Vom Weiterleben nach einem Todesfall: Angelika Reitzers Roman „Wir Erben“

Mit den ersten Sätzen in Angelika Reitzers Roman „Wir Erben“ mag man als Leser zunächst Schwierigkeiten haben. Doch bald werden sie klar als Widerhall einer Traumsequenz Mariannes, die sich alsbald als erste wichtige, vielleicht wichtigste Figur dieses Romans herausstellt.

Die Ausgangssituation ist interessant. Die vielverzweigte Mehr-oder-minder-Patchwork-Familie Mariannes hat gerade in großer Anzahl Weihnachten miteinander gefeiert bzw. begangen. Nun stirbt kurz danach – wie nebenbei – die „Familien“-Matriarchin Jutta, die Großmutter Mariannes. Die zumeist gerade Abgereisten aus dem großen Kreis der Verwandten, Bekannten, Verschwägerten und Freunde (unter ihnen auch Mariannes Sohn Lukas) werden nun wieder zurückgerufen. Die Beerdigung steht an und bald danach auch der Erbfall.

reitzer_wir_erbenMit dem Tod einer Hauptperson beginnen so manche Romane, in der deutschen Literatur zum Beispiel Jean Pauls „Flegeljahre“ und Wilhelm Raabes „Im alten Eisen“ sowie Hans Erich Nossacks „Der jüngere Bruder“. So werden Vergleiche interessant: Wie unterschiedlich gehen die jeweils Hinterbliebenen mit einem solchen Todesfall um und wie prägt ein derartiger Beginn ein ganzes Buch?

Eines der Hauptthemen des Romans von Angelika Reitzer ist ganz konkret: Wie kommen wir Menschen, insbesondere wir mitteleuropäischen Menschen der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit unter diesen ganz bestimmten Bedingungen im jeweiligen Einzelfall mit unserem Leben zurecht? Dabei steht das Leben der Frauen vor allem im Blick, auch wenn Männer durchaus vorkommen und gelegentlich auch eine Rolle spielen.

Das Leben dreier, wenn nicht vierer Frauengenerationen wird – ab und an bruchstückhaft sichtbar gemacht – der Gegenwartsebene unterlegt. Dieses Wichtignehmen der Generationen macht das Buch zu einem Dialogpartner und Gegenstück zum nun schon eine ganze Generation älteren, verdienstvollen Roman Ingeborg Drewitz‘ „Hundert Jahre Gegenwart“.

Liest man das Buch der österreichischen Autorin nicht zügig durch, wird man die genauen Familien-, Bekanntschafts- und Freundschaftsverhältnisse vielleicht nicht immer ganz genau im Gedächtnis behalten. Vielleicht wollte Angelika Reitzer mit dieser Figurenfülle gerade das charakteristisch Patchwortartige der Lebensverhältnisse in unserer Zeit zu betonen? Und das Zurückgeworfensein einer jeden einzelnen Person auf ihr eigenes, ureigenes Leben?

Ich habe ja dieses Buch bis zu Ende gelesen, habe nicht ein einziges Wort, geschweige denn eine ihrer Passagen ungelesen gelassen, obwohl ich nach einigen Seiten nicht mehr ganz so interessiert wie zu Anfang gewesen bin. Aber wenn ich in der Nacht, aus Träumen gerissen oder aus anderen Gründen wach geworden, wieder auf andere Gedanken kommen wollte, habe ich jeweils zu diesem Buch gegriffen, an genau der Stelle, an der ich am Vortag zu lesen aufgehört hatte, weitergelesen und danach wieder weiter gut geschlafen.

Indes: Ein Spannungsmoment gab es in diesem Roman für mich nach wie vor. Erzeugt wurde dies merkwürdigerweise durch die Vorgriffe auf dem Buchumschlag. Zum ersten Mal durfte ich erleben, dass ein Klappentext durch seine Vorankündigungen nicht etwa schon zuviel verrät und damit Spannung im Voraus wegnimmt, sondern dass er gerade durch seine vorwegnehmenden Vorankündigungen eine Spannung und Neugier aufrechterhält, die der Roman selbst (in seinem ersten Teil) aufrechtzuerhalten nicht in der Lage war. Im „Waschzettel“ nämlich ist die Rede von einer zweiten nicht aus Österreich, sondern aus der ehemaligen DDR stammenden Frau, die zur Freundin der Österreicherin, also Mariannes, wird bzw. geworden ist.

Und so habe ich gewartet, bis diese zweite Person mit ihrer wahrscheinlich (und dann auch tatsächlich) ganz anderen Vorgeschichte in diesem Roman auftritt. Und das geschieht erst im zweiten Teil des Romans, einem Teil, der etwa ein Drittel des Gesamtromans umfasst. Und ehe diese zweite zentrale Hauptfigur des Romans vollends in den Blick rückt, schiebt sich die Geschichte ihrer Familie, insbesondere die ihrer Eltern, in den Vordergrund. Kurz vor dem Fall der Mauer flüchtet diese Familie über das „freundliche sozialistische Ausland“ aus der DDR in die Bundesrepublik und kehrt nach einigen dort verlebten Jahren wieder an ihren Ursprungsort zurück, um dort von neuem Fuß zu fassen, was nicht sehr leicht fällt.

Diese Geschichte aus dem zunächst noch getrennten, dann vereinten Deutschland ist recht interessant, hat aber auf den ersten Blick mit dem ersten weit umfangreicheren, vorwiegend in Österreich in der Nähe Wiens auf dem Lande spielenden Romanteil nicht allzuviel zu tun. Wie also wird es der Autorin gelingen, eine glaubhafte Verknüpfung beider Lebensgeschichten herzustellen, habe ich mich bei der Lektüre des zweiten Teils fortlaufend gefragt und dabei die Hoffnung nie ganz aufgegeben, dass durch eine überzeugende Verknüpfung auch der erste Romanteil nachträglich noch aufgewertet werden würde.

Es dauert lange, fast bis zum Ende des Romans, bis sich die beiden Frauen, Marianne und Siri, zufällig zum ersten Mal begegnen, auf der Toilette, in der Pause eines Konzertes in Wien. Daraus entwickelt sich nun nach und nach eine Freundschaft. Eine Liebe auf den ersten Blick, wie sie sich – fast gleichzeitig mit Siris zunächst nur flüchtiger Erstbegegnung mit Marianne – zwischen Siri und „Hans dem Bauer“ spontan ergibt, läuft, obschon zunächst auf scheinbar gutem Wege, ins Leere.

Der zweite Romanteil endet chronometerzeitlich früher als der erste. Umso stärker beschäftigt mich immer noch die Frage, wieso nicht schon im ersten Romanteil wenigstens andeutungsweise von der Freundschaft zwischen Marianne und Siri die Rede gewesen ist, wo doch andere Freundschaften und unproblematische wie problematische Zuneigungen durchaus ausführlich vorgekommen sind. Diese Aussparung kommt zwar romantechnisch der Spannung zugute, hat aber die Logik bzw. die Psychologik nicht so ganz auf ihrer Seite. (Indessen: ein blindes Motiv und eine indirekte Vorausdeutung ist mir aus dem ersten Teil durchaus noch in Erinnerung. Es soll da einmal eine junge Frau, die ursprünglich aus der DDR stammt, von Jutta, ihrer Großmutter empfohlen, bei Marianne als Hilfe eingestellt werden, wozu es aber nicht kommt.)

Was mich jetzt noch an diesem beobachtungssicheren, zeitsymptomatischen Roman interessiert, ist dies: Wie anders lesen (diese oder jene) Frauen diesen Roman als (manche) Männer? Oder sind die Leseunterschiede gar nicht so groß, wie man immer meint?

Zugegeben: Um dem Roman Angelika Reitzers angemessen gerecht zu werden, müsste ich ihn zuvor mindestens noch einmal lesen.

Auf der Seite 322 dieses Romans wird ein Gespräch zwischen Marianne und Siri über Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“ wiedergegeben. Dort findet man u. a. diese Sätze: „Sie klappte das Buch zu, schaute Siri an. ‚Würdest du ein Buch lesen, das so anfängt?‘ Sie stellte ein anderes Buch ins Regal, auch die anderen, dann schloss sie die Glastür.“

„Würdest du ein Buch lesen, das so anfängt?“, solch eine Frage in ihrem eigenen Roman zu stellen bzw. stellen zu lassen, ist von der Autorin mutig. Auf den ersten Blick. Denn: Vielleicht besteht ja die Hoffnung, dass auch dieser Roman bei abermaliger Lektüre gewinnt.

Angelika Reitzer: „Wir Erben“. Roman. Verlag Jung und Jung, Salzburg und Wien. 343 Seiten, 22,90 €




Auf dem Ruhri-Panoramaweg

Wenn man schon ein Ruhri ist (ob nun gebürtig oder eingesessen, wie meine Frau und ich), ist es wohl Pflicht, den Ruhri-Panoramaweg zu erwandern.

Auch wenn man dabei etwa fünf Stunden zügig unterwegs ist und auf und ab etwa 630 Höhenmeter dabei zu überwinden hat, dürfte das kein Hindernis sein.

Am Freitag vor einer Woche haben wir uns bei bestem Wanderwetter von unserer Ferienwohnung in Deutschlandsberg aus so etwa gegen 10 Uhr auf den Weg gemacht. Nach etwa 20 Minuten erreichten wir den „Klauseneingang“ und damit fast auch schon den Eingang zum „Ruhri-Panoramaweg“. Der „Klauseneingang“ ist zugleich auch der Eingang zum „Laßnitztalweg“, einem der schönsten Wanderwege, die ich kenne..

Der Ruhri-Panoramaweg nun ist, wie auf der Wanderkarte ausgewiesen, zunächst ein „steiler, schwieriger Fußweg mit großer Höhendifferenz überwiegend durch Wald mit herrlichen Ausblicken an einigen Stellen“. Zugute kam uns, dass der Boden auf diesem ruhigen, wenig begangenen Weg wegen der seit Tagen anhaltenden regenarmen Witterung recht trocken war. Immer wieder wurden steilere Passagen durch flachere abgelöst. So schlimm wie angekündigt war das alles nicht. Ich jedenfalls freute mich, dass ich noch einigermaßen gut zu Fuß bin und kaum aus dem Atem kam. Ganz wunderbar diese sonnendurchflutete Waldgegend, dieser abwechslungsreiche Weg mit zu entdeckenden schönen Pflanzen und Blumen.

Kurz vor Trahütten, mit 1000 m dem höchsten Punkt unserer Wanderung, gerieten wir auf die wunderschöne „Obstallee“, von der aus wir einen herrlichen Blick auf die ganze Gipfelkette hatten. Von dort aus nach Trahütten kommend, gelangten wir sehr bald auf den Alban-Berg-Weg, der seinen Namen ganz sicher deswegen bekommen hat, weil der große Komponist Alban Berg sich des öfteren in einer Villa dort in Trahütten aufgehalten hat und an Ort und Stelle zum Beispiel Teile der berühmten Oper „Wozzek“ und die Arie „Der Wein“ komponiert hat. Diese Villa ist heute noch wohlerhalten und hat den Namen Alban-Berg-Villa bekommen. Sie erinnerte mich vom Aussehen her ein wenig an das Thomas Mannsche Sommerhaus in Nida, ist aber wohl noch etwas geräumiger und stattlicher als dieses.

Inzwischen war die Mittagszeit längst gekommen und wir wollten im von der Wegbeschreibung her angepriesenen Dorftgasthaus etwas zu uns nehmen, vor allem aber etwas trinken. Da aber stellte sich heraus, dass dieses Gasthaus zwar noch da war, aber nicht mehr bewirtschaftet wurde. Und die nächsten Hotels und Wirtshäuser mindestens 3000 m entfernt. Zu Fuß, mitten in einer noch anhaltend langen Wanderung, wohl kein Klacks. Der als steil angekündigte Abstieg auf dem schmalen „Jägersteig“ stand ja noch bevor.

Indes: Unser knapper Essproviant reichte zum Glück noch aus. Und eine Bewohnerin eines der Trahüttener Häuser war auf unsere Bitte hin so freundlich, unsere leergetrunkene Mineralwasserflasche für uns mit Trinkwasser zu füllen. Und so machten wir uns wieder guten Mutes vom Alpenwanderweg 13 auf den Alpenwanderweg 14, alias den langen, aber durchaus wieder abwechslungsreichen Jägersteig, der uns zurück in die nicht oft genug zu besuchende Laßnitz-Klamm führte, die mich ein wenig an die junge Moldau mitsamt ihrer felsigen Umgebung erinnert, ja eigentlich wider Erwarten noch etwas schöner ist.

Im Ort Deutschlandsberg dann holten wir im für eine Einkehr empfehlenswerten Gasthaus Kollar – Göbl das uns in Trahütten entgangene Mittagessen als Abendessen nach und sagten uns, dass es wahrscheinlich ohnehin besser gewesen sei, unseren Weg mit nicht allzu vollen Mägen zurückzulegen.

Ach ja. Noch eins. Der „Ruhri-Panoramaweg“ hat natürlich mit unserem Ruhrgebiet namentlich nicht das Geringste zu tun, sondern mit der Steiermark. Das 2. Gehöft, an dem der Weg vorbeiführt, hat einmal einem Mann namens „Ruhri“ gehört und so hat der gesamte Weg diesen Namen erhalten.




Offenheit und Fluss: Wie Tzimon Barto Bachs Goldberg-Variationen spielt

Beim Konzert in der Philharmonie Essen sitze ich diesmal ganz vorne, ziemlich genau in der Mitte der allerersten Reihe. Bei Bachs „Goldberg-Variationen“ mit dem Solisten Tzimon Barto tut diese Nähe gut.

Tzimon Bartos Klavierspiel ist Spiel und Arbeit zugleich. Es wirkt gelöst und doch auch angespannt; sein Spielen ist bei aller, mitunter tänzerischen Gelöstheit doch zugleich von erkennbarer Mühe, von einer außergewöhnlich konzentrierten Anstrengung geprägt.

Vergleiche mit anderen Aufnahmen der Bachschen Goldberg-Variationen, also Aufnahmen auf CDs mit Gould, Gavrilov, Koroliov, Tureck, Zhu Xiao-Mei, Stadtfeld, Schiff, stellen sich unversehens ein. Ich erinnere mich zumindest kurz an sie, lasse jedoch diesem noch nie gehörten Interpretationsangebot Tzimon Bartos den gebührenden Vorrang.

Das Scheue und das Zarte

Das Leise der Aria am Anfang kommt sehr leise, ihr Langsames geradezu betont langsam zur Geltung. Umso stärker dann der Kontrast der 1. Variation dazu! Überhaupt steht das Verhaltene, das Scheue, das Zarte im Wechsel mit dem Energischen, dem Kraftvollen, auch dem Tänzerischen.

Es ist der Auftakt zu einer Reihe von insgesamt vier Konzerten. In den nächsten drei Konzerten werden Mitsuko Uchida (22.1.2014), Lise de la Salle (16.2.) und Christian Zacharias (16.3.), die von ihnen ausgewählten Werke von Beethoven, Chopin und Schubert nicht bloß spielen, sondern auch mit Hilfe erläuternder Worte vorstellen.

Da ich die Goldberg-Variationen (BWV 988) einigermaßen zu kennen glaube, habe ich mir ein Programmheft diesmal gar nicht gekauft. Ich bin also überrascht, dass nach der längeren Pause, mit der ich nicht unbedingt gerechnet hatte, Tzimon Barto seinen Sprechpart eigen-sinnig anders gestaltet, ehe dann (erneut überraschend) noch ein anderes Bachsches Werk (BWV 590) den pianistischen Abschluss bildet.

Worte aus dem Mittelhochdeutschen

Erstaunlich artikuliert, mit sehr guter, fast akzentfreier Aussprache trägt er Texte von Hans Sachs, Walther von der Vogelweide, Heinrich von Morungen und Angelus Silesius vor. Eine strenge Chronologie zählt dabei nicht. Den historisch mittleren Text des Hans Sachs über den einbeinigen Kranich zieht er vor, bringt dadurch effektvoll die Lacher auf seine Seite und öffnet so die Verständniswilligkeit des Publikums für die nachfolgenden Texte. Zu den neuhochdeutschen Übersetzungen der mittelalterlichen Gedichte bietet er jeweils auch den mittelhochdeutschen Text.

Ob dabei wohl von jeder und jedem bemerkt worden ist, dass Tzimon Barto hierdurch eine zwar leise, gleichwohl fundamentale Veränderung kenntlich macht? Von der neuhochdeutschen Übersetzung der mittelalterlichen Liebeslyrik her zum mittelhochdeutschen Original hin erfolgt jeweils ein Wechsel der Geschlechter: Aus mittelhochdeutsch „sie“ wird neuhochdeutsch „er“. Auch hier im Wort und seiner Wahl wird also variiert: Liebe ist Liebe, sei sie nun heterosexuell oder homosexuell, lautet die verhaltene, durchaus verschwiegene Botschaft der Textabfolge. Doch wer versteht schon mittelhochdeutsch aufs Wort?

In Fragen der einfallsreichen, plausibel sein wollenden, identifizierenden Festlegung im Alltag, hier der eines Kochs und der seines Herrn (vgl. Hans Sachs: „Der Koch mit dem Kranich“), in Fragen der traditionell dingfest zu machenden Festlegung auf die geschlechtliche Zuordnung der Liebenden (vgl. Walther von der Vogelweide; Heinrich von Morungen), wie auch in Fragen der festen Zuordnung im Verhältnis von Gott und Mensch, von Mensch und Gott (Angelus Silesius) herrscht Offenheit und Fluss, jedoch keinerlei plumpe Starrheit.

Verwandlung und Wiederkehr

Wenn Barto diese Texte bis in die Nuancen hinein überzeugend vorträgt, verweigert er ganz entschieden die zusätzliche verbale, die direkte Interpretation der Goldberg-Variationen über die vorgängige pianistische Interpretation hinaus. Eine indirekte Erläuterung bietet er dennoch: Schaut her, sagt er in bildlicher Form, in dichterischem Gewand: Variationen und berechtigte unterschiedliche Auffassungen neben- und nacheinander haben wir im menschlichen Leben immer. Und die Kunst, ob nun als Musik oder als Dichtung, macht dies sichtbar.

Auch an den alten Heraklit mit seinem bekannten Satz, dass wir in denselben Fluss zu steigen nur einmal in der Lage seien, musste ich denken, als ich die Goldberg-Variationen in Tzimon Bartos Fassung hörte. Ist die Aria des Anfangs, wenn sie am Ende wiederkehrt, nach dem Durchgang durch all die Variationen zwischendurch, noch dieselbe? – Natürlich nicht. Auch dann nicht, wenn der Vortrag des Anfangs und der des Endes – direkt miteinander verglichen – sich nicht oder doch nur kaum verändert hätten.

Es gibt nicht die „richtige“ Interpretation

Und weiter gefragt und gedacht: Variiert nicht das Klavierspiel ein und desselben Pianisten von Mal zu Mal? – Auch hier wird es keine ganz identische, ganz identisch wiederholbare Wiedergabe geben können. Und dann die vielen höchst verschiedenartigen Interpretationen der Goldberg-Variationen, die schon in der Welt sind. Es gibt nicht die eine „richtige“ und maßstabartig „verbindliche“ darunter, allenfalls solche, die einem in unterschiedlichem Grade zu verschiedenen Zeiten jeweils eher einleuchten und gefallen.

Mir scheint es kein Zufall zu sein, dass Barto programmmäßig nicht beansprucht hat, geradezu Bach zu spielen, sondern im ersten Teil seines Musik-und-Wort-Konzertes die Busonische pianistische Version der Goldberg-Variationen gespielt hat und im zweiten Teil für sein Klavierspiel die Transkription der Bachschen Pastorale durch den Pianisten Dinu Lipatti ausgewählt hat.

Auch dies, dass er für das Spiel seines (ihm durch seine um Jahrzehnte älteren Pianistenkollegen Busoni und Lipatti indirekt vermittelten) Bach wie selbstverständlich einen modernen Steinway-Flügel nutzt, scheint zu folgender, indirekt erschließbarer Aussage zu passen: Den ganz originalen Bach kann ich euch ohnehin nicht bieten, keiner kann oder könnte dies wirklich, also biete ich euch gleich eine zwar streng am imaginären originalen Werk orientierte, dennoch aber ganz bestimmte Version an.




Einen Autor mehr und mehr für sich entdecken: Bücher von Walter Kappacher

Nicht nur in (und am) Mattsee g e l e s e n habe ich unlängst die zwei neuesten Bücher des Büchnerpreisträgers von 2009, des seit Jahren in dem Mattsee benachbarten Ort Obertrum lebenden Walter Kappacher, sondern sehr wahrscheinlich habe ich ihn als Person dort sogar selber mehrmals g e s e h e n .

Mindestens viermal kam in der besonders heißen ersten Augustwoche ein seinem Bilde, dem möglicherweise heute nicht mehr ganz aktuellen Buchklappenseitenbilde, sehr ähnlicher Mann ins „See- und Strandbad Mattsee“. Jeweils vom frühen Morgen bis zum späten Vormittag blieb er da und setzte sich buchlesend an eine noch ruhige Stelle in den Schatten, auch – wie vereinbarungsgemäß – nicht gestört von seiner Frau, die ihn gelegentlich ins Bad begleitete und selber etwas las. Beide sah ich, als zufällig auch wir gerade gingen, um die Mittagszeit mit den Fahrrädernwieder wegfahren. Vermutlich kamen sie auch sonst jeweils mit dem Rad. Einmal sah ich ihn über ein Typoskript mit großen Zeilenabständen gebeugt, in das er gelegentlich sei’s Ergänzendes, sei’s Korrigierendes mit einem Stift hineinschrieb.

34519430n36896085n

Natürlich hätte ich sehr gerne gewusst, ob mein Gespür mich nicht trog und ob es sich bei diesem Mann wirklich um den Schriftsteller Kappacher handelte, aber ich bin in der Regel nicht aufdringlich oder gar zudringlich und wollte auch nicht weniger zurückhaltend und scheu sein, als er selber seinem eigenen Zeugnis nach es früher gegenüber Oskar Werner, Peter Handke oder Thomas Bernhard und anderen gegenüber gewesen ist. Und als ich mich nach einer Woche schließlich doch dazu entschlossen hatte, ihn höflich anzusprechen, zumal nach meiner frischen Buchlektüre, war er ausgerechnet von diesem Tage an nicht mehr zu sehen.

Halten wir uns also an seine Bücher.

Am 30. Juli kamen wir an unserem Urlaubsort Mattsee an, am 31. waren wir im nur 20 Kilometer entfernten Salzburg. In einer Buchhandlung dort fielen mir zwei Bücher auf, die ich sogleich kaufte.

Die Lust an der Lektüre hat nicht nachgelassen

Zunächst die Kindheitserinnerungen von Karl-Markus Gauß mit dem Titel „Das Erste, was ich sah“, ein Buch, das ich in den nächsten beiden Tagen las, und schließlich den auch äußerlich sehr handlich und geschmackvoll edierten Band „die amseln von parsch / und andere prosa“ von Walter Kappacher, den ich – wie gesagt – höchstwahrscheinlich als Person gleich am nächsten Tag im Strandbad sah. Vom 3. August an las ich im Wechsel mit anderer von zu Hause mitgebrachter Lektüre mehr und mehr diesen Kappacher-Band, wobei ich die Reihenfolge der (ohnehin gut auch isoliert, ohne Rücksicht auf die im Band vorgegebene Reihenfolge lesbaren) Texte selbst bestimmte. Aber gelesen habe ich sie dann alle. Die Lust an ihnen ließ nicht nach.

Begonnen habe ich mit den beiden letzten Beiträgen des Bandes, die mich auf Anhieb am meisten interessierten. Ich las nacheinander die beiden Textfolgen „Ich erinnere mich / Aus den autobiografischen Notizen“ (S. 157ff.) und „Eigenes und Angeeignetes“ (S. 185ff.). Wie unmittelbar vorher schon bei Gauß konnte ich nun auch bei Kappacher mit den jeweiligen Erinnerungen meine eigenen Salzburger Kindheitserinnerungen reflexionsfördernd vergleichen; nur: in dem ersten Fall war ich der 11 Jahre Ältere und in dem zweiten Fall der um fünf Jahre Jüngere; aber gerade das leicht Zeitversetzte war für mich interessant, umso verblüffender so manche dennoch vorhandene Übereinstimmung. Aber abgesehen davon, auch für Nicht-Salzburger dürften diese uneitel als Fragmentfolge konzipierten Erinnerungen Kappachers von großem Lektüreinteresse sein. Der Schriftsteller Walter Kappacher ist – wiewohl seine Herkunft nicht verleugnend – niemals und nirgends provinziell.

Der Schlusstext „Eigenes und Angeeignetes“ bietet in einer gemischten Folge sich zu eigen gemachte Zitate (oft Aphorismen) anderer Autoren und eigene Notate. Ich bin versucht, hier laufend und immer wieder zu zitieren, verzichte aber darauf und gebe lieber eine Stelle aus den vorgeordneten „autobiografischen Notizen“ wieder, die mich aufhorchen ließ. Auf Seite 173 ist nämlich zu lesen: „Wie ich Ende der sechziger Jahre auf das Bändchen „Stille“ der Edition Suhrkamp von Antonio Di Benedetto aufmerksam wurde. Die Stimme dieses Autors schien zu mir zu sprechen wie wenige. Wahrscheinlich war es diese Stimme, die mich wünschen machte, Schriftsteller zu werden.“

Hand aufs Herz. Wer kennt den Autor Antonio Di Benedetto durch eigene Lektüre? – Ich kenne ihn auch nur zufällig, weil ich mich seit etwa vier Jahrzehnten für lateinamerikanische Literatur interessiere und weil ich vor einiger Zeit eine Rezension über den 2009 bei Manesse neu herausgegebenen Roman „Zama wartet“ geschrieben habe. Nur dadurch bin ich auch selber auf das von Kappacher so stark hervorgehobene Bändchen „Stille“ gestoßen, das ich aber zu diesem Zeitpunkt (trotz des damaligen Argentinienschwerpunktes der Frankfurter Buchmesse) nur mehr noch antiquarisch erwerben konnte. Dass aber dieser von 1922 bis 1986 lebende, bei uns bis heute nicht allzu bekannte argentinische Autor für Kappacher einst so bedeutsam geworden ist, sollte für uns ein wichtiger Hinweis sein.

In anderen Essays seines Bandes eröffnet uns Kappacher persönliche Ausblicke auf ältere und jüngere Schriftstellerkollegen, denen er zu verschiedenen Zeiten ab und an begegnete. So schreibt er unter dem Titel „Der Außenseiter vom Mönchsberg“ etwas über seine Begegnungen mit Gerhard Amanshauser und ergänzt dies chinesisch verfremdet durch den Text „Zusammenkunft mit Meister Mu“. Der Essay „Woher sollte er mich kennen?“ rückt Peter Handke und seine Begegnungen mit Walter Kappacher in unseren Blick.

Sehr gerne gelesen habe ich auch Kappachers sehr lebendig geschriebene „Erinnerungen an Erwin Chargaff“: „Es wird kein Platz für uns sein“. Auch für die Lektüreanregungen, die ich darin fand, bin ich dankbar.

In seinen in sehr unterschiedlichen Textsorten gefassten weiteren Beiträgen befasst sich Kappacher unter anderem mit Thomas Bernhard („Der Maulwurf / Träume mit Thomas Bernhard“) und mit James Joyce und mit Jean Paul, mit Alexander von Villers und mit Jane Austen. Aber auch einem „rätselhaften Bild“, „Hans Burgkmair und seiner Frau Anna Allerlai“, widmet er sich in einem Essay in interessanter Weise. Recht Persönliches erfahren wir in seinem Vaterporträt „Mein Vater“ und im kurzen Text „Hochkönig“.

Lesenswerte, wenn auch nicht sehr herausragende Erzählungen eröffnen den Band. Die erste Erzählung „Abschied von Cerreto“ wird vor allem für jene interessant sein und an Bedeutsamkeit zulegen, die Kappachers Roman „Selina“ aus dem Jahre 2004 bereits gelesen haben und das damals gestrichene, hier nachträglich zugänglich gemachte Kapitel auf diese Weise zuordnen können.

Ein Roman, der durch mehrmaliges Lesen gewinnt

Insgesamt hat mir das sehr anregende Bändchen Kappachers recht gut gefallen, so gut, dass ich mir anderthalb Wochen später seinen schon im Jahr 2012 erschienen Roman „Land der roten Steine“ auch noch kaufte und in meiner Sommerfrische ebenfalls sofort las. Während der Lektüre des langen Mittelteils „De vita beata“ stellte ich mir Leser(innen) vor, die sich bei der ausführlichen Wiedergabe dieser viertägigen Reise ins „Land der roten Steine“ in den Südwesten der USA vielleicht etwas langweilen könnten, und mir wurde bewusst, dass es wesentlich darauf ankommt, dies alles in der besonderen, erst einzufangenden Perspektive der Hauptfigur, des inzwischen im Ruhestand befindlichen Bad Gasteiner Arztes Wessely, zu sehen. Wer indessen diesen Mittelteil mit langem Atem durchsteht, wird im weit kürzeren dritten Teil („La vita breve“) diese Perspektive überzeugend nachgeliefert bekommen und bemerken, dass er sie auf Grund behutsamer Andeutungen schon mit dem ersten Teil („Vita nuova“) hätte einnehmen können. Kurzum: Hat man den ganzen Roman mit Geduld gelesen, werden die Innenspannungen deutlicher, und man bekommt Lust, ihn insgesamt gleich noch einmal zu lesen.

Es handelt sich zweifellos um einen Roman, der durch mehrmaliges Lesen gewinnt. Er ist so womöglich gegen unsere Zeit geschrieben. Wobei der wache Blick auf das, wovon unsere Zeit gezeichnet ist, der in diesem Roman dennoch waltet, nicht übersehen werden kann.

Walter Kappacher: „Die Amseln von Parsch“. Verlag Müry Salzmann , Salzburg – Wien 2013. 216 Seiten / 19,00 €

Walter Kappacher: „Land der roten Steine“. Carl Hanser Verlag, München 2012. 160 Seiten / 17,90 €




„Es wäre schön, kein Schriftsteller zu sein“ – Gerhard Amanshausers Tagebücher

Was bleibt mir von einem solchen, 400 Seiten starken Buch im Gedächtnis, das ich vor etwa 5 Monaten aufmerksam, mit großem Interesse und – entgegen dem sicher wohlmeinenden Rat des Vorwortschreibers Daniel Kehlmann – kontinuierlich von Anfang bis zum Ende gelesen habe? Vor allem das Gefühl, dass sich diese Lektüre Seite für Seite gelohnt hat.

932d2f1db4a4fbc2c09c04e3b7984c1a

Das Ende 2012 im Residenz Verlag posthum herausgegebene Buch der diarischen Aufzeichnungen des inzwischen schon 7 Jahre toten, aber noch immer als „Geheimtipp“ gehandelten österreichischen Schriftstellers Gerhard Amanshauser bietet neben bestechender Wahrnehmungstreue die facettenreiche Innenansicht eines intellektuell redlichen Autors, bei dessen Ausführungen man nie das Gefühl hat, der Autor habe bei diesen Tagebuchaufzeichnungen in erster Linie auf ihre spätere Veröffentlichung hin geschielt.

Sind seine Werke noch greifbar?

Man prüfe doch bitte einmal nach, ob auch nur eines der Bücher des von 1928 bis 2006 vorwiegend in Salzburg lebenden Schriftstellers G. Amanshauser auch nur in einer der Buchhandlungen Essens, Oberhausens, Bottrops, Duisburgs, Dortmunds oder Bochums (vielleicht dort?) griffbereit vorrätig ist. Man prüfe ebenso nach, ob in den Stadtbüchereien des Ruhrgebiets irgendwelche von seinen Büchern sofort ausleihbar und somit noch zugänglich sind. Meine Stichproben in Essen und Bottrop jedenfalls verliefen ergebnislos. Auch das hier vorgestellte Buch wird und wurde in den einschlägigen deutschen Buchhandlungen nicht beworben, nicht hervorgehoben, von gelegentlichen Besprechungen in der Süddeutschen Zeitung oder jüngst im Deutschlandfunk mal abgesehen.

Verlockender Titel?

Zugegeben, der Titel des Buches ist – wenn auch aus dem Zusammenhang gerissen – ein wörtliches Zitat von Amanshauser selber. Man findet den Satz irgendwo unter den Aufzeichnungen dieses Bandes. Ich glaube, es war noch vor der erreichten Hälfte des Buches. Wenn man Amanshauser als Schriftsteller schon etwas kennt oder sich vielleicht dabei an Nietzsches Selbstaussage „Nur Narr, nur Dichter!“ erinnert, ist der Titel in Ordnung. Vermag er aber auch jene, die Amanshauser überhaupt noch nicht kennen, dazu anzuregen, irgendeines seiner lesenswerten Bücher – wie z. B. „Als Barbar im Prater / Autobiographie einer Jugend“, „Mansardenbuch“, „Terrassenbuch“ oder „Sondierungen und Resonanzen“ endlich einmal aufzuspüren und zu lesen? Ich fürchte: Nein.

Der eine oder andere könnte sich bei diesem gewählten Titel doch vielleicht fragen: Warum sollte ich etwas von einem Schriftsteller lesen, dessen ausdrücklicher Herzenswunsch es offenbar gewesen ist, „kein Schriftsteller zu sein“? Oder sollten wir uns wie von ungefähr an das seltsame Phänomen erinnern, dass es wohl auch Propheten gegeben hat (vgl. das AT), die sich vehement der Zumutung zu entziehen suchten, Propheten zu sein, und ihr dennoch auf Dauer nicht zu entgehen vermochten.

Undogmatisch und diagnostisch

Mit undogmatisch diagnostischem Blick auf die Gegenwart hat Amanshauser nun tatsächlich und ziemlich illusionlos Zukünftiges mit im Visier. Auch wenn er von sich selber her ein „Schriftsteller wider Willen“ genannt sein mag, ein beachtlicher, ernst zu nehmender Schriftsteller ist er trotz kritischer Selbsteinschätzung zweifellos. Es fällt allerdings auf, dass in all seinen Tagebuchaufzeichnungen, insbesondere wenn sie sich auf das Schriftstellermilieu oder auf ihn selber beziehen, es nicht einen einzigen zeitgenössischen deutschsprachigen Schriftsteller von Rang für Amanshauser gibt, den er für literarisch herausragend und wirklich über alle Maßen hervorhebenswert halten würde.

Einigermaßen gut kommen immerhin Ilse Aichinger, Walter Kappacher, Franz Fühmann, Nicolas Born, H. C. Artmann, Arno Schmidt, Sarah Kirsch und Gerhard Meier weg. Über Thomas Bernhard weiß er allerdings recht Bedenkliches, das haften bleibt, zu vermerken (vgl. insbesondere S. 271). Indessen: Mich hat, auf bildende Künstler bezogen (und den Tagebüchern ebenfalls zu entnehmen), z. B. sehr gefreut, dass Gerhard Amanshauser offenbar mit dem schätzenswerten Rudolf Hradil sehr gut bekannt, gar befreundet, gewesen ist und ihn und seine Bilder ebenfalls recht hoch geschätzt hat.

Botschaft des Umschlags

Im Übrigen: Ich gebe es ja gerne zu: Die Umschlagsbildbotschaft des Buches im Verein mit dem gelb herausgehobenen Autorennamen und dem vollen schwarz und weiß gefassten Titel ist bei näherem Hinsehen eine andere, eine erkennbar ironisch gebrochene. Die nur etwas erhöht aufgestellte Dichterkopfskulptur seines scheinbar schon bei Lebzeiten verbürgten Nachruhms begegnet dem noch lebenden Menschen Amanshauser, dem fragenden Aufblick seiner geschlossenen Augen wie dem stummen Halblächeln seiner geschlossenen Lippen. Blickt hier das Konterfei als Artefakt herab auf das Leben oder das Leben ironisch hinauf auf die Kunst?

Auf Buchseite 10 heißt es innerhalb eines längeren, den eigentlichen Tagebuchaufzeichnungen vorangestellten Amanshauser-Zitats: „Wichtig war, dass ich als Dichter völlig unbekannt war und kaum jemals etwas dem Druck übergab; denn später als der Ruf des Schriftstellers sich verbreitete, nahm meine Lebensfreude wieder ab, so dass ich zu der Überzeugung kam, das Ansehen als Dichter könne in unseren Tagen nur widrige und fatale Folgen haben.“

Nicht systematisierbar

Kosmischer Maßstab, Astronomie, Himmelsbeobachtungen, Wetterwahrnehmungen, jahreszeitliche Natureindrücke, Leben mit dem Garten, Sehnsucht nach dem Süden (insbes. Italien), periodischer Italienaufenthalt und seltene, andere Kurzreisen, das pauschal-symbolische Nördliche (das politisch und auch atmosphärisch und vom Lebensstil her Bedenkliche nördlich der Alpen), konsequente Religions- und Ideologiefixierungsverweigerung, entschiedene Distanz zu jeglicher geschichtsphilosophischen Spielart, die grundlegend antinazistische Haltung, das anziehend-abstoßende alljährliche Ritual verlagsgebundener Autorentreffen unter scharfer Beobachtung, Symptome unaufhaltsam scheinenden Kulturzerfalls und fortgesetzt andauernder Naturzerstörung, schonungslos klare Beobachtungen, treffende Formulierungen, Pessimismus gepaart mit Ironie und Humor, bis zuletzt: völliges Fehlen jeglicher Weinerlichkeit in Anbetracht der eigenen schweren Parkinson-Erkrankung; im Gegenteil, nahezu Aussparung des Reden davon…

(Zwischengedanke: Hatten Kierkegaard und Thomas Mann recht, wenn sie meinten, dass mit Bewusstsein Kranke bessere Voraussetzungen für Erkenntnis(se) böten als naiv Gesunde?)

Ein gewichtiges Thema ist auch der unselige Nazismus des eigenen biologischen Vaters und das Gegengewicht des einerseits geistigen Vaters und Mentors und andererseits als Lyriker (nicht als Essayist und Aphoristiker) von Amanshauser keineswegs unkritisch gesehenen Hermann Hakel.

Übrigens: Zahllose, en passant bei seinem freien diarischen Schreiben entstandene eigene Aphorismen Amanshausers, die er selber nicht nachträglich aus ihrem Zusammenhang gelöst und so als Aphorismen gekennzeichnet hat, ließen sich den für diesen Band chronologisch ausgewählten Tagebuchaufzeichnungen Amanshausers aus den Jahren 1964-1999 entnehmen und neu zusammenstellen.

Gerhard Amanshauser: „Es wäre schön, kein Schriftsteller zu sein“. Tagebücher. Residenz Verlag, St. Pölten/Salzburg/Wien, 2012, 400 Seiten. 26,90 €




Auschwitz auf der Opernbühne: „Die Passagierin“ als DVD-Edition

51PRfuZM1DL

Dies ist eine nachdrückliche Empfehlung: Die DVD der Bregenzer Aufführung von Mieczysław Weinbergs Oper „Die Passagierin“ überzeugt durch präzise Inszenierung, durchdachtes Bühnenbild, spannungsvollen Handlungsablauf, die Figurenzeichnung und -verkörperung, die Rezitative sowie den Einzel- und Chorgesang und durch die orchestrale Musik.

Nie hätte ich vorher gedacht, dass es möglich wäre, noch dazu überzeugend möglich wäre, ein derartiges Thema ins Zentrum einer Oper zu stellen. Zwar, dass man sich auch an diesem Thema mal vergreifen können würde, habe ich schon vor 30 Jahren geargwöhnt, als ich mal gesprächsweise prognostizierte, dass der Tag nicht fern sei, dass man auch aus Auschwitz noch ein Musical machen werde.

Was ich damals noch nicht wusste, was fast jeder nicht wissen konnte, war dies, dass eine Oper zu diesem Thema schon seit dem Jahre 1968 existierte. Eine Oper übrigens, die auch ihr Komponist, ein russischer Komponist mit polnisch-jüdischen Wurzeln, den ich vor drei Jahren noch nicht einmal namentlich kannte, zeitlebens nie in einer Aufführung hören konnte, nämlich weil sie nie aufgeführt wurde, in der UdSSR nicht aufgeführt werden durfte.

„Als er in den letzten Jahren seines Lebens gefragt wurde, welches Werk er für sein wichtigstes halte, antwortete Weinberg ohne Zögern: D i e P a s s a g i e r i n. Noch zwei Tage vor seinem Tod 1996 klagte er gegenüber Alexander Medwedjew, dem Librettisten des Werkes und bedeutenden Musikwissenschaftler, dass er das Werk nie gehört habe. Um ihn zu trösten, versprach Medwedjew, ,doppelt‘ genau zu hören, falls die Uraufführung jemals stattfinden würde: einmal für den Komponisten und einmal für sich selbst. Medwedjew konnte sein Versprechen am 25. Dezember 2006 bei der konzertanten Aufführung des Werkes im Swetlanow-Saal des Moskauer Hauses der Komponisten einlösen.“ (Zitat aus David Fanning: Mieczysław Weinberg / Auf der Suche nach Freiheit“ / aus dem Englischen von Jens Hagestedt, Wolke Verlag, Hofheim 2010, S. 131)

Im Sommer 2010 hatte ich zwar in einem sehr positiven Bericht der Sendung „Kulturzeit“ in 3sat mitbekommen, dass Weinbergs Oper im Rahmen der Bregenzer Festspiele aufgeführt worden sei, ohne dass ich diesen Hinweis damals mehr als zur Kenntnis nahm. Erst in diesem Jahr wurde ich wieder auf Weinberg aufmerksam, zunächst durch die ganz hervorragenden, brandaktuellen Aufnahmen seiner sämtlichen Violinwerke auf 3 CDs mit Linus Roth, Violine, und José Gallardo, Klavier, dann durch 4 (inzwischen 6) CDs mit den von dem Quatuor Danel dargebotenen Streichquartetten Weinbergs, und schließlich, nachdem ich endlich gemerkt hatte, welch großartigen Komponisten ich bislang noch nicht gekannt hatte, die Opern-DVD „The Passenger“ (op. 97), von der hier vor allem die Rede ist.

Fürs Fach Deutsch war in der gymnasialen Oberstufe in NRW vor nicht allzulanger Zeit noch Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser“ als Kurs-Lektüre verbindlich vorgeschrieben. Dieser Roman kam (trotz aller kritischen Vorbehalte, die man haben könnte; vgl. etwa die Rezension von Jeremy Adler) bei den Schülern in der Regel gut bis sehr gut an. Dies habe ich in meiner allerletzten aktiven Zeit als Lehrer noch mitbekommen. Heute würde ich ganz entschieden diesen Roman mit der zunächst ganz ähnlich in deutscher Nach-Auschwitz-Zeit ansetzenden Oper konfrontieren: als Ergänzung und Kontrast für eine mit ziemlicher Sicherheit noch ergiebigere Besprechung.

Wer Opern immer noch vorurteilsvoll grundsätzlich meidet, könnte sich zumindest die der Oper zugrundeliegende Romanvorlage der polnischen Auschwitz-Überlebenden Zofia Posmysz aus dem Jahre 1962 etwas genauer ansehen. Dieser Roman mit dem gleichen Titel „Die Passagierin“ erschien auf deutsch erstmals 1969 in der Übersetzung von Peter Ball und ist inzwischen wieder neu aufgelegt worden.

Die Opern-DVD überrascht übrigens auch durch eine außergewöhnlich gute Kameraführung und durch exzellente, sehr aufschlussreiche Extras, so mit einem Documentary unter dem Titel „In der Fremde“. (Je nach dem, wo man diese DVD der Firma NEOS erwirbt, kostet sie zwischen 30 und 40 Euro.)




Ein Künstler- und Lebensroman: Ralph Dutlis Debüt „Soutines letzte Fahrt“

Was haben Ralph Dutli und Theodor Fontane miteinander gemeinsam?
Sie haben beide mit 58 / 59 Jahren ihren ersten Roman veröffentlicht.

Bei Fontane wissen wir, dass auf seinen umfangreichen Erstling „Vor dem Sturm“ noch viele gute, meist kürzere Romane gefolgt sind, bis hin zu seinem späten, wieder etwas umfangreicheren Meisterwerk „Der Stechlin“; bei Dutli wissen wir vorerst nur, dass ihm sein Erstling wirklich gut gelungen ist und dass wir vielleicht noch auf weitere Roman-Überraschungen von ihm gefasst sein dürfen.

9783835312081l

Ralph Dutlis 272 Seiten umfassender Roman „Soutines letzte Fahrt“ scheint sich vom Thema her vorrangig in die gerade auch aus der deutschen Literaturgeschichte her bekannte Gattung „Künstlerroman“ einzureihen.

Denkt man kurz nach, fallen einem auch durchaus einige deutschsprachige Künstlerromane ein, in denen Maler, überhaupt bildende Künstler, mehr oder weniger zu Hauptfiguren bestimmter Romane auserkoren worden sind: „Franz Sternbalds Wanderungen“ (Ludwig Tieck), „Maler Nolten“ (Eduard Mörike), „Goya oder der arge Weg der Erkenntnis“ (Lion Feuchtwanger), „Der Judas des Leonardo“ (Leo Perutz), „Deutschstunde“ (Siegfried Lenz) usf.; auch Erzählungen wie „El Greco malt den Großinquisitor“ (Stefan Andres) und „Barlach in Güstrow“ (Franz Fühmann) sollten nicht unerwähnt bleiben.

Dennoch: Romane von Rang, in denen weltberühmte Maler porträtiert werden, sind ziemlich selten, und wenn es auch Romane über Rembrandt, van Gogh, Michelangelo, Grünewald u.s.w. durchaus gibt, wird man solche nur ganz selten unter den Hauptwerken der Literaturgeschichte finden. So mag es weise gewesen sein, dass Albrecht Dürer bei Tieck und Leonardo da Vinci bei Perutz nur am Rande oder im Hintergrund auftauchen oder aber auf bekannte, allzubekannte Namhaftigkeit auch außerhalb des Romans (vgl. „Maler Nolten“) gleich ganz verzichtet wird.

Ralph Dutli wählt sich für seinen biographisch fundierten Roman einen Maler aus wie Chaim Soutine, der im öffentlichen Bewusstsein vom Bekanntheitsgrad her bei weitem nicht so verankert ist wie etwa Pablo Picasso oder auch Marc Chagall, die übrigens in Dutlis Roman durchaus nicht unerwähnt bleiben und von denen Marc Chagall sogar gelegentlich als Kontrastfigur zu Chaim Soutine dient. Dass Ralph Dutli nun anders als im Falle Ossip Mandelstams keine Biographie schreibt, sondern gleich einen Roman, scheint mir im Fall von Chaim Soutine durchaus angebracht und vermag vor allem im Ergebnis voll zu überzeugen.

Wir begleiten Chaim Soutine für die Zeit vom 6. August 1943 bis zu seinem Tod am 9. August 1943 auf seiner letzten Fahrt von einem Krankenhaus in Chinon zu einem in Paris, zu dem er langwierig und vorsichtig auf Schleichwegen in einem Krankentransportgefährt, das sich als Leichenwagen tarnt, schließlich gebracht wird. Ob diese Fahrt nun genauso stattgefunden hat oder auch nicht, ist nicht sicher verbürgt (wodurch Raum für behutsam und einfühlsam Fiktives entsteht), wohl aber, dass dieser umständliche Transport von Chinon nach Paris mit dem baldigen Tod des Malers geendet hat, da die erhoffte Operation in Paris keine Lebensrettung mehr bringen konnte.

Im Roman nun begegnen wir, auf der Folie seiner von seiner Lebensgefährtin Marie-Berthe Aurenche begleiteten letzten Fahrt, Kapitel für Kapitel (auf so kunstvoll wie plausibel verschlungene Weise) bestimmten früheren Lebenssituationen des ursprünglich aus einem Schtetl bei Minsk herstammenden Malers. Dabei entsteht ein sehr dichtes Bild; ein lebendiges Porträt dieses Malers und seiner Eigenart und seiner Stellung unter den Menschen und ein Bild von der oft recht verworrenen, nicht nur für diesen jüdischen Maler gefährlichen Zeitsituation.

Das rege Interesse an dieser Lektüre ist bei mir nie erlahmt, aber erst mit dem äußerst feinfühligen, ein indirektes, zeitlich versetztes Zwiegespräch zweier einander auch unausgesprochen Liebender montierenden 14. Kapitel („Mademoiselle Garde und das nichtige Glück“, ein Kapitel, das man indes nicht isoliert, sondern im Zusammenhang des Ganzen lesen sollte) habe ich den Roman zu lieben begonnen.

Es steht zu hoffen, dass der Roman Ralph Dutlis den Blick auf die geretteten Bilder Chaim Soutines neu zu beleben vermag bzw. allererst eröffnet.

Ralph Dutli: „Soutines letzte Fahrt“. Roman, Wallstein Verlag Göttingen 2013, 272 Seiten, 19,90 Euro.




Gerhard Roth und die Gugginger Künstler: Tolle Bilder, empathisch einfühlsame Texte

Rechtzeitig vor dem Geburtstag Gerhard Roths, des bedeutenden österreichischen Schriftstellers, der am 24. Juni 70 Jahre alt wurde, erschien im Mai im Residenz Verlag ein opulenter Text– , Bild– und Foto–Band: Gerhard Roths „Im Irrgarten der Bilder / Die Gugginger Künstler“.

So wichtig Gerhard Roths Texte für diesen Bildband auch sind, sie legen allesamt Wert darauf, die individuelle Besonderheit der Gugginger Künstler vordringlich und in uns Leser…n nachhallend zur Geltung kommen zu lassen. Was in meinem Falle zweifellos gelungen ist.

Also: Legen Sie alle Vorurteile und Vorbehalte, die Sie trotz Hans Prinzhorns Buch von 1922 und trotz Leo Navratils Veröffentlichungen vielleicht immer noch gegen die „Bildnerei“ und Gestaltungskraft von Schizophrenen und „Geisteskranken“ haben, wenigstens versuchsweise ab und lassen Sie sich ein auf die beeindruckenden, individuellen Bilderwelten der Gugginger Maler, Zeichner und Poeten. Hier nämlich werden sie zugänglich; in gewahrter, bewahrter Fremdheit und mitunter überraschender Nähe und Klarheit.

Eines der Buchkapitel (überschrieben mit „Im Haus der schlafenden Vernunft“) spielt schon im Titel auf die Bildunterschrift der bekannten Goya-Radierung an: „Der Schlaf der Vernunft gebiert Träume und Ungeheuer.“ Mir selbst kam sogleich auch noch der folgende, ebenfalls generell gemeinte, mir seit langem ebenfalls wichtige Satz des Philosophen Schelling in den Sinn: „Der Verstand ist der geregelte Wahnsinn.“

Welchen Zugang zum Schöpferischen haben die Künstler unter jenen, die in besonderer Weise auch außerhalb der Träume der Nacht von den Regelungen des eigenen Verstandes, sei’s zeitweise, sei’s dauerhafter, entbunden sind? Solche und ähnliche die Künste und den Menschen betreffende Fragen haben mich in der letzten Woche interessiert, als ich in der selten kurzen Zeit entschieden großer Sommerhitze endlich zu einer genaueren und intensiveren Lektüre dieses Text- und Bildbandes gekommen bin. Da schon schrieb ich:

„Einen kleinen Tisch nehme ich mir, auf dessen obere Fläche das große tolle Buch auch aufgeschlagen gut passt, setze mich in den Schatten auf den Balkon und lese und schaue und lese mich fest.“ –

„Auffällig: die „Irren“ schreiben“ – ob handschriftlich, ob in Blockschrift – „ noch immer in einer Schönschrift, die auch ich in meiner Kindheit in Österreich ganz ähnlich gelernt habe.“ –

„Was denn noch schreiben über dieses im Buch selber schon Geschriebene hinaus? – Anregend ist es allemal. Und die einzelnen Bilder warten darauf, dass man über ihnen ins Sinnieren kommt und nun selber über sie schreibt und denkt, auf eigene Weise und ganz privat.“ –

„Gerhard Roth hatte jeweils Mut zu eigener Subjektivität im geduldigen Anschauen und Wahrnehmen; und fordert so wie von selbst unser Subjektives, Verwandtes Suchendes und auch Findendes, heraus.“ –

„Dieses Buch wird mich weiterbeschäftigen. Ende nicht absehbar.

„Um das Rätsel des Menschseins geht es auch hier: um das Rätsel des Menschseins, das (nur aus moderner Sicht?) unlösbare; in Kunstwerken aller Zeiten und Kunstrichtungen wäre es dann immer wieder in seiner Rätselhaftigkeit sichtbar gemacht und dargestellt worden; das Rätsel wäre so vielleicht zwar immer noch unlösbar, aber doch zugänglicher gemacht.“ –

„Durch diese Bilder und durch Gerhard Roths verfasste Einzelporträts fühle ich mich wieder offener für alte und neue Kunst und bin wohl auch wieder offener für andere Menschen geworden, lerne sie ggf. besser verstehen, schon von der neu gewonnenen Ausgangslage her.“ –

„Erst katalogartig lesend, mir erst nur die naheliegenden Fragen vorlegend: Was ist unter den Künstlern von Gugging zu verstehen? Wie heißen sie? Wie hat sich alles entwickelt?“ –

„Und auf alle diese Fragen im fortlaufenden Lesen ausführlich Antwort bekommend, ziehen mich die hier zusammengestellten Beiträge Gerhard Roths, seine Einzelporträts von Gugginger Malern und Poeten, mehr und mehr hinein
und wirken sich produktiv auf mich selber aus, mich nach meiner etwaigen Eigenproduktion fragend, mich darin ermutigend und bestärkend, mich auf meine ureigene Nuance verweisend.“

Gerhard Roth: „Im Irrgarten der Bilder / Die Gugginger Künstler“, Residenz Verlag, St. Pölten/Salzburg/Wien. 360 Seiten, € 39,90.




Eine Herzmanovsky-Verführung

Kaum dass der vor kurzem im Residenz Verlag erschienene Bild- und Textband „Forscher im Zwischenreich / Der Zeichner Fritz von Herzmanovsky-Orlando“ uns in den Blick gerät, schon nehmen wir ihn in die Hand und ahnen sofort, welch schönes, welch interessantes Buch wir da in Händen halten.

Die Bildreproduktionen sind einladend, eröffnen einen Blick in eine ganz eigene, durch mangelnde große Bekanntheit noch recht unverbrauchte Welt. Druckbild, Farbgebung, etc. alles einwandfrei, ja hervorragend.

Es mag dabei ein beträchtlicher Vorteil sein, dass FHO (= Fritz von Herzmanovsky-Orlando) zum Beispiel in Deutschland noch nicht allzu bekannt ist, aber auch in Österreich dürfte der beeindruckende Zeichner FHO weit weniger bekannt sein als der Schriftsteller. Zwar kamen auch in Deutschland FHOs sämtliche schriftstellerischen Werke erst in der originären Ausgabe des Residenz Verlages heraus, dann vor allem jedoch (allerdings mit mir unbekanntem Erfolg) in der dreibändigen Lizenzausgabe bei Zweitausendundeins. Aber richtig bekannt ist der Schriftsteller in Deutschland nicht geworden, sicher am wenigsten noch nördlich des Mains, also auch nicht im Ruhrgebiet.

Gewiss: In der Reihe des Heyne-Verlags „Das besondere Taschenbuch“ erschien einst in den 80er-Jahren Herzmanovskys wegen seiner Skurrilität wohl berühmtester Roman „Der Gaulschreck im Rosennetz“ mit den vom Autor selber stammenden Illustrationen. In einer Kultsendung wie der vom Hessischen Rundfunk (HR2) ausgestrahlten Ratesendung Peter Härtlings, „Literatur im Kreuzverhör“, kamen mindestens zweimal schon Texte FHOs vor, bei denen nach anonymer Textverlesung der Autor erraten oder gewusst, jedenfalls gefunden werden musste und durch Telephonanrufer auch erraten wurde. Auf den Literaturreisen von „Begegnung mit Böhmen“, eines Reiseunternehmens aus Regensburg, lässt sich u. a. der literaturkundige Reiseleiter Arthur Schnabl wirkungsvoll vorlesbare Texte von FHO wie z. B. den „Wassertrompeter“ wohlweislich auch nicht entgehen.

Aber nach wie vor gilt: So richtig im Bewusstsein durchgesickert und bleibend angekommen ist Fritz von Herzmanovsky-Orlando als Schriftsteller und als Eigenillustrator, gar als eigenartiger und beeindruckend eigenständiger Zeichner zumindest in Deutschland noch nicht.

Das neue Buch des Residenz Verlages kann dem nun durchaus verführerisch Abhilfe schaffen, so es denn wahrgenommen wird. Und das darf man ihm vorbehaltlos wünschen. In diesem wunderbar ausgestatteten Band kann man den großartigen Zeichner FHO entdecken und sich zugleich indirekt einen Zugang zu seinem Werk als Schriftsteller verschaffen; oder umgekehrt, wenn man von FHO schon etwas gelesen hat, kann man in seinen Zeichnungen eine andere, womöglich die originäre Seite von ihm in unverklemmter Offenheit präsentiert bekommen. Und wirklich: Von der chronologischen Abfolge her scheint das reife zeichnerische Werk (das jedoch zeitlebens bei FHO, also auch in seiner stärker schriftstellerisch geprägten Lebensphase) nie ganz aufhört, dem schriftstellerischen voran- bzw. vorauszugehen. Im Haupttext des Buches, im vielgliedrigen Essay von Arnulf Meifert, wird jedenfalls u. a. aufgezeigt, wie sehr auch noch das schriftstellerische Werk FHOs von dem zeichnerischen her gespeist wird, ja sich geradezu aus ihm heraus entwickelt, mental, thematisch, figural.

Fürwahr, eine Herzmanovsky-Verführung ist dieser Band, eine gelungene Verführung zu ihm als Zeichner und von da her alsbald wohl auch zu ihm als Schriftsteller. Meine Anspielung auf Rolf Vollmanns im Dezember des letzten Jahres im Albrecht Knaus Verlag erschienenen Doppelband „DER DÜRER VERFÜHRER oder die Kunst, sich zu vertiefen“ ist dabei ganz bewusst. Zudem: eine klare Überschneidung gibt es auch.

Auf der Seite 31 des FHO-Bandes finden wir eine Wiedergabe von Albrecht Dürers Radierung „Der Spaziergang“ – ein auch bei Vollmann eingehend betrachtetes Bild (vgl. dort die Seiten 33 – 35 des 1. Bandes) – konfrontiert mit FHOs Dürer-Adaption in Form einer Zeichnung.

Gerade der direkte Vergleich verrät sehr viel von der Herzmanovskyschen Eigenart, die weder vor Verknappung und Leichtigkeit noch vor satirisch grotesker Zuspitzung bzw. ironisch-humorvoller Scheinverniedlichung (hier des Todes) zurückschreckt. Wie überhaupt der Bezug auf schon vorhandene Kunstwerke, an denen er sich bewusst schulte und abarbeitete, indem er sich bewusst dagegen abhob, Fritz von Herzmanovsky-Orlando zu seinem Eigenen mitverholfen haben mag.

Arnulf Meifert tut zusätzlich das Seine zur Verdeutlichung von FHOs Eigenständigkeit, indem er ihn wiederholt gezielt und durchaus abweichend von eingeschliffenen Mustern mit Alfred Kubin, vor allem aber mit Paul Klee zusammensieht, mit dem FHO u. a. den Begriff „Zwischenreich“ teilt, wiewohl ganz anders akzentuiert.

Das fast unbekannte, recht liebevoll und höchst ansprechend präsentierte Bildmaterial alleine schon lohnt die Anschaffung dieses Bandes: Freizügig und dezent tabulos sind diese Bilder – und faszinierend merkwürdig, wenn man in ihnen immer wieder eine Verschränkung von weiblich-feenhafter Dominanz mit bis zur Karikatur submissen männlichen Ungestalten wahrnimmt, eine Verschränkung eines paradiesähnlich gemeinten Zustandes also – mag man diesen nun als eine bildgewordene Utopie oder als konzentrierte Privatmythologie auffassen – mit einer das Männliche immer wieder herabstufenden realsatirischen Konkretion.

Der große Essay von Arnulf Meifert vor allem, aber auch die kleineren Beiträge von Peter Assmann, Franziska Meifert und Siegfried de Rachwitz nebst einer den Band abschließenden Übersicht der Werke im Museumsbesitz, vermitteln uns auf wichtig erhellende, durchaus ideologiekritische Weise Zusammenhänge und Hintergründe. Politisch Schlimmes, sehr Schlimmes und in künstlerischer Form weniger Schlimmes, da künstlerisch Gebanntes, so lernen wir, entstammen ein und denselben geistigen bzw. gelegentlich abstrusen Strömungen nach 1900, an denen insbesondere auch FHOs Frau Carmen, ihn stark beeinflussend und zugleich seiner sexuellen Veranlagung maßgeblich entgegenkommend, regsten Anteil nahm.

Es fällt auf, dass Arnulf Meinert Fritz von Herzmanovsky-Orlandos phantasievoller Zeichenkunst vordringlich eine gewisse „Bannbildfunktion“ (S.62) zuzuerkennen bereit ist, ihn im Übrigen gelegentlich auch als Vorwegnehmer der Surrealisten feiert.

Als besondere Bereicherung des Bandes habe ich empfunden, dass Arnulf Meifert an den Beginn eines jeden der sieben Kapitel seines Hauptessays je eine ganze Drittelseite sehr gut ausgesuchter thematischer Aphorismen gestellt hat. Diese (von sehr verschiedenartigen Autoren stammend) sind fast durchweg kaum bekannt, wiewohl von meist hoher bis sehr hoher Qualität.

Arnulf Meifert / Manfred Kopriva (Herausgeber): „Forscher im Zwischenreich. Der Zeichner Fritz von Herzmanovsky-Orlando“. Residenz Verlag. 256 Seiten, 36 €.




Den eigenen Tod sterben – Gerbrand Bakkers Roman „Der Umweg“

Eine Literaturwissenschaftlerin aus Amsterdam, die wegen einer Affaire mit einem jungen Studenten ihren Arbeitsplatz an der Universität verloren hat und ihre Dissertation über Emily Dickinson auch deswegen nicht mehr vollendet, ist kurz entschlossen aus ihrer gewohnten Umgebung geflohen; sie ist gewillt, fortan in einer ihr fremden, englischsprachigen Umgebung zu leben und wohl auch zu sterben, lässt also – zunächst für die beiden letzten Monate des Jahres (2009) – ihr bisheriges Leben unvermittelt hinter sich. Nicht in Irland, wie von ihr ursprünglich beabsichtigt, kommt sie unter, sondern eher zufällig in Wales. Sie mietet dort auf dem Lande Haus und sporadisch Arbeit erforderlich machenden Landbesitz, die überschaubare Hinterlassenschaft einer Witwe namens Evans. Weder der Ehemann der nunmehr ehemaligen Anglistikdozentin aus Amsterdam noch deren Eltern wissen, wo sie geblieben ist. Sie wissen auch nicht, dass bei ihr überraschend eine tödlich schwere Krankheit diagnostiziert worden ist, herausgefunden im Anschluss an getrennte medizinische Fruchtbarkeitsuntersuchungen bei ihr und ihrem Mann. Im Falle des Ehemannes – sein schließliches Beinahwissen betreffend – zumindest zunächst noch nicht.

————————————————————————————————————————

Keines, bislang leider noch keines der bisherigen Bücher des niederländischen Autors Gerbrand Bakker habe ich vor seinem neuesten, in der Übersetzung Andreas Eckes jetzt bei Suhrkamp erschienenen Roman „Der Umweg“ gelesen. Dass ich mir gerade diesen jetzt ausgesucht habe, dürfte ein besonderer Glücksfall sein. Es handelt sich um eine Lektüre, die sich durchweg gelohnt hat, die – aus verschiedenen Gründen – lange nachschwingt. Dass ich endlich auch so richtig aufmerksam geworden bin auf die Gedichte, die Briefe und die Person Emily Dickinsons, von der ich merkwürdigerweise zuvor allenfalls den Namen kannte, ist dabei ein ganz wundervoller, mir sehr willkommener Nebenertrag.

Bakkers Roman stelle ich seinem erzählerischen Rang nach – ohne zu zögern – dem thematisch verwandten Kurzroman Juan Carlos Onettis „Abschiede“ zur Seite. Gemeinsam ist beiden Romanen die von beiden Autoren beeindruckend beherrschte Kunst des Aussparens und Dennoch-Sagens. Im einen Fall (bei Onetti) entsteht in uns das Portrait eines dem baldigen Tode anheimgegebenen Mannes mittleren Alters, im anderen (bei Bakker) das einer zwar noch relativ jungen Frau in ähnlicher Situation und – ein wenig unpräzis dahinter – das Portrait ihrer wortkargen, eben nur bruchstückhaft aufscheinenden Geschichte und Vorgeschichte. Ich bin davon überzeugt, dass jeder Leser nach erfolgter Lektüre sein spezifisches Bild von dieser Frau und ihrem Leben als Ganzes haben wird, ohne dass im Buch selbst über bloße Andeutungen hinaus in genauerer Weise triftige Details ihrer Lebensgeschichte mitgeteilt worden wären.

Dass Agnes, sich selber als „Emilie aus Rotterdam“ vorstellend (S.91), die so umfangreiche wie geschwätzige Dickinson-Biographie des Dickinson-Forschers Habegger die sie gegen ihre eigene Erwartung doch nach Wales mitgenommen und eben nicht in ihrem „Büro in Amsterdam“ (S.96) zurückgelassen hatte, schließlich in den Abfalleimer wirft (S.164), scheint mir sprechend genug: Auch eine noch so sehr lückenlos sein wollende Biographie kommt an das Leben eines Menschen nicht wirklich heran. Je angestrengter und detailfreudiger sie sich darum bemüht, umso weniger. Ebenfalls bezeichnend mag es durchaus sein, dass Emilie den Band mit den gesammelten Gedichten der Dickinson selber, obwohl sie diese schon im Ansatz ihrer unvollendet gebliebenen Dissertation keineswegs pauschal zu überschätzen bereit gewesen war, entschieden behält und so weiterhin in Ehren hält.

Ein acht Verse umfassendes Zweistrophengedicht in der englischen Originalsprache eröffnet portalartig, gewissermaßen als Motto Emily Dickinsons, den ganzen Roman Gerbrand Bakkers, ehe wir in die Folge der 61 Kapitel eintreten, die im Verhältnis von 25 : 36 auf die zwei Großkapitel „NOVEMBER“ und „DEZEMBER“ verteilt sind. Als 61. Kapitel steht ganz am Ende, damit dem Roman eine ringförmige Gestalt gebend, eine niederländische (bzw. hier in der Suhrkamp-Ausgabe deutsche) Übersetzung dieser beiden Strophen. Das Originalgedicht hatte nach dem Romantitel das erste, die Übersetzung ganz am Schluss das letzte Wort. Sie wirkt emphatisch unvermittelt als wesentliches Vermächtnis der weiblichen Hauptfigur des Romans; zumal diese Übersetzung ins Niederländische die einzige literarische Frucht ihrer letzten beiden Lebensmonate ist, die sie gezielt zuallerletzt in einem dem Vorbild und Vorleben der Dichterin analogen, ihr selber als Städterin und Ausländerin entschieden fremden ländlichen Rückzugsgebiet zugebracht hat. Noch einmal vor ihrem baldigen Ende will sie sich persönlich als sie selbst erproben.

Auf die Entsprechungen und die Unterschiede, auf die bewussten Adaptionen und die bewussten Abgrenzungen zwischen Emily Dickinson und Emilie, der weiblichen Hauptfigur des Romans, müsste eine nochmalige Lektüre besonders achten.
Einiges jedoch fällt schon bei der ersten Lektüre ins Auge. Agnes (aus Amsterdam!) nennt sich in Wales Emilie (aus Rotterdam!). Wohl bewusst und gleichsam symbolisch nennt sie sich nicht Emily, sondern Emilie; womit sie Nähe und Distanz gleichermaßen andeutet, auch wenn sie in Kauf nehmen muss, dass dieser Name von Bradwen Jones, dem walisischen Jungen, ohnehin englisch ausgesprochen wird. Agnes alias Emilie zieht der Sache nach (mehr indirekt als ausdrücklich) eine Parallele zu Emily Dickinsons ungelebtem Leben und ihrem bisherigen eigenen. Die meisten ihrer Aktions- und Reaktionsweisen, ihrer fluchtartigen Verhaltensweisen, die uns der Roman ins Bewusstsein ruft, lassen sich von diesem Kontext her besser verstehen.

Dazu passt, dass das englische Einstiegsgedicht nicht nur sprachlich übersetzt wird (S.182f.), und zwar so, wie wir es dem abschließenden Übersetzungsergebnis entnehmen können. Noch wichtiger für Agnes alias Emilie ist die mehr als sprachliche, die handlungsmäßig praktische Übersetzung dieses Gedichtes, will sagen: die ihr aus eigener Kraft noch mögliche, praktisch-szenische Umsetzung dieses Gedichtes. Dieses Gedicht wird von ihr zuletzt geradezu inszeniert: Es dient Emilie-Agnes zur selbstbestimmten Verlebendigung ihres Endes, zur selbstbestimmten vorzeitigen Herbeiführung des durch ihre schwere Krankheit in nächster Zeit ohnehin unvermeidbaren Lebensendes. Sie will ihren eigenen Tod sterben. Und auch der junge Mann, Bradwen, der im Dezember (!) gekommen ist und ihr im Angesicht ihrer schrittweise zunehmenden Hinfälligkeit so tatkräftig wie selbstverständlich geholfen hat, mit dem sie sich zuallerletzt, obschon auch einen Sohn in ihm erblickend, als Geliebte noch verbunden hat, vielleicht auch, damit er nur ja keinen Verdacht schöpft, gerade auch dieser soll sie erst n a c h ihrem Tode von neuem sehen. Deswegen schließt sie ihn nicht ohne Eigensinn und Hinterlist etwas entfernter von ihrem vorgesehenen Sterbeort ein und so vor ihrer zum Tode führenden Inszenierung optisch aus, die sie zusätzlich mit für sie sonst unüblicher, klassischer Musik teils übertönt, teils feierlich gestaltet. Ihr Mann, der inzwischen über einen Detektiv auf ihre Spur gekommen ist, findet sie mit dem ihn wegen seines Gipsbeines als Fahrer begleitenden Polizisten – erschließbar, aber in zumindest denkbarer Direktheit unerwähnt – nur als Leiche vor. Eine normale Reaktion empathisch-emotionaler Art des Ehemannes wird nicht mitgeteilt; als wenn sie ohnehin nicht zustandegekommen wäre. Dies spricht eine eigene Sprache: In ihrer Ehe bleibt Agnes alias Emilie allem Anschein nach auch n a c h ihrem Tode noch so allein, wie sie es zuvor in ihrem ganzen kinderlosen Ehe- und früherem Familienleben gewesen ist.

Unabhängig davon: Auch der Junge, der junge Bradwen, begibt sich nach seinem „Umweg“ (S. 151, S. 228f.) von diesem wieder weg auf den ursprünglich von ihm beabsichtigten Weg zurück. Wie eine ihr selber unbewusst Verklärte hat er Emilie-Agnes am Vortage nach ihrem ersten und zugleich letzten Zusammensein in geradezu neuer, so noch nie dagewesener Schönheit gesehn (S.226). Ehe er nun, nach ihrem Tod, (merkwürdig klaglos) wieder seiner eigenen Wege geht, schmückt er den von ihm unlängst für sie festlich geschmückten Weihnachtsbaum wieder ab und pflanzt ihn mit seiner noch lebenskräftigen Wurzel erneut ein. (S.228)

Gerbrand Bakker: „Der Umweg“. Roman. Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. Suhrkamp Verlag, 228 Seiten; 19,95 €




Dreiautorentreffen: Peter Henisch, Franz Kafka, Karl May

HENISCHKAFKAMAY

Zu Beginn von Peter Henischs, im Februar 2012 nach der Erstauflage 1994 erneut im Residenz Verlag aufgelegter Romanerzählung „Vom Wunsch, Indianer zu werden“ erbricht sich ausdrücklich drastisch nicht etwa Ottos Mops und auch kein Pferd vor irgendeiner Apotheke, sondern ein noch junger Mann von 25 Jahren, der sich, etliche Seiten später, als Franz Kafka herausstellt. Das heißt: seinen vollen Namen erfahren wir offiziell erst auf Seite 68, wie auch kurz zuvor den jenes anderen Schriftstellers, dem (samt zweiter Ehefrau Klara) Franz Kafka auf seiner fiktiven Überfahrt nach New York völlig unerwartet begegnet und der sich als erster (nach bereits am Vortag zufällig erfolgter erster Bekanntschaft miteinander) vorstellt, nämlich jetzt mit seinem richtigen Namen, und damit sein anfängliches Inkognito (= Mr. und Mrs. Burton) lüftend: Karl May; oder auch: „Dr. Karl May“, wie er etwas hochstaplerisch sagt.

Doch auch der Untertitel des Romans („Wie Franz Kafka Karl May traf und trotzdem nicht in Amerika landete“) – nicht unähnlich den partiell vorwegnehmenden Kapitelüberschriften, wie man sie mitunter bei Grimmelshausen, E. T. A. Hoffmann oder Irmtraud Morgner finden kann – hatte auch so schon bereits verraten, dass wir auf die Begegnung der so interessant ungleichen Schriftsteller May und Kafka gefasst sein dürfen, die sich, wie alsbald vermittelt wird, zur gleichen Zeit (Anfang September 1908) auf einer mehrtägigen Schiffsüberfahrt von Bremerhaven nach New York befinden. Die lizenzierte, inzwischen vergriffene Ausgabe des Fischer Taschenbuch Verlags vom Februar 1996 hat mit der Wahl des Titelphotos (fahrendes Ozeanschiff + Silhouette von New York) im Übrigen auch Letzteres von vornherein nahegelegt.

Nun aber! Welch schöner Lesezustand hätte das sein können, so male ich es mir aus, wenn nicht der Untertitel und auch nicht der Waschzettel des Verlags und auch kein Prospekt oder Zeitungsbericht irgendetwas vorher verraten hätte, und wir Lesende uns hätten einlassen können auf diese noch nicht sofort identifizierten Figuren! Ab wann hätten wir es denn dann gemerkt, dass die Rede von Franz Kafka ist, einerseits, und andererseits von Karl May und von dessen 2. Ehefrau Klara? Vielleicht hätten wir uns daran erinnert, dass es einen kurzen Prosatext Franz Kafkas mit eben dem Titel gibt, den Henisch für seinen Roman als Haupttitel gewählt hat, und dies schon als Fingerzeig genommen. Doch ohne Titelhinweis? – Spätestens als der junge Mann dem Herrn Burton, hinter dem sich niemand anderer als Karl May verbirgt, seinen eigenen Kurzprosatext „Vom Wunsch, Indianer zu werden“ auswendig vorträgt, wäre für eingeweihte Kafka-Leser die Identität enthüllt. “Spätestens“ sage ich, denn auch vorher werden Indizien, signalartige Hinweise für literarische Rätselrater von Zeit zu Zeit eingestreut; allerdings wie selbstverständlich, und vollkommen unaufgeregt.

Übrigens verwendet der Einstiegssatz, der erste Satz des Romans, nicht etwa die feinere Bezeichnung „sich erbrechen“, sondern unumwunden und gezielt das kräftigere, drastischere Wort „kotzen“. Gleich im ersten Satz des Romans wird (wiewohl noch anonym) ein kotzender Franz Kafka gezeigt. Er ist seekrank geworden. – Die Auskunft lautet sonach rigoros verknappt: Kafka steht an der Reling und kotzt. Das klingt so drastisch wie körpermäßig real.

Und doch: So ganz stimmt das nicht. Erzählt wird zunächst ganz entschieden im Konjunktiv II. Der Wechsel in das erzählerische Imperfekt erfolgt erst nach und nach; und reizvoll überschaubar.

Heraufbeschworen wird insgesamt eine real nicht zustandegekommene Begegnung von Franz Kafka und Karl May zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt. Zu einem Zeitpunkt, der genau datiert wird: 6. September 1908 und die Tage danach.

Von Anfang an ist klar: Wir werden dazu eingeladen, uns eine Situation vorzustellen, die es s o nie gegeben hat. Und die große Kunst des Autors Peter Henisch besteht darin, uns dazu zu bringen, dass wir uns ausgesprochen gerne auf dieses Spiel einlassen, bis wir uns unversehens vorstellen können: Es hätte alles so sein können. Beziehungsweise: War es nicht so? – Fakten und Hintergründe aus Franz Kafkas und Karl Mays Leben werden so klug wie einleuchtend, ja geradezu schwerelos in das erfundene Geschehen auf dem Atlantikdampfer eingebunden, dass wir den Eindruck haben, sehr viel Authentisches über diese beiden so sehr unterschiedlichen Menschen und Schriftsteller zu erfahren; aber nicht nur über diese beiden, sondern ähnlich viel über Karl Mays Frau Klara, dank und vermittels derer aus der im Untertitel suggerierten Zweierkonstellation durchaus pointiert eine unverkennbar geschehensbedingende wie heuristisch aufschlussreiche Dreieckssituation wird.

Auf diese Weise kann der Roman, ohne irgendwo allzuschwer zu lasten, auf sehr verschiedenen Ebenen gelesen werden: a) als ein vielfältig verschlungenes bzw. mehrbödiges Spiel von Fiktion und Realität, b) als ein doppelter bzw. versteckt dreifacher Künstlerroman im Spannungsfeld von sogenannter E- und U-Literatur, c) als ein Dreiecksroman in der grundierenden Konstellation älterer Mann und jüngere Frau und junger Mann, d) als ein erzählerisch-szenischer Versuch über den Erfolg und das Scheitern, e) als eine romanhafte Erkundung der Happy-End-Frage, wie auch – und das nicht nur hierarchisierend-bildhaft (vgl. Schiffsmetapher) – f) der sozialen. Die einzelnen Kapitel des Romans (sieben an der Zahl) folgen sinnvoll und folgerichtig aufeinander, binden behutsam und beglaubigend Rückblicke mit ein und vermögen jeweils in sich abgerundet für sich zu stehen. Strukturierende Entsprechungen und Variationen im Verlauf gibt es auch: Zu Beginn des 1. Kapitels „rettet“ das Ehepaar Burton alias May den eigentlich nur seekranken jungen Mann, der sich allerdings so weit vornüber beugt, dass er über Bord zu stürzen droht, und nach der Séance mit dem Ehepaar May (im 6. Kapitel) befindet sich der Herr Franz so sehr in Trance, dass er unmittelbar anschließend abermals über Bord zu gehen zu drohen scheint und abermals von Herrn May auf das Geheiß seiner Frau „gerettet“ wird. Die Situation des Anfangs kehrt also auf ähnliche Weise wieder und ist doch nicht bloß Wiederholung, wie der weitere Fortgang zeigt.

Bei dieser Doppelung einer bestimmten Rettungssituation könnte im Übrigen folgender literarische Vergleich erhellend sein: Die erste Situation gemahnt vielleicht an eine Episode aus Thomas Manns Künstlernovelle „Tonio Kröger“, dort aus dem 7. Kapitel: „Aber dort hinten stand, tief über Bord gebeugt, der junge Mann aus Hamburg und ließ es sich schlecht ergehen.“ Und die zweite Situation erinnert womöglich an Heinrich Heines Gedicht aus dem Gedichtzyklus „Die Nordsee“: „Seegespenst“, das auch in Fontanes „Effi Briest“ eine gewisse Rolle spielt, und dessen Schlussstrophe wie folgt lautet: „Aber zur rechten Zeit noch / Ergriff mich beim Fuß der Kapitän, / Und zog mich vom Schiffsrand, / Und rief, ärgerlich lachend: / „Doktor, sind Sie des Teufels?““ –

Das 5. Kapitel in Henischs Roman ist durchgängig als eine Folge von Briefen bzw. in Form eines einzigen langen, immer wieder neu ansetzenden Briefes von Franz (Kafka) an Max (Brod) gestaltet. Die derart wechselnde Kapitelgestaltung lockert das Ganze auf, wirkt überdies auch glaubhaft, weil Kafka tatsächlich in dieser Zeit so manchen Brief an Max Brod geschrieben hat. Auch stilistisch nehme ich diesen langen untergliederten Brief als einen Franz Kafka (zumindest der Figur Franz Kafkas, wie wir sie bei Henisch kennenlernen) durchaus zuschreibbaren hin, ohne allerdings ernsthaft stilistische Briefschreibvergleiche durchgeführt zu haben oder auch nur durchführen zu wollen. Zu sehr leuchtet mir die Henischsche Briefschreibversion von ihr selber her ein.

Zusätzlich erwähnt werden mag, dass die „Neuauflage“ 2012 als „eine vom Autor überarbeitete“ (S.4) daherkommt. Der genaue Vergleich mit der lizenzierten Taschenbuchausgabe von 1996 führte bei mir zu folgendem Befund: Peter Henisch hat seinen erstmals 1994 erschienenen Roman nirgends verändert. Sogar die alte Rechtschreibung hat er beibehalten. Da er ansonsten frühere Werke in bearbeitenden Neuauflagen durchaus verändert hat (vgl. z. B. den ebenfalls sehr lesenswerten Roman „Die kleine Figur meines Vaters“), bedeutet „überarbeitet“ in diesem aktuellen Falle wohl: Noch einmal durchgesehn und für gut befunden! Auch ich habe in der ersten Auflage nichts gefunden, was der Autor in der Neuauflage hätte ändern sollen. Ein durchweg gelungenes Buch, das viele Leser… verdient. Und beileibe nicht nur im Karl-May-Jahr 2012.

Peter Henisch: Vom Wunsch, Indianer zu werden / Wie Franz Kafka Karl May traf und trotzdem nicht in Amerika landete, 153 Seiten, Residenz Verlag, vom Autor überarbeitete Neuauflage 2012, € 19,90




Gespräche als Teil des literarischen Werks

 

 

 

 

 

 

Seit Eckermanns Gesprächen mit Goethe wissen wir, dass es Schriftstellergesprächsbücher geben kann, die man fast schon zu den Werken der betreffenden Schriftsteller zählen darf. Manchmal gelingt eine solche Werkausweitung auch heute. In den letzten Jahren bis hin in die allerletzte Zeit sind mir mindestens vier Gesprächsbücher untergekommen, bei denen dies der Fall ist.

Sie alle bieten Ergänzung wie Einstiegshilfe in das namhafte, manchmal etwas sperrige Werk der jeweiligen Schriftsteller… . Sie erleichtern gleichermaßen Zugänge für (unbedingt!) wünschenswerte Neuleser und vervollständigen, bestätigen oder korrigieren das vielleicht schon vorhandene Bild, das wir uns bereits konkret von Ilse Aichinger, W. G. Sebald, Julien Gracq und Ernesto Sábato durch eigene Lektüre gemacht haben.

In all diesen Büchern wird ein facettenreich reichhaltiges, ganz eigenes, in wirklich jedem Falle hochinteressantes Spektrum vermittelt.

Und wenn man zuguterletzt das große Buch der elf Gespräche Carlos Catanias mit Ernesto Sábato gelesen hat, kann man noch eines draufsetzen und auch noch den neuesten Essayband von Claudio Magris hinzunehmen, der recht viele sehr anregende und kundige Essays enthält und unter ihnen eben auch jenen, der in unseren Zusammenhang besonders gut passt, seinen Essay über Sábato: „Ernesto Sábato und das zweierlei Schreiben“. Wie Magris darin eine grundlegende Unterscheidung trifft zwischen der Essayistik Sábatos, seinem aufklärerisch eingreifenden, humanitätsorientiertem Schreiben, und seinem visionären Romanwerk, leuchtet mir ein, ich kann es durch eigene Sábato-Lektüre bestätigen. Nur eine einzige wesentliche Ergänzung hätte ich zu machen: In einem bestimmten, mich menschlich besonders bewegendem Kapitel im Schlussteil seines überragenden Romans mit dem unmöglichem Titel „Über Helden und Gräber“ gelingt es Sábato, mit einem Male wie nebenbei seine Tages- und Nachtdimensionen miteinander zu verbinden.

W. G. Sebald: „Auf ungeheuer dünnem Eis“. Gespräche 1971 bis 2001. Hrsg. Torsten Hoffmann. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 2011. 9,99 €

Ilse Aichinger: „Es muss gar nichts bleiben“. Interviews 1952 – 2005. Mit beigelegter CD. Hrsg. Simone Fässler. Edition Korrespondenzen, Reto Ziegler, Wien 2011. 23,00 €

Julien Gracq: Gespräche. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Literaturverlag Droschl. Graz/Wien 2007. 23,00 €

Ernesto Sábato: Zwischen Schreiben und Leben. Gespräche mit Carlos Catania. Aus dem Spanischen übersetzt von Erica Engeler. Verlag im Waldgut, Frauenfeld 1998. 25,50 €

Claudio Magris: „Das Alphabet der Welt. Von Büchern und Menschen“. Aus dem Italienischen von Ragni Maria Gschwend, Edition Akzente Hanser. München 2011. 21,90 €




Befreiung oder Verhängnis: Oper vs. Ehetrott in Peter Henischs neuem Roman

Der neueste Roman des österreichischen Schriftstellers Peter Henisch, „Großes Finale für Novak“, beginnt, ehe er beginnt, mit einem Bilderrätsel auf dem Schutzumschlag.

Eine requisitenhafte Amsel mit ihrem zu Gesang aufgesperrtem Schnabel, eine wie schussbereit von uns Betrachter…n abgewandte, aber irgendwie zielgerichtete Pistole – und eine Musikkassette, deren Bandaufspulung (fortan unabspielbar) aus dem Gehäuse herausgedröselt worden ist, bilden insgesamt eine Art Girlande, ein kunstvoll arrangiertes schwarzes Gebinde um das Blockbuchstabenzentrum herum, nämlich den Autorennamen, den in große rote Lettern gesetzten Romantitel und die Gattungsbezeichnung Roman, wodurch einerseits eine Inschrift, gleichsam wie auf einem Grabstein, assoziiert werden kann und andererseits in Folge der luftschlangenhaften Umrahmung sich etwas Theaterhaftes, Karnevaleskes, Silvesterscherzartiges anzukündigen scheint.

Was hat es mit der requisitenhaften Amsel und der requisithaften Pistole und dem ausgewickeltem und girlandenhaft unabspielbar gemachten Musikkassettenband aber denn nun auf sich?
Nein, ich gebe jetzt noch keine Antwort. Verfasse auch keine genaue Inhaltsangabe. Sage statt dessen allen potentiellen Leser…n aus voller Überzeugung: Eine lohnende Lektüre wartet! Schon wegen der Schreibweise! Aber nicht nur deswegen!

Auf alle Bilderrätselfragen des Schutzumschlages gibt der so schnell und leicht und so erfreulich unterhaltsam zu lesende und zugleich alles andere als anspruchslose Roman von Peter Henisch zunehmend seine eigene, zum Teil überraschende Antwort.

Peter Henisch: „Großes Finale für Novak“. Roman. Residenz Verlag. 304 Seiten, 22,90 Euro.

Auch wenn das gesamte nacherzählbare Handlungsgeschehen dieses Romans sich eklatant in einem einzigen Satz eines Polizeiberichts zusammenfassen ließe, bliebe dennoch sein Bestes unerwähnt. Das Beste dieses tragikomischen Romans, sein merkwürdiges Ineinander von Ironie, Amüsantheit und Schonungslosigkeit, ist nur der Lektüre selber zugänglich.

Mein eigenes Lektüreinteresse entzündete sich bereits an der Eingangsidee bzw. am Ausgangspunkt dieses Romans. Ein fünfundfünfzigjähriger, vorzeitig in den Ruhestand gehender bzw. in ihn hineingedrängter Postbeamter namens Franz Novak, der ganz ähnlich wie seine 48jährige Frau Herta niemals zuvor mit Opernmusik etwas am Hute gehabt hat, kommt unter ganz bestimmten Bedingungen im Krankenhaus dennoch mit solcher in Berührung, entwickelt so nach und nach Gefallen daran, ja wird mehr und mehr auf Opern versessen. Worüber seine Frau, als er aus dem Krankenhaus zurückgekehrt ist und er sich heimlich neuerworbene CDs anhört, überaus überrascht ist und deshalb etwas anderes dahinter vermutet. Sie wird eifersüchtig auf die junge indonesische Krankenschwester, von der ihr Mann die Opernkassetten samt Köpfhörern leihweise zur Abschirmung gegenüber äußerem Lärm für die Dauer seines Krankenhausaufenthaltes erhalten hatte; argwöhnisch eifersüchtig ist sie fortan, weniger aus Liebe zu ihrem Mann als aus Besitzanspruch und Besitzer…stolz und einem Gefühl eigener Gekränktheit heraus. Sie kämpft um ihn, dumpf entschlossen und rücksichtslos intrigantisch auch da noch, wo er selber es gar nicht merkt, und zerstört in letzter Konsequenz – und auch nachträglich noch in empörender Ungerührtheit – das Leben der Krankenschwester und ihrer kleinen Familie. Kleine Ursache, große Folgen! Überdies auch noch in einem anderen, im weiteren Romanverlauf zu erfahrenden Sinne.

Was mich an diesem Roman besticht, ist seine geschickte Dosierung und seine nur auf den ersten Blick harmlos unterhaltliche Aufdeckung von hinterhältiger Rücksichtslosigkeit. Am Anfang hatte ich mich vordringlich dafür interessiert, wie das wohl ginge, dass aus einem eingefleischten Opernmuffel noch in späten Jahren ein ausgesprochener Opernfreund zu werden vermöchte. Und siehe da: Das erfährt man auch. Wie nebenbei. Und durchaus informativ. Aber wohldosiert. Ohne jegliche Überfrachtung. Ein pädagogischer Zeigefinger, was zu tun sei, um den musikalischen Geschmack „in bildungsfernen Schichten“, also überall in unserer Gesellschaft, zu heben, fehlt völlig. Frühere, erst kürzlich verlassene Phasen des musikalischen Geschmacks (Tina Turner und Joe Cocker) werden nicht verleugnet. Ebenso werden „Heavy Metal“-CDs, die der vor Jahren nach Kanada ausgewanderte gemeinsame Sohn des Ehepaars, Bernd, in seinem Zimmer zurückgelassen hat, gebührend in das Geschehen miteinbezogen, als es für Franz Novak darum geht, den Lärm von Motorsägen und zusätzlichen Pressluftbohrern mit Kopfhörergegenwehr zu übertönen.

Sicher: Die Verfeinerung des Gehörs bei Franz Novak durch sein gezieltes, mehr und mehr interessiertes Opernhören wird ganz nebenbei auch deutlich, aber was der Roman vor allem zeigt, sind Szenen einer betagten Ehe, in der man sich wechselseitig zu kennen meint und doch immer wieder entscheidend verkennt. Insbesondere Herta Novak wird von ihren argwöhnischen Unterstellungen ihrem Mann gegenüber und dem in ihr schlummernden, nun akut virulent werdenden Ausländerhass beherrscht. Aber auch Franz Novak verkennt mitunter die gelegentlich eben auch vorhandenen, besseren Regungen seiner Frau, an die sich vielleicht anknüpfen ließe. Er ist zu zögerlich, schiebt zu vieles auf die lange Bank und unterlässt so heilsam vernünftige Schritte, die er manchmal durchaus ins Auge gefasst hatte. In seiner Ehe, in der die Frau das Sagen hat bzw. das Sagen mehr und mehr erlangt hat, wäre es in einem eher lieblosen Nebeneinander wohl noch länger so weiter gegangen, wenn nicht bei Franz Novak mit plötzlich einsetzender Macht die unerwartete Begegnung mit den Opern (gestuft in Form von Musikkassetten, CDs, Radiosendungen und eines einzigen, auch scheiternden Staatsopernbesuches) dazwischengekommen wäre, die in ungeahnter Konsequenz eine ganze Kettenreaktion in Gang setzt, insbesondere aber eine wichtige Ventilfunktion hat, sofern sie von da an weidlich genutzte, innere Freiräume durchgängig bereitzustellen in der Lage ist.

Fast könnte man auf die Idee kommen, dass durch Peter Henischs Roman „Großes Finale für Novak“ der auf die (im Roman nicht vorkommende) Eheoper „Fidelio“ gemünzte Terminus „Befreiungsoper“ einen veränderten, paradox-ironischen Sinn bekommen hat. Jegliche Oper ist für Franz Novaks inneren Haushalt der Sache und der Funktion nach eine Befreiungsoper. Henischs Roman selber hat gelegentlich ebenfalls diesen Charakter. Bei näherem Hinsehen jedoch ist dieser mit Bedacht tragikomisch grundierte Roman keinesfalls nur Oper im Sinne von Befreiungsoper, auch wenn die das letzte Wort zu haben scheint, sondern mindestens ebensosehr Oper im Sinne von Verhängnis à la „Die Macht des Schicksals“.

Noch eins: Wieso nur kam ich beim Lesen recht bald auf die Idee, die österreichische Gegenwartsliteratur habe in Peter Henisch auch so etwas wie ihren eigenen Wilhelm Genazino gefunden?




Ortsbegehungen in Mahlers Welt

Nicht nur im laufenden Mahler-Gedenkjahr, auch lange noch darüber hinaus, werde ich sehr gerne zu dem schönen, geschmackvoll edierten Lebensbuch greifen, das der Residenz Verlag unter dem Titel „Mahlers Welt / Die Orte seines Lebens“ unlängst hat erscheinen lassen. Alle, die sich für Mahlers große Symphonik interessieren, sich für sie zu interessieren beginnen, sie vielleicht sogar schon lieben, werden sich mit diesem stattlichen Band auf Dauer anfreunden können.

Man könnte dieses Buch, wenn man es in einem durch liest, im fortwährenden Ausgang von den akribisch aufgeführten und detailreich kommentierten, recht zahlreichen Wohn- und Aufenthaltsorten und innerstädtischen Wohnadressen Mahlers her als eine besondere Art Mahler-Biographie lesen, oder aber es chronologisch und vom sehr hilfreichen Register her recht vorteilhaft als Nachschlagewerk benutzen. Zudem: Wer im letzten Jahr im Wiener Palais Lobkowitz die Ausstellung „Gustav Mahler und Wien“ gesehen hat oder eine der bedeutenderen Biographien zu Gustav Mahler (z. B. die von Jens Malte Fischer) bereits kennt, findet in diesem Buch eine gute Ergänzung.

Aber auch jener, der ohne allzu große Vorkenntnisse ist, und, ohne dass er den Zugang zu den Mahlerschen Kompositionen bereits gefunden hätte, unversehens auf dieses Buch stößt, könnte bei der fortlaufenden Erkundung und der fortlaufenden, durch etwa 600 Photographien gestützten Besichtigung der Orte von Mahlers Lebens einen zumindest sekundären Zugang zu Mahlers Schaffen gewinnen.

Ohnehin kann einem der Gedanke kommen, ob nicht auch so schon jedes Menschenleben auf seine Weise interessant ist und gebührendes Interesse verdiente; und wie es wäre, wenn man nicht nur das Leben der Berühmten, sondern auch das der Obskuren Revue passieren ließe; ja sogar, wie es wäre, wenn man das Leben Nahestehender oder auch das eigene Leben in der Chronologie der jeweiligen Wohn- und Aufenthaltsfolge in ihrem Leben einmal etwas genauer unter die Lupe nähme. Gewiss: die Vita der bereits Berühmten wird immer – auch buchmarktsmäßig gedacht – von größerem Interesse sein. Aber seit welchem Jahrhundert (wenn nicht dem Zeitalter der Renaissance in Italien) gibt es überhaupt ein Interesse an Künstler…-Viten? Und liegt diesem Interesse am Biographischen bei Künstler…n nicht fast immer die affektiv besetzte Beachtung der von den Künstler…n geschaffenen Kunstwerke ursächlich voraus?

Und war es nicht auch bei Gustav Mahler ähnlich? Wie schändlich lange hat es doch posthum gedauert, bis er in der Öffentlichkeit die ihm und seinem schöpferischen Werk auch nur einigermaßen angemessene Würdigung endlich und erst nach erfolgter Schleusenöffnung geradezu boomartig gefunden hat! Anlässlich des vorliegenden, über 400 Seiten starken Bandes „Mahlers Welt“ (ein Titel, der einen an den des größten Bucherfolgs von Jostein Gaarder erinnert), male ich mir aus, wie ein ähnlich zugeschnittener Band mit Blick auf andere Künstler aussähe, die ähnlich häufig wie Mahler von Ort zu Ort, von Adresse zu Adresse gezogen sind. Mir kommen da auf Anhieb Kleist, Grillparzer, Dostojewskij, auch Kafka, in den Sinn, um von den bedeutenden exilierten Künstlern mal ganz zu schweigen.

Wer also, sagen wir im Ruhrgebiet, z. B. wissen will, was Mahler mit dem Ruhrgebiet zu tun gehabt hat, wird im Register nach Ruhrgebietsstädten Ausschau halten und dabei auf die Seitenhinweise zur Stadt Essen stoßen. Auf Seite 261 erfahren wir, dass Mahler im Januar 1907 in Berlin unter anderem „den Gründer des Essener Folkwang-Museums Karl Ernst Osthaus“ getroffen hat, und auf den Seiten 303f. wird uns ausführlich mitgeteilt, was es mit Mahlers Mai-Aufenthalt 1906 in Essenfür eine Bewandtnis hatte. Auf S. 304 z. B. ist u. a. zu lesen: „Am 27. Mai um 17.30 Uhr fand im Städtischen Saalbau die zwiespältig aufgenommene Uraufführung von Mahlers VI. Symphonie unter der Leitung des Komponisten statt. Das aus 111 Musikern bestehende Orchster setzte sich aus den Städtischen Orchestern Essen und Utrecht zusammen. Mit der Eisenbahn wurde aus Paris von der Firma Musel Père et Fils, Paris IX.ar., 46 Rue de Douai, die in der Partitur vorgeschriebene Celesta herangeschafft, die laut erhaltenem Frachtbrief-Duplikat ein Gewicht von 101 kg hatte und 450 fl kostete.“

Je eine der etwa 600 in Einheitsgröße kleinen Abbildungen des Gesamtbandes findet sich auf den beiden Mahlers 1907er-Aufenthalt in Essen betreffenden Seiten 303 und 304. Auf Seite 304 ist der von 1904 bis 1943 existente zweite Essener Saalbau, ein „Jugendstil-Bau“, abgebildet, in dem Mahlers „Sechste“ 1907 uraufgeführt wurde.
Durchgängig sind die Abbildungen des Bandes kleiner als Postkarten, aber deutlich größer als die Briefmarkenabbildungen in älteren Michel-Katalogen. Dadurch bekommt zwar einerseits der jeweilige Text ein größeres Gewicht, andererseits verkümmert das Bild ein wenig zum bloßen Anhaltspunkt. Mir hat Letzteres allerdings nicht allzuviel ausgemacht. Mir hat die Einheitlichkeit in der jeweiligen Bildgröße des so unterschiedlichen Bildmaterials aus gesamtästhetischen Gründen durchaus gefallen. Zur Not hätte ich mir mit einer Lupe geholfen, wenn nicht ohnehin schon die Internet- und CD-Rome-Gewohnheit, kleine Bilder durch Zoomen jederzeit vergrößern zu können, bei mir inzwischen deutlich innerlich nachwirken und kleinste Bilder wie von selbst auch innerlich weiten würde.

Notorische Zweifler fragen jetzt vielleicht noch: 1.) Ist „Mahlers Welt“ denn nicht vordringlich in der von ihm komponierten Musik zu finden? 2.) Kann man denn erwarten, dass Mahlers „Welt“ sich aus chronologisch aneinandergefügten Stationen und Aufenthaltsorten als „Welt“ im wahrsten Sinne des Wortes zusammensetzen ließe?

Zur 2. Frage ist Folgendes zu sagen:
Erstens schränkt der Untertitel „Die Orte seines Lebens“ den Haupttitel „Mahlers Welt“ schon etwas ein.
Und zweitens wird in allen ortsbezogenen Beiträgen überzeugend und erfolgreich Wert darauf gelegt, sie in deutlichen Zusammenhang mit den jeweiligen Menschen und ihrer Geschichte zu bringen. Briefzeugnisse Gustav Mahlers und anderer werden da, wo ihr Ort ist, in die jeweiligen Artikel ebenso einbezogen wie passende, erhellende Dokumente und in unermüdlicher Akribie erzielte Rechercheergebnisse. Manchmal erfährt man sogar, wie nebenbei, wie eine bestimmte Straße einst zu ihrem Namen gekommen ist (vgl. beispielsweise auf S. 25 die Namensgeschichte des „Rennwegs“ in Wien).
Drittens ist auf diesem strikt faktenbezogenem Wege ein sehr informatives, reichhaltiges und anregendes Buch entstanden. Zur Freude derer, die noch mehr über Mahler erfahren wollen, und als verlockende Möglichkeit für jene, die über unverbiestert zuverlässige Biographie- und Kulturgeschichtsfragmente vielleicht doch noch einmal einen eigenen Zugang zu Mahlers Musikwelt zu finden trachten, auch wenn sie es vorher vielleicht gar nicht erhofft hatten.

Helmut Brenner / Reinhold Kubik: „Mahlers Welt. Die Orte seines Lebens“. Residenz Verlag. 408 Seiten, 39,90 Euro.




Löwenhaftes oder: Mitteilbarkeit des Nicht-Mitteilbaren

Zwei, drei Tage lang hat mich „Blumenberg“ begleitet, dieses neue Buch der Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff, wodurch und weswegen ich fortan dankbar dafür bin, dass es sie und ihre Sprache, ihre Art des Schreibens, gibt. Lewitscharoffs Roman hat mich begleitet und begleitet mich noch, fast so wie im Buch der Löwe den Blumenberg.

Sehr gut hat mir schon das kräftige, das atmende erste Kapitel gefallen, so gut, dass ich spontan innehalten, den Romanfortgang in der Schwebe lassen wollte, um den eröffneten Spielraum des Möglichen durch zwangsläufig immer größer werdende Bestimmtheit nicht allzu schnell antasten zu lassen. Andererseits wollte ich meiner Neugier zugestehen noch etwas mehr zu erfahren und geriet sogleich verlockt ins 2. Kapitel.

Und so hatte ich alsbald beides vor dem inneren Auge: a) den hier durchweg vornamenslos bleibenden Philosophen (Hans) Blumenberg, dem laut Roman von einem genau bestimmten Zeitpunkt ab unversehens und unverfügbar – und fortan weiter, vor allem des Nachts – ein Löwe „habhaft, fellhaft, gelb“ und untrüglich erschien, weder bloß halluziniert noch bloß geträumt, und b) vier seiner studentischen Schüler… , also Richard, Gerhard, Hansi, Isa, deren je eigene Geschichte innerhalb eines eigens für sie eingeflochtenen, eigenen Gegenwarts-Erzählstranges dem gesamten, keineswegs zu umfangreichen Roman eine noch größere Dichte, Komplexität und auch Schauplatzvielfalt verleihen hilft.

Den Lewitscharoffschen Grundeinfall, den mit dem Löwen, empfand ich (vielleicht merkwürdigerweise) zu keinem Zeitpunkt als befremdlich; wohl auch wegen der zahlreichen Löwengeschichten, die mir sogleich selbst in den Sinn schossen, noch bevor einige davon und noch andere als die von mir assoziierten im Roman selbst erwähnt wurden; vor allem aber auch, weil ich von Kindheit an, genauer von meinem 9. Lebensjahr an, Erich Kästners Roman „Der 35. Mai“ besonders hoch schätze und bis heute sehr gerne habe. Da nämlich taucht sehr bald am Anfang ein arbeitslos gewordenes, überraschenderweise sprechendes Zirkuspferd auf Rollschuhen, namens Negro Kaballo, auf, in der oberen Etagenwohnung des Apothekers Ringelhuth, der gerade seinen Neffen Konrad – im Nebenertrag auch zu dessen Schulaufgabenhilfe – zu Besuch hat, und weicht nicht mehr von deren Seite; begleitet beide vielmehr auf ihrer phantastischen, wirksam Schulaufgabennöte beheben sollenden Reise durch den Kleiderschrank hindurch in die Südsee.

Etwa im gleichen Lebensalter, dem neunten also, las ich in einem mir zum Geburtstag geschenkten Band, „Die schönsten Sagen des Mittelalters“, unter anderem auch eine Nacherzählung von Hartmann von Aues „Iwein, der Ritter mit dem Löwen“, die mich sehr gefesselt hat, lange bevor ich den mittelhochdeutschen Text Hartmanns erstmals zu Gesicht bekam. (Wie sehr freute ich mich noch vor einigen Jahren, als diese Kindheitsvorliebe durch die Schriftstellerin Felicitas Hoppe bei mir ganz wunderbar aufgefrischt wurde durch ihr ganz wundervolles Buch „Iwein Löwenritter“!) Schließlich wurde ich durch Lewitscharoffs Buchthema erinnert an eine ganz andere Philosophengeschichte eines anderen zeitgenössischen, nach seinem relativ frühem Tod uns heute leider nicht mehr ganz so gegenwärtigen Schriftsteller, an Gert Hofmanns Romanerzählung „Veilchenfeld“. Und – erst nachträglich – fand ich heraus, dass auch Hans Blumenberg selber ein (unfertiges?) Buch hinterlassen hat, das unter dem Titel „Löwen“ als Band der Bibliothek Suhrkamp herausgegeben worden ist.

All dies und noch mehr – z. B. meine Erinnerung an von mir bereits gelesene Blumenberg-Bücher und an Mitteilungen über Blumenberg, die ich von zweien, ehedem bei ihm Studierenden bzw. in einem Fall über Georg Simmel bei ihm Promovierenden, einst beiläufig bekommen habe – schoss so spontan zusammen.

Und so oder doch so ähnlich mag es jedem und jeder gehen, die jeweils ein neues Buch lesen. Wir lesen uns immer selber mit und jede(r) nachgerade ein anderes Buch.

Was es mit dem auf einmal in seinem nächtlichen Arbeitszimmer auftauchenden Löwen für eine Bewandtnis habe, fragt sich detailliert spürsinnig, indem er von der einen selbstgegebenen, meist vorläufigen, nie endgültigen Antwort zur nächsten übergeht, Blumenberg schon im ersten Kapitel. Hier platt und plan das Ergebnis zu benennen, bei dem er sich dennoch nach und nach beruhigt, brächte nicht wirklich etwas, da das Suchen nach einer Antwort zu jener weitestgehend umfassenden Antwort hinzugehört, die nur die ganze Erzählung zu geben vermag. Fast nur Blumenberg – und das in wenigen Abständen immer wieder – nimmt diesen für ihn selber unverkennbar empirisch erfahrbaren und doch gewissermaßen aus metaphysischen, wenn nicht aus phantastischen Spären herrührenden Löwen sinnlich wahr. Nur eine einzige weitere Person, eine hochbetagte Nonne namens Käthe Mehliss bekommt an einem anderen Ort, den Blumenberg eines alten erkrankten Freundes wegen besucht, unversehens Blumenberg u n d seinen sonst für andere unsichtbaren Löwen spontan existenzbeglaubigend zu Gesicht. Nur diese Nonne, sonst niemand. Blumenberg hat sonst keinen, – weder in seinem engsten, noch in seinem weitesten Umkreis -, dem er arglos, ohne arg missverstanden zu werden, auch nur irgendetwas über diese mirakulöse Erscheinung, die vielleicht am zulässigsten als Epiphanie zu bezeichnen wäre, mitteilen könnte. Bei einem, wie er meint, ihm längst vertrauten Journalisten versucht er es zumindest ansatzweise dennoch, aber, wie sich bald zeigt, völlig vergebens.

„Der Einbruch des Absoluten war nicht mitteilbar. Er hätte nur Ratlosigkeit erzeugt.“, heißt es auf der Seite 146 des Romans, indirekt damit wohl auch ein resignatives Eingeständnis der fiktiv-realen Blumenbergfigur hinsichtlich möglicher Mitteilbarkeit dokumentierend. Zugleich jedoch mag dies eine tendenziell verallgemeinerbare, allgemeingültige Aussage über die religiöse und metaphy-sische Situation unserer Zeit insgesamt darstellen.

Dennoch: Lewitscharoff (bzw. der Erzähler in Lewitscharoffs Roman) gibt sich mit dieser Situation der Zeit, der als Faktum unterstellten gegenwärtigen Situation von Philosophie und Religion erzählerisch nicht zufrieden. Wo der diskursiv argumentative Weg (allgemein und nicht nur für einen immerhin agnostischen Philosophen à la Blumenberg) versperrt ist, bleibt der erzählerische Weg allein noch offen; eine besondere Art der i n d i r e k t e n Mitteilung sonach.

So etwas schwingt auch dann mit, abermals indirekt, wenn erstmals im Roman von Blumenbergs gezieltem Auflegen einer ganz bestimmten Schallplatte die Rede ist: von einer von Arturo Bene-detti Michelangeli eingespielten Schubert-Klaviersonate nämlich (wahrscheinlich der dreisätzigen in a-moll, was aber nicht direkt gesagt wird). Da heißt es unter anderem: „Das Zucken in Benedetti Michelangelis Mönchsgesicht war wieder präsent, das er einmal in einer Aufzeichnung gesehen hatte, auch dessen Äußerung, jeder wirkliche Ton sei noch unendlich weit vom möglichen entfernt, und es tue weh, mit dem Mangel auszukommen.“ (S.86)

Heißt das nicht umgekehrt auch, dass in jedem wirklichen Ton das Mögliche, das absolut gesehen Mögliche, das mit höchstem Anspruch Mögliche zumindest aufscheint, selbst wenn es sich als vollends Gegenwärtiges, als allenfalls visionär schon Mitgehörtes, auch noch so sehr und zwar scheinbar unabdingbar entzieht? Vor allem hier im Bereich der ernstgenommenen Musik, vielleicht sogar in Entsprechung dazu überhaupt in den heiter-ernsten Künsten, auch den erzählenden, und z. T. auch in der Philosophie, ist mitunter noch immer – gleichsam g e g e n die Zeit, die längst auch schon die Philosophie und die Künste zeitgeistig erfasst hat bzw. infiziert haben mag – vom durchscheinend Metaphysischen die Rede, und sei’s auch nur eher beiläufig und wie nebenbei. Rein spielerisch – könnte man meinen.

In Lewitscharoffs Roman bricht nicht nur symbolisch bzw. in exklusiver fragmentarischer Realität – da den allermeisten im Roman nach wie vor verborgen – d a s  A b s o l u t e durch, sondern meldet sich erschreckend häufig und durchaus verstörend in seiner antiidyllischen Gegenläufigkeit immer wieder auch d e r  T o d, zumal in den dem Erzählungshauptstrang hinzugesellten, z. T. sehr spannungsvoll und pointiert erzählten Geschichten von den unterschiedlichen Schicksalen der vier jungen als Blumenbergianer oder Blumenberg-Fans apostrophierbaren Blumenbergstudent…en Isa, Richard, Hansi und Gerhard.

„Blumenberg“ ist unverkennbar ein Roman, in dem es ganz entschieden um die letzten Dinge, also ganz entscheidend um Leben und um Tod geht. Erstaunlich nur, wie leicht und fast schwerelos er sich dennoch lesen lässt. Und wie stark und manchmal sogar bis ins Komische hinein lebendig sein Realitätsbezug bleibt.

Ein gängiger, üblicher und geläufiger Roman könnte auf der Seite 202 schon aufhören. Nicht aber ein Lewitscharoffscher. Sibylle Lewitscharoff bleibt ihrem mit dem ersten Kapitel einsetzenden Thema treu und schreibt so doch noch ein allerletztes Kapitel n a c h dem Schlusskapitel mental gängiger Art und macht dieses zunächst naheliegend letzte Kapitel zu einem nur vorläufig letzten. In dem nun allerletzten Kapitel mit dem an Platon und Hieronymus gemahnenden Titel „Im Inneren der Höhle“ (S. 203 – S. 216) kommt es bezeichnenderweise wiederum vor allem auf die allerletzten Passagen an und dann schließlich auf den allerletzten Satz; der sich allerdings nur aus dem Zusammenhang des Ganzen erschließt und so auf das Ganze zurückweist.

Der Genuss der Lektüre ist noch nicht zu Ende, wir können wieder von vorne beginnen.

Sibylle Lewitscharoff: „Blumenberg“. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin. 220 Seiten, 21,90 Euro.




Duisburger Musik statt Dortmunder Fußball

Hab ich schon geschrieben, weshalb ich gestern das Dortmund-Spiel nicht gesehen habe? Nein? – Ganz einfach. Meine Frau und ich haben gestern das 2. Konzert der Duisburger Philharmoniker – schon unseres Abos wegen, vor allem aber wegen des verheißungsvollen Programms (Mozart + Bruckner) – dem live im Fernsehen übertragenen Fußballspiel natürlich vorgezogen. Und außerdem: War es nicht besser, musikalisch Gutes zu hören, als Dortmunds klägliches Debakel mitanzusehen?

Und dennoch: Akustisch mag es zwar vielleicht an unserem Sitzplatz – unserem immerhin doch gewohnten und längst bewährten Sitzplatz! – gelegen haben, leider aber: das 23. Klavierkonzert Mozarts, das ich doch seit langem so gerne mag, hat mir, von der Art der Darbietung her, nicht vollends gefallen; zumindest nicht so gut, wie ich es mir erhofft hatte. Die Ecksätze waren mir insgesamt eine Nuance zu schnell gespielt, die Orchester- und die Klavierpassagen traten mir nicht markant und durchhörbar genug hervor. Fast monophon erschien mir der Klang. Nur der 2. Satz hielt weitestgehend und durchaus beseligend das, was ich mir von dem gesamten Werk versprochen hatte. Da atmete alles. Und so ähnlich war es dann wieder auch bei der sich an den dritten Satz anschließenden Liszt-Zugabe des Pianisten und gleichzeitigen Dirigenten des Abends, Stefan Vladar.

So beschloss ich, endgültig erst nach der 7. Bruckner-Symphonie über das Gesamtkonzert zu urteilen, die mir nämlich seit langem ebenfalls sehr viel bedeutet: War es doch einmal genau die Siebte, die mich per Radio der großen Musik Bruckners erstmals begegnen ließ und durch die mir früh schon und bleibend mein Sinn für sie geschärft wurde. Wie verwandelt erschienen mir die Interpreten der 1. Hälfte nach der Pause: Diese Musik und die Art ihrer Darbietung zündete sofort und ließ über das ganze gewaltige Werk hin keinerlei kritische Anmerkungen bei mir auch nur ansatzweise in den Sinn kommen. Sehr gut (auf dem gewohnten hohen Niveau der Duisburger Philharmoniker) wurde das gespielt. Dem Orchester und dem Dirigenten sei ausdrücklich dafür gedankt.




Zweierlei Spiel

Der im Jahr 2010 bei Anagrama in Barcelona posthum veröffentlichte Roman „Das Dritte Reich“ von Roberto Bolaño ist jetzt bei Hanser in gediegener, auch rein äußerlich ansprechender Ausgabe in der Übersetzung Christian Hansens erstmals auf Deutsch erschienen. Schon 1989 wurde dieser Roman von Roberto Bolaño vorläufig abgeschlossen; in seinem Nachlass fand sich die maßgebliche Schreibmaschinenfassung, auf der die jeweiligen Bucheditionen auf Spanisch und Deutsch, in Original- wie Übersetzungssprache, fußen.

Der über 300 Seiten starke, tagebuchartig geschriebene Roman liest sich übrigens ganz anders als der nur zunächst missverständliche und dann doch zutreffende Titel „Das Dritte Reich“ es uns erwarten lässt. Schnell drin ist man in dieser Lektüre; und sie gelingt auch weiterhin mühelos.

Zwei Paare aus Deutschland, Udo und Ingeborg aus Stuttgart sowie Hanna und Charly aus Oberhausen, verbringen ihren Sommerurlaub in zwei verschiedenen Hotels eines vom Tourismus geprägten Ortes an der spanischen Küste in der Nähe von Barcelona, kennen sich vorher nicht, lernen sich im Urlaub mehr oder weniger kennen.

Eine Urlaubsgeschichte also? Ja und nein.

Man sollte sie nicht unbedingt schon im Urlaub lesen, lieber erst danach.

Udo Berger, 25 Jahre alt, macht mit seiner Freundin Ingeborg nicht den Urlaub, den man – zumal für den ersten gemeinsamen Urlaub – erwarten könnte: Er ist nur ganz selten am Strand, meistens hält er sich allein in seinem Hotelzimmer auf und beschäftigt sich vordringlich und geradezu arbeitsmäßig mit einem wochenlang andauernden Brettspiel, einem Kriegsspiel, des Namens „Das Dritte Reich“. Er, der Landesmeister in diesem Sport genannten Spiel, will nämlich unter anderem einen Artikel für eine Fachzeitschrift über neue zielführende Varianten dieses Spiels schreiben. Ehe Charly, der versierte Surfer, beim Windsurfen im Meer plötzlich unauffindbar verloren geht, ehe Hanna nach Oberhausen abreist und ehe auch Ingeborg den spanischen Küstenort wieder in Richtung Heimat verlässt, während Udo – vorgeblich zur etwaigen Identifizierung des verschollenen, wahrscheinlich zu Tode gekommenen, noch immer nicht aufgefundenen Charly – am Ort allein zurückbleibt, erfahren wir nicht allzu viele Details zum Spiel, das den Verlauf des 2. Weltkrieges in Europa imaginär je nach Spielerglück und strategischer Fähigkeit des jeweiligen Spielers (und Udo ist der amtierende Landesmeister) neu zu gestalten vermag.
Ein Tretbootsverleiher am Strand, der wegen seiner erschreckenden körperlichen Entstellung immer nur „der Verbrannte“ genannt wird, entwickelt sich zwischendurch – gleichsam aus dem Stand – zu einem Mit- und Gegenspieler des Udoschen Spiels. Zu einem zunächst harmlos erscheinenden, lange unterschätzten, schließlich übermächtig werdenden Gegner. Vielleicht zu einem Feind?

Erwähnt sei, dass noch einige andere geheimnisvolle und wichtige Personen in diesem Roman vorkommen und die Figurenkonstellation noch etwas dichter machen, abgesehen von dem Zimmermädchen Clarita und dem Nachtportier vor allem noch fünf weitere: die attraktive 35jährige Hotelchefin Frau Else und ihr geheimnisvoll im Hintergrund bleibender todkranker Mann, des weiteren die beiden spanischen Gelegenheitsbekannten des deutschen Urlaubsquartetts, El Lobo und El Cordero, sowie Conrad, der daheimgebliebene Freund und Telephonpartner Udos in Stuttgart.

Udo ergeht es wegen seines Spiels übrigens manchmal genauso wie vielleicht dem Buch Bolaños bei noch uneingeweihten, immerhin potentiellen Leser…n wegen seines Titels: Er wird des öfteren irrigerweise für einen Nazi gehalten, der den verlorenen Weltkrieg im Spiel nachträglich gewinnen will. Und wirklich hat er im Spiel die Position der Deutschen eingenommen und sein schließlicher Gegenspieler, der Entstellte, spielt den Part der Alliierten. Und es sieht so aus, als könnte der aus der Geschichte des 2. Weltkriegs bekannte Verlauf des Krieges auf Grund der strategischen und taktischen Fähigkeiten des professionellen Spielers entscheidend verändert werden und der Kriegsausgang schließlich ein anderer sein. Es ist aber der Verbrannte, der außenseiterische Anfänger, der schließlich überraschend doch gewinnt und so zu einem den geschichtlichen Resultaten ähnlichem Ergebnis gelangt, mit spezifisch der Figurenkonstellation des Romans geschuldeten Implikationen.

Mindestens zweierlei, wenn nicht dreierlei scheint mir in diesem interessanten und gut lesbaren Roman besonders wichtig zu sein. a) RB entwickelt in diesem relativen Frühwerk schon eine bestimmte Version seines Spiels mit Erzählschlüssen. Im Verlauf des Erzählens wird ein ganz bestimmter Schluss (bzw. ganz bestimmte Schlüsse) plausibel, fast zwingend nahegelegt; selbst wenn diese Schlüsse nun, wie es schließlich der Fall ist, nicht faktisch die des Romans sind, werden sie von uns Leser…n dennoch nicht vergessen und wirken gedanklich und atmosphärisch nach. b) Am Ende des Romans scheint Udo Berger, der auf den ersten Blick Gescheiterte, kein Spieler mehr zu sein; wir erinnern uns aber, dass er ja der Schreiber dieses Tagebuchromans ist und zwischendurch einen – bei Interpreten oft auf Unverständnis stoßenden, wie ich jedoch meine, durchaus verräterisch aufschlussreichen – Vergleich von deutschen Generälen als Militärstrategen mit ganz bestimmten deutschsprachigen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts gewagt hat. Man versuche doch einmal daraufhin das Kapitel „Meine Lieblingsgeneräle“ (S.248ff) ansatzweise parabolisch zu lesen. Was hier über die Verfahrensweisen beim Spielen dieses Kriegsspiels gesagt wird, wäre in Parallele zu setzen zu den Verfahren der genannten Schriftsteller. Auch die Romane, die RB fortan (also nach 1989) selber noch zu schreiben gedenkt, unterliegen den hier auf den Seiten 248f. angedeuteten vielfältigen Verfahrensweisen des Spiels. In diesem Sinne ist auch schon „Die Naziliteratur in Amerika“ und nicht erst „Die wilden Detektive“ und „2666“ ein großes Spiel, das die Offenheit für Varianten kennt. Wir erinnern uns, dass schon Cortázars großer „Rayuela“-Roman sich als ein Spiel gegeben hat, das an das uns meistens aus der Kindheit bekannte Hüpfspiel „Himmel und Hölle“ anknüpft.

Man wird es mir wohl kaum verargen, dass ich während der Schilderungen des Duells zwischen Udo Berger und dem Verbrannten im Roman mich auch an berühmte Schach-Duelle in Prosaerzählung (Zweigs „Schachnovelle“) und Film (Ingmar Bergmans „Das Siebente Siegel“) erinnert gefühlt habe; zumal die Ähnlichkeit des Kriegspiels „Das Dritte Reich“ mit dem allbekannten Schachspiel – in der Art nämlich, dass es dieses an Komplexität sogar noch weit übersteige – eigens und ausdrücklich im Roman selbst genannt wird.

Keine schlechte Pointe dieses ersten Bolaño-Romans scheint mir die zu sein, dass der Spieler A (der Kriegsspiel-Spieler) sich im Prozess fortlaufenden Tagebuchschreibens zuguterletzt in Spieler B (den Schriftsteller) verwandelt hat; und dass diese Verwandlung Bolaño, der A und B in Personalunion in sich vereinte, bereits mit seinem allerersten Roman und nicht erst beträchtlich später überzeugend gelungen ist.

Roberto Bolaño: „Das Dritte Reich“. Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Christian Hansen. Hanser Verlag, München. 320 Seiten, 21,90 €.




KAUM Gedicht

K a u m

Als ich vierzehn war
sagte mein Vater
er habe Furcht
ich hätte kein Gefühl
da ich
außer Balladen
erkennbar
kaum Gedichte mochte.

Als ich achtzehn war
bedeuteten mir Trakls
Schwermut und Sprachklang
viel
und Hölderlins
heilige Nüchternheit
kaum weniger.

Als ich zwanzig war
drängte ich mich
selber verwegen ins Gedicht
und verstummte
kaum ehe ich begann.

Heute mit fünfzig und mehr
f i n d e ich noch immer –
Gesuchtes
und Ungesuchtes.




Geschichten vom Herrn Kaum (5)

Herr Kaum und Roberto Bolaños neueste posthume Bücher

Dass sich Herr Kaum seit „2666“ für die Bücher von Roberto Bolaño interessiert, ist längst kein Geheimnis mehr. So kam, als er im August gerade in Salzburg war, die deutsche Übersetzung des frühen, nachgelassenen Bolaño-Romans „Das Dritte Reich“ soeben neu heraus und lag in stattlicher Anzahl und in Form einer schon äußerlich ansprechenden Ausgabe des Hanser Verlags deutlich sichtbar in der Rupertus-Buchhandlung und auch bei Höllriegel aus.

Anfang September in Florenz nun fand Herr Kaum überraschend eine 2011 bei Anagrama in Barcelona erschienene, insofern also originalsprachige Ausgabe von „Los sinsabores del verdadero policía“ vor, bedauerlicherweise zum stolzen Preis von 23,00 €. Da es sich aber um das einzige in der sehr großen Florentiner Buchhandlung zur Verfügung stehende Exemplar handelte und da ein trotz behutsam gewaltiger Beseitigungsanstrengungen des Verkäufers offenbar unentfernbarer Hässlichkeitsfleck über die Seiten 153 bis 266 hinweg auf der inneren Außenseite des Buches (wie heißt doch gleich der Fachausdruck?) bleibend zu sehen war, dachte Herr Kaum, das Buch vielleicht etwas billiger bekommen zu können. Der Verkäufer jedoch beharrte auf dem vollen Preis.

Stunden später ging Herr Kaum nochmals in dieses Schatzhaus der Bücher hinein, griff sich den Band aus dem Regal – der Verkäufer vom Vormittag war nicht mehr da – , ging schnurstracks aus dem ersten Stock zur Kasse im Erdgeschoss, verwies stumm, aber erkennbar zahlen wollend auf den bösen Fleck und bekam sofort von der Kassiererin 3,45 € Preisnachlass.




Geschichten vom Herrn Kaum (4)

IM SAAL DER VENUS MIT DEM HÜNDCHEN

Eine grazile Italienerin, die wie eine Russin sprach, vielleicht eine Russin war, jedenfalls eine russische Gruppe durch die Uffizien führte, inszenierte vor den Bildern, zumal der Venus von Urbino, sehr gesten-, pausen- und wortreich und doch dosiert, ein höchst wirkungsvolles Frage- und Antwortspiel … mit sich selber. –

Mit geschmeidiger,
mit insinuierend
schmeichelnd
schöner Stimme.

Höchst attraktiv
und anziehend. –

Wer hörte da nicht – wiewohl dieser fremden Sprache kaum mächtig … und doch sie jäh zutiefst verstehend – mit einem Male die Sprache Puschkins in Vollendung? –

Sie hörend
und sehend

wen denn?
die Sprache?
die Stimme?
die Frau?

Sie hörend
und sehend

ward Herr Kaum

– verliebt –

für einen noch so kleinen
Zeitpunkt bloß

zutiefst
zu einem Russen.




Geschichten vom Herrn Kaum (3)

AUSSPARUNG AUF ITALIENISCH
6. September 2011 / gegen 21 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit

Als Herr Kaum und Frau Kaum-Wenig bei Impruneta kurz auf die Autobahn fuhren, um sie bei Firenze Sud gleich wieder zu verlassen, stockte es vier, fünf Wagen davor beharrlich mit einem – beim wohl anzunehmenden Versuch der Zahlung der Maut.
Kurzerhand sprang da nach einigen wenigen Minuten die Anzeigeampel der Nebenspur auf Grün und alle inzwischen Wartenden fuhren frei und ohne Entgelt durch, selbst wenn sie von weit her, etwa vom Brennero her gekommen wären.




Geschichten vom Herrn Kaum (2)

UNMERKLICHE BEGEBENHEIT

Kaum zu glauben – und seine Frau, Pauline Kaum-Wenig, die mit dabei war, hat’s ja auch nicht gesehen, es, wie sie nachher ihm gegenüber bekannte, überhaupt nicht bemerkt – , aber er, Johannes Kaum, Zwillingsbruder von Hieronymus Kaum, könnte unverzüglich und jederzeit beschwören, dass es genau so war.
Sieht man denn immer nur, fast immer nur, was man selber für möglich hält? –

Am 13. August, am 50. Jahrestag des Ulbrichtschen Mauerbaus, gab es im Großen Festspielhaus in Salzburg die Generalprobe der Wiener Philharmoniker zur für den folgenden Tag vorgesehenen Aufführung von Guiseppe Verdis „Requiem“. Mit dem 2. Satz, dem „Dies Irae“-Satz, stellte sich bei Herrn Kaum für einige Takte das ein, was sich bei ihm bei wirklich großer Musik – zwar leider zunehmend seltener, beglückenderweise gelegentlich jedoch noch immer – einstellt, ein seinen Rücken urplötzlich überlaufender Gänsehautschauer.

Am Ende des auch in der Generalprobe, nicht nur in Anbetracht des zahlreichen Publikums, vollständig aufgeführten Verdischen Kolossalwerkes bedankte sich der Stardirigent Riccardo Muti bei den Solisten, auch bei einigen Orchestermusikern mit Handschlag: Zuerst bei der Sopranistin, dann bei der Altistin. Auch der Tenor stand schon bereit, trat einen kleinen Schritt vor. Aber der Maestro überging ihn, würdigte ihn keines Blickes, ging ostentativ weiter zum 4. Sänger, dem Bariton, und dankte auch ihm äußerst freundlich und wiederum mit Handschlag.




Geschichten vom Herrn Kaum (1)

HERR KAUM UND BRIGITTE KRONAUER

Einmal kam der junge Herr Kaum im Zug von Köln Hauptbahnhof nach Essen, über 40 Jahre ist das schon her, mit einer hübschen jungen Frau ins Gespräch, die sich als Autorin zu erkennen gab. Etwa 20 Minuten lang unterhielt sie sich mit Herrn Kaum über literarische Dinge, bis sie am Ende plötzlich sagte: „Wissen Sie eigentlich, daß Sie fortwährend nur Klischees bedienen? Ich bin das jetzt leid, mir das weiter anzuhören. Dafür ist mir meine Zeit zu schade.“
Herr Kaum fand sich im Mark getroffen. Er hatte sich doch so sehr ins Zeug gelegt und ganz ehrlich sein Bestes gegeben. Er verstummte verstört, ja geschockt, und redete fortan kein Wort mehr.
Die Angst vor den Klischees jedoch, die wohl in jeder Sprache lauern, ist ihm seitdem geblieben.




200 Jahre Franz Liszt: Biografie über einen Visionär

Franz Liszt gehörte nie ganz zu den von mir besonders hoch geschätzten oder gar geliebten Komponisten. Für mich war seine Klaviermusik, wenn ich sie gelegentlich hörte, immer wieder etwas zu sehr und leider oft genug nahezu ausschließlich mit reiner Virtuosenmusik verwechselbar.

Ziemlich früh allerdings, schon in meiner Kindheit, muss ich zumindest seinen Namen mit Hochachtung in meiner Salzburger Umgebung gehört haben. Vor allem mit den „Ungarischen Rhapsodien“, die mir in der Orchesterfassung sofort gefielen (und unter dem Dirigat Hermann Scherchens immer noch), den beiden Klavierkonzerten und dem (von heute aus gesehen) so leicht verkitschbar spielbaren „Liebestraum“ wurde ich schon früh im direkten Verbund mit Liszts Namen per Radiowunschkonzert vertraut. Dennoch: Schubert, Schumann, Brahms und auch Chopin, um von Beethoven, Mozart, Haydn und Bach, später auch von Ravel, Debussy, Szymanowski, Janáček und Bartók einmal ganz zu schweigen, bedeuteten mir von je her deutlich mehr. Und eigentlich ist das bis heute so geblieben.

Immerhin: Ich bekam mit, dass von mir sehr bewunderte Pianisten, wie z. B. Claudio Arrau und Alfred Brendel und sogar manchmal auch Wilhelm Kempff, sich immer wieder stark bis sehr stark für die Musik Franz Liszts eingesetzt haben. Und so war und bin ich bis heute dafür offen, mich eines Besseren belehren zu lassen. Ich sage mir, vielleicht tue ich der Musik Liszts ja auch Unrecht und ich habe meinen entscheidenden Zugang zu ihr nur noch nicht gefunden.

Und so kommt mir die lesenswerte Liszt-Biografie des Pianisten Jan Jiracek von Arnim gerade recht. An ihr vermochte sich nämlich zu erweisen, dass eine stärkere Annäherung nicht nur an den Menschen Franz Liszt, sondern vor allem auch an dessen eigene Kompositionen auf dem Umweg über seine Biographie auch für mich durchaus noch möglich ist. Nach der Lektüre dieses Buches werde ich mich mit weit größerem Interesse als zuvor auf die Musik Franz Liszts einlassen und habe schon gezielter damit begonnen.

Diese Liszt-Biografie ist gut proportioniert: Vier etwa gleich große, ihrerseits jeweils dreiteilige Abschnitte betreffen – zwar so nicht genannt, aber der Sache nach – die Abfolge der vier Lebensabschnitte, also von Kindheit, Jugend, Mannesjahren und beginnendem Greisenalter. Geschickt setzt das Buch, ehe es zu den Wunderkindjahren des Anfangs – vor der vielleicht alles entscheidenden Krise (S.55ff) – kommt, in einem Prolog mit den letzten Tagen Liszts bei seiner in später Versöhnung wiedergewonnenen Tochter Cosima in Bayreuth ein. Insofern geschickt, weil hier gleich zu Anfang spannend erzählt werden kann. Außerdem: Wir werden darauf eingestimmt, ein Leben, das so endet, genauer kennenlernen zu wollen.

Vom klugen Umfang des Buches her – nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig! – ahnen wir schon, dass auch dem bloßen Anschein nach nicht eine ganz umfassende und tiftelig differenzierte Biografie gegeben werden soll, sondern schlaglichtartig entfaltetete, exemplarisch thematische, lebensabschnittsbezogene bewegte Lebensbilder. In einem mit „Nachklang“ überschriebenen, das Ganze symmetrisch abrundenden, angemessen kurzen Epilog wird etwas von der vielfältigen Wirkung und Einschätzung Liszts in Zeitgenossenschaft und Nachwelt vermittelt, ehe wir uns dem aufschlussreichen, abschließenden Teil (Anmerkungen, Literaturangaben, Zeittafel, Danksagung und Bildnachweise) gegenübergestellt sehen. Auf neun umsichtig ausgewählte Bilder beschränkt sich diese Biografie, während die insgesamt zwölf Teile der vier Hauptabschnitte jeweils mit einem durchdacht ausgewählten und anregend sprechenden Zitat als Motto eröffnet werden.

Da diese Biografie erst fast am Ende der ersten Hälfte des laufenden Liszt-Jahres erschienen ist, konnte sie aus diesem Umstand eine Tugend machen: Auch im Jahr 2011 bereits erschienene Liszt-Biografien wie z. B. die von Oliver Hirmes konnten noch einbezogen werden und sei’s auch nur in Form von einigen wenigen, passenden Zitaten. So entsteht der Eindruck einer Biografie auf dem aktuellsten Stand.

Der Untertitel „Visionär und Virtuose“ macht vor allem darauf neugierig, was unter dem „Visionären“ bei Liszt wohl genau zu verstehen ist. Bei der Bezeichnung „Virtuose“ glaubt man zunächst schon relativ genau zu wissen, was das sei, und sieht sich doch alsbald mit einem kontrastierenden Vergleich Liszts mit Paganini konfrontiert, aus dem man sehr klar auch grundlegende Unterschiede zu entnehmen vermag. Der Biograf lässt dabei in einem sich über fünf Seiten erstreckenden Nekrologszitat Liszt selber zu Worte kommen, wodurch man aus erster Hand erfährt, wie sich Liszt – in diesem seinen Nachruf auf Paganini – selbst als Virtuose von dem um eine Generation älteren und dennoch ihm lange Zeit gleichzeitigen Geigenvirtuosen in Form einer Vision „von einer besseren Kunst“ abgegrenzt hat (S.83).

Mir war der Text neu; ob er schon in anderen Biografien vollständig zitiert worden ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Auch andere bei Jan Jiracek von Arnim ausführlicher zitierte Stellen von Liszt selber und auch anderer Gewährsleute sind mir durchgängig unbekannt gewesen, so dass ich nicht darüber böse sein kann, dass auch sie ausführlich zitiert worden sind. Hieraus folgt, dass als Einstieg in die Lebensgeschichte und in den Umkreis der Künstlereigentümlichkeiten und -fähigkeiten von Franz Liszt diese sehr gute und ansprechende Biografie bestens geeignet ist. Sie versammelt leicht überschaubar die vielfältigsten Informationen, bietet eine vorzügliche Kenntnis- und Verstehensgrundlage und ist geeignet, den Weg zu Spezialuntersuchungen und Binnendifferenzierungen nicht etwa zu verbauen, sondern umgekehrt ein Interesse daran anzuregen und wachzuhalten. So wird zwar Liszts reiches Liedschaffen (anders als so viele andere Teile des Gesamtwerkes, etwa seine geistliche Musik) nicht einmal erwähnt, die eigene mögliche Beschäftigung damit aber geradezu freigehalten. Unerlässliches kommt unabdingbar vor; dennoch a t m e t von Arnims Biografie erkennbar, sie bleibt für Ergänzungen beständig offen.

Von den V i s i o n e n Franz Liszts ist im Verlauf der Biografie mehrfach und vielfältig die Rede, so dass der Titel-Ausdruck „Visionär“ auch im Buch selbst wegen seiner gezielten Vieldeutigkeit nicht ganz ohne Geheimnis bleibt. Um eine nicht bloß virtuose Kunst à la Paganini ist es Liszt in seiner Vision von 1840 zu tun gewesen, so oft er auch zumindest von Zeitgenossen als ein „Paganini des Klaviers“ aprostrophiert worden sein mag. Als er 1848 nach Weimar ging, um die Stelle als Hofkapellmeister zu übernehmen, träumte er gelegentlich (S. 167) von einem 2. Weimar der Musik, das auf das 1. Weimar der sozusagen „Johann Wolfgang Goetheschen Kunst-Periode“ (Heine) folgen sollte: „Weimar schien wie eine weiße Leinwand zu sein, auf die Liszt nun seine Visionen zeichnen konnte.“ (a.a.O., S.152) Mehr und mehr scheitert er damit. (S.164) Auch in einer späteren Lebensphase in den 60er-Jahren in Rom scheitert er mit einer anderen Vision: „In Rom wurden Franz Liszts geistliche Werke kaum aufgeführt. Seine Vision, mit neuer religiöser Musik Kirche und Gesellschaft zusammenzuführen, war gescheitert.“ (S.186)

Liszts Leben ist geprägt vom Gelingen, vom oft triumphalen Gelingen, aber auch das Gefühl, das Bewusstsein, gescheitert zu sein, ist ihm durchaus vertraut. Über seiner Biografie könnte stehen, was Hans Mayer einmal als Untertitel über ein Goethe-Buch gesetzt hat: „Versuch über den Erfolg“.

Ungeschaute, nicht projektierbare Visionen Franz Liszts hingegen werden später gelingen. So schreibt Jan Jiracek von Arnim im Anschluss an seine Charakterisierung des Lisztschen Klavierstücks „N u a g e s g r i s von 1881“: „Hier wird bereits der Weg Richtung Schönberg und Webern gewiesen.“ (S.194).

Orte wie Raiding, Wien, Paris, London, Pest, Gut Woronińce, Weimar und Rom, aber schließlich auch Bayreuth werden biografisch ins Licht gerückt, ebenfalls die (von der Mutter mal abgesehen) drei entscheidenden Frauen seines Lebens, die vielen fruchtbaren, auch kontrastbildenden Begegnungen mit Zeitgenossen verschiedener Länder Europas. Wie viele waren doch darunter, die ich aus anderen Zusammenhängen (literarischen, philosophischen, generell künstlerischen) bereits ein wenig kannte und nun mit anderen Facetten durch diese Biografie neu kennenlernen durfte!

Ich nenne zwei entlegenere Beispiele: Unter der Abbildung „Liszt im zwanzigsten Jahr“ auf S.54 stehen Verse von Moritz Gottlieb Saphir, der seinerzeit sehr bekannt war, dessen Namen im Personenregister aber nicht auftaucht. Dieser Zusammenhang spornt mich geradezu zu weiteren Erkundungen an. Zweitens: die Tochter Marie, die die Fürstin Carolyne von Sayn-Wittgenstein aus der Ukraine nach Weimar mitgebracht hatte, ist alsbald verheiratete Prinzessin von Sayn-Wittgenstein-Hohenlohe. Bei diesem Namen wurde ich gleich hellhörig. In der Tat, sie ist dieselbe, die später im Briefwechsel mit dem Schriftsteller Ferdinand von Saar stand.

Bewundernswert, wie der Biograf seine eigenen (beachtlichen!) pianistischen Fähigkeiten nicht in die Waagschale wirft. Nur einmal im „Nachklang“ des „Epilogs“ erwähnt er wie nebenbei, dass auch er praktisch-konkrete Erfahrungen mit Werken von Franz Liszt hat, dass er nämlich „ein Werk wie Vallée d’Obermann aus seinen Wanderjahren spiele“ (S.199). Ebenso fällt auf, dass er auch keine anderen zeitgenössischen Interpreten, die heutzutage besonders mit ihrem Liszt-Spiel hervortreten oder bereits hervorgetreten sind, anführt, geschweige denn namentlich erwähnt. (Auch nicht in einer als denkbare Ergänzung zum Hauptteil eben nicht vorhandenen Referenzliste von Liszt-Einspielungen.)

Er lässt uns im Anschluss an seine Biografie entschieden unseren je eigenen Weg zur Musik Franz Liszts suchen. Er scheint sich zwischen den Zeilen ziemlich sicher zu sein, dass sich seine Leser… spätestens jetzt auf diesen Weg machen werden. In meinem Falle hat er sich dabei nicht getäuscht. Als erstes werde ich mich jetzt den Liedern (und Melodramen) Franz Liszts zuwenden, um nach und nach, deutlich gestärkt durch diese mich erfreulich anregende Biografie, meinen eigenen Weg zu Liszt zu finden.

Jan Jiracek von Arnim: Franz Liszt. Visionär und Virtuose. Eine Biografie. Residenz Verlag, St. Pölten – Salzburg 2011. 232 Seiten, 21,90 Euro.




Wie Erinnerungen anderer uns in den Spiegel blicken lassen

Gestern habe ich endlich einmal auf einen Sitz Hans Keilsons, des unlängst im Alter von 101 Jahren Verstorbenen, „Erinnerungen“ gelesen, die kürzlich unter dem Titel „Da steht mein Haus“ bei S. Fischer erschienen sind. Ein schmaler, gut lesbarer Band mit einem abschließenden, sinnvoll beigefügten Gespräch zwischen dem Autor und dem Herausgeber Heinrich Detering.

Wenn es hier bei unseren Texten jeweils und grundsätzlich um ausgewiesene Ruhrgebietsnähe ginge (aber um die geht es generell ja gar nicht, da wir für unsere Texte als ohnehin im Ruhrrevier Schreibende keine derartigen Aufhänger benötigen), ließe sich ein Anknüpfungspunkt auch dieser Art bei Keilson unschwer finden. Auf Seite 93, zu Beginn des 19. Kapitels, ist zu lesen: „In Rekken erlebte ich die ersten Luftangriffe auf das benachbarte Ruhrgebiet.“ Aber ansonsten ist vom Ruhrgebiet nirgends mehr deutlich die Rede.

Doch mich hier beschäftigt ohnehin anderes. Mir ist in diesen behutsam und hellsichtig geschriebenen Erinnerungen, die Unangenehmes und Schlimmstes nicht verschweigen, aber auch um die Fehl- und Verführbarkeit von uns Menschen wissen, wieder einmal aufgefallen, wie sehr ich mich doch in solchen Erinnerungsbüchern immer auch vergleichend mitlese: Die eigene Geschichte und Vorgeschichte wird immer wieder copräsent, mitgegenwärtig, in der Lektüre vom Leben vermeintlich ganz anderer, uns zunächst fremder Menschen. Und es stimmt schon: vor allem drei Generationen, die eigene und die Eltern- und die Großeltern-Generation, spielen bei diesen hinzutretenden Lese-Spiegelungen eine ganz beträchtliche Rolle, also die Privatgeschichte und die große allgemeine Geschichte der letzten 100 Jahre in ihrem zu Recht kaum aufdröselbarem Verbund.

Biographien, Autobiographien, Erinnerungen, Briefe, Tagebücher haben für uns Leser… immer auch diese Funktion, unsere eigenen Erinnerungen vergleichend wachzurufen, und je älter wir werden, umso mehr. Und doch, wenn solche Erinnerungsbücher nicht sprachlich gut und menschlich ansprechend geschrieben sind, interessieren sie zumindest mich nicht, lese ich sie nicht weiter, mögen sie noch so viele faktisch interessante Details enthalten. Ich bin zum Glück kein Soziologe oder Historiker, der sich manchmal auch durch Wust hindurcharbeiten müsste; ich kann mir meine Lektüren aussuchen. Und zum Glück gibt es so gut geschriebene wie die von Hans Keilson eben auch.

Hans Keilson: „Da steht mein Haus“. S. Fischer Verlag. 141 Seiten. 16,95 Euro




Monegassische Hochzeiten

Briefmarken, Fußball und Skat als Einbürgerungshilfen eines Ösi im Revier

Den Übergang vom Ösi zum Wösi (damals hieß das noch nicht so) schaffte ich mit 10 bei den etwa Gleichaltrigen durch das Fußballspielen, das ich im Essener Norden auf der Bleiche hinter unserem Kruppschen Wohnblock spielerisch lernte – und auf den abgeteilten Wiesen hinter den Häusern gegenüber, sowie auf unserer kaum befahrenen Sackgasse zwischen diesen Häusern, der Heegstraße nämlich, die heute zu einem großen Teil der in den 70er Jahren neuen Straßenführung von Essen nach Bottrop zum Opfer gefallen ist, und mit ihr die Häuser natürlich auch. Wenn wir heute mit dem Auto von Bottrop nach Essen fahren, fahren wir gleichsam durch unser Schlafzimmer. Virtuell natürlich. Aber wer weiß noch davon?

Skatspielen war auch wichtig. Das lernte ich ebenfalls mit 10 und durfte sehr bald (welch hohe, welch wirkliche Auszeichnung!) mit den alten Kruppianern und staublungigen Bergleuten, Rentnern und Frührentnern also, nach Herzenslust mitspielen. Und zwar immer bei uns, in der von meinem Opa, dem aus Ostpreußen stammenden und ebenfalls und maßgeblich Skat mitspielenden ehemaligen Walzwerker, gezimmerten Laube, die vordem ein Hühnerstall war. Da ging’s hoch her! Und auch meine Einbürgerung bei den Erwachsenen war hierdurch gelungen.

Als Konstante hatte ich meine Briefmarkensammelleidenschaft aus Salzburg mitgebracht. Damals sammelten noch viele Kinder und Jugendliche und Erwachsene Briefmarken. Und so gab es auch hier Anknüpfungspunkte und Übergangshilfen. Naheliegenderweise sammelte ich schwerpunktmäßig österreichische und deutsche Marken; lernte dadurch viel Geschichte, Erdkunde und vieles andere Wissenswerte kennen; sammelte aber auch Motivmarken aus dem Bereich vor allem der Tier- und Pflanzenwelt und des Sportes; nachdem ich zuvor eine ganze Zeit lang alle Briefmarken, die mir irgendwie in die Finger gekommen waren, also gestempelte und ungestempelte, geschnittene und gezackte, dreieckige und viereckige, aus welchem Land und aus welcher Zeit auch immer, in meine Sammlung einbezogen hatte.

Als ich vor einigen Tagen nun aus den Fernsehnachrichten, da bildbegleitet, wie nebenbei erfuhr, dass bei der aktuellen Fürstenhochzeit in Monaco ein Block Briefmarken mit dem neuvermählten Paar herausgegeben würde, fühlte ich mich sofort an meine einstige Sammelleidenschaft erinnert. Ich holte seit langem mal wieder meine alten Briefmarkenalben heraus und stieß gezielt auf meine monegassischen Marken der 50er-Jahre. Die drei Marken mit der Einzelansicht des Fürsten Rainier III fielen mir gleich ins Auge, auch die monegassischen Marken zu den Olympischen Spielen von Helsinki 1952 usf., vor allem aber, die fünf Briefmarken, die ich eigentlich gesucht hatte: die Marken mit dem damals Schlagzeilen beherrschenden Hochzeitspaar vom 19. April 1956. Dennoch war und bleibt das Jahr 1956 in meinem Gedächtnis vor allem das Jahr des am Radio von mir bewusst mitbekommenen Ungarnaufstandes und der fast gleichzeitigen Suezkrise, von der ich nur ein wenig zeitversetzt – in wieder aufgeweckter Erinnerung daran – ägyptische Briefmarken mein eigen nennen durfte.




Gestern im Skatverein – Stichprobe zu Medienbehauptungen in Sachen Frauenfußball

Gestern im Skatverein Johannestaler Buben Bottrop e. V.; viele dort sind fußballinteressiert oder -begeistert; alle davon schauen, na klar doch, die Frauenfußballweltmeisterschaft, einige sogar alle Spiele. Keine Spur von männlicher Arroganz, Herablassung oder Häme. Ganz anders als verschiedentlich in den Medien oder bei Facebook behauptet. Ganz entspannt und teils mit unverkennbarer Hochachtung werden die Spiele besprochen und begutachtet. Ganz selbstverständlich wechselt das Gespräch zum Montagsspiel der U17 der Männer gegen England und ganz selbstverständlich wieder zurück zu den Frauen. Gleichberechtigung im Fußball ist hier kein Thema.

(Foto: Bernd Berke)




Lesefreuden: Pawel Huelle, Fontane, Thomas Mann

(1) Was ist für Sie der mit Blick auf das Ruhrgebiet wohl wichtigste Roman? Stammt der von Erik Reger? Oder von Max von der Grün? Oder von Ralf Rothmann? –

Gesetzt den Fall, ein bedeutender Autor wäre ehedem oder unlängst auf die Idee gekommen, eine wiederholte Behauptung des manchmal bei uns heute noch als ehemaliger Expressionist bekannten Exilautors Paul Zech, er habe als junger Mann zwei, drei bzw. mehrere Jahre lang in den Kohlegruben von Herne, Bottrop, Charleroi und Mans gearbeitet, entschieden aufzugreifen, wir hätten vielleicht einen bedeutenden Revierroman um Zech oder Zechs expressionistische Generation herum.

Vorausgesetzt, dieser Autor wäre dabei ähnlich vorgegangen, wie es der polnische Autor Paweł Huelle mit einem Thomas-Mann-Zitat aus dem „Zauberberg“ getan hat. Dieses Zitat ist der deutschen Ausgabe des Romans „Castorp“ (nicht der originalen polnischen!) noch vor dem Kierkegaard-Motto (des Originals UND der Übersetzung) als Einstiegsmotto eigens vorangestellt: „Damals hatte er vier Semester Studienzeit am Danziger Polytechnikum hinter sich (…)“. Aus diesem in Thomas Manns Roman eher beiläufigen Satz hat Paweł Huelle nun sein ganzes, weit darüber hinausgehendes Erzählprojekt entwickelt. Mit einem für mich als Leser sehr überzeugenden Ergebnis.

(2) Als wir am Pfingstsamstag von Bottrop über Essen und Hamburg-Harburg und Stralsund mit dem Zug zu unserer ersten größeren Reisestation Swinemünde, wie Świnoujście einst hieß, fuhren, und noch ehe die zwei abschließenden Reisetage in Danzig (Gdánsk) 9 Tage später gekommen waren, war die Zeit für dieses von mir bisher dummerweise immer nur angelesene Buch endgültig gekommen. Im Zug beschränkte ich mich, weil es ab Hamburg-Harburg so viel Neues für mich zu sehen gab, wohlweislich auf die beiden ersten Kapitel. Doch an den drei, vier nächsten Tagen begann ich jeweils (und sehr gerne) meinen frühen Tag mit ihm, bis ich es ausgelesen hatte. Und kaum hatte ich das Buch ausgelesen, fand ich es wert, noch einmal gelesen zu werden. Und in der Tat: Das erste Kapitel wurde bei erneuter Lektüre nach der Lektüre des gesamten Romans noch plastischer und um vieles sprechender als beim ersten Mal.

(3) Wer einen Einstieg in Thomas Manns „Der Zauberberg“ sucht oder eine Wiederanknüpfung, der greife zu diesem leichtfüßigen und en passant tiefsinnigen Buch. Nach der Lektüre wird man durch Huelles dezentes Präludieren und unplumpes Variieren erneut Lust auf Thomas Manns „Zauberberg“ bekommen, und ganz sicher wohl auch auf weitere Werke Paweł Huelles, zumal die, die – nicht unbeträchtlich – bereits vorliegen.

(4) Auf unserer literarisch akzentuierten Reise nach Pommern hatten wir Swinemünde natürlich auch als Fontane-Stadt wahrgenommen: Vgl. Fontanes „Meine Kinderjahre“ und Fontanes an Swinemünde und Umkreis gemahnende Kessin in „Effi Briest“. Nachdem wir uns auf unserer Wanderung am Sonntag unter anderem auch die Duell-Szene aus „Effi Briest“ in einer dem Romanschauplatz vergleichbaren Gegend bewusst gemacht hatten, stieß ich ausgerechnet am nächsten Morgen bei meiner allmorgendlich fortlaufenden Huelle-Lektüre auf jene Stelle, in der Hans Castorp – erst nachträglich über sich selbst erschreckend – ein zufällig in seine unmittelbare Nähe geratenes Geschenkpäckchen entwendet, das eigentlich dem weiblichen Part eines von ihm nach Ersterblickung beharrlich beobachteten Paars zugedacht gewesen war. Als er nach seinem ersten Erschrecken über sich selbst als eines spontanen Diebes seine Neugier nicht mehr zu zügeln vermag, öffnet er das Päckchen und findet darin ein sorgfältig eingepacktes Buch, das sich schließlich als eine deutsche Ausgabe von Fontanes „Effi Briest“ herausstellt; da es sich um ein miteinander verstohlen französisch sprechendes Paar (sie eine junge Polin, er ein Russe) handelt, das sich wohl heimlich in Danzig getroffen hat, ein nicht unbedingt gleich erwartbares Buch. Diesen Fontane-Roman nun, den Hans Castorp vor seinem Abitur schon einmal zu lesen begonnen hatte, der ihn damals aber schrecklich langweilig vorkam, liest er nun in dieser spezifischen Situation (er hat sich – ohne es sich gleich einzugestehen – längst in diese Fremde verliebt) auf einmal ganz anders, er kommt die ganze Nacht nicht mehr von diesem Roman los und liest ihn ganz aus und später immer wieder. Fortan wird in Huelles Roman nicht mehr nur das Thomas-Mann-Thema, sondern auch das Fontane-Thema eine bedeutsame Rolle spielen, aber niemals plump und lastend, immer grazil und liebevoll und manchmal leise ironisch.

(5) Als eine See- und Mordgeschichte, wie ein Zeitgenosse Theodor Fontanes einen seiner eigenen wichtigen Romane – etwas irreführend, aber auch nicht ganz falsch – untertitelt, könnte Huelles Roman „Castorp“ bei understatementhaft wohl bewusst ausgesparter Kriminalästhetik durchaus auch gelesen werden: Ziemlich am Anfang steht so Castorps Seereise von Hamburg nach Danzig, wo er für einige Semester Schiffbau zu studieren gedenkt und von Mord und Totschlag und anderen Verbrechen ist im Gesamtverlauf durchaus nicht nur die Rede, es wird vielmehr Ernst damit; auch mindestens ein Detektiv und Geheimdienstliches spielen eine wichtige Rolle. Am Ende, auf der allerletzten Seite des Romans, weitet der Erzähler in einer nun ganz direkt an den Protagonisten Hans Castorp gerichteten Anrede den Zeithorizont aus und macht bewusst, was alles zwischen dieser im Jahr 1904 angesiedelten Geschichte und uns heute liegt.

(2004 ist dieser Roman auf Polnisch, 2005 auf Deutsch erschienen; eine polnische Ausgabe habe ich noch am letzten Dienstag in einer Danziger Buchhandlung gesehen und auch ein wenig angeblättert.)

Das Foto zeigt Pawel Huelle (Aufnahme: Slawek)




Eine Ruhrgebietsnovelle Thomas Manns?

Eine Ruhrgebietsnovelle Thomas Manns – oder doch zumindest fast eine?
Vorläufiges zu Thomas Manns später Erzählung „Die Betrogene“

Heute am Geburtstag Thomas Manns – geboren ist er am 6. Juni 1875 – hab ich mich gefragt, welche seiner etwas unbekannteren Erzählungen denn zur Feier des Tages womöglich gelesen werden könnte. Da fiel mir ein, dass ich zum Beispiel Thomas Manns 1953 erstmals veröffentlichte Erzählung „Die Betrogene“, noch immer nicht gelesen habe.

Schon der erste Satz zeigt das Eingebettetsein in eine große Erzähltradition, nicht nur von Storm und Fontane, sondern auch von Kleist her: „In den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts lebte in Düsseldorf am Rhein, verwitwet seit mehr als einem Jahrzehnt, Frau Rosalie von Tümmler mit ihrer Tochter Anna und ihrem Sohne Eduard in bequemen, wenn auch nicht üppigen Verhältnissen.“ –
Und wir im Revier horchen ganz unliterarisch auf: „Düsseldorf? Is doch schon ganz nah bei uns!“ Und siehe da: bald schon – nämlich bereits im zweiten Abschnitt – ist auch vom „gewerbefleißigen Duisburg“ die Rede und nur vier Seiten weiter sogar von „Bochum“, wenn auch nur von einer „reichen Fabrikantentochter“ daselbst und der Verheiratung Dr. Brünners mit ihr („zum Jammer der Düsseldorfer Frauenwelt“) bzw. von seinem Wegzug von Düsseldorf nach Bochum um des „Chemikaliengeschäfts“ seines Schwiegervaters willen.

Lokalpatriotische Erwägungen könnten also fast eine Rolle spielen, um die Erzählung weiterzulesen. Aber mir gefällt auf Anhieb ihr Duktus und die interessant begonnene Variation einiger mir bereits geläufiger Thomas-Mann-Motive.
Auch die eine oder andere Formulierung (sei sie nun manieriert oder auch nicht) kommt gut bei mir an. Etwa diese nicht unironische:
„Ihr Gatte, Oberstleutnat von Tümmler, war ganz zu Anfang des Krieges, nicht im Gefecht, sondern auf recht sinnlose Weise durch einen Autounfall, doch kann man trotzdem sagen: auf dem Feld der Ehre, ums Leben gekommen, (…)“ –
Oder diese:
„Frau von Tümmler war gesellig von Anlage. Sie liebte es, auszugehen und in den ihr gesteckten Grenzen ein Haus zu machen.“ –
(Und gerade beim Schreiben stelle ich fest, dass ich den zuletzt zitierten Satz beim ersten Lesen wohl falsch, aber in meinem Sinne sehr viel schöner verstanden habe: Hat man erkennbare Grenzen, so baue man – heraus aus diesen Grenzen – ein Haus drum herum und sorge so für Grenzerweiterung.)

Kurzum: Ich lese weiter. Allen modischen und unmodisch eingefleischten Thomas-Mann-Verächtern zum Trotz.




Kleistiana (3): „Die Hermannsschlacht“

Wie zu lesen sei / Kleists „Hermannsschlacht“ in neuer Lesart
Zu: Barbara Vinken: „Bestien / Kleist und die Deutschen“, Merve Verlag Berlin 2011 (8,00 €)

Dass der von mir in anderen seiner Werke von früh an so sehr verehrte Heinrich von Kleist auch das Drama „Die Hermannsschlacht“ geschrieben hat, hat mich – zugegeben – immer schon etwas gestört und ich habe es – nur von der damaligen Zeitsituation her betrachtet, gleichsam wie aus mildernden Umständen heraus – immer etwas widerwillig als „Leider-auch-ein-Werk-Kleists“ hingenommen. Der andere Blick der Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken kommt mir nun im Sinne einer Ehrenrettung Kleists innerlich entgegen. Kein Wunder daher, dass ich gleich zugriff, als mir ihr neuestes, nicht sehr umfangreiches Buch unlängst in einer Essener Buchhandlung in die Augen fiel, das ja, wie schon beim Blättern rasch erkennbar, eine andere triftigere Lesart als die geläufige anzubieten sich anschickt.

Von ihrer Ausgangsthese, die sie recht akribisch und recht einleuchtend (unter Einbeziehung der römischen Geschichte, ihrer Rezeption im Deutschland und Frankreich des 18. und frühen 19 Jahrhunderts sowie der neueren und älteren Kleist-Forschung) darlegt und mit Gründen und Belegen entfaltet, gelingt es ihr, auch mich als keineswegs unkritischen Leser weitestgehend zu überzeugen. Weder als nationalistisches Hassstück noch als Propagandastück im Sinne eines Partisanenkriegs, im Sinne der „Befreiungskriege“ also, sei Kleists Drama angemessen zu verstehen, ja, überhaupt nicht als ein Stück, das maßgeblich politisch eingreifen will, sondern als ein Werk der dramatischen Analyse. „Hermann ist nicht das Sprachrohr Kleists. Die Hermannsschlacht ist weder ein Aufruf zum totalen Krieg noch eine Anweisung zum Partisanenkrieg. Kleist zeigt nicht, dass der Zweck der Befreiung der deutschen Lande vom französischen Usurpator jedes Mittel heiligt. Das Deutsche ist am Ende nichts als entstellte Fratze des Römischen, Überbietung der römischen Perfidie.“ (Vinken, a.a.O., S.92f.)

In der Schwellenregion „an der Lippe“ spielt sich der ganze dramatische Hergang der Kleistschen „Hermannsschlacht“ ab: unter Einbeziehung auch vorausgegangener Forschungsbeiträge macht Barbara Vinken auf die geopolitischen, geschichtlichen und zeitgeschichtlichen, sowie erotischen und gewalttätig geschlechtsbetonten Konnotationen aufmerksam: insbesondere an Hand zweier Schlüsselszenen des Dramas: a) der „Halali Hally“ -Szene und b) der Thusnelda-Ventidius-Bärinnen-Szene.

Auf der letzten Seite ihres Buches fasst Barbara Vinken noch einmal zusammen:
Kleists Drama „Die Hermannnsschlacht“ „zielt nicht auf politische Wirksamkeit.
Es ist vielmehr eine Analyse der historischen Situation, die das Ende der Hoffnungen der Französischen Revolution besonders in der schillersch-republikanischen Version besiegelt. Es wird keine „translatio republica“ nach Deutschland geben.“
(…)
„Die Befreiungskriege sieht Kleist nicht als „translatio republica“, sondern als eine „translatio tyrannis“. Sie führen die römischen Bürgerkriege fort. Deutsche und Franzosen sind gleich: brüderlich in einer Gewalt entzweit.“ (ebd., S.93)

Dass ich Kleists von mir vielleicht etwas vorschnell abgetanes Drama nun neu lesen möchte, hat die Verfasserin unleugbar erreicht. Ebenso drängt es mich danach, jenen mir als erschreckend in mein Gedächtnis eingegrabenen „Katechismus der Deutschen, abgefaßt nach dem Spanischen zum Gebrauch für Kinder und Alte“ daraufhin neu zu lesen und mit all den verwandten bzw. benachbarten Texten Kleists und z. T. auch anderer zusammenzusehen. Diesen „Katechismus“ habe ich auszugsweise schon mit 13 gelesen; in einer recht seltsamen Anthologie („Die Selbstbefreiung des deutschen Geistes“) fand er sich, und mit einem gewissen Stolz erinnere ich mich noch daran, dass mich schon damals (ohne jeden Einfluss von Erwachsenen) der wiederholt nationalistisch hasserfüllte Ton und Charakter des vom „Vater“ gelenkten (Schein-)Dialogs mit seinem „Kinde“ recht befremdet und sehr heftig abgestoßen hat.




Kleistiana (2): Über Haydns Tod

Kleistgedenkjahr 2011 + Joseph Haydns Gedenktag heute

Etwa 2 Monate vor dem von Hardenberg über Raumer bewirkten, abrupten Ende der ersten Berliner Abendzeitung mit ihrer 153. Ausgabe, jener Zeitung Heinrich von Kleists, die seit dem 1. Oktober 1810 erschienen war, erschien unter den Miszellen ein Beitrag zu Joseph Haydns Tod am 31. Mai 1809. Man mag diesen Text als ganzen vermittels folgenden Links bitte nachlesen:
http://modules.drs.ch/data/attachments/2009/090531_Haydn%20heute.pdf

Der Schweizer Rundfunk bzw. Radio (DRS 2) , der den von Kleist übersetzten und geringfügig erweiterten Text ins Netz gestellt hat, hat ihn nach der Sembdnerschen Kleist-Ausgabe zitiert. Nimmt man auch noch die neuere Münchener Kleist-Ausgabe hinzu, wie ich es gerade wohlweislich getan habe, so stellt man vor allem fest, dass das in Kupfer gestochene Haydn-Wort dort in einem anderen Wortlaut zitiert wird: „Meine Kraft ist erloschen, Alter und Schwäche drücken mich zu Boden.“  (Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, München 2010, S.467, Z. 16f.)




Kleistiana (1): „Der Zweikampf“

KLEISTIANA (1)

Verbrechen und Klarheit
Zu Heinrich von Kleists meist sträflich unbekannter Erzählung „Der Zweikampf“

Am Anfang der Geschichte steht – wie überliefert, so auch hier – ein Mord.
Wer ist der Mörder?
Indizien werden gefunden, Alibis und Gegenindizien auch.
Durch das plausibel erscheinende Alibi des Hauptverdächtigen gerät eine bisher unbescholtene, als unbedingt ehrenhaft geltende Person in Verdacht, den sich Neider und sehr schnell Überzeugte, will sagen, allzu schnell Überzeugt-sein-Wollende, zunutze machen.

Vordergründig um eine Kriminalgeschichte, um eine Detektivgeschichte handelt es sich in dieser heute immer noch spannenden Kleistschen Novelle, mindestens ebensosehr aber um ein von einem Vorgänger des Jorge Luis Borges stammendes, ihn darin gleichsam vorwegnehmendes Kapitel aus dessen „Universalgeschichte der Niedertracht“. Um eine (zumindest zeitweilig) verwirrende Verkettung von Verbrechen und Sühne, von Unschuld und Strafe geht es hier auch noch. Und um Sexualität und Liebe, um Vertrauen und Misstrauen, um Besitzgier und Hinterhältigkeit – all dies spielt teils sehr offen, teils auch nur untergründig in das Ganze hinein.

Sogar in ein metaphysisches Grübeln kann einen diese ins Mittelalter versetzte, kurze Geschichte bringen:
Ist das, was in Wahrheit Wahrheit zu nennen ist, zumindest zuguterletzt, also auch gegen den vorangegangenen Anschein, ein Fall für Gott? Oder: Etwas kleistischer gesprochen eine „ENTSCHEIDUNG“sfrage Gottes? Wahrheit als eine „Entscheidung“ Gottes? –
Und wenn es Gott nicht gäbe? Was wäre dann Wahrheit? –

Schnell fällt mir da noch eine mit Vornamen bezeichnete Intrigantin ein, die sich natürlicher und nicht etwa übernatürlicher Umstände halber gegen Ende der kleistschen Erzählung dazu gedrängt sieht, unverhohlen zu Wahrheit und Klarheit beizutragen bzw. konsekutiv und entscheidend (wie immer auch indirekt) dazu zu verhelfen.




„Du musst Dein Leben ändern!“

29. 05. 2011: „Du musst Dein Leben ändern!“
Mahlers Siebte mit den Bambergern Symphonikern unter Jonathan Nott in der Philharmonie Essen

Hätte ich genau diese Aufführung der 7. Symphonie Gustav Mahlers schon früher hören können und genau so hören können, wie es gestern Abend in der Essener Philharmonie der Fall gewesen ist, und wäre das noch in sehr jungen Jahren erfolgt und nicht erst jetzt nach einem langen Berufsleben, ab sofort würde ich einen ganz anderen Berufsweg eingeschlagen haben und mein Leben fortan ganz der Musik widmen.

1952, von Salzburg in den Essener Norden gekommen, hätte ich so den zweieinhalb Jahre zuvor begonnenen Klavierunterricht auch unter den widrigsten Bedingungen einer vorherrschend musikfremden Umgebung, in der ich nun weiter aufwuchs, unbedingt fortgesetzt und hätte nicht mehr erst in einem nur vorgestellt zweiten Leben, sondern damals ganz ernsthaft und entschieden (unter Berücksichtigung aller notwendigen Vorstufen) Dirigent oder gar Komponist werden wollen.

Aber hätte ich mit 10 diese Mahler-Musik schon so hören können? Wäre ich dafür schon bereit gewesen, so unmittelbar und so bezwingend nah, wie sie mir gestern Abend endlich gekommen ist? Und hätte es gegen 1952 irgendein Orchester und irgendeinen Dirigenten in der Welt gegeben, die einem ausgerechnet Mahlers Siebte auf diese Weise so hätten nahebringen können? Ich glaube nicht. Und nicht nur, weil der Mahler-Boom, den ich alsbald mitbekommen habe, so recht erst in den 60er-Jahren eingesetzt hat. Auch als ich über Rundfunk und Schallplatte schon längst für die Werke Mahlers gewonnen war, fand ich lange keine einzige Aufnahme der Siebten, die mich wünschenswert überzeugt bzw. begeistert oder gefesselt hätte.

Erst die Begegnung mit der Aufnahme des Utah Symphony Orchestra unter Maurice Abravanel, und nicht schon die mit den Aufnahmen Georg Soltis, Leonard Bernsteins und Rafael Kubeliks, hat maßgeblich etwas daran geändert. Und zwar recht eindrucksvoll schon mit dem Symphoniebeginn. Auf diese Abravanel-Einspielung stieß ich erst in den 70er-Jahren und sie blieb fortan (fast bis gestern) meine persönliche Referenzaufnahme. Aber mein Leben aufwühlend geändert hat auch sie nicht mehr. Erst nach der gestrigen Aufführung der Mahlerschen Siebten durch die Bamberger Symphoniker unter ihrem Chefdirigenten Jonathan Nott weiß ich genau: Wäre ich jetzt noch jung, bliebe mir nun gebieterisch nur der Weg in die Musik, so dornig er auch wäre. Ich würde als junger Mensch spätestens jetzt mein Leben daraufhin ausrichten, meine Lebensplanung ändern.

Noch nie hat mich die Komposition und die Darbietung der ersten drei, vier Sätze dieser Symphonie so sehr überzeugt wie gestern. Auch im fünften Satz war die orchestrale Darbietung auf gleichbleibend hohem Niveau, mit dem kompositorisch angestrebten Verhältnis dieses Satzes zu den vier vorausgegangenen indessen habe ich (nur vorläufig?) noch gewisse Schwierigkeiten. Mahler scheint in diesem letzten Satz geradezu Wert darauf gelegt zu haben, hin und wieder ausgesprochen triviale, musikalisch eher minderwertig eingestufte Themen zu zitieren, zu verwenden und ironisch wichtig zu nehmen: „Schlösser, die im Monde liegen“ klingt da operettenhaft an, wie später in Bartóks „Konzert für Orchester“ das populäre „Dann geh ich ins Maxim“.

Im Juli werde ich Mahlers Siebte noch einmal in Essen hören: diesmal mit den hier Heimrecht habenden Essener Philharmonikern unter Stefan Soltesz. Kein Zweifel, dass auch diese Darbietung gut sein wird. Dennoch habe ich ein bisschen Sorge: Denn besser als die gestrige der Bamberger Symphoniker kann sie kaum sein. Gespannt bin ich aber darauf, wie der erste Satz, der mir bei jeder Interpretation anders vorkommt, diesmal klingen wird. Und ob mir der fünfte Satz langsam einzuleuchten vermag.




Schumann-Abend in Essen: Ans Herz gedrückt, ans Herz gelegt

Zum gestrigen Schumann-Abend
des Pianisten András Schiff und seiner musikalisch kongenialen Freunde in der Philharmonie Essen

Wann hat man schon die ausgiebige Gelegenheit, an einem Abend nur Lieblingswerke zu hören? Wann schon die Gelegenheit, mehr als 150 Jahre alte Werke ein und desselben Komponisten zu hören und sie dennoch allesamt zu keiner Sekunde ihrer hellstwachen Darbietung als alte Musik zu empfinden? Nein, Schumann war durchweg ganz nah und ganz gegenwärtig. Ob nun beim Klavierquartett op. 47 oder beim Eichendorff- Liederkreis op. 39. Oder ob nach der 1. Pause bei Schumann-Heines „Dichterliebe“ op. 48 bzw. nach der 2. Pause beim abschließenden (wie alles zuvor) ganz großartig (oder doch noch etwas besser?) gespielten Klavierquintett op 44.

Bei all diesen Werken war umsichtig und maßgeblich – so feinfühlig kammermusikalisch wie ggf. energisch bestimmt – András Schiff beteiligt, ohne sich in Szene zu setzen, jederzeit allenfalls primus inter pares bleibend, der Erste unter Gleichen, der Erste mitten unter den (Schiffs eigenem Gestus nach) ihm Ebenbürtigen. Besonders kennzeichnend für ihn scheint mir seine spontane Geste zu sein unmittelbar nach dem auf die Darbietung der „Dichterliebe“ folgenden 2. Applaus: kurz entschlossen nahm er die Partitur beim Abgang von dem Podium mit und drückte sie ununterbrochen an sein Herz, bis die Tür sich hinter ihm schloss. So, als demütigen Diener großer Musik sieht er sich; den Applaus verdiene primär vor allem sie selber, die Musik als Komposition, scheint er uns, den ihm und dem Sänger Applaudierenden, zu sagen, wenn sie als Musik tatsächlichlich so groß und so bedeutend ist wie die eigens für diesen Abend ausgewählten Kompositionen des wohl zu oft immer noch unterschätzten Robert Schumann. Indem er Schumanns Partitur der „Dichterliebe“ demütig-selbstbewusst an sein Herz drückte, legte er uns Hörern die Musik Robert Schumanns ans Herz. Aber dafür waren wohl die allermeisten ohnehin schon gewonnen. Am Schlussbeifall nach dem Klavierquintett wurde dies überdeutlich: massierter, mehrfacher und lange anhaltender Applaus des gesamten Auditoriums, in standing ovations für die Künstler mündend. Dabei war es schön, zu beobachten, wie sich schon vor diesem Applaus die unerhört engagiert spielenden, sich durchweg optimal aufeinander einstellenden Künstler erkennbar selber über ihr Gelingen freuten.

Alle Künstler dieses Sternstundenabends verdienen es namentlich genannt zu werden: für den Eichendorff-Liederkreis Ruth Ziesack, Sopran; für den Heine-Liederzyklus Hanno Müller-Brachmann, Bariton. Für das Quartett Es-Dur für Klavier, Violine, Viola und Violoncello (op. 47) Yuuko Shiokawa, Violine, Hariolf Schlichtig, Viola und Christoph Richter, Violoncello. Beim Klavierquintett Es-Dur, op. 44 gesellte sich als zweite Geigerin noch Ulrike-Anima Mathé hinzu. Und überall dabei – als primus inter pares, wie gesagt – war: András Schiff, Klavier.

Selten genug, dass man diese beiden großartigen Liederzyklen Robert Schumanns an ein und demselben Abend hören kann! Und noch dazu umrahmt von so herrlichen, den Liederzyklen ebenbürtigen Werken wie das Schumannsche Klavierquartett und -quintett!

Bald – am 15. Mai nämlich – können wir, wir im Ruhrgebiet zumindest, diese beiden Liederzyklen an einem einzigen Abend abermals hören, in einer anderen, ganz sicher ebenfalls sehr hörenswerten Darbietung. Auf diesen Tag nämlich wurde das letzte Kammerkonzert mit dem Dirigenten Jonathan Darlington als Pianisten verlegt, weil das eigentlich für den 10. April vorgesehene Konzert mit dem Tenor Christoph Prégardien wegen dessen plötzlicher Erkrankung leider nicht stattfinden konnte. So freuen wir uns nach der gestrigen Sopran- und Bariton-Darbietung der beiden Schumann-Liederzyklen auf eine weitere mit einem so exzellenten Tenor wie Christoph Prégardien und auf eine neuerliche Begegnung mit diesen uns von András Schiff so nachdrücklich ans Herz gelegten Werken.




Vorfreude: Bamberger Symphoniker in Essen

Ahnen konnte ich es schon, dass man sich auf diese Gastkonzerte am 28. Mai und am 21. Oktober 2011 in der Essener Philharmonie wirklich freuen darf; dann nämlich, wenn die Bamberger Symphoniker unter ihrem Chefdirigenten Jonathan Nott jetzt bald Gustav Mahlers 7. Symphonie und im Oktober Mahlers Vierte und Schuberts „Unvollendete“ aufführen werden. (Nebenbei: Jonathan Nott wird am 17.02.2012 noch einmal nach Essen kommen, zwar mit einem anderen Orchester, nämlich dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin, aber wieder mit einer Symphonie Gustav Mahlers, dann mit der Zweiten.)

Inzwischen habe ich bemerkt, dass bei Tudor bereits eine beträchtliche Anzahl von CDs veröffentlicht worden sind, die die langjährige gute Zusammenarbeit der Bamberger Symphoniker mit ihrem derzeitigen Chefdirigenten eindrucksvoll bekunden. Die Mahler- und Schubert-Aufnahmen ziehen mich dabei besonders an, dennoch habe ich die Mahler-Aufnahmen vorerst noch ausgespart, um mich zunächst ganz auf den ja recht bald möglichen Live-Eindruck einlassen zu können. Da im Oktober Schuberts „Unvollendete“ und nicht die Große C-Dur-Symphonie auf dem Programm stehen wird, habe ich bei letzterer nicht länger gezögert. Seit meiner ersten Bekanntschaft mit dieser Symphonie zählt sie unbedingt zu den mir liebsten. Meine allererste Aufnahme war die auf einer Heliodor-Schallplatte mit Eugen Jochum und dem Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Die vermochte mich sofort zu begeistern. Dennoch habe ich es mir nie nehmen lassen, gerade diese Symphonie unbedingt nur in voraussehbar guten Aufnahmen zu hören. Über Wilhelm Furtwängler, Karl Böhm, Sergiu Celibidache, George Szell, Günter Wand, Michael Gielen, John Eliot Gardiner und Charles Mackerras … kam da schon eine beträchtliche Reihe von guten, ja sehr guten Aufnahmen zustande – zu der ich nun die überaus gut durchhörbare, klangvolle Neuaufnahme der Bamberger Symphoniker unter Nott ohne zu zögern hinzufügen kann.

Zwar sei zuzugeben, dass ich bei erstrangigen Aufnahmen diese nur selten akribisch untereinander vergleiche; immerhin mag es schon ein Kriterium sein, dass ich beim Anhören einer bestimmten Interpretation mich nicht gleich schon wieder nach einer bestimmten mir bereits bekannten zurücksehne, sondern die je eigene Nuancierung der gerade von mir gehörten zu schätzen weiß und mich ihr ganz überlasse. Und bei der CD der Bamberger war es genauso; beim Hören habe ich zu keinem Zeitpunkt irgendetwas bereits Vertrautes vermisst. Im Gegenteil: Es handelt sich ganz sicher um eine Interpretation, die auch einen etwaigen Ersthörer dieser Symphonie für diese sofort gewinnen, ja erobern könnte.

Auch mit zwei anderen in der gleichen Koppelung von Dirigent und Orchester eingespielten CDs bin ich vollauf zufrieden, ja von der jeweiligen Aufnahme geradezu angetan: von Igor Stravinskys „Le Sacre du Printemps“ … und Leoš Janáčeks „Sinfonietta“ … . Außerdem habe ich unlängst per Zufall einen Ausschnitt aus dem zur Zeit anscheinend laufenden Beethovenprojekt Notts mit seinem bewährten Bamberger Orchester mitbekommen: Im Sender Deutschlandradio Kultur wurde gerade die Eroica gegeben, eine neue Aufnahme, die mich aufhorchen ließ.




Nachtgespräch mit Thomas Bernhard

In einer Vorbemerkung erläutert Peter Hamm, weshalb sein im Jahr 1977 mit Thomas Bernhard geführtes Nachtgespräch erst jetzt erscheint.
Warum dieses Gespräch auch heute noch so lebendig auf mich wirkt, mag zwar mit daran liegen, dass ich Sprechton und Gestus Thomas Bernhards von mir bereits bekannten Interviews her noch sehr gut in Ohr und Sinn habe, auch Peter Hamm mir insbesondere von der Schweizer TV-Sendung „Literaturclub“ sehr präsent ist und ich ausgerechnet im August des vergangenen Jahres in Gmunden am Traunsee und in Thomas Bernhards Bauernhof in Ohlsdorf gewesen bin und so auch die Örtlichkeiten noch ganz frisch im Gedächtnis habe.

Aber auch ganz ohne diese speziellen, individuellen Vorgaben wird jeder wache Leser einen sehr frischen Eindruck von diesem Gespräch bekommen können. Bis in die Diktion hinein – auch Bernhards typische, rhetorisch fragende und kommunikationsförderliche Interjektion „nicht“ wird nicht ausgespart – bekommt man den Eindruck eines zuverlässigen Textes, der noch ganz nah ist an der tatsächlich gesprochenen Sprache. Schon allein dies macht die Lektüre lohnend.

Zudem werden viele interessante Themen angesprochen. Mich haben davon vor allem zwei interessiert. Zum einen: wie Bernhard selber eine Unterscheidung trifft zwischen sich 1.) als Prosaschriftsteller und 2.) als Theaterautor (vgl. vor allem S. 47 und die Seiten im Umkreis davon).

Und zum anderen: Wie enorm stark er doch die Nähe, die Nachbarschaft von Literatur und Musik betont (vgl. S. 34f.). Seine Prosastücke müssten wie Partituren gelesen werden. Einer der Mängel der üblichen Literaturkritik bestehe darin, dass die Literaturkritiker in der Regel von Musik nur wenig Ahnung hätten oder aber, sogar wenn sie durchaus, also zumindest abwechselnd, Literatur- und Musikkritiker seien (darf man hier vielleicht sogar an Joachim Kaiser denken?), ihr Musikwissen im Hinblick auf Literatur nicht hinreichend nutzen würden: „Ja, ich sehe die Prosastücke wie die Stücke als Partituren. Die Kritiker aber sehen nur die Singstimme oder den Klavierauszug, und dadurch geht bei ihnen immer alles daneben, weil sie das Ganze nicht sehen. Sie sehen nur den Auszug und die Oberstimme.“ (Thomas Bernhard, a. a. O.)

Drittens fällt mir auf, dass – wie unzeitgemäß doch für damals – Thomas Bernhard sich beständig und hartnäckig weigert, auf eine ganz bestimmte politische Richtung hin festgelegt zu werden: „Was ich vielleicht will, ist, irgendwas zu beschreiben, was mich abstößt oder anzieht und wovon ich annehme, daß es, wenn es andere lesen, auch sie abstößt oder anzieht. Dadurch ist ja eine Wirkung da, nicht? Das ist der Reiz. Mehr stelle ich mir nicht vor.“ (S. 60f.)

Thomas Bernhard / Peter Hamm: „Sind Sie gern böse?“ Ein Nachtgespräch zwischen Thomas Bernhard und Peter Hamm im Hause Bernhard in Ohlsdorf 1977. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 62 Seiten, 14,90 €




Endlich übersetzt: Pierre Michons „Die Grande Beune“

Jeder Autor von einigem Belang, so will es mir scheinen, hat in seinem Leben wenigstens einmal ein ganz bestimmtes Buch geschrieben, das darauf wartet, von so unterschiedlich geneigten Leser…n, wie wir es jeweils sind, zu einem besonders günstigen Zeitpunkt als unser fortan ureigenes, autorbezogen entscheidendes Buch gelesen und entdeckt zu werden.

Je nachdem. Bei Juan Carlos Onetti war das in meinem speziellen Falle die kurze Erzählung „Abschiede“, bei Ernst Weiß der Roman „Der Gefängnisarzt und die Vaterlosen“, bei Wilhelm Raabe „Die Akten des Vogelsangs“, bei Emmanuel Bove „Die Ahnung“, bei Ludwig Winder „Die Reitpeitsche“, bei Volker Braun die „Unvollendete Geschichte“, bei Gerhard Meier „Das Tal der Winde“, bei Robert Menasse „Selige Zeiten, brüchige Welt“ und bei Roberto Bolaño „2666“. Bei Pierre Michon nun also „Die Grande Beune“.

In der exquisitesten (nur räumlich kleinen) Buchhandlung Essens fiel mir dieser gerade 103 Seiten starke, schmale Band am Montagnachmittag beim Stöbern ins Auge, nicht nur wegen seiner geschmackvollen Ausstattung mit grünem Lesebändchen, sondern vor allem wegen des Autors Pierre Michon, den ich von anderen seiner Bücher her bereits kannte. Seine ersten zwei Bücher in deutscher Übersetzung („Das Leben des Joseph Roulin“ sowie „Herr[en] und Diener“) sind zunächst im Manholt Verlag Bremen erschienen, inzwischen aber vergriffen. In der Bibliothek Suhrkamp ist mit inzwischen 2 oder 3 anderen Büchern dieses Autors ein weiterer Versuch, ihn uns zunehmend zugänglicher zu machen, gestartet worden. Schon der erstmals 2008 ins Deutsche übersetzte Band „Rimbaud der Sohn“ (1991) hat mich nicht nur thematisch, sondern auch von der Erzählweise her stark interessiert, aber erst der neue Band „Die Grande Beune“ hat mich für diesen französischen Autor – durch die anscheinend wohlgelungene Übersetzung – vollends gewonnen.

Welch ein Sog vor allem durch die Sprache entstand bei mir schon in den ersten zwei Kapiteln! Ich war ständig versucht, für mich ganz allein, laut zu lesen, um diesem Sprachklang vollends zu seinem Recht zu verhelfen. Immer wieder lädt diese Prosa nicht nur kundige Leser zu Vergleichen ein und ist doch unvergleichlich. In diesem Buch schreibt der Autor in der Rolle eines rückblickenden Erzähler-Ichs so lange, so schöne, so dichte, so gestaltete Sätze wie etwa Wolfgang Koeppen, nur noch viel bezwingender und melodisch unwiderstehlicher. So wenigstens suggeriert es mir die jetzt endlich vorliegende deutsche Übersetzung. (Um sicher zu gehen, werde ich wohl auch noch zum französischen Original greifen müssen.)

Ich wüsste gerne, wie es jemandem mit dem ganzen Buch ergeht, wenn er es auf einen Sitz lesen kann. Ich selbst nämlich musste nach den ersten beiden Kapiteln meine Lektüre leider für einige Stunden unterbrechen, wodurch aber gerade das äußerst wichtige 3. Kapitel für mich selber besonders markant herausgehoben wurde, da ich meinen Neueinstieg genau mit ihm vorgenommen habe. Das letzte Drittel des aus 6 Kapiteln bestehenden Buches, das man gattungsmäßig vielleicht als Novelle bezeichnen könnte, habe ich erst am Morgen des folgenden Tages lesen können; vielleicht erschien der letzte Teil mir deswegen nicht mehr ganz auf der vollen Höhe der ersten Hälfte der so geheimnisvoll nach vielen, auch zeitlichen, Hinsichten ineinander geschlungenen Erzählung, so stimmig er aufs Ganze gesehen als Schlussteil auch ist. Eine Inhaltsangabe zu dieser intensiv wahrhaftigen und schonungslos ehrlichen Geschichte eines Grundschullehrers von den ihn innerlich und äußerlich besetzenden Erlebnissen und Umständen seiner ersten Anstellung 1961 als Zwanzigjähriger in der französischen „Walachei“ ließe sich leicht geben und würde von dem wahren Gewicht dieser Erzählung dennoch nichts verraten. Man sollte sie lieber gleich selber lesen.

Ein Semprún-Zitat auf dem Buchumschlagsrücken lädt uns mit vollem Recht zur Lektüre ein: „Michons Yvonne ist eine der anziehendsten Frauenfiguren, die mir in sehr langer Zeit aus der Wirklichkeit der Literatur entgegengekommen sind.“ Das Zitat verschweigt aber, dass wir diese attraktiv eindringliche Frauengestalt durchweg immer wieder nur aus der Sicht des Ich-Erzählers, sonst nur indirekt, niemals von ihr selber her wahrzunehmen in der Lage sind.

Pierre Michon: „Die Grande Beune“. Aus dem Französischen übersetzt von Katja Massury, mit einem Nachwort von Jürg Laederach. Suhrkamp, 103 Seiten, 12,90 Euro.




Ein Leseeindruck, was sonst? (Peter Handkes Erzählung „Der Große Fall“)

Nein, eine Rezension wird das nicht. Handkes Erzählung „Der Große Fall“ habe ich in der letzten Woche nicht in der Absicht gelesen, darüber hier eine Rezension zu schreiben. Um eine Rezension zu schreiben, müsste ich das Ganze mindestens noch einmal lesen. – Nicht aber sofort und nicht sehr bald. Mit dieser Erzählung bin ich nach der Lektüre ohnehin noch nicht zu Ende. Sie arbeitet noch weiter in mir.

Heute will es mir scheinen, als hätte da einer geträumt, er sei ein alt gewordener, recht bekannter Schauspieler und hätte als dieser Schauspieler diese Geschichte eines einzigen irgendwie spätzeitlichen Sommertages so geträumt, als hätte er sie wirklich erlebt. Und es will mir scheinen, als hätte dieser Träumende, diese Rollenfigur des Autors, objektivierend, besser: gestalterisch pseudoobjektivierend, von der Ich-Form des Traums in die Er-Form der abschließend gültigen Erzählung gewechselt. Läge der Erzählung derart wasserzeichenhaft tatsächlich oder auch nur suggestiv ein Traum zu Grunde, würde sich der erzählerische Doppelcharakter, dieses Ineinander von Präzison und Unbestimmtheit leichter erklären lassen. Unverkennbare Realitätspartikel, aber auch phantastisch ungreifbare Elemente bekämen da, ebenso wie das Vermutete und das Unvermutete im Geschehen, ihren jeweils traumlogischen Ort. Auch die schon im Titel – wie danach auch gleich noch im Erzähleingang – herausgestellte Hauptsache des „Großen Falls“ und die damit nahegelegte Frage, was es denn mit dem (am Anfang als schon erfolgt angekündigten und am Ende der Geschichte offenbar tatsächlich erfolgenden, sich irgendwie ereignenden) „Großen Fall“ für eine genauere Bewandtnis habe, erhält jeweils eine gewisse traumlogische Plausibilität. Dass – zumal am Ende eines Traums – das benennbar Ereignishafte und eine merkwürdige Unbestimmtheit und Vagheit zusammenkommen, ist in Träumen keineswegs selten. Aber auch innerliterarisch wird man an die vergleichbare Unbestimmtheit etwa von Samuel Becketts „Godot“ und an die gerade aus dieser Unbestimmtheit resultierenden, z. T. maßlosen Deutungsverlockungen erinnern dürfen.

Bereits der erste Satz der Erzählung suggeriert eine abgeschlossene Handlung, von der der unbestimmt namenlos bleibende Er-Erzähler, von Beginn des einen Tages an bis zu seinem Ende so erzählt, als wäre auch dieser Tag zum Zeitpunkt des Erzählens (wann?) schon eine ganze Zeit lang vergangen. Umso beunruhigender, ja verstörender, dass nirgends ganz genau gesagt wird, worin denn „Der Große Fall“, der schließlich zielgenau am Ende steht oder sich am Ende irgendwie ergibt, genau besteht. Anklänge, Assoziationen im Verlauf gibt es en masse, wenn auch nicht durchweg eingängig-einheitlich. Eine plumpe Festlegung auf ein in Eindeutigkeit Gemeintes scheint durchweg verhindert werden zu sollen. Betrifft der „Große Fall“ eine ganz bestimmte (kleinere oder größere?) Gruppe von Lebewesen eines bestimmten Landes, eines bestimmten Kontinentes oder aller Kontinente? Oder nur diese eine Person, dieses eine Individuum?

Doch auch in einem solchen Falle könnte der „FALL“ textübergreifend ein exemplarischer sein. Ich erinnere mich in Vergleichsabsicht an vorausgegangene Werke anderer Autoren: Der junge (!) Kaufmannssohn in Hugo von Hofmannsthals „Das Märchen 672. Nacht“ z. B. geht eines Tages in einer bestimmten Absicht von seinem abgelegenen Sommersitz samt Garten weg in die große Stadt und ENDET – wie zielstrebig am Ende – unter den Hufen eines ihn schlagartig tötenden Pferdes.

Ein Theaterstück wie Grillparzers „König Ottokars Glück und Ende“ oder ein Roman wie Balzacs „César Birotteaus Größe und Niedergang“ beschreibt sogar schon im Titel eine bestimmte Verlaufsform.

Handke nun meint seinen Erzählungstitel zwar einerseits ähnlich ernst wie die beiden zuletzt genannten Vorgänger ihre literarischen Titel – , spielt aber andererseits wiederholt nuancenreich damit, als wäre zusätzlich und vorsätzlich ein gewisser Unernst mit im Spiel, als wäre es ihm passagenweise doch nicht so ganz ernst mit dem „Großen Fall“ in seiner ganzen „Größe“. Reines (wie auch immer moderiert entfaltetes) Untergangsszenario in einer spätzeitlichen, abendlich gewordenen Welt? Wirklich?

Am deutlichsten wird das SPIELEN mit dem „Fall“ gegen Schluss auf Seite 275. Und ich darf ausnahmsweise zitieren: „“Fall‘ ich in den Graben, retten mich die Raben“: Auch das sang er fast:“ – Wie viele (vorwiegend österreichische?) Kinder haben dieses Lied, das in einen bloß gespielten, insofern nicht ganz ernsten, meist jauchzend (mit dem Gefühl, es hätte ernst sein können) hingenommenen „Fall“ mündet, gesungen bzw. während des Pseudo-Fallens, des Fallens ohne wirklichen Sturz, lauthals mitgesungen und dann scheppernd gelacht? Jedoch: Hieß das im Kinderlied nicht so: „Hoppe, hoppe, Reiter! Wenn er (!) fällt, dann schreit er (!). Fällt er (!) in den Graben, fressen ihn (!) die Raben.“?

Und siehe da, in Handkes Erzähltext wird die 3. Person Singular des Liedes durch die 1. Person Singular ersetzt, so wie sich jedes Kind einmal spielerisch mit dem Reiter identifiziert hat, was gleichzeitig aber auch meine eigene These eines grundlegenden, umgekehrten Wechsels vom Traum-Ich ins Erzähl-Er in der von Handke vordringlich traumlogisch geschriebenen Erzählung noch etwas plausibler erscheinen lässt.

In einem Traum kommt unwillkürlich so einiges zusammen, Tagesreste oder – wie hier – auch Traditionsreste, ggf. auch in Variationen und Umkehrungen. So bin ich von meiner Ausgangsthese her auch nicht überrascht, wie von ungefähr, Heterogenstes in aufeinander folgenden Episoden – in Abständen hintereinander und gedanklich motivlich gleichsam nebeneinander – vorzufinden. Vieles davon lädt, sofern vorschnell vorrangig behandelt, zu einer monokausal einsinnigen Deutung des Ganzen ein, oder scheint zumindest, dazu einzuladen, und griffe doch, sofern vorschnell als einziger Schlüssel genommen, ziemlich sicher fehl.

Zwei, drei Beispiele nur für Handkes erzählerischen Umgang mit Überliefertem:

Auf Seite 233 wie nebenbei eines der Sieben Worte Jesu am Kreuz; hier bezugslos und zweckentfremdet in einen anderen Zusammenhang versetzt: „Vater, warum hast du mich verlassen?“ –

Auf Seite 137f. fühlt man sich plötzlich, ebenfalls abgewandelt, versetzt in Joseph Roths „Legende vom heiligen Trinker“, wenn der Schauspieler plötzlich im fremden Land einen Fremden als einen ehemals Bekannten, als „einen guten Freund“ bzw. „fast einen Freund“ erkennt, sich selbst aber leutscheu nicht zu erkennen gibt, obwohl dieser der erste an diesem Tage ist, den er unter den vielen ihm Begegnenden beim Vornamen nennen könnte. „Andreas!“ – könnte er ausrufen, so wie es bei Joseph Roth geschieht, aber hier nicht.

Auf Seite 248 ff. begegnet er (nur beobachtend und selber allem Anschein nach ungesehen und damit unerkannt bleibend) jenem Gesicht eines Menschen, auf das er offenbar nicht nur diesen ganzen Tag über gewartet hatte, ohne es, obwohl er es bereits früher oft genug und noch ganz vor kurzem sogar in der Nähe gesehen hat, wirklich als dieses eine Erwartete wahrgenommen zu haben. Von hier an wäre ein anderer Schluss des Ganzen vorstellbar. Traumlogisch sowie in der Logik des auch im Affektiven nüchternen Ganzen wohl aber nicht. Die Geschichte geht, da intellektuell redlich, anders weiter. –

Festzuhalten bleibt dennoch, dass es beinah eine merkwürdige Form von Flaschenpost gegeben hätte, die den in der Geschichte so nahe- wie ferngerückten „Fall“ fast überdauert hätte und es in Form der Erzählung ja auch tut. Es handelt sich um einen Brief, den der Schauspieler auf unmoderne, wiewohl nostalgisch angeblich wieder modisch gewordene Weise als „Vater“ noch am Abend dieses letzten (?) Tages an seinen wie verschollen fernen, ihm fremd gewordenen und fremdgebliebenen Sohn geschrieben (?) hat und gerne abgeschickt hätte, ohne indessen eine genaue feste Adresse zu kennen. Ob den Sohn dieser Brief jemals erreicht hätte, bleibt fraglich, ist (durchaus vergleichbar mit entfernt Ähnlichem in Kafkas „kaiserlicher Botschaft“) sogar mehr als fraglich. Ob der Sohn noch lebt (?) … und wo (?) … wohl auch. Immerhin: der annähernde Wortlaut des Briefes wird auf der Seite 244 mitgeteilt. Wie in einer Art Umkehrung von Kafkas Erzählung „Das Urteil“ erwartet hier der Vater das „Urteil“ des Sohnes. (a.a.O., S.245) –

PS 1: Einzelne Episoden dieser (durchaus interessanten, mich aber insgesamt keineswegs begeisternden) Erzählung haben eine eigenständige Kraft, sind sehr gut isolierbar. So zum Beispiel die zusammenhängende, eindringliche Passage der Seiten 156 (ab Z.17) bis 158 (Z.2). Hier würde man fündig, suchte man einen unaufgemotzt stillen Text für eine Abiturprüfung oder für das Projekt einer Anthologie von Endzeittexten.

PS 2: Bestätigte Ausgangsthese als Fazit: Handkes Erzählung gibt sich keineswegs als Traum, folgt aber über weite Strecken einer Traumlogik, die die variierende Einbettung von Traditions- wie Tagesresten gestattet und hierdurch und des weiteren alles in der Erzählung Vorkommende plausibel erscheinen lässt und den Autor – zumindest für dieses Mal – unangreifbar macht.

PS 3: Vom seniorenfreundlichen Druckbild her ist der Text gut lesbar. Auch sprachlich. Von der Gestaltung des Schutzumschlages und der Buchdeckel her wirkt das Buch wie der Eröffnungsband aus dem fiktiven Verlag der Grauen Panther. Aber „altvattrisch“, wie Österreicher manchmal zu sagen pflegen, sind Formung und Inhalt des Buches durchaus nicht.

Peter Handke: „Der Große Fall“. Erzählung. Suhrkamp Verlag, 278 Seiten, 24,90 Euro.




Musikstreiflicht (1): Kerzenlos gute Musik

Vor kurzem wurde in der Essener Philharmonie das in der laufenden Spielzeit letzte Konzert der Reihe „Alte Musik bei Kerzenschein“ gegeben. Wer die noch weiter gehende Abo-Reihe 3 „Erlesene Ensembles“ gebucht hat, konnte wegen einmaliger, ausnahmsweiser Überschneidung beider Abo-Reihen dieses Konzert ebenfalls mitbekommen. So war das in meinem und meiner Frau Falle auch. Allerdings: Mich hätte das Konzert auch dann interessiert und mir hätte es auch dann mindestens so gut gefallen, wenn es bei anderer Beleuchtung stattgefunden hätte. Und ich gebe auch zu, dass mich der Reihentitel „Alte Musik bei Kerzenschein“ nicht besonders angezogen hat. Mir kommt es immer nur auf die Qualität der Musikdarbietung selber an. (Die übrigens überzeugend stark vorhanden war.) Und Atmosphäre hat die Essener Philharmonie auch so schon. Gewiss ist es aber so, dass so manchen anderen gerade diese wohlbedachte Koppelung von „alter Musik“ und „Kerzenschein“ besonders angezogen haben mag, ob nun anheimelnd oder pseudoromantisch oder pseudonostalgisch. Dennoch: Werbetrick hin oder her, was zählt, ist der Umstand, dass wieder einmal im Revier so gute Musik mit hinlänglichem Besucher…zustrom auf höchstem Niveau zu Gehör gebracht werden konnte.

Auch die halbstündige Einführung unmittelbar vor dem Konzert durch den Orchesterleiter Andrea Marcon – unter anregend instruktiver Zuhilfenahme des Orchesters – ist ganz besonders hervorzuheben. So viel Sachkunde und so hohem Übermittlungsgeschick begegnet man selten. Hauptsächlich Vivaldi, aber auch Tartini und Carl Philipp Emanuel Bach waren die Komponisten des Abends. Mehrfach – will sagen: in 3 Cellokonzerten und einem für 2 Celli, Streicher und Basso Continuo – durfte Gautier Capuçon als Solist glänzen, ohne dass man sagen dürfte oder müsste, dass die Solisten des Ensembles in irgendeiner Weise gegen ihn qualitativ abgefallen wären. Einmal, beim aufbrandenden Applaus unmittelbar nach dem Ende eines dieser Cellokonzerte konnte der Dirigent den Solisten gerade noch vor einem gefährlichen Sturz mitsamt dem Cello bewahren, als dieser nämlich im Halbdämmer des Kerzenscheins beim Verlassen des Podiums urplötzlich ins Straucheln geraten war. –