Im Zeichen der immerwährenden Krise: Die Theaterwelt traf sich unter der Akropolis

Ausgerechnet in Athen fand das jährliche Treffen des IETM (International network for contemporary performing arts), des größten Theaternetzwerkes Europas mit Sitz in Brüssel, statt.

Rund 500 Delegierte aus allen Bereichen der darstellenden Kunst orakelten über die Zukunft des Theaters in Europa – Künstler, Manager, Festivalleiter, Kulturpolitiker.  Drei Tage lang wurde diskutiert, verhandelt und geforscht. Die Tagungsorte waren ehemalige Orte des Business: eine stillgelegte Gasfabrik und die alte Börse, beides nun (ähnlich wie an vielen Orten Europas) kulturell genutzte Räume, die nach Aufbruch riechen.

Aber der Geruch täuscht. Geld für freie Kunst gibt es in Athen so gut wie keines. Man sucht europäische Partner und kulturpolitische Unterstützung. Naturgemäß wurden die Fragen nach Zukunft der Kunst und Kultur nicht endgültig beantwortet. Und es gab auch keinen Ausflug nach Delphi, um das Orakel zu befragen.

Die Unterschiede sind zu groß. In jedem Land gibt es unterschiedliche Bedingungen. Für die zahlreich teilnehmenden Griechen stellt sich die Lage sehr anders dar als zum Beispiel in Deutschland oder Frankreich. Das Programm des Kongresses wurde ausschließlich ehrenamtlich zusammengestellt.

Die Vorstellungen, die einen Überblick über die griechische, bzw. Athener Theater- und Tanzszene geben sollten, waren auf Eintrittsgelder angewiesen. Und hier spürte man einen Aufbruch, den es in Griechenland Jahrzehnte nicht so gegeben hatte. Es gibt zwar kein Geld, aber die Aktivitäten sind groß. Fast alle Produktionen versuchen, sich an der Krise abzuarbeiten.

Es gab „Lecture-Demonstrations“, die dokumentarisch und per Spaziergang dem restlichen Europa klarzumachen versuchten, wie es derzeit im Lande aussieht und das ist nicht vielversprechend. Aber diese Sichtweisen und theatralen Befindlichkeitswerke finden in den Medien keine Beachtung. Trotzdem gab es kein allgemeines Klagen, sondern Aufklärung und Austausch. So beschrieb der Künstler Alexandros Mistriotis in seiner Rede zur Eröffnung des Kongresses Athen als eine „unsichtbare Stadt“ und Griechenland als ein Land mit einer seit 200 Jahren andauernden Krise. Die Krise sei das Unverzichtbare in der Tragödie und diese dauere an und sie sei immer noch Leitbild für alle Theater der Welt.

Letztlich war das Treffen ein wichtiges Moment in der neuen griechischen freien Szene und hat viele neue Kontakte geschaffen. Aus Deutschland waren 16 VertreterInnen aus der Kulturszene in Athen, unter anderem der Autor dieser Zeilen.




Staub aufwirbeln mit Bach: Britta Lieberknechts Tanzperformance „Die Kunst des Staubsaugens“

Der Tanz mit dem Staubsauger ist mir aus alten Zeiten bekannt. Als meine Mutter den Teppich im Wohnzimmer mit dem Vorwerkgerät von Staub befreien wollte, schmissen mein Vater und ich die Beine hoch, als wäre der Can Can angesagt und mit Schwung schob sie das immer noch lauteste Haushaltsgerät unter den schwingenden Beinen hin und her. Sie tat dies allerdings ohne die musikalische Hilfe Johann Sebastian Bachs. Unser Plattenwechsler hatte nicht die Kraft, den Sound des Saugers zu überbügeln.

In Köln hat sich nun die Choreographin Britta Lieberknecht, von der man während ihrer langen Schaffenszeit schon viel Kurioses hat erleben dürfen, der scheinbar widersprüchlichen Gegenüberstellung von Staubsaugern und Musiken von J.S. Bach angenommen. Dass der Mensch heute von allerlei Geräusch, sei es Musik oder eben die Maschine, fast ständig umgeben sei, liegt im Erfahrungsfeld von uns allen. Das Rauschen, Klackern, Scheppern und Sausen, Piepsen und Fiepsen bilden oft genug den Hintergrund für ebenso oft unerwünschte musikalische Ergüsse.

„Die Kunst des Staubsaugens“, eine Tanzperformance, stand in der Alten Feuerwache auf dem Programm. Publikum und Medien kamen, um die Neugier, die dieser Titel hervorruft, zu befriedigen. Fünf TänzerInnen stellten sich der Aufgabe, Ernsthaftigkeit der Choreographie mit dem Augenzwinkern über Sauger in eine Reihe zu bringen. Dass es dabei ratlose Gesichter gibt, liegt in der Natur der Sache, sind doch wenige Zuschauer mit dieser Kombination vertraut.

Dass hier präzise und gleichermaßen verspielt getanzt wird, bleibt niemandem verborgen. Vor allem das kunstvoll bedrückend komische Solo von Photini Meletiadis bleibt nachhaltig in Erinnerung. Der „Hoover“ bläst ihr Haar und saugt es in sich auf, verändert ihre Frisur. Sie traktiert ihre Haut, als wäre der Sauger der Fettabsauger.

Infos zu Britta Lieberknecht und ihrer Arbeit: http://www.britta-lieberknecht.de/




Samstagabend auf dem Sofa: Drei Stunden Fernsehzeit mit Wetten und Boxen

„Wetten dass…“ – reloaded im ZDF. Zehnmal „danke“ und aufgewärmte Witze. Ein blöder Vorschlag an den krächzenden Elton zur Außenwette. Herr Lanz verspricht, bei verlorener Wette ein (!) rohes Ei zu schlürfen, zusammen mit Sylvester Stallone (was macht der schon wieder hier?). Harrison Ford sitzt und Lanz meint „Ein Wahnsinn“. Der charmante ältere Herr Ford antwortet auf Lanzens blöde Fragen seriös und souverän. Er besitze mehrere Flugzeuge. Lanz freut sich währenddessen (warum?). Ford sagt, er könne nicht zwei Flugzeuge gleichzeitig fliegen und Lanz findet: „Das ist das Problem bei dieser Sache“.

Markus Lanz (li.) und Harrison Ford am 5. Oktober 2013 in "Wetten, dass...?" (© ZDF/Sascha Baumann)

Markus Lanz (li.) und Harrison Ford am 5. Oktober 2013 in „Wetten, dass…?“ (© ZDF/Sascha Baumann)

Ich hole mir einen Joghurt mit Früchten. „Thomas Gottschalk hat auch Blubberfragen gestellt, aber nie wirkliches Interesse vorgegaukelt“, erwische ich mich denkend. Ford sagt: „Big production“ beim Anblick von Helen Fischers Bühnenbild. Lanz sagt: „Deutschland“. Ford soll eine Mailbox besprechen. „Sensationell“. Die Eierwette wurde vergeigt.

Zappe zum ersten Mal rüber zu RTL. Es läuft der Countdown zum wieder völlig überinszenierten Boxkampf. Unser Wladimir gegen den Russen Dingsbums. Werbung. Helene Fischer sitzt auf der Bank, eine nette Person. Bei RTL stehen die Experten.

Lanz fragt das Kind nicht, ob es Indiana-Jones-Fan sei. Schade. Das Kind läuft über Lippenpflegestifte und fällt runter. Wieder vergeigt. In der Probe immer geschafft. Frau Fischer im Rhönrad – ein Wahnsinn. Cher kommt und singt. Boxen. George Foreman spricht. Lanz fragt Cher, ob sie was mit Jimi Hendrix gehabt habe und „Wie war Michael Jackson?“ Ford und Cher hauen wieder ab. Der Boxsprecher Michael sagt den Kampf an. Ja! Heavy weight championship of the woooorrrllldd! Und jetzt gibt’s in die Fresse und nicht auf die Eier!

Im ZDF ziehen vier Tiroler ein schweres Mähschiff (!) schwimmend mit einer Blaskapelle an Bord von einer Seite auf die andere. Das ist unfassbar schwer. „Die Idee entstand im besoffenen Kopf“, sagt einer der Tiroler. Bei RTL singen alle inbrünstig die russische Hymne, als wollten sie gen Ukraine ziehen. Frau Isetbajuwa (?), die Stabspringerin, sitzt am Ring und ist sicher, dass Povetkin nicht schwul ist. Die Schwimmer aus Tirol sind wohlgemeint ganz knapp im Ziel. Gong. Bums! Führhand. Kein Platz für die Hände von Povetkin. Ringkampf eher als Boxkampf. John Newman – irgendein knödelnder Newcomer aus England singt live. Box! Zu wild, zu wild, sagt der Experte. Er macht sich über die Außenbahn zu lang. Angezählt. „Sensationell“, sagt Lanz. Führhände an den Körper. Anja Kling kommt dazu. Wladimir trifft nicht genau genug. Klitschko-Werbung für alles. Anja hat zwei Kinder und ist totenblass geschminkt. Die Boxer wollen sich dauernd umarmen. Eine Tablet-Wette. Intelligent. Man sieht nichts. Dampfwalzen-Wette. Bierflaschenöffnen. Klitschko gewinnt.

Rocky wollte ein Bild malen. Es kommt nicht dazu. Ich trinke einen Eierlikör und sehe, wie Eintracht Braunschwieg gegen Wolfsburg gewinnt, zappe um zu Jägermeister.




Migranten im Fokus und die Suche nach mehr Publikum: 2. Ruhrgebietskulturkonferenz

Wieder trafen sich die Kulturhauptstadt-Nachhaltigkeitssachwalter der Metropolkommunen, um die Zukunft einzustielen. Um die 350 Teilnehmer trafen sich auf dem Recklinghäuser Festspiel-Hügel, um über neue Strategien der interkulturellen Arbeit  zu beraten.

Veranstalter sind das NRW-Kulturministerium und der Regionalverband Ruhr (RVR). Launig und humorvoll moderiert von Thomas Laue vom Bochumer Schauspielhaus, wurde der Tag zu einem Thinktank-Marathon zur Gestaltung eines interkulturellen Projektes in der Nachfolge des Festivals „Melez“, dem einzigen Bezugspunkt, der der Kulturpolitik in der Vergangenheit aufgefallen ist. Es war ein Familientreffen all der meist alten Hasen aus der Szene, wobei aus der Freien Szene überwiegend deren Funktionäre anwesend waren. Die Kulturdezernenten waren massiv präsent, u.a. aus Dortmund, Essen, Bochum, Gelsenkirchen und Oberhausen.

Kulturkonferenz Ruhr: Blick in den Veranstaltungsraum im Ruhrfestspielhaus (Bild: RVR/Friedrich)

Kulturkonferenz Ruhr: Blick in den Veranstaltungsraum im Ruhrfestspielhaus (Bild: RVR/Friedrich)

Man will also unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger mit migrantischem Hintergrund auf die Bühnen schieben und hatte als beispielhaftes Unternehmen das Ballhauses Naunynstraße aus Berlin, vertreten von Tuncay Kulaiglu, eingeladen. Kulaiglu erzählte von der Geschichte seiner Familie erzählte und stellte klar, dass das Unternehmen „Postmigrantische Kulturpraxis“ nicht per Knopfdruck funktioniert.  Die Beispiele aus dem Ruhrgebiet bezogen sich wieder alle auf die Institutionen der Städte, die, weil eben kostspielig, sich der migrantischen Themen annehmen sollen und dies durch ein paar Projekte bereits unter Beweis gestellt hatten. Die Bochumer arbeiten mit den Renegade Theater zusammen und nähern sich auch den Streetartisten von Urbanatix. Dortmund wurde gelobt wegen seines Nordstadt-Crash-Test-Projektes, einem Kindergeburtstag in der No-Go-Area Dortmunds mit durchaus bemerkenswerten Einfällen und Szenen.

Schwierig ist es, die Massen zu locken

In einem Workshop wurde ein kleines Licht auf das Hauptproblem der Zukunft der vor allem Darstellenden Künste geleitet, der Publikumsentwicklung, hier „Audience Development“ genannt. Man braucht also insgesamt neues und mehr Publikum. Woher soll es kommen? Frau Professor Birgit Mandel stellte ihre Studie vor, die u.a. besagt, dass es schwierig sei, die nicht kulturaffine Masse zu verlocken, eine Erkenntnis, die ich bereits hatte, als ich als Fünfjähriger mit meinem Kasperle nur die Oma als Publikum erreichen konnte. Mama musste bügeln und Papa schaute die Sportschau.

Das Volk ist zu zufrieden und giert nicht nach theatraler Belehrung oder Erbauung. Kohl und Merkel haben das Land in eine Mittemäßigkeitswüste verwandelt, in der die meisten ihre Kunst und Kulturinstitute zwar gut finden, aber nicht hingehen. Es reicht, dass es sie gibt. Und die Parallel-Gesellchaften schaffen sich ihre eigenen Kulturräume durch Konzerte und andere Veranstaltungen mit Stars aus ihren Ursprungsländern.

Alle zwei Jahre ein „Festival“ als Zwischenbilanz

Aber seien wir optimistisch. Es tut sich was und wie kann man diese Entwicklungen fördern und in den medialen Fokus bringen? Man muss sie entdecken und eine Plattform schaffen. Und das wollen der RVR und die Kulturdezernenten mit Hilfe der Akteure in der Kulturbranche. Jörg Stüdemann, eloquenter Vertreter der Migrationskulturpolitik und sowohl Kämmerer als auch Kulturdezernent der Stadt Dortmund, beziffert die Fördersumme für das Unternehmen auf 1 Million und ist sich sicher, dass diese Summe zusammen kommt. Es soll kontinuierlich flächendeckend ein Netz von migrantischen Projekten entstehen. Alle zwei Jahre (Biennale) soll es dann zu einem „Showing“ kommen. Krampfhaft wird versucht, das Wort „Festival“ zu vermeiden. Das ist schon putzig, aber wenn sich alles Festival nennt, was länger als einen Tag dauert, kann man es verstehen, diesen ungeschützten Begriff zu verstecken, damit nicht wieder die medizinisch korrekt so bezeichnete „Festivalitis“ die Menschen erfasst.

Ein noch nicht besetztes Gremium soll sich eine künstlerische Leitung des Projektes ausgucken. Konzepte können eingereicht werden und dann wird der König der Migrationskultur auserwählt. Essens Dezernent Andreas Bomheuer favorisiert einen Einheimischen und stellte heraus, das die Region genügend eigene Kräfte habe, um so ein Unternehmen erfolgreich durchführen zu können. Mal sehen, was da in nächster Zeit an Namen durch die Kantinen gereicht wird.

Endich tut sich etwas – nach all den verschenkten Jahren

Ein Workshop war dazu angesetzt, für dieses FESTIVAL Vorschläge zu erarbeiten. Welche Spielorte und –formen sollen eine Rolle spielen? Diese Frage einem Kreis von Verwaltern und Nichtkünstlern zu stellen, ist doch eher fragwürdig. So stand auf einer der Karten, die man an eine Pinnwand pinnen konnte: „Aalto Theater – Musik“, „Theater – Schauspiel“. Letztlich braucht man Orte in der Region, die sich jeweils für das realisierte Projekt sinnvoll und inhaltlich eignen. Und wieder war erkennbar, dass das freie Feld der künstlerischen Betätigung auf Institute beschränkt ist – zumindest in den meisten Köpfen der Entscheider.

Doch immerhin spielt die Zukunft der Interkultur, die eigentlich längst Gegenwart ist, eine größere Rolle in der Politik als in den verschenkten Jahren zuvor. Ob allerdings eine Strategie auf Papier zu nachhaltigen Ergebnissen führen wird, ist offen. Vielfältigkeit als Dogma führt an mancher Stelle zu Einfalt und bunt ist nicht immer gleich lebendig, graue Mäuse entpuppen sich oft als Vulkane der Kreativität.

Das NRW-Kulturministerium und der Regionalverband Ruhr stellen jährlich je 2,4 Millionen Euro bereit, um die im Kulturhauptstadt-Jahr entwickelten Netzwerke, regionalen Partnerschaften und Kooperationen zu fördern und weiter zu entwickeln. Infos: www.kulturkonferenz.metropoleruhr.de




RuhrTriennale: Von Geisterbahnen, Freilichtduschen, Pendeltanz und Sinnattacken

Die Installationen der RuhrTriennale – umsonst und teilweise draußen. Jeder soll teilhaben an den Großkunstwerken, die die diesjährige RuhrTrienale zum temporären Einsatz eingekauft hat.

Heiner Goebbels, Experiment-Experte und moderierender Leiter des Kunstfestivals, stellte Künstler und Werke vor. Und alles ist so, als sei es am richtigen Ort zur richtigen Zeit – Festspielzeit im Nachhang des Sommers. In allen großen Nachrichtensendungen des Fernsehens wurde die Eröffnung bildreich angekündigt und man verwechselte schon mal Bochum mit Essen.

Dusche (Foto:Dman)

Dusche (Foto:Dman)

Und wenn es noch heiße Tage geben sollte, dann kann der zufällige Spaziergänger vor dem Ruhrmuseum sich seiner Klamotten entledigen und unter die Dusche springen, die da von der Künstlergruppe „rAndom international“ in Zusammenarbeit mit „Urbane Künste Ruhr“ errichtet wurde. 25.000 Liter Wasser rauschen dort pro Minute von weit oben in einem Viereck auf den Boden nieder, wo sich bei Sonne ein Regenbogen bildet. Nachts wird alles künstlich erhellt, was das Publikum sich tags denken darf.  Der Ort sei dafür eine Entdeckung, sagte man. Nun ja, versteckt liegt er nicht und der urbane Raum ist das bekannteste Open-Air-Museum des vergangenen, lauten Zeitalters der krachenden Industriewerke im Revier.

Wer die Mischanlage der Kokerei Zollverein zum ersten Mal betritt, wird vor lauter Erbauung erst mal verstummen. Ein gigantischer Eindruck verhärtet hier den Gedanken an harte Arbeit und die schwere schmutzige Ressource Kohle.

Geisterbahn (Foto:Dman)

Geisterbahn (Foto:Dman)

Der Schotte Douglas Gordon durfte sich hier auslassen und schuf Lichteffekte, Videos und einen poetisch-brachialen Sound. Es nebelt und bubbert. Im gefilmten Treppenaufgang wird gesungen und musiziert, auf einem Monitor sieht man einem Raben zu, wie er sein Mahl zerrupft und frisst. Eine Art Explosionssound lässt gar diese Mauern erzittern. Der Raum wird erneut illustriert, aber beeindruckend. Als Gordon, der Kaugummi kauend witzig lässig seine Unternehmung „Silence, Exile, Deceit“ beschreibt, erzählt er von seinem kleinen Sohn, dem es gruselte: „Like in a haunted house“ (Wie in einer Geisterbahn). Das ganze Ruhrgebiet sei eine Art Geisterbahn. Das ist allerdings wunderbar und die liebevoll britische Art von Humor. Aber wenn man drin lebt, erschrickt man nicht mehr.

Das edle Museum Folkwang zeigt zwei Arbeiten des Choreographen William Forsythe, der seit langem Tanz und Bildende Kunst auf gleiche Ebenen bringt. Zunächst kann mich sich als Besucher in einer

Installation "Nowhere and everywhere at the same time Nr.2" (Foto Dman)

Installation „Nowhere and everywhere at the same time Nr.2“ (Foto Dman)

Art Zerrspiegel zeitversetzt in verschiedene Positionen schieben, ein Spiel mit Zeit und Selbstbild. In der großen Halle findet man sich dann zu einem Spielraum für Erwachsene zusammen. Von der Decke hängen Pendel, die sich unter Pufflauten verschieben. Man darf und soll hineintreten, allerdings nicht mehr als 12 Personen gleichzeitig. Der Mensch tanzt unwillkürlich durch die engen Gassen zwischen den Fäden mit den Pendeln. Berührt man sie, hat man verloren. Die einen schauen, die anderen tänzeln, laufen, stehen, versuchen zu gewinnen. Preise gibt’s nicht im Spiel- und Tanzzimmer.

Das größte Werk ist in der Kraftzentrale des Duisburger Landschaftsparks zu sehen, Ryoji Ikedas „test pattern“ in der 100-Meter-Version. Und das geht nur in einer solchen Halle. Der Komponist und Bildende Künstler der „elektronischen Szene“  wird mit seinen audio-visuellen Werken international durchgereicht, war bei zahlreichen electronic-art Festivals und in den großen Museen zu sehen und zu hören. Für zart besaitete Kunstliebhaber ist dieser Ort eher ein Raum der Verstörung.

Test Pattern (Foto Dman)

Test Pattern (Foto Dman)

Unsäglich hohe Töne zersägen den Kopf, bevor tiefe Töne den Bauch bewegen. Auf der 100-Meter-Fläche wechseln in nicht wahrnehmbarer Geschwindigkeit Formen in schwarz-weiß. Man kann die Strecke begehen, laufen, rennen, stehen bleiben, sich dem Ganzen aussetzen. Das hat zwar keinerlei poetische Wärme, aber das muss ein elektronisches Werk auch nicht haben. Es ist laut und schrill und sicherlich für viele ein beeindruckendes Beispiel für die „Macht des Unaufhaltsamen“ , die digitalen Daten und Barcodes.




Passionsspiele in Gelsenkirchen

Jesus von Rotthausen

Jesus von Rotthausen

Um Aufsehen zu erregen, muss sich jeder heutzutage was einfallen lassen, vor allem der Theatermensch. Da gibt’s kaum noch Möglichkeiten zum Skandal und ein Fernsehpromi ist auch nicht jeder Zeit zu bekommen. Und wenn, dann muss er namens- und nicht nur gesichtsbekannt sein.

Was tun? Ganz einfach: Man macht was, was nicht so recht ins Ruhrgebiet passt. Man lädt ein zur „Passion“ und wenn das noch aus Gelsenkirchen kommt, dann werden die Medien aufspringen müssen. So geschehen in dieser Woche. „Passionsspiele in Gelsenkirchen-Rotthausen“ hieß es da. Die „Bühne im Revier“ unter der Leitung von Elmar Rasch kündigt die 1. Gelsenkirchener Passionsspiele an. Die ersten – wohlgemerkt – dahinter verbirgt sich der Anfang einer Traditionsgeschichte.

Oberammergau ist überall

Weltweit kennt man die Passionsspiele von Oberammergau, wo seit 1680 alle zehn Jahre alle Dorfbewohner auf den Beinen sind, die letzten fünf Tage von Jesus Christus auf die Füße zu stellen. Dadurch wollte man damals von der Pest verschont bleiben. Am 22. Februar 1990 wurde durch Gerichtsentscheid den Oberammergauer Frauen die volle Gleichberechtigung bei der Mitwirkung an den Passionsspielen verschafft. Eine halbe Millionen Zuschauer aus aller Welt sehen die ca. 100 Aufführungen zwischen Mai und Oktober. Da kommt so einiges an Umsatz zusammen. Devotionalien aller Art finden reißenden Absatz.

Pilgerort Gelsenkirchen

Sollte eines Tages das Passionsspiel in Rotthausen den Stadtteil Schalke als Touristenziel übertreffen? Aber der 10-Jahreszyklus wäre für die Stadt ein zu visionärer Ansatz. Doch man fängt ja gerade erst an mit immerhin 14 Vorstellungen in der evangelischen Kirche an der Steeler Straße. Pastor Rolf Neuhaus ist zuversichtlich, die Stadt unterstützt die Unternehmung und die Sparkasse lässt sich auch nicht lumpen.

Es ist kalt, die Kirche ist bei der Premiere zu drei Vierteln besetzt. Leise klingt sakrale Musik. Keine Bühnenaufbauten, der Raum wird so genutzt wie er auch zu normalen Gottesdiensten benutzt wird. Der Pfarrer spricht, dann der Bezirksbürgermeister. Er weist auf Oberammergau hin und hofft tatsächlich, dass seine Stadt zu einem Mekka für Passionsfreunde wird. Am Anfang war das Wort. So fängt es dann auch an, das Spiel der Laien, Halb und Vollprofis. Johannes der Täufer ruft zur Taufe und die in „zeitgemäße“ Kostüme gehüllten Damen und Herren stehen an. Skeptiker würden sagen: „Andere taufen auch nur mit Wasser.“ „Seid füreinander da!“ ruft Jesus, gespielt von einem jungen Mann namens Jesse Krauß. Es scheint, als habe er sich auch äußerlich der Rolle verschrieben. Man sieht eine große Schar von Menschen „wie Du und ich“ als Volk. Wir sehen Schergen und Kostüme und kennen die Geschichte, die sich hier aufblättert vor dem Altar. Und natürlich geht Jesus langsamen Schritts die Gänge entlang. Keine Hektik! Der Heiland wirkt hier entschleunigend modern.

Keine Spur von Monty Python

Wer Monthy Python erwartet, wird enttäuscht sein. Es gibt keinen Jux zu vermelden. Eine Frau soll gesteinigt werden. Jesus nimmt einen davon und hält ihn dem Kirchenpublikum entgegen: „Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“  Auch hier in Gelsenkirchen meldet sich niemand, der von sich behauptet, er sei sündenfrei.  Es gibt also auch nichts Neues zu vermelden, außer, dass es jetzt Passionsspiele in Gelsenkirchen gibt. Holla, die Waldfee. Schade, dass die Kulturhauptstadt schon vorbei ist.

____________________________

Gelsenkirchen, Ev. Kirche, Steeler Straße 48. Karten 15 Euro. Die nächsten Vorstellungen im Februar: 15. Feb. (19 Uhr), 17. (17 Uhr), 22. (19 Uhr), 24. (17 Uhr). Weitere Termine im März. Internet-Infos: www.buehneimrevier.de (Tel.: 0209/149 79 866)




Zwischen Landtagswahl und Fußballfesten: Das Propaganda-Dilemma

Was würden die Menschen nur machen, wenn man ihnen die Rituale nehmen würde, wenn es keine Identifikationen gäbe mit dem Ort, wo man seine wertvolle Zeit verbringt und lebt? Was wäre die Welt ohne Massenbewegungen? Was wäre das Leben ohne Fußball und ohne Parlament? Wir brauchen Begeisterung und Bewunderung, Schimpf und Schande, Leid und Freude, besonders, wenn man ein Leben führt, das in einem Umfeld stattfindet, das nicht zu den paradiesischen gehört – im Ruhrgebiet. Derzeit befinden sich zum Beispiel in Dortmund die Plakate, Banner und sonstige weit sichtbare Werbung in einem engen Konkurrenzkampf um Aufmerksamkeit: Meisterfeier und Wahl zum nordrhein-westfälischen Parlament.

An der Wand des Hauses, in dem ich wohne, hängt ein Banner zum Ruhm des ehrenwerten Ballsportvereins Borussia Dortmund, dargebracht durch ansässige Firmen, die ihre Wärme zum hiesigen Verein demonstrieren wollen. Warum nicht? Auch der Liverpooler, der Manchester, der Römer, der Madrilene, sie alle identifizieren sich mit ihrem Heimatverein. Da sieht man Fußballbrötchen und Meisterwürste, kleine, gelbe Herzen und T-Shirts, die die Liebe aus dem Bauch bedecken.  Und dazwischen stehen und hängen die Wahlplakate und – je nach Zuneigung – frohlockt der Genosse und sein Wähler.

Die Parteien sind vom Wähler abhängig, sowie der Wähler letztendlich von den Parteien abhängig ist. Und wer abhängig ist, flucht gern und entzieht sich dem Gedanken, sich der Abhängigkeit zu entledigen. Immerhin kann man sich mehr oder weniger aussuchen, von wem man denn abhängig sein will. Das gilt auch für den Fußballer und seine Fans, die ja im Falle einer Meisterschaft kurzfristig zu einer großen Masse anschwellen. Da will jeder mal den Lewandowski oder den Hummels anhimmeln. „Unsere Jungs“, heißt es dann. Es gibt ganze Städte, ja, Regionen, die vom Fußball abhängig sind. Er ist das Aushängeschild und das Tor zur Welt. Das gilt mindestens für Dortmund und erst recht für Gelsenkirchen (dort gibt es den Verein Schalke 04). Wir lassen uns auf die Abhängigkeit ein, oft mangels Alternativen.

Wenn man jedoch ein griesgrämiger Zeitgenosse ist, dann wird der Fall schwierig, denn für ihn oder sie ist das Propaganda. Er fühlt sich überdeckt von all den gleichen Meinungen und Feierstimmungen, seien es die des ungeliebten Fußballvereins, oder die der ungeliebten Partei. Das geht zu weit. Man solle ihn in Frieden lassen mit diesen Massenverehrungen, erste recht wenn er, wie in einem angenommenen Fall, einer anderen Partei zuneigt als der, die gerade feiert, oder wenn die Mannschaft, zu der er neigt, eine andere ist, zum Beispiel die aus Gelsenkirchen. Aber bei einem Bierchen und mehr kann er darüber nachsinnen, wenn es denn mal anders kommt, wenn seine Partei und erst recht seine Mannschaft die Liebesbekundungen ganzer Regionen zu spüren bekommt. Dann ist er Teil des Ganzen und freut sich gnaden- und rücksichtslos nur über seine Freude. Da schlägt die monogame Identifikation durch, wie jetzt für alle anderen in dieser Stadt, wo an jenem Haus, in dem er wohnt, ein Banner mit Liebeserklärungen das Leben verklärt.




„Der Gott des Gemetzels“: Pas de quatre im offenen Labor

Es gibt allerlei Gründe, ins Theater zu gehen, immer noch. Gott sei Dank, welchem auch immer! Man möchte bekannter Literatur nachspüren, man liebt das Spiel der Schauspieler oder will einen oder eine bestimmte sehen, egal in welchem Stück. Man hat das Gefühl, man müsse was über die Menschen erfahren oder über sich oder seine Partner, man ist mit jemandem auf oder hinter der Bühne verwandt oder hat ein Abonnement.

Im heutigen Fall bittet „Der Gott des Gemetzels“ zur Aufführung in das Dortmunder Schauspiel. Ihm ist also zu danken, dass wir uns ansehen und anhören, wie wir uns gegenseitig verbal metzeln. Die 1959 in Paris geborene Autorin des Stückes, Yasmina Reza, berühmt geworden durch das Stück „Kunst“, weist darauf hin, man möge keinen Realismus verwenden. „Pas du realisme“ heißt es also auf dem T-Shirt des einen Hauptdarstellers in Dortmund, Axel Holst. „Pas du tout“ (überhaupt nicht) füge ich hinzu.

Streit-Schlichtung ohne Gemetzel (Foto:Birgit Hupfeld)

Was macht man also als Regisseur (in diesem Fall: Marcus Lobbes)? Wie sieht Realismus auf der Bühne aus, wenn man diesen vermeiden will oder soll? Zwei Ehepaare streiten
sich. Anlass sind ihre nicht anwesenden Kinder, die einen handfesten Streit hatten. Also: ein verfremdetes Wohnzimmer, eine Wohnung auf einer Schräge mit fliegenden Tassen? Lobbes (Jahrgang 1966) entscheidet sich, zusammen mit Ausstatter Christoph Ernst, für die totale Verfremdung und lässt die Protagonisten auf weißen Stufen agieren, links und rechts flankiert durch übergroße Plüschtiere (Hase und Bär). Es könnte der Eingang zu einem „Museum für triviale Angelegenheiten“ sein. Desweiteren: Styropor, hängende Gärten aus Klopapier, von einer Art Maibaum herabbaumelnd, c’est tout. Weiter entscheidet sich die Regie dafür, die Männer in Röcken und mit Pumps umherlaufen zu lassen. Die Damen (Eva Verena Müller, Friederieke Tiefenbacher) tragen Dreiviertelhosen. Man wickelt sich in weiße Tücher, verklebt sich mit Gaffa-Tape, stolpert, posiert,  Alain (Ekkehard Freye) telefoniert, ohne zu telefonieren. Wenn all das zusammen keine Verfremdung ist, was dann? Regieanweisung also exekutiert.

Die Realität ist eine misslungene Verfremdung

Im Publikum wie auf der Bühne ist es neonhell. Man sieht sich, aber man kommt sich nicht näher. Die Vorlage erlaubt Tiefe und menschliche Begegnung mit sich und der Gesellschaft. Es geht uns also was an und spielt im Hier und Heute der westlichen Welt. Man sitzt aber vor der weißen Welt der Verfremdung und versucht, mitzuhalten. Die Schauspieler spielen sich teils die Seele aus dem Leib. Axel Holst wuchtet die Figur des Gastgebers ohne Peinlichkeiten, die dem Kostüm geschuldet wären, in spielerische Höhen. Wir – die Betrachter – geben uns dem hin und sitzen dennoch unbeschadet bis zum Ende in den Reihen. Der Gott des Gemetzels war milde und hat sich mit Gaffa-Tapes und Klopapier zufrieden gegeben. In einer Inszenierung im realistischen Stil würden wir uns den Tränen erwehren müssen oder kopfschüttelnd das Leben geißeln, das die Kreatur mit selbstzerstörerischen Füßen tritt – ohne Pumps.




Orakel 2012: Die nähere Zukunft des Ruhrgebiets

„Was wird sein?“ fragt der Flaneur den Sesshaften. Der schaut sein Rotweinglas an, nimmt einen Schluck und vertieft sich in das Orakel eines Chateau Lafite Rothschild 1986
OWC und spricht mit tiefer Stimme: „Der Dortmunder Trinkerraum – vormals Saufraum – wird trockengelegt. Eine Sozialarbeiterin aus dem Süden Europas vollbringt das Wunder und bringt die Trinkergemeinschaft dazu, dem Alkohol abzuschwören.
Die Nordstadt wird eine Domäne der Abstinenz. Die Ruhrtourismus GmbH verpasst wieder einmal die Chance, Schnäpschenangebote zu machen.

„Das ,U‘ nimmt weise Tauben auf“, flüstert der Seher in mein Ohr. „2012 wird die Taube wieder in den Turm einziehen und den Frieden auf Erden verkünden. In der Kathedrale finden regelmäßig Betstunden statt und der Papst hat für 2023 sein Kommen angekündigt. Ein Scheich aus Abu Dhabi kauft die umliegenden Bürogebäude und lässt sie abtragen.“

„Freie Sicht im Dunst!“ wird eine Bewegung, die sich jeden Montag vor der letzten Eckkneipe der Stadt versammelt, um gegen die Diskriminierung der Raucher zu demonstrieren.“

„Die Oper“, hebt er mit künstelnder Stimme an, „wird einen neuen Boom erleben. Der neue Intendant veranstaltet öffentliche Castings für Sängerinnen und Sänger und Orchestermitglieder. Das Publikum stimmt ebenso darüber ab, wer ein Engagement erhält, als auch wie die Opern besetzt werden. Die so entstandenen schlechten Inszenierungen werden bundesweit zu einem Renner. Ein neues Genre ist ein altes: Die Komische Oper.“

Denken!

„Eine Gruppe freier Künstler stellt ruhrgebietsweit Liegestühle auf (in Parks, auf Plätzen, auf Dächern und in den Einkaufszentren) und lädt zum öffentlichen Nachdenken ein. Die Bürgerinnen und Bürger machen davon Gebrauch und rufen die Ordnungshüter auf den Plan. „Öffentliches Denken“ sei nur erlaubt, wenn eine Genehmigung vorliege, heißt es. Die Ordnungsämter lehnen die Denkgenehmigungen ab. Die Politik solidarisiert sich mit den Denkenden. Während der Ratssitzungen tragen sie Maulkörbe, was stern-TV auf den Plan ruft.

Herne wird in Wanne-Eickel wieder Wanne-Eickel heißen und Bochum in Wattenscheid Wattenscheid, zumindest auf Autokennzeichen. In Gelsenkirchen wird das neue Rathaus, das alte Hans-Sachs-Haus, wieder eröffnet. OB Baranowski singt, begleitet von den Gelsenkirchener Probsteispatzen Georg Kreislers Lied von Gelsenkirchen und setzt sich damit über alle Bedenken des Rates hinweg.

„Schalke spielt nach wie vor mit Raúl, Dortmund mit Reus, Bochum mit Coladosen und Duisburg mit dem Ansehen.“

Der Seher wendet seinen Blick aus dem Fenster und sieht, wie der Flaneur kopfschüttelnd zur Straßenbahnhaltestelle läuft. Er nimmt noch einen Schluck Roten, zündet sich eine Havanna an, nimmt seine Fernbedienung und schaltet „Dinner for one“ ein. „The same procedure as last year? The same procedure as every year.”




Das Testament

Erinnern Sie sich an die Kulturhauptstadt?

Es ist erst ein Jahr her, als die letzten Veranstaltungen in den Schnee gesetzt wurden. Eitel Sonnenschein war es nicht, aber für viele Eingeborene im Tal der 53 Kommunen waren die Gipfel der Metropolenträume durch den seichten Nebel immerhin sichtbar. Die Leuchttürme blinkten Zuversicht. Man feierte und  pappte sich Buttons ans Revers, besetzte die A40 und schickte gelbe Luftballons ins All, die Kunde tun sollten von der Überwindung der post-industriellen Depression. Die Beauftragten standen an den Fenstern ihrer Verwaltungs-zentren und malten ein wolkiges „Wir“ an die angehauchten Scheiben.

Day of Song

Ein Jahr ist es erst her, das Ende des Jahres der Erbauung, der singenden Massen, der lokalen Helden, der Umarmungen von Vergangenheit mit der Gegenwart. Die Touristen kamen, um das Ruhrmärchen zu erleben. Jetzt kommen sie, um Spuren der Nachhaltigkeit zu entdecken. Sie kommen auch, um den BVB zu sehen oder zu hören, wie es klingt, wenn 50.000 „Raaauuul“ rufen.

Das Fell des Bären

Das Fell des abgehalfterten Ruhr-Bären ist ein paar Millionen wert und man machte sich daran, es zu verteilen, um wiederaufzunehmen und zu erhalten, was der Masse Spaß gemacht hat. Inzwischen ist klar, dass die Taube doch das Leittier der Region ist, da sie als einziges Wesen am Turm des Dortmunder „U“ würdevoll hinter den Verwaltungsgebäuden wacht. Das Gebäude musste Federn lassen, ist weder langfristig bezahlbar, noch wirklich mit aufregendem Inhalt gefüllt. Nicht Menschen hat das Jahr hervorgebracht, sondern
Gebäudeerinnerungen.

Erinnerungen an einen Auftritt

Veranstaltungssaal in Oer-ERkenschwick

7. Dezember vor einem Jahr. Draußen herrscht alpineske Stimmung. Blitzeis, Schneeverwehungen, unschuldige weiße Landschaften. Abends sind die Abschieds-veranstaltungen angekündigt. Ich fahre wie auf Kufen nach Oer-Erkenschwick, um mein Bühnenprogramm über das vergangene Kulturhaupt-stadtjahr zum Besten zu geben. Die Schulaula liegt ein wenig seitwärts des Zentrums. Fünf Zuschauer sind gekommen. Auf der Bühne steht auch ein Weihnachtsbaum. Ein paar Häuser weiter läuft ein Adventskonzert. An den Abschlussparty-Orten tobt der Abschiedsbär, hier machen wir uns einen schönen intimen Abend. Illusion und Wahrheit in Gleichzeitigkeit – Oer-Erkenschwick gegen Duisburg, Essen,Dortmund, Gelsenkirchen.

Der Clan der Erben

Man traf sich am Montag auf PACT Zollverein und es war, als gelte es, etwas zu eröffnen. Voll besetzt und fast alle haben ohne Zettel gesprochen, denn es ist alles ja schon zigmal gesagt worden. Dass der Aufsichtsratsvorsitzende Wulf Bernotat einen Zettel braucht, liegt
daran, dass Kunst und Kultur nicht seine Metiers sind. Ein launiger Pleitgen führt sicher im Wechsel mit Oliver Scheytt durch die Talkrunden. Als Ehemaliger kann man schon mal nachfragen. Jetzt werden sich also eine Reihe anderer um das Erbe kümmern. Ruhr2010 hat das Volk über ein paar Veranstaltungen mitgenommen und es hat sich gefreut. Jetzt geht die neue Familie gemeinsam in die Leuchttürme und schaut, wie das Land unter ihnen beleuchtet wird. Ohne Dunkelheit sieht man den Leuchtturm nicht.

Die Erben übernehmen den Staffelstab

Winkender Mann (c) dman

„Die Kultur Ruhr GmbH wird um die eigenständige Programmsäule „Künste im urbanen Raum“ erweitert, um die Zusammenarbeit von Kultureinrichtungen zu unterstützen und Exzellenz-projekte zu initiieren.“ So heißt es nun.  Erstmals wird der RVR, zusammen mit dem Land, ab 2012 eine programmatische „Kulturkonferenz Ruhr“ organisieren. Regionaldirektorin Karola Geiß-Netthöfel: Wir wollen, dass die Metropole Ruhr weiter so bunt, vielfältig und vital bleibt, wie sie es im Kulturhauptstadtjahr gewesen ist.“

Urbane Kunst – damit ist zunächst die Bildende gemeint, die nicht nur hier inzwischen zur freien Szene zählt wie fast alles – von Popmusik über Handtaschenherstellung  bis hin zu
Karnevalsveranstaltungen. Als frei  galt eine Zeitlang der, der unabhängig von Institutionen arbeitet, ohne Haus – nämlich genau im Gegensatz oder als Alternative zu jenen in den behördlichenTheatern.

Und man wünscht sich für die Zukunft einen interdisziplinären Dialog. Dieser Dialog ist sowas von überholt und längst keine Rede mehr wert – in der europäischen und internationalen Wildnis der Kunst.

KRITISIEREN OHNE ZU NÖRGELN – oder kreatives Nörgeln

Wir müssen also wieder abwarten, was sich entwickelt in den Zentren der Nachfolge. Wollen wir also nicht nörgeln, was ja schwer genug ist, aber als Kreativer kann man das ja eben kreativ tun.  Und immer an alles denken, bevor der Hammer rausgeholt wird.  „Man muss ein Gefühl für die Gesamtlandschaft entwickeln“, wurde gesagt. Dies geschieht bisher über Begriffe wie „Metropole“. Man muss sich nur oft genug „Ich liebe Dich“ sagen.
Irgendwann ist es dann soweit.

Lokale Helden sollen wieder leuchten

local hero (c) dman

Das Local-Hero-Projekt war ein ausgezeichneter Gedanke, der auch hier und da wunderbar funktionierte. So kann man Heimat kennenlernen und künstlerische und überhaupt kulturelle Statements abgeben. Aber dass manche Verwaltungsleute aus irgendwelchen Bereichen dafür als Beauftragte eingesetzt wurden, die sich hier und da bemühten, nicht entdeckt zu werden, zeigte, dass die Unternehmung mit der Nähe zu Kunst und Kultur zunächst nichts zu tun hatte. Kulturhauptstadt ist eben eine kulturpolitische Veranstaltung, deren Geist man nicht per Dekret an handelnde Personen vermitteln kann.  Jetzt will man sie wieder aus dem Schrank zerren, damit sie sich kümmern! Möge die Übung gelingen! Kraftschöpfung also aus der Dezentralität.

Der Markt

Eigentlich geht es um den Erfolg am Markt, wie fast überall heute. Die Exzellenzen werden es schon bringen. Es gibt Bereiche, da ist der Markt das Todesurteil für freies Tun und Denken, aber eine große Fläche für Manipulation – siehe die Gesundheitsindustrie, die uns jeden Tag neue Krankheiten verordnet. Aber schweifen wir nicht ab. Wir müssen uns halt nur vernetzen, dann tritt Wirkung ein.

Der Künstler soll sich vertreten lassen. Man wird in Netzwerke und Institutionen gedrängt. Der Funktionär ist maßgeblich. Der Vermittler, der Agent, der Vertreter ist wichtiger geworden als der Künstler selbst, aber vielleicht war das schon immer so. Und hier regt sich nur einer künstlich auf.




„Naked Lenz“ frei nach Büchner: Nackte Jungs im Badezuber

Ich bin fast verzweifelt. Mehr mit mir selbst als durch das Erlebnis im Theater am Abend. Ich hadere mit mir selbst und doch bin ich gleichzeitig aufgeregt – inwendig Getös‘. Das wird sich legen. Bin ich der einzige, der da flau hinausgeht? Bin ich zu alt? Habe ich einen schlechten Tag erwischt?

Okay, man muss im Theaterraum stehen, muss manchmal gehen, um am Ort des Geschehens zu sein oder zu bleiben. Das ist nicht bequem. Aber der Mensch soll gefordert werden angesichts der Kunst.

Naked Lenz. Studio Schauspiel Dortmund. Lenz? Das ist doch Büchner. Ja, aber egal. Wir sehen René Pollesch für Dramaturgen. Sorry, das ist mir so rausgerutscht. In der Mitte der Bühne, umgeben von festgeschnallten Birkenzweigen und –stämmen – eine kleine Bude, schmal, weiß und eng, aus der die Schauspieler flitzen und wieder hinein und wieder hinaus. Text wird verabreicht, reichlich und schnell. Was? Okay, das nächste! Ein muskulöser Schauspieler im Kleidchen auf Pumps, eine Blondine in silbrigem Einteiler aus Mars-Produktion. Es geht ums Schreiben. „Schreibst Du für Geld?“. Gleißendes Licht. Man trinkt Cuba libre und braucht Schirmchen, die in rasantem Hin und Her von einem Schauspieler herangeschleppt werden. Slapstick? Nein, Speedy Gonzales. Runter gepitschte Sounds, dumpf und bedrohlich, nicht erkennbare Videobilder.

Break. Der erste nackte im Birkenwald. Es wird geschrien, was der Verständlichkeit des Textes nur hilft, wenn man weiter weg steht und nichts sieht. „Ein merkwürdiges Netz aus Sexualität, Spionage, Drogen und Literatur“, heißt es im Programm. Cronenberg und Büchner, wild gemixt, Realitäten oder Illusionen? Ich weiß es auch nicht. Ich stehe in der Nähe des Plastikbadezubers, umringt von Handtüchern auf dem Boden. Im Raum steht das Warndreieck „Achtung! Rutschgefahr!“. Der Bademeister steigt auf die Leiter und brüllt in ein Megaphon. Fünf oder sechs Personen im knietiefen Wasser. Und dann soll alles synchron laufen! Megaphongebrüll und Spaß im Bad. „Die haben mal richtig auf die Kacke gehauen“, sagt ein Zuschauer hinterher. Wem es Spaß macht, bitte. Es passiert noch so allerlei. Es wird geraucht in einer kleinen Stehpartyrunde. Rauchen – politisch unkorrekt. Dart im Nebenraum per Video – Pfeile treffen Goethe ohne Gesicht.

Video. Zweimal Dichter solo – George B. mit seinem „Lenz“  und William Lee mit seinem „Naked Lunch“. Die beteiligten des Hauses drumherum haben Freude. Insider- und Probenerfahrungslacher. Und dann sind die Jungs endlich alle nackt und hauen auf die Kacke, sind zusammen im Stehpool, sonnen sich breitbeinig auf dem Boden. „Bald melde ich mich bei „Wetten, dass“ sagt eine Zuschauerin, „Ich erkenne die Schauspieler in Dortmund an ihren Pimmeln.“

Die nackten Jungs machen Jux, sondern Texte ab, die weder ablenken, noch illustrieren, sind aber doch sicher wichtig, oder? Aber da so, so viel los ist, kommt man mit dem Zuhören nicht recht nach. Und es darf nicht fehlen, dass verbal gefickt wird. Nichts Deftiges darf fehlen. So ist sie, die Gesellschaft. Die junge Frau im Silbereinteiler wechselt in ein klassisches Theaterkleid, setzt sich auf die Bar und hält ein kleines Eiscremeschirmchen hoch. Der nackte Dichter sitzt neben ihr und raucht. Und dann das Büchner-Zitat aus „Leonce und Lena“: „Was die Leute nicht Alles aus Langeweile treiben! Sie studieren aus Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben, verheiraten und vermehren sich aus Langeweile und sterben endlich an der Langeweile und – und alles mit den wichtigsten Gesichtern, ohne zu merken warum.“  Dunkelheit. Applaus. Stehende Ovationen – man steht ja ohnehin.

Der Großteil des Publikums ist offenbar sehr zufrieden. Ja, es wurde viel gearbeitet auf der Bühne. Schweiß, Tomatenblut am Arsch, Gebrüll, gebadet, gerannt, gefilmt. Ich fühle mich eher traurig. Wo ist mein Platz in der Gesellschaft? Muss ich den in meinem Alter noch finden, habe ich ihn längst verloren? Zu Hause wartet nicht einmal ein Hund, dem ich mein Leid klagen kann. Ich hab nicht verstanden, was man von mir will? Habe, ach, keine Theaterwissenschaft studiert. Bin auch vom vielen Schauen der letzten Jahrzehnte ausgeleiert. In „Leonce und Lena“ produziert König Peters ‚Denken‘ fortwährend Unsinn. Ich versuche hingegen, mein Hirn zu reinigen, schenke mir ein Glas Rotwein ein und schaue minutenlang auf einen Punkt.




Gegen die Wand – eine milde Brandrede

Muss alles erst in den USA ausbaldowert werden, kommerzialisiert oder erfunden werden, bevor es nach Europa schwappt? In der Popmusik war das so (Ausnahme: Beatles), in der Filmgeschichte sowieso, in der Mode ab und an, im Bereich political correctness bis zum Erbrechen. Endlich und sicher zu spät protestieren dort in den Zentren (wie immer, denn der Landmann will ein Cowboy sein) die Menschen gegen all das, was das soziale Gefüge in Gänze zu zerstören droht: Gegen das Finanzsystem. Man konnte auch sagen: Gegen kriminelle Dummheit und Angst der Entscheidungsträger in der Politik, die es sicher nicht mehr sind, aber meinen, es noch sein zu können if they still have guts.

Deutschland schläft und die, die Autos abfackeln, sind dumme Pappnasen. Hier liegt man am liebsten auf dem Sofa und meckert. Diese ganze geistkorrupte Bande, eine Melange aus Mainstreamern des Kapitalismus und Staatsträgern, sind ein Gräuel und wir merken es nicht – besser gesagt: wollen es nicht merken. Man kann ja nichts machen.

Nun wäre es ja der Lauf der Dinge, wenn diese Bewegung auf Europa abstrahlt und man sich hier mal traut, auf die oft zitierte Kacke zu hauen, die Börse besetzt, Bankkonten auflöst. Die Griechen protestieren in ihrem Interesse, die spanische Jugend wird endlich mal laut. Die Briten hauen Nachbars Garten kaputt. Wohin mit der Wut, mit der Ahnungslosigkeit, mit dem Gefühl, verarscht zu werden? Und hier geht es nicht um den niedlich als Wutbürger bezeichnen Mitmenschen. Vielleicht gibt es ja bald den Wutburger bei McDonalds, so wie alles schnell vermarktet wird. Hier geht es um eine fast globale Tendenz, die Gemeinschaft hinters Licht zuführen. Der virtuelle Finanzmarkt hat alle infiziert. Jede Stimme, doch vernünftig zu bleiben, schleimt durch die Polit-Talk-Shows. Hunderte von Experten erklären, warum es so ist, wie es ist und jeder erklärt es anders.

Derweil werden in Griechenland die Armen zu Bettlern, in Ungarn tobt der ungebremste Nationalismus, in Russland schmieren sich die Neureichen Goldstaub aufs Brot.

Vielleicht gibt es ja bald genügend Mutbürger, die Dinge machen, die nicht vernünftig sind.

 

(Foto: Bernd Berke)




Theater auf Feldforschung und im Verschnittversuch

Zwei kleine Theatererscheinungen der letzte Tage, ein „Stück“ und ein „Tanzstück“, in Dortmund und in Köln gezeigt, drängen zum Nachdenken über den Nachwuchs.

Beginnen wir in Köln. Auf der „Bühne der Kulturen“ sieht man „Aus Drei mach Eins“, ein Versuch, drei kleine Tanzstücke zu einem abendfüllenden zu verknoten. Es ist ein Versuch und als solcher wird er auch vermittelt. Die Reihe „Next Generation“ sagt uns, hier sieht man was, was noch Zeit braucht, aber kommen wird. Aus dem Solo „Kehrseite“ von und mit Annekatrin Kiesel, dem Duo „Human inside“ mit Cornelia Trümper und Arthur Schopa und dem Musik/Tanz-Duo „Subcontinenscious“ mit Photini Meletiadis und Laurenz Gemmer wurde ein Abend zusammengesetzt. Muss nicht sein, aber einen Versuch war es wert.

Die einzelnen Konzepte passen nur scheinbar zusammen, behindern sich aber eher, werfen Fragen auf, die nicht aufkommen sollten. Im Zentrum steht das fast autistische Verhältnis des Tänzers zu seiner Musik und dem Klavier, das eine zwanghafte Liaison mit der Bewegungskünstlerin eingeht. Da sieht man, welch ein minimalistischer, aber starker Abend es hätte sein können. So war es ein Tanzabend mit konventionellen Intermezzi. Immerhin.

In Dortmund zeigte das 99-Cent-Theater aus Bochum ein Gastspiel, das sich – in veränderten Konstellationen und Inhalten – durch das Ruhrgebiet zieht, mal erarbeitet nach Beobachtungen in Essen, mal in Duisburg. Hier im Theater im Depot bietet die junge Truppe ihre „Eintagsfliegen“, einer von ihnen so genannten Feldforschung folgend. Diese Feldforschungsserien sind eine Modeerscheinung. Man hat sich am Dortmunder Flughafen aufgehalten. Die Beobachtungen dort sind nun als Konzentrat auf der Bühne zu besichtigen. Da  sieht man Stuhlsitzgruppen, einen Koffer, eine Erdkugel, die von der Decke hängt. Drei Akteure kommen und gehen, dann wird Text abgesondert, nicht viel, aber passgenau. Zugegeben, die Texte von Elisa Müller (über das Fliegen an sich) haben eine naiv-schöne Färbung.

Ansonsten ist das alles sehr dünn. Knappe 40 Minuten dauert der Abend. Inhalt für gerade mal fünf Minuten kann man nicht länger ziehen. Das war schon hörgerecht. Warum man Mikros für die kleinen Ergebnisse großer Forschung benutzt, könnte dem Verfremdungseffekt geschuldet sein, ist aber eher befremdlich. Auch hier ein Versuch, der allerdings die Bühnengröße von ca. 12 mal 8 Metern nicht schafft, nicht in 40 Minuten, nicht so dünn angewärmt.




Dortmunder Saufraum – Never ending story

Jetzt will die Dortmunder Verwaltung den Saufraum, der tatsächlich so genannt wird, in einer ehemaligen Kneipe unterbringen. Besser geht’s wirklich nicht. Das kann man nicht erfinden. Gag-Schreiber würden damit vom Hof gejagt. Das zeigt wieder einmal, dass die Wirklichkeit die besten Zoten bietet. Im ehemaligen „Gypsy‘s“ noch dazu. Ich schlage vor, den Namen beizubehalten. Das wirft wenigstens ein paar Klischees durcheinander. „Schluckspechte beim Zigeuner“ – ein schöner BILD-Titel.

Aber inzwischen beschleicht mich die Vermutung, es handele sich hier um den einzigen und wirkungsvollen Schabernack, die sich eine Kommune leistet. Der „Saufraum“ ist eine Erfindung und wird zu einem Kunstprojekt. Ob da Jochen Gerz seine Finger im Spiel hat? Vielleicht gibt es dafür schon Besucherschulen. Kann sein, dass der Saufraum Schule macht – vom Bezirkssaufraum, über den regionalen zum Landes- und Bundessaufraum. Hier sind Witze jeglicher Art wegzulassen.

Es gibt sie schon fast zwei Jahre: die Saufraum-Diskussion in Dortmund. In der Nordstadt soll der öffentliche Trinker aus dem Straßenbild verschwinden und sich, zusammen mit Kumpanen, in einem Raum treffen, wo der unkontrollierbare Alkoholkonsum zumindest unter Beobachtung steht, von Fachpersonal, nicht von Kindern. Der Grüne Ordnungsdezernent, Herr Seitz, will ihn immer noch durchsetzen und die SPD findet das humorfrei immer noch fies.

Der Begriff „Saufraum“ ist mir nicht subtil genug. Er stammt von den Erfindern in Kiel. Hier im Ruhrgebiet gibt es doch das schöne Wort „Trinkhalle“. Man könnte auch „Raum zur Einnahme von Flüssigkeiten mit alkoholischem Gehalt“ sagen. Das hat was Wissenschaftliches. Der Saufraum könnte eine Humorinitiative der Stadt, ja, der ganzen Region sein. „Im Pott im Saufraum saufen!“ Dazu käme dann mittwochs der DJ der Blaukreuzler und hätte seine Dubliners-Plattensammlung dabei. Singen soll helfen und ist für manche ernüchternd.

Überhaupt sammelt der Mensch, nicht nur der Deutsche, bestimmte Gruppen in Kasernen, seien es Tiere in Zoos, vermeintlich Bekloppte in Klapsen, Kinder in Gärten und Erholende in Erholungspark, warum also nicht Trinker in einem Saufraum oder Raufer in einem Raufraum. Das hielte die Straßen sicherer und sauberer und man könnte hingehen und sagen: „Schau da, die Säufer!“ Gehört die mitgeführte Bierflasche nicht schon zum traditionellen Bild des Ruhrgebietlers? Öffentliches Trinken findet vor, bei und nach jedem Fußballspiel statt, bei allen Schützenfesten und sicher auch allen Hochzeiten und Beerdigungen. Zaun drum und der mobile Saufraum ist fertig.

Wenn man das gesellschaftliche Problem des Abdriftens nicht in den Griff bekommen kann und wird, sollten wir es dann nicht hinnehmen müssen, dass die Welt des Menschen ist wie sie ist? Ich will auch nicht, dass man mir vor die Tür kotzt oder dass ein Trunkenbold mir den Grünen Tee wegbolzt.

Seven drunken nights (The Dubliners)

As I went home on Monday night as drunk as drunk could be

I saw a horse outside the door where my old horse should be

Well, I called me wife and I said to her: Will you kindly tell to me

Who owns that horse outside the door where my old horse should be?

Ah, you’re drunk, you’re drunk you silly old fool, still you can not see…




„Heiligtümer“ in Europa – Performance-Reise geht zu Ende

Aus Litauen, Polen, Malta und der Türkei kommen die Partner von der Dortmunder Gruppe artscenico e.V. Gemeinsam führen sie bis Ende 2011 das Performance Projekt „SANCTUARY“ durch, das mit Mitteln der EU-Kulturförderung finanziert wird. Bereits zum zweiten Mal konnte die Dortmunder Künstlergruppe die Jury der EU mit einem schlüssigen und innovativen Konzept überzeugen. Insgesamt 108 Projekte werden von der EU mitfinanziert, 6 davon aus Deutschland, eins davon aus Dortmund.

Kein Wasser runterschütten

Nach der Ruhr2010-Produktion „Kein Wasser runterschütten“ in Essen, folgte Malta als Station der Recherche um Schutzräume und Heiligtümer. „Die Malteser sind anders“, hört man dauernd. Die Insel selbst ist ein Schutzraum, zu dem auch zahlreiche Afrikaner fliehen. Direkt gegenüber liegt Libyen. artscenico versucht, den Atem der Insel zu begreifen, veranstaltet Workshops, zu denen kaum jemand kommt, dreht einen Kurzfilm über Hasen und Tänzerinnen und wird am Ende mit neuen Erkenntnissen abreisen.

Das fasst Kameramann Frank Mählen eigenwillig in etwa so zusammen: „Die meisten Touristen auf der Insel sind Briten. Sie sagen: Malta ist wie England, nur in warm. Sie sind äußerlich leicht zu erkennen, denn sie bräunen ihren Körper so wie sie ihre Steaks braten: Medium. Kopf und Schultern krebsrot, der Rest weiß wie die Kreidefelsen von Dover… Da Malta mal zu England gehörte, fahren die Autos hier links. Das ist zum Teil lustig. Du steigst zum ersten Mal hier in ein Auto und stellst fest, he, der hat gar kein Lenkrad! Weniger lustig ist es wenn man versucht die Straße zu überqueren. Man blickt, wie man es in der Schule gelernt hat, zuerst nach links. Dann setzt man einen Fuß auf die Straße, blickt nach rechts, und schafft es gerade noch lebend zurück auf den Bürgersteig. Der Bus kam von rechts! Mittlerweile bin ich so verunsichert, dass ich beim Überqueren einer Straße leicht mit einem „Wackeldackel“ verwechselt werden könnte. Da mein Gehirn einfach nicht begreift woher die Autos kommen schaue ich einfach permanent in alle Richtungen!“

Litauischer Wald

Wald in Birstonas/Litauen

Im Mai hat artscenico das Projekt “Sanctuary Litauen” zu einem einmaligen Erlebnis machen dürfen. Die Künstlerinnen und Künstler lebten im Wald, in einem Hotel, das sie zu ihrem Aufwärmnest gemacht haben. Sie haben Wald und Wiesen erkundet, auf Dächern und in abgestürzten Gängen gedreht. Sie haben in ehemaligen Kantinen, in leer stehenden Holzhäusern, auf Hügeln, in Erdlöchern und auf Bäumen geprobt. Am Ende sahen 300 Zuschauer aus dem Dorf Birstonas die Performances.

Lodz ist schön

“Sanctuary” in Lodz (Polen) war ein aufregendes Erlebnis, eine kreative Mischung aus „wirklichem Leben“ und künstlerischen Interventionen. Die Partnerinstitution, die Academy for Human Economics und das the Patio Art Center, haben mit Künstlern aus ganz Polen eine Ausstellung vorbereitet und durchgeführt. Zusammen mit Tanzstudenten wurden Try-outs, Proben und letztlich Performances entwickelt.

performance in Lodz (Margarita Nagel)

Die Premiere im Patio Art Center bestand aus Ausstellung und Performance in einem einmaligen Wechselspiel, synergetisch und inspirierend, für Künstler und Publikum gleichermaßen.

Lodz hat ein ähnliches Schicksal hinter sich wie das Ruhrgebiet. Hier dominierte die Textilindustrie. Der Ort ist seit langem in einem Prozess des Strukturwandels. Viele ehemalige Industriegebäude beherbergen heute Kunst.

Andere Seiten der Medaillen – Reise in die Türkei

Wenn man seine  Klischee-Bilder auf Reisen mitschleppt, muss man für Übergewicht nichts bezahlen. Kommt man mit weniger Gewicht zurück, klärt das den Blick und der Platz ist frei für Erkenntnisgewinn. Der Verein artscenico setzt sein Projekt fort, fährt nach Ören in die Südtürkei und erlebt eine Gruppe von Menschen, für die Gemeinschaft so selbstverständlich ist wie die Gurke im Cacik.

Basar in Ören

Vorbei an einer Anlage, die am Fuße der Berge liegt und anmutet wie die Kokerei Zollverein, über Serpentinen und schwach beleuchteten Landstraßen, weist ein Schild auf das Hotel hin, das eigens für das Projekt „Sanctuary“ von der türkischen Partnerorganisation „Happy Kids“ aus Ankara angemietet wurde. Dass es direkt am Meer liegt, erlebt man erst am Morgen. Der „heilige Ort des Rückzugs“ hat Fühlnähe zum Wasser. Letzte Reste des Buffets, Kellner, die jeden Augenblick einzuschlafen drohen und Zimmertemperaturen von über vierzig Grad – keine guten Startbedingungen für ein soziales Kunstprojekt.

Sie erleben dann über zwanzig türkische Teilnehmer der Expedition in interdisziplinäre Bereiche der darstellenden Kunst aus Ankara, Istanbul, Antalya, Izmir und anderen Orten. Menschen zwischen zehn und sechzig, Angestellte, Manager, Ärzte, Studenten, Schülerinnen, Behinderte, Filmemacher, Sozialarbeiter – sie bilden eine Gemeinschaft und das Wort „Arkadas“ (Freund) hört man oft. Das beste Englisch sprechen die Kinder, andere bemühen sich, uns ein paar türkische Worte beizubringen.

Publikum zur Performance am Meer in Ören

Auf einem Berg versammeln sich die Sanctuary-Teilnehmer zu einem Mahl mit Talblick. Die aus dem Hotel mit einem alten Chevrolet-Pickup angelieferten Kellner grillen und bereiten vor. Ein Esel wandert durchs hyper-idyllische Bild, Kühe und Bullen werden vorbei getrieben, schwarze Ziegen schauen beim Grillen zu. Ein kleiner, alter Mann aus dem Dorf wird auf einen Stuhl gesetzt. Er ist fast blind. Kinder eilen herbei, um ihm zuzuhören. Er erzählt von sich und seinem Erblinden. Die Eselbesitzerin gesellt sich dazu. Ein anderer Dorfalter holt ein paar Dokumente und zeigt sie Ali, dem Leiter der türkischen Gruppe. Er ist Rechtsanwalt. Beide sitzen sie auf dem Dach der Wasserstelle – Rechtsbeistand unter Olivenbäumen. Oh my God!

Meer-Performance

Freitagnacht findet auf der Bühne am Strand des Ortes Ören eine Vorstellung statt. Gedichte von Hikmet werden deklamiert und gesungen. Das Publikum kennt die Texte. artscenico zeigt kurze Tanzfilme. Die Performance unter Beteiligung von Einheimischen, Urlaubern und der Gruppe um Ali beginnt im Meer, endet auf der Bühne – künstlerisches Neuland aus dem Ruhrgebiet. Bis um vier Uhr morgens wird darüber diskutiert, während ein paar Meter weiter das Meer seine Geräusche hinzufügt und der volle Mond das Licht.




Völlerei

Völlerei ist eine der Todsünden.

Ich will mich vollsaugen jeden Tag. Bis ich nicht mehr kann.
Ich will morgens das Zwitschern der Vögel aufsaugen.
Ich will die Sonnenstrahlen wie Goldstaub auf meine Haut legen.
Ich will das kostbarste Frühstück einnehmen, ein Ei, dessen Eigelb das Gelb überhaupt ist, das Gelb der Sonne. Ich will die teuerste Marmelade aller Zeiten auf das edelste Brot streichen.
Jeder Ton, den mir die Natur schickt, will ich in feinsten Nuancen erkennen und verinnerlichen.
Ich will das Wetter als meinen Freund bezeichnen, wie immer es auch spielt.
Der Regen soll so weich an mir herunter tropfen, ohne dass er den Klang verliert.
Ich will die kühnsten Leckereien über meine Lippen schieben, hinunterschlucken und verdauen. Das Verdauen soll in einem Wohlgefühl stattfinden, wie es nur das Verdauen hervorbringen kann.

Ich will ein Gemälde in mich aufsaugen, das so schön ist, dass es mich betört bis zur Taumelei. Ich will mich an ein Kunstwerk anlehnen, dessen Ausstrahlung Glücklichsein bedeutet. An einem Theaterabend will ich die betörende Schauspielerin und den königlichen Schauspieler in meiner Nähe haben und spüren, wie das Atmen das der gespielten Charaktere ist. Ich will in der Oper sitzen und wahnsinnig werden – für einen Augenblick.

Das Abendessen soll mich in einen Zustand versetzen, der für die meisten unerreichbar ist. Die Soße soll mir aus den Mundwinkeln laufen und auf den Teller zurück tropfen, wo sie von Dir mit den Fingern abgewischt wird, um diese in den Mund zu schieben, so dass die Soße ein zweites Mal den Gaumen trifft.

All das will ich, will der totalen, allumfassenden Völlerei ergeben sein.

(aus meinem Text „Bratkartoffeln mit Speck – Erinnerung an Ernährung“)




„Extraschicht“ goes anywhere

Es ist wirklich ein ureigenes Ruhrgebietsereignis, was weltweit bekannt sein könnte, ein Magnet für Wochenend-Tourismus und Städtereisende. Es ist eine einmalige Landschaft, die man – ausgerüstet mit Rucksack und Imbiss – erforschen kann, wenn man sie denn nicht schon kennt. Der Auswärtige staunt über die vielen „Spielorte“, die post-industriellen Nutzungen ehemaliger Klischeeträger, Zechen, Stahlwerke, Rost. Man fährt kostenlos durch die Gegend in Extra-Extraschicht-Bussen und merkt nicht, wie unsagbar schlecht der Öffentliche Nahverkehr in dieser Region unumkehrbar festgeschrieben ist. Plan in der einen, Mann, Frau oder Kind an der anderen Hand geht man auf Erkundungsreise. Und dann noch bei gutem Wetter! „Unvergesslich“, sagt die Frau aus Koblenz. „Ich kann bei meiner Cousine in Essen übernachten.“

Fragen Sie fern der Heimat mal in einem Reisebüro nach einem Extraschicht-Paket. Sie werden enttäuscht sein. Im Internet finden sie sowas bei „Tour de Ruhr“ und anderen Plattformen. Laut Ruhr Tourismus sind Angebote seit 2010 in allen TUI-Büros buchbar. Wirklich? Wie dem auch sei, es ist ein Highlight des Jahres, das im Jahr der Kulturhauptstadt nochmal ausgeweitet wurde, zum Beispiel durch Hinzunahme des Signal-Iduna-Parks. Ob das sein muss und in die Reihe passt, sei dahingestellt. Es war brechend voll. Vor allem Nichtfußballfans waren neugierig.

Aber – wie das so ist mit erfolgreichen Veranstaltungen – sie leiern irgendwann aus. Es läuft ja, warum sollte man was ändern? Never change the winning team! Die Orte machen ihr Programm – von irischen Balladen über Flamenco bis hin zu den inzwischen unvermeidlichen Beleuchtungen der alten Gemäuer in rot, blau und grün – sieht immer gut aus. Hat die Kommune Geld dafür im Säckel, gibt’s am Ende noch ein Feuerwerk. Ein paar Hauptorte, früher „Drehscheiben“ genannt, werden speziell mit Künstlern und Aktionen bestückt. Dazu gehören in der Regel große Open-Air Spektakel, importiert aus Frankreich oder Spanien. Überall ist was los – bis in den früher Morgen.

Cello im Stadiongefängnis (Anna Reitmeier) Extraschicht 2010

Bis 2010 hat lange Jahre das Büro Erich Auch die speziellen Orte mit künstlerischen Darbietungen bestückt. Da gab es teilweise wunderbare Ideen und Abenteuer, vor allem waren es hin und wieder Vorstellungen und Aktionen, die nur für diesen Ort, nur für diese Nacht konzipiert und umgesetzt wurden. Der Ort wurde nicht als pure Kulisse genutzt, sondern war Ausgangspunkt für eine künstlerische Idee, naturgemäß auf großes Publikum ausgerichtet. Da hat die Tanz- und Akrobatengruppe um Gabi Koch in Hattingen die Heinrichshütte in einem anderen Licht erscheinen lassen, als Zirkusarena und Ort der Illusion. Da hat artscenico in Dortmund auf Phoenix-West die sinnbildliche Unschuld von Bräuten in Weiß, Tänzerinnen und Tänzer, dem ehemaligen Stahlwerk entgegengesetzt. Das sind nur Beispiele, aber diese zeigten, was selbst aus der Region geschaffen werden kann – ortsspezifische Spezialitäten zur Extraschicht. Davon gab es zu wenige.

Jetzt, scheint es, sind sie fast gänzlich verschwunden. Zudem sind die Programmvielfalt und die Anzahl der Veranstaltungen derart hoch, dass man sie in einem Programmheft nicht mehr darstellen kann. Das Büro Auch gibt es nicht mehr. Wer hat die Extraschicht in diesem Jahr künstlerisch bestückt? Öffentlich ist dies nicht. Oder wurde alles vom Tourismusbüro organsiert? Das würde einiges erklären. Kaum was Neues, verwirrende Angaben, Künstler, die man nicht findet.

Tanz im Erzbunker Gelsenkirchen (Emily Welther) Extraschicht 2010

Die Extraschicht braucht einen neuen Kick! Sie kann es sich leisten, die Marke ist eingeführt und darf nicht dazu führen, dass Langeweile aufkommt, dass man mehr Zeit in überfüllten Bussen verbringt als an den Orten, die man eigentlich besuchen will. Man muss diese Großveranstaltungen nicht mögen, aber es ist eine der wenigen, die sich direkt und eng mit dem Ruhrgebiet und seiner Geschichte beschäftigen. Vielleicht ist etwas weniger mehr, bestimmt aber sollte man nicht einfach Events platzieren, sondern überlegt, originell und künstlerisch vertretbar mutigere Auswahl treffen.

Fotos: Dman




Ich bin Raucher und Querulant!

Ich bin empört! Da saust mir der unsägliche Begriff „Wutbürger“ um die Ohren. Aber eins nach dem anderen.

Der Gesundheitsterror geht weiter. Wir werden reguliert! Alles, was krank macht, wird ausgelöscht. Die Grüne Partei entwickelt sich weiter zur Weltrettungsvereinigung, deren einziges Ziel es ist, die Selbstbestimmung des Menschen zu reduzieren, die Freiheit weiter runterzuregeln. Und das alles unter dem Mantel der Gesundheit und der Umwelt. Gesund – was ist das? Rein und sauber? Was macht krank? Alles, wenn man täglich Zeitung liest oder andere Medien verfolgt. Essen ist ungesund, trinken sowieso, atmen gar, je nachdem wo wir uns befinden und welche Verunreinigungen gerade unterwegs sind. In den USA gibt es Orte, da werden junge Leute ins Gefängnis gesteckt, weil sie auf der Straße geraucht haben. Das ist die dortige Sheriffs-Gesetzeslage.

In NRW will man jetzt wieder die Stigmatisierung der Raucher vorantreiben. Ich bin Raucher, aber selbst als Nichtraucher hätte ich Schaum vor dem Mund. Wer wird denn da geschützt? Wen schützt man, wenn derjenige oder diejenigen nicht geschützt werden will? Warum, zum Teufel, sollen separate Räume verboten werden, in denen geraucht werden darf? Das ist Kriminalisierung auf perfidestem Niveau. Ich weiß, dass ich hier einfach nur meine Wut ausdrücken kann. Bin ja der Wutbürger.Das Rauchen wird auf eine Stufe gestellt mit Heroin.

Den Menschen muss man offenbar vor sich selber schützen. Ich finde, dass auch das Händewaschen in öffentlichen Gebäuden zur Pflicht werden muss! Kameras in die WCs!

Die Zigarette ist das Übel unserer Gesellschaft. Das habe ich längst verstanden. Schon seit langem gehe ich kaum noch aus, im Sommer ja, im Winter fast gar nicht mehr, weil ich mich nicht wie ein Hund vor eine Tür stellen will, um zu rauchen. Erstens, weil ich es gerne tue und zweitens, weil ich süchtig bin, also eigentlich krank. Aber es ist mein Bier (!), ob ich damit umgehe, wann und wie ich aufhöre und wer mir dabei hilft.

Sollte ich jemanden zufällig anpusten mit meinem blauen Dunst, dann werde ich eines nahen Tages verhaftet wegen Körperverletzung. Wenn mir allerdings jemand in die Fresse haut, mir eine Flasche auf den Kopf haut, oder gar nur solches androht, dem muss ich beweisen, dass er es getan hat. Wenn ich die Polizei anrufe, weil ich mich bedroht fühle, dann muss erst eine Körperverletzung passieren, bevor jemand kommt. Wenn ich rauche, bin ich schon schuldig.

Aber eigentlich ist es noch perfider. Der Betreiber der Gastronomie oder ähnlicher Läden verbietet das Rauchen und alle halten sich dran, weil sie alle Angst haben vor Denunziation. Jemand könnte den Wirt anzeigen. Militante Nichtraucher beharren auf ihrem Recht und setzen sich mitten in Raucherbereiche. Damit beschäftigen sich einige, die meinen, Gesundheit fordern zu müssen. In Wirklichkeit ist es die Gehässigkeit des kleinen Bürgers, der endlich etwas hat, worauf er öffentlich besteht und niemand wird ihm wiedersprechen, denn es ist politisch korrekt, Raucher zu beschimpfen.

Alle Medien fahren auf diesem Boot. Rauchverbote werden gefeiert. Da ist man sich, mit ein paar Ausnahmen von unaufgeregten Zeitgenossen, einig.

In den USA kauft man sich eine Waffe. Das gehört sich geradezu so, weil man ja sein Eigentum schützen muss. Der vermeidlich Böse betritt den Garten und er wird abgeballert. Das ist korrekt. Der Raucher wird verhaftet oder ausgeschlossen.

Das klingt alles nach „Säuberung“. Das Land soll von Dingen befreit werden, die die Volksgesundheit beeinflussen, negativ natürlich. Genussmittel ist die Möhre. Es sei denn, die Möhre ist plötzlich gefährlich, weil sie von Bakterien gekapert wurde.Nun ist die Möhre keine Zigarette. Sie stört niemanden, dampft nicht.

Ich will hier nicht über die Auswirkungen von Alkohol reden, über die Toten durch Totschlag, über die Entzugskosten, über die Wohnzimmerschlägereien und Vergiftungen. Ich bin gegen ein Verbot von Alkohol. Man weiß ja, was dabei herauskommt.
Schon lange wird versucht, über den Preis die bösen Sachen unzugänglicher zu machen, aber für wen? Doch nur für die, die man sowieso zum unteren Drittel zählt. Diejenigen, die nix haben, sollen sich gefälligst keine Süchte oder Genüsse leisten. Das ist klar. Hab ich genügend Kohle, kann ich mir den Koks auch leisten. Die arme Sau soll eben irgendwo einbrechen, um an das Zeugs zu kommen.

Sowieso soll der Mensch in der unteren Klasse sich bescheiden, in jeder Hinsicht. Das Argument, der „Hartzler“ würde sein Geld für Alkohol und Zigaretten ausgeben, deshalb solle er nicht mehr erhalten, zieht immer. Da schreit das Volk: Genau! Aber das Zeugs wird halt teurer. Gut, nicht der Alkohol, außer man nimmt ihn in Gastronomien ein, aber der Tabak. Ganz Europa zieht mit, übernimmt diese Unmündigmachung des Bürgers. In Litauen denkt man darüber nach, Alkohol in Restaurants nur bis 22.00 auszuschenken. Eine wunderbare Idee. Ich war oft genug in Großbritannien und erinnere mich an die Massentorkeleien in den Straßen mit vielen Pubs. Kurz nach 23.00 war Schluss mit lustig. Kurz vorher gibt’s reihenweise Sturztrünke und auf den Straßen kotzt der Bär. Im Urlaub konnte man sehen, dass die Engländer mit der verlängerten Sperrstunde überfordert sind. Sie saufen ab 22.00 schneller und enden im Koma. Aber ich schweife ab.

Der Verbot von Genuss und mag er noch so ungesund sein, führt zu Verlust. Die Nichtraucher haben jetzt längst Schaum vor dem Mund. Wischt ihn Euch ab, Zeitgenossen, bleibt gelassen! Ihr könnt überall auf dieser Welt nichtrauchen. Überall.  Von mir aus könnt Ihr Euch organisieren, demonstrieren, kollektiv aufregen! Aber vielleicht muss man den Raucher öffentlich deutlicher erkennen. Da machen bestimmt die Krankenkassen mit. Hallo Grüne und andere Gesundheitsbewegte: Wie wär‘s mit Kennzeichnung? Schwarze Bändchen am Handgelenk zum Beispiel, aber unabkriegbar. Sie bleiben bis man den Nachweis des Nichtrauchens erbracht hat. Ansonsten: Raucher raus! Kauft nicht bei Rauchern! Enteignet die Raucher! Keine Wohnungen mehr für Raucher!

Kommt mir so bekannt vor. Dazu kommen Warn-Schilder, die an Lokale angebracht werden, in denen man Raucher erwischt hat. „In diesem Lokal wurde geraucht!“ Wirte und Veranstalter werden per Verordnung zu Gesundheitshütern. Die Gesundheitspolizei wird eingeführt. Da bin ich sicher. Sie wird nicht so heißen, aber sie wird Jagd machen auf Ungesunde. Halali!

Blödsinnige Verbote, Einengungen, Maßregelungen haben mich schon immer gestört. Ich habe die Hippie-Zeit sozusagen aktiv mitgemacht und erinnere mich an Rauswürfe und Stigmatisierung, weil man lange Haare hatte. Das galt als ungesund, also ästhetisch ungesund.
Ich bin so bekloppt, dass ich, seitdem es das Rauchverbot gibt, das Gefühl habe, genau deswegen weiter und gar mehr zu rauchen und dies zu demonstrieren.

Hätte ich einen Arbeitsplatz in einem geschlossenen Raum ohne rauchen zu können, ich wäre ein Versager. „Wo ist der denn schon wieder?“ „Rauchen.“ Das will ich nicht.  Wenn ich an einem Problem sitze, wenn ich mich kreativ ereifere, dann muss ich rauchen. Aber wie ich höre, soll das ja in Gefängnissen weiter möglich sein, das Rauchen, auch in psychiatrischen Kliniken.
Da sitzen eh die, die wir nicht brauchen.

Im Fernsehen rauchen, mit Ausnahmen, nur noch die Bösen in den Krimis. Der Rest ist sauber. Vorbildfunktion nennt man das. So langsam wird der Raucher auch aus der Kunst verschwinden. Fast immer, wenn der Fotojournalist kommt, sagt er: „Können Sie die Zigarette ausmachen?“ „Nö.“

Also: klar ist, ich huste hin und wieder und es ist mir peinlich. „Man erkennt mich schon am Husten“, wird gesagt. Ich weiß das. Im Theater huste ich weniger als andere. Das ist Disziplin, angelernt. Meine Kondition ist sozusagen nicht vorhanden, allerdings auch, da ich keinerlei sportlicher Betätigung nachgehe, nie nachgegangen bin. Mein Geschmackssinn ist vielleicht nicht der, den ich mir wünsche. Vielleicht hat er gelitten wie der Geruchssinn. Ich hoffe, damit niemanden zu schaden. Die eine oder andere Krankheit, mit der ich mich herumschleppe, hat eventuell mit dem Rauchen zu tun, verbessert zumindest nicht die Situation. In meinem Auto stinkt es nach Zigaretten, wie überhaupt kalter Rauch, Tabakreste, volle Aschenbecher keinen angenehmen Geruch verbreiten. Meine Freundin raucht leider auch, so dass wir uns gegenseitig keinen Raucheratem vorwerfen können. Nichtraucher haben sicher keine Mühe, sich meinem Atem zu entziehen. Meine Haut ist nicht von glatter, zarter Oberfläche gezeichnet. Schon immer. Ich finde es albern, sich eine Zigarette anzustecken, sobald man ein Gebäude verlässt. Ich mache das ab und zu. Auch, während ich durch einen Wald laufe, muss ich nicht rauchen. Er könnte ja in Flammen aufgehen. Nichtraucher-Hotels meide ich oder ich rauche, weil ich dafür zahle, übernachten zu können. Kommen sie sich besonders sauber vor? Clean? „Ich bin clean“, kann an auch als ehemaliger Raucher sagen, obwohl man ja immer einer bleibt – wie beim Alkohol der Alkoholiker. Man ist also gezeichnet als Süchtiger. Reicht das nicht?

Ist mangelnde Bildung nicht auch gesundheitsgefährdend? In ihren Konsequenzen? Vielleicht habe ich das Rauchen angefangen mangels Erkenntnis, mangels Bildung also? Dann bin ich eben – der Doofheit verfallen – in diesen Strudel gelangt?




Der verzerrte Spiegel

Ich konnte es noch nie leiden, wenn zum Kabarett Sekt gereicht wird und dies ohne Ironie. Aber offenbar wird dies weiterhin an die kommenden Generationen weitergereicht. Man braucht eine Ausstellung, einige Redner und Sekt. Manchmal trägt noch ein Künstler was vor, vorzugsweise Musik. Ein Ritual. Wenn es dann noch kleine Schnittchen gibt, stimmt alles. Im Ruhrgebiet werden zahlreiche Ausstellungen und all das eröffnet, was eine Eröffnung braucht – wie anderswo in der Republik auch. In Polen gab es allerdings warmen Weißwein und Wodka, in der Slowakei süßen Likör und in Tallinn Orangensaft mit Keks. Aber ich schweife ab.

Vor dem Dortmunder „U“ steht wieder das Spiegelzelt, das beim Festival RuhrHOCHdeutsch fast alles im Programm hat, worüber in Deutschland gelacht wird. Vom Düsseldorfer Kom(m)ödchen über die Bullemänner, Frank Goosen und Dr. Stratmann, bis hin zur legendären Münchener Lach- und Schießgesellschaft, die ich als junger Mensch damals immer im Fernsehen verfolgen konnte. Schon damals war klar, dass Kabarett nur wirkt, wenn es etabliert ist, wenn unten im Publikum die sitzen, die auf der Bühne kritisiert oder veräppelt werden. Daran hat sich nichts geändert, ob lokal oder national. Dass heute Comedian und Kabarettist in einen Raum gesteckt werden, ist der Vielfalt geschuldet, die überall politisch korrekt ist. Und über die tatsächliche Haltung der Vortragenden kann sich der Zuschauer live ein Bild machen, wenn er dem Zuhören zuneigt.

Gleichzeitig mit der Eröffnung des atmosphärischen Spiegelzeltes wird eine Ausstellung eröffnet: 110 Jahre Kabarett. Gezeigt werden allerdings nur Tafeln aus dem Besitz des Kabarett-Archivs in Mainz aus dem Zeitraum 20er bis 40er Jahre des letzten Jahrhunderts, aus einer Zeit also, wo sich das Kabarett von Tingeltangel bis zum lebensbedrohlichen Bühnenvortrag ausbreitete. Das politische Kabarett war ein Ort des Widerstandes, der subtilen Wahrheitsvermittlung. Diese Zeiten sind Gott sei Dank vorbei – zumindest hier in Alemannia. Heute ist das Lachen kein befreiendes, sondern eher ein Mittel zur Gesundheitsförderung. Also schauen wir die Exponate an und warten auf Fröhlichkeit.

Die Betrachter halten ihr Sektglas zwischen den Fingern, auf der Bühne wird die Schönheit der Stadt Dortmund beschworen, der Veranstalter entpackt ein bei Ebay ersteigertes altes Kofferradio, was die Versammelten mit einem gemeinsamen „Oh“ quittieren. Und später wird mit dem Abendprogramm gewartet, bis die Ratssitzung zu Ende ist, damit die heimische Politik an der gemeinsamen Fröhlichkeit teilnehmen kann. Die Gags brauchen zur Bestätigung von Wirkung öffentlichen Raum und wenn gelacht wird, dann haut man sich vertraulich auf die Schultern.
Wie sagt noch der Vertreter der hiesigen Sparkasse über das Kabarett oder Cabaret (na ja): „Hier und da wird gar politisch argumentiert.“ Da muss man durch.

Zwischen Kabarett und Zeltminiaturen

Es gab schon immer Blödelbarden, überhaupt wunderbare Blödelei. Das braucht der Mensch, sonst verbittert er. Für die ernsteren lustigen Vorgänge war das Kabarett im Keller zuständig, in den alternativen Sälen der Städte. Heute ist die demokratische Gesellschaft lange schon im Konsens darüber, dass der Quatsch, die Comedy und auch das Kabarett zur Grundversorgung gehören und keinerlei ernsthafte Wirkung mehr haben, außer der, weitere Nachahmer zu finden, damit uns das Lachen nicht vergeht. Fast alles ist ja gut und man wird sehen, welche Nuancen die Programme bieten. Wie gesagt – mich stört nur der Sekt und das Gehabe. Aber das ist mein Problem, wenn ich mich den gängigen Ritualen entziehe. Der Kellerraum, in den ich zum Lachen verschwinde, ist mit Plüsch ausgelegt.

U am Zelt

Eine Eröffnung ganz anderer Art wird am Stadtgarten in Dortmund begangen: 100 Zelte – Kunst – unbehaust, eine Aktion u.a. zur Unterstützung von „Bodo“, der Dortmunder Obdachlosenzeitung. Kleine Zelte aller Art bilden unter Mitwirkung und Moderation des Schauspielchefs Kay Voges eine Minizeltstadt und wollen aufmerksam machen. Am Ende werden sie versteigert. Junge Menschen regen sich auf über die Welt, die Gesellschaft, Konsum und drücken dies aus, indem sie die Zelte entsprechend verzieren, bestücken, zerstückeln. Und man erhält Luftballons. Es hat was von Kindergeburtstag und naturgemäß spielt auch eine Band. Jede Aktion, die interveniert und auf Missstände aufmerksam macht, ist besser als keine. Ob man unbedingt von einer Kunstaktion sprechen will, ist Diskussionsstoff. Und auch hier gibt es Sekt, aber aus der Kiste in kleinen Flaschen. Prost. Hier stößt das Schauspielhaus mit seinem Slogan „Stadt ohne Geld“ wieder auf die, die Raum brauchen für Ausdruck und Werk, die jungen Naiven und Haltungssucher und -träger.

Kaputtes Zelt mit Griff

Aber diese Stadt – wie auch die meisten anderen – ist keine ohne Geld, so wie der Staat keiner ist ohne Geld. Ganz im Gegenteil. Zelt Nummer 26 hat mir gefallen. Aus dem Inneren drang eine Stimme in englischer Sprache von John Dunn. Es heißt auf der Hinweistafel: „Das ist ein komplett unorganiertes Daherreden. So mache ich keinen Fortschritt für die Gesellschaft. Ich bringe die Kunst nicht weiter. Ich bringe auch die Forschung nicht weiter. Im Grunde genommen verschwende ich meine Zeit…“

Zeltdorf

(Fotos: Dman)




Tretet ein, denn auch hier sind Götter!

Götterverdämlichung in alter Fabrik

Im Freistaat Köln gibt’s was Neues, eine Fabrik, in der gespielt wird. Es ist angerichtet. Sekt, Wein, Chic. Freundliche Schönheiten überall. Premierenatmosphäre. Viele Zuschauer kommen per Taxi über den Rhein nach Deutz in die Deutz-Mülheimer Straße. Und was ich dann sehe, ist eine Beschreibung wert, mehr nicht. Aber zunächst stehe ich vor dem Eingang und rauche wie früher die Schornsteine der Industrie.

„raum 13“ nennt sich das, was sich hier in einer alten Maschinenfabrik, derzeit einrichtet. Raum für Kunst in industriellem Ambiente, das, was man sich nur wünschen kann als kreativer Schaffender von flüchtigen Werken der darstellenden Kunst. Erstaunlich, dass es im Ruhrgebiet, einer Region mit hunderten aufgelassener Industriegebäude, kaum Orte gibt, die genau diesem Zweck dienen (von PACT Zollverein mal abgesehen) und entsprechende Großräume haben.

In Köln wird schon seit Jahren nach geeigneten Tanzräumen gesucht. Immer wieder wird was ausprobiert. Der Wunsch ist verständlich, denn es gibt kaum irgendwo in der Republik so viele Bewegungskünstler wie eben im Zentrum der Medien, Colonia.
Am Samstag (18. Juni) fand die Uraufführung von „Ich bin ihr“ statt – mit dem inhaltsgebenden Untertitel: „Tretet ein, denn auch hier sind Götter!“ (Oder umgekehrt?) Man will ja nicht ohne Anspruch in die Zukunft wandeln.
Alles ist neu im Alten. Die Website ist demnach noch unvollständig, weist auf wilde Zeiten hin: Es gibt also bald den „Polilog“ mit Polisbox, Suppenküche, Tischgesellschaft und – vor allem – subversiven konspirativen Treffen. Die „junge Szene“, „Alles was tanzt“ (als Marke und Veranstaltung schon vorhanden und mit Recht hochgelobt) und eben raum 13.

Der Versuch, für Köln ein Tanzhaus zu errichten, stieß 2009 auf konkretes Interesse bei der Politik: „Die Stadt Köln beschloss 2009, ein Tanzhaus zu etablieren und zu unterhalten. Die Tanzszene sollte einen festen Ort erhalten, der als Spielstätte, Proberaum, Unterrichtsmöglichkeit und als Treff- und Agitationspunkt eine Heimat für den Tanz in Köln sein sollte. Mit der Anmietung von zwei Hallen auf dem E-Werksgelände in Köln-Mülheim, hat das Kulturamt im Mai 2009 die Räumlichkeiten festgelegt. Nach einem Ideenwettbewerb übertrug das Kulturamt die Federführung für die Interimsnutzung an raum13 Theater Fraktion Köln. Am 30.07. 2010 wurde die Interims-Nutzung des Tanzhauses wie vereinbart aber wieder beendet. Mit der Entscheidung des Rates der Stadt Köln vom 7. Oktober 2010, für den Doppelhaushalt 2010/2011 keine Haushaltsmittel mehr für ein Tanzhaus in Köln einzuplanen, ist die Einstellung des Spielbetriebes nun auch endgültig.“

Foyer

Das „Deutzer Zentralwerk der schönen Künste“ hat nun seine Pforten geöffnet. Der Foyerbereich ist herausgeputzt und leuchtet. Man meint, man beträte die Dependance des Radial Systems in Berlin. Es wirkt ein wenig überchic. Man erhält weiße Überzieher, damit man nicht mit Straßenschuhen über den Tanzteppich latscht. Im Hausflur trifft man auf Monitore mit sprechenden Köpfen, die man aber nicht versteht. Im 2. Stock dann Sequenz 1 des Stückes, das die Jungfernhaut der Unternehmung öffnen soll.

Es geht also um Rituale, um Religion, um Götter, um Sinnsuche. Tänzerinnen und Tänzer reden durcheinander in ihren Sprachen. Babylonien also. War da nicht was in den 90ern? Aber gut, alles kommt wieder. Dann wird gesungen: Schlaflieder und anderes. Ich höre das Wort „Lalelu“ und weiß: Hier muss ich durch. Hier ist Ambition angesagt. Die Kostüme der Tanzmenschen sind wie das Foyer: chic, eine Mischung aus Poesie und Erotik, Unterwäsche mit Applikationen, rot, weiß, Kostüme eben. Man lockt das Publikum in einen Flur. Wir marschieren durch ein Treppenhaus, hinaus ins Freie. Dort: Eine Bühne. Am Boden liegende Trommlerinnen und Trommler, in der Mitte eine Frau mit Brautanmutung. Unschuld also. Ein schönes Bild, aber es beginnt wieder, sich zu bewegen. Es wird Text abgesondert. Es wird getrommelt. Wir – die Zuschauer – ziehen mit, enden dann auf Sitzplätzen in einer Halle mit sehr tiefer Bühne. Wunderbar. „Was man da machen könnte.“ Ich erwische mich beim Denken. Live-Musik dann zu verschiedenen Bildern, die serviert werden. Schlagwerk, Gitarre, Computer, Geige.

Götterbraut

Ich kann mich anlehnen. Gott sei Dank. Die Band singt und spielt „My sweet Lord“ von George Harrison. Ich stöhne laut auf. Peinlich. Auf der Bühne reißen die Tänzerinnen ihre Münder auf, starren religiös an die Decke. Ich will fliehen, aber es geht nicht. Ich müsste über die Bühne, will die Ästhetik nicht zerstören, aus dem das Ganze besteht. Dann überfällt mich wieder Text. Chorisch wird bekundet, dass man zum Beispiel alle –ismen anerkennt. „Wir anerkennen Kommunismus, Hinduismus, Kapitalismus….“ Sie anerkennen auch Marilyn Monroe und Charles Manson. Was? Ohlala. Sehr brisant. Den Mörder von Sharon Tate, den bärtigen Sektenführer und Vielfachmörder. Nun gut. Dann stehen alle da und rauchen. Auf der Bühne. Alle. Ich bin schockiert und fühle mich provoziert. Tatsächlich folgt dann eine Folge von Tanzszenen ohne Text. Werde ich doch noch mitgenommen in die Welt der Emotionen und körperlicher Eindringlichkeit? Ich sende eine SMS, um mich etwas zu befreien. Das Ende naht und ich denke an das Wort „Erlösung“. Hat es doch Wirkung? Kann sein, dass ich auf dem falschen Fuß erwischt wurde, der immer noch in Beetmull eingewickelt ist, um nichts zu verschmutzen.

Aber vielleicht war dies doch die Abschlusspräsentation einer Themenwoche der örtlichen Waldorfschule oder eines Internats? Vielleicht haben sich alle aber auch inhaltlich überfrachtet, sodass das Resultat der innerlichen Auseinandersetzung äußerlich keine Entsprechung mehr finden konnte? Die Tänzerinnen und Tänzer haben ihre Sache so gut gemacht, wie es geplant war, wie es die dafür Verantwortlichen in Szene setzen wollte. Sie sind in die Falle getappt. Und ich bin erlöst, werde der Sekte nicht beitreten. Ist mir zu chic.

Ich brause über die A1 zurück, ins immer noch schmutz-behaftete Ruhrgebiet, schmeiße eine Heavy-Metal CD in den Player, singe laut mit und suche Gott am dunklen Himmel, der mir zuzwinkert.

Der Erste Tag:
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde; die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut, und Gottes Geist schwebte über dem Wasser.
Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht. Gott sah, dass das Licht gut war; Gott schied das Licht von der Finsternis, und Gott nannte das Licht Tag, und die Finsternis nannte er Nacht. Es wurde Abend, und es wurde Morgen: der erste Tag.

Erst danach, also nach dem Anfang, kam der Rest und das macht Hoffnung auf die Zukunft, auch von raum13




Der Grieche ist mein Bruder

Es ist nicht meine Aufgabe, Experte zu sein, nicht meine Aufgabe, alles wissen zu müssen, speziell, wenn es um das globale Finanzsystem geht. Niemand kennt es. Seit Monaten verfolge ich aber die Berichterstattung zu Griechenland und seiner unabwendbaren Pleite. Und – wie immer – gibt es in jeder Talkshow Experten, wie es Experten in jeder Zeitung gibt und weitere bei weiteren Medien. Alle wissen: Der Grieche muss umrüsten. Die Europäer bezahlen die Abwrackprämie, aber nicht an die Griechen, sondern an das Gebilde Staat. Da kommt niemand mit einem Koffer, holt ihn aus dem Kofferraum und übergibt Bargeld an einen anderen auf einem einsamen Parkplatz. Es sind naturgemäß Banken, die das abwickeln. Und abgewickelt ist durch diese kriminelle Soße vor allem der „kleine Grieche samt seiner Griechin“.
Wenn etwas von niemandem richtig durchdrungen werden kann, dann ist alles möglich und die Politik muss politische Maßnahmen ergreifen. So war und ist das auch mit ETEC.

Schlechte Geschäfte

Natürlich gibt es in Griechenland reiche Kerle. Das wissen wir doch alle, mindestens seit Onassis und seiner Sonnenbrille. Und es gibt eine ganze Reihe berühmter Griechen, die wir alle aus Theaterstücken kennen oder als geflügelte Worte mit uns rumschleppen. Odysseus, ja klar. Bei Zeus! Und alle die Anverwandten und Geblendeten. Wer hat da jemals genau durchgeblickt? Da fing die Verwirrung an.
Das Volk, das gemeine, leidet unter den international vorgeschriebenen Leistungseinschnitten. Die Kultur, die Renten, die Mieten, das Leben. Die Reichen verlegen ihr Geld ins Ausland. Der kleine Angestellte oder der Tänzer, sie müssen den Dreck ausbaden. „Es ist eine Karussell, das niemals mehr anhält“, sagt mein Grieche.

Ich bin nach Griechenland gereist, in den Schuldenolymp, habe Athens Orakel befragt, habe mich mit Zeus und Hades, seinem Bruder, dem Gott der Unterwelt, zusammengesetzt und bei einigen Ouzos die Weltordnung umgekrempelt.
Der Ort der alt-europäischen Dekadenz, das Land der Verschwender und Schuldenmacher.
Das Land der Griechen mit der Seele suchend, schweifte ich umher. Ich, der Retter der hellenischen Nation, der Steuerzahler, der seinen letzten Cent in die Antike steckt, damit sie nicht zusammenbricht. Ich hab das alles mit meinem Griechen vorbesprochen.

Eine open-air Bar. Der Kellner braucht Dekaden, bevor er sich sehen lässt. Fehlt mir die Geduld eines Sisifos? Ich sehe Zeus und Dionysos – mir gegenüber und sie lachen mich aus.
„Du bist zu spät“, singen sie.
„Angenehmes Wetter“, sage ich.
„Die Akropolis ist montags geschlossen“, sage ich.
„Das ist skurril“, singen sie.
„Die sind ja bekloppt“, sage ich.
Und wir enden alle drei in einer Bar, wo man mir Aphrodite vorstellt. Ich bin entzückt, falle aber vom Hocker und wache als Esel wieder auf.

Was hat Griechenland mit dem Ruhrgebiet zu tun? Sehr viel. Mein Grieche kommt zum Beispiel aus Griechenland, andere Griechen auch, ob „Poseidon“, „Akropolis“ oder „Mykonos“.
Otto Rehakles kommt aus Essen. Eine Griechin hat die Kulturhauptstadt erfunden. Wir sind auch pleite. Was will man mehr? Sehr viel Verbindendes also.

Die Choreographin Mariela Nestora war bereits mal auf PACT Zollverein. Sie sagt zu unserer Region „Ruhr“. „Ich war in Ruhr“, sagt sie. Und der Hund von Iris Karayan (Ja) heißt Tarmund und alle nennen ihn Dortmund, niemand weiß warum.

Die Griechen sollen sich ihr Leben nicht vermiesen lassen. Hier entstünde ein Land, das sich unter dem Jubel der Unschuldigen zu einem Paradies der globalen Verweigerung entwickelt. Hier würden die Menschen das tun, was ihnen lieb ist und nicht das, wozu sie verpflichtet werden. Ich wache auf, bin kein Esel mehr, sehe wieder aus wie vorgesehen. An der Wand vor mir sehe ich den verschwindenden Traumnebel an einem Strand. Mein Grieche steht dort und winkt mir zu. „Kalinichta“.

Ich erinnere hier an das Stück „Herkules und der Stall des Augias“ von Friedrich Dürrenmatt.

„Aufgrund des ständig anwachsenden Mistes wird das Leben in Elis immer unerträglicher. Deshalb beschließt Augias, Präsident von Elis, zusammen mit seinem Parlament, dem griechischen Nationalhelden Herkules ein ansehnliches Honorar und Reisespesen anzubieten und ihm den Auftrag zur Säuberung von Elis zu übertragen. Sein Sekretär Polybios erinnert ihn an seine gewaltigen Schulden und die Kosten, die die repräsentativen Pflichten eines Helden mit sich bringen.
… Kommissionen beraten in endlosen Sitzungen. Man weist darauf hin, dass unter dem Mist immense Kunstschätze verborgen sein könnten, die durch das Ausmisten verloren gingen. Die Beratungen verschleppen sich so lange, bis Herkules schließlich den ihm gewährten Vorschuss aufgebraucht hat. Herkules, der zudem von Gläubigern bedrängt wird, sieht sich gezwungen, im Zirkus des Tantalos aufzutreten. In dieser aussichtslosen Lage beschließen Herkules und Deianeira gemeinsam, das Land unausgemistet zu verlassen.“ (Quelle Wikipedia)

 




Kulturhauptstadt Tallinn – nachhaltig eindrucksvoll und übersichtlich

Reisen ist kein Spaß. Man muss warten, man bekommt schreckliches Essen und wechselt die Verkehrsmittel, bevor man den Koffer in sein Hotelzimmer schiebt und erst mal schaut, welche sprachlich und inhaltlich nutzbaren Sender das Fernsehgerät bietet. Aber am Ende lohnt sich meist der Weg. Man ist halt woanders, wo es Gott sei Dank auch anders ist, mehr oder weniger. Zumindest die Sprache ist in diesem Fall eine Höraufgabe besonderer Qualität. Ziel ist eine der Kulturhauptstädte 2011, die Hauptstadt der Esten, Tallinn, je nach Route ca. 1800 Kilometer vom Ruhrgebiet entfernt. Gegenüber liegt Helsinki und die finnischen Nachbarn stehen am Strand und winken ihren estnischen Sprachverwandten zu. Nördlich von Helsinki liegt die andere nordische Kulturhauptstadt Turku. Finnland ist zu teuer – also Tallinn. Da gibt’s auch Finnen.
Tallinn antasten
Tallinn (früher Reval) ist eine alte Hansestadt und dies schlägt einem in der Altstadt in Form von Lokalen und Personal entgegen, die darauf hinweisen. Man kann also alte Hansebegriffe wieder aufgreifen. Da liest man an der Wand: Lübeck und Rostock. Auch Dortmund war mal Mitglied der Hanse, wie man es im Dortmunder Rathaus anhand einiger Reliquien besichtigen kann. Jugend beherrscht das Bild Tallinns. In der ersten Nacht sind die Hinweise auf die Kulturhauptstadt eher spärlich zu entdecken. Es herrscht Touri-Atmosphäre. Man serviert in Holz und trägt Tracht. Bezahlen muss ich aber mit Euro, nicht mit Holztalern.
Ich bin hoffnungslos over-dressed, habe nur einen schweren Mantel und Winterschuhe mit. Jetzt aber ist das da draußen kurz vor Finnland Mittelmeerklima.
Führung zum KGB
Das Hotel Viru Soros hat 23 Stockwerke. Das oberste war zu Sowjetzeiten gesperrt. Dort saß der KGB und hatte alles unter Kontrolle: Das Personal und die Gäste, besonders die internationalen. Jetzt gibt es dort „die erste Hotelausstellung“ in Estland. Eine Führerin mit wunderbarem „r“ in ihrem englischen Akzent erzählt der internationalen Besuchergruppe der Kulturhauptstadt 2011 komische Geschichten aus der Controletti-Zeit, die dort ehemalige Besucher abgeliefert haben. Man will die Absurdität des Systems zeigen und das gelingt. Alte Urkunden, die Abhöranlage, Fotos, Utensilien, die die Sowjets 1991 zurück gelassen hatten, als sie in einer Nacht mit Sack und Pack verschwanden. Eins von vielen 2011-Projekten, die was mit Geschichte zu tun haben und diese Stadt hat viel davon.
Kulturbüro Tallinn

Kunst am Meer - Experimentale

Am Meer gibt es Kunst von Nachwuchsgestaltern an der Sängerwiese, draußen und im großen Rund, viel beachtet von Presse und Publikum. Es soll eine Triennale entstehen, sagt die Medienfrau der KHS, Maris Hellbrand, die in München studiert hat. Im Vergleich zu Ruhr2010 arbeiten hier nur 30 Personen an allem. Das sind kurze Wege der Zuständigkeiten. 1000 Freiwillige sind gelistet, 300 sind ständig aktiv, jung und freundlich, nordisch und lieb. Das Büro ist in der dritten Etage eines von außen eher hässlichen Hauses untergebracht. Büroräume, die mit Kurzgeschichten tapeziert sind, Reste von Buchdruckstreifen. Man darf also während der Arbeit lesen.
Touristenströme zwischen Party und Kunst
Und die Touristen aus Großbritannien kommen in größeren Gruppen, sind zu 30% mehr vor Ort. Dazu die normalen Touristen, die Jungen, die bald die Altstadt verstopfen werden. Partytime im mittelalterlichen Ambiente. In der Stadt verteilt sind Kunstwerke zu besichtigen, manche davon sind gar keine – wie die Litfaßsäulen mit künstlerisch anmutenden Piktogramme. So verwirrend ist das heute mit der Kunst am Straßenrand. Kaum glaubt man, ein Werk entdeckt zu haben, kommt jemand und trägt es auf einen LKW. War nur ’n Straßenschild.

Holz, Stroh, Beton und Glas

Topfdeckelanimation

Es gibt eine Experimenta mit Kochtöpfen, Worte zum Fotografieren, Russenmarkt, Theater an jeder Ecke und Architekturirritationen allüberall. Tallinn ist erlaufenswert. Die große Kunsthalle allerdings muss man mit dem Bus aufsuchen, um dann auf einen Neubau zu stoßen, der Kunst ist, in dem Kunst ist. Mit Staunen sieht man hier die moderne und alte estnische Kunst. Der finnische Architekt Pekka Vapaavuori errichtete das Gebäude des Kumu (Kumu kunstimuuseum). Und man wandelt durch den Park am Weizenbergi und denkt: Ist denn hier Österreich? Gleich kommt der Herr Kaiser und winkt.
Sprach-Fotografie
Ich entfinde ein neues Genre: Die Wort- und Sprachfotografie. Autobus heißt „Autobussi“, ein Stadtteil „Ülemiste“, ein Turm „Kiek in de Kök“ und es gibt eine Haltestelle, die Kreuzbergi heißt. „Pikk“ heißt eine wunderbare Gasse in der Altstadt und ich betätige mich als Wortfotograf. Bin aber hier, um die Auswirkungen der Kulturhauptstadt zu erwandeln. Vom Viru Square fahren die Busse ab und man hat Freude an den Titeln der Haltestellen. Einfach einsteigen und irgendwo aussteigen. So entdeckt man die Stadt.
Vor dem Hotel rauche ich nach dem Frühstück. Immer stehen um diese Zeit ein paar Damen dort und rauchen auch, aber sie machen den Eindruck, nicht Hotelgäste zu sein, dies aber für kurze Zeit sein zu wollen. Aber man fantasiert zu viel, wenn man morgens noch nicht ganz auf der positiven Seite des Lebens ist. In Gedanken bin ich in einem Taschengeschäft mit einem Zollstock, um etwas zu finden, was von Ryan Air als Gepäck akzeptiert wird, wo ich meine Erinnerungen hineinbekomme – als Handgepäck. Heute Abend komme ich zufrieden ins Hotel zurück, wo mich in der Lobby freundliche Damen jeden Alters aus ihren Sesseln dezent anlächeln. Im Zimmer schaue ich in den Spiegel und bin sicher: Das Lächeln galt meiner Brieftasche und nicht meinem Gesicht.
Hintern Hinterhof

Grabsteine auf dem Flohmarkt der Russen

Hinter dem Bahnhof sitzt der Russenmarkt, so genannt von den Esten. Er sieht aus wie der Polenmarkt in Ungarn oder der Chinesen-Markt in Tschechien, nur eben mit Russen, die immer noch Armeemützen zur Verfügung haben und alte Fotoapparate. Da das Wort Stadt in Kulturhauptstadt vorkommt, muss man genau diese versuchen, von vielen Seiten zu erkunden, auch hinter dem Bahnhof oder in Vierteln, wo man fern der weithin sichtbaren Großhotels wandeln kann. In Nummer 60 sollen Hausbesetzer leben, zu sehen ist nichts. Vielleicht sind die Hausbesetzer gerade nicht zu Hause. Davor streitet sich ein dem Alkohol gegenüber offenes Paar über die Erziehung des Kindes, das im Kinderwagen döst.
Architektur

Baumhaus

Man trifft auf gewagte Architekturstile, die direkt nebeneinander sich gegenseitig auflehnen, das alte traditionelle Holzhaus, das immer eines Tages dem Zerfall entgegen rückt, Mietshäuser mit schwarzen Fensterrahmen und sachlichem Design, Häuser mit Schiebetüren aus Glas vor den Balkonen mit Meerblick. Tallinn scheint ein offenes Feld für architektonische Wagnisse, die meisten zumindest interessant. Entlang des Wassers führt ein neuer Kulturkilometer-Pfad, der im Sommer eröffnet werden soll. Ein Designer-Laden steht schon gegenüber einem kleinen Meeresarm mit blauen Fischkuttern. Im Herbst gibt es ein großes Design-Festival. Der Laden scheint gerüstet. Man sieht Autoreifen, die mit Wollfransen versehen sind und maritim anmutendes Klein-Gerät für den Geburtstagstisch.

Architektur-Wandel

Köler Prize
In einer ehemaligen Fabrik (kennen wir doch) ist eine Ausstellung sehr erfolgreich. Das Fernsehen dreht gerade dort. Der „Köler Prize“, kuratiert von wichtigen Künstlern, zeigt „Underground-Art“, wie man mir sagt, aber es ist geputzter Underground, falls es sowas gibt. Eine sehenswerte Ausstellung in Meeresnähe, deren Macher davon überrascht wurden.
Vor dem Café Boheme, wo man zum Kuchen pürierte Erdbeeren bekommt, will ein abgezotteltes Paar partout unsanft eine Anmache starten und bietet ein kurioses Schauspiel, das sich nicht in Text fassen lässt. Die Polizei ist freundlich und nimmt nur die Lady mit. Ihn treffe ich später wieder, an der Seite einer neuen Bummelfreundin.
In einem alten Elektrospannungswerk findet eine Schau zu Mythen Estlands statt. Sie ist offenbar überwiegend für Kinder, die dort in Rohre blasen und allerlei Sound verbreiten, den man so nicht wieder hören kann.Das Strohtheater ist der bisherige Höhepunkt des Jahres, wie man sagt. Das örtliche NO99 Theater ist seit 2006 Mit-Initiator dieser verrückten Idee, ein temporäres Theater aus Stroh zu bauen. Nun steht es auf einem Hügel neben der geschichtsträchtigen Altstadt – ganz in schwarz und brandgesichert. Das will man sehen und die häufigste Frage, ob es denn nicht gefährlich sei, wird immer wieder beantwortet. Das Stroh ist gepresst und brennt schlechter als Holz. Es bekommt keine Luft fürs Feuer. Zudem ist natürlich alles feuergesichert mit allen möglichen Chemikalien. Derzeit spielt man „Hirvekütt“ nach dem Film „The Dear Hunter“ mit Robert de Niro. Dramaturg Eero Epner erklärt in gutem Deutsch, dass der ursprüngliche Plan, das Theater im Oktober wieder abzureißen, noch nicht ganz endgültig ist. Plan war, die Flüchtigkeit des Theaters auch fürs Gebäude gelten zu lassen, eine eigentlich wunderbare Idee. Die Finnen zeigen Interesse, es in ihrem Land wieder aufzubauen. Hier, von schwarzem Stroh umgeben, sieht man bis Oktober die Festivalgruppen Deutschlands und Europas: She She Pop, Le Ballet C de la B oder Gob Squad.
Guerilla Kino

Kinoansage vor dem Gewächshaus

Was sich heute alles als Guerilla bezeichnet, wirft ein Bild auf die um sich greifende Verniedlichung für alles. In einem Gewächshaus stehen Flachbildschirme, auf denen ein Dokumentationsfilm gezeigt wird, der sich auf ehemalige Dissidenten bezieht, die sich hier als Gartenhelfer verdingten. Vorher muss man sich einer Führung unterziehen. Die Volunteers erzählen in dieser mir fremden Sprache von Pflanzen und deren Herkunft. Nun gut. Vielleicht gibt es bald irgendwo ein Guerillero-Ringelpietz mit Pustekuchen.
Ich treffe immer wieder eine Journalistin, die für den WDR in Tallinn unterwegs ist (Skala, Sendung am 23.6.), die offenbar die gleichen Wege nimmt wie ich, beide auf Erkundungsreise, sie mehr per Ohr. Ich hab noch die Augen dabei und riechen kann man das Meer nur in der Nähe. Es gibt ein Stück „Strand“, auf dem ein toter Hund auf Verwesung wartet, ein Ort, der nicht als Badestrand durchginge, wäre man auf Capri. Die Stadt beginnt, mir zu gefallen.Man stolpert geradezu über die zahlreichen Theater und Galerien. Jetzt, bei der Maihitze. Im Winter sind es wahrscheinlich Zufluchtsorte.
Häuser und Teilgebäude
Und immer wieder: die Architektur, vollendet, eingefügt oder abgebrochen. Eine Brücke, die geradezu ins Nichts führt, wird auch bald Ort für einen japanischen Künstler, der sich mit der Betonmasse angefreundet hat. Ich werfe mich wieder auf einen Markt, trinke einen äußerst fragwürdigen Cappuccino und sehe schlafende Biertrinker. Zwischen alten Holzhäusern und Backsteingebäuden schimmert das Neue. Ein ganzes Viertel in Shopping-Hochglanz wird so das alte erdrücken, das sich aber so entschlossen wehrt, dass man diese Mischung hinnimmt, ja, sie gar bewundert. Die Sonne steht über der stillen Altstadt. Ich erlebe ein Abendessen, das mir schmeichelt und ich trage den wunderbaren Geschmack bis heute am Gaumen. Ein kleines Lokal,

alt und neu

neben einem Kulturzentrum, aus dem Heavy-Metal-Musik dröhnt, bietet eine wunderbare Küche für geringes Entgelt. Später stehen vor dem Haus, aus dem es nun modernjazzt: Ein Althippie mit langem Bart, ein 40-jähriger Punk, ein Rocker mit Nietenjacke und zwei dunkle, depiercte Gothic-Emos, die sich fröhlich gegenseitig zuprosten. „õhtusöök!“ (Prost). Fragen Sie nur einen Esten, wie man das ausspricht. Tschüss heißt auf jeden Fall „Tschüss  Nägemist!“

Im Hintergrund: das temporäre Strohtheater in Tallinn

 




Immobilien-Theater – Raumfessel oder Trutzburg

Steht erst einmal ein Gebäude, kann dort kein anderes stehen. Eröffnet man zum Beispiel in diesem Gebäude ein Theater, kann man die folgenden Jahrzehnte kein anderes eröffnen. Da ist der geschlossene, umbaute Raum. Dort ist das Theater verortet, ob der Mensch will oder nicht.

Und im Innern, in den dunklen Räumen ohne Fenster arbeitet der Theatermensch, der Opernmensch oder an mancher Stelle auch der Tanzmensch an seinem Werk, umschlossen vom Schutzraum, der ihm es gestattet, ja gebietet, dort das Theater mit Leben zu füllen. Es hat also eine Adresse, für die Verantwortung getragen wird. Es wird Geld ausgegeben, damit die Kunst lebendig bleibt. Der Staat, das Land, die Stadt – sie sind die Ermöglicher und eine Immobilie zu betreiben, ist ein verwalterischer Akt, so wie auch manche Kunst in der Immobilie.

Ganz anders im Falle des Museums. Da kann sehr wohl eines neben dem anderen eröffnet werden. Die Museums-Immobilie ist – im Gegensatz zur Theater-Immobilie – vervielfachbar. Dort bewahrt man Kunst auf, die von Menschen erstellt wurde, auf die der Mensch selbst aber keinen Anspruch mehr erhebt. Die Immobilie lebt fortan ohne den Künstler, sie hat ja sein Werk und das Werk muss nicht essen und hat keine Familie – in der Regel. Das Kunstwerk klopft auch nicht an und sagt: „Ich will in Eurem Haus arbeiten“. Es wird gesammelt, gekauft oder ausgeliehen, das Kunstwerk. Und wenn es nicht mehr gebraucht wird oder niemand es mehr sehen will, kommt das Kunstwerk in den Keller oder es wird archiviert. Und manchmal fehlt dem Museum ein Keller oder ein Archiv. Dann wird dafür ein Gebäude bereit gestellt. Wenn also eine Immobilie da ist, kann sehr wohl daraus eine weitere Museums-Immobilie werden, je nachdem, welcher Politiker sich daneben und dahinter stellt.

Ganz anders bei der darstellenden Kunst. Hier sind Menschen, die auf den Nerv gehen können, weil sie eines Tages eine Rente bekommen wollen, krank werden oder eine Lohnerhöhung verlangen. Aber es soll hier ja erst einmal um Gebäude gehen. Lassen wir also den Menschen weg, es sei denn, er ist Bauarbeiter oder Renovierer, Restaurator oder Vermieter.

In der Politik, besonders auch in der Kulturpolitik, zählt das Gebäude. Das sieht man auch daran, dass sie früher mal besetzt wurden, an mancher Stelle auch wieder heute, aber in einer symbolischen Form. Man drängt also in ein Gebäude und sagt: „Wir sind Künstler und wir brauchen Raum, besonders diesen hier.“ Und je nach Wetterlage, wird den Besetzern zugehört. Und man sagt: „Sehet her! Hier sind junge Leute, die brauchen Raum. Kümmern wir uns darum!“ Für den Kunst geneigten Politiker ist das eine schöne Plattform, die er erst wieder verlässt, wenn sich alles auflöst und letztlich wird der Raum einer Logistik-Firma übergeben oder gar der Selbstverwaltung überlassen, was in der Regel bedeutet, dass der Mensch sich übernimmt und am Ende wieder auf seinem Sofa sitzt.

Festival Theater der Welt am Essener Grillotheater

Aber schon wieder gleite ich ab, schweife in Gassen umher, um die es hier und jetzt nicht geht. Bleiben wir da, wo wir sind: Hier im Ruhrgebiet, wo es damals, vor Jahrzehnten, Gebäude gab, die man für das Theater gebaut hatte. Essen hatte Herrn Grillo, die anderen die Stadt: Gelsenkirchen, Bochum, Duisburg, Dortmund, Oberhausen, Recklinghausen, Hagen, später dann Mülheim. Und die SPD wollte und bekam die alternativen Häuser, meist alte Immobilien, die sonst für Parkplätze hätten herhalten müssen und da sollte dann der junge Mensch, vor allem der alternative junge Mensch, sein Zuhause finden für seine alternativen Theater und Tänze. Später auch für die Fort- und Weiterbildung, für Geselligkeit mit nicaraguanischem Kaffee.

Und die damals dort arbeiteten, arbeiten immer noch dort und die Kinder sind jetzt Angestellte, Unternehmer oder Taxifahrer auf Lebenszeit. Und wenn Kinder etwas wollen, werden sie ins Kindertheater gelockt.

Eine schöne Landschaft hier im Revier – Stadthallen, Theater, Opern, Kulturzentren – alle von Mauern umgeben und wie Trutzburgen gefestigt als Teil der Kulturlandschaft.

Room 2.0

Der Künstler selbst, also der Mensch, muss sehen, wie er Platz findet in den Gebäuden. Eigentlich ist Stillstand angesagt – mit ein paar Ausnahmen, wie man sie immer hat, ob bei der Bahn oder beim Wetter. Eigentlich ist Sommer, aber der Regen und das Thermometer…Ausnahmen.

Etwas Neues kommt nicht zustande. Nachwachsende, ob jung oder alt, haben eigentlich keine Chance, es sei denn, sie drängen in die vorhandenen Immobilien. Aber – wie gesagt.

Dortmund hat annähernd 600 000 Einwohner, Essen auch. Schaut man sich die Theaterlandschaft an, wird einem schwindelig vor lauter Nichts. Der Mensch im Revier ist zu doof. Er interessiert sich nicht für die darstellende Kunst. Das hört man oft, zwar nicht so wörtlich, ist aber Allgemeingut bei allen Kulturpolitikern und den Menschen selbst. Deshalb reicht, was da ist, es sei denn, es handelt sich um Musik oder Museen. Da kann es nicht genug geben.

Köln hat gefühlte 100 Theater, Tallinn in Estland macht den Eindruck, es bestünde aus Theatern. 400 000 Einwohner und überall stehen Theater, die auch besucht

Strawtheatre in Tallinn 2011

werden. Dort ist 2011 Kulturhauptstadt. Hier war 2010 Kulturhauptstadt und für das Theater, vor allem das sogenannte Freie oder nomadisierende, wurde geradezu nichts getan. Fragt der Nomadisierende, also der ohne Immobilie, nach Raum, verweist man auf die vorhandenen. Ansonsten ist er eine Ansammlung von ein paar Menschen, die ohne Raum auch ohne Stellung sind, ohne Trutzburg. Der nomadisierende Künstler kostet nichts oder wenig und damit zeigt sich seine Bedeutung. Wenn ein neues Gebäude, aus einem alten entstanden, eröffnet wird, dann lässt man die Nomaden nicht hinein, sondern Werke oder Kunstvermittler, nicht den Künstler selbst. Und dann steht der Mensch vor dem Gebäude und denkt: Ich bin flüchtig, meine Kunst ist flüchtig, also bin ich ein Flüchtling und brauche Asyl. Und das ist ein heikles Thema.

Hier soll zunächst mal Schluss sein und der Autor weiß um sein diffuses Pamphlet. Aber so ist er, der Kopfreisende, der in dunklen Räumen nicht denken kann. Er braucht das Licht und die Natur.

Und so etwas wird nicht gedacht ohne eine Forderung. Ohne Forderung kann der Künstler nicht existieren. Er fordert sich, manchmal seine Zuschauer und –hörer.

Kisten

Eine Region mit dieser Einwohnerzahl und Geschichte muss sich viele Theater leisten können. Theater- und Tanzräume, in denen das Lebendige nach außen dringt und die Lebendigen von draußen hineinzieht, die Künstler hinaustreibt, um angefüllt mit neuen Ideen, wieder hineinbringt. Offene Türen, offene Proben, offene Gesinnung, groß und vielräumig, wild und poetisch – mit starken Konzepten und klugen Leuten, die mehr zulassen als  weglassen. Aber es herrscht das Loch in der Region.

Das Stadttheater ist nicht die einzige Anlaufstelle für „den Theaterabend“. Die BürgerInnen wuseln umher und folgen immer mehr den Verlockungen der Löcher – dem Nichts der übermäßigen Farbenpracht, der Vielfalt der Bildschirme und Displays in allen Größen.

Wo ein Loch ist, kann da noch ein anderes sein?

Ich empfehle die Lektüre von Kurt Tucholskys „Zur soziologischen Psychologie der Löcher“