Preis für grotesken Humor: Ulrich Holbein ausgezeichnet

Loriot hat ihn erhalten. Ernst Jandl, Robert Gernhardt, Hanns Dieter Hüsch, Ingomar von Kieseritzky, Ror Wolf, Katja Lange-Müller, Gerhard Polt, F. W. Bernstein, Peter Rühmkorf, Herbert Achternbusch und fünfzehn weitere um ihre Vertrautheit mit dem Grotesken oft beneidete Persönlichkeiten ebenfalls. An diesem Wochenende geht der Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor an Ulrich Holbein. Sollte Ihnen der Name unbekannt sein? Verwechseln Sie ihn gar mit einem anderen Herrn Holbein? Das wäre betrüblich.

Seit seiner Kindheit trägt der 1953 geborene Ulrich Holbein zur Weltverschönerung bei. Davon kann man sich beispielsweise in dem wundervollen Buch Bitte umblättern! überzeugen, das 2010 im Elfenbein Verlag erschienen ist. In diese Reihung verheißungsvoller Textanfänge gehört auch ein netter Kinderbrief an den Uropa, säuberlich auf Linienpapier geschrieben und mit Buntstiftzeichnungen am Blattrand. Leider erfahren wir nichts über die Uroma, denn der Brief bricht wie jedes Dokument dieser „Einhundertelf Appetithäppchen“ nach der ersten Seite ab – oftmals mitten im Satz oder Wort. Beim Umblättern tut sich ein neuer Text auf, oder eine Zeichnung oder eine Collage. In einem anderen Text des Bandes wird Satz für Satz die persönliche Entwicklungsgeschichte des Autors der Entwicklung der Menschheit gegenüberstellt. Überzeugend.

Im gleichen Verlag war zuvor Isis entschleiert erschienen, eine Geschichte, die sich ausschließlich aus Zitaten zusammensetzt. Das liest sich etwa so:

Ekkehard Wiederholz: Wenngleich es auch für den Angler appetitlicher sein mag, nur mit sauber gewaschenen Därmen zu arbeiten, würden sie jedoch mit einer gründlichen Säuberung im Wasser ihrer gesamten Duftstoffe und damit ihrer ganzen Anziehungskraft als guter Köder beraubt. Jegliche Därme dürfen daher nur leicht ausgedrückt, das heißt zwischen zwei zusammengepreßten Fingern hindurchgestreift, nicht aber gewaschen werden.
Leonardo da Vinci: Viele werden sich ein Haus aus Därmen bauen und sogar in ihren eigenen Därmen wohnen.
Ulrich Holbein (seinem Vater die Wurst wegreißend): Vorsicht! Du fügst ihr lebensgefährliche Bißwunden zu!
Walter Holbein (die Wurst sofort zurückerobernd): Gib das Ding her!
Ulrich Holbein: Die Wurst war damals schon mein Opa – spürst du das nicht beim Reinbeißen, wie er »Aua!« ruft?
Herta Müller: Der Fuchs war damals schon der Jäger.
Wilhelm Busch: Die Strafe bleibt nicht aus. Jeder Jäger wird mal ein Hase, früher oder später, denn die Ewigkeit ist lang.
Bishma: Geschöpfe, deren Fleisch ich in dieser Welt esse, essen das meinige in der nächsten Welt.
Elias Canetti: Das Tier, das man gegessen hat, merkt sich, wer es war. Seine Seele lebt weiter und wird im Jenseits zu einem Menschen. Dieser wartet geduldig auf den Tod seines Verzehrers. Sobald er im Jenseits ankommt, findet das Opfer ihn, packt ihn, zerschneidet ihn und ißt ihn auf.“
Und so weiter.

Aus lauter Zitaten besteht auch eine „Love Story“ in Ulrich Holbeins Weltverschönerung (2008). Die Textmontage aus Werken von 162 Autoren beschreibt der Menschheit liebste Beschäftigung, die – so dargestellt – in ihrer Austauschbarkeit ziemlich lächerlich erscheint. Aber ob die im gleichen Band veröffentlichten zwölf Thesen und elf praxisorientierten Tipps zum Thema „Wer raffiniert onaniert, rettet die Welt“ den Leser aus dem Dilemma befreien?

In der 13. Ausgabe der Zeitschrift Oya (anders denken. anders leben) erscheint im März/April 2012 der Anfang von Holbeins neuestem „Liebesroman“ Traumpaar ohne Notbremse – wieder nur eine einzige Seite. Klingt ein Liebesroman so? „Sie knallte mir alles mögliche vor Latz und Kopf. Sie ging mir auf den Geist, auf Keks und Wecker und Sack und Gemüt. Es hagelte Blöff und Jux und Sex und Peng und Tschüs.“ Bei Ulrich Holbein schon – neben zarteren Tönen des vorerst letzten Romantikers.

Ein ausgeprägter Individualist ist der an diesem Wochenende geehrte Ulrich Holbein allemal – in seiner literarischen Stilvielfalt, in seiner extravaganten Selbstgestaltung, der Eremitage im Knüllgebirge, den Lektüre- und intellektuellen Präferenzen. 23 Bücher und 892 Einzelpublikationen hatte der Autor bereits bis zum Abbruch seines Netztagebuchs „ulyversum“ im Jahr 2008 vorzuweisen. Einer breiteren Leserschaft ist er durch die Kolumnen „Sprachlupe“ in Die Zeit und „Standardsituationen“ in der Süddeutschen Zeitung bekannt geworden. Als einen Vielschreiber kann man ihn jedoch allenfalls in quantitativer Hinsicht bezeichnen. Holbein ist, wie er selbst sagt, „anders als alle, die anders als andere sind.“

Subjektiv zusammengefasste Lebensläufe von 255 Exzentrikern, Eigenbrötlern, komischen Käuzen und Aposteln aller Art hat Ulrich Holbein in seinem dickleibigen Lexikon Narratorium (2008) vereint, von denen insgesamt 48 in diesem Jahr in den beiden Bänden Heilige Narren und Heilige Närrinnen im Marixverlag neu herausgebracht werden. Doch umfasste das Narratorium bei weitem nicht nur Gurus und Glückssucher, vermeintliche oder echte Heilige im engeren religiösen Sinne, sondern auch von Holbein verehrte Großliteraten wie Jean Paul oder Arno Schmidt.

Ulrich Holbein würde perfekt in sein eigenes Narratorium passen und wird zu Recht mit dem Literaturpreis für grotesken Humor ausgezeichnet, den die Stiftung Brückner-Kühner alljährlich in Kassel vergibt. Die Lobworte am Samstagabend im Kasseler Rathaus sprachen Harry Rowohlt (für den Förderpreisträger Tino Hanekamp) und Bazon Brock (für Ulrich Holbein). Holbeins langjährige Partnerin, die Komponistin Viera Janárčeková, komponierte für den Abend “Tangomutanten für Quetschkommode und kleine Bassgeige”.

Daneben wurde im Kasseler Rathaus die Ausstellung “Lieber eine falsche Weltsicht als gar keine Flügel! Seufzer, Statements, Appelle” mit emblematischen Fotocollagen von Ulrich Holbein eröffnet. Denn Holbein ist nicht nur ein Wortkünstler. Auf Buchmessen trifft man ihn meistens mit einer handlichen Kamera an. Er knipst, er montiert, er collagiert und textet Sprechblasen.

Der Glückwunsch aus dem Ruhrrevier erscheint im Netz mit einem Tag Verspätung. Der Gratulant hat sich gestern einmal mehr in Ulrich Holbeins Büchern festgelesen und fand die Lektüre vergnüglicher, als seinerseits einen Artikel zu schreiben.

Letzte Buchveröffentlichungen von Ulrich Holbein u.a.:

Heilige Narren. 22 Lebensbilder. Wiesbaden: Marixverlag 2012.
Heilige Närrinnen. 22 + 4 Lebensbilder. Wiesbaden: Marixverlag 2012.
Bitte umblättern! Einhundertelf Appetithäppchen. Berlin: Elfenbein 2010
Narratorium. Zürich: Ammann 2008.
Ulrich Holbeins Weltverschönerung. Frankfurt am Main: Zweitausendeins 2008.
Januskopfweh. Glossen, Quickes und Grotesken. Berlin: Elfenbein 2003.
Isis entschleiert. Heidelberg: Elfenbein 2000.

Ulrich Holbein auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober 2011 / Aufnahme: W. Cz.




Anleitung zum Alleinsein: Traude Bührmanns Kurzroman „durchatmen“

Als Soundtrack zu diesem Kurzroman könnte der im Text genannte Charles-Aznavour-Titel „Du lässt dich geh’n“ dienen. Die äußere Verwahrlosung der Protagonistin Alex korrespondiert dabei mit einer inneren Befreiung. Wobei der Auslöser der neuen Ungebundenheit keineswegs selbstgewählt ist, sondern das Resultat einer misslungenen Existenzgründung.

Einen erzwungenen Umzug in eine kleinere Wohnung nutzt die Hartz-IV-Empfängerin lustlos zu einer Inventur ihrer Sachen. „Es erleichtert sie, alles von sich abfallen zu lassen. Die Dinge da liegen zu lassen, wo sie hinfallen.“
Die Trennung von ihrer Partnerin kommt hinzu. Von den Power-Frauen ihres früheren Lebens hat sie sich verabschiedet. Sie ist es müde, Gastgeberin zu sein. „Ihre Restfreundschaften verkümmern.“ Auf ihren Wegen durch die Stadt vermeidet sie es, von Bekannten angesprochen zu werden.
Mehr und mehr lernt Alex die Vorzüge des Single-Daseins zu schätzen. Beim Kinobesuch keine Diskussion mehr, ob man vorn oder hinten, zentral oder am Rand sitzt. Und geradezu beneidenswert mag manchem Gehetzten der Luxus erscheinen, das Telefon zu kündigen, das zum bloßen Staubfänger verkommen ist.
Das Leben wird aufs Elementare zurückgefahren. „Ich sitze hier und atme“, antwortet sie einer Supermarkt-Verkäuferin, die sie in ihrer knappen Mittagspause auf einer Parkbank anspricht.
„Es fällt ihr immer schwerer, vollständige Sätze zu formulieren“; sie findet jedoch zunehmend Gefallen an Sprachspielen. Dem Kurzroman tut die leise zurückhaltende Sprache der 1942 in Essen geborenen, in Berlin lebenden Autorin, die hauptsächlich durch feministische Literatur und Bücher über verschiedene Lesben-Szenen bekannt geworden ist, gut. Die Lektüre gestaltet sich behaglich wie ein Urlaub zu Hause.

Traude Bührmann: „durchatmen“. Kurzroman. Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke. Tübingen, Oktober 2011. 96 S., Fadenheftung, Klappenbroschur (ISBN 978-3-88769-768-6). 8,00 Euro




Kampfloses Glück: Bücher von Franz Hessel neu aufgelegt

Der Lilienfeld Verlag hat in seiner schön gestalteten Reihe der „Lilienfeldiana“ einen Roman Franz Hessels neu herausgebracht.

Laut Walter Benjamin ist Franz Hessel der Mann, der die Kunst des Flanierens von Paris nach Deutschland importierte. Den Flaneur beschreibt er als einen Gegentypen des Zielstrebigen. „Das Absichtliche war nie meine starke Seite“, sagt Clemens Kestner in Hessels Roman „Heimliches Berlin“.

Aus dem Altphilologen, der sich am liebsten in seiner Studierstube verschanzt, spricht die Stimme des Autors, etwa wenn er seinem jüngeren Freund, dem gutaussehenden Wendelin vom Domrau, seine Lebensweise vermitteln möchte. „Ich habe es wohl nie begriffen, dass zum Lieben Besitzen gehört. Da müsste man sich ja das geliebte Wesen aneignen und also enteignen, und was man mit sich vereint, das ändert man. Ich aber möchte alles erhalten, wie es mir erst erschien“, sagt Clemens, nicht ahnend – oder vielleicht doch? – dass Wendelin gerade ein Liebesabenteuer mit seiner, Clemens‘, Frau Karola beginnt.

Während Wendelin ihm eröffnen will, dass er und Karola eine spontane Reise nach Italien beschlossen haben, lässt Clemens seinen Freund zunächst nicht zu Wort kommen: „Also allein. Das ist auch das Beste. Dann ist kein Mittler und Mehrwisser, kein Borger und kein Schenker zwischen dir und den Dingen.“ Und weiter: „Gottlob, dass du nicht mit einer Dame fährst, einer Seelsorgerin und Seelsaugerin, die dich so lange mit ihrer unersättlichen Gegenwart bedrängt, bis du jede Hügelwelle, jeden Fensterbogen, Säulenwuchs und Goldmosaikdämmer auf ihre entsprechenden Reize beziehst.“

Als Wendelin die Fehleinschätzung seines Freundes zaghaft durch ein Geständnis zu korrigieren versucht, ist Clemens‘ Eloquenz nicht zu stoppen: „Kann sie dir schon vormachen, was du fühlst? Sollen dir Frauen Ziele setzen, du ziellos Lebendiges, sollen sie dich auf Kontur verengen, du räumliche Gestalt?“

Der nicht alltägliche Ton im Gespräch mit dem Freund ist nur eine von vielen Stimmen, die Hessels Prosa Seite für Seite zum Lesegenuss macht.

Die Romanfigur Clemens Kestner wird seine Ehefrau nicht mit dem Freund teilen. Ihr Autor dagegen lebte über längere Zeit mit seiner Frau Helen Grund und seinem besten Freund Henri-Pierre Roché eine Ménage-à-trois – für Roché ein Romanstoff, den François Truffaut 1962 mit dem Film „Jules et Jim“ auf die Kinoleinwand brachte. Franz Hessel ist dabei in der Figur des Jules verkörpert.

Wer aus dem 1927 erschienenen Roman „Heimliches Berlin“ einen in die Jahre gekommenen Mann mit schwindender Libido herauszuhören meint, wird durch einen Blick auf Hessels Frühwerk daran erinnert, dass eine Nonchalance in Liebesdingen dort bereits angelegt ist.

„Als ich ein junger Student im ersten Semester war, sagten die anderen, die schon länger in München lebten, immer, ich müsste den Mädchen nachgehen: das gehörte sich nun einmal.“ So beginnt die erste von vier Novellen aus dem 1908 veröffentlichten Band „Laura Wunderl“, den der Verleger Peter Kirchheim in einer liebevollen Ausgabe neu aufgelegt hat.

In einer aufschlussreichen Szene befinden sich zwei Männer und eine Frau in einer Wohnung, kostümieren sich, tanzen. Nina will immerzu mit Fritz, dem Ich-Erzähler, weitertanzen, der sie, als sie schließlich schwer in seinen Armen liegt, zum Diwan trägt. „Wie ich sie hinlegte, kam Wedel herein, in einem indischen Schlafrock von großer Pracht. (…) Ich trat beiseite, als er sich Nina näherte; sie lächelte müde. Plötzlich hatte er sie emporgehoben, sie hing über seine Schulter (…). Seine Augen brannten wie Wolfsaugen im dunklen Walde und er trug seine Beute ins Nebenzimmer – Ich blätterte in dem zärtlich weichen Papier eines japanischen Bilderbuches und blickte erst auf, als die beiden wieder hereintraten. Ich merkte ihnen einige Verlegenheit an und redete brav von japanischer Kunst.“

Wenn Nina ihm später vorwirft, nicht um sie gekämpft zu haben, rechtfertigt er sich mit dem schönen Bild, das Nina und Wedel im Moment des „Beuteraubs“ abgaben. „Ach, Fritz“, sagt sie, „du kannst eben nicht lieben. Du hast nie ein Mädchen lieb gehabt und wirst nie ein Mädchen lieb haben.“

Hessels Charaktere sind Beobachter, ziellose Flaneure wie ihr Autor. Aber die Bücher bieten weit mehr als eine mit dem Charme der Décadence vorgetragene Antriebslosigkeit. Der Roman „Heimliches Berlin“ und der in München spielende Novellenband „Laura Wunderl“ führen den Leser durch das Tages- und Nachtleben der beiden Großstädte und in die unterschiedlichsten Gesellschaftskreise. Zeitweise in einer Wohngemeinschaft mit Franziska Gräfin zu Reventlow, der „Königin von Schwabing“ lebend, kannte sich Hessel ebenso in der Münchner Bohème aus, wie er bald darauf in Paris mit den Literaten und Künstlern des Café du Dôme verkehrte; doch sein ständiger Bezugspunkt blieb Berlin. Seine Stadtspaziergänge eröffnen stadtgeographische Einsichten und liefern anschauliche Momentaufnahmen. So wird bei den nächtlichen Amüsements in „Heimliches Berlin“ beispielsweise ein Dichter in einer Matrosenbluse porträtiert, in dem unschwer Joachim Ringelnatz zu erkennen ist.

Aus der Zeit gefallen erschien Hessels Sprache bereits bei der Erstveröffentlichung seiner Werke. Seine Protagonisten wünschen sich ein kontemplatives Leben, abseits der modernen Hast – wenn etwa Clemens Kestner, der gerade vom Deck eines anhaltenden Autobusses die Wendeltreppe heruntergestiegen ist, zu Wendelin meint: „Unser Dasein bekommt etwas Vulkanisches durch all das beständig explodierende Benzin, das uns vorwärtsrollt.“

Als Literaturtheorie gedeutet, steht die postulierte Absichtslosigkeit des Flaneurs in einem Kontrast zur engagierten Literatur der Zwanzigerjahre, in einem Kontrast aber auch zu den Manifesten und der erbittert ausgefochtenen Gruppendynamik der Surrealisten, an deren traumgelenkte Stadtwanderungen Hessels einzigartige Prosa vielleicht noch am ehesten erinnert.

Hessel, dessen finanzielle Sorglosigkeit spätestens nach der Wirtschaftskrise endete, übersetzte Casanova, Stendhal, Balzac, Jules Romains und gemeinsam mit Walter Benjamin erstmals Marcel Proust ins Deutsche. Während Proust dem Vergangenen nachspürte, um es zu vergegenwärtigen, lässt sich Hessels Prosa – worauf Manfred Flügge in seinem kenntnisreichen Nachwort zu „Heimliches Berlin“ hinweist – als einen Gegenentwurf lesen, indem Hessel „die unmittelbare Gegenwart so schilderte, als sei sie schon Erinnerung.“ Die Ergebnisse sind auch heute äußerst lesenswert, gerade weil sie aus jeder Zeit, jedoch nicht aus der Welt, gefallen sind.

• Franz Hessel
Heimliches Berlin
Roman
Mit einem Nachwort von Manfred Flügge.
Einbandgestaltung unter Verwendung eines Gemäldes von Peter K. Kirchhof.
Lilienfeldiana Band 12
150 Seiten
Halbleinen, Fadenheftung, Leseband
€ 18,90
ISBN 978-3-940357-23-6

Für den Einband verwendete der Lilienfeld Verlag ein Fragment aus dem Gemälde „Ein Stück Himmel“ (2003) von Peter K. Kirchhof

• Franz Hessel
Laura Wunderl
Münchner Novellen
Hg. und mit einem Nachwort von Dirk Heißerer.
128 Seiten, Geb.
€ 18,50
ISBN 3-87410-079-0




Zappa, Varèse, Cage: Alarmsirene schallgedämpft

Rückschau: Das Ensemble musikFabrik spielte Zappa, Varèse und Cage in der Essener Philharmonie

Von „ernster Musik“ zu sprechen, klingt bei Frank Zappa ulkig. Doch hat er, der die Saiten so anzuschlagen verstand, als handele es sich bei jedem Ton um eine Parodie des Rock-Gitarrenspiels, längst seinen Platz unter den Klassikern des 20. Jahrhunderts erobert. Wenn Zappa auf der Bühne auch gern als Komiker improvisierte – die Aufführungen seiner Werke überwachte er stets mit der Strenge eines Perfektionisten. Und sein Album „Does Humor Belong in Music?“ formuliert, nicht nur auf seine Musik bezogen, eine viel diskutierte Sorge.

Wer die Zappa-Stücke, die kürzlich in der Philharmonie Essen aufgeführt wurden, aus den Konzert-Videos der Mothers of Invention kennt oder wer Zappa auf der Bühne erleben konnte, mag überrascht sein, dass diese Musik auch ohne Show-Elemente des Rock und Jazz und ganz ohne Star-Allüren auskommt. Selbst beim fetzigen Solo der E-Gitarre in „RDNLZ“ scheint es den Virtuosen nicht zu reizen, sich an die Rampe der Bühne zu rocken; alle Musiker bleiben an ihren Notenpulten. Ein Konzert von Musterschülern, mochte man bei den ersten beiden Stücken denken – „Big Swifty“ und „T’Mershi Duween“ von der fünfköpfigen Bläsergruppe und Schlagwerk in schnellem Tempo durchgespielt – ohne die Aura des Meisters.

Danach sind erst einmal drei Kompositionen von John Cage an der Reihe. „Radio Music“ von 1956, beim Konzert des Ensemble musikFabrik mit drei Röhrengeräten und einem Kofferradio. Die Frequenzen, die Lautstärken und die jeweilige Dauer sind von der Partitur vorgegeben, was aber auf den Frequenzen ertönt, variiert je nach Aufführungsort. „Credo in US“ (1942) ist geschrieben für präpariertes Klavier, zwei Schlagwerke (Konservendosen, Wecker) und Plattenspieler. Zur Aufführung von „The Perilous Night“, entstanden im Winter 1943/44, betrat mit Benjamin Kobler ein erfahrener Pianist, der lange Zeit mit Karlheinz Stockhausen zusammengearbeitet hat, die Bühne. Das mit Radiergummis, Metallteilen und Holzstückchen präparierte Klavier nähert sich – besonders in der raffinierten Rhythmik des Teils VI – dem von Schlaginstrumenten dominierten Schwerpunkt des Abends an.

Frank Zappas frühe Bewunderung für Edgar Varèse (1883–1965) ist hinlänglich dokumentiert. So war es konsequent, mindestens ein Stück des amerikanischen Komponisten französischer Herkunft in die Reihe „‘Now!‘ – America“ der Philharmonie Essen aufzunehmen. Für „Ionisation“ (1931) wurden die 41 Schlaginstrumente und zwei Sirenen in einem eindrucksvoll beleuchteten Halbkreis aufgebaut. An das zuvor gehörte John-Cage-Stück knüpfte das Werk von Edgar Varèse auch insofern gut an, als hier ein weiterer Konzertflügel auf der Bühne zu den Schlaginstrumenten gerechnet werden kann. Erstaunlich leise, geradezu schallgedämpft anmutend, fügten sich die beiden Kurbelsirenen in die Komposition ein. Der Nachklang bleibt so lange im Raum stehen, als sei das gesamte vorausgegangene Rhythmusstück ein einziger Anlauf, um das Ausklingen erfahrbar zu machen. Der Dramaturgie des Abends kam es sehr entgegen, das nur rund sechs Minuten dauernde Stück zweimal zu spielen, jeweils unmittelbar vor und nach der Pause.

Der gesamte zweite Teil des Konzerts war Frank Zappas Kompositionen gewidmet. „The Black Page“ hat Zappa ursprünglich geschaffen, um die Virtuosität und Notenfestigkeit seiner Schlagzeuger zu testen. Zu deren Qual hat er die Noten so dicht gesetzt, dass die Seite von ihnen geschwärzt ist – daher der Name des Stücks. Am Mittwochabend wurden drei Versionen nacheinander aufgeführt. Die Schlagzeug-Fassung, die wir zum Beispiel aus einer Aufnahme kennen, in der die beiden Zappa-Drummer Terry Bozzio und Chad Wackerman den komplizierten Rhythmus perfekt synchron schlagen, wird in Essen von gleich fünf Schlagzeugern der musikFabrik gespielt. Übergangslos folgt die Variante für großes Ensemble, Black Page # 1 – gestrichener Kontrabass und Cello, drei Geigen, zwei E-Gitarren, Vibraphon, Marimbas, ein E-Piano und eine zehnköpfige Bläsergruppe bestehend aus Querflöte, Klarinette, Oboe, Trompeten, Zugposaune, Horn und Tuba. Black Page # 2, (laut Ansage) „The Easy Teenage New York Version“ gibt einen Einblick in Zappas Art, seine Kompositionen mit der Zeit mehrfach, auch radikal, zu verändern. Und spätestens jetzt ist der erste Eindruck von braven Musterschülern, aus denen sich die musikFabrik zusammensetzt, nicht mehr haltbar. Die Musik ist einfach groß, hymnisch; und die Musiker zeigen, dass sie es mit dieser Größe aufnehmen können.

„RDNZL“, „Echidna’s Art (Of You)“ und „Don’t You Ever Wash That Thing?“ werden grandios in einem Rutsch gespielt, so wie Zappa selbst gern seine Stücke ohne abzusetzen aneinanderfügte. Die Stellen der Partitur, an denen einst Ruth Underwood ihre Vibraphon-Soli lieferte, werden heute freudvoll von Geigern gezupft. Bei „RDNZL“ kommt neben dem Rock-Gitarristen ein mittlerweile historisches erscheinendes E-Piano zur Geltung; in „Echidna’s Art“ zeigt besonders der Schlagzeuger sein Können; und „Don’t You Ever Wash That Thing?“ bietet Raum für ein überzeugendes Bass-Solo. Danach gibt es für die musikFabrik und ihren Dirigenten Carl Rosman Standing Ovations. Als Zugabe spielte das große Ensemble „Sofa # 2“ – ohne Gesang in einer Full-blown-Version – und gleich im Anschluss „Son of Mr. Green Genes“.

Ein gelungenes Konzert. Es gibt nichts zu kritisieren. Allenfalls klingt in so manchem mitgehörten Pausengespräch etwas Bedauern durch, dass 1968 schon so weit zurückliegt. „My Guitar Wants to Kill Your Mama“ hat sich zwar nicht musikalisch, aber inhaltlich überlebt. An dem Zappa-Abend in der Philharmonie dürften neben zahlreichen Müttern auch Großmütter und Großväter ihre Freude gehabt haben, für die der Original-Frank-Zappa auf den Essener Songtagen 1968 noch das Versprechen auf eine nicht nur musikalische Revolution bedeutete. Junge Menschen gab es ebenfalls in nicht geringer Zahl im Publikum. Sie wirkten wie Kenner, nicht wie eine Schar, die aus Vergnügungssucht zu einer Massenveranstaltung strömt.

„Now!“ – America: Cage Reich Adams Zappa. Ensemble musikFabrik: Frank Zappa (Mittwoch, 30. November 2011, 19:30 Uhr in der Philharmonie Essen)

.Das Ensemble musikFabrik spielte in der Philharmonie Essen




Beckett, Bienen, inszenierte Archive – Martin Pages Künstlernovelle „Bienenzucht nach Samuel Beckett“

Jener Moran aus Becketts Roman „Molloy“, der den Auftrag hat, den Titelhelden ausfindig zu machen, betrachtet fasziniert den Flug der Bienen und ist „bestürzt über das verwickelte Gebilde dieses mannigfaltigen Tanzes.“ Im Verkehr der Insekten, die „keineswegs wie Menschen tanzen, um sich zu vergnügen, sondern auf andere Art“, entdeckt er „ein System von Zeichen“; er ordnet die „vielen verschiedenen Figuren und Rhythmen“ nach Klassen und interpretiert die Klangfarben ihres Gesummes, in welchem er „drei oder vier Höhenlagen“ ausmacht. „Das ist etwas, was ich mein Leben lang studieren kann, ohne es jemals zu ergründen.“

Literaturwissenschaftler mögen das Bienen-Motiv – außer in dem Roman „Molloy“ – auch an einigen weiteren Stellen in Samuel Becketts Werk entdeckt haben. Einer breiten Öffentlichkeit ist der Nobelpreisträger für Literatur (1969) jedoch nicht als Bienenzüchter bekannt. Auch in der soeben erschienenen Künstlernovelle „Bienenzucht nach Samuel Beckett“ von Martin Page bilden der weiße Overall und die Imkermaske nur eine von mehreren Kostümierungen, in denen der Schriftsteller auftritt. Bei der ersten Begegnung steht dem Ich-Erzähler folgender Beckett gegenüber: „Er hatte lange Haare und einen Bart. Er trug ein geblümtes Seidenhemd, eine schwarze Baumwollhose, Hausschuhe mit Schottenkaros und eine Schiffermütze“ – eindeutig nicht der Beckett, den wir von den Umschlagfotos unserer Suhrkamp-Taschenbücher kennen. Wir ahnen, dass der fiktionale Anteil in dem Tagebuch des Doktoranden, der kurzzeitig als Mitarbeiter des berühmten Samuel Beckett sein Geld verdient, beträchtlich sein muss.

Um Fiktion, genauer gesagt, um die Inszenierung des Lebens und des Nachlebens geht es auch bei dem, was Beckett und sein Helfer gemeinsam unternehmen. Forschungsinstitute an Universitäten in England, Irland und den USA sammeln Becketts Nachlass bereits zu dessen Lebzeiten. Beckett und sein neuer Mitarbeiter versorgen sie mit Informationen und Fehlinformationen. Ausgerechnet einen angehenden Anthropologen, der angibt, von Beckett neben „Warten auf Godot“ nur „Molloy“ gelesen zu haben, setzt Martin Page als Ich-Erzähler ein – ist es doch gerade Molloy in Becketts Roman, der rückblickend auf die Zeit seiner wissenschaftlichen Studien sagt, er habe sich „kurze Zeit mit der Anthropologie zu Tode gelangweilt.“

Langweilig wird es jedoch weder dem zwischen ausgelassenen Späßen und Resignation oszillierenden Beckett, noch seinem jungen Helfer, noch dem Leser von Martin Pages Novelle – woran auch der deutsche Übersetzer Gernot Krämer entscheidenden Anteil hat, dem es stets gelingt, die Leichtigkeit des Originals zu wahren, ohne bei seiner Wortwahl in Banalität abzugleiten, wozu das Erzählte manchmal verleiten könnte. Beispiel: Beckett beim Bowling. „Beckett warf seine Kugel mit Bestimmtheit. Seine Bewegungen waren geschmeidig, sein Fuß hielt genau an der Linie. Er war geschickt. Man sah, dass es ihm Spaß machte, die Kegel umzuwerfen.“

Etwas von der solipsistischen Behaglichkeit, die uns bei der Beckett-Lektüre berühren mag, überträgt sich auch durch Martin Pages Novelle. Beckett und sein Helfer mischen in die Pakete an die Forschungsinstitute einen Dildo aus dem Sexshop, falsche Schnurrbärte, nie benutzte Fahrkarten zu unsinnigen Reisezielen, und sie räsonieren dabei über Fetische oder die Verlässlichkeit wissenschaftlicher Forschung.

Das Umschlagen von Heiterkeit in Melancholie wird auch am Beispiel einer Theateraufführung von „Warten auf Godot“ im Gefängnis des schwedischen Städtchens Kumla im Jahr 1984 (der Gegenwart von Martin Pages Novelle) deutlich.

„Also? Wir gehen?“ – „Gehen wir!“ Auf der Bühne bewegen sich Vladimir und Estragon nach ihren berühmten Schlussworten nicht von der Stelle. Vier der fünf Gefängnisinsassen in Kumla jedoch, die nach dem großen Erfolg mit Becketts Stück auf Tournee gehen durften, fühlten sich ermuntert, nicht auf Godot zu warten, sondern zwischen einer Pressekonferenz und der Aufführung in Göteborg tatsächlich das Weite zu suchen. Als Beckett über den Regisseur Jan Jönson davon erfuhr, soll er in lautes Lachen ausgebrochen sein. So auch in Martin Pages Novelle, um allerdings gleich darauf die Chancenlosigkeit der Entflohenen zu beklagen. Ihr Ausbruchversuch werde alles noch schlimmer machen.

Während seiner beschwerlichen und unergiebigen Suche nach dem rätselhaften Molloy tröstet sich Becketts Romanfigur Moran mit Gedanken an die sonnenbeschienenen Bienenkörbe in seinem Garten. Jedoch scheitert er am Ende nicht allein in seinem Auftrag, Molloy aufzuspüren – bei seiner Rückkehr findet er auch im Bienenstock nur noch „ein Staubhäufchen von Flügeln und Ringen“ vor: „Man hatte sie den ganzen Winter hindurch draußen stehengelassen, ihnen den Honig genommen und ihnen keinen Zucker gegeben.“

Das ist nicht der Beckett, der Hawaiihemden, Kimonos, Cowboystiefel, exotische Hüte und Perlenkolliers trägt. Das ist der Beckett, der sich mit dem ersten Satz seines ersten Romans, „Murphy“, 1938 in die literarische Welt einschrieb. The sun shone, having no alternative, on the nothing new.

Für seine Studien über den Schwänzeltanz der Bienen als Sprachelement erhielt im tatsächlichen Leben der Verhaltensforscher Karl von Frisch 1973 den Nobelpreis für Physiologie / Medizin.

Martin Page: Bienenzucht nach Samuel Beckett. Aus dem Französischen übersetzt von Gernot Krämer. merz & solitude, Reihe Literatur. Stuttgart, Oktober 2011. Kartoniert, 80 Seiten, 15 Euro

Martin Page schrieb die Novelle 2009/2010 während eines Stipendienaufenthalts in der Akademie Schloss Solitude bei Stuttgart.

Erschienen ist der schöne Band im Oktober 2011 im Verlag merz & solitude, einer Kooperation der Akademie Schloss Solitude mit der Merz Akademie, Hochschule für Gestaltung Stuttgart.




Nicht nur Vulkanasche – Die Lesenation Island war Ehrengast der Frankfurter Buchmesse

Riesige Leinwände mit den Porträts Lesender vor gut bestückten Bücherregalen geben Einblicke in isländische Wohnzimmer. Und wie da gelesen wird! Island ist das Land mit den meisten Büchern pro Einwohner. Die Projektionen im Island-Pavillon auf der Frankfurter Buchmesse, die man auf den ersten Blick für Dias hätte halten können, bewegen sich. So viel oder so wenig sich jemand bewegt, wenn die Lektüre ihn fesselt.
„Wir wollen das Wohnzimmer der Messe sein“, hatte sich Thomas Böhm, Literatur-Programmleiter des diesjährigen Buchmesse-Ehrengasts, vorgenommen. Das ist ihm gelungen. Der Island-Pavillon, eine komplette Etage des weitläufigen Forums, wurde mit Sesseln, Sofas, Perserteppichen, Kronleuchtern, einem Café und natürlich mit jeder Menge Bücherregalen ausgestattet, in denen die zahlreichen Neuerscheinungen isländischer Literatur bereitstehen – darunter 230 Übersetzungen, die in 111 deutschsprachigen Verlagen allein in diesem Jahr erschienen sind.
Island beweist der Welt, dass es auch anderes produzieren kann als Wolken von Vulkanasche. Das Land des höchsten Bücherkonsums pro Kopf bildet nicht nur eine Kultur von Lesenden, Island ist auch eine Nation produktiver Schriftsteller. Sehr viele von ihnen sind am Freitagabend zur großen Party im Island-Pavillon erschienen: Kristof Magnusson, Hallgrímur Helgasson, Steinunn Sigurdadottir, Sjón, Steinar Bragi standen im Gespräch mit deutschen Autoren wie Martin Mosebach oder dem Schauspieler Joachim Król, mit nationalen und internationalen Verlegern, Übersetzern, mit den Kritikern Denis Scheck, der Kritikerin Sigrid Löffler oder einem anderen der zahlreich erschienenen Medienvertreter.

Das Wohnzimmer der Buchmesse – der Island-Pavillon

Ab 17 Uhr, wenn sich die Frankfurter Buchmesse zur Partymeile wandelt, war der Island-Pavillon am Freitag das größte Ereignis. Ohne dabei zu protzen oder in staatlich verordneten Ritualen zu erstarren wie beispielsweise der Ehrengast China vor zwei Jahren. Man fühlte sich behaglich in der ungezwungenen Atmosphäre des Pavillons, der unaufdringlich für die Vorzüge des Gastlands zu werben verstand. Mit Fischsuppe, die Islands bekanntester Fernsehkoch auftischte, mit dem Schnaps, den Thomas Böhm verteilte, mit der Jazzband in einer Unterhaltungen eher fördernden als unterbindenden Lautstärke. Wer sich dennoch zum Chillen zurückziehen wollte, konnte in einem großen Kubus die isländische Landschaft von fünf Seiten auf sich einwirken lassen, konnte über Vulkankegel fliegen, zwischen Fischschwärmen im sicherlich eiskalten Wasser tauchen, um gleich darauf in heißen Quellen zu baden oder bei Streicherklängen im Licht der Mitternachtssonne durch Rejkyavík zu flanieren.

Infos und Schnaps teilt Thomas Böhm (rotes Jackett) freigiebig aus

Gegen 21 Uhr verlagerte sich die Party in den legendären „Sinkkasten“, eine Uraltdisko nahe der Zeil, wo die Independent-Verlage ihr Fest feierten. Nachdem dort Charlotte Roche (souverän) und Jakob Augstein (schlecht vorbereitet) die Preisverleihung der Hotlist moderiert hatten – den Hauptpreis erhielt die Frankfurter Verlagsanstalt für ein Buch von Nino Haratischwili; den Melusine-Huss-Preis bekam Stroemfeld für Peter Kurzecks neuestes Buch –, ging es auch im „Sinkkasten“ mit Island weiter. Der DJ, der die Gäste bis halb sechs morgens am Tanzen hielt, kam aus Rejkyavík.




Sonnenwochenende im Dunkel – Denovali Swingfest 2011

Die Musikerinnen und Musiker hätten schlechteres Wetter verdient. Wer mochte sich schon an einem Wochenende, an dem sich die Sonne erfolgreich Mühe gab, den bereits verloren geglaubten Sommer nachzuholen, in eine lichtlose Halle zurückziehen? Immerhin einige Hundert oder Tausend, die sich in ihrer musikalischen Ausrichtung den experimentierfreudigsten unter den jüngeren Bands und Solo-Künstlern verbunden fühlen.

Wenn sich am Sonntag bereits zur Mittagszeit die nicht gerade kleine Essener Weststadthalle mit hauptsächlich jungen Menschen füllte, die den Eigenkompositionen des französischen, hierzulande kaum bekannten Klavierquartetts Les Fragments de la Nuit lauschen wollten, darf das als ein Erfolg der Organisatoren von Denovali gewertet werden – einem Label, das die verschiedensten Ausrichtungen abseits der musikalischen Mainstreams in sein Programm aufnimmt.

Einundzwanzig Gruppen und Solo-Musiker – allesamt gut auf ihre Art – forderten an drei Tagen das Durchhaltevermögen der Festivalbesucher heraus. Die Vielfalt verleitete zur Selektion. Bei mir waren es vor allem die eher dem schweren Metall verbundenen Künstler, die durch den Filter meiner Aufmerksamkeit fielen, sowie einige „Public Autistics“ aus dem Ambient/Drone-Bereich, die mit sorgsam ausgetüfteltem, fertigem Klangmaterial angereist kamen. Künstler wie Jefre Cantu-Ledesma, dessen Konzert aus einem 35-minütigen Dauerton zu bestehen schien, mit nur einem sehr empfindlichen Gehör zugänglichen Veränderungen, das durch die dargebotene Lautstärke zugleich in der Wahrnehmung feiner Unterschiede beeinträchtigt wird.

Der Grieche Subheim, der ebenfalls in die Kategorie der musikalischen Autisten gehört, setzte zur Elektronik zusätzlich eine Gitarre und ein mit dem Besen geschlagenes Tom Tom ein, was die Zuhörer ihm dankten.
Nadja, das kanadische Duo in charakteristischer Aufstellung – sie konsequent mit dem Rücken zum Publikum, er demselben zugewandt –, erinnerten einmal mehr daran, dass sich diese Variante des Postrocks nicht allein den Einflüssen von Godspeed!, sondern auch des Krautrocks verdankt – ähnliche Klänge hatte man in Essen vor vierzig Jahren schon recht ähnlich gehört, wenngleich damals noch mit tonnenschweren Geräten generiert.
Das schottische Hidden Orchestra betrat zwar mit vier Musikern die Bühne, darunter doppelte Schlagzeugbesetzung, verdeutlichte bei seinem Auftritt aber, warum es so heißt. Einige der Beteiligten blieben unsichtbar, ihre Gesangs- oder Instrumentalparts wurden auf Knopfdruck eingespielt. Insgesamt kamen die zum Teil auf Traditionen des Cinematic Orchestra zurückgreifenden Klänge zu schön, zu harmonisch, herüber, mit einer oft lächelnden, sich in den Hüften wiegenden Geigerin/Keyboarderin. Als dazu noch Vogelgezwitscher eingeblendet wurde, mochten Teile des Publikums sich gewünscht haben, die Kapuzenmänner von Sunn O))) wären verfrüht auf die Bühne gekommen, um ein paar schrille Doom-Metal-Riffs dazwischenzukloppen.

Im Unterschied dazu brachte das Kilimanjaro Darkjazz Ensemble am Samstagabend raffinierter das Wechselspiel aus Schmerz und Glück in die Gehörgänge. Wer gegen Ende des vorigen Jahrtausends glaubte, mit Nils Petter Molvaers Album „Khmer“ oder Eivind Aarsets „Électronique Noire“ sei eine bestimmte Rhythmik, ein bestimmter Einsatz der Trompete oder ein bestimmter Sound der Gitarre an ein nicht mehr überbietbares Extrem gelangt, konnte sich beim Auftritt der Amsterdamer Formation davon überzeugen, dass diese Musikrichtung ausbaufähig ist, nicht zuletzt durch die teils trip-hop-haften Partien der Sängerin.

Angesichts der extremen Hell-Dunkel-Kontraste zwischen der Weststadthalle und der Rasenfläche an der Thea-Leymann-Straße entschied ich mich, während drinnen solch schwere monolithische Kompositionen wie die von Kodiak + N abliefen, für eine gute halbe Stunde Sonnenlicht. Generell aber dominierte während des Festivals (wie auf dem Denovali Label) das Dunkel. Bohren & der Club of Gore, beinah von allem Licht befreit, beugten nur selten ihre Hinterköpfe in die wenigen, von oben durch den Bühnennebel herabstrahlenden Lichtsäulen. Die nach eigenem Bekenntnis „unromantischste Band Deutschlands“ rebelliert mithilfe einer extremen Dehnung des Takts gegen das schnelle Vergehen der Zeit. Freilich wird in ihren (selbst so bezeichneten) „Songs“ nicht gesungen, und der spärliche Text erschöpft sich in lakonischen Ansagen („Im nächsten Stück geht es um Engel, die alles kaputt machen“). Dann folgt ein weiteres bass-lastiges Low-Tempo-Stück.

In die dunkelste Ecke gehört auch das Dale Cooper Quartet aus Frankreich, das seine Stücke an David-Lynch-Filmen entlangkomponiert. Die Gitarre ist gestimmt wie im Twin-Peaks-Soundtrack von Angelo Badalamenti, und ein vom Diktaphon eingespielter Musikschnipsel zitiert ein Schmachtlied von der Sorte, wie sie der von Dennis Hopper gespielte Brutalo aus „Blue Velvet“ liebt. Streckenweise nimmt uns das Quartett mit auf einen Trip, um dann im Collagen-Durcheinander die Harmonie zu brechen.

Einer der Höhepunkte des Festivals spielte sich an seinem Rand ab, als Pausen-Act auf einer unscheinbaren Bühne neben der Bar im Merchandising Room. Hier trug in der Umbaupause zwischen dem (sehr guten!) Contemporary Noise Sextet und dem Dale Cooper Quartet der Sänger von Her Name is Calla, Tom Morris, zur akustischen Gitarre einige seiner Lieder vor. Die teilweise an Jeff Buckley erinnernde Stimme könnte ein Stadion ausfüllen. Am Samstag sang er vor kleinem Publikum Stücke aus einem Soloalbum, aus der ersten CD von Her Name is Calla und den mehrfach schon gecoverten Kate-Bush-Klassiker „Running Up That Hill“.
Die UK-Band Her Name is Calla, die am Sonntagnachmittag auftrat, lebt von der Stimme ihres Lead-Sängers, von seinem Variationsreichtum zwischen zartesten Tönen und kräftigsten. Was nicht heißen soll, dass die übrigen Bandmitglieder (diesmal ist der Trompeter leider nicht mit nach Deutschland gekommen) nicht gut wären; sie sind allesamt große Klasse. Geige, Bass und Schlagzeug stellen sich auf die Nuancen ein, die Tom Morris aus seiner Stimme herausholt. Wenn andere Bandmitglieder mitsingen, mal die Geigerin, mal zusätzlich der Bassist und ausnahmsweise auch der sonst wild wirbelnde Schlagzeuger, sind das Accessoires. Die Basis ist die Stimme des Leadsängers. Auch wenn Geige und Schlagzeug im Duett das selbstentfesselte Chaos bändigen, wird der nächste stimmliche Einsatz von Tom Morris bereits erwartet. Entfesselt wird das Mikrofon, damit Gitarrenhälse sich am Mikroständer reiben können. Kalkuliert werden Rückkopplungen herbeigeführt, doch die drohende Zertrümmerung der Gitarren bleibt aus.

Neben den dunklen Schwerpunkten kamen auf dem Fest auch einige fröhliche, lustige, verspielte Töne zum Klingen. So bei den eingangs erwähnten, neo-klassisch orientierten Les Fragments de la Nuit, ebenso wie bei dem Münsteraner Komponisten und DJ Thomas Bücker, alias Bersarin Quartett, der am Freitagabend gemeinsam mit einem Gitarristen und einem Schlagzeuger auftrat. Vor allem aber bei dem Düsseldorfer Hauschka.

Hauschka (bürgerlich: Volker Bertelmann) ist ein vielseitiger Pianist. Er komponierte schöne Stücke, zum Beispiel auf dem Album „Ferndorf“ (2008), mit dem er Frieden mit der Siegerländer Provinz schloss, in der er aufwuchs: Reminiszenzen an ein blaues Fahrrad, an den Nadelwald, ans Freibad, an die Eltern, an verregnete Wochen … Er spielte im vorigen Jahr mit dem Magik*Magik Orchestra aus San Francisco seine durchkomponierten Partituren der „Foreign Landscapes“ ein, schrieb Filmmusik, wird im nächsten Jahr auf Einladung des Goethe-Instituts in Kenia mit afrikanischen Musikern zusammenarbeiten. Auf dem Denovali-Festival präsentierte er sich dagegen musikalisch eher einseitig. Hauschka hat nach eigenem Bekunden eine starke Affinität zu Club-Musik, und sein Lieblingsclub ist der „Salon des Amateurs“ in der Düsseldorfer Kunsthalle. So heißt auch sein aktuelles Album, auf dem er Techno-Rhythmen in die Instrumentalmusik zurückführt. Aber während ihm auf dem Album erstklassige Musiker assistieren, zum Beispiel der Schlagzeuger John Convertino von Calexico, kommen bei den Solo-Auftritten die Drums leider nur aus der Beatbox. Dafür ist die Kamera-Großeinstellung in das Innere seines präparierten Klaviers ein Fest fürs Auge. Kleine Schellen ertönen auf Tastendruck, Tamburins scheppern im Kasten des Flügels, eingeklemmte Holzstäbe schnarren, Kronkorken hüpfen, Klebeband dämpft, und ein Stück lang springen Pingpong-Bälle wie Popcorn aus der heißen Pfanne und sortieren sich neu.

Denovali Swingfest
30.09. – 02.10. 2011
Weststadthalle
Thea Leymann Strasse 23
45127 Essen
Infos: www.denovali.com/swingfest




Düstere Schönheit – Vorschau aufs Denovali Swingfest in der Essener Weststadthalle

Der Wortbestandteil „Swing“ im Festivalnamen ist pures Understatement. Sicher wird der Beton mitschwingen, wenn die durchdringenden Bässe finsterer Bands wie Bohren & der Club of Gore oder Kodiak durch die Weststadthalle wummern. Mit einer älteren Ausrichtung des Jazz hat die am kommenden Wochenende präsentierte Musik aber rein gar nichts zu tun.

Der Untertitel „Experimental Music Festival“ verrät dagegen schon etwas mehr über die einundzwanzig Gruppen und Einzelkünstler, die vom 30. September bis 2. Oktober in Essen auftreten werden. Aber experimentieren lässt sich ja in den verschiedenen Genres.

Das Bersarin Quartett tritt am Freitag gegen 19 Uhr auf

Mehrere der auf dem Festival vertretenen Musiker greifen Traditionen klassischer Instrumentalmusik auf und variieren sie, oftmals um elektronische Mittel erweitert. So der Münsteraner Komponist und DJ Thomas Bücker, alias Bersarin Quartett, dessen Auftritt für Freitag, 30.09., 19 Uhr, vorgesehen ist. Oder der Düsseldorfer Hauschka (i .e. Volker Bertelmann) mit seiner bestechend schönen, manchmal wehmütigen, manchmal heiteren Klaviermusik (Sonntag, 2.10., 19 Uhr). Der Klassik vielleicht am engsten verbunden ist die französische Formation Les Fragments de la Nuit (Piano, Cello und drei Violinistinnen), die den Sonntagnachmittag bereits gegen 13 Uhr eröffnet.

Der Düsseldorfer Hauschka, alias Volker Bertelmann

Postrock – sofern diese generelle Bezeichnung überhaupt etwas aussagt – ist auf dem Festival durch mehrere Gruppen präsent. Die UK-Band Her Name is Calla, die bereits im vorigen Jahr auf dem Denovali Swingfest im Essener Jugendzentrum durch die kräftige Stimme des Lead-Sängers Tom Morris und durch satten Gitarrenklänge überzeugte, ohne dass die subtileren Töne von Geige und Posaune in den Klanggewittern untergingen, spielt auch in diesem Jahr wieder in Essen (Sonntag, 16 Uhr). Der gleichen musikalischen Kategorie ließen sich die Petrels (UK) zuordnen. Angenehm zu hören, etwas in Richtung Shoegazing weisend, sind auch die schwedischen September Malevolence (Freitag, leider schon um 14.30 Uhr). Ebenso AUN aus Kanada. Wer es gern härter mag, wird von Omega Massif gut bedient.

Her Name is Calla spielen am Sonntag gegen 16 Uhr

Ambient und Drone sind auf dem Essener Fest vertreten durch Künstler wie Jefre Cantu-Ledesma (San Francisco), Tim Hecker (Montreal), Kodiak (Gelsenkirchen) sowie durch den Musiker und Videokünstler Thomas Köner, dessen Performance den Freitag beschließt. Das überragende Duo Nadja aus Toronto tritt am Samstag gegen 16 Uhr auf.

Aus dem Jazz kommt das polnische Contemporary Noise Sextet (Samstag, 17.30 Uhr). Stärker elektronisch geprägten Jazz bringt das Hidden Orchestra aus Edinburgh auf das Essener Festival – voraussichtlich eines der herausragenden Ereignisse am Sonntagabend (20.30 Uhr). Das Kilimanjaro Darkjazz Ensemble aus Amsterdam dagegen, das den Samstag beschließen soll, trägt den Jazz zwar ebenfalls im Namen, ließe sich aber ebenso in eine Reihe stellen mit experimentierfreudigen, mit dem Abgründigen spielenden Postrockbands. Soundtracks zu nie gedrehten Filmen. In diese Richtung gehen auch die dunklen Sounds des Dale Cooper Quartets (Samstag, 19 Uhr). Nicht nur der Bandname, auch die Musik der Bretonen spielt auf David Lynchs Kult-Serie „Twin Peaks“ an. Subheim aus Griechenland, der am Freitag um 17:30 Uhr auftreten soll, steht ebenfalls schwärzester Harmonik nahe, ebenso wie Lento aus Italien oder die Finsterlinge aus Mülheim, Bohren & der Club of Gore, die den Takt auf das größtmögliche Maß verlangsamt haben (Freitag um 22 Uhr). Das Licht am Sonntagabend machen drei dem Death oder Doom Metal zugewandte amerikanische Kapuzenmänner aus: Sunn O))).

Denovali Swingfest
30.09. / 01.10. / 02.10. 2011
Weststadthalle (U-Bahn: Berliner Platz)
Thea Leymann Strasse 23
45127 Essen
Tickets und Infos: http://www.denovali.com/swingfest

 

 




Perry Rhodan wird 50 (plus dreitausendirgendwas)

Gibt es in der Literaturgeschichte ein größeres Prosawerk? Rund 150.000 Seiten sind es inzwischen (wobei die zweispaltig gedruckte Perry-Rhodan-Seite redliche 4.320 Zeichen enthält – ca. dreimal so viel wie die Standardseiten der meisten Buchverlage). Der Roman, der längst schon gigantische Dimensionen angenommen hat, wächst wöchentlich weiter.

Doch nicht allein in seinem Umfang sticht das Werk aus allem Bekannten hervor. Die erzählte Zeit der Perry-Rhodan-Heftserie reicht vom Jahr 1971 unserer vertrauten Zeitrechnung bis „gegenwärtig“ ins Jahr 1469 NGZ. Die Abkürzung steht für die Neue Galaktische Zeitrechnung, die im Jahr 3588 beginnen wird, weil nicht alle Völker des vereinten Galaktikums mit „Christus“ etwas anfangen können. Mehr als dreitausend Jahre an der Seite Perry Rhodans konnte der treue Leser seit 1961 live mitverfolgen. Hinzu kommen Zeitreisen bis ins Jahr 20.059.813 v. Chr. Da kann keine episch noch so breit angelegte Familiensaga des 19. oder 20. Jahrhunderts mithalten.

Und die Handlungsschauplätze? Die Milchstraße, ferne Galaxien, das versteht sich in einer SF-Serie von selbst. Daneben aber geraten die Kosmonauten immer wieder in Paralleluniversen im Sinne der Viele-Welten-Interpretation. Also auch als Weltroman dürfte Perry Rhodan kaum zu überbieten sein. Tausende verschiedener Völker sind mit ihren physiologischen, sprachlichen und kulturellen Besonderheiten zum Teil sehr phantasievoll beschrieben.

Die Romanfiguren? Neben dem relativ unsterblichen Perry Rhodan und seinen im Lauf der dreitausend Jahre leider nicht immer unsterblichen Frauen taucht in der Heftserie durchgängig ein Arsenal nicht nur terranischer Hauptpersonen auf, wie Atlan, Gucky, Icho Tolot, Alaska Saedelaere, Reginald Bull (um nur wenige zu nennen). Aber auch von den zahlreichen Nebenfiguren (11.199 Personen insgesamt listet derzeit die Internet-Enzyklopädie „Perrypedia“ auf) werden in einzelnen Heften immer wieder einige zu Protagonisten erhoben.

Wie bescheiden im Vergleich zu Perry Rhodan nimmt sich dagegen Balzacs Projekt aus, in 137 Romanen und Erzählungen seiner Comédie humaine (von denen der Balzac 91 fertigstellen konnte), ein Gesamtbild der Gesellschaft im Frankreich seiner Zeit zu entwerfen. Aber Balzac arbeitete allein. An den bis heute 2.612 Heften der Perry Rhodan-Hauptreihe, die am 8. September 2011 ihren 50. Geburtstag feiert, haben mehr als vierzig Autoren geschrieben (Nebenreihen wie „Atlan“ oder „PR-Action“ sowie PR- und Atlan-Taschenbücher mitgerechnet, sind es mehr als siebzig).

Im Unterschied zu anderen Heftserien wie Jerry Cotton oder Geisterjäger John Sinclair handelt es sich bei Perry Rhodan nicht um eine Reihung isolierter Abenteuer, die der Held zu bestehen hat, sondern um eine seit nunmehr fünfzig Jahren kontinuierlich fortgeschriebene Handlung, wenn auch mit verschiedenen Handlungssträngen. Ein solches Großunternehmen kann es sich gut und gern erlauben, die Hauptfigur auch mal über fünf Wochen (300 Seiten) aus den Augen zu verlieren oder nur beiläufig daran zu

Perry-Rhodan Clubausweis von 1968

erinnern, dass wir Perry Rhodan lesen; in dem Stil: Was macht eigentlich Perry, während wir hier Sol – die heimische Sonne – und ihre besiedelten Planeten und Monde verteidigen? Perry ist dann mit weit universelleren Aufgaben beschäftigt. Er sorgt zum Beispiel dafür, dass das Raum-Zeit-Kontinuum nicht den mehrdimensionalen Bach runtergeht. Er sichert die Naturgesetze des Einstein-Universums und rettet Milliarden von Völkern aus Millionen Galaxien davor, spurlos im Hyperraum zu verwehen. Meistens mit Erfolg.

Mit Hilfe einer Zeitreise startet er das vorwitzige Unternehmen, die Negasphäre zu verhindern, die von den Chaosmächten in der Lokalen Gruppe implantiert werden soll. „Ich sehe zerschundene Raumzeit, höre das Heulen der Schwerkraft und den Schrei der Materie, die niederfährt in die Kluft.“ (Wim Vandemaan, Heft 2490, S. 10)

Der Raum selbst ist krank, und ein Geradeaus-Fliegen unmöglich. „Alles hier verschwimmt, als ob das Licht auf irrwitzigen Umwegen zu uns kommen müsste“ … „als schlüge ihm eine Front aus gebeugtem Licht in irren Wellen entgegen.“ (Horst Hoffmann, Heft 2428, S. 9)

Chaotarchen und Kosmokraten liegen seit Jahrmilliarden im Clinch. Perry und die Seinen agieren dazwischen. Letztlich geht es bei dem Dauerkampf nicht um „Gut“ gegen „Böse“, da sowohl Ordnung als auch Chaos in ihrer Radikalität „das Leben an sich“ gefährden. „Savoire wunderte sich wieder einmal, wie wenig sich Chaos und Ordnung im Prinzip voneinander unterschieden.“ (Uwe Anton, Heft 2480, S. 48)

Natürlich findet auch der größte aller Romanzyklen seine Kritiker, die ganz unverschämt die Frage aufwerfen: Ist das überhaupt Literatur? Na, sicher! Was denn sonst! Um den literarischen Status der Serie zu legitimieren, bedarf es nicht erst des Hinweises, dass auch namhafte, in der „Hochliteratur“ verankerte Autoren wie Andreas Eschbach oder Gisbert Haefs gelegentlich am großen Perry-Rhodan-Epos mitschreiben.
Paraflimmern, Schwingenraumer, Schwerkraftverwirbelungen, Dimensionenschwund, Karrenschleicher, psychoparasitärer Befall, Gravitationsweiden, Proto-Negasphäre, Matten-Willy, Energietaucher, Metaläufer, Gestaltwandler, Mosaikintelligenz, Schwebepolster, Drangwäsche, mentales Wasserzeichen, Vital-Signaturen, donnerblau, pseudomaterielle Objekte oder ein Leichengleiter, der als futuristischer Leichenwagen unseren Weg kreuzt, sind nur einige der allpräsenten Wortneuschöpfungen aus der Serie. Viele Begriffe erklären sich wie Formenergie anschaulich auch ohne Translatoren. Bei der Terminalen Kolonne TRAITOR, bei der Frequenz-Monarchie oder den Qualnäer Keretzen leiten wir schon aus dem Klang ihres Namens ab, dass sie unbequeme Gegner sein werden. Dürfen wir hingegen – mag man sich fragen – „Halbspur-Changeur“ als Schimpfwort benutzen, ohne uns in unserem Standarduniversum eine Beleidigungsklage einzuhandeln?

Viele Völker des Universums beherrschen die galaktische Verkehrssprache, das Interkosmo. Manche Wesen aber kommunizieren auf keine uns bekannte Weise: „Millionen und Abermillionen Nanosekunden später vernahm es einen fernen Widerhall, zart und schwebend. Es setzte sich auf seine Spur. Oh, sie hatten sich bestens verkappt, diese Signale. Sie kamen in den irrwitzigsten Tarnungen daher. Sie wisperten wie Quantenschaum, sie lärmten wie Jetströme, sie waren solarer Wind und das Rieseln aus feinsten Rissen in den Membranen zum Dakkarraum, und sie waren alles dies zugleich.“ (Wim Vandemaan, Heft 2433, S. 48).

Immer wieder geraten Akteure in andere Dimensionen, Zeitebenen, parallele Welten: „Die stoffliche Welt war, von diesem versetzten Energieniveau aus erfahren, nur ein schemenhaftes Lichterspiel. Umrisse verschwammen, alles war wie von einer überschäumenden Glorie umgeben. Dennoch fiel es ihm nicht schwer, sich hinter dem Schleier zu orientieren. Er war es gewohnt.“ (Wim Vandemaan, Heft 2433, S. 49)
Nicht zuletzt sind die Hefte ein wöchentlicher Seelentrip oder bewirken zumindest „eine leichte, metareale Touchierung“ (2533, S. 39). Um es mit dem Weisen Davin Abangy zu sagen: „Hier erfahren Interessierte, was sie sind und wer sie sind. Es mag ein paar Jahrhunderte intensivster Verinnerlichung dauern – aber es funktioniert.“ (Michael Marcus Thurner, Heft 2435, S. 47)

Der Aufbruch mancher Sternenreisender mündet jedoch oft auch in der Feststellung, wie universal manche terranischen Eigenarten sind. Alte deutsche Spruchweisheiten findet man Millionen von Lichtjahren entfernt – den kulturellen oder physiognomischen Besonderheiten der Fremden angepasst – wieder. Es werden in Variationen und mehr Dimensionen überall die gleichen Spiele gespielt, und viele Völker haben ihre Schlagerbarden oder holografierten Fernsehtanten, die einen irgendwie an ein irdisches Vorbild erinnern. Auch Chefs, Enthüllungsjournalisten, Sektenführer und Militärs ähneln sich in allen Sternhaufen und zu allen Zeiten. Und wenn sich die Abgeordneten der galaktischen Völker zu einem Kongress versammeln, könnte eine EU-Ratssitzung als Vorbild gedient haben.




Pleurants – Trauernde

Mein Vater liegt auf demselben Friedhof wie die Krupps begraben, wenngleich sehr viel bescheidener. Die Krupps – zumindest die Männer der Familie – ruhen unter veritablen Denkmälern. Hier ein Adler, dort eine trauernde Schönheit, wie sie im 19. Jahrhundert zur internationalen Friedhofsmode gehörte. Eine lebensgroße Skulptur aus Bronze, die – Allegorie hin oder her – unter nur angedeuteten Schleiern ihre vollen Brüste über dem Kopf des Industriebarons schaukeln lässt, lasziv wie ein Groupie über dem Grab von Jim Morrison, sinnlich wie Maria Magdalena am Fuß des Kreuzes. Was haben halbentblößte Weiber, die nicht zur Familie gehören, auf den Grabplatten von Industriellen zu suchen?

Ich denke an Mutter. Als mein Vater starb, waren die beiden vierundfünfzig Jahre verheiratet. Mutter erzählte mir später, Vater sei ihr erster und einziger Mann gewesen. Ich glaube ihr. Wenn jemand ein Recht hat, den Tod meines Vaters zu betrauern, dann Mutter. Aber sie als weinende Statue auf Vaters Grab? Schlecht vorstellbar. Oder doch? Als hyperrealistische Skulptur, wie beispielsweise Duane Hanson oder Edward Kienholz Menschen aus Glasfaser und bemaltem Polyesterharz nachbildeten? Oder als Heldin des Alltags, wie sie als „Säulenheilige“ auf Düsseldorfer Litfaßsäulen stehen? Meine Mutter, 85-jährig, klein und verhutzelt über ihren Rollator gebeugt, eine angemessene Versinnbildlichung einer Trauernden.

Pleurants beiderlei oder unbestimmten Geschlechts existieren in der Grabkunst zumindest seit dem 14. Jahrhundert. Unter den 40 Trauernden, die in Dijon die Grabplatte Philipp des Kühnen tragen, befinden sich mehrere düstere Kapuzengestalten, die sich auch als Fährmänner zu Böcklinschen Toteninseln eignen würden. Jedoch hielt die als Frau personifizierte Trauer mit der erotischen Verheißung eines erfüllten Jenseits erst im 19. Jahrhundert europaweit Einzug in die Friedhofskunst.

Warum protestierten die tatsächlichen, die nicht-allegorischen Ehefrauen, die ihre Männer überlebten, nicht gegen die in Kupfer gegossenen fremden Nackedeis auf den Grabstätten? Meine Mutter hätte sich dagegen verwahrt, aber sie lebte ja auch hauptsächlich im 20. Jahrhundert.

Mir persönlich – als Mann – würde der Gedanke gefallen, über meinem Skelett würden verewigte Trauernde dauerhaft um mich weinen. Für mein Grab wünsche ich mir sechzehn Pleurantes. Mindestens vier, aber besser sechzehn. Das bringt meine Nachlassverwalter in größere Schwierigkeiten. Denn natürlich muss jede der weinenden Figuren lebensgroß sein, nicht so klein wie bei Philipp dem Kühnen. Wer meinen Geschmack kennt, weiß, dass „lebensgroß“ mindestens 1,80 m bedeutet. Das gibt ein Gedränge von in kurzen Röcken stehenden, sitzenden, liegenden, sich vor Trauer die Brust zerkratzenden, sich die Kleider vom Leib reißenden Weinenden, ein Knäuel aus Trauernden, unter denen ich begraben sein möchte (wenn es Zeit ist).

auf dem Friedhof in Essen-Bredeney

Grab eines Industriebarons




Traumzeit in Duisburg und Moers

Die Kraftzentrale und das Zirkuszelt liegen Luftlinie 11,7 km auseinander. Pfingsten und Traumzeit trennten in diesem Jahr nur drei schnell vergangene Wochen. Im westlichen Ruhrgebiet verwöhnt der Frühsommer Liebhaber grenzüberschreitender Musikarten mit zwei Großereignissen.

Beide, das Moers Festival und das Duisburger Traumzeit-Festival, pflegen Musikrichtungen, für die es kaum einen oder sehr viele Namen gibt: Improvisierte Musik, freie Musik zwischen Jazz, (Post-)Rock, Indie, Neuer Musik, Elektronik, „Weltmusik“, Neo-Folk oder Klassik. Wer in der Vorstellung lebt, weit und breit der einzige zu sein, dem eine bestimmte Musikgruppe abseits des Mainstreams bekannt ist, stellt fest, es sind Tausende, die sich im Moerser Festzelt oder in einem der Meidericher Industriegebäude für anspruchsvolle musikalische Experimente begeistern können, Zigtausende sogar, die sich über den Schlosspark (Moers) oder die verschiedenen Aufführungsorte des Landschaftsparks (Duisburg) verteilen.

In diesem Jahr spielten Igmar Thomas & The Cypher an beiden Orten, in Moers und in Duisburg; über die Jahre verteilt, ist die Schnittmenge beider Festivals beachtlich. Die Künstlerischen Leiter, Reiner Michalke in Moers und Tim Isfort in Duisburg, öffnen ihre Festivals einem neuen Publikum, und seit neuestem bietet auch Duisburg – wie in Moers bereits seit Anbeginn üblich – gleich neben dem Festival eine Camping-Möglichkeit.

Wo aber liegen die Unterschiede? Moers überraschte in diesem Jahr gleich doppelt mit hartem Metal. Bei Orthrelm (USA) trifft Thrash Metal auf Minimal Music. Repetitive Klangmuster mit minimalen Variationen und kaum merklichen Entwicklungen tönen hier nicht wie bei Steve Reich mit klarem Vibraphon und festlichem Glockenspiel, sondern werden mit den trashigsten aller übersteuerten Gitarrensounds in rasantem Tempo hingeschmettert, mit einem wirbelnden Schlagzeuger, der ein 45-minütiges Solo hinlegt, nur nicht solo, sondern vervollständigt von einem ruhelos schrammelnden Gitarristen, dessen den Pedalen zugewandtes Gesicht von einem Vorhang langer glatter Haare verdeckt ist. Am nächsten Tag am gleichen Ort präsentieren Monolithic eine norwegische Variante: Ebenfalls im Duo Gitarre – Schlagzeug, mit angenehm unverständlichem Gesang. Auf Audio-Masochisten verschiedenster Couleur hat das Fest in Moers, das seit 1972 die meiste Zeit als „New Jazz Festival“ firmierte, immer schon eine besondere Attraktion ausgeübt. Mit Orthrelm und Monolithic zog in diesem Jahr die bislang härteste Spielart ein.

Neben den Festivalneulingen bleiben sowohl Moers als auch Duisburg Treffpunkte für die alten Hasen der Szene. In der Meidericher Kraftzentrale trieben der bekannte Fusion-Jazzer Mike Stern (Gitarre) und Didier Lockwood (Teufelsgeige) mit dem grandiosen Dave Weckl am Schlagzeug und Tom Kennedy am Bass die Perfektionierung des Sich-überlebt-Habenden auf die Spitze. Branford Marsalis (Saxophon, Klarinette), längst schon aus dem Schatten seines berühmten Bruders Wynton getreten, überzeugte gemeinsam mit dem Pianisten Joey Calderazzo durch Stil, Brillanz, Tempo, Größe.

Branford Marsalis

Branford Marsalis / Foto: Wolfgang Cziesla

 

Drei Wochen zuvor hatte sich in Moers der 71-jährige Ronald Shannon Jackson zwischen Vernon Reid an der Gitarre und Melvin Gibbs am Bass als ein scheinbar von aller Last des Alltags befreites Individuum präsentiert, bei dem ein langes Schlagzeugerleben nicht die geringste Verspannung hinterlassen hat. Warum auch – hatte doch bereits der 76-jährige Abdullah Ibrahim am Piano mindestens ebenso jugendlich gewirkt!

Die absolute Überraschung in Moers aber – nicht im gedruckten Programm aufgeführt und von der Ansagerin als Geburtstagsgeschenk des 40-jährigen Festivals an sein Publikum angekündigt – war Ornette Coleman (81 Jahre alt). Einer Legende gegenüber zu stehen mag beeindrucken; ein solches Highlight völlig unerwartet zu erleben, steigert die Wirkung um ein Vielfaches. Coleman, der 1960 den Free Jazz aus der Taufe gehoben hatte, und sein Quartett boten den Zuhörern allererste Qualität.

Aber mit dem Bemühen, möglichst große Stars in den Westen des Ruhrgebiets zu holen, sind wir wieder bei den Gemeinsamkeiten beider Festivals gelandet. Zurück zu den Unterschieden. Das Traumzeit-Festival verstand sich seit seiner Gründung 1997 immer auch als Bühne der sogenannten Weltmusik (eine fragwürdige Bezeichnung für fraglos spannende Musikrichtungen). Die Duisburger setzten in diesem Jahr den Länderschwerpunkt Myanmar, brachten Musiker aus dem südostasiatischen Land mit Kollegen aus Frankreich, Italien, Deutschland auf eine Bühne und vermittelten dem Publikum einen Klangeindruck von der hierzulande selten gehörten Bogenharfe saung gauk, dem Trommelkreis oder der burmesischen Kegeloboe hne.

Seltene Instrumente – um gleich wieder auf die Gemeinsamkeiten zu sprechen zu kommen – gab es auch in Moers. Mit einer 17- und einer 21-saitigen Koto kam Michiyo Yagi in das Festivalzelt, wo die Japanerin bereits 1992 aufgetreten ist. Diesmal spielte sie im Double Trio: Symmetrischer Bühnenaufbau: rechts und links außen jeweils ein Schlagzeug, halbrechts und halblinks je ein Kontrabass, der in einzelnen Stücken auch durch ein Cello ersetzt werden konnte. Und im Zentrum das Koto und das Bass-Koto von Michiyo Yagi. Perfektes Zusammenspiel, traumhaft.

Das Verwöhntwerden durch zwei herausragende Festivals in so kurzem Zeitraum bringt mit sich, dass ein Bericht über beide Großveranstaltungen selbst erstklassige Acts nur in der Aufzählung würdigen kann – wie Nils Petter Molvaer, Little Red Big Bang, Seun Kuti (alle in Moers); Cyro Baptista, Anne Paceo Triphase, das Portico Quartet, Hundreds, Mogwai oder Stefan Rusconi (in Duisburg).

Erstklassig sein genügt nicht. Was war das Phantastische der diesjährigen Traumzeit?

Caribou schuf fast unglaubliche Momente. Die vier Nerds aus Kanada im Medizinerweiß oder in Parka mit auf den Rücken geschnallter Gitarre schlugen zur Live-Elektronik die Beats präzise auf zwei Schlagzeuge, vergleichbar der US-amerikanischen Band Tortoise, und versetzten am Freitagabend bei einem ihrer seltenen Deutschlandauftritte das Publikum auf den Tribünen wie die Tanzenden gleichermaßen in Ekstase.

Zwei Tage später, gleicher Programmplatz: Der 28-jährige Vielkönner Patrick Wolf und Alec Empire (39) – der ehemalige Noise-Punker von Atari Teenage Riot – bilden ein ungewöhnliches Duo. Zu Wolfs Bluesstimme lebt 80er-Jahre-Elektropop, gebrochen von Empires Noise-Einlassungen, neu auf, und beim Spiel mit dem Bühnenbild verbindet sich alles zu einem popmusikalischen Gesamtkunstwerk. Auch wer sich keine CD der beiden komplett anhören möchte, dürfte vor allem von Patrick Wolfs dandyhaften Entertainer-Qualitäten nicht unbeeindruckt geblieben sein.

Jeweils um 23 Uhr an den drei Tagen traten in der Gießhalle die großen Gruppen auf: Mogwai, Amiina, Hundreds. Gleichzeitig aber wurde die Kraftzentrale von Klangzauberern bespielt. Am Freitagabend erwies sich Ólafur Arnalds als ein solcher. Der isländische Pianist wurde von einem Streichquartett und Elektronik begleitet – raumgreifender Enthusiasmus, Musik, in der man sich verlieren kann. Ebenso wie beim Bestaunen der dazu laufenden Zeichentrick-Videos. Schattenrisse von Vögeln, die sich von Mobiles lösen und frei fliegen, sich wie Kulissen verschiebende Wolken, ein Leuchtturm und Wellen, in denen ein Boot versinkt und verwandelt auftaucht. Vergleichbare Klang-Bild-Poesie hat 2003 an diesem Ort auch das Tin Hat Trio geschaffen.

Die Samstagnacht in der Kraftzentrale gehörte dem Amsterdamer Blockflöten-Trio aXolot. Zur atmosphärischen Vervollständigung sei kurz das Bühnenbild beschrieben: Eine halbe Schwingtür in komplettem Rahmen, ein extrem kleiner Kinderstuhl, ein normalgroßer Kunstleder-Schaukelstuhl, zwei Orientteppiche, ein Sofa und zwei dazu passende Ohrensessel, Kunstlederstühle mit Nieten – das Ganze in verdampfendes Nebelfluid getaucht. Das Programm der drei Flötistinnen bestand aus mittelalterlichen Klängen nicht mehr bekannten Ursprungs und Werken junger Komponistinnen und Komponisten: Dorothée Hahne, Aliona Yurtsevich, Stefan Thomas und des Amsterdamer Komponisten Paul Leenhouts, dessen bezauberndes Zultanas Raizins sie aufgeführten. Nicht-existente Töne schwingen hier mit – wie die Flötistin Kim-José Bode erklärt –, sogenannte Geisttöne, Töne, die als dritte entstehen, wenn man zwei spielt.

Die Samstagnacht ist ein gutes Beispiel, um den entscheidenden Unterschied zwischen den Festivals in Moers und Duisburg zu benennen: Moers konzentriert sich auf das große Zirkuszelt, in dem sich im Wesentlichen das gesamte Festival abspielt, ergänzt durch eine Reihe elektronischer Musik in einem Darkroom sowie durch Nachtprogramme und Matineen an verschiedenen Orten der Stadt. Das Traumzeit-Festival dagegen verteilt sich auf verschiedene Bühnen im nachts wunderbar beleuchteten Lapadu (Landschaftspark Duisburg-Nord): Kraftzentrale, Gießhalle, Open-Air-Bühne am Gasometer, Foyer Pumpenhalle, Gebläsehalle und Hüttenmagazin. Die guten Auftritte konkurrieren miteinander, und der Besucher kann von Luxusnöten gequält werden, wie ich am Samstag kurz vor 23.00 Uhr. In der Gebläsehalle spielten noch Bohren & der Club of Gore, deren Auftritt von 22.15 Uhr auf 22.30 Uhr verschoben wurde. Wer wäre düsterer als die vier Männer aus Mülheim? Während gealterte Virtuosen wie Mike Stern oder Joey Calderazzo in Duisburg losjammten, als hätten sie keine Zeit zu verlieren, verfügen Bohren & der Club of Gore über alle Ruhe der Welt, und nicht nur dieser Welt. Aus der Schwärze der Bühne mit unsichtbaren Gestalten heraus kam eine der spärlichen skurrilen Ansagen: „Es ist Mode geworden, auf junge gutaussehende Mütter, die ihre Kinder zum Fußball fahren, einzudreschen. Wir von Bohren unterstützen das und haben darüber ein Lied geschrieben, erstaunlicherweise schon 2003.“

Ich kann gerade noch die ersten der langgezogenen Doom-Töne auf mich wirken lassen, da flüstert mir eine innere Stimme zu, dass es an der Zeit ist für aXolot. Ein geschlossener Vorhang in der Kraftzentrale, und ein Wächter kündigt mir freundlicherweise an, der Soundcheck werde voraussichtlich noch eine halbe Stunde in Anspruch nehmen. Eine weitere innere Stimme sagt mir, dass aXolots gründliche Vorbereitung meine Chance ist, gegenüber in der Gießhalle ein paar Takte von Aniima wahrzunehmen, den jungen Isländerinnen, die an der Seite von Sigur Rós arbeiten, wenn sie nicht wie heute ihr eigenes Ding machen. Das ursprüngliche Streichquartett ist inzwischen durch eine Vielzahl an Instrumenten erweitert.

Zurück in der Kraftzentrale beginnt aXolot das Konzert mit der neuen Komposition von Dorothée Hahne, dessen Titel die innere Zerrissenheit eines Traumzeit-Besuchers auf den Punkt bringt: Interferences of Inner Voices.

Gut, dass ich kein Partygänger bin, sonst gäbe es zu später Stunde auch noch zwei verlockende Tanzveranstaltungen.




Apollinaire im Nachgang: „Flaneur in Paris“ auf Deutsch

Wie konnten Guillaume Apollinaires literarische Streifzüge durch Paris über mehr als neunzig Jahre unübersetzt bleiben? In Frankreich ist das vergnügliche kleine Buch bereits 1919 unter dem Titel „Le Flâneur des deux rives“ erschienen.

Apollinaire führt seine Leser durch Viertel wie das damals noch ruhige Auteuil (heute ein Quartier des 16. Arrondissements). Oder in die zum Rive Gauche gehörenden Straßen Saint-André-des-Arts und die Rue de Buci. Das unbekannte, vom Verschwinden bedrohte Paris und seine Geschichten, aber auch das Paris der großen Boulevards und Künstlertreffpunkte wie das Café Napolitain sind in dem Buch vertreten. Vor allem geht es um die Menschen, die diese Schauplätze belebten: Bohemiens, eigenwillige Buchhändler, Kleinverleger und verschiedenste Originale.

Ein Bilderrätsel, das dem Flaneur scheinbar zufällig vor die Füße flattert, führt zum Kontakt mit einem Maskierten und am nächsten Morgen zum Besuch bei dem durch die Auflösung des Rebus‘ identifizierten Schriftstellerkollegen. Das Hotelzimmer, das der exzentrische Ernest la Jeunesse, Autor inzwischen vergessener Romane, bewohnt, erweist sich als vollgestopftes Kuriositätenkabinett.

Freude an Mystifikationen, Überblendungen von Realität und Fiktion, Klatsch und ausgelassene Späße begegnen uns fast auf jeder Seite – Späße wie der fiktive Antiquariatskatalog (mit authentischen Buchtiteln) im Kapitel „Die Quais und die Bibliotheken“, dessen Einträge zum Beispiel lauten:
„BOISGOBEY (F. de). Enthauptet. In 2 Teilen, Kopf beschnitten, stockfleckig“ oder
„GRAVE (Th. De). Der Hochstapler. Mit falschem Titel“.

Ein staubiges Kellergewölbe in der Rue Laffitte Nr. 8, in dem sich Bilder zeitgenössischer Maler stapelten und Künstler wie Picasso, Redon, Bonnard und Derain sich zu exotisch gewürzten Speisen mit schönen Frauen trafen, nimmt Apollinaire als Ausgangspunkt, um sich an Léon Dierx, den Prince des Poètes aus dem Kreis der Parnassiens zu erinnern, dessen Ruhm inzwischen verblasst sein dürfte. So sind es im Buch weniger die noch heute großen Namen unter seinen Freunden – Pablo Picasso, Max Jacob, Robert Delaunay, Marcel Duchamp, Blaise Cendrars, Alfred Jarry u. v. a. –, denen Apollinaire mit seinen „Chroniques“ ein Denkmal setzt. Stattdessen wird der dichtende Garkoch Michel Pons porträtiert. Oder das private Napoleon-Museum eines zehnjährigen Schülers. Oder ein sich offenbar aus verschiedenen Informanten zusammensetzender Gesprächspartner, der die Bibliotheken der Welt bereist.

Der Erste Weltkrieg bildet einen Einschnitt in der Welt der Pariser Bohème. Die meisten Kolumnen waren zwar vor 1914 erschienen, größtenteils im Mercure de France. Für die Buchform hat Apollinaire sie sich 1918, kurz vor seinem Tod, noch einmal vorgenommen. Gegenüberstellungen mit der verlorenen Vorkriegszeit finden wir fast in jedem Kapitel. So trägt das Buch erheblich dazu bei, nicht nur einzelne Zeitgenossen, sondern eine ganze Epoche, die Welt, in der Flaneure noch exquisite Spazierstocksammlungen besaßen, vor dem Vergessen zu bewahren.

Walter Benjamin reihte „Le Flâneur des deux rives“ bereits 1929 unter die „Bücher, die übersetzt werden sollten“ ein. Nun ist es dem Übersetzer und Herausgeber Gernot Krämer sowie der Friedenauer Presse zu verdanken, dass wir Apollinaires Wonnen der flânerie erstmals auf Deutsch lesen können. Neben der gelungenen Übertragung des sicherlich nicht leicht zu übersetzenden Autors überzeugt die Publikation durch die editorische Sorgfalt und das kenntnisreiche Nachwort. Den Anmerkungsapparat der 1993 in den Editions Gallimard erschienenen Pléiade-Ausgabe hat Gernot Krämer durch eigene Recherchen bereichert und geht vielen interessanten Spuren nach, die die Herausgeber der französischen Ausgabe vernachlässigt haben.

Die Lektüre verlockt, die Wege Apollinaires über Satellitenbilder und Stadtpläne zu verfolgen. Oder gleich nach Paris zu fahren und dem „Flaneur in Paris“ an beiden Ufern der Seine nachzuwandern.

Guillaume Apollinaire: „Flaneur in Paris“. Aus dem Französischen übersetzt und herausgegeben von Gernot Krämer. Friedenauer Presse, Berlin 2011, 136 Seiten, 16 Euro