainern erwartet wird, dass unter ihrer Ägide möglichst jeder einzelne Spieler besser werde als zuvor, so schaue man sich die stagnierende Entwicklung mancher BVB-Akteure an…

Der Franko-Schweizer Lucien Favre ist ein Fußballfachmann vor dem Herrn, man könnte ihn sich gut und gern als Professor seines Metiers vorstellen, wenn er nur eloquenter wäre. Überdies ist er offenbar ein empfindsamer, feinsinniger Monsieur mit Faible für die leiseren Töne; absolut keiner, der polternd auftrumpft oder lautstark mitreißt. Eigenschaften, die man privat und menschlich unbedingt sympathisch finden kann. Freunde leidenschaftlicher, notfalls auch spektakulärer Auftritte mochten allerdings am liebsten aus der Haut fahren, wenn sie sein oft allzu ruhiges Gebaren an der Seitenlinie verfolgten. Da wirkte er gelegentlich wie ein Zauderer. In Dortmund ist man – spätestens seit dem Meistermacher Jürgen Klopp, der auch von der Mentalität her in diese Stadt passte – anderes gewohnt.

Und wer will wohl nach Dortmund wechseln?

Auch Favres Pressekonferenzen vor den Spielen waren eher quälende Exerzitien. Überhaupt nichts Konkretes zu Taktik und Aufstellung wollte er den versammelten Medienleuten verraten – und immerzu redete er den nächsten Gegner stark („gefährliche Mannschaft“), zuweilen über die Maßen. Derlei Mitteilungen schleifen sich schnell ab. Und viel mehr kam dann meistens auch nicht hinterher.

Jetzt wird hinter den Kulissen sicherlich nach einem neuen Übungsleiter von Rang gesucht. Immer wieder zu hören sind Wunschnamen wie Ralf Rangnick (derzeit kein Trainerjob), Marco Rose (jetzt Borussia Mönchengladbach) oder Adi Hütter (Eintracht Frankfurt), deren Wechselwille durchaus bezweifelt werden kann. Erst recht dürfte Julian Nagelsmann erst einmal in Leipzig bleiben wollen, wo er durchaus reüssiert.

Vorerst soll Ko-Trainer Edin Terzic (38) das BVB-Training übernehmen, angeblich bis zum nächsten Sommer. Er wäre nicht der allererste „Unbekannte“, der mehr aus einer Mannschaft herausholt, als man zu hoffen wagte.

(mit Infos aus verschiedenen Online-Medien) 




Unterwegs zur gesteigerten Geistigkeit: Jawlensky im Kunstmuseum Bonn – vorerst nur via Internet

Alexej von Jawlensky: „Mädchen mit niedergeschlagenen Augen“, 1912. Öl auf Pappe (Kunstmuseum Bonn/Foto: Reni Hansen)

Ja, geht das denn überhaupt: eine reine Online-Presskonferenz zu einer neuen Ausstellung, in deren Rahmen die Bilder lediglich virtuell gezeigt werden? Probe aufs Exempel: jene Jawlensky-Schau, die jetzt im Kunstmuseum Bonn vorerst nur via Internet zu sehen ist. Womöglich bleibt es auf Monate hinaus bei dieser Beschränkung.

„Alexej von Jawlensky. Gesicht – Landschaft – Stillleben“ lautet der komplette Titel. Die Auswahl umfasst rund 80 Bilder des russischen Künstlers aus den Schaffensphasen zwischen 1901 und 1937. In den letzten Jahren seines Lebens konnte Jawlensky (1864-1941) – wegen einer sich stetig verschlimmernden arthritischen Lähmung – nur noch unter größten Mühen malen und musste die Kunst schließlich ganz aufgeben.

Alexej von Jawlensky: „Murnau – Das Tal“, um 1910. Öl auf Karton. (Privatsammlung Düsseldorf/Foto: Bernd Fickert)

In seiner russischen Heimat hatte Jawlensky mit realistischen Gemälden im Gefolge eines Ilja Repin begonnen. Auch als er 1896 nach Deutschland kam, wirkt seine Malweise noch recht traditionell, Bilder wie „Helene im spanischen Kostüm“ (1901/02) sind noch sichtlich vom Impressionismus inspiriert. Freilich zeigen sich nach und nach auch Einflüsse von Van Gogh, Cézanne, Matisse und der Gruppe „Blauer Reiter“. Der Bonner Kurator und stellvertretende Museumsdirektor Volker Adolphs erblickt etwa in einer Jawlensky-Landschaft dieser Zeit einen „gebändigten Van Gogh“, außerdem Anklänge an Gauguin.

Jawlenskys Malerei wird flächiger und farbstärker, entfernt sich zusehends von Gegenständlichkeit. Ob man nun von Klangfarben oder Farbklängen sprechen will, Jawlensky erweist sich jedenfalls immer deutlicher als „großer Kolorist“ (Adolphs), der die Farbwerte mit geradezu musikalischer Wirkung einzusetzen versteht.

Anfang August 1908 kamen Wassily Kandinsky, Gabriele Münter, Alexej von Jawlensky und Marianne von Werefkin aus München zu einem Malaufenthalt nach Murnau. In Bonn sieht man beispielsweise eine Serie von Jawlenskys späteren Landschaftsbildern aus dem bayerischen Flecken. Es sind einerseits scheue Blicke aus dem Fenster, andererseits ungemein kühne Abstraktionen der Grundelemente des Gesehenen. Der Künstler ist unterwegs zu gesteigerter Innerlichkeit und Geistigkeit.

Alexej von Jawlensky: „Dame mit Fächer“, 1909. Öl auf Karton. (Museum Wiesbaden/Foto: Bernd Fickert)

Großartige Bilder sind (wie gesagt: einstweilen nur online zu betrachten) im Kunstmuseum versammelt, beispielsweise die mondäne „Dame mit Fächer“ (1909), die – selten genug bei Jawlensky – nicht frontal dargestellt wird und im ganzen Duktus an japanische Bildgestaltung erinnert. Das „Stillleben mit Heiligenbild“ (um 1912) wirkt wie ein Altar und verweist aufs spätere Werk, dem zunehmend Spiritualität eignet. Darauf deuten auch kontemplative Arbeiten wie „Mädchen mit niedergeschlagenen Augen“ (1912) voraus. Dieses  Mädchen ist ganz in seine Innenwelt versunken und scheint zugleich Höheres zu schauen.

Derlei Tendenzen streben hin zu den berühmten, unfassbar variantenreichen Serien der U-förmigen Kopfbilder, von denen Jawlensky insgesamt rund 1300 (!) in immer wieder anderen Farb-Kombinationen geschaffen hat. Die fortwährende malerische Meditation mag auf ihre Weise die russische Ikonen-Tradition aufgreifen, ist aber formal entschieden modern. Ein überaus konzentriertes Inbild wie „Der Wissende“ (1936) lässt in einer Gesichtsform alle menschliche Passion, ja einen ganzen Kosmos aufscheinen.

Alexej von Jawlensky: „Abstrakter Kopf: Schicksal“, 1918. Öl auf Karton (Museum Wiesbaden/Foto: Bernd Fickert)

Zurück zur Eingangsfrage: Kann all das in einer Online-Pressekonferenz adäquat gezeigt werden? Natürlich nicht. Man bekam eher eine Art Diaschau zu sehen, weil noch dazu aus den Bonner Ausstellungsräumen wegen fehlender WLAN-Verbindung kein geführter Live-Rundgang übermittelt werden kann. Wie Museums-Intendant Prof. Stephan Berg erläutert, liegt dies an der Baulichkeit des Hauses mit seinem allzu massivem Mauerwerk. Erst kürzlich sei man mit Experten der (in Bonn benachbarten) Telekom durchs Museum gegangen. Auch sie mussten passen. Ohne gründlichen Umbau dürfte sich keine Abhilfe schaffen lassen. Einstweilen wird man sich mit Aufzeichnungen aus den Museumsräumen begnügen müssen.

Und so hoffen (nicht nur) die Museumsleute auf eine mittelfristig mögliche Wiedereröffnung, nach der man der Kunst wieder direkt begegnen kann. Prof. Berg hält dafür, dass die Museen wohl keine Corona-Hotspots sein könnten. Andernfalls müssten ja jetzt, da seit Wochen alle Kunsthäuser und sonstigen Kulturstätten geschlossen sind, die Fallzahlen deutlich gesunken sein…

Alexej von Jawlensky. Gesicht – Landschaft – Stillleben. Kunstmuseum Bonn, Helmut-Kohl-Allee 2. Ausstellung vorerst nur online (Einzelheiten dazu auf der Homepage). Schon jetzt verlängert bis zum 16. Mai 2021. Katalog im Buchhandel 34 Euro, Museumsausgabe 25 Euro.

www.kunstmuseum-bonn.de

  • Die Ausstellung ist in Kooperation mit dem Museum Wiesbaden entstanden, das über reiche Jawlensky-Bestände verfügt und zum Austausch wichtige Werke von August Macke aus dem Kunstmuseum Bonn zeigt.
  • Die letzte Jawlensky-Einzelausstellung des Bonner Kunstmuseums liegt schon fast 50 Jahre zurück. Sie war 1971 zu sehen.