„Nie in Mode gewesen“ – Julien Gracq und seine „Lebensknoten“

In der Handschriftenabteilung der „Bibliothèque Nationale de France“ befinden sich neunundzwanzig mit „Notules“ (Randnotizen) betitelte Hefte des Schriftstellers und Dichters Julien Gracq. Ihre Veröffentlichung hat der Autor bis 2027, zwanzig Jahre nach seinem Tod, untersagt. Jedoch hatte Gracq einige Prosastücke ins Reine geschrieben und zum Abtippen gegeben, die 2021 in Frankreich unter dem Titel „Noeuds de vie“ („Lebensknoten“) und jetzt in der Friedenauer Presse auf Deutsch erschienen sind.

Abseits des Literaturbetriebs

Nachdem Julien Gracq mit seinem ersten Roman „Auf Schloss Argon“ (1938) und seinem einzigen Theaterstück „Le Roi pêcheur“ (UA 1949) bei Verlagen und Kritikern nicht die erhoffte Anerkennung fand, wandte er sich enttäuscht vom französischen Literaturbetrieb ab, unterrichtete unter seinem bürgerlichem Namen Louis Poirier bis zu seiner Pensionierung im Alter von sechzig Jahren als Gymnasiallehrer Geografie und Geschichte, schrieb in dieser langen Zeit ununterbrochen weiter, hielt sich aber von der Öffentlichkeit fern. Das änderte sich auch nicht, als ihm 1951 für seinen Roman „Das Ufer der Syrten“ der Prix Goncourt zuerkannt wurde. Die bedeutende Auszeichnung nahm er nicht an – eine solche Ablehnung war beispiellos in der Geschichte des renommierten Preises, was umso mehr für Furore sorgte. „Es ist für einen Schriftsteller heute ein Glücksfall, nie in Mode gewesen zu sein, sondern in einer Zone des Rückzugs und Halbschattens verweilt zu haben“, wird er später in einem seiner Notizbücher festhalten.

In den letzten Lebensjahren zog er sich in seinen Geburtstort Saint-Florent-le-Vieil an der Loire zurück, wo er 2007 im Alter von 97 Jahren starb. „Nie in Mode gewesen“ – das schließt einige bedeutsame Ehrungen und eine große Zahl literaturwissenschaftlicher Studien über den Autor und sein Werk nicht aus. Julien Gracq gehört zu den wenigen Literaten, deren Gesamtwerk bereits zu seinen Lebzeiten in die „Bibliothèque de la Pléiade“ aufgenommen wurde, die in Frankreich gleichsam den Kanon der Literatur bestimmt.

Nähe zum Surrealismus

Anfang der 1930er Jahre entdeckte der Zwanzigjährige das „Manifest des Surrealismus“ und André Bretons 1928 erschienenen Roman „Nadja“, der ihn tief beeindruckte. Umgekehrt schuf er durch die Zusendung seines ersten Romans an André Breton auch die Voraussetzung, um von den Surrealisten entdeckt und als einer der Ihren wahrgenommen zu werden. Seine Nähe zum Surrealismus wird beispielsweise in den frühen Prosagedichten des Bandes „Liberté Grande“ (1946) deutlich, aus dem die Literaturzeitschrift „Sinn und Form“ (Heft 1, 2019) eine Auswahl veröffentlichte, die ebenso wie der vorliegende Band „Lebensknoten“ von Gernot Krämer ins Deutsche übersetzt wurde.

Julien Gracq wird mit Breton bis zu dessen Tod 1966 eine lebenslange Freundschaft verbinden. Gleichwohl blieb er skeptisch gegenüber so manchem, wodurch sich der Surrealismus auszeichnet. Mit dessen Ursprüngen aus der Dada-Bewegung konnte Gracq wenig anfangen. Ebenso wenig sah er in der „Écriture automatique“, dem Schreiben unter Ausschaltung aller inneren Kontrollinstanzen, einen Ansatz, den zu verfolgen sich für ihn gelohnt hätte. Er trat auch nie, wie ein Großteil der Surrealisten, in die Kommunistische Partei ein, und es lag ihm fern, sein Schreiben in den Dienst der Revolution zu stellen.

Gracq betont jedoch wie die Surrealisten die Kraft von Träumen. Bei seinem bevorzugten kleinen Schreibtisch, von dem ein Foto in den Band aufgenommen wurde, ist ihm die Nähe zum Bett wichtig, als „Symbol für Rückzug und nächtlichen Rat“. Wie aus einer anderen Notiz hervorgeht, teilt er jedoch keineswegs die Begeisterung vieler Surrealisten für Traumdeutung und die psychoanalytischen Theorien Sigmund Freuds. „Wie sollte man nicht argwöhnisch sein gegen einen Magier, dessen Zaubertricks die Rätsel weitgehend erst schaffen, die er lösen will?“

Verlockende Fahrten

Für den Band „Lebensknoten“ hat die Herausgeberin Bernhild Boie die literarischen Miniaturen in vier Themenbereiche untergliedert. Im ersten Teil führen uns Notizen unter der Überschrift „Wege und Straßen“ durch verschiedene Landschaften Frankreichs und der Schweiz, etwa von Sancerre aus nordwestlich durch die als finster beschriebene Sologne – „Frankreichs Kuhle, (…), ein stehender, eingekellerter Nabel, den nur selten der Wind besucht und der wie ein Tümpel unter grünem Schaum schläft“; in das winterliche Loire-Tal und durch die rechts und links des Flusses gelegenen Orte.

Die Landschaften der Vendée und der Bretagne stellt Gracq vergleichend gegenüber – in detailreichen sprachlichen Momentaufnahmen, mit denen der Autor Stimmungen evoziert. Vom Boot aus betrachtet er das französische und das Schweizer Ufer des Genfer Sees, das sich mit den Jahren nicht zu seinem Vorteil verändert hat. So beginnt der Band mit mehreren Fahrten, die trotz ihrer stillen Melancholie zum Nachreisen verlocken. Auf seinen Spaziergängen rund um seinen Geburts- und letzten Rückzugsort Saint-Florent-le-Vieil empfindet Gracq auch in der vertrauten Umgebung „keine Ruhe, kein ermutigendes Gefühl der Beständigkeit, sondern eher das sorgenvolle Unbehagen, das uns vor einer zur Fällung markierten Baumgruppe beschleicht, vor einem vertrauten Bauwerk, das abgerissen werden soll (…)“. Im Garten seines Großvaters erinnert er sich an „einen auf Spalier gezogenen Apfelbaum und einen Streifen Wermutsetzlinge“.

Kristallisationspunkte

Während sich der erste Teil den räumlichen Bewegungen widmet, versammelt der zweite Teil, „Augenblicke“, verschiedene Kristallisationspunkte im Längsschnitt der Zeit, historische Momentaufnahmen oder Erlebnisse von subjektiver Wichtigkeit. Für das Jahr 1945 stellt er in Frankreich „in jeder Hinsicht eine Krise des Ausdrucks“ fest; die Zeit schreie „verzweifelt nach einer Form“ – „Ein Verlangen nach Dichtern vielleicht, auf jeder Ebene.“ Eine Ausstellung im Invalidendom zum sogenannten „Sitzkrieg“ (im Französischen bekannt als „Drôle de guerre“), der von September 1939 bis Mai 1940 andauerte und den Gracq als Soldat erlebte, enttäuscht ihn durch ihre, wie er findet, dürftigen, belanglosen Exponate. „Nichts verbindet diese mittelmäßigen Beweisstücke mit dem taghellen Somnambulismus, der sich acht Monate lang einer ganzen Nation bemächtigt hatte.“

Kriegsschilderungen

Gracq weiß, wovon er spricht, hat er doch  in zahlreichen Prosaskizzen den Zweiten Weltkrieg in unideologischer, poetischer Sprache eindringlich festgehalten – die Absurdität eines gewaltigen, desorganisierten Militärapparats, surreal und als komische Farce. Julien Gracqs „Manuscrits de guerre“ wurden 2011 posthum aus seinem Nachlass veröffentlicht und sind als „Aufzeichnungen aus dem Krieg“ (2013) im Literaturverlag Droschl erschienen. Aber auch in seinen Romanen wie „Das Ufer der Syrten“ (1951) und „Der Balkon im Wald“ (1958) ist der Krieg präsent. In Besprechungen und literaturgeschichtlichen Arbeiten zu Gracq wurde auf die frühe, ihn prägende Lektüre von Ernst Jüngers „Auf den Marmorklippen“ hingewiesen, einem Autor, mit dem er sich später anfreunden sollte; zwei Schriftsteller der „alten Schule“. Aus manchen seiner Texte spricht eine Haltung, ähnlich wie Gracq sie 1986 im Gespräch mit Jean Carrière geäußert hat (von Bernhild Boie in ihrem Vorwort zitiert): „(…) man kann die Welt sehr wohl als unersetzliches Wunder für den Menschen betrachten und in aller Gelassenheit bar jeder Hoffnung sein.“

Der Autor als Leser

Gracqs frühe Lektüren zeugen von einer Vorliebe für Abenteuer und Phantastik: James Fenimore Cooper, Jules Verne, Robert Louis Stevenson, E. A. Poe, „Die Gesänge des Maldoror“ von Lautréamont. Gracq benennt die Imagination als „eine Vitalfunktion genau wie die Atmung“, ja mehr noch: „sie ist es, die die Luft atembar macht.“ Als handele es sich dabei um eine Selbstverständlichkeit, setzt er solche literarischen Preziosen in die Klammern eines Satzes, der auf Pierre Reverdy und nebenbei auch auf Hegel antwortet. Im dritten Teil der „Lebensknoten“ können wir einige der klugen Beobachtungen des lesenden Autors Julien Gracq goutieren. Etliche Schriftsteller des 19. und 20. Jahrhunderts geraten unter sein Seziermesser und werden entweder für ihre Verdienste gewürdigt, oder aber es werden, oft mit einem von Ironie gewürzten Urteilsvermögen, ihre Schwächen aufgezeigt.

Da ist Stendhal, den er früh schon bewunderte, Arthur Rimbaud, mit dem er sich sehr gut auskennt, Henry de Montherlant, dessen „herrliche Sprache“ darüber hinwegtäuschen könnte, „dass er doch nur das tägliche Brot austeilt.“ Zwei Buchseiten über J. R. R. Tolkien – und damit eine der längsten Notizen dieses Bandes – mögen überraschen. Die Lektüre von „Der Herr der Ringe“ erlebt er als befreiend, nicht zuletzt, weil nach seiner Lesart das dort beschriebene Geschehen unter kompletter Auslassung „geltender und praktizierter Religionen entstanden“ sei. „Hier treffen Mächte aufeinander und nicht Werte; nicht Gut und Böse, sondern weiße Mächte und schwarze Mächte.“ Gracqs Anfang der fünfziger Jahre begonnenes, aber erst posthum veröffentlichtes Romanfragment „Das Abendreich“ wurde von einigen Kritikern mit Tolkiens Großepos verglichen.

Dichterisches Selbstverständnis

Aus seinen scharfsinnigen Analysen und pointierten Kommentaren zu Zeitgenossen und älteren Autoren spricht ein dichterisches Selbstverständnis, das sich, wie selbst die relativ wenigen in „Lebensknoten“ versammelten Notizen erkennen lassen, zu einer eigenen Poetologie erweitert. „Niemand ist wirklich in Kommunion mit der Literatur, der nicht das Gefühl für das Ganze hat, das noch im kleinsten ihrer Teile vorhanden ist.“ Bei einem Roman sei die „Navigation“ entscheidender als „die Häfen und Landstriche, die unterwegs besucht werden.“ Es gelte zunächst, eine „bestimmte Anfangsgeschwindigkeit zu erreichen“, danach dürften Kräfte auf den „vorwärts getriebenen Körper einwirken, die seine Richtung verändern, ihn bremsen, wieder beschleunigen.“ Die Macht der Bewegung müsse stark genug sein, um jeden Gedanken an ein Ziel auszulöschen. Darüber werde das Sujet beinah nebensächlich.

Worauf es beim Romanschreiben ankommt

Einige solcher Statements, die er in der Auseinandersetzung mit schreibenden Zeitgenossen entwickelt, werden im vierten Teil der Textsammlung aufgegriffen, wenn es um Gracqs eigenes Schreiben geht. Eine Formulierung Paul Valérys zum Vorausdenken beim Schach und die Übertragbarkeit dieser Fähigkeit auf das Schreiben von Romanen nimmt er zum Anlass, darzulegen, worauf es ihm beim Schreiben mehr noch ankommt als auf das Durchspielen vieler möglicher Varianten: Auf die „Fähigkeit, blitzschnell, instinktiv zwischen aufscheinenden Kombinationen zu wählen, automatisch, ohne auch nur zehn Sekunden zu verschwenden, acht von zehn Möglichkeiten auszuschließen.“ Ein „Tastsinn für Positionen“, die „Fähigkeit umfassender Ortung“ – „Am Anfang eines Romans steht keineswegs die tatsächliche Richtung des künftigen Werks, sondern das Vorgefühl seiner Autonomie.“ In einer anderen Notiz hält er folgerichtig fest: „Seinen Zauber und seine Würze erhält ein Roman allein durch das Schwänzen der Schreibschule und nicht durch den unfehlbaren Konstruktionsplan.“

Solche Sätze machen neugierig auf Julien Gracqs Romane, die in insgesamt 26 Sprachen und von denen mehrere auch auf Deutsch erschienen sind. Hoffentlich gelingt es dem schönen und handlichen Band aus der Friedenauer Presse, den Autor Julien Gracq auch Leserinnen und Lesern zugänglich zu machen, die bislang noch nicht zu seinen Verehrern zählten. Die Voraussetzungen dafür dürften durch die gelungene Übersetzung geschaffen und der Zeitpunkt für eine (Wieder-)Entdeckung des Autors dürfte mehr als reif sein.

Julien Gracq: „Lebensknoten“. Aus dem Französischen von Gernot Krämer. Friedenauer Presse, 174 Seiten, 20 Euro.




Unterwegs ins Unerklärliche: Georg Kleins Erzählungsband „Im Bienenlicht“

Zum seinem 70. Geburtstag (29. März) legt uns Georg Klein einen neuen Band mit Erzählungen vor. Im Bienenlicht heißt die Zusammenstellung von achtzehn Texten, gegliedert in zwei Teile, die mit „Wachs“ und „Honig“ überschrieben sind.

In bester Tradition des phantastischen Erzählens lotet Georg Klein die Grenzen dessen aus, was mit Literatur möglich ist, und scheint sich in manchen der Texte noch einige verwegene Schritte tiefer ins Neuland vorzuwagen als in seinen bisherigen Romanen und Erzählungen.

Sich treu geblieben ist der Autor in seiner Vorliebe für das Skurrile, für das Traumhafte und Phantastische, in seinem Hang zu kunstvollen Verrätselungen, im Schaffen dichter, oft unheimlicher Atmosphären. Aus früheren Romanen und Erzählungen bekannte Themen und Motive tauchen auch in dieser Sammlung auf, zum Beispiel das Technische, die Apparate und die Symbiosen, die der Mensch mit ihnen eingeht. Technische Geräte werden gepflegt, liebevoll gewartet wie Wesen mit einer Seele. „In der Werkstatt hievten wir den gründlich geputzten Blasator vom Tisch. ‚Jetzt mach du. Dich ist er gewohnt.‘“

Vom Vertrauten ins Unerklärliche

Doch auch im Text Arbeit am Blasator darf man sich die Welt der Objekte nicht zu idyllisch vorstellen; die Atmosphäre kippt um ins Gruselige. Auf dem Kopfkissen der verstorbenen Ehefrau des leidenschaftlichen Bastlers befindet sich ein Fleck. Nicht, wie man es angesichts der zuvor eindringlich beschriebenen eisigen Temperaturen im Raum hätte erwarten können, „kaltfeucht, sondern eher lau, fast warm-feucht“ ist die Stelle auf dem Kopfkissen der schon vor Tagen Verstorbenen. Der Gast hatte sich zuvor vergewissert, dass nichts von der Zimmerdecke tropft.

Durch die nicht zusammenpassenden Temperaturen – der Kälte im Schlafzimmer des Witwers und der Wärme des Kopfkissens der Verstorbenen – führt uns der Autor aus dem Behaglichen ins Unerklärliche. Außer dem Wärme-Kälte-Empfinden sind es oft auch Gerüche, Aromen einer gruseligen Welt, die uns innehalten lassen. Die Verstorbene hat oft vor dem Einschlafen gelesen; sechzig Watt hatte die Glühbirne in der Nachttischlampe. „Am Lampenschirm kannst du den braunen Fleck sehen.“ Nach dem Zuklappen des Buchs, „meistens erst gegen Mitternacht, hat es immer schon angekokelt gerochen.“ Solche konkreten Beobachtungen machen der Reiz vieler der Texte aus, ohne dass die Geschichten realistisch daherkämen, eher mit der Eindringlichkeit eines nachlebenden Traumes.

Feindliche Dingwelt

Dinge können uns auch feindlich gegenübertreten. Das erlebt in der Titelgeschichte Im Bienenlicht der Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes an der Empfangstheke des Kanzlerinnenamtes. Kleine durchschlagstarke Kampfdrohnen, bei denen man an Ernst Jüngers Zukunftsroman „Gläserne Bienen“ aus dem Jahr 1957 denken könnte, sollen die menschlichen Personenschützer ersetzen. An seinem letzten Arbeitstag im Kanzlerinnenamt rebelliert der sich fast schon im Ruhestand befindende Mitarbeiter gegen diese Entwicklung mit Hilfe einer daheim im 3-D-Drucker erzeugten Kopie seiner Dienstpistole.

Symbiosen mit Maschinen und natürlichen Organismen

Wenn Mensch und Maschine nicht gerade aufeinander schießen, kommt es zumindest zu Missverständnissen mit unseren elektrischen Freunden, wie uns am Beispiel der eingeschränkten Kommunikation mit dem Pflegeroboter Roy in der Erzählung Das Kissen vorgeführt wird. Doch nicht nur mit der Technik geht der Mensch fragwürdige Symbiosen ein, auch mit Teilen der Natur. Die Allwurzler in der gleichnamigen Erzählung sind verdienstvolle Organismen, die sich vom Plastikmüll in den Meeren ernähren. Ihre Einsatzmöglichkeiten aber sind weitaus vielfältiger, wie der Erzähler in einer kalifornischen Spät-Hippie-Kommune feststellt. Zum Einsparen des kostbaren Wassers auf den Toiletten werden solche „Allwurzler“ auch an menschlichen Körperteilen gezüchtet. Bevorzugt dort, wo Ausscheidung zu Tage tritt, kommt es zu einer befremdlichen Intimität beider Lebensformen, und die Mitglieder der Gruppe tragen aus gutem Grund weite Kleidung.

Gründliche Überarbeitung für den Wiederabdruck

Allwurzler ist eine von vier Erzählungen, die bereits in der Literaturzeitschrift Sinn und Form veröffentlicht wurden. Doch alle Texte, die zuvor an anderer Stelle erschienen sind, wurden für den Band Im Bienenlicht erneut durchgesehen und teilweise umgeschrieben. Am deutlichsten lassen sich solche nachträglichen Eingriffe vielleicht in der Erzählung David zu Ehren feststellen, die als Edition 10 der Berliner Festspiele 2014 unter dem Titel „Der Wanderer“ erschienen war, damals zusammen mit Fotos des Filmemachers David Lynch. Die eindrucksvollen Schwarz-Weiß-Fotos mit Details aus Fabriken in Berlin, Lodz und Orten in den USA verbinden sich symbiotisch mit Georg Kleins düsterer Erzählung über zwei Männer, die man sich als eine ernstere Version der Ghostbusters vorstellen kann und die in ähnlichen wie in den von Lynch fotografierten Fabriken ihr riskantes Handwerk ausüben. Gelernt haben sie ihren Kampf gegen die zerstörerischen Spukerscheinungen, „Wanderer“ genannt, von einem Lehrmeister namens David, der nun nicht mehr bei ihnen ist. Für die Aufnahme des Textes in die Erzählungssammlung hat der Autor noch einmal gründlich Hand angelegt; die Hinweise auf David Lynch, die in der Broschüre von 2014 schon durch die Fotos gegeben waren, treten dabei zurück, zugunsten anderer konkreter Benennungen, zum Beispiel des Zugangscodes zur Werkstatt der beiden Männer, der in der Erstfassung nicht aufgelöst wurde.

Es wird viel gearbeitet

Vergleiche zwischen den Erstveröffentlichungen und dem jetzt erschienenen Buch vorzunehmen, wäre eine lohnenswerte Aufgabe für die Herausgeber einer historisch-kritischen Ausgabe des Georg Kleinschen Werkes; für das Lesevergnügen von Im Bienenlicht darf die Mühe der Überarbeitung unsichtbar bleiben. David zu Ehren ist nicht die einzige Erzählung, die uns in die Welt hochspezialisierter Arbeit führt. Kunstfertig und bienenfleißig sind die Menschen in Im Bienenlicht. Oft geht es um Kunst in ihren verschiedenen Spielarten, und manche der Erzählungen weisen in die Gattung der Künstlernovelle. Handwerkliches Können wird zum Thema in Wie es gemacht wird oder in Junger Pfau in Aspik, in Die Kunst des Bauchmanns oder in Der ganze Roman.

„Hochkultur“ und Kunsthandwerk

Auf einen Ausflug in die Welt der Musik nimmt uns der Erzähler in Die Melodika mit. Ein Komponist Neuer Musik, auf dessen Opus magnum die Musikwelt gespannt wartet, mag einige Ähnlichkeiten mit Hans Werner Henze aufweisen, wenngleich die vom Autor gelegten Fährten schnell wieder vom Verdächtigten wegführen. In der Ausgabe von Sinn und Form aus dem Jahr 2013 (Fünftes Heft), in der Die Melodika erstveröffentlicht wurde, bezeichnet Ina Hartwig in einem längeren Aufsatz Georg Klein als einen „Vermeidungsartisten“. Doch nicht nur, was gesellschaftlich weithin als hohe Kunst angesehen wird, steht im Zentrum der Erzählungen. In Die lustige Witwe geht es beispielsweise um einen Heimatabend mit deutschem Liedgut in einem Gasthof, und besonders eindrucksvoll werden meisterliche Architektur und Holzschnitzerei in der Erzählung Lindenried einander gegenübergestellt.

Die erste Autobahnkirche in Deutschland

Der verstorbene Onkel des Erzählers hatte als junger Architekt den Auftrag zum Bau der ersten Autobahnkirche in Deutschland erhalten; es blieb der einzige Sakralbau des großen Baumeisters, der „zeitlebens an nichts“ glaubte. Hinweise auf die historisch erste Autobahnkirche – ihre Nähe zur Stadt „A.“ (Georg Klein wurde 1953 in Augsburg geboren), die teilweise parallel zur Autobahn verlaufende Bundesstraße und auch die gemeinsame Endung „-ried“ im Ortsnamen lassen auf die Autobahnkirche „Maria, Schutz der Reisenden“ an der A 8 München–Stuttgart bei der Anschlussstelle Adelsried schließen. Dann aber enden schon die Gemeinsamkeiten zwischen möglichen Kindheitserinnerungen des Autors und der Fiktion.

Architektonisch hat die von Georg Klein ausgedachte Kirche in Lindenried mit der von Raimund von Doblhoff ab 1956 gebauten und im Oktober 1958 geweihten ersten Autobahnkirche nichts gemein. Vom Umbau einer ehemaligen Tankstelle mit denkmalgeschütztem geschwungenem Dach kann bei der tatsächlichen Kirche ebenso wenig die Rede sein wie von den Robinienstämmen, die den Innenraum der fiktiven Kirche gleich Säulen gliedern. Keine Autofiktion lesen wir, sondern eine gelungene Künstlernovelle, bei der es um die Anerkennung des jungen Holzschnitzers durch den erfahrenen Architekten geht.

Ideales Lebensende?

Die Methode, eine konkrete biografische Situation aufzugreifen und sie sehr schnell in pure Phantasie zu verwandeln, wendet Georg Klein auch bei seinem Text Herzsturzbesinnung an. Tatsächlich saß Georg Klein im Januar 2019 in der Akademie der Künste auf dem Podium – anlässlich einer Veranstaltung zum 70-jährigen Jubiläum der Literaturzeitschrift Sinn und Form. Ähnlichkeiten mit den anderen am Podiumsgespräch Teilnehmenden gibt es hingegen nicht, vor allem erlitt niemand auf dem Podium einen „Herzsturz“, wie Georg Klein dieses Phänomen als eine pandemisch sich ausbreitende, unvermittelt auftretende Todesart beschreibt, bei der sich das Herz unblutig und für den Betroffenen schmerzfrei durch die Haut nach außen stülpt und die Wahrnehmung dieses Vorgangs „kaum von einem Magendrücken nach einer überreichlichen Mahlzeit“ zu unterscheiden ist – „ganz zuletzt ein helles Brennen, mittig hinter dem Brustbein.“ Ein aus der Sicht des Erzählenden möglicherweise ideales Lebensende.

Nietzsches „Zeitreisen“

Ein biografischer Ausgangspunkt ist in Georg Kleins Erzählungen nie mehr als ein Ideengeber zu einer sich bald ins Phantastische ausweitenden Geschichte. Die Erzählung A. Zett beginnt mit einem 16-jährigen Gymnasiasten, der 1969 auf einem Friedhof einen älteren Drogenfreak kennenlernt, der lange Passagen aus dem Werk Friedrich Nietzsches aufzusagen weiß, jedoch behauptet, Nietzsche, der die Kunst des Zeitreisens beherrsche, habe sie von ihm übernommen, nicht umgekehrt. Im weiteren Verlauf beweist dieser A. Zett ein erstaunliches Geheimwissen, mit dem er dem Erzähler – nun nicht mehr ganz so jung – immer weitere Zugeständnisse abnötigt. Auf drogenähnliche Erfahrungen spielt auch Die Früchte des zweiten Baumes an. Für eine Halluzination könnte man die bewegte Figur in einer Walnusshälfte halten, Frucht eines Baumes im Garten des Cousins Gunnar. Freilich bietet Georg Klein für solche ins Unwahrscheinliche, ja ins Unmögliche, greifenden Phänomene niemals realistische Erklärungen an. Im Gegenteil, einer seiner Protagonisten wird geradezu wütend, wenn jemand ihm seine Träume „vernünftig“ erklären will – so in Wein und Brot.

Gegen Traumdeutung und Interpretation

In der bereits 2005 in [SIC] – Zeitschrift für Literatur Nr. 1 (Aachen, Berlin) erschienenen Erzählung Wein und Brot besucht ein jüngerer, nicht erfolgreicher Schriftsteller den von ihm verehrten älteren, von seinem Ruhm zehrenden, Kollegen. Der große Literat vertraut ihm einen Traum an, den der übereifrige Verehrer ihm sofort erklären möchte, womit er dem Traum jeden Zauber rauben würde. „‘Unerhört!‘, brüllt ihn der Alte da an und fegt, damit der Gast ja kein weiteres Wort wage, Wein und Gläser vom brotlosen Tisch. Mit einem Schreiberling, der so erbärmlich, der so armselig wenig vom Träumen verstehe, wolle er nichts weiter zu schaffen haben, und er verweist den Adepten für immer des Hauses.“

Georg Klein gehört einer Generation an, in deren Jugend Susan Sontags wirkungsmächtiger Essay Against Interpretation (1964) die Welt der Kunst und die Kunstkritik erschütterte. Susan Sontags Appell, ein Kunstwerk sinnlich zu erfahren und nicht mit den (damals gängigen) Methoden der Kritik und Wissenschaft zu traktieren, und die heftige Reaktion des älteren Schriftstellers in Georg Kleins Wein und Brot auf den allzu sehr Bescheid wissenden jüngeren Adepten könnten gleichermaßen eine Warnung sein, in der Literatur alles erklären zu wollen.

Der Mensch ist genial, wenn er träumt, und Georg Klein hat immer schon eine Liebe zum Surrealen und eine hohe Affinität zum Reich der Träume bewiesen. Wie in allen seinen Büchern kann auch in Im Bienenlicht die Distanz schaffende, nicht alltägliche Sprache, mit der Georg Klein seine Welten baut, genossen werden. Seine Kunst, sich in sicheren Schritten über unsicheres Terrain zu bewegen, ist zu bewundern. Auch aus seinem neuesten Erzählungsband dürften manche Bilder und Stimmungen lange nachwirken.

Georg Klein: „Im Bienenlicht“. Erzählungen. Rowohlt, Hardcover, 240 Seiten, 24 Euro.




Im 100. „Schreibheft“: Vergessene, verkannte, verschollene Autorinnen und Autoren

Kürzlich ist die einhundertste Ausgabe der Literaturzeitschrift Schreibheft erschienen. Zu diesem Anlass hat der Schriftsteller Frank Witzel einen umfangreichen Essay verfasst, mit dem Titel „Von aufgegebenen Autoren – 100 Vergessene, Verkannte, Verschollene“.

Mit einigen der darin auftauchenden Namen erinnert der Autor an die inzwischen 46-jährige Geschichte der Zeitschrift. An Ernst Müller beispielsweise, der nicht nur in der legendären Rowohlt-Reihe das neue buch, sondern auch in den Schreibheft-Ausgaben 18 und 19 (beide aus dem Jahr 1982) veröffentlicht wurde, oder auch an den in ganz frühen Heften mehrfach vertretenen Uli Becker. Ein Wiedersehen mit Emil Szittya gibt es, dessen Buch Das Kuriositäten-Kabinett von 1923 in einer schönen Ausgabe 1979 im Verlag Clemens Zerling neu aufgelegt wurde, von dem sonst aber wenig auf dem deutschen Markt zu haben ist.

Manche Nennungen fordern unser Gedächtnis heraus; an viele aber dürften auch die langjährig Lesenden sich nicht erinnern, soweit sie die Namen überhaupt jemals gehört haben. Das sind keineswegs solche Autorinnen und Autoren, die sich mit ihren Texten zeitlebens bei einer Vielzahl von Verlagen erfolglos beworben haben; keine dritte, vierte oder noch niedrigere Liga aus der Schar der kreativ Schreibenden. Frank Witzel nennt ausschließlich einzigartige Autorinnen und Autoren, die aus verschiedensten oder aber aus unersichtlichen Gründen nicht zum verdienten Erfolg gelangten, beziehungsweise nach einer kurzen Zeit relativer Bekanntheit wieder in Vergessenheit gerieten. Gleichwohl bleibt die Frage nach dem Warum beim Autor wie bei uns staunend Lesenden im Raum.

Größenwahn oder falsche Bescheidenheit

Einige der hier vorgestellten Autorinnen und Autoren dürften an den eigenen Ansprüchen gescheitert sein. Sei es, dass die gefühlte Größe nicht mit den sichtbaren literarischen Hervorbringungen korrespondierte; oder sei es, dass es schlicht an Durchsetzungswillen haperte, der für den erfolgreichen Kunstschaffenden ebenso wichtig ist wie sein schriftstellerisches Talent. Gigantomanie und falsche Bescheidenheit können gleichermaßen dem Erfolg im Wege stehen.

Manchen der im Dossier Genannten mochte das Realistische immer einige Nummern zu klein erschienen sein. Die bei Verlegern beliebte Ablehnungsbegründung – „genial, aber leider völlig unverkäuflich“ – könnten einige dieser Hundert als durchgehendes Thema in verschiedenen Variationen zu hören bekommen haben. Wenn ihnen nicht gar offenes Misstrauen entgegenschlug, wie im Fall von Jaron Kohler, dessen konzeptionell angewandtes Schreiben in den frühen 1990er Jahren in 25 „Selbstauskünften“ darin bestand, vermeintlich eigene Werke zu beschreiben und zu analysieren, die als solche nicht existierten. Mit Anschuldigungen konfrontiert, wollte er den Beweis der Echtheit seiner Werke nachreichen, was dann aber zu dauerhaftem Verstummen führte.

Selbstaussagen zur eigenen Erfolglosigkeit

„Die Dunkelziffer derer, die schreiben oder einmal geschrieben haben, ohne je etwas zu veröffentlichen, und von denen nie jemand etwas erfahren wird, weil sie ihre Werke niemandem zeigen und rechtzeitig für deren Vernichtung sorgen, ist groß“, vermutet Frank Witzel und weist auf den Versuch einer wissenschaftlichen Ursachenforschung hin. Der Herausgeber der Untersuchung Abfertigung – Was die Umsetzung von Ideen verhindert (2014), Jan Hettinger, gibt sich selbst als „gescheiterter Romancier“ zu erkennen und interviewt siebzehn Personen, bei denen er eine ähnliche Problematik annimmt. Zwei seiner Interviews aus dem Band werden im Schreibheft gekürzt wiedergegeben. Die 37-jährige Germanistin Carol Meyerhuth aus Düsseldorf sagt über sich aus, dass es ihr nicht an Arbeitseifer mangele, sie vermute vielmehr, „dass es dieser Arbeitseifer ist, der den Abschluss eines Werks verhindert.“ Dabei scheint sie es ohne Verbitterung ertragen zu können, wenn ihr größere öffentliche Anerkennung versagt bleibt.

Kunst und Gesellschaft

„Vielleicht hat Kunst nie etwas mit Gesellschaft zu tun gehabt; vielleicht war sie immer nur Ausdruck der Panik, daß man es immer nur mit sich selber zu tun hat“, notierte Wilhelm Genazino am 8. September 1985 (nachzulesen in: Wilhelm Genazino „Der Traum des Beobachters. Aufzeichnungen 1972–2018“; Hanser München 2023). Unter den in Frank Witzels Essay mit ausführlichen Leseproben wiedergegeben Autorinnen und Autoren sind einige, die weder den Hallraum eines großen Publikums suchen noch sich in Konkurrenzsituation begeben möchten. „Der Geist entwickelt sich nur allein, nur dort, wo er sich nicht ständig messen muss“, schreibt der 1927 in Hannover geborene Friedrich Ellmenbeck, einer der 100 ausgewählten Autoren.

Manche ziehen sich bewusst und willentlich zurück, denn die Aussicht auf Erfolg kann auch Ängste hervorrufen. So mutmaßt Frank Witzel etwa im Zusammenhang mit dem ihm aus frühen Jahren bekannten „genialischen Dichter“ Erwin Kliffa, mit dem er ein gemeinsames Projekt begonnen und der sich trotz einer realen Publikationsmöglichkeit daraus zurückgezogen hat, dass dieser den letzten Schritt der Veröffentlichung scheute – „Nicht allein aus der Angst heraus, dass nun die eigene Arbeit bewertet wird, sondern im Bewusstsein, dass die Unschuld des Für-sich-Schreibens und damit auch des Vor-sich-Hinschreibens ein für alle Mal verloren ist.“

Vertraue Innen- und kritische Außenwelt

Unter den im 100. Schreibheft auftauchenden Unbekannten sind einige, denen die Notwendigkeit täglichen Schreibens vertrauter gewesen sein dürfte als das Bedürfnis, etwas davon vorzuzeigen. Was nicht bedeutet, dass sie ihr Schreiben als ein bloßes Steckenpferd ansahen. Es sind Autorinnen und Autoren, die eher in eine Literaturgeschichte gehören als auf den Markt. Damit sind sie im Schreibheft an einem guten Platz, fügen sich doch die bisher erschienenen hundert Hefte zu einer besonderen Geschichte der Gegenwartsliteratur zusammen.

In guter Gesellschaft

Große Namen, die keineswegs vergessen sind, blinken – nicht unter den Hundert, aber in den Erklärungsversuchen – als Leuchtfeuer auf: Wolfgang Koeppen, der mit seinem über vierzig Jahre hinweg immer wieder angekündigten letzten Werk nicht fertig wurde, Wolfgang Hildesheimer, der mit dem Schreiben aufhörte (ergänzt werden könnte auch Reinhard Jirgl), der lange Zeit unterschätzte Ludwig Hohl, und nicht zuletzt Samuel Beckett, der so gekonnt zu scheitern verstand, dass er dafür die höchste Auszeichnung erhielt, die für Literatur vergeben wird, den Nobelpreis, was aus seiner subjektiven Sicht wiederum die schlimmstmögliche Katastrophe war.

In einem Interview sagte Wolfgang Koeppen: „Das Schreiben, um das es hier geht, ist keine Frage der Erwägung, der Marktanalyse, der Berechnung, der Erfolgsaussicht. Dieser Schriftsteller kann nur sein, was er ist, er selbst, er kann nur schreiben, wie er schreibt, das ist ein Zustand, keine Wahl…“ (nach: Wolfgang Koeppen – Gespräche und Interviews. Werke, Band 16; hrsg. Von Hans-Ulrich Treichel; Suhrkamp Verlag; vgl. auch Revierpassagen am 12.04.2019).

Der Zufall möglicherweise

Frank Witzel weist darauf hin, wie subjektiv seine Zusammenstellung geraten ist und dass es zu anderen Zeiten auch andere Namen hätten sein können. Jedem fallen wohl Schriftstellerinnen und Schriftsteller ein, die man selbst gern zu den Vergessenen rechnen würde. Keine „Gegengeschichte“ der Literatur strebt Witzel mit seinem fast 130-seitigen Essay an: „Mit meiner rein subjektiven Sammlung möchte ich meinem Erstaunen Ausdruck geben, von wie vielen Zufällen, seien sie persönlich oder zeithistorisch, es abhängig ist, ob ein Werk bekannt und rezipiert wird.“ Sein Essay „will deshalb auch nichts anderes sein als ein mit einhundert Beispielen unterstützter Hinweis auf eine literarische Welt, von der wir wenig wissen und manchmal noch nicht einmal etwas ahnen.“

So gerät das Schreibheft-Dossier vielleicht zu einer Art Trost-Büchlein für die weit mehr als hundert Vergessenen, Verkannten und Verschollenen, die auch in diesem verdienstvollen Beitrag nicht auftauchen und die gegenüber den Anerkannten und hinreichend Gewürdigten in der Überzahl sein dürften. Doch Vorsicht: Es gilt zu unterscheiden zwischen denen, die verkannt oder vergessen wurden, und denen, die literarisch wirklich schlecht sind. Aber solche findet man schon sehr, sehr lange nicht mehr im Schreibheft.

Eine Typologie bedeutender Unbekannter

Subtil zeichnet sich in Frank Witzels kluger Zusammenstellung so etwas wie eine Typologie verschiedener großer Unbekannter ab. Manche der Topoi tauchen bei ganz unterschiedlichen Schriftsteller-Persönlichkeiten auf: Das stille Wirken abseits des Marktes etwa, oder die Vermeidung von Rivalität; die Einsicht, dass das Schreiben nie an ein Ende gelangt, verbunden mit einem Hang zum offenen, sich stets verändernden und prinzipiell nicht abschließbaren Lebenswerk.

Viele der Selbstaussagen und Charakteristiken der 100 im Dossier vorgestellten Autorinnen und Autoren passen perfekt zum Schreibheft. „Kommerzielles bitte an einen Publikumserfolgsverlag einsenden!!!“, stand bereits in der ersten Ausgabe, die im März 1977 erschienen ist. Über die Jahrzehnte hinweg widmete sich die Zeitschrift solcher im Grunde unverkäuflichen Literatur. Was nicht heißen soll, dass sich nicht auch das Schreibheft erfolgreich in der deutschsprachigen Literaturlandschaft behauptet hätte. Selbstverständlich kann man die einzelnen Ausgaben kaufen und besser noch das Schreibheft als Ganzes abonnieren. Etwa ab dem Heft 18 mit Norbert Wehr als alleinigem Herausgeber nähert sich das Periodikum der Form an, die es spätestens mit Heft 22 (1983) gefunden hat (die Hefte 22–50 sind 1998 auch im Reprint bei Zweitausendeins erschienen). Ein Kosmos für sich, mit einem stets sich erweiternden Kreis von Autorinnen und Autoren, stellt die Zeitschrift in ihrer Gesamtheit gleichsam ein Kompendium der anspruchsvollen und innovativen Gegenwartsliteratur dar, ihre frühen Wegbereiter eingeschlossen.

Singuläre Autorin: Marianne Fritz

Traditionell stellt jedes Schreibheft eine sorgfältig ausgetüftelte Komposition aus zwei oder drei Themenschwerpunkten und einigen weiteren passenden Texten dar. So auch das 100. Heft. Frank Witzels langer Essay stimmt uns gut auf das in derselben Ausgabe folgende Dossier zu der österreichischen Extremautorin Marianne Fritz (1948–2007) ein. Nach literarischen Großprojekten, wie das mit dem Arbeitstitel Die Festung, oder der zwölfbändige Roman Dessen Sprache du nicht verstehst (1985), mit dem sie, ausgehend vom Jahre 1914, hunderten ausschließlich dem Proletariat zugeordneten Haupt- und Nebenfiguren eine eigene Sprache gibt und sich von der „offiziellen“ Geschichtsschreibung absetzt – und erst recht durch ihre in den folgenden Jahren entstandenen Arbeiten „Naturgemäß I, II und III“ ließe sich die Autorin gut in die im vorausgegangen Dossier beschriebenen Schriftstellerbiographien einreihen.

Schon die Einzeltitel des 1996 in fünf Bänden erschienenen Werkes Naturgemäß I: Entweder Angstschweiß / Ohnend / Oder Pluralhaft lassen eine Lektüre fernab der Bestsellerlisten erwarten. Doch Marianne Fritz, deren Bücher ab 1978 im Verlag S. Fischer und ab 1985 bis zu ihrem Tod bei Suhrkamp erschienen sind, kann man schwerlich als eine vom Literaturbetrieb Verkannte bezeichnen; gleichwohl droht ihr das Vergessenwerden, würde nicht eine Zeitschrift wie das Schreibheft – nun über einen längeren Zeitraum bereits zum dritten Male – an sie erinnern. In den 1990er-Jahren wurden die ersten beiden Teile der auf drei Abteilungen angelegten Riesenarbeit „Naturgemäß I, II und III“ als Faksimile des Typoskripts veröffentlicht, das die wechselnden Schriftbilder, Karten, Formeln und Randnotate wiedergibt, sodass der dem Satiremagazin Titanic nahestehende Schriftsteller Gerhard Henschel urteilte: „Wer ‚Naturgemäß II‘ lesen möchte, muß die Bände drehen wie ein Lenkrad.“

Erstaunliche Materialfülle

Naturgemäß III, ein Werk, das Marianne Fritz nicht mehr beenden konnte, gibt es seit 2011 auf der Seite www.mariannefritz.at in einer Online-Fassung. Im zweiten Dossier des 100. Schreibheft setzen sich Kennerinnen und Kenner ihres Werkes mit der singulären Wiener Autorin auseinander. Lesenswert! Ebenso wie zwei Beiträge am Ende des Heftes, die angesichts der Materialfülle fast unterzugehen drohen: Esther Kinskys Rede zum Kleist-Preis und Hervé Le Telliers Text zu drei „Begegnungen“ mit Italo Calvino, dem zum Autorenkreis Oulipo (Ouvroir de littérature potentielle) gehörenden Klassiker der Postmoderne. Vielleicht enthält jedes Schreibheft einfach zu viel des Guten.

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Veranstaltungshinweis:

SCHREIBHEFT, ZEITSCHRIFT FÜR LITERATUR – DIE 100. AUSGABE. Ingo Schulze im Gespräch mit Frank Witzel und Norbert Wehr über 100 vergessene, verkannte und verschollene Autoren; Donnerstag, 16. März 2023, 19.30 Uhr, im LeseRaum in der Akazienallee, Essen (gegenüber Akazienallee 8-10).




Wie ein Fluss ohne Ufer: Ulrike Anna Bleiers Roman „Spukhafte Fernwirkung“

Ulrike Anna Bleiers Roman Spukhafte Fernwirkung entfaltet ein Panorama der gegenwärtigen Gesellschaft. Es können zweihundert Personen sein, von denen wir etwas erfahren, vielleicht sind es mehr, vielleicht weniger. Ungeheuerliches wird erzählt, ein Amoklauf in einem Einkaufszentrum, eine fragwürdige, aber medienwirksame Geiselnahme in einer Zeitungsredaktion, es werden Pistolen und MPs herumgetragen und benutzt, eine Frau begegnet ihrem Stalker wieder, der ihr die Karriere als Schauspielerin versaut hat, eine Schiffskatastrophe mit Todesopfern wird geschildert, Auto- und Bahnunfälle und anderes von großer Tragweite.

Menschen in alltäglichen Berufen und ohne Beruf, Menschen am Rande der Gesellschaft wie Silvana, die keine Beine hat, auf der Straße sitzt und hyperbolische Räume häkelt; ein Mensch wie Erika, die beim Fernsehen kluge Gedanken zum Verhältnis von Dingen und Menschen in Werbespots und Vorabendfilmen anstellt; oder Irma, die um ihre Weiterbeschäftigung in der Redaktion einer Lokalzeitung bangt und Angst vor Konferenzen hat. Aber manchmal geht es auch um eine Katze, einen Hund mit gelben Augen, zwei Esel oder einen Fuchs.

Unhierarchisches Nebeneinander

Ein Roman des Nebeneinander; es sind Einzelschicksale, aus denen sich unsere Gesellschaft zusammensetzt, deutlich mehr als die wenigen exemplarischen Protagonisten, mit denen Romane normalerweise aufwarten. In Spukhafte Fernwirkung gibt es keine Heldinnen und Helden; es ist ein Anspruch der Autorin, so zu erzählen, dass keine Hierarchien entstehen, keine Person, keine Handlung wichtiger als eine andere ist. So erscheint das Außerordentliche unspektakulär, während andererseits Alltägliches zu einem staunenswerten Ereignis werden kann. Mathildas Interesse an Kernphysik nimmt ihren Ausgang in einer Shopping Mall, durch den eher zufälligen und etwas ratlosen Kauf einer Tasse, deren Dekor ein Atommodell aufweist. Die mit einem Gutschein erworbene „Thementasse“ wird Mathilda später zum Anlass nehmen, nach Genf zu fahren, um das CERN zu besichtigen.

Nicht-Orte und das Dazwischen

Mit der Figur der Mathilda, aber nicht nur durch sie, kommen zwei der bevorzugten Schauplatzarten des Romans zusammen, Einkaufszentren und Verkehrswege – „Nicht-Orte“ und das Dazwischen. In ihrem Blog WHEREAMiNOW hat sich die Autorin mit dem kanadischen Geographen Edward Relph beschäftigt, der in seinem 1976 erschienenen Buch Place and Placelessness die Frage erörtert, was Orte (places) und Räume (spaces) sind, und was Ortlosigkeit (placelessness) bedeutet; ebenso mit Marc Augés Begriff der Nicht-Orte (non-lieux; 1992), der auf die bereits von Michel Foucault formulierte „Heterotopie“ zurückgreifen konnte. Shopping Malls, Autobahnen, Busbahnhöfe oder Krankenhäuser sind auch bevorzugte Schauplätze und Themen in Ulrike Bleiers Roman.

Rätselhafte Verschränkungen

In Jim Jarmuschs Film Only Lovers Left Alive (2013) sagt die von Tilda Swinton verkörperte Vampirin zu ihrem Mit-Vampir Adam: „Erzähl mir von der Verschränkung und von Einsteins spukhafter Fernwirkung.“ Ulrike Anna Bleier kommt diesem Wunsch auf ihre Weise nach. Freilich kann auch sie das von Albert Einstein entdeckte Rätsel der „Spukhaften Fernwirkung“, der Verschränkung von nicht kausal erklärbaren und somit wissenschaftlich überhaupt unerklärlichen Phänomenen, nicht begründen. Einstein, der den Begriff prägte, schrieb in einem Brief an Max Born vom 3. März 1947, er könne an eine solche spukhafte Fernwirkung nicht ernsthaft glauben. Immerhin wurde für Experimente mit verschränkten Photonen in diesem Jahr (2022) der Nobelpreis vergeben – für Physik, nicht für Literatur. Ohne esoterisch daherzukommen, gibt es in Ulrike Bleiers Roman immer wieder Momente, die eine solch spukhafte Fernwirkung nahelegen. Wird in Bleiers Roman aber Physik verhandelt, Teilchenphysik, Astrophysik, ist sie stets so geerdet wie Mathilda mit ihrer Teetasse oder Silvana mit den gehäkelten hyperbolischen Räumen.

Raum und Zeit

Der Roman ist in acht Teile gegliedert, deren Namen wie „Mit der Zeit“, „Bahnen“, „Gegen den Raum“, „Weltlinien“ oder „Freie Weglängen“ andeuten, dass Raum und Zeit hier große Themen sind. Im ersten Teil („Mit der Zeit“) ist die Angabe der Uhrzeit über die einzelnen, meist kurzen Texte gesetzt, sie sind jedoch nicht streng chronologisch angeordnet. In einem Liveticker aus der Zeitungsredaktion, in der Irma arbeitet, lesen wir – dem Gesetz solch eines Tickers gemäß – die neueste Meldung zuerst und erfahren dann erst nach und nach ihre Vorgeschichte.

Im Kapitel „Bahnen“ befinden sich Kilometerangaben über den einzelnen Texten, aber auch diese Zahlen sind nicht fortschreitend angeordnet. Als bildete die gegen die „Lokalität“ – der Grundannahme der klassischen Physik, nach der Vorgänge unmittelbare Auswirkungen nur auf ihre direkte räumliche Umgebung haben – verstoßende Quantenmechanik eine Art Hintergrundstrahlung. Im Umgang mit der Zeit könnte die Autorin ein anderes bekanntes Zitat Albert Einsteins illustrieren wollen: „Der Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist für uns Wissenschaftler eine Illusion, wenn auch eine hartnäckige.“

Ohne äußeres Ordnungsgerüst

Mit dem äußeren Gerüst der Einteilung des Romans in Kapitel (oder Teile) und Überschriften zu den kurzen Texten scheint die Autorin mit dem Bedürfnis der Welt nach Ordnung ihr Spiel zu treiben. So sind beispielsweise im Teil 2 („Reset“) über die Texte mathematische oder physikalische Formeln und kryptische Zeichen gesetzt, die teilweise dem Nicht-Experten unmittelbar einleuchten, zum Teil aber auch physikalische Kenntnisse oder aber eine Liebe zu pataphysischen Scheinlösungen voraussetzen. Wie zum Beweis, dass sie auch ohne ein äußeres Ordnungsgerüst auskommt, fügt die Autorin zwei Teile ohne Zwischenüberschriften ein, die ebenfalls sehr gut funktionieren: Teil 4, der „Gegen den Raum“ bezeichnet ist, und den achten Teil, dem das mathematische Unendlichzeichen, die „liegenden Acht“ voransteht.

Doch alle acht Teile – ob mit oder ohne Überschriften – beweisen die innere Harmonie des gesamten Romans, wunderbare Wechselspiele, verblüffende Korrespondenzen; sie zeigen, wie sehr die Autorin ihren Figuren und der Kraft ihrer eigenen Sprache vertrauen darf. Erscheint die Anordnung der einzelnen Geschichten mitunter willkürlich – sie gehören doch zusammen wie die Wörter auf einem Zettel, der in einem Einkaufswagen im Supermarkt liegen geblieben ist. Mögen die Leserinnen oder Leser ein Kochrezept daraus ableiten. Bei Spukhafte Fernwirkung lohnt sich detektivisches Lesen ganz besonders; es gibt in dem Buch viel zu entdecken.

Einordnung

Auch wenn der Roman den Wunsch nach Festlegung immer wieder lustvoll zu hintertreiben scheint, soll hier eine kurze Einordnung versucht werden, mit was für einer Art Roman wir es zu tun haben. Vorweggenommen: Das Buch ist unvergleichlich und ihre Autorin sehr erfinderisch. Andere Romane mögen ihre Wirkung daraus beziehen, dass die Lesenden einer Romanfigur über eine längere Strecke folgen, Empathie empfinden oder sich gar teilweise mit ihr identifizieren. Bei U. A. Bleiers Figuren ist Identifikation gar nicht nötig, um das Interesse über 410 Seiten wachzuhalten. Das schafft die Autorin mit ihrer Sprache. Die Figuren werden von außen betrachtet; es gibt keine Erzählerin, die sich in ihre Gedanken einschleichen würde, es wird nicht personal erzählt. Zeitweise nimmt die Erzählerin eine geradezu olympische Position ein, etwa wenn sie in die Zukunft blickt und weiß, wie lang eine Person eine andere überleben wird. Die Figuren sind kaum durch eigene Sprechweisen unterschieden – außer vielleicht Irma.

Es ist kein psychologisierender Roman; ist es ein soziologischer Roman, ein Gesellschaftsroman? Vielleicht, jedoch fern des Naturalismus; keine Studien prekärer Lebensverhältnisse, wenngleich manche der Figuren sich in solchen befinden. Wo hätten wir in der Literaturgeschichte schon einmal Vergleichbares gelesen? In John Dos Passos‘ Manhattan Transfer (1925) vielleicht, der ebenfalls ein breites gesellschaftliches Panorama entwickelt – in diesem Fall der Großstadt New York? Ulrike Anna Bleier hat im Vergleich dazu die Figurenvielfalt bei weitem gesteigert und fokussiert weniger einzelne Schicksale; außerdem lässt sie sich keineswegs auf ein Generalthema festlegen – wie bei Dos Passos etwa das Leiden seiner Figuren unter dem Moloch Manhattan. Bleiers Ort Lasslingen ist universell, und das Dazwischen, die Wegstrecken, die „Nicht-Orte“, sind mindestens ebenso wichtig.

Keine bekannten Muster

Was andere Autorinnen und Autoren als dramatische Höhepunkte präsentiert hätten, passiert bei U. A. Bleier fast nebenbei, als ginge es weniger um die Geschichten als um das Universum, in dem sie spielen. Keine Romanhandlung, die zielgerichtet wäre, keine Spannungsbögen, keine plot points wie in einem Drehbuch; man kann die Stories weder als „character driven“ noch als „plot driven“ bezeichnen; sie sind so ganz ohne die gängigen Konstruktionsanleitungen für einen „verdammt guten“ Roman geschrieben und fügen sich dabei doch zu einem verdammt guten Roman zusammen, ja, zu einem Ausnahmewerk. In der Epoche des Sturm und Drang hielt man für Autoren, die sich über jegliche Regelpoetik hinwegsetzten und dabei Außerordentliches zustande brachten, den Begriff des Originalgenies bereit. Den dürfte die Autorin Ulrike Anna Bleier allerdings nicht auf sich beziehen wollen, schon aus Skepsis gegenüber (meist maskulin konnotierter) Selbstherrlichkeit. Überhaupt müsste man auf Pathos verzichten, um der Autorin gerecht zu werden, denn Pathos passt nicht zur Sprache ihrer bisher erschienenen drei Romane. Der Modus, in dem hier erzählt wird, ist nüchtern, ohne langweilig, lakonisch, ohne zynisch zu sein, und erzeugt dabei einen Sog, der die Lesenden in das Buch hineinzieht.

Kühne Sätze klingen nach Freiheit

Aber lassen wir doch die Autorin endlich selbst zu Wort kommen. Welches der zahlreichen Beispiele ihres Stils sollte man da wählen? Vielleicht gleich eines aus den ersten Seiten: Einmal sagt Marius, was wolltest du eigentlich sagen heute Morgen, wieso was, sagt Irma, und Marius, vorhin in der Konfi, meine ich, ich meine, hattest du einen Vorschlag, war nicht, sagt Irma dann, so wichtig, und Marius schaut sie komisch an, von der Seite her, und Irma registriert es, aber tut so, als habe sie es nicht, auch für sich selber hakt sie es ab, und auch das registriert sie. (S. 19/20)

Bei Ulrike Bleier klingen grammatisch kühne Sätze nach Freiheit und nach Emanzipation von vorgegebenen Ausdrucksmitteln. Missachtung guter Ratschläge zum Verfassen verdammt guter Romane, wie sie die Schreibschulen im Dutzendpack liefern, ist aber noch lange kein Garant für ein außergewöhnliches Werk. Etwas Wesentliches muss hinzukommen. Aber was? „Wenn manche mystische Kunstliebhaber, welche jede Kritik für Zergliederung, und jede Zergliederung für Zerstörung des Genusses halten, konsequent dächten: so wäre Potztausend das beste Kunsturteil über das würdigste Werk. Auch gibts Kritiken, die nichts mehr sagen, nur viel weitläuftiger“, schrieb Friedrich Schlegel im 57. seiner Kritischen Fragmente.

Über einen Platz in der Literaturgeschichte entscheiden weder Kritiker noch hohe Verkaufszahlen (die der Autorin und dem mutigen lichtung verlag aus Viechtach allerdings zu wünschen wären). Literaturwissenschaftler erkennen den Rang eines Werkes meistens erst mit jahrzehntelanger Verspätung. Sollte Spukhafte Fernwirkung aber vergessen oder übersehen werden – umso bedauerlicher für die Literaturgeschichte.

Der Roman ist ein Fluss ohne Ufer, der in alle Richtungen weiterlaufen könnte; ein Anschreiben gegen jede Festlegung und eine Feier des fließenden Lebens. Die Texte könnten ohne die Buchdeckel (Hardcover), die es begrenzen, fortgesetzt werden. Ein offenes, endloses Schreiben. Potztausend ist so überhaupt kein Wort, das auf Ulrike Anna Bleiers Roman passen würde. Aber mit einem modischen „Wow!“ möchte man ihn ebenso wenig abspeisen. In ihrer Sprache ist Ulrike Anna Bleier auf der Höhe der Zeit. Wäre doch nur unsere Zeit auch auf ihrer Höhe.

Ulrike Anna Bleier: Spukhafte Fernwirkung. Roman, lichtung Verlag, Viechtach, 2022, Hardcover, 416 S., 24 Euro.




Bleibt geheimnisvoll: Georg Kleins Roman „Bruder aller Bilder”

Wer anhebt, einen Mystery-Roman zu lesen, erwartet nicht die Auflösung eines Rätsels. In diesem Genre wirken in der alltäglichen Welt geheimnisvolle Kräfte; manche Figuren sind mit der Fähigkeit ausgestattet, sich in das Innere einer anderen Seele einzuschleichen; mitunter besucht der Tod höchstpersönlich die Akteure, führt sie in Zwischenreiche, in denen sich die Lebenden von den Toten nicht immer unterscheiden lassen. Wer Mystery-Romane liest, möchte die Grenzen des Verstehens ausloten und ist geneigt, sich mit dem Unvorstellbaren anzufreunden.

Selbstverständlich schreibt Georg Klein keine Genre-Literatur, er hat sich in der Vergangenheit aber immer wieder Themen und Formen unterschiedlicher Gattungen bedient, um sie in die Hoch-, und es wäre nicht übertrieben, von Höchstliteratur zu sprechen, einzuspeisen. Er beherrscht das Spiel mit Genres wie dem Agentenroman (Libidissi, 1998), der Detektivgeschichte (Barbar Rosa, 2001), dem Horrorroman (Die Sonne scheint uns, 2004), dem Arztroman (Sünde Güte Blitz, 2007), der Science-Fiction (Die Zukunft des Mars, 2013, und Miakro, 2018).

Sein neuestes Werk Bruder aller Bilder dürfte auch ein Stück weit als Heimatroman durchgehen. Wird der Name der Stadt im Roman zwar nicht genannt, gehört seine Identifizierung doch nicht zu den vielen großen und kleinen Rätseln, mit denen das Buch aufwartet. Durch detailreich beschriebene und benannte Schauplätze wie das inzwischen unter Denkmalschutz gestellte Rosenaustadion oder der Siebentischwald am Stadtrand lässt sich Georg Kleins Geburtsstadt deutlich erkennen – wenn auch, wie schon in seinem Roman unserer Kindheit (2010), stellenweise ins Surreale verzerrt, ins Phantastische gesteigert.

Vom Vertrauten ins nicht mehr Vertraute

Zunächst holt uns der Autor in einer leicht nachvollziehbaren Situation ab. Moni, eigentlich Monique, doch diesen Namen überlässt sie gern ihrer Katze, hat ein Praktikum bei einer Lokalzeitung absolviert und daraufhin ihren ersten Ein-Jahres-Vertrag erhalten. Ihre Artikel in der Allgemeinen zeichnet sie mit dem Kürzel MoGo, und so nennt sie auch der Autor. Das Ressort, in dem sie eingesetzt wird, hat jüngst eine Erweiterung erfahren, die etwas an die Unart erinnert, mit der verschiedene deutsche Landesregierungen das Wort „Kultur“ in einem Ministerium einbetten, in diesem Fall heißt das Ressort „Sport, Kultur und Leben“. Gerade der letzte Begriff bereitet dem Redakteur Kopfzerbrechen, und MoGos Artikel über Trachtenmode verheißt ihr eine Chance auf eine längerfristige Einstellung. Zuvor wird sie aber von einem größeren Platzhirsch des Blattes, dem allseits beliebten Sportreporter Addi Schmuck, fünf Tage gebucht, für einen Auftrag, dessen Ziel unbekannt bleibt. Soweit die überschaubare Ausgangssituation. Aber wohin wird der Autor uns Lesende und seine Protagonistin MoGo führen? Das lässt sich auch nach zweihundert Seiten keineswegs absehen.

Eine Halle am Stadtrand

Geheimnisvoll wird es schon bald, wenn Addi Schmuck die junge Kollegin zu einer Halle am Stadtrand mitnimmt, wo er sie einem Mann vorstellt, der ebenso wie Addi bereits „ein arg abschüssiges Alter“ erreicht hat. Sein Name wird ihr und uns Lesenden vorenthalten; Addi nennt ihn den „Auskenner“, aber auch diese Bezeichnung sollte MoGo besser nicht in seiner Gegenwart benutzen. Womit er sich auskennt? Unter anderem mit Tauben, Fledermäusen, Eulen, Ulmen, Fernbedienungen, Münztelefonen; doch darin allein, vermuten wir bei fortschreitender Lektüre, kann sich sein legendärer Ruf als „Auskenner“ nicht erschöpfen. Über Militärstiefeln, die er offen und ohne Socken trägt, folgt eine dreiviertellange Lederhose, und zum Ausgehen zieht er über das weiße Unterhemd eine alte Fliegerjacke mit pelzverbrämtem Kragen. Seine „erst in wenigen Strähnen graumelierte, fahlblonde Mähne“ korrespondiert „auf eine schwer durchschaubare, irgendwie untergründig verwandtschaftliche Weise“ mit Addis „bis an die Grenze der Kahlheit geschorenem Schädel.“ Die hier nur angedeutete Verwandtschaft konkretisiert sich im Verlauf der Handlung durch eine gegenseitige Anrede mit „Bruder“ und „Brüderchen“. Ist der Auskenner der Bruder, den wir im „Roman unserer Kindheit“ als einen begnadeten Witzeerzähler kennenlernen durften?

Schweigsame Protagonistin

Während sich die beiden Männer unterhalten und immer wieder ins Englische wechseln, um sich gegenseitig Titel und Zeilen aus älteren Songs, beispielsweise der Beatles oder der Doors, zuzurufen, sind MoGos Gedanken woanders. Überhaupt redet sie im gesamten Roman so wenig, dass der Rezensent irgendwann zurückblättert, um sich ihrer Sprechfähigkeit zu vergewissern. Doch, ja, sie hat ihren Nachbarn – in wörtlicher Rede wiedergegeben – nach der Uhrzeit gefragt. Aber meistens erraten die sie umgebenden Menschen ihre Gedanken, auch ohne dass sie etwas aussprechen muss. Das gilt nicht nur für Addi und den Auskenner; auch Frauen wie die Eigentümerin der Allgemeinen (mit einem Namen scheinbar adeliger Herkunft), die stets gut informierte Redaktionssekretärin Elvira Küppers oder MoGos vor kurzem gestorbene Mutter scheinen immer zu wissen, was gerade in ihrem Kopf vorgeht.

Elemente der Gattungen Horror und Mystery

Verschiedene aus Filmen und Literatur bekannte Elemente der Gattungen Horror und Mystery weiß Georg Klein für sich zu nutzen. Da wäre zunächst die Albtraumbegabung der Protagonistin; ferner die den Menschen oft aggressiv begegnenden Vögel, seit je geheimnisvolle Wesen zwischen Himmel und Erde; Maisfelder etwa sind in Horrorfilmen Legion, und ein solches steuert auch in Bruder aller Bilder teilweise die Geschicke von Verkehrsteilnehmern; manchmal trennt nur ein Vorhang die für wirklich gehaltene Davor-Welt von der Twilight Zone dahinter – so auch in der vom Auskenner bewohnten Halle.

Wie Addi und der Auskenner in Zitaten reden, möchte der Rezensent bei seiner Lektüre dem Autor permanent Filmtitel zurufen, etwa Wait Until Dark, wenn beispielsweise in der finsteren Halle, deren Lichtschalter die Protagonistin nicht findet, das Licht aus dem Kühlschrank als einzige Beleuchtung dient. Doch Georg Klein inszeniert, wie wir es von ihm kennen, stets seinen ganz eigenen Carnival of Souls. Der Autor verfügt über subtile Mittel, seine Leserinnen und Leser auf die Folter zu spannen.

Immer wieder Medien

In seinem Werk spielen immer wieder Medien – zunächst in einem technischen Sinne – eine wesentliche Rolle. In Bruder aller Bilder sind sowohl Addi als auch der Auskenner von mehreren ausrangierten Kommunikationsmedien umgeben, wie einem Münzfernsprecher aus einer längst demontierten Telefonzelle, einem Anrufbeantworter mit Magnetband-Kassetten, einem Videorekorder oder einem klotzigen Röhrenfernseher. In der vom Auskenner ausgebauten Wohnhalle gibt es keinen Mobilfunkempfang, was von seinem Bewohner eher als ein Segen denn als Manko empfunden wird. Auf der 2007 von Thomas Böhm und Klaus Sander aufgenommenen Doppel-CD Schlimme schlimme Medien (supposé Verlag) äußerte sich Georg Klein über die „Unkontrollierbarkeit des Telefons“: „Ich halte es für möglich, dass aus dem Telefon das absolut Unerwartete kommt, und wenn ich jetzt das Telefon abhebe, und es würde sich zum Beispiel eine verstorbene Person melden, ich glaube nicht, dass ich wirklich überrascht wäre.“ In seinem neuen Roman ist es eine gläserne Fernbedienung, über die eine ähnliche Kontaktaufnahme erfolgt.

Der „dichte Film“

Der Auskenner erweist sich als äußerst hilfreich in der Handhabung des Mediums, das MoGos Mutter den „dichten Film“ nennt. Georg Kleins Leserinnen und Leser könnten sich an das „weiche Glas“ der Bildschirme erinnert fühlen, in denen die Männer im „mittleren Büro“ des Romans Miakro ihr Weltwissen ertasten. Vielleicht gleicht der „dichte Film“ auch der „Hefeseele“, dem Teig, der nie tot sein darf, aus der von Addi Schmuck bevorzugten Bäckerei, in der MoGos lange vor der Mutter verstorbener Vater seine Meisterschaft unter Beweis gestellt hatte.

Neben- oder Miteinander der Toten mit den Lebenden

Unaufgeregt emotional baut der Autor seinen bilderreichen Roman auf; eine Erzählweise, die eine Stimmung beschreibt, mehr als dass sie nach thematischer Einheit sucht. Georg Klein benötigt dazu nicht die Handlungsspannung eines Thrillers oder Horrorfilms. Die energetische Aufladung speist sich aus anderen Quellen und entlädt sich beispielsweise bei der Übergabe eines Schlüssels in der legendären Backstube. In seinem Tanz der toten Seelen gibt es nicht das Böse, das bekämpft und besiegt werden muss; kein Tontaubenschießen auf Zombieköpfe. Erst recht nicht geht es – wie beispielsweise im Krimi – darum, eine kurzfristig aus den Fugen geratene Ordnung am Ende wiederherzustellen. Es herrscht vielmehr ein eher einvernehmliches, wenn auch oftmals mit beträchtlicher Verstörung oder zumindest mit einem gewissen Fremdeln sich vollziehendes Neben- oder Miteinander der Toten mit den Lebenden. Wie wir es aus weltweit verbreiteten Formen der Ahnenverehrung kennen, wohnen im Jenseitigen unsere Verbündeten, die uns mit diskreten Hinweisen vor größerem und kleinerem Übel beschützen möchten, so auch MoGos verstorbene Mutter.

Abgabe der Kontrolle an die Sprache

Georg Klein erzählt das alles mit großer Selbstverständlichkeit, als sei Schreiben die Abgabe der Kontrolle an die Sprache. Wer könnte sagen, welche der vielen im Roman angelegten Vorzeichen in falsche Fährten mündeten? Nicht einmal nach Ende der ersten Lektüre haben wir Gewissheit. Als Erfolgsgeheimnis für Addi Schmucks Sportkolumnen hatte der Leiter der Redaktion „Sport, Kultur und Leben“ die Formel gefunden: „Sehnsucht plus Wehmut plus X“. Bei Georg Kleins Roman Bruder aller Bilder handelt es sich um eine Gleichung mit mehreren Unbekannten. Bleibt am Ende vieles unbeantwortet? Macht nichts. Das Leben ist kein Rätsel, das man lösen muss.

Georg Klein: „Bruder aller Bilder. Roman. Rowohlt Verlag, 270 Seiten, 22 Euro.




Am Ende des Weges zum Katholizismus: J.-K. Huysmans‘ „Lourdes – Mystik und Massen“ erstmals auf Deutsch

Joris-Karl Huysmans, vor allem bekannt geworden durch ein Buch, das oft als „das Brevier der Dekadenz“ bezeichnet wird – den 1884 erschienenen Roman À rebours (deutsch meistens: Gegen den Strich) –, wandte sich im Laufe seines Lebens zunehmend dem Katholizismus zu. Jetzt liegt erstmals in deutscher Übersetzung ein Werk vor, das am Ende dieses Weges steht: Lourdes. Mystik und Massen (Originaltitel: Les Foules de Lourdes, 1906).

Bereits nach dem Erscheinen von À rebours sah Huysmans‘ Schriftsteller-Kollege Barbey d’Aurévilly in einer Besprechung im Constitutionnel am 28. Juli 1884 voraus: „Nach einem solchen Buch bleibt dem Verfasser nur noch die Wahl zwischen der Mündung einer Pistole und den Füßen des Kreuzes.“ Huysmans entschied sich nicht für den Suizid; er starb 1907 im Alter von 59 Jahren an einem Tumor im Unterkiefer. Sein Buch über den Wallfahrtsort Lourdes, wo er sich in den Jahren 1903 und 1904 jeweils für mehrere Wochen aufhielt, war das letzte seiner Bücher, das zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurde.

Schon der dekadente Adlige Des Esseintes in À rebours hatte sich eine Sammlung mit Werken frühchristlicher und mittelalterlicher Autoren zugelegt. Gegen Ende des Romans empfindet der Protagonist die Sinnleere dieser mit sich selbst beschäftigten Ästhetik und sehnt sich nach seiner Zeit im Jesuiten-Internat zurück. In den nachfolgenden Werken Là-bas (1891, dt.: Tief unten), En route (1895, dt.: Unterwegs), La Cathédrale (1898, dt.: Die Kathedrale) und – nachdem Huysmans 1900 selbst Laienbruder (Oblate) im Benediktinerorden geworden war – L’Oblat (1903, dt.: Der Oblate) lässt sich seine allmähliche Annäherung an den christlichen Glauben mitvollziehen.

Mittelalterliche Frömmigkeit

In einer Besprechung von Paul Verlaines religiösen Gedichten (Sagesse, 1880), die auf Deutsch in der Zeitschrift Sinn und Form erschienen ist (Heft 2/2017), hebt Huysmans auf die verlorene und bei Verlaine wiedergefundene Frömmigkeit des Mittelalters ab. Es ist eine „fast volkstümliche Ungeniertheit, diese zutiefst rührende Zerknirschung“, die er hier entdeckt. Verlaine habe „als einziger nach Jahrhunderten die Töne der Demut und Unbefangenheit, der klagenden und zaghaften Gebete, den Jubel des kleinen Kindes wiedergefunden, die seit der Rückkehr jenes stolzen, Renaissance genannten Heidentums vergessen waren.“ Eine Rückkehr zur vollkommenen Hingabe strebt er auch in seinem Buch über Lourdes an.

Drastische Beschreibung von Krankheiten

Jedoch ist Huysmans weniger ein religiöser Schwärmer als vielmehr ein scharfsinniger Beobachter und leidenschaftlicher Kritiker seiner Zeit. Den Eingangssatz zum ersten Kapitel seines 300-Seiten-Buchs, „Wenn es einen gibt, der niemals den Wunsch gehabt hat, Lourdes zu sehen, dann bin ich es“, darf man ihm abnehmen. Er, der seine literarische Geburtsstunde in der Gruppe der Naturalisten um Émile Zola erfuhr, bevor er mit À rebours auch Anhänger der symbolistischen Schule für sich einnahm, ist dem naturalistischen Stil der exakten Beschreibung treu geblieben. Das zeigt sich vielleicht am drastischsten in der detaillierten Beschreibung von Krankheiten, die er im Spital oder an der Heilquelle in der Grotte der Jungfrau Maria beobachtet. Bei den vom „Wundschleim der Kranken“ getrübten Wasserbecken, in denen die Wundergläubigen eintauchen oder gebadet werden, könnte man annehmen, dass sie mehr Krankheiten hervorrufen als heilen.

Kritiker der Geschäftemacherei

Ein großes Thema der Naturalisten um Zola, das aber ebenso im ästhetizistischen Roman À rebours aufscheint, ist die Kritik am modernen Kapitalismus. Huysmans geißelt die Geschäftemacherei, die sich in Lourdes entwickelt hat. Einige riesige Heil-Industrie hat sich dort entwickelt; nationale Wallfahrten wurden organisiert; in den kleinen Ort am Fuße der Pyrenäen reisten aus ganz Frankreich Zehntausende in speziellen Sanitätszügen, den Trains Blanches, begleitet von vielen freiwilligen Helfern. Zusätzlich kamen zahlreiche Reisegruppen aus dem Ausland. Die Stadt verwandelte sich in ein gigantisches Beherbergungslager; Souvenirläden und Devotionalienhandlungen eröffneten in großem Ausmaß. Huysmans zieht es hin zu den wenigen Rückzugsorten, in die – auf seinen späteren Reisen nicht mehr existierende – alte Kirche Saint-Pierre, „eine bezaubernde Dorfkirche“, wo er noch stille Einkehr erleben durfte, zu einer abseits der Pilgerströme gelegenen Kapelle auf der anderen Seite des Flusses Gave de Pau und zu dem kleinen und ärmlichen Kloster der Klarissen, wo die Oberin ihm ein langes Gespräch gewährt.

Basilika als „Blutsturz des schlechten Geschmacks“

Dagegen ist die 1889 fertiggestellte, erst 1901 eingeweihte und bis zu 1.500 Personen fassende Rosenkranz-Basilika im neobyzantinischen Stil für ihn ein „Blutsturz des schlechten Geschmacks“. Architektonisch sei sie gründlich misslungen und, mehr als das, geradezu ein Werk Satans: „Ohne Einflüsterungen aus einer bösartigen Jenseitswelt kann der Mensch allein Gott nicht in dieser Weise entehren.“ Auf dem Gebiet der Ästhetik erweist sich die Radikalität seines Urteils ganz besonders, und schon die älteren Werke Huysmans machen deutlich, wie wichtig für ihn Liturgie und Form waren. Was er dagegen in Lourdes ansehen musste, „ist ziemlich erbärmlich, es reizt dazu, die Stadt zu verlassen und sie niemals wieder zu betreten.“ Von unfassbarem Kitsch und nicht geeignet, das Heilige zu repräsentieren, ist eine Station auf dem Kreuzweg, und tatsächlich wurde sein 1906 erschienener Verriss von der Kirche ernst genommen und die von ihm besonders geschmähte Station des Kreuzwegs daraufhin umgestaltet.

Das andere Gesicht von Lourdes – die soziale Utopie

Nicht alles an Lourdes stößt ihn ab. Das Massenphänomen der Pilgerschaft und Heilsuchenden erzeugt auch ein tiefes Gefühl von Gemeinschaft – „all diese wachenden Menschen, so fern ihrer Heimat, sagen das Gleiche in den unterschiedlichen Sprachen und denken das Gleiche.“ Die Erfahrung von Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe beeindruckt ihn tief. In den vielen freiwilligen Helfern, Pflegerinnen und Pflegern, Krankenträgern und Ärzten, die die Schwerkranken und Gebrechlichen begleiten, sieht Huysmans ein Stück sozialer Utopie verwirklicht. „In dieser Stadt der Jungfrau lebt das Urchristentum wieder auf (…).“ Angesichts des Leids scheinen soziale Unterschiede keine Rolle zu spielen. Es ist die zeitweise Verschmelzung der Klassen. Die Frau von Welt verbindet und wäscht die Arbeiterin und die Bäuerin, der Herr in gehobener Stellung wird Tragesel für den Handwerker und den Landmann, fungiert als Badehelfer in ihrem Dienst.

„Die Wunderheilungen: Für und Wider“

Vielleicht wäre Huysmans‘ Buch über Lourdes nicht entstanden, hätte nicht sein früherer Lehrmeister, der acht Jahre ältere Émile Zola, 1894 einen Roman mit dem Titel Lourdes veröffentlicht. Zolas Protagonist ist ein junger Priester, der in Begleitung eines Pilgerzugs zur Erkenntnis gelangt, schwere Krankheiten würden die meisten Menschen ohne ihren Glauben gar nicht ertragen. Geschäftsleute und ein Teil des Klerus nutzten die Not der Gläubigen aus. Dem jungen Priester schwebt eine neue Religion vor, die nicht die Illusionen nährt, sondern vor allem materielle Gerechtigkeit herstellt.

Indem Zola die „Wunder“ auf Hysterie und Autosuggestion zurückführt, greift er auf die Suggestionstheorie des Pathologen und Neurologen Jean-Martin Charcot zurück. Huysmans wendet sich in dem Kapitel „Die Wunderheilungen: Für und Wider“ seines Lourdes-Buchs gegen Zola und Charcot und argumentiert, Wunderheilungen wirkten auch bei Personen, die im Zustand der Bewusstlosigkeit nach Lourdes gebracht worden seien oder bei Säuglingen, die sicherlich keiner Suggestionen anheimgefallen sein dürften. Es habe nachweislich in Lourdes auch Heilungen abseits der Massenveranstaltungen, der großen Messen, der Prozessionen gegeben. Huysmans geht davon aus, dass wesentlich mehr Wunder geschehen sind als beim Konstatierungsbüro in Lourdes gemeldet und „amtlich“ anerkannt wurden.

Ratio und Glaube schließen sich nicht aus

Huysmans zitiert einen „bewundernswerten Mönch“, der über seine Ordensbrüder zu ihm sagte: „Gott segnet sie nicht mehr, sobald sie vernünfteln!“ Das mag an den Kirchenlehrer Petrus Damiani (um 1006–1072) erinnern, für den das Denken seinen Ursprung im Teufel hat und vor Gott nichts gilt. Für den jedoch, der es gewohnt ist, Ratio und Glauben als gewisse Gegensätze aufzufassen, mag bei der Lektüre von Huysmans‘ Lourdes-Buch die Entdeckung verblüffen, wie wenig sich für ihn vernünftige Analysen und tiefe Frömmigkeit ausschließen. Das wird gerade im Kontrast zu manchen seiner Zeitgenossen deutlich. Bei Monsieur Teste beispielsweise, dem überragenden Intellektuellen, den Paul Valéry ungefähr zeitgleich erschaffen hat, ist es die Ehefrau Emilie, die feststellt, ihr Mann habe das Wesen ihrer inbrünstigen Seele perfekt erforscht und verstehe ihre Gläubigkeit treffend zu erläutern, doch fehle seiner Nachbildung das Eigentliche: die Hoffnung. Es gibt kein Körnchen Hoffnung im ganzen Wesen von Herrn Teste.

Maria als tatsächlich Handelnde

Bei Huysmans dagegen, wenn er auch seine Epoche verabscheute, war Hoffnung in großem Maße vorhanden, bis hin zu einer Wundergläubigkeit, die aufgeklärten Menschen naiv erscheinen mag. Im Sinne mittelalterlicher Frömmigkeit ist es für ihn eine Realität, dass die vom Konstatierungsbüro geprüften und anerkannten Wunderheilungen einen übernatürlichen Ursprung haben. Er betrachtet Maria als ein tatsächlich handelndes, in die Geschicke der Menschen eingreifendes Wesen. „Es ist übrigens vernünftig, in diesem Heilmittel (hier geht es um das Wasser der Quelle) nur eines derjenigen zu sehen, die von der Jungfrau nach ihrem Willen angewendet werden, denn oft wählt sie es auch nicht.“ Auch in seiner Beschreibung der geschichtlichen Vorläufer von Lourdes ist es Maria, die den Ort bestimmt, in dem sie sich niederlässt. „Die Jungfrau zog von den Alpen in die Pyrenäen, und dort erschien sie nicht auf einem Berggipfel, sondern am Fuß eines Berges in einer Grotte, als ob sie näher herbeikommen wollte in irdische Reichweite.

Ohne den festen Glauben an Heilung gäbe es keinen solchen Wallfahrtsort. Nicht als ein Standbild, sondern als eine Person, mit der man reden kann und die sie hört, betrachten auch die Pilger die Jungfrau Maria. Wenn Bitten allein nicht hilft, wollen sie mit ihr verhandeln; sie rechnen die eigene Hingabe gegen das von einer solch aufwendigen und kostspieligen Reise erwartete Wunder auf, verlangen „für ihren derartig großen Glauben, ihre Geduld und ihren Mut“ eine „Gegengabe“. Und der Autor schließt sich ihrem Hadern mit der Gottheit an: „Was tut sie denn, für die es doch so einfach wäre, all diese Menschen zu heilen?

Sinngebung des Schmerzes

Dann aber weist Huysmans‘ große Belesenheit überraschend auf ein Paradoxon hin, das sich für den frommen Christen aus dem Wunsch nach Heilung ergibt. Er erinnert an eine vor allem im 14. und 15. Jahrhundert epochentypische Richtung des Katholizismus, die sich „Dolorismus“ nennt. Ihre Anhänger sahen sich in der Nachfolge Christi als „Schmerzensmann“ und glaubten, durch eigenes Leiden Christi Werk, das Leiden für die Menschheit, fortsetzen zu können – gemäß Paulus‘ Brief an die Kolosser 1,24, in dem es (in der Übersetzung Martin Luthers) heißt: „Nun freue ich mich in den Leiden, die ich für euch leide, und erfülle durch mein Fleisch, was an den Leiden Christi noch fehlt, für seinen Leib, das ist die Gemeinde.“ Mit einer solchen mystischen Haltung wäre es, wie Huysmans bemerkt, inkonsequent, sich in Lourdes die Befreiung vom Leiden zu wünschen. Sie würde den Zweck der Wallfahrt ad absurdum führen – „denn letztlich müsste man vor der Grotte statt der Linderung seiner Leiden ihre Verschlimmerung erbitten, um sie als Sühneopfer für die Sünden der Welt anzubieten! Lourdes wäre so gesehen die Zentrale menschlicher Feigheit.“ Huysmans nimmt damit vorweg, was in Peter Sloterdijks Kritik der zynischen Vernunft als „Algodizee“ auftaucht, in dem Fall eine apologetische Sinngebung des Schmerzes.

Huysmans‘ Lourdes-Buch ist das stilistische Meisterwerk eines außergewöhnlichen Autors, der ebenso aus seiner Zeit fiel, wie er vermutlich in keine Epoche gepasst hätte. Mit einem erhellenden, kenntnisreichen Nachwort des Übersetzers Hartmut Sommer liegt uns die erste deutsche Ausgabe in der schön gestalteten Reihe der Lilienfeldiana endlich vor.

Huysmans, Joris-Karl: Lourdes – Mystik und Massen. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort von Hartmut Sommer, mit historischen S/W-Fotografien, Lilienfeld Verlag, Düsseldorf, 2020 (Reihe: Lilienfeldiana, Band 23), 320 Seiten, 22 Euro.




„Ein Paar aus vier Menschenhälften“: Frank Schablewski beginnt sein groß angelegtes Romanprojekt „Schwarmbeben“

Ein Mann tötet die Frau, mit der er ein Jahr verheiratet ist. Von Beruf Fleischer, kennt er sich mit dem Handwerk des Ausweidens gut aus.

Fachgerecht zerlegt er den ausgebluteten Körper in vierzehn Stücke, die er, verpackt in fünf Plastiksäcken und mit Steinen beschwert, im Bosporus versenkt.

Erzählt wird uns dieser brutale Mord nicht als Istanbul-Krimi. Kein mit Faszination an der Gewalt geschriebener Thriller ist Ein Paar aus vier Menschenhälften, eher ein Requiem oder eine Elegie in Prosa, an bestimmte Musikformen erinnernd, die immer wieder neu ansetzen und mit unpathetischem Engagement das ähnlich bereits Erfahrene variieren; ein „Mosaik des Todes“.

Eine kunstvoll erweiterte Zeitungsmeldung

„Jemand Fremdes“ liest am Tisch einer Kaffeerösterei in einer stillen Seitengasse im Galata-Viertel (Beyoğlu) die informationsarme Nachricht in der Zeitung. „Der Artikel hielt sich nicht damit auf, die ganze Geschichte zu erzählen. Das Ereignis selbst verbrauchte eine Vorgabe an Zeichen.“ Wer würde je auf die Ermordete einen Nachruf schreiben, wer, wenn nicht der Autor mit dem vorliegenden Buch, das eine auf 160 Seiten kunstvoll erweiterte Zeitungsmeldung übertrifft? Zugleich schreibt er damit einen ausführlichen Grabsteintext auf viele namenlose Frauen, die durch ihre Ehemänner sterben mussten und müssen. Auf die Gewalt der Tat antwortet die Sprachgewalt des Dichters.

So ungeheuerlich ist der Vorgang des Abschlachtens, dass er sich vielleicht nur aus der Sicht der Toten darstellen lässt. Für sie werden die Dinge transparent, ähnlich wie in Vladimir Nabokovs spätem Roman Durchsichtige Dinge (Transparent Things, 1972) – der Blick aus einer jenseitigen Welt auf die unsere, in der das Leben ohne die Tote weitergeht.

Blick aus einer jenseitigen Welt

Aus ihrem nassen Grab blickt die Frau in den Gerichtssaal, in dem der Mordfall verhandelt wird. Sie hört den Richter ihren Mörder von jeder Schuld freisprechen und ihr selbst, dem Opfer, die Verantwortung für ihren Tod zuschreiben. „Für den Richter war es der geborene Mord.“ Sie habe im Grunde alles erlebt, was eine Frau erleben kann, Geburt, Elternhaus, Hochzeit, Ehe, die ein Jahr dauerte, bis der Mann nichts anderes mehr mit ihr anzufangen wusste, als sie zu töten. Für sie wäre „das Leben keine Lösung“ gewesen, hört sie den Richter sagen. Ob aber für den Mann das Weiterleben eine Lösung sein kann, fragt niemand.

Wortreich nutzt der Richter den Fall, um seine Weltanschauung zu unterbreiten, doch in seiner Rede tun sich nur neue Abgründe auf. Er gibt vor, sich „in heroischer Weise der Gerechtigkeit hinzugeben“, und zwar „nicht in der Sprache des Volkes“. Mann, Frau, Richter – diese drei Funktionen bilden die Triade des Tragischen; weitere Personen wie die Familie der Frau oder ihre Anwälte werden nur am Rande erwähnt. Ohnehin hatte die Frau nur Brüder.

Autor Frank Schablewski (© Rimbaud Verlag)

Ewiges Gesetz?

Im Bereich meines gesetzlichen Throns werden die ersten in unserer Sprache geschriebenen Urteile für immer gelten“, sagt der Richter. Und diese gehen stets zu Lasten der Frau. Er ist „der letzte Richter überhaupt“. Der Richter beansprucht für sich ein überzeitliches, ein ewiges, Gesetz. Aber mag es auch der gängigen Praxis entsprechen, ist dieses Gesetz ein bloß behauptetes; „es war das völlige Innehalten des Rechts.

Detailreich beschriebener Meeresgrund

Auf eine andere Art überzeitlich präsent ist die Ermordete, da für sie die Zeit keine Rolle mehr spielt. „Das Wasser spiegelte das Gesetz“, heißt es im Text. Als nähme uns der Autor mit zu einer Erkundungsfahrt in einem Glasbodenboot, sehen wir jeden Gegenstand, jeden Meeresbewohner, jeden Abfall auch, der den Bewohnern der Stadt unter der sich spiegelnden Oberfläche in der Düsternis der Tiefe verborgen bleibt. Die Tote aber, in fünf zerfetzten Plastiktüten verpackt, fühlt die Algen, die Einsiedlerkrebse, Schnecken und Fische, die sich ihrer Körperteile bemächtigen. In der Meerenge des Bosporus, zwischen den Kontinenten, liegt das nun nicht länger Zusammenhaltende. Am Ende ist wohl alles gesagt, was sich über das Meer und seinen Grund in allen seinen Bedeutungen sagen lässt.

Männerrituale

Weit weniger gründlich wird im Gerichtssaal das Verbrechen untersucht. Vielmehr bestätigen sich die anwesenden Männer gegenseitig in der Richtigkeit des Geschehenen, „Ein Kopf bejahte den anderen“, analog zu den Ritualen, die sich als Tanz von Männern in einem Park abspielen. „Jeder stellte sein Leben mit Gebärden dar, einem ganz eigenen Mienenspiel, in der kurzen Zeit einer Handbewegung. Jeder kreiste um sich selbst.“

Aber noch ein anderes Ritual spielt im Buch eine Rolle – das in Initiationsriten weltweit beobachtete Thema von Zerstückelung und Wiedergeburt, ethnologisch als Übergangsritus bezeichnet. Einen der Ur-Mythen für dieses Muster bildet der zerstückelte Osiris, der von seiner Schwester-Gemahlin Isis neu zusammengesetzt wird. Von einer mythischen Wiederherstellung, Erneuerung, Gesundung des Körpers spricht auch der Richter in Ein Paar aus vier Menschenhälften, versucht, das brutale Verbrechen dadurch zu beschönigen.

Riten des Übergangs

Seismographisch lässt sich bereits an frühen Textstellen das Erdbeben vorhersehen, das am Ende Meer und Erde vermischt. Ein Hain mit Apfelbäumen rutscht als erstes in den Bosporus. Doch bei aller Kunstfertigkeit der Sprache und in der Komposition ist die Lektüre allein schon wegen des todernsten Themas keine leichte Kost – kann es und darf es nicht sein.

Frank Schablewski ist bisher vor allem als Lyriker, Essayist und Autor kürzerer Prosa in Erscheinung getreten. Mit einem Stipendium der Kunststiftung NRW lebte er 2016 mehrere Monate in einer Künstlerresidenz in Istanbul. Bereits zuvor wurden mehrere seiner Gedichte ins Türkische übertragen und der Autor wurde wiederholt zu Poesiefestivals in die Türkei eingeladen. In Deutschland erscheint sein literarisches Werk vorrangig im Rimbaud Verlag in Aachen. Ein Paar aus vier Menschenhälften ist der erste von vier Teilen seines Romans Schwarmbeben. Wir dürfen auf die weiteren drei Teile von Frank Schablewskis groß angelegtem Werk gespannt sein.

Frank Schablewski: „Ein Paar aus vier Menschenhälften“. Rimbaud Verlag, Aachen; 164 S., fadengeh. mit Klappen. ISBN 978-3-89086-224-8, € 25 ,-




Wanderer und Wölfinnen – Gesammelte Erzählungen von Alban Nikolai Herbst in zwei Bänden

Ein junger Mann steht vor einer Disko, er ist anders als die anderen Jugendlichen. „Steht etwas abseits“, beginnt die zwischen 1977 und 1979 entstandene Geschichte „Müder Gegner“. Liegt eine Erklärung für seine Isolation in dem Satz „Ich bin die Hürde mir selbst, die anwächst, je näher ich komme“? Der von Alban Nikolai Herbst mit seiner Lektorin Elvira M. Gross unter dem Titel „Wanderer“ zusammengestellte Band umfasst Erzählungen von den 1970er- bis zu den späten 1990er-Jahren.

Zwei große Amour-fou-Geschichten bilden den Rahmen: Von der Jugendliebe „Svenja“ bis zur mysteriösen, gespenstischen Jézabel in der Novelle „Die Orgelpfeifen von Flandern“. Dazwischen die nicht minder bizarre „Sabinenliebe“ mit ihrem Wechsel zwischen Realitäten. Verschiedene Realitäten und ihr gegenseitiges Durchwirken, noch bevor alle Welt von Virtual Reality sprach, die „Anderswelt“, das ist das Lebensthema des unermüdlichen ANH – so die gängige Abkürzung des Pseudonyms Alban Nikolai Herbst.

Die Erzählungen sind grob chronologisch geordnet. Die frühen Kostproben reichen thematisch bis in die Schulzeit zurück, und es ist zu befürchten, dass die Schikanen und scheinbar ironischen, aber menschenverachtenden und sich desaströs auswirkenden Sticheleien eines Lehrers in „Armer Ulrich“ nur allzu sehr dem Schulalltag abgeschrieben sind.

Expressionistische Wurzeln

Vielen der frühen Erzählungen ist anzumerken: Da will ein Autor anders schreiben als die Mehrheit seiner Zeitgenossen. Er probiert, er wagt etwas. „Leben pulste in den Straßen, die überplante Gemüsestände bordierten“. ANH hat den expressionistischen Dichter August Stramm gelesen. Eigenwilliger Satzbau, die gleichzeitige Er- und Ich-Perspektive und das Umschlagen von einer zur anderen Person innerhalb eines Satzes, Wortschöpfungen, Gedankenfetzen im Stakkato-Stil, sprunghafte Themenwechsel, Umgangssprache, Berlinerisch, dann wieder Rilke, das alles beansprucht des Lesers Konzentration.

Der reife Herbst, der im kommenden Februar seinen 65. Geburtstag feiert, würde sich manche Jugendsünde heute nicht mehr durchgehen lassen, jedoch wollte der Autor – wie er in einem Interview mit dem SWR2 erklärte – seine älteren Texte bei der erneuten Durchsicht „auf ein gutes stilistisches Niveau bringen, aber zugleich doch versuchen, die Jugend zu erhalten, die in einigen dieser Texte noch drin ist.“ (Sendung „lesenswert“, vom 28.7.2019, 17.05 Uhr). Das ist ihm gelungen. Die neue Veröffentlichung lässt einige der früh schon in seinem labyrinthischen Werk angelegten Motive erkennen; das Werden eines Schriftstellers wird anschaulich.

Altmeister der phantastischen Literatur

Vor allem einige Altmeister der phantastischen Literatur wie H. P. Lovecraft, Jorge Luis Borges, Kafka und unter den frühen Surrealisten allen voran Louis Aragon, stehen nicht nur dezent im Hintergrund mancher Erzählungen; ihre Namen markieren Orientierungspunkte und intertextuelle Bezüge. Es macht die phantastische Welt eher noch phantastischer, wenn, wie in der imaginären Jorge-Luis-Borges-Welt des „Gräfenberg-Clubs“ (ca. 1986 geschrieben und 1994 in „die horen“ veröffentlicht), unverschlüsselt der Name des gleichaltrigen Schriftsteller-Kollegens Martin R. Dean auftaucht. In „Geständnis für die literarische Welt“ (1999 erschienen in „Die Welt“) spielt ANH mit dem vermeintlichen Autor einiger seiner Romane, Hans Erich Deters, der auch auf Herbsts ausufernder Website „Die Dschungel. Anderswelt“ als Teil der „Fiktionäre Herbst & Deters“ eine prominente Rolle einnimmt. Die Grenzen zwischen Autor und Dichtung zerfließen ebenso wie zwischen Dichtung und Welt.

Besondere Frauen

Doch auch die von den männlichen Protagonisten begehrten Frauen unterscheiden sich vom Alltäglichen. Wie schon die Jugendliebe Svenja, das Mädchen aus der Tanzschule, das dem Jungen an Reife, aber auch in ihrem Erfahrungshunger so sehr überlegen ist. Seine Ungeschicklichkeit und sein Zaudern im entscheidenden Moment führen zu einem Abbruch ihrer Treffen. „Mit Perry Rhodan kam er darüber hinweg“. Ein späterer Antiheld erleidet die einseitige Liebe zu der abweisenden Sabine – eine besondere Form von Besessenheit („Sabinenliebe“). Und als letzte weibliche Hauptrolle im Band I der Erzählungen, in der Novelle „Die Orgelpfeifen von Flandern“ (zuerst 1993 im Verlag von Axel Dielmann erschienen), begegnet uns die moderne Mythengestalt Jézabel in einer Handlung mit traumlogisch wechselnden Schauplätzen von Antwerpen zum Parc des Buttes-Chaumont in Paris.

Metaphysischer Masochismus

Auch wo nicht von Begehren im Sinne des üblichen Appetenzverhaltens die Rede sein kann, versteht es der männliche Ich-Erzähler durch die Begegnung mit besonderen Frauen an die Grenze seiner Existenz zu gelangen. Wie mit der Künstlerin Martha Werschowska, die frische Wunden und abgetrennte Körperteile malt und die Seele einfangen möchte, in dem Moment, wenn sie aus dem Fleisch entweicht. „Das Leben“, hat sie gesagt, „stellt sich der Zeit entgegen, darin liegt seine Substanz. Die will ich finden und erhalten.“

Während der schöne Mann in einer Art metaphysischem Masochismus als ihr Aktmodell auf der Opferbank liegt und die „allmähliche Vorbereitung“ seiner „präzisen Einsegnung“ registriert, philosophiert die Domina-Malerin über das Devote, das Gottergebene und die Devotionalien, die ihre Gemälde seien – de Sade’sche Philosophie vom Boudoir ins Atelier verlagert und auf Männer statt auf junge Damen angewandt. Sie hat „Die Tränen des Eros“ von Georges Bataille gelesen. Auch sie ist isoliert und wie ANHs verschiedene Alter Egos eine Außenseiterin. „Sie hat kein Gefühl, dachte ich. Sie kennt kein Mitleid. Und: So wie es die Dame berührte, schien sich das Leben zu plastifizieren.“ („Kette“)

Die Unbehaustheit des Autors in der Verlagslandschaft

Das Anderssein, das Polyglotte oder – je nach Sichtweise – die Unbehaustheit des Autors spiegelt sich auch in vier verschiedenen Verlagen wider, die lieferbare Titel von ANH bereithalten. Neben dem Wiener Septime Verlag, in dem im Frühjahr und Herbst 2019 die beiden stattlichen Bände Erzählungen I + II mit den Titeln „Wanderer“ und „Wölfinnen“ erschienen sind, wäre der Berliner Elfenbein Verlag zu nennen, der inzwischen die komplette „Anderswelt-Trilogie“ in sein Programm übernommen hat, weiterhin einen Band mit vier „Radio-Fantasien“ (2004) und die „Bamberger Elegien“ (2011).

Im mareverlag konnte 2017 endlich der Roman „Meere“ erscheinen, dessen Verbreitung 2003 nach einer einstweiligen Verfügung aufgrund der möglichen Verletzung der Persönlichkeitsrechte einer im Roman dargestellten Schlüsselfigur verboten wurde. 2015 war im selben Verlag der grandiose Roman „Traumschiff“ erschienen (siehe die Besprechung in den Revierpassagen). Und der Arco Verlag brachte 2018 ANHs Nachdichtung von James Joyce Chamber Music / Kammermusik in einer sehr schönen Ausgabe heraus.

Präsent und doch merkwürdig unsichtbar

Der Autor ist also auf dem Buchmarkt präsent wie nur wenige seiner Generation, und ist zugleich merkwürdig unsichtbar, steht trotz seiner herausragenden Werke, die allesamt in großartigen Verlagen erschienen sind, im Abseits, taucht eher selten in den Feuilletons der großen Zeitungen oder in den Auslagen der Buchhandlungen auf.

Alban Nikolai Herbst ist ein kompromissloser Autor, einer, der sich selbst zur Hürde wird. Er quält seine Leser*innen mitunter, wie er sich selbst quält. Ein Skandalautor, als den manche Medien ihn sehen möchten, ist er nicht. Skandalös wäre eher die Nichtbeachtung seines erstaunlichen Werks durch die Literaturwirtschaft.

Wir können uns darauf freuen, den Band 2 der Erzählungen mit dem Titel „Wölfinnen“ zu lesen, der soeben erschienen ist.

Alban Nikolai Herbst: „Wanderer“. Erzählungen Band I. Ediert und mit einem Nachwort von Elvira M. Gross. Septime Verlag, Wien, Frühjahr 2019. 600 Seiten, 29,00 Euro.

Alban Nikolai Herbst:Wölfinnen“. Erzählungen Band II. Septime Verlag, Wien, Herbst 2019. 600 Seiten, 29,00 Euro.

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Weitere lieferbare Titel von Alban Nikolai Herbst

Im Elfenbein-Verlag, Berlin:

Die „Anderswelt-Trilogie“, bestehend aus den Einzelbänden

  • Anderswelt. Fantastischer Roman (zuerst 1998); 2., überarb. Aufl. 2018. 895 Seiten, 39,00 Euro.
  • Buenos Aires. Anderswelt. Kybernetischer Roman; 2001, 2. Aufl. 2016. 272 Seiten, 19,00 Euro
  • Anderswelt. Epischer Roman. 2013. 872 Seiten, 39,00 Euro

Außerdem bei Elfenbein:

  • Die Illusion ist das Fleisch auf den Dingen vier Radio-Fantasien über Aragon, D’Annunzio, Powys, Pynchon und eine Poetik auf CD. 2004. 156 Seiten, 17,00 Euro
  • Das bleibende Thier. Bamberger Elegien. 2011. 152 Seiten, 20,00 Euro

Im mareverlag, Hamburg:

  • Meere. 2003/2017. 264 Seiten, 22,00 Euro
  • Traumschiff. 2015. 320 Seiten, 22,00 Euro

Im Arco Verlag, Wuppertal/Wien:

  • James Joyce: Chamber Music / Kammermusik. Zwei Nachdichtungen von Alban Nikolai Herbst und Helmut Schulze. 2017. 160 Seiten, 20,00 Euro



Bevor der Tonfilm das Kino entzauberte – die poetischen Kritiken von Ernst Blass zwischen 1924 und 1933

Ernst Blass ist vor allem als Lyriker im Umfeld des Expressionismus in Erscheinung getreten. Dass er in den Jahren 1924–1933 für verschiedene Berliner Zeitungen als Theater- und Filmkritiker tätig war, dürfte nur einem kleinen Kreis von Eingeweihten bekannt sein. Das könnte sich durch die Auswahl seiner Essays und Kritiken im Berliner Elfenbein Verlag nun ändern.

Der schöne, von Angela Reinthal herausgegebene Hardcover-Band mit mehreren Abbildungen historischer Filmplakate und einem Anhang, der neben dem kenntnisreichen Nachwort der Herausgeberin auch ein Namensregister sowie eine Liste der im Band besprochenen Filmkunstwerke umfasst, schafft die besten Voraussetzungen, um die literarisch herausragenden Texte des „Lyrikers unter den Filmkritikern“ (so Michael Mendelssohn über Ernst Blass) erneut im alten Glanz erstrahlen zu lassen.

Der Band führe uns, wie Dieter Kosslick, der langjährige Leiter der Berlinale, in seinem Geleitwort schreibt, in (…] „die goldene Ära des ,Weimarer Kinos‘ zu einer poetisch-cineastischen Reise in ein instabiles Land, das sich nach dem Ersten Weltkrieg mit größtmöglicher Lust, Freiheit und Kreativität neu erfinden wollte.“

Vitale Kinolandschaft um den Ku‘damm

Im Umkreis der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche eröffneten immer neue Filmpaläste – das „Capitol“, der im Barockstil erbaute „Gloria-Palast“, der „Ufa-Palast am Zoo“ mit 2.165 Sitzplätzen, der Tauentzien-Palast“ oder das „U. T. Kurfürstendamm“. Wie aus einer Anmerkung zum Nachwort hervorgeht, gab es 1925 in Berlin 342 Kinos mit 147.126 Sitzplätzen; im Jahr 2018 war es noch 71 mit 48.595 Plätzen.

Ernst Blass, so brillant und professionell seine Kritiken geschrieben sind, teilt gern die Erwartungen des großen Publikums an gute Unterhaltung und beschreibt die „Ferienstimmung“, die sich einstellt, wenn der erwachsene Mensch die schnell vorbeifliegenden Bilder mit ihren lustigen Streichen genießen kann. So schreibt er im Berliner Tageblatt vom 05.07.1925 (Beiblatt Lichtspiel-Rundschau):

„Man sitzt im Dunkel und auf der Bildfläche wird es hell. Dort geschieht irgend etwas federleicht und ohne Verantwortung. Ein dicker Mann ist da mit seinem kleinen Bruder, ein Hutgeschäft soll in Gang gebracht werden. Der Kleine verbirgt sich irgendwo und wirft den Vorübergehenden die Hüte vom Kopf, sowie der Hut auf der Straße liegt, kommt der Dicke auf einer Dampfwalze angefahren und vernichtet den Hut. Der Mann kauft sich einen neuen, dieser fliegt wieder herunter, wieder kommt der Dicke mit der Dampfwalze, auch der neue Hut ist zermalmt. So jagt ein heiterer Scherz den anderen, aber der heiterste von ihnen ist vielleicht, daß man vor diesen Schuljungenphantasien selbst wieder zum Schuljungen wird. (…) In diesen schwachen Stunden haben wir eine dankbare Empfänglichkeit für alles, was wir mit unserem Schwamm leicht wieder auslöschen können. Von den Lichtspielereien haben wir eine Hingabefähigkeit, die vielleicht dem Universum gegenüber gleichfalls nicht unangebracht wäre.“ 

Große Zeit des Slapstick

Es war die Zeit der Slapstick Comedies, mit dem fabelhaften Chaplin, dem todernsten Buster Keaton oder dem tollkühnen Fassadenkletterer Harold Lloyd, der selbst bei riskantesten Aktionen ohne Stuntman auskam – die meisten kennen ihn, in schwindelerregender Höhe am Zeiger einer Uhr hängend. Ernst Blass bewundert Ernst Lubitsch, der ab 1916 in seinen Stummfilmkomödien regelmäßig die heute fast vergessene, damals vom großen Publikum geliebte Ossi Oswalda einsetzte – neben Henny Porten und Asta Nielsen einer der ersten großen weiblichen Stars des deutschen Films. Zu einem etwas späteren Film mit ihr (Niniche von Victor Janson) schreibt er: „Ossi Oswalda ist zwar zu schelmisch, aber doch graziös und niedlich. Man sieht sie gern, ohne sich Gedanken darüber zu machen, ob ihr Spiel und ihr Gehaben ästhetisches Niveau hat.“ (Berliner Tageblatt vom 15.2.1925)

Mauritz Stiller, der im August 1924 zur deutschen Premiere seines Films Gösta Berling (nach dem Roman von Selma Lagerlöf) nach Berlin kam, ist für Blass der „menschlich und künstlerisch ernsthafteste Filmregisseur Europas“. Die achtzehnjährige Greta Gustafsson tritt in dem schwedischen Film erstmals unter dem Namen Garbo auf. Mauritz Stiller und Greta Garbo gingen 1925 gemeinsam nach Hollywood; „die Göttliche“ Garbo machte Karriere bei Metro-Goldwyn-Mayer; ihr Entdecker und Mentor ging sang- und klanglos unter und starb mit nur fünfundvierzig Jahren. Ihm widmet Ernst Blass einen ausführlichen Nachruf.

All die späteren Klassiker des Stummfilms

Im vorliegenden Band sind viele der ersten Besprechungen jener großen Filme vertreten, die heute bekannte Klassiker sind. Robert Wienes Kabinett des Dr. Caligari und Paul Wegeners Golem-Filme sind für Blass „einige der besten deutschen Filmtaten und Erfolge“. Von Fritz Lang ist Blass‘ Favorit nicht Metropolis (1927) – für ihn „ein Koloss auf tönernen Füßen“, „… leider kein Ganzes“ – und auch nicht Frau im Mond (1929), dessen „gewalttätige Regie“ er rügt, sondern der frühe Film Der müde Tod (1921), den er auch nachträglich bei verschiedenen Gelegenheiten hervorhebt.

Zu Carl Theodor Dreyers Die Passion der Jungfrau von Orleans von 1928 notiert er begeistert: „Diese Antlitze, anwesend mit den fremdartigen Furchungen und absonderlichen Rundheiten einer ganz fernen Zeit, mit anderen Augen, Lidern, Blicken, Nasen – inmitten einer fernen und ewigen Tragödie. Ein Geheimnis. Das Geheimnis, um dessentwillen es sich lohnt, Kunst zu machen. Nicht ein Spiel nur, sondern eine bekennende Kontemplation. Solche also vermochte der (stumme) Film.“

Enthusiamus, aber auch gnadenlose Verrisse

Seine Begeisterungsfähigkeit lässt sich höchstens mit Sergei Eisensteins Revolutionsfilm Panzerkreuzer Potemkin steigern, dessen Premiere Blass am 29. April 1926 im „Apollo-Theater“ verfolgte. Am darauffolgenden Morgen steht im Berliner Tageblatt: „Nicht begreifbar ist, daß ein einzelner Mensch etwas derart Wunderbares zustandebringt. Es sind kaum Szenen darin, die nicht von einem machtvollen und menschlichen Genie stammen müssen. Welche Hingabe muß notwendig sein, um solche Darstellung nur zu ersinnen, und erst sie auszuführen! Eisenstein hat hier den gewaltigsten und kunstvollsten Film geschaffen, den die Welt sah.“

Wer so enthusiastisch lobpreisen kann wie Ernst Blass, der kann auch gnadenlos verreißen. Unter den Historienfilmen gab es auch viel Unhistorisches, Übertriebenes. Der ironische Titel des Auswahlbands bezieht sich auf eine Besprechung des Kolossalfilms Quo vadis? mit Emil Jannings als Nero, den die Unione Cinematografica Italiana 1924 in Rom hergestellt hat – die damals bereits dritte Verfilmung des gleichnamigen Romans von Henryk Sienkiewicz. „Das Rom Neros ist hier aufgebaut ungefähr im Stil unserer Nationalgalerie, und die auftretenden Römer machen den Eindruck außerordentlich später Römer. Sie könnten etwa sagen: in kino veritas!“

Über die Ausdruckskraft des Hundes „Rin Tin Tin“

Um Künstlichkeit oder übertriebenes Theaterspiel musste sich zumindest einer der Filmhelden aus der Stummfilmzeit keine Sorgen machen: der Schäferhund Rin Tin Tin. 1918 in Lothringen geboren,1932 in Los Angeles gestorben, wurde er mit 26 Schwarz-Weiß-Filmen in den 1920er Jahren zum Star und hat inzwischen einen Stern auf dem Hollywood Walk of Fame erhalten. Die spätere Fernseh-Kinderserie aus den 50er-Jahren kann keinen Eindruck von den spannenden Abenteuerfilmen aus den Zwanzigern vermitteln, mit dem Tier, das – so die Filmlegende – unter Wölfen aufwuchs und in der abgelegenen Natur Kanadas in einem gesellschaftlichen Außenseiter seinen Herrn findet.

„Der Hund aber drückt sich völlig aus. Es ist ein Wunder der Regie, daß bei all diesen gespielten Dingen der Hund wie ein unmittelbar Erlebender wirkt. Gar nicht dressiert und gar kein Schauspieler, sondern in allen Einzelheiten sieht er genau so aus, wie dieser (vorgestellte) Hund bei diesen Szenen aussehen müßte, wenn sie wirklich wären. Fast wie ein Wolf, dunkel und gefährlich, als er dem Mörder begegnet. In der Haltung und in der Miene. Oder der Ausdruck der Traurigkeit, als er, hungrig, einen abgenagten Knochen findet. Oder das Erstaunen, als sein Herr die Geliebte wiederfindet. Oder die Siegesfreude nach der ersten Rettung. Das ist alles sehr feinfühlig aufgefaßt und rätselhaft gut wiedergegeben. (…)

Die Wirklichkeit dieses Hundes inmitten gespielter Imagination, die völlig unzweideutige Teilnahme einer so seelenvollen Kreatur an einer nur vorgespiegelten Handlung – das ergibt eine Märchenwirkung von verwirrender und unergründlicher Tiefe; es ist ein schlechthin wunderbares Zwielichtspiel.“

Filme brachten die große weite Welt in die deutschen Kinos. Da gab es zum einen die Ufa-Naturfilme im Beiprogramm. Erfolgreich waren aber auch abenteuerliche Reiseberichte wie etwa die Kameraaufnahmen des Seglers und Flugpioniers Gunther Plüschow, der auf einem kleinen Segelboot den Atlantik überquerte und mit seinem Wasserflugzeug, einer Heinkel HD 24, als erster Flieger Patagonien und Feuerland aus der Luft erkundete.

„Der Tonfilm naht mit Brausen“

Technische Neuerungen fanden nicht nur im Flugwesen statt; für den Film ließ der Tonfilm Ende der Zwanzigerjahre ein neues Zeitalter anbrechen. „Der Tonfilm naht mit Brausen. Daß er nicht schon lange in unserer Mitte tönt und redet, das liegt an allgemeinen Verhältnissen. Immerhin: jüngst hat ein Kommerzienrat gesagt, der Tonfilm stehe vor den Toren wie eine Braut“, schreibt Ernst Blass am 31.5.1929 in der Literarischen Welt. Ein gutes Jahr später, im September 1930, resümiert er: „Der Tonfilm also brachte im ersten Jahr keine Vermenschlichung des Films, aber seine Entzauberung. (…) Eine Weiterentwicklung des stummen Films ist der Tonfilm nicht. Aber er ist etwas anderes. (…) Der Mensch hier nun spricht, – aber fast nur Schales und Klamottiges. (…) Höhere Werte, menschlichere, sind auch im Film denkbar. Aber sahen wir im Sprechfilm bereits Ansätze zu ihrer Verwirklichung? Nicht im geringsten.“

Seine Prognose: „Nun, der Apparat wird sich sehr verbessern, höchstwahrscheinlich auch die Form. Aber was werden die Menschen singen und sagen, das sich messen könnte mit dem Geheimnis und der Zauberkraft des Ungesprochenen? Wenn nicht neben den Schauspieler der Dichter tritt oder der echte Komponist oder doch zumindest ein Zauberer? Und da dies Ausnahmen und Glückszufälle sein werden, wird der Film durch den zugeordneten Ton im ganzen mehr verlieren als gewinnen.“

„in kino veritas“. Essays und Kritiken zum Film. Berlin 1924—1933. Ausgewählt, mit einem Nachwort versehen und herausgegeben von Angela Reinthal. Mit einem Geleitwort von Dieter Kosslick. Elfenbein Verlag, Berlin. 286 Seiten, 22 Euro.

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Aktuelle Stummfilm-Vorführungen:

Zu keiner Zeit war der Stummfilm stumm. Er war immer von Musik begleitet, mindestens von einem (manchmal automatischen) Piano, oft von einer Kinoorgel, wie es sie auch heute noch in einigen Kinos gibt, manchmal aber auch von großen Orchestern. Stummfilm-Vorführungen waren immer auch Konzerte.

An diesem Samstag, 29.6., zeigt das Filmmuseum in Düsseldorf in seinem Kino Black Box um 20:00 Uhr den deutschen Historienfilm Anna Boleyn (1920) von Ernst Lubitsch mit Henny Porten und Emil Jannings in den Hauptrollen. Daniel Kothenschulte (Köln) begleitet das Lichtgebilde am Klavier – und auf der Guillotine.

Nach der Sommerpause geht es im Filmmuseum weiter mit Klassikern der Stummfilmzeit; am 24.9. wird in der Reihe „Stationen der Filmgeschichte“ Germaine Dulacs Kurzstummfilm Die Muschel und der Kleriker gezeigt (Originaltitel: La Coquille et le Clergyman – 1927, nach einem Drehbuch von Antonin Artaud).

Am 28.9. folgt in der Reihe „Stummfilm + Musik“ von Friedrich Wilhelm Murnau Faust – eine deutsche Volkssage (1926; mit Gösta Ekman als Faust, Emil Jannings als Mephisto und Camilla Horn als Gretchen).

Am 26.10. ist zu sehen: Anders als die Andern, ein Spielfilm von Richard Oswald zum Thema Homosexualität aus dem Jahr 1919, der unter Mitwirkung von Magnus Hirschfeld entstand, und anschließend am selben Abend die Komödie Ich möchte kein Mann sein (1918) von Ernst Lubitsch mit Ossi Oswalda.

Weitere Termine: 30.11.: Das Grabmal einer großen Liebe / Shiraz (Regie: Franz Osten; 1928) und 21.12.: Carl Theodor Dreyer: 1928: Die Passion der Jungfrau von Orleans (La passion de Jeanne d’Arc).

Der Veranstaltungsort ist jeweils die Black Box im Filmmuseum Düsseldorf, Schulstraße 4, 40213 Düsseldorf.

 




Ein Autor, der das Publikum spaltet: „Und der Himmel so blau“ – ein Lesebuch zu Einar Schleef

An Einar Schleef scheiden sich die Geister. Die einen halten ihn für eine Urgewalt, einen „Nonstop-Visionär“ – „ein unschuldiger Mensch mit einem Genius, dem sein Kopf kaum standhielt, geworfen in eine Welt, die jede Vorstellung von Unschuld verloren hat. So etwas werden wir wohl nicht noch mal erleben“, schreibt Etel Adnan im Nachwort des Einar-Schleef-Lesebuchs aus dem Elfenbein Verlag.

Andere lehnten ihn ab, fühlten sich angesichts seiner Inszenierungen an eine Wehrsportgruppe erinnert, sprachen von  Überwältigungsästhetik und zogen historische Vergleiche wie etwa Peter Iden in seiner Besprechung von Schleefs „Mütter“ in der Frankfurter Rundschau vom 24.2.1986: „So aufwendig ist am Theater schon lange nicht mehr von einem Theatertext abgelenkt worden, wohl auch seit dem Nazi-Theater nicht mehr so stupide.“

Große Chöre, rhythmisiertes Sprechen, Rituale

Spätestens mit seiner Verpflichtung ans Frankfurter Schauspielhaus ab 1985 mischte Schleef das bundesrepublikanische Regietheater gehörig auf. Vielmehr ungehörig. Gefielen sich die Regiegrößen, die in den 1960er- und 1970er-Jahren politisch aufrührerisch begonnen hatten, zunehmend in nuancenreicher Psychologisierung literarischer Vorbilder, setzte Schleef auf große Chöre, rhythmisiertes Sprechen, Rituale.

Hinzu kommt die unfassbare Länge seiner Inszenierungen; ein Theater der Superlative. Elfriede Jelineks „Sportstück“ war in der Kurzfassung mit 5 Stunden veranschlagt, die Schleef aber nicht ausreichten; in der Langfassung dauerte das Stück 7 Stunden, und da waren nur drei der sieben für die Aufführung gedrehten Videos enthalten. Die von Schleef für Berlin beabsichtigte ultimative Langlangfassung ist nicht zustande gekommen.

Im Vergleich zu den Anfeindungen, denen sich Schleef stärker noch von der Kritik als aus dem Publikum ausgesetzt sah, klingt Verena Auffermanns Besprechung des „Ur-Götz“ in Frankfurt geradezu sachlich: „Einar Schleef hat das Talent, Szenen über den Gipfel ästhetischer Normen in das Tal der Qualen zu ziehen, immer überzieht er, sein Theater ist für alle eine Tortur, Schleef zeigt vor nichts Respekt.“ (Süddeutsche Zeitung vom 21.04.1989). Als ein Beispiel solcher „Respektlosigkeit“ vor klassischen Texten sei aus dem „Programmblatt Handlung“ der Frankfurter Inszenierung, das im vorliegenden Lesebuch abgedruckt ist, zitiert: „Weislingen hat von seiner Frau die Schnauze voll, sie von ihm, ihr Plan, erst soll er Berlichingen aburteilen und dann wird sie ihn aburteilen.“ („Ur-Götz“)

„Ur-Götz“ auf und unter dem Laufsteg

Wollte Goethe mit seinem Götz die Kraft des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft verherrlichen, macht Schleef das Gegenteil. Den Raubritter besetzt er mit einem schmächtigen Martin Wuttke mit Punk-Frisur. Die Chöre verschlucken die Stimmen der Darsteller. Selten, dass ein Schauspieler wie David Bennent, der in der Aufführung im Bockenheimer Depot eine, je nach Standort, 30- bis 45-minütige Prozession anführt, glockenhell herausklingt.

Einar Schleef, dessen Theaterkarriere als Bühnenbildner begann, baut einen 43 Meter langen Laufsteg längs durchs Bockenheimer Depot und teilt das Publikum. Die Begrenztheit der Perspektive wird den Zuschauern, die selten die gesamte Bühne überblicken können, räumlich vor Augen geführt. Schleef lässt auf und unter dem Steg spielen; Gitter dienen mal dem Schutz der Flüchtenden, mal als Gefängnis; aus einer Luke reckt sich die nackte, nicht eiserne Faust des Götz von Berlichingen. Schleef zeigt das Zusammenwirken gesellschaftlicher Mächte: Kaiser, Klerus, die Fürsten, Bauern, und einen Berlichingen, der zwischen den Fronten zerrieben wird. Die Simultaneität der Handlung kommt besonders in den Kampfszenen zum Ausdruck, wenn die Fronten und Gegnerschaften – dem Kriegsgeschehen angemessen – undurchschaubar bleiben.

Unbändige Prosa

Den Verrissen der Schleefschen Inszenierungen entsprechen die Verrisse seiner unbändigen Prosa. Als 1984 der zweite Band des monumentalen Romans Gertrud über Schleefs Mutter erschien, urteilte Martin Lüdke im „Spiegel“: „Eine Zumutung. Was dieser Autor (und ebenso sein Verlag) dem Leser zumutet, geht weiß Gott auf keine Kuhhaut. Es ist unverschämt und rücksichtslos. Achthundertsechsundneunzig engbedruckte, großformatige Seiten, doch kaum ein vollständiger Satz, der nicht verkrüppelt, verstümmelt daherkommt. Sprachmüll.“

Für das Lesebuch aus dem Elfenbein Verlag wurden kürzere Kostproben ausgewählt, Passagen im Telegramm-Stil. Oft werden Sätze nicht beendet, fehlt das Verb, stehen Dialoge ohne Absätze und Anführungszeichen. „Hat gut geschmeckt Trude. Noch Wein? Muß erst mal wohin. Kaum ist die Tippel draußen, hecheln Trude und Elly: Die spinnt doch. Woher das viele Geld. Das siehste doch, der ihr Kerl. Was die in ihrem Alter? Aber feste. Nein. Ja.“ (aus dem Text „Mutter und Sohn“)

Lehren aus dem Stottern

Schleef litt ein Leben lang unter seinem Stottern. Mit der Schauspielerei versuchte er, die Sprechstörung zu bekämpfen, und musste einige Male erleben, wie auch auf der Bühne vor Publikum die Wörter nicht hinauswollten. „Trotzdem bin ich nicht abgetreten, versuchte das, was die Figur vermitteln soll, an den Mann zu bringen. Nicht sprechen hilft nicht, eher lauter schreien, das sagte ich zu Teilnehmern der Westberliner Stotterer-Selbsthilfe […]. Jetzt schreie ich bis zum 4. Rang des Burgtheaters, ich habe was gelernt bei den Stotterern“, heißt es im „Vorwort zu einem Buch über Stotterer“, das im vorliegenden Band enthalten ist.

Als Stotterer erfuhr er: Sätze müssten nicht unbedingt zu Ende gesprochen sein, um die Nachricht rüberzubringen. „Impuls und Wortverständlichkeit sind 2 völlig verschiedene Dinge“, zitiert er die Schauspielerin Joana Maria Gorvin. („Sprechen“) Diese Erkenntnis machte er sich auch bei seiner Prosa zunutze. Beispiel: „Sie sprechen über verschiedenes, mit wem sie jetzt, er, was so passierte, den gesehen oder so.“ Kommt mal ein langer Satz, dann ein richtig langer, über 1 ½ Seiten, wie in der Bildbeschreibung „Blendung des Samson“.

Als 1997 sein verstörender 500-Seiten-Essay „Droge Faust Parsifal“ erschien, waren große Teile der Kritik ebenfalls ratlos. Rainald Goetz gehörte zu denen, die Schleef verteidigten. Auf eine halbherzige Würdigung in der „Zeit“ antwortete er in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 9.6.1997: „Daß in ,Droge Faust Parsifal‘ ein völlig neuer Schleef auftritt, eine völlig neue Sprache, eine einzigartige, noch nicht dagewesene und zugleich in sich auf Anhieb plausible Form, theoretisch-praktisch über Literatur, Theater, Texte, Musik und Existenz zu reflektieren und zu reden […] Warum freut sich eigentlich nicht alle Welt ganz laut darüber, so richtig, begeistert, öffentlich?“

Künstlerischer Furor

Insgesamt ist es eine Menge Text, die Einar Schleef uns hinterlassen hat. Wer wäre zu einer Auswahl aus Schleefs künstlerischem Furor besser geeignet als Hans-Ulrich Müller-Schwefe, sein langjähriger Lektor im Suhrkamp Verlag, den er bereits 1977 in Frankfurt kennenlernte? Er stellte die Texte zu „Und der Himmel so blau“ zusammen.

Was Schleef als letztes literarisches Werk mit dem Arbeitstitel „Kontainer“ oder „Kontainer Berlin“ beabsichtigt haben mochte, eine Sammlung heterogener Textsorten wie Erzählungen, Tagebuchausschnitten, Autobiographisches, Essays, Theatertheorie, ist auch in dem komprimierten Lesebuch als Konzept aufgegriffen.

Bemerkenswert der Besuch bei Golo Mann in Kilchberg am Zürichsee, 1978, wo Schleef wegen einer Förderung durch die Jürgen Ponto-Stiftung vorsprach, für die Golo Mann den Bereich Literatur betreute. Und während Golo den Gast umständlich mit Tee und Keksen bewirtet, spukt auf der Galerie im Innern des Hauses geisterhaft die – was nicht gesagt, nur durch ein Medikamentenpaket vor der Haustür angedeutet wird – bereits von Demenz betroffene Mutter Katja, Thomas Manns Witwe. Ein durch seine atmosphärische Beschreibung einzigartiger Text.

Tier- und Menschenliebe

Oft nähren sich die Texte aus dem eigenen Erleben, wenig scheint erfunden. Von einer verletzten Möwe, die Schleef von der Straße aufhob und über ein Jahr lang in seinem Badezimmer, geborgen vor der Katze, pflegte, handelt die Erzählung „Arthur“. Liebevoll kümmerte er sich um das Tier, das sich immerzu Federn herausrupfte. Der Text war zuerst 1985 mit Zeichnungen des Autors in einer Auflage von 130 Exemplaren in der Mariannenpresse in West-Berlin erschienen. Jetzt ist er dank des vorliegenden Bands wieder verfügbar.

Dem Tagebuch 1978 ist die Erzählung von dem Pferd entnommen, das eine Frau auf ihre Etagenwohnung mitnimmt, nachdem man im Garagenhof den Stall abgerissen hat, damit sich Pferd und Autos nicht in die Quere kommen („Obstzentrale“). Mehrere Textauszüge stammen aus den Tagebüchern, die in mehreren Bänden im Suhrkamp Verlag erschienen sind. Und immer wieder geht es um Gertrud, die Mutter. Einar Schleef nimmt die Stelle des toten Vaters ein, schläft im Doppelbett auf der Seite des Vaters, während die Mutter auf der Couch schläft, auf der der Vater gestorben ist. („Heimkehr“)

Dreißig sehr unterschiedliche Texte, Erzählungen, autobiographische Aufzeichnungen, Tagebuch, Texte aus Programmheften oder zur Schauspielkunst spiegeln die einzelnen Lebensstationen – Kindheit und Jugend in Sangerhausen, Anfänge in Ost-Berlin, die Verpflichtung ans Burgtheater, die fünf Frankfurter Jahre, Berlin-West, Schleefs große Inszenierungen und seine Schriften.

Jelineks dringliche Lese-Empfehlung

Der Band wird abgeschlossen durch den Prosatext „Die Flüchtlinge“, den wir uns aus heutiger Sicht auch unter den Eindrücken der großen Zuwanderung im Sommer 2015 entstanden vorstellen können. Da war Schleef aber, der während der Proben zu Elfriede Jelineks Stück „Macht nichts“ 2001 einen Herzinfarkt erlitten hatte, bereits seit vierzehn Jahren tot. „Die Flüchtlinge“ stammt von 1999, ist dem Programmbuch des Wiener Burgtheaters zu Schleefs Umarbeitung und Inszenierung eines Goldoni-Stücks unter dem Titel „Wilder Sommer“ entnommen und schließt thematisch an Aischylos‘ „Die Schutzflehenden“ (Hiketides) an. Er beginnt: „Wir bitten nicht, wir fordern von euch Wohnung, Brot, Kleidung und Fleisch. Der Gast ist König am Tisch des Fremden, König in seinem Bett. Eingedenk, daß euch das träfe, was uns trifft, folgt dem alten Brauch.“ Die antike Schönheit des beinah jambischen Versmaßes erschließt sich vor allem durch den Vortrag im Chor.

„Bitte lesen Sie seine Bücher! Das muß sein!“, schrieb Elfriede Jelinek am 7.8.2001 nach Bekanntwerden von Schleef Tod in der „Frankfurter Rundschau“: „Es hat nur zwei Genies in Deutschland nach dem Krieg gegeben, im Westen Faßbinder, im Osten Schleef. Sie waren beide unersättlich, aber nur, um umso mehr geben zu können. Am Schluß haben sie sich selbst gegeben.“

Die vorliegende Auswahl ist ein idealer Einstieg, um Schleefs Bücher zu lesen. Es sollte nicht bei diesem einen bleiben.

Einar Schleef: „Und der Himmel so blau“. Ein Lesebuch. Zusammengestellt von Hans-Ulrich Müller-Schwefe, Elfenbein Verlag. Hardcover, 184 S., 22,00 Euro.

 

 




Literatur als Instanz ausgleichender Gerechtigkeit – Ulrike Anna Bleiers Roman „Bushaltestelle“

„Bushaltestelle“ – der schlichte Titel entspricht dem schicksalergebenen Wesen der Hauptpersonen dieses Romans. Doch darf von der Beiläufigkeit, mit der die Ereignisse daherkommen, keineswegs auf seichte Unterhaltung geschlossen werden. Ulrike Anna Bleier unterschätzt ihre Leserinnen und Leser nicht.

Das aufregende Leseerlebnis verdanken wir weitgehend der Kunst der Autorin, die notwendigen Informationen geschickt zu dosieren. Es ist bei aller Unaufdringlichkeit im Erzählton eine Menge Ungeheuerliches, was den Romanfiguren widerfährt.

Geografisch springt die Handlung zwischen einer kleinen Stadt in Bayern, unweit der tschechischen Grenze, und dem lange Zeit hinterm „Eisernen Vorhang“ verborgenen Nachbarland, das in seiner Geschichte einmal Tschechoslowakei hieß und leider auch einmal von deutscher Seite Protektorat Böhmen und Mähren genannt wurde.

Komplexes Beziehungsgeflecht

In kurzen Kapiteln mit jeweils eigenen Überschriften wird ein zeitlicher Bogen über vier Generationen gespannt; Tochter, Mutter, der Bruder der Tochter mit Frau und Kindern, die Geschwister der Mutter, zusätzlich eine Adoptivtochter der Großeltern, die Partner und Partnerinnen der Hauptpersonen sowie einige Nachbarn bilden ein komplexes Beziehungsgeflecht.

Im Mittelpunkt steht Elke, die eigentlich – in ihrer Familie und was ihre gesellschaftliche Stellung betrifft – so überhaupt nie im Mittelpunkt gestanden hat. Grammatisch in der 2. Person, der Du-Form, erzählt sie die Geschichte von Theresa, der abwesenden Mutter. Geht es jedoch um Elkes eigene Geschichte, wechselt die Erzählperspektive in die 3. Person. Womöglich ist Elkes Selbstbewusstsein zu wenig ausgeprägt, um aus einer Ich-Perspektive von sich erzählen zu können. Da ist kein starkes Ich vorhanden. Wie sollte es sich auch entwickelt haben bei ihr, die seit ihrer Geburt von der Mutter abgelehnt wurde.

Traumatische Geburt

Es war eine traumatische Geburt; Theresa hat viel Blut verloren und wurde ohne Narkose mit zwanzig Stichen „zugenäht“. „Die Jahre danach waren die schlimmsten, kaum konntest du die Geräusche des Kindes ertragen, sein Schmatzen nicht, sein Brabbeln nicht, sein Gurgeln nicht, selbst sein Atmen nicht, geschweige denn das Weinen und Schreien. Du hast dem Kind deshalb schnell abgewöhnt, Geräusche zu machen, Töne von sich zu geben (…).“

Ungeliebter Ehemann

Zu Theresas Entsetzen hat Elke die roten Haare ihres Vaters, Sepp. Ihn hat Theresa nur geheiratet, weil die sich anbietenden Alternativen noch schlimmer gewesen wären; es war eine Dann-schon-lieber-den-Sepp-Heirat. Bevor Theresa ihrer Mutter das Kind zeigt, setzt sie ihm eine Mütze auf.

Im Grunde hat Theresa immer ihren Bruder Martin geliebt. Theresas Schulabschluss wollen Martin und sein Freund Sepp mit einem Ausflug in ihrem Hanomag feiern. Theresa willigt ein, wegen ihres Bruders Martin, nicht wegen Sepp. Der (…) „ist neben dir gesessen, rechts von dir, Bein an Bein, und hat den Arm auf deine Rückenlehne gelegt, sodass er mit seiner Hand so nah an deinem Haar war, dass du sie zu spüren geglaubt hast, und du hast Angst bekommen, dass sich deine Haare bewegen und zum Feind überlaufen könnten.“

Bußgebete nach Gutdünken

Es kommt während des Ausflugs zu einem Unfall, für den wahrscheinlich Sepp weniger als Martin verantwortlich ist, aber Sepp begreift seine Schuldgefühle auch als Chance, sich Theresa zu nähern, die sich im Krankenhaus seiner Fürsorge nicht erwehren kann.

Der Pfarrer, der Theresa die Beichte abnimmt, scheint die Anzahl der zur Buße auferlegten Vaterunser und Ave Maria nach Gutdünken zu bemessen; „(…) du warst dir nicht einmal sicher, ob er wirklich mit dir sprach oder mit einer anderen Person, einen Moment lang hattest du das Gefühl, dass der Pfarrer noch einen weiteren Büßer bediente, vielleicht auf der anderen Seite des Beichtstuhls (…).“

Für die Verweigerung der ehelichen Pflicht sind mehr Vaterunser und Ave Maria zu beten als für die Missachtung des Vaters oder für den Verrat am Bruder und an der Schwester Marlene, die, nachdem Theresa die über eine unschuldige Geschwisterliebe hinausgehende Beziehung Theresas mit dem gemeinsamen Bruder Martin aufgedeckt hat, nur noch im Kloster leben kann.

Der kleine Bruder

Trotz der Zurückweisung des Ehemanns und trotz der Überempfindlichkeit nach Elkes Geburt bringt Theresa ein zweites Kind zur Welt, dieses Mal mit einem Schnitt, den sie unter Narkose nicht mitbekommt. Den Jungen, den sie leider nicht nach ihrem Bruder Martin nennen darf, dafür aber den ähnlich klingenden Namen Markus wählt, wird sie abgöttisch lieben.

Das Mädchen wird im mehrfachen Sinne zu einer Außenstehenden. Bereits als Kind lernt Elke, aus ihrem Körper herauszutreten. Zum ersten Mal wird ihr diese Fähigkeit während einer Busfahrt, zu der eine Nachbarin sie eingeladen hat, bewusst. „Und plötzlich fand sie sich da wieder, wo sie hinstarrte, und das war die andere Seite der Busfensterscheibe, erst noch in der Luft und dann an einer Ecke, wo sie sich umsah und dann winkte, dorthin winkte, wo sie stehengeblieben war, und dem Bus, in dem ihr eigener Körper saß, hinterherblickte.“

Blicke durch Fenster

Die andere Seite, die Sicht von außen, Blicke durch Fenster, der Doppelgänger oder Wiedergänger durchziehen leitmotivisch den Roman. Wenn Elke später von Markus, seiner Frau Helen und den Kindern Luisa und Pierre in Tschechien besucht wird, mieten sich alle in einer Pension ein:

„Ein paar Meter weiter befindet sich ein Fenster zum Gastraum des Restaurants. Elke schaut durch dieses Fenster wie von einer Welt zur anderen.

Auf einer langen Bank sitzen Helen, Markus und die Kinder. Die Kinder essen Pommes und trinken Saft. Helen trinkt Wasser, Markus ein Bier. Sie sind vertieft in etwas, das auf dem Tisch liegt, vielleicht ein Prospekt. Eine Landkarte. Ein Brief, den sie schon ein paar Mal studiert haben, ihn aber nicht verstehen. Sie sehen so ernst aus.“

Beobachtende Präsenz

Es ist das Außerhalb-Stehen, das die innere Distanz ermöglicht. Elke wurde als Kind stets übersehen, und spätestens im Erwachsenenalter bekommt ihre beobachtende Präsenz etwas Unheimliches. „Markus blickt plötzlich in Richtung Fenster, aber er kann niemanden sehen, weil Elke kein Licht in der Diele gemacht hat.“

Bevor die Kinder da waren, hatten Markus und Helen die Mutter einmal auf einen touristischen Ausflug nach Prag mitgenommen. Elke sieht die drei, aber es kommt zu keiner Begegnung. Über Theresa weiß sie: „(…) du hast sogar das Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite gesehen, hast gesehen, wie Gäste hinein- und Gäste herausgingen, aber du hast nicht gesehen, dass es der Ort war, an dem Elke darauf wartete, dass du das Hotel verlassen würdest.“

Ein anderer solcher gespenstischen Momente begegnet uns an der Endstation eines Zuges, aus dem sie vergessen hat auszusteigen: Der Bahnsteig ist ansonsten leer. Eine Geisterstadt. Elke sieht sich selbst am Fenster stehen und hinausschauen und etwas steht auf der anderen Seite und sieht hinein.

Ein Klassenfoto

Von den Klassenfotos ihrer Tochter hat Theresa nur ein einziges ausgewählt, eines, auf dem die Lehrerin nett lächelt; sie hatte offenbar nicht bemerkt, dass gerade auf diesem Foto Elkes Gesicht von einem Mitschüler verdeckt ist – als kündigte dieses frühe Unkenntlichkeit bereits ihr späteres Verschwinden an.

Elke verlässt als Jugendliche das Elternhaus ohne jede Ankündigung. Was die Familie lange Zeit nicht erfahren sollte: Sie nimmt die Spur von Magdalena auf, der Frau, die von ihrer Großmutter adoptiert worden war und die neben Theresa wie eine Schwester aufwuchs. Während des Krieges war Magdalena als Funkerin ins Protektorat Mähren, nach Brünn, gegangen und wurde dort die Geliebte von Hans, einem Nazi. Als Partisanen die Burg besetzten und die Nazis hinrichteten, wurde Magdalena, von einem Exekutionskommando in die zweite Reihe gestellt, im letzten Moment aber von einem der Partisanen gerettet. Elke findet die Frau, die sich nun Madla nennt, und lebt einige Zeit mit ihr auf der Burg. Mit einer Anita aus Jena, die in den Westen möchte, tauscht Elke den Pass, da beider Fotos sich – bis auf die Haarfarbe – zum Verwechseln ähnlich sehen.

Mit Anitas Identität beginnt Elke ein Studium und lernt Boris kennen. Aber eine dauerhafte Beziehung wird daraus nicht. Elke kann auch ihm ihre Geschichte nicht erzählen. Bei einer Wiederbegegnung mit ihm, Jahre später, „fällt Elke zum Glück wieder ein, dass Boris auch sie nicht fragen wird, nicht nach dem Was und dem Warum und dem Wohin und dem Wo und dem Woher, und sie entspannt sich und hört ihm zu und vergisst alles, was er sagt, noch während er es sagt.“

Pointierte Prosa

Das alles wird uns nicht in der zeitlichen Reihenfolge erzählt; die Lektüre wird zum Puzzle und bleibt trotz der düsteren Geschehnisse ein reizvolles Abenteuer. Es ist Ulrike Anna Bleiers pointierte Prosa, die ihre Figuren so gut vorstellbar werden lässt. Die Autorin versteht es, die Eigenheit von Charakteren mit wenigen Strichen zu skizzieren; zum Beispiel als Elke auf die Familie ihres Bruders Markus zugeht: Der zweijährige Pierre „zeigt mit dem ausgestreckten Finger auf Elke, die vom Marktplatz her kommt, als wolle er auf sie zielen, dann winkt er aufgeregt. Dann winken Luisa und Helen und am Schluss winkt auch Markus, er winkt mit großer Geste, als habe er das Winken persönlich erfunden.“

Von Generation zu Generation

Muster wiederholen sich, werden von Generation zu Generation weitergegeben. Nicht nur die roten Haare, die auch bei Elkes Nichte Luisa wieder auftauchen, vererben sich. Auch das Motiv der juckenden Wunde – bei Theresa seit dem Unfall besonders ausgeprägt – wird auf mysteriöse Weise tradiert. Und nicht zuletzt das Thema des Verschwindens, das sich durch den Roman zieht. Bereits in Ulrike Anna Bleiers erstem Roman, Schwimmerbecken, der es 2017 als eines der zehn besten Bücher aus der Produktion unabhängiger Verlage auf die Hotlist schaffte, ging es um das Verschwinden – und das Wiederauftauchen – eines der Protagonisten. In Bushaltestelle verschwinden außer Elke gleich mehrere Personen, manche im Krieg, andere, um dem Elternhaus zu entkommen, und bei dem Jüngsten, Pierre, wohl eher aus Versehen.

Lakonische Erzählstimme

Ohne das treffsichere Sprachgefühl der Autorin, das sich oft in einer lakonischen Erzählstimme äußert, wäre die Lektüre der traurigen Geschichten wohl kein Vergnügen. Das folgende Beispiel soll den Aufbau eines Satzes, das Fortschreiten eines Gedankengangs, verdeutlichen – Martin, Elkes Onkel, hat bereits während des Kriegs mit einer Sondergenehmigung Magdalena und Hans auf der Burg in Mähren besucht:

„Dein Bruder gefällt mir, hatte der Hans gesagt, er ist eine ehrliche deutsche Haut, und Tante Madla dachte in ihrer Küche über den Ausdruck nach, ehrliche Haut, denn bei Haut dachte sie an Abziehen bei lebendigem Leib, ob ehrlich oder nicht, doch nirgendwo zog man Martin die ehrliche Haut ab, er erhängte sich ganz einfach, zuhause in der Wehrgasse, mit einem Kleiderbügel im Kleiderschrank.“

Das kurze Kapitel, in dem wir auf diese Weise von Martins Suizid erfahren, ist „Kleiderbügel“ überschrieben. Theodor W. Adorno hat in seinem Nachwort zu Walter Benjamins Briefsammlung Deutsche Menschen (1936) den Lakonismus die „sprachliche Form der bedeutenden Nüchternheit“ genannt. Alles an dieser Kennzeichnung trifft auch auf Bushaltestelle zu – der ausgeprägte Formwille, die Bedeutsamkeit des Erzählten und die Nüchternheit, mit der vom Unfassbaren gesprochen wird.

Bedeutende Nüchternheit

Scheinbar banale Tätigkeiten wie Theresas ewiges Putzen des Hauses werden zu einer vielschichtigen Metapher. Obwohl du die Wohnung zweimal die Woche geputzt hast, war das Wasser immer schwarz vor Schmutz. Doch haben an die Mutter gerichtete Sätze wie Nur beim Putzen warst du du selbst nichts Denunzierendes. Die Autorin will ihre Romanfiguren nicht anschwärzen, sie zeigt vielmehr die Bedeutung des Unscheinbaren auf. Und auch Elke in ihrem Gedankenmonolog will ihre Mutter verstehen, nicht brandmarken: „Es sind die kleinen alltäglichen Herausforderungen, die dich am Leben halten, Wäsche waschen, Vorhänge ab- und aufhängen, einkaufen, Müll wegbringen.“

Ein gut geputztes Haus und saubere Wäsche hat sie kennengelernt – eine Familie jedoch, in der sich eine(r) an den/die andere(n) anlehnen kann, wie Elke das bei Helen, Markus und ihren Kinder beobachtet, eine solche Familie hat Elke nie kennengelernt. Sie bleibt zeitlebens das Kind, das der Mutter zu viel war.

Seilbahnfahrt als Familienaufstellung

Bei einem der seltenen Familienausflüge in die Berge verhindert die Mutter geradezu gewaltsam, dass ihr Lieblingskind Markus mit dem ungeliebten Ehemann in einer Seilbahngondel zu sitzen kommt und zieht den Jungen zu sich in die nächste Gondel. Und Elke? Der Mitarbeiter an der Talstation „wusste nicht, wohin mit dem übriggebliebenen Kind, dem die Haare rötlich und wirr ins blasse Gesicht fielen; in jeder Gondel war nur Platz für zwei Personen, und so schubste der Mann das Kind in die nächste freie Kabine und sagte: Brauchst keine Angst haben, ist bisher noch jeder wieder runtergekommen.

Die Tür schloss sich mit einem Knall.“

Dieser Bergausflug liest sich wie eine aussagekräftige Familienaufstellung. Einsam in einer Seilbahngondel, starrt Elke auf Verbotsschilder, auf denen Personen, die sich aus dem Fenster lehnen und herausfallen, durchgestrichen sind. Auf keinen Fall wollte Elke zu diesen durchgestrichenen Menschen gehören.

Der Autorin gelingt es mit ihrem empathischen Blick, solche Durchstreichungen von Menschen zurückzunehmen und den im Leben Benachteiligten eine ausgleichende Gerechtigkeit als Romanfiguren zuteilwerden zu lassen. Liebe, Anerkennung, ein erfülltes Leben oder die volle Ausbildung der geistigen Kapazitäten, Notwendigkeiten, die das gute Recht eines jeden Menschen, die jedoch bei keinem Gericht der Welt einklagbar sind – es bedarf solcher Autorinnen wie Ulrike Anna Bleier, um die Ungesehenen aus ihrem Schattendasein ins Licht zu rücken. Literatur, Kunst überhaupt, ist eben doch die letzte Instanz.

Ulrike Anna Bleier: „Bushaltestelle“. Roman. lichtung verlag, Broschur, 224 Seiten, 17,90 Euro.




Der schnelle Übergang vom Guten zum Bösen: Emmanuel Boves Kurzroman „Schuld“ und neun Erzählungen

Als der kurze Roman Schuld von Emmanuel Bove 2010 erstmals auf Deutsch erschien, war das Buch schnell vergriffen. Nun, acht Jahre später, veröffentlicht der Lilienfeld Verlag unter dem Titel Schuld und Gewissensbiss eine um neun Erzählungen erweiterte Ausgabe. Etwa die Hälfte des schönen Bands aus der Reihe der Lilienfeldiana nimmt der Roman Schuld ein.

Der Originaltitel Un Raskolnikoff, unter dem das Werk zuerst im Dezember 1931 in Frankreich erschienen ist, zeigt noch deutlicher als der deutsche Titel die Verbindung zum großen russischen Roman Schuld und Sühne.

Im Unterschied zu Dostojewskis Romanfigur Raskolnikow, der sich zum Mord berechtigt glaubt, geht es jedoch in Emmanuel Boves kürzerer Replik um eine allein vom Protagonisten Changarnier gefühlte, wenn nicht gar herbeigesehnte Schuld, für die der Lesende keinen Anlass erkennt. Er hat niemanden ermordet, auch nicht den etwa fünfzigjährigen kleinen Mann, der ihm und seiner Freundin bei ihrem Streunen durch die winterliche Stadt nicht von der Seite weicht.

Gleichwohl wird der verhaltensauffällige Changarnier von der Polizei festgenommen und auf der Wache verhört. Der – wie mehrere Antihelden bei Bove – gedanklich stets angespannte Selbstquäler ruft während der Vernehmung in einer grotesk theatralischen Geste den Allmächtigen als Zeugen herbei und hört, gleichsam als ein ihn enttäuschender Deus ex Machina, eine Stimme, die ihn auf die erste Lossagung des Menschen von Gott, den Sündenfall, verweist: Indem der Mensch alles wissen wollte, habe er sich von Gott getrennt und werde bis zu seinem letzten Tage allein bleiben. Der nach einer Gegenüberstellung mit einer Zeugin wieder auf freien Fuß gesetzte Changarnier dürfte auch in der Fortsetzung seines Weges nicht von Grübeleien erlöst sein.

Unvermuteter Grund für den Gewissensbiss

Haben wir es in Schuld mit einem grundlos erscheinenden schlechten Gewissen zu tun, gäbe es in der kurzen Erzählung Der Gewissensbiss mehr als nur einen Grund. Nach einem beachtlichen sozialen Aufstieg neigt Doktor Jacques Figue dazu, gegenüber der angeheirateten Familie sein Elternhaus zu verleugnen. Lediglich die monatliche Geldüberweisung dient dazu, sein Gewissen zu besänftigen. Während eines Urlaubs in Südfrankreich bittet er seine Frau um Verständnis, dass er nach sieben Jahren völliger Kontaktlosigkeit seine in der Nähe auf dem Land lebenden Eltern kurz besuchen möchte.

Die Ehefrau aus gutsituiertem Hause aber denkt nur daran, dass sie ungern zwei Stunden an einem kleinen Provinzbahnhof auf ihn warten möchte. Mit dem Versprechen, nicht lange fortzubleiben, läuft Doktor Figue in sein Heimatdorf. Die alte Mutter ist überglücklich, den Sohn noch einmal zu sehen. Der Vater jedoch sei an dem Tag nach Marseille gefahren. Doktor Jacques Figue will die Rückkehr des Vaters nicht abwarten. Um seine Frau nicht zu lang alleinzulassen, verabschiedet er sich bereits nach einer Stunde von der weinenden Mutter. Als er mit seiner Frau im Bahnhofscafé auf den Zug nach Marseille wartet, sieht er plötzlich, wie sich die gebeugte Mutter dem Bahnhofsvorplatz nähert. Um seiner Frau die Begegnung zu ersparen, entscheidet er kurz entschlossen, mit ihr im Taxi zurück nach Marseille zu fahren. Im letzten Absatz wechselt die Perspektive, und der titelgebende Gewissensbiss stellt sich als ein völlig anderer heraus, als die vorangegangen sechs Seiten vermuten ließen.

Ereignisse und Charaktere immer wieder neu bewerten

In Gotthold Ephraim Lessings Faust-Fragment dienen sich dem Geisterbeschwörer verschiedene Teufel an, die sich allesamt in behaupteter Schnelligkeit zu übertrumpfen versuchen. Faust entscheidet sich für den, der für sich beansprucht, so schnell „als der Übergang vom Guten zum Bösen“ zu sein. Etwas von jenem Teufel muss wohl auch in den kurzen Erzählungen Emmanuel Boves stecken.

Der Lesende ist manchmal gefordert, die Ereignisse und Charaktere auf fast jeder Seite neu zu bewerten. Die Protagonisten geraten immer wieder in moralische Zwickmühlen. Wie bei dem Mann, der nach dem Tod eines nahen Freundes bei der Witwe dessen Schulden eintreibt – was zu weiteren Verwicklungen führt („Die dreitausend Francs“). Man könnte sagen, die Sympathiesteuerung des Autors hinsichtlich seiner Figuren vollführe scharfe Wenden, gelänge es ihm nicht, auch für diejenigen, die in ihrem kleinbürgerlichen Ordnungssinn gefangen und zur Rechthaberei verdammt erscheinen, Verständnis zu wecken.

Großzügiger Förderer gerät ins soziale Abseits

Ein weiteres gutes Beispiel ist die acht Seiten umfassende Erzählung Das Testament. Ein angesehener Geschäftsmann aus Cherbourg fördert einen jüngeren, an seinen Wohnort Zugezogenen, mit allen Mitteln, gliedert ihn fast schon in seine Familie ein und verschafft ihm die für ein erfolgreiches Geschäftsleben nötigen Kontakte. Aufgrund einer bald nicht mehr nachvollziehbaren Kleinigkeit geraten beide in einen sich eskalierenden Streit. Da aber hat sich der Jüngere innerhalb der städtischen Gesellschaft bereits so viel Sympathie erworben, dass nun der einstige Förderer durch seinen sich steigernden Hass ins soziale Abseits gerät. Er vereinsamt, erkrankt und stirbt. Die Gerüchte über den Inhalt seines Testaments und die Reaktionen der Stadtgesellschaft beleuchten das Geschehen von einer anderen – von einer patriotischen – Seite, ohne den Eindruck des Zwielichtigen auszuräumen.

Die letzten Lebensjahre des Schriftstellers

„Er wünschte, auf dem Friedhof Montparnasse beerdigt zu werden, und hatte schon im Voraus ein dreißigjähriges Nutzungsrecht an einer einfachen Grabstätte erworben, die zufällig ein paar Meter von Emmanuel Boves Grab entfernt lag.“ – Michel Houellebecq über seinen gleichnamigen Protagonisten im Roman Karte und Gebiet (La carte et le territoire). Foto: Wolfgang Cziesla

„Er wünschte, auf dem Friedhof Montparnasse beerdigt zu werden, und hatte schon im Voraus ein dreißigjähriges Nutzungsrecht an einer einfachen Grabstätte erworben, die zufällig ein paar Meter von Emmanuel Boves Grab entfernt lag.“ – Michel Houellebecq über seinen gleichnamigen Protagonisten im Roman Karte und Gebiet (La carte et le territoire).
Foto: Wolfgang Cziesla

Das Testament ist eine von vier Erzählungen, die Bove im Spätsommer 1944 unter einem Pseudonym in der algerischen Wochenzeitung La Marseillaise veröffentlichte. Bove, der es ablehnte, im von deutschen Truppen besetzten Frankreich zu publizieren, lebte von November 1942 bis Oktober 1944 in einer Vorstadt von Algier. Seine politischen Hoffnungen setzte er auf General de Gaulle; das voraussehbare Kriegsende klingt in den Erzählungen an.

Welche Rolle Bove sich selbst im Nachkriegsfrankreich zudachte, kann nur vermutet werden. Er starb im Alter von nur 47 Jahren zwei Monate nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Sein Grab befindet sich in der Familiengruft seiner zweiten Ehefrau, Louise Ottensooser, auf dem Friedhof Montparnasse, in der Nähe der Cafés von Saint-Germain-des-Prés, in denen er mehrere seiner einzigartigen Romane schrieb.

Emmanuel Bove: Schuld und Gewissensbiss. Ein Roman und neun Erzählungen. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Thomas Laux. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf, Reihe Lilienfeldiana, Band 24. 176 Seiten, Halbleinen, Fadenheftung, Leseband, € 20




Entzifferung einer fremden Welt: Georg Kleins Roman „Miakro“

Miakro – der Romantitel lässt vermuten, dass es um eine Verschmelzung von Mikro und Makro gehen könnte, doch beim Lesen lassen die bestätigenden Indizien auf sich warten. Wie überhaupt die Ungewissheit, das Mutmaßen und Mitdenken zu den beglückenden Wesenheiten dieser Lektüre gehören.

Den Anfang bildet ein Tableau einer Arbeitswelt, das zugleich mehr zu sein verspricht. Im „Mittleren Büro“ stehen Männer wie die Musiker der Gruppe Kraftwerk an ihren Pulten, allerdings in hellblauen Overalls, die Hände in die obersten der fünf Schichten ihres Bildschirms eingetaucht, und interpretieren die von rechts nach links vorüberfließenden Bilder und Zeichen. Ihr gesamtes Weltwissen beziehen sie aus dem „weichen Glas“.

Büroarbeit als Höhlengleichnis

Es sind unscharfe, schemenhafte Bilder; und ähnlich wie die Gefangenen in Platons Höhlengleichnis die auf der Wand vorüberziehenden Schatten zu deuten versuchen, wollen auch die „höchstnützlichen Idioten“, wie sie genannt werden, sich einen Reim darauf machen, was die Welt ist. Worin ihre Nützlichkeit besteht, ob Karl Marx ihr Tun als Arbeit in einem produktiven Sinne definiert hätte, bleibt fraglich. Vermutlich würde eine Consulting-Firma ihre Arbeitsplätze wegrationalisieren. Aber sie deuten, die „Büroler“. Sie versuchen die Welt – die Außenwelt ebenso wie die eigene Binnenwelt – zu verstehen. Nicht zuletzt, weil ihr Überleben davon abhängt, wo das Glas ihnen den nächsten Nährflur aufzeigt.

Nährflure und Materialschächte

Gab es im Ritterroman Witiko von Adalbert Stifter die nahrungtragende Flur, ist es im Roman von Georg Klein der Nährflur. Gewöhnlich sondert die bleiche Wand „Dicksprossen“ ab, seltener Süßkartoffeln in unterschiedlichen Graden der Genießbarkeit. Aber auch nicht-essbare Dinge werden in ständig neuen sich öffnenden und schließenden Materialschächten „ausgewandet“, sozusagen von der organischen Wand geboren, seien es hellblaue Overalls oder die begehrten Sandalen, sei es eine Gabel, die später ein Eigenleben führen wird, oder ein Schockstock als Waffe, der im weiteren Verlauf der Handlung gegen eine Maus eingesetzt wird, mit möglicherweise fatalen Folgen, nicht nur für die Maus.

Die von silbernem Haardraht durchwucherte weiche Wand versorgt die sich in ihren Kojen erholenden Arbeiter über „Zapfstummel“, an denen sie jederzeit saugen können, mit Trinkwasser. Auch ihre Arbeitstische sind Organismen – zehn Tage benötigt solch ein Pult mit weichem Glas, bis die schrumpeligen Knospen auf Hüfthöhe herangewachsen sind, und je nach dem Bauchumfang ihrer Bediener, der aber nur bei einem von ihnen ausgeprägt ist, bildet sich eine Mulde im Display. Als ein totgeglaubter, auf einem früheren Streifzug zur Materialbeschaffung wie in einer Art rückgängiger Geburt von der Wand eingesogener Kollege über das „weiche Glas“ Lebenszeichen sendet, bricht aus dem Büro eine Vierergruppe zu einer Expedition an den Rand der „wilden Welt“ auf, um den Verschollenen zu suchen.

Aufbruch zur Heldenreise

Für den ehemaligen Büroleiter Nettler, den erfahrenen Guler, den kräftigen Axler und den schönen Schiller beginnt, sobald sie die Schleuse mit den blauen Blitzen hinter sich gelassen haben, eine ritterliche Quest, eine Âventiure oder Heldenreise, wobei sie sich mit schlafwandlerischer Sicherheit durch die fremde Welt bewegen, als müssten sie sich nur rückbesinnen. In jeder Situation wissen sie, was zu tun ist, ohne zu wissen, woher sie ihr Wissen beziehen. Allen voran ist es Guler, der sich an ein früheres Stadium, ein vorausgegangenes Leben vor dem Eintritt ins Mittlere Büro erinnert; konkret ist es das Schulungsjahr im „Hohen Büro“. Er, der versierte Materialkundler, ein guter Diagnostiker der Zustände, muss immerzu achtgeben, sich nicht durch vorlautes Bescheidwissen zu verraten.

Die „wilde Welt“ ist die Domäne der Beute jagenden „Volksfrauen“, aber auch der in langen Kutten gekleideten „Wandler“, eine Art Kaste von Heilern, hochspezialisierten Technikern oder Schamanen, die jedoch unfähig sind, das Mienenspiel ihres Gegenübers intuitiv zu erfassen. Einmal bringen sich die vier Ausreißer in den Genuss einer Flasche aus dunkelgrünem Glas, die sie einem schlafenden Wandler entwenden. Das Trinken des Inhalts ruft bei ihnen die verschiedensten Reaktionen hervor: Heiterkeitsausbrüche durch wortloses Verstehen, das Bedürfnis nachzudenken, Regression ins Krabbelalter, eine besondere Aufmerksamkeit für das blaue Licht und überhaupt veränderte Sinneswahrnehmungen, oder auch wie bei Guler Schwatzlust oder Neugier, „die das Maß des bürolich gewohnten Wissenwollens“ unangenehm überschreitet.

Über einen Aufzug gelangen sie in das dritte Stockwerk – wie leicht lässt sich im stumpfen Spiegel des Aufzugs das „E“ für Erdgeschoss, wohin sie eigentlich wollten, mit einer Drei verwechseln. Sie fahren jedenfalls nach oben, in eine Welt, wo ihnen die wirklichen Dinge begegnen, die sie bislang nur als unzureichende Abbilder von ihren Bildschirmen kannten. „Breitbeinig stehen sie da, genießen unübersehbar, dass alles, restlos alles um sie herum verheißt, auf eine andere Art präsent zu sein.“

Papiertaschentuch in der Ur-Jeans

Zunächst begegnet ihnen ein Stück Laminat, in der Außenwelt als Pseudoholz oder Falschholz bezeichnet. Von Nettler aber wird der ihm zuvor nur als unvollkommenes Abbild begegnete Gegenstand weihevoll wie ein Kultobjekt angesprochen. In einem Umkleideraum öffnen sie einen Spind, finden einen Pullover. „Dann greifen Nettlers Finger nach der Hose, die, ebenso ordentlich gefaltet wie dieser, unter dem Wollpullover gelegen hat. Ihr Stoff ähnelt dem ihrer Overalls, ist aber nicht ganz so glatt, ihr Blau ist ungleichmäßig dunkel, man könnte glauben, die Zeit, in der sie sich um die Hüften und Schenkel ihres Trägers spannte, hätte mit einem ihr eigenen Durst an gewissen Stellen einen Teil der Farbe wie eine Flüssigkeit herausgesogen.

Findet er dann in einer Tasche des bestaunenswerten Urbilds einer Blue Jeans – sozusagen der Jeans an sich – ein Papiertaschentuch, wird ihm wie durch platonische Anamnesis sogleich der Verwendungszweck klar, und er, der ebenso wenig wie seine Kollegen in der hermetischen Bürowelt auch nur den Anflug einer Krankheit kennengelernt hat, schnäuzt sich vor den Augen der ihn entgeistert angaffenden Kameraden. Manchmal verdankt es sich aber auch einem Unfall, wenn einem von ihnen „eine Rückschau in ihr Herkommen glückt“.

Ein eher unverbindliches Sterben

Im oberen Stockwerk stößt die Gruppe an die Grenze zur Außenwelt. Nun wechselt die Perspektive; eine mit militärischem Gerät ausgestattete Truppe observiert ein Objekt, ein quaderförmiges Industriegebäude, das von Riesenpilzen mit bläulichen Kappen durchwirkt ist – ein beängstigendes Wuchern, das mit einer ganzen Hundertschaft bekämpft werden muss. Frau Fachleutnant Xazy, die zugleich Naturkontrollagentin ist, erweist sich als eine toughe und kompetente Vorgesetzte, die vor dem Alleingang in das sich bedrohlich ausformende Objekt, das „Unding“, nicht zurückschreckt.

Zuvor hatte sich ein kleiner Stoßtrupp vorgewagt, der, auch was die Namen der Beteiligten betrifft, in einer verzerrten Spiegelung der anderen Gruppe ähnelt, die ihnen aus dem Inneren des organischen Baus entgegenkommt. Obwohl zahlreiche Todesopfer zu beklagen sind, kann nicht behauptet werden, hier würde ein Krieg mit allen seinen Gräueln geschildert. Gestorben, wenn überhaupt, wird eher unverbindlich wie in Computerspielen.

Der Roman ist jedoch keine rein gedankliche Versuchsanordnung. Neben allem erlösenden Lachen, das die abstruse Handlung, aber auch die vielen geglückten Formulierungen bei einer Vielzahl der Leserinnen und Lesern auslösen dürften, wird auch gefühlvoll eine subtile Erotik angedeutet – zwischen einigen der Männer, zwischen dem Bürovorsteher und einer der „Volksfrauen“; in der Region der äußeren Welt auch zwischen Frau Fachleutnant Xazy und dem ihr untergebenen Hauptmann Blank. Aber: „Das Geschlecht hat sich im Griff“ – wie sich Guler, alias Guhl, an einen der während seiner Schulung im Chor gebrüllten Merksätze erinnert. Vielleicht ließe sich auch die Liebe in Miakro als platonisch bezeichnen.

Langsames Lesen lohnt sich

Miakro lädt ein, ein fremdes System, das dem unseren womöglich nicht so unähnlich ist, schrittweise zu verstehen. Tauchen, verbunden mit einer „Flussverlangsamung“, einzelne Buchstaben im Bilderstrom des „weichen Glases“ auf, ist bei den Bürolern hohe Konzentration gefordert. Parallel dazu sind in der etwa ab der Mitte des Romans beschriebenen Außenwelt die Bibliotheken zwar mit einigen Büchern ausgestattet, aber das systematisch gepflegte Vorlesen der mit wenigen Wörtern und hilfreichen Bildern bedruckten Buchseiten geht nur mit Improvisationskunst vonstatten. Die fünfblättrige Kladde mit einem Einband aus dünnem Holz gilt bereits als Herausforderung.

Möglicherweise steht die Entzifferung der Welt, Wort für Wort – mühsames Buchstabieren ist kein neues Motiv in Georg Kleins Romanen; man denke an Die Sonne scheint uns – als Metapher einer Leseempfehlung auch für Miakro. Langsames Lesen lohnt sich, Zurückblättern fördert Erkenntnisse, die im schnellen Lesefluss unterzugehen drohen.

Dem reduzierten Wortschatz der „Büroler“ (bei Tieren etwa kennen sie allenfalls die Gruppen wie Vögel oder Fische, nicht aber Gattungen oder Arten) setzt der Autor einen immensen sprachlichen Erfindungsreichtum entgegen. Hinreißende Formulierungen laden ein, sie sich auf der Zunge zergehen zu lassen, wäre da nicht zugleich der starke Sog der Erzählung, der uns in die Handlung hineinzieht, tiefer in die Dekodierung des rhizomartigen Baus, des wuchernden Pilzes oder der Innenansicht eines Gehirns.

Avancierte Technik geht in dieser Welt mit Archaismen einher, beispielsweise bei den Längenmaßen, die sich am ungefähren Vergleich mit Körperteilen orientieren. Befehle spielen eine große Rolle, sowohl im Sinne von Programmierung als auch im Militärischen. Dabei herrscht eine Art höherer Gerechtigkeit.

Das Staunen über die ersten Dinge

Als Dystopie gelesen, würde der Roman wenig Schrecken bereithalten. Eher entsteht der Eindruck, es folgten alle Wesen und Dinge ihrem eigenen Programm, im Sinne – um einmal von Platon zu Aristoteles zu springen – einer Vorstellung von Entelechie, also der Eigenschaft von Individuen, ihr Ziel (Telos) in sich selbst zu tragen. Es ist das Staunen über die ersten Dinge, die Georg Klein die Leserinnen und Leser miterleben lässt. Wie es an einer Stelle, aus der Perspektive eines „Wandlers“ gesprochen heißt: „Vor allem ihrem Adjutanten, der so eindrucksvoll staunen konnte, hätten Xazy und wir, die das Selber-Staunen noch Schritt für Schritt erwerben müssen, ein Hiersein und damit eine weitere Innigkeit gegönnt.

Der Autor verschafft uns viele solcher Innigkeiten. Denn was dem Suchtrupp aus dem Mittleren Büro bei der Konfrontation mit der Außenwelt widerfährt, und umgekehrt der Außenwelt mit dem unheimlichen Wesen, dürften wir mehr oder weniger alle irgendwann zum ersten Mal erlebt haben oder noch erleben. Wie eine erkenntnisbegünstigende Substanz hilft Georg Kleins Roman der Wiedererinnerung auf die Sprünge. Wir, die wir verstehen wollen, deuten im besten Sinne verwundert, was der sanfte Meister uns zu sagen hat.

Georg Klein: „Miakro. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek. 336 S., 24 Euro.




Französische Literatur aus Sicht eines ihrer besten Kenner – Hanns Grössels Essays und Kritiken

Wer sich für Literatur aus Frankreich interessiert und nicht mehr ganz jung ist, wird in den Feuilletons der überregionalen Zeitungen, aber auch in verschiedenen Büchern dem Namen Hanns Grössel begegnet sein; als Übersetzerangabe oder als Verfasser von Vor- oder Nachworten.

In den 1970er-Jahren beispielsweise trug Grössel wesentlich zur Wahrnehmung des Surrealismus in Deutschland bei. Und er machte das Lesepublikum auf Raymond Roussel aufmerksam, von dem er zwei Werke übersetzte und über den er eine Monographie in der Edition text+kritik herausgegeben hat.

Eine repräsentative Auswahl der Essays und Kritiken des im Sommer 2012 im Alter von 80 Jahren verstorbenen Literaturkritikers und Übersetzers, der 30 Jahre als Rundfunkredakteur beim WDR tätig war, konnte zur Buchmesse im vorigen Herbst dank der Initiative der Kunststiftung NRW in einem sorgfältig edierten Band im Lilienfeld Verlag erscheinen.

Spektrum von Stendhal bis Modiano

Zeitlich reicht das Spektrum der versammelten Texte von Stendhal bis Patrick Modiano. Neben den kanonisierten großen Namen der Moderne wie Victor Hugo, Gustave Flaubert, Guy de Maupassant, Charles Baudelaire, Emile Zola, Marcel Proust gibt es dabei auch weniger Bekannte wie José-Maria de Heredia oder Charles-Louis Philippe zu entdecken.

Sodann sind natürlich Geheimtipps vertreten, Autoren, die selten eine große Leserschaft erreichten, deren Werke aber immer wieder, oftmals von kleineren, engagierten Verlagen neu aufgelegt werden. Als Beispiele könnte Marcel Schwob genannt werden, dessen Reisebriefe aus der Südsee im vorigen Herbst im Elfenbein Verlag erstmals in deutscher Übersetzung erschienen sind.

Zu nennen wären auch Joris-Karl Huysmans und Emmanuel Bove, von denen jeweils ein schöner Band für dieses Jahr im Lilienfeld Verlag angekündigt ist. Oder Saint-Pol-Roux, von dem nach längerer Pause 2013 ein kleineres, aber wichtiges Werk bei Matthes & Seitz erscheinen konnte, Paul Valérys „Cahiers“, oder gar die von Gerd Haffmans herausgegebene 11-bändige Ausgabe der Tagebücher der Brüder Edmond und Jules de Goncourt im Verlag Zweitausendeins.

Diese wenige Beispiele zeigen, dass die Entdeckungen und Wiederbegegnungen keineswegs auf die Jahre zwischen 1966 und 2002 beschränkt bleiben, in denen Grössel die in diesem Band versammelten Essays und Kritiken schrieb.

Kein Sammelsurium, sondern Komposition

Dass bei der Vielzahl der besprochenen Autoren aus diesem Band kein Sammelsurium unterschiedlichster Texte wurde, verdanken wir der sorgfältigen Auswahl und Zusammenstellung durch Norbert Wehr, der Grössels Nachlass verwaltet und der den Band ebenso umsichtig und mit Liebe zur Literatur komponiert hat wie jedes Dossier der von ihm seit 40 Jahren herausgegebenen Literaturzeitschrift „Schreibheft“.

Hanns Grössel bietet die besten Voraussetzungen für eine abgerundete Werkschau, er, der ausgezeichnete Kenner, der die von ihm besprochenen Bücher in ihrem literaturgeschichtlichen Zusammenhang berücksichtigt, mit vielfältigen Querverbindungen und Leitmotiven.

So stellt sich beim Lesen des Buchs der Eindruck ein, die ursprünglich an verstreuten Orten erschienenen Beiträge folgten insgeheim dem Prinzip der kommunizierenden Röhren, wovon ein Artikel zu André Breton aus der Süddeutschen Zeitung vom August 1973 handelt, und fügten sich zu einem sprechenden, einem erzählenden Hanns-Grössel-Kosmos zusammen.

Das Nachwort von Norbert Wehr mit persönlichen Erinnerungen an den großen Literatur-Entdecker und Übersetzer verdeutlicht dessen Verdienste, seine gewissenhafte Haltung gegenüber der Literatur und Grössels respektvollen Umgang mit Büchern und Autoren, auch mit denen, die seinem kritischen Blick nicht standhielten.

Schwerpunkte und Vorlieben

Bei aller Vielfalt und Weite seines immensen Schaffens lassen sich gut die Schwerpunkte und Vorlieben des Literaturmenschen Grössel erkennen. Der streitbare Georges Bataille gehört dazu, mit dem sich die Auseinandersetzung nach wie vor lohnt – sei es mit seinem ökonomischen Konzept der Verausgabung, sei es mit seiner Perspektive auf die wilde Kindheit, sei es mit den Provokationen in seinem „obszönen Werk“ (unter diesem Etikett sind 1972 im Rowohlt Verlag fünf seiner wesentlichen Texte erschienen).

Ähnlich bekannt für Grenzüberschreitungen und Tabubrüche dürfte Henri Michaux sein, der sich früh „großen Zerreißproben“ unter dem Einfluss von Meskalin und LSD ausgesetzt hatte – nebenbei bemerkt: ein faszinierender Zeichner. Von ihm ist in dem Band das Werk Eckpfosten besprochen.

Innenansichten einiger Außenseiter

Unter den Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts sind es besonders Nathalie Sarraute und Marguerite Yourcenar, denen sich Grössels besondere Aufmerksamkeit zuwendet. An den von Yourcenar gewählten Sammeltitel zu ihrer dreibändigen autobiographischen Familiengeschichte, Das Labyrinth der Welt, lehnt sich der Titel des vorliegenden Bands an.

Zu Victor Segalen hat der Auswahlband glücklicherweise einen Text erstmals nach dem ungekürzten Manuskript veröffentlichen können, während in der Wochenzeitung Die Zeit im August 1983 eine gekürzte Fassung erschienen war. Dieser außergewöhnliche Schriftsteller, Arzt, Ethnologe ist plausibel in einem Kapitel vertreten, das „Außenseiter. Fünf Innenansichten“ benannt ist und außer ihm Raymond Roussel, Michel Leiris, Max Jacob und Paul Léautaud umfasst. Letzterer wird unter zwei verschiedenen Rubriken besprochen; seine Kriegstagebücher in dem Kapitel „Paris unter Besatzung“.

Keine Narrenfreiheit für Kollaborateure und Antisemiten

Die deutsche Besatzung, die Vichy-Regierung, französische Kollaborateure und auch die Résistance bilden für Grössel einen besonderen Forschungsgegenstand. Mit nur spärlichen Informationen über die Tätigkeit seines Vaters im besetzten Paris bemühte sich Grössel, wie das Nachwort deutlich macht, durch die Werke von Louis-Ferdinand Céline, Pierre Drieu la Rochelle, Paul Léautaud, Paul Nizan, Jean-Paul Sartre und Léon Werth dem Leben im Paris der Kriegsjahre näher zu kommen.

Grössel bleibt als Kritiker unabhängig und lässt sich durch stilistische Qualität nicht bestechen, wenn es sich um Kollaborateure und erklärte Antisemiten wie Céline oder Drieu la Rochelle handelt. Er möchte das Politische nicht vom Literarischen trennen, davon ausgehend, „dass alle Schriften eines Autors aus demselben Kopf stammen“. Er fährt fort: „Sollte diese Überzeugung dann in den Ruch eines moralischen Rigorismus geraten: besser, wir nehmen das hin, als dass wir unsere Glaubwürdigkeit verlieren, wir, die wir über Literatur schreiben, sie analysieren und werten.“

In die Diskussion um Pierre Drieu la Rochelle, der in seinen 52 Lebensjahren zwischen den politischen Extremen pendelte, der 1931 den später von Louis Malle verfilmten Roman Le feu follet (Das Irrlicht) vorlegte und im März 1945 seiner Verurteilung als Kollaborateur der Nazis durch Selbstmord zuvorkam, schaltet sich Grössel ein und wehrt sich dagegen, „dem Künstler, weil er Künstler ist, ein erhebliches Maß an politischer Narrenfreiheit zu gewähren.“ Er verteidigt sein Berufsethos: „Wenn wir nicht selber Schaden nehmen wollen, müssen wir mit dem Verhätscheln aufhören.“

Was fehlt und was noch kommt

Freilich muss ein auf 540 Seiten begrenzter Band eine Auswahl treffen. Man mag bedauern, dass beispielsweise Grössels Nachwort zu Jules Renards Tagebuchauszügen aus dem Band Ideen, in Tinte getaucht (München 1986) nicht einbezogen wurde. Doch Renard und viele, denen kein eigener Beitrag gewidmet ist, kommen in den Essays zu anderen Autoren durchaus zur Geltung, wie etwa Jean Genet in der Besprechung zu Sartres Buch Saint Genet, Komödiant und Märtyrer (Reinbek 1982). Dankenswerterweise hat die Kunststiftung NRW keine Kosten und Mühen gescheut, dem Band ein umfassendes Personenregister beizufügen.

Leserinnen und Lesern, denen Hanns Grössel mehr als Experte für dänische und schwedische Literatur, vor allem als Übersetzer der Lyrik von Inger Christensen und des Literatur-Nobelpreisträgers Tomas Tranströmer, bekannt ist, können sich auf den zweiten, von Peter Urban-Halle herausgegebenen Band freuen, den der Lilienfeld Verlag für dieses Jahr angekündigt hat. Mit der Zusammenstellung seiner Essays und Kritiken in zwei Bänden wird dem Homme de lettres Hanns Grössel eine verdiente Würdigung zuteil.

Hanns Grössel: Im Labyrinth der Welt. Essays und Kritiken zur französischen Literatur. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Norbert Wehr. Schriftenreihe der Kunststiftung NRW, Literatur, Band 9. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf. 544 Seiten, 30 €.

Außerdem vom Verlag angekündigt:

Hanns Grössel: Umwege zur Wirklichkeit. Essays und Kritiken zur skandinavischen Literatur. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Peter Urban-Halle. Schriftenreihe der Kunststiftung NRW, Literatur, Band 10. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2018, ca. 450 Seiten, 30 €.




Hochstapler und ehrbarer Kaufmann – spannungsreiche Gegenüberstellung im Verlag „Das kulturelle Gedächtnis“

Es sind die Porträts zweier gegensätzlicher Charaktere, die hier zwischen denselben zwei Buchdeckeln zusammengebracht werden: Erich Wulffens Psychologie des Hochstaplers von 1923 und Oswald Bauers klassisches Handbuch Der ehrbare Kaufmann und sein Ansehen, das zuerst 1906 erschienen ist.

Um diese beiden Wiederentdeckungen in dem Rahmen zu würdigen, in dem sie jetzt neu erscheinen, sei kurz auf den Verlag hingewiesen. Er heißt Das kulturelle Gedächtnis, und der Name ist Programm. Das Ziel der Kuratoren ist, wie es im ersten Verlagsprogramm heißt, „notwendige Bücher der Literatur- und Kulturgeschichte neu zu verlegen – um so schon gemachte Erfahrungen einzubringen, erreichte Standards des Denkens und Schreibens hochzuhalten.“

Dieses anspruchsvolle Programm verantworten vier Kenner, die im Literaturbetrieb langjährige Erfahrungen gesammelt haben: Thomas Böhm, Peter Graf, Carsten Pfeiffer und Tobias Roth. Im Frühjahr 2017 ist diese schöne Buchreihe zum ersten Mal in Erscheinung getreten, mit einer Neuveröffentlichung von Voltaires Tragödie Le Fanatisme ou Mahomet le prophète, die 1741 uraufgeführt wurde und 2017 in einer neuen Übersetzung von Tobias Roth unter dem Titel Der Fanatismus oder Mohammed erschienen ist.

Fake News von 1835, Flüchtlingsschicksal von 1754

Eine weitere historische Veröffentlichung im selben Verlagsprogramm, die an Aktualität nichts zu wünschen übrig lässt, liefert ein frühes Beispiel für Fake News: Die astronomische Entdeckung von Bewohnern des Mondes, heute eine allzu leicht zu durchschauende Lügengeschichte, die aber 1835 mit einem vorgeblich wissenschaftlichen Garanten die Auflage der New York Sun in die Höhe schnellen ließ.

Ein Flüchtlingsschicksal beschreibt ein drittes Buch aus dem Verlagsprogramm: Bereits der lange Weg zur Küste hat das aufgesparte Geld verzehrt; Gebühren, Bestechungsgelder für Schlepper, überteuerte Camps mit Massen an Ausreisewilligen. Einige ertrinken oder werden auf der Überfahrt verhungern, an Krankheiten und Auszehrung sterben – das Buch heißt Reise in ein neues Leben und handelt von dem Schwaben Gottlieb Mittelberger, der sich 1754 auf den Weg nach Amerika aufmachte.

Als Walt Whitman den Schmelztiegel New York pries

Mit dem zweiten Verlagsprogramm im Herbst 2017 folgte die deutsche Erstveröffentlichung eines Romans von Walt Whitman. Der Autor ist vor allem durch sein Hauptwerk Leaves of Grass (dt.: Grasblätter) bekannt. Sein 1852 anonym erschienener Roman Life and Adventures of Jack Engle jedoch konnte erst 165 Jahre nach seiner Veröffentlichung dem richtigen Autor zugeordnet werden und erschien 2017 unter Whitmans Namen erstmals auf Englisch und in deutscher Übersetzung durch Stefan Schöberlein unter dem Titel Das abenteuerliche Leben des Jack Engle. Walt Whitman lobpreist in der Romanhandlung die multikulturelle Metropole New York als einen Schmelztiegel, in dem Menschen aus allen Nationen zusammenhalten, um einen Schwachen gegen die Übermacht der Herrschenden zu verteidigen.

Ebenfalls im Herbst erschien neu Ernst Ottwalts Justizroman Denn sie wissen was sie tun, über dessen Protagonisten Kurt Tucholsky 1932 schrieb: Er „ist das Produkt von Erziehung, Kaste und System. Es ist gut gesehen, wie die Rädchen des großen Unrechtgetriebes ineinander greifen, Akte auf Akte, Paragraph auf Paragraph, (…) und zum Schluss ist es keiner gewesen.“ Ein Schelm, wer dabei an aktuelle Gerichtsverfahren denkt.

Gelassenheit, Widerborstigkeit, Liebe zur Buchkunst

Aber die Gruppe der vier Kuratoren belässt es in ihrem Verständnis vom kulturellen Gedächtnis nicht bei einem bequemen Alles-schon-mal-Dagewesen. Sie wollen die Erfahrungen der Vergangenheit für die Gegenwart nutzbar machen, und neben den sich aufdrängenden Parallelen zur Jetztzeit werden auch die historischen Unterschiede und Entwicklungen deutlich. „Dieses Ziel verfolgen wir mit heiterer Gelassenheit, Widerborstigkeit und mit Liebe zur Buchkunst.“

Gegensatz zwischen Diplomatie und Duell

Innerhalb der ohnehin nicht hoch genug zu lobenden Initiative dieser Verlagsgründung soll an dieser Stelle ein Buchformat besonders in den Fokus gerückt werden: die von Thomas Böhm konzipierte und kuratierte Reihe GEGENSCHUSS. Es geht darum, größte denkbare Gegensätze in einen Band zusammenzubringen, der sich von zwei Richtungen aus lesen lässt. Im Programm aus dem Frühjahr 2017 waren das ein Standardwerk der internationalen Diplomatie und eine Schrift über die Regeln des Duells.

Diplomatie oder Duell – gibt es in der Weltpolitik ebenso wie in jedermanns Alltag wichtigere Entscheidungsfragen? Jules Cambons Buch Der Diplomat, erstmals auf Deutsch 1925 erschienen, möchte man manchem Grobian und jedem Autokraten auf den Nachttisch legen. Und wo der Kampf unausweichlich erscheint, lädt Franz von Bolgárs Schrift von 1880 auf konzentrierten 60 Seiten immerhin dazu ein, Die Regeln des Duells – so der Buchtitel – zu beachten.

Was war nach den Diplomaten und Duellanten als nächstes brisantes Gegensatzpaar vorstellbar? Der Kurator hat sich für den Hochstapler und den ehrbaren Kaufmann entschieden.

Betrug mit theatralischen Qualitäten

Erich Wulffen, ein Kriminologe und Staatsanwalt, der schon früh seine Liebe zum Theater entdeckte und seinen Wunschberuf des Schriftstellers neben der vom Vater empfohlenen Juristenkarriere verwirklichen konnte, legte 1923 mit Psychologie des Hochstaplers eine erfahrungsgesättigte Charakterstudie jenes oftmals renommiersüchtigen, dabei jedoch andere Menschen für sich einnehmenden und sehr oft mit schauspielerischem Talent ausgestatteten Ganoventyps vor. Als Theaterliebhaber wusste Wulffen den dramaturgischen Aspekten der von ihm geführten Prozesse viel abzugewinnen. Vergleiche mit der Bühnenwelt durchziehen sein Hochstapler-Buch, in dem der „Hochstapelei und Literatur“ ein eigenes Kapitel gewidmet ist.

Die Elite der Gaunerwelt – wie ein anderes Buch mit Hochstapler-Geschichten heißt – verfügte immer schon über einen hohen Unterhaltungsfaktor. Felix Krulls Erben genießen weitgehende Sympathie, sind doch ihre Opfer ihnen oft gar nicht so unähnlich – Menschen mit Imponiergehabe oder solche, die sich von geringem Einsatz große Gewinne versprechen.

Hochstapelei basiert oft auf Hochbegabung

Es sind oftmals Hochbegabte, denen eine entsprechende Ausbildung verwehrt blieb, um in den Berufen arbeiten zu können, die auszuüben sie als Hochstapler vorgeben. Als ein aktuelleres Beispiel, das Wulffen in sein kriminologisches Pionierwerk freilich nicht einbeziehen konnte, erinnern wir uns an Gert Postel, einen ehemaligen Briefträger, dem es mit gefälschten Diplomen gelang, Oberarzt in einem Psychiatrischen Krankenhaus zu werden, in diesem Beruf hohes Ansehen bei den Kollegen – den Ärzten, nicht den Hochstaplern – genoss und der nach abgebüßter Haftstrafe als Bestsellerautor und als (nicht von allen) gern gesehener Gast in Talkshows reüssierte.

Zu Wulffens Zeitgenossen dagegen gehören unter anderem Ignatz Strassnoff, der 1926 seine auch später noch mehrfach aufgelegten Memoiren veröffentlichte, und Georges Manolescu, den – wie Stephan Porombka ihn nennt – „erste(n) Star der Branche“, mit dem Erich Wulffen lange Zeit eine briefliche Korrespondenz führte. Wulffen porträtiert die Personen, über die er als Staatsanwalt zu richten hatte, mit der Sympathie, die Roman- oder Theaterautoren für die von ihnen entwickelten Charaktere aufbringen, und geht bei der Hochstapelei von einem in allen Menschen angelegten Talent aus. Längere Abschnitte seiner Studie beschäftigen sich mit dem Hochstapler im Kind.

Warnung vor den Tücken der Handelswelt

Nach den abenteuerlichen Geschichten, die sich um die Psychologie des Hochstaplers gruppieren, könnte man vom ehrbaren Kaufmann ein weniger spannendes Leseerlebnis erwarten. Dem ist nicht so. Die Lektüre Oswald Bauers kann besonders dann aufregend werden, wenn sich beim Lesen des kaufmännischen Ehrenkodex‘ zahlreiche Negativbeispiele heutiger Marketing-Praktiken aufdrängen. Dass diese aber keine Erfindungen unserer Zeit sind, macht der historische Text von 1906 ebenso deutlich.

Bauer benennt die „Chikanen“, die von einzelnen Handelspartnern ausgehen können, und muss neben seinen Ausführungen zum guten Stil der kaufmännischen Korrespondenz mit Bedauern auch auf Beispiele eines impertinenten, auf Preisdrückerei angelegten Geschäftsgebarens zu sprechen kommen. Die Übergänge vom aggressiven Wettbewerb zum Betrug am Kunden sind fließend. Wem würden zu dem Thema keine Schlagzeilen aus den letzten Wochen und Monaten einfallen?

Nervöse Zeiten durch „das Telephon“

Es geht Oswald Bauer um das Ansehen des Kaufmannsstands, die Diskrepanz zwischen der äußeren Wahrnehmung und dem inneren Ehrbegriff, um Anstand, Redlichkeit, kurz, was man den Charakter nennen könnte. Kulanz ist ein Schlüsselbegriff, wenn die Überzeugung, im Recht zu sein, mit den als ungerechtfertigt empfundenen Forderungen des Vertragspartners kollidiert. Kulanz, um die Selbstachtung zu wahren, Stärke des Gewährens statt der Schwäche des Verlierens.

Für einen Kaufmann erstaunlich genug, warnt Bauer vor einer „Überschätzung materieller Glücksgüter sowohl, wie von Ehren, Rang und Würden.“ In der Geschäftigkeit sieht er Gefahren wie die allgemein zunehmende Nervosität, die er als die Krankheit der Gegenwart und als Krankheit der Zukunft erkennt. Leichte Erregbarkeit, Jähzorn, Müdigkeit und ein chronischer Mangel an Zeit, dem das letzte Kapitel gewidmet ist.

Über die Nervösen, Ausgebrannten, Depressiven schreibt Bauer: „Sie erfüllen die Anforderungen des Lebens, aber unter Kämpfen; ihre Intelligenz befähigt sie vielleicht zu großen Leistungen, aber ihre Organisation versagt ihnen Kraft und Zähigkeit; sie sehen, was andere sehen, aber wie durch ein gefärbtes Glas; sie gleichen ihrer Umgebung und sind doch fremd in ihr.“

Und er fügt eine ebenso zeitgenössische wie zeitgemäße Beobachtung hinzu: „En passant wollen wir eine nervös machende Errungenschaft der Neuzeit, das Telephon, nicht vergessen.“

Nachworte stehen in der Mitte

In einem „Zwischenspiel“ genannten Nachwort spannt Thomas Böhm einen zeitlich weiten, jedoch auf 7 Seiten komprimierten, Bogen von Plutarch über Beispiele aus dem Mittelalter, dem Humanismus bis zu modernen Standardwerken zur Volks- und Betriebswirtschaft, und hebt besonders ein Postulat aus Bauers Schrift hervor: „daß wir im weiteren Sinne zuerst Mensch und dann erst Mann des Geschäftes sein sollen.“

Die Nachworte zu beiden Büchern treffen sich in der Mitte des Bands, wo Thomas Böhm ihre Verbindung herstellt – nicht zuletzt durch einen Hinweis auf die Finanzmärkte, die sich von dem Kaufmannsideal, wie Oswald Bauer es beschreibt, komplett abgekoppelt haben und damit der Fiktion, der Hochstapelei, die Schleusentore öffnen.

Oswald Bauers Regelwerk des ehrbaren Kaufmanns von 1906 gehört ebenso zu den notwendigen Büchern wie Wulffens Charakterzeichnung des Hochstaplers. Beide behandeln auf unterschiedliche Weise entscheidende Fragen unserer Gegenwart. Wir dürfen gespannt sein auf das Programm des Frühjahrs 2018.

Erich Wulffen: „Der Hochstapler“ vs Oswald Bauer „Der ehrbare Kaufmann“ (Reihe: Gegenschuss, Band 2). Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, Berlin. 256 Seiten, 22 Euro.

Mehr Informationen zu den anderen genannten Büchern aus dem Verlag über: www.daskulturellegedaechtnis.de
Alle Abbildungen in diesem Beitrag: © Verlag „Das kulturelle Gedächtnis“

Zwei andere kursiv gesetzte Buchtitel beziehen sich auf:

Egon Larsen: Hochstapler. Die Elite der Gaunerwelt. Hamburg, 1984
Stephan Porombka: Felix Krulls Erben. Die Geschichte der Hochstapelei im 20. Jahrhundert. Berlin, 2001

In der Rezension erwähnt, aus Gründen der besseren Lesbarkeit jedoch nicht mit bibliographischen Daten im Text angegeben:

Gert Postel, Reiner Pfeiffer: Die Abenteuer des Dr. Dr. Bartholdy – Ein falscher Amtsarzt packt aus. Bremen, 1985
Gert Postel: Doktorspiele – Geständnisse eines Hochstaplers. Frankfurt am Main, 2001
Ignatz Strassnoff: Ich, der Hochstapler Ignatz Strassnoff. Berlin 1926




„Manapouri“ – Marcel Schwobs Briefe von einer Reise nach Samoa am Beginn des 20. Jahrhunderts

In den Jahren 1901/1902 unternahm der französische Schriftsteller Marcel Schwob (1867–1905) auf den Spuren des von ihm verehrten Robert Louis Stevenson eine Reise in die Südsee. Die Briefe, die er von dieser Seereise an seine geliebte Frau, die erfolgreiche Schauspielerin Marguerite Moreno, schrieb, wurden nun erstmals in deutscher Übersetzung im Elfenbein Verlag veröffentlicht.

In den Pariser Schriftstellerzirkeln der 1890er-Jahre um Stéphane Mallarmé, André Gide, Paul Valéry, Alfred Jarry, Paul Claudel, Colette und Jules Renard galt Marcel Schwob wegen seiner außergewöhnlichen Sprachbegabung, stilistischen Brillanz und enormen Belesenheit als eine große Hoffnung der französischen Literatur.

In der kurzen Zeit zwischen 1891 und 1896 veröffentlichte Schwob jährlich mindestens einen Band mit Erzählungen, die meisten im Verlag Mercure de France; er übersetzte Shakespeare, Defoe, De Quincey und auch die Erzählung „Will o‘ the Mill“ von Robert Louis Stevenson. Seine Entdeckerfreude erstreckte sich ebenso auf englischsprachige Literatur wie auf ältere französische Dichtung. Mit seinem Korrespondenzpartner Robert Louis Stevenson verband ihn unter anderem ein starkes biographisches Interesse an François Villon. Ab 1896 aber wurde Schwob zunehmend zum Opfer einer nicht eindeutig diagnostizierten Krankheit, die ihn in die Abhängigkeit von Morphium brachte. Viele, vor allem wissenschaftliche, Arbeiten blieben Fragmente.

Auf den Spuren von Robert Louis Stevenson

Einer seiner Ärzte riet ihm zu einer längeren Seereise. Wie Stevenson, der eingangs seines 1896 posthum veröffentlichten Werks In der Südsee große Erwartungen an das der Gesundheit zuträgliche Klima der pazifischen Inselwelt formulierte, setzte auch Schwob alle Hoffnung in die Heilkraft einer längeren Südseereise.

Im Oktober 1901 schiffte er sich in Marseille ein; die Reise führte über Port Said durch den Sueskanal nach Dschibuti und weiter über Ceylon, wo Schwob bei einem vierzehntägigen Aufenthalt Gelegenheit hatte, die von Henry Cave beschriebenen Ruinenstädte zu besichtigen, nach Australien. Sein chinesischer Begleiter Ting durfte den Kontinent erst nach Zahlung einer sehr hohen Kaution betreten, die Schwob nur mit Mühe auftreiben konnte, wodurch die Weiterreise hier bereits zu scheitern drohte. Die Begegnung mit dem eigenwilligen Kapitän Crawshaw ermöglicht schließlich, dass er mit dessen Schiff „Manapouri“ die Insel Upolu erreicht, den letzten Wohnsitz des bereits 1894 gestorbenen Robert Louis Stevenson in Samoa.

Mit Worten malen

Schwobs Briefe legen Zeugnis ab, welch einen elaborierten Stil er auch in der privaten Form pflegte. Sie waren nicht zur Veröffentlichung vorgesehen, eventuell aber vom Autor als Vorarbeiten zu einem noch zu schreibenden Werk gedacht, das dann jedoch nicht mehr zustande kam.

Die sich bei einer langen Seefahrt wiederholenden Motive – Meer, Horizont, Wolken, gelegentlich die Silhouette eines entfernt gelegenen Landes oder einer Insel – beschreibt Schwob nuanciert und ohne sich zu wiederholen. Seine Sprachmalereien dürften auch beim Übersetzen ins Deutsche eine Herausforderung dargestellt, dem guten Ergebnis nach zu urteilen aber auch den besonderen Reiz einer solchen Aufgabe ausgemacht haben.

„Die fliegenden Fische um uns herum“

Ein Beispiel: „Das flüssige Himmelsufer aus düsterem Blau wird da und dort von Grisailleflächen unterbrochen, finsteren Dunstklippen, bei denen es sich um äquatorialen Regen handelt. Wo kein Wind weht, weint der Himmel lautlos auf die Erde. Die nördliche und die südliche Welt vermischen sich in der Trauer ihrer Sterne. Am Äquator ist das Meer auf ewig traurig und von Regen zerfurcht.“

Das Wenige, was abgesehen vom gesellschaftlichen Leben an Bord passiert, wird zum Ereignis: „Und dabei schwirren die fliegenden Fische um uns herum wie Schmetterlinge. Ein feuchter und silbriger Strich schnellt hoch, gleitet in einem langen Kuss knapp übers Wasser. Zehn, zwanzig, dreißig springen auf, stechen winzige Strudel ins glatte Meer. Arme kleine Fische mit so schweren Flügeln, die einem freudlosen Himmel entgegenstreben. Und der Regen prasselt; und das Meer erschauert von seinem unzählbaren Lachen hinter schweren Tränen.“

Verehrung und Krankheit

In Apia, der Hauptstadt Samoas, wird Schwob freundlich aufgenommen. Er beginnt, Samoanisch zu lernen, erhält eine Einladung des alten Königs Mataafa, der von Robert Louis Stevenson in Eine Fußnote zur Geschichte. Acht Jahre Unruhen aus Samoa (1892; deutsch: Achilla Presse, Hamburg, 2001) unter Samoas zerstrittenen Herrscherfamilien mit besonderer Sympathie bedacht worden war; eine Kava-Zeremonie wird ausführlich beschrieben.

Wie Stevenson erhielt auch Schwob von den Einheimischen den Namen Tusitala – der Geschichtenerzähler. Doch statt der erwarteten Genesung von seiner Krankheit verschlimmert sich sein Zustand. Eine Lungenentzündung überlebt er, in einer Hütte der hingebungsvollen Pflege durch einen jungen Einheimischen überlassen, nur knapp.

Sorgfältige Edition

Stevensons letztes Wohnhaus und sein Grab auf dem nahe der Hauptstadt Apia gelegenen Mont Veae konnte Marcel Schwob wohl nicht mehr besuchen. Erneut ist es Kapitän Crawshaw mit seiner „Manapouri“, der ihm weiterhilft und seine Rückreise ermöglicht. Im März 1902 erreicht Marcel Schwob Marseille, knapp drei Jahre später starb er im Alter von 37 Jahren.

Die eindrucksvolle Reisebeschreibung wird in der deutschen Ausgabe durch Schwobs 1894 erstmals erschienenen Essay zu Robert Louis Stevenson und durch vier Briefe Stevensons an Schwob aus den Jahren 1889–1894 bereichert. Der Übersetzer und profunde Schwob-Kenner Gernot Krämer, der zuvor im selben Verlag zwei andere Werke des Autors veröffentlicht hat (Das gespaltene Herz, 2005, und Der Kinderkreuzzug, 2012) steuerte wertvolle Anmerkungen und ein informatives Nachwort bei. Zahlreiche zeitgenössische Foto-Dokumente der beschriebenen Schauplätze illustrieren die Briefe anschaulich. Das sorgfältig gestaltete Buch ist ein wertvolles Dokument über die Brieffreundschaft und Geistesverwandtschaft zweier besonderer Schriftsteller und ein weiteres Zeugnis über die literarische Meisterschaft Marcel Schwobs.

Marcel Schwob: „Manapouri“. Reise nach Samoa 1901/1902. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Gernot Krämer. Elfenbein Verlag, Berlin. Gebunden, 216 Seiten, 22 €.




Moers ist ganz woanders – eine Nachlese zum Festival

Mit Sorge sahen langjährige Besucher der Zukunft ihres Festivals entgegen. Im vorigen Jahr waren der Künstlerische Leiter und der Geschäftsführer des Moers Festivals nach Querelen mit den Stadtobersten vorzeitig aus ihren Verträgen ausgestiegen. Es ging um Geld, um einen Anteil der Stadt an dem von vielen Seiten geförderten Festival, aber auch, wie schon öfter in der wechselvollen 45-jährigen Geschichte, um die Vermittlung zwischen den hohen künstlerischen Ansprüchen der Festivalmacher und den Interessen der Stadtbewohner.

Festival-Plakat (© Moers Festival)

Diese begegneten mitunter nie gesehenen Gestalten, von denen manche den Namen ihrer Stadt „Mars“ aussprachen und ihrerseits von einem fremden Planeten, auf dem man ein seltsames Verständnis von Musik hatte, zu stammen schienen. Während der Parkplatz vor der Haustür, eine der verständlichen Hauptsorgen der Anwohner, eher von Fahrzeugen aus Münster, Bonn oder den benachbarten Niederlanden zugestellt war.

From Mars to Moers

„Jemand, der sich schon lange aus dem Jazz verabschiedet hat (…) und der ganz woanders ist“, diese Worte wählte Tim Isfort, der neue Künstlerische Leiter, als er am Samstagabend den Ausnahmekomponisten Anthony Braxton ankündigte. Ganz woanders sein, zumindest für die Dauer von vier Tagen, das möchten auch viele der Moers-Pilger – nicht in einer mittelgroßen Stadt am Niederrhein, sondern auf einem den Kosmos musikalischer Möglichkeiten erkundenden Raumschiff. So treffen seit Anbeginn diejenigen, die Moers als Metapher der Grenzenlosigkeit verstehen, auf Menschen, die ganz konkret hier leben.

Vom neuen Festivalleiter erwarten die Stadtväter nicht mehr und nicht weniger, als die verschiedenen Welten einander näherzubringen. Seinem ersten Programmheft stellt Tim Isfort ein 1978 entstandenes Foto voran, das ihn, auf seinem Bonanzarad stehend, mit seiner Familie am Bretterzaun des Festivals zeigt: Er ist ein Kind der Stadt; hier, ganz nah am jährlichen Festival, ist er aufgewachsen.

Auch Anthony Braxton ist in Moers ein alter Bekannter – in den Jahren von 1974 bis 1978 trat er hier regelmäßig auf – und zugleich ein noch zu entdeckender großer Unbekannter. Braxton schreibt täglich Musik, hat mehr als zweihundert Alben aufgenommen, ist mit Jazz und Neuer Musik gleichermaßen vertraut, kombiniert Notation und Improvisation und ist vor allem ein Freigeist.

Braxton-Projekt so komplex wie Stockhausens „Licht“-Zyklus

Braxtons Opernprojekt mit 36 Teilstücken ließe sich in Dauer und Komplexität mit Stockhausens Zyklus „Licht“ vergleichen. Seine Kompositionen Nr. 169 aus dem Jahr 1992 und Nr. 199 von 1997 aus dem Konvolut „Ghost Trance Music“ wurden am 20. Mai dieses Jahres im Großen Sendesaal des WDR vom Ensemble Musikfabrik in Braxtons Abwesenheit, aber mit seinem langjährigen Mitarbeiter, dem Trompeter Taylor Ho Bynum, als Gastmusiker, der die schwierigen Passagen auch dirigierte, aufgeführt.

Anthony Braxton begeisterte am Samstagabend. (© Moers Festival)

Eingerahmt waren seine Stücke von Werken ähnlich anspruchsvoller Komponisten, Harrison Birtwistle und Richard Barrett. Keine leicht zugängliche Musik, aber wohl wenige Erdenbewohner fassen die Welt so durch und durch musikalisch auf wie der Verfasser des 1.700-seitigen Manifests mit dem Titel Tri-Axium Writings. Entsprechend groß waren die Erwartungen an sein einziges Konzert in Europa in diesem Jahr, und sie wurden nicht enttäuscht.

Anthony Braxton reiste mit dem ZIM Sextet aus den USA an; ein Gastauftritt der Saxophonistin Ingrid Laubrock erweiterte die Formation an diesem Abend zum Septett. Zur Aufführung kam ein hochkomplexes Werk für zwei Harfen, Cello, Tuba, verschiedene Saxophonformen einschließlich des riesigen Kontrabasssaxophons und Klarinetten sowie mehrere Blechblasinstrumente (Trompeten, Posaune, Flügelhorn, Kornett), die Taylor Ho Bynum spielte. Eine Komposition mit Noten und Freiräumen zur Improvisation, zusammengehalten durch ein gestisches System der Verständigung. Ein Konzert der Meisterklasse.

Empfehlung: Swans leise hören

Als Anthony Braxton nach einer kurzen Zugabe seinen Auftritt beendete, bereit, mit einigen Freunden in seinen zweiundsiebzigsten Geburtstag hineinzufeiern, waren die Swans auf ihrer Abschiedstour soeben aus Barcelona eingetroffen. Trotz längerer Umbaupause und Soundcheck konnte der Auftritt zur angekündigten Uhrzeit 23:11 beginnen (fast alle Anfangszeiten im Programmheft wirkten wie gewürfelt).

Zuvor hatten die Zuhörer ausreichend Gelegenheit, sich mit Ohrstöpseln zu versorgen. Der Schaumstoff in den Ohren ließ das Gewitter aus drei Gitarren, zwei Keyboards und einem unentwegt wirbelnden Schlagzeuger zwar dumpfer, jedoch nicht spürbar leiser klingen. Im Publikum vor der Bühne sah ich eine einzelne Frau ausgelassen tanzen. Vielleicht reagierte sie angemessener auf die in der Lautstärke angelegte physische Destruktion als wir Vorsichtigen in den hinteren Stuhlreihen, die wir uns von den vibrierenden Lehnen den Rücken massieren ließen. Auch der Sänger der Swans arbeitete wie Braxton mit Gesten, aber die seinen dienten weniger der Kommunikation mit den Mitmusikern; er schien vielmehr seine Fans beschwören oder verhexen zu wollen.

Ich verließ die Festivalhölle nach etwa einer halben Stunde und schaffte es, zu Hause im Livestream nicht nur das Ende des Auftritts, sondern auch die während der Autofahrt verpassten Teile nachzuhören – und stellte bei selbstbestimmter Lautstärke fest, es steckten sehr wohl Feinheiten in dem massiv wirkenden Sound, die mir zuvor mit Ohrstöpseln und zusätzlich zugehaltenen Ohren entgangen waren. Swans-Fans werden mich für den wohlmeinenden Rat, ihre Musik in Zimmerlautstärke zu hören, steinigen wollen, denn, wie der Frontman der Gruppe, Michael Gira, im Programmheft zitiert wird, wirke die Musik durch ihre Energie, „seelisch beflügelnd und körperlich zerstörend“.

Kommerzielles Kalkül und künstlerisches Konzept

Diese beiden gegensätzliche Auftritte am Samstagabend – die schnell gespielten kleinen, feinen Töne Anthony Braxtons und die betäubende Lautstärke der Swans – mögen stellvertretend stehen für eine nur allzu auffällige Eigenart des diesjährigen Festivals, die mindestens ebenso sehr kommerzielles Kalkül sein dürfte wie künstlerisches Konzept. Um es in der Sprache von Online-Shops zu sagen: Wer Anthony Braxton mag, dem wird vermutlich auch Miller’s Tale gefallen, das Trio mit der großartigen Pianistin Sylvie Courvoisier aus der Schweiz, dem britischen Saxophonisten Evan Parker, der zuletzt 2012 mit Rocket Science in Moers auftrat, und der Japanerin Ikue Mori an der Elektronik (sie war hier 2013 mit John Zorns „Electric Masada“ zu erleben).

Und wer sich Karten für diese beiden Auftritte kaufen würde, ließe sich sicherlich auch für die beiden Kompositionen „Vogelfrei“ und „Contemporary Chaos Practices“ von Ingrid Laubrock begeistern, die am Pfingstmontag mit dem EOS Kammerorchester Köln aufgeführt wurden, das erste Stück zusätzlich mit zwei Chören, das zweite als Kompositionsauftrag der Kunststiftung NRW eine Welturaufführung.

Verschiedene Schnittmengen im Publikum

Das gleiche Zielpublikum wird auch bereits am Freitagabend dem Auftritt des Streichquartetts um Carolin Pook mit Genuss gelauscht haben, das mit seinem Programm „cosmic string time travel“ auf das New Yorker Powertrio Spacepilot traf. Vier großartige Konzerte für einen bestimmten Teil des Publikums, eventuell auch fünf, wenn man das medidativ-minimalistische Saxophonquartett Battle Trance aus New York hinzunimmt. Bezeichnenderweise fanden diese Konzerte an vier verschiedenen Tagen statt, sodass das Festivalticket die preisgünstigste Option war.

Unmittelbar vor oder nach solchen Höhepunkten standen Musiker auf der Bühne, die eine andere Schnittmenge im Publikum ansprachen. Ich kann mir vorstellen, dass Verehrer der Swans dem Auftritt der belgischen Crust Punks von Cocaine Piss mehr Lustvolles abgewannen als manche Hörer neuer Kammermusik, für die Aurélie Poppins‘ Kreischen geklungen haben könnte, als habe sich die Sängerin einen Finger in der Autotür eingeklemmt, vierzig Minuten lang. Doch freilich schickt der Künstlerische Leiter nicht einfach irgendeine Punkband auf die Bühne. Er brachte die vier Crusties aus Liège mit der dänischen Saxophonistin Mette Rasmussen zusammen, die ihr Instrument so punkgemäß malträtierte, dass beides gut zueinander passte.

Jedem sein eigenes Moers

„Ich bin sicher, dass nach den vier Festivaltagen jeder ‚sein eigenes Moers‘ erlebt haben wird“, schreibt Tim Isfort in der Einleitung des Programmhefts. Die Vielfalt an musikalischen Stilen war auf dem Festival selbstverständlich sehr viel reicher, als die bisher genannten Beispiele vermuten lassen. Da war das Dub Trio aus den USA, das genau die Musik spielte, die der Name der Band versprach. Es waren neue Kostproben aus der Singer-Songwriter-Szene zu hören, von der 21-jährigen Julien Baker in der Kirche St. Josef, oder von Brian Blade, der eigentlich Schlagzeuger ist, aber für sein Projekt Mama Rosa als Sänger mit Gitarre auf die Bühne der Festivalhalle kam, begleitet von fünf Musikern.

Stimmgewaltig und theatralisch präsentierte sich Dorian Wood am Piano, der seine ersten Auftritte in der Gay-Bar-Szene von Los Angeles hatte. Er sang, vielmehr: er performte seine Songs auf Spanisch, Englisch und Bulgarisch, unterstützt von dem sechsköpfigen Ensemble CRUSH, bestehend aus vier Streichinstrumenten, Akkordeon und E-Gitarre. Einen bewegenden Song widmete er den 43 in Mexiko verschwundenen Studenten.

Dorian Wood widmete einen Song den 43 in Mexiko verschwundenen Studenten.
(© Moers Festival)

Und es war auch weiterhin gediegener Altherren-Jazz auf dem Festival vertreten, etwa von der isländischen Formation ADHD oder von The Bad Plus aus den USA.

Dagegen hoben sich erfrischend einige jüngere deutsche, österreichische oder belgische Jazzer ab, das Quartett Philm des Berliner Saxophonisten Philipp Gropper etwa, das Trio De Beren Gieren und nicht zu vergessen: der diesjährige „Improviser in residence“ in Moers, John-Dennis Renken. Mit seiner Gruppe „Tribe“ spielte er unter anderem drei Stücke, die er für seine kleine Tochter geschrieben hat, die am Samstag ihr erstes Konzert besuchte. Eines der Stücke heißt „Quatschkopp“ und klingt ziemlich chaotisch, ein anderes, „Charlie‘s Lullaby“, langsamer und sehr emotional. Dennoch: Charlotte muss ein ganz besonderes Kind sein, wenn es ihr gelingt, zu der Musik ihres Papas einzuschlafen. Moers war, für diejenigen, die lange genug im Saal blieben, ein Wechselbad der Gefühle.

Likembe ekuba und die Bohrmaschine

Zu den temperamentvollsten Auftritten gehörte am späten Sonntagabend die kongolesische Gruppe Radio Kinshasa mit der kraftvollen Sängerin und Trommlerin Huguette Huguembo und dem ausdrucksstarken Sänger und Performer Strombo, der seine Instrumente selbst baut. Sie tragen Namen wie likembe ekuba, clavier mesa oder guitard miliki.

Die beiden und drei weitere afrikanische Perkussionisten/Drummer spielten zusammen mit FM Einheit, alias Frank-Martin Strauß, langjähriges Mitglied der Einstürzenden Neubauten, der seine Instrumente ebenfalls selbst herstellt, meterlange Metallspiralen, die er auf der Bühne mit dem Elektrobohrer bearbeitet, oder ein Blech mit Steinen. Dazu spielte der Tenorsaxophonist und Pianist Pavel Arakelian, der an seinem Wohnort Minsk nicht allein von der Musik leben kann und sich ein Zubrot als Bodybuilder verdient. Der Trompeter Markus Türk vervollständigte den energiegeladenen Auftritt von Radio Kinshasa, der im Programm an der Stelle stand, an der früher die African Dance Nights stattfanden. Die Musik lädt nicht nur ein, sie treibt das Publikum geradezu zum Tanzen.

Ausblick

Viele gute Ideen sind in der kurzen Vorbereitungszeit von nur fünf Monaten realisiert worden, und das bei spürbaren finanziellen Einschnitten, die Tim Isfort auf der Bühne ansprach. Aber auch die eingangs erwähnten Sorgen sind nicht unberechtigt. Freunde des Festivals hoffen, dass Moers keine ähnliche Entwicklung wie das benachbarte Traumzeit-Festival nehmen wird, dessen künstlerische Leitung nach der Trennung von Tim Isfort 2012 vom Festivalbüroleiter der Duisburger Marketing Gesellschaft zusätzlich zur kaufmännischen Leitung übernommen wurde und seitdem mit erheblichen Zugeständnissen an den Mainstream fortgeführt wird. Für dieses Jahr jedenfalls erwies sich die Befürchtung, das Moers Festival könnte zu viele Kompromisse eingehen, als unbegründet. Doch andererseits sollte der Wunsch nach Besonderheit nicht in einem Kuriositätenkabinett sämtlicher Musikstile münden.

Deutlicher noch als Vorgänger Reiner Michalke hat die neue Programmleitung das Festival an verschiedene Spielorte verlagert, in die Innenstadt, in den Park, wo Kunstinstallationen zu sehen waren, ins Festivaldorf; moersify nennt sich eine der Reihen. Auch innerhalb der Festivalhalle sucht Isfort neue Formen, wie die discussions, Sessions, die in einer Art Boxring im unteren Teil der Tribüne stattfanden.

Auf der Startseite des Moers Festivals ist im Newsletter zu lesen, das gesamte Team freue sich sehr darauf, „nächstes Jahr mehr Zeit zu haben für – – – Alles!“ Das lässt hoffen.

Das vollständige Programm kann auf der folgenden Website nachgelesen werden: www.moers-festival.de/programm/programmuebersicht/




Innenleben einer Bibliothek: Frans Kellendonks „Buchstabe und Geist“ erstmals auf Deutsch

Eine Bibliothek als Schauplatz eines Romans, kann das spannend sein? Auch wenn hinter den Regalen kein Mord geschieht, kein mittelalterlicher Mönch die Bücher vergiftet, keine Kinder gezeugt werden – die ganz alltäglichen Benutzer einer Universitätsbibliothek und das dort beschäftigte Personal reichen zur Ausstattung eines guten Romans völlig aus.

Schreiben und Übersetzen sind einsame Tätigkeiten. Mancher der so Arbeitenden kann auf Dauer der Versuchung nicht widerstehen, seinen Lebensunterhalt in einem geselligeren Arbeitsumfeld zu verdienen. Der niederländische Autor und Übersetzer Frans Kellendonk nahm, wie wir aus dem Nachwort erfahren, von Januar bis April 1979 eine Stelle in der altehrwürdigen Universitätsbibliothek Leiden an. Wenn auch der Name der Stadt im Roman ungenannt bleibt, wenn auch der Protagonist Felix Mandaat zuvor seine freiberufliche Tätigkeit nicht mit literarischen Erzeugnissen, sondern mit der Organisation von Kongressen bestritten hatte, dürfte Kellendonk die Erfahrungen als Bibliothekar für seinen Roman „Buchstabe und Geist“ verwertet haben.

9783940357533

Das Aufgehen in einer Gemeinschaft – kann ein solcher Wunsch nach Zugehörigkeit nicht eher im Kreis selbstgewählter Freundinnen und Freunde, beim regelmäßigen Stammtisch oder im Verein erfüllt werden? Ist die Hoffnung, sich über eine Institution zu definieren, auf deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter man als Neuling keinen Einfluss hat, nicht zum Scheitern verurteilt und der Ausgang von Mandaats Selbstversuch voraussehbar? Möglich. Jedoch sind die in einer Bibliothek beheimateten Charaktere – ihre Benutzer gleichermaßen wie die Angestellten – durchaus literaturwürdige Geschöpfe.

In der Universitätsbibliothek trifft man natürlich Studierende, daneben Privatgelehrte, komische Käuze und auch Menschen, die sich aufwärmen möchten und am liebsten über einem Buch einschlafen.

Da ist der Übersetzer, der mit dem Bibliotheksangestellten alle möglichen Synonyme diskutieren will. Unter den Kollegen ist manch einer ein verhinderter Wissenschaftler, dessen sporadische Veröffentlichungen, die gleichwohl seine Eitelkeit nähren, für eine Universitätskarriere nicht ausreichten. Vom Bibliotheksdirektor heißt es, er beherrsche fast fünfzig Sprachen, darunter die in unseren Breiten seltener gehörten wie Oriya, Cebuano, Hiligaynon, aber auch frei erfundene wie Telalog. Kollegen helfen sich gegenseitig mit passenden Ausdrücken aus, wenn einer mal vergessen hat, wie er den Satz beenden wollte.

Bedeutender noch als die Angestellten, mit denen Mandaat tatsächlich zusammenarbeitet, ist für ihn ein dauerhaft Abwesender: Meneer Brugman, der sich auf unbestimmte Zeit hat beurlauben lassen und dessen Lücke Mandaat ausfüllen soll. Gleich bei der Arbeitsaufnahme wird Felix Mandaat als „der Vertreter für unseren Meneer Brugman“ begrüßt, und ein Kurier, der nur Kriegsbücher liest, spricht ihn unumwunden an: „Du bist doch der neue Meneer Brugman?“

Frans Kellendonk (© Stichting Frans Kellendonkfonds)

Frans Kellendonk (© Stichting Frans Kellendonkfonds)

Einmal nimmt sich Mandaat ein Herz und wählt Brugmans Telefonnummer, erreicht aber nur dessen ahnungslose Vermieterin, die ihm rät, es auf der Arbeitsstelle zu versuchen. Mandaats schwangere Assistentin, Mevrouw Qualing, weist ihn immerzu darauf hin, wie Meneer Brugman bestimmte Arbeitsabläufe ausgeführt hat. Gerüchte kursieren, Brugman und nicht etwa ihr Ehemann könnte der Vater des in ihr heranreifenden Kindes sein, aber für den Fortgang der Handlung ist die Antwort (wie so manches) unerheblich.

In seiner Abwesenheit bleibt der Vorgänger zugleich geisterhaft präsent, was den Untertitel „Eine Spukgeschichte“ aber nur vordergründig erklärt. Mag es in dem Magazin der Bibliothek ein bisschen spuken oder auch nicht, unheimlich wird es erst, als ein Kollege dem Protagonisten helfen will, die Geistererscheinung aufzuklären, und sich dabei zu beschämenden Bekenntnissen hinreißen lässt. Doch auch wenn uns der Autor tief in seelische Abgründe blicken lässt, denunziert er seine Figuren nie. Ob er sie mag? Das steht auf einem anderen Blatt.

Beim munteren Fabulieren wird das Erzählen selbst zu einem Thema. In einer der Kaffeepausen erzählt Mandaat die Geschichte seines Großvaters, der auf dem Motorrad, stocksteif vor Kälte und ohne jegliches Gefühl in Armen und Beinen, im Panzer der durch gefrorenen Schweiß starren Kleidung die Maschine weder lenken noch abbremsen kann und an der üblichen Ausfahrt vorbei auf ein ungewisses Ziel zusteuert (Kapitel „Phaeton“). Dabei überlegt der Erzählende unausgesetzt, wie er dem von ihm geschaffenen Erwartungsdruck seiner Zuhörerinnen und Zuhörer am Ende gerecht werden könnte.

Als nach gut drei Monaten klar ist, dass Brugman nicht mehr zurückkommen wird, und Mandaat von seinem Vorgesetzten eine Festanstellung angeboten bekommt, weiß er nichts zu sagen. Im nächsten und zugleich letzten Kapitel befinden wir uns auf Mandaats unspektakulärer Abschiedsfeier in einer gemütlichen holländischen Kneipe. Ein bisher wenig in Erscheinung getretener, ihm nicht unsympathischer Kollege begleitet Mandaat zum letzten Mal zum Bahnhof. Es stellt sich der Eindruck ein, in diesem nicht geradlinig erzählten Roman hätten ebenso gut andere Figuren in den Fokus rücken können.

1982, als der Roman des damals einunddreißigjährigen Autors in den Niederlanden erschien, war viel von postmodernen Erzählkonzepten die Rede. Bei aller Kühnheit der Konstruktion, allen Formexperimenten, Elementen eines Ideenromans und Auflösung des Plots erfüllt „Buchstabe und Geist“ dennoch in hohem Maße Kellendonks Anspruch, unterhaltsam zu sein. Der Erfolg des früh zu einem Kultautor aufgestiegenen Frans Kellendonk, der mit neununddreißig Jahren an AIDS starb, zeugt – trotz aller Fremdheit gegenüber dem Bibliothekspersonal – eindeutig von einer Verbundenheit mit einer größeren Gemeinschaft.

In der gelungenen Übersetzung durch Rainer Kersten ist der Roman jetzt als Band 21 in der schönen Reihe der „Lilienfeldiana“ veröffentlicht worden. Für die Einbandgestaltung hat der Verlag ein Gemälde des in Düsseldorf lebenden Malers Peter Rusam verwendet. In seinem klugen und kenntnisreichen Nachwort erwähnt der Übersetzer einige weitere, noch nicht ins Deutsche übertragene Werke Frans Kellendonks. Bleibt zu hoffen, dass wir – sofern wir des Niederländischen nicht mächtig sind – von diesem stilsicheren Ausnahmeautor demnächst noch mehr auf Deutsch werden lesen können.

Frans Kellendonk: „Buchstabe und Geist. Eine Spukgeschichte.“ Aus dem Niederländischen und mit einem Nachwort von Rainer Kersten. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf. 170 Seiten, 19,90 Euro.




Aufbruch ins Ungewisse – eine Nachlese zum Moers Festival 2016

„Das Moers Festival, das steht für Risiko, für neue Klänge, für ungewöhnliche Klänge, für phantastische Musiker und Musikerinnen und für ein phantastisches Publikum“, sagte vor ihrem Auftritt Carolin Pook, die gegenwärtig als Improviser in Residence in Moers zu Gast ist. „Das moers festival bleibt der musikalische Gegenentwurf zu einer Welt, in der Menschen dabei sind, wieder Grenzzäune hochzuziehen, und es kann vielleicht einen kleinen Beitrag leisten und zeigen, dass Zukunft nur ohne Grenzen lebenswert ist“ – so der künstlerische Leiter Reiner Michalke im Vorwort seines Programms. Zwei Statements vorweg, die die Besonderheit auch des diesjährigen Pfingstereignisses in Moers auf den Punkt bringen.

In diesem Jahr schien das Festival weniger auf die großen Namen der jüngeren Jazzgeschichte abzuheben als – noch stärker als in der Vergangenheit – den Wandel der Szene verdeutlichen zu wollen.

Jóhann Jóhannsson,  Hildur Guðnadóttir,  Robert Aiki Aubrey Lowe © Nick Schonfeld / Rune Kongsro / Liz Deleo

Von links: Jóhann Jóhannsson, Hildur Guðnadóttir, Robert Aiki Aubrey Lowe
© Nick Schonfeld / Rune Kongsro / Liz Deleo

Zu den – nicht zuletzt durch seine Filmmusiken – bekannteren Musikern im Programm zählte der isländische Komponist Jóhann Jóhannsson, der allerdings seinen Auftritt wegen einer Erkrankung absagte. Hildur Guðnadóttir (Cello) und Robert Aiki Aubrey Lowe (Gitarre, Gesang, Perkussion) übernahmen den vom Komponisten bereitgestellten Elektronikpart und spielten live zu dem von Jóhannsson produzierten Super-8-Schwarzweißfilm mit Naturaufnahmen aus der Antarktis „End of Summer“ – ein ruhiges, meditatives Konzert mit wundervollen Klängen und der Wehmut des sich ankündigenden antarktischen Winters.

Am nächsten Tag hatte das Publikum bei freiem Eintritt in der renovierten Stadtkirche Gelegenheit, die Cellistin Hildur Guðnadóttir in einem Solokonzert zu erleben – konzentriert, meditativ, ruhig.

Moers meditiert

Maja Osojniks & Patrick Wurzwallners Programm „Let Them Grow“ beginnt mit einem Mantra, dem „Om“, und auch hier liegt in der Stille die Kraft; manche der Stücke entwickeln eine umwerfende Wucht. Großartig. Jeremy Flowers, der anschließend mit seiner Band und dem auf Musik des 20. und 21. Jahrhunderts spezialisierten EOS Kammerorchester Köln auftrat, bezeichnet sich als einen „stillen Musiker aus Boston“, und tatsächlich sind seine von Carla Kihlstedt gesungenen Stücke aus „The Real Me“ durchweg gefällig und ausgezeichnet orchestriert, an der Grenze zur – besseren – Popmusik.

David Virelles, der mit seinem Projekt Mbókò Spuren ritueller afro-kubanischer Musik neu bearbeitet, versteht sich ohnehin in einer Tradition von sacred music. Aber auch die ganz auf Improvisation basierende Formation Warped Dreamer, von denen man angesichts der Mitwirkenden – Arve Henriksen (Trompete), Stian Westerhus (E-Gitarre), Jozef Dumoulin (Piano) und dem jungen Belgier Teun Verbruggen virtuos am Schlagzeug – größte Radikalität erwartet (die sich auch zeigte), schaffen zwischendrin wunderbar meditative, zum Teil an eine Litanei erinnernde Momente. Das Spirituelle ist ein durchgehendes Element während des gesamten Festivals, als gelte es den Kriegen der Gegenwart eine massive Stille entgegenzusetzen.

Harriet Tubman & Cassandra Wilson

Vor kurzem ging die Nachricht durch die Presse, auf den neuen 20-US-Dollar-Scheinen sei das Porträt von Harriet Tubman (ca. 1820-1913) abgebildet. Die ehemalige Sklavin entwickelte sich zur bekanntesten Fluchthelferin der Hilfsorganisation Underground Railroad. Nach ihr benannte sich das 1998 gegründete Trio, bestehend aus Brandon Ross (Gitarre und Banjo), Melvin Gibbs (Bass) und J. T. Lewis (Drums). Als Special Guest war Cassandra Wilson mit angereist und hatte – eine Besonderheit – ihre rote Fender-Gitarre dabei, auf der sie ein kurzes, ziemlich schräg klingendes Solo spielte. Sie sang unter anderem die Stücke „I‘ll Overcome Some Day“, „Run The Voodoo Down“, den titelgebenden Song des Konzerts „Black Sun“ und mit interessanter Flanger-Bass-Begleitung den Beatles-Klassiker „Tomorrow Never Knows“.

Weder Binnen- noch Außengrenzen der Musik

Die beschworene Grenzenlosigkeit des Festivals meint sowohl die Binnengrenzen der Musik (zwischen den musikalischen Genres) als auch ihre Außengrenzen, die Öffnung zu anderen Kunst- und Ausdrucksformen. Mit musiktheatralischen Mitteln arbeitet das Trio The Liz, zwei experimentelle Klangkünstlerinnen aus den USA, Liz Kosack und Liz Albee, die in Berlin den türkischstämmigen Korhan „Liz“ Erel trafen und gemeinsam neue Möglichkeiten ausprobieren. Eine Ödipus/Sphinx-Geschichte, die sich in ihrer Ästhetik teils an Jean Cocteau, teils an Texten von Kathy Acker orientiert.

Dem blind suchenden Ödipus und der Erzählerin fügt sich als dritte Figur die mit einer Anubis-Maske auftretende Keyboarderin hinzu. Die Klänge erinnern teilweise an Stockhausens Kompositionen aus den 50er-Jahren, an „Kontakte“ oder an den „Gesang der Jünglinge“. Dazu werden im Auge einer Pyramide auf der Bühne künstlerische Videos projiziert. Wie bei dem bereits erwähnten Film „End of Summer“ von Jóhann Jóhannsson bilden auch hier Optik und Akustik ein komplexes Kunstwerk.

Politischen Anspruch eingelöst

Der politische Anspruch des Festivals wird in vielfältiger Weise eingelöst. Bei Tim Isfort sind es beispielsweise die Ankündigungen der jeweiligen Titel, die – eindeutiger noch, als die textfreie Musik es sein kann – die Botschaft transportieren, wie „Cherbourg Blues“, ein auf die Flüchtlingscontainer entlang des Ärmelkanals anspielender Titel, oder das Bedrohliche der Neufassung von „New Dark Age“, einem Stück der Post-Punk-Band „The Sound“ von 1981.

Dass die in Moers auftretenden Musiker aus aller Welt kommen, ist eine Tradition seit der Gründung des Festivals im Jahr 1972. Aus der Vielzahl der Nationen, die 2016 am Start sind, sollte als Besonderheit das Trio Dawn Of Midi erwähnt werden, ein marokkanischer Pianist, ein indischer Bassist und ein aus Pakistan stammender Schlagzeuger. Was sie spielen, klingt streckenweise sehr nach Techno, nur eben mit akustischen Instrumenten gespielt, und die Einflüsse entstammen ebenso sehr westafrikanischen Rhythmen wie elektronischer Musik.

Dawn Of Midi ©  Falkwyn de Goyeneche

Dawn Of Midi
© Falkwyn de Goyeneche

Junge Talente

Den Schlusspunkt setzten zwei junge Talente: die in New York lebende Jazz-Sängerin Becca Stevens, die sich als ihren Begleiter für dieses Konzert den 21-jährigen Londoner Shooting Star Jacob Collier gewünscht hatte. Jacob Collier hat sich vor allem durch die von ihm im Alleingang produzierten YouTube-Videos einen Namen gemacht, mit hochkomplexen, originellen Arrangements, bei denen er sämtliche Instrumente selbst spielte und ganze Chöre aus seiner Stimme mixte. Musiker wie Chick Corea, Pat Metheny und Herbie Hancock sehen in ihm einen der großen Hoffnungsträger des Jazz; mit dem Management von Quincy Jones schloss Jacob Collier einen Vertrag; Anfang Juli soll sein erstes Album erscheinen.

Auf der Bühne kann Collier freilich nicht alle Instrumente gleichzeitig spielen und begnügte sich in Moers mit Keyboards, Bass, Ukulele und Gesang. Im Duo mit Becca Stevens, die neben ihrem Gesang ebenfalls Ukulele und Gitarre spielte, bekam das Publikum neben Eigenkompositionen von Becca Stevens und Jacob Collier bekannte Stücke von Bob Dylan oder Stevie Wonder in ungewöhnlicher Bearbeitung zu hören – Klänge, die uns aufhorchen lassen.

Das Abschlusskonzert war jedoch – zumindest für die noch anwesenden Journalisten und Medienvertreter – bereits getrübt durch die vorangegangene Pressekonferenz. Dort gab der Künstlerische Leiter des Festivals, Reiner Michalke, bekannt, er habe der Aufsichtsratvorsitzenden der Moers Kultur GmbH angesichts des fehlenden Rückhalts durch die Stadt Moers und der sich daraus für die Zukunft ergebenden Unsicherheit die Auflösung seines Vertrages mit sofortiger Wirkung angeboten. Ob das Festival in der bisherigen Qualität auch im nächsten Jahr noch stattfinden wird, entscheidet sich nicht zuletzt in der Moerser Kommunalpolitik.

Das Moers Festival steht für keine Grenzen, bis auf solche, die dem Festival von den Oberbuchhaltern der Stadtverwaltung aufgezeigt werden. Bleibt zu hoffen, dass das Moers Festival auch diese großen Hemmnisse überwindet und in Zukunft weiterhin mit einem einzigartigen Musikprogramm aufwarten kann.

Auf der Website des TV-Senders arte in der Rubrik concert jazz werden die Konzerte des Hauptprogramms noch eine Weile nachklingen.




„…in der Erde wühlen, die Wolken anglotzen“: Der große Minimierer – Samuel Becketts Briefe 1941–1956

In dem Zeitraum zwischen 1941 und 1956, den der zweite Band der Briefausgabe umfasst, schrieb Samuel Beckett seine bekanntesten Romane und Theaterstücke. In schneller Folge erschien die Romantrilogie mit Molloy (1951), Malone stirbt (1951) und Der Namenlose (1953), und dazwischen, 1952, die Druckfassung von Warten auf Godot – das Stück, das ihn schon bald nach seiner Uraufführung im Januar 1953 berühmt machen sollte.

Jedoch kamen solche Erfolge keinesfalls aus dem Nichts; und auch, was als Erfolg anzusehen ist und was nicht, stellt sich in seinen Briefen – nicht anders als in Becketts gesamtem literarischen Werk – als etwas Relatives dar.

Cover Beckett Briefe 1941 bis 1956

Die Geldsorgen seiner jungen Jahre haben nun neuen Nöten Platz gemacht. Auskunftsbegehren von Literaturwissenschaftlern, Übersetzern, Verlegern und Verehrern lassen die Korrespondenz mit Jugendfreunden, die den ersten Band der Beckett-Briefe prägten, in den Hintergrund treten. Kein ausgedehntes Umherschweifen von Museum zu Museum wie in der Vorkriegszeit; stattdessen nur wenige notwendige Reisen, meistens nach Irland.

Es ist auch der Zeitraum, in dem die beiden engsten ihm verbliebenen Angehörigen sterben, seine Mutter (1950) und sein Bruder Frank (1954). Vor allem aber liegt zwischen den Briefen aus Band 1 und denen des zweiten Bandes der Krieg, der ihn einiger seiner Freunde und Mitstreiter aus der Résistance beraubte – wie Alfred Péron, der ihm bei der Übersetzung seines ersten Romans Murphy (1938) ins Französische geholfen hatte.

Alfred Pérons Frau Maria, genannt Mania, konnte den Autor und seine Lebensgefährtin Suzanne Deschevaux-Dumesnil noch rechtzeitig mit einem Telegramm vor der Verhaftung durch die Nazis warnen. Die beiden versteckten sich daraufhin in Rousillon, einem abgelegenen Ort in der Vaucluse. Um 1943 füllte Beckett dort mehrere Notizbücher mit seinem letzten in englischer Sprache entstehenden Roman, Watt, der erst zehn Jahre später veröffentlicht wurde. Im Januar 1945 sandte Beckett ein Lebenszeichen an seinen Bruder Frank in Irland; die umfangreiche Korrespondenz sollte jedoch erst nach Kriegsende wieder einsetzen.

Das Haus in Rousillon (Vaucluse), in dem Beckett und Suzanne Deschevaux-Dumesnil von Oktober 1942 bis Oktober 1944 wohnten; Foto: Wolfgang Cziesla, März 2015

Das Haus in Rousillon (Vaucluse), in dem Beckett und Suzanne Deschevaux-Dumesnil von Oktober 1942 bis Oktober 1944 wohnten; Foto: Wolfgang Cziesla, März 2015

Nicht von sich selbst absehen können

Einen Höhepunkt der Briefkunst dieser Jahre stellt die Korrespondenz mit dem Kunsthistoriker Georges Duthuit dar. Hier bilden sich die Formulierungen heraus, die 1949 als „Drei Dialoge“ (über Tal Coat, André Masson und Bram van Velde) in der von Duthuit mitherausgegebenen englischsprachigen Zeitschrift Transition veröffentlicht wurden und 1967 erstmals auf Deutsch in einem Auswahlband erschienen sind.

Zugleich wird ablesbar, wie Beckett in der Auseinandersetzung mit den Künstlerfreunden sich selbst auf die Spur kommen möchte. „Nur weil ich davon besessen bin, mich in eine Situation zu begeben, die buchstäblich unmöglich ist und die Du das Absolute nennst, hefte ich ihn [Bram van Velde] mir an meine Seite.“ Dabei äußert er auch Skrupel, dem Maler nicht gerecht geworden sein.

Die Frage nach Erlebtem und Fiktion in seinem Werk beantwortet Beckett in einem Brief an Georges Duthuit vom März 1949: „Aber bedenke, dass ich, der ich fast nie über mich spreche, fast nie über etwas anderes spreche.“ Jemand wie Beckett tut sich schwer mit Erwartungen, die an ihn herangetragen werden – auch dann, wenn er sich selbst zu etwas verpflichtet fühlt. Die Verehrung für den Maler Jack B. Yeats (den Bruder des Dichters William Butler Yeats) ging bereits in Becketts bitterarmen Jugendjahren so weit, dass er lieber mit verschlissenen, regenuntauglichen Schuhen herumlief, als auf das kleine Gemälde, das Yeats ihm zu einem Freundschaftspreis zu überlassen bereit war, zu verzichten.

Nach seinen ersten größeren Erfolgen vermittelte Beckett dem älteren Freund eine Ausstellung in Paris und kümmerte sich um positive Besprechungen. Über seinen eigenen Beitrag zu einer Würdigung in der Literaturzeitschrift Les Lettres Nouvelles äußert er sich in einem Brief: „Zu Yeats brachte ich nach Stunden und Tagen buchstäblicher Folterqualen eine kurze Seite der jämmerlichsten Art zustande, die, irritiert und müde, das genaue Gegenteil dessen ist, was ich so gern gewollt hätte. Selbst für diesen großen alten Mann, den ich liebe und verehre, war ich nicht imstande, ein wenig von mir abzusehen.“ (Samuel Beckett an Georges Duthuit am 2. März 1954)

Sein expressives Bedürfnis ist gleichzeitig von dem Bewusstsein beherrscht, dass die Mittel des Expressiven bereits ausgeschöpft sind. Er fühlt sich kraftlos und müde. Was Beckett im Januar 1949 an Bram van Velde schrieb – er „suche nach einem Weg, zu kapitulieren, ohne ganz und gar zu verstummen“ – könnte auch als Motto über seinem Gesamtwerk stehen.

Das Erzählen an einen Endpunkt geführt

In Becketts Romanen lässt sich von Murphy über Watt und dann vor allem in der Trilogie MolloyMalone stirbtDer Namenlose eine Entwicklung zum Immer-weniger nachvollziehen. Über den letzten Teil der Trilogie schreibt er im Februar 1952: „Das dritte, L’Innommable, kommt wahrscheinlich im Frühjahr und ist wohl das Ende der Partie, soweit es mich betrifft, da niemand mehr da ist, der spricht und, unabhängig davon vielleicht und ohnehin überflüssigerweise, nichts, wovon zu sprechen wäre.“

Durch immer radikalere Reduktion hat sich Beckett Schritt für Schritt in die Ausweglosigkeit geschrieben. Seine Protagonisten geben nach und nach alles auf: ihren Besitz, ihren Körper, bis in Der Namenlose nur noch die Sprache selbst übrigbleibt, ohne einen Sprechenden. „Was liegt daran wer spricht, jemand hat gesagt, was liegt daran wer spricht“, heißt es im dritten der Texte um Nichts (Nouvelles et Textes pour rien; 1955 veröffentlicht) – ein Satz, den nicht zuletzt Michel Foucault in seinem kanonischen Text Was ist ein Autor? aufgegriffen hat.

„Absurder- und blöderweise bin ich die Kreatur meiner Bücher, und L’Innommable ist schuldiger an meiner gegenwärtigen Misere als alle anderen guten Gründe zusammengenommen“, teilt er am 27. Dezember 1954 seiner Freundin Pamela Mitchell mit. Und an Jacoba, die jüngere Schwester von Bram van Velde, schreibt er: „Nach L’Innommable habe ich nichts mehr zustande gebracht, das ist das Ende der Fahnenstange. Wenn Du es liest, verstehst Du vielleicht, warum. Ich zucke noch, aber ohne Resultat. Es wäre besser, ich könnte mich zum Aufgeben entschließen. Vielleicht komme ich noch dahin.“

Mit dem „Zucken“ sind die kurzen Texte um Nichts gemeint, Schritte auf dem langen Weg kunstvollen Verstummens. „Und ich habe in letzter Zeit etwa zehn kleine Texte geschrieben. Nachgeburten des L’Innommable und auf direktem Wege unzugänglich.“ Drastischer noch drückt er sich im April 1951 gegenüber Mania Péron aus: „In Paris muss ich Dir noch ein paar kleine Scheißtexte zeigen, von der Art wie die zwei, die Du gesehen hast.“

Das Herabwürdigen des eigenen Tuns bildet einen wiederkehrenden Kontrast zu seinem ausgeprägten Perfektionismus, der zum Beispiel deutlich wird, wenn er bei den Theaterproben penibel auf jedes Detail achtet oder wenn er gegenüber Herausgebern, die seine Texte eigenmächtig kürzen, seinem Ärger in schärfsten, den Eklat riskierenden, Worten Luft macht – wie etwa in den Auseinandersetzungen mit Jean Paulhan oder mit Simone de Beauvoir.

Um auch bei den Übersetzungen seiner Werke die Kontrolle zu behalten, übersetzt er vieles aus dem Französischen ins Englische selbst, oder arbeitet mit seinen deutschen Übersetzern eng zusammen, zunächst mit Erich Franzen, später vor allem mit Elmar Tophoven.

Auch auf dem Theater fast alles abschaffen

Beckett, der das Theater revolutionieren sollte wie kein anderer, schrieb noch im Januar 1952, während der Schauspieler und Regisseur Roger Blin nach einem geeigneten Aufführungssaal für Warten auf Godot suchte: „Ich habe keine Ansichten zum Theater. Ich weiß nichts vom Theater. Ich gehe nicht hin. Das ist verzeihlich.“

Im Theater reduziert er die Bewegungsmöglichkeiten seiner Figuren, steckt sie bis zum Hals in Sandhügel, minimiert die Kulisse zunächst auf einen einzigen Baum, um in späteren Stücken auch auf das letzte Requisit zu verzichten. Er schafft den Regisseur ab, indem der Autor jedes Detail selbst bestimmt; er wird später auch die Schauspieler abschaffen und nur noch einen sprechenden Mund auf die Bühne stellen (Not I, 1972), oder er lässt den Text vom Tonband einspielen. Vorhang auf, ein kurzer Schrei vom Band, Einatmen, Ausatmen, ein zweiter Schrei vom Band, Vorhang zu, alles zusammen in 35 Sekunden (Atem, 1969) – weniger Handlung geht nicht, um nicht auch noch das Publikum abzuschaffen. Das erledigt Beckett schließlich, indem er gar nicht mehr für das Theater schreibt. Er wendet sich Hörspiel, Pantomime, Ballett und Film zu, freilich nur, um auch hier jeweils auszukundschaften, mit wie wenig die einzelnen Künste auszukommen in der Lage sind.

Aber ganz so weit sind wir am Ende von Band 2 der Briefausgabe noch nicht. Die letzten Briefe zeugen von seiner Arbeit am Endspiel (Fin de Partie; von ihm selbst ins Englische übersetzt als Endgame), das 1957 uraufgeführt werden sollte.

„Ich bin darauf gespannt, mein Stück zu sehen, damit ich ein bisschen genauer weiß, ob ich in dieser Richtung weitergehen kann oder ob ich völlig auf dem Holzweg bin“, schreibt er im Dezember 1956 an Jacoba van Velde. „Weder das eine noch das andere, scheint mir schon jetzt, das kann heiter werden.“ Wobei wir auch das Wort „heiter“ wörtlich nehmen dürfen. Es ist ein richtiger, ein konsequenter Weg, kein Holzweg, der in die Ausweglosigkeit führt.

Alle Gedanken scheinen in Sackgassen zu münden, in Aporien, so wie der Philosoph Sextus Empiricus (2. Jh. n. Chr.) es in umfassender Weise vorgeführt hatte. Dem radikalen pyrrhonischen Skeptiker dürfte Beckett auch bei der Lektüre Fritz Mauthners begegnet sein, dessen „Beiträge zu einer Kritik der Sprache“ er, wie er Hans Naumann berichtet, seinerzeit für James Joyce gelesen hatte. Ebenfalls an Naumann schreibt er: „Sie dürfen mich in die traurige Kategorie derer einordnen, die, wenn sie mit vollem Bewusstsein handeln müssten, überhaupt nicht handeln würden.“ (17. Februar 1954)

Nicht mehr handeln

In Ussy-sur-Marne, östlich von Paris, findet Beckett ein kleines Haus, in dem er sich aus dem Trubel der Großstadt zurückziehen kann. „Ich werkele missmutig vor mich hin. Heute einen Tisch aus Eichenabfällen zusammengebastelt. Noch steht er. Für meine Arbeit kann ich mich nicht erwärmen, ob Altes, Gegenwärtiges, Künftiges. Ich will nichts weiter als mich in diesem Rübenkaff vergraben, in der Erde wühlen, die Wolken anglotzen. Umschlossen von dicken Mauern.“

Becketts Haus in Ussy-sur-Marne – sein Rückzugsort vom Pariser Großstadtrummel ab 1953; Foto: Wolfgang Cziesla, April 2014

Becketts Haus in Ussy-sur-Marne – sein Rückzugsort vom Pariser Großstadtrummel ab 1953; Foto: Wolfgang Cziesla, April 2014

Vom Graben ist in diesen Briefen oft die Rede, eingraben, umgraben, und von Müdigkeit in allen ihren Facetten. „Ich bin regelrecht angewidert vom Schreiben, davon, wie ich schreibe“ – im September 1951 an Mania Péron, und im gleichen Brief, fünf Zeilen darunter: „Ein Stimmungstief, allerdings. Aber ich kenne nichts anderes.“

Als Akt ohne Worte I auf dem Marseille Festival d’Avant-Garde aufgeführt werden soll – seine erste Pantomime, mit der Musik seines Cousins John S. Beckett – schreibt er im Juni 1956 an seinen alten Freund Thomas MacGreevy: „[…] ich habe ziemlichen Horror vor den nächsten Monaten. Aber ich sage mir auch, dass ich sehr schnell in eine Art vertrödelte Trägheit verfalle, wenn es nicht diese Dinge gibt, die mich anstacheln.“

Ein Unglück, das man bis zum Ende verteidigen muss – den glücklich gewählten Titel der Briefausgabe, Band 2, hat der Suhrkamp Verlag einem Brief Becketts an Simone de Beauvoir aus dem September 1946 entnommen. Wobei man sich bei Beckett auch das „Verteidigen“ nicht allzu martialisch vorstellen darf. „Ich bin ein schlechter Kämpfer“, schrieb er im August 1948 an Georges Duthuit. „Vielleicht erreichen wir etwas mit Nichtkämpfenkönnen.“

Das „Bedürfnis, schlecht gerüstet zu sein“ (Le besoin d’être mal armé) gibt er gegenüber Hans Naumann als einen der Gründe an, warum er seine literarischen Werke nicht länger in seiner Muttersprache verfasst, sondern ins Französische wechselt, eine Sprache, in der er sich (zunächst) weniger sicher fühlte.

In frühen Jahren mochte Beckett als Sekretär und Mitarbeiter von James Joyce erfahren haben, dass das Idol seiner Jugend an Sprachmächtigkeit kaum überboten werden konnte. Womöglich lag ihm einiges daran, sich literarisch in eine Position zu bringen, die ihn vor Eitelkeit schützte.

Zwei weitere Bände wie den vorliegenden (von Chris Hirte mit sensiblem Sprachgefühl und profunder Sachkenntnis übersetzten) aus der sorgfältig editierten Cambridge-Ausgabe der Briefe Samuel Becketts dürfen wir noch erwarten – Band 3, wenn wir Glück haben, bereits in diesem Herbst.

Samuel Beckett: „Ein Unglück, das man bis zum Ende verteidigen muß. Briefe 1941–1956“. Aus dem Englischen von Chris Hirte. Suhrkamp Verlag. 819 Seiten, 45 Euro.




„Wie sich die Welt von uns entfernt“ – die Kunst des Sterbens in Alban Nikolai Herbsts Roman „Traumschiff“

Zu den Heterotopien – den Orten, an denen abweichende Regeln gelten – zählte der Philosoph Michel Foucault neben Psychiatrien, Gefängnissen, Bibliotheken, Museen, Friedhöfen und anderen dem Alltag enthobenen Einrichtungen ganz besonders das Schiff. Das von Alban Nikolai Herbst beschriebene „Traumschiff“ kann man sich neben all dem Remmidemmi, der unentwegt für die vergnügungsfreudigen Luxuspassagiere veranstaltet wird, in etwa wie ein schwimmendes Altenheim vorstellen, inklusive Pflegestation und einiger Kühlkammern für die Leichen der unterwegs Verstorbenen.

Traumschiff Cover von der Verlagsseite

Nicht alle der mehr als 500 Passagiere und 278 Besatzungsmitglieder sind einem baldigen Tod geweiht, sondern lediglich jene 144, die „das Bewusstsein“ haben. 144 ist auch die Anzahl der Spielsteine im Mah-Jongg, dem chinesischen Sperlingsspiel, von dem der Ich-Erzähler ein schönes Exemplar in seiner Kabine aufbewahrt. Gregor Lanmeister hat „das Bewusstsein“ seit Barcelona. Doch die Handlung setzt nicht in Europa, sondern im Südatlantik, westlich von Südafrika ein, genau gesagt auf hoher See bei 33° 14‘ S / 13° 20‘ O. Von dort aus geht es nordwärts über Sankt Helena, die Kapverden, die Kanaren, Lissabon und den Golf von Biskaya in den Ärmelkanal.

Heterotopien im Sinne Foucaults repräsentieren gesellschaftliche Verhältnisse in besonderer Weise, reflektieren sie, negieren sie oder kehren sie um. Das Schiff stellt ein Modell der Gesellschaft dar, zwar mit überwiegend zahlungskräftigen Teilnehmern, dennoch mit allen Verhaltensmustern der Welt. Ein Heer schlecht bezahlter Servicekräfte hält die Sache am Laufen.

Rituale am nicht alltäglichen Ort

Was das Schiff zu einem nicht alltäglichen Ort macht, sind seine Ein- und Ausgangsrituale, das Esskontinuum, die fortwährende Musikberieselung, die Kapitänsdinner, die Spielbank, der Klabautermann, die Äquatortaufe und so weiter. Die Passagiere können und möchten sich nicht alle gegenseitig kennenlernen. „Sondern sie finden sich, dem Charakter von Spatzen völlig gemäß, in Gruppen zusammen. Die sind es, die sich erkennen. Das war zum Beispiel die Erklärung für den Rauchertisch oder die Raucherecke ein Deck höher. Es erkennen sich nicht alle untereinander, sondern immer nur einige. Die eben zueinander passen.“

Folglich werden nur wenige Mitreisende dem Leser näher beschrieben, ein Club von Auserwählten, eine „Gemeinschaft von Sterbenden“. Sie alle wissen auf eine nicht näher beschriebene Weise voneinander, wer „das Bewusstsein“ hat und wer nicht. Auf dem Weg in die große Auslöschung begegnen dem Erzähler einige Mentoren, die nicht möchten, dass er „falsch sterbe“. Eine Ars moriendi scheint auf, die teilweise durch den Schiffsarzt, Dr. Samir, oder auch mit der Stimme der Senhora Gailint spricht: „Merken Sie nicht, wie Wahrheit und Lüge uns manchmal verschmelzen? Nein, Wahrheit und Märchen hat sie gesagt. Es ist unser größtes Vermögen, sagte sie, jede Lüge in Wahrheit zu verwandeln.“ Oder: „Denn welch eine Rolle spielt es noch, wo einer überhaupt ist.“

Damit ist zugleich ein poetologisches Konzept benannt, das der Autor sowohl theoretisch ausgeführt als auch in seiner 2.000 Seiten umfassenden „Anderswelt“-Trilogie angewandt hat. Eine Synthese aus Fiktivem und Erlebtem, Alban Nikolai Herbst spricht von einem „kybernetischen Realismus“.

Indem er mit seinem Ich-Erzähler Gregor Lanmeister einen Sterbenden erzählen lässt und die Altersdemenz gleichsam von innen beleuchtet, entfaltet der Autor eine Heterotopie – in des Autors eigener Sprache: eine Anderswelt – im doppelten Sinne. Das Schiff, der in den Weiten des Meeres sich verlierende schwimmende Raum, ein Ort ohne festen Ort, in sich geschlossen, autark und den Naturgewalten ausgeliefert, ist bereits eine Anderswelt par excellence.

Kathedrale des Schweigens

Aber auch die schiffseigenen Regeln werden konsequent durchbrochen durch die körperliche und geistige Hinfälligkeit des räumlich und zeitlich desorientierten Protagonisten, der in einer Kathedrale des Schweigens das für ihn Festhaltenswerte mit den jeweiligen geographischen Koordinaten in 17 Kladden einträgt, die allesamt verschwinden – bis auf die letzte, oder war es immer nur die eine? Die Einträge sind eine lange Ansprache an seine imaginäre Geliebte, die er nach den im Südatlantik beobachteten Feenseeschwalben zärtlich Lastotschka nennt und die ihr lebendes Vorbild in der ukrainischen Bord-Pianistin hat.

Seine Einträge, aus denen sich der Roman zusammensetzt, sind eine ständige Selbstvergewisserung und Infragestellung des (scheinbar?) Erlebten. „Zeitgitterstörungen“ wäre wohl der medizinische Befund, doch den Literaten interessiert mehr das phantastische Potential. „Die Heterotopie erreicht ihr volles Funktionieren, wenn die Menschen mit ihrer herkömmlichen Zeit brechen“, schrieb Foucault. Gregor Lanmeister – verlieh sein Schöpfer ihm diesen Vornamen nach dem Papst, der den inzwischen weltweit gültigen Kalender zu verantworten hat? – wähnt sich womöglich seit Ewigkeiten auf dem Traumschiff. Seefahrergeschichten aus früheren Jahrhunderten erscheinen ihm wie selbst erlebt. „Gibt es nicht, Lastotschka, Legenden von Menschen, die verdammt dazu sind, ihre Leben über ihr Leben hinaus und über das aller anderen Menschen immer weiterzuleben?“

Der vermeintliche Dämmerzustand ist voller luzider Momente, und auch in den für den Leser offensichtlichen Selbsttäuschungen liegen tiefe Erkenntnisse. Gregor Lanmeister kommt zur Auffassung einer statischen Zeit, die zugleich der Tod ist. „Was wir den Tod nennen, steht einfach still. Das genau ist sein Wesen. Nur wir sind unterwegs. Er bleibt, wo er ist, und das Traumschiff schiebt sich ihm Raumsekunde für Raumsekunde entgegen. Das ist es, was wir das Sterben nennen. Wenn wir an Bord gekommen sind.“

Wortfindungsschwierigkeiten

Alban Nikolai Herbst schafft mit „Traumschiff“ eine Allegorie des Lebens und des Sterbens, eine Allegorie des Übergangs. „Das Bewusstsein“ – so viel wird klar – hat auch damit zu tun, sein Ziel zu kennen. „Aber vielleicht sind es verschiedene Ziele, für jeden Menschen ein anderes, oder sogar mehrere. Manche, habe ich den Eindruck, kennen es bereits vor dem Bewusstsein, haben es im Blut. Ich stelle mir das vor wie bei den Tieren den Instinkt.“ Sein Ziel in sich haben. So streift der Autor elegant den schönen aristotelischen Gedanken der Entelechie – heute würde man von Selbstverwirklichung sprechen.

Die Dinge werden für ihn transparent, wie in Vladimir Nabokovs spätem Roman Durchsichtige Dinge, der aus der Perspektive eines bereits Gestorbenen erzählt ist. „Darum schauen wir durch die Dinge hindurch, durch den Topf und den Holzlöffel und die Binde vor den Augen. Wir durchschauen die Dinge und Euch. Aber wir lassen es Euch nicht merken, damit nicht Ihr wie kleine Kinder dasteht. Sondern wir leiten es um auf uns.“

Der im Gehen bereits eingeschränkte Herr Lanmeister mutet sich zu viel zu und stürzt. Er hört den Schiffsarzt etwas von einem „zweiten Schlaganfall“ murmeln; sonst aber hält sich der Autor mit der Benennung von Diagnosen zurück. In der Darstellung des Funktionierens beziehungsweise Nicht-Funktionierens menschlichen Denkens dürfte der Autor auf der Höhe der gegenwärtigen Gehirn- und Gedächtnisforschung sein. In seinen Wortfindungsschwierigkeiten fallen Lanmeister immer wieder Wörter ein, die seine Großmutter benutzt hätte, die Frau, bei der er aufwuchs, weil seine Mutter, ihn, das „Russenkind“, nicht wollte – „liederlich“, „bedröppelt“, „betüdeln“ – der Autor bewahrt sie vor ihrem allzu schnellen Verschwinden.

Fließender Übergang vom Erlebten zum Ausgedachten

Durch die fortlaufende Mitschrift seines Lebens, dem Blog Die Dschungel. Anderswelt ließ Alban Nikolai Herbst seine Leser von April bis Juni 2014 das Logbuch seiner Reise, das auch zahlreiche Fotos enthält, in Echtzeit miterleben. Der WDR sendete außerdem eine vom Autor vorgenommene Zusammenstellung von O-Tönen und vorgelesenen Texten als Hörstück unter dem Titel „Eine akustische Kreuzfahrt“, die weiterhin im Internet verfügbar ist. Auf der Website der Reederei ist unter anderem der Deckplan der MS Astor als detaillierte Risszeichnung einsehbar.

Die Kapitel des Romans sind nach exakten geographischen Koordinaten benannt. Von der Lage seiner Kabine über die Wege des Autors bis zu den lebenden Vorlagen seiner Geschichte lassen sich alle möglichen Einzelheiten des Romans im „wirklichen“ Leben nachverfolgen. Und doch handelt es sich bei „Traumschiff“ großenteils um einen phantastischen Roman – eine Seltenheit in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bei nachträglicher Lektüre des minutiös Dokumentierten wird deutlich: der Anteil an Erfindung ist immens. Doch im Unterschied zur Anderswelt-Trilogie, deren Teile 1998, 2001 und 2013 erschienen sind, und zum Blog „Die Dschungel. Anderswelt“, in dem auch hartgesottene A.N.H.-Fans den Überblick verlieren können, macht es der Autor mit dem übersichtlichen Roman „Traumschiff“ (320 Seiten) seinen Lesern leicht. Und schön.

Mit der Wahl eines in der Zuverlässigkeit seiner Äußerungen fragwürdigen Protagonisten hat der Autor alle Möglichkeiten, auch das Unwahrscheinlichste überzeugend vorzuführen. Ob es sich bei den unvermittelt in seiner Kabine auftauchenden Spatzen um die verwandelten Ziegel des chinesischen Sperlingsspiels handelt; ob sich mitten auf dem Meer tatsächlich Zikaden auf dem oberen Deck niedergelassen haben; ob die Mantarochen fliegen können – wenn nicht real, so empfindet der Erzähler diese Phänomene als von einer die Wirklichkeit übersteigenden Schönheit. „Wir sind sowieso, Lastotschka, längst dreiviertel drüben. Nur ist dieses Drüben ein Teil dieser Welt. Jede ihrer Fasern wurzelt im Drüben. Aus dem saugt sie Nahrung herauf.“

Eine Art Lebensbeichte

Wohl sämtliche mythologischen und kulturgeschichtlich überlieferten Konzepte vom Sterben und vom Tod werden im Vorbeifahren aufgegriffen, und der Autor lanciert dabei auch manche Spitze gegen allzu esoterische Vorstellungen. Sie alle haben den Makel, dass sie lediglich aus diesseitiger Perspektive entwickelt wurden.

Zwischendurch tauchen Erinnerungen auf, die den Sterbenden peu à peu zu einer Art Lebensbeichte veranlassen. Lanmeister hat bei weitem nicht alles richtig gemacht, als Geschäftsmann im zwielichtigen Handel mit Halbleitern, im Umgang mit Frauen, und vor allem reut es ihn, sich zu wenig um seinen Sohn gekümmert zu haben, der nach einer unschönen Scheidung den Kontakt zum Vater abbrach. Auch sentimentales Abschiednehmen auf seiner letzten Fahrt wird – zum Beispiel vor Ascension – deutlich, der kleinen tropischen Insel im Südatlantik, 1297 km nordwestlich von St. Helena: „Nie käme ich hier wieder hin. Weil ich das wusste, stieg Wehmut in mir hoch.“ Ihn tröstet, dass alles Gewesene eine Spur hinterlässt. Über den körperlichen Schmerz will Lanmeister nichts zu Papier bringen. Eher über seine Dankbarkeit. „Mit jedem Tag nimmt unsere Dankbarkeit zu. Wie sich die Welt von uns entfernt. Dann wird alles zur Meeresglut. Was aber ein Glühen der, wie ich Dir schon geschrieben habe, Zeit ist. Indem sich an ihr der Abend entzündet.“

Ein mystisches Verschmelzen mit allem und jedem? Das einmalige Erreichen von Allwissenheit? Ein kurzer posthumer Nachsatz stellt klar, dass es so nicht ist. Dennoch: Die dem Protagonisten vergönnte Art des Sterbens ist – ohne es zynisch zu meinen – vergleichsweise privilegiert.

Die MS Astor, auf der Alban Nikolai Herbst den Südatlantik bereiste, übertrifft die ähnlich gebaute „Astor“ aus der Fernsehserie „Traumschiff“ an Länge lediglich um zwölf Meter; der Roman als Kunstwerk aber unterscheidet sich von der ehemals wöchentlichen Soap fundamental. Alban Nikolai Herbsts „Traumschiff“ ist ein meisterhaft ausgedachter Roman, mutig, voller weiser Worte und pure Poesie obendrein. Das richtige Buch für alle, die irgendwann einmal älter werden und sterben müssen.

Alban Nikolai Herbst: „Traumschiff“. Roman. Mare Verlag, Hamburg. 320 Seiten, 22,00 Euro.




Ohne Wachstum und gewaltfrei leben: „Das konvivialistische Manifest“

Eine neue Zeit der Manifeste scheint gekommen. Nach Stéphane Hessels manifestartigem Pamphlet „Empört Euch!“ und dem „Akzelerationistischen Manifest“ erschien im September 2014 in deutscher Übersetzung „Das konvivialistische Manifest“, das inzwischen mehr als 2.500 Unterzeichner gefunden hat.

Seit Ivan Illichs Veröffentlichung von „Tools of Conviviality“ (dt.: „Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik“, 1975) ist Konvivialität im politisch/soziologischen Diskurs – mehr noch im anglo- und frankophonen Bereich als in Deutschland – ein fester Begriff. Ein Jahr vor Illichs Erstpublikation des Buchs in den USA (1973) war der Bericht für den Club of Rome, „Die Grenzen des Wachstums“, erschienen, der seitdem in mehreren Neuauflagen aktualisiert worden ist, dessen Einschätzungen und implizite Warnungen bis heute jedoch nichts an Dringlichkeit eingebüßt haben.

Cover Konvivialistisches Manifest

Ausgehend von einem Kolloquium in Tokio im Jahr 2010 veröffentlichten 64 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlichster politischer und religiöser Überzeugungen unter dem kollektiven Autorennamen „Les Convivialistes“ das konvivialistische Manifest, das die wesentlichen globalen Herausforderungen benennt und Chancen aufzeigt, wie ein gewaltfreies Zusammenleben unter gleichzeitiger Schonung der Ressourcen unseres Planeten möglich sein könnte.

Der Markt dringt in jeden Winkel vor

Konstatiert wird, was nicht zu übersehen ist, ein Vordringen ökonomischen Denkens in Bereiche, die noch bis in die 1970er-Jahre weitgehend frei von marktwirtschaftlichen Ansprüchen waren. „Benchmarking und ständiges reporting werden nun zu den Grundwerkzeugen des lean management und der Verwaltung durch Stress.“ (S. 55) Veränderungen im Gesundheitswesen, Hochschulranking, Stadtmarketing, effizienteres Kulturmanagement – jedem Leser und jeder Leserin wird zu diesen Stichworten eine Vielzahl von Beispielen einfallen. Das Manifest begnügt sich zusammenfassend mit dem Hinweis auf ein „Neomanagement“, das nicht nur in den Wirtschaftsunternehmen ausartet, sondern auch den öffentlichen Sektor erfasst, bis der Markt auch den letzten noch unterkapitalisierten Winkel unserer Freizeit besetzt hat.

„Es gibt keine erwiesene Korrelation zwischen monetärem oder materiellem Reichtum einerseits und Glück oder Wohlergehen andererseits“, schreiben die Autor(inn)en (S. 68). Statt einer Verkürzung der Arbeitszeit durch technischen Fortschritt, wie sie John Maynard Keynes um 1930 voraussagte, erhöht die Automatisierung den Arbeitsdruck. Psychische Defekte wie Depression und Burnout gehen mit diesen Entwicklungen einher.

Die Standard-Wirtschaftswissenschaft gelte es in ihre Schranken zu verweisen. Von den Autoren des Manifests ist es vor allem der Ökonom Serge Latouche, der in den letzten Jahren mit Überlegungen zu einer möglichen Wachstumsrücknahme an die Öffentlichkeit getreten ist. „Degrowth“ im Englischen, bzw. „décroissance“ als das französische Äquivalent und, da der Glaube an Wachstum als eine Quasi-Religion angesehen werden kann, spricht Latouche analog zum Atheismus, auch von „acroissance“.

Selbstverständlich müssen für die weit und die weniger weit entwickelten Länder unterschiedliche Maßstäbe angelegt werden, will man die nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Flüchtlingsfrage stets beteuerten Politikerfloskeln, die Situation in den Herkunftsländern der Flüchtlinge verbessern zu müssen, beim Wort nehmen und einen wirtschaftlichen Ausgleich anstreben.

Die Maßlosigkeit bekämpfen

„Das Niveau des weltweit universalierbaren materiellen Wohlstands entspricht annähernd demjenigen der reichsten Länder um das Jahr 1970, vorausgesetzt, man erreicht es mit den heutigen Produktionstechniken.“ (S. 67) Das würde nicht nur Selbstbegrenzung in den Industrienationen erfordern, sondern eine Neudefinition der Ziele. Vom wirtschaftlichen Wachstum ist nicht nur keine Rettung zu erwarten; es führt geradewegs in den Untergang. Einfacher Wohlstand, der mit einem Konzept vom „guten Leben“ einhergeht, wird von den Konvivialisten anvisiert. Dazu müssen die der Zocker-Mentalität der Spekulanten eigene, zerstörerische Maßlosigkeit und die Auswüchse der Finanzwirtschaft bekämpft werden. Die Autor(inn)en setzen sich nicht nur für ein Mindesteinkommen, sondern auch für ein Höchsteinkommen ein.

Alternative Formen von Ökonomie sieht Alain Caillé, einer der maßgeblichen Initiatoren des konvivialistischen Manifests, in der „Schenkökonomie“, wie der französische Soziologe/Ethnologe Marcel Mauss sie in seiner Schrift „Die Gabe“ unter anderem am Beispiel des indianischen Potlatsch und des melanesischen Kula beschreibt.

Sicherlich ließen sich einem modernen Mitteleuropäer oder Nordamerikaner archaische Vorstellungen von der Beseeltheit und dem Eigenwillen von Dingen, etwa Geschenken, oder die unter Drohung von Ehr- und Gesichtsverlust unbedingte Verpflichtung des Beschenkten zur Gegengabe schlecht vermitteln und taugen kaum als Modelle zur Rettung der Welt. Doch lesen sich manche Gedanken aus dem 1925 veröffentlichten Werk erstaunlich aktuell. „Und wir müssen ein Mittel finden, um die Einkünfte aus Spekulationen und Wucher einzuschränken. Nichtsdestoweniger muss das Individuum arbeiten. Es muss veranlasst werden, mehr auf sich selbst zu bauen als auf andere. Andererseits muss es sowohl seine Gruppeninteressen wie seine persönlichen Interessen verteidigen. Allzuviel Großzügigkeit und Kommunismus wäre ihm und der Gesellschaft ebenso abträglich wie Selbstsucht unserer Zeitgenossen und der Individualismus unserer Gesetze“, schreibt Marcel Mauss.

Aufwertung des Unentgeltlichen

Die Verfasser(innen) des Manifests weisen in diesem Zusammenhang auf zahlreiche bereits praktizierte unentgeltliche Aktivitäten hin – Fair Trade, Open-source-Projekte, Ehrenämter, Non-Profit-Organisationen, digitale Netze als Gemeineigentum oder das Konzept einer „Weltzivilgesellschaft“. Das sind keine neuen Erfindungen, doch scheint in einer durchökonomisierten Welt das Bedürfnis gestiegen, auf den unentgeltlichen Dienst am Mitmenschen besonders hinzuweisen.

Der homo oeconomicus, wie die Wirtschaft ihn sich vorstellt, kenne nur „äußerliche Motivationen“ – Streben nach Gewinn und hierarchischem Aufstieg. In diesem System, folgern die Autorinnen und Autoren, wird sich jegliche intrinsische Motivation – Arbeit, die ihren Wert in sich selbst hat, Freude an gutem Handwerk, Drang nach sinnvoller Betätigung, Handlungen aus Solidarität oder aus Pflichtgefühl – zurückentwickeln.

Was kann man machen? Ulrike Herrmann, Wirtschaftskorrespondentin der taz und Autorin des Buchs „Der Sieg des Kapitals“ (2013), sagte in einem im Gespräch in der Reihe „Essay und Diskurs“ im Deutschlandfunk am 19.04.2015: „Wenn man sehr massiv in dieses System [des Kapitalismus‘] eingreift, wäre der einzige Effekt, dass es wirklich einbricht. Und das wäre ein chaotischer Prozess, den man sich auch nicht friedlich vorstellen darf. Da wären Verluste zu verkraften, und an Sicherheit, dass die Leute alle panisch würden.“

Was der Ritus vermag

Die Gefahr sehen auch die Autor(inn)en des konvivialistischen Manifests. „Die schwierigste Aufgabe, die dazu erfüllt werden muss, besteht darin, ein Bündel politischer, wirtschaftlicher und sozialer Maßnahmen vorzuschlagen, die es der größtmöglichen Zahl von Menschen ermöglichen, zu ermessen, was sie bei einer neuen konvivialistischen Ausgangssituation (einem New Deal) nicht nur mittel- oder langfristig, sondern sofort zu gewinnen haben. Schon morgen.“ (S. 74)

In seinem 1962 erschienenen Werk „Das wilde Denken“ erläutert Claude Lévi-Strauss, dessen ethnologische Arbeiten Marcel Mauss viel verdanken, den Unterschied zwischen Spiel (mit Wettkampfcharakter) und Ritus. Das Spiel gehe von einer prästabilen Ordnung aus und schaffe in seinem Verlauf Ungleichheit. Der Ritus dagegen habe eine Ausgangslage der Asymmetrie – profan und sakral, Gläubige und Priester, Tote und Lebendige, Initiierte und Nicht-Initiierte – und möchte alle Beteiligten auf die Gewinnerseite bringen, so Lévi-Strauss. Er nennt das Beispiel einer Ethnie in Papua-Neuguinea, die das Fußballspielen gelernt hat, „die aber mehrere Tage hintereinander so viele Partien spielen, wie nötig sind, damit sich die von jedem Lager verlorenen und gewonnenen genau ausgleichen.“ Den Wettkampf funktionieren sie zu einem Ritus um. Die großen Wirtschaftskonzerne werden sich diese ehrenwerte Haltung sicher nicht zum Vorbild nehmen. Die Hoffnung lastet auf den Zivilgesellschaften.

Les Convivialistes: „Das konvivialistische Manifest. Für eine neue Kunst des Zusammenlebens“. Herausgegeben von Frank Adloff und Claus Leggewie in Zusammenarbeit mit dem Käte Hamburger Kolleg / Centre for Global Cooperation Research Duisburg, übersetzt aus dem Französischen von Eva Moldenhauer; [transcript] Verlag, Bielefeld, 2014; 09/2014, 78 Seiten, kart.; 7,99 Euro; kostenloser Download über http://www.transcript-verlag.de

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Diese Besprechung wurde in ähnlicher Form ebenfalls im Hotlistblog veröffentlicht: https://derhotlistblog.wordpress.com/2015/06/26/affirmatives-vom-firwitz-2/




Können Saxophon-Klänge politisch sein? Eindrücke vom Moers Festival

Saxophone in verschiedenen Stimmlagen waren diesmal die dominierenden Instrumente der Festivaltage in Moers.

Sowohl Hayden Chisholm, Improviser in Residence Moers 2015, als auch Colin Stetson, Artist in Residence für die vier Festivaltage, sind herausragende Saxophonisten. Zusätzlich hat Hayden Chisholm angeregt, mit Frank Gratkowski, der am Pfingstmontag in der Formation Z-Country Paradise auftrat, einen seiner wesentlichen Lehrer des Instruments einzuladen. Hayden Chisholm eröffnete das Festival mit einer meditativen Komposition, die es ermöglichte, vom Stress der zurückliegenden Arbeitswoche zu relaxen und ganz auf dem Festival anzukommen. Einfach schön – genauer gesagt: in angenehmer Weise höchst ausgetüftelt schön.

Saxophonist der Sonderklasse: Colin Stetson. (Foto: © Frank Schemmann)

Saxophonist der Sonderklasse: Colin Stetson. (Foto: © Frank Schemmann)

Wie Frank Zappa einmal einen Musiker, der in seiner Band mitspielen wollte, gefragt hatte „What can you do that‘s fantastic?“, so scheint Reiner Michalke auch das Programm für das Moers Festival zusammenstellen. Jedes einzelne Konzert beantwortet die Frage auf die eine oder andere Weise. Da Moers auch in diesem Jahr die ganze Bandbreite des New Jazz vom Solisten bis zum Orchester mit 80-köpfigem gemischtem Chor, vom Tanzbaren bis zum kaum Hörbaren, aufzeigt und längst über die Grenzen des Genres weit hinausgeht, kann in diesem Beitrag nur ein Teil des durchweg sensationellen und berichtenswerten Programms besprochen werden.

Exzeptionell, so dass sich geradezu der Eindruck aufdrängte, bei der Entstehung einer der Legenden von morgen dabei zu sein, waren die vier Aufritte von Colin Stetson – solo, im Duo, in einer Drei-Mann-Formation und im kleinen Orchester aus zwölf Personen. Mit Sarah Neufeld im Duo war Colin Stetson bereits vor einem Jahr im Nachtprogramm des Moers Festivals zu erleben. Für den Auftritt im Hauptprogramm 2015 haben die beiden ihr Repertoire nochmals erweitert. Ein glückliches Zusammenspiel, aber auch mit eingefügten Solo-Stücken. Sarah Neufeld, Geigerin der Gruppe „Arcade Fire“ und Gründungsmitglied des sechsköpfigen „Bell Orchestre“, präsentierte bereits einen Titel ihres nächsten, noch unveröffentlichten Soloalbums. Stetson, der mit seiner perfektionierten Zirkularatmung minutenlang Arpeggio-Bögen spielt, dabei ins Saxophon singt und schreit, es wie ein Urtier rufen lässt und mit den Klappen seines Instruments zugleich die Percussion liefert, ist ein Phänomen.

Einen Kontrast bildete an dem Abend die deutsche Viermanngruppe „The Nest“. Christoph Clöser, auch er Saxophonist, der sich am Freitag aber auf die Klarinette beschränkte, spielt seit 1997 bei „Bohren & der Club of Gore“ und prägte entscheidend die Richtung des Doom Jazz. Mit dem Seitenprojekt „The Nest“ klingt er weniger düster, zeigt jedoch umso mehr, dass er, wie lange schon vermutet wurde, in der Oberliga der Jazzwelt mitspielen kann.

Ein weiterer Vorzug von Moers ist es, einen der Musiker, die mit Bohren stets unsichtbar auf finsterer Bühne agieren, überhaupt einmal zu Gesicht zu bekommen. Das Schlagzeug wurde um einen mit leeren Glasflaschen gefüllten Getränkekasten erweitert. Thomas Mahmoud stampft mit dem Kasten auf oder tritt clownesk-trotzig gegen ihn; das kommt beim Publikum gut an. Wenngleich er während des Konzerts seinen Platz am Schlagzeug nicht verlassen hat, lautet die Instrumentenangabe im Programm zutreffend nicht „drums“, sondern „vocals, effects“. Mit seinem „Amore, amore, amore“ verbreitete er den Ohrwurm des Festivals.

Bleiben wir noch kurz bei den Männerbands. Das norwegische Duo „sPacemoNkey“ mit Morten Qvenild – bekannt durch Jaga Jazzist – an den Keyboards und Gard Nilssen, hochenergetisch am Schlagzeug, brachten abwechslungsreichen improvisierten Jazz.

Ein noch überzeugenderes Beispiel für ständig unter Strom stehende Männer boten anschließend „Pulverize the Sound“ – mit dem ruhelosen Trompeter Peter Evans und den ebenso hart und laut arbeitenden Tim Dahl am Bass und Max Jaffe an den Drums.

Dass aber die sicht- und hörbare körperliche Anstrengung eines Männer-Trios nicht auch für die Zuhörenden anstrengend sein muss, machte wieder einmal der Artist in Residence, Colin Stetson, deutlich, der mit Trevor Dunn am Bass und dem Schlagzeuger Greg Fox konzentrierte Glücksschübe an die Zuhörenden abgab.

Erstklassig war auch „Eivind Opsvik Overseas“, die Formation des norwegischen Bassisten, der nach New York gezogen ist. Der Oud-Spieler Ziad Rajab führte hingegen mit dem Neuseeländer James Wylie am Saxophon und dem Griechen Kostas Anastasiadis am Schlagwerk das Publikum in arabische Musikwelten.

Von Frauen geleitete Big Bands und Orchester

Im vorigen Jahr lud Festivalleiter Reiner Michalke mit Ava Mendoza, Julia Hülsmann und Johanna Borchert drei Frauen ein, die jeweils ein Quartett leiteten. In diesem Jahr leiten drei andere Frauen richtig große Formationen. Eve Risser aus Paris, Sara McDonald aus New York und Sofia Jernberg aus Stockholm.

Jeder der vier Festivaltage vom 22. Bis 25. Mai begann mit einem Orchester, bzw. einer Big Band. Eve Risser brachte am Samstag neben ihren Instrumentalisten einen 80-köpfigen gemischten Chor mit, für den sich die Bühne der Festivalhalle als zu klein erwies und der zeitweise aus einem der Gänge zwischen den Sitzreihen dirigiert wurde. Hymnische Klänge. Sara McDonald eröffnete mit den jungen Musikern der Big Band der Hochschule für Musik und Tanz Köln den Pfingstsonntag. Sofia Jernberg kam mit dem Trondheim Jazz Orchestra und dem Geiger Olav Mjelva. Jernberg folgt einer Tradition des Moers Festivals, für die es bereits in den vergangenen Jahren gute Beispiele gab, Stimmkunst über das hinaus, was üblicherweise als Gesang bezeichnet wird.

Darüber sollen aber die nicht von Frauen geleiteten Großformationen nicht unerwähnt bleiben, wie die von Michael Mantler, der „The Jazz Composer’s Orchestra Update“ mit der „Nouvelle Cuisine Big Band“ und dem „Radio String Quartet“ in Moers vorstellte. Oder Mikko Innanen aus Finnland, dessen aktuelle Big Band sich „10+“ nennt.

Wie Jazz auf aktuelle Fragen der Zeit reagiert

In seinem Vorwort auf der Festival-Website beschreibt der künstlerische Leiter, Reiner Michalke, in knappen Worten das Auseinanderdriften der Welt – Terror, Krieg und Vertreibung, und auf der anderen Seite die Rauschzustände der Finanzspekulanten. Er spricht von der dem Festival „angeborenen Selbstverpflichtung zur Aktualität“ und vom künstlerischen Mandat der eingeladenen Musikerinnen und Musiker, Antworten auf die drängenden Fragen zu finden. Ist das von der Musik zu viel erwartet? Nein. Das Festival hat in seinem Verlauf verschiedene Antworten nahegelegt.

Am offensichtlichsten sind wohl die internationalen Zusammensetzungen und Kooperationen, bei den Orchestern sowieso, aber auch unter den Trios oder Quintetten – bestes Beispiel vielleicht das „Ziad Rajab Trio“, dessen Musiker aus Aleppo (Syrien), Neuseeland und Griechenland stammen und die heute alle drei in Thessaloniki leben. Im Weltmaßstab hat Verständigung über Musik immer schon gut funktioniert (besser als zum Beispiel in häuslicher Nachbarschaft).

Aber auch in einem ganz anderen Sinne wird das Politische deutlich. Colin Stetson führt vielleicht mehr als jeder andere Künstler, der auf dem Festival aufgetreten ist, den Zuschauern die körperliche Kraftanstrengung vor Augen, die solche Musik erfordert. Vor jedem Stück muss er Luft holen wie ein Apnoe-Taucher vor dem Sinken in die blaue Tiefe (und blau ausgeleuchtet war auch die Bühne).

Erwartete das Publikum vom Künstler nicht immer schon, dass er alles gibt, und ist nicht die Haltung, seinen Mitmenschen etwas Unbezahlbares geben zu wollen, politisches Handeln? Niemand versinnbildlichte auf dem Festival so sehr wie Colin Stetson das Alles-Geben als Gegenmodell zu jener desaströsen Ökonomie-Auffassung, die nur dem Planeten alles entnimmt.

Nicht zuletzt wurde auch in Moers eine altbekannte Wirkungsweise von Musik wieder intensiv spürbar – ihre Emotionalität und Pathosfähigkeit, die es nicht nur schafft, Gefühle zu verarbeiten, sondern die auch Gefühle auszulösen vermag. Das wurde während des Festivals vielleicht an keiner Stelle so deutlich wie in Colin Stetsons Referenz an den Komponisten Henryk Górecki und seine Symphonie No. 3, opus 36, deren drei Sätze jeweils ein Klagelied beinhalten. Ergreifend. Die klassische Komposition von 1976 erweist sich als eine der aktuellsten. Pathos als Gegengewicht zum kalten Kalkül. Das ist vielleicht das Politischste an Musik, ihre Fähigkeit zu jenem Mitleiden, das den Finanzspekulanten ebenso zu fehlen scheint wie den Waffenproduzenten und Kriegstreibern.




„Das Nichts und die Liebe“: Ingo Munz‘ Versuch über den geglückten und den missratenen Tag

Zwei Männer und eine Frau, doch zum Glück keine Dreiecksbeziehung. Oder wenn, dann eine abstrakte. Denn alle drei verbindet ein Hang zum Philosophischen.

Die Versuchsanordnung: Ein trostloser Abend, dem ein katastrophal verlaufender nächster Tag folgt, wird parallel zum Modell seines scheinbaren Gegenteils erzählt, einem äußerst gelungenen Abend, einschließlich der Nacht und des folgenden Morgens. Hier der gedankenverlorene einsame Mann, dort das harmonisierende, äußerlich perfekte Liebespaar.

Quelle: www.ingomunz.com/presseinformationen/

Quelle: www.ingomunz.com/presseinformationen/

Der einsame und fast geldlose Grübler heißt Robert, und wir können ihn uns vielleicht ein bisschen wie eine Figur aus einem Roman oder einer Erzählung Robert Walsers vorstellen, oder, wenngleich er ein Mann mit Eigenschaften ist, uns an die Gedankenprosa von Robert Musil erinnert fühlen.

Über den Anlass seiner Reise in eine ihm fremde deutsche Großstadt erfahren wir gleich zu Beginn, dass es um das Wiedersehen mit einer Frau geht. Am Tag seiner Ankunft versetzt sie ihn, und so spaziert er allein durch die „windige“ Stadt, beobachtet Menschen in einer heruntergekommenen Kneipe („Hier, hier sterben die Leute“) und anschließend in einer stärker herausgestylten Café-Bar, die sich für ihn nur auf eine andere Art als traurig erweist.

Währenddessen (oder an einem anderen Abend?) gibt die gutaussehende Jung-Philosophin Rebekka in ihrem Appartement am alten Hafen von Marseille dem langjährigen Freund ihres Vaters ein mehr als zärtliches Stelldichein. Er hat alles zu bieten, was heutzutage von einem erfolgreichen Philosophen erwartet wird – Fernsehauftritte, körbeweise Fanpost und natürlich beste Chancen nicht nur bei der Tochter seines Freunds, die er schon als kleines Mädchen kannte.

„Das berühmte achtzehnte Kapitel“ (der in Essen lebende Autor nennt es so) spart nicht an deutlichen Beschreibungen von Körperstellen und -vorgängen, doch weit von Pornographie entfernt, wird vielmehr über den Einfluss von Pornographie auf zeitgemäße sexuelle Praktiken nachgedacht. Deren Ausübungen entbehren nicht der Mühsal, aber am Ende gelingt es dem schwächelnden Philosophen, mit Methode, Erfahrung und Rebekkas Mitarbeit die Nacht zu einem gelungenen Abschluss und in deutlich abgekühlte, jedoch die gute Form wahrende, Frühstücksdialoge zu retten.

Wer historisch und regional weitgefächert liest, den können Ingo Munz‘ gewählte Spracheigentümlichkeiten nicht abschrecken – wie die durchgängig starke Konjugation von „fragen“ (frug), die wiederholte Voranstellung richtungsanzeigender Präpositionen (nur ein Beispiel: „fast blickte der Philosoph weiterhin hindurch Rebekka auf die Badezimmertüre“) oder ein zuweilen an Hölderlin-Gedichte erinnernder Satzbau. Vielleicht wären zur Kennzeichnung der Grundstimmungen, die diesen Roman tragen, aber auch die Namen der anderen Autoren aussagekräftig, die Ingo Munz in seinem Erzählwerk nennt: Samuel Beckett, Rolf Dieter Brinkmann, Françoise Sagan, Georges Bataille.

Dass sich erst auf den letzten fünfzig Seiten Zusammenhänge schließen, weitere Personen ins Spiel kommen, vom Autor bis dahin zurückgehaltene Informationen mitgeteilt werden – wie (relativ belanglos) der Name der Stadt oder (wichtiger) Roberts Beziehung zum „Anlass seiner Reise“ – bedeutet nicht, alles Vorausgegangene sei lediglich ein langer Anlauf. Keineswegs. Seite für Seite bietet das Buch beeindruckende Beschreibungen, originelle Vergleiche, hübsche Formulierungen. Nicht zuletzt gibt Ingo Munz durch dezent eingesetzte Schlüsselwörter sein Informiertsein über aktuelle Debatten auf den Grenzgebieten von Philosophie, Soziologie, Kommunikationstheorie und Ideen zur Schonung unseres arg ausgebeuteten Planeten zu erkennen.

Warum Roberts Ausflug so völlig misslingt (nicht literarisch), kann nicht verraten werden, ohne einen der wenigen Momente von Handlungsspannung in diesem reflektierten Werk preiszugeben. Und schließlich darf nach dem Ende der Lektüre jede Leserin und jeder Leser für sich entscheiden, wessen Lebensweise gelungen und wessen missraten ist.

Bleibt nur noch zu sagen übrig, dass „Das Nichts und die Liebe“ – über die literarische Schönheit hinaus – ein ästhetisch erfreuendes, in der Gestaltung und mit Zeichnungen von Stefan Michaelsen handwerklich gut gemachtes Buch ist.

Ingo Munz: „Das Nichts und die Liebe. Ein gänzlich humorloses, dafür durchaus politisches Erzählwerk“. Mit 25 Zeichnungen von Stefan Michaelsen, 216 Seiten, Fadenheftung mit Umschlagprägung. Verlag Ingo Munz, Essen (ISBN: 978-3-944585-03-1). Preis: 24,90 Euro.




Aus der Zeit gefallen: Barbey d’Aurevillys „Der Chevalier des Touches“ erstmals auf Deutsch

Jules Barbey d’Aurevillys Roman „Der Chevalier des Touches“ führt den Leser in ein wenig bekanntes Kapitel der französischen Geschichte: die Partisanenkämpfe katholisch-royalistischer Chouans gegen die siegreichen Revolutionstruppen auf der in den Ärmelkanal ragenden Halbinsel Cotentin in den 1790er Jahren.

Als sei das Thema nicht abgelegen genug, wählt der konservativ-dandyhafte Autor Protagonisten, die schon zum Zeitpunkt der Rahmenhandlung der erzählten Geschichte, während der Restauration, und erst recht bei der Erstveröffentlichung, 1863, als Vertreter einer unwiederbringlich zurückliegenden Epoche Befremdung ausgelöst haben mussten.

Der Chevalier des Touches Cover großIn einem Kaminzimmer der normannischen Kleinstadt Valognes versammeln sich vier greisenhafte Jungfern aus der alten Aristokratie, ein Baron und ein nach der Mode des Ancien Régime gekleideter Abbé, dem kurz zuvor beim Überqueren eines Platzes der seit langem totgeglaubte Chevalier des Touches wie eine gespensterhafte Erscheinung begegnet war. Dieses sonderbare Ereignis nimmt Mademoiselle de Percy zum Anlass, als überlebende Zeitzeugin die Geschichte der Befreiung des Chevaliers durch zwölf verschworene Chouans am Vorabend seiner geplanten Hinrichtung im Jahr 1799 zu erzählen.

Aus unseren Geschichtsbüchern wissen wir, dass auch die Anführer der Revolution nicht zimperlich vorgingen; nur wenige Jahre vor der Geschichte, die im Roman erzählt wird, hatten die republikanischen Truppen die Aufstände der Vendée blutig niedergeschlagen, bis zur Auslöschung ganzer Ortschaften. 1799 aber schien der Ausgang der Revolution entschieden. „Die Bauern sind müde; der Krieg flaut ab“, wird der resignierte Chevalier am Ende seine Begleiter wissen lassen. Sich jetzt aufzulehnen, kam einem Selbstmord gleich.

Um die Garde von der Bewachung des Gefängnisses abzulenken, in dem der Chevalier inhaftiert ist, zetteln seine Befreier eine Massenschlägerei auf der im Ort gerade stattfindenden Viehmesse an. Nur mit Peitschen und keulenähnlichen „Eschenprügeln“ ausgestattet, richten sie in geschickter Formation ein blutiges Gemetzel unter den politisch unbeteiligten Händlern und Bauern an. Es fällt beim Lesen schwer, wie Heinrich Mann im Kampf der kleinen Zahl gegen die ungefüge Menge „auch seine sympathische Seite“ zu sehen. Unbeirrbare Eiferer, die mit terroristischen Aktionen eine historisch überlebte Staatsform zurückfordern – sei es das Ancien Régime oder ein Kalifat – verdienen keine Heroisierung, mögen ihr strategisches Geschick und ihre Tollkühnheit aus rein militärischer Sicht auch noch so schwierige Kunststücke sein.

Aber Barbey d’Aurevilly ist ein zu raffinierter Erzähler, als dass der Chevalier des Touches, seine Befreier und der Kreis der an der Rahmenerzählung Beteiligten dem damaligen wie heutigen Lesepublikum nicht auch als verwunderliche, merkwürdig aus der Zeit gefallene Gestalten erscheinen mussten. Hatten noch in der Kindheit Barbey d’Aurevillys die Legenden über den historischen Jacques Destouches (1780–1858) die Augen der Erzähler und ihrer Zuhörer aufleuchten lassen, mischt der erwachsene Autor in seine Darstellung profunden Zweifel an dem unbedingten Engagement für die aussichtslose Sache. Die mit der Restauration zwischen 1814 und der Julirevolution 1830 noch einmal eingerichtete konstitutionelle Monarchie hatte nichts mehr vom Glanz früherer Bourbonenherrschaft.

Zwar werden sowohl die Körperkraft des Chevalier des Touches als auch dessen navigatorische Fähigkeiten als Bote zwischen dem von der Revolution abgesetzten König im englischem Exil und seinen Anhängern auf dem französischen Festland gerühmt, doch sind die Chouans in der Bevölkerung nicht besonders beliebt. Das wird besonders gut nachvollziehbar, wenn der soeben befreite Chevalier in einer Mühle grausame Rache an dem musikalischen Müller übt, der ihn an die Revolutionstruppen verraten hat.

Eine überraschende, jedoch im Lauf der Erzählung geschickt vorbereitete Wende nimmt der Roman auf den letzten Seiten, sobald Mademoiselle de Percy ihre Erzählung über die abenteuerliche Entführung des Chevalier des Touches beendet hat. Leser, die sich bis jetzt an all dem Martialischen, an den Strategiespielen der Chouans, nicht erfreuen konnten, dürften nun auf ihre Kosten kommen. Von allen unbemerkt, hatte im Kaminzimmer der alten Herrschaften ein etwa dreizehnjähriger Junge zugehört, dessen Lebensdaten (und auch nach dem, was sonst biographisch über Barbey d’Aurevilly bekannt ist) mit denen des Autors weitgehend kongruent sind. Er greift als erwachsener Mann die Geschichte auf und ergänzt mit historischem Abstand das, was Mademoiselle de Percy und ihre Zuhörer damals nicht wissen konnten. Der tatsächliche Jacques Destouches lebt seit mehr als dreißig Jahren geistesgestört und verbittert über den „Undank“ der Bourbonen in einer Anstalt in Caen, wo der Erzähler – und auch der Autor – ihn besucht.

Barbey d’Aurevilly hält diese Begegnung aus dem Oktober 1856 in einem seiner Tagebücher (von ihm „Memorandum“ genannt) fest. Der im Matthes & Seitz Verlag erstmals im Zusammenhang mit einer Ausgabe dieses Romans erschienene Text ist aufschlussreich sowohl über die Situation der psychiatrischen Krankenhäuser im 19. Jahrhundert als auch über die Demokratieferne des Autors.

Der den Besucher begleitende Arzt macht seine Patientenvisite. „Wenn einer von ihnen in Wut gerät (sie sind nicht gefesselt, Hut oder Mütze in der Hand), ergreifen ihn zwei oder drei Mann und schaffen ihn fort, wie ein Hausmädchen ein schreiendes Kind hinausträgt – genauso schnell. – Wunderbare, beinah zauberische Raschheit! – Als ich über die Behendigkeit staunte, mit der die Leute weggeschafft wurden, sagte mir der Doktor, wenn man eine Minute schwach sei oder zögere, würden augenblicklich alle aufsässig und unbezähmbar! – Dann gewinnen sie die Oberhand. – Ich dachte an die Staatsleute – was könnten sie hier über das Niederhalten der Massen lernen! – Völker muss man wie Verrückte lenken.“

War bereits der Roman ein aus vielerlei Gründen lesenswertes unzeitiges Zeitzeugnis, so lohnt sich die Lektüre erst recht wegen des gut 80-seitigen Anhangs. Der Herausgeber Gernot Krämer, der ein kenntnisreiches Nachwort beisteuert, das Verständnis vieler Textstellen durch gründlich recherchierte Anmerkungen bereichert und um eine gute Auswahlbibliographie ergänzt, hat zwei weitere Texte hinzugenommen.

Zunächst einen Essay von Heinrich Mann, dem großen Romancier und profunden Kenner französischer Geschichte, einer der ersten in Deutschland, der die Bedeutung Barbey d’Aurevillys erkannte und in einem 1895 in der Zeitschrift Die Gegenwart erschienenen Essay differenziert darzustellen wusste. Es ist dem Herausgeber zu danken, diesen klugen Essay entdeckt und der Chevalier-des-Touches-Ausgabe hinzugefügt zu haben.

Und nicht zuletzt den Text eines Autors, den man im Zusammenhang mit Barbey d’Aurevilly nicht unbedingt erwartet hätte: einen Auszug aus einer geistreich-verspielten Reflexion des Philosophen Michel Serres zum Kapitel über die „blaue Mühle“, die über das Weiße zu einer roten Mühle wird. Serres spürt der im Roman angelegten feinen Metaphorik nach, setzt die sinnlich wahrnehmbaren Farben in Beziehung zu ihren historischen Bedeutungen für die Trikolore und stellt kluge Überlegungen an zu Uhren, Mühlen, dem Fortschreiten der Zeit und fruchtlosen Versuchen, sie anzuhalten. Ein lustvoller Text, der zum Mehrlesen anregt.

Das gesamte Buch – der Roman selbst, die vortreffliche Übersetzung, die als Illustrationen beigegebenen Radierungen von Félix Buhot, das „Memorandum“ zum Besuch in der psychiatrischen Krankenanstalt, die Essays von Heinrich Mann und Michel Serres, das gut erklärende Nachwort von Gernot Krämer, seine Anmerkungen und weiterführenden Literaturhinweise, die aufwendige Herstellung (Fadenheftung) – das alles zusammen bildet eine gelungene Komposition und ergibt einen weiteren schönen Band der Barbey d’Aurevilly-Ausgabe im Matthes & Seitz Verlag.

Jules Barbey d`Aurevilly: „Der Chevalier des Touches„. Roman. Aus dem Französischen von Caroline Vollmann und Gernot Krämer, herausgegeben und mit einem Nachwort von Gernot Krämer. Mit Texten von Heinrich Mann und Michel Serres sowie Illustrationen von Félix Buhot. Matthes & Seitz Verlag, Berlin. 295 Seiten, 19,90 €.




Musik als Trösterin: Eine persönliche Erinnerung an Gerd Zacher (1929-2014)

Am 26. Mai 1973 spielte Gerd Zacher an der Orgel der Kreuzeskirche in Essen das Werk „Volumina“ von György Ligeti. Ich hatte den großen Organisten und Komponisten Neuer Musik bereits im Oktober des vorangegangenen Jahres Orgelstücke von Olivier Messiaen aufführen gehört und hielt mich für vorbereitet, dem Unglaublichen zu begegnen. Aber die Wucht der Volumina hätte mich fast umgeblasen, wäre die Holzbank in der Mitte des Kirchenschiffs weniger solide gewesen.

Eine Erfahrung von Musik im Raum, wie ich sie mir bei einem einzigen Instrument (wenn auch der Königin der Instrumente) ohne Lautsprecher nicht vorstellen konnte. Die Töne schlichen eine Weile unter der Kirchendecke entlang, um dann gewaltig von allen Seiten auf die Zuhörer hinabzustürzen. Der Schrecken, der von Musik ausgehen kann, ihre kathartische Wirkung, kann nicht eindrucksvoller auf einen Hörer übergreifen.

Ich hörte mir das Werk (eingespielt von Karl Erik Welin) daraufhin noch oft von der Schallplatte an. Zwischen den Kopfhörern wurde mein Schädel zur schwingenden und brausenden Kirchenkuppel, aber die Überraschung des ersten Mals war nicht wiederholbar.

In der Wohnung des Komponisten Gerhard Stäbler in Essen-Werden haben wir mit Professor Zacher, Dozenten und Schülern der Folkwang-Hochschule gelegentlich beisammen gesessen. Die Gespräche streiften die verschiedensten Themen. Scheinbar nebenher, aber doch von existenziell scheinender Wichtigkeit, erinnerte Gerd Zacher einmal daran, dass Musik von alters her immer auch als Trösterin aufgefasst worden sei. Ein Satz, an den ich mich später oft beim Musikhören in trauriger Stimmung erinnern sollte. Damals aber beschlich mich Achtzehnjährigen erstmalig eine Ahnung, dass auch ein gestandener Mann, ein Hochschulprofessor, ein Künstler, der bei einem namhaften Plattenlabel unter Vertrag stand, mitunter des Trosts bedurfte.

Gerd Zacher starb am Pfingstmontag, vier Wochen vor seinem 85. Geburtstag. Wir trösten uns mit seiner Musik.




Keine Genre- und Generationengrenzen – das Festival in Moers zeigt, wie das geht

Es gibt keine Genres mehr. Dieser Gedanke kann nur den erschrecken, der Kunst, Literatur oder Musik verwalten, beschreiben oder verkaufen muss. Für den Betrachter, Leser oder Zuhörer aber dürfte die Aufhebung der Genre-Abgrenzungen eine Bereicherung mit sich bringen. Seit seiner Gründung 1972 hat das Festival in Moers vielfältige Experimente gewagt und bereits vor acht Jahren konsequenterweise die Bezeichnung „New Jazz“ aus seinem Namen gestrichen. Das Moers Festival lädt seine treuen und neuen Besucher zu einer lustvollen Odyssee in die Grenzregionen des musikalischen Kosmos ein, in denen Begriffe wie Free Jazz, Neue Musik, Elektronik und Post-Rock ihre Bedeutungen verlieren oder eine neue gewinnen.

Mögen die Veranstalter eines anderen, räumlich nicht weit entfernten Festivals durch ihr breitgefächertes Angebot die verschiedensten Zielgruppen am Hochofen versammeln – zu etwas Neuem verschmolzen werden die Genres nicht in Duisburg, sondern in Moers. Es geht weniger darum, beispielsweise einen eingefleischten Thrash-Metal-Fan zu verführen, sich auch einmal einen lyrischen Songwriter anzuhören. Vielmehr lösen sich solche Begriffe im Verbrennungsprozess auf der Moerser Bühne in Schall und Wasserdampf auf.

Erfolgreiche Duo-Reihe

Die Inklusion des Andersartigen wird nicht zuletzt durch die gut etablierte Duo-Reihe erreicht, die bereits auf vorangegangenen Festivals die heterogensten Künstlertypen zusammenbrachte. In diesem Jahr traten vier Duos auf, deren jeweilige Bestandteile unterschiedlicher kaum sein können.

Foto: Moers Festival

Frauen spielen eine zunehmend stärkere Rolle im Jazz
Ava Mendoza by Peter Gannushkin

Die in der Neuen Musik beheimatete Robyn Schulkowsky (nach eigener Aussage zieht sie „Drummer“ den Bezeichnungen „Perkussionistin“ oder „Schlagwerkerin“ vor) und der Jazz-Schlagzeuger Joey Baron begrüßten es, einmal nicht vor ihrem gewohnten Fachpublikum zu spielen. Zwei durchkomponierte Stücke von Christian Wolff – neben John Cage, Morton Feldmann und David Tudor der Vierte der sogenannten „New York Four“ – brachten sie dem begeisterten Publikum gekonnt zu Gehör. Gerade bei den leiseren Partien machte sich die neue Festivalhalle im Vergleich zum bisherigen unruhigen Zirkuszelt bezahlt.

Moers vereint nicht nur Genres, sondern auch Generationen (das mag beim Traumzeit Festival in Duisburg auch der Fall sein, doch dort besuchen die unterschiedlichen Generationen vermutlich unterschiedliche Konzerte). Ein Altersunterschied von einundvierzig Jahren liegt zwischen dem niederländischen Schlagzeuger Han Bennink, der bereits im Jahr der Festivalgründung in Moers auftrat, und seinem Duo-Partner an den Tasteninstrumenten, Oscar Jan Hoogland. Han Bennink setzt sich beispielsweise breitbeinig auf den Bühnenboden, auf den er mit zwei Stücken trommelt. So unterhält er das Publikum mit Witz, Gymnastik und Clownerien in lässiger Durchlässigkeit von Lebensaltern und Stilen.

Aus unterschiedlichen Generationen und Musikwelten stammen auch die beiden Kölner Jaki Liebezeit und Marcus Schmickler. Jaki Liebezeit, seinerzeit bekannt geworden als Schlagzeuger der Gruppe Can, trommelt auch mit 76 Jahren konzentriert und präzise seine repetitiven Schlagfolgen, die durch Komplexitätsreduktion und Ausdauer auf eine hypnotisierende Wirkung abzuzielen scheinen. Marcus Schmickler, in der Kölner Club- und DJ-Szene heimisch, fügt von seinem kleinen Elektronikpult aus synthetische Sounds hinzu, was optisch und akustisch ein bisschen an die Düsseldorfer von Kraftwerk erinnert.

Arto Lindsays punkig-schräge Gitarrenklänge und der norwegische Hochgeschwindigkeitsdrummer Paal Nilsson-Love bildeten am Sonntag das vierte Duo des Fests. Ihr erster gemeinsamer Auftritt im Club Audio Rebel in Rio de Janeiro, meint Arto Lindsay, sei magisch gewesen. Mag sein. Leider lässt sich Magie nicht planen. In Moers war das improvisierte Zusammenspiel der beiden gut, ein halbstündiges Vergnügen ohne Zweifel; Arto Lindsay schien Spaß zu haben, und der Drummer arbeitete und schwitzte enorm. Lediglich der Eindruck von Magie sprang nicht aufs Publikum über.

Denn schließlich pilgern viele Menschen zu Pfingsten nach Moers, um das Unglaubliche zu erleben – „jazz has to be exceptional, not normal“, wie das Zitat von Sonny Rollins an einem der Tragpfeiler der neuen Festivalhalle lautet. Das Außergewöhnliche bekam das Publikum in der Nacht von Sonntag auf Montag nach Mitternacht mit dem Auftritt von Sarah Neufeld und Colin Stetson zu spüren. Beide sind keine unbeschriebenen Blätter; Sarah Neufeld aus der Montréal-Szene, wo Colin Stetson ebenfalls seit einiger Zeit lebt; beide aus dem Umfeld der Post-Rock-Gruppe Arcade Fire, mit denen sie auf Tournee waren beziehungsweise sind; Sarah Neufeld, die Violinistin, die bereits vor zehn Jahren mit dem Bell Orchestre ihr erstes, stark beeindruckendes Album aufgenommen hat; Colin Stetson, der alle Saxophonarten, einschließlich des gigantischen Basssaxophons sowie Klarinette, Flöte und Waldhorn beherrscht und dessen Kunst der Zirkulationsatmung schier endlose Arpeggio-Bögen hervorbringt; Sarah Neufeld und Colin Stetson, die sich gegenseitig werbend umspielten, schufen wahrhaft magische Passagen. Musik, für die ein Genre-Name erst noch erfunden werden muss – oder auch nicht.

Colin Stetson ist bereits zu Pfingsten 2009 solo in Moers aufgetreten; Sarah Neufeld dürfte nun zehn Jahre nach ihrem Debüt endlich auch als Solo-Künstlerin gefragt sein.

Big Bands als Kontrapunkte in der Komposition des Programms

Der musikalische und optische Gegenpol zu den Duos und dem Ein-Mann-Auftritt von Marc Ribot, der am ersten Festivalabend seine thematische und spieltechnische Ausweitung der Gattung „Protestsongs“ präsentierte, waren die Big Bands. Mit einer unüblichen Orchester-Variante bestand die neue Festivalhalle am Freitagabend ihre Feuerprobe. Das Orchester bestand nur aus einer Sorte Instrument, das aber gleich vierundvierzig Mal. Vierundvierzig gleiche Kontrabässe? Nicht ganz. Einer davon war das auratisch besonders aufgeladene Instrument, das einstmals dem Pionier des Free Jazz Peter Kowald gehört hatte. Was aus einem solch monoinstrumentalen Orchester an Nuancen zu erzielen ist, hat Sebastian Gramms‘ „Bassmasse“ aus dem Holz herausgeholt.

Greg Haines begleitete die Zuhörer in den frühen Pfingstmontag Foto: Moers Festival

Greg Haines begleitete die Zuhörer in den frühen Pfingstmontag
Foto: Moers Festival

Natürlich gab es auch „richtige“ Big Bands, mit Blech- und Holzblasinstrumenten; vor allem zum Abschluss eines jeden Programmtags, wenn am Rand der Halle getanzt wird. Das begann am Freitagabend mit den Finnen der Ricky-Tick Big Band & Julkinen Sana, die drei Größen des finnischen Hip-Hop dabei hatten. Den Sonntag schlossen zwanzig weißgekleidete Musiker von Letieres Leite und seinem Orkestra Rumpilezz aus dem warmen Salvador de Bahia ab. Und in der Mitte, am Samstag, trat das legendäre Sun Ra Arkestra auf, geleitet vom 90-jährigen Marshall Allen, der seit Ende der Fünfzigerjahre mit dem 1993 gestorbenen Sun Ra zusammenspielte. Das Sun Ra Arkestra bewies auch in Moers, wie großartig es noch immer ist; es bezieht seinen Glanz aber auch ein bisschen aus der Legende, den farbenfrohen, glitzernden Gewändern und dem extravaganten Kopfschmuck, der bei manchen Musikern ägyptische Mythologie zitiert. Mythos und Show greifen hier ineinander.

Aber nicht nur die groovenden, zum Mitswingen und Tanzen einladenden Formationen zum Abschluss der jeweiligen Festivaltage (für den Pfingstmontag wären die in Moers gut bekannten „Mostly Other People Do The Killing“ zu ergänzen) waren die Highlights unter den Big Bands. Die positiven Überraschungen traten manchmal mitten am Nachmittag auf.

Es sei unüblich, bei einem Indie-Festival wie Moers Gruppen einzuladen, die das Wort „National“ im Namen tragen, sagt die unverzichtbare Hanna Bächer bei der Ankündigung des Orchestre National de Jazz Olivier Benoit. „Bei diesem speziellen Ensemble aber sind die Leute deutlich besser, als der Name vermuten lässt“. Die Moderatorin hat nicht zu viel versprochen. Die elf Musiker sind allesamt große Könner und schaffen gemeinsam ein über das ohnehin hohe Festival-Niveau herausragendes Werk.

Die nicht mehr so jungen Jazz-Kenner, denen Fred Frith‘ Album Gravity aus dem Jahr 1980 bekannt ist, mochten am frühen Sonntagabend mit großen Erwartungen der „Gravity Band“ entgegengesehen haben, die Stücke des Albums vierunddreißig Jahre nach ihrem Erscheinen zum ersten Mal live spielten. Zweifellos war das experimentelle Werk bei der Veröffentlichung seiner Zeit um gut und gern vierunddreißig Jahre voraus, doch heute klingt es nicht wie eine aktuelle Komposition, sondern wie eine historische, die um 1980 ihrer Zeit um vierunddreißig Jahre voraus war. Trotzdem gut.

Von Frauen geleitete Quartette

Mit fünf Musikerinnen hat Fred Frith eine korrekte Frauenquote in seiner elfköpfigen Gravity Band. Qualität geht selbstverständlich über Quote, aber auch die stimmt. Mit der Ausnahme-Gitarristin Ava Mendoza, die am Pfingstmontag zusätzlich mit ihrem eigenen Trio „Unnatural Ways“ auftrat, und der das Publikum begeisternden Akkordeonspielerin Marié Abe seien hier inkorrekterweise nur zwei Namen genannt.

Doch auch außerhalb der Band von Fred Frith wirkt sich der gestiegene Frauenanteil im Jazz erfreulich aus. Als „Improviser in Residence“ arbeitet Julia Hülsmann ein Jahr in Moers und hat für das Festival neue Songs komponiert, teils unter Verwendung von Textteilen von Margaret Atwood, Emily Dickinson oder Walt Whitman. Gesunden werden die Texte von dem in New York lebenden gebürtigen Dortmunder Theo Bleckmann, ein Sänger, Schauspieler und Stimmkünstler, der unter anderem für die Aliens aus Steven Spielbergs Men In Black ihre Sprache schuf. Der neuseeländische Saxophonist Hayden Chisholm und der Schlagzeuger Moritz Baumgärtner vervollständigen das Quartett. Der Aufbau der Kompositionen von Julia Hülsmann weist das auf, was man im Roman als klug gestaltete Spannungsbögen bezeichnen könnte; die Leistung aller vier Musiker ist hervorragend; und doch wirkt das Ganze ein bisschen zu kunstsinnig, zu sehr wie für den Kultursender ARTE geschaffen, der alle Konzerte mitschneidet und auf seiner Website veröffentlicht. Es fehlte vielleicht das Gefühl von Freiheit, mit dem Jazz auch zu tun hat, oder, wie mein Sitznachbar in der Pause meinte, dass die Band „mal so richtig die Sau rauslässt“ (er dürfte später bei Arto Lindsay und Paal Nilssen-Love auf seine Kosten gekommen sein).

Ein anderes Quartett mit einer Frau als Chefin schuf ebenfalls kunstvolle Songs, Johanna Borchert mit „Wayside Wayfarer“, doch machte sich der hohe künstlerische Anspruch hier keineswegs störend bemerkbar – vielleicht weil sich die von Schneeweiß & Rosenrot bekannte Sängerin die Verbindung zum Pop bewahrt hat?

Als vorletzte Gruppe am Pfingstmontag hat Ava Mendoza wieder einmal bestätigte, dass ein Trio aus Gitarre, Bass, Schlagzeug völlig ausreicht; wie am Festival-Samstag bereits die französische – fast möchte man sagen: Rockgruppe – Jean Louis mit der Variante Trompete, Bass, Schlagzeug. Die hier nicht eigens besprochenen Gruppen waren nicht schlechter, aber es liegen eben vier sehr volle Festivaltage hinter uns, zusätzlich eine Sonntagnacht, in der nach dem sensationellen Duo Sarah Neufeld / Colin Stetson und dem eher meditativen Elektroniktüftler Tim Hecker das schöne Pianospiel von Greg Haines die ausharrenden Hörer in den frühen Morgen begleitete.

Die neuen „Night Sessions 2.0“, die im bisherigen Zirkuszelt aus Emissionsschutzgründen nicht gestattet waren, versprach Festivalleiter Rainer Michalke bei der abschließenden Pressekonferenz in den nächsten Jahren fortzusetzen. Wir dürfen uns freuen.




Neuerscheinungen zur Leipziger Buchmesse: Scheitern ist wieder „in“

buch2014_4654_kleinerSpätestens die diesjährige Leipziger Buchmesse machte deutlich: Scheitern ist wieder ganz groß im Kommen. Seit mindestens dreißig Jahren wartet eine älter werdende Generation auf die Wiederherstellung des guten Rufs der Erfolglosigkeit, und nun, da sich der Wunsch endlich erfüllt, schwingen sich Jüngere zu den Propheten und Protagonisten des neuen Scheiterns auf.

Katrin Bauerfeind scheitert vergnüglich, wobei sie das tägliche kleine Scheitern der großen Katastrophe vorzieht. Beim neuen Flughafen Berlin Brandenburg habe man schließlich auch nicht die Rollbahn vergessen, sondern es seien 70.000 Einzelmängel, die sich zum großen Fiasko summierten.

Ariadne von Schirach gebietet im Titel ihres neuesten Buchs den zahlreichen Leserinnen und Lesern gar: „Du sollst nicht funktionieren“. Gut. Wenn sie das sagt, tun wir das in Zukunft nicht mehr und raffen all unseren Mut zusammen, um unvollkommen zu bleiben. In Deutschland scheitern wir gern auf Befehl. Zumindest fühlen wir uns wohler, wenn wir uns auf jemanden berufen können, der immerhin auf einem für philosophische Fragen reservierten Forum zum Scheitern aufruft.

Der Schweizer Lukas Bärfuss beschreibt in seinem Roman „Koala“ den nach diesem auf australischen Eukalyptusbäumen faul abhängenden Tier benannten Halbbruder des Protagonisten, der jede Arbeitsaufnahme verweigert und sich schließlich tötet. Hans-Ulrich Treichel schildert nicht ohne Selbstironie in „Frühe Störung“ eine Lebensvariante aus dem Akademikerprekariat, gepaart mit dem Versagen angesichts der Anforderungen einer sterbenden Mutter. Und der in Berlin lebende Peter Wawerzinek erzählt in „Schluckspecht“ sehr erfolgreich eine Alkoholikerbiographie (wobei zumindest die beiden letztgenannten Autoren nicht mehr zur jüngeren Generation gezählt werden dürfen).

Wollte man jedoch eine einigermaßen repräsentative Auskunft darüber wagen, in wie vielen der zigtausend Neuerscheinungen dieses Frühjahrs lustvoll und virtuos oder auch ungewollt gescheitert wird, an einer solchen Erhebung müsste man notwendigerweise scheitern.

• Katrin Bauerfeind: Mir fehlt ein Tag zwischen Sonntag und Montag. Geschichten vom schönen Scheitern. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2014, ISBN 978-3-596-19891-7.

• Ariadne von Schirach: Du sollst nicht funktionieren. Für eine neue Lebenskunst. Tropen Verlag. Berlin 2014, ISBN 978-3608503135

• Lukas Bärfuss: Koala. Roman. Wallstein, Göttingen 2014, ISBN 978-3-8353-0653-0

• Hans-Ulrich Treichel: Frühe Störung. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, ISBN 978-3518424223

• Peter Wawerzinek: Schluckspecht. Roman. Galiani Berlin, 2014, 978-3869710846




Die Anfänge eines kunstvollen Scheiterns – Samuel Becketts Briefe 1929–1940

Kaum jemand hat das Scheitern so gekonnt zu seinem Markenzeichen gemacht wie Samuel Beckett. „Wieder scheitern. Besser scheitern“, heißt es in Worstward Ho (Aufs Schlimmste zu; 1983). Die Anfänge des großen Prosaisten, Lyrikers und Dramatikers, der seine Bühnenfiguren in Mülltonnen steckte oder bis zum Hals in einem Erdhügel vergrub, der in seiner Romantrilogie systematisch den Erzähler abschaffte und vor dessen vernichtendem Denken sich kaum eine literarische Gattung retten konnte, die Anfänge sind inzwischen als autobiographische Zeugnisse in Form von Briefen nachlesbar.

Beckett hatte vor seinem Tod im Jahr 1989 verfügt, dass nur solche Briefe veröffentlicht werden dürfen, die für sein Schaffen von Belang sind. Nach und nach entdeckte die Beckett-Forschung, in welchem Maße sich der Autor – wenn auch teilweise bis zur Unkenntlichkeit verschlüsselt – aus Erlebtem bedient hat. Erben und Herausgeber einigten sich auf die Publikation von 2.500 der ca. 15.000 bekannten Briefe, verteilt auf vier Bände.

Der erste Band, 2009 in England und im vorigen Jahr in einer gelungenen Übertragung von Chris Hirte auf Deutsch erschienen, umfasst den Zeitraum 1929–1940. In diese zwölf Jahre fallen mehrere Veröffentlichungen, die den späteren Literatur-Nobelpreisträger allerdings noch nicht berühmt machten – das sollte sich auch für weitere zwölf Jahre bis zu Warten auf Godot, das im Januar 1953 uraufgeführt wurde, nicht ändern.

Da wäre zunächst Whoroscope – ein Langgedicht, mit dem der Vierundzwanzigjährige seinen ersten Literaturpreis gewonnen hat und das sich all denen nicht vollständig erschließen kann, die zum Beispiel nicht dieselbe Descartes-Biographie wie Beckett gelesen haben.

Sein Essay Proust (1931) verkaufte sich akzeptabel; eine weitere von Beckett vorgeschlagene Monographie zu André Gide aber wollte der Verleger nicht folgen lassen.

Für seinen ersten fertiggestellten Roman, Dream of Fair to Middling Women, fand Beckett keinen Verleger – nicht zu seinem Schaden. Der frühe Romanversuch, den Beckett später als „unreif und unwürdig“ bezeichnen und nicht mehr zur Veröffentlichung freigeben würde, enthält mehrere akademisch verbildete oder in Joyce’scher Manier strapaziöse Passagen. Zugleich verrät Beckett darin ungeschützt biographische Details, die auch seine Jugendlieben in unvorteilhafter Weise erscheinen lassen. Das Werk diente jedoch als Steinbruch für den 1934 veröffentlichten Band mit Erzählungen, More Pricks Than Kicks (in deutscher Übersetzung: Mehr Prügel als Flügel).

Es folgte 1935 unter dem Titel Echo’s Bones and Other Precipitates ein Band mit Gedichten, deren Urfassungen Beckett teilweise als Anlagen mit seinen Briefen versandt hat und die in die vorliegende, gut kommentierte, Ausgabe aufgenommen wurden.

Schließlich Murphy, der Roman, der nach zweiundvierzig Ablehnungen im Jahr 1938 endlich bei im Londoner Verlag Routledge erscheint, was Beckett zu dem Zeitpunkt beinah schon gleichgültig zur Kenntnis nimmt. Murphy gilt zu Recht als geniales Frühwerk, nicht zuletzt aufgrund der dort wiedergegebenen Notation einer Schachpartie, die Becketts Denken vielleicht im Kern zutreffender charakterisiert als viele Worte. Jedoch hatte Beckett darin noch nicht zu seinem minimalistischen Stil gefunden, in den er sich im Lauf seines Lebens zunehmend, besser gesagt: abnehmend, hineinschreiben wird.

In den Briefen rund um die mühselige Verlagssuche tauchen bereits die resignierten, lakonischen, selbstironischen Töne auf, für die man Beckett später verehren wird.

„Du weißt, dass ich überhaupt nicht schreiben kann. Der einfachste Satz ist schon Folter“ – am 25. Januar 1931 an Thomas McGreevy. Weiter am 8. November desselben Jahres: „Schreiben kann ich überhaupt nicht, mir nicht mal die Umrisse eines Satzes vorstellen oder Notizen machen“ (ebenfalls an McGreevy). Schließlich, im August 1932: „Zu schreiben habe ich gar nicht erst versucht. Schon der Gedanke ans Schreiben scheint mir irgendwie lächerlich.“ Oder noch genereller an seine Tante Cissie: „Arbeiten kann ich nicht. Einen Monat schon gebe ich mir nicht mal den Anschein von Arbeit“ (14. August 1937).

Was wüssten wir über Samuel Beckett, wäre da nicht der Freund? „Ich hätte niemals einen so detaillierten und auf Tatsachen gestützten Bericht über Becketts Leben, Gedanken und Ideen schreiben können, hätten mir nicht seine Briefe an McGreevy zur Verfügung gestanden“, berichtet seine erste Biographin, Deirdre Bair.

Der dreizehn Jahre ältere Thomas McGreevy war Becketts Vorgänger als Englisch-Lektor an der École Normale Supérieure in Paris. Als Beckett ihn 1928 auf dieser Stelle ablöste, blieb McGreevy zunächst in der französischen Hauptstadt, machte Beckett u. a. mit James Joyce und seinem Umfeld, später mit dem Maler Jack B. Yeats und dem Verleger Charles Prentice (Teilhaber von Chatto and Windus) bekannt; er ermunterte ihn zu dem Essay über Marcel Proust und entfachte seine Begeisterung für bildende Kunst. In ihrer jeweiligen Haltung zu Irland allerdings gab es zwischen den beiden erhebliche Differenzen; die irisch-katholische Vaterlandsliebe seines älteren Freundes konnte Beckett nicht nachvollziehen.

Einzelne Textstellen aus den mehr als dreihundert erhaltenen Briefen an Thomas McGreevy übernahm Beckett in seine Prosatexte und Stücke. In die Korrespondenz investierte er mitunter mehr Zeit als in sein – im engeren Sinne – literarisches Schreiben. Obgleich auch die Briefe nicht ohne literarische Finessen sind. Der deutsche Titel des ersten Bands der Briefausgabe, „Weitermachen ist mehr, als ich tun kann“, ist ein Zitat aus einem Brief vom 26. März 1937 an seinen ehemaligen Studienkollegen vom Trinity College Dublin, Arland Ussher.

Das Schreiben schien ihm aber damals noch keine Notwendigkeit gewesen zu sein, anders als ab 1942, als er sich mit seiner späteren Frau Suzanne – beide waren für die Résistance tätig – im südfranzösichen Roussillon (Vaucluse) vor den Nazis versteckte.

Noch 1937 teilt er McGreevy mit: „es ist weiß Gott nicht so, dass ich jemals gewünscht hätte, mein Leben mit Schreiben zu verbringen.“ Er bewarb sich um eine Dozentur für Italienisch an der Universität Kapstadt („Mir ist wirklich gleichgültig, wohin ich gehe oder was ich tue“). Zeitweise liebäugelte er auch mit der Vorstellung, Pilot zu werden. Ein Praktikum beim Film scheiterte – Sergei Eisenstein reagierte nicht auf seine Bewerbung. Über Nino Frank, den er auf einer Party bei den Joyces trifft, meint er: „Er kann mich hier mit Filmleuten in Kontakt bringen, falls ich überhaupt jemals noch mit jemandem Kontakt haben will“ (am 11. Februar 1939 an McGreevy).

Ein wichtiges Thema in den Briefen, über das zu sprechen Beckett in späteren Interviews rigoros ablehnte, betrifft das gespannte Verhältnis zu seiner Mutter. Immerhin zahlte sie ihm eine Psychotherapie in London, die nur das Ziel haben konnte, den Sohn von der Mutter zu heilen. Beckett, der sich in London auch einen Vortrag von C. G. Jung anhörte, berichtet dem Freund über die fragwürdigen Erfolge der zahlreichen Sitzungen mit seinem Arzt Wilfred Ruprecht Bion.

Letztlich aber half nur die räumliche Distanz vom Elternhaus in dem gepflegten Dubliner Vorort Foxrock. In Paris hielt er sich von 1928 bis 1930 und dann kontinuierlich ab 1937 auf, in London während der langwierigen Therapie 1934/1935 und oftmals zu verschiedenen Besuchen bei Freunden. Ein nicht unbeträchtlicher Teil des Briefwechsels spiegelt seine frühen Deutschlandreisen wider, zunächst in den Jahren 1928/1929 von Paris aus nach Kassel zu seiner damaligen Geliebten Peggy Sinclair, die zugleich seine Cousine war und deren fehlerhaftes Englisch er in Traum von mehr bis minder schönen Frauen (übernommen auch in den Band mit Erzählungen, Mehr Prügel als Flügel) festhält. Dann die halbjährige Deutschlandreise 1936/1937 mit ausgiebigen Besuchen in Kunstmuseen, was ihm zur Vorbereitung einer Karriere als Kurator (die er nie beginnen sollte) ein willkommener Vorwand war, seiner ihn vereinnahmenden Mutter zu entfliehen. Beckett lernt in Deutschland viele Persönlichkeiten aus dem Kunstbetrieb kennen und erlebt mit, wie sogenannte „entartete“ Kunst in den Kellern verschwindet, Museumsleiter oder Kunsthistoriker von ihren Posten suspendiert, Künstler und Intellektuelle jüdischer Herkunft diskriminiert werden.

In München sah und bewunderte er Karl Valentin – „Komiker allererster Sorte, aber vielleicht gerade am Beginn seines Niedergangs“, wie er am 30. März 1937 an Günter Albrecht schreibt. Durch Albrecht lernte er den späteren Rowohlt-Lektor Axel Kaun kennen, der ihm Gedichtbände von Joachim Ringelnatz zur Übersetzung ins Englische antrug („meiner Ansicht nach nicht der Mühe wert“ – 9. Juli 1937). Der Hamburger Teil der „German Diaries“ wurde 2003 in einer bibliophilen Ausgabe veröffentlicht.

An illustren Namen unter den Briefempfängern oder in den Briefen auftauchenden Personen fehlt es nicht. Da wäre zuallererst das frühe Vorbild James Joyce, der in Beckett seinen talentiertesten Assistenten fand, der aber auch als Erster an Becketts Krankenbett erschien, nachdem dieser bei einer Messerstecherei lebensbedrohlich verletzt worden war.

Mit der Kunstmäzenin Peggy Guggenheim, die er auf James Joyces Geburtstag 1938 kennenlernte, verband Beckett vom selben Abend an eine Liaison. Sehr hilfreich sind im Anhang die Kurzporträts der wesentlichsten Briefempfänger und mehrerer in den Briefen genannter Personen. Durch die Briefausgabe gewinnen wir auch Einblicke in Becketts frühe Lektüre: Dante, Samuel Johnson, Sade, Schopenhauer, Gontscharows „Oblomow“, die Surrealisten Paul Éluard und André Breton, in Deutschland auch (auf Empfehlung eines Freunds) Hans Carossa.

Der letzte Brief in Band 1 datiert vom 10. Juni 1940, einem Montag. Für den Freitag derselben Woche möchte er sich mit dem Malerfreund Bram van Velde zu einer Partie Billard im Café des Sports verabreden – „All das unter der Voraussetzung, dass wir in Paris bleiben.“ Diese Partie musste leider auf unbestimmte Zeit verschoben werden. „Am 12. Juni bestieg Beckett einen der letzten Züge von der Gare de Lyon nach Vichy, wo die Joyces sich aufhielten“, wie wir durch seine Biographin Deirdre Bair erfahren – „Seine Papiere waren nicht in Ordnung, und Geld hatte er auch keines (…). Er wusste, dass er in Vichy nicht bleiben konnte, denn die Stadt füllte sich zusehends mit Regierungsbeamten, die nach der Besetzung von Paris und dem Fall Frankreichs hier eine neue Regierung aufbauen sollten. (…) Am 13. Juni machte Beckett sich zu Fuß gen Süden auf, fand jedoch bald einen Zug, der hoffnungslos verspätet war und nur sehr langsam vorankam. Beckett zwängte sich hinein, hockte sich in eine Ecke und schaffte es auf diese Weise bis nach Toulouse. Ehe der Zug die Stadt erreichte, sprang Beckett ab und entging damit der Internierung von Ausländern in einem Flüchtlingslager.“ (Deirdre Bair: Samuel Beckett, Reinbek bei Hamburg, 1994, S. 393)

Becketts O-Ton zu den Kriegs- und Nachkriegsjahren 1941–1956 liegt seit dem September 2011 als Band 2 der englischen Briefausgabe vor. Die deutsche Übersetzung erwarten wir mit Ungeduld.

Cover Beckett Briefe 1929 bis 1940

 

Samuel Beckett:
Weitermachen ist mehr, als ich tun kann – Briefe 1929–1940
Herausgegeben von George Craig, Martha Dow Fehsenfeld, Dan Gunn und Lois More Overbeck
Aus dem Englischen und Französischen von Chris Hirte
Mit zahlreichen Abbildungen
Frankfurt a. Main (Suhrkamp), 2013
Gebunden, 856 Seiten, D: 39,95 €
ISBN: 978-3-518-42298-4




Viel Steine gab‘s – Georg Kleins Roman „Die Zukunft des Mars“

Wenn neben dem literarischen Hochgenuss ein zweiter Grund genannt werden müsste, warum sich die Lektüre von Georg Kleins neuem Roman „Die Zukunft des Mars“ unbedingt lohnt, dann vielleicht, weil wir durch ihn die „Gute Alte Zeit“, in der wir heute leben, neu schätzen lernen könnten.

Vladimir Nabokov hatte in Stadtführer Berlin einen Sinn schöpferischer Literatur darin gesehen, „alltägliche Dinge so zu schildern, wie sie sich in den freundlichen Spiegeln künftiger Zeiten darbieten werden.“ Georg Klein verfügt über diesen besonderen Blick auf das kuriose, später sicher einmal museumswürdige Spielzeug, mit dem wir uns heute vergnügen. Oder auf das Stückchen Weihnachts-Geschenkpapier, das sich in einem unzugänglichen Gebiet der Marsoberfläche verliert. In „Die Zukunft des Mars“ ist unsere Gegenwart längst Geschichte geworden, und wir Menschen von heute sind die Bewohner einer legendären, einer untergegangenen Welt.

978-3-498-03534-1.jpg.666368Anstatt aber wie die Rezensentin im Feuilleton einer überregionalen Tageszeitung von einem „friedfertig pessimistischen Zukunfts-Thriller“ zu sprechen, könnte ebenso gut der Optimismus hervorgehoben werden, der in der kriegerisch verwickelten Lage eines postdesaströsen Europas den Alltag der Romanfiguren durchwirkt, bis hin zur kindlichen Vorfreude auf das Weihnachtsfest.

Pessimistisch bzw. dystopisch ist der Roman allerdings, was den Fortbestand von Nationalstaaten und Demokratien betrifft, ebenso im Hinblick auf intakte Telefonverbindungen, die Erwartung von mehr Fernsehkanälen als täglich zwei Stunden Regierungsprogramm, das nur gemeinschaftlich an wenigen Empfängern geschaut werden kann, oder die Zukunft von Kaffeekultur. Dafür werden die noch verbliebenen Alt-Alkoholika wie das Danziger Goldwasser oder die mehr schlecht als recht funktionierenden elektronischen Geräte, die den „Ewigen Winter“ überstanden haben, hoch gehandelt. Was in Georg Kleins Roman die Gegenwart der Zukunft ist, dürfte nur sehr spezielle Typen erwartungsfroh stimmen, etwa Elektrobastler, wie „Opa“ Spirthoffer einer ist, oder Charaktere mit Alleinherrscher-Phantasien wie Don Dorokin, der sich das Freigebiet Germania mit zwei Rivalen aufgeteilt hat.

Die Welt nach einer großen Umwälzung

In dieser Robinsonade nach einer politischen, wirtschaftlichen und offenbar auch klimatischen Umwälzung, die die ehemals deutsche Hauptstadt an den westlichen Rand der chinesischen Protektorate gerückt hat, versucht sich die mit ihrer Tochter Alide aus dem sibirischen Novonovosibirsk eingewanderte Lehrerin Elussa unter (aus unserem Wohlstandsdeutschland betrachtet) eher armseligen Bedingungen durchzuschlagen – nicht zuletzt, indem sie die Russischkenntnisse des hundertjährigen Herrn Spirthoffer aufzufrischen hilft.

Doch auch die Überlebenskämpfe im Nachkriegs-Germania spielen sich im Vergleich zu den Sorgen der Mars-Bewohner unter privilegierten Bedingungen ab. Allein schon die Artenvielfalt, die auf der „blauen Mutterkugel“ weiterhin existiert, wäre auf dem roten Planeten unvorstellbar. Von den Tieren im Freigebiet Germania seien hier nur zwei genannt: der aus Sibirien eingewanderte Marderhund und der aus dem untergegangenen Amerika herübergeschwommene Waschbär, die sich im Erkennen ihrer physiognomischen Ähnlichkeit tödlich ineinander verbeißen – eine zutreffende, vielseitig anwendbare Metapher. An solchen und anderen Einfällen ist der Roman reich.

Auf dem Mars gibt es fast nichts als Steine, diese aber in allen Farben und Formen. Mit einfachsten Werkzeugen, jedoch spezialisierten handwerklichen Fertigkeiten, werden Steine zu Mehlen zermörsert, aus denen zum Beispiel der als Arznei taugliche Blausteinbrei angerührt wird. Aus demselben Blaustein kann unter größten Sicherheitsvorkehrungen aber auch verbotenerweise Tinte gebraut werden. Steinschmalz wird für die Produktion von Kerzen verwandt. Glanzsteine dienen als Spiegel. Aus bräunlichem Steinglas werden Guckfenster geformt. Und orangener Warmstein heilt fast alles.

Allesmacher, Neubastler, Nothelfer

Neben den Steinbrechern und Glasmachern gibt es Altfinder, die nach verwertbaren Resten aus der Siedlerzeit graben, und Berufe wie Allesmacher, Neubastler, Nothelfer oder – eine besonders hoch angesehene Gruppe – Mockmock-Beobachter. Das in der Tiefe des Bodens beheimatete Wesen namens Mockmock, über das hier nichts weiter verraten werden soll, trägt außer den Steinen und seltenen Funden aus der Zeit der Erstbesiedlung entscheidend zum Überleben der Marsianer bei.

Jeder hat seinen festen Platz in der Gesellschaft, der ähnlich vorbestimmt zu sein scheint wie in Platons Staatsideal. Ab einer bestimmten Anzahl grauer bis weißer Haare kann man in den Panik-Rat aufgenommen werden und sich aktiv am „Großen Palaver“ beteiligen, das man sich als eine Tradition nicht-kodifizierter Gesetze und Handlungsrichtlinien vorstellen kann. Denn lesen und schreiben können nur zwei der Marsbewohner, und die müssen ihr Geheimwissen sorgsam vor den Anderen verbergen. Die sechsundfünfzig „Heiligen Bücher“, die noch von der Erde stammen, gelten als unlesbar, genießen jedoch kultische Verehrung.

Der Schreibfertigkeit des Marsbewohners Porrporr verdanken wir im ersten von vier Romanteilen erkenntnisreiche Einblicke in den Alltag der postkolonialen Marsmenschen. Er schreibt zum Beispiel über die Freude, wenn die Herstellung einer in ihrer Transparenz auch noch so getrübten Glasscheibe gelingt, oder über die notwendigen, aber mitunter lustvollen Fahrten mit dem Doppeltretroller über glatte Lavafelder. Der Berichterstatter wertschätzt die einfachen Dinge und gibt uns Erdenmenschen beim Blick in die Ferne das Staunen aus den Anfängen von Zivilisationen zurück.

„Schändliche Unlust“ als gefürchtete Krankheit

In der lebensfeindlichen Steinwüste tauchen aber auch Krankheiten auf, wie man sie auf der Erde nicht kennt. Eine der gefürchtetsten ist die „Schändliche Unlust“. Wer davon in einem fortgeschrittenen, unheilbaren Stadium befallen ist, wird, egal ob er sich noch bewegen kann oder nicht mehr, in den Purpurspalt entsorgt. Jedoch breitet Georg Klein kein Schreckensszenario aus. Vielmehr wird in aller Selbstverständlichkeit und ohne unnötige Erklärungen von der Mühsal wie von den Freuden des Marsdaseins erzählt. Ebenso wie es auch auf unserer guten alten Erde nicht verwundert, wenn der Partner im Bett von einem fremden Planeten stammt.

Im ironischen Spiel mit einem Genre, in dem sonst munter hin und her teleportiert wird, muss auch die Überbrückung der Distanz nicht im technischen Sinne erklärt werden. Gleichwohl lässt der Autor uns die „Höllenkälte“ mitempfinden, wenn etwa Elussa auf dem Weg durch den Weltraum die Fingernägel in den Rücken eines mitreisenden Buches presst. Neben ihr ist es die fürwitzige Tochter Alide, die den oftmals tödlichen Transfer nicht nur unbeschadet überlebt, sondern sich mit den Marsbewohnern – die aus plausiblen Gründen russisch sprechen – auch gleich unbekümmert unterhält.

Ina Hartwig hat in der „Zeit“ auf die Anspielungen auf Alexej Tolstois Roman „Aëlita“ hingewiesen, aus dem Georg Klein ein Zitat als Motto dem vierten Teil seines Romans voranstellt. Zukünftige Forscher – auf welchem Planeten auch immer – werden aus den vielen im Roman versteckten Hinweisen gewiss alle sechsundfünfzig Bücher zu identifizieren wissen, die auf dem roten Planeten als heilig gelten, sowie das siebenundfünfzigste, an dem sich Elussa auf ihrem Weg durch den frostigen Raum festklammert. Nicht auszuschließen, dass auch der schöne Gegenstand aus dem Rowohlt Verlag eines Tages unter die „Heiligen Bücher“ eingereiht werden wird. Bis dahin sei jedem, der noch zu lesen versteht, eine vergnügliche Lektüre gewünscht.

Georg Klein: “Die Zukunft des Mars”. Roman. Rowohlt Verlag, 384 Seiten, 22,95 €




Der Avatar und die Toilette – Volker Königs Erzählung „Varn“

Was für eine Welt schaffen sich Menschen, denen die Möglichkeit gegeben ist, ein Leben nach ihren Wünschen und Vorstellungen einzurichten? Das Ergebnis – wie wir aus Volker Königs Erzählung „Varn“ erfahren – ähnelt nur allzu sehr unserer vertrauten Alltagswelt, es sieht nur ein bisschen perfekter aus. „Hatte ich nicht gehofft, eine Welt vorzufinden, die sich von der vor meinem Fenster in allem unterschied?“, fragt sich der Erzähler, der mit Hilfe seines Avatars namens Varn die Welt des „Second Life“ erkundet.

Bei seinen Gängen und Flügen durch die virtuelle Welt verfolgt Varn eine profane, zugleich verständliche Absicht: Er möchte die gut besuchte Internet-Plattform nutzen, um möglichst viele Bücher zu verkaufen, die sein Schöpfer in der ersten, nicht-virtuellen Welt geschrieben hat. Ob das funktioniert?

Cover. Volker König: VARNFoto: Latos-Verlag

Cover. Volker König: VARN
Foto: Latos-Verlag

Die Second-Life-Bewohner kann man sich größtenteils als Variationen der Barbiepuppe und ihres Freundes Ken vorstellen. Varn dagegen wurde vom Erzähler mit „Metzgerarmen und monströs fettem Bauch“ ausgestattet, „dazu einem fransig herabhängenden grau-weißen Haarkranz, einer dicken schwarzen Hornbrille vor einem einfältigen Gesicht mit großen Augen und Unterbiss“. Als Ausnahme unter den Avataren läuft, schwebt, fliegt, teleportiert er durch die Kunstwelt, soweit ihm die Mitspielenden Zutritt zu ihren aus Katalog-Versatzstücken zusammengesetzten Ressorts gewähren. Er beobachtet Avatare, wie sie Tütenmilch, Brot und Produkte aus der Kühltheke kaufen. Ihre Villen sind mit Betten, Stühlen, Küchen, ja Toiletten ausgestattet, was den Erzähler schmunzeln lässt.

In den humorvoll wiedergegebenen Details offenbart sich unaufdringlich der philosophische Tiefgang von Volker Königs Erzählung. Der alte Dualismus von Körper und Geist – was fängt ein Wesen, das aller körperlichen Bedürfnisse enthoben ist, mit dem langen Tag an? Jemand, der nicht einkaufen, kochen, essen, verdauen muss. Der weder Schlaf noch das schöne Auto benötigt, weil das Teleportieren schneller ist. Die Sinnfrage berührt den Kern des Spielens überhaupt. Manche der gelangweilten Second-Life-Bewohner sind Varn geradezu dankbar, dass er ein definiertes Ziel verfolgt – das Buch seines Schöpfers zu verkaufen.

Es bleibt nicht beim Anpreisen von Büchern. Varn findet mehr und mehr Geschmack an der Kunstwelt, als er mit der verführerischen Alida zu flirten beginnt. Alles Mögliche mag im Second Life schöner sein, das Wetter, das Eigenheim, die Fortbewegung… Aber der Sex? Der wird in seinem Suchtpotenzial nicht ganz nachvollziehbar beschrieben, als merkwürdige Bewegungen auf der Grundlage von Bällen.

Zur Anbahnung des erotischen Abenteuers ist Varn jedenfalls erleichtert, dass die Avatare dieser Parallelwelt in schriftlicher Form miteinander kommunizieren. Durch die Entschleunigung des Schreibens, meint er, ließen sich Fehler und Missverständnisse vermeiden. Bevor es allerdings zum Pixelsex kommen kann, muss der als voll bekleidetes Wesen erschaffene Varn beim Entkleiden mit Schrecken und Scham feststellen, dass er nicht mit dem zur Kopulation nützlichen Accessoire ausgestattet wurde (hatte Ken einen Penis?). Doch Alida kann ihm mit einem prächtigen Teil aushelfen.

Scheinbar spielerisch wirft Volker König die großen Fragen der Identität auf. Wie sich Menschen definieren, wenn sie die freie Wahl haben. Was die Persönlichkeit ihrer Ansicht nach ausmacht. Welche nicht nur kriminellen Möglichkeiten sich jemandem eröffnen, der sich anonym, hinter der Maske eines Avatars, durch die Welt bewegt. Welche Instanzen ein Interesse daran haben, dass jeder von uns sein Leben lang mit eindeutigen Identifikationsmerkmalen ausgestattet bleibt, mit einem Namen, den wir uns nicht aussuchen konnten, einem invariablen Geburtsdatum und einer Ausweisnummer. Und woran es liegen könnte, dass wir uns nicht auch im First Life öfter mal neu erfinden.

Mit der Frage der charakterlichen Konstituierung eng verbunden erscheint das Fragwürdige der sogenannten Realität; die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen der immer wieder auftauchenden „Welt vor meinem Fenster“ und der virtuellen Welt. Mit der Entwicklung der Handlung werden die Beziehungen zwischen Varn und Alida, Varns Schöpfer und dem Menschen, der sich Alida ausgedacht hat, zunehmend verwickelter. In der Vermischung beider Sphären könnte man sich an das Liebesgeständnis erinnert fühlen, das 2011 Barbies Toy-Boy Ken seiner Idealfrau in New York von Plakatwänden aus zugerufen hat: „Barbie, we may be plastic but our love is real.“

Volker König, der in Essen lebende gebürtige Dortmunder, legt mit „Varn“ seine vierte Buchveröffentlichung vor – bei der bereits aus früheren Werken gewohnten Vergnüglichkeit seine bislang ernsthafteste. Wir freuen uns auf „In Zukunft Chillingham“, das nächste Buch, das der Latos-Verlag noch für dieses Jahr ankündigt, und wünschen beiden im ersten wie im zweiten Leben hohe Verkaufszahlen.

Volker König: „Varn“. Latos-Verlag, Calbe/Saale, 2012 (ISBN 978-3-943308-10-5). 8,50 Euro




Schreie und heilige Stimmen beim Jazz-Festival in Moers

Was war in diesem Jahr in Moers das Wunderbare? Zunächst die Entdeckung, was mit der menschlichen (wenn auch mitunter nicht-menschlich klingenden) Stimme alles möglich ist. Zweitens, staunend festzustellen, dass sich aus der E-Gitarre noch immer nie gehörte Klänge herausholen lassen. Und drittens, die Beherrschung von Schlagwerk über die Grenzen der bekannten Virtuosität hinaus zu erleben.

Das Festival begann am Freitagabend mit einem Schrei, der auch den letzten erwartungsvoll vor sich hinträumenden Zuhörer sofort aufweckte und in die Gegenwart Mike Pattons holte. Falls das in verschiedenen Metal-Genres längst übliche Screaming von der Jazzwelt noch nicht als Kunstform anerkannt sein sollte – Mike Patton arbeitet verdienstvoll an der Etablierung des stimmtechnisch sauber ausgeführten Schreis. Mit welcher Freude, mit welchem Humor auch er sein Können vorführt, dürfte aus digitalen und analogen Tonträgern nur schwer herauszuhören sein; bei Live-Auftritten aber wie in Moers kann die Sympathie für den gutaussehenden Schreier auch auf Nicht-Metal-Fans überspringen. Im 3. Set des „John-Zorn-Tags“ sollte Patton dann mit der Formation Moonchild / Templars Gelegenheit bekommen, die ganze Vielfalt seiner stimmlichen Performance darzubieten.

John Zorn feiert in diesem Jahr seinen 60. Geburtstag

John Zorn feiert in diesem Jahr seinen 60. Geburtstag

Freitag war Zorntag

Nach dem kurzen, energisch losrockenden Opening setzte sich das „Song Project“ John Zorns mit einem Kontrastprogramm fort. Marc Ribot, der kurz zuvor noch die älteren Zuhörer an den Ten-Years-After-Gitarristen Alvin Lee erinnert haben mochte, spielte spanische Konzertgitarre, und Sofia Rei sang dazu, manchmal mit flackernden Augenlidern, Melodien, die gut in David Lynchs „Mulholland Drive“ gepasst hätten. Mit Jesse Harris betrat der dritte Sänger, zugleich Songwriter und Dichter, die Bühne. Das „Song Project“ aber baute nicht nur auf Kontraste, es zeigte auch, dass der von der Gruppe Faith No More bekannte Mike Patton und Sofia Rei wunderschön zusammen singen können. Ein sehr bestimmter John Zorn dirigierte seine Gruppe, die größtenteils aus den Musikern bestand, die auch später am Abend im Set von Dreamers und Electric Masada vertreten waren.

Der „Zorntag“ zum 60. Geburtstag des Komponisten, Bandleaders und Saxophonisten versuchte ein Fazit, wenn nicht seines Lebenswerks, so doch immerhin des vergangenen Schaffensjahrzehnts darzustellen. Dazu gehört die von Arthur Rimbaud inspirierte Komposition Neuer Musik, „Illuminations“, mit einem virtuosen Steve Gosling am Piano, einem nicht minder großartigen Kenny Wollesen an den Drums und dem Bassisten Trevor Dunn, der in fast allen Formationen an diesem Abend dabei ist.

Zu dem folgenden „Holy Visions“, einem von fünf Sängerinnen dargebotenen A-cappella-Stück, das immer wieder neu anhebt und Gregorianischen Gesang ebenso einbezieht wie stark rhythmisierte Teile bis hin zu Jazz-Anklängen und Minimal Music, hat John Zorn die lateinischen Texte in Anlehnung an das Leben der Mystikerin Hildegard von Bingen verfasst. Mystisch-esoterisch blieb es auch bei „The Alchemist“, gespielt von dem auf Neue Musik spezialisierten Arditti String Quartet. John Zorns Komposition wählt als Thema den Hofgelehrten von Königin Elisabeth I., John Dee (1527–1608).

Nur die Anzahl der Musiker verbindet das Streichquartett mit den nun folgenden Moonchild / Templars. Mike Pattons Stimme klingt jetzt vielleicht nicht satanisch, aber jedenfalls nach dem, worauf sich Film- und Musikindustrie geeinigt haben, wie eine satanische Stimme zu klingen hat. John Medeskis Korg-CX-3-Keyboard erinnert klanglich an The Nice und die frühen Deep Purple.

Mit Dreamers und Electric Masada spielte John Zorn seine Evergreens, die in den vergangenen Jahren auf mehreren großen Festivals live aufgenommen worden sind (z. B. „Jazz in Marciac“), wobei sich die Dreamers schnell in Electric Masada verwandeln, indem Kenny Wollesen vom Vibraphon ans zweite Schlagzeug wechselt, die Elektronikerin Ikue Mori hinzukommt und John Zorn beim Dirigieren Saxophon spielt. Ein einziger Zorntag ist zu wenig, um auch nur annähernd die Vielseitigkeit des Mannes kennenzulernen, der für sich die Bezeichnung „Jazzmusiker“ ablehnt. Doch die fünf Stunden von 19.00 bis 24.00 Uhr am Freitagabend waren reich an musikalischer Abwechslung.

Die reinen Männergruppen überzeugten nicht

Von „Blixt“ mit Bill Laswell am Bass, Raoul Björkenheim an der Gitarre und Morgan Agren am Schlagzeug versprachen sich viele der anwesenden Insider den ersten Höhepunkt des Samstags. Das Trio aber enttäuschte mit Männerjazz; die Musiker ein bisschen aneinander vorbeiredend, sich nicht zuhörend – drei improvisierte Monologe gleichzeitig, dafür straight und rockig. Wenigstens spielten sie weniger laut als das andere Männertrio um Caspar Brötzmann am Sonntag, vor dessen Auftritt das Orga-Team kostenlos Ohrstöpsel im Festivalzelt verteilte und die Ansagerin bat, besonders die Ohren der anwesenden Kinder durch die vor dem Zelt ausleihbaren Kopfhörer zu schützen. Große Teile des weiblichen Publikums nutzten den Auftritt von „Nohome“, um sich am einzigen sonnigen Tag des diesjährigen Pfingstfestes vor das Zelt auf den Rasen zu setzen, doch auch im letzten Winkel des abgezäunten Bereichs noch musste das Trio als lärmend empfunden werden.

Die vier Männer von „Caravaggio“ verstehen sich eher als Art Rocker denn als Hard Rocker. Ihre gestückelten Kompositionen erinnerten teilweise an die alten King Crimson, teils an instrumentalen Breakcore, und das Beth Gibbons gewidmete Stück klang mehr nach einer Fortführung von Tangerine Dream als nach Portishead.

Wieder nichts Richtiges für Frauen. Diese rückten dafür beim Auftritt des brasilianischen Superstars Lenine näher an die Bühne und wiegten sich in den Hüften. Das Zusammenspiel des aus Recife stammenden Songwriters der Música Popular Brasileira, der gern auch mit Elektronik experimentiert, mit Martin Fondse (Piano) und seinem niederländisch-deutschen Orchester „The Bridge“ darf als einer der harmonischsten Acts des Festivals bezeichnet werden. Rhythmen, denen man ohne weiteres zutraut, die Fruchtbarkeit der Tanzenden zu begünstigen.

Die wirklichen Überraschungen des diesjährigen Moers-Ereignisses aber, die Höhepunkte, die beim Publikum Schauder glücklichen Staunens hervorriefen, kamen in diesem Jahr nicht vom Piano, nicht von den Blechbläsern, Fagotten und Flöten, nicht von den Geigen, Celli und Kontrabässen; die wunderbarsten Momente lagen in den menschlichen Stimmen, in einigen Gitarren und im Schlagwerk. Darin war Moers in diesem Jahr ganz groß.

Stimmenvielfalt bis zur Entgrenzung

In der Spitzenklasse der vocal artists scheint es nicht darum zu gehen, wer am schönsten singt, sondern wer den Gesang revolutioniert. Die Entgrenzung der menschlichen Stimme verdeutlichten gleich mehrere Performer auf sehr unterschiedliche Art.

Noch auf relativ vertrautem Terrain, da ein bisschen an Björk erinnernd, trug Jenny Hval am Samstag ihre Songs vor.

Michael Schiefel, der diesjährige „Improviser in Residence“ in Moers, erzählt am Sonntagnachmittag singend und hüpfend Geschichten, die teils verständlich sind, sich aber auch in Silben und stimmliche Beats auflösen. Begleitet wird er dabei von Paolo Damiani am Cello und Miklos Lukacs am Cymbalom.

Hundertprozentig improvisiert – das sieht und hört man – ist am Samstagabend der Auftritt des stimmlich zwischen Rap, Grime, Soul, R&B changierenden Kokayi. Zu dem beständig wirbelnden Kubaner Dafnis Prieto am Schlagzeug und dem eher abwartenden Jason Lindner an den Keyboards verlagert er mit geschlossenen Augen sein nennenswertes Gewicht von einem Bein aufs andere, als müsse er sich erst ausdenken, was er als nächstes vortragen möchte. Neben dem Mikro sind Wasserflasche und Handtuch seine wichtigsten Werkzeuge.

Sidsel Endresen & Stian Westerhus

Sidsel Endresen & Stian Westerhus

Zuvor aber beeindruckten Sidsel Endresen und Stian Westerhus, ein Zwei-Personen-Trio aus Gesang, Gitarre und Traum. Etwas ungläubig nimmt der Zuhörer zur Kenntnis, dass nach Robert Fripp, nach David Torn, nach Eivind Aarset einer Gitarre noch immer neue Klänge entlockt werden können. Der Norweger Stian Westerhus schafft es, und sei es, indem er den Kopf des Gitarrenhalses einmal senkrecht auf den Verstärker stößt, um sich dann wieder seinen vielen Pedalen zuzuwenden. Ebenso unglaublich ist dazu der Gesang Sidsel Endresens, dadaistische Lautmalerei, vokalbetontes Beatboxing (wenn es so etwas gibt), tierisch anmutendes Gemecker und Gurgellaute fügen sich in den rauen Gesang ein, sodass sich zuweilen der Eindruck einstellt, ein Zungenreden, eine Glossolalie heiliger Stimmen ergieße sich über die Köpfe der Zuhörer. Selten wurde das Pfingstwunder in Moers so wörtlich genommen (wobei „wörtlich“ wiederum nicht wörtlich zu nehmen ist).

Fred FrithFoto: Frank Schemmann

Fred Frith
Foto: Frank Schemmann

Fred Frith am Sonntagabend hat seine Gitarre die meiste Zeit auf dem Schoß liegen und bearbeitet sie, als sei das Saiten- ebenfalls ein Schlaginstrument neben den vielen anderen, zwischen denen Evelyn Glennie über die Bühne wandert. Evelyn Glennie ist ein Schlaggenie. Überhaupt ragten die Schlagwerker in Moers wieder heraus, unbestrittene Meister wie Joey Baron, Kenny Wollesen und Cyro Baptista aus dem John-Zorn-Umfeld oder Dafnis Prieto mit seinem Trio. Die Frau aber schlägt anders. Nicht nur, weil Evelyn Glennie, wie die Ansage zuvor informierte, ungefähr 1.800 Schlaginstrumente besitzt. Diese Frau schlägt andere, unbekannte Rhythmen.

Evelyn GlennieFoto: Frank Schemmann

Evelyn Glennie
Foto: Frank Schemmann

Alles Weitere – und an den dreieinhalb Tagen gab es noch sehr viel mehr zu hören – war gut, teils erstklassig und auch Weltklasse, aber irgendwoher bereits bekannt. Und eine düstere Ahnung können wir Männer aus Moers mit nach Hause nehmen: Die Zukunft des Jazz scheint bei Frauen zu liegen, solchen wie Sidsel Endresen und Evelyn Glennie. Glücklich die Männer, deren Gitarren da mithalten können.




Von Goethe bis zum Groschenheft: Dem Schriftsteller Georg Klein zum 60. Geburtstag

„Eigentlich bin ich der Meinung, dass alle, die mit dem Wort arbeiten, irgendwie vom selben Fleisch sind“, antwortete der Autor während der diesjährigen Leipziger Buchmesse seinem Interviewpartner am Stand der Leipziger Volkszeitung. Georg Klein wird heute (29. März) sechzig Jahre alt. Sein Verlag, Rowohlt, hat zu diesem Anlass einen Band mit 77 seiner Texte publiziert, die zuvor größtenteils in Tageszeitungen erschienen waren.

Angesichts der in „Schund & Segen“ versammelten Textsorten lag die Frage des Ressortleiters Kultur der LVZ, Peter Korfmacher, nach dem Verhältnis von Journalismus und Schriftstellerei nahe. Georg Klein reicht dem Journalisten die Hand, indem er über den jeweiligen Redakteur, der ihn um einen Beitrag für sein Blatt bittet, laut denkt: „Das ist auch so einer wie ich; bloß ich habe mehr Freiheit. Dafür hat er ’ne feste Stelle – also, es gleicht sich auch wieder ein bisschen aus.“

Zu den einfacheren, nicht allzu viel Mut erfordernden Freiheiten Georg Kleins gehört es, in einem Zeitungsartikel auch mal „ich“ sagen zu dürfen, was angehenden Journalisten meistens schon im Praktikum oder Volontariat ausgetrieben wird. Der Journalist im Dienst sei zur Sachlichkeit und zur emotionalen Auskühlung verpflichtet; er als Schriftsteller könne auch schon mal auf die emotionale Tube drücken, so Klein.

Die 77 von ungefähr 360 über einen Zeitraum von fünfzehn Jahren entstandenen „abverlangten“ Texte, die für das Buch ausgewählt wurden, haben so unterschiedliche Gegenstände und Personen zum Thema wie Rolf Dieter Brinkmann, Raymond Chandler, Daphne du Maurier, Umberto Eco, Michael Ende, William Gaddis, Heinrich Heine, Robert A. Heinlein, Franz Kafka, Michael Jackson, Mick Jagger, Stephen King, Wolfgang Koeppen, Ursula Le Guin, Udo Lindenberg, Stanlisław Lem, Jonathan Littell, die Biene Maja, Märklin-Modelleisenbahnen, Josefine Mutzenbacher, Edgar Allan Poe, Gerhard Schröder, Gustav Schwab, Robert Louis Stevenson, Jules Verne oder das alte Kinderspiel „Der Kaiser schickt seine Lakaien hinaus!“

Manche der Artikel waren bereits auf einer älteren, weiterhin verfügbaren Website des Autors veröffentlicht; der hohe Anteil an Science-Fiction-Autoren verdankt sich unter anderem einer Serie der Neuen Zürcher Zeitung. Aber wie kam es dazu, dass Klein auf diese unterschiedlichen Themen von den Zeitungen angesprochen wurde? Weiterhin am LVZ-Stand gibt der Autor Auskunft: „Es entsteht auf der anderen Seite, also bei den Redakteuren, ein Bild davon, wofür man Spezialist sein könnte. Ich wehre mich mit Händen und Füßen dagegen; ich will überhaupt kein Spezialist sein. Aber es hat sich irgendwie herauskristallisiert, dass ich der Spezialist für das Zwielichtige oder für das nicht so ganz Koschere oder für das Schundige oder Trashige bin. Das bin ich schon auch, aber ich schreibe auch gern über Goethe, und nicht nur über Udo Lindenberg.“

Verlage, Medien und der Buchhandel benötigen Schubladen, doch Georg Klein wäre nicht er selbst, erfüllte er lediglich die in ihn gesetzten Erwartungen und hätte er nicht auch mit größeren Überraschungen aufzuwarten. Der Volkssänger Heino etwa sei, wie Georg Klein und sein Interviewer am Messestand der Leipziger Volkszeitung übereinstimmend feststellen, „vermintes Gelände“. Man könne nur entweder Heinos treue Anhängerschaft verprellen oder sich unter Intellektuellen und solchen, die sich dafür halten, lächerlich machen. Dass es etwas Drittes gibt, ohne kompromisslerisch zu werden, beweist der Artikel „Die Sehnsucht der Anderen“, der, ohne sich billig über „die Stimme der Heimat“ zu mokieren, den Geschmack der Menschen ernst nimmt, „die wir brauchen und schätzen“. Rumhacken wäre schäbig.

Der gleichermaßen an Arno Schmidt wie an Groschenheften geschulte Schriftsteller wagt den jeweils frischen Ansatz oder eine Perspektivenverschiebung; oft findet er einen unverbrauchten Zugang zu seinem Thema. Die vom Markt vorgegebenen Formate, wie Ehrungen zum sechzigsten, siebzigsten, achtzigsten Geburtstag oder auch Nachrufe, füllt er kreativ, mitunter geradezu experimentell aus, wie etwa im Vergleich des toten Stanlisław Lem mit dem Aussterben der Mammuts. Die „Pietätsstarre auflösen“ nennt Georg Klein das im Interview mit Tina Mendelsohn im 3sat-Forum am Leipziger Buchmesse-Freitag.

Als Antwort auf die Literaturkanon-Debatte verteidigt er „das wilde Lesen, das uns das richtige Buch im richtigen Moment in den Schoß wirft.“ Er glaube, dass er schlechten Büchern oder dem Fernsehen, das ja auch nicht immer den Ruf der Hochkultur habe, unglaublich viel verdanke, sagt Georg Klein in dem vom Sender 3sat aufgezeichneten Gespräch. Als Beispiel nennt er Hildegard Knefs Schicksalsroman „Das Urteil“, der ihn als sechzehnjährigen, noch weichen Leser damals mit aller Vehemenz getroffen habe. „Warum sollte ich hochnäsig verspotten, was mir viel gegeben hat?“, fragt er in einem Interview in der letzten Ausgabe der Zeitung für Literatur „Volltext“ (Nr. 1/2013).

Eine Sympathiebekundung für eine Politikerin mag den Leser von „Schund & Segen“ gleichermaßen wie die Redaktion der „Berliner Zeitung“ überrascht haben. „Wir kennen Angela Merkel nicht; aber wir zweifeln nicht an ihrem Humor“, heißt es in seinem Artikel über die „Schutzpatronin der Verdrossenen“. Humor? Angela Merkel? „Ich habe mir gedacht: ich verkläre sie. Ich verkläre sie zu dem, was sie vielleicht bestenfalls ist“, sagt Georg Klein in seinem dritten öffentlichen Interview am Buchmesse-Freitag, diesmal im ARD-Forum im Gespräch mit Jörg Schieke.

Zwei Jahre nach der Veröffentlichung seines Artikels im September 2009 hatte Georg Klein die Gelegenheit, die Kanzlerin abseits des Medienzirkus in kleinem Kreis kennenzulernen, und fand, wie er bekennt, den vermuteten Humor mehr als bestätigt: „Die Frau ist hinreißend witzig.“ Geistreich, humorvoll – „Es ist ein Glück, Zeit mit ihr zu verbringen.“

Neben ihrem Humor sind es vor allem Ausdauer und Redlichkeit, was Georg Klein an der Kanzlerin schätzt – Tugenden, die auch die seinen sind.
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Georg Klein am Buchmesse-Stand von 3sat am 15.03.2013; Foto: W. Cz.

Georg Klein am Buchmesse-Stand von 3sat am 15.03.2013; Foto: W. Cz.

Seinen Lesern gegenüber verhält er sich ebenso fair, wie er den von ihm porträtierten Personen gerecht zu werden versucht. Georg Klein fordert die Leser oft heraus; seine Sprache verlangt meistens eine langsame, genaue Lektüre. Doch mag auch die Handlung mancher seiner Romane rätselhaft sein, sie ist nicht kryptisch in dem Sinne, dass ein Leser zum Verständnis auf Spezial- oder Geheimwissen, das nur außerhalb der Buchdeckel durch aufwendige Recherchen zu entdecken wäre, angewiesen ist.

Dieses Irgendwie-vom-selben-Fleisch-Sein in der eingangs zitierten mündlichen Antwort vor der laufenden LVZ-Kamera ist etwas, was Georg Klein auch erfolgloseren Kollegen vermitteln kann. Er, der zunächst zwanzig Jahre lang unbeachtet schrieb, bevor er „entdeckt“ und spätestens durch die Verleihung des Ingeborg-Bachmann-Preises 2000 einem größeren Publikum bekannt wurde, musste zunächst auch Ablehnung erfahren. Verständnisvolle kollegiale Verbindlichkeit hat auch die von ihm geleitete Schreibwerkstatt geprägt, an der teilzunehmen ich das Glück hatte, damals im Mai 2004, als Georg Klein als Poet in Residence an der Universität Essen gastierte.

Georg Kleins Kunst erschöpft sich freilich nicht in Fairness und Verbindlichkeit, was auf Dauer bloß Langeweile produzieren würde. Allen seinen Romanen unterliegt etwas Geheimnisvolles, dem nicht so leicht auf die Spur zu kommen ist.

Das Bild bei den Zeitungsredaktionen, wofür Georg Klein ein Spezialist sein könnte, ist ja nicht zuletzt durch seine Romanveröffentlichungen entstanden. Der oft gelesene Hinweis auf das „Spielen mit unterschiedlichen Genres“ wie Agentenroman („Libidissi“, 1998), Detektivgeschichte („Barbar Rosa“, 2001), Horror- („Die Sonne scheint uns“, 2004) oder Ärzteroman („Sünde Güte Blitz“, 2007) allein erklärt nicht das Faszinosum seiner Prosa.

Einer der engsten Geistesverwandten könnte der Filmemacher und Fotograf David Lynch sein, mit dem auch der Band „Schund & Segen“ eröffnet wird. Das Unerklärliche und Phantastische durchwirkt sogar Georg Kleins autobiographischstes Werk, den preisgekrönten „Roman unserer Kindheit“.

In seinen Dankesworten zum Preis der Leipziger Buchmesse 2010 bezog der Autor nicht nur Jurorinnen, Juroren, Verleger, Schriftsteller-Gattin und die üblicherweise Genannten ein, sondern er gedachte auch mit Dankbarkeit der Verstorbenen. Einen Moment schien so etwas wie Sokrates‘ Daimonion spürbar zu sein, eine Ahnung, dass die „Erste Wirklichkeit“, wie Georg Klein sie in einem seiner Texte nennt und an die wir alle „gnadenlos zu glauben haben“, nicht die einzige sein könnte.

Aber sei es eine Art Schutzgeist wie das koboldartige Wesen, das in „Sünde Güte Blitz“ in die Geschicke der Romanfiguren eingreift; seien es die Gesetze des Traums; sei es ein undurchschaubarer Freak wie der, der sich in dem „poetologischen Versuch“ – ein gleichermaßen ironisch wie ernsthaft wirkender Untertitel – dem Erzähler in „Die Hölle der Autoren“ aufdrängt und der den Eindruck erweckt, die Erzählstoffe suchten sich ihren Autor, und nicht umgekehrt (nachzulesen auf Georg Kleins älterer Website); oder die Ahnung von etwas Vorformuliertem, in seiner Form bereits Feststehenden, wie es im Text „Esperanza“, abgedruckt in der in Münster erscheinenden Literaturzeitschrift „Am Erker“ (Nr. 50), durchscheint; sei es schließlich auch eine Substanz wie die, an deren Einnahme Georg Klein sich in dem kurzen Text „Mein asiatisches Gesicht“ erinnert, der 2005 in der von Thomas Böhm herausgegebenen Anthologie „Weltempfang“ erschienen ist – der heute zu ehrende Autor schreibt nie so, dass er von Esoterikern und Phantasten leicht vereinnahmt werden könnte.

Bis im Herbst 2013 der angekündigte Roman „Die Zukunft des Mars“ erscheint, gibt es auch an abgelegenen Eckchen unseres Literaturplaneten noch viel von Georg Klein zu entdecken.

Georg Klein: „Schund & Segen. 77 abverlangte Texte.“ Rowohlt Verlag, 432 Seiten; 22,95 Euro.




Für kurze Zeit im Leben mitspielen – Franz Hessels „Pariser Romanze“ neu veröffentlicht

Über das Verlorene lässt sich bekanntlich am besten schreiben – wenn auch nicht jeder die deutsche Sprache so einzigartig meistert wie Franz Hessel. Mit seiner „Pariser Romanze“, die der Lilienfeld Verlag in der schönen Buchausstattung seiner Lilienfeldiana-Reihe neu herausbringt, formuliert Hessel eine doppelte Liebeserklärung.

Das eine Geständnis richtet sich an eine junge Berlinerin, die zum Malen und Französischlernen für begrenzte Zeit nach Paris gekommen ist. In seiner Prosaarbeit nennt der Autor sie Lotte; aus Hessels Biographie ist leicht zu ersehen, dass seine spätere Ehefrau, Helen Grund, für die Figur Modell gestanden hat.

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Die zweite Liebeserklärung gilt Paris, und zwar dem unwiederbringlich verlorenen Paris, das der Erste Weltkrieg zerstörte. Über seinen Freund Henri-Pierre Roché hatte der junge und damals noch vermögende Franz Hessel, der 1906 in die französische Metropole kam, Zugang zu einer internationalen Bohème gefunden; er mischte sich unter Künstler und Bonvivants, die „von dem neuen Abendlande redeten, dem Zukunftslande der besten Europäer, an dem wir bauen wollten, um den ewig unverzeihlichen Fehler der Erben Karls des Großen wiedergutzumachen, wir seligen Toren.“

Es kam leider zunächst anders. Der Ausbruch des Weltkriegs treibt die bunte Clique jäh auseinander. Als Soldat auf deutscher Seite, erst im Elsaß, dann an der Ostfront, schreibt Arnold Wächter, wie Hessel sein Alter Ego in der Erzählung nennt, in mehrere Schulhefte einen einzigen langen Brief in vier Teilen an seinen Freund Claude (alias Henri-Pierre Roché). Die Fortsetzung der Freundschaft ist ungewiss; Wächter lässt die Briefe über einen gemeinsamen Schweizer Bekannten zustellen.

Die Kriegsgegenwart ist in den Briefen kurz, aber eindringlich, meist zum jeweiligen Briefbeginn, dargestellt, bevor das Erinnerungswerk seinen Lauf nimmt. Wächter klagt über den „verzweifelten Stumpfsinn des Garnisonslebens; das gräßliche System machte mich subaltern. Es war, als dürfte ich nicht mehr denken.“ Mit dem Krieg geht der Verfasser der Briefe hart ins Gericht: „Dies Sterben ist Sünde, dies Blut schreit zum Himmel. […] Mut ist ein Zwitter aus Wahnsinn und Genauigkeit geworden.“

Zwar folgte Hessel, wie so viele junge Deutsche, zum Kriegsbeginn dem Gestellungsbefehl schneller, als es für ihn als Familienvater nötig gewesen wäre, doch zeigt er sich durch den Krieg geläutert und veröffentlicht – ein Verlagswechsel ist dazu nötig – den liebevollen Rückblick auf seine Jahre in Paris bereits 1920, als Frankreich den meisten Deutschen weiterhin als der Erzfeind galt.

„Papiere eines Verschollenen“, wie der Untertitel des Buchs lautet, das ist zum Glück eine von zwei großen Fiktionen des weitgehend autobiographisch verstehbaren Buchs.

Aus anderen Romanen des Autors wissen wir, wie sehr sich Hessel in der Rolle des unbeteiligten Zuschauers gefiel, ein Flaneur eben. „Ich war so glücklich, aus der Welt des Erfolgs und der Beziehungen fort zu sein“, heißt es auch in der „Pariser Romanze“. Dann aber erzählt er Claude, wie eine junge Frau ihn „eine kurze Zeit verführt hatte, das Leben der Lebendigen mitzuspielen.“ Er begegnet Lotte auf einem der Maskenbälle zuerst in einer „Hosenrolle“; sie ist als Opernpage kostümiert. Wächters mütterlich wirkende Ex-Geliebte Hertha macht ihn mit der Tochter ihrer Schulfreundin bekannt, die sich dem Paris-Erfahrenen gern anschließt, um mehr von der Stadt kennenzulernen.

Indem er Lotte durch die ihm bereits vertraute Stadt führt, erlebt er die Schauplätze wie in einem „Traumgleiten“ – St. Séverin, St. Julien le Pauvre und natürlich die Cafés des Montparnasse, in denen Hessel verkehrte. Auch heutige Paris-Liebhaber dürften bei der Lektüre auf ihre Kosten kommen, verkehrte Lotte doch zum Beispiel gern in der noch immer recht lebendigen Rue de la Gaîté, „jener erstaunlichen Straße, in der für den Bewohner des Montparnasse im kleinen alle Reize von Paris, ins Volkstümlich-Vorstädtische verwandelt, billig angeboten werden“ – und wo sich das Bobino befindet, in dem von Josephine Baker über Juliette Gréco und Édith Piaf bis Amy Winehouse alle möglichen Größen des Chansons und Entertainments aufgetreten sind.

Beginnt nun, wie der Titel verspricht, eine Romanze? Ja. Jedoch in dem speziellen Hesselschen Sinn. Wächter erweist sich als väterlicher Freund. Ein Ratgeber, den die gefühlsverwirrte junge Frau fragen kann: „Welches Leben ist denn nun das richtige, Pamelas oder Lilys oder Frau Herthas oder das meiner Mutter?“ Wächter streichelt daraufhin ihr Haar: „Mein armes Kind, nun erlebst auch du das Schreckliche, daß die Welt ohne Gesetz ist und jeder in seiner Art recht hat in der leeren Welt.“ Und über sich selbst: Er habe keine Welt, „ich hause in Ruinen vergangener Welten.“

Sie hat das nötige Vertrauen, neben ihm einzuschlafen, und er betrachtet die Schlafende, ohne sie zu berühren.

Die Gefahr solcher Männer liegt woanders. Lottes englische Freundin Pamela warnt: „Das sind Leute von der Wissenschaft, sie merken sich alles, was man sagt, und jede Gebärde. Und nachher muß man sich lebenslänglich so benehmen, wie es in ihren ersten Notizen steht.“

Den, der sich nicht ans Leben verlieren möchte, quält schließlich doch Eifersucht, wenn Lotte ohne ihn an einem Maskenball teilnimmt. „Wenn nun irgendein Wissender, Nüchterner nach ihr griff, so ein Maler oder Mediziner? Und ich fühlte bei dem Gedanken einen körperlichen Schmerz.“

Der Zuschauer hat sich in die Liebe hineinziehen lassen. Als er Lotte vor ihrer Rückfahrt nach Deutschland zur Metro begleitet, fürchtet er sich „wie ein Kind vor dem Alleinbleiben.“ Hastig macht Arnold Wächter ihr einen Heiratsantrag. Lotte ist entsetzt. Helen war es nicht. Und das ist die zweite große Fiktion im Buch. Denn bereits anderthalb Jahre bevor der Erste Weltkrieg ausbrach, waren Franz Hessel und Helen Grund verheiratet. Verloren hat er Helen erst später – an seinen Freund Henri-Pierre Roché. Aber das ist die Geschichte von „Jules und Jim“, das Buch von Roché und der Film von Truffaut.

Die biographischen Fakten zur „Pariser Romanze“ und mehr Wissenswertes ergänzt das Nachwort des ausgewiesenen Franz-(und-Stéphane-)Hessel-Experten Manfred Flügge.

Franz Hessel: „Pariser Romanze. Papiere eines Verschollenen. Mit einem Nachwort von Manfred Flügge. Einbandgestaltung unter Verwendung eines Gemäldes von Simone Lucas. Lilienfeldiana Band 15. 144 Seiten. ISBN 978-3-940357-28-1. € 18,90




Formgerechtes Beamtenleben: Joris-Karl Huysmans‘ Erzählung „Monsieur Bougran in Pension“ endlich auf Deutsch

Wie lässt sich Dekadenz mit Fortschritt vereinbaren? Den Autoren rund um die von Anatole Baju herausgegebene Zeitschrift „Le Décadent“ (1886–1889) gelang es erstaunlich gut, mit Verfall und Auflösung zu liebäugeln und sich zugleich als Speerspitze einer der Avantgarden zu verstehen, die unter den Begriffen Ästhetizismus, Symbolismus, Fin de siècle oder eben Dekadenzdichtung auftraten. Gerade in Zeiten der Krise gewinnen solche Haltungen an Charme.

Ein Shooting Star der Bewegung war Joris-Karl Huysmans, der 1884 mit seinem Roman „À rebours“ (deutsch: „Gegen den Strich“) gleichsam ein Handbrevier der Dekadenz veröffentlichte. Kapitel für Kapitel werden darin Themen behandelt, die den kultivierten Décadent beschäftigen: Kunstbetrachtung (besonders die Gemälde Gustave Moreaus); eine literarische Ahnentafel, die vom spätrömischen Satiriker Titus Petronius über mittelalterliche Mystik, Schopenhauer, Poe, Baudelaire, Flaubert, Edmond de Goncourt bis zu den Zeitgenossen Mallarmé und Verlaine reicht; Orchideen; Parfüms; Liköre; Edelsteine; durch sexuelle Impotenz bedingte erotische Sonderwünsche an käufliche Frauen.

Ein Vorbild für den ebenso kunstliebenden wie misanthropischen Protagonisten, Jean Floressas Des Esseintes, war der auf Porträts etwas blasiert wirkende Robert de Montesquiou, der uns auch – in anderer literarischer Transformation – in Prousts „Recherche“ als Baron de Charlus begegnet. Doch geht es in „À rebours“ keineswegs allein um hedonistischen Luxusgenuss; das subversive Potential des Buchs ist beträchtlich. Freilich macht sich der Aristokrat nicht selbst die Finger schmutzig. Planvoll treibt er zum Beispiel einen geldlosen jungen Mann durch die Gewöhnung an eine Luxusprostituierte in die Beschaffungskriminalität – und versteht eine solche Verführung als individualanarchistischen Ansatz zur Schädigung der verhassten Gesellschaft. Doch seine distanzierte Haltung bewahrt den Adligen vor Fanatismus. Eine schillernde Figur, dieser Des Esseintes.

Monsieur Bougran Cover

Wohl in der Erwartung, es bei Huysmans mit einem ähnlichen Exzentriker zu tun zu haben wie bei dem Protagonisten seines Roman, bat der englische Kunstkritiker Harry Quilter den Autor um einen Beitrag für die von ihm gegründete und zum Teil von namhaften Künstlern illustrierte Zeitschrift „The Universal Review“. Er wurde enttäuscht. Huysmans entwickelte keinen zweiten Des Esseintes, lieferte auch keine französische Galanterie, sondern wählte für seine Erzählung eine Figur aus dem Umfeld seines eigenen bürgerlichen Brotberufs als Beamter im französischen Innenministerium.

Über diesen Monsieur Bougran, der als einfacher Schreiber in der Beamtenhierarchie mehrere Gehaltsgruppen unterhalb der von Huysmans angesiedelt ist, bekommt der Leser Einblicke in den Arbeitsalltag des Ministeriums, in die Flurgespräche der Kollegen über zu erwartende oder nicht zu erwartende Beförderungen, den mutmaßlichen Rentenanspruch und illusorische Gratifikationen. Auch Auflösung und Verfall spielen eine Rolle. Allerdings möchte sich Bougran nicht wie der Adlige Des Esseintes aus „À rebours“ lustvoll leidend dem unausweichlichen Niedergang überlassen. Als Bougran seine Schreiber-Laufbahn begann, wurde noch die Kunst eines variationsreichen, nuancierten Kanzleistils gepflegt, „die Varianten der Grußformeln an Briefenden gingen ins Unendliche, wurden sorgfältig dosiert, schöpften eine Skala aus, die den Büropianisten außergewöhnliche Fingerfertigkeit abverlangte.“

Aber heutzutage? „Welcher Angestellte wusste heute noch die heikle Klaviatur der Briefschlüsse zu gebrauchen oder sich jemandem auf eine oft schwer zu bestimmende Weise zu empfehlen […]? Ach, die Expedienten hatten keinen Sinn mehr für Formulierungen, beherrschten das Spiel des geschickten Tropfenzählens nicht mehr – wozu denn auch im Grunde, da alles seit Jahren dahinschwand und verfiel! Die Zeit der demokratischen Greuel war angebrochen […]“.

Von einem Tag auf den anderen wird der fünfzigjährige Monsieur Bougran wegen „moralischer Invalidität“ in den Ruhestand versetzt. „‘Das ist ein erniedrigendes System. Für verkalkt erklärt zu werden ist schon ein starkes Stück!‘ stöhnte Monsieur Bougran.“

Als Pensionär leidet er zunächst schrecklich unter Langeweile, bis ihm die Idee kommt, zu Hause seine alte Amtsstube detailgetreu nachzubauen und den gewohnten Tagesablauf fortzuführen. Das trotzige Aufbegehren gegen seine vorzeitige Pensionierung hat etwas ebenso Rührendes wie Absurdes. Letztlich verhält er sich in seiner Hinwendung zu Form und Ritual nicht weniger spleenig als Des Esseintes in seinem noblen Refugium. Hier wie dort der Rückzug vor der gemeinen Welt in ein formgerechtes Privatleben.

Bougrans Beamtenschicksal aber wollte der Herausgeber der „Universal Review“, für die der Text geschrieben war, nicht veröffentlichen und sandte dem Autor das Manuskript mit einem hochnäsig klingenden Begleitschreiben zurück. Mit anderen Werken beschäftigt, versäumte Huysmans es, „La Retraite des Monsieur Bougran“ weiteren Zeitschriften anzubieten. Erst siebenundfünfzig Jahre nach Huysmans Tod wurde die Erzählung in Frankreich publiziert. Nach einer italienischen Übersetzung aus den 80er-Jahren liegt uns das sprachliche Kunstwerk dank der subtilen Übertragung durch Gernot Krämer und des erlesenen Programms der Verlegerin Katharina Wagenbach-Wolff endlich auch in einer deutschen Fassung als schöner, fadengehefteter Druck der Friedenauer Presse vor. Das erhellende Nachwort von Daniel Grojnowski wurde aus der französischen Ausgabe von 2007 (Editions Flammarion) übernommen.

Huysmans, Joris-Karl: „Monsieur Bougran in Pension.“ Erzählung, Friedenauer Presse. Aus dem Französischen übersetzt von Gernot Krämer. Mit einem Nachwort von Daniel Grojnowski. Fadengeheftete Broschur. Umschlag-Entwurf: Horst Hussel. 32 Seiten, 9.50 €

Der Comte de Montesquiou auf dem Cover der dtv-klassik-Ausgabe von "Gegen den Strich" - Gemälde von G. Baldini

Der Comte de Montesquiou auf dem Cover der dtv-klassik-Ausgabe von „Gegen den Strich“ – Gemälde von G. Baldini




Andrea Eckers Roman-Debüt „Lichtwechsel“

Das Ruhrgebiet hat eine ernstzunehmende Autorin mehr. Andrea Ecker beweist mit ihrem Roman-Debüt „Lichtwechsel“ eine bestechende Fabulierkunst.

Die in Bochum geborene, in Essen lebende Autorin versetzt sich in die Lage einer Bankangestellten, die von drei Räubern als Geisel mit auf die Flucht genommen wird. Wer ans „Gladbecker Geiseldrama“ denkt, wird bei der Lektüre angenehm überrascht, wie weit Andrea Eckers Erfindungsgabe reicht, wie einfühlsam sie sich in die Situation der Geisel und der Täter versetzt und wie detailgesättigt die Autorin das Vier-Personen-Prosastück ausmalt. Schnell nimmt die voltenreiche Flucht vom Ruhrgebiet nach Le Havre Fahrt auf.

Nina erweist sich in dem Roadmovie als eine kooperative Geisel. Hatte sie zuvor als Familienmutter und Angestellte die in sie gesetzten Erwartungen erfüllt, nimmt sie auch die zeitweise schmerzvolle Geiselhaft klaglos an. „Ich galt als übermenschlich unwehleidig“ – schon als Kind. Im Hinblick auf ihr bisheriges Leben mit Ehemann Max und den Töchtern Melina und Letty (Letizia) bedeutet die neue Kollaboration allerdings ein bislang nicht für möglich gehaltenes Aufbegehren. Das plötzliche und mit Wucht über sie hereinbrechende Verliebtsein in einen ihrer Entführer erleichtert den nur scheinbaren Charakterwechsel.

Foto: Latos-Verlag

„Als Lehrlinge dürfen wir nicht altern, müssen immer sechzehn sein“, notierte Ernst Jünger im November 1939 in sein Tagebuch. Vielleicht könnte man analog sagen: Als Sich-Verliebende(r) muss man immer dreizehn bleiben (Jungen fünfzehn). Die Schwärmerei für „Billy“ müsste außenstehenden Betrachtern – aber es gibt dafür keine Zeugen, außer dem besonnenen Billy selbst – wie ein Rückfall der 42-Jährigen in ihre Teenie-Zeiten erscheinen. Gegenüber ihrem Entführer fühlt sie sich an eine Situation vor achtundzwanzig Jahren erinnert, als sie sich während einer Jugendfreizeit in Edinburgh bei einem Marc-Almond-Konzert mangels einer Eintrittskarte mit einer Freundin zum Hintereingang des Klubs schlich und dort unvermittelt der „puren Gegenwart“ des Pop-Idols teilhaftig wurde. Sogar Zigaretten wünscht sich die Nichtraucherin in dem urplötzlich emporschießenden Bedürfnis, ein anderer Mensch zu werden.

Im Lauf des von der ersten bis zur letzten Zeile spannenden Romans gewinnt der Leser mit der Protagonistin die Überzeugung, dass ihr die gewaltsame Entführung geradezu zu ihrer Selbstverwirklichung gefehlt hat. Über die geordneten Verhältnisse, aus denen sie jäh gerissen wird, denkt sie: „Ich stehe nicht mehr auf ihrer Seite. Ich bin auf der Rückseite ihrer Welt, auf der Rückseite all dessen, was sie sehen und verstehen können. Sie würden mir nicht glauben, wenn ich ihnen sagte, dass es hier nicht kalt und dunkel ist.“

Foto: Andrea Ecker

In der Sprache des Romans ahmt die Autorin den mitunter pathetischen Tonfall nach, der einer zur Gangster-Komplizin mutierenden Bank-Angestellten zuzutrauen wäre, und ruft dabei bekannte Bildvorlagen zwischen Trash und Traumfabrik hervor. „Die Waffe sah genauso aus wie die Waffen im Film. Wie all die Waffen in all den Filmen, die ich gesehen hatte. Kinder hatten solche Waffen benutzt, Hausfrauen, Geliebte. Opfer. Sie hatten die Pistole mit beiden Händen festgehalten, entsichert und gezielt. Sie hatten die Augen zusammengekniffen und abgedrückt. Sie hatten getroffen.“

Ihre Entführer, die ihre Namen verständlicherweise nicht preisgeben, benennt Nina für sich nach Filmschauspielern: „Billy“ nach Billy Crudup, „Paul“ nach Paul Bettany, und den um seinen Anteil betrogenen, wütenden „Vince“, der immer, wenn die Kollegen ihn abgehängt zu haben glauben, wie ein Springteufel an den unmöglichsten, dann aber doch plausibel erklärten Orten auftaucht, nach Vince Vaughn. So können wir aus unserer Erinnerung oder aus dem ausgelagerten Fundus, dem Internet, Bilder der Romanfiguren abrufen.

Noch wenige Seiten vor dem Ende des Romans sind die verschiedensten Alternativen vorstellbar. Das dürfte auch für die sicherlich noch zu erwartenden nächsten Romane der talentierten Andrea Ecker gelten.

Andrea Ecker: „Lichtwechel“. Roman. Latos-Verlag, Calbe/Saale. 194 Seiten, Broschur (ISBN: 978-3-943308-04-4), € 12,90

 




Michel Houellebecq: „Karte und Gebiet“ – Schauplatzbesichtigungen

Wird sich Michel Houellebecq auf seine alten Tage zu einem Autor von Frankreich-Reiseführern entwickeln? Unwahrscheinlich. Dennoch laden die detaillierten Ortsangaben in seinem zuletzt erschienenen Roman Karte und Gebiet zu Schauplatzbesichtigungen ein. Und mit dem Fotografen, Maler und zuletzt auch Videokünstler Jed Martin hat Houellebecq einen Protagonisten gewählt, der französische Städte, Dörfer und Landschaften mit distanzierter Neugier beobachtet – „dieses Land, das unbestreitbar das seine war.“

Jed Martin wohnt in einem Dachgeschoss-Atelier im 13. Arrondissement. Durch die Fenster sieht er hinter der Place des Alpes die „in den Siebzigern erbauten viereckigen Festungen, die in totalem Gegensatz zur Ästhetik der restlichen Pariser Landschaft standen und die Jed vom architektonischen Standpunkt aus allen anderen Gebäuden in Paris vorzog.“

Obwohl sozusagen intra muros gelegen, also innerhalb des Boulevard Périphérique und nicht in der berüchtigten Banlieue, würde ein durchschnittlicher Paris-Tourist diese mit „Sehenswürdigkeiten“ eher dünn bestückte Gegend nicht bei seinem ersten Besuch der Stadt ablaufen, und wenn es keinen besonderen Anlass gibt, auch noch nicht beim zwanzigsten. Jeds bevorzugtes Bistro, in dem er sich mehrfach mit seinem Galeristen Franz verabredet, liegt in der Rue du Château des Rentiers. Ein wohlklingender Name. Aber die Straße in unmittelbarer Nachbarschaft vieler Betonbauten ist nicht für ihre Restaurants berühmt. Ein Stadtbewohner mit konventionelleren ästhetischen Erwartungen an französische Gastronomie würde, von Jeds Atelierwohnung gleichweit entfernt, zum Beispiel die Butte-aux-cailles nahe der Avenue Tolbiac mit ihrer Kneipenvielfalt entdecken. Es ist, als lenke der Autor den Blick absichtlich auf die unspektakulären, „langweiligeren“ Straßenzüge neben den charmanteren. Als wolle er zu einer hellwachen Reise durch vermeintliche Belanglosigkeiten einladen.

Obwohl durch seine Kunst zu unverhofftem Reichtum gelangt, orientiert sich der Maler nicht am Guide Michelin, sondern holt sich seine Pringles-Chips (der Autor kennt keine Zurückhaltung bei Produktnamen) an der Shell-Tankstelle und schließt sich damit zu Hause ein.

Viereckige Festungen, die Jed vom architektonischen Standpunkt aus allen anderen Gebäuden in Paris vorzog

 

Eine Selbstpersiflage des Autors

Als nicht unwichtig für Jed Martins – nur mit der Irrationalität des Kunstmarkts erklärbaren – exorbitanten Geschäftserfolg erweist es sich, dass er auf Anregung seines Galeristen eine Romanfigur namens Michel Houellebecq, die unübersehbare Ähnlichkeiten mit dem Autor Michel Houellebecq aufweist, dafür gewinnt, ein Vorwort zum Ausstellungskatalog seiner „Serie einfacher Berufe“ zu verfassen. Diese Spiegelung als Figur in seinem Roman gibt dem Autor die Möglichkeit zur Selbstpersiflage als menschenscheuen Alkoholiker. Wintertage, an denen es um vier Uhr dunkel wird, sind dem zur Depressivität Neigenden weit erträglicher als die endlosen Sommertage. Die EDV-Experten der Polizei, die später Houellebecqs Festplatte untersuchen werden, stellen fest: „Selten jemanden gesehen, der ein so beschissenes Leben führte.“

Jeds Vater, als Architekt im Ruhestand, hat aus der Bibliothek seines Altenheims zwei Romane von Michel Houellebecq gelesen und zeigt sich informiert, als Jed ihm von dem beabsichtigten Vorwort berichtet: „Das ist ein guter Autor, wie mir scheint. Liest sich sehr angenehm, und er zeichnet ein ziemlich zutreffendes Bild unserer Gesellschaft.“ So liefert Houellebecq eine – gar nicht einmal beschönigende – Rezension seines Buchs gleich mit.

Den Kontakt zu dem cleveren Skandalautor vermittelt dem Maler Houellebecqs Schriftsteller-Freund Frédéric Beigbeder, der – ebenso wie die Flammarion-Verlegerin Teresa Cremisi – im Roman mehrere Cameo-Auftritte hat; zuerst während einer Literaturpreisverleihung, als Beigbeder lebhaftes Interesse an der Frage zeigt, welcher Mann die attraktive Olga für sich gewonnen hat. Beigbeders Ort ist das Café de Flore am Boulevard Saint-Germain, für das der wirkliche Frédéric Beigbeder den Literaturpreis Prix de Flore begründet hat, zu dessen Preisträgern Houellebecq gehörte.

Über die gutaussehende und erfolgreiche Russin Olga Sheremoyova – PR-Frau bei Michelin France, die zunächst berufsbedingt auf den jungen Künstler aufmerksam wird – bringt der Autor seine Leser mit einem anderen Paris, dem Paris der Partys und gesellschaftlichen Empfänge, der Sterne-Restaurants und „Romantikhotels“ in Kontakt. Olga bewohnt eine komfortable Zweizimmerwohnung mit Fenstern zum Jardin de Luxembourg.

Im Verlauf der Handlung kommt es zu drei persönlichen Begegnungen zwischen Jed Martin und Michel Houellebecq. Das erste Mal in Houellebecqs Haus in Irland, als Jed dem Schriftsteller Fotos seiner Gemälde zeigt. Das zweite Mal, ebenfalls in Irland, nachdem Jed sein Doppelporträt „Jeff Koons und Damien Hirst teilen den Kunstmarkt unter sich auf“ verworfen hat und stattdessen die Serie mit einem Bild „Michel Houellebecq, Schriftsteller“ abschließen möchte. Das Gemälde, das nach der Ausstellungseröffnung einen Marktwert von ca. 750.000 Euro erreicht, überbringt er dem Schriftsteller als Geschenk, der seinen Wohnort nach Souppes, ca. fünfundachtzig Kilometer südlich von Paris, verlegt hat. Von Freundschaft zu sprechen wäre bei den beiden egozentrischen Künstlernaturen verfehlt. Jed respektiert das Recht des zwanzig Jahre Älteren, in Frieden gelassen zu werden, doch seine Phantasie malt sich aus, wie sie beide, die eine Vorliebe für große Verbrauchermärkte teilen, durch das Warenangebot schlendern. „Wie schön wäre es doch gewesen, gemeinsam diesen frisch renovierten Casino-Supermarkt zu besuchen, sich gegenseitig mit dem Ellbogen anzustoßen, um den anderen auf das Auftauchen neuer Produktsegmente oder eine besonders ausführliche, klare Nährwertkennzeichnung auf einem Etikett hinzuweisen!“ Auch sonst sind sich die beiden Sonderlinge ziemlich ähnlich. Bei ihrer letzten Begegnungen sprechen sie über die Sozialutopisten des frühen und späteren 19. Jahrhunderts, Charles Fourier, Étienne Cabet, vor allem aber über William Morris, der ein wesentlicher Bezugspunkt für Jeds Vater gewesen war.

Heimlicher Protagonist

Jeds Vater, Jean-Pierre Martin, der im Umfeld der Bewegung Figuration Libre gegen die tonangebende Schule Mies van der Rohes und Le Corbusiers polemisierte und unter unorthodoxen Intellektuellen wie Gilles Deleuze Beachtung fand, ist vielleicht der heimliche Protagonist des Romans. Um seine Familie zu ernähren – in seiner erfolgreichsten Zeit beschäftigt sein Büro bis zu fünfzig Mitarbeiter – baut er jedoch gegen seine ästhetische Überzeugung vor allem „idiotische Strandhotels für blöde Touristen“. Für seine Familie und sich (Jeds Mutter begeht Selbstmord) hat er im damals noblen Vorort Le Raincy eine Villa gekauft, an der er trotz aller sozialen Veränderungen festhält. Zur Zeit des Romanbeginns ist Le Raincy bereits zu einer No-go-Area mutiert, für die kein Taxichauffeur einen Fahrauftrag annimmt. Nach dem Tod des an Darmkrebs leidenden Vaters, der sich in die Hände einer Züricher Sterbehilfeklinik begeben hat – ein „mustergültig banaler Betonklotz“ im Stil Le Corbusiers – entdeckt Jed dreißig Mappen mit minutiösen, teilweise utopisch anmutenden Architekturzeichnungen, die sein Vater angefertigt hat – „ohne jede Rücksicht auf Durchführbarkeit und Budget“.

„Die Karte ist interessanter als das Gebiet“ hieß Jeds erste, vom Reifen- und Kartenhersteller Michelin gesponserte Einzelausstellung – ein Gedanke, der in dem vielschichtigen Roman variiert wird und auch das phantastische Werk von Jeds Vater kommentiert. Grob vereinfacht und von dem kunstfertigen Autor so direkt nicht ausgesprochen, könnte eine Deutung des Ausstellungsmottos auch lauten: Die Literatur ist interessanter als die Wirklichkeit.

Die literarische Figur Michel Houellebecq – das sei verraten – ist im dritten Teil des Roman auf eine Weise geschlachtet worden, die selbst die sadistischsten Phantasien eines jeden Houellebecq-Hassers übertreffen würde. Die Köpfe des Schriftstellers und seines Hundes, jeweils sauber abgetrennt, liegen auf Sofa und Sessel einander gegenüber. Das Fleisch ist mit einem chirurgischen Präzisionsinstrument von den Knochen geschält worden, die abgeschabten Knochen im Kamin aufgehäuft. Während der Hauptkommissar der „schwer zu entziffernden Logik“ des methodisch ausgeführten Gemetzels nachgrübelt, erinnert das Arrangement aus Fleischbrocken, Hautfetzen und Blutflecken auf dem Wohnzimmerboden den zum Verbrechensschauplatz geführten Künstler Jed Martin spontan an Jackson Pollocks Action Painting, jedoch ohne dessen Leidenschaftlichkeit. Das gesamte grausame Ritual, wie nach Jeds wertvollem Hinweis gefolgert wird, hat der Mörder offenbar allein auf sich genommen, um von einem Kunstraub abzulenken. Das Houellebecq-Porträt, dessen Wert Jed der Polizei gegenüber zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf neunhunderttausend Euro schätzt, ist aus dem Haus gestohlen worden. Als es schließlich nach dreijähriger Suche wieder auftaucht und wegen einer testamentarischen Verfügung Houellebecqs in Jed Martins Besitz zurück gelangt, kann sein Galerist es an einen indischen Mobiltelefonanbieter für zwölf Millionen Euro verkaufen.

Die Figuren und ihre bevorzugten Orte

Mit dem Schauplatz des Mords, dem zwischen Nemours und Montargis gelegenen Provinzstädtchen Souppes, wird ein Ort beschrieben, dessen „strukturbedingte Leere“ Jed an den Zustand nach der intergalaktischen Explosion einer Neutronenbombe erinnert. Außerirdische Wesen könnten sich „an dessen gemäßigter Schönheit erfreuen“ und „rasch die Notwendigkeit der Instandhaltung begreifen.“ Mag sein. Sollte es sich bei den Aliens jedoch um Wesen mit der ästhetischen Intelligenz vieler Terraner handeln, fände ihre konservatorische Fürsorge zwischen Paris und der Creuse erhaltenswertere Ortschaften als das mit „gemäßigter Schönheit“ freundlich bewertete Souppes sur Loing.

„Strukturbedingte Leere“. In Souppes sur Loing wird die Romanfigur Michel Houellebecq auf grausamste Weise ermordet.

 

Die detaillierten, teils gut beobachteten, teils in die nahe Zukunft phantasierten Ortsdarstellungen wären für einen Literaturkritiker oder -wissenschaftler vernachlässigbar, dienten sie dem Autor nicht als ein Mittel, seine Romanfiguren auf eine vergleichbare Art zu porträtieren wie auch Jed Martin in seiner „Serie einfacher Berufe“ den Bildhintergrund jeweils sehr sorgsam arrangiert. Hier wie dort ist die Umgebung Bestandteil des jeweiligen Porträts.

Polizei-Hauptkommissar Jasselin, der den Mord an Houellebecq aufzuklären hat und aus dessen Perspektive mit dem Beginn des dritten Teils erzählt wird, ist ein anderer Typ als der Maler und der Schriftsteller. Er wohnt nicht weit von Jed entfernt, etwas näher an der Seine, im 5. Arrondissement, scheint aber in einer völlig anderen Welt zu verkehren. Sonntagsmorgens begleitet er seine Frau gern beim Einkauf über die Marktstraße Rue Mouffetard mit dem Platz vor der Saint-Médard-Kirche, eine Ecke, die ihn jedes Mal bezaubert. Manchmal schlendert er auf dem Weg zur Pariser Kriminaldirektion am Quai des Orfèvres den Fluss entlang und teilt vom Pont de l’Archevêché mit Paristouristen einen Blick auf Notre-Dame. Er wählt kein Restaurant zwischen zweckdienlichen Betonkästen, sondern eines an der Place Dauphine, einem Platz an der Spitze der Île de la Cité, auf dem Boule gespielt wird. Und doch gibt es, etwa in ihren handwerklichen Methoden, auch Gemeinsamkeiten zwischen dem Schriftsteller und dem Polizisten.

Hauptkommissar Jasselin liebt es, am Sonntagmorgen seine Frau beim Einkaufen in der Rue Mouffetard zu begleiten.

 

Die Entdeckung der Provinz

Karte und Gebiet breitet verschiedene Facetten von Paris und seiner Vororte aus. Die Besonderheit des alternden (pardon, er stellt sich selbst so dar) Houellebecq aber ist die Entdeckung der Provinz.

Die Romanhandlung – und auch Jed Martins Leben – endet in einem Gebiet, das als Karte schon früh Jeds künstlerische Laufbahn bestimmt hat. Als er damals mit seinem Vater zur Beerdigung der Großmutter ins Limousin fuhr, machte er an einer Raststätte auf der A 20 „eine große ästhetische Erfahrung“, die ihn beim Auseinanderfalten der Michelin-Département-Karte 325 zittern ließ. „Die grafische Darstellung war komplex und schön, von absoluter Klarheit, und verwendete nur eine begrenzte Palette von Farben. Aber in jedem Örtchen, jedem Dorf, das seiner Größe entsprechend dargestellt war, spürte man das Herzklopfen, den Ruf Dutzender Menschenleben, Dutzender, Hunderter Seelen.“

Einen von ihm fotografierten und mit technischen Mitteln veränderten Ausschnitt dieser Karte der Départements Creuse und Haute-Vienne präsentiert er als einziges vergrößertes Foto in einer von der Ricard-Stiftung gesponserten Sammelausstellung und beeindruckt damit unter anderem die schöne Olga, mit der ihn zeitweise eine Liebschaft verbindet und die als PR-Frau bei Michelin seine weitere künstlerische Karriere begleitet. Genauer gesagt, sie liebt ihn, während er nur für seine Kunst lebt.

Das Haus seiner Großmutter und die vom reich gewordenen Jed Martin aufgekauften angrenzenden Grundstücke dienen ihm in den letzten dreißig Jahren seines Lebens als Rückzugsort und als Material seiner späten künstlerischen Großprojekte.

Auch dieses Gebiet grenzt der Autor scheinbar überaus präzise ein: Das vordere Tor des 700 Hektar großen Geländes liegt an der D50; nur drei Kilometer sind es bis zur Auffahrt auf die A20 nach Limoges; in seinem rückwärtigen Teil geht das Grundstück in den Wald von Grandmont über. Das ist sowohl auf der Karte als auch im Gelände nachvollziehbar. Zugleich lokalisiert Houellebecq das Dorf Châtelus-le-Marcheix unmittelbar hinter der Rückfront des umzäunten Gebiets. Wo es aber in Wirklichkeit nicht liegt, sondern Luftlinie mindestens fünfzehn, über die kurvenreichen Straßen aber rund dreißig Kilometer weiter östlich. Eine Ungenauigkeit des sonst in allem so präzisen Autors? Oder aber Houellebecq möchte uns zeigen, dass die imaginären, künstlerisch geformten Landkarten der Literatur etwas noch anderes sind als die maßstabgetreue Umsetzung von Karte und Gebiet.

Denn auch Jed fotografierte nicht einfach nur die Michelin-Karten ab. „Er hatte eine stark geneigte optische Achse gewählt, einen Winkel von dreißig Grad zur Horizontalen, und die Filmstandarte für größtmögliche Tiefenschärfe maximal gekippt. Anschließend hatte er mit Hilfe von Photoshop-Filtern eine Entfernungsunschärfe und einen bläulichen Effekt am Horizont erzielt.“

Obwohl Houellebecq die Instrumente des Künstlers mit einem ähnlichen „enzyklopädischen Ehrgeiz“ beschreibt, mit dem Jed zu Beginn seiner Laufbahn „Gegenständen menschlicher Fertigung im industriellen Zeitalter“ fotografierte, klingen die Resultate der Kunst nie rein technisch und manchmal geradezu poetisch. Auf dem Foto führen gewundene Straßen „durch die Wälder, die wie eine unantastbare, feenhafte Traumlandschaft wirkten.“

Gehen wir davon aus, dass auch der Autor bei allem augenscheinlichen Realismus einen Unschärfefilter über gewisse Entfernungsangaben legt, ebenso wie er umgekehrt manche Details oder entfernt Gelegenes besonders scharf einstellt. Die „Creuse“ des Romans ist gewissermaßen die Anwendung der Scheimpflugschen Regel auf die Literatur. Auch in der zeitlichen Ausdehnung.

Der Maler Jed Martin kauft zwischen der D50 und Grandmont ein 700 ha großes Waldgebiet.

 

Selbst gewählte Isolation eines Sonderlings

Das verschlafene Châtelus-le-Marcheix wird im Roman zu einem Stückchen Science Fiction. Als Jed nach einem Jahrzehnt selbst gewählter Isolation das Dorf am Hinterausgang seines Grundstücks wieder betritt, findet er ein völlig verwandeltes Ambiente vor. Gleich drei Internet-Cafés auf hundert Metern, auf denen zuvor technologische und gastronomische Ödnis waltete. Die der Belle Époque nachempfundenen Bistro-Tischchen haben schmiedeeiserne Füße, und neben ihnen stehen Jugendstillampen, ihre Edelholzplatten sind aber allesamt mit Dockingstationen für Laptops, 21-Zoll-Bildschirmen und Steckdosen nach europäischer und amerikanischer Norm ausgerüstet. Die in Traditionen verwurzelte Landbevölkerung hat einer unternehmerischen, urbanen und weltoffenen Generation mit „bisweilen auch gemäßigten ökologischen Überzeugungen, die sich mitunter vermarkten ließen,“ Platz gemacht.

Châtelus-le-Marcheix – auf hundert Metern drei Internet-Cafés

Zu den letzten im Roman erzählten Ereignissen gehört der Tod von Frédéric Beigbeder, den Houellebecq im Alter von einundsiebzig sterben lässt. So kann man errechnen, dass sich die Handlung inzwischen im Jahr 2036 bewegt. Was Jed dreißig Jahre lang gemacht hat, erzählt er kurz vor seinem Tod einer eher unerfahrenen Journalistin der Art Press (zum Ärger des Kollegen von Le Monde). Er hat mit Video-Aufnahmen Verfallsprozesse dokumentiert. Jedoch nicht in automatisierter Zeitraffer-Einstellung. Vielmehr montiert er sorgsam ausgesuchte Einzelaufnahmen und überlagert sie in Mehrfachbelichtung mit anderen. Sein riesiges Grundstück lässt er verwildern, fährt jedoch fast täglich die einzige Straße entlang und – in der Absicht, „die pflanzliche Sichtweise der Welt wiederzugeben“ – nimmt er auf, wie die Vegetation jedes Menschenwerk überdeckt. Fotos der wenigen Personen, die zeitweise sein Leben begleitet haben, setzt er auf einer metallgerahmten Leinwand dem Sonnenlicht und der Witterung aus und filmt ihre Zersetzung. In Landschaften aus Tastaturen, Hauptplatinen und anderen elektronischen Bauteilen kopiert er kleine Spielzeugfiguren und hilft dem Verfall des Plastiks nach, indem er es mit verdünnter Schwefelsäure übergießt. Das Nachsinnen über das Ende des industriellen Zeitalters in Europa, heißt es gegen Ende des Romans, könne jedoch nicht das Unbehagen oder das Gefühl der Verzweiflung erklären, „das uns beim Betrachten dieser kleinen, ergreifenden Playmobilfiguren befällt, die sich inmitten einer riesigen futuristischen Stadt verlieren, einer Stadt, die ihrerseits zerfällt, sich auflöst und nach und nach in der pflanzlichen, sich bis ins Endlose hinziehenden Weite unterzugehen scheint.“

Das Ruhrgebiet als Quelle der Inspiration

Vor dem Beginn des rund dreißigjährigen Rückzugs und gewissermaßen als Quelle der Inspiration stand eine Reise ins Ruhrgebiet. „Von Duisburg bis Dortmund und von Bochum bis Gelsenkirchen waren die meisten ehemaligen Stahlwerke in Freizeitzentren verwandelt worden, in denen Ausstellungen, Theatervorführungen und Konzerte veranstaltet wurden.“ Unter anderem auch eine große Jed-Martin-Retrospektive. Aber nicht bei allen Anlagen ist es gelungen, sie in das Konzept eines industriellen Tourismus einzubeziehen. „Diese industriellen Kolosse, in denen sich früher der Großteil der deutschen Produktionskapazität konzentriert hatte, waren inzwischen verrostet oder halb eingestürzt, Pflanzen nahmen von den ehemaligen Werkstätten Besitz, überwucherten die Ruinen und verwandelten das Ganze nach und nach in einen undurchdringlichen Dschungel.“

Houellebecqs Prognosen über Frankreichs Zukunft

Als Jed nach jahrzehntelangem Rückzug in die Welt zurückkehrt, stellt er sich als Künstler die Frage, welches Bild aus seiner „Serie einfacher Berufe“ noch Gültigkeit haben mag. Der Beruf der Fernwartungstechnikerin existiert in Frankreich nicht mehr, diese Stellen wurden von Kolleginnen in Brasilien und Indonesien übernommen. Sein Porträt „Aimée, Escort Girl“ jedoch ist nach wie vor aktuell.

In den letzten Jahren waren wirtschaftliche Krisen fast unablässig aufeinander gefolgt. „Diese Krisen waren immer heftiger und derart unvorhersehbar geworden, dass es geradezu burlesk war – zumindest vom Standpunkt eines spöttischen Gottes, der sich wahrscheinlich hemmungslos über die finanziellen Zuckungen lustig gemacht hätte, die quasi über Nacht ganze Erdteile von der Größe Indonesiens, Russlands oder Brasiliens mit Reichtum überhäuften, ehe diese ebenso plötzlich von Hungersnöten heimgesucht wurden, was jeweils Bevölkerungen von Hunderten Millionen Menschen betraf.“

Frankreich hat alle globalen Höhenflüge und Tiefschläge fast unbeschadet überstanden. Seine Krisenfestigkeit verdankt es nicht den französischen Autos, nicht dem Airbus, nicht den Waffenexporten, sondern seinem nicht totzukriegenden Image, das Land der Lebenskunst zu sein. Es vermarktet einfach das Savoir-vivre mit Wein, Käseherstellung, „Romantikhotels“ und Parfüm. Wo immer sich das Kapital gerade befindet, in China, Russland, Dubai, Indonesien oder Brasilien – die Touristen kommen aus aller Welt und suchen die französischen Dörfer auf. Und erstmals seit dem frühen 19. Jahrhundert blüht in Frankreich auch wieder Sextourismus auf – ein Thema, zu welchem Houellebecq seine Expertise zuvor unter Beweis gestellt hat (Plattform, 2001).

Houellebecq prognostiziert für Frankreich einen Anstieg des Sextourismus.

Die meisten Franzosen aber können sich in naher Zukunft einen Urlaub in ihrem Heimatland nicht mehr leisten – was sich nach der Darstellung der Michelin-Insiderin Olga Sheremoyova bereits ab etwa 2010 abzeichnete. Also: Hin! Bevor Frankreichs gute Art zu leben für uns krisengeplagte Industrieländer unbezahlbar geworden sein wird.

Houellebecq, der in Karte und Gebiet mehrfach als „der Autor der Elementarteilchen“ auftaucht, könnte vielleicht mit mindestens gleicher Berechtigung als „Autor von Karte und Gebiet“ in die Literaturgeschichte eingehen. Wenn dabei solche Bücher entstehen, dürfen wir im eigenen Interesse dem Autor weiterhin ein beschissenes Leben wünschen.

Aktuell:

Der Autor und Theaterregisseur Falk Richter hat den 2010 in Frankreich und 2011 in der deutschen Übersetzung von Uli Wittmann erschienenen Roman Karte und Gebiet für die Bühne bearbeitet und führt in seiner sehr gelungenen Theaterfassung selbst Regie. Im Düsseldorfer Schauspielhaus (Kleines Haus) finden die nächsten Aufführungen am 30. September und am 6. Oktober 2012 statt.

Düsseldorfer Schauspielhaus:
Karte und Gebiet. Nach dem Roman von Michel Houellebecq. Aus dem Französischen von Uli Wittmann / Für die Bühne bearbeitet von Falk Richter. Repertoire, Deutschsprachige Erstaufführung, Dauer: 2 Stunden, 30 Minuten – 1 Pause.
Gustaf-Gründgens-Platz 1, 40211 Düsseldorf; Karten: Telefon 0211.36 99 11; Fax 0211.85 23 439, karten@duesseldorfer-schauspielhaus.de

Roman:
Michel Houellebecq: Karte und Gebiet. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. DuMont Buchverlag, Köln. 416 Seiten.
Gebundene Ausgabe, 2011: ISBN-13: 9783832196394, 22,99 Euro,
Broschierte Ausgabe, 2012, DuMont Taschenbücher Nr.6186: ISBN-13: 9783832161866, 9,99 Euro.




Mitliebender Zuschauer – Franz Hessels Roman „Der Kramladen des Glücks“ neu aufgelegt

Wer schon als Knabe bei Ringkämpfen „die köstliche Lust des Besiegten“ zu genießen verstand, aus dem wird auch später kein Eroberer, wenn ihm egoistische Interessen nahelegen müssten, eine Geliebte nicht kampflos dem Rivalen zu überlassen. Gustav Behrendt in Franz Hessels frühem Roman Der Kramladen des Glücks (1913) ist solch eine kontemplative Natur, die schon zufrieden ist, in Ruhe die Hände der Angebeteten verehren zu dürfen.

„Ich liebe schöne fremde Damen, die vorübergehen und mich nicht ansehen“, notiert er in seinem Tagebuch, und über ein Mädchen, dem er ein einziges Mal in einem Wirtshaus begegnete: „Ich liebte sie sehr.“ Das zeugt von einer mächtigen Vorstellungskraft.

Seinem Betrachterglück kann Gustav am besten nachgehen, solange er von anderen unbemerkt bleibt – „dann war sie so freundlich, müde zu werden, legte sich auf den Diwan und schloss die Augen“, heißt es über Marianne, deren Schlaf er wiederholt bewacht. Jedoch hält Gustav auch somnophile Begierden im Zaum.

Mit Kornelie und seinem älteren Bruder Rudolf scheint sich einen schönen Moment lang eine Ménage-à-trois anzubahnen, bis sich der jüngere mit der Rolle begnügen muss, am Paarglück der beiden anderen durch beobachtende Anwesenheit teilzuhaben.

Sollte eine Geschichte doch einmal über eine „körperlose Schwärmerei“ hinausführen, wirkt Gustav seltsam initiativlos – „es warf ihn an sie hin.“

Der profunde Franz-Hessel-Kenner Manfred Flügge, der in diesem Jahr auch eine Monographie über Franz‘ derzeit berühmteren Sohn, Stéphane Hessel, veröffentlichte, steuert zu Der Kramladen des Glücks ein erhellendes Nachwort bei und weist darin unter anderem auf Franz Hessels Nähe zu Robert Walser hin, dessen Werk Hessel später für den Verleger Ernst Rowohlt lektorieren wird.

Wie Walsers Protagonisten macht auch Gustav sich gern klein oder nimmt eine niedere Perspektive ein. „Ich saß auf dem Fußkissen“; eine fast weißblonde Kellnerin, zwei Köpfe größer als er, setzt ihm „von hoch oben“ seinen Trunk vor; beim Bootsausflug liegt er auf dem Boden und sieht „empor zu Gerda, die mit starken Armen rudert.“ Gustavs Mutter starb, als er noch Kind war – dabei handelt es sich einmal nachweislich um keine Parallele zwischen dem Autor Hessel und seinem Protagonisten in dem episodenhaften Roman, der sonst alle Stationen aus Hessels Biographie (Stettin, Berlin, Freiburg, bis zum Abschied von München im Jahr 1906) mitvollzieht.

Authentische Schauplätze und manche Zeitgenossen sind ohne weiteres identifizierbar, wie beispielsweise die Gerda des Bootsausflugs, in der Hessel die Schwabinger Bohème-Gräfin Franziska zu Reventlow porträtiert. Mit ihr und einem gemeinsamen Malerfreund lebte er in einer Wohngemeinschaft zu dritt. Es war die Zeit der ausgiebigen Kostümfeste im Künstlermilieu, die auch im Kramladen des Glücks nicht zu kurz kommen. Doch auch hier findet der meistens so identitätslos Wirkende nicht die passende Maske und würde statt mitzuspielen lieber aus einer Saalecke heraus zusehen.

Gustav sei „eigentlich gar kein moderner junger Mann“, urteilt Gerda. Nur einen Zustand, entweder „ganz zugehörig oder ganz abgelöst“, hält sie für erstrebenswert. An Gustav fehlt ihr „eine gewisse Erwachsenheit“, doch schätzen Frauen auch dessen Ernsthaftigkeit, die ihn von der Münchner Spaßgesellschaft und ihren „fidelen Hühnern“ unterscheidet.

Freunde und Lehrer können ihn nicht ändern, weder der Fechtlehrer, der empfiehlt, Frauen zu „rauben statt zu bitten“, noch Emanuel, von dem Gustav zeitweise glaubt, in ihm seinen Meister gefunden zu haben, und der es als Glück bezeichnet, „in dem andern die Liebe wachsen zu fühlen.“ Das ist aber nicht das, was der Ungebundene anstrebt.

„Nun will ich weggehen von hier“, sagt sich Gustav am Ende des Romans, „ich lerne die Liebe doch nicht.“

Wohin er geht, bleibt im Kramladen des Glücks ausgespart. Franz Hessel jedenfalls ging nach Paris, lernte seine spätere Frau, Helen Grund, kennen und verarbeitete (wiederum mit zeitlichem Abstand) die Jahre zwischen 1906 und 1913 in Pariser Romanze. Dieses Werk hat der Lilienfeld Verlag als einen weiteren Band in seiner schönen Reihe der „Lilienfeldiana“ für den September dieses Jahres angekündigt. Wir können uns jetzt schon darauf freuen und in der Zwischenzeit vielleicht Robert Walser wieder lesen.

Franz Hessel: „Der Kramladen des Glücks“. Roman. Mit einem Nachwort von Manfred Flügge. Einbandgestaltung unter Verwendung eines Gemäldes von Ruth Habermehl. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf. Lilienfeldiana Band 14, ca. 300 Seiten. Halbleinen, Fadenheftung, Leseband. 21,90 Euro.


Franz Hessel: „Pariser Romanze“. Papiere eines Verschollenen. Mit einem Nachwort von Manfred Flügge. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf. Lilienfeldiana Band 15, ca. 160 Seiten. Halbleinen, Fadenheftung, Leseband. 18,90 Euro (Erscheinungstermin: September 2012)




Hahne + Horn heute in Herne: Tanz und Neue Musik in den Flottmannhallen

Die Flottmannhallen in Herne bieten heute Abend (Daten siehe unten) ein außergewöhnliches Musik/Tanz-Ereignis an. „Rotlicht“ heißt das Programm der Tänzerin/Choreographin Henrietta Horn und der Komponistin Dorothée Hahne. Was uns dort erwartet ist nicht nur getanzte Neue Musik, wir erleben einen vielschichtigen Dialog, der ebenso die Sinne anspricht wie zum Nachdenken anregt.

Als sei der Tanzboden mit Mikrofonen unterminiert, werden in „Schrittweise“ die Bewegungen der Tänzerin zum Rohmaterial des Klangs. Wie überhaupt bei Dorothée Hahne die Live-Elektronik weniger ein Generator von Tönen als ein verwandelnder Reflektor von Vorgefundenem ist. Das klingt manchmal gruselig, wirkt verstörend, oder es kommt witzig daher.

„Portabel x“ spielt mit der „Tür“ und dem, was tragbar und was nicht mehr tragbar ist. Die Stimmen quietschender, knarzender, knarrender Türen werden gedehnt, gestreckt, gepitcht. Ölen wäre ruinös.

„Kanon“ ist unter dem Aspekt althergebrachter Harmonien vielleicht das „schönste“ Stück des Abends. Dorothée Hahne singt ein Gedicht von Christine Lavant aus „Spindel im Mond“ und zeigt dabei die Nähe von Loop und Kanon.

Drei Intermezzi führen kommunikative Standardsituationen mit ungewissem Ausgang vor. Annäherung oder Befremdung, Monolog und einfühlsames Miteinander.

Akustisch und optisch abwechslungsreich gestaltet sich das Programm, das am 3. Mai dieses Jahres im Pina Bausch Theater an der Folkwang Universität der Künste in Essen uraufgeführt wurde und heute Abend in Herne zu erleben ist. Jazz-Atmen, Zischen des Horns und Schmatzen am Mundstück, ein Alphorn wird geknutscht und gerieben; faunisch bläst Hahne das Schneckenhorn, schelmisch das Abflussrohr aus dem Baumarkt. Die verwitternden Eisenschalen von Blindgängerbomben, die nicht detonierten, klingen nun als Glocken. Die Musikerin wirft von Hand Patronenhülsen, Abfall von Projektilen, in einen umgekehrten Stahlhelm, und daneben stehen Eierbecher, die das Ganze ironisieren. Ein Ohren- und Augenspaß, der zugleich zu denken gibt.

Die neunte Nummer, „es geht, was kommt …“, schließt die Klammer, die eine kurze Stunde zuvor mit „es kommt, was geht …“ geöffnet wurde. Warum der Abend mit den neun Programmpunkten aber „Rotlicht“ heißt? Ein rotes Lämpchen „On Air“ aus einem Tonaufnahmestudio, das manchmal in der sparsamen Bühnenausstattung leuchtet, mag einen Hinweis geben.

Dorothée Hahne – Musik
Henrietta Horn – Tanz
am Freitag, 29. Juni 2012, 20:00 Uhr,
Flottmannhallen Herne
Straße des Bohrhammers 5
44625 Herne
Spieldauer: 60 Minuten

 

Die Komponistin Dorothée Hahne




Carla Bley auf dem Moers Festival

An der Uraufführung von Carla Bleys neuster Komposition „La Leçon Française“ gäbe es nichts zu kritisieren, hätten die Veranstalter nicht – in Absprache mit der Künstlerin oder ohne ihr Wissen? – in der Programm-Ankündigung die Frage gestellt, ob es sich bei dem neuen Stück um „eine Fortsetzung zu ihrem epochalen Werk ‚Escalator Over The Hill‘“ handeln könnte. Die überspannten Erwartungen taten der Aufführung nicht gut.

Vergleiche mit der vor vierzig Jahren als Dreifachalbum erschienenen Jazz-Oper verbieten sich schon wegen der ungleichen Voraussetzungen. Nicht nur, weil eine solche Aufführung heute ohne Don Preston auskommen muss, den inzwischen bald achtzigjährigen Pionier am damals noch neuen Moog-Synthesizer, und ohne die Gitarrenlegende Jack Bruce, ohne den gerade frisch bekehrten „Mahavishnu“ John McLaughlin, ohne einen Charlie Haden am Bass, ohne den Schlagzeuger Paul Motian, ohne Don Cherry, ohne die aus Andy-Warhol-Filmen bekannte „Viva“ und so viele andere. Das war ja bei der Bühnenfassung von „Escalator over the Hill“ von 1997 in Köln oder 2006 in der Philharmonie Essen nicht anders.

Von der Länge her und im Programmablauf des Moers Festivals eingebettet zwischen einem bezaubernden Solo-Auftritt des Cellisten Erik Friedlander und den experimentierfreudigen und wirklich neue Musik schaffenden „Rocket Science“ mit dem Trompeter Peter Evans, dem Saxofonisten/Klarinettisten Evan Parker, dem radikalen Craig Taborn am Piano und Sam Pluta an der Elektronik aber war die als Höhepunkt des Festivals angekündigte 45-minütige Weltpremiere von „La Leçon Française“ nur ein guter Act zwischen anderen.

Dass die ausgezeichneten Musiker der schwedischen Bohuslän Big Band noch nicht genügend Gelegenheit hatten, sich dem Ruhm der Alt-Stars, die 1971 an den Aufnahmen zum „Escalator“ beteiligt waren, anzunähern, kann man ihnen nicht vorwerfen. Die Soli wie das Ensemble der Bläsergruppe waren exzellent.

Eine besonders gute Idee war es, für die Aufführung der simulierten Französischstunde echte Schüler zu wählen, die auf das Zeichen des Dirigenten – stellvertretend für den Lehrer – zu ihren Einsätze aufstehen und sich anschließend wieder hinsetzen mussten. Wer wie der gequälte Zehnjährige mit den mittellangen blonden Haaren das Pech hatte, auf der Stufe des schmalen Podests direkt hinter dem Dreifuß des Mikrofonständers zu sitzen, dürfte mehr Sorge gehabt haben, gegen das wacklige Gestell zu stoßen, als dass er die Ehre hätte genießen können, gemeinsam mit der berühmten Carla Bley an der Uraufführung eines möglicherweise epochalen Werks beteiligt zu sein.

Von meinem Sitzplatz aus hatte ich den Knabenchor der Chorakademie Dortmund (im Programmheft als „Dortmund Choral Academy Boys Choir“) direkt vor Augen, während Carla Bley die meiste Zeit von ihrem Konzertflügel verdeckt war. Vielleicht lagen die Dortmunder Schulknaben – soweit ich die Gelassenheit auf ihren Gesichtern nicht fehlinterpretiere – in ihrer Einschätzung der Bedeutung des Werks ganz richtig, wenn sie, anders als die Musiker der Bohuslän Big Band, aus dem zwischendurch immer wieder aufbrausenden Applaus des Publikums keinerlei Bestätigung zu erfahren schienen. Sie sangen sauber und gut und erfüllten ordentlich ihre Aufgabe, inklusive des schulmäßigen Auftretens und Abgehens und der eingeübten Verbeugung beim Schlussapplaus. „La Leçon Française“ – nicht epochal, aber nett.

Einer der langjährigen Mitstreiter Carla Bleys war übrigens doch an der Aufführung beteiligt: Ihr Lebenspartner am gütigen E-Bass, Steve Swallow, mit dem die Komponistin bereits am Freitagabend neben dem ebenfalls routinierten Andy Sheppard (Saxofon) als Trio aufgetreten war. Beide Konzerte Carly Bleys auf dem Moers Festival bewiesen einmal mehr ihre Weltklasse. Die Musik neu zu erfinden aber haben andere Kreative übernommen.

Carly Bley: „La Leçon Française“
Carla Bley cond + p, Steve Swallow, b (us)
Bohuslän Big Band (se) & Dortmund Choral Academy Boys Choir (de)
Moers Festival

Carla Bley in Moers, 27. Mai 2012, Foto: W. Cz.

Knabenchor der Chorakademie Dortmund auf dem Moers Festival 2012 neben Musikern der Bohuslän Big Band aus Schweden; Foto: W.Cz.