„Diese gebrochene Landschaft“ – Günter Grass 2010 in der Kulturhauptstadt Ruhrgebiet

Grass im Landschaftspark

Grass im Landschaftspark

„Mehr Licht – Die europäische Aufklärung weiter gedacht“ hieß das große Kulturhauptstadt-Projekt, das das Literaturbüro Ruhr 2010 auf die Bühnen des Reviers brachte. Neben anderen Themen handelte dieses Projekt auch von „Sprachkritik als Praxis kritischen Denkens“ und von der „Verantwortung des Intellektuellen“.

Als Gast im Theater Bochum und im Landschaftspark Meiderich las Günter Grass dazu aus seinem Buch „Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung an die deutsche Sprache“. Entgegen allen Gerüchten, Grass sei ein grantiger, spröder, alles dominieren wollender eitler Großschriftsteller, traf ich auf einen freundlichen, offenen, warmherzigen Gesprächspartner, der sehr gut zuhören konnte.

Aufklärung und Sprache
Günter Grass hat sich zeitlebens beharrlich mit der Dialektik und dem Elend der Aufklärung auseinandergesetzt – und er sah trotz aller Fehlentwicklungen die Aufklärung nicht gescheitert, sondern setzte auf ihre vergessenen Wurzeln, auf ihre Öffnung und Weiterentwicklung durch Selbstaufklärung, setzte auf Dazulernen, Humor, Engagement, Wissen, die Vernunft des Herzens.

In „Grimms Wörter“ erzählte er nicht nur die Lebensgeschichte der Brüder Grimm, er erzählte auch die rund 130jährige Entstehungsgeschichte des „Deutschen Wörterbuchs“. Und er erzählte Teile seiner eigenen Geschichte als Künstler/Intellektueller in der Bonner und Berliner Republik.

Günter Grass schrieb aber nicht nur von Buchstaben in einem Wörterbuch, sondern auch selbst lustvoll sprachspielend in Buchstaben, in und mit Lauten, Silben, Wörtern. Und beim Umgang mit den Wörtern – wie die Brüder Grimm „Wort auf Wort“ „nach (deren) Herkommen“ befragend –  erschloss sich eben auch die Welt, oder besser: seine Welten. Mit den Worten spielend (manchmal etwas zu sehr) und sie doch ganz und gar ernst nehmend, verwob er Biografien, politisches Zeitgeschehen, Menschen, erzählte Geschichte und Geschichten, kam von Höcksken auf Stöcksken, rettete fast verschollene Worte und reanimierte tot geglaubte. Und schrieb zu guter Letzt gar das Deutsche Wörterbuch weiter und fort, ergänzte und erhellte es mit und durch neue Wörter, hässliche wie schöne.

Wider den Anschein von Einstimmigkeit
Von Pierre Bourdieu, der mit Günter Grass einst ein langes Fernsehgespräch führte, stammt der schöne Satz:  Es ist die Aufgabe des Intellektuellen, den Anschein von Einstimmigkeit zu durchbrechen. Genau diese Aufgabe „den Mund aufzumachen“, nahm Günter Grass immer wieder auf mutige-provozierende Art und Weise wahr. Durch seine Romane, Essays, Reden, politischen Interventionen und publizistischen Zwischenrufe.

Georg Christoph Lichtenberg, dem im Projekt „Mehr Licht!“ zwei Abende gewidmet waren und der auch in „Grimms Wörter“ eine wichtige Rolle spielt, hat in seinen Sudelbüchern geschrieben: „Es tun mir viele Sache weh, die anderen nur leidtun.“ Ein Aphorismus, der auch über dem Schaffen Günter Grass‘ stehen könnte; in der Nachfolge Lichtenbergs formulierte Grass in „Grimms Wörter“: „Mich schmerzt und ekelt mein Land, dessen Sprache ich anhänglich liebe.“   

Nestbeschmutzer Grass
Als Nestbeschmutzer wurde Grass oft geschmäht, dabei vergessend, dass es doch gerade der Schmutz, der vermeintliche Dreck ist, der ein Nest erst zusammenhält. Gern prügelt man hierzulande den Boten, wenn er auf die Banalität des Bösen oder heute besser: auf die Bösartigkeit des Banalen hinweist – etwa auf ein Primat der Ökonomie, das sich immer mehr auch als Ökonomie der Primaten entpuppt; eine Ökonomie, deren Folgen – so die seriöse Weltgesundsheitsorganisation – weltweit jährlich Millionen hungernder Kinder das Leben kostet. „Ich schäme mich meines zum bloßen Wirtschaftsstandort verkommenen Landes“, schrieb Günter Grass in „Grimms Wörter“.

Was gesagt werden darf
Dass Grass sich als Mahner aus dem Literatenolymp gelegentlich auch vergaloppierte, stimmt schon. Eine kurze heftige Debatte löste im April 2012 sein in drei großen europäischen Zeitungen veröffentlichtes Mahn-Gedicht „Was gesagt werden muss“ aus. Günter Grass hatte da einen israelkritischenText geschrieben, der in seiner Schlichtheit und Pose nicht nur politisch enttäuschte, sondern auch als Gedicht, als Wortkunstwerk.
Nicht wenigen seiner Kritiker aber gelang es, Grassens Niveau mit leichter Hand zu unterbieten. Kaum ein Kommentar zeugte von genauer Textlektüre, so scheiterten dann auch viele der nachgängigen Versuche, das Gedicht allein stellenlesend angemessen zu deuten. Der mittlerweile obligatorische Anti-Grass-Reflex verbaute jede tiefergehende  Reflexion. Grass wurde etwa vorgeworfen, er habe in einem Gedicht den radikal-fundamentalistischen iranischen Präsidenten Ahmadinedschad einen bloßen „Maulheld(en)“ genannt und so dessen Gefährlichkeit und Unberechenbarkeit nicht nur für Israel unzulässig verharmlost. Grass selbst aber schrieb im Gedicht: “das von einem Maulhelden unterjochte und zum organisierten Jubel gelenkte iranische Volk”, da steht also immerhin auch, dass Mahmud Ahmadinedschad das iranische Volk unterjocht. Und was heißt “unterjochen”, wenn man’s denn wissen will? Siehe Duden: “gefügig/willenlos machen, in Unfreiheit halten, niederhalten, unterdrücken, zu Sklaven machen; (gehoben abwertend) knechten”.

Von der Kunst des Verstehens (Hermeneutik) wurde jedenfalls bei den meisten Kritikern vor dem Verriss des vermeintlich zu iranfreundlichen Grass-Gedichtes keinerlei Gebrauch gemacht. Kunst des Verstehens, das hätte geheißen: Gründliche Textlektüre, auch, um sich der eigenen Vorurteile und Vorverständnisse bewusst zu werden.

Grass & das Ruhrgebiet
In der Zeitschrift Essener Unikate wurde Günter Grass 1996 mit dem Satz zitiert: „Es hat mir trotzdem in Essen gefallen. Warum – weiß ich nicht mehr so genau. Vielleicht weil Essen im Ruhrgebiet liegt und diese gebrochene Landschaft so primär nach Literatur schreit.“ In „Grimms Wörter“ tauchte zuletzt auch Duisburg auf, dem sich Oskar Matzerath in „Die Blechtrommel“ schon einmal von Düsseldorf aus näherte. Sogar von Frauen aus Gelsenkirchen wird uns erzählt, und vom Rand des Ruhrgebietes, von Sprockhövel. So kam das Ruhrgebiet also pünktlich zum Kulturhauptstadtjahr noch einmal in das Werk eines Literaturnobelpreisträgers.
Günter Grass wurde zudem nicht müde, an einen Autor des Ruhrgebiets zu erinnern, der nie ein Ruhrgebietsautor war. Dieser Autor, am Silvesterabend 1937 in Duisburg geboren, dieser Freund, dem Günter Grass auch ein Mentor war, starb 1979 viel zu früh an Krebs, Grass besuchte ihn oft am Sterbebett, dieser Freund war natürlich: Nicolas Born. Dessen Bücher, Briefe, Gedichte wurden vor nicht allzu langer Zeit von seiner Tochter Katharina Born im Wallstein Verlag neu herausgegeben.
Bei Grassens Begrüßung 2010 im Landschaftspark Meiderich schlug ich deshalb vor: „Ehren wir heute Günter Grass auch, indem wir seinen Freund ehren. Hiermit schlage ich offiziell vor, das Überfällige zu tun, nämlich endlich eine große Straße oder einen Platz nach Nicolas Born, dem wichtigsten in Duisburg geborenen Schriftsteller, zu benennen.“ Günter Grass hat sich diesem Vorschlag sofort angeschlossen – und ihn vor der Presse einige Male wiederholt. Leider ohne Erfolg.

Ich bin sicher, es würde Günter Grass freuen, hier zum Schluss einige Zeilen Nicolas Borns zu lesen:

Eine besonders schöne Blume
ein besonders schönes Wetter
öffne die Fenster die Fenster
heute Nacht werden die Lampen heller brennen
eine gute Nachricht trifft ein
oder lieber Besuch




Am Bande, nicht am Gängelband: „Schreibheft“-Herausgeber Norbert Wehr erhält Verdienstkreuz und erinnert an Voltaire

SH_83_Cover_300_dpi_b2ffc1e545Jemand mag einen Orden bekommen und doch kann er ein verdienstvoller Mensch sein, heißt es. Ganz sicher trifft dies auf Schreibheft-Herausgeber Norbert Wehr zu, der gestern im Essener Rathaus das „Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland“ erhielt.

Es ist eine Auszeichnung für fast 40 Jahre Entdeckungsreisen in die Literatur der Zeiten und Länder, für Literaturveranstaltungen in Serie, die seit Jahrzehnten das kulturelle Klima der Stadt Essen bereichern. „Literatur im Folkwang“ hießen die zuletzt, bis Folkwang-Chef Bezzola die renommierte Reihe vor die Tür setzte und lieber Kunst ankaufen wollte. Die Reihe aber, das war gestern zu hören, ist wohl gerettet, sie wird unter veränderter Trägerschaft an anderen Orten und unter neuem Namen fortgeführt.

Offenheit und Wagemut
Norbert Wehr, eher schüchtern als die Öffentlichkeit suchend, bedankte sich artig für all die Unterstützung durch Mitarbeiter, Freunde, Förderer und Familie. Wer die Literaturzeitschrift kennt oder vielleicht sogar liest, die da halbjährlich um die 200 Seiten stark erscheint, weiß oder ahnt zumindest, dass im Zentrum der Redaktionsarbeit, Recherche und Organisation vor allem Wehr selbst steht, ohne den es die Zeitschrift schlicht nicht gäbe – und vielleicht irgendwann auch nicht mehr geben wird. Er ist es letztlich, der trotz gelegentlicher finanzieller Förderung durch Stiftungen, Sponsoren, Geldpreise das finanzielle Risiko zu tragen hat.

Sprachräume ausloten
„Wer gute Lesekondition mitbringt, dem erschließt sich ein Kompendium zeitgenössischer Weltliteratur. Der Leser und Sammler Norbert Wehr überrascht sein Publikum immer wieder mit Neuem, Un-Erhörtem, nie Gesehenem. Literarische Debatten wurden im Schreibheft geführt. Sprachliche Grenzen wurden transzendiert und herkömmliche Gattungsrestriktionen“, schrieb Literaturwissenschaftler Hannes Krauss, als Norbert Wehr für seine Arbeit am Schreibheft den Literaturpreis Ruhr 2010 erhielt.

Foto: Elke Brochhagen/Stadt Essen

Preisträger Norbert Wehr (rechts) und Essens OB Reinhard Paß (Foto: Elke Brochhagen/Stadt Essen)

Standhalten und dichten, berichten
Gestern in Essen griff Wehr in seinen Dankesworten auch den Terroranschlag auf die Redaktion der Pariser Satirezeitschrift Charlie Hebdo und dessen mögliche Wirkungen auf. O-Ton Wehr: „Ich kann den Orden schwerlich annehmen, ohne zum Schluss mit dem allergrößten Respekt des Muts der Journalisten, Zeichner und Herausgeber von Charlie Hebdo zu gedenken, die in den letzten Jahren, und spätestens nach dem Brandanschlag auf ihre Redaktionsräume im Jahr 2011, unter Lebensgefahr auf der Ausübung ihres republikanischen Rechts bestanden haben – des Rechts auf Meinungs- und Pressefreiheit.

Sie schrieben und sie zeichneten in einer Tradition, die bis zu Voltaire zurückreicht, und vor allem zu dessen Mahomet, einer fanatismuskritischen Tragödie, die kein Geringerer als Goethe ins Deutsche übertragen hat. ‚Eure Majestät wissen‘ – schrieb Voltaire 1740 an Friedrich den Großen –, ‚Eure Majestät wissen, welcher Geist mich beseelte, als ich dieses Werk verfaßte. Die Liebe zum Menschengeschlecht und das Grauen vor Fanatismus haben meine Feder geführt.‘

Diese Liebe, gepaart mit dem Grauen – es sind immer noch edle Motive, auch heute, bald 300 Jahre später, für jeden der schreibt und publiziert.

Nicht erst seit einer Woche wissen wir jedoch, wie gefährdet, wie hoch gefährdet diese Haltung mittlerweile ist. Ich fürchte, der Kunsthistoriker Horst Bredekamp hat recht. Am Montag hat er im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung gesprächshalber geäußert, ich zitiere: ‚Wer sich die Freiheit nimmt, auf der unsere Kritikfähigkeit beruht, wird sich in Zukunft unter Todesdrohung sehen. Dies auszuhalten und Institutionen zu finden, die diese Freiheit weiterhin beschützen, ist von Stund an die Aufgabe.‘ – Und Bredekamp weiter: ‚Ein fundamentales Umdenken steht uns bevor: Meinungsfreiheit kann Leben kosten. Wir werden sehen, welche Konsequenzen das hat – wird es eine Bildpolitik der Konfliktvermeidung geben? Oder halten wir stand, in den Redaktionen, an den Universitäten, in der Kunst und in der Politik?‘“




Nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo – Zeit für eine Debatte über die Rolle der Religionen

Der feige Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo hat zwölf Menschen das Leben gekostet und großes Leid über ihre Angehörigen, ihre Freunde, ihre Kollegen gebracht.

Und er verletzt auch meine a-religiösen Gefühle zutiefst, meine Vernunft, mein Herz. Die Erkenntnis, dass Religionen und (Massen-)Wahn sehr nah beieinander liegen, ist – im wahrsten Sinne des Wortes – beileibe nicht neu. Zeigt sich dieser Zusammenhang aber im alltäglichen Leben als Katastrophe, wird er vollends unerträglich. Da hilft auch die Flucht von Sprechern religiöser Verbände in die Schutzbehauptung, Religionen und religiöser Fundamentalismus als Terrorismus hätten nichts miteinander zu tun, nirgends weiter, sondern verdunkelt nur tatsächliche Zusammenhänge.

Es wird also höchste Zeit für mehr radikale Religionenkritik, für eine Debatte über die Rolle der Religionen im öffentlichen Raum. Laizismus (laïcité) und Abbau der Sonderrechte für alle Religionen – dahin könnte es in einer demokratischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts gehen. Statt dessen versuchen nur mehr Religionen, den öffentlichen Raum zu unterwerfen. Dagegen ist zu setzen: Freiheit für die Religionen (ja, im Privaten), aber eben auch weitgehende Freiheit von den Religionen im öffentlichen Raum. Hierzulande gilt das Grundgesetz und das schützt nicht nur die Presse- und Meinungsfreiheit, nicht nur die Religionen, sondern auch die Freiheit humanistischer Weltanschauungen als Art, die Welt anzuschauen und dies auch zu artikulieren.

Allerdings hat sich jetzt in Frankreich drastisch gezeigt, dass Laïcité allein nicht genügt. Der breite öffentliche Diskurs über menschengemachte Götter, Religionen, Kirchen, Sekten in ihrem historisch-ideologischen Kontext fehlt im europäischen Rahmen deutlicher denn je. Selbst wenn Religionen nur noch Privatsache wären, gäbe es wohl noch genug irregeleitete Gläubige aller Couleur, die mit ihrem Alleinvertretungsanspruch Gewalt gegen Andersgläubige oder „Ungläubige“ legitimieren würden. Auf Dauer helfen nur beharrliche, friedliche, kluge, kenntnisreiche Argumente gegen abergläubische Wahrheitspächter, hilft nur die sich selbst immer neu aufklärende Aufklärung.

Ich oute mich deshalb immer öfter in der Familie oder am Arbeitsplatz, im Sportverein oder beim Schreiben… als Humanist, der auf die Idee „Gott“ gerne und humorvoll verzichten kann, der deren Entstehung historisch-kritisch zwar nachvollziehen kann, aber eben auch die Überlebtheit jeder „Gottes“-Idee feststellen muss. Das Staunen vor der unerschöpflichen Vielfältigkeit allen Seins nimmt dabei eher zu, viele Fragen dazu sind offen. Religionen aber geben darauf keine auch nur irgendwie überzeugende Antwort, sondern fordern allein: Dran-Glauben, Gehorsam und Hirnabschalten.

Wie wäre es, wenn wir den wunderbaren Toleranzgedanken Gotthold Ephraim Lessings weiterentwickelten? Lessing ging es in der Ringparabel des „Nathan der Weise“ um die friedliche Konkurrenz dreier Religionen. Heute dagegen geht es weltweit um die Konkurrenz vieler Religionen mit vielen anderen Welt-Anschauungen, darunter auch ein (gottfreier) Humanismus. Nur wer Güte nicht nur predigt, sondern sie auch lebt, ist in dieser Konkurrenz überhaupt ernst zu nehmen.

Darf man den verehrten Lessing vielleicht so ein wenig umschreiben?

Nathan:
Wohlan!
Es eifre jeder seiner unbestochnen
Von Vorurteilen freien Liebe nach!
Es strebe von euch jeder um die Wette,
Die Kraft des Steins in seinem Ring‘ an Tag
Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut,
Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun,
Mit innigster Verbundenheit als Mensch dem Menschen,
Zu Hülf‘! Und wenn sich dann der Steine Kräfte
Bei euern Kindes-Kindeskindern äußern:
So lad‘ ich über tausend tausend Jahre,
Sie wiederum an diesen Tisch. Da werden
Weisre Menschen hier in trauter Runde sitzen,
Als ich; und sprechen.




Martin Walsers Roman „Ein springender Brunnen“ – wiedergelesen als Meisterwerk über eine Kindheit und Jugend im Faschismus

Martin Walser 2013 in Duisburg Foto: Jörg Briese

Martin Walser 2013 in Duisburg
Foto: Jörg Briese

Ich erinnere mich, und zugegeben, das alles hört sich für Heutige an, als stünde es in einer Erzählung voller Stereotype, ich erinnere mich also: Unser Klassenlehrer am Duisburger Mannesmann-Gymnasium Mitte der 60er-Jahre war während des sog. Dritten Reiches Offizier der Wehrmacht. Wenn der um 1920 Geborene von Hinterhalt und Überfällen der Tito-Partisanen in Jugoslawien erzählte, hingen wir an seinen Lippen und waren froh, dass zuletzt immer er und seine Kompanie den verdienten Sieg davontrugen. So verbrachten wir manche Religionsstunde, vor allem vor den Ferien, und waren stolz, wenn er uns außerhalb des Unterrichts wohlwollend „Männer!“ rief.

Ab 1967 hatte er ein zweites Thema: den Sechstagekrieg Israels gegen Ägypten, Jordanien und Syrien, von ihm gern auch „Blitzkrieg“ genannt. Der väterliche Studiendirektor war glühender Verehrer siegreicher israelischer Strategie und ließ niemals unerwähnt, dass dabei wohl auch deutsche Waffen ihren Anteil gehabt hätten. In seinem Geschichtsunterricht allerdings kamen wir nie weiter als bis zur Weimarer Republik, um dann erneut bei Griechen und Römern zu landen. Vom Zweiten Weltkrieg, von Holocaust oder Nürnberger Prozessen wurde im Unterricht geschwiegen. Das Wort „Auschwitz“ hörte ich durch Zufall als Neunjähriger zum ersten Mal, weil im Fernsehen der Eichmann-Prozess aus Jerusalem übertragen wurde, auch darüber nirgendwo ein weiteres Wort.

Partielle Amnesie, Lähmung
Die Pubertät als Aufbegehren gegen den Vater ist bei mir komplett ausgefallen, auch jede schonungslose Befragung des Vaters zu seiner Vergangenheit im „Dritten Reich“. Ich erinnere mich: Mein Vater Horst litt seit den späten Fünfzigern an Multipler Sklerose, hatte zuvor zwei Arbeitsstellen, um die sechsköpfige Familie durchzubringen. Dann für Monate zuerst an den Beinen, später an einem Arm gelähmt. Die Ärzte hatten ihm prophezeit, dass er Anfang der 70er vollständig gelähmt sein würde.

Das Gegenteil trat ein: Die Lähmungen konnten zum Stillstand gebracht werden und verschwanden ganz. Über so einen Vater hält ein ängstlicher Primaner um 1970 nicht Gericht. Irgendwann habe ich Nachkriegskind dennoch gewagt zu fragen, ob er an „schlimmen Einsätzen“ der Nazis beteiligt gewesen sei. Und tatsächlich hat er geantwortet, ja, einmal, bei einer Erschießung. Mehr war aus ihm nicht herauszubekommen. Was für eine Erschießung? Deserteure, Juden, Kriegsgefangene? Keine Antwort. Noch heute sehe ich NS-Dokumentationen mit Bangigkeit: Auf einem der Bilder könnte mein Vater, Wehrmachtssoldat, nicht bei SA oder SS, geboren im September 1924, könnte er also plötzlich zu sehen sein und aus dem Bild heraus mich anschauen.

Wilder Mann
Meine Frau erinnert sich, dass ihr Vater, Jahrgang 1915, erzählt habe, er und seine Kameraden seien als Panzerfahrer nach der Kapitulation Paris‘ im Sommer 1940 mit den Kettenfahrzeugen durch den Bois de Boulogne gerast. Dabei sei er – Baumstämme überfahrend – im Panzer mit dem Kopf an die Metalldecke geschlagen und habe sich mehr als nur leicht verletzt. Um ungeschoren ins Lazarett zu gelangen, musste er den Sani bestechen und dem Vorgesetzten ein plausibles Märchen darüber erzählen, wie es zu der Kopfverletzung gekommen sei.

Wie wird man, was man ist?
Der Krieg als Abenteuer, Heldengeschichte, Anekdote, Fragment – zensiert, kindgerecht und jugendfrei. Immerhin, die Erzähler dieser Familien- und Schulgeschichten, die gern Ursachen und Verbrechen des Krieges, seine blutigen Details unerwähnt lassen, verharmlosen oder ins Ulkige verkehren, waren bei Kriegsende oft Mitte zwanzig, junge Erwachsene, und also verantwortlich für das, was sie taten.

Was aber ist mit den späteren Jahrgängen, mit Soldaten aus dem Jahrgang 1927 z. B., die bei Kriegsende gerade einmal 18 Jahre alt waren? Sie wurden zur Zeit des heraufziehenden Faschismus geboren, wuchsen als Kinder in den Nationalsozialismus hinein, als Jugendliche im Krieg auf. Inwieweit waren sie Täter und/oder Opfer, Mitwisser, Mitläufer, glühender NS-Nachwuchs, Mitwisser, Totschweiger oder Widersprechende? Aufwachsen im „Dritten Reich“ war für sie das Selbstverständliche. Aber Aufwachen in dieser Zeit gegen die Zeit – unter welchen Umständen wäre das möglich gewesen?

Kindersoldaten
Während man heute ideologisch abgerichtete Kinder und Jugendliche, die in den Krieg ziehen (müssen), als das begreift, was sie sind, nämlich Opfer von Manipulation und Gewalt, schien diese um Verständnis bemühte Betrachtungsweise für vollständig oder weitgehend im Nationalsozialismus aufgewachsene junge Menschen kaum in Betracht zu kommen. Auch den Alliierten galten bei Kriegsende die meisten jungen Männer der Jahrgänge 1928, 1929… als Täter, mündig, verantwortlich, schuldig, und so gerieten sie meist in Gefangenschaft. Letztlich aber waren sie als Angehörige des Volkssturmes oder (seit dem März 1945) als Wehrpflichtige des Jahrgangs 1929 zuallererst doch Kindersoldaten, ob sie sich nun – ideologisch geblendet – freiwillig gemeldet hatten oder nicht.

Wikipedia schreibt: „Kindersoldaten sind Kinder, die an einem Krieg teilnehmen. Als Kindersoldaten gelten laut der UN-Kinderrechtskonvention von 1989 alle Kriegsteilnehmer unter 15 Jahren, die direkt an Feindseligkeiten teilnehmen. Ein optionales Zusatzprotokoll der Konvention aus dem Jahr 2002 hebt das Mindestalter für wehrpflichtige Soldaten der ratifizierenden Staaten auf 18 Jahre an, freiwillige Rekruten älter als 14 Jahre sind nach wie vor völkerrechtlich legal. Mitunter werden von anderer Stelle jedoch auch nicht-kämpfende Helfer bewaffneter Gruppen sowie alle Jugendlichen unter 18 Jahren zu den Kindersoldaten gezählt. UNICEF, terre des hommes und amnesty international bezeichnen ‚alle Kämpfer und deren Helfer, die unter 18 Jahre alt sind‘ als ‚Kindersoldaten‘.“

Schülersoldat

Haniel-Akademie Duisburg 2013 Foto: Jörg Briese

Haniel-Akademie Duisburg 2013
Foto: Jörg Briese

Martin Walser, um dessen Roman es hier gehen soll, wurde im März 1927 geboren, wuchs in Wasserburg/Bodensee auf und besuchte die Oberschule in Lindau. Als Sechzehnjähriger war er Flakhelfer, danach beim Reichsarbeitsdienst. Unter dem Stichwort „Flakhelfer“ schreibt Wikipedia: „Nach der heute weltweit gebräuchlichen Begriffsbestimmung könnten diese im weiteren Sinne nachträglich zu den Kindersoldaten gezählt werden. Der Soziologe Heinz Bude hat die Definition Schülersoldaten für die Luftwaffenhelfer geprägt.“

Das Ende des Zweiten Weltkriegs erlebte Walser als Soldat der Deutschen Wehrmacht und kam in Gefangenschaft.

1946 ff.
Nach Abitur und Studium wurde Martin Walser 1951 mit einer Dissertation zu Franz Kafka in Tübingen promoviert, war Mitarbeiter beim Süddeutschen Rundfunk und reiste viel. Von 1953 an gehörte er zur Gruppe 47. Seit seinem Erstling Ein Flugzeug über dem Haus und andere Geschichten und dem Romandebüt Ehen in Philippsburg sind vom Herausgeber, Übersetzer, Essayisten, Dramatiker, Hörspiel- und Drehbuchautor, dem Redner und Erzähler Martin Walser viele Dutzende Einzelveröffentlichungen erschienen.

„Normalität“ und „Barbarei“
Mit seinem Roman Ein springender Brunnen und seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels (Laudator: Frank Schirrmacher) erwies sich Martin Walser 1998 einmal mehr als sprachvirtuoser Chronist deutscher Geschichte und als provozierender politischer Redner. Walser, der sich lange vor der Wiedervereinigung zur deutschen Einheit bekannt hatte und deshalb als Nationalist geschmäht wurde, galt und gilt vielen nach der umstrittenen Dankesrede bis zum heutigen Tag als Antisemit.

Wurde Martin Walsers Roman Ein springender Brunnen bei seinem Erscheinen im Sommer `98 von der Kritik noch einhellig als literarisches Ereignis gefeiert, änderte sich dies en detail und en gros mit und nach der sog. Walser-Bubis-Debatte; jener Debatte, die in weiten Teilen völlig ohne mehr als oberflächliche Lektüre der Friedenspreisrede vom 11. Oktober 1998 auszukommen schien, folgte später nur konsequent die Veröffentlichung von herabsetzenden Befunden nachgeholter Lektüren des Romans aus dem Sommer. Eine der fahrlässigen Bemerkungen zu Ein springender Brunnen las ich im Rahmen eines größeren Aufsatzes von Detlef Claussen in der Wochenzeitung Freitag vom Januar 1999. Claussen schrieb:

„Bei Walser wird der Nationalsozialismus aus der Perspektive des kleinen Mannes beschrieben – der kleine Mann hat etwas Hitlerjungenhaftes. (…) Schriftsteller nehmen freiwillig eine intellektuelle Pimpfperspektive ein, die sie sich nur leisten können, weil andere sie für bedeutende Männer halten.“

Und die ZEIT z. B. gab in einem Artikel Dieter Fortes mit dem Titel „Barbarei des Biedersinns“ vor, Martin Walser zu widersprechen, der vermeintlich „Normalität“ als Seelenruhe gefordert hätte. Fortes Beitrag gipfelt in dem Satz: „Normalität fordern, heißt die individuelle Erinnerung auslöschen.“

Ein bedenkenswerter Satz, doch hat Walser in seiner Rede niemals Normalität gefordert, das Wort „Normalität“ kommt in der Rede nicht einmal vor. Es geht Walser eher um die Gewissensfreiheit des Einzelnen, der seine gesellschaftliche Verantwortung als Zoon politicon bedenkt, sie ernst nimmt, sie auch im Handeln praktisch werden lässt, sich aber nicht vorschreiben lassen will, wie er mit Schande, Verantwortung, Pflichten öffentlich umzugehen habe. Einmal nur nutzt Walser in seiner Rede das Wort „normal“ und fragt: Aber in welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein ganz normales Volk, eine ganz gewöhnliche Gesellschaft? „Normal“ steht hier im Kontext von „gewöhnlich“, und eine gewöhnliche Gesellschaft ist ‚natürlich‘ immer heterogen, voller Widersprüche, Hoffnungen und Abgründe.

Selbstverständlich weiß Walser um den falschen Schein des Normalen‚ ‚Normalität‘ ist ein Konstrukt. Zudem: Als Schriftsteller ist Walser  in seinem Werk immer schon gelungen, was Forte ihm abzusprechen sucht, nämlich: individuelle Erinnerung gegen Widerstände lebendig zu erhalten. Dass zur vermeintlichen Normalität die Barbarei als Kehrseite gehört, ist eine der Einsichten, die man etwa in Walsers Kursbuch-Beitrag Unser Auschwitz, aber auch über Figuren im Roman Ein springender Brunnen leicht gewinnen könnte, wenn man denn für sie offen wäre.

Stellenlesen
Bequemer ist es allerdings, Martin Walsers Texte erst gar nicht zu lesen oder nur auszugsweise zu lesen und sich dann dem sekundären Geschwätz darüber anzuvertrauen oder selbst welches in die Welt zu setzen. Der Sieg des Sekundären lebt geradezu vom diesem Nichtlesen, diesem kontextlosen Stellenlesen. So viel beredet und so wenig gelesen wie die 98er-Texte Walsers wurden hierzulande zuletzt nur Salman Rushdies Satanische Verse.

Jedem Roman aber, Literatur überhaupt, sollte man sich – eine Selbstverständlichkeit – mit jener Haltung nähern, wie sie als Lehre des Verstehens die aufgeklärte Hermeneutik vorschlägt. Verkürzt gesagt: Im Prozess des Verstehens hat man sich selbst Rechenschaft abzulegen über die eigenen Vorurteile, Vorverständnisse, Interessen, über den eigenen historischen Standort. In der so gewonnenen relativen Bewusstheit kann erstes Verständnis eines Textes überhaupt erst gelingen. Erst so können und sollen auch Interpretation und Bewertung des Textes zu vorläufigen Ergebnissen kommen.

 Bühnengespräch 2013 in DU - Foto: Jörg Briese


Bühnengespräch 2013 in DU – Foto: Jörg Briese

Provinz und Machtergreifung
Martin Walsers Roman Ein springender Brunnen ist und bleibt ein Meisterwerk, ein 400-Seiten-Epos voller Geschichten und Geschichte, voller Sprachzauber, Komik, Groteske, aber auch Trauer. Ein springender Brunnen erzählt von Kindheit, Pubertät, den Glücksmomenten und Nöten des Erwachsenwerdens. Die Geschichte des Jungen Johann – verschränkt mit der des Heraufdämmerns des NS-Regimes – ist Familien- und Entwicklungsroman, Liebes- und Dorfgeschichte zugleich. Der Roman als „Panorama deutscher Provinz im ‚Dritten Reich‘“ (Martin Ebel) erzählt, wie der Faschismus auch im Mikrokosmos der disparaten Gemeinschaft des fiktiv-realen Wasserburg an Boden gewinnen und sich einnisten konnte.

Mit den Augen, aber nicht nur aus der Sicht des 1927 geborenen Johann macht Walser deutlich, wie vor allem Kinder und Jugendliche in den Sog des Faschismus gerieten, wie auch sie – ge- und verführt – in den Alltag unterm Hakenkreuz hineinwuchsen, wie und was man selektiv wahrnahm, was man von Dachau hörte, wie man das, was man gehört hatte, wieder verdrängte. Walser macht dies alles verständlich, hilft zu verstehen, wie geschehen konnte, was geschehen ist. Etwas verständlich zu machen, darzustellen, heißt aber eben nicht, es zu legitimieren oder gar zu entschuldigen. Die Figur Johann wird vom Autor gerade auch in ihrer beschränkten Weltsicht und in ihren Widersprüchen aus- und dem Leser vorgestellt und so – ohne die Figur zu denunzieren – dem skeptischen Blick der Leser ausgesetzt.

Komplexität aushalten
Jeder Vorwurf, der Autor Walser benutze die Jungen-Perspektive, um sich intellektuell oder moralisch zu entlasten, wirkt vollends absurd, wenn man sich einmal auf die ästhetische Komplexität des Romans eingelassen hat. Walsers Menschenkenntnis und sein skeptischer Humanismus enthüllen sich nicht über eine schnell zu habende, dem Text bequem abzulesende Botschaft, sondern nur über die Schönheit der Sprache, die Polyphonie und Komposition von Ein springender Brunnen.

Nicht allein, dass die Perspektive der Figur Johann sich entwickelt, verändert, die Perspektive Johanns ist sozusagen auch immer nur ein Tor, durch das hindurch der Autor Martin Walser uns sehen und hören lässt: Wir sehen und hören ein faszinierendes Gewirr von Stimmen, eine wohldurchdachte Konstellation sich kommentierender oder widersprechender Figuren, Dialoge und Anekdoten, fulminante Kürzestgeschichten und essayistische Diskurse, die weit über die Perspektive, die Beobachtungen oder den Bewusstseinsstrom des Jungen Johann hinausweisen. Ein springender Brunnen ist dabei trotz aller Nähe zur Biografie Martin Walsers eben nicht – wie gelegentlich behauptet – eine Autobiografie, sondern – wenn überhaupt – die fiktive Biografie eines Jungen, der dem Schriftsteller Walser als junger Mann ähnlich, aber nicht zum Verwechseln ähnlich sieht.

Stimmenwechsel
Neben Johann, neben unvergesslichen Rand- als Hauptfiguren, neben forschen und verschämten Nazis sind in Ein springender Brunnen vor allem die leise und lauter Widersprechenden zu hören: In Episoden, die erzählen vom Vater, von den Demütigungen des Halbjuden Landsmann oder des Zirkusclowns Munz. Wenn es so scheint, als ob Johann von einer Zirkusnummer mit Direktor und Clown erzähle, die vom Sprachwitz her an bestes Politkabarett à la Werner Finck erinnert, dann greift natürlich der Autor als Erzähler ein und führt vor, was kein elfjähriger Junge je erzählen könnte. Es greift der Autor ein, wenn die Rede ist von der Brutalität der Kriege, etwa von des Vaters letzter Schlacht bei Soisson im Juli 1918, hier wird das Buch zur beeindruckenden Antikriegserzählung. Insofern entwirft Martin Walser eine überfällige, nie von Beschönigung, Wunschdenken, politischer Korrektheit umgedeutete literarische Innenansicht deutscher Geschichte vor 1945, insofern schrieb Martin Walser einen Roman, der auf jede Empfehlungsliste für jugendliche Leserinnen und Leser gehört.

An ihrer Sprache kann man sie erkennen
Nicht nur nebenbei ist Martin Walsers Roman auch ein Buch über die Anfänge eines Schriftstellers und die Liebe zur Sprache als einem ‚springenden Brunnen‘. Eine Liebe zur Sprache, die für den sensiblen Johann oft einer Flucht in die Sprache gleichkommt. Am Gebrauch der Sprache und ihrem Vokabular, übers Dialektsprechen oder doppelzüngige Reden werden die meisten Charaktere der Figuren kenntlich, verraten sich auch die jeweils unterschiedlich motivierten Opportunisten, verrät sich die Machtgier der neuen Führer.

Von Johann und über Johann wird dagegen anders erzählt. Geht es um ihn, klingt die Sprache des Erzählers wunderbar zart, einfühlsam, mal märchenhaft, mal erotisch, mal derb-drastisch im Ton. In nuanciert sinnlicher Sprache lässt der Erzähler sich erinnernd Gerüche, Klänge, die erste Liebe und geliebte Menschen erneut lebendig werden.

Foto: Jörg Briese

Foto: Jörg Briese

Konstrukt Erinnerung
„Vergangenheit als Gegenwart“: Dreimal beginnt Martin Walser die Anfangskapitel der drei Teile seines Romans mit dieser Überschrift. In diesen Kapiteln reflektiert Walser explizit über die Art und Weise, in der wir – auch und vor allem über Sprache – unsere Identität, unsere Vergangenheit und unsere Erinnerungen aktiv (re)konstruieren. Ich verlasse mich nicht auf meine Erinnerungen, hat Marcel Noll einmal geschrieben. Dies tut auch Martin Walser nicht. Er verlässt sich nicht auf seine Erinnerungen, aber er nimmt sie ernst.

Ein springender Brunnen ist ein Text, der, sich erinnernd, zugleich über die Fragwürdigkeit der Konstruktion von Erinnerung nachdenkt. Walser widersteht dabei der Gefahr, seine Fiktion einer fragmentierten Jungen-Biografie mit Ideologie oder „political correctness“ von heute zu versöhnen, Geschehenes umzudeuten oder sich ‚schön zu schreiben‘. Man kann seine Vergangenheit nicht vom dem befreien, „was in ihr so war, wie wir es jetzt nicht mehr haben möchten“ (S. 282/283).

Keine der Walserschen Figuren wird unter der Hand nachträglich zum Vertreter einer inneren Emigration stilisiert, noch wird der Faschismus in der Provinz zum Familien-Dorfidyll verklärt. Walser lässt seinen unterschiedlichen Figuren sowohl ihre – durchaus auch selbstverschuldete – Blindheit, ihr bösartiges Herrenmenschentum, er lässt ihnen aber auch ihre Einsichten, ihre Güte und ihr Scheitern.

Lernen von den Rissen und Brüchen des Modells
Genau so, auf diese Weise, wurde mir von Martin Walser endlich mehr von dem erzählt, was mir mein eigener Vater, Jahrgang 1923, aufgewachsen in Stargard bei Stettin, nie erzählen wollte. Ich weiß jetzt – abseits historisch-soziologischer Forschungen oder Hollywood-Dramaturgie – etwas besser, wie im Alltag der Provinz überhaupt geschehen konnte, dass einer als Junge, Jugendlicher zwischen fünf und siebzehn Jahren in ein menschenfeindliches System hineinwuchs, ohne es wirklich zu erfassen; wie man mitlief, ohne je Mitläufer oder gar Täter werden zu wollen; warum einer Soldat werden wollte und Widerstand als Alternative zu wenig sichtbar wurde. Für mich als Leser enthüllt sich über Walsers Roman so eher mehr von der Gefährlichkeit des und von der Verführbarkeit durch den Faschismus, als es viele gutmeinende Texte und Filme eines appellativen, pädagogisch hilflosen Antifaschismus je geschafft haben.

Der janusköpfige Johann: Wegdenken oder verantwortlich Handeln
Dass „Vergangenheit als Gegenwart“ vor allem ängstigen kann, mit dieser Erfahrung endet Johanns Geschichte. Zitat: „Er wollte von sich nichts verlangen lassen. Was er empfand, wollte er selber empfinden. Niemand sollte ihm eine Empfindung abverlangen, die er nicht selber hatte. Er wollte leben, nicht Angst haben.“ Die Figur des siebzehnjährigen Johann, der glaubt, wegdenken zu müssen, um eigener Angst, aber auch der Angst der Opfer des Faschismus nicht zu begegnen: Die Romankapitel „Vergangenheit als Gegenwart“ gehören unbedingt als Vor-Worte oder Seitenstücke zur Dankesrede aus der Paulskirche. „Von der Neigung des Menschen zu verdrängen, was er nicht ertragen (…) kann“ (M. Maron), darüber hat Martin Walser auch dort gesprochen – und diese Neigung nicht etwa gebilligt, sondern als unselig kenntlich gemacht.

Wie schwer es dagegen fällt, statt zu verdrängen, Verantwortung zu übernehmen, dies führt Walser in Ein springender Brunnen vor allem über einen fantastischen Kunstgriff vor, dem magisch-realistisch erzählten „Wunder von Wasserburg“. Gleich zwei sehr unterschiedliche Versionen werden dem Leser in dieser Textpassage zu zwei Tagen im Leben des elfjährigen Johann angeboten.

Die eine Version zeigt einen Johann, der seiner ersten Liebe Anita auf dem Fahrrad in einen Nachbarort folgt und den Schmerz des ersten Liebeskummers kennenlernt. Die zweite Version zeigt einen Johann, der am Ort bleibt, sich für Schwächere einsetzt, der Zivilcourage beweist und in einem Schulaufsatz zum Thema, wie viel Heimat nötig sei, mutig gegen Rassenwahn anschreibt.

Welcher Tag wurde wirklich gelebt, von Johann erlebt? Welcher nur erinnernd/fantasierend von Johann oder vom Erzähler erfunden, gewünscht, herbeigesehnt, herbeigelogen? Denn davon träumt auch Johann: Einmal so gesehen zu werden, wie er sich selbst gern sähe.

Schlussapplaus Foto: J. Briese

Schlussapplaus
Foto: J. Briese

Ermutigung zum Widerspruch
„Das Wunder von Wasserburg“ ist eine der verwirrendsten und schönsten Geschichten des Romans, weil sie nicht nur Illusion und Enttäuschung zeigt, sondern auch die Hoffnung weckt, dass in jedem Liebenden, Erwachenden die Kraft zum Widerstand wachsen könnte. Eine Hoffnung, von der Walser in seinem Roman auch zeigt, dass sie zwischen 1932 und 1945 zu selten Gestalt annahm, sodass selbst der Autor als Weltenschöpfer sich nicht anders zu helfen weiß, als seiner Figur Johann einen veritablen Engel als Doppelgänger an die Seite zu stellen, und so Johann zumindest für ein einziges Mal für alle sichtbar mutig und wortgewaltig über sich hinauswachsen zu lassen.

Mit der Angst der Figur des später siebzehnjährigen Johann, mit seiner Angst, der Not der Opfer des Faschismus zu begegnen, der Angst sie nicht ertragen zu können, mit der Angst vor dem eigenen Verdrängen und Versagen lässt Martin Walser seine Leser am Ende des Romans schließlich zurück, aber nicht allein. Der unausgesprochenen Aufforderung, sich dieser Angst zu stellen, Verantwortung zu übernehmen, werden Figur und Leser auf je eigene Weise nachkommen müssen. Und von diesen Nöten und Ängsten zu sprechen, heißt eben nicht, die Nöte der deutschen Kriegs- und Nachkriegsgeneration aufzurechnen gegen das ungeheuerliche Leid, das Deutsche Juden zugefügt haben. Es heißt nichts weniger, als sich der eigenen Verführbarkeit zu stellen, über deren Ursachen tief nachzudenken, um nie wieder Handlanger eines totalitär-menschenverachtenden Systems zu werden.

Drohung, Hoffnung: Jeder ist zu allem fähig
Und damit werden wir nicht nur retrospektiv mehr als genug zu tun haben. Mit dem Sachbuch Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben (von Sönke Neitzel und Harald Welzer) hat die Debatte um Krieg, Soldatentum und Verrohung eine neue, weit in die Gegenwart hineinreichende Dimension erhalten. Dass Krieg (und Vorkrieg) notwendig Gewalt auf allen Ebenen entfesselt und in der Vergangenheit oft Männergesellschaften Realität werden ließ, die ihre ganz eigenen (Un-)Werte, Orientierungen und Referenzrahmen besaßen, wird hier eindrücklich belegt.

Die beiden Autoren machen verständlich, wie im Rahmen des spezifischen Militarismus, Sexismus, Biologismus und Führerkults des Dritten Reiches ganz ‚normale’, gutmütige und freundliche Männer zu „Weltanschauungskriegern“ mutierten, vom Dr. Jekyll zu Mr. Hyde in wenigen Wochen. Vielen Soldaten wird der Krieg als Vernichtungsfeldzug zur Routine, zur täglichen Arbeit und so erledigen sie sie auch. Das erschreckendste Ergebnis des Buches aber ist, dass in entsprechendem Umfeld zu gegebener Zeit jeder (und jede!) von uns in Gefahr gerät, der Gewalt an sich und anderen freien Lauf zu lassen.

Martin Walser Foto: J. Briese

Martin Walser
Foto: J. Briese

Und selbst?
Nach der Lektüre von Soldaten bewegt mich die Frage, wie wir die Erkenntnisse daraus kritisch übertragen könnten auf den heutigen inhumanen Referenzrahmen einer eiskalten Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Was wäre zu leisten, um Elemente anderer, humaner Utopien aufscheinen und wirksam werden zu lassen, die noch etwas wissen von Mitgefühl, Zivilcourage, Sapere aude, Sprachkritik oder gar der Utopie eines gerechten Gemeinwesens, das keine Sündenböcke benötigt?

Wir heute erhoffen von uns selbst zumeist, dass wir im Faschismus als gute Menschen, vielleicht sogar als Widerständler gehandelt hätten. Doch sind solche heroischen Illusionen mehr als fahrlässig. Hic Rhodus, hic salta – hier und heute also wäre erst einmal zu beweisen, aus welchem Holz man geschnitzt ist. Wann haben Sie denn, wann habe ich denn zum letzten Mal von Angesicht zu Angesicht – vielleicht in der Familie, unter Kollegen oder in der Kneipe? – menschenfeindlichen Sprüchen, Sexismus oder gar Neonazismus Einhalt geboten und dabei auch nur etwas Ablehnung riskiert?

Ich kann mich nicht erinnern. Sie?

_______________________________________________

Preiswerte Ausgabe: Martin Walser „Ein springender Brunnen“, Roman. Suhrkamp-Verlag, kartoniert, 416 Seiten, 12 Euro.




Manege frei für die Revierpassagen-Weihnachtsgeschichte(n)

Weih-Baum

Finde den Fehler! Foto: GH

Über uns der Rest vom Mond
oder
Siebenundzwanzig Geschichten ohne Sinn und Verstand


Eine erste Geschichte
Draußen im Schnee kleben drahtige Kerle
knallbunte Plakate mit Panther, Clown und Frau.
Der Zirkus ist da.

Und plötzlich des Nachts
trägt Wind Savannengeruch mir in die Träume –
fernes Löwengebrüll, Elefanten trompeten.

Des Morgens Freikarten, auf der Straße ruft einer:
„Zwangsarbeiter! Stechuhranbeter!
Hier ist er,
der Fehler mit Geschmack!
Probieren Sie das Abenteuer Ich!
Werden Sie Alltagskaiser!“

 

Eine zweite Geschichte
„Weg mit den Auf- und Zu-Gesichtern des Januar.
Gehen Sie mit uns auf die Gratisreise.

Tanzen Sie unter dem Seil
oder legen Sie Ihren Zopf
in den Rachen des Alligators.

Hereinspaziert, Mädchen und Jungen,
heute ist der Eintritt frei!
Erwachsene zahlen die Hälfte.“

 

Eine dritte Geschichte
Gern wär‘ der traurige Panther heut‘ Abend
das Drehorgeläffchen.

Gern stünde er
im Vorzelt des Zirkus, kurbelte Katzenmusik
und sammelte Münzen auf.

Gern sähe er die Kinder rufen:
„Owiesüß, owiesüß!“

Nur zwei, höchstens drei von ihnen
fräße er.

Gern verbeugte er sich
vor den anderen.

 

Eine vierte Geschichte
Vorhang auf!
Fünf wilde Hengste.

Manege frei!
Machen Männchen.

„Allez hopp!“
Auf den Pfiff
(„Allez, allez!“)
einer Frau.

(Zur Belohnung zwei Stück Zucker.)

 

Eine fünfte Geschichte
Schimmelpaare mit blutrotem Federschmuck
tänzeln grazil ihr Pferdeballett.

„Hüha!
Hüüühaaa!“
schreit da ein Kind,
und dann ein zweites, drittes …

 

Eine sechste Geschichte
„Ja, wo gibt’s denn das?

Ein Feuerschlucker
mit Schluckauf!

Der soll hier mal bloß nicht
so große Töne spucken.

Der soll gefälligst mal
die Luft anhalten.

Kommt der
jetzt etwa zu uns?“

 

Eine siebte Geschichte
Dummärrr August traurig.
Dummärrr August weint.

Tränen tropfen
in eine klitzekleine Tuba.

Die klitzekleine Tuba
hat riesengroße Löcher.

Mit der Tuba
geht der Au-Au-August
unter die Leute.
Und bläst hinein.

Manche Menschen
werden nass,
viele
klatschen vor Freude.

 

Eine achte Geschichte
Allein der Herr neben mir
gibt sich unbewegt.

Ist immer zu entgegnen bereit,
dass mit dem Handrücken er
(obwohl noch kaum in Tränen)
sich nur die Augen wische.
Er nicht wünsche
in Winkeln Weibliches.

 

Eine neunte Geschichte
„Wie die da balanciert!
Wie die da balanciert!

Wie die da die Balance hält!
Wie die dabei Bananen schält!

Ich glaub‘,
mir wird gleich schlecht.“

 

 

Eine zehnte Geschichte
Das Orchester verstummt.
Ein Trommelwirbel kommt auf.

Der Seiltänzer kniet.
Die Spannung steigt.

Der vierfache Salto mortale!

Ein Paukenschlag!
Ein Tusch!

Der neue Drummer
hält sich gut.

 


Eine elfte Geschichte

Das wunderschöne Mädchen
im Parkett.

Der Equilibrist –
völlig aus dem Gleichgewicht –
schwankt, stürzt
genau in den Schoß
der Schönen.
Alle atmen auf,
hörbar selbst sie.

 

Eine zwölfte Geschichte
Don Gazpacho Andaluz,
bärbeißiger Magier aus Sevilla (nahe Winsen an der Luhe),
zersägt Jungfrauen bis sie ihm ausgehen.
Als Zugabe lässt er vier Ehemänner verschwinden.

„Hochverehrte Damen aus dem Publikum,
Eintrittsgelder können heute an der Kasse
leider nicht erstattet werden.

Einen schönen Abend noch!

(Seh’n wir uns nachher, gnä‘ Frau?“)

 

Eine dreizehnte Geschichte
„Der da!
Ja, der da!

Der steht doch gar nicht
im Programm.

Ja, gibt’s denn das?
Ja, gibt’s denn den?

Is‘ das ´n Clown?
Oder warum lachen die da so?“

 

Eine vierzehnte Geschichte
In Windeseile
bauen die Requisiteure
einen kreisrunden Käfig.

Aaaahhh:
Die gemischte Raubtiergruppe.
Drei Löwen, vier Tiger,
die dralle Dompteuse.

Ein Löwe brüllt
und springt vor das Gitter.
„Simba, Simba!“, zischt
die Frau mit der Peitsche.

„Sie waren ein wunderbares und
charmantes Publikum“,
faucht der Löwe
hinüber zur Loge.

 

Eine fünfzehnte Geschichte
Die bunten Wagen.
Die bunten Lichter.
Die bunten Kostüme.
Das bunte Treiben.
Die bunten Träume.

Das blaue Zelt.
Der blaue Abend.
Mein blaues Herz.

(Pause.)


Eine sechzehnte Geschichte
Der Kunstschütze tritt auf.

Das Schießen als Kunst.
So geht es,
vielleicht

Zur Not.

Er trifft ja nur ins Herz.
Ins Herz der Herzdame.

(Zur Not
geht es so.)

 

Eine siebzehnte Geschichte
Hoppla,
der große Zastelli
jongliert mit zehn Fischen.

Traurig sieht der Seehund
seiner Mahlzeit
beim Fliegen zu.


Eine achtzehnte Geschichte
Die Schlangenfrau
im knappen Trikot.

Wie die sich
dehnt und biegt und
spreizt.

Plötzlich
erwachen die Väter.
Ein jeder von ihnen heute Abend
der stärkste Mann der Welt.

 

 

Eine neunzehnte Geschichte
Melancholisch geigt auf der Säge
der Weißclown
und singt mit den Augen,
was jede versteht.

Lauthals und ganz im Vertrauen:
Er sei ein Streu-eu-euner,
ohne Haus, ohne Katze.

Auf den Lippen Gesänge,
auf der Haut Maccheroni,
bissfest
und süß.

 

Eine zwanzigste Geschichte
„Wir bitten
um absolute Stille und Konzentration
für unsere Spitzenartisten am Trapez.

Wen’s nicht auf den Stühlen hält,
der darf stehen.

Die fliegenden Menschen
im Lichtkegel dort
zeigen Ihnen in wenigen Minuten
das schwebende Rad.

Weltpremiere,
heute Abend!
Nur für Sie.
Nur für Sie.

Wer’s nicht glauben will,
muss geh´n.“

 

 

Eine einundzwanzigste Geschichte
„Der Messerwerfer da,
der Stümper,
immerzu
trifft er
daneben.

Die Frau da
auf der rotierenden Scheibe,
die lebt ja noch.

Der Messerwerfer da,
früher war der
ein Ass.“

 

Eine zweiundzwanzigste Geschichte
Zum Finale
rollt der Große Wagen
übern nördlichen Zirkushimmel.

Drei Nilpferde
steigen noch zu.

Der Applaus
ist gewaltig.

 

Eine dreiundzwanzigste Geschichte
Seltsame Paare schreiten durch die Manege:
Der gelbe Mandarin und seine Mandarine
gleichauf mit Sultan, Sultanine,
dahinter Kamel und Chamäleon,
ein verliebter Hornist mit Hornisse,
ein dicker Tubist und seine Turbine,
zuletzt – im gläsernen Wasserbecken –
der Hammerhai mit seiner Hammer-Heike.

Die Frau mit den zwei Köpfen
kann es einfach nicht fassen.

 

Eine vierundzwanzigste Geschichte
Hochverehrtes Publikum!
Zum Schluss
entschuldigen wir uns
im Namen der Direktion
für der Ausfall
der sensationellen
Faultier-Darbietung.

Als kleiner Trost
gibt am Ausgang
der Eisbär
jedem Dritten von Ihnen
die Tatze und
sagt „Auf Wiedersehn“!

 

Eine fünfundzwanzigste Geschichte
„Achgottachgott!
Achgottachgott!
Die Dame
ohne Unterleib
ist mit der Kasse
durchgebrannt.

Hat jemand
Arthur, den Zwerg,
geseh´n?“

 

Eine sechsundzwanzigste Geschichte
Draußen ist es
schon dunkel.

In den Kleidern der Geruch
von Sägemehl,
Schweiß und Tier.

In den Ohren
das Brüllen der Affen.
In den Augen Keulen, Ball
und Sterne.

Über uns
der Rest vom Mond.

 

 

Eine „Was auch immer für eine“-Geschichte
Diese Nacht
träumte den Pferden
von der endlosen Steppe.

Den Tigern
erschien die Große Mutter
Antilope.

Die Elefanten
hatten sowieso
nichts vergessen.

Selbst den Pudeln
träumte
von ihren Ahnen,
den Wölfen

Am Morgen
steht der Zirkus
stumm
und verlassen.




Marco Reus gibt’s nicht mehr! Die ganze Wahrheit zur BVB-Krise!

Die Kunst der Verstellung Foto: G. Herholz

Die Kunst der Verstellung
Foto: G. Herholz

Mal Klartext: Dieser „Marco Reus“, den sie da beim Fahren ohne Führerschein erwischt haben, das soll wirklich ER sein, der einzig wahre MARCO REUS vom Ballspielverein Borussia 09 e.V. Dortmund? Niemals!

Der Original-Reus würde das charakterlich überhaupt nicht durchhalten, so etwas Fahrlässiges und andere Menschen Gefährdendes wie jahrelangen Verkehr ohne. Und dieser gewiefte Taktiker soll zudem so blöd gewesen sein, einen gefälschten niederländischen Führerschein vorzuzeigen? Kann gar nicht. Unser aller echter Marco – ehrlich, authentisch, dribbelstark – stellte auf der BVB-Homepage früh klar: „Ich habe den besten Job der Welt. Viele wissen das nicht zu schätzen, lassen sich gehen und schlagen über die Stränge. Das ist nicht mein Ding“.

„Reus“ oder Reus? Transfer und Transplantat
Also, wenn der mehrfach radarfallen-geblitztdingste „Reus“ tatsächlich nicht der modell-athletische Reus sein sollte, den wir kennen, dann ergäbe alles plötzlich tiefen Sinn. Kein Wunder, dass „Reus“, also der Reus-Imitator, nicht nur keinen deutschen Führerschein hatte, er konnte ihn gar nicht haben, selbst wenn er einen gemacht hätte. Daher die vielen Ausreden: Der echte Reus, unser jugendlicher Stürmer und Dränger, dieser Reus ist seit Monaten längst bei einem anderen Verein unter Vertrag. So. Und jetzt komm‘ ich: Der ganze Transfer konnte nur gelingen, weil Reus sein Gesicht verlor, indem er sich sein Gesicht operieren ließ! Verstehen Sie? Nein? O.k., ist auch ganz schön abgezockt.

Gesichtskorrekturen
Also, ich frage Sie: Kennt sich der BVB etwa nicht aus mit OPs am Kopf? Na? Jetzt dämmert’s Ihnen, was? Ja! Genau! Jürgen Klopps Haartransplantation! Kloppo damals zur Bild: „ (…) zunächst schwoll mein Gesicht immer mehr an. Sechs Tage lang! Ich dachte: Was, wenn das nicht mehr weggeht?!“

Aber J.K. hat Glück gehabt. Zack, ein paar Wochen untergetaucht, und dann wieder auf, als neuer Mensch, jünger, irgendwie noch an Klopp erinnernd, aber unterm Strich doch ganz anders – vor allem in jüngster Zeit. So wurde Klopp zum Modell für Reus.

Der Mann, den sie Reus nannten
Von wegen! Reus und monatelanges Verletzungspech! Außenbandriss, Knochenödem… Dass ich nicht lache! Der Mann hat für Dortmund überhaupt nicht mehr gespielt, weil er schlicht nicht mehr in Dortmund war. Plötzlich wird völlig verständlich, warum der BVB dermaßen orientierungslos im Abstiegskampf herumstolpert. Nach dem Wechsel der BVBler Götze und Lewandowski zu Bayern läuft eben auch Reus längst nicht mehr für den BVB auf, sondern nur noch sein Körper-Double.

Ich jedenfalls bin ziemlich sicher, dass auch Reus heute schon bei … heraus damit … den Bayern spielt! Was wissen wir eigentlich genau über „Sinan Kurt“, der als 18-jähriger angeblich von Mönchengladbach (!) zu Bayern gewechselt ist? Nichts, wir wissen fast nichts. Gehen Sie mal unter Google-Bilder zu den Fotos von „Kurt“ und Reus, fällt Ihnen da nicht auch etwas auf? Diese frappierende Ähnlichkeit?

Spielerschutzprogramm
Die Wahrheit liegt mal wieder auf dem Platz herum: Marco Reus, und das ist so sicher wie das Amen in der Autobahn-Kirche, wird als „Sinan Kurt“ mit neuer Identität bei Bayern München Schritt für Schritt an das Leben als Rekordmeister gewöhnt. Jünger wirkt er, das ist schön, aber extrem nachgeschult werden muss er schon noch, gecoacht, therapiert, damit er nicht – wie Klopp – durch eine Transplantation traumatisiert unvermittelt in den Misserfolg schlittert.

Also: Wenn SIE diese Zeichen nicht lesen können, ich kann’s.

Bleibt allein die Frage offen, wer das Körper-Double ist, das da seit einiger Zeit als Spielerdarsteller „Marco Reus“ über den Platz und die Autobahnen simuliert, und der (oder für den man) jetzt die 540.000 € Bußgeld zahlt. Wie viel Spielgeld erhielt Uli Hoeneß vom Adidas-Chef? 20 Millionen? Ich frag‘ ja bloß – und wäre Ihnen dankbar, wenn auch Sie hier nicht weiter recherchieren würden. Da kämen Dinge ans Tageslicht, die will wirklich niemand wissen.

P.S.
Unter uns:  Vertauschen Sie einmal die Buchstaben des Namens MARCO REUS. MARCOREUS = EURO R CMAS! Klar? EURO(S) ARE CHRISTMAS! Capito?
GELD, DAS IST WIE WEIHNACHTEN.
Da kann ich mich nur anschließen. Für Geld würde auch ich alles tun.




Aus der hiesigen Hotline-Hölle: Unitymedia

Buddha – zwei Finger am Tastentelefon verloren?
Foto: Gerd Herholz

Nach sechs Jahren ist unser TV-Receiver ins Wackelkoma gefallen. Schluss, aus, Elektroschott. Asocial freezing: Andauernd fror das Bild ein. Also resetten (vulgo: Stecker raus – Stecker rein), damit das Dingsbums zumindest für eine Weile bewegte Bilder flimmerte.

Nach Dutzenden Versuchen, Kontakt aufzunehmen, meinte vor zwei Wochen unser „Was kann ich für Sie tun?“- Kundenberater, tja, da müssten wir wohl den Receiver ersetzen, Kosten ca. 120 Euro. Hurra, der Kundendienst sei tot, es lebe der dienende Kunde. (Nein, das hat er natürlich nicht gesagt.)
Der neue Receiver – so der versierte Callcenter-Agent – würde am Dienstag, spätestens am Mittwoch eintreffen. 14 Tage sind vergangen – und wo sind sie, all die abgehetzten, unterbezahlten Paketboten, von denen man jetzt überall hört? Nicht einer klingelte uns raus aus unserer Lethargie. Mittlerweile schauen wir am liebsten Werbepausen, da ist es eigentlich schnuppe, wann das Bild einfriert. Am besten passt’s natürlich, wenn Tiefkühlspinat beworben wird.

Gestern habe ich endlich die Zähne zusammengebissen, um erneut mit einem Kundenverräter bei Unitymedia zu sprechen. So naiv hätte ich mich besser bei SETI beworben. Die lauschen seit Jahrzehnten aus amerikanischer Wüste auf Signale aus dem All, um in Teleskopschüsseln neben kosmischem Grundrauschen so etwas wie Antwort außerirdischer Intelligenz  herauszufiltern. Ich Kleinmütiger habe dagegen nur 15 Minuten in der Warteschleife meines Premium-Anbieters durchgehalten, dann noch einmal fünf, bevor ich entnervt auflegte. Seitdem verwest meine Frau beim Versuch, einmal bei der Hotline des „alternativen“ lokalen Kundendienstes durchzukommen.

Übrigens: Immer, wenn ich mich zu dem für mich zuständigen Heißdrahtler durchtastelte, verblüffte eine Service-Stimme mit dem Satz: „Bitte beachten Sie, dass Gespräche zu Qualitätszwecken mitgehört werden können.“ Gespräche, welche Gespräche? Mit mir spricht doch überhaupt keiner. Nie hätte ich gedacht, dass ich einmal froh darüber wäre, wenn geschulte Profi-Abhörer dieses mich zermürbende renitente Schweigen, dieses stumme Stalking, aufmerksam mithören und zu Qualitätszwecken auswerten würden. Gut, dass wir auch in Deutschland dafür noch Spezialisten haben.

Und bitte – fragen Sie mich jetzt bloß nicht, wie ich’s in der Warteschleife ausgehalten habe bei elektronischer – sagen wir mal – Musik und dem Ohr- & Oralverkehr mit der verlockenden Stimme der automatischen Hinhalte-Tusse. Sonst müsste ich Ihnen nämlich in den Hörer hauchen:
Ich bin sofort für Sie da – Der nächste freie Mitarbeiter ist bereits für Sie reserviert – In wenigen Augenblicken bin ich für Sie da – Einen kurzen Moment noch – Ich bin sofort für Sie da – Der nächste freie Mitarbeiter ist bereits für Sie reserviert – In wenigen Augenblicken bin ich für Sie da – Einen kurzen Moment noch – Ich bin sofort für Sie da – Der nächste freie Mitarbeiter …

So. Und jetzt gehe ich Standbild schauen. Meditiere vorm TV wie einst Siddharta unterm Bodhi-Baum und hoffe auf plötzliches Erwachen – vor allem in jenem Callcenter, das die in die reine Leere  führende Unitymedia-Hotline betreut. Wahrscheinlich liegt es bei Kushinagar, Indien, unweit der Stelle, wo selbst Buddha sterben musste, immerhin aber als Erleuchteter von Warteschleifen – also vom Kreislauf des Leidens – seitdem verschont geblieben.




Ringlokschuppen Mülheim: Pleite, Party oder Perspektive für Kunst und Kultur?

Foto(1)

Ringlokschuppen – aus Erfahrung besser. Foto: Gerd Herholz

Die Lokalpresse in Mülheim hatte apodiktisch getitelt: „‘Ringlokschuppen‘ vor dem Aus“. Doch ob das Zentrum im MüGa-Park zum 31. Dezember 2014 tatsächlich seine Arbeit beendet oder ihm – nach personell-finanziellem Umbau – ein Neustart gelingen könnte, scheint zum Glück wieder offen. Und das ist gut so.

Für den Nikolaussamstag lud deshalb Holger Bergmann, als Künstlerischer Leiter zurückgetreten, zum Gespräch ein: „morgen um 19h im ringlokschuppen für alle, die mit uns reden möchten über das was war – was ist und was sein könnte…“

„Dem Volke zum Wohlgefallen“
Nicht ein Parkplatz war abends zu finden – dies aber war nicht regem Interesse an der Ringlok-Zukunft geschuldet. Nebenan am Schloss Broich feierte man die „Schloss Weihnacht“. „In mittelalterlichem Ambiente erleben die Besucher (…) besinnliche Stunden mit Mittelaltermarkt und dem einzigartigen Krippenspiel.“ „Für weiteren Zeitvertreib und ‚dem Volke zum Wohlgefallen‘ sorgen die Gaukler …“

Nicht ganz so besinnlich, sondern besonnen-sachlich ging es beim öffentlichen Gespräch mit Holger Bergmann zu – ihm zur Seite Matthias Frense, Geschäftsführender Dramaturg und wohl bald neuer Leiter des Hauses. Etwa 50 Interessierte waren gekommen, um zu hören, was die beiden (parallel zum Tanzstück „Solidarität“ von Gudrun Lange) zu sagen hatten.

Um den heißen Brei wurde nicht lang herumgeredet – und einiges hatte die WAZ zuvor aktuell berichtet. Ja, trotz kaufmännischer Geschäftsführung und Controlling seien handwerkliche Fehler gemacht worden. Nach Großprojekten wie dem Stadtjubiläum 2008 und der Europäischen Kulturhauptstadt Ruhr.2010 sei der Personalstamm nicht rechtzeitig reduziert worden. Zudem wären Entlassungen auch arbeitsrechtlich nicht ganz einfach zu machen gewesen. Tatsächlich sei es wohl so, dass die Schulden von rund 400.000 Euro (davon allein ca. 130.000 Euro Mietschulden bei der Stadt Mülheim) nicht rechtzeitig in dieser Größenordnung zu sehen gewesen wären. Der kaufmännische Geschäftsführer Peter Krause habe die Verantwortung für diese handwerklichen Fehler übernommen (und einem Auflösungsvertrag zugestimmt – so die WAZ.)

Von Peter Krause selbst konnte man in der WAZ vom 6.12. lesen: „‘Die finanzielle Situation war schon immer prekär‘, erklärte Krause gestern. Häuser wie der Ringlokschuppen, der schon seit Jahren kein soziokulturelles Zentrum, sondern ein Produktionshaus ist, seien chronisch unterfinanziert. Man erhalte zwar eine Förderung der Stadt (netto, abzüglich Miete für die MST 500.000 Euro) und vom Land, das reiche aber nicht, um die Fixkosten zu decken.“

Kulturschirmchen oder im Regen stehen?
Natürlich wunderten sich die Gäste am Nikolausabend über diese Bescherung, und wollten wissen, wann, wie, wo genau diese Schulden sich angehäuft hätten. Da müsse Transparenz her, auch, um ähnliche Fehler in Zukunft zu vermeiden. Viel Verständnis gab es dennoch für die prekäre Lage von Produktionsorten wie dem Ringlokschuppen. Und sicher wäre es nicht die erste Kulturinstitution, deren strukturelles Defizit durch Retter aus Stadt, Region, Land aufgefangen werden könnte, wenn es denn nur politisch gewollt wäre. Wo es für Bankenschirme in Milliardenhöhe reiche, da werde doch ein solches Defizit abzufedern sein, durch zinsgünstige Kredite, Zahlungsaufschübe, Ratenzahlung, Benefiz, Teil-Schuldenerlass und Personalabbau sowieso.

So viel wurde aber auch deutlich: Vor einem Neuanfang steht nicht nur Ursachenforschung, sondern viele Gespräche sind nötig – vielleicht im Rahmen eines Planinsolvenzverfahrens. Besser wäre jedoch, ein solches Verfahren könnte abgewendet werden, weil andere Lösungen gefunden würden.

Kurzschlüsse und „Licht aus“
In Mülheim aber wollen viele die Möglichkeiten eines Neustarts gar nicht erst prüfen. Da wird in Internet-Kommentaren nach dem Staatsanwalt gerufen, da wird die Rückkehr des Ringlokschuppens zur Event-Zone gefordert, wird behauptet, die exzellente Kunst- und Kulturarbeit des Zentrums sei ein Flop gewesen, da sei gekungelt und geprasst worden, Massenkompatibilität müsse jetzt her, überhaupt der ganze Laden solle Partylocation, Studentenwohnheim oder gleich durch einen Investor zu Lofts zerstückelt und verhökert werden. Die üblichen Besserwisser-Sprüche also. Das antikünstlerische und antiintellektuelle Ressentiment lebt sich aus und fühlt sich im Recht.

Perspektiven
Die Frage ist aber, ob die Diskussion um die Zukunft des Ringlokschuppens sich in populistischen Posen bereits erschöpft hat oder Perspektiven noch halbwegs sorgfältig durchdacht werden können. Und da gäbe es einige, wobei die Abwicklung des Hauses wohl die gedankenloseste Alternative wäre. Zwar „sparte“ die Stadt damit zukünftig städtischen Zuschuss, verzichtete aber auch auf Mieteinnahmen durchs Ringlok in sehr respektabler Höhe. Auch die aufgelaufenen Mietaußenstände könnten für den Gläubiger Stadt weitgehend verloren sein. Und nicht zu vergessen, selbst ein geschlossenes Haus verursacht erhebliche Kosten: Instandhaltung, Heizung, Strom, Wachdienst, Versicherungen, Ausbesserung der Schäden durch Leerstand und Vandalismus.

Hinzu käme bei einer Schließung das blamable Eingeständnis, dass in Mülheim als Stadt am Fluss vieles nicht mehr im Fluss ist. Als Theaterstadt verlöre Mülheim an Bedeutung, die renommierten, auch ins Land ausstrahlenden Produktionen des Ringlok fielen aus, das reichhaltige Kulturangebot in den Sparten Musik, Tanz, Kabarett, Literatur , Cross-Over ginge verloren, es gäbe einen Szene- und Jugendtreff weniger in der Stadt, eine zunehmend verödende Mitte.

Verwandlung – aber bitte nicht nur im Ringlokschuppen
Der Ringlokschuppen wird sich hoffentlich neu erfinden. Aber mit welchem Konzept genau? Der Ringlokschuppen ‚nur‘ noch als profilierter Theater-Produktionsort (neben dem Theater an der Ruhr und den Stücke-Tagen)? Warum nicht. Dennoch: Mülheim braucht das Haus auch als Ort gesellschaftlichen Lebens, als Ort geistigen Austausches, als Experimentierfeld für Kunst und Kultur insgesamt.

Es wird Zeit, dass die Kulturpolitiker in Mülheim hier ihrer eigenen Verantwortung gerecht werden und die in Mülheim – wie auch anderswo – längst überfällige kulturpolitische Diskussion über einen Kulturentwicklungsplan in ihrer Stadt zumindest organisierten – wenn sie denn schon nicht in der Lage sind, sie selbst zu führen. Und wer, wenn nicht die Kommunalpolitik, weiß, wie man Schulden macht und gelassen weiterlebt?

Unter dem Druck des Ringlok-Defizites und der Rahmenbedingungen einer überschuldeten Kommune darf Politik nicht die Gelegenheit beim Schopfe fassen, bloß noch abzuwickeln und Zuschüsse zu kürzen. Dies bedeutet den weiteren Niedergang einer Kulturpolitik im Ruhrgebiet, die übers Defizit im Ringlok nur ihre eigenes Politik-Defizit überspielt.

Dass mittlerweile vor und hinter den Kulissen um die Rettung des Ringlokschuppens gekämpft wird, machten Äußerungen Matthias Frenses gegenüber der WAZ deutlich. Man hofft auf „Hilfen des Landes oder einer Stiftung, um das Überleben zu sichern. Die Stadt, so viel steht fest, kann finanziell nicht helfen, zumindest nicht in der geforderten Größenordnung. Das hat die Bezirksregierung auf Anfrage des Kämmerers schon klar gemacht…“

Lehrstück Ringlokschuppen
Der Ringlokschuppen hat mit seine urbanen Eingreifprojekten, mit seinen Interventionen ins und Impulsen fürs städtische Leben Maßstäbe gesetzt. Wie sehr das national und international beeindruckt, kann man in den Solidaritätsbekundungen nachlesen, die der Ringlokschuppen zurzeit erhält. Nun ist er also selbst als urbanes Projekt in den Fokus geraten und aus dem Spiel um die Zukunft der Stadt wird bitterer Ernst. In den nächsten Wochen wird sich zeigen, ob der Ringlokschuppen als Kulturzentrum und Produktionsort der Künste verschwindet oder sich eine neue Perspektive erstreitet – und diese absichert. Zeitdruck und Geldmangel dürfen dabei nicht alles bestimmend sein. Am Umgang mit dem Ringlokschuppen in Mülheim selbst, aber auch in der Region, im Land wird sich zeigen, ob man sich längs der Ruhr in Zukunft die Gestaltung von kulturellen und künstlerischen Prozessen immer öfter erspart, oder ob man gemeinsam daran arbeitet, dass aus der einstigen Europäischen Kulturhauptstadt Ruhr.2010 nicht die kommende Kulturnekropole Ruhr.2020 wird. Eine, die jetzt schon zu viel hat: zu viel Brot und Spiele, Feuerwerk und Stelzenläufer, zu viel Mittelalter und Krippenspiel. Vielleicht werden die Menschen hier bald nur noch ‚bespielt‘ und keiner weiß mehr, wie das geht, selbst spielen, selbst denken.




Wärter im Museum Folkwang oder: Höchste Zeit für eine Frühwarnkultur im Kunstbetrieb

Ausgerechnet in Duisburg, der Stadt nahtlosen Mannesmann-Rohrs, sagte Oberbürgermeister Link im Sommer überraschend das Vorhaben einer begehbaren Röhrenskulptur ab. „Totlast“ hätte das sinistre Werk Gregor Schneiders heißen sollen. Dem OB (link-für-duisburg.de) schwante aber, Duisburg sei nach der Loveparade-Katastrophe „noch nicht reif für ein Kunstwerk, dem Verwirrungs- und Paniksituationen immanent sind und welches mit dem Moment der Orientierungslosigkeit spielt“. Verstörend-anakoluthe Sätze eines Kunstliebhabers und diplomierten Verwaltungswirts, der gern offen über das spricht, worüber er noch nachdenkt.

Blick aufs Musum Folkwang (Foto: Gerd Herholz)

Blick aufs Musum Folkwang (Foto: Gerd Herholz)

Aber vielleicht hat er irgendwie sogar Recht, der Link. Man sollte überhaupt viel mehr Kunst verbieten, zuallererst eben solche, die noch gar nicht zu sehen ist. Das wäre am einfachsten (außer in Duisburg) und man hätte oft das Schlimmste vermieden, bevor es einträte. Nebenan in Essen hinkt man da allerdings etwas hinterher. In der Kulturhauptstadt Ruhr.2010 existiert leider immer noch real existierende Kunst. Umso wichtiger, dass das Folkwang-Museum jetzt seine Besucher endlich davor warnt, sich solche Kunst näher anzuschauen. Obwohl genau dieses Museum selbst sie ausstellt, im Rahmen seiner Schau „Monet, Gauguin, van Gogh – Inspiration Japan“. (Übrigens soll man „van Choch“ sagen und nicht „van Goch“. Jedenfalls spricht einem das Julia Roberts auf dem Audioguide so vor. Wie auch immer – ich könnte sowieso stundenlang nichts als Julias Hear-Alike hören, ohne mir auch nur ein einziges irritierendes Bild im Folkwang genauer anzusehen. Ich glaube, Sören Link wäre das recht.)

Ganz am Ende der „Inspirations“-Ausstellung findet sich ein kleines Kabinett mit dem schönen Titel: „Die Kunst ist niemals keusch“ – Picasso und der erotische Japonisme. An beiden Zugängen zum Kabinett warnt dann jedoch ein zweisprachiges Hinweisschild: „Einige Kunstwerke können aufgrund ihres erotischen Charakters irritierend wirken. The erotic nature of some works on display here may cause offence.“

Ich jedoch weiß wirklich nicht, was mich mehr offenzt. a) Die Tatsache, dass man im Ernst argwöhnt, heute eher harmlos wirkende Erotika könnten etwa jene über 12-Jährigen kopfscheu machen, die längst auf YouPorn surfen und ihre Nacktbilder online stellen. Oder b) die Gouvernanten-Haltung, die aufscheint hinter der Annahme musealer Sittenwächter, man müsse die Betrachter von Picasso-Radierungen und Japan-Farbholzschnitten schützen vor den mutmaßlichen Nebenwirkungen von Kunst. Mal ehrlich: Hält man den durchschnittlichen Besucher des Museums für psychisch gefährdet oder bloß für doof? IQ gerade über Zimmertemperatur?

Wahrscheinlich. Denn ich Idiot wähnte bis dato, Kunst solle genau dies auch: irritieren, subversiv sein, avantgardistisch, widerständig! In Essen aber taucht man die erotischen Kleinformate ins (durch eine Extra-Raumdecke) leicht abgedunkelte Licht von Raum 12 und hofft wohl, dass keiner sie dort findet. Ist aber nicht so. Gleich zwei gestandene Damen im Ulla-Popken-Übergrößen-Look waren gemeinsam mit mir im halbverschatteten Dark Room des Folkwang. Angesichts altjapanischer Ferkelei von Hokusai, Eishi oder Utamaro spöttelten sie bloß: „Die wussten damals auch schon, wie’s geht, nä?“ Und dann schlenderten sie vollkommen unirritiert weiter, einfach so. Ein Benehmen haben die Leute! Und erst die beiden amüsierten jüngeren Frauen, die um die Ecke bogen, als ich das Kabinettchen gerade verließ: „Hier trifft man die meisten Männer!“ Ich (auflachend): „Ne, ne, zählen Sie mal durch.“ Die Frauen (lachend): „Sorry.“

Warum auch künstlich aufregen. Auf den japanischen Farbholzschnitten sieht man Paare (+ Sonder-Konkubine) rund ums Vögeln – und es scheint ihnen halbwegs Spaß zu machen. Was nun aber mich etwas wundert. Denn die meisten stecken noch in voller Kimono-Montur – nackt nur die wuchtigen Geschlechtslandschaften – und so mancher Beischläfer scheint auch arg verrenkt. Vor allem aber sieht man für die verhältnismäßig kleinen – oder muss man politically correct sagen: vertikal herausgeforderten? – japanischen Menschen sehr prächtige Penisse und pralle Vaginen. Die Vaginen übrigens behaart – das allerdings könnte einen heute in der Tat sehr wundern, so kennt‘s kaum einer der Jüngeren mehr. Fazit: All das im Kleinen großartig, nicht aufdringlich, lebendig halt, voller Saft, Kraft, Farbe und gediegener Komposition.

Die Museumsleitung besteht aber nun einmal öffentlich darauf – hoffentlich nicht bedingt durch eigene Traumata –, präventiv dafür Sorge zu tragen, dass der labile Besucher keinerlei sexuellen Schaden nehme. Deshalb die beiden deutschenglischen Mini-Menetekel an der Wand, die allerdings – fahrlässig genug – auf anderssprachige Besucher keinerlei Rücksicht nehmen.

Und auch sonst werden Folkwangs nicht einmal ihrer eigenen Logik gerecht. Wenn sie schon Beipackzettel wider fahrlässigen Bildkonsum an die Wand pappen, dann bitte radikaler. An der Außenfront des Kunsttempels fehlen deutliche Mahnungen wie „Schauen fügt Ihnen und den Menschen in Ihrer Umgebung erheblichen Schaden zu“, oder „Erhöhter Pigmentgenuss in der Schwangerschaft gefährdet Ihr Kind!“ und ergänzend gleich: „Hier finden Sie Hilfe, wenn Sie Museumsbesuche aufgeben wollen. Tel.: …“

Außerdem müsste man jeweils Handicap-bezogene Banderolen direkt auf den Werken anbringen. „Diese Giacometti-Skulptur kann die Gefühle von Magersüchtigen verletzen.“ Auf einem Botero oder bei Stillleben mit Früchtetellern müsste man natürlich ganz anders argumentieren. Egon Schieles „Schwarzhaariges Mädchen mit hochgeschlagenem Rock“ könnte man an sehr geeigneter Stelle so überkleben: „Austherapierte! Überwunden geglaubte Neigungen können durch Anschauen dieses Werkes erneut auftreten“.

Ach, es gäbe noch so viel zu verkleben. Denken Sie nur an all jene, die heute überall bereitstehen, sich jederzeit ihre religiösen Gefühle verletzen  zu lassen. Ich sage nur: Salafisten! Die muss man auf jeden Fall vor Kunst schützen. Etwa vor Max Ernsts „Die Jungfrau züchtigt den Jesusknaben vor drei Zeugen“. Wie wär’s mit folgendem Hinweis: „Die prügelnde Madonna könnte aufgrund ihres gewalttätigen Charakters irritierend wirken. Maria/Maryam steht Ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach im Paradies als von höherer Stelle zertifizierte Jungfrau dennoch weiterhin zur Verfügung.“

Nicht nur im Folkwang-Museum also gäbe es alle Hände voll zu tun für eine politisch korrekte Frühwarnkultur im Kunstbetrieb. Ich persönlich träume darüber hinaus seit einigen Nächten von einer Art cleanem Wohlfühl-Museum – analog zu den staubfreien Produktionsstätten der Mikrochip-Hersteller. Politisch korrekte Kunst im sterilen Reinraum mit milbenfreiem Interieur, völlig irritations- und konfliktfrei. VolxWangAnWang-Museum. Das wär’s. Sogar für Allergiker.




Alte Schlachten – junge Sprache: Raoul Schrotts grandiose Übertragung der „Ilias“ des Homer

raoul schrott by u.weier

Raoul Schrott
(Foto: U. Weier)

Deutsche litten unter Geständniszwang, heißt es, da mag man nicht nachstehen.

Ja, ich bekenne, ich habe als Abiturient eines neusprachlichen Duisburger Gymnasiums die „Ilias“ des Homer nie kennengelernt, habe als Schüler des Huckinger Reinhard-und-Max-Mannesmann-Gymnasiums in solchen Dingen in die Röhre schauen müssen, obgleich der Lateinlehrer vorrömische Ausblicke sicher hätte eröffnen können. Auch später im Studium lockte uns kein Professor in ureuropäisch-asiatische Gefilde (dazu unten mehr). Und noch viel später bin ich zwar als wilder Leser in die Literatur der Länder und Zeiten aufgebrochen, aber auch dabei habe ich die „Ilias“ weiträumig umgangen.

Und mich immer ein bisschen geschämt dafür, meine Unkenntnis völlig zu Recht als Mangel empfunden. Also kam mir die Gelegenheit gerade recht, vor einiger Zeit Raoul Schrott mit seiner Neubearbeitung der „Ilias“ zu einer Lesung nach Duisburg-Ruhrort einzuladen und im Vorfeld dieses Abends seine Übertragung des Homerschen Epos auch lesen zu müssen, besser: zu dürfen. Die in den Stoff, die Form und die zypriotischen Vor-Geschichten einführenden Kommentare Schrotts hätten mich fast erneut abgeschreckt, doch endlich begannen die 24 Helden-Gesänge selbst und ich war wie gebannt, habe in ein paar Tagen die ganzen gut 500 Seiten plus vieler Anmerkungen verschlungen, habe mit Grausen vom Hand-Werk des Tötens gelesen, habe über den zornig-trotzigen Achill und seine heroischen oder göttlichen Supporter und Widersacher auch manchmal gelacht: Alphamännchen auf dem Affenfelsen.

Erstaunt haben mich die Göttinnen und Götter, hat mich der Macho Zeus, der hinter den Kulissen aber längst durch ein Göttinnenkollektiv entmachtet scheint. Überhaupt die Göttinnen: Anders als die Frauen der Griechen und Troianer sind sie mehr als Heimchen, Schönheiten oder Kriegsbeute – diese Göttinnen, das sind selbstbewusste Frauen, die an Zeussens Patriarchat sägen, Vorbilder für Emanzipationsstreben einige Jahrhunderte vor Christi Geburt.

Erzählt wird im Kern von vier ausgewählten Tagen (und Nächten) des zehnjährigen Krieges und ihrem zeitlichen Umfeld. Mit diesem Kern verknüpft Homer eine Unzahl von zeitlich-räumlichen Aus- und Einblicken in Genealogie der Helden und Götter, in ihr Leben und ihren Alltag, sogar in den Alltag des Olymps.

Mit gründlicher Recherche, mit Respekt und Komik, mit Wortwitz, Spott und Menschenfreundlichkeit, mit Geschichts- und Menschenkenntnis hat Raoul Schrott die „Ilias“ des Homer neu übertragen – und damit wieder sichtbar gemacht, was für ein eminent politischer und gegenwärtiger Text die „Ilias“ ist – auch darüber, wie sich persönliche Motive und taktisch-strategische Absichten in Kriegen auf barbarische Weise verbinden.

Homers spannende Story erzählt vom Groll des Achilleús, dem sein Feldherr Agamemnon die schöne Briseis als Kriegsbeute streitig macht, und von den Abgründen der Schlachten um Troia. Sie schildert Blut, Schweiß und Tränen des Krieges zwischen Griechen und Troianern, einst ausgelöst von Paris’ Raub der Helena. Und dieser Kriegsausschnitt wird beobachtet  und kommentiert von den allzumenschlichen Göttern im Olymp, die es sich nie nehmen lassen, mit den Helden auch mal Marionettentheater zu spielen, Partei zu ergreifen oder selbst ordentlich dreinzuschlagen.

Raoul Schrotts großartige Fassung der „Ilias“ eröffnet so einen äußerst lebendigen Zugang zum Troia-Stoff, den viele nur verkürzt über den Film „Troja“ (mit Brad Pitt, Diane Kruger) kennen. Schrott befreit die 24 Gesänge der „Ilias“ in deutscher Sprache von jeder Patina und bringt darunter jenes Epos wieder zum Glänzen, dessen Lebendigkeit den Ruhm begründete. Dies in einem sinnlichen Deutsch, das ebenso direkt wie poetisch, ebenso musikalisch wie anschaulich spricht, das einem manchmal wie ein kunstvoller Rap erscheint, dann wie atemloses Erzählen oder wie Klagegesang, Trauerrede oder Zornesgeschrei – reich variiert in Vokabular, Rhythmen und Tonlagen.

Und auch dies sei noch erwähnt: Man kann Raoul Schrott getrost als einen großen Reisenden beschreiben. Er reist durch die Welt und die Zeit, also auch durch die Literatur, deren äußere und inneren Welten. So hat er denn neben der Arbeit an der Neuübertragung der „Ilias“ auch lange zur (Archäologie-)Geschichte Troias recherchiert. Seine nicht unumstrittenen Ergebnisse dazu präsentierte er in seinem Buch „Homers Heimat. Der Kampf um Troia und seine realen Hintergründe“. Dabei führt er uns vor das – seiner Meinung nach – eigentliche Modell für Troia: die Bergfestung von Karatepe (heute Türkei), einst Blüte der kilikischen Hochkultur. Von dort nämlich sollen sie stammen: die Landschaften und sagenhaften Hintergründe, die Homer in den Troia-Stoff projizierte. Mehr dazu im Gespräch Denis Schecks mit Raoul Schrott unter: http://www.youtube.com/watch?v=T6HQ8idx13Q

Homer: „Ilias“. Übertragen von Raoul Schrott. Hanser Verlag, München 2008. 692 Seiten, 34,90 Euro.

Raoul Schrott: „Homers Heimat. Der Kampf um Troia und seine realen Hintergründe“. Hanser Verlag, München 2008. 432 Seiten, 24,90 Euro.

 




Für ein Literaturhaus Ruhr – Dem Ruhrgebiet fehlt ein Mittelpunkt literarischen Lebens

Literaturhaus im Schnee oder doch nur Kurpark in Bad Oeynhausen

Literaturhaus-Fata Morgana oder doch nur Kurpark in Bad Oeynhausen?

„Vielleicht ist es das, was mich an Oberhausen herausfordert: Daß man die Stellen kennen muß. Die Plätze, an denen aus nichts ‚etwas‘ wird. Daß es Orte gibt, direkt in Oberhausen, die sind genau wie Frankreich, Berlin oder Neapel, ich schaue mich nur um und kann atmen, es gibt Stellen in Oberhausen, an denen kann man tatsächlich atmen.“
Martin Skoda in seiner Erzählung „Oberhausen“ (in: Dokumentation zum Oberhausener Literaturpreis 1999, Verlag Karl Maria Laufen, Oberhausen 1999)

Abseits aller „Masterpläne“:
Das Europäische Literaturhaus/Literaturnetz Ruhr (ELR)

Neben Verlagsförderung, Reisestipendien und Schreibaufträgen für Schriftstellerinnen und Schriftsteller werbe ich vom Literaturbüro Ruhr e.V. aus (seit fast zwei Jahrzehnten!) beharrlich für die Gründung eines regional verankerten Europäischen Literaturhauses Ruhr (ELR) mit offenem Konzept. Dieses ELR könnte auch der Mittelpunkt eines möglichen Europäischen Literaturnetzes Ruhr sein, das literarische Initiativen aus der Region aufnähme und in sie hineinwirkte, sie förderte und weiterentwickelte.

Wäre eine solche Gründung kulturpolitisch gewollt, sie ließe sich zügig diskutieren und umsetzen. Ein EUROPÄISCHES LITERATURHAUS RUHR könnte bescheiden (aber bitte nicht zu bescheiden) starten, um dann nach und nach zu wachsen. Im Verhältnis etwa zu noch mehr Philharmonien und Kreativwirtschafts-Zentren benötigte ein ELR erheblich weniger Zuschüsse, wäre preiswerter und eine echte (überfällige) Bereicherung des kulturellen Lebens an der Ruhr.

Das Ruhrgebiet hat hier enormen Nachholbedarf, ist zurzeit schlicht abgekoppelt von vielen Strukturen literarischen Lebens im deutschsprachigen Raum. Literaturhäuser finden sich zwar nicht, wohin man schaut, aber wenn man erst einmal genauer schaut, dann sichtet man respektable Häuser z.B. in Berlin, Hamburg, München, Frankfurt, Stuttgart, Kiel, Köln, Leipzig, Dresden, Wien, Graz, Innsbruck, Klagenfurt, Salzburg, Zürich und Basel. Insgesamt gibt es weit über 20 Einrichtungen, die Literaturhäuser sind – oder sich manchmal auch nur so nennen. Gemeinsam bilden elf von ihnen das ‚Netzwerk Literaturhäuser‘, www.literaturhaus.net/‎.

Daneben gedeihen zudem verwandte Einrichtungen: in Berlin etwa die LiteraturWERKstatt, das Literarische Colloquium (LCB) und das Literaturforum im Brecht-Haus, andernorts auch Künstlerhöfe wie in Schöppingen oder Edenkoben, dazu die Akademie Schloss Solitude …

Allein in Berlin also leistet man sich nicht nur mehrere Häuser für Literatur (mit unterschiedlichen Konzepten und Programmen), Berlin nutzt sie auch, um seine metropole Vorrangstellung im Literaturbetrieb auszubauen. Man sieht in prominenten Orten der Literatur die Facetten eines lebendigen ‚Kulturbetriebs‘, der auch vom Literaturmarkt lebt und ihn vice versa bereichert. Über 300 Verlage beherbergt Berlin und ist mit Milliarden-Umsatz die größte Stadt des Bucheinzelhandels. Anderswo weiß man also sehr gut um die Verbindung von geistigem Leben, lebendigen Orten und Geschäft.

Schaut man dagegen auf der Suche nach einem Literaturhaus im deutschsprachigen Raum ins fünf Millionen Einwohner starke Ruhrgebiet, dann heißt es: Fehlanzeige, kein solch ausstrahlender singulärer Ort, nirgends.

Ein Ort für die Lust am Text

Dabei könnte ein Europäisches Literaturhaus Ruhr als Knoten- und Kristallisationspunkt fürs literarisch-künstlerische Leben im Revier viel bewegen, sogar – aber eben nicht zuallererst –  unter kulturwirtschaftlichen Aspekten. Es böte endlich einen sichtbaren und begehbaren Ort für Literatur. Es könnte das Forum sein für die Begegnung mit Literatur in all ihren Schattierungen, ein Ort „für die Lust am Text“ (Roland Barthes), ein Ort der Literaturvermittlung, der Konzentration, des spielerischen Umgangs wie des Widerspruchs, ein Ort für Leser, Schriftsteller, Verleger und Kritiker im Gespräch und Ideenaustausch, ein Ort der Vorstellung vergessener und zu entdeckender Schriftsteller, ein Haus der Zusammenarbeit von Literaten mit anderen Künsten und Medien. Regional verwurzelt und weltoffen, wäre ein Europäisches Literaturhaus Ruhr (auch als Mittelpunkt eines Literaturnetzes Ruhr) ein Tor zur Welt der Sprache und Dichtung.

Tagtraum

Man stelle sich vor: In einem Europäischen Literaturhaus Ruhr träfen sich gute Autorinnen und Autoren aus aller Welt, also auch aus NRW und der Region. Gespräche über alles, was mit Literatur zu tun hätte, würden dort geführt, man stritte, äße und tränke, kaufte sich Bücher, läse, sähe Literatur-Ausstellungen, Literaturverfilmungen, hörte mit Freunden Lyrik & Jazz, mit den Kleinen die besten Kinderbuchautoren, wärmte sich gelegentlich Herz und Verstand an literarisch-politischer Kleinkunst, hörte eine Nacht lang Mülheimer oder Bochumer Schauspielern zu, die aus dem „Ulysses“ läsen, besuchte zum ersten Mal ein „poetry café“, griffe gelegentlich sogar in literarische, politische und philosophische Debatten ein, um nicht als Konsumenten-Narziss das Leben nur blöde zu vertrödeln.

Junge und ältere Autoren träfen sich zu Textdiskussionen und Werkstattgesprächen, lernten von versierten Kollegen in Meisterklassen auf Zeit etwas über das Handwerk des Schreibens. Schriftsteller lüden Musiker, Maler … ein, um an Libretti zu arbeiten, Texte und Grafik zu einem Buch zusammenzustellen oder gleich gemeinsam eine Graphic Novel zu gestalten, während nebenan Videokünstler ihren Clip zu einem Gedicht Barbara Köhlers aus Duisburg schnitten. Was für ein lebendiges Haus! Und die Wahrnehmung durch die Literatur-Community des deutschsprachigen Raumes ergäbe sich durch die Qualität der Projekte und teilnehmenden Autoren ganz nebenbei.

„Wo kämen wir denn da hin“, dichtete der Schweizer Kurt Marti, „wenn alle sagten, wo kämen wir denn da hin, und niemand ginge, um zu schauen, wohin man käme, wenn man ginge.“

Nüchternheit und Mut zur Größe

Argumente gegen ein Literaturhaus gibt es natürlich genug. So einst auch rund um die Gründung der Literaturhäuser in Frankfurt, München und anderswo. In den Diskussionen um die Literaturhäuser in Berlin oder Hamburg hörte man einst vor deren Gründung ziemlich düstere Horrorvisionen eitler Vereitler. Zum Beispiel die von den Villen, in denen die Avantgarde ganz nebenbei zwischen Plüsch und Pomp erstickt würde. Oder die Vision vom Clubhaus für den Klüngel, von der Schwätzerbude für Hobby-Literaten, oder die von der subventionierten Sozialstation für alle, die ihre Tinte nicht halten könnten, von der Wärmestube für lokale Heimatdichter.

Ähnlich Überzogenes raunten aber auch die Befürworter von Literaturhäusern. In ihren Konzepten überfrachteten sie die Literaturhäuser so mit Hoffnung, dass die unter solcher Last als virtuelle Luft- und Lustschlösser schon einstürzten, bevor sie als Bau dastanden.

Ein Literaturhaus auf dem Papier bot und bietet tausendfach alles unter einem Dach: „die zeitgemäße Form des Salons der Rahel Varnhagen“ (Diepgen in Berlin), Caféhaus für Autoren und die demokratisch-literarische Öffentlichkeit, Schreibschule, Haus der Autorinnenförderung und Multi-Kulti-Austausch, Dokumentationszentrum, Medienwerkstatt, Autorenwohnung, Buchladen, Experimentierbühne und so weiter…

Auch dieses Statement hier steht in der Gefahr, einem Europäischen Literaturhaus Ruhr und seinen möglichen Befürwortern zu viel zuzumuten, doch andererseits: Das Literaturhaus wird hier präsentiert als ein Ort, an dem nichts weniger geschähe, als dass mit Hilfe der Literatur über Kunst, uns und unsere Gesellschaft nachgedacht würde.

Lernen am Modell: Hamburg und Berlin

Wer wirklich ein Europäisches Literaturhaus Ruhr will, sollte genauer z.B. nach Hamburg und Berlin schauen und von den dortigen Muster-Häusern gründlich lernen.

In Berlin erklärte einst Herbert Wiesner: „Wir verstehen uns als ein Haus der Literatur für Berlin, aber nicht als ein Haus der Berliner Literatur, nicht nur jedenfalls. Obwohl Berliner Autoren bei uns auftreten, sind wir sind kein Clubhaus für Berliner Schriftsteller. Wir arbeiten, um eine im Grunde zwar anerkannte, aber schwierigere, sich nicht von selbst schon vermittelnde Literatur vorzustellen. Ein Literaturhaus, das nur eine Aneinanderreihung von Lesungen böte, hätte keine Berechtigung“.

Ähnlich sah es auch Uwe Lucks, einer der ersten Geschäftsführer in Hamburg: „Also populistisch gehen wir nicht vor. Uns interessiert Qualität. Wir konzentrieren uns auf das, was uns wichtig erscheint. Das ist die Präsentation der aktuellen internationalen literarischen Szene.“
Im Hamburger Haus an der Innenalster präsentiert man noch heute ein anspruchsvolles, manchmal sperriges Programm, das Flagge zeigt, ohne zu vergessen, dass es viele verschiedene Leser gibt, mit vielen verschiedenen Lesebedürfnissen.

Ansteckend lebhaft

Beide Häuser öffnen anderen literarischen Vereinigungen ihr Haus als Forum und geben ihnen die Möglichkeit, kostenlos Veranstaltungen durchzuführen. So reicht man etwas von den eigenen Subventionen weiter. Unkenrufe von Kritikern, die glaubten, ein zentrales Literaturhaus veröde die literarische Szene einer Großstadtregion und nähme den anderen Initiativen Geld oder Publikum weg, haben sich nicht bestätigt. Im Gegenteil. „Es hat ja nur einen sehr kleinen Literaturetat gegeben, bevor wir überhaupt antraten. Wir haben die Kulturbehörde über unsere Existenz eher motiviert, viel mehr für Literatur in Hamburg insgesamt zu tun“, sagte Uwe Lucks in Hamburg, und Herbert Wiesner bilanzierte in Berlin: „Was kleinere Literaturinitiativen angeht, da gab´s sogar einen Schub von Neugründungen, seitdem unser Literaturhaus die Arbeit aufgenommen hat.“

Die Trägervereine beider Literaturhäuser bekamen ihre denkmalgeschützten Gebäude kostenlos renoviert und residier(t)en dort mietfrei. Beim Berliner Literaturhaus jedoch wurden (anders als in Hamburg) Programm und Haus noch stärker von der öffentlichen Hand gefördert. Aber auch die Berliner müssen dazuverdienen. Über Mitgliederbeiträge, Spenden, Eintrittspreise bei Veranstaltungen, die Verpachtung des Erdgeschosses ans Café „Wintergarten“ und des Souterrains an den Buchladen, über Vermietungen und wechselnde Sponsoren.

Ankommen und stiften gehen

Ich fasse einmal das Rezept für ein Literaturhaus zusammen:
Man nehme eine Handvoll Enthusiasten, die hoffentlich wenig Image- oder Ego-Probleme haben. Die tatkräftig sind, die konzeptionell denken können. Die Fortune haben, Ausdauer bei der Suche nach einem geeigneten Haus (gefördert aus Mitteln des Denkmalschutzes oder der Städtebauförderung des Landes), bei der Einbindung gediegener Mäzene und Stiftungen, souveräner Sponsoren, bei der Ansprache von Politikern und den Kulturbehörden.

Sicher jedenfalls ist: Ohne eine Stiftung geht wahrscheinlich gar nichts.

Vom Duisburger Lehmbruck Museum zum Beispiel und seinem engagierten Ex-Leiter, Dr. Christoph Brockhaus, wäre zu lernen, wie man sich über eine Stiftung finanziell unabhängiger macht und auf Teile von Dauer-Subventionen verzichten kann.

Warum überhaupt ein Literaturhaus?

Weil der Geist weht, wo er will, aber am liebsten dort, wo Intelligentes schon in der Luft liegt. Weil alle Künste im Ruhrgebiet feste Häuser haben, in denen Kunst gemacht und/oder dem Publikum präsentiert wird, die Literatur aber nicht.

Buchhandlungen und selbst (Stadt-)Bibliotheken bieten hier keine Alternative, auch weil es ihnen zurzeit in den Städten finanziell und auf dem Markt an den Kragen geht. Stadtbibliotheken bleiben vor allem Orte der Ausleihe, des Lesens, die daneben vielen anderen Zwecken dienen. Mit großer Anstrengung leisten es die besten unter ihnen, temporäre, flüchtige Veranstaltungsorte für zwei, drei Stunden zu sein, Mittelpunkte aber des literarischen Lebens in all seinen Facetten, Impulsgeber des literarischen Diskurses, der literarischen Produktion sind sie so nicht.

Insel der Phantasie

In einem Literaturhaus bestünde die Chance, die Begegnung mit Literatur und Schriftstellern tatsächlich zu kultivieren, abseits von bloßem Bestseller-Marketing oder Lesung-als-Gottesdienst-Kulisse. Literatur, Schreiben und Lesen, öffentliche Lektüre und Diskussion haben das Zeug dazu, „Kult“ zu werden. Literarische Geselligkeit erlebt seit längerer Zeit eine Renaissance, bietet genau den geistigen Luxus, den sich in einer offenen Gesellschaft alle die leisten, die kritisches Denken nicht nur simulieren, sondern auch stimulieren wollen.

Ein Literaturhaus wäre die Insel der hintergründigen Phantasie im Meer der vordergründigen Fun-Kultur. Der Literatur, den Gesprächen über Literatur täte es gut, etwas mehr als bisher um ihrer Inhalte willen ‚inszeniert‘ zu werden. Dazu bedarf es einer kultivierten Umgebung. Es wird Zeit, dass der Stil, den man von Autoren und ihren Texten fordert, endlich auch im Umgang mit Schriftstellern und ihren Werken geboten würde.

Warum ein E-u-r-o-p-ä-i-s-c-h-e-s  Literaturhaus?

Das wissen wir alle: Historisch ist das Ruhrgebiet geprägt von Zuwanderern, kulturellen Einflüssen aus ganz Europa und weltweitem Handel. In dieser Metropolregion, zentral gelegen in einem Europa der Regionen, lässt sich Literaturförderung gar nicht anders denken als im Spannungsfeld von lokaler Verwurzelung und internationalen Beziehungen, von Identitätssuche und Weltoffenheit. Ein Europäisches Literaturhaus Ruhr hätte die Vielfalt und Einzigartigkeit internationaler Literaturen und Sprachen zu präsentieren und zu vermitteln, das darin zu entdeckende Widerständige, Fremde und Neue. Das Literaturhaus hätte Leserinnen und Lesern Orientierungen in der Welt der Bücher zu ermöglichen und mit internationalen Projektpartnern Lesekultur zu gestalten.

Eine Adresse für die Präsentation von Weltliteratur

Die literarische Öffentlichkeit könnte vom regen „Import“ internationaler Literatur profitieren. Schon für das Literaturbüro Ruhr e.V., das ich leite, lasen und lesen von den frühen Nächten der Literatur bis zu den interkulturellen Literaturprojekten heute Österreicher, Schweizer, Spanier, Franzosen, Türken, Russen, US- und Süd-Amerikaner, Ungarn und Polen, Argentinier und Nicaraguaner, Marokkaner und Algerier. Endlich hätte die Vorstellung von Weltliteratur im Ruhrgebiet auch eine feste Adresse.

Daran wären nicht zuletzt die (großen) Verlage interessiert, für die erst in einem solchen Rahmen Kooperationen und Förderungen interessant werden. So unterstützte die Bertelsmann Buch AG im Literaturhaus Frankfurt z.B. das 1. Internationale Literaturgespräch; das Thema: die Rolle der deutschsprachigen Literatur im Ausland. Die Bertelsmann Stiftung veranstaltete im Literaturhaus München und im Europäischen Übersetzer Kollegium Straelen am linken Niederrhein Autorenweiterbildungen und internationale Übersetzer-Treffen.

Seit jeher beeinflussen sich Literaten und Literaturen über alle Grenzen und Zeiten hinweg in ihren Themen, Figuren, literarischen Mitteln. Jede Literaturvermittlung – auch in einem Literaturhaus – hat heute auf diese Intertextualität durch ein internationales Programm zu reagieren, das von der literaturwissenschaftlichen Komparatistik profitieren sollte, wo immer es ginge.

Dass ein Europäisches Literaturhaus Ruhr sich nicht als ein Haus versteht, das sich auf die Präsentation europäischer Literatur beschränkt, versteht sich so von selbst. Im Gegenteil: Im komparatistischen und intertextuellen Vergleich von Nationalliteraturen, europäischer Literatur und Literatur der Welt, im lebendigen Austausch mit Autorinnen und Autoren erst ergeben sich die neuen Perspektiven einer international-globalisierten Literatur, die ohne ihre jeweiligen Wurzeln nicht zu verstehen ist.

Warum ein Europäisches Literaturhaus R-u-h-r?

Das literarische Leben hat – wie beschrieben – kein wirklich adäquates Zuhause im Ruhrgebiet, kein Obdach, bestenfalls Unterstellplätze und Tagesherbergen. Ein Europäisches Literaturhaus Ruhr hätte auf die besonderen Gegebenheiten des Reviers zu reagieren (karge Verlagslandschaft, fehlende Feuilletonvielfalt, fehlende Medienpräsenz).

Ein Europäisches Literaturhaus R-u-h-r hätte die junge Literatur, die Verlage und Literaturzeitschriften aus dem Ruhrgebiet (etwa den Grafit und Klartext Verlag oder das ‚Schreibheft‘) in gelungenen Veranstaltungen sozusagen in einer Art „Schaufenster nach außen“ auch bundesweit zu präsentieren. Parallel dazu würde internationale Literatur gleichsam über ein „Schaufenster nach innen“ vorgestellt.

Ein Europäisches Literaturhaus R-u-h-r wäre kein Allheilmittel gegen alle Defizite des literarischen Lebens im Revier, aber es könnte genau die Initialzündungen auslösen, die nötig wären, um eine lebendigere literarische Szene im Ruhrgebiet entstehen zu lassen und damit vielleicht auf Dauer auch mehr Autoren, Verleger und Medien ans Revier zu binden. Zurzeit wandern viele große Talente noch nach Berlin und anderswo ab, kaum ein Autor von Rang läßt sich dagegen im Ruhrgebiet nieder.

Binden und fesseln durch Abenteuer für den Kopf

Zudem: Auch das Publikum will gepflegt werden. Nicht nur die Folkwang-Hochschule oder Schauspielhäuser wie das Bochumer Theater oder das Theater an der Ruhr, auch die Einrichtungen der soziokulturellen Szene haben in der Vergangenheit deutlich gemacht, wie wichtig Treffpunkte, feste Einrichtungen für die Entwicklung der (klein-)künstlerischen Szene und die Herausbildung eines dazugehörenden Publikums sein können.

Ein Europäisches Literaturhaus R-u-h-r sollte zwar einen Sitz haben, ein Domizil mit angemessenen Veranstaltungs- und Büroräumen, gleich ob nun in einer Villa, einem Industriekultur-Gebäude oder im Rahmen eines attraktiven Innovations- oder Gründerzentrums, aber es dürfte als Europäisches Literaturhaus R-u-h-r keinesfalls nur dort tätig sein.

Das Ruhrgebiet braucht ein LITERATURHAUS als regionalen Veranstalter, als Agentur, als Markenzeichen, als Mittelpunkt eines Literaturnetzes Ruhr. Das Europäische Literaturhaus Ruhr hätte als Literaturhaus auch in der Region Veranstaltungen durchzuführen. Unter dem Titel „Das Europäische Literaturhaus Ruhr zu Gast in …“ könnten Autoren, Diskussionen, interdisziplinäre Kunst-Projekte (zum Beispiel) im Landschaftspark Duisburg-Nord, im Gasometer Oberhausen, in der Zeche Zollverein usw. durchgeführt werden. Nicht zuletzt deshalb, um das Publikum in der Region auf das Mutter-Literaturhaus aufmerksam zu machen und es fest daran zu binden.

Die leidigen Finanzen

Allerdings hätte ein solches Europäisches Literaturhaus Ruhr auch seinen Preis. Karge Zuschüsse, halbherzige personelle und materielle Förderung wie etwa die für das engagierte Literaturbüro Ruhr e.V. verweigern von vornherein die finanzielle Mindestausstattung für dauerhaften internationalen Literaturaustausch und ein professionelles Kulturmanagement, das nicht nur auf Kosten der Mitarbeiter ginge. Hohe Kompetenz der Mitarbeiter allein kann kein erfolgreiches Europäisches Literaturhaus Ruhr begründen. Der kulturpolitische Wille zu profilierter regionaler Literaturpolitik mit bundesweiter und internationaler Ausstrahlung, der Wille zur Bündelung der Kräfte ließe sich nur umsetzen, wenn endlich auf solider materieller Grundlage hochkarätige Literaturförderung in der Region betrieben werden könnte.

Wer ein Netz knüpfen will, darf die Knoten nicht vergessen

Noch einmal: Es gibt ein reges literarisches Feld im Ruhrgebiet, es gibt bereits ein Netz engagierter, aber oft isolierter Autoren, Vermittler, Förderer, Vereine und Institutionen. Was uns fehlt, sind belastbare Knotenpunkte. Ein Literaturhaus gäbe als ein solcher Knotenpunkt diesem oft noch zu wenig sichtbaren Literaturnetz mehr Halt. Sagen wir aber nichts gegen dieses Netz der Enthusiasten, fordern wir nur ein anderes, ein besseres, das in dieser „großen Großstadt Ruhr mit seiner immer stärker werdenden sozialen Polarisierung“ (Prof. Strohmeier, ZEFIR) das geistige Leben selbstbewusst weiterentwickeln hilft.

(Dieser aktualisierte Vorschlag zu einem Europäischen Literaturhaus Ruhr erscheint zeitgleich auch auf der Homepage des Literaturbüros Ruhr.)




Schöner als Kino: Wie Liebe und Tod nach Gladbeck kamen

Die folgende hoffentlich kurzweilige, aber doch einige Seiten lange Liebesgeschichte rekonstruierte ich da, wo ich sie in manchen Details nicht erfand, auch aus Kopien zweier Briefe Sigismund von Radeckis, die mir Ruth Weilandt-Matthaeus schenkte  und die mit mir dazu lange Gespräche führte. Sie gab mir ausdrücklich die Erlaubnis, ihre Geschichte weitererzählen zu dürfen. Ruth, die lange die Nachlassverwalterin der Werke von Radeckis war, verstarb vor einigen Jahren in Gladbeck. Auch der in Riga geborene von Radecki, der über viele Jahrzehnte in Zürich wohnte, liegt seit 1970 in Gladbeck begraben. 1953 erschien von ihm bei Rowohlt das rororo-Taschenbuch Nr. 84 unter dem Titel „ABC des Lachens“, ein Buch, das sich bis zum Mai 1981 knapp 350.000mal verkaufte.

Mehr über diesen Übersetzer, Meister der kleinen Form und Freund von Karl Kraus bei Wikipedia oder im „Schriftenverzeichnis Sigismund von Radecki“, das Dirk-Gerd Erpenbeck bearbeitet hat, der Bochumer Radecki-Kenner, der mir mit so mancher Information auf die Sprünge half. Ihm, Ruth und Sigismund von Radecki widme ich die folgende Geschichte.


Ruth, Sigismund, und Johannes auch – eine Liebesgeschichte
Auf- und nachgezeichnet sowie koloriert von Gerd Herholz

1946, der Krieg zu Ende, Johannes war aus der Gefangenschaft zurückgekehrt. Ausgehungert waren wir, heißhungrig auch auf Lesestoff. Aber wir hatten nichts, nullkommanichts, er nicht, ich nicht, bis Johannes in Wurzen die Arbeit in der Molkerei bekam. Endlich konnten wir uns Bücher kaufen, auch welche von Sigismund von Radecki. Wir liebten den, noch ehe wir ihn persönlich kannten. Johannes hat für die Molkerei Kühe gezählt, Statistik gemacht. 1948 kam eine Anfrage von seiner alten Arbeitsstelle, dem Essener Reisebüro, das ist das große Ding am Bahnhof, eine Anfrage, ob er sofort wieder anfangen wolle. Was Besseres konnte ihm nicht passieren. Ich blieb noch in Wurzen. Als das wirklich was Festes wurde in Essen, bin ich zweimal schwarz über die Grenze, durch die Wälder mit zwei Koffern, da war alles drin, was ich so an Klamotten besaß, paar Löffel, paar Teller. Einmal bin ich von Russen erwischt worden. Aber das ist eine andere Geschichte, die ich ein anderes Mal erzähle. Diese Russen haben mir, ohne mir etwas zu tun, ganz freundlich über die Grenze geholfen. Das glaubt kein Mensch.

Und jetzt kommt ein merkwürdiger Zufall:
Wir lebten in Essen damals, in nur einem Zimmer in einem kaputten Haus, dem Elternhaus von Johannes. Teile des Daches waren aus Wellblech, damit es nicht durchregnete. 1948 war das, in der Siedlung Feldhauskamp. Einige Häuser weiter wohnte eine Dame, die hatte einen süßen Pekinesen, auf den waren wir gleich scharf. Irgendwann lud sie uns zum Kaffee ein und im Gespräch stellte sich heraus, dass sie viel über Radecki wusste. Die Dame war Gertrud Jahn, eine geborene Kirmse. Der hat Radecki sein Buch „Nebenbei bemerkt“ gewidmet, erschienen bei Rowohlt, ihr und ihrer Freundin Ziegler, also „Gertrud Kirmse und Liselotte Ziegler gewidmet“. Ich habe das sogar hier, ich müsste nachschauen. Und diese verwitwete Gertrud Jahn wohnte jetzt neben uns. Sie war seit Langem persönlich befreundet mit Radecki. Oft hat sie von ihm erzählt und mir Bücher geliehen, die ich noch nicht kannte.

„Ich war also eigentlich schon vorbereitet…“
In den 50er-Jahren zogen wir nach Moers. Da waren wir schon Radecki-Fans, wir standen auf Radecki. In Moers hatten wir ein eigenes kleines Reisebüro gegründet. Den guten Kontakt zu Frau Jahn hielten wir. Ich fuhr oft nach Essen und habe sie besucht, weil sie mir so viele schöne Dinge, aber auch andere erzählt hat. Also, Radecki sei schwierig, sie könne für nichts garantieren, wenn ich ihn mal selbst vor mir hätte, er könne sehr brüsk sein, wenn ihm nicht gut ist, dann ist er so kurz ab und die Leute beschweren sich „Ist der arrogant!“, und so was. Ich war also eigentlich schon vorbereitet.

In Essen hatte ich antiquarisch ein kleines Buch erstanden, von Jean Paul, so eine ganz kleine Schwarte, die schickten wir Radecki zum Geburtstag nach Zürich, die Adresse hatten wir von Frau Jahn. Das war der erste Kontakt. Einmal Anfang der Sechziger – glaube ich – kam von Gertrud Jahn, sie wohnte nicht mehr in Essen, ein Anruf. Sie wollte sagen, Radecki lese in der städtischen Bücherei in Düsseldorf. Das war so im …, auf jeden Fall eine kühle Jahreszeit. Wenn wir hinfahren könnten, sollten wir doch schöne Grüße ausrichten, sie selbst könne nicht, sie sei krank.

c/o westfälisches literaturarchiv (münster)

Düsseldorfer Dichterlesung
Da waren wir natürlich begeistert. Wir haben den Laden einfach zugemacht, sind nach Düsseldorf. Das war die Zeit, da waren Dichterlesungen proppenvoll. Selbst die in Düsseldorf, wo sie große Büchereien hatten. Radecki las „Der eiserne Schraubendampfer Hurricane“, sehr spannend. Wir waren fasziniert, alle waren fasziniert. Wie der lesen konnte! Die Leute liebten das, dieses Exotische. Dann war Schluss, und mein Mann meinte nur: „Ich hole unsere Garderobe, du kannst ja in Radeckis Garderobe gehen, schließt dich da der Schlange an und lässt signieren.“ Da stand ich also in der kleinen Garderobe und hab‘ mich einfach immer wieder an das Ende gestellt. Du kannst dir vorstellen warum. Ich hörte, wie er jedes Mal, wenn die Leute mit ihm sprechen wollten, einfach nur „Sigismund von Radecki“ ins Buch schrieb. Wenn dann auch nur jemand sagte: „Ach Herr von Radecki, das Buch war so schön, aber die vielen Druckfehler …!“, die fingen dann an, irgendwas fachzusimpeln. Als das passierte, ging bei ihm ein Vorhang runter. Sein Gesicht fiel richtig zusammen und Radecki antwortete nur, ja, das sei halt so. Und Schluss. Dann nur noch: „Bitteschön“, „Danke“, „Bitte“, „Danke“, so ging das. Also habe ich mir gedacht, der hat so wunderbar gelesen, und wenn er eben zu müde ist, bedankst du dich und dann schwirrst du ab. Es war so schön, da soll man nicht noch mehr verlangen.

„Das war schöner als Kino“
Ich wartete bis zuletzt, dann stand ich da und der schaut noch nicht einmal auf, und ich sage: „Guten Abend, Herr von Radecki, ich möchte mich auch im Namen meines Mannes bedanken, es war so eine wunderbare Lesung“, und da habe ich irgendwie, es sind alles so Zufälle, habe ich hinzugefügt: „Das war schöner als Kino!“
Ich wusste gar nichts, wusste nicht, dass er jeden Abend ins Kino ging, der konnte ohne Kino nicht leben. Jeder Film wurde angeschaut. Später, in Zürich, habe ich das gemerkt, manchmal schreckliche Filme, die mir nicht gefielen. Ein paar Mal bin ich verärgert `rausgegangen.
„Herr von Radecki, mir gefällt das nicht, seien Sie nicht böse, ich möchte jetzt gehen.“
„Ja, ja, natürlich, gehen Sie.“
Und er blieb sitzen. Aber manchmal haben wir auch zusammen geweint. Das war bei „Frühstück bei Tiffany“, da haben wir zusammen geweint.
Als er also in Düsseldorf hörte, dass ich sagte: „Das war schöner als Kino“, da schaute er auf, da guckte er mich richtig groß an – sonst hat er die Augen immer so halb zugehabt –, so hat ihm das gefallen, auf einmal ist er wieder aufgeblüht.
„Ich soll auch schöne Grüße von Frau Jahn ausrichten.“
„So? Danke schön, wie geht’s ihr?“ So richtig steif.
„Es geht ihr gesundheitlich nicht so gut.“
„Ja, das ist schade.“
Ich hatte immer noch das Buch unterm Arm, vergessen, vor lauter Begeisterung.
„Ist das Buch da zum Signieren?“
„Ja, Entschuldigung, bitte schön.“
So, jetzt schrieb er. Ich denk‘, was machst du denn jetzt?
„Herr von Radecki, wir verstehen das, wenn Sie jetzt absagen, aber mein Mann hat mir aufgetragen, Sie zu fragen, ob wir Sie zur Erfrischung irgendwie einladen könnten in das Café da vorne oder wohin Sie wollen.“
Das hatte ich natürlich erfunden.
„Ich kann verstehen, dass Sie erschöpft sind“, aber ich hab’s halt versucht. Da guckt er wieder groß und sagt:
„Ach wissen Sie, ich bin so müde, ich möchte jetzt gerne ins Hotel.“
„Ja, das verstehe ich. Danke.“
„Aber, wissen Sie, ich bin morgen den ganzen Tag in Düsseldorf, und wenn Sie wollen, dann können wir uns morgen treffen.“
Und ich darauf: „Das werde ich meinem Mann sagen. Ich weiß nicht, wie sein Dienst ist.“ Wir konnten den Laden schließlich nicht einfach ein paar Tage zumachen.
„Ach“, sagte er, „ich wohne in dem und dem Hotel“, den Namen weiß ich jetzt nicht mehr, „rufen Sie mich doch bitte morgen früh noch einmal an.“

Wir waren eine Lachgemeinschaft
Das haben wir gemacht, angerufen von Moers aus, und er fragte: „Wollen Sie am Nachmittag kommen oder am Abend?“ Da habe ich geschaltet und gedacht, wenn du sagst: „Am Nachmittag“, dann hat man eventuell den Abend noch, wenn ich sage: „Am Abend“, dann muss man um zehn Uhr verschwinden.
„Wenn es Ihnen recht ist, dann nachmittags.“
„Gut. Und wollen Sie mich abholen?“
Ja, denn wir hatten damals doch ein Auto, einen Opel. Ich habe natürlich gedacht, er will mit uns in ein Lokal gehen.
„Wir möchten Sie ein Stück über den Niederrhein fahren, wenn das Wetter gut ist, und dann irgendwo eine Tasse Kaffee trinken.“
„Ja“, sagte er, „ich hätte eher gedacht … bei Ihnen Zuhause?“
„Ach, Herr von Radecki, wir wohnen in einem schlecht möblierten und schlecht heizbaren
Zimmer.“
Das war damals so, wir sind da eingewiesen worden und wohnten immer noch da. Ein kleiner Raum, eine Küche mit einem alten Kohleherd drin, mehr nicht.
„Eigentlich macht mir das nichts. Aber heizbar müsste das schon sein. Wissen Sie, ich habe bei Else Lasker-Schüler in ihrem kleinen Dachkämmerchen gesessen und das war so gemütlich.“
Ich entschied aber: „Wir holen Sie ab und wenn es Ihnen recht ist, dann fahren wir irgendwo Kaffee trinken.“ So haben wir es gemacht und sind in Büderich gelandet, im „Landsknecht“, ein Ausflugslokal, da war kein Mensch.
Wir tranken gemütlich Kaffee, aßen Kuchen und unterhielten uns. Es war sofort so, dass wir über dieselben Sachen lachten. Wenn er was erzählte oder wenn mein Mann aus seiner Praxis Reisebüro was erzählte, dann waren wir eine Lachgemeinschaft. Er kam aber auch auf ernstere Themen und wir waren plötzlich bei Alexander dem Großen gelandet und er sagt:
„Ja …“
Und ich sage „Es waren alles nur grausige Kriege, die mussten bloß immer Kriege machen.“ Er darauf: „Wenn der Alexander nicht gewesen wäre, dann müssten wir alle Pferdemilch trinken.“
„Na und? Erstens mal wären wir daran gewöhnt und zweitens, warum denn nicht?“
Ach, er hat mich ganz entsetzt angeschaut. „Ja, wenn Sie das so sehen.“
In dieser Art und Weise ging das Gespräch und plötzlich war es acht Uhr abends. Da haben wir gesagt, wir müssten jetzt gehen und er hat auch gesagt, es werde jetzt Zeit: „Ich habe im Hotel das Abendessen bestellt.“ Wir fuhren ihn nach Hause ins Hotel und zum Abschied hat er sich für den schönen Nachmittag bedankt, und wir haben uns auch bedankt. Mir hat er zugenickt: „Es war sehr amüsant.“ Als ich ihm später, nach vielen Jahren, erzählte, was er da gesagt hatte, wie ich ihm das wiedererzählte, wie das gewesen war: „Ach ja?“, sagte er, das war ja, ja, ja, da hat er sich erinnert.
„Aber habe ich das wirklich gesagt?“
„Ja, Sie haben gesagt: ‚Es war sehr amüsant.‘“
„Das war doch nichts Schlimmes.“
„Nein, aber zu wenig.“

Die Nase
Zum Schluss meinte Radecki noch: „Ich lese morgen in Herne, das ist nicht allzu weit von Moers. Wenn Sie können und wenn Sie wollen und wenn Sie Lust haben, ich mach‘ dann auch ein anderes Programm.“ Natürlich sind wir nach Herne gefahren. Da war Radecki noch relativ jung und noch gar nicht so krank. Der Veranstalter lud ihn hinterher zu einem Abendessen ein. Später nahm er das überhaupt nicht mehr an. Kurz vor Beginn kamen wir an, wir suchten ihn auf und er hat sich gefreut. Er hat uns vorgestellt:
„Das sind Freunde, ich möchte sie gerne nach der Vorstellung mitbringen.“ „Selbstverständlich, Herr von Radecki.“
An diesem Abend las er seine Übersetzung von Gogols „Die Nase“, das ist eine Geschichte, da ist der ganze Abend weg. Wir haben uns später herzlich verabschiedet, Adressen hatten wir schon ausgetauscht. Wir sind glücklich nach Hause gekommen, haben geschwärmt, das war ein Erlebnis, ach, war das herrlich in Düsseldorf und Herne, und haben uns weiter gar nichts erhofft.

„Manchmal war das Publikum blöde …“
Später reiste Radecki erneut durchs Ruhrgebiet. Da gab es in Bochum eine Vermittlung, Wortmann hieß der Mann, glaube ich. Der besorgte die Vermittlung von Schriftstellern für Lesereisen, Vorlesebüro oder so was, Vortragsamt. Der hat Radeckis Tournee geplant mit Zugverbindungen, die waren zum Teil so schlecht, dass er manchmal irgendwo lange herumsaß, und da hat mein Mann gemeint, abends war er ja frei, er könne ihn mit dem Auto fahren. Das hat er natürlich gerne angenommen. Wir sind mit ihm gefahren, jeden Abend, überall war das Publikum anders. Er war sehr penibel, er brauchte sehr viel Licht, wollte immer ein Glas Wasser, aber bitte kein Mineralwasser, einfach aus der Leitung, weil er sonst Aufstoßen hatte. Rechts die Lampe, links das Wasser und einen Tisch und einen Stuhl. Das klappte fast nie. Meistens hatten sie da eine Flasche Wasser hingestellt. Nichts klappte, obwohl Herr Wortmann sehr tüchtig war, überallhin hatte er alles Wichtige geschrieben, aber wie es so ist. Da war Radecki froh, wenn ich immer vorher hingegangen bin und mir alles angeschaut habe. Ich spielte ein bisschen den Reisemarschall. Manchmal war das Publikum blöde, hat an der falschen Stelle gelacht, dann war er traurig.

Ein Brief aus Zürich
Irgendwann kam ein Brief aus Zürich, den habe ich noch hier, darin steht: „Sehr geehrte Frau Weilandt, sehr geehrter Herr Weilandt, Sie werden sich wundern …, ich bin allein, Sie haben immer so viel von Ihren Reisen erzählt …“, wir machten damals ja sehr viele Reisen selbst, zum Schauen für die Kunden, waren auch eingeladen auf großen Traumschiffen, das habe ich alles ausgenutzt, und ich reise auch sehr gerne, „ … aber auf Reisen ist man noch einsamer als sonst, und da wage ich zu fragen, ob Sie mich auf Ihre nächste Reise mitnehmen wollen als Dritten im Bunde.“
Dieser Stil! Er war als junger Mann einmal Hauslehrer gewesen, bei den Falz-Feins, in der Ukraine, reiche Leute hatten damals einen Privatlehrer für ihre verwöhnten Kinder, es waren gebildete Menschen und er musste den Kindern Mathe beibringen. Da war er bei Großgrundbesitzern, Super-Millionären damals im zaristischen Russland, es sollen deutsche Einwanderer gewesen sein.
„Getrennte Kasse, ich verspreche Ihnen, ich werde nicht stören.“
Wir haben sofort gesagt, das machen wir. Wir schrieben zurück, wir seien entzückt, wir würden ihn gerne als Dritten haben wollen, er solle sagen, was er besonders gerne sehen möchte. Wir hätten noch das Auto, wir würden eventuell eine Autoreise machen. Da sieht man mehr. Er schrieb dann, er möchte gerne nach Holland. Er möchte die Stätten von Peter dem Großen sehen und Holland überhaupt. Und segeln möchte er. Das war der Beginn unseres Reisens und das ging wunderbar. Die erste Reise unternahmen wir 1962 mit dem alten Opel. Wir fuhren mit dem Opel, weil der Opel eben billig war, den fuhren wir bis zuletzt. Am Ende mussten wir vorne die Türe mit einer Zange aufmachen, weil der Griff abgebrochen war. Es war richtig rührend, wie Radecki sich bemühte, dass er bloß nicht lästig wurde. Wir hatten ihn in Duisburg abgeholt, alles ins Auto gepackt, die Koffer, und sind losgefahren Richtung Holland. Wir wohnten in einem Hotel, Johannes hatte das vorher gebucht, es war ja sein Beruf. In Gegenden, wo man segeln konnte, sind wir gesegelt. Wir haben fotografiert, leider welken die Dias, alle Farbfotos haben unmögliche Stiche bekommen.

Es entwickelte sich eine intensive Freundschaft, wir sahen uns jedes Jahr vier- bis fünfmal. Einmal waren wir eingeladen auf Mallorca, da grantelte er: „Da sind so viele Leute.“ Ich habe geantwortet: „Da sind gar keine vielen Leute. Mallorca ist so eine zauberhafte Insel“, vor allen Dingen damals, idyllisch. Da waren höchstens Engländer, die Deutschen kannte man da noch gar nicht so. Doch dann brach die Cholera oder so was in Spanien aus, da musste man geimpft werden, und wir Esel hatten alles schon gebucht. Also sind Johannes und ich allein nach Mallorca, mittlerweile hatte Radecki in Zürich auch noch die Grippe bekommen.

ruth & svr (westfälisches literaturarchiv)

Also bin ich mit Radecki alleine los
Wir hatten es immer noch schwer mit dem kleinen Reisebüro, überhaupt etwas zu verdienen. Wir lebten noch in Moers. Und diesmal wollte Radecki, dass wir ihn auf einer Reise in den Süden begleiteten. Johannes konnte nicht mit. Einer musste Geld verdienen. Also bin ich mit Radecki alleine los. Er wollte so gerne nach Dalmatien. Früher, in den Dreißigern, ist er da gesegelt, das war ein wunderbarer Segeltörn. Mein Mann hatte alles gebucht, auch das Schiff, das sah von außen sehr schön aus. Mit dem Schiff sind wir von Venedig aus nach Split und Dubrovnik. Getroffen hatten wir uns in Mailand, im Zuge. Er kam von Zürich, ich kam von hier oben. Ich habe gedacht, wenn ich den jetzt verpasse, dann reist der irgendwohin und ich irgendwohin. Es hat aber alles geklappt. Johannes konnte nicht mit. Wir konnten den Laden nicht so lange zumachen, wir hatten ja nur einen Lehrling. Auf dem Schiff und in Split war es sehr schön, in Pula allerdings ging eine Kompanie Soldaten an Bord. Also, es war unsäglich, die Toiletten konnte man nicht mehr benutzen. Da hat Radecki oben an Deck geschlafen, an Schlaf war aber nicht zu denken, die randalierten auch an Deck. Ich hatte eine Kabine, da kamen noch zwei andere Frauen rein, die sich vor den Soldaten fürchteten, es war höllisch. Der Kapitän und die Stewards hatten überhaupt nichts zu sagen, die Soldaten waren so frech, die haben alles vertrieben, wir mussten uns also verstecken. Schließlich sind wir in der Nacht doch in Split angekommen und die Soldaten gingen von Bord. Später, von Dubrovnik aus, sind wir auf nach Korcula, mit einem kleinen Segelboot. Da hatten wir Glück, denn zunächst war kein Segelboot zu mieten. In den Prospekten, da kann man natürlich alles machen. Es ist immer peinlich für das Reisebüro: Man arrangiert alles, man hat an das Hotel geschrieben, die haben zurückgeschrieben: Alles in Ordnung, Segelboot wird gestellt. Nichts war da. Wir sind ein bisschen rumgelaufen, am Strand des Hotels sahen wir ein kleines Segelboot mit zwei jungen Leuten und die kamen ziemlich nah vorbei, da haben wir gewinkt, und sie legten an, wir hin und gefragt: „Wir möchten so gerne segeln …?“ Das alles musste immer ich machen, er traute sich nicht. Wir haben das dann gemanagt, ich habe sogar ein paar englische Worte rausgekramt, hinterher hat er gesagt: „Sie sprechen ein wunderbares Englisch.“, dabei waren das ungefähr die einzigen Worte, die ich kannte. Wir sind mit diesen jungen Leuten gesegelt. Allein wäre ihm lieber gewesen. Es war trotzdem ganz schön. Wir segelten jeden Tag, bezahlten sie. Sie waren ganz versessen auf D-Mark, das klappte gut, sie waren freundlich, auf diesem Boot blieben wir 14 Tage. Wir haben fotografiert, haben da und dort angelegt und sind gelaufen.

Große Hitze in Gladbeck und Schiffbruch bei Plön
1967 las Radecki hier in Gladbeck, im Sommer, am 12. Juli, es herrschte große Hitze, aber trotzdem sind die Leute gekommen. Am nächsten Tag bin ich mit ihm nach Plön gefahren, nach Schleswig-Holstein. Wir wollten dort mal versuchen zu segeln. Das Hotel, in dem wir wohnten, hieß „Fegetasche“. Tatsächlich haben wir ein Segelboot mieten können. Radecki hat gemeint: „Wir brauchen einen kleinen Außenbordmotor, wenn wir raussegeln und es ist windstill, es war ja im Sommer, dass wir auch wieder gut zurückkommen. Da haben die einen Motor, ein Mordsding, hinten an das kleine Segelboot gehängt, Radecki saß vorne und ich saß hinten am Ruder. Wir sind rausgesegelt, haben den Motor zur Probe angelassen, es ging ganz gut. Es gibt da so kleine Inselchen, sehr schön. Wir haben an einem Steg angelegt. Radecki war ja das Große gewöhnt, da war nie was abgesperrt bei denen, damals als er jung war, die konnten anlegen, wo sie wollten. Hier aber war alles privat, wir wurden weggejagt, sind wieder in See gestochen und wollten nach Hause fahren. Radecki hatte sich noch nicht richtig hingesetzt, da kam aus heiterem Himmel eine Bö und wir sind gekentert. Wir sahen aber das Ufer noch. Ich fand das so komisch, ich dachte, es gibt doch einen Film von Oliver Hardy und Stan Laurel, wo die Schiffbruch erleiden, da schwimmen auch die Sachen von denen so schön ruhig auf den Wellen. Die Bö war weg, meine Handtasche, meine Strickjacke, alles war auf dem schönen glatten Wasser verteilt. Ich habe einen Lachanfall gekriegt und Radecki sah ganz belämmert aus. Er ärgerte sich, dass er so ungeschickt gewesen war. Er hatte Angst, dass ich ihm böse wäre. Ich fand es aber amüsant, uns konnte doch nichts passieren, es war so ein schöner Sommertag. Wenn wirklich meine Strickjacke weg gewesen wäre …, ich fand es irgendwie romantisch, habe herzlich gelacht wie im Kino und gedacht, jetzt versinken wir gemeinsam in der Flut. Aber wir schwammen natürlich, nur das Schiffchen ging immer weiter unter. Blubb-blubb, dann war es weg. Ich habe schnell alles eingesammelt, was noch herumdümpelte. Wir sind Richtung Land, es war nicht weit, 200, 300 Meter, das konnten wir mühelos in dem warmen Wasser schwimmen. Plötzlich tauchte ein großer Schatten auf, eine Riesen-Yacht, die wollten uns helfen, da war ein kleiner Junge oben, der hatte eine Schwimmweste an wie alle Kinder, die auf einem Segelboot geboren sind, die kam so nah ran wie möglich und sie ließen Eimer herab und hatten auch noch ein kleines Beiboot, ein Gummiding. Unser Segelboot war auch noch zu sehen, am Mast haben wir eine Kette befestigt und das Boot sogar ein Stückchen abgeschleppt, bis es auf Sand festlag, nur der Mast ragte noch aus dem Wasser. Dann haben die lange gewürgt, auch der Bootseigner selbst, der hatte Leute, die mithalfen. Alle zogen es dann noch ein Stückchen, bis es schräg am Ufer lag, wir haben es mit Eimern leer geschöppt. So haben wir es wieder manövrierfähig gemacht, waren nass bis auf die Knochen, das Boot war naß und der Motor war natürlich hin.

Das einfache Leben
Mit Johannes habe ich auf Reisen meistens Krach gekriegt. Radecki hat mir mal gesagt, wie schön das ist, auch mit dem Johannes, wir hätten uns noch gar nicht gezankt. Auch zu mir hat er gesagt. „Wir zanken uns gar nicht.“, er hat ja nicht gewusst, dass ich abreisen wollte in Plön. Aber nicht wegen der Panne, das war Pech, sondern wegen seiner komischen Ansichten. Mit Johannes, das war der Alltag, und es war sehr schwer, uns eine Existenz aufzubauen. Wir waren so arm wie die Kirchenmäuse und hatten das Reisebüro mit all dem geschenkten Zeug, einer alten Schreibmaschine, die Wohnverhältnisse war man einfach gewöhnt, und es war so mühselig. Es war gar nichts, Hauptsache, man war trocken. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.
Ich weiß nicht, du wirst merken, wie ärmlich ich hier heute in Gladbeck wohne. Ich habe beschlossen, mich zurückzuversetzen in die Lebensweise der damaligen Zeit. Da lebten wir ruhiger und mussten eben nur sehen, dass wir satt wurden. Dieses ganze Pipapo, dieses Fernsehen und das alles habe ich schon abgeschafft. Ich habe jetzt bewusst aufs einfache Leben umgeschaltet. Das bekommt mir. Ich lebe meist im Schrebergarten mit den Katzen, und Katzen sind wunderbar, ich meine … Hunde auch.

Wir waren alle sehr freundlich, Radecki war sehr höflich, der alte Kavalier schleppte sogar meine Handtasche, manchmal. Der Johannes war so treu und lieb, das war harmonisch. Johannes hat mich auch auf seine Art geliebt, aber die Art, wie mich Radecki geliebt hätte, selbst, wenn sie nicht platonisch geblieben wäre, die hat mich ja nun fasziniert. Diese Geistigkeit, dieser Charme, den Radecki hatte, die Erotik des Geistes, das hat mich fasziniert, da störte mich gar nicht, dass er die letzte Zeit so gebrechlich wurde. Wenn ich jetzt manchmal einen alten Mann von hinten sehe und mit dem schleppenden Gang, wie er nicht mehr so richtig laufen konnte vor Schwäche, und ich sehe manchmal hier so einen alten Mann, mit einer Mütze mit einem Schild drauf, dann denke ich, es wäre Radecki. Ich habe ihn geliebt. Ich wollte immer in seiner Nähe sein. Ich habe mal gesagt, dass ich ihn liebe. Da hat er gesagt: „Nein sie lieben mich nicht.“ Es ist eine ganz verrückte Liebe. Ich weiß gar nicht, was das war bei mir, vielleicht war das, weil ich keinen Papa gehabt habe oder so. Ich fühlte mich geborgen. Mit Johannes musste ich kämpfen, ich musste Schriftsätze machen, ich musste verhandeln, wir hatten den Kartellprozess am Hals, wir wollten ein Vollreisebüro sein und kriegten keine Zulassung. Ich habe mit Johannes immer nur gekämpft, mit ihm gegen diese widrigen Umstände, dass wir nun endlich ein bisschen aus der großen Armut rauskamen. Und bei Radecki fühlte ich mich geborgen.

Pension Persévérance
Wir haben immer unsere Reisen selbst bezahlt, auch wenn wir zu dritt waren. Und er seine. Auch 1965 das Haus, das kleine Chalet im Tessin, alles wurde durch drei geteilt. Erst das Haus und dann der Verbrauch. Am Anfang habe ich gekocht, doch dann hatte ich keine Lust mehr. Radecki liebte mich auch irgendwie als Hausmütterchen. Er fand das faszinierend, wie ich gekocht habe. Meistens hat es ihm geschmeckt, aber einmal hat er gesagt: „Hier an diese Spaghetti, es wäre schön, wenn da ein Ei dabei wäre.“ Wir waren diesen Mangel gewöhnt, wenn es Spaghetti gab und Soße, da gab es kein Ei. Er hat in Zürich gelebt und da hatten die am Essen keinen Mangel. Radecki war nicht arm, nur in der Berliner und in der Wiener Zeit, da war er arm wie eine Kirchenmaus. In Zürich wohnte er in einer Pension, Pension Persévérance in der Neptunstraße, das passte für ihn, er lebte bescheiden. Hatte ein gemütlich eingerichtetes Zimmer, alles alte Klamotten, mit zwei Couchen drin, eine für tags zum Schlafen und eine für nachts, damit er nicht ununterbrochen in derselben Bettcouch liegen musste. Ich habe also nicht mehr kochen wollen, ich kam so gar nicht zur Erholung, und dann hinterher spülen, so ein Ferienhaus, das ist Wahnsinn. Lieber bin ich mit ihm in den „Vier Jahreszeiten“ gewesen in Hamburg, das hat mir besser gefallen. Er hat eingesehen, wenn er in so einem teuren Hotel wohnen wollte, das konnte ich nicht bezahlen, das war fast zum Ende unserer Zeit, so nach acht Jahren etwa, 1968. Da hat er diese hohen Hotelkosten für mich bezahlt, aber die Reisekosten habe ich selbst bezahlt.

svr, ruths handtasche? westfälisches literaturarchiv

 

„Sie sind der gebildetste Mensch, den ich kenne. Neben…“
In Zürich sind wir abends aus dem Kino gekommen, der Film hatte mir gefallen, ich hatte gute Laune. Und er hat sich gefreut, er hatte immer Angst, dass mir ein Film nicht gefiel. Da waren vielleicht Schwarten dabei, das habe ich dann auch gesagt und gedacht, wir könnten hier doch viel lieber am Seeufer sitzen. „Ich möchte aber gerne ins Kino.“, sagte er, wie fast immer.
Wir gingen durch Parkanlagen, die Luft war sommerlich und wunderschön, die Laternen leuchteten durch die Blätter, er wollte mir erklären, was das für Bäume waren, da habe ich gesagt: „Das sind Eschen.“ „Sie wissen ja schon alles“, sagte er, „ich wollte Ihnen das gerade erklären.“ Und dann fügte er hinzu, er konnte nicht anders: „Sie sind der gebildetste Mensch, den ich kenne. Neben Heinrich Fischer, dem Freund von Karl Kraus, Kraus hat Fischer seinen Nachlass vererbt. Mit Heinrich Fischer war ich auch befreundet. Er hat einmal mir das Kompliment gemacht, ich sei der gebildetste Mensch, weil er meinte, ich verstünde von Wirtschaft was, ich hatte so viele Berufe, nicht nur flüchtig, sondern jeden mindestens drei Jahre ausgeübt.“

Durch seine Krankheit kriegte Radecki jede Erkältung mit, er musste husten, hatte sich schon wieder erkältet, obwohl es Sommer war, ich habe ihm ein Glas Wasser gebracht, mit einer Art Aspirin und Vitaminen drin. Ich wohnte gegenüber im Gästehaus Cäcilienheim, er wohnte schräg gegenüber in der Pension Persévérance, Persévérance, das war eine katholische, von Schwestern geleitete Pension. Er hat mir einmal erzählt, er sei morgens immer verkatert. Er hatte Morgendepressionen, immer eine bestimmte Sorte Wein vorrätig, wenn er morgens arbeitete. Um 6 Uhr stand er auf, ging rüber in die Messe, die Kirche lag neben seiner Pension.

Draußen vor dem Tore
Da standen wir also bei ihm kurz vorm Törchen. Ich sage: „Wenn Ihnen nicht gut ist, damit das dann nicht so ausbricht, nehmen Sie doch schon mal eine Tablette, ich habe die oben.“
„Ja, vielleicht hilft das doch, es wäre ja schlimm, wenn ich jetzt krank würde und wir könnten nicht laufen zusammen.“
Ich fragte: „Können Sie hier warten oder da drüben, da ist eine Bank?“
„Nein, nein, ich warte hier am Törchen.“
Es war nur ein Katzensprung, ich fuhr hoch, einen Lift hatten sie ja. Schnell war ich mit den Tabletten wieder unten: „Sie müssen aber viel dazu trinken.“ Wie ich ihn so ein bisschen bemuttert habe, sieht er mich an: „Ich möchte Ihnen aber noch was sagen.“, kurz vor der Verabschiedung. Verabschiedet haben wir uns immer mit so einem Kinderkuss, entweder auf beide Wangen, also französisch, oder einfach so einen leichten Kinderkuss, das war aber schon vorher. Übrigens habe ich das mit vielen meiner Freunde so gemacht.
„Mir fällt es schwer, und ich weiß, es sollte eigentlich ungesagt bleiben“, es sind genau seine Worte, ich habe die im Hirn, ich hab‘ natürlich abgewartet, hab‘ ihn angeguckt, „… ich muss Ihnen sagen, dass ich Sie liebe.“ Da habe ich gestottert: „Ich weiß jetzt nicht, was ich sagen soll.“ „Sagen Sie nichts. Ich sage Ihnen, ich liebe Sie mit meinem Kopf, mit meinem Herz, mit meinem Gefühl und mit meinem Verstand. Ich liebe Sie mit allen Fasern meines Herzens.“ So was hatte ich mir immer gewünscht. Dass er das noch betont. Dann sind wir ein bisschen näher aneinander gerückt. Ich habe es ihm nicht geglaubt, man hat es ihm nicht angemerkt, er war so zurückhaltend. Wir haben noch gescherzt und gesagt, so was wie wir in Plön gesegelt sind, das machen wir nie wieder, und wir sind auch nie wieder aufs Boot gegangen.

„Die Worte, die Worte waren so schön“
Ich hatte mir das so gewünscht, und andererseits habe ich den Johannes vermisst. Es war ganz komisch. Wenn ich Radecki um den Hals gefallen wäre, wäre er vielleicht erstarrt. Später fand ich es auch unfair dem Johannes gegenüber. Es ist nichts passiert, worauf der Johannes eine Ehescheidungsklage hätte einreichen können. Die Worte, die Worte waren so schön. Die Worte und Gesten und Küsse, das war nun wirklich meine letzte Reise nach Zürich. Schon bald wurde er so krank, dass wir ihn zur Behandlung hier ins Barbara-Hospital nach Gladbeck geholt haben. Ein paar Wochen später ist er gestorben.