Bumsfideler Bergmann anno 1971: „Laß jucken Kumpel“ – der etwas andere Arbeiterroman

Revierpassagen-Gastautor Heinrich Peuckmann, Dortmunder Schriftsteller, erinnert – nicht zuletzt aus eigener Erfahrung – an die Romane des Bergkamener Bergmanns Hans Henning („Moppel“) Claer und an deren Verfilmungen:

Es war die große Zeit der politischen Arbeiterliteratur, wie sie von der „Dortmunder Gruppe 61“ mit Max von der Grün, Josef Reding oder Günter Wallraff ins Leben gerufen wurde und anschließend vom „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ mit klar gewerkschaftlicher Zielsetzung fortgesetzt wurde. Es war der Versuch, mittels Literatur dem Arbeiter die Klassenbedingtheit der bundesrepublikanischen Wirtschaftsordnung klar zu machen.

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Da erschien plötzlich ein ganz anderer Arbeiterroman, geschrieben von dem Bergkamener Bergmann Hans Henning Claer, den seine Kumpels auf der Zeche nur „Moppel“ nannten. „Laß jucken Kumpel“ hieß dieser Roman, und er zeigte nicht den gewerkschaftlich engagierten Arbeiter, der um die Verbesserung seiner sozialen Lage kämpft, sondern den bumsfidelen Bergmann, der weiß, dass es im Leben auf zwei Dinge ankommt: auf Frauen und Alkohol.

„Weißt du“, hat mir „Moppel“ Claer mal seine Weltsicht erklärt, „wenn du jeden Tag acht Stunden im Streb malochen musst, bei Dunkelheit, wo nur Kerle rumlaufen und du in der Hitze schrecklich schwitzt, da drehen sich deine Gedanken ganz automatisch um zwei Dinge: um eine heiße Blonde und ein kühles Blondes.“

Das klang überzeugend und für Moppel war es das auf jeden Fall. Mit seiner Literatur, mehr noch mit seinen Filmen, hat Moppel jedenfalls viel Aufsehen erregt, in Deutschland, aber auch in der Welt. „Laß jucken Kumpel“ zum Beispiel lief mehr als 100 Tage in den Kinos von Tokio, als deutscher Kulturbeitrag zur gesellschaftlichen Situation der Siebziger Jahre vermutlich.

Natürlich dienten Moppels Werke, Romane wie Filme, zur Ablenkung von der politisch unbequemen Arbeiterliteratur, das ist eindeutig, aber sie hatten auch äußerst lehrreiche Aspekte, vor allem aus Bergkamener Sicht.

Moppels Romane waren nämlich gar nicht erfunden. Vieles, was er erzählt oder besser gesagt verrät, hat er seinem direkten Lebensumfeld entnommen. Besonders aufgefallen ist das bei seinem ersten Werk, bei „Laß jucken Kumpel“, das 1971 als Buch, 1972 als Film erschien und 1973, wegen des kommerziellen Erfolges, die „Goldene Leinwand“ erhielt. Spricht das nun für den Film oder gegen die Auszeichnung?

Weltpremiere des Films in Bergkamen

Immerhin, der Film erlebte im damals noch vorhandenen Bergkamener Kino seine Welturaufführung. Ein stolzer Tag für die kleine Bergarbeiterstadt – und deshalb sind sie auch alle hingegangen: die Bergkamener Kommunalpolitiker, sogar welche aus dem vornehmen Parlament des Kreises Unna und natürlich die Bergleute, Moppels Kumpels, die ihre fein zurechtgemachten, frisch vom Friseur gekommenen Ehefrauen endlich mal wieder ins Kino ausführten.

Hans Henning "Moppel" Claer in den frühen 70er Jahren mit Manuskript und Buch. (Foto: Ulrich Bonke)

Hans Henning „Moppel“ Claer in den frühen 70er Jahren mit Manuskript und Buch. (Foto: Ulrich Bonke)

Ein Kulturfilm aus Bergkamen, das war doch etwas! Aber schon während der Film lief, berichten die Augenzeugen, machte sich Unruhe breit. Immer tiefer rutschten die Kommunalpolitiker in ihre Sitze, zwischen den Ehepaaren gab es heftiges Getuschel. Noch während des Abspanns, bevor es im Kino hell wurde, sprangen die ersten auf, schlugen den Kragen ihres Mantels oder ihrer Jacke hoch, zogen den Kopf ein und verschwanden schnell und vor allem wortlos in Richtung Parkplatz.

Die Kneipe mit dem „Rambazamba“

Vermutlich hätten das auch gerne einige Bergleute getan, vor allem wären sie gerne wortlos geblieben, aber dagegen hatten ihre Ehefrauen etwas. Die hatten nämlich kapiert, was Moppel da über eine bestimmte Kneipe erzählt hatte, die in Bergkamen jeder kannte. Direkt am Eingang zur Zeche Grimberg stand sie und wurde im Volksmund „Zum schwatten Diamanten“ genannt. Unten war normaler Schankbetrieb, wohin auch Lehrer des benachbarten Gymnasiums gingen (also auch ich), oben fand das statt, was Moppel bumsfideles „Rambazamba“ genannt hätte und worüber ich im Detail nichts berichten würde, selbst wenn ich es wüsste. Ich weiß es aber nicht, ahne es allerdings.

„Ach, dahin gehst du also!“

„Ach, dahin gehst du also! Jetzt weiß ich endlich Bescheid, was ihr da so treibt!“ So ähnlich müssen die Vorwürfe der Gattinnen gelautet haben, die sie ihren betreten schweigenden Männern vorgehalten haben. „Jetzt weiß ich endlich, was da los ist!“

Filmplakat zu "Laß jucken Kumpel"

Kinoplakat zu „Laß jucken Kumpel“

Es soll Ehekräche gegeben haben, wochenlange Streitigkeiten in den Bergarbeiterfamilien. Über halb Bergkamen hing eine Wolke des Grollens. Scheidungen gab es damals so gut wie keine, vor allem nicht in Bergarbeiterfamilien. Wenn die Einstellung dazu so wie heute gewesen wäre, hätte es die allerdings bestimmt gegeben.

Eine Tracht Prügel für „Moppel“

Es rumorte in Bergkamen und das verlangte natürlich nach einer Antwort, die auch prompt kam. Moppel erlebte die ultimative Film- und Romankritik, wie sie beispiellos ist im deutschen Kritikerwesen. Als er Wochen nach der Welturaufführung seine Stammkneipe „Zum schrägen Otto“ verließ (die es heute noch gibt, während der „Schwatte Diamant“ um das Jahr 2000 herum abgerissen wurde, anstatt, wie sich das gehört hätte, als „literarischer Ort“ unter Denkmalschutz gestellt zu werden), erlebte Moppel ein „blaues Wunder“, wie er es als ehemaliger Amateurboxer vorher nicht erlebt hatte. Kurzum, Moppel wurde verprügelt, und zwar so heftig, dass er für einige Zeit im Krankenhaus landete.

Der Sachverhalt konnte letztlich nie ganz geklärt werden, denn Moppel hat tatsächlich niemanden von den Tätern (es sollen mehrere gewesen sein) erkannt. Auch einen konkreten Verdacht hegte er nicht, wie er bei seinen Aussagen zu Protokoll gab. Tja, was sollte man da machen? Ganz einfach: Moppel pflegen, damit er wieder auf die Beine kam.

Das haben dann die Krankenschwestern freundlich übernommen, weshalb Moppel ein uneingeschränkt positives Bild von Krankenschwestern entwickelte und dadurch bei der Verfilmung seines nächsten Drehbuchs (war es „Laß jucken Kumpel II“, Untertitel: „Das Bullenkloster“?) in neue Schwierigkeiten geriet.

Bloß keine lüsternen Krankenschwestern

Regisseur dieser Filme war Franz Marischka, nicht zu verwechseln mit seinem Onkel Ernst, der mit Romy Schneider in den fünfziger Jahren die „Sissy-Filme“ drehte. Franz, genannt „Zwetschi“, dessen Taufpate übrigens Franz Lehár war, hatte vorher schon solche Kulturfilme wie „Am Sonntag will mein Süßer mit mir segeln gehen“ gedreht, nun schwamm er auf der Softpornowelle. Bei einem dieser Filme, in dem inzwischen Moppel selbst als unvergessener Jupp Kaltofen, seines Zeichens Bergmann und Amateurboxer, mitspielte, sollten zwei lüsterne Krankenschwestern ihren Patienten auf ganz besondere Weise Pflege angedeihen lassen. Aber da war Moppel dagegen. Nein, auf Krankenschwestern wollte er nichts kommen lassen. Reine, hilfreiche Engel wären das, auf keinen Fall durften sie mit irgendwelchen Unterstellungen beschmutzt werden. Da war Moppel eigen.

Ablenkung durch Beckenbauer

Aber Zwetschi wusste Rat. Der Film wurde in München gedreht und Zwetschi fragte Moppel, ob er sich nicht am Samstag Bayern München ansehen wollte. Klar wollte Moppel das, er war schon immer Sportfan gewesen. Also besorgte Zwetschi zwei Eintrittskarten, damit Moppel samt Begleitung Beckenbauer und Co. sehen konnte, und als er zurückkam, war die besagte Szene im Kasten. Zwetschi hatte kurzerhand aus den Krankenschwestern, erzählte mir ein erleichterter Moppel, zwei Studentinnen oder Schwesternschülerinnen oder irgendetwas dieser Art gemacht und als solche hatten sie die bettlägerigen Patienten beglückt. Ganzheitlich gepflegt sozusagen. Womit alle einverstanden waren. Moppel, weil die Ehre der richtigen Krankenschwestern gerettet war, Zwetschi, weil er die dringend benötigte Szene im Kasten hatte.

Moppel hatte übrigens eine unnachahmliche Art, seine Rolle als Filmschauspieler, eine Tätigkeit, die er ja nie erlernt hatte, zu begründen.

„Wenn die (damit meinte er die anderen Schauspieler) da mitspielen, kann ich da auch rumhopsen“, erklärte er. Wobei, wie ich schon damals fand, das Umdrehen der Verben den Sachverhalt richtiger wiedergegeben hätte: „Wenn die da rumhopsen, kann ich da auch mitspielen“, hätte es besser geheißen.

Moppel war nämlich wirklich nicht schlecht in den Filmen, spielte er doch den Bergmann und Amateurboxer Jupp Kaltofen, der gerne mal ins Glas schaut. Im Prinzip also sich selbst, und das machte er wirklich gut.

Der Autor als Boxtalent

Als Amateurboxer, dies nebenbei, hätte Moppel womöglich sogar größere Erfolge feiern können, aber er litt – genau wie ich – unter Heuschnupfen. Bei Qualifizierungskämpfen für die Landesmeisterschaften (damals noch in Berlin, wo Moppel ursprünglich herstammte), die im Frühjahr stattfanden, hatte er keine Chance. Einen Schlag auf seine Nase und die hellen Tränen standen ihm in den Augen.

Ich hatte Verständnis für einen auf diese Weise benachteiligten Moppel, auch wenn die Johannpeter-Brüder aus Hamm, die größte und erfolgreichste Boxerfamilie der Welt (10 Brüder waren Boxer, mehrere wurden Deutsche Meister, sechs schafften den Sprung in die Nationalmannschaft) immer lachend auf meine Nachfrage sagten, so weit wäre es mit Moppels Boxerkünsten nicht her gewesen. Gut, da steht dann Aussage gegen Aussage. Wer möchte richten?

Meine Sympathie gehörte jedenfalls dem leidenden Moppel, der mir seine Boxkünste übrigens mal in der Bergkamener Distelfinkstraße, wo er wohnte, vorgeführt hat. Wir hatten eine gemeinsame Lesung im Dortmunder Fritz-Hüser-Institut gehabt, ich holte Moppel, der selber kein Auto fuhr, zur Lesung ab und brachte ihn nachher nach Hause. Begleitet wurden wir von seiner Gattin „Biggi“.

Als er an jenem Abend ausstieg, hielt Moppel plötzlich die Fäuste hoch, begann auf der Straße zu tänzeln, wurde wieder der Amateurboxer von früher, vielleicht auch der Jupp Kaltofen aus seinen Filmen und kämpfte technisch versiert gegen einen eingebildeten Gegner, den auch ich nach einiger Zeit glaubte, vor mir zu sehen. Moppel war gut, fand ich. Der unsichtbare Gegner hatte keine Chance.

Liebe oder Sport? Egal.

Im Grunde, meinte er, bevor wir uns trennten, gebe es nur zwei Themen, die er in all seinen Romanen behandele: Sport und Liebe. Wobei man an der Art, wie er diese Themen literarisch gestaltete, leider den Unterschied schlecht erkennen konnte.

Sein Manuskript, aus dem er im Fritz-Hüser-Institut las, hatte unvergessliche Sätze, die ich heute noch aus dem Gedächtnis zitieren kann. In einer Szene, die – wo sonst – in einer Kneipe spielte, blieben der junge Wirt und eine ebenfalls junge, hübsche Dame zurück, alle anderen hatten nach und nach das Lokal verlassen. Das nachfolgende Geschehen fasste Moppel dann so zusammen: „Er schaltete das Licht aus bis auf die über der Theke hängende Lichterkette, die aber genug Licht spendete für den Schankraum und ihr hastiges Tun.“ Liebe eben. Oder war es Sport? Egal.

Finanziell kaum profitiert

Nicht egal ist, dass Moppel durch seine literarischen, filmischen und schauspielerischen Erfolge nicht reich geworden ist. Die Verlagsverträge sahen einen Vergütungsanteil im Falle einer Filmvorführung im Ausland gar nicht vor. Moppel war ja Bergmann, wie Verlagsverträge auszusehen haben, wusste er nicht. Und der Verlag hat ihn nicht aufgeklärt. Für hundert Tage „Laß jucken Kumpel“ in Tokio, so erzählte er mir, sah Moppel keinen Pfennig. So reichte es nur zu zwei Eigentumswohnungen in einem größeren Haus einer Bergmannssiedlung. Immerhin.

Über diese Wohnungen wurden schöne Geschichten erzählt. Eine handelte davon, dass immer dann, wenn auf dem Balkon ein Handtuch wehte, die Kinder nicht nach Hause kommen durften. Für eine Stunde wollte Moppel dann ganz allein mit seiner Biggi sein. Sport oder Liebe? Jedenfalls beweist die Geschichte, dass Moppel kein reiner Theoretiker seiner beiden literarischen Themen war.

Rivalität der schreibenden Bergleute

Direkt nebenan, in der Amselstraße, wohnte übrigens der Bergarbeiterdichter Rudolf Trinks, Mitglied im „Werkkreis“ und ein ausgemachter Gegner von Moppel. Das lag natürlich einerseits an Moppels nicht politischem Zugriff auf die Welt der Bergarbeiter, die in ihrer unpolitischen Grundhaltung natürlich hoch politisch war, Trinks merkte das. Dann aber auch, weil ihn das Thema „Sex“ abstieß. Bergleute sind, das muss man bei der Betrachtung von Moppels Filmen und Büchern berücksichtigen, eher prüde. Unter ihnen hatte Moppel sicher nicht seine größte Fangemeinde. Kinogänger und Leser dürften sich aus anderen Schichten gespeist haben.

Einmal haben die beiden auf der Straße heftig über Bergarbeiterliteratur gestritten, erzählte mir Trinks, danach haben sie nie wieder miteinander gesprochen.

Trinks und Moppel Claer sind im selben Jahr, 2002, gestorben. Moppel nach einer langen Leidenszeit. Nach einem Schlaganfall war er über Jahre ans Bett gefesselt, liebevoll gepflegt von seiner Biggi. „Ich bin kaputt wie tausend Mann“, hat er seine Situation in der ihm eigenen Art treffend beschrieben.

71 Jahre alt ist er geworden.

Ich habe noch versucht, seinen Nachlass an Archive zu vermitteln, Biggi aber wollte nichts abgeben. Alles, was ihren Moppel betraf, wollte und will sie für sich behalten. Das ist dann wohl wirklich Liebe.

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Anm. d. Red: Den kompletten Film „Laß jucken Kumpel“ findet man hier – allerdings in arg reduzierter Bildqualität.




Über Digitalisierung – einige grundsätzliche Überlegungen zum Internet und seiner künftigen Gestaltung

Wie und nach welchen Prinzipien soll das Internet der Zukunft gestaltet werden? Unser Gastautor Michael-Walter Erdmann, Künstler und Publizist aus Essen, hat dazu einen grundlegenden Text geschrieben:

̈Wäre das menschliche Auge nicht sonnengleich, es könnte die Sonne nicht sehen. Wenn das menschliche Gehirn kein Computer wäre, könnte es keine Computer bauen. Die Erfindung des Computers ist ein zwanghafter, zwangsläufiger Akt der Auto-Mimesis. Das Internet ist das bislang größte mimetische Projekt des Menschen; digitale Höhlenmalerei.

Mimesis ist nicht nur ein auf Erkenntnis abzielender Kunstvorgang, jedenfalls kein auf Kunst begrenzter Vorgang: Mimesis ist ein biologisch-geistiger Reflex, ein Grundprinzip der Evolution. Zwei, drei Dinge, die man ganz generell zu „Digitalisierung“ sagen muß. Die Digitalisierung krempelt die gesamte Kultur der menschlichen Spezies um. Kein Bereich des menschlichen Lebens bleibt davon unberührt: Ökonomie, Politik, Gesellschaft, Privatleben, der Öffentliche Raum, Ästhetik, Kunst und Kommunikation. Es wird nichts mehr geben, kein Merkmal und keinen Raum und keine Äußerungsform menschlicher Existenz als Species und intelligibler Zivilisation, der von diesem Prozeß nicht erfaßt und prinzipiell umgestellt, umgebaut, in grundlegender Weise strukturell verändert wird.

Digitale WEltmächte dicht an dicht: die Logos von Google, Amazon und Facebook auf einem Apple-Bildschirm. (Foto/Screenshot: Bernd Berke)

Digitale Weltmächte dicht an dicht: die Logos von Google, Amazon und Facebook auf einem Apple-Bildschirm. (Foto/Screenshot: Bernd Berke)

Die digitale Revolution ist die am schnellsten wachsende Infrastruktur seit Menschengedenken. Dieser Prozeß ist unumkehrbar, und dieser Prozeß ist unabsehbar, und er verläuft in einer exponentiellen Wachstumskurve. Wir stehen am unteren Ende dieser Kurve.

Die Digitalisierung ist eine neue, ist die aktuelle Periode der menschlichen Evolution. Das 21. Jahrhundert ist das Zeitalter der Digitalisierung.

Es gibt 3 Gesetze der Digitalität:
Simultaneität
Ubiquität
Konvergenz

Alle drei Werte tendieren zum Absoluten, akzeptieren keine Endlichkeit, keine Begrenzung. Ein digitaler Content ist prinzipiell überall verfügbar. Das heißt: überall, wo es menschliche Zivilisation und digitale Technik gibt, also so gut wie überall auf diesem Planeten und außerdem außerhalb dieses Planeten überall dort, wo Menschen digitale Technik hinschicken; also auch in Räumen und an Orten, wo keine Menschen sind! Dieser content ist überall gleichzeitig präsent, und Gleichzeitigkeit ist immer Zeichen für und Anzeichen von absoluter, sich selbst absolut setzender Macht.

Herrschaftsanspruch und strukturelle Gewalt

Simultaneität ist Herrschaftsanspruch. Ubiquität und Simultaneität gepaart symbolisieren und repräsentieren eine große materielle Machtfülle und strukturelle Gewalt. Und die Urheber solcher Gewalt wissen um ihre Macht. Um das an einem historisch frühen und vergleichsweise simplen Beispiel zu verdeutlichen, erinnere ich an die erste internationale Währung der Menschheitsgeschichte, an die Standard-Silbermünze, die Alexander der Große in seinem Imperium prägen ließ. Trotz eines gewissen Variantenreichtums legte er großen Wert auf unmißverständliche Wiedererkennbarkeit seines Konterfeis, ikonographischer Ausweis der Omnipräsenz, der Militanz und der wirtschaftlichen Potenz seiner Herrschaft.

Konvergenz bedeutet in diesem Zusammenhang das tendenzielle und progressive Konvergieren vieler unterschiedlicher Medien: Einem digitalisierten Content ist es egal, ob er auf einem großen Screen erscheint, auf einem normalen Computer, einem Tablet, einem Smartphone oder einer Uhr. Er kann an jedem beliebigen Ort als Fernsehbeitrag, CD/DVD/Diskette, als Zeitungsartikel, Buch oder Plakat erscheinen; kann sich also auch wieder in rein analoge oder gemischte (analog-digitale) Medien zurück verwandeln.

Um auch die Grenzbereiche des Analogen zu erwähnen: Ein optischer Content kann als Projektion erscheinen, ein akustischer Content als reines Schallereignis. Content switcht zwischen analogen und digitalen, materiellen und immateriellen Welten und ist in diesen Welten (also an verschiedenen Orten) inclusive der Zwischenwelten gleichzeitig. Darin ähnelt er dem Verhalten von Teilchen im Quantenbereich.

Im Prinzip funktioniert also jegliche Digitalität nach diesen 3 Grundprinzipien, und um sie philosophisch zu fassen, bedarf es keines weiteren Prinzips. Der Rest sind Akzidentien und Anthropologie: Sozialverhalten, Biologie, Evolution. Kein Konzern hat diese 3 Prinzipien besser, umfassender und konsequenter in Produktstrategien und Konnektivität, in Image und Produktprestige umgesetzt als APPLE.

Verlust an Kulturtechniken

Die Digitalisierung sorgt in vielen Bereichen für einen Verlust an Kulturtechniken, kulturellen und zivilisatorischen Standards, für deren Entwicklung die Menschheit Jahrtausende gebraucht hat. Europa war an der Entwicklung dieser Techniken und Standards maßgeblich beteiligt, verteidigt diese aber nicht. Beispiele: Das Navigationsgerät verdrängt die Kunst des Kartenlesens. „Whatsapp“ ist der Ruin der Rechtschreibung, des Briefeschreibens, der Intimität und der Vertraulichkeit; zumindest für ein, zwei, drei Generationen.

Berühren heißt noch lange nicht begreifen: Bildschirm eines so genannten Smartphones. (Foto: Bernd Berke)

Berühren heißt noch lange nicht begreifen: Bildschirm eines so genannten Smartphones. (Foto: Bernd Berke)

Das Gefährliche an der gefälligen „usability“ von digitalen Endgeräten ist die enorme Leichtigkeit der Prozeduren, sind die vielen Automatismen, das Leicht-Fertige. Digitalisierung ist anthropologisch gesehen tendenziell regressiv. Sie erleichtert die Befriedigung atavistischer Instinkthandlungen wie jagen, sammeln, Beute machen; alles vom Sofa aus, jederzeit, an jedem Ort, mühelos.

Die Entwicklung des menschlichen Gehirns ist gekoppelt an die des aufrechten Gangs, die gleichzeitige Evokation von Sprache und dies beides wiederum an die Evolution der menschlichen Hand. „Begreifen“ als Weltaneignen ist immer ein Doppeltes: Das reale Tun, die Mechanik der Hand, das Anfassen und die Verarbeitung der so zustande kommenden Objektwelt als innere Landkarte auf der Metaebene/Datenverarbeitung des Gehirns.

Bei digitalen Geräten ist der Kontakt des Menschen mit dem Objekt auf ein paar Quadratmillimeter Fingerkuppe reduziert; das ist kein „Begreifen“ mehr. Trotzdem verfügen wir mittels dieser Geräte über prinzipiell unbegrenzte Macht: Macht über Menschen, Geld, Dinge, Prozeduren, Sprache. Das ist verführerisch, das schmeichelt unserer kindlichen Omnipotenz, unserem Narzißmus; es ist regressiv, und wir geben dem allzugern nach. Je jünger wir sind, desto gefährdeter sind wir. Wir brauchen eine europäische Ethik des Digitalen. Der Umgang mit digitalen Geräten muß normativ gelenkt und gelernt werden und gehört in ein Unterrichtsfach und an die Universitäten.

Wo bleibt der Einspruch im Sinne der Aufklärung?

Das alles sind reale Gefahren, die durchaus auf ein kulturelles und zivilisatorisches Verblassen der menschlichen Spezies hindeuten. Und es sind reale Gefahren, weil wir Europäer nichts unternehmen, dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen. Digitalisierung ist nicht aufhaltbar und sie ist im Großen + Ganzen unumkehrbar. Aber man kann sie gestalten, einiges kann + sollte man sogar zurücknehmen.

Es entspricht europäischer, aufgeklärter Vernunft, nicht alles zu tun, was man – technisch gesehen – kann. Im Moment versäumen wir den Einspruch aufklärerischer Vernunft, überlassen die Entwicklung von Algorithmen und damit die kulturelle Prägung von Alltagsprozeduren/Kommunikation/ Marktverhalten etc. den Amerikanern und die Produktion von Geräten den Asiaten.

Es entspricht standardisiertem amerikanischem Denken und einem anthropologisch, kulturell naiven Verständnis der techne, zu sagen: „If it’s makeable, we make it!“ Das ist falsch; das ist auf lange Sicht sogar unökonomisch, weil es aufgrund seiner Priorität (technische Machbarkeit) die Grundlagen von Ökonomie tendenziell zerstört: die Balance von Mensch und Ressourcen. Dieses Denken hängt mit der spezifisch amerikanischen Raumerfahrung zusammen, und die hypostasiert einen prinzipiell unendlichen Raum für Bewegung, Planung und Existenzausdehnung. Dieser Raum ist sowohl real wie auch – im amerikanischen Protestantismus – theologisch aufgehoben und existenzbettend.

Die Sorge um das einzelne Subjekt

Der europäische Begriff von „Ökonomie“ beginnt auf begrenztem Raum beim „oikos“, dem einzelnen Haus und seinen Bewohnern und bei einem prozessualen, dialogischen, dynamischen Ausgleich zwischen Individuum, oikos und der polis als der zusammengehörenden Vielzahl der Häuser; europäisches Denken hebt an mit dem Begriff der Differenz, seine Sorge gilt dem Einzelnen, dem Subjekt: Dem großen Ganzen der Polis geht es gut, wenn es dem Einzelnen in seinem Haus gut geht und umgekehrt.

Diese einfachen existentiellen, komplementären Prinzipien bilden den Kern europäischer Identität und des großen, genuin europäischen Projekts AUFKLÄRUNG, aus ihnen resultieren die regulativen ethischen Werte (Freiheit, Solidarität, Gleichheit, Toleranz usw.) für die man Europa weltweit respektiert, woran Millionen von Menschen in anderen Erdteilen sich orientieren, wenn sie gegen staatliche Willkür, Despotismus, religiöse Intoleranz und Korruption kämpfen.

Diese Sorge ums begrenzt Individuelle, das sein Selbst-Bewußtsein und seine Identität geradezu daraus gewinnt, daß es sich den Verführungen der Entgrenzung klug und verantwortungsvoll verweigert, ist – verkürzt gesprochen – den Algorithmen von KINDLE, AMAZON, FACEBOOK, GOOGLE, WHATSAPP & Co. fremd. Diese Algorithmen zielen auf grenzenlosen Konsum, grenzenlose Kommunikation und grenzenlose Kontrolle und Verfügung bei gleichzeitig grenzenloser Mobilität und Ubiquität.

Rückbesinnung auf europäische Werte

Deswegen plädiere ich für die Rückbesinnung auf die zentralen Werte und Normen europäischen Denkens und für die „Übersetzung“, sozusagen für die „Migration“ europäischer Kategorien in die Sprache und Prozeduren der Digitalität. Das Zeitalter der Digitalität hat gerade erst begonnen, es ist keineswegs zu spät, um mit dieser Aufgabe der Europäisierung der digitalen Revolution zu beginnen.

Digitalität ist eine Technik. Als techne ist sie – so lehrt uns europäisches Denken und so kriegt man die Sache vielleicht auch in den Griff – dem Menschen, seinen Zielsetzungen, seinen Absichten und Zwecken untertan. Zwar ist das leichter gesagt als getan; aber es ist so. Es ist nicht das erste Mal, daß die Geister, die einer neuen Technik innewohnen, sich über den Menschen erheben, ihn verführen oder ihm Angst machen und ihn beherrschen. Es war immer wieder schwierig und manchmal auch langwierig, solche Verkehrungen vom Kopf auf die Füße zu stellen; und es beginnt immer mit diesen zwei Wörtern: Sapere aude!

Ceterum censo:
Schaffen wir eine Digitalisierung mit europäischem Antlitz! Nach meinem Dafürhalten gehört diese Aufgabe ins Ruhrgebiet. Es gibt hier eine Menge Menschen + Institutionen, die an dieser Aufgabe partizipieren könnten und es sicher auch gern täten.




„Platz des europäischen Versprechens“ – Jochen Gerz‘ Konzeptkunstwerk wird in Bochum eröffnet

Die Idee von Europa steht mehr denn je auf dem Prüfstand. Gastautorin Isabelle Reiff über Jochen Gerz‘ Konzeptkunstwerk „Platz des europäischen Versprechens“, das nach rund zehn Jahren Vorbereitung am kommenden Freitag in Bochum eröffnet werden soll – offenbar genau zur rechten Zeit.

Erst der drohende Grexit, jetzt Flüchtlingskrise und Terroralarm. Eine harte Bewährungsprobe für Europas Selbstverständnis: Machen wir die Grenzen dicht, aber TTIP & Co. klar? Oder beziehen wir Stellung gegenüber den USA und tragen Verantwortung als Mitverursacher der Konflikte im Nahen Osten?

„Die Teilung der Welt in Künstler und Betrachter gefährdet die Demokratie“, sagt der Konzeptkünstler Jochen Gerz; ebenso wie die Teilung in Regierung und Regierte.

Jochen Gerz: Platz des europäischen Versprechens (2004-2015), Bochum. (© Jochen Gerz, VG Bild-Kunst, Bonn 2015. Courtesy: Gerz studio, www.jochengerz.eu. Foto: Ayla Wessel, Bochum)

Jochen Gerz: „Platz des europäischen Versprechens (2004-2015), Bochum. (© Jochen Gerz, VG Bild-Kunst, Bonn 2015. Courtesy: Gerz studio, www.jochengerz.eu. Foto: Ayla Wessel, Bochum)

Könnte es einen passenderen Zeitpunkt geben, um einen Ort einzuweihen, der „Platz des Europäischen Versprechens“ heißt? Die Rede ist vom Platz vor einem geschichtsträchtigen Sakralbau: Der Glockenturm der Christuskirche war das einzige Bauwerk in Bochums Innenstadt, das 1945 nicht in Schutt und Asche lag. Dennoch blieb das Innere 60 Jahre lang jeder Einsicht entzogen. Zwei Weltkriege hatte der Turm überstanden und diente dann nur noch als Abstellkammer. Grund ist die in den Jahren 1929-1931 erfolgte Umwidmung in eine Heldengedenkhalle: An den Wänden sind noch immer die Namen von 1358 Gefallenen und die Namen der „Feindstaaten“ der Deutschen im Ersten Weltkrieg zu lesen.

Als es in Bochum 2005 im Rahmen eines Landeswettbewerbs darum ging, den Kirchplatz – bis dahin halb Baustelle, halb Parkplatz – endlich zu verschönern, schlug der Gemeindepfarrer Thomas Wessel den Künstler Jochen Gerz als Gestalter vor. Gerz ist vor allem bekannt für seine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.

14726 Unterschriften für eine neue Vision

Gerz sah das Innere dieses Glockenturms und entschied: In diesem Raum fängt der Platz an. Sein Konzept für ein Kunstwerk, das dem Turm eine dritte Namensliste einschreibt und aus ihm heraus führt, erhielt den Zuschlag – mit Tausenden Unterschriften heute Lebender, die der alten Geschichtsauffassung von Feinden und Krieg eine neue Vision gegenüberstellen.

Jochen Gerz: "Platz des europäischen Versprechens" (Detail einer Steinplatte mit Namensinschriften). 2004-2015, Bochum. (© Jochen Gerz, VG Bild-Kunst, Bonn 2015, Courtesy: Gerz studio, www.jochengerz.eu, Foto: Sabitha Saul, Dortmund).

Jochen Gerz: „Platz des europäischen Versprechens“ (Detail einer Steinplatte mit Namensinschriften). 2004-2015, Bochum. (© Jochen Gerz, VG Bild-Kunst, Bonn 2015, Courtesy: Gerz studio, www.jochengerz.eu, Foto: Sabitha Saul, Dortmund).

Welche Zusage sie Europa gemacht haben, blieb unausgesprochen. Dennoch haben 14726 Menschen teilgenommen. „Diese Verschwiegenheit ist ja nicht identisch mit Unverbindlichkeit“, findet Kurt Wettengl, langjähriger Leiter des Ostwall-Museums in Dortmund. „Sollte ich mein Versprechen nicht einhalten oder brechen, muss ich es mit mir ausmachen und ich mich wieder daran erinnern. Unser aller und damit auch meine Mitverantwortlichkeit für die Gestaltung der Zukunft – Europas – macht das Bochumer Denkmal deutlich.“

600 Namen sind in der ersten Bodenplatte im Turm eingraviert. Ihre Abmessung bildet die Matrix für alle Steinplatten, die nachfolgten und jetzt (insgesamt sind es 20) den Vorplatz mit Namen füllen. „Dieser Platz ist für mich eine Gelegenheit, meine Anteilnahme kund zu tun“, begründet Rotraud Burchhardt-Kamplade, eine der ersten Versprechensgeberinnen. „Europa ist der kleinste Kontinent, und doch haben hier die meisten Kriege stattgefunden. Dass von Europa heute Frieden ausgeht, das liegt mir am Herzen.“

Ein Bündnis für den Frieden

Der „Platz des europäischen Versprechens“ ist gedacht als großes, demokratisches Manifest für ein Europa, das aus seiner blutigen Vergangenheit gelernt hat und auch andernorts keine Kriege führt. Deutschland ist das passende Land für so einen Platz, erst recht NRW. Keine Woche vergeht, in der nicht wieder Bomben aus einer Zeit auftauchen, als die einstige Industriehochburg unter Beschuss lag. Und während wir hier alte Blindgänger entschärfen, gelangt neue Munition auf andere Kontinente: Es sind ja sogar nicht zum geringen Teil deutsche Waffen, die jetzt auf uns zurückzielen.

Wo kann das Umdenken anfangen? Bei den Politikern? So denken die meisten. Ich auch, und das drückt auch meine Frustration aus. Ich konnte erst wenig mit dem Konzeptkunstwerk „Platz des Europäischen Versprechens“ anfangen – zu intellektuell, zu erklärungsbedürftig kam mir das Ganze vor. Jetzt tut es mir leid, dass meine Unterschrift fehlt, allein um dieses Zeichen zu setzen: „Krieg kann keine Lösung sein!“

Tatsächlich hat mich die Beschäftigung mit diesem Platz dazu gebracht, meine Anti-Haltung gegenüber Europa (hervorgerufen durch die Regulierungswut und den Sparzwang, der auf Kosten so vieler geht) hinter mir zu lassen und mich rückzubesinnen auf das, wozu Europa im allerersten Schritt gedacht war: als ein Bündnis für den Frieden.

(Der Platz wird am kommenden Freitag, 11. Dezember, um 17 Uhr offiziell eröffnet).




„Weißer Neger Ruhrgebiet“: Plädoyer für eine zukunftsträchtige Identität der Region

Revierpassagen-Gastautor Michael Walter Erdmann, Künstler und Publizist aus Essen, plädiert für eine europäische, in die digitale Zukunft gerichtete Identität des Ruhrgebiets.

Worum es geht:

„Ein freies Netz, ein an Grundrechten orientierter regulierter Datenmarkt und die Erinnerung daran, dass die Autonomie des Individuums unser Mensch-Sein begründet, kann eine bessere, eine neue Welt schaffen. In dieser Welt könnten die Chancen einer neuen Technologie zum Wohle aller genutzt und die Ökonomisierung aller Lebensbereiche verhindert werden. Es geht um nichts weniger als um die Verteidigung unserer Grundwerte im 21. Jahrhundert. Es geht darum, die Verdinglichung des Menschen nicht zuzulassen.“
(
Martin Schulz in „Technologischer Totalitarismus – Warum wir jetzt kämpfen müssen“ – FAZ, Februar 2014)

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Wenn wir das Territorium des heutigen Ruhrgebiets in einer Zeitreise überfliegen, erkennen wir bis 1800 wenig bis nichts, ein paar kleinere Handelsstädte, groß geratene Dörfer entlang des Hellwegs, verteilt auf drei mittelalterliche Grafschaften, alles in allem jedenfalls keine „Region“ im Sinne eines erkennbaren, zusammenhängenden Siedlungsgebiets; weil es da nämlich nichts gab, was eine solche kohärente Besiedlung hätte auslösen oder rechtfertigen können.

Von 1600nochwas bis 1800 reißt sich Preußen das Gebiet unter den Nagel, etabliert erstmalig ein einheitliches Rechtssystem und schafft damit die Voraussetzungen für den nachfolgenden Urknall: die Geburt einer gigantischen industriellen Arbeitssklavenkolonie.

Das Ruhrgebiet von Osten her - Blick vom Florianturm auf die Dortmunder City. (Foto vom 21.10.2012: Bernd Berke)

Das Ruhrgebiet von Osten her – Blick vom Florianturm auf die Dortmunder City. (Foto vom 21.10.2012: Bernd Berke)

Vorindustrielle Zechen kamen mit 150 bis 250 Leuten aus. Ein tiefbohrender, industriell fördernder Großbetrieb brauchte 4000 bis 5000 Menschen, um überhaupt an den Start zu gehen.

1832 stirbt Goethe, die Aufklärung geht zu Ende, das Ruhrgebiet legt los; Aufklärung hat hier nie stattgefunden, das merkt man bis heute schmerzlich: Künstler und Intellektuelle haben’s schwer im Revier, öffentliche Kritik und Intervention haben weder Tradition noch ein Forum.

Der Boom der Region als Kohleförderbezirk beginnt um 1850, die grobgeschnitzte feudalistische Sozialstruktur aus arbeitenden Massen aus aller Herren Ländern auf der einen und einer Handvoll Zechenbarone auf der anderen Seite – ein Bürgertum gibt es nicht – ist Voraussetzung für diesen Boom; hier wird gehorcht und gearbeitet, bedingungslos. Das ganze Leben und Sterben ist darauf ausgerichtet. Das militaristische Berlin ist die geschichtliche Kommandozentrale, die Metropole mit einer historischen Mission; das Ruhrgebiet ist die Kolonie, der Arbeitssklave, ein weißer Neger.

Wie im Wilden Westen

Zwischen 1860 und 1945 liefert die aus dem Boden gestampfte Wildwestregion Waffen, schweres Kriegsgerät, Schienen und Züge, Menschen, Energie, Kohle und Stahl für ein halbes Dutzend Kriege, die das „Reich“/Preußen/Berlin angezettelt, gewollt oder mitverursacht haben. Danach sieht die Region, sehen die Menschen so aus, wie man aussieht, wenn man die meisten und die fürchterlichsten dieser Kriege verliert.

30 Jahre später machen die Zechen dicht. Das Ruhrgebiet verliert seine Funktion, seine historische Aufgabe, der Sklave verliert seine Ketten und damit seine Identität. Noch eine Niederlage, für viele die schlimmste, und eine, die noch andauert, weil nichts Adäquates an seine/ihre Stelle getreten ist.

Wer dem Ruhrgebiet mangelndes Selbstbewußtsein vorwirft, wer sich wütend oder resigniert über Kirchturmdenken und Provinzialismus ereifert, muß hier ansetzen. Trauma bleibt Trauma, das ist mit einzelnen Menschen nicht anders als mit menschlichen Kollektiven. Es geht nicht weg, indem man es totschweigt, ignoriert, den Traumatisierten in den Hintern tritt oder ihm Geld für neue Tapeten gibt; die Schäden werden nur an die nächste Generation weiter gereicht.

Das Ruhrgebiet ist inzwischen mehr als ein chaotischer Haufen von Industriesiedlungen. Das heutige Luftbild zeigt eine zusammenhängende, klar abgrenzbare große, landschaftlich abwechslungsreiche Region. Was man nicht sieht: Das Ruhrgebiet ist immer noch Kolonie. Keine Metropole. Definitiv nicht.

Was ist eigentlich eine Metropole?

Bei den Griechen und Römern war die Metropole die Mutterstadt einer Kolonie. Das ist keine Frage der Größe sondern der Souveränität; es geht um Inhalte, Haltung, ein Thema, eine Aufgabe oder eine Mission. Das kann man nicht herbeischwatzen, das kann sich keine Werbeagentur ausdenken, das muß gelebt werden; in diesem Fall von gut 5 Millionen Menschen.

Noch einmal ein Stück des östlichen Reviers: Blick vom Florianturm auf den neu entstandenen Dortmunder Phoenixsee. (Foto vom 21.10.2012: Bernd Berke)

Noch einmal ein Stück des östlichen Reviers: Blick vom Florianturm auf den neu entstandenen Dortmunder Phoenixsee. (Foto vom 21.10.2012: Bernd Berke)

Von einer Metropole erwarten wir Selbstbewußtsein, Charme + Stolz, Charisma, Verzauberung, unwiderlegbare Kompetenz in einem eigenen Kernthema, in einem Wort: Autonomie. Also alles das, was wir hier im Ruhrgebiet nicht haben.

Wir haben ja nicht einmal eine eigene Regierung. Divide et impera: 3 Regierungsbezirke, 53 Kirchtürme, das Ganze 1 Witz. Der ist aber nicht komisch, es lacht auch keiner.

Kein Sprungbrett wie Berlin

Berlin ist + bleibt in Deutschland die Metropole der Kreativität, Fluchtpunkt für Dichterfürsten, Malergötter, Theaterprinzipale, intellektuelle Olympier, hedonistische Existenzgründer, die ihre Ideen auch in gelebtes Leben umsetzen wollen, Sprungbrett für internationale Karrieren.

Berlin ist ein polyglotter, großstädtischer Raum, wo die Fußgängerwege so breit sind wie im Ruhrgebiet die Straßen. Intellektuelle Kreativität, großbürgerliche Urbanität und ein solides Fundament aus Führungsanspruch, Disziplin und Aufklärung: Für eine europäische Metropole keine schlechten Voraussetzungen, allerdings im globalen Wandel auch keine unbegrenzte Bestandsgarantie. Einen Flugplatz zum Beispiel sollte man schon hinkriegen.

Geschichte ist immer konkret: Wir stehen immer ganz unmittelbar auf den Schultern unserer Vorfahren, ob uns das passt, ob wir das auch so gemacht hätten, ob wir nun wissen, was anfangen mit dem Schlamassel oder nicht. Wir waren nicht dabei. Wir sind jetzt, und wir sind nicht Berlin; wir sind der Weiße Neger.

Fangen wir also mit unseren Defiziten an, mit unseren Traumata, mit unseren Wunden. Vielleicht finden wir da ein Thema, eine Kernkompetenz, eine Mission. Dann klappt das auch mit der Metropole. Vielleicht.

Das Ruhrgebiet wird europäisch oder es bleibt Provinz

Den Markenkern, die Kernkompetenz Europas bildet der Werte- und Begriffskatalog AUFKLÄRUNG, ein universeller Baukasten zur Gestaltung und Erkenntnis menschlicher, sozialer, politischer und geistiger Systeme. Wie gesagt – man kann es sich nicht oft genug klarmachen, denn es ist eine der wichtigsten Ursachen für das poröse kollektive Selbstbewußtsein und die so oft kritisierte Unfähigkeit zur Selbsterneuerung im Ruhrgebiet: Die europäische Aufklärung hat im Ruhrgebiet niemals stattgefunden, die Strukturen von Öffentlichkeit sind prä-aufklärerisch. Das ist ein schwerwiegendes strukturelles Defizit, das es aufzuarbeiten gilt.

Das Ruhrgebiet von Westen her: Blick vom Oberhausener Gasometer bis zur Essener Skyline. (Foto vom 9.7.2009: Bernd Berke)

Das Ruhrgebiet von Westen her: Blick vom Oberhausener Gasometer bis zur Essener Skyline. (Foto vom 9.7.2009: Bernd Berke)

Weshalb gibt es hier für eine der inzwischen üppigsten Wissensregionen der Welt mit Dutzenden von Forschungseinrichtungen, Hochschulen, Universitäten und ihren Geistesarbeitern kein Feuilleton, kein Wochen- oder Monatsmagazin als publizistischer Spiegel der Intelligentsia der Region, als Plattform der Verständigung der regionalen Elite mit den Eliten anderer Regionen und Metropolen?
 Weshalb haben es Innovationsimpulse von unten nach oben hier so schwer? Weder die Kohle- und Industriebarone und ihre leitenden Angestellten, noch die Finanziers aus dem Rheinland oder den Niederlanden, und erst recht nicht die preußische Metropole Berlin wollten im Ruhrgebiet irgendwelche Impulse von unten, egal welche und egal welches „Unten“.

Die Künstler blieben nicht hier

Aber das ist vorbei, passé, die Ära des Grubengolds ist Vergangenheit.

Weshalb lebt unter 5 Millionen Menschen nicht ein einziger Künstler, der auch international bekannt ist? Die Menschen, die ihren Lebensunterhalt unter Tage oder an den Stahlkochern verdienten, hatten weder Sinn noch Zeit für Kunst.

Aber das ist vorbei. Alle Menschen brauchen Kunst! Der Respekt vor Kunst und Künstler ist ein Gradmesser für den Respekt einer Gesellschaft vor sich selbst.

Der weitaus größte Teil an Kunst + Künstlern, die hier in der Region gezeigt, ausgestellt und angepriesen werden, wird immer noch aus dem Ausland eingekauft oder aus anderen Teilen Deutschlands. Auch das sollte langsam vorbei sein. Auch das Ruhrgebiet sollte für Künstler/Intellektuelle ein Sprungbrett zu einer großen Karriere sein können; man sollte als Künstler/Intellektueller nicht mehr weggehen müssen, um Karriere und sich einen Namen machen zu können. So lang das nicht der Fall ist, ist „Metropole Ruhr“ noch kein rechtmäßig erworbener Titel, sondern entweder Vorschein + Utopie, produktive Überforderung und strategische Notwendigkeit oder provinzielle Überheblichkeit.

Digitale Urbanität, ein neues Thema fürs Revier

Der Prozeß der Digitalisierung unseres gesamten Alltagslebens ist die seit Menschengedenken am schnellsten wachsende Infrastruktur. Tendenz: Alle digitalen Rechner sind mit allen digitalen Rechnern vernetzt, von der Armbanduhr übers Handy bis zum globalen Netzwerk Internet. Digitalisierung legt sich wie eine denkende Haut um den Globus, kennt keine nationalen, kulturellen oder geographischen Grenzen, umfasst alle Bereiche des menschlichen Lebens auf diesem Planeten, von der Sekundentaktung globaler Finanzströme über die Logistik internationaler Transporte, massenhaften interkulturellen Informations- und Datenaustausch über das Internet bis hin zu den vielen kleinen tausenden von alltäglichen Verrichtungen, die wir bereits so gewöhnt sind, daß wir sie nicht mehr bemerken:

Wohin wir gehen, welches Verkehrsmittel wir benutzen, wie wir einkaufen, kommunizieren, planen, Zutritt zu Leistungen, sozialen Räumen und kulturellen Ereignissen erlangen usw., all das wird mittels digitaler Technik portioniert, aufbereitet, gefällig gestaltet angeboten, gesteuert und entschieden, tagtäglich und von morgens bis abends und nachts, und das umfaßt tendenziell alle Menschen auf diesem Planeten und überall, wo sich Menschen sonst noch aufhalten oder in Zukunft aufhalten werden.

Digitalisierung läßt das Wissen der Menschheit auf Daumennagelgröße schrumpfen, wir tragen tausende von Büchern, unendlich viele Stunden Musik in der Hosentasche mit uns herum, haben jederzeit unbegrenzten Zugriff auf ein schier unerschöpfliches globales Warenangebot, das uns frei Haus geliefert wird. Die ganze Welt als Wille und Vorstellung und vor allem: Ware.

Überhäufung aus Unendlichkeiten

Wie werden wir, wie wird der Einzelne, das Individuum, der Mensch in seiner banalen Endlichkeit mit dieser Überhäufung aus Unendlichkeiten fertig? Wo finden wir Halt, Orientierung, Maßstab? Gibt’s dafür schon eine App?

Die „Tyrannei der Wahl“ verursacht Streß, Burnouts und Bulimie; der Kapitalismus als Menschheitsneurose (Renata Salecl).

Wer gestaltet den Prozeß der Digitalisierung unserer Alltagswelten? Es gibt mit Sicherheit nicht nur mehr Apps als noch irgendein Mensch jemals überschauen könnte; es gibt damit auch unendlich viel mehr Lösungen als Probleme und ein blindes ideologisches Vertrauen, daß es für jedes „Problem“ die richtige App gibt. Es gibt einen Namen für diesen Wahnsinn: „Solutionismus“. (Evgeny Morozov)

Wir brauchen europäische Werte, europäische Orientierungen, europäische Standards in der Digitalisierung des Alltags, ganz allgemein und ganz speziell; also: sehr umfassend, von der Funktionalität bis zur Ästhetik. Die Hardware ist asiatisch, die Software amerikanisch, und Asiaten und Amerikaner ticken nunmal anders, sind anderen Traditionen, Denkmustern und regulativen Ideen verpflichtet. Nicht erst die NSA-Affaire hat das gezeigt.

Nochmals der Westen: Blick hinab vom Oberhausener Gasometer. (Foto vom 9.7.2009: Bernd Berke)

Nochmals der Westen: Blick hinab vom Oberhausener Gasometer. (Foto vom 9.7.2009: Bernd Berke)

Holen wir diese große Aufgabe, diese Herausforderung, europäische Standards und (Anstands-)Regeln bei der Digitalisierung der urbanen Alltagswelten zu schaffen, ins Ruhrgebiet! Geben wir dem Ruhrgebiet eine historische Chance, sich im 21. Jahrhundert auch geistig, intellektuell und kulturell prägend als eine zentrale Region im Herzen Europas zu definieren!

Die NSA hat amerikanische Firmen, die Verschlüsselungssoftware entwickeln, so unter Druck gesetzt, daß die den Betrieb einstellten. Holen wir diese Firmen und ihr KnowHow ins Ruhrgebiet. Das ist nicht etwa ein europäisches Ruhr Silicon Valley, das ist keine Kopie, das ist die europäische Antwort auf Silicon Valley

Wie rettet man die Werte der Aufklärung?


Europa steht vor der Aufgabe, sich selbst, seine Geschichte und die Werte, für die es von aller Welt respektiert wird, fürs 21. Jahrhundert neu zu entdecken und so zu formulieren, daß diese Werte fürs Digitale Zeitalter nachvollziehbar, wünschbar, erstrebenswert und alltagstauglich werden und Orientierung anbieten.
Wenn sich Europa nicht fürs 21. und digitale Jahrhundert radikal neu erfindet, wird Europa – global gesehen und überhaupt – Provinz. Holen wir diese Aufgabe ins Ruhrgebiet.

Der Vorschlag ist simpel, pragmatisch und angesichts der Vielfalt, der Diversität und der traditionell sachbezogenen Ausrichtung der Wissenschaftslandschaft Ruhrgebiet einleuchtend: „Das Ruhrgebiet war und ist eines der entscheidenden Experimentierfelder moderner Industriegesellschaften“ (Roland Günther), ist + war schon immer eine Zukunftswerkstatt, ein soziales Labor.

Aufklärung ist DAS zentrale europäische Projekt

Aufklärung ist permanent, prinzipiell nicht abschließbar aber besiegbar, muß also verteidigt werden. Im Kern europäischen Denkens steht immer die Sorge um das eigenverantwortliche, autonome Subjekt, das Individuum. Verantwortung, Respekt, Differenz, Toleranz oder Autonomie sind weder Selbstzweck noch Selbstläufer. Geht’s dem Einzelnen in seinem Haus (oikos) gut, dann geht’s auch der urbanen Gemeinschaft (polis) gut. Und umgekehrt. Das ist die Botschaft, so geht Ökonomie europäisch, vom Menschen aus gedacht. Übersetzt in die Notwendigkeiten des globalisierten digitalen Zeitalters heißt das: geht’s dem einzelnen Land gut, dann geht es auch der europäischen/planetarischen Staatengemeinschaft gut. Das heißt gerade nicht, daß alles gemacht werden muß, was gemacht werden kann.

Europäische Standards in den digitalen Geräten, in der Produktion, in den Algorithmen. Machen wir das zu unserer Sache, holen wir diese historische Thema im großen Stil ins Ruhrgebiet, direkt auf das Opel-Gelände: Wie geht Aufklärung unter den Bedingungen des hochzivilisierten, digitalisierten, urbanen Alltags? Umgekehrt: Wie geht Digitalisierung des urbanen, massenkompatiblen globalen Alltags unter den Vorzeichen europäischer Aufklärung?

Dieses Thema gehört in seiner ganzen komplexen Vielfalt ins Ruhrgebiet! Wir haben das Wissen, die Kompetenz, die Einrichtungen; wir haben das Geld, die Möglichkeit, die Notwendigkeit, und wir haben ein Motiv: Selbsterhaltung, Aufbau von Identität und kollektiver Ich-Stärke. Grubengold ist out, die neuen Fördertürme sind digital, die Blaupausen europäisch. Und ganz nebenbei kann das Ruhrgebiet die Aufklärung nachholen. Manchmal muß man eben nachsitzen, Hauptsache die Versetzung ist nicht gefährdet. Ist sie aber!

Coda

Ich denke nicht, daß ein Sklave viel weiß über Freiheit. Er weiß viel über Sklaverei und davon, wie sich Sklaverei anfühlt. Er weiß möglicherweise viel über die Sehnsucht nach Freiheit. Aber wie man ein Leben in Freiheit organisiert, das müßte er erst lernen. Und nichts ist schwieriger zu organisieren, nichts hat mehr Regeln als die Freiheit; außer vielleicht die Liebe. Oder der Krieg.

Ein Freier hingegen weiß einiges über Freiheit. Er weiß, wie sich Freiheit anfühlt. Er weiß nicht, wie es sich anfühlt, ein Sklave zu sein. Aber er weiß sehr gut, wie man Sklaverei organisiert. Was er nicht weiß, was immer noch kaum einer weiß auf diesem Planeten, wie man Freiheit organisiert ohne Sklaven, ohne Kolonien.

Das wäre dann eine genuin europäische Aufgabe.

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Literatur:


Roland Günther: IM TAL DER KÖNIGE, Klartext Verlag
Martin Schulz: TECHNOLOGISCHER TOTALITARISMUS – Warum wir jetzt kämpfen müssen, FAZ am 6.2.2014 (http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/die-digital-debatte/politik-in-der-digitalen-welt/technologischer-totalitarismus-warum-wir-jetzt-kaempfen-muessen-12786805.html)
Delia Bösch: GRUBENGOLD, Klartext Verlag
Bogumil/Heinze/Lehner/Strohmeier: VIEL ERREICHT – WENIG GEWONNEN, Klartext Verlag
Evgeny Morozov: SMARTE NEUE WELT, Blessing Verlag
Renata Salecl: DIE TYRANNEI DER FREIHEIT, Blessing Verlag
Wilfried Kaute (Hrsg.): KOKS UND COLA, Emons Verlag
Christoph Hübner & Gabriele Voss: EMSCHERSKIZZEN – 35 Filme auf DVD, Klartext Verlag

M.W. Erdmann: KAIROS 2015; FLUXUS-Manifest.01; Urban Screens für das Ruhrgebiet u.a. auf: www.videoparadiso.de

 




Schriftsteller des PEN zur Asylpolitik: Gegen ein engherziges Europa

Gastautor Heinrich Peuckmann, selbst Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland, über die Haltung der internationalen Schriftstellervereinigung zur Asyl- und Flüchtlingspolitik:

Neben der Pflege von Sprache und Dichtung gehört die Verteidigung des freien Wortes zu den wichtigsten Aufgaben des PEN. In der Praxis bedeutet dies vor allem die Verteidigung der von Verfolgung, Gefängnis oder Todesstrafe bedrohten Schriftsteller, Journalisten und zunehmend Blogger in aller Welt.

Eine riesige Aufgabe, immerhin sind es über 800 Autoren, die weltweit verfolgt werden, trotzdem meldet sich der deutsche PEN auch zu anderen drängenden Problemen der Gegenwart zu Wort. Große Beachtung fand seine Initiative „Schutz in Europa“, die von über tausend Schriftstellern in ganz Europa unterschrieben wurde, und in der ein gemeinsames, menschenwürdiges Asylrecht in Europa verlangt wird.

Logo des PEN-Zentrums Deutschland

Logo des PEN-Zentrums Deutschland

Auch den deutschen PEN haben die Bilder von den Ertrinkenden im Mittelmeer erschüttert und vor allem die Tatenlosigkeit, mit der dies von europäischen Regierungen weitgehend kommentarlos hingenommen wurde. „Krieg, Verfolgung, Hunger und widrige Lebensumstände zwingen Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen“, schreibt der PEN und fährt fort:

„Wir fordern die europäischen Staaten auf, ein gemeinsames, menschenwürdiges Asylrecht zu schaffen, das nicht durch staatlichen Egoismus geprägt ist, sondern vom Geist der Solidarität und Verantwortung … Wir Schriftsteller Europas erwarten von den Mitgliedsstaaten und den Institutionen der Europäischen Union, dass sie ihren humanitären Verpflichtungen nachkommen und es als vordringliche gemeinsame Aufgabe verstehen, Menschen zu schützen und ihnen Zukunftsperspektiven zu ermöglichen.“

Die Übergabe dieser Erklärung durch eine Delegation des PEN-Präsidiums beim Innenministerium war ein eher bemühter, distanzierter Vorgang, weil Staatssekretär Schröder der Meinung war, dass von deutscher Seite aus alles Denkbare getan werde.

Einen Tag später aber bei der Übergabe in Brüssel an den Präsidenten des Europaparlaments, Martin Schulz, wurden die Vertreter des PEN mit offenen Armen empfangen. Diesmal wurden sie vom internationalen und englischen PEN unterstützt. John Ralston Saul, Präsident des internationalen PEN, beantwortete die Frage, warum sich ausgerechnet eine Literaturorganisation um das Thema Asyl und Flüchtlinge kümmere mit dem Hinweis auf die PEN-Charta. Dort steht, dass Literatur keine Grenzen kenne und was für die Literatur gelte, müsse auch für Menschen in Not gelten.

Dies alles geschah Monate vor dem großen Ansturm der Flüchtlinge über die Balkanroute, vor allem aus Syrien. Die Folgen dieses neuen Ansturms, den manche, nicht nur der PEN, wenn auch nicht in dieser Dramatik vorausgesehen haben, sind bekannt. Die nationalen Egoismen wurden noch offensichtlicher, teilweise machte man sich nicht einmal die Mühe, sie verschämt zu kaschieren.

In dieser Situation gab der deutsche PEN-Präsident Josef Haslinger dem Deutschlandradio ein Interview, in dem er im Geiste der Erklärung die mangelnde Solidarität der europäischen Länder scharf kritisierte. „Wir sind Augenzeugen des Zerfalls von Europa“, erklärte Haslinger und fügte hinzu, dass das Europa ohne Grenzen ein Traum gewesen sei, freilich einer aus einer „Schönwetterperiode“. Im Augenblick der Krise würden all die großen Erklärungen und Verträge plötzlich nicht mehr zählen, sie würden schlicht und einfach außer Kraft gesetzt.

Positive Worte fand Haslinger durchaus für die (bisherige) deutsche Politik. Bundeskanzlerin Merkel habe dazu aufgefordert, die Menschenrechte und die Genfer Flüchtlingskonvention einzuhalten, dann aber von Staaten aus Südosteuropa im Stich gelassen wurde. Das gleiche gelte für potente Staaten wie Frankreich und Großbritannien. Wenn Deutschland derartig im Stich gelassen werde wie im Moment, wenn es zu keiner einvernehmlichen Lösung in dere Flüchtlingsfrage komme, würde Deutschland in eine enorme Krise hineingetrieben, befürchtete Haslinger.

Ein engeres, besser gesagt engherziges Europa droht. Und wo für Menschen Grenzen und Zäune errichtet werden, wird das bald auch, so ist zu befürchten, für den Austausch des freien Wortes gelten. Deshalb ist der Kampf für ein humanes Asylrecht und Menschlichkeit im Umgang mit Flüchtlingen für den PEN nichts anderes als die Kehrseite seines Kampfes um das freie Wort.




Gerhard Mensching: Germanist, Puppenspieler, Romanautor – eine wehmütige Erinnerung

Revierpassagen-Gastautor Heinrich Peuckmann, in Bergkamen lebender Schriftsteller, erinnert an den 1992 verstorbenen Bochumer Autor und Germanisten Gerhard Mensching, der viele seiner Studenten nachhaltig beeinflusst hat:

Romane und Erzählungen von Gerhard Mensching zu lesen, löst bei mir Freude und Wehmut zugleich aus. Freude, weil es ein schönes Leseerlebnis ist, sich mit den phantasievollen Geschichten dieses Autors, die immer auch mit der Realität spielen, zu beschäftigen. Wehmut, weil ich an der Ruhruniversität in Bochum bei Mensching Germanistik studiert habe. Nein, nicht einfach nur studiert, sondern er und seine Seminare haben mich geprägt.

Vieles, was ich später als Schriftsteller an Kenntnissen und Techniken gebraucht habe, habe ich mir bei ihm aneignen können. Nach meinem Examen haben wir uns für einige Jahre aus den Augen verloren, dann aber den Kontakt wiederbelebt. Wir haben in Briefen und Telefongesprächen gemeinsame Projekte abgesprochen, doch als wir sie umsetzen wollten, ist er ganz plötzlich verstorben.

mensching

Wehmut also, wenn ich auf ihn und seine Geschichten stoße, weil sich die Frage aufdrängt, was noch möglich gewesen wäre. Möglich bei ihm, diesem unglaublich kreativen Menschen, aber auch bei uns, denn die Zusammenarbeit mit ihm, das weiß ich, wäre für mich fruchtbar gewesen. So bleibt nur die tief befriedigende, aber von Melancholie durchzogene Freude, seinen Geschichten wieder zu begegnen oder andere, die ich noch gar nicht kannte, zu entdecken.

In E.T.A. Hoffmanns Tradition

Mensching stand in der Tradition der Novellistik des 19. Jahrhunderts, vor allem E.T.A. Hoffmann, der Gespenster-Hoffmann, hatte es ihm angetan. In jedem seiner Seminare tauchte er mindestens am Rande auf und wer Hoffmann kennt, weiß, dass man sich auf einen platten Realitätsbegriff bei ihm nicht verlassen darf. In Fichtescher Tradition, nach der das Ich sich sein Gegenüber selbst setzt, ist ein objektives Weltverständnis nicht zu erwarten.

Bei Mensching gespenstert es ebenfalls, können Gegenstände durch die Wand gereicht werden, passieren Dinge, die mit normalen Maßstäben nicht vereinbar sind. Aber immer entwickelt Mensching daraus Geschichten, die der Leser ihm abnimmt, weil er daraus eine neue, in ihrem eigenen Sinne glaubhafte Realität entwickelt.

Beispielhaft dafür steht sein bester Roman, „E.T.A. Hoffmanns letzte Erzählung“. Natürlich passieren in diesem Roman die tollsten Dinge, ganz im Sinne von Hoffmann, aber der Hintergrund der Geschichte, dass der Dichter gar keines natürlichen Todes gestorben ist, sondern der preußische Geheimdienst nachgeholfen hat, weil ihm dieser politische Kopf zu gefährlich war, ist absolut glaubhaft. Mensching entwickelt diese Überlegung an der Romanfigur Friedrich Rieger, der dem schon gelähmten Dichter als Sekretär gedient hat und dem Hoffmann seine letzten Geschichten diktierte. Zwanzig Jahre nach Hoffmanns Tod spürt Rieger plötzlich, dass er selber verfolgt wird und er beginnt zu ahnen, warum das so ist. E.T.A. Hoffmanns letzte Erzählung spielt eine Rolle, noch immer scheinen die Herrschenden Angst zu haben vor diesem kritischen Dichter.

Was einen Unterhaltungsroman ausmacht

Als ich den Roman kurz nach Menschings Tod las, erinnerte ich mich an ein Seminar bei ihm, in dem wir uns das Konzept eines guten Unterhaltungsromans überlegten. Zuerst einmal, notierten wir, muss er ein wichtiges, auch politisches Thema haben, wobei für Mensching der politische Anspruch auf gar keinen Fall vordergründig sein durfte. Anfangen, meinten wir, müsse der Roman mit einer spannenden Episode, dann müsse etwas Erotisches folgen, was bei Mensching sowieso immer eine Rolle spielte, dann muss die Gegenseite gezeigt werden, dann wieder turbulente Aktion. Mensching fand gut, dass wir so ein Konzept erstellten, die Unterscheidung zwischen ernsthafter und unterhaltender Literatur hat er sowieso nie mitgemacht. Unterhaltung kann auch ernsthaft sein, sie kann vor allem Tiefgang haben, das war seine Position. Genauso wie es unsere war.

Phantastische Welt des Puppentheaters

Wenn man die Wurzel seiner phantastischen Geschichten fassen will, liegt der Bezug zu Hoffmann nahe. Bei Mensching kam aber noch etwas anderes hinzu. Die ersten Jahrzehnte seiner schriftstellerischen Arbeit hat er mit Puppenspiel verbracht. Mensching hatte ein Puppentheater, er spielte selber und schrieb die Stücke dazu. „Lemmi und die Schmöker“, der bekannte Bücherwurm, hat viele Jahre lang im Fernsehen die Kinder erfreut.

Kann man einen solchen Schriftsteller ernst nehmen? Aber ja, Tankred Dorst, der bekannte Theaterschriftsteller, mit dem Mensching befreundet war, hat genauso angefangen. Mensching hat mir mal eines von Dorsts Puppentheaterstücken in Schreibmaschinenschrift geliehen. Und wer Puppentheater liebt, wer Kinder in eine phantastische Welt hineinziehen will, muss einfach phantasievoll schreiben. Ich glaube, dass Mensching diese Erfahrung aus seinen Anfängen auf seine neun Erzählbände, Novellen und Romane übertragen hat, die er in nicht einmal einem Jahrzehnt geschrieben hat.

Eruptives Schreiben

Ja, es waren nur wenige Jahre, in denen er ernsthaft schrieb, denn Mensching hat lange nach einem eigenen Weg gesucht. Sollte er Wissenschaftler werden oder Puppenspieler oder doch Autor? Als er sich zum Schreiben von Romanen und Novellen entschloss, war es wie eine Eruption. Jedes Jahr gab es eine Publikation von ihm, und so musste es auch sein, denn es blieben ihm leider nur noch wenige Jahre.

Hochaktuell ist zum Beispiel die Erzählung von Herrn Krotta, der irgendwann beschließt, dass es Zeit sei zu sterben. Er weiß, dass so etwas von einem Institut erledigt wird, das mehrere Varianten des Sterbens anbietet. Krotta wählt den teuren, den Liebestod, seine Frau ist einverstanden, möchte aber noch ein bisschen leben. Am vereinbarten Todestag erscheint Krotta eine wunderschöne Frau und sein Todeswunsch erlischt augenblicklich. Diese Frau zu besitzen und mit ihr zu fliehen, ist plötzlich ein lohnenswertes Ziel. Warum sterben, wenn das Leben so schön sein kann? Die Frau geht darauf ein, gemeinsam flüchten sie in ein Hotel, wo Krotta bei der ersehnten Umarmung aber plötzlich einen heftigen Schmerz verspürt. Kurz drauf ist er tot. Die Frau verlässt das Hotel und trifft draußen im parkenden Wagen ihren Mann. Der hat ebenfalls gerade jemanden ins Jenseits befördert. Die beiden sind zufrieden, dass ihre Aufträge wie gewohnt geklappt haben. Sie werden Sonderprämien bekommen und haben folglich Geld genug, um erst mal essen zu gehen.

Das ist weiß Gott eine Mensching-Geschichte! Sie hat ein skurriles Thema, fast eine wie aus unserer Zeit, dazu einen Schuss Gesellschaftskritik durch den bestellbaren Tod und außerdem eine Portion Erotik. Der Leser weiß nicht, ob er lachen oder weinen soll.

Verdienstvolles Lesebuch

Prof. Walter Gödden hat in „Nylands kleine westfälische Bibliothek“ (Nyland-Stiftung, 59227 Ahlen) ein Lesebuch mit ausgewählten Texten von Gerhard Mensching herausgegeben. Die sehr verdienstvolle Publikation befördert einen Autor ans Tageslicht, über den sich schon Dämmerung ausgebreitet hatte. Dämmerung, aber kein Schatten, denn dazu sind Menschings Texte viel zu gut.

Gödden hat die Auswahl sehr geschickt getroffen, ein Reader ist entstanden, bei dem auch die Textauszüge in sich geschlossen und für den Leser verständlich sind. Vor allem macht die Textauswahl Lust, sich mit diesem Autor zu beschäftigen, dem neun Jahre reichten, um sich weit nach vorn zu schreiben. Nach der Lektüre dieses Lesebuchs hat der Leser garantiert Lust, sich mit einem von Menschings Romanen oder Novellenbänden zu beschäftigen.

„Lesebuch Gerhard Mensching“. Zusammengestellt von Walter Gödden. Aisthesis Verlag, Köln, 2013. 176 Seiten, 8,50 Euro. ISBN 978-3-895289842.




Für die Benachteiligten schreiben: Die Werkstatt Dortmund im „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ – eine Erinnerung

Der „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ war in den 1970er und 1980er Jahren ein wichtiges Projekt der Gegenwartsliteratur. Unser Gastautor Heinrich Peuckmann, damals selbst langjähriges Mitglied des Kreises, erinnert an die rege Dortmunder Werkstatt:

Es war Horst Hensel aus Kamen, der die Dortmunder Werkstatt im „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ Ende Oktober 1970 gegründet hat. Im Jahr zuvor, noch als Student in München, hatte er von dem Schreibaufruf „Dein Arbeitsplatz – wie er ist und wie er sein sollte“ gehört und sein Betriebstagebuch von Hoesch eingeschickt, das er während seiner Zeit als Werkstudent geschrieben hatte.

Initiiert hatten den Wettbewerb oppositionelle Autoren in der „Dortmunder Gruppe 61“, denen Kurs und Programm zu wenig politisch waren und die kurz darauf, weil ihre Kritik abgelehnt wurde, den Werkkreis gründeten. Hensels Text gefiel ihnen, der Autor erhielt eine Einladung zur jährlichen Sitzung der „Gruppe 61“ und lernte Erasmus Schöfer, Peter Schütt und andere kennen, die ihn anregten, eine Werkstatt Dortmund im Werkkreis zu gründen.

Gründung 1970 im Fritz-Henßler-Haus

Ende Oktober 1970 fand die Gründungsversammlung im Dortmunder Fritz-Henßler-Haus statt, einem Ort, dem die Werkstatt über die folgenden 17 Jahre bis zu ihrem Ende treu blieb. Schon zur ersten Sitzung kam Paul Polte, den Hensel nicht kannte und der ihm in seinem schicken Anzug, mit seiner karierten Schlägermütze und dem Dackel an der Leine wie ein englischer Lord vorkam. Jedenfalls wirkte Polte nicht wie jemand, der an Arbeiterliteratur interessiert sein könnte, geschweige denn wie jemand, der solche schreiben konnte. Ein Fehlurteil, dem auch ich unterlag, als ich ab der dritten oder vierten Sitzung teilnahm und Polte zum ersten Mal sah.

Impressionen aus einer Werkstatt-Sitzung. u. a.  mit Paul Polte (oben), Horst Hensel (Mitte darunter) und Heinrich Peuckmann. (© Ilse Straeter, Federzeichnung von 1979)

Impressionen aus einer Werkstatt-Sitzung. u. a. mit Paul Polte (oben), Horst Hensel (Mitte darunter) und Heinrich Peuckmann. (© Ilse Straeter, Federzeichnung von 1979)

Mich hatte mein Freund Ferdinand Hanke, der wie Horst Hensel aus Kamen-Methler stammte und Germanistikstudent war wie ich, angesprochen. „Du schreibst doch auch“, sagte er, „komm doch mal vorbei.“

Ich ging zur Probe im Frühjahr 1971 zum ersten Mal hin und blieb für fast zehn Jahre in der Gruppe.

Schmerzliche Verrisse

Von Anfang an war die Dortmunder Werkstatt eine sehr literarische Gruppe. Zu jeder Sitzung, die alle vierzehn Tage im Henßler-Haus stattfand, kamen die Mitglieder mit neuen Texten, lasen vor und stellten sich der Kritik. Keinem von uns ist dabei ein Verriss erspart geblieben, was uns hart gemacht hat, auch für später, wenn unsere Bücher in den Rezensionen der Presse kritisiert wurden.

Wurde es doch mal zu haarig, griff Polte ein. Er wusste, dass Kritik dosiert bleiben musste, um Talente nicht zu verunsichern oder gar zu zerstören. Er ergriff das Wort, wiederholte in milden Worten, welche Kritikpunkte ihm richtig erschienen und fand am Ende immer auch etwas Lobendes, selbst wenn der Text noch so schwach gewesen war. „Man kann doch keinen jungen Hund versäufen“, erklärte er manchmal, „wer weiß, was noch draus wird.“

Paul Poltes Autorität

Polte hatte die Autorität dazu, eine Diskussion auf diese Weise zu beenden. Er war schon in der Weimarer Republik Mitglied im „Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller“ gewesen, hatte mit seinem Kabarett „Henkelmann“ die Nazis angegriffen und einige Wochen in der berüchtigte Steinwache am Nordausgang des Bahnhofs verbracht, wo er und seine Gesinnungsgenossen gequält und gefoltert worden waren. Einige seiner berührendsten Gedichte hat Polte über diese Erfahrungen geschrieben, eines davon hängt noch in einer der Zellen, die heute Teil einer Gedenkstätte sind. Später wurde er dann Mitglied der „Gruppe 61“. Polte hatte also alle Bewegungen der deutschen Arbeiterliteratur durchlaufen, die es im 20. Jahrhundert gegeben hat.

Die anderen Mitglieder der Gruppe waren der Arbeiter Rudi Winkler aus Hagen, der vor allem Gedichte schrieb, der Bergarbeiter Rudolf Trinks, der neben Gedichten auch Erzählungen schrieb, die alle das Bergarbeitermilieu beschrieben, das sein Leben geprägt hatte. Rainer W. Campmann aus Bochum versuchte sich schon damals als freier Schriftsteller, die ersten Herausgaben in der berühmt gewordenen „Fischer-Taschenbuch-Reihe“ hat er mitgemacht, später erschienen noch zwei, drei Gedichtbände. Horst Hensel (Lehramtsstudent wie Ferdinand Hanke, Udo Bruns und ich) war wichtig für die Gruppe. Er kannte sich aus in allen Genres der Literatur, schrieb Lyrik, Reportagen, Essays, Erzählungen und Romane. Oskar Schammidatus aus Bochum, der Sozialarbeiter wurde, schrieb Gedichte.

Abende in der „Alten Liebe“

Der starke Anteil an Studenten, die man in einer Gruppe der Arbeiterliteratur nicht unbedingt erwarten würde, störte nicht. Wir haben kooperativ zusammengearbeitet, jeder hat von den Erfahrungen des anderen profitiert. Und wenn es doch mal Komplikationen gab, war immer noch Polte da, der Konflikte glättete und vor allem einen Brauch einführte, den wir alle lieben lernten. Nach der Sitzung gingen wir schräg gegenüber vom Henßler-Haus in die Kneipe, in die „Alte Liebe“, wo wir ein Bier tranken, neue Projekte ausheckten und unsere Freundschaft vertieften. Vor allem Polte lief dann zu Hochform auf, erzählte von seiner Begegnung mit Brecht, seiner Zusammenarbeit mit dem Maler Hans Tombrock, der Brecht ins Exil gefolgt war, von seinen Erfahrungen mit den Nazis in der Steinwache. Es waren herrliche Abende, die wir dort verbracht haben und deren Erinnerungen mein Leben begleiten werden.

Irgendwann kamen Hugo Ernst Käufer, der Lyriker und Aphoristiker, Lilo Rauner, die Lyrikerin, beide aus Bochum und der Agitpropschriftsteller Richard Limpert aus Gelsenkirchen hinzu, die zwar nicht immer, aber eine Zeitlang regelmäßig an den Treffen teilnahmen.

Beachtliche Qualität

Ich weiß noch genau, dass ich mir bei einer Gruppensitzung still vornahm, mir das Bild mit den Teilnehmern genau einzuprägen. Es war mir schon damals klar, dass sich an diesem Tage eine beachtenswerte literarische Potenz in der Dortmunder Werkstatt versammelt hatte, die weit über das normale Werkkreisniveau hinausragte. Tatsächlich sind später vier von den damaligen Teilnehmern in den ehrenwerten „PEN“ gewählt worden: Hugo Ernst Käufer, Lilo Rauner, Horst Hensel und ich. Käufer und Rauner haben zudem den Ruhrgebietsliteraturpreis erhalten.

Die Werkstatt Dortmund konnte sich literarisch also sehen lassen, in fast allen Büchern des Werkkreises war sie mit Texten vertreten, in den meisten mit mehreren. Einige Bücher haben wir auch selbst herausgegeben, u.a. „Sportgeschichten“ und „Im Morgengrauen“, ein Buch über das Altwerden in der kapitalistischen Gesellschaft.

Kneipenlesungen als Markenzeichen

An Lilo Rauner, die im Jahre 2005 verstarb, denke ich mit bewegten Gefühlen zurück. Sie war eine streitbare Frau, immer auf der Seite der kleinen Leute und sie hat, neben all der anderen Lyrik, ein paar wunderbare Sonette geschrieben. Viel zu wenig ist Lilo Rauner heute noch bekannt, auch wenn in Wattenscheid inzwischen eine Schule nach ihr benannt wurde. Die große, auf Petrarca zurückgehende Form des Sonetts hat sie beherrscht und durch Alltagsthemen nachhaltig mit Leben gefüllt. Aber das, denke ich, ist es gerade. Ihre Parteinahme für die Menschen, die am Rand stehen, wird ihr vom Literaturbetrieb verübelt. Hätte sich Rauner auf modische Befindlichkeiten beschränkt, sie wäre viel bekannter geworden. So sind wir es, die von Zeit zu Zeit an sie erinnern. Viel zu wenig, Lilo hätte mehr Aufmerksamkeit verdient.

Die Werkstatt war aber nicht nur literarisch stark, sie hat auch eine Unmenge an Initiativen zur Verbreitung von Literatur entwickelt. Ich staune selbst, wo wir gelesen haben, vor welchem Publikum. Immer ging es uns darum, mit unserer Literatur jene zu erreichen, die gemeinhin nicht zu literarischen Veranstaltungen kommen. In allen Formen von Schulen sind wir angetreten, in Fußgängerzonen mit Flüstertüte (wobei Richard Limpert mit seiner durchdringenden Stimme eigentlich keine gebraucht hätte), vor Fabriktoren, in Gewerkschaftshäusern, Gefängnissen und Kneipen.

Die Kneipenlesungen waren eine Zeitlang sogar unser Markenzeichen. Dieter Treeck, Kulturdezernent in Bergkamen und später selbst Mitglied im Werkkreis, hat sie mit uns zusammen entwickelt. Freitags, wenn die Arbeiter ihr Bierchen in der Stammkneipe tranken, fanden sie statt, drei oder vier Autoren lasen im Wechsel meist kurze Texte und eine Musikband spielte zwischendurch. Manchmal war es Jazz, manchmal wurden Arbeiterlieder gesungen.

Als die Bergleute zuhörten

Ich weiß noch, dass unser erster Versuch in einer Bergkamener Kneipe beinahe missglückt wäre. Die Arbeiter, Bergleute zumeist, wollten gar keine Literatur hören. Sie waren gekommen, um über Fußball zu reden, über ihre Tauben und was sonst so alles auf der Zeche passiert war. Den Einführungsworten von Dieter Treeck wollten sie partout nicht lauschen, der Lärmpegel blieb hoch, da trat Rudolf Trinks, selbst Bergmann, ans Mikrophon und sagte: „Seid mal stille.“ Und tatsächlich, auf Trinks, der ja einer von ihnen war, hörten sie. Die Lesung wurde ein großer Erfolg.
Manchmal erreichten wir, dass durch die witzig-ironischen Texte die Zuhörer selbst zu witzigen Reaktionen animiert wurden. „Ich lese jetzt ein Gedicht vor aus einem Buch, das ich selbst verlegt habe“, sagte mal ein Gastautor, der die Gepflogenheiten noch nicht kannte. „Hoffentlich hast du es auch wieder gefunden“, tönte es aus der Zuhörerschar zurück.

Schon sehr früh gliederten sich zwei weitere Gruppen an die Werkstatt an, die die künstlerische Arbeit sehr gut ergänzten. Da war einmal das Lehrlingstheater, von Kurt Eichler geleitet, der heute kommissarischer Chef des Dortmunder „U“ ist. Die Gruppe schrieb im Kollektiv Theaterstücke zur Situation der Lehrlinge, die an allen möglichen Orten aufgeführt wurden, manchmal in Kombination mit einer Lesung von uns. Zusätzlich gab es bald eine Graphikgruppe, die unsere Texte illustrierte, die Zeichnungen für Bücher und Lesungsplakate herstellte und daneben eigene künstlerische Ziele im Sinne des Werkkreises verfolgte.

Organisation nahm überhand

Das alles musste koordiniert werden, mit der Zeit wurde die Organisationsarbeit deshalb so umfangreich, dass die künstlerische Arbeit darunter litt. Es fanden Sitzungen statt, in denen nur noch Organisatorisches besprochen und keine Texte mehr gelesen wurden. Wir gründeten ein Leitungskollektiv, das sich zwischen den Sitzungen in Poltes Wohnung an der Bornstraße traf. Noch heute kann ich nicht an dem Haus vorbeifahren, ohne zu den Wohnungsfenstern hinüber zu schauen, denn ich gehörte diesem Kollektiv lange an. Viel Kleinkram wurde schon dort erledigt, die Werkstatt nur noch kurz darüber informiert. Bei schwierigen Problemen wurde vorsortiert und ein Lösungsvorschlag unterbreitet. Die Werkstatt konnte sich wieder auf ihre eigentliche Arbeit konzentrieren, das Schreiben von Literatur.

Polte war für die Finanzen zuständig und noch heute staune ich, wie er das in einem nur für ihn überschaubaren System an Kassen gemacht hat. Geld bekamen wir für unsere Sitzungen im Henßler-Haus von der Dortmunder VHS, die uns in ihr Programm aufgenommen hatte. Deshalb fanden, was auch in unserem Interesse lag, die Werkstatt-Sitzungen stets öffentlich statt. Immer kamen Gäste vorbei. Schüler, die über uns Referate halten sollten, Studenten, die Seminar- oder Examensarbeiten über den Werkkreis schreiben wollten, Hobbyautoren, die Texte lasen, die danach Mitglied wurden oder nie wieder kamen. Geld von Lesungen kam hinzu (für jede von der Werkstatt vermittelte Lesung zahlte der Autor einen Prozentsatz in die Kasse). So hatten wir immer Geld für Plakate, Broschüren oder Buchprojekte.

Werkkreis vor dem finanziellen Ruin

1977 wurde Horst Hensel erster Sprecher des Werkkreises und ein Kassensturz ergab, dass der vorige Vorstand den Werkkreis an den Rand des finanziellen Ruins geführt hatte. Alle wurden zu Spenden aufgerufen. Wir, beunruhigt von Hensels Bericht, wollten sofort all unser Erspartes spenden, aber da sprach Polte dagegen. Einen Teil wollte er abgeben, wie hoch, müssten wir entscheiden, sagte er. Aber die Werkstatt selbst sollte auf jeden Fall finanziell schlagkräftig bleiben. „Und wenn der Werkkreis untergeht?“, fragten wir. „Dann gibt es wenigstens noch die Werkstatt Dortmund“, knurrte Polte.

Am Ende haben wir ein paar tausend DM gespendet, so viel wie alle anderen Werkstätten zusammen, der Werkkreis wurde gerettet und die Dortmunder Werkstatt blieb, dank Polte, liquide.

Der Untergang kam schleichend. Es gehörte zu unserem Programm, dass immer neue Autoren zu uns stoßen sollten. Die waren zumeist blutige Anfänger, wie wir es zur Zeit der Werkstattgründung auch gewesen waren. Aber wir Älteren hatten uns inzwischen entwickelt, die Neuen hielten uns auf, wir mussten immer wieder dieselben Anfängerprobleme lösen und verloren Zeit. Irgendwann wurde die Kluft so groß, dass wir das eigene Schreiben vernachlässigten.

Arbeiter wanderten zu RTL ab

Es war Zeit, dass wir uns trennten. 1980 feierten wir alle zusammen noch mal in Haus Ebberg bei Schwerte, hockten eine lange Nacht bei Bier und Schnaps zusammen, dann wechselten Hensel und ich in die neu gegründete Werkstatt Bergkamen. Wir mussten nun nicht mehr nach Dortmund fahren, die Arbeit blieb überschaubar und es war Zeit zum Schreiben gewonnen. Die anderen blieben noch zusammen, auch noch nach Poltes Tod 1985. Aber nicht mehr lange, dann war die Zeit des Werkkreises vorbei. Es gab kein Interesse mehr in der Arbeiterschaft an aufklärerischer Literatur, viele saßen längst vor RTL oder Prosieben. Schade, denke ich immer noch.

Aus den Gruppenmitgliedern wurden normale Autoren, die nun für sich allein schreiben, jede Menge Bücher entstehen. Bei den meisten erkenne ich immer noch Reste unseres damaligen Anspruchs. Ihre Literatur ist politisch geblieben, was ihr die Anerkennung in der Literaturszene erschwert, wo sich für viele Jahre eine Art literarisches Biedermeier mit Befindlichkeitsliteratur breit gemacht hat.

Wiederkehr des Politischen

Aber die Zeiten beginnen sich zu ändern. PEN-Präsident Haslinger fragte mich mal während einer Präsidiumssitzung, ob es den Werkkreis noch gebe und als ich verneinte, bedauerte es das. Schade, so etwas wie der Werkkreis würde heute noch eher gebraucht als früher, meinte er. Die Situation der arbeitenden Bevölkerung ist doch nicht besser geworden, im Gegenteil, vieles habe sich verschlimmert. An vielen anderen Bemerkungen und verstärkt auch an neuen Projekten merke ich, dass das Thema wieder in der Literatur virulent wird. Der PEN selbst wird das Thema Literatur und Arbeit zum zentralen Motto bei einer der nächsten Jahrestagungen machen, das freilich auch neue Formen erfordert. Ich selbst bin an einem Projekt mit Lyrikclips beteiligt, Filme, die Gedichte mit sozialer Thematik aufgreifen, entstehen. Ein Projekt, das bei jungen, nicht unbedingt literarisch vorgebildeten Menschen auf Interesse stoßen kann. Der DGB-Chef hat sein Interesse daran bekundet.

In anderen Ländern steht das Thema längst auf der Agenda. Bei einer Zusammenarbeit mit französischen Autoren, an der ich teilnahm und aus der mehrere Bücher entstanden, ging es einzig um die Darstellung der Arbeit in der Literatur. Die Franzosen, merkte ich, gingen dabei viel unbefangener an das Thema heran als wir, die wir bei jedem Schritt in diese Richtung die Kritiker gegen uns haben. In Frankreich haben sie das nicht.

Man merkt, ein guter Ansatz kann letztlich nicht endgültig verschwinden. Er kann nur zweitweise zugedeckt werden, aber irgendwann bricht sich das Bedürfnis nach Auseinandersetzung mit den immer drängenderen sozialen Problemen Bahn. Wir erleben gerade den Startschuss dazu.




Frei und radikal – Dortmunds gewichtige Beiträge zur Vagabundenliteratur

Unser Gastautor Heinrich Peuckmann zur Geschichte der Vagabundenliteratur in der Weimarer Republik:

Zu Pfingsten 1929 fand in Stuttgart ein denkwürdiges Treffen statt. Gut 500 Obdachlose und „Tippelbrüder“ fanden sich zum „Ersten internationalen Vagabundenkongress“ auf dem Killesberg ein.

Gregor Gog, Gärtner, Vagabund und Dichter, vor allem aber Schüler von Gusto Gräser, dessen ökologisch-alternative Vorstellungen die 68-er Bewegung wieder entdeckte, hatte zu diesem Treffen aufgerufen. Hintergrund war, dass es in Deutschland durch die Weltwirtschaftskrise inzwischen über 450.000 Obdachlose gab.

Keine Bindung, kein System

In teils pathetischen, teils sachlichen Reden wurde nicht etwa die Not der Obdachlosen beschrieben und angeklagt, vielmehr wurde die Welt der Vagabunden als Alternative zur erstarrten, spießbürgerlichen Gesellschaft verstanden. Ihr Nein zur Gesellschaft hieß: keine Bindung, kein System, keine Autorität, ihr Ja dagegen bedeutete Selbstverantwortung, Persönlichkeit und Menschsein in freiem Sinne.

In Dortmund-Hörde erinnert heute eine Straße an den Künstler Hans Tombrock. (Foto: Helfmann/Wikimedia-Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en)

In Dortmund-Hörde erinnert heute eine Straße an den Künstler Hans Tombrock. (Foto: Helfmann – Creative Commons/Wikimedia-Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en)

Letztlich ist ihre Ablehnung starrer Landesgrenzen auch eine Antwort auf den aufkommenden dumpfen Nationalismus. Die grenzüberschreitende Freiheit der Tippelbrüder, ihr Internationalismus also, stand gegen übersteigertes nationales Denken, dessen Gefährlichkeit sich bald zeigen sollte.

Grußtelegramme von Hamsun und Sinclair Lewis

Knut Hamsun und Sinclair Lewis schickten Grußtelegramme, Lewis mit der schönen Bemerkung, dass er gerade in den USA auf Wanderschaft sei und den Weg bis Stuttgart leider nicht schaffen könne. Es war ein Höhepunkt einer sozialen und künstlerischen Bewegung, die heute leider völlig zu Unrecht weitgehend vergessen ist.

Gregor Gog hatte zwei Jahre vorher den „Bruderschaft der Vagabunden“ gegründet und mit ihm eine literarisch-künstlerische Zeitschrift, die „Der Kunde“ hieß. Kunde ist ein Begriff aus dem Rotwelschen und bedeutet nichts anderes als Landstreicher. Etwa viermal im Jahr erschien diese Zeitschrift und enthielt Erzählungen, Gedichte und Grafiken von Künstlern, die sich auf Wanderschaft befanden. Heute ist sie eine Fundgrube der sozialen Kunst aus der Endphase der Weimarer Republik.

Selbst Hermann Hesse hat im „Kunden“ veröffentlicht, dessen „Knulp“ ja auch eine Vagabundengeschichte ist, freilich eine ohne soziale Einbettung, die für die Künstler um Gregor Gog aber typisch war. Gog tritt darin vor allem als Aphoristiker hervor: „Ob der liebe Gott den Betenden auch nur Kupfermünzen in den Hut wirft?“

In all seinen theoretischen Äußerungen zum Vagabundendasein aus jener Zeit wird deutlich, dass es Gog und seinen Kampfgefährten nicht um die Verbesserung des Sozialstaates geht, der mit Hilfsprogrammen die Obdachlosen inkludiert, sondern der Staat wird radikal abgelehnt. Er wird als Institution zur Sicherung des Reichtums in den Händen des Kapitals begriffen, Sozialprogramme sind da nur Augenwischerei. Nicht Inklusion, sondern Exklusion ist das Programm.

Hans Tombrock, ein Künstler aus Dortmund

Wichtig aus dem Kreis um Gog war der Dortmunder Maler Hans Tombrock, der später vor den Nazis fliehen musste, nach Schweden kam, dort Brecht kennen lernte und mit ihm Freundschaft schloss. In seinem Arbeitsjournal urteilt Brecht positiv über Tombrocks Malerei, die einem expressionistisch-düsteren Stil verpflichtet ist, gelegentlich bei Landschaftsbildern, die oft während seiner Wanderschaft (u.a. auf dem Balkan) entstanden, auch helle, fast impressionistische Züge bekommen kann.

Auch in Peter Weiß´ „Ästhetik des Widerstands“ taucht Tombrock in Diskussionszusammenhängen über den richtigen Weg gegen den Faschismus auf. Er hätte viel mehr Beachtung verdient, neulich aber wurde er in einer Ausstellung in den neuen Bundesländern endlich mal wieder gewürdigt. Tombrock schrieb auch kleine Erzählungen für den „Kunden“, darunter die bedrückende Geschichte einer hungernden Familie auf dem Balkan, die dem Tippelbruder Tombrock in ihrer Not die kleine, etwa zehnjährige Tochter zum Kauf anbietet. Tombrock gibt der Familie die Hälfte seines Geldes und beeilt sich, den Ort des Grauens so schnell wie möglich zu verlassen.

Mit Tombrock ist eine Zeitlang sein Dortmunder Freund, der Lyriker Paul Polte gewandert. Polte war später Mitglied in allen Gruppierungen der Arbeiterliteratur (BPRS, Gruppe 61, Werkkreis) und eine Art proletarischer Erich Kästner, der Zeit seines Lebens (die Monate der Wanderschaft ausgenommen) im Dortmunder Norden lebte, wo er in bester Luthertradition dem einfachen Volk aufs Maul schaute.

Wertvolles Material im Fritz-Hüser-Institut

Überhaupt spielten Künstler aus Dortmund eine beachtenswerte Rolle in der Vagabundenbewegung, die Maler Hans Bönnighausen, Hans Kreutzberger und Fritz Andreas Schubert kamen aus dieser Stadt. So ist es kein Wunder, dass das wohl umfangsreichste Material zur Vagabundenliteratur im dortigen „Fritz-Hüser-Institut“ lagert. Eine Wand des Instituts ist behängt mit Bildern von Tombrock.

Artur Streiter aus Berlin, Maler und Schriftsteller, muss noch erwähnt werden, weil er in seiner Berliner Zeit den Bezug zwischen Vagabundendasein und Boheme herstellte. Der Vagabund als die radikalste Form der Boheme, so hat er sich und seine Kampfgefährten verstanden. Auch der Lyriker Hugo Sonnenschein, der sich „Sonka“ nannte, hat literaturgeschichtliche Bedeutung erlangt. Er ist in fast jeder Nummer des „Kunden“ vertreten.

Die Vagabunden sind nicht immer „auf der Platte“ geblieben. Wenn sie sesshaft wurden, haben sie – wie Streiter – oft in anarchosyndikalistischer Tradition neue Lebensformen in Kommunen gesucht. Streiter gründete die Siedlung „im roten Luch“ östlich von Berlin.

Nazis verfolgten die Vagabunden als „Volksschädlinge“

Gergor Gog nahm eine andere Entwicklung. Nach einem längeren Besuch in der Sowjetunion schloss er sich der kommunistischen Bewegung an, verlor das Interesse an den Landstreichern und kämpfte nun den Kampf um die soziale Besserstellung der Arbeiterklasse. Sichtbares Zeichen ist die Umbenennung seiner Zeitschrift, die nicht mehr „Der Kunde“ hieß sondern „Der Vagabund“.

Mit Machtergreifung der Nazis wurden die Vagabunden sofort als „Volksschädlinge“ bekämpft. Schon im September 1933 führten die Nazis eine „Bettlerrazzia“ durch und verhafteten tausende Vagabunden, auch Gregor Gog. Tombruck emigrierte, sein Freund Polte wollte Dortmund nicht verlassen und fand sich prompt in der „Steinwache“ wieder, dem berüchtigten Gestapogefängnis.

Nach seiner Freilassung wegen schwerer Krankheit (Rückenwirbeltuberkulose) konnte Gog durch Vermittlung von Johannes R. Becher in die Sowjetunion fliehen, den Krieg überleben, danach aber nicht mehr zurückkehren. Nach schwerer Krankheit ist er 1945, gerade mal 54 Jahre alt, in Taschkent gestorben.

Wer die Geschichte der Vagabunden und ihrer Kunst kennt, wird die aufblühenden Obdachlosenzeitungen heute vielleicht in einem anderen Licht sehen. Spannende, auch bedrückende Sozialreportagen kann man dort finden und auch interessante Buchbesprechungen, oft aus ganz anderem Blickwinkel als bei bürgerlichen Feuilletons. Mit dieser Tradition im Hinterkopf kann es nicht mehr allein Mitleid sein, das zum Kauf anregt, sondern – sehr viel besser – eine gehörige Portion Respekt.




Stipendium – zu spät: Bloke Modisane, ein südafrikanischer Autor in Dortmund

Unser Gastautor Heinrich Peuckmann über ein bewegendes Autorenschicksal – und ein weithin unbekanntes Seitenstück Dortmunder Literaturgeschichte:

Es ist eine Geschichte, die mich tief betroffen gemacht hat damals. Und ganz ist sie nie gewichen, denn wenn sie mir wieder einfällt, die Geschichte, ist sie wieder da, diese Betroffenheit. Ganz unvermittelt geschieht das, während einer Autofahrt zum Beispiel, während eines Spaziergangs, während der Wartezeit auf einen Bus oder eine Straßenbahn. Unauslöschlich haben sich die Bilder in mein Gedächtnis eingeprägt.

Die Geschichte begann mit einem Brief, den ich unerwartet erhielt. Ich war Vorsitzender des Schriftstellerverbandes in meiner Region, deshalb hatte der Schreiber mich als Adressaten ausgesucht.

Bloke Modisanes bekanntestes Buch "Blame me on History" (deutsch: "Weiß ist das Gesetz")

Bloke Modisanes bekanntestes Buch „Blame me on History“ (deutsch: „Weiß ist das Gesetz“)

„Lieber Heinrich Peuckmann“, schrieb er, „vor einigen Jahren habe ich William Bloke Modisane, einen farbigen Südafrikaner kennen gelernt. Bloke ist 62 Jahre alt, hat als oppositioneller Journalist in Südafrika einiges erdulden müssen, unter anderem auch Folter, und ist nach Flucht und längerem Aufenthalt in London, wo er Hörspiele für die BBC geschrieben hat, schließlich in Dortmund gelandet. Seine jetzige Situation ist, gelinde gesagt, ´ziemlich beschissen´: Scheidung im Dezember 84, kein Geld, Asthma-Anfälle, die er sich mit Cortison wegspritzen lässt, eine Hüftoperation, deren Wunde nicht zuheilen will usw. Das Unangenehmste aber ist, dass er in Dortmund kaum jemanden kennt und mit Sicherheit niemanden, mit dem er sich als Schriftsteller austauschen kann. Meine Bitte: Ist es möglich, ihn mal zu einem Treffen des Dortmunder Schriftstellerverbandes einzuladen und so einen Kontakt zu knüpfen zu einem Mann, bei dem sich praktische Solidarität mit einem Verfolgten des Apartheidregimes üben lässt?“

Einladung des Schriftstellerverbands

Der Absender war ein bekannter Dramatiker, dessen Drama „Das Totenfloß“ gerade auf vielen Bühnen in Deutschland gespielt wurde. In der Zeit der Nachrüstung zeigte es die beklemmende Vision einer Gruppe von Menschen, die sich nach dem alles vernichtenden Atomschlag rheinaufwärts zum Meer retten will.

Ein verfolgter südafrikanischer Schriftsteller in meiner direkten Nähe? Ich war überrascht, schließlich hatte ich geglaubt, die literarische Szene in meinem Umfeld zu kennen. Ich wählte noch am selben Morgen die angegebene Telefonnummer und tatsächlich meldete sich eine dunkle, leicht heisere Stimme, die in gebrochenem Deutsch sprach: Bloke Modisane, mit dem mich in den folgenden Monaten eine kurze, aber tiefe Freundschaft verbinden sollte.

Ich lud ihn zur nächsten Sitzung der Dortmunder Schriftsteller ein, beschrieb ihm den Weg dorthin und spürte, wie überrascht, aber auch erfreut er über meinen Anruf war. Wir hatten nichts über ihn gewusst und er nichts über uns. Er versprach zu kommen, zwei-, dreimal wiederholte er es, und ich bat ihn, dann ganz offen mit uns über seine Situation zu sprechen und natürlich auch, uns etwas über die südafrikanische Literatur zu erzählen. Wir würden uns freuen, ihn kennen zu lernen, sagte ich, und wir würden ihm gerne bei dieser oder jener Beschwernis helfen.

Beschwernis, das war so ein leichthin gesprochenes Wort. Wir sollten bald feststellen, welche handfesten Probleme Bloke Modisane hatte.

Lockerer Scherz über Asthma

Tatsächlich waren alle Autorenfreunde gespannt, ihn kennen zu lernen, als ich zu Beginn der nächsten Sitzung von Bloke erzählte. Aber er kam nicht. Ein paar Tage später rief ich ihn wieder an. Nein, nein, sagte er, er hätte den Termin nicht vergessen, aber er hätte beim besten Willen nicht kommen können. Er hätte einen seiner Asthmaanfälle erlitten und es sei ihm unmöglich gewesen, die Wohnung zu verlassen. Aber beim nächsten Mal, das verspreche er hoch und heilig, würde er garantiert kommen. Da gäbe es nur zwei Möglichkeiten. Entweder, er sei bis dahin an einem Asthmaanfall erstickt oder er würde pünktlich erscheinen. Wir lachten, als sei es ein locker dahin gesprochener Scherz.

Tatsächlich kam zur nächsten Sitzung ein etwas korpulenter Schwarzer mit schaukelndem Gang, was, wie ich aus dem Brief wusste, an der Hüftoperation liegen musste. Er erzählte uns von seiner Literatur, vor allem von seinem wichtigsten Werk, dem autobiographischen Werk „Weiß ist das Gesetz“, das 1964 auch in Deutschland erschienen, aber schon lange vergriffen war.

Brutale Apartheid

Er schildere darin die Brutalität des rassistischen Apartheidregimes Anfang der sechziger Jahre. Es sei eine Zeit voller Gewalt gewesen, erzählte er, in der zwei Freunde der jugendlichen Hauptperson sterben, der Vater bei einem Kampf getötet wird und der Jugendliche schrittweise, vor allem aber blutig eine Überlebensstrategie lernt. Gebannt hörten wir zu.

Über seine eigene Verfolgung sprach er nur zögernd und in Andeutungen, die Foltern, die er während seiner Verhaftungen durch die Polizei erlitten hatte, erwähnte er mit keinem Wort. Wir spürten, wie tief ihn das damalige Unrechtsregime in Kapstadt verletzt hatte, wie verwundet er noch nach vielen Jahren war. Es war diese Mischung aus Bescheidenheit und verletztem Stolz, die bedrückend auf uns wirkte und die ihn für uns einnahm.

Ich besorgte mir Literatur über Südafrika und fand in einem Buch von Breyten Breytenbach eine Spur von Bloke Modisane. Breytenbach rechnete ihn darin der Generation der fünfziger und sechziger Jahre zu, die die Rastlosigkeit und den Rhythmus des Stadtlebens in ihre Literatur aufgenommen habe und sich in ihren, von süßer Bitterkeit durchzogenen Werken oft der Mittel des Enthüllungsjournalismus bedient hätte.

Was Breytenbach von Gordimer unterscheidet

Über Breyten Breytenbach erzählte uns Bloke Modisane auch etwas während einer späteren Sitzung. Er verglich ihn mit der südafrikanischen Nobelpreisträgerin Nadine Gordimer und meinte, dass beide als Weiße gegen das Apartheidregime seien, Breytenbach aber „schwarz“ denke, während Gordimer die Probleme des südafrikanischen Gesellschaft aus weißer Sicht darstelle. Nadine Gordimer bekam damals gerade einen großen Literaturpreis in Dortmund und wir sorgten dafür, dass Bloke an der Verleihung teilnehmen konnte.

Die Hörspielhonorare, die Bloke durch die Arbeit seines Übersetzers, des Dramatikers, bekam, reichten hinten und vorne nicht. Irgendwann erzählte er mir, dass der WDR ein Hörspiel von ihm abgelehnt hätte, sich dann aber, als der NDR es schließlich produzierte, anschloss. Er hätte das Geld schon viel früher gebrauchen können, sagte er. „Warum tun die das?“, fragte er mich dann. „Warum lehnen die ein Hörspiel von mir ab, um sich dann über den NDR daran zu beteiligen?“

Ich wusste es nicht, es konnten nur finanzielle Gründe gewesen sein. Wahrscheinlich sparten sie bei der Übernahme an Geld. Geld, das Bloke dringend hätte gebrauchen können.

Kein Geld für die Stromrechnung

Wir bemühten uns um Lesungen für ihn, was aber, seiner unzureichenden Deutschkenntnisse wegen, schwierig war. Als ich Bloke eines Abends anrief, erzählte er mir, dass morgen ein Mann von den Vereinigten Elektrizitätswerken komme, um ihm den Strom abzuschalten, wenn er nicht 50 Mark anzahlen könne. Die VEW sei ihm schon entgegen gekommen, sagte er, denn er hätte bei ihnen eine offene Rechnung von über 300 Mark, aber er hätte die 50 Mark Anzahlung eben nicht. Ich streckte 50 Mark aus unserer Verbandskasse vor, steckte sie in einen Briefumschlag, fuhr in die Stadt, bat Freunde, die ich zufällig traf, ebenfalls etwas zu spenden, beteiligte mich auch selbst daran und brachte den Brief zur Hauptpost. Für ein paar Wochen war die Gefahr abgewendet.

Mein Schriftstellerkollege und Freund Gerd ergänzte unsere Bemühungen, bemühte sich unter Mithilfe des nordrheinwestfälischen Kultusministeriums um ein Stipendium für Bloke und tatsächlich haben in diesem Falle alle Institutionen reibungslos und schnell gearbeitet. Schon ein paar Wochen später wurde uns mitgeteilt, dass Bloke ein monatliches Stipendium in ausreichender Höhe von der Friedrich-Ebert-Stiftung bekommen sollte, zuerst einmal für ein Jahr, aber bei rechtzeitigem Antrag auf Verlängerung würde es keine Schwierigkeiten geben.

Wir freuten uns wie die Kinder, und ich weiß noch, dass ich die gute Nachricht bei der nächsten Sitzung unseres Schriftstellerverbands, zu der Bloke nun immer kam, wenn es ihm seine Gesundheit nur eben erlaubte, so lange wie möglich hinauszögerte. Einfach, weil das Gefühl so schön war, gleich, in ein paar Minuten, ihm eine so schöne Mitteilung machen zu können. Bloke strahlte, als ich es ihm sagte.

Endlich, endlich etwas erreicht

Ich weiß noch, wie wir uns nach dem Ende der Veranstaltung vor der Gaststätte verabschiedeten, wie Bloke mir die Hand gab und versprach, beim nächsten Mal wieder dabei zu sein, wie er mit leicht schaukelndem Gang die Straße hinauf zur Straßenbahnhaltestelle ging, um von dort nach Hause zu fahren. Wie uns das gute Gefühl auch während der Heimfahrt nicht verließ, endlich, endlich etwas für ihn erreicht zu haben. Es war ein Dienstagabend, wie immer bei unseren Treffen.

Am Donnerstagmorgen rief Gerd mich dann an und teilte mir die Nachricht mit, die mich traf wie ein Keulenschlag. Bloke Modisane war gestorben. Er war einen Tag nach unserem letzten Treffen an einem Asthmaanfall erstickt, allein in seiner Wohnung. Ich habe das lange nicht akzeptieren wollen, ich habe auch lange nicht darüber sprechen können. Es hatte doch alles geklappt, er hätte doch endlich in Ruhe schreiben können, unser südafrikanischer Dortmunder Freund Bloke Modisane.

Stattdessen saßen wir an einem bitterkalten Märztag 1986 in der Trauerhalle eines kleinen Friedhofs in der Nähe der Hohensyburg. Ein etwa zehnjähriger Junge, Bloke Modisanes Sohn aus der geschiedenen Ehe, stellte sich neben den Sarg und spielte ein unendlich trauriges Lied auf seiner Blockflöte. Als Sprecher des Schriftstellerverbands hielt ich eine kleine Rede, schilderte die kurze Zeit unserer Zusammenarbeit, versprach, im Rahmen unserer Möglichkeiten auf das literarische Werk von Bloke hinzuweisen und gab der Hoffnung Ausdruck, dass seine Literatur, kurz bevor wir seinen Leichnam in Dortmunder Erde versenkten, zurückkehren möge in ein freies Südafrika.

Beisetzung in bitterer Kälte

Zusammen mit dem Dramatiker, der uns auf Bloke aufmerksam gemacht hatte, und meinen Freunden Gerd und Kurt, dem Leiter des Dortmunder Kulturbüros, haben wir Blokes Sarg zum Grab getragen. Ein bitterer Gang bei minus 15 Grad. Jahre später erzählte mir mein Freund und Autorenkollege Horst, dass er einen Spielfilm im Fernsehen gesehen hätte. In dem Film sei ein weißer Söldner in ein afrikanisches Land gereist, um dort aufzuräumen, um seine Vorstellungen von Recht und Gesetz durchzusetzen: „Weiß ist das Gesetz“. Bei seinen Fahrten durch das Land hatte er einen schwarzen Fahrer dabei und der sei ihm sofort bekannt vorgekommen. Die niederschmetternden Erlebnisse, vor allem aber die Erklärungen seines Fahrers hätten bei dem Söldner mit der Zeit einen Sinneswandel bewirkt und am Ende sei so etwas wie Freundschaft zwischen ihnen entstanden. Der Söldner starb und sein Fahrer, der niemand anderer war als Bloke Modisane, hat ihn begraben. Das hatte er also auch gemacht, unser südafrikanischer Freund, er war Schauspieler gewesen.

1992 fand ich in der „Zeit“ einen Aufsatz von Nadine Gordimer, in der sie das Ende der Apartheid in Südafrika begrüßte, aber gleichzeitig darauf hinwies, wie viele Opfer unter Schriftstellern das menschenverachtende System verlangt hatte. Ganz konkret fragte sie dann, was aus einzelnen Schriftstellern geworden sei und erwähnte dabei auch Bloke Modisane.

Ich besorgte mir ihre Adresse und schrieb ihr einen langen Brief, in der ich ihr das Ende von Bloke schilderte. Das Manuskript einer Rundfunksendung, die ich inzwischen über Bloke gemacht hatte, legte ich bei.

Wochen später erreichte mich ihr Brief: „Dear Heinrich Peuckmann. Many thanks for sending me details about Bloke`s life abroad and his ironically sad sudden death, just when you had succeeded in obtaining a grant for him. The information in your letter will go into the archive of the Congress of South African Writers and will be valued there. As you rightly say, Bloke`s fight was that of all fellow South Africans who want to see justice and freedom in our country.”

Keine Zeile in der Lokalpresse

Als die Informationen über Blokes Leben und Tod in Dortmund nach Südafrika gelangt waren, als sein Buch “Weiß ist das Gesetz” (Original „Blame me on History“) dort wieder aufgelegt worden war, hatte sich für mich ein Kreislauf geschlossen, der mich zwar beruhigte, doch die Wunden rissen trotzdem noch einmal auf, zwei Jahrzehnte später.

Da war ich mit einem Dortmunder Kulturredakteur noch einmal zu Blokes Grab gefahren. Ich habe es ohne langes Suchen gefunden, die Erinnerungen an den Tag der Beerdigung waren nicht verblasst. Wir haben ein Foto gemacht, ich am Grab von Bloke. Der Kulturredakteur hat einen schönen Erinnerungsbericht über ihn geschrieben, der aber niemals erschienen ist. Der Lokalchef hat ihn im letzten Moment gekippt. Er war ihm nicht interessant genug.




Integration (nicht nur) auf dem Rasen – Fußball war im Ruhrgebiet stets eine verbindende Kraft

Der folgende Beitrag macht klar, warum Fußball gerade im Ruhrgebiet so ungemein wichtig ist. Ein Text unseres Gastautors Heinrich Peuckmann, Schriftsteller aus Bergkamen:

Wenn Borussia Dortmund gegen Schalke 04 spielt, steht das halbe Ruhrgebiet Kopf. Unglaubliche Emotionen werden frei, bei den Verlierern fließen Tränen, bei den Siegern brechen Jubelstürme aus. Kaum jemand, der das Revier nicht kennt, versteht, warum der Fußballsport hier eine so große Bedeutung hat. Man muss ein Stück in die Geschichte des Ruhrgebiets zurückgehen, um einleuchtende Erklärungen zu finden.

Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war das Ruhrgebiet eine eher verschlafene Region, die Städte waren klein, Landwirtschaft und bescheidener Handel entlang des Hellwegs prägten das Leben der Menschen. Dann setzte mit Macht und ungeheurem Tempo die Industrialisierung ein, Kohle und Stahl bestimmten für über 100 Jahre die Arbeitswelt. Und dafür mussten Arbeitskräfte angelockt werden, nicht ein paar, sondern gleich Hunderttausende.

Wäre 1955 fast ins Finale um die Deutsche Meisterschaft vorgedrungen: die Herner Vorort-Mannschaft des SV Sodingen.

Wäre 1955 fast ins Finale um die Deutsche Meisterschaft vorgedrungen: die Herner Vorort-Mannschaft des SV Sodingen.

Innerhalb weniger Jahre schwollen die Städte zwischen Ruhr und Lippe, Dortmund, Bochum, Essen und Duisburg zu Großstädten an. Aus Süddeutschland kamen Zuwanderer (bis heute gibt es im Ruhrgebiet „Bayern- oder Alpenvereine“, bei deren Festen tatsächlich in Lederhosen getanzt wird), aus Schlesien und Ostpreußen. Im Ruhrgebiet war man traditionell protestantisch, nun kamen viele Katholiken hinzu, etwas, was damals von großer Bedeutung war. Die Neuen sprachen anders, sie hatten auch andere Namen: Szepan, Konopczinski, Tilkowski, Nowak… Die „Pollacken“ nannte man sie damals durchaus abfällig im Revier.

Wie deutlich zwischen den Menschen, aber auch den Schichten unterschieden wurde, kann man bis heute an einer Gastwirtschaft in der kleinen Gemeinde Bönen ablesen. Bei „Timmering“ gab es rechts einen Eingang für die Steiger der Zeche und für ihre Frauen, die beide einen eigenen Raum in der Wirtschaft hatten. Den Haupteingang, zwei kleine Steintreppen hoch, nahmen die Bergleute, aber links gab es noch einen dritten Eingang. Der war für die Zuwanderer bestimmt, für die „Pollacken“ eben, mit denen sich die Einheimischen lange Zeit nicht gemein machen wollten. Im Keller befanden übrigens die Umkleidekabinen für den Fußballverein VfL Altenbögge, und weil der kurz nach dem Krieg in der obersten Liga spielte, haben sich dort alle großen Stars von Schalke, Westfalia Herne und Borussia Dortmund irgendwann mal umgezogen. Die Sitzbänke stehen noch da, man sollte sie unter Denkmalschutz stellen.

Das Trennende zwischen den Menschen wog also schwer, umso wichtiger wurde daher das, was sie verband. Und das war vor allem der Fußball. Dieser oder jener war zwar ein „Pollacke“ und katholisch war er auch noch, aber er schwärmte wie seine Arbeitskollegen von der Zeche für Hamborn 07 oder den SV Sodingen. Also gab es Berührungspunkte, also kam man sich näher.

Es waren damals noch nicht die Großvereine, sondern kleine Vereine in jeder Stadt, sogar in jedem Stadtteil, die die Menschen, über alle Unterschiede hinweg, zusammenführten. Und erfolgreich waren diese Vereine noch dazu. Der SV Sodingen zum Beispiel im Vorort von Herne hatte sein Stadion auf dem Gelände der Zeche „Mont Cenis“ und mit der Schließung dieser Zeche begann auch sein Abstieg.

1955 aber wäre der SV Sodingen beinahe in das Endspiel um die deutsche Meisterschaft vorgedrungen, das dann mit hauchdünnem Vorsprung der 1. FC Kaiserslautern mit seinen Weltmeistern Fritz und Ottmar Walter erreichte. In dieser Zechenmannschaft spielten gleich mehrere Nationalspieler und wenn man ihre Namen aufzählt, merkt man, woher sie stammten: Sawitzki, Adamek, Konopczinski (B-Nationalmannschaft), Cieslarczyk. Aber auch Nationalspieler wie Jupp Marx oder Gerd Harpers standen in den Reihen des SV. Die Namen verraten, hier fand eine funktionierende Integration statt, die eben nicht auf das Spielfeld beschränkt blieb, sondern sich auf die Zuschauerränge und damit in der Folge auch auf den Arbeitsplatz übertrug.

„Hännes“ (Johann) Adamek, echter polnischer Landadel, war damals bei allen so berühmt, dass irgendwann der katholische Priester bei einer Predigt die Sodinger als gottloses Volk beschimpfte. Sie würden niemals von Gott reden, beklagte er, sondern immer nur von „Hännes“ Adamek. Wie sehr darin Religiöses mitschwang, nämlich das grundsätzliche Einverständnis mit dem Mitmenschen, egal von welcher Herkunft, hat er nicht kapiert. Wie weit diese Zuwanderung damals ging, belegt eine Geschichte, die gerne im Ruhrgebiet kolportiert wird. Als die Schalker Mannschaft mal zu einem Gastspiel nach Polen fuhr, fragte der dortige Fußballverein an, wie viele Zimmer man denn im Hotel reservieren solle. Die Antwort war ganz einfach: „Eines für den Trainer, die Spieler schlafen bei ihren Verwandten.“

Der Zusammenhalt im Schmelztiegel Ruhrgebiet ist also mit der Zeit gewachsen, der Fußball als Sozialkitt hat einen erheblichen Teil dazu beigetragen. Im Grunde waren Solidarität und Hilfsbereitschaft sowieso existentiell nötig, denn die Arbeit unter Tage war gefährlich. Jeden Tag konnte die Situation eintreten, dass ein Bergmann in Gefahr, oft genug in Lebensgefahr geriet. Da musste man sich auf den Kumpel (auch so ein Wort, das Verbundenheit ausdrückt) verlassen können. Da spielte es keine Rolle, ob evangelisch oder katholisch, ob „Pollacke“ oder nicht.

Aber ist das nicht alles Geschichte? Wirkt das tatsächlich bis heute nach?

Dazu ein Beispiel aus jüngster Zeit. Der Düsseldorfer Bürgermeister Elbers machte sich noch im Juni diesen Jahres über das Ruhrgebiet lustig. Dort, urteilte er, wolle er nicht tot über dem Zaun hängen. Dann kam das schwere Unwetter und in Düsseldorf brach der Notstand aus. Die Bäume ganzer Straßenzüge wurden umgeweht. Und wer half? Die Feuerwehren aus dem Ruhrgebiet. Ganz selbstverständlich, ohne Häme. „Hört mal, der Bürgermeister hat uns doch lauthals beschimpft!“ „Egal, die kannst du doch nicht im Stich lassen, wenn sie in Not sind.“ Genau, Solidarität ist etwas, das man im Ruhrgebiet mit der Muttermilch eingeflößt bekommt. Den Rest erledigten die Düsseldorfer selber und wählten Herrn Elbers ab. Klar, das Mitleid hielt sich in Dortmund und Umgebung in Grenzen.

Hans Tilkowski, ehemaliger Nationaltorhüter, berühmt geworden durch das Wembley-Tor von 1966, dessen Vater ebenfalls Bergmann war, spricht gerne vom Wir-Gefühl. Das muss die Menschen untereinander prägen, egal ob in einer Fußballmannschaft oder sonst wo. Sein Vater hat es, als er für drei Tage verschüttet wurde, auf der Zeche erlebt; sein Sohn Hans in den Mannschaften, in denen er gespielt hat.

Und wie ist es heute mit den türkischstämmigen Mitbürgern? Fragt man die Jungen nach ihrem Lieblingsverein, bekommt man oft zwei Antworten. Einmal nennen sie einen Istanbuler Verein, Besiktas, Galatasaray, Fenerbahce, dazu kommen dann Schalke oder Borussia. Eine symbolträchtige Antwort, die viel über die Integration aussagt. Ganz geglückt ist sie noch nicht, aber immerhin, ein Stückchen ist geschafft. Und sie läuft weiter.

Inzwischen nutzt auch der DFB die integrierende Kraft des Fußballs und sendet zum Beispiel Spots, in denen der Vater von Boateng, die Mutter von Özil und andere Spielereltern zusammen grillen und ihr Zusammensein dann unterbrechen, um das Spiel ihrer Kinder zu sehen. Das Ruhrgebiet hätte dabei Pate stehen können.

Der Fußball errichtet Symbole, Leuchttürme in dieser Welt. Im Ruhrgebiet weiß man, wie viel der Fußball als so ein Leuchtturm bewirken kann.




Chancen am Borsigplatz: Der soziale Ertrag des Bierbrauens und andere Aktionen

Bei „Public Residence: Die Chance“, einem künstlerischen Experiment in der Dortmunder Nordstadt, ging es um kulturelle Teilhabe und soziale Kreativität. Das Projekt endete im Mai, soll aber nachwirken. Gastautorin Isabelle Reiff, selbst Mitglied im eingetragenen Verein „Borsig11“, zieht eine Bilanz aus Veranstaltersicht:

„Das ist zynisch, dass Sie das hier machen!“ So begann ein längeres Streitgespräch, das der Künstler Frank Bölter mit einem Politiker der Linken auf dem Kleinen Borsigplatz führte. Anlass dazu bot eine eigenwillige Kunstaktion im Rahmen von „Public Residence: Die Chance“. Das Projekt basiert auf einer Kunstwährung, die an die Quartiersbewohner ausgegeben wird und echte Euros wert ist. Der Geldwert kann sich aber nur in einem gemeinschaftlichen Projekt entfalten.

Diese Bedingung hatten vorher die geldgebende Montag Stiftung und der austragende Verein „Borsig11“ gesetzt. Frank Bölter war also darauf angewiesen, bei den Nachbarn ganz verschiedener Façon und Herkunft den gemeinsamen Nenner zu finden. Und welcher war es dann? Die Liebe zum Bier!

Resultat einer speziellen Kunstaktion unter Anleitung von Frank Bölter: Selbstgebrautes vom Borsigplatz. (Foto: Frank Bölter)

Resultat einer speziellen Kunstaktion unter Anleitung von Frank Bölter: Selbstgebrautes vom Borsigplatz. (Foto: Frank Bölter)

Selber Bier zu brauen ist im Fahrwasser der US-amerikanischen Craft-Beer-Bewegung regelrecht zu uns herübergeschwappt: Immer mehr Menschen fangen hierzulande an, in ihrer Freizeit Bier zu brauen – in der Garage, im Kabuff oder Gartenhaus. Frank Bölter veranstaltete diese Arbeit open air im öffentlichen Raum und zwar an einem Lieblings-Treffpunkt höchst passionierter Biertrinker.

„Hinter jedem einzelnen, der hier den ganzen Tag rumsitzt und säuft, stecken Suchtkrankenakten, kaputte Familiengeschichten, gescheiterte Laufbahnen und Offenbarungseide. Und jetzt kommen Sie und wollen denen zeigen, wie man selber Bier braut!“, beschwerte sich der Lokalpolitiker, während Bölter damit zu tun hatte, Kastanien-Blätter aus dem Sud zu fischen, weil es an diesem Tag wieder so stürmte.

Während der Politiker sich echauffierte, als sei sonst niemand zugegen, mischten an dem Stunden währenden Brauvorgang nicht nur Leute mit, die den Kleinen Borsigplatz zu ihrer zweiten Heimat erkoren haben. Auch Nachbarn, eine angehende Diplom-Braumeisterin und Neugierige rebelten, schroteten und rührten.

Später tauchte noch Kurti auf: Im Knast habe er siebeneinhalb Jahre lang selbst immer Bier gebraut. Das Rezept könne er beim nächsten Mal mitbringen. Gerhard hatte in weiser Voraussicht Malzmyrrhe dabei. Er rühmte sich einer Zusatzausbildung zum Biersommelier. Peter packte nach Ablass des Suds wortlos den übriggebliebenen Brauteig ein und kehrte später unverhofft mit daraus gebackenen Brötchen zurück.

Für Bölter war es ein Etappenziel, „Menschen miteinander in Kontakt zu bringen, die sich sonst eher aus dem Weg gehen“. Mehr noch „gewinnt man beim Selberbrauen ein Stück weit die an die Sucht abgegebene Verantwortung für die eigene Person durch die gewonnene Portion Selbstermächtigung zurück“. Den Satz sollte man zwei Mal lesen. Ob der Politiker Orhan dann anders darüber denkt, den „Alkis“ vom Kleinen Borsigplatz das Bierbrauen beizubringen?

Alle Künstler während des Public-Residence-Jahres waren (wie vorher schon das Projekt „2-3 Straßen“) vor die schwierige Aufgabe gestellt, Menschen zu mobilisieren, die, was ihre erwerbsmäßigen Beteiligungschancen in dieser Gesellschaft angeht, die Hoffnung mehr oder weniger aufgegeben haben. Dass ihre Väter großteils nur wegen der Arbeit hierher zogen, steht auf einem anderen Blatt. Das Quartier um den Borsigplatz ist heute das mit der höchsten (Langzeit-)Arbeitslosigkeit in Dortmund.

Führung durchs Stadtquartier: Matthias Hecht alias Dr. h. c. Wilfurt Loose (vorn), dahinter (mit roter Kappe) Rolf Dennemann. (Foto: Isabelle Reiff)

Führung durchs Stadtquartier: Matthias Hecht alias Dr. h. c. Wilfurt Loose (vorn), dahinter (mit roter Kappe) Rolf Dennemann. (Foto: Isabelle Reiff)

Geblieben ist das gelernte Malocher-Verständnis von Arbeit: Arbeit kann nicht Spaß machen, ist Frondienst, bei dem ein anderer das Meiste verdient. Bildungslücken, fehlende Sprachkenntnisse, Schicksalsschläge (wozu auch das Wegziehen ganzer Industrien zählt) erschweren die persönliche Neuorientierung. Übrig bleibt das Gefühl, Opfer der Umstände zu sein, eben nicht seines Glückes Schmied.

Tradierte Sozialprogramme verstärken oft noch diese Selbstwahrnehmung. Können künstlerische Ansätze hier neue Perspektiven eröffnen? Auf dieser Überzeugung fußt das Programm der Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft aus Bonn. Insgesamt 200.000 Euro hat sie für den Borsigplatz bereitgestellt: Der Betrag bildet die Basis der „Chancen“-Währung, außerdem wurde aus diesem Topf die Arbeit von sieben Künstlern bezahlt.

Sie kamen auf die Idee, Straßen umzubenennen, Gärten anzulegen, ein Repair-Café zu gründen. Es wurde öffentlich gekocht, getanzt, Theater gespielt. Ein bis vor Kurzem noch leer stehendes Ladenlokal ist jetzt ein beliebter Nachbarschafts-Treff (Oesterholz 103). Fortbestehen soll auch das Geschmacksarchiv, bei dem vergessene Rezepte nachgekocht werden, genau so die Jugend-Theatergruppe Kielhornschule. Einige im Quartier bieten jetzt sogar selbst Workshops an – vom Möbelbau aus Paletten bis zum Meditationskurs.

Aber viele machen auch nicht mit; umso mehr Chancen sind übrig geblieben – also Noten mit echtem Geldwert. Jeder Anwohner hat ein Anrecht auf 100 davon. Ungefähr die Hälfte hat ihre Chancen noch gar nicht ergriffen. Das bedeutet, dass viele, die rund um den Borsigplatz leben, immer noch Gelegenheit haben, sich auf etwas zu einigen, was sie in ihrem Stadtteil verwirklichen und dann gemeinsam mit denen ihnen zustehenden Chancen finanzieren wollen.

Ohne sehr viel Kommunikation und Überzeugungsarbeit kann das nicht gelingen. Jetzt müssen andere in die Lücke springen, die die Künstler hinterlassen haben. Einer ist immerhin hier geblieben, weil er seit 15 Jahren in der Oesterholzstraße wohnt: Rolf Dennemann hat als freischaffender Künstler, Autor, Regisseur und Schauspieler (und gelegentlicher Mitarbeiter der „Revierpassagen“) vorher schon Partizipationsprojekte angezettelt, in den Kleingärten in der Nordstadt zum Beispiel, auf dem Hauptfriedhof oder in einem Rentnerwohnblock in Essen. “Bitte kein Wasser runterschütten”, hieß eine der Aktionen.

Dennemann ist nicht der gefällige Typ, so einer „will auch nicht andere um Chancen anbetteln“. Dafür weiß er, wie das Quartier am Borsigplatz tickt. Er hat die Veränderungen, denen es unterworfen ist, über viele Jahre beobachtet. Und er kennt die wichtigen Protagonisten im Viertel. Ein klarer Vorteil gegenüber den kurzfristig zugezogenen Künstlern. Und so kommt die von Dennemann initiierte Stadtteilführung „Borsig-VIPs“ so gut an, das man ihm unaufgefordert Chancen zusteckt. Er hat sich dafür aber auch die stadtbekannte Annette Kritzler ins Boot geholt und Matthias Hecht, der alias Dr. h.c. Wilfurt Loose den Quartiersforscher zum Allerbesten gibt. Dennemann ist daher weiter auf „Spurensuche“, sammelt Geschichten und Erinnerungen von Anwohnern und deckt en passant die geheimen Berühmtheiten im Viertel auf.

Wenn die stadtbekannte Kritzler diese ehrenvollen Namen bei ihrer Führung sonor verortet und Loose das auch noch akademisch untermauert, kommt man kaum umhin, zu glauben, dass die östliche Nordstadt in Wirklichkeit voller öffentlichkeitsscheuer Stars steckt. Wahrscheinlich sind sogar noch längst nicht alle aufgespürt. Drum: Wer ungeahnte Anekdoten, verschollene Dokumente oder sonstige Quartiersgeheimnisse auf Lager hat, sollte Dennemann was erzählen. – Vielleicht ist der Borsigplatz in ein paar Jahren – weit über seine Bedeutung für den BVB hinaus – ein Stadtteil mit vielen Mythen und Legenden.




Die Kunst, den Kern zu treffen: Zum Tod des Karikaturisten Bernd Gutzeit

So haben ihn noch manche KOllegen in Erinnerung: Bernd Gutzeit an seinem WR-Schreibtisch. Jetzt (August 2019) erhielt das Dortmunder Institut für Zeitungsforschung Karikaturen aus seinem Nachlass (siehe nachträglichen Kommentar zu diesem Beitrag). (Foto: Bodo Goeke)

So haben ihn noch manche Kolleg(inn)en in Erinnerung: Bernd Gutzeit an seinem WR-Schreibtisch. Jetzt (August 2019) erhielt das Dortmunder Institut für Zeitungsforschung fast 1500 Original-Karikaturen aus seinem Nachlass (siehe nachträglichen Kommentar zu diesem Beitrag). (Foto: Bodo Goeke)

Ein Nachruf auf den Künstler und Karikaturisten Bernd Gutzeit, verfasst von Gastautorin Ilka Heiner, der langjährigen Leiterin der WR-Lokalredaktion Schwerte:

Politische Karikaturen zeichnete er seit seinen frühen Studienjahren, fast 30 Jahre lang hat er seine Kommentare für die Seite 2 der Westfälischen Rundschau (WR) mit Zeichenfeder und Pinsel festgehalten. Jetzt ist Bernd Gutzeit zwei Tage nach seinem 79. Geburtstag nach langer Krankheit in seiner Wahlheimat Schwerte gestorben.

Seine Karikaturen fügten sich in der Erkenntnis, dass sich die Welt mit keinem Federstrich in Ordnung bringen lässt. Frontal angreifend, listig spottend, skurrilen Hintersinn ausstrahlend verfolgten sie stets das Ziel, den Kern zu treffen.

Bernd Gutzeit (Foto: Bodo Goeke)

Bernd Gutzeit
(Foto: Bodo Goeke)

In seiner aktiven Zeit wurden Bernd Gutzeits Zeitungszeichnungen häufig nachgedruckt, von deutschen, aber auch von ausländischen Blättern, die ihren Lesern diese spezielle Sicht eines deutschen Künstlers auf sein eigenes Land, aber auch auf die Welt zur Kenntnis bringen wollten. Bernd Gutzeit war einer der letzten festangestellten politischen Karikaturisten, die es im bundesdeutschen Blätterwald noch gab.

„Der Künstler“ wurde er liebevoll von seinen Kollegen genannt und das wies auf das zweite – vielleicht das eigentliche? – Leben des Karikaturisten hin, in Bildern, Skulpturen und Objekten, in experimenteller Musik oder theaterähnlichen Inszenierungen seine Fantasie fliegen zu lassen.

Bernd Gutzeit mit einigen seiner künstlerischen Arbeiten. (Foto: Christoph Staat)

Bernd Gutzeit mit einigen seiner künstlerischen Arbeiten. (Foto: Christoph Staat)

Nicht das Endprodukt hatte der Maler, Zeichner und Bildhauer im Visier, sondern den Prozess. Auch war es ihm immer ein besonderes Anliegen, Menschen mit seinen zeichnerischen und bildhauerischen Operationen aus ihrer Eindimensioniertheit hinaus auf den Weg zu bringen: „…um die Augenblicke zu erhaschen, durch die man den Kopf hebt – und vielleicht mit Staunen wieder so ein Stückchen Leben entdeckt“, wie das der Wortgewandte anlässlich einer Vernissage einmal selbst formuliert hat.

Seine Karikaturen, aber auch seine Malerei, Grafik und Skulpturen wurden in zahlreichen Ausstellungen, unter anderem im Schwerter Kunstverein und im Ruhrtalmuseum, gewürdigt.

Bernd Gutzeit, 1936 in Dortmund geboren, stammte aus einer musisch-künstlerischen Familie. In Schwerte besuchte er das Friedrich-Bährens-Gymnasium, und noch bevor er an der Werkkunstschule in Dortmund sein erstes Semester absolvierte, reihte er sich in die Phalanx der Kinomaler ein, die damals noch auf großflächigen Transparenten den Inhalt des Films in eindringlichen Bildern und Portraits darstellten. „Da habe ich einen ganz schönen Schuss mitbekommen“, blickte er einst zurück.

Später unterrichtete er musisches Gestalten am Dortmunder Fritz-Henßler-Haus, war als Kunsterzieher tätig und gab als Dozent für Grafik und Grundlehre an der Werkkunstschule Dortmund sein Wissen weiter. In Schwerte hatte Gutzeit mit Ehefrau Anne, selbst Grafikerin, für viele Jahrzehnte seine Heimat gefunden.

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(Der Nachruf ist in ähnlicher Form auch in RN und WR erschienen).




Vom Mikro zur Motorsäge – die zweite Karriere von Pia Lund („Phillip Boa & the Voodooclub“)

Sie war Sängerin bei Phillip Boa & the Voodooclub, der einzig wirklich erfolgreichen und international anerkannten Dortmunder Band. Heute arbeitet Pia Lund alias Pia Bohr als bildende Künstlerin im Dortmunder Klinikviertel. Unser Gastautor Michael Westerhoff hat sie dort besucht.

Pia Bohr alias Pia Lund (Foto: privat)

Pia Bohr alias Pia Lund (Foto: privat)

Pia Bohr arbeitet dort, wo sie lebt. In einem Hinterhof-Loft des Dortmunder Klinikviertels. „Hier ist nichts richtig gedämmt, im Winter ist es sehr kalt“, bremst Pia Bohr meine Begeisterung. Ihr Hund hat es sich auf einem Teppich gemütlich gemacht. Wir sitzen in ihrer Küche, die gleichzeitig Schlafzimmer und Wohnzimmer ist. Halt ein großer Raum, in dem sich das Leben abspielt.

Außer der Kunst. Die hat Pia Bohr ausgelagert. In einen Vorraum des Lofts. Wenn sie Baumstämme mit der schweren Motorsäge bearbeitet, staubt es mächtig. Holz für ihre Skulpturen holt sie einmal im Jahr in Italien: „Ich packe dann so viel wie möglich in den Kofferraum und fahre mit dem schwer beladenen Wagen nach Hause“.

Nach Hause – das ist seit einigen Jahren wieder Dortmund, nachdem sie einige Zeit mit ihrem früheren Partner Phillip Boa auf Malta gelebt hat. „Ich bin viel unterwegs und froh, wenn ich wieder hier hin komme“, erzählt sie. Pia weiß, dass Dortmund nicht der Nabel der Kunstwelt ist, sie fühlt sich hier aber wohl. Übrigens genauso wie ihr Ex-Partner Boa, der mittlerweile wieder zeitweise in der Stadt lebt.

„Du hast dich mit ihm im Café Strickmann getroffen? Da hat er schon früher immer seine Interviews gegeben.“ Es ist ein, zwei Jahre her, dass wir dort über Musik, aber insbesondere über Musiker, die an Streams und Downloads kaum noch etwas verdienen, gesprochen haben. Das ist durchaus auch für Pia ein Thema: „Die sollen schön weiter auf Tour gehen“, grinst sie. Bohr ist Mit-Autorin der meisten Lieder, bekommt also Tantiemen, wenn ihr Ex Phillip Boa mit den Songs auf Tour geht…

Mit Musik hat sie sonst nicht mehr viel zu tun. 2013 ist Pia Bohr ein zweites Mal beim Voodooclub ausgestiegen. Es hatte mal wieder Krach gegeben. „Ich würde gern mal wieder einen Song schreiben, das fehlt mir“, sagt sie. Die Auftritte mit der Band weniger. Doch sie hat den kreativen Prozess vom Schreiben bis zum Aufnehmen der Songs genossen.

Sie ist stolz auf ihre musikalische Vergangenheit: „Wir haben uns nie verbogen.“ Mit „Container Love“ oder „This is Michael“ hatten Phillip Boa & the Voodooclub ein paar passable Hits, arbeiteten mit dem Produzenten von David Bowie und verkauften in 30 Jahren immerhin rund zwei Millionen Tonträger. Dass sie keine Superstars wurden, lag wohl eher daran, dass sie Promotion und Marketing weitgehend vermieden haben.

Das Potenzial hatten sie. Auch wegen der einprägsamen Stimme von Pia Lund, wie sie sich damals nannte. „Sie haben sich durch ihre unnahbare Art viel kaputt gemacht“, sagen manche Kritiker. An Pia Bohr kann es nicht gelegen haben. Sie ist eine offene, sympathische Frau, mit der es Spaß macht, über Gott und die Welt zu reden.

Tim Renner holte die Band in den 80ern vom eigenen Independent-Label zur großen Polydor. „Der Renner ist ja jetzt Staatssekretär für Kultur in Berlin“, sagt Bohr. „Und er legt sich gerade heftig mit Claus Peymann an“, ergänze ich. „Naja, mit dem kann man sich ja auch gut anlegen“, antwortet Bohr. Und schon sind wir beim nächsten Thema.

Auf dem Esstisch liegt ein Buch von Kim Gordon, Ex-Sängerin von Sonic Youth. Wie Bohr Musikerin, die in den frühen 80ern begonnen hat, wie Bohr bildende Künstlerin und wie Bohr eine der wenigen Frauen, die in der musikalischen Macho-Welt der 80er als Frau bestehen konnte.

"Spionin" - eine Skulptur von Pia Bohr (Foto: Pia Bohr)

„Spionin“ – eine Skulptur von Pia Bohr (Foto: Pia Bohr)

Für Wehmut gibt es jedoch keinen Anlass: „Heute kann ich entscheiden, was ich arbeite und wie ich arbeite, ich muss nicht mehr in einer Gruppe agieren.“ Sie genießt sie ihre Unabhängigkeit: „Ich muss keine Kompromisse mehr machen, kann tun und lassen, was ich will. Das war schon immer mein Traum“.

Ein lauter Traum, von dem die Kinder in der Tagesstätte gegenüber sicherlich ein Lied singen können. Wenn sie den Motorschleifer anwirft, ist das schon Punk: „Mehr als drei Stunden am Tag schaffe ich nicht, das Gerät ist zu schwer.“ Wegen der schönen Struktur bearbeitet sie in erster Linie Birnen- und Oliven-Baumstämme.

Bohr hat zwar einen Plan, wenn sie einen der Baumstämme zu großen Skulpturen verarbeitet. „Aber dabei bricht schon mal was ab.“ Das durchkreuzt regelmäßig ihren Plan. „Man muss mit dem Holz gehen, mit ihm kommunizieren.“ Bis eine Skulptur fertig ist, können Wochen vergehen.

Demnächst stellt Bohr in Berlin aus: „Da gibt es eine richtige Kunstszene, die die Arbeiten schätzt“, sagt sie mit einem kleinen Seitenhieb auf Dortmund. „Die Dortmunder wollen kleine, quadratische Bilder.“ Allenfalls Ärzte und Rechtsanwälte kaufen im Ruhrgebiet ihre Skulpturen. Trotzdem engagiert sie sich im Vorstand der „Dortmunder Gruppe“, einer Künstler-Vereinigung, die 1956 gegründet wurde, beteiligt sich an Kunstaktionen und öffnet ihr Atelier regelmäßig für Besucher.

Auftragsarbeiten macht Bohr eher ungern, aber manchmal kann sie nicht nein sagen. Sie zeigt mir zwei kleine Holzstücke, die sie vorsichtig in Handtücher eingeschlagen hat. „Sieht man, dass das Büffelköpfe sind?“ Die Hörner und der Kopf sind klar erkennbar. Man wird sie demnächst an der Tür eines Burgerladens im Kreuzviertel bewundern können.




Routine im linksliberalen Korsett: Der „Geierabend“ braucht dringend Auffrischung

Der einstmals „alternative“ Dortmunder Bühnenkarneval „Geierabend“ ist mit den Jahren immer erfolgreicher geworden. Unser Gastautor Michael Westerhoff findet allerdings auch, dass die Veranstaltung heute viel harmloser daherkommt. Hier seine Eindrücke vom Premierenabend:

Müde Gags und schlecht einstudierte Szenen. Einzig der „Steiger“ Martin Kaysh läuft zu Normalform auf. Der Rest des neuen Geierabend-Programms („Nach uns die Currywurst“) ist genauso uninspiriert wie das Spiel des BVB in dieser Saison.

Schon das Intro, eine Coverversion von Robbie Williams’ „Let me entertain you“, lässt Böses erwarten. Dass die Zuschauer den Text nicht verstehen können, liegt nur zum Teil an der schlechten Akustik. Vielmehr scheinen die Ensemble-Mitglieder beim gemeinsamen Auftritt alle einen unterschiedlichen Text zu singen. Eine Tatsache, die sich wie ein roter Faden durchs Programm zieht.

"Geierabend": Henri Marczewski (li.) als Präsident, Martin Kaysh als "Steiger". (Foto: © StandOut.de)

„Geierabend“: Henri Marczewski (li.) als Präsident, Martin Kaysh als „Steiger“. (Foto: © StandOut.de)

Mal sind sich bei der Geierabend-Premiere die Duett-Partner der Hossa-Boys nicht einig, welche Strophe als nächste folgt, ein anderes Mal vergessen die Schauspieler ganz den Text oder singen unterschiedliche Worte. Angesichts der grauen Haare vieler Darsteller erinnert das ein wenig an eine Laienaufführung im Seniorenheim.

Und es geht nicht besser weiter. Martin F. Risse singt als Sauerländer Joachim Schlendersack ein Liedchen, das so getextet ist, dass sich am Ende nur Worte wie „Schwanz“ oder „Arsch“ reimen würden. Risse ersetzt sie durch andere Wörter, die eben nicht obszön klingen. Ein Brüller auf Fips-Asmussen-Niveau.

Es folgen erwartbare Nummern zum Flüchtlingsheim in Burbach, in dem Mitarbeiter Asylbewerber misshandelt haben, ein Kasperlestück zu den Vorfällen vor dem Dortmunder Rathaus, wo Anhänger der Rechten am Wahlabend an der Wahlparty teilnehmen wollten, es anschließend aber zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kam. Und Pegida darf natürlich auch nicht fehlen.

Alles hübsch politisch korrekt, nichts quergedacht. Wie im Kabarett der 70er- und 80er-Jahre, als die Kabarettisten brav die Erwartungen ihres links-liberalen Publikums bedienen wollten. Oben auf der Bühne stehen welche, die das aussprechen, was die unten denken. Die Szene über Atom-Fässer im Garten der Villa wirkt wie die Version einer alten „Scheibenwischer“-Sendung aus den 80ern. Und über die Frisur von Ursula von der Leyen wurden auch schon alle Gags gemacht, ein weiterer wäre wirklich nicht nötig gewesen.

Gut wird das Programm immer dann, wenn es diese links-bürgerlichen Klischees verlässt, wenn es aggressiv und politisch unkorrekt ist; beispielsweise bei der typischen Hartz-IV-Mutter mit vier Kindern von vier Vätern. Gespielt wird sie von Sandra Schmitz, dem jüngsten Ensemble-Mitglied, das sehr erfrischend zwischen den anderen wirkt. Gags über Hartz-IV-Empfänger sind nicht neu, Spaß macht die Nummer trotzdem, weil die Texter hier das unsichtbare Korsett der political correctness, das die ganze Show einzwängt, verlassen.

Das gilt auch für den von Ausländern umzingelten Kleingärtner, der wie ein Selbstmord-Attentäter seine Kleingarten-Ordnung verteidigt. Mit einem Sprengstoff-Gürtel bewaffnet, spricht er seine Drohungen in eine Kamera. Das ist böse und gut. Genauso wie die eher an Comedy erinnernde Nummer über einen Türken, der ein Kind vom Kindergarten abholt, es aber nicht nach Hause, sondern zu einem Schrottplatz fährt, weil es dort gefälschte TÜV-Plaketten gibt.

Insgesamt scheint der Geierabend aber seinen Zenit überschritten zu haben. Fast 20.000 Menschen werden das Programm dieses Jahr sehen. Ein grandioser Erfolg. Über 20 Jahre hat sich das Ensemble ein treues Publikum erspielt, das zudem von Jahr zu Jahr zu wachsen scheint. Der einst alternative Karneval ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Möglicherweise ist das genau das Problem. Hier werden Erwartungen bedient. Wie bei McDonald’s, wo der Burger auch immer gleich schmeckt. Vielleicht ist das der Weg, um wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Kulturell inspirierend ist es jedoch nicht.

Der Geierabend braucht dringend frisches Blut; Schauspieler, Künstler und Texter, die andere Wege gehen wollen und nicht lieblos Klischee abliefern. Getragen wird der Abend von in Ehren ergrauten Herrschaften, die ihre künstlerischen Wurzeln in den schon angesprochenen 70er- und 80er-Jahren haben. Das muss nichts Schlechtes sein, führt in diesem Fall aber dazu, dass sich das Programm wie Gespräche von Lehrern in einem Dortmunder Kreuzviertel-Café anhört. Und wer einmal in einem solchen Café gesessen hat, weiß, dass die Unterhaltungen alles andere alles witzig sind.

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Termine und weitere Infos: http://www.geierabend.de/




Der Lehrerausflug – ein kleines Drama in mehreren Akten

Es gibt Tage im Leben einer Lehrkraft, da wünscht sie (die auch ein Er sein kann) sich nichts sehnlicher, als einmal einer ganz normalen Berufsgruppe anzugehören, findet unsere Gastautorin Matta Schimanski:

Ach, wäre ich doch Bäckerin geworden – oder meinetwegen Vermessungsingenieurin. Nein, es sind nicht die Schüler, sondern die Lehrkräfte selbst, die hie und da diesen Wunsch entstehen lassen. Zur Erhellung dieser Behauptung möchte ich unseren letzten Kollegiumsausflug schildern; ich finde, geneigte Leserschaft, da müssen Sie jetzt einfach mal durch. Ich musste es auch.

Erst mal eine Prügelei schlichten

Es war an einem Donnerstagmorgen. Für einen Lehrerausflug gibt es selbstverständlich nicht frei; erst die Arbeit, dann das Vergnügen, wie schon weiland mein Opa selig gerne verkündete. Also begann der Schultag wie üblich.

Ist die U-Bahn schon weg? Kommt noch eine nach? (Foto: Bernd Berke)

Ist die U-Bahn schon weg? Kommt noch eine nach? (Foto: Bernd Berke)

Nach vier Stunden Unterricht und der Auflösung einer mittleren Schülerprügelei begaben sich alle Kollegen, die sich zu dieser mehrstündigen Veranstaltung in der Lage fühlten, also 30 an der Zahl, zum …er Bahnhof, um dort die Regionalbahn nach Köln zu besteigen. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt traf das Orga-Team (bestehend aus einer weiteren Lehrerin und mir) der eine oder andere vorwurfsvolle Blick: „Es ist kalt!“ Nun ja, ich gebe zu, das war ein Schwachpunkt in der Planung.

„Die sind ja lauter als ihre Schüler“

Im zweistöckigen Zug teilten wir uns auf in Untensitzer und Obensitzer. Ich gehörte zu Letzteren, bereute meine Wahl aber bald, denn auch die Kollegen mit den besonders gut trainierten Stimmorganen saßen da. Als wir endlich in Köln ausstiegen, war die Erleichterung in den Gesichtern der Mitreisenden nicht zu übersehen, und ich hörte noch, wie eine Dame hinter mir zu ihrer Nebensitzerin sagte: „Die sind ja lauter als ihre Schüler!“ Peinlich, peinlich! Aber wenigstens hatte noch keiner eine Flasche Bier geöffnet (was sich ändern sollte).

Zuerst war eine Führung durch Kölns römische Unterwelt angesagt, die auch ganz gut ablief; nur vereinzelt gab einer den Besserwisser, und die meisten hörten auch zu. Aber danach ging ’s dann richtig los.

Wir hatten nicht verraten, wo es hingehen sollte, was schon im Vorfeld zu Irritationen und Gemecker bis hin zu Boykott-Ankündigungen geführt hatte, denn meine Mitstreiterin und ich sind ganz offensichtlich nicht vertrauenswürdig (wobei mir schleierhaft ist, was die anderen sich so vorgestellt haben).

Eine Frage der Pünktlichkeit

Nach einer halben Stunde „Freizeit“ war nun also Treffen auf der Domplatte und Weiterfahrt zur Überraschung verabredet. Nur, dass die Kollegen nicht kamen. Jedenfalls nicht alle. Die letzten drei – sonst Verfechter absoluter Pünktlichkeit – kamen 10 Minuten zu spät: Sie hatten noch im Café gesessen, mit ausgezeichnetem Blick auf den Treffpunkt und die sich dort im Nieselregen versammelnde Gruppe, die inzwischen wieder völlig durchfroren war. Die U-Bahn Nr. 18, die wir hätten nehmen müssen, war weg. Na ja, die nächste folgte bald, und wir hatten mit ein bisschen „Luft“ geplant, kamen also nur 7 Minuten zu spät zum gebuchten „Dinner in the Dark“.

„Im Dunkeln essen – das mach‘ ich nicht!“

Als wir unter großem Hallo (Jahahaa – die Überraschung!) das Restaurant betraten, schnauzte mich ein Kollege an: „Im Dunkeln essen – das mach‘ ich nicht! Dann fahre ich lieber wieder nach Hause!“ Sprach’s und verließ das Etablissement. Ich rannte gleich hinter ihm her und versicherte ihm, man müsse nicht unbedingt ins Dunkle gehen, man könne auch im hellen Gastraum bleiben. Dann schnell wieder rein und den Wirt gefragt, ob ich da nicht zu viel versprochen hatte. Hatte ich glücklicherweise nicht, also wieder raus und den Kollegen beschworen, doch wieder reinzukommen, was er dann auch tat. Und es fanden sich drei Damen, denen das Ganze ebenfalls nicht geheuer war und die mit ihm im Hellen blieben. Puh!

Handys aus – oder doch nicht?

Das Essen war ganz OK, und alles war so zubereitet, dass man es ohne Schwierigkeiten (jedenfalls ohne größere) auch ohne zu sehen zu sich nehmen konnte, also – wir haben nur geringfügig herumgesaut. Glauben wir zumindest. Es war tatsächlich stockdunkel, absolut schwarz. Der Kellner („Arthur“), der wohl blind ist, bediente uns souverän. Wer aufs Klo musste oder zu trinken nachbestellen wollte, musste ihn immer rufen, alleine aufstehen war tabu. Hätte man auch gar nicht gewollt, man wäre ja völlig orientierungslos gewesen.

Handys mussten aus sein, auch wegen der Display-Beleuchtung, wie in der Schule – und wie dort hielten sich nicht alle dran. Es ist erstaunlich, dass vor allem die Kollegen, die bei Schülern vehement auf unbedingte Einhaltung der Regeln pochen, das selbst nicht schaffen. Aber das war nur einmal ganz kurz. Ehrlich!

Die Witze, die der Kellner schon kennt

Jedenfalls war Arthur beinahe freundlich, und das Menü – man hatte die Wahl zwischen Rind, Geflügel, Fisch oder vegan – war beinahe heiß. Und nur eine Kollegin hatte ein Problem damit, sich etwas in den Mund zu stecken, das sie nicht sah. Alle anderen hatten Spaß und machten die üblichen Witze, über die Arthur schon lange nicht mehr lachen kann.

Als wir nach dem Essen auf die Straße kamen, regnete es richtig. Egal – die Bahn war ja nicht weit weg. Nur: Sie kam nicht. Wir standen im Regen, es wehte ein wilder Wind, man fror. Die Bahn kam immer noch nicht. Einer huschte schnell über die Straße zur Bude an der Ecke und holte ein paar Flaschen Bier – Fortsetzung des im Restaurant begonnenen Gelages.

„Wo gehen wir hin?“ – „Weiß nicht“

Auf einer Anzeigentafel erschien die Nachricht, dass die Strecke durch ein Auto auf den Gleisen blockiert sei und man auf Ersatzbahn oder -bus umsteigen solle. Man konnte in der Ferne auch das Blaulicht sehen. Also zogen wir durch den Regen über die große Kreuzung zum Bus, ach nee, lieber zu der anderen Bahn, ach nee – ja, wo sind die denn jetzt? Die einen waren hierhin, die anderen dorthin geeilt. „Wo gehen wir denn hin?“ „Weiß nicht.“ „Wer kennt sich denn aus?“ „Weiß nicht.“ „Wer hat denn gesagt …?“ „Weiß nicht.“ „Schluss – wir steigen jetzt hier in diese Ersatzbahn, hol‘ mal die anderen, die sind da an der Bushaltestelle.“ „OK.“

Schließlich saßen alle in der Ersatzbahn, allein sie fuhr nicht. Nach 10 Minuten hieß es: „Die 18 fährt wieder, steht auf der Tafel.“ Gut, alle wieder raus, rüber zur 18, die tatsächlich fuhr – uns vor der Nase weg! Wir waren nass, wir froren. „Na, dann nehmen wir eben die nächste.“ Aber sie kam nicht. Erneut blinkte in der Ferne ein Blaulicht. Nun wollten sich vier ausklinken, ein Taxi nehmen und auf eigene Faust zurückfahren; der Nicht-im-Dunkeln-essen-Woller war natürlich darunter. Da sie keine fünfte Person für ihr Gruppenticket fanden, blieben sie doch bei uns, mehr als missmutig.

Nur noch hysterisches Gelächter

„So, jetzt gehen wir zum Bus!“ Gesagt, getan, nur dass der Bus gerade abfuhr, als wir über die Kreuzung trabten. „Dann nehmen wir jetzt doch die Ersatzbahn, die steht ja noch da!“ Neues Bier an neuer Bude beschafft, dann zurückgeeilt, Leib und Leben beim Überqueren der belebten Straße riskiert, nur um die Ersatzbahn gerade abfahren zu sehen. Wir waren nass, wir froren, wir wollten ZURÜCK ZUM HAUPTBAHNHOF! Unser einziger Trost war, dass die SchönerTagTickets (!) bis 3 Uhr morgens des Folgetages gelten … Inzwischen hatten wir das Stadium erreicht, in dem man nur noch hysterisch über alles lacht. Wir müssen einen etwas befremdlichen Eindruck gemacht haben.

Irgendwo – irgendwie – irgendwann

Zu guter Letzt sind wir einfach in irgendeine Bahn gestiegen in der Hoffnung, sie werde schon irgendwohin fahren, und irgendwie würden wir irgendwann den Hauptbahnhof erreichen. Und so war es dann auch. Die freundliche Fahrerin erklärte uns, wo wir umsteigen mussten (und neues Bier holen konnten), und kaum waren wir losgefahren, kippte eine der Kolleginnen um. Super! War ja bis dahin ziemlich langweilig gewesen.

P.S.: Natürlich kamen wir am Ende mehr oder weniger wohlbehalten zurück nach …, zwei Stunden später als geplant, aber ohne größere Blessuren, und der wackeligen Kollegin ging ’s auch wieder besser.

Etliche waren ja sehr zufrieden mit der Veranstaltung, aber andere wieder nicht; einige hatten schon vorher an allem rumgemeckert. Wir fahren zu früh, wir fahren zu spät, wir fahren zu lang, wir fahren zu teuer, wir fahren ins Unbekannte (wie bedrohlich!) – ein bunter Strauß an qualifizierten Kritikäußerungen, ein Feuerwerk der guten Laune! Der nächste Lehrerausflug, das schwöre ich, wird von anderen organisiert!




Gastbeitrag: „Warum der Museumsbau am Ostwall nicht abgerissen werden darf“

Dem Gebäude, das früher das Dortmunder Museum am Ostwall beherbergt hat, droht der Abriss. Unsere Gastautorin Sabine Schwalbert hat für den Erhalt des Baus eine Online-Petition gestartet, die bis zum Schlusstag (18. September 2013) von 5115 Menschen unterzeichnet wurde und – zusammen mit weiteren Unterschriften – dem Rat der Stadt Dortmund übergeben werden soll. Hier erklärt sie, was sie zu der Petition und zum weiteren Engagement bewogen hat:

Dortmund im Jahr 1947: Die Innenstadt ist nach dem Zweiten Weltkrieg zu mehr als 90 Prozent zerstört. Experten erwägen zunächst, Dortmund an einem anderen Ort komplett neu aufzubauen. Nach einem äußerst harten und kalten Winter 1946/47, der viele Todesopfer forderte, fehlt es nicht nur an Geld, Bau- und Heizmaterial, sondern auch an Lebensmitteln und Kleidung. Tausende Menschen hausen in Notunterkünften oder sind bei Verwandten einquartiert.

Blick aufs Museumsgebäude am Ostwall (Foto: Bernd Berke)

Blick aufs Museumsgebäude am Ostwall (Foto: Bernd Berke)

In dieser prekären Gesamtsituation beschließt der Rat der Stadt, das im Krieg beschädigte Museum am Ostwall wieder aufzubauen. In den folgenden Jahren wird der Bau sukzessive hergerichtet. Als eines der ersten Museen in der jungen Bundesrepublik zeigt das Museum, das konsequent das Konzept der „Weißen Wand“ verfolgt, in seinen ersten Ausstellungen sogenannte „Entartete Kunst“ – Kunstwerke, die in der Nazizeit verboten und nicht zu sehen waren. Es war ein Signal für den Aufbruch in eine neue, demokratische Gesellschaft, in eine neue Zeit.

All das wusste ich nicht, als ich das Museum am Ostwall für mich entdeckte. Ich weiß auch nicht mehr genau, wann ich das erste Mal dort war. Es ging mir aber ähnlich wie Benjamin Reding, in Dortmund aufgewachsener Filmregisseur: „In meiner Kindheit und Jugend war das Museum am Ostwall für mich so etwas wie eine blühende Insel der Kultur im aschgrauen Asphalt des Ruhrgebiets der Siebziger. Das stille Haus mit dem wundervollen Garten, seinem großzügigen Lichthof, den Kieselböden, der Gabel-Plastik von Wolf Vostell und den mechanischen Zähneputzern hat mich tief beeindruckt…“

Hier konnte man Fluxus-Kunst kennen lernen, ohne vorher zu wissen, was das überhaupt ist. In den 80er und 90er Jahren, wurde ich zum Stammgast in diesem schlichten Haus, das den Besucher so ohne großes Brimborium einfach einlud und einließ. Nach ein paar Schritten stand man mitten im Lichthof und war von Kunst umgeben. Es gab viele, nicht immer hochklassige, aber immer interessante Ausstellungen, in der Bibliothek habe ich oft gesessen und Designzeitschriften durchgeblättert, die ich mir damals als Studentin nicht leisten konnte.

Später verlor ich ein wenig den Kontakt zum Haus. Nach dem Umzug der Sammlung in das umgebaute „Dortmunder U“ war ich sicher, dass sich eine neue Verwendung für das alte Haus finden würde. Denn dieses Haus ist einfach ein Stück Dortmund, fest verwurzelt in dieser Stadt, von außen bodenständig, aber mit immensen inneren Werten. Und es tritt hinter den Werken, die es präsentiert, mit seiner schlichten und doch eindrucksvollen Architektur immer zurück.

Viele Dortmunder meiner Generation haben noch die unrühmliche Geschichte der alten denkmalgeschützten Bibliothek deutlich vor Augen: Nach dem Abriss wegen Asbestbelastung hatten wir jahrelang mitten in der Stadt eine Brachfläche, jetzt steht dort ein mehr oder minder gesichtsloses Kaufhaus. Sollte sich diese Geschichte mit dem Abriss des alten Museums wiederholen?

„Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache.“ Diesen Ausspruch von Hanns-Joachim Friedrichs haben wohl alle verinnerlicht, die journalistisch unterwegs sind, aber: Sind nicht auch wir Journalisten Bürger, die politische Entscheidungen grundfalsch finden können? Und wer, wenn nicht wir und andere Kulturschaffende, sollte auf solche Fehlentscheidungen hinweisen? Ich habe die journalistische Leitlinie von Hanns-Joachim Friedrichs letztendlich gebrochen und habe klar Stellung bezogen. Reißen wir dieses Haus ab, treten wir die Arbeit der Wiederaufbaugeneration mit Füßen und verlieren obendrein ein wertvolles Haus zu Gunsten von wahrscheinlich architektonisch durchschnittlichen Wohn- oder Büroflächen.

Mich in dieser Sache einzumischen, eine Petition gegen den Abriss zu starten und mich auch weiterhin zu engagieren war eine der besten Entscheidungen, die ich je getroffen habe. 5115 Menschen – nicht nur aus Dortmund – haben unterschrieben. Doch mit der erfolgreichen Petition allein ist es leider noch nicht getan.

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Hintergrund

Bericht vom November 2012 in den Revierpassagen
Bericht vom Mai 2013 in www.derwesten.de