Festspiel-Passagen VII: Spaß am Ungehörten – Francesco Morlacchi in Wildbad wiederentdeckt

Beifall für Morlacchis Oper "Tebaldo e Isolina" in Wildbad. Foto: Elias Glatzle

Beifall für Morlacchis Oper „Tebaldo e Isolina“ in Wildbad. Foto: Elias Glatzle

Der gemeinhinnige Kulturbetrieb setzt auf die Freude am Wiedererkennen: Spielen wir Beethoven, dann kommen die Leut‘. Die Schwergewichte unter den Musikfestivals setzen schon aus Überlebens- und Konkurrenzgründen auf dieses probate Mittel, bemäntelt mir mehr oder weniger geschickten programmatischen Schlagworten oder mit ein paar Nischenkonzerten, in denen man Aufgeschlossenheit demonstriert. Und um Zeitgenossenschaft zu dokumentierten, empfiehlt es sich, Wolfgang Rihm einzuladen, der mit seiner stets freundlichen Ausstrahlung des genießenden Intellektuellen mit schwer genießbarer Musik versöhnt.

Es gibt aber auch ein paar Festivals, die sich diesem probaten Rezept entziehen. Rossini in Wildbad zum Beispiel. Da halten in einem Tal im nördlichen Schwarzwald eine Handvoll idealistischer Freaks um den Intendanten Jochen Schönleber und dem intellektuellen Überbau-Manager Reto Müller einen Komponisten hoch, den der Betrieb sonst meist nur mit komischen Figuren aus Gewerben duldet, die längst ausgestorben sind: Barbiere zum Beispiel – heute auf den Friseur reduziert – oder Küchenhilfen am aschigen Herd.

Frisch renoviert: Das Wildbader Kurtheater. Foto: Marcel Menz

Frisch renoviert: Das Wildbader Kurtheater. Foto: Marcel Menz

Auch „Rossini in Wildbad“ hat seine zeitgenössische Komponente: Adriana Hölszky hatte man eingeladen, und die in Stuttgart lebende Komponistin brachte gleich zwei Uraufführungen mit, gespielt im hübschen, mühe- und kostenträchtig renovierten Kurtheater, einer frisch herausgeputzten Perle gründerzeitlicher Unterhaltungs-Architektur. Aber ansonsten gab es etwa eine „Hommage“ an jemanden, den heute nur noch Eingeweihte kennen: Adolphe Nourrit, führender Tenor der Pariser Oper zur Rossini-Zeit, zwischen 1826 und 1836 der König des hohen „D“.

Zum Profil des Festivals im einstigen königlichen Bad in Württemberg gehört auch, sich vergessenen Komponisten der Rossini-Zeit anzunehmen. In diesem Jahr rückte der Dresdner Hofkapellmeister Francesco Morlacchi ins Blickfeld. Für den 1784 in Perugia geborenen Komponisten kannte die ältere – und bis heute nachwirkende – Musikgeschichte nur verächtliche Urteile: Außerordentlich dürftiger Satz, flache Brillanz, dürftige Homophonie der Instrumentation, lärmende Verwendung der Blechbläser – so ist etwa in „Musik in Geschichte und Gegenwart“, einem wissenschaftlichen Standard-Lexikon, aus dem Jahr 1961 zu lesen.

Morlacchi, lange nur als Dresdner Rivale Carl Maria von Webers rezipiert, ein Fall für’s Archiv? Die Wildbader Aufführung lässt an solchem Urteil zweifeln. „Tebaldo e Isolina“, 1822 für den Star-Kastraten Giovanni Battista Velluti entstanden, im Teatro La Fenice in Venedig uraufgeführt, für eine Dresdner Aufführung 1825 gründlich überarbeitet und für Mezzosopran umgeschrieben, beweist eindrucksvoll, dass Morlacchi sich unter den „Tonsetzern“ seiner Epoche sehr wohl behaupten kann.

„Tebaldo e Isolina“ variiert einen Romeo-und-Julia-Stoff mit einem glücklichen Ende: Zwei Adelsgeschlechter werden durch einen heimtückischen Mord zu erbitterten Feinden, versöhnen sich aber, als die beiden ursprünglich einander versprochenen Kinder in einem dramatischen Finale um Einsicht, Menschlichkeit und Vergebung flehen. Falsche Identitäten, ein unbekannter Ritter, ein wiedergefundener Sohn und ein zurückkehrender Rächer garantieren Spannung und überraschende Wendungen. Und Schauplätze wie ein alter Friedhof mit einer Kirchenruine und einem schwarzen Ritter könnten einem der Romane Sir Walter Scotts entnommen sein. In diesem italienischen „Melodramma romantico“ sind Donizettis „Lucia di Lammermoor“, aber auch Heinrich Marschners „Der Templer und die Jüdin“ nicht mehr weit.

Der Berliner Musikwissenschaftler Michael Wittmann vermutet in seinem informativen Beitrag im Programmheft, die Harmonien in der Musik könne nur jemand erdacht haben, der den „Freischütz“ kannte. Tatsächlich weckt die farbenreich instrumentierte Musik Morlacchis den Eindruck des „Romantischen“: Schon die Holzbläser der Ouvertüre, die Klarinette in der Einleitung der Cavatina der Isolina, aber auch die Soli des Cello zu Beginn des zweiten Akts und die Hörner in der Einleitung zu Scena und Romanze des Tebaldo lassen auf den ersten Eindruck an Weber denken. Doch in der formalen Anlage seiner Musik nähert sich Morlacchi seinem Dresdner Konkurrenten nicht – und die instrumentale Raffinesse lässt sich mit einem Blick auf die Opern eines Simon Mayr und vor allem eines Gioacchino Rossini schlüssig erklären.

Verknüpfungen zwischen deutscher und
italienischer Opern-Entwicklung

Abwegig ist Wittmanns These dennoch nicht, Morlacchi habe einen späten Versuch unternommen, die auseinander driftenden Entwicklungen in der italienischen und der deutschen Oper noch einmal zusammenzuführen. Manches in „Tebaldo e Isolina“ klingt nach frühem Heinrich Marschner; der Komponist war ab 1824 die italienische Oper in Dresden angestellt und hat den Klavierauszug zu Morlacchis Werk erstellt. So könnten sich durch das Werk überraschende Einsichten in Tradition und Entwicklung der deutschen Oper ergeben. Als Ergebnis bleibt: Die dunklen Schatten der „Titanen“ dieser Epoche – Beethoven, Rossini, Weber – aufzuhellen, bringt Musik zutage, die nicht nur handwerklich oder musikhistorisch aufschlussreich ist. „Tebaldo e Isolina“ befriedigt keineswegs nur Archivare.

Mit der Aufführung in Bad Wildbad hat das Rossini-Festival seine Nische erfolgreich besetzt und ist aus dem Schatten „großer“ Festivals herausgetreten, denen – wie Salzburg in diesem Jahr – etwa zum Strauss-Jubiläum nichts anderes einfällt als ein „Rosenkavalier“. Der musikalische Leiter von „Rossini in Wildbad“, Antonino Fogliani, hat das Händchen für die federnde Rhythmik der Rossini-Anleihen, aber auch die Phrasierungslust und das Gefühl für den atmenden Bogen, die für die Kantilenen und die romantisierenden Harmoniefolgen nötig sind. Dass die Virtuosi Brunenses, das Orchester des Festivals, nicht mehr auf der Höhe der Konzentration waren, ist nach den anstrengenden Aufführungen der Vortage nicht verwunderlich: die Intonation ließ zu wünschen übrig, auch Präzision der Einsätze und Formung des Tons waren schon zuverlässiger.

Zweifelhalftes aus Italien

Deutlich zeichnet sich im diesjährigen Festival ab: Intendant Jochen Schönlebers Weg, sich auf junge, italienisch ausgebildete Sänger zu stützen, geht nur zum Teil auf. Die Gesangsschulen jenseits der Alpen können nicht mehr an die großen Traditionen anknüpfen, die bis in die sechziger Jahre hinein für erstklassigen Sängernachwuchs sorgten.

In Wildbad war zu hören, wie sich technisch unzureichend gebildete, harte und vibratogesättigte Stimmen an anspruchsvollen Aufgaben abarbeiten. Laura Polverelli, kein unbekannter Name in der italienischen Opernszene, tremoliert sich durch die Partie des Tebaldo. Ihr schneidend-metallischer Ton wird im piano flach, für die Kantilenen fehlt ein gleichmäßig gebildeter Klang. Sandra Pastrana, in Spanien ausgebildet, hat mit Geläufigkeit und lyrischer Noblesse keine Probleme, wohl aber auch mit einer harten Tonbildung und angestrengt herausgeschleuderten, dabei überflüssigen hohen Finaltönen.

Anicio Zorzi Giustiniani als Boemondo d‘Altemburgo zählt unter die positiven Eindrücke der Wildbader Aufführungen: ein Tenor mit einer gelösten, abgerundeten Tonbildung, der nur das kehlige Timbre und die zu weit hinten sitzenden Vokale „e“ und „i“ entwickeln müsste. Als Geroldo erfüllt Gheorghe Vlad seine Rolle als Bruder Isolinas in einem kurzen Auftritt zuverlässig; mit Raúl Baglietta als Ermanno di Tromberga – Vater Isolinas und Gegenspieler der Familie d’Altemburgo – wurde man nicht glücklich: Ein flach positionierter Bass mit mühevoll gedrückten Höhen.

Wieder einmal hat „Rossini in Wildbad“ wertvolle Erkundungsarbeit in einem Repertoire geleistet, das nur über solche einfallsreiche Initiativen eine Chance hat, auf aktuelle Relevanz geprüft zu werden. Im Falle von Morlacchis Oper wäre eine szenische Realisierung nur zu begrüßen.




Ruhrtriennale doch nicht ohne Gregor Schneider: Bochum springt für Duisburg ein

Gregor Schneider. Foto: Linda Nylind/Ruhrtriennale

Gregor Schneider. Foto: Linda Nylind/Ruhrtriennale

Nun realisiert Gregor Schneider doch noch ein neues Werk für die Ruhrtriennale: Nach der Absage seines Raumkunstwerks „totlast“ durch den Duisburger Oberbürgermeister Sören Link baut Schneider im Kunstmuseum Bochum eine Rauminstallation mit dem Titel „Kunstmuseum“. Ab 29. August ist das Werk zu besuchen und bleibt bis in den Oktober hinein zugänglich.

Schneider will sich mit Ort und Funktion des Kunstmuseums auseinandersetzen: „Ich freue mich, den Haupteingang des Museums zu schließen. Durch einen neuen Eingang – ‚ein Abflussrohr‘ – uns ins Museum in verborgene Räume, in eine normalerweise im Museum nicht zugängliche ‚abseitige Welt‘ zu führen“, zitiert eine Pressemitteilung den Künstler. Schneider setzt für „Kunstmuseum“ einen neuen Baukörper in das Bochumer Museum und verändert das Gebäude in Form, Funktion und Aussehen vollständig. Der Zugang zum Museum erfolgt durch eine „Hintertür“. Der Museumsparcours wird „buchstäblich umgestülpt“ und führt durch normalerweise nicht zugängliche Funktionsräume.

Ab Ende August durch die Hintertür: Im Bochumer Kunstmuseum wird Gregor Schneiders neue Arbeit für die Ruhrtriennale realisiert. Foto: Lutz Lehmann/Presseamt Stadt Bochum

Ab Ende August durch die Hintertür: Im Bochumer Kunstmuseum wird Gregor Schneiders neue Arbeit für die Ruhrtriennale realisiert. Foto: Lutz Lehmann/Presseamt Stadt Bochum

Heiner Goebbels, Intendant der Ruhrtriennale, zeigt sich erfreut: „Wir sind froh, dass Gregor Schneider trotz der Umstände mit ‚Kunstmuseum‘ eine neue, große Arbeit für die Ruhrtriennale entwickeln kann. Dass wir in dieser kurzen Planungszeit die Ausstellung eröffnen können, verdanken wir vor allem unseren Partnern. Mein herzlicher Dank gilt neben Gregor Schneider dem Museumsdirektor Hans Günter Golinski und vielen weiteren Akteuren der Stadt Bochum.“

Im Lehmbruck Museum Duisburg findet 2014 keine Veranstaltung der Ruhrtriennale statt. Auch das Künstlergespräch am 14. September wird in das Kunstmuseum Bochum verlegt. Bereits erworbene Tickets für das Lehmbruck Museum sind für Bochum gültig, können aber auch über ein auf der Homepage der Ruhrtriennale verfügbares Formular erstattet werden.




Festspiel-Passagen VI: Kabale am Königshof – Rossinis „Adelaide di Borgogna“ in Bad Wildbad

Margarita Gritskova als Ottone in Rossinis "Adelaide di Borgogna" in Bad Wildbad. Im Hintergrund Cornelius Lewenberg als Ernesto. Foto: Patrick Pfeiffer

Margarita Gritskova als Ottone in Rossinis „Adelaide di Borgogna“ in Bad Wildbad. Im Hintergrund Cornelius Lewenberg als Ernesto. Foto: Patrick Pfeiffer

Das ist der Stoff, aus dem echte Opern sind! Adelheid von Burgund, eine der einflussreichen Frauen des Mittelalters, verliert ihren Gatten Lothar. Durch Giftmord, verübt von dessen Kontrahenten Berengar. Der will sich die Macht über Italien sichern und versucht, die junge Witwe gegen ihren Willen mit seinem Sohn Adelbert zu verheiraten.

Adelheid wendet sich an Otto I. Der deutsche König kommt ihr zu Hilfe, verliebt sich auf den ersten Blick in die attraktive Regentin und kann sie schließlich trotz erbitterten Widerstands Berengars und Adelberts ehelichen.

Die historischen Fakten hat der neapolitanische Librettist Giovanni Schmidt zu einem Textbuch für Gioacchino Rossinis erste römische Opera seria zusammengeschmiedet: Doch „Adelaide di Borgogna“, uraufgeführt am 26. Dezember 1817 zur Eröffnung der Karnevalssaison im Teatro Argentina, war kein Erfolg. Die Oper wurde nur ein paar Mal nachgespielt und später von Rossini als Reservoir für „Eduardo e Cristina“ und das verschollene englische Projekt „Ugo, Re d’Italia“ benutzt. Moderne Aufführungen – zuletzt beim Rossini-Festival in Pesaro – konnten letztlich ebenfalls nicht überzeugen. Jetzt kam die unglückliche „Adelaide“ in Bad Wildbad zur späten deutschen Erstaufführung.

Der durchaus verdienstvolle Abend in der württembergischen Ausgrabungsstätte für belcanteske Relikte der Rossini-Zeit bestätigt: „Adelaide di Borgogna“ bleibt ein Artefakt der Vergangenheit, das nur Kenner und Liebhaber in Entzücken versetzen wird. Das hat unterschiedliche Gründe, ein entscheidender ist das Libretto Schmidts. Rossini vertonte viele der erklärenden Rezitative nicht. Die Figuren bleiben eindimensional, die Konflikte verlaufen schematisch. Und die mäßig inspirierte Personenführung in der Regie von Antonio Petris hilft diesen Schwächen auch nicht auf die Sprünge.

Die Botschaft des Stücks, der Sieg der beharrlichen Liebe, ist etwa von Händel oder von Rossini selbst in anderen Opern musikalisch spannender und differenzierter gestaltet worden. Die politischen Konflikte – hier eine selbstbewusste, auf ihre Selbstbestimmung pochende Frau, dort zwei skrupellos um ihre Macht kämpfende Männer – gewinnen kaum Brisanz. Der einzige spannende Zwiespalt ist Adelberts innerer Kampf zwischen seiner ehrlichen Liebe zu Adelaide und der Pflicht, seinen Vater aus der Gefangenschaft zu befreien. Schmidt porträtiert einen vom Vater abhängigen Sohn, dem es nicht gelingt, sich vom patriarchalen Unterdrücker eigener Lebensregungen zu befreien. Und Rossini gibt den kolportagehaften Sätzen der Szene mit seiner Musik eine berührende Tiefendimension.

Inszenierung, Bühne und Kostüme für Rossinis "Adelaide di Borgogna" stammen von Antonio Petris. Auf dem Foto: Ekaterina Sadovnikova als Adelaide. Foto: Patrick Pfeiffer

Inszenierung, Bühne und Kostüme für Rossinis „Adelaide di Borgogna“ stammen von Antonio Petris. Auf dem Foto: Ekaterina Sadovnikova als Adelaide. Foto: Patrick Pfeiffer

Um diesen seelischen Kampf, in dem der Chor die Rolle eines Freud’schen „Über-Ich“ einnimmt, adäquat auf die Bühne zu bringen, braucht es einen Sänger, der über die stimmlichen Mittel verfügt, die Ausdrucksmittel des Belcanto mit psychologischer Klugheit einzusetzen. Der Tenor Gheorghe Vlad kämpft in Bad Wildbad eher mit der Technik als mit den inneren Impulsen von begehrender Liebe und Sohnespflicht. Das Timbre seiner Stimme wirkt unfertig steif; die hohen Töne tippt er nur an. Auch als Darsteller kommt er über Stereotypen nicht hinaus. Es ist alleine die Musik Rossinis, die in dieser Szene und Arie des zweiten Akts ihren Zauber entfaltet.

Wobei auch diese Magie ihre Grenzen hat: Luciano Acocella leitet das Orchester „Virtuosi Brunenses“ über weite Strecken steif, mit mechanisch geschlagenem Rhythmus, der Rossinis Dreiertakt etwa in gefährliche Nähe zu dem früher spöttisch bemühten Begriff der „Leierkastenmusik“ rückt. Die Finessen metrischer Variabilität, die leichte, elegante Formulierung der Phrasen, eine akzentuierte Tongebung, eine flexible Agogik: Acocella achtet zu wenig auf solche essentiellen Parameter, die Rossinis Musik erst zu dem spritzig-federleichten Kunstwerk machen, das seine Meisterschaft auszeichnet.

Zum Glück stehen auf der niedrigen, von Antonio Petris mit zweckmäßigen schwarzen Wandelementen gestalteten Bühne der ehemaligen Bad Wildbader Trinkhalle Sängerinnen und Sänger, die mit versierter Technik und geschmackvoller Gestaltung überzeugen: An erster Stelle ist Margarita Gritskova als androgyner Ottone zu nennen. Die russische Mezzosopranistin brillierte bereits an der Wiener Staatsoper. Ihr wandlungsfähiger Mezzo hat geschmeidige Noblesse für die zärtlichen Momente der Begegnung mit Adelaide ebenso wie schneidenden Schliff für das Quartett des zweiten Akts und den Triumph des Finales.

Baurzhan Anderzhanov, Ensemblemitglied des Aalto-Theaters Essen, als Berengario in Rossinis "Adelaide di Borgogna" in Bad Wildbad. Foto: Patrick Pfeiffer

Baurzhan Anderzhanov, Ensemblemitglied des Aalto-Theaters Essen, als Berengario in Rossinis „Adelaide di Borgogna“ in Bad Wildbad. Foto: Patrick Pfeiffer

Als Adelaide ist Ekaterina Sadovnikova eine gleichwertige Partnerin: Für den Ausdruck des Leidens und der Ausweglosigkeit hat der klangvolle Sopran die abgeschatteten Farbtöne; für die Hoffnung auf Liebe und Respekt – genährt durch Ottones Zuwendung – ließen sich die Phrasen noch eine Idee flexibler, der Klang etwas weicher bilden. Doch vor allem im Duett des ersten Akts, aber auch im Quartett des zweiten zeigt Sadovnikova Stilgefühl und Sicherheit in der Platzierung des Tons.

Sehr ansprechend sind auch die flankierenden Rollen besetzt, etwa die des Bösewichts Berengario mit Baurzhan Anderzhanov, seit 2013 im Ensemble des Aalto-Theaters Essen. Er ist dort unter anderem als Arzt in Verdis „Macbeth“ angenehm aufgefallen. Im Herbst wird er als Don Alfonso in „Cosi fan tutte“ seine erste größere Rolle singen. In Bad Wildbad gestaltet er seine Partie mit einem kontrollierten, gleichmäßig geformten Bariton.

Das Wildbader Plädoyer für „Adelaide di Borgogna“ wird – nach menschlichem Ermessen – trotz einiger bemerkenswerter Nummern wohl folgenlos bleiben. Das ist nicht ungewöhnlich, sind doch selbst Meisterwerke der opera seria des „Schwans von Pesaro“ über das nördliche Schwarzwaldtal nicht hinausgekommen – ein Zeichen für die leider immer noch nicht überwundene Schwerfälligkeit der über 80 (!) Musiktheater in Deutschland.

Im Falle der Oper über Adelheid von Burgund wird’s aber auch am Werk liegen: Zwischen den ehrgeizigen Arbeiten für Mailand („La gazza ladra“) und Neapel („Armida“, „Mosé in Egitto“) erscheint „Adelaide di Borgogna“ eher als die Erfüllung einer Freundespflicht dem Impresario Pietro Cartoni gegenüber.




Festspiel-Passagen V: Colmar im Elsass – Monumentale Musik in russischer Tradition

Er spielte in Colmar sein Schubert-Skrjabin-Programm: Evgeny Kissin. Foto: Bernard Fruhinsholz

Er spielte in Colmar sein Schubert-Skrjabin-Programm: Evgeny Kissin. Foto: Bernard Fruhinsholz

Einst war Colmar eine richtige Hauptstadt: Im Saal des „Koїfhus“ versammelten sich die Vertreter des Zehnstädtebunds. Seine Mitglieder unterstützten sich gegenseitig, um in den unruhigen Zeiten des späten Mittelalters ihre Rechte und Freiheiten zu sichern. Heute wird die elsässische Stadt einmal im Jahr zur Hauptstadt der Musik.

Das „Festival International de Colmar“ versammelt in knapp zwei Juli-Wochen Größen des Musiklebens zu einem weit über die Region hinaus strahlenden Zyklus von Konzerten. Und immer noch trifft man sich – wie vor 500 Jahren – in dem ehemaligen Zoll- und Warenlager im Zentrum der alten Stadt. Doch diesmal sind es die Liebhaber der Musik, die dort den Stellenwert der Musik im Reigen der Künste eindrucksvoll unterstreichen.

Das Festival rühmt sich der bedeutenden Künstler, die es für seine 27 Konzerte in seine ehrwürdigen Spielstätten holt. Nicht ohne Grund: Evgeny Kissin kam zwischen Klavier-Festival Ruhr und zwei Auftritten im schweizerischen Verbier in die großartige gotische Hallenkirche St. Matthieu; Grigory Sokolov spielte – wie vorher in Essen –  sein viel gerühmtes, faszinierendes Chopin-Programm. Und wenn Ensembles wie Prazak-, Schumann-, Sine Nomine- und Talich-Quartett zu hören sind und mit dem Moskauer Kopelman-Quartett eine russische Spitzenformation gastiert, ist das auch für den Kammermusik-Liebhaber ein Argument, ins Elsass zu fahren.

Ungestörte Mittelalter-Romantik: Fachwerkfassaden in Colmar. Foto: Werner Häußner

Ungestörte Mittelalter-Romantik: Fachwerkfassaden in Colmar. Foto: Werner Häußner

Colmar bietet Gelegenheit, Künstler zu erleben, die zumindest im deutschen Musikbetrieb nicht ständig und überall herumgereicht werden. Zum Beispiel der Pianist David Bismuth, Schüler der bei uns viel zu wenig bekannten Französinnen Anne Queffélec und Brigitte Engerer. Oder Boris Giltburg, der 2013 den Concours Reine Elisabeth in Brüssel gewann und jetzt einen Exklusivvertrag mit dem Label Naxos geschlossen hat. Oder die Cellisten Edgar Moreau, Alexander Kniazev und Pavel Gomziakov. Solche Begegnungen erweitern den Horizont und lassen Musiker entdecken, die vielleicht im hochgezüchteten internationalen Betrieb – aus welchen Gründen auch immer – nicht mithalten oder mithalten wollen, die aber mit überraschenden individuellen Aspekten in Ausdruck und Klang für sich einnehmen.

In jedem Jahr widmet sich das Colmarer Festival der Würdigung eines herausragenden Musikers. Begonnen hat diese Serie, als 1989 der russischer Geiger und Dirigent Vladimir Spivakov zum künstlerischen Leiter berufen wurde; Glenn Gould war der erste der auf diese Weise Geehrten. Im nächsten Jahr wird die französische Trompeten-Legende Maurice André (1933 – 2012) die geistige Präsidentschaft des Festivals einnehmen. In diesem Jahr stand der Name des großen russischen Dirigenten Evgeny Fjodorowitsch Svetlanov (1928 – 2002) über dem Programm. Er hat das ehemalige Staatliche Sinfonieorchester der UdSSR zu einem führenden Klangkörper entwickelt und mit ihm rund 2000 Einspielungen aufgenommen, war aber auch international rege unterwegs, so mit dem London Symphony Orchestra oder dem Het Residentie Orkest Den Haag.

Bei Warner Classics erhältlich: Evgeny Svetlanovs Mahler-Zyklus. Cover: Warner Classics

Bei Warner Classics erhältlich: Evgeny Svetlanovs Mahler-Zyklus. Cover: Warner Classics

Svetlanovs Liebe zum romantischen russischen Repertoire und zu einem prachtvoll-voluminösen Klangbild spiegelt sich in der Auswahl der in Colmar gespielten Werke: Da reiht Festival-Leiter Spivakov als Dirigent mit seiner Russischen Nationalphilharmonie Tschaikowsky an Rachmaninow, erinnert mit Mahlers Erster an die Verdienste Svetlanovs für die Mahler-Rezeption in Russland – unter anderem mit einer Gesamtaufnahme der Sinfonien. Auch streut er ein belcantoseliges Sängerfest ein, statt seiner Solistin Albina Shagimuratova die Gelegenheit zu geben, dem französisch und deutsch geprägten Publikum ein paar der ungehobenen Schätze der russischen Oper zu entdecken.

Wie es überhaupt – und das ist ein Manko dieser Art von Festivals – mit der Entdeckerfreude nicht immer zum Besten steht: Die beiden Eröffnungskonzerte des Orchestre National du Capitole de Toulouse unter Tugan Sokhiev etwa biederten sich in einer fast schon frivolen Art einem Publikum an, das man hemmungslos in seiner musikkulinarischen Lust bestätigt: Tschaikowskys Violinkonzert, Brahms‘ Zweite, Rimski-Korsakows „Scheherazade“. So mag man leicht Säle füllen, entwickelt aber kein künstlerisches Profil. Der von Svetlanov hoch geschätzte Komponist Nikolai Medtner etwa ist in ein Mittagskonzert mit Elena Filonova verbannt. Die Pianistin spielte Ausschnitte aus seinem Klavierzyklus „Vergessene Weisen“ – ein wohl unfreiwillig bezeichnender Titel.

Immerhin kam Evgeny Svetlanov auch mit einigen seiner Werke zu Wort. Der Dirigent verstand sich in der Tradition Gustav Mahlers nicht als gelegentlich komponierender Kapellmeister, sondern eher als dirigierender Komponist. Aus seinem reichhaltigen Œuvre erklangen in Colmar ein Streichquartett in D-Dur und die Variationen über ein russisches Volkslied für Harfe und Orchester. Bedauerlich ist, dass sich der außergewöhnliche Einsatz Svetlanovs für den Komponisten Nikolai Mjaskowski (1881 – 1950) im Colmarer Festival nicht niederschlug: Vor allem dessen nach dem Ersten Weltkrieg entstandene Werke mit ihrem französischen Einschlag wären ein spannendes klingendes Dokument der musikalischen Verbindung zwischen den Völkern gewesen.

Vladimir Spivakov dirigierte den Großen Akademischen Chor Moskau in Colmar. Foto: Bernard Fruhinsholz

Vladimir Spivakov dirigierte den Großen Akademischen Chor Moskau in Colmar. Foto: Bernard Fruhinsholz

Für Liebhaber geistlicher Musik hatte das Festival an seinem Abschluss-Wochenende einen Höhepunkt parat: Der Große Akademische Chor Moskau sang Ausschnitte aus Tschaikowskys Liturgie des Heiligen Johannes Chrysostomus und aus Rachmaninows Vesper op. 37. Die Akustik der ehemaligen Jesuitenkirche Saint Pierre, einem schlicht gehaltenen Barockbau, begünstigte den tragenden Klang der prachtvollen Stimmen der Choristen, ließ die verfeinerte Dynamik wirken, die von schwebendem Pianissimo bis zum glanzvollen Forte wie aus einem Guss geführt war.

Der Chor hatte am folgenden Tag beim Finalkonzert einen weiteren beeindruckenden Auftritt in Rachmaninows „Die Glocken“ (op. 35), einer Tondichtung nach Edgar Allan Poe. Die symbolistisch aufgeladenen Bilder des Poems inspirierten Rachmaninow zu einer enormen, die satten Farben des großen Orchesters und des Chores ausbreitenden Komposition. Spivakov zähmte die gewaltigen dynamischen Wellen nicht; er ließ schon die „goldenen Hochzeitsglocken“ der zweiten Strophe so prächtig dröhnen, dass dynamische Entwicklungen nicht mehr möglich waren. Mussorgskys „Großes Tor von Kiew“ ließ grüßen, allerdings in einer pathetisch übersteigerten Monumentalarchitektur, wie sie in ihrer dramatischen Wucht auch dem Interpretationsstil Evgeny Svetlanovs entsprach.

Herrlicher Konzertraum mit überraschend klarer Akustik: Die gotische Hallenkirche St. Matthieu Colmar. Foto: Bernard Fruhinsholz

Herrlicher Konzertraum mit überraschend klarer Akustik: Die gotische Hallenkirche St. Matthieu Colmar. Foto: Bernard Fruhinsholz

Ähnlich erfüllt von Pathos und Bombast kommt Dmitri Schostakowitschs Festouvertüre op. 96 daher. Spivakov enthüllt mit seiner Interpretation den merkwürdig ambivalenten Charakter von Schostakowitschs Musik. Denn die Ironie, die man gerne hineindeutet, wird von solennen Bläserfanfaren weggefegt; auch das spritzige Thema, das ein Kritiker einmal „überschäumend wie eine soeben geöffnete Champagnerflasche“ beschrieben hat, trägt eher Soldatenstiefel als Kinderschuhe. Dabei kommt es aus dem „Kinderalbum“ op. 69 und trägt den Titel „Geburtstag“. Nun ja: Die Ouvertüre sollte zum 30. Jahrestag der Oktoberrevolution im Moskauer Bolschoi-Theater gespielt werden …

In der Neunten Sinfonie, die ein Siegesstück werden sollte, ist die Ironie so weit getrieben, dass sie selbst den nicht gerade auf Subtilitäten eingestellten Ohren der sowjetischen Musik-Offiziellen offensichtlich wurde. Schostakowitsch wurde daraufhin geächtet und schrieb erst nach dem Tode Stalins seine nächste Sinfonie. Dirigent Spivakov trat dem Stück nicht zu nahe, ließ die Russische Nationalphilharmonie ihre ganze Brillanz vorführen und setzte auf die unmittelbare Wirkung der absurd regelhaften fünf Sätze. Eine Offenbachiade mit dem Brokat-Faltenwurf einer Staatsrobe, die man als maliziöse Abrechnung mit den Erwartungen des sozialistischen Realismus und seiner falschen Klassizität lesen kann.




Markus Becker beim Klavier-Festival in Essen: Für links geht nicht „mit links“

Der Pianist Markus Becker. Foto: KFR/Roland Schmidt

Der Pianist Markus Becker. Foto: KFR/Roland Schmidt

Verlässt das Klavier-Festival Ruhr die breite Straße, um sich auf verschlungenen Wegen in abgelegene Regionen der Klaviermusik zu begeben, eröffnen sich oft reizvolle Ausblicke. So im Konzert mit Markus Becker und den Bochumer Symphonikern unter Steven Sloane. Becker spielte zwei kaum gehörte Werke für die linke Hand.

Das eine hat Alexandre Tansman für den berühmten einarmigen Pianisten Paul Wittgenstein 1943 skizziert, aber nicht vollendet. In Polen geboren, im Paris der Zwischenkriegszeit sozialisiert, als Emigrant in den USA geschätzt, nach dem Krieg bis ins hohe Alter in Paris aktiv, gehört Tansman zu den erfolgreichen, heute weitgehend vergessenen Komponisten des wechselvollen 20. Jahrhunderts. Die „Pièce concertante“ für die linke Hand und Orchester hat – wie in vielen anderen Fällen – der einarmige Pianist Paul Wittgenstein bestellt. Ausgeführt wurde das einsätzige Werk jedoch nicht. Es lag lange im Nachlass Tansmans, bis es sein polnischer Landsmann Piotr Moss 2008 vollendete.

Die Bochumer Symphoniker unter ihrem Chef Steven Sloane stellten sich brillant der farbenprächtigen Instrumentation von Moss: Strawinsky-Anklänge und Tanzrhythmen, üppige Filmmusik und virtuose Einwürfe fordern ihren Klangsinn; Schellen, Glöckchen und allerlei anderes unterhaltsames Schlagwerk zünden Mini-Eruptionen.

Der Rhythmus klingt manchmal nach Jazzband, manchmal nach gezähmtem Schostakowitsch. Becker nimmt Skalen, Figuren und Sprünge als sportliche Herausforderung für seine Treffsicherheit. Eine schräge Fuge mit drei Blasinstrumenten, Klavier und Xylophon wirkt wie ein ironischer Kommentar auf deutsche Gelehrsamkeit – oder auf das Wiederentdecken alter musikalischer Formen, das damals von Ravel bis Respighi sehr en vogue war.

Auch das andere Werk für links lässt sich nicht „mit links“ nehmen: Franz Schmidt – im Klassik-Betrieb ebenso ungerecht wie Tansman an den Rand gedrängt – hat mehr als den glühenden Zwischenspiel-Hit aus seiner Oper „Notre Dame“ geschrieben. Seine Variationen über ein Thema von Beethoven verorten sich in bester Spätromantik: süffige Harmonik, Bruckner’sches Leuchten und die Eleganz Korngold’scher Klanglust.

Für Becker sind die wasserfallartigen Kaskaden, groß bemessenen Arpeggien und die gestochene Präzision der Finger ebenso wenig ein Problem wie die apart rhythmisierten Tanzmusik-Variationen. Wenn ihm da die Holzbläser der Bochumer folgen, zeigen sie die nötige Präzision und den Sinn für die Balance im Klang, die das Orchester an anderen Stellen recht burschikos rüberkommen lässt.

Schmidts süße Harmonien und der leuchtende, an Antonín Dvořák erinnernde Klangschmelz bleiben streckenweise unerfüllt. Vor allem die Hörner fanden sich diesmal im Klang nicht zusammen; auch das Blech intonierte eher schrill als pastos-samtig.

Was Steven Sloane getrieben hat, die „Eroica“ in zwei Teile zu reißen und je zwei Sätze an den Beginn und das Ende des Konzerts zu stellen, weiß wohl niemand außer ihm. Der Sinn erschließt sich nicht; eher wirkt Beethovens Musik nach der Präsentation spätromantischer Üppigkeit karg. Wenn dann noch die Konzentrationslücken der Symphoniker dazukommen, wirkt Beethovens Dritte umso deutlicher fehlplatziert. Zumal sich Steven Sloane im gestaltenden Zugriff zurückhält, unentschlossen wirkt und im letzten Satz das Tempo schleppt. Zeit wird’s, dass die Ferien kommen …




Ruhrtriennale: Duisburg sagt Gregor Schneiders Installation „Totlast“ ab

Duisburg fürchtet sich. Nicht ganz Duisburg, doch zumindest der Oberbürgermeister: Sören Link hat entschieden, das Projekt „Totlast“ des Künstlers Gregor Schneider in Duisburg nicht realisieren zu lassen. Die begehbare Rauminstallation war als Projekt der Ruhrtriennale für das Lehmbruck Museum vorgesehen.

Für Duisburg nicht geeignet? "Liebeslaube" aus Schneiders Arbeit "Totes Haus u r". Copyright: Gregor Schneider/VG Bild-Kunst Bonn

Für Duisburg nicht geeignet? „Liebeslaube“ aus Schneiders Arbeit „Totes Haus u r“. Copyright: Gregor Schneider/VG Bild-Kunst Bonn

Link hat den Intendanten der Ruhrtriennale, Heiner Goebbels, am 7. Juli telefonisch von seiner Entscheidung unterrichtet. Begründung: Duisburg sei – vor dem Hintergrund der Geschehnisse bei der „Loveparade“ 2010 – „noch nicht reif für ein Kunstwerk, dem Verwirrungs- und Paniksituationen immanent sind, welches mit dem Moment der Orientierungslosigkeit spielt“.

Er habe sich die Entscheidung „nicht leicht gemacht und sehr schlecht geschlafen“, bevor er abgesagt habe, ließ der Duisburger Oberbürgermeister in einer Pressemeldung verbreiten. Doch die Wunden der „Loveparade“ seien noch nicht geschlossen und die juristische Aufarbeitung stehe erst am Anfang. „Mir ist völlig klar, dass bei dieser Thematik andere Bewertungen möglich sind. Letztendlich habe ich meine Entscheidung jedoch auf Basis meiner persönlichen Erfahrungen mit dem Thema Loveparade getroffen und werde diese auch so vertreten“, heißt es in der Erklärung von Sören Link.

Entschiedene Kritik meldeten die Ruhrtriennale und der Künstler an. Eine Sprecherin des Lehmbruck Museums wollte sich nicht äußern, sondern verwies auf das Referat für Kommunikation und Bürgerdialog der Stadt Duisburg.

Vor der Ablehnung durch den Oberbürgermeister hatten die Stadt und die Veranstalter im Rahmen des Genehmigungsverfahrens konstruktiv zusammengearbeitet, meldete die Ruhrtriennale. Das bestätigt die Stadt: „Im Rahmen des Genehmigungsprozesses kam es zu einer konstruktiven und deutlichen Annäherung an die Anforderungen der Bauordnung“, heißt es in der Pressemeldung.

Link betont, er habe unabhängig von der baurechtlichen Bewertung entschieden. Die Ruhrtriennale prüft jetzt, ob eine andere Arbeit Schneiders kurzfristig in einer anderen Stadt realisiert werden könne. Bereits gekaufte Eintrittskarten für „Totlast“ bleiben für ein eventuelles Alternativprojekt gültig oder können zurückgegeben werden. Das Erstattungsformular steht zum Download bereit.

Gregor Schneider. Foto: Linda Nylind/Ruhrtriennale

Gregor Schneider. Foto: Linda Nylind/Ruhrtriennale

Der in Rheydt lebende Gregor Schneider wurde er international durch sein „Totes Haus u r“ bekannt, das auf der Biennale Venedig 2001 den „Goldenen Löwen“ gewann. Noch mehr mediales Echo bereitete Schneider, den der „Spiegel“ als einen „der manischsten und gleichzeitig verschlossensten Künstler der Gegenwart“ bezeichnete, sein Plan, zur Biennale 2005 einen schwarzen Kubus von der Größe der Kaaba in Mekka auf der Piazza San Marco aufzustellen. Der Plan war Biennale-Kurator Davide Croff zu politisch. Schneider, 1969 geboren, ist seit 2012 Professor für Bildhauerei an der Akademie der Bildenden Künste in München.

Der Titel der geplanten und jetzt verhinderten Rauminstallation bezieht sich auf einen Fachbegriff: „Totlast“ bezeichnet das Eigengewicht von Gegenständen, die Lasten transportieren. Gregor Schneider spielt mit seinem Titel auf einen riesigen Baukörper an, den NS-Architekt Albert Speer aus Beton gießen ließ, um zu prüfen, wie tief seine Monumentalbauten im märkischen Sand absacken würden. Noch heute findet man den undurchdringlichen Monolith in Berlin-Tempelhof.

Schneider baut seine Räume so, dass der Besucher nicht bemerkt, sich in einer Art begehbaren Skulptur zu befinden. Sie lassen sich nicht überblicken, verändern sich teilweise allmählich, wirken gerade wegen ihrer vermeintlichen Alltäglichkeit unheimlich. So lassen sie den Besucher an seiner Wahrnehmung und an seinen selbstverständlichen Begriffen von Raum und Welt zweifeln. Das hermetisch Geschlossene, das Unterirdische, das Verborgene spielen in Schneiders Arbeiten eine zentrale Rolle“, heißt es in einer Präsentation der Triennale.

Die eingangs skizzierten Argumente des Duisburger Oberbürgermeisters mögen subjektiv verständlich sein, sind aber weit hergeholt. Denn bei Schneiders begehbaren Installationen gibt es keinen unkontrollierten Massenandrang wie bei der „Loveparade“. Für „Totlast“ werden Eintrittskarten verkauft; der Besucherstrom wäre jederzeit zu überblicken gewesen. Bei einem eventuellen Anflug von Klaustrophobie oder Panik hätte ein Besucher keine anderen Menschen anstecken und jederzeit das Objekt durch Notausgänge verlassen können. Vergleichbar mit einer Situation, wie sie auf der Massenveranstaltung 2010 zur Katastrophe geführt hat, ist Schneiders Installation nicht. Insofern wackelt die Begründung für die Absage auf sehr dünnen Beinen daher.




Festspiel-Passagen IV: Große Momente – Diana Damrau als „Traviata“ in München

Diana Damrau bei ihrem Münchner Debüt in  Verdis "La Traviata" mit Arturo Chacón Cruz als Alfredo. Foto: Wilfried Hösl

Diana Damrau bei ihrem Münchner Debüt in Verdis „La Traviata“ mit Arturo Chacón Cruz als Alfredo. Foto: Wilfried Hösl

München musste warten – doch die Zeit hat sich gelohnt: Nach New York, Zürich, Mailand, London und Paris ist Diana Damraus Violetta Valéry nun auch an der Bayerischen Staatsoper angekommen.

Das fulminante Hausdebüt unter erschwerten Bedingungen – Joseph Calleja musste kurzfristig vergrippt absagen – ließ eine Sängerin erleben, die das Rollenporträt der „Traviata“ im Vergleich zum Europa-Debüt im Mai 2013 in Zürich noch einmal vertieft hat. Das liegt nicht nur an der älteren, aber in ihrer bildmächtigen Sprache immer noch schlüssigen Inszenierung von Günter Krämer. Vor allem im zweiten Akt, in den Szenen mit Vater Germont, bietet die Bühne Andreas Reinhardts der Sängerin den Raum, darstellerische Intensität zu entwickeln – ein Kennzeichen der stets durchreflektierten und im Detail durchgestalteten Rollenporträts der Sängerin.

Entscheidender ist: Bei Diana Damrau kompensiert schauspielerisches Talent keine stimmlichen Fragwürdigkeiten. Sondern potenziert das idiomatisch zutreffende und technisch abgesicherte Singen im Sinne einer Ganzheit der Expression, wie sie in dem Begriff vom „Sänger-Darsteller“ oder „Sing-Schauspieler“ idealtypisch anvisiert, doch nicht allzu häufig auch erreicht wird.

Damrau muss sich nicht zu Mitteln eines – gern mit Expressivität verwechselten – Deklamier-Verismo flüchten. Sie muss auch nicht um die Koloraturen des ersten oder die mit intensiver Tongebung geschlagenen Bögen des zweiten Akts fürchten. Vor allem hat sie schier endlose Varianten von Stimmfarben zur Verfügung: Ob sie mädchenhaft belustigt auf die linkische Vorstellung Alfredos reagiert oder sich über den Ernst seiner Liebesworte irritiert zeigt. Ob sie sich zaghaft freuend fragt, was dieses Bekenntnis für sie bedeuten könnte, oder ob sie mit trotziger, sarkastischer Rebellion auf die aufkeimende Ahnung einer echten Liebe in ihrer eigenen Gefühlswelt reagiert. „É strano“ ist ein Meisterstück differenzierter Psychologie und dazu technisch tadellos bewältigt.

Eindringliches Kammerspiel: Diana Damrau (Violetta) und Simon Keenlyside (Giorgio Germont) in der Münchner "Traviata". Foto: Wilfried Hösl

Eindringliches Kammerspiel: Diana Damrau (Violetta) und Simon Keenlyside (Giorgio Germont) in der Münchner „Traviata“. Foto: Wilfried Hösl

Im zweiten Akt hat Diana Damrau mit Simon Keenlyside einen Bariton-Partner, der die Noblesse der anspannungsfrei entfalteten Gesangslinie mit der subtilen musikalischen Gewichtung der Worte verbinden kann. Bei diesem Vater Germont hört man den von der Würde der Kurtisane beeindruckten Gentleman, aber auch den berechnenden Patriarchen, der ohne Erbarmen die gesellschaftliche Reputation seiner Familie sichern will. Krämer hat mit dem Einfall, die Schwester Alfredos als stumme Rolle einzuführen, eine nach wie vor überzeugende Ebene emotionaler Spiegelung eingeführt. Das Gespräch zwischen Germont und Violetta ist von beiden Darstellern mit einer stimmlich abgesicherten Eindringlichkeit geführt, die es zu einem ganz großen Moment gestalteten Musiktheaters werden lässt.

Dass Diana Damrau – auf dem Weg zu weiteren bedeutenden Frauengestalten Bellinis, Donizettis und Verdis – mit den leuchtend erfüllten Tönen des Zentrums keine Probleme hat, zeigten exemplarisch die herrlichen Bögen des zweite Bilds im zweiten Akt: Drei Mal beklagt Violetta ihr Erscheinen beim Fest Floras, drei Mal bittet sie Gott um Beistand und Gnade. Damrau lagert diesen großbogigen emotionalen Ausbruch aus der bedrohlichen „sotto voce“ – Atmosphäre der Szene traumsicher auf dem Atem, zeigt nicht die Spur forcierter Attacke. Im Gegenteil: Sie färbt diese Ausbrüche jedes Mal anders, gibt ihnen den sehrenden Seelenschmerz der Situation mit.

Für den dritten Akt mit seiner emotionalen Spannweite zwischen erschöpfter Resignation und verzweifeltem Aufbegehren ist Damraus auch in den Piani und Pianissimi tragender, sicher gestützter und locker geführter Sopran ideal. „Addio del passato“ ist mehr als ein wehmutsvoller Rückblick, mehr als eine Klage über unwiederbringlich verlorene Lebensmöglichkeiten. Die Arie ist der bewusste Abschied vom Leben, eine Bilanz in der Rückschau, auch eine Abrechnung mit einer trügerischen Hoffnung, gipfelnd in dem von jeder Sentimentalität freien Aufschrei „Or tutto finì“. Der Stoß der Posaune wird wenig später die Endgültigkeit dieses Abschieds nach dem letzten Flackern einer Hoffnung in „Parigi o cara“ besiegeln.

In diesem Duett gelang mit dem Einspringer Arturo Chacón Cruz der einen Tag vorher noch Alfredo am Theater an der Wien gesungen hatte – ein intensiv-berührender Moment. Chacón Cruz zeigte sich in dem über die Demonstration tenoraler Schmelzwerte hinausgehenden gestalterischen Zugriff auf „De‘ miei bollenti spiriti“ als Sänger mit Potenzial, das er stimmtechnisch und im Timbre noch einzulösen hätte, wenn ihm günstigere Umstände winken. Paolo Carignani am Pult des diskret agierenden Bayerischen Staatsorchesters hatte einen glücklichen Abend: Verdi klang nicht knallig-brillant und mit vordergründigem „Schmiss“, sondern mit Rücksicht auf die Sänger, mit sensibler Agogik und mit feinen Lasuren einer reichen Palette von Piano-Farben.

Schade, dass Diana Damrau in der Rhein-Ruhr-Region so gut wie nie zu erleben ist. Am 23. September kann man die Gewinnerin der Auszeichnung „Beste Sängerin“ bei den „Opera Awards“ 2014 in einem „Belcanto-Konzert“ im Amsterdamer Concertgebouw hören. Ihre nächsten Auftritte in Deutschland führen sie nach Baden-Baden (Mozarts „Entführung aus dem Serail“) und 2015 wieder an die Münchner Staatsoper, dann in der Titelpartie in einer Neuinszenierung von Donizettis „Lucia di Lammermoor“.




Festspiel-Passagen III: Rossinis „Guillaume Tell“ in München – Rebellion der Spießer

München; Rossinis "Guillaume Tell". Foto: Wilfried Hösl

München; Rossinis „Guillaume Tell“. Foto: Wilfried Hösl

Das gilt es festzuhalten: Ein Haus wie die Münchner Staatsoper mit knapp sechzig Millionen Staatszuschuss kümmert sich – endlich einmal – um ein Schlüsselwerk der Oper, Gioacchino Rossinis „Guillaume Tell“. Und streicht und kürzt in der Partitur herum, als habe es in den letzten Jahrzehnten keine kritische Neuerschließung des Materials und keinen Wandel in den ästhetischen Anschauungen zu Rossinis Arbeitsweise und Werkgestalt gegeben.

Ein Jahr vorher stellte ein Festival mit nicht einmal einer Million mühsam erkämpftem Zuschuss einen „Tell“ auf die wacklige Bühne einer ehemaligen Trinkhalle im württembergischen Bad Wildbad, der alle Striche öffnet und dem staunenden Zuhörer erstmals in vier Stunden und zwanzig Minuten den ganzen musikalischen Kosmos Rossinis erschließt.

In Bad Wildbad hörte man nicht die durchlöcherten musikalischen Formen üblicher Strichfassungen, kam Rossinis subtile Kunst der Ensembles, der groß geschlagenen musikalischen Bögen, der spannungsvollen Entwicklung zum Tragen. Und in München, bei der „Festspiel“-Premiere dieses Jahres? Die handlungsbezogenen Tänze, die zum Besten gehören, was Rossini je aus der Feder geflossen ist: gestrichen. Die Großformen der Ensembles: zerstückt. Dazu ein Dirigent, dem das Gespür für Transparenz, Finesse und freies Ausströmen der Musik abgeht, der die Gewittermusik knallen und scheppern lässt, der in der Ouvertüre weder Konturen ausbildet noch die subtilen Stimmungen der Naturlyrik ausphrasiert. Und der es zulässt, dass diese grandiose Konzentration des musikalischen Dramas in den dritten Akt – nach dem Apfelschuss – versetzt wird.

Nun ist Oper keine akademisch-philologische Angelegenheit, das stimmt. Und ein Abend ohne Kürzungen muss nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Aber gerade von einem Haus wie München wäre zu erwarten, dass es sein Potenzial einsetzt, um ein seit jeher verstümmeltes opus magnum der Opernliteratur in ein ungefiltertes Licht zu setzen. Die Länge kann kein Gegenargument sein: Man kürzt auch die „Meistersinger“ nicht, nur weil das Festspielpublikum zu lange sitzen müsste.

Regie und Dramaturgie hätten, so war zu lesen, auf den Kürzungen bestanden. Hätten sie das Ergebnis dieser ersten Operninszenierung des erfolgreichen Schauspielregisseurs Antú Romero Nunes wenigstens gerechtfertigt oder einsichtig gemacht. Nichts dergleichen: Die Chöre drängen sich an der Rampe oder stehen in Appellplatzformation herum; Solisten agieren mit überdeutlicher Gestik am vorderen Bühnenrand. Gesler, ein netter, grauhaariger Uniformierter, spaziert zwischen Schweizern und Habsburger Soldaten einher. Arnold bejammert seinen inneren Zwiespalt im Spot an der Rampe.

Säulen, Stämme, Rohre: Florian Lösches Bühnenbild sorgt für bezwingende Bilder, aber seine Wirkung schleift sich im Laufe des Abends ab. Foto: Wilfried Hösl

Säulen, Stämme, Rohre: Florian Lösches Bühnenbild sorgt für bezwingende Bilder, aber seine Wirkung schleift sich im Laufe des Abends ab. Foto: Wilfried Hösl

Ein Fall für sich ist Florian Lösches Bühne: Wenn sich bleifarben schimmernde Röhren im dunstigen Licht Michael Bauers herabsenken und einen Wald abweisender, metallglänzender Stämme bilden, durch die sich die Schweizer in Hochzeitskleidern schieben, sieht man einen beklemmenden Raum, in dem Menschen ihre kleinen Freiheiten suchen. Wenn sich die Röhren dann heben und mit ihren schwarzen Öffnungen wie Kanonen von oben auf das Volk starren, stellt sich das Gefühl einer gewaltigen, unfassbaren Drohung ein. Wirkmächtige Bilder.

Doch Löscher lässt in den folgenden drei Stunden diese Röhren in den verschiedensten Formation rauf und runter fahren: Mal liegen ein paar Stämme quer, mal bilden sie das Dreieck eines Hausdachs. Nach einer halben Stunde geht diese Dauerdemonstration der Münchner Bühnentechnik auf die Nerven. Selbst dem innehaltenden Naturbild von Mathildes „Sombre forêt“ gönnt sie keine Ruhe. Der Fluss der Szenerie bleibt beliebig, die Wirkung schleift sich ab.

Anmerkungen zu Europa? Die "Aktualisierung" geht nicht auf. Foto: Wilfried Hösl

Anmerkungen zu Europa? Die „Aktualisierung“ geht nicht auf. Foto: Wilfried Hösl

In Nunes‘ Regie rebellieren die Spießer. Ein Tell, von Annabelle Witt in einen Strickpullover gesteckt, spuckt seine Freiheitsideen als ideologische Tiraden aus – Michael Volle poltert und röhrt, als habe er einen veristischen Reißer zu überstehen – und bringt den alten Melcthal (mit wenigen gestemmten Sätzen: Christoph Stephinger) um die Ecke, um Arnold zum Kampf zu gewinnen. Gesslers Mannen sind von einer dunkelblau uniformierten kleinen Mussolini-Ausgabe kommandiert (schneidend militärisch: Kevin Conners als Rodolphe), der Landvogt selbst wirkt wie ein unwilliger Aristokrat, der versehentlich in einen Volksauflauf geraten ist. Im dritten Akt darf er sich einen Stierkopf überstülpen – aber die Maskerade hat nichts mit dem Wappen des Kantons Uri zu tun, sondern mit einer apokryphen Europa-Symbolik, die sich auch im Schwenken einer grau-schwarzen Fahne mit dem europäischen Sternenkreis manifestiert. Die EU alias Habsburg, die das bieder-spießige Schweizervolk bedrängt?

Nunes will uns zeigen, dass die Welt nicht so eindeutig in Gut und Böse einzuteilen ist, wie es das Freiheitspathos der Rossini-Oper suggeriert. Aber er kann nicht klären, was das letztlich bedeutet. Die Erzählung des Münchner „Guillaume Tell“ endet mit der stumpf musizierten Verklärungsmusik und den „Liberté“-Rufen von Revoluzzern, die gerade einmal das Erregungsniveau von Wutbürgern erreichen. Emblematisch dafür kann Tells Frau Hedwige – die schönstimmige Jennifer Johnston – stehen, die sich entschlossen die Schürze vom Kostüm reißt. Immerhin lässt Nunes uns nicht im Unklaren, wie die Liebesgeschichte zwischen Arnold und Mathilde endet: Die „Liberté“ macht ihn unempfindlich gegen die zärtlich auffordernde Annäherung der Frau.

Würde das Bayerische Staatsorchester Wagner so spielen wie diese Grand Opéra, der Protest im Publikum wäre programmiert. Aber es ist ja „nur“ Rossini. Und so dürfen Flöte und Oboe abschmieren, braucht es weder ein sanglich-weich phrasierendes Cello noch transparente Violinen. Die Anfeuerungsarbeit leistet Dan Ettinger, Mannheimer GMD, der bisher nicht durch Großtaten im Belcanto- oder französischen Fach aufgefallen ist. Er nimmt Rossini im Geiste des mittleren Verdi mit viel Saft und Kraft.

Zwischen der bewusst primitiv-martialischen Aufmarschmusik Rossinis und den entrückten Lyrismen könnte die Skala expressiver Möglichkeiten weiter aufgespannt sein. Die Chöre Sören Eckhoffs schlagen sich tapfer; einige Wackler und abgeflachte Phrasen sind bei den derzeitigen Festspiel-Übungen in Ausdauer und stilistischem „Umschalten“ mehr als verständlich.

Vokales Niveau auf Weltspitze präsentiert Marina Rebeka als Mathilde: Ihr gelingt das ariose Naturidyll von Wald und Bergen als Fluchtort vor ihrer Realität mit geschmeidigem Legato ebenso wie die heroisch punktierte Höhe oder der dramatisch geladene Einsatz für Tells Sohn Jemmy gegen die brutale Willkür Geslers. Evgeniya Sotnikova singt mit flexibler Stimme die Rolle des vorpubertären Buben, der mit kindlicher Radikalität den Ideen des Freiheitskampfes folgt.

Bryan Hymel als Arnold überzeugt vornehmlich mit sicher gesetzten Spitzentönen, nicht so sehr mit der unflexiblen, einfarbigen Tongebung und einem gerne ins Gaumige rutschenden Timbre. Im vierten Akt hatte er sich für seine berühmte Szene „Asile héréditaire“ frei gesungen und brillierte mit einem überwältigenden Vortrag. Auch Enea Scala in der zweiten Tenorpartie des Fischers Ruodi beeindruckte mit brillanter Höhe und sicherer Position. Günther Groissböck ist ein eleganter Gesler mit einem warmen Timbre – fast zu schön für den sadistischen Tyrannen. In der Premiere wurde der Regisseur mit Buhrufen überzogen; auch am besuchten Abend waren entschiedene Missfallenskundgebungen zu hören, die diesmal den Dirigenten trafen.




Verborgener Schatz – Frederick Delius‘ „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ in Frankfurt

Zeitenthobene Seelen-Räume: Christian Schmidts Bühne für Delius`"Romeo und Julia auf dem Dorfe" an der Oper Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Zeitenthobene Seelen-Räume: Christian Schmidts Bühne für Delius`“Romeo und Julia auf dem Dorfe“ an der Oper Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Es gibt Kunstwerke, die Jahre, ja Jahrzehnte unbeachtet bleiben, und plötzlich eine erstaunliche Gegenwärtigkeit gewinnen. Frederick Delius‘ „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ gehört dazu.

Diese Oper war ein verborgener Schatz für Liebhaber, hin und wieder ans Tageslicht gehoben und liebevoll betrachtet, dann wieder auf Jahre hin vergraben. Arila Siegert (Regie) und Justin Brown (Dirigat) scheinen mit ihrer gelungenen Karlsruher Produktion 2012 das Interesse an der Oper des deutschstämmigen englischen Komponisten wieder geweckt zu haben. Am entdeckerfreudigen Frankfurter Haus Bernd Loebes feierte „A Village Romeo and Juliet“ eine beeindruckende Premiere; in der nächsten Spielzeit steht Delius‘ vieldeutiges Werke in Bielefeld – der Heimat von Delius‘ Familie – im Spielplan.

Die Geschichte zweier junger Menschen, die gemeinsam in einen Liebestod gehen, ließe sich aus unterschiedlichen Perspektiven erzählen. Gottfried Keller, aus dessen „Die Leute von Seldwyla“ der Stoff genommen ist, hatte sich von einer Zeitungsmeldung über den Suizid zweier Jugendlicher anregen lassen und hartnäckig auf dem sozialkritischen Aspekt beharrt: ein Schicksal armer Leut‘. Nicht ohne Basis wäre auch eine Lesart im Sinne des Fin de Siècle, zu dem Delius‘ Musik unüberhörbar tendiert: als eine psychologisch-symbolistische Studie über die innere Reifung zwischen Kindheit und Adoleszenz in einer als feindlich wahrgenommenen Umwelt.

Eva-Maria Höckmayr und ihr Bühnenteam Christian Schmidt, Saskia Rettig (Kostüme) und Olaf Winter (Licht) halten die Geschichte von allzu eindeutiger Konkretion fern, lassen sie in einem zeit- und ortlosen Seelen-Raum spielen, in dem sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander schieben. Schmidt nutzt die Frankfurter Doppel-Drehbühne aus: Die Küche eine ländlich-einfachen Hauses mit Sprossenfenster und Kaninchenstall, wiederholt als rein-weißer, reduzierter Raum (Weiß ist, so erfahren wir im Programmheft, in Japan die Farbe des Todes); ein hohes Treppenhaus; ein Fleck grüner Natur und ein Baum, umgeben von bühnenhohen Wänden.

Ahnung und Erinnerung sind präsent in Eva-Maria Höckmayrs Regie in der Frankfurter Erstaufführung von "Romeo und Julia auf dem Dorfe". Foto: Barbara Aumüller

Ahnung und Erinnerung sind präsent in Eva-Maria Höckmayrs Regie in der Frankfurter Erstaufführung von „Romeo und Julia auf dem Dorfe“. Foto: Barbara Aumüller

Die Schauplätze schieben sich ineinander, wandeln sich rasch. Szenische Augenblicke wiederholen sich oder werden kontrastiert. Sali und Vreli, die beiden Liebenden, vervielfältigen sich: zwei Kinder als Braut und Bräutigam; ein altes Paar, ebenfalls in Hochzeitskleidung; zwei paradiesisch nackte Menschen auf dem Kulminationspunkt der liebenden Verschmelzung.

Es passiert viel, aber Höckmayr wehrt der Versuchung üppigen, beziehungslosen Bildertheaters. Sie bezieht die Szenen virtuos und stets inhaltlich abgesichert aufeinander, meidet aber zu eindeutige Festlegungen, die leicht ins lehrhaft Erklärende abrutschen würden. Der Ahnungsraum bleibt intakt, die Zeichen versuchen nicht vorschnell zu sprechen. Die Szene zeigt weniger „Handlung“ als Sehnsüchte, Wünsche, Imaginationen. Die atmosphärische Faszination der Bilder ist jedoch kein Selbstzweck, erschöpft sich nicht im Ästhetischen: Sie wahrt den letzten, unaufklärbaren Raum der Psyche, in dem sich Erträumtes und Erlebtes zu inneren Impulsen verbinden.

Bote der Freiheit und des Todes: der "schwarze Geiger" (Johannes Martin Kränzle). Foto: Barbara Aumüller

Bote der Freiheit und des Todes: der „schwarze Geiger“ (Johannes Martin Kränzle). Foto: Barbara Aumüller

So führt Höckmayr die Personen des Stücks ruhig und bestimmt durch die Raum gewordenen Labyrinthe ihrer Seelen – konzentriert auf das Paar Sali und Vreli und den „schwarzen Geiger“, eine ambivalente Figur, anziehend und unheimlich. Ihm wurde das Stück Natur vererbt, auf dem er beiden Kinder spielen lässt – aber die dumpf und stumm agierenden „Leute“ verdrängen ihn, weil er, der „Bastard“, auf das Brachland keinen Rechtsanspruch hat. Er öffnet den jungen Menschen die „Natur“ als Raum der inneren Freiheit, der Distanz zu den Regeln der Gesellschaft – aber wie ein „geigender Tod“ auch die Gefahr einer Abkoppelung vom Leben: Seinen Vorschlag, in sorgenfreier Anarchie mit ihm umherzuziehen, lehnen die Jugendlichen ab. Dem roten Mohn im Revers bläst der Fiedler die Blütenblätter ab: ein behutsames Zeichen für vergängliches Leben – und noch ein Hinweis, wie sorgfältig Höckmayr mit szenischen Details ihre Deutung ausarbeitet. Für Johannes Martin Kränzle ist diese vielschichtige Figur wie geschaffen: Er konkretisiert sie im körperlichen Gebaren wie im gestischen Reichtum seines Singens.

Die Bedrohung geht von den Vätern aus. Manz und Marti, wenn auch mit Sense und Bauernkluft ihrer musikalisch handfest-konkreten Zeichnung entsprechend, sind mehr als die auf Land gierigen Streithanseln, die sich prozessierend ruinieren: Sie hindern ihre Kinder an der Selbstwerdung, die sich Sali in einem Akt des Aufbegehrens erstreitet: Er schlägt dem aggressiven Marti, Salis Vater, einen Stein auf den Kopf – und es ist ein Stein, wie ihn der „schwarze Geiger“ scheinbar absichtslos hat fallen lassen, als er Verhängnis prophezeite, „wenn der Pflug das Land berührt“. Dietrich Volle ist ein ungewöhnlich strapaziert klingender Manz, der seine Höhe nicht frei, sondern erkämpft erreicht; Magnús Baldvinsson ein Marti mit passend rautonigem Bass.

Dumpfer Druck des Dorfes: In dieser Gesellschaft haben die Liebenden keine Chance. Foto: Barbara Aumüller

Dumpfer Druck des Dorfes: In dieser Gesellschaft haben die Liebenden keine Chance. Foto: Barbara Aumüller

Auch das Paar Sali (Jussi Myllys) und Vreli (Amanda Majeski) zeichnet sich durch intensive Darstellung aus: kontrolliert in den statischen Momenten, aus denen sich der Bewegungsimpuls nur langsam löst; berührend sensibel in den wenigen innigen Momenten der Zweisamkeit. Die amerikanische Sopranistin hat in Frankfurt schon die „Gänsemagd“ in Humperdincks „Königskindern“ gesungen, geht im März 2015 für Mieczysław Weinbergs „Die Passagierin“ nach Chicago und kehrt im Mai 2015 als Feldmarschallin in den neuen Frankfurter „Rosenkavalier“ zurück. Darauf wird man gespannt sein dürfen, denn Majeski zeigt einen klar fokussierten Sopran mit gläserner Brillanz, aber wenig Farbenspiel. Jussi Myllys – 2015 als Tamino, Don Ottavio und als „Rosenkavalier“-Sänger an der Deutschen Oper am Rhein – ist vor allem als jungenhafter Typ eine passende Besetzung; klanglich lässt sein lyrischer Tenor ein wenig Schliff vermissen, aber der Nachdruck für die intensiv erfüllte Linie und der leidenschaftlichen Phrasierung ist da.

In besten Händen entfaltet sich die klangliche Schönheit, mit der das Frankfurter Orchester immer wieder überzeugen kann: Dirigent Paul Daniel nimmt den Anfang wohl bewusst kantig, um die Entwicklung zu den fließend-impressionistischen Klangströmen zu pointieren, mit denen Delius die Grenze zwischen Realität und Imagination, Traum und Wirklichkeit musikalisch aufweicht. Da mögen Wagner und Debussy durchklingen, da mag manches auf die Raffinesse von Schreker und Korngold hinweisen – Delius hat in Leipzig studiert und war mit Edvard Grieg eng befreundet –, aber die persönliche Handschrift des Briten geht nicht in Vorbildern auf: Delius findet, formal unbekümmert, zu eigen geprägter klanglicher Sensibilität und agogischer Geschmeidigkeit, zu oszillierenden Mikroklängen wie zu breiter lyrischer Emphase, die sich in ihrem Strömen nur unwillig eindämmen lässt.

Daniel lenkt diesen Fluss mit gestaltender Hand und gibt ihm mit den en détail aufmerksamen Musikern die klanglichen Licht- und Schattenspiele, die wie die im Licht bewegte Oberfläche eines Flusses zwischen zitterndem Verharren und schimmerndem Entgleiten changieren. – Frankfurt hat in den letzten Jahren ein schönes Repertoire aus der Zeit zwischen Gründerzeit und Zweitem Weltkrieg präsentiert. Es wird 2014/15 mit Humperdincks „Hänsel und Gretel“ und Martinůs „Julietta“ weitergeführt, und man darf hoffen, dass die nächsten Jahre der Intendanz Loebe noch einige sehenswerte Trouvaillen an den Tag bringen.




Rund um das neue Weltkulturerbe Corvey: Klosterlandschaft mit Leben erfüllt

Die Nachricht war lang ersehnt: Das westfälische Kloster Corvey, heute auf dem Stadtgebiet von Höxter, ist von der Unesco in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen. Als 39. Kulturstätte in Deutschland dürfen sich das karolingische Westwerk und die „civitas“ Corvey nun im Glanz des begehrten Titels sonnen. Seit 1999 standen die Reste der 822 gegründeten Benediktinerabtei auf der Warteliste.

Mit seinem 885 geweihten und im 12. Jahrhundert umgestalteten Westwerk, mit seiner reichen Geschichte und der barocken Klosteranlage – heute Schloss Corvey – ist das neue Weltkulturerbe wohl das bedeutendste, aber nicht das einzige Kloster im Raum zwischen Weserbergland und Teutoburger Wald. 28 monastische Stätten zählt die Region – von der Einsiedelei bis zu aktiven Frauenklöstern mit modernem spirituellem Leben. Das Netzwerk Klosterlandschaft Ostwestfalen-Lippe arbeitet seit Jahren erfolgreich daran, diese Orte der Kunst-, Kultur- und Glaubensgeschichte zu vernetzen und mit Leben zu erfüllen. Das Ziel ist, ein lebendiges Erbe zu gestalten: Klöster als Orte der Gemeinschaft, der inneren Einkehr, als Räume des Rückzugs und Oasen der Stille, aber auch als Bereiche des Glaubens und der Reflexion.

Um sich die Kirchen, Klöster, Gärten und Orte der Kultur zwischen Gütersloh und Höxter, Minden und Warburg zu erschließen, bietet sich der Sommer mit seinen zahlreichen Veranstaltungen an. In einer Broschüre hat das Netzwerk Klosterlandschaft zusammengestellt, was es an Musik und Kunst, aber auch an Freizeit und Kulinarik zu entdecken gibt.

Die 1180 fertiggestellte romanische Kirche kündet noch vom ersten Kloster der Benediktinerinnen in Gehrden, das bis 1810 bestand. Foto: Kulturland Höxter

Die 1180 fertiggestellte romanische Kirche kündet noch vom ersten Kloster der Benediktinerinnen in Gehrden, das bis 1810 bestand. Foto: Kulturland Höxter

Das vierte „Klosterfestival“ etwa füllt die Räume und Landschaften mit Musik – von Vorbarock bis Jazz. Die ehemalige Benediktinerinnen-Abtei Gehrden ist ein reizvoll gelegener Ort für den Auftakt am 25. Juli: Die um 1140 erbaute romanische Klosterkirche ist ein idealer Auftrittsraum für das Collegium Vocale aus Hannover, das unter Florian Lohmann das Eröffnungskonzert gestaltet. Anschließend taucht ein „Hörspiel“ den zauberhaften Ort in Licht und Klang.

Einen Tag später, am 26. Juli, dürfte die ehemalige Abteikirche Marienmünster die Freunde der Musik Johann Sebastian Bachs anziehen: An der 1738 erbauten Orgel von Johann Patroclus Möller spielt um 20 Uhr Harald Vogel (Bremen) Werke des Thomaskantors, um 22 Uhr singt und spielt das Ensemble Marescotti Musik des 14. bis 17. Jahrhunderts. Drei Mal stehen „Bach-Wanderungen“ im Programm. Die dreistündigen Wege durch die Landschaft enden jeweils mit einem Konzert in Corvey (27. Juli), Willebadessen (10. August) und Marienmünster (17. August). Im Abschlusskonzert am 30. August, 18 Uhr, singt der Deutsche Ärztechor Bach-Motetten in der früheren Abteikirche in Corvey.

Ein breit gefächertes Programm für Orgelfreunde bietet der „Herforder Orgelsommer“ zwischen 6. Juli und 31. August. Eröffnet wird er mit Händels „Dettinger Te Deum“ im Herforder Münster am 6. Juli, 18 Uhr. Meist sonntags folgen Orgelkonzerte, etwa mit „Orgelmusik aus Venetien“ (13. Juli) und – dem diesjährigen Thema „Hansestädte“ folgend – mit Musik aus Belgien, den Niederlanden, Skandinavien und dem Ostseeraum. Unter den Gästen sind Kathedralorganisten wie Hans Leitner (München), Ignace Michiels (Brügge) oder Markku Hietaharju (Turku).

Ein Besuch des Orgelmuseum in Borgentreich – zwischen Brakel und Warburg – und der größten Barockorgel Westfalens in der Pfarrkirche St. Johannes Baptist sollte für Orgelfreunde auf dem Weg liegen. Das dreimanualige Instrument mit 45 klingenden Registern wurde bis 2011 für 1,7 Millionen Euro restauriert. Das Wochenende 19./20. Juli lockt mit einem Konzert der „Musica fiata“ Köln, einem Festhochamt und der Besichtigung von Museum, Orgel und Kirche bei Rundgängen. Außerdem wird die erste CD-Aufnahme nach der Restaurierung vorgestellt.

In Corvey selbst dürfe das Gartenfest vom 1. bis 3. August zu einem vielbesuchten Dank- und Jubelfest anlässlich der Erhebung zum Weltkulturerbe werden. Ein Tipp für Jazz-Fans sind die Jazz-Tage Corvey & Holzminden von 18. bis 21. September. Und in Kloster Dalheim mit seinem LWL–Landesmuseum für Klosterkultur findet vom 1. bis 27. August das Kulturfestival „Dalheimer Sommer“ statt – mit Heinrich von Kleists „Der zerbrochene Krug“ im „Schafstall“, dem Eröffnungskonzert am 3. August mit Geistlicher Musik aus Italien, Spanien und Mexico oder einem Konzert zum 300. Geburtstag Carl Philipp Emanuel Bachs am 17. August in der Klosterkirche. Anziehungskraft über die Region südlich von Paderborn hinaus hat der Dalheimer Klostermarkt, der in diesem Jahr am 30. und 31. August stattfindet.




Genial, aber politisch naiv: Musikforscher Ulrich Konrad über Richard Strauss

„Salome“, „Der Rosenkavalier“, „Elektra“: Richard Strauss ist nicht erst im 150. Jahr seiner Geburt auf der internationalen Opernbühne präsent. Er mag nicht zu den meistgespielten Komponisten gehören, zu den meist geschätzten zählt er auf jeden Fall. Kein Dirigent kann es sich leisten, auf Strauss zu verzichten; kein Opernhaus geht an seinen Hauptwerken vorbei. Und dennoch ist der Mensch Richard Strauss seltsam ungreifbar.

Bewandert in Sachen Strauss: Der Musikwissenschaftler Ulrich Konrad. Foto: Werner Häußner

Bewandert in Sachen Strauss: Der Musikwissenschaftler Ulrich Konrad. Foto: Werner Häußner

Seine Selbstinszenierung war „wasserdicht“: Nach außen ein bayerischer Großbürger, nach innen undurchschaubar. Auch die Forschung zu Richard Strauss kommt erst in Gang. Im Interview mit Werner Häußner erklärt Ulrich Konrad, Vorstand des Instituts für Musikforschung an der Universität Würzburg und anerkannter Strauss-Experte, was in Sachen Strauss noch nachzuholen ist.

Sie haben sich lange mit Richard Strauss beschäftigt. Haben Sie einen Zugang zu seiner Person gefunden?

Letztlich ist die Person Richard Strauss hinter ihrem bürgerlichen Habitus undurchdringbar. Selbst auf Fotos zeigt er stets eine Maske; es gibt nur ein paar Bilder, auf denen er einmal lacht. Was hinter dieser Stirn vorging, wissen wir nicht. Es gibt auch keinen Skandal in diesem Leben. Mit seiner Frau Pauline de Ahna führte er ein unverbrüchliches Lebensbündnis. Sein äußerlich geordnetes Leben entspricht in keiner Weise dem Klischee der Künstlerexistenz.

Und sein politisches Denken? Immerhin war Strauss Präsident der Reichsmusikkammer in der NS-Zeit …

Ich würde ihn als politisch naiv bezeichnen. Strauss hat sich immer mit den Mächtigen arrangiert. Er war ein schonungsloser Realist und dachte völlig unidealistisch. Als die Nazis an die Macht kamen, war Strauss viel zu berühmt, um nichts mit der Sache zu tun haben zu können. Das Regime biedert sich ihm an, und er macht mit, weil er die Chance sieht, seine kulturpolitischen Vorstellungen durchzusetzen: weg mit Lehár, weg mit Komponisten wie Gounod. Die Moderne hielt er für ‚Bockmist‘. Er glaubte allen Ernstes, die Nazis würden auf ihn hören und er könnte sein konservatives Ego-Programm durchsetzen. Erst spät hat er gemerkt, wie ihm die Felle davonschwimmen.

Ein Beispiel für seine politische Naivität: Er konnte sich nicht vorstellen, dass seine Post abgefangen und mitgelesen würde. Daher zieht er in einem berühmten Brief an Stefan Zweig über die Nazi-Ideologie her, was ihn in den Augen des Regimes diskreditiert hat. Aber in diesem Brief ist Strauss vollkommen ehrlich. Auch seine Reise nach Theresienstadt, um durch persönliches Erscheinen die Großmutter seiner Schwiegertochter aus dem KZ zu holen, gehört hierher: Strauss glaubte im Ernst, die Nazis würden nachgeben, wenn er, der berühmte Komponist, persönlich vor dem Lagertor steht.

Strauss‘ Denken war also von keinen Idealen oder gar von religiösen Werten bestimmt?

Die Unterschrift von Richard Strauss. Foto: Wikimedia

Als in Berlin 1918 das Kaiserreich zusammenbricht, notiert Strauss nur, dass ein Konzert ausfalle und er stattdessen Skat gespielt habe. Er nimmt ein welthistorisches Ereignis nur beiläufig wahr. Für ihn als Agnostiker zerbricht kein metaphysisches Weltbild – der Leser von Max Stirner und Friedrich Nietzsche hatte keines. Für ihn ist alles immer weltlich, seine Religion heißt Arbeit. Der bedeutende Mensch schafft aus sich selbst heraus die große Tat – da braucht es keine religiösen oder metaphysischen Verweise. So zeigt es sich auch in seinen Werken: Bei ihm gibt es das Spiel mit den Göttern, aber keine geistliche Musik, und seine Götter sind zweifelhafte Helden … .

Strauss hat tatsächlich keine geistlichen Werke geschrieben, von den vier Sätzen einer Messe in seiner Jugend (1877) abgesehen.

Der Theaterzettel der Uraufführung von „Salome“ an der Dresdner Oper, 9. Dezember 1905.

Diese Werke des Zwölfjährigen sind Übungsstücke, keine Bekenntnismusik. Es gibt keine religiöse Musik bei Strauss, das Religiöse wird allenfalls aus einer völlig säkularen Perspektive gesehen: das ist der Gestus des „Zarathustra“. Eine Art von Weltanschauung findet sich höchstens in der Motette „Die Schöpfung ist zur Ruh‘ gegangen“ auf Worte von Friedrich Rückert. Aber auch da geht es um die künstlerische Arbeit.

Strauss‘ Familie war ja nach 1870 altkatholisch.

Ihn hat das nicht tangiert. In seinem Werk finden sich wenige Themen aus dem Alten Testament: der Prophet Jochanaan in „Salome“, die „Josephslegende“. Aber ihnen begegnet er mit Spott und Ironie: Über die religiösen Debatten der Nazarener macht er sich in „Salome“ musikalisch lustig. Jochanaan nimmt er nicht ernst. Und mit dem keuschen Bürschlein in der „Josephslegende“ kann er nichts anfangen. In einer „atavistischen Blinddarmecke“ werde er nach einer Melodie für den Joseph suchen, schreibt er in einem Brief. Auf „Heiligkeit“ reagiert er – wie übrigens auch auf alle Ideologien – ironisch.

Und wie ging er mit dem katholischen Bekenntnis seiner Frau um?

Das war zunächst einmal eine bayerische Tradition. Mir ist nicht bekannt, dass in der Familie Strauss in irgendeiner Form ein religiöser Alltag stattgefunden hat. In der Erziehung der Kinder spielte Religion oder Glaube keine Rolle. Wert legte Strauss auf die humanistische Bildung, die Lektüre altgriechischer Autoren, die Lektüre Goethes.

Vor 100 Jahren brach der Erste Weltkrieg aus. Hat Strauss in irgendeiner Weise in seinem Werk auf diese „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ reagiert?

Dass der erste Weltkrieg die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ein für alle Mal zerschlagen hat, ist in Strauss‘ Erleben zunächst nicht präsent. Strauss hat nicht den geringsten Zweifel: Er macht deutsche Musik. Eine nationalistische Perspektive, die er übrigens auch mit Schönberg teilt. Im Zuge der Entstehung der „Frau ohne Schatten“ zwischen 1911 und 1915 schreibt er in einem Brief an Hugo von Hoffmannsthal, er verspreche, dies sei die letzte romantische Oper gewesen. Offenbar war Strauss bewusst, dass in dieser Zeit etwa zu Ende gegangen ist.

Schlägt sich dieses Bewusstsein im späteren Werk nieder?

Richard Strauss im Jahre 1922. Foto: Ferdinand Schmutzer/Österreichische Nationalbibliothek

„Intermezzo“, uraufgeführt 1924, ist ein schönes Beispiel: Auch ein Mann wie Strauss – er war bereits 60 Jahre alt – begreift zumindest, dass sich die Welt um ihn herum ändert, auch wenn er das nicht nachvollziehen kann oder will. Beobachtbar ist auch ein Nachlassen seiner Produktivität in den zwanziger Jahren. Seinen Opern – „Intermezzo“ 1924 und „Die ägyptische Helena“ 1928 – war der Erfolg zwar bei der Uraufführung, aber nicht dauerhaft gewogen. Das änderte sich erst 1933 wieder mit „Arabella“.

Zu spüren ist in dieser Zeit eine gewisse Richtungslosigkeit: Strauss will den „Menschen der Gegenwart“ auf die Bühne stellen. Er dachte an eine Art gesellschaftskritischer Spieloper – was für Hoffmannsthal unvorstellbar war. Strauss reagierte also nicht mit radikaler Veränderung, sondern mit einer Unsicherheit in der künstlerischen Orientierung. Bedenkenloses Weitermachen war für ihn nicht vorstellbar. In „Intermezzo“ ist zu sehen, wohin Strauss gehen wollte; letztlich hat er dann in „Die ägyptische Helena“ vor dem intellektuellen und kulturellen Überbau kapituliert, der in Hoffmannsthals schwerem Bildungstheater angehäuft ist. Das Verhältnis zwischen Strauss und dem Dichter, das meistens idealisiert wird, ist in der Forschung auch noch nicht bewältigt.

Die Strauss-Forschung bedürfte ja auch einiger Impulse durch das Jubiläumsjahr …

Diese Impulse kommen nicht aus den Jubiläen, sondern von der Forschungsstelle Richard Strauss in München. Am Institut für Musikwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität ist im Februar 2011 das Langzeit-Editionsprojekt „Kritische Ausgabe der Werke von Richard Strauss“ in Angriff genommen worden. Kooperationspartner des Projekts ist das Richard Strauss-Institut in Garmisch-Partenkirchen mit seinem seit 2009 durchgeführten DFG-Projekt „Richard-Strauss-Quellenverzeichnis“. Die philologisch orientierte Forschung ist damit in Gang gekommen.

Das Heim eines Großbürgers: Die Villa von Richard Strauss in Garmisch. Foto: Wikimedia/Josef Lehmkuhl

Was bisher fehlt, ist unter anderem eine Übersicht über die reichhaltige Korrespondenz Strauss‘ und ein umfassendes Quellenverzeichnis. Diese Forschungen dürften die wissenschaftliche und hoffentlich auch öffentliche Wahrnehmung von Richard Strauss verändern. Strauss selbst hielt wissenschaftliche und biografische Forschung zwar für überflüssig, es sei denn, es ging um die Darstellung seines künstlerischen „Heldenlebens“. Aber auch im Wissenschaftsbetrieb war Strauss – nicht zuletzt durch den Essay von Theodor W. Adorno zum Jubiläumsjahr 1964, der unabsehbare Folgen hatte – kaum ein Thema: Mit einer Arbeit zu Strauss anzutreten, hätte damals das Ende der akademischen Karriere bedeutet.

Diese Situation hat sich erst im Zuge der Postmoderne gelockert: Durch den historischen Abstand werden die Dinge entspannter gesehen. Die ideologische Ausrichtung auf die Wiener Schule und die Frage Adornos nach dem zeitgemäßen Material ist relativiert. Auch mit dem artifiziellen, spielerischen Umgang mit der Vergangenheit in Strauss‘ späten Werken lässt sich vielleicht aus postmoderner Perspektive heute mehr anfangen.




Festspiel-Passagen II: Händels „Giove in Argo“ in Bad Lauchstädt mit Sinn fürs Komische

Jupiter, das wissen wir aus der antiken Mythologie und von Jacques Offenbach, war nicht zimperlich, wenn es um seine Amouren ging: Europa näherte er sich als Stier, Leda als Schwan, Danae als Goldregen und, naja, Eurydike sogar als dicke goldene Fliege. Zu Georg Friedrich Händels Zeiten waren die erotischen Histörchen um den Göttervater noch wohlbekannt, und so konnten sich die Besucher seiner Oper „Giove in Argo“ schon denken, was Jupiter im Nordosten der Peloponnes zu suchen hatte …

2014 herrscht in Griechenland allerdings Depression, und so verlegt Kay Link in seiner Inszenierung von „Giove in Argo“ für die Händel-Festspiele Halle die göttlichen Eskapaden in einen verödeten Flughafen. Im angegammelten Ambiente des Terminals, das Olga von Wahl auf die Bühne des historischen Goethe-Theaters in Bad Lauchstädt gebaut hat, treffen sich die an den Abfertigungsschaltern des Schicksals Gestrandeten: Iside, Tochter eines ermordeten Königs und dürstend nach Rache. Osiris, ägyptischer König, ihr Verlobter, getarnt als biederer Tourist Erasto. Calisto, Tochter eines Mörders und Tyrannen, ein blondes Girl aus einem teuren College. Und Licaone, der den König von Argos ermordet und damit alle Unbill entfesselt hat, ebenfalls auf der Flucht: mit silbernem Geldkoffer durch den Zuschauerraum und über die Bühne. Die Flüge sind alle gecancelt: Aus dem Terminal entkommt die nächsten drei Akte keiner.

Flughäfen sind heute, was Bahnhöfe für das letzte Jahrhundert waren: Schauplätze des Abschieds, der Flucht, der Heimatlosigkeit, zufälliger Begegnungen und unaufhaltsamer Abläufe. Eine passende Metapher also, um das komplizierte Netzwerk der Handlung, aufgespannt von einem Libretto, das ursprünglich von Antonio Lotti für Dresden vertont wurde, zu verorten. Händel hat es benutzt, um 1739 in London in Windeseile eine Oper aus der Feder zu schütteln. Mit ihr wollte er zwei neue Sängerinnen präsentieren und der Konkurrenz in Covent Garden die Stirn bieten.

Für das Komponieren neuer Musik blieb wenig Zeit: „Giove in Argo“ ist ein „Pasticcio“. Die Arien entnahm Händel aus neun eigenen und einer fremden Oper, zwei Serenaden und einem Oratorium. Immerhin sechs Arien sind neu, ebenso einer der acht Chöre, zwei Ariosi und die Secco-Rezitative. Letztere sind allerdings nur für den ersten Akt erhalten; die der beiden anderen schrieb der Rekonstrukteur des Werkes, John H. Roberts, neu.

Lange hielt man die Oper für nicht mehr aufführbar, bis Roberts 2001 die fehlenden Arien entdeckte: Sie stammen von Francesco Araia, Kapellmeister der italienischen Oper am Hof in St. Petersburg, und sind an Qualität und Wirkung den Händel’schen Arien gleichwertig. „Giove in Argo“ blieb dennoch selten gespielt: Die Inszenierung anlässlich der Händel-Festspiele in Halle ist – laut der Datenbank des Händel-Hauses – erst die zweite nach der modernen Erstaufführung in Bayreuth 2006.

Die Flughafen-Metapher macht es dem Regisseur dank der Kostüme Olga von Wahls möglich, die Machtverhältnisse zu verdeutlichen. Die Götter treten als Flugpersonal auf – ohne das der Passagier an die Erde gefesselt bleibt: Jupiter in Pilotengala in Weiß und Gold, Diana und ihr Damen-Gefolge in adrettem Fliegerblau mit engen Röcken und Schiffchen im Haar. Als Jupiter sein erstes Opfer Iside umgurrt, rückt das Stück aus dem Schema der „opera seria“ in die Nähe einer Offenbachiade des 18. Jahrhunderts: Der gefährliche Unernst der Avancen des Gottes entspricht der rührend pubertären, schockierend radikalen Entschlossenheit der Iside: Für ihre Rache ist sie sogar zum Sex mit einem Mann bereit, der ihr sonst von Herzen gleichgültig wäre.

Beim zweiten Opfer, der höheren Tochter Callisto in knallrotem Dress, kommt der Göttervater seiner Tochter Diana ins Gehege: Die hat mit ihren militärisch gedrillten Jungfrauen im Sinn, das Oberschicht-Mädel für Abstand von den Männern und „Keuschheit“ zu gewinnen – aus welchen durchsichtigen Gründen, zeigt der unverhohlene Annäherungsversuch der Göttin. Wenn nach dem Hin und Her der drei Akte nach gut drei Stunden die Lösung naht, hat das Finale etwas von der ironisch-abrupten Art Offenbachs: Jupiter bestimmt einfach, wie es zu laufen hat, macht aber die Rechnung ohne seine düpierte Tochter Diana: Die ersticht den Mörder Licaone durch die Kulisse und lässt den obersten Gott durch ihre Damen in der Versenkung verschwinden, als fahre Don Juan in die Hölle. Frauen-Power trägt den Sieg davon.

Da Händel die Arien mit Bedacht auswählte, haben wir in „Giove in Argo“ eine Hitliste bezaubernder Musik von „Alcina“ bis „Teseo“. Und die Musik Francesco Araias in seinem großen Accompagnato „Iside, dove sei“ und der Arie „Ombra che pallida“ bewegt sich auf Augenhöhe mit Händel: Dessen Accompagnato des zweiten Akts eröffnet eine expressive Wahnsinns-Szene, mit der jede Sängerin brillieren kann, und die Händel mit grellen Dissonanzen selbst für Ohren des 21. Jahrhunderts musikalisch bezwingend aufrüstet.

Nun ist die Iside der Bad Lauchstädter Aufführung, Roberta Mameli, zwar eine höchst präsente Darstellerin, kann aber mit ihren gesanglichen Mitteln nicht überzeugen. Ihre Expressivität ergibt sich aus einer zweifelhaften Methode deklamierenden Sing-Sprechens, das aufs erste Hören wirkungsvoll ist, aber im Lauf des Abends eher verärgert als erfreut: Das beginnt bei einem mal kopfigen, mal in die Nase getriebenen Klang, führt sich fort über unklare Artikulation und endet bei dünnen, sentimentalen Piani. Von einer gleichmäßigen Bildung der Töne, einer stetigen Führung des Atems oder einer kontrollierten Emission – alles Grundforderungen des „Belcanto“ des 18. Jahrhunderts – kann keine Rede sein. Verwunderlich, dass „historisch informierte“ Dirigenten, die sich sonst um jede Darmsaite kümmern, mit einem solchen Gesangsstil zufrieden sind. Er hätte in der Tat eher seinen Platz in den Offenbach’schen Bouffes-Parisiens als im Theater Georg Friedrich Händels.

Erfolgreicher zeigt Natalia Rubiś als Einspringerin in der Partie der Callisto, wie solide Technik dem Ausdruck des Singens zuträglich ist: Mit ihrem hell timbrierten, schlanken Sopran lässt sie Staccati, punktierte Noten und elegante Figuren keck abspringen; erfüllt ihre Klagearie im dritten Akt mit feiner Wärme. Barbara Emilia Schedels harter, präziser Sopran, technisch fragwürdig, passt zur Figur der Diana als energischer Lesbe. Unter den Männern positioniert sich Krystian Adam als Jupiter – unter dem Decknamen Arete – vorteilhaft: Er lockert die anfangs angespannte Stimme, singt zunehmend geschmeidig, kann auch mit nuancierten Farben gestalten. Thilo Dahlmann (Erasto) artikuliert nicht sehr elegant, aber deutlich; Johan Rydh (Licaone) bietet festgefahrene, auf dem Atem gestoßene Töne.

Mit Werner Ehrhardt am Pult seines 2004 gegründeten Orchesters „l’arte del mondo“ stellen sich erlesenere Händel-Freuden ein. Ehrhardt pflegt einen gelasseneren, metrisch unangestrengten, freier schwingenden Klang als etwa Laurence Cummings in Göttingen. Lockere Tempi, ein nuanciertes Spiel der Streicher, entspannte Phrasierungen und angenehm saubere Bläser kennzeichnen das Ensemble. Ehrhardt entlockt seinen Musikern für jede Arie eine eigene, charakterisierende Färbung, schaut genau auf den Rhythmus, lässt auch Effekte nicht aus – etwa die düsteren Forte-Akzente der tiefen Streicher oder die dissonanten Blitze des zweiten Akts. Und auch der Chor, das mit vibratolos „weißen“ Stimmen singende Vokalensemble „l’arte del mondo“, findet einen locker schwingenden, rhythmisch aparten oder verdichtet dramatischen Klang.

Die Händel-Festspiele Halle haben mit „Giove in Argo“ wieder verdienstvolle Ausgrabungs-Arbeit geleistet. Die Regie Kay Links bricht mit Gespür für komische Nuancen das böse Spiel um Macht und Begehren auf, ohne ihm seine Brisanz zu nehmen. So gesehen könnte dieses Pasticcio das Händel-Repertoire durch eine ungewöhnliche Farbe ergänzen.




Festspiel-Passagen I: „Faramondo“ als überzeugende Händel-Rarität in Göttingen

Das edle Tier im Fadenkreuz: Die Allegorie des Bühnenvorhangs passt zu Händels "Faramondo". Fotos: Händel-Festspiele Göttingen

Das edle Tier im Fadenkreuz: Die Allegorie des Bühnenvorhangs passt zu Händels „Faramondo“. Fotos: Händel-Festspiele Göttingen

Der edle Hirsch bäumt sich auf, fällt, bedrängt von der Meute der Hunde. Gary McCann hat den Vorhang zu seinem Bühnenbild für Händels „Faramondo“ in Göttingen mit einer dramatischen Jagdszene bemalt. Wenn er sich schließt, verändert er sich: ein Fadenkreuz wird auf den König des Waldes projiziert, später leuchten die Augen der hetzenden Hunde tückisch auf.

Die Allegorie auf den dramatischen Kern von Händels Oper spricht deutlich: Mag der Edle auch stark sein, er ist gefährdet durch die Meute seiner Feinde, durch die Hatz von Niedertracht und Intrige.

Im Falle der zentralen Opernaufführung der 94. Göttinger Händel-Festspiele heißt der Titelheld Faramondo: Der Urvater der Merowinger, dem die Historiker heute nur noch eine legendäre Existenz zugestehen, liegt im Kriege mit den Kimbern und verliert auch noch seine Verbündeten, die Schwaben, weil er sich unabsichtlich in die Angebetete des Schwabenkönigs verliebt. Diese heißt Rosimonda und ist dummerweise ausgerechnet die Tochter des Feindes, des Königs Gustavo. Der wiederum hat Faramondos Schwester Clotilde als Geisel in der Hand – und verliebt sich, genau wie sein Sohn Adolfo, in die Dame aus dem fränkischen Lager.

Zwei Frauen, jede von zwei Männern begehrt, dazu ein unheilvoller Racheschwur und ein vertauschter Sohn: Ein Gebräu von Beziehungen und Emotionen, das am Ende nur ein Ziel hat: die Edlen als edel zu erweisen, die Liebe über das Schicksal triumphieren zu lassen und zu zeigen, wie Tugend die Leidenschaften zähmt.

Händels Opern – eine Herausforderung für die Regie

Für einen Regisseur sind Händels verwickelte Konstellationen stets eine Herausforderung, aber „Faramondo“ erschwert mit einem getöteten Königssohn, der gar keiner war, die Durchschaubarkeit noch einmal erheblich. In Göttingen lässt sich Paul Curran nicht einschüchtern: Er setzt auf deutlich abgegrenzte zwei Parteien und eine konturenreiche Personenführung, die er situativ entfaltet, ohne sich in den Zusammenhängen zu verkrampfen. Damit ist er nahe an Händel, der mit einer – auch im Falle dieses selten aufgeführten Werks – immer wieder überraschenden Musik tief in die seelischen Abgründe seiner Figuren eindringt.

Georg Friedrich Händel. Stich von William Bromley nach einem Gemälde von Thomas Hudson.

Georg Friedrich Händel. Stich von William Bromley nach einem Gemälde von Thomas Hudson.

Händel schrieb die Oper Ende 1737, von einem Schlaganfall genesen, in nicht einmal zwei Monaten in wiedererstarkter Schaffenskraft, um seine Position als führender Opernkomponist in London zu bekräftigen. Dass er auf einen „Faramondo“ des Italieners Francesco Gasparini zurückgriff, schmälert die Qualität seiner Musik nicht. Im Vergleich mit Gasparinis Arien zeigt sich eher, wie bewusst Händel auch mit vorliegendem Material umging und wie sensibel er es musikalisch an die Charaktere anpasste.

Curran legt seine Regie auf eine moderne Körper- und Gestensprache an, scheut sich auch vor leiser Ironie nicht. Ein mondänes Casino – dunkelrote, schwere Tapeten, dunkle, kostbare Hölzer – lässt Politik zunächst als Spiel erscheinen, aber der Racheschwur des Chores zeigt schnell, dass es mit dem Spielen zu Ende ist. Der Beinahe-Mord an der Geisel Clotilde auf dem Spieltisch lässt die Kurve der Erregung schnell steigen. Zwei mafiöse Banden bekriegen sich: Waffen stehen im Wandschrank bereit, sitzen locker im Halfter und fliegen schnell in die Hand.

Die Franken um Faramondo sind gefährlich gerüstete schwarze Krieger. Sie brechen mit einem gekonnten Coup de théâtre in den Salon ein: Curran setzt den Effekt punktgenau ein und macht ihn damit überwältigend und glaubwürdig. Die düsteren Pläne und zwielichtigen Vereinbarungen werden draußen ausgeheckt, in einer trostlosen Atmosphäre zwischen dem nackten Grau von Beton und irgendwelchen obskuren Rohrleitungen. Wenn im dritten Akt der rote Salon zerstört ist, die Tapeten in Fetzen hängen und Soldaten zerstreute Papiere am Fußboden sichten, passt das Bild zur desaströsen Gefühlslage aller Beteiligten.

Krieg und Gewalt sind in Händels "Faramondo" allgegenwärtig. Szene aus der Göttinger Inszenierung Paul Currans mit Emily Fons in der Titelpartie (stehend).

Krieg und Gewalt sind in Händels „Faramondo“ allgegenwärtig. Szene aus der Göttinger Inszenierung Paul Currans mit Emily Fons in der Titelpartie (stehend).

Das Libretto von Apostolo Zeno, einem der damals maßgeblichen Theaterdichter, lässt den Personen keinen Raum, sich zu entwickeln. Gustavo, König der Kimbern und Gegner Faramondos, ist verbohrt in Rachsucht und Begierde und bereit, diesen Affekten sogar seinen verblieben Sohn Adolfo zu opfern: ein negativer Charakter von königlichem Format. Der Bass Njåll Sparbo charakterisiert ihn mit harter Stimme mit schnellem Vibrato und im dritten Akt mit zu brachial gebrüllten Rezitativen.

Eine komplexere Persönlichkeit steht mit dem Schwabenkönig Gernando auf der Bühne: zärtlich, aber vergeblich verliebt, erst loyal, dann schäumend vor Eifersucht gegen seinen Rivalen Faramondo, aber auch intrigant und listig. Der Counter Christopher Lowrey hat die Stimme, die gegensätzlichen inneren Antriebe auszudrücken; pendelt zwischen zärtlicher Hoffnung mit einem Hauch von Resignation („Non ingannarmi …“), düsterer Entschlossenheit („Voglio che mora …“) und ungebremster Wut („Nella terra, in ciel, nell’onda …“).

Koloraturen und kantable Linien

Lowrey zeigt sich nicht nur den Koloraturen gewachsen, sondern kann auch die kantable Linie mit einem schönen, gestaltvollen Ton erfüllen. Doch nicht nur gesanglich setzt er sich an die Spitze des Ensembles: Dass seine Liebe zu Rosimonda obsessive Zügen trägt, stellt er in Haltung und Gestik treffend dar. Dass er sich offenbar eine ganze Sammlung Slips seiner Geliebten zugelegt hat, gibt der Figur einen Zug ins Abseitige. Auch Maarten Engeltjes, der zweite Countertenor der Produktion, kann als Adolfo mit rhythmischer Prägnanz und facettenreichem Klang punkten, nur in den Höhen der Kadenzen geraten ihm manche Töne zu dünn-falsettig.

Unter den nach Timbre und Tessitura sorgfältig ausgewählten Damen-Ensemble sticht Emily Fons als Faramondo heraus: Der amerikanische Mezzosopran brilliert mit einer tadellosen technischen Durchbildung der Stimme – Voraussetzung für eine musikalisch vielgestaltige Ausdeutung ihrer Rolle, die sich keiner rhetorischen oder stimmlichen Tricks bedienen muss, um den Text expressiv auszudeuten. Nicht nur das seelenvolle Zwiegespräch mit Rosimonda im ersten Akt und das erhabene Arioso „Si, torneró a morir“ werden so zu Höhepunkten des Abends, sondern auch das Schlussduett des zweiten Aktes und die auch psychologisch zentrale fünfte Szene des dritten Aktes.

Anna Devin als Clotilde in "Faramondo" in Göttingen.

Anna Devin als Clotilde in „Faramondo“ in Göttingen.

Anna Starushkevych hat als Rosimonda den etwas präsenteren, metallischeren Mezzo-Klang, den sie in Rezitative ausdrucksstark intensiviert, in ihrer Arie „Vanne, ché più ti miro“ aber etwas zu affektiert ausstellt und in der Kadenz zu flach führt. Als Clotilde hat Anna Devin einen starken Auftritt in der Eröffnungsszene, in der sie das Trauma aus dem grausam-zynischen Spiel mit ihrem Leben beeindruckend darstellt. Aber sie ist auch eine starke Frau, die ihre Selbstbestimmung trotz allen Leidens nicht aus der Hand geben will. Der präsente Sopran Devins passt zum Charakter, auch wenn manchmal flache, manchmal gestoßene Töne und eine nicht immer optimal kontrollierte Emission den Eindruck trüben.

Laurence Cummings, Dirigent und seit 2012 Künstlerischer Leiter der Händel-Festspiele Göttingen.

Laurence Cummings, Dirigent und seit 2012 Künstlerischer Leiter der Händel-Festspiele Göttingen.

Mit dem Festspielorchester bewährt sich Laurence Cummings als Dirigent, der straff artikulieren lässt, einen unverstellten, präsenten Klang sucht, übertriebene Eile meidet. Den intensiven Ausdruck der langsamen Arien unterstreicht Cummings mit organisch pulsierendem Tempo, das den Stimmen Raum gibt, Farbe und Klangdetails zu entwickeln. Auch die Solisten des Orchesters demonstrieren, wie aus einer schlichten Streicherbegleitung eine nuancenreiche Palette von feinen Farben zu gewinnen ist.

Wieder hat Göttingen bewiesen, wie ein selten gespieltes Werk – „Faramondo“ war in Deutschland nur 1976 in Halle zu sehen – zu einem kraftvollen Stück Musiktheater wird. Dazu braucht es solch sensible Regisseure wie Paul Curran, aber auch ein engagiertes Ensemble und nicht zuletzt einen musikalischen Leiter, dem der aktuelle Blick auf Raritäten von Händel ein Anliegen ist.




Mystisches Erlösungsdrama: Wuppertal spielt noch zwei Mal Respighis „Die Ägyptische Maria“

Auf diesem Foto gut sichtbar: die Videos von Christian Hampe für Respighis "Die ägyptische Maria", die im Juni noch zwei Mal in Wuppertaler Kirchen gespielt wird. Foto: Uwe Stratmann

Auf diesem Foto gut sichtbar: die Videos von Christian Hampe für Respighis „Die ägyptische Maria“, die im Juni noch zwei Mal in Wuppertaler Kirchen gespielt wird. Foto: Uwe Stratmann

Die Dame ging einem Gewerbe nach, das erst die Frauenbewegung des ausgehenden 20. Jahrhundert zu einem Beruf wie jeden anderen zu erklären versucht: Sie war, was man heute „Sexarbeiterin“ nennt. Im ägyptischen Alexandria der Völkerwanderungszeit war „frau“ da auf der Verliererseite; das Einkommen reichte nicht für eine Kreuzfahrt nach Jerusalem. Doch Maria, so der Name der Passagierin, zahlte die Seeleute mit dem, was ihr zu Gebote stand: ihrem Körper.

Christliche Legenden können drastisch sein. Und erzählen bisweilen von Menschen, denen ein gefestigt christliches Bürgertum nie und nimmer zugestanden hätte, einmal heilig zu werden. Im Falle der ägyptischen Maria führte dieser Weg über Erkenntnis, Reue und Buße: Das jähe Bewusstsein, ein sinnloses und ödes Dasein zu fristen; die unvermittelte Sehnsucht nach einem neuen Leben, die von einem Engel unterstützte Reue an der Schwelle des Heiligtums zu Jerusalem; ein ganz auf Gott konzentrierter Rückzug in die Wüste, einem Ort, an dem die üblichen Kriterien eines scheinbar sinnerfüllten, gelingenden, guten Lebens außer Kraft gesetzt sind.

In der frühen, rudimentären Lebensbeschreibung der ägyptischen Maria – in der Kunstgeschichte als völlig von Haaren bedeckte nackte Frau ein beliebtes Motiv – spiegelt sich die Radikalität der altchristlichen Einsiedler ebenso wie die Wüste als symbolgeladener Ort existenziellen Ausgesetztseins. Für den italienischen Komponisten Ottorino Respighi war der christliche Kern dieser Bekehrungsgeschichte ein Anlass, den Stoff für eine Oper über die ägyptische Maria zu wählen. Doch sie kam auch dem Mystizismus der Zeit entgegen, ebenso dem heroischen Idealismus im Gefolge eines Gabriele d’Annunzio, dessen Spuren sich im Libretto Claudio Guastallas finden, ohne dass Respighi und sein Librettist sich näher auf den egomanischen Atheismus des italienischen Nationalheroen des beginnenden 20. Jahrhunderts eingelassen hätten.

Symbolismus, Archaik, Rückkehr zu den Quellen

Das Opernprojekt kam aber auch Respighis Neigung zum Archaischen entgegen: Er konzipierte „Maria Egiziaca“ als Triptychon: drei Szenen, verbunden durch zwei Zwischenspiele, einem dreiflügeligen Altarbild ähnlich. Eine Idee, die Respighi auch in anderen Werken verfolgte, etwa in seinem „Trittico botticelliano“, in dem er bekannte Werke des Florentiner Malers musikalisch reflektiert. Respighi sah die Zukunft der italienischen Musik seiner Zeit – in Gegnerschaft zu Verdi und Puccini – im Rückgriff auf das Erbe des 16. und 17. Jahrhunderts. Er gab Werke von Monteverdi heraus und bearbeitete sie, er forschte von Cavalli bis Vivaldi in der Alten Musik. Für seine eigene Musik machte er nicht nur die formalen Experimente eines Richard Strauss und die farbenreiche Orchestrationskunst eines Nikolai Rimski-Korsakows fruchtbar. Sondern er griff auch auf archaisierend auf alten Techniken zurück – bis hin zur Gregorianik, auf die ihn seine Frau Elsa aufmerksam gemacht haben soll.

Ein guter Griff also, dass die Wuppertaler Bühnen auf die lange nicht mehr gespielte „Maria Egiziaca“ zurückgriffen, als es darum ging, eine in Wuppertaler Kirchen spielbare Opernproduktion zu entwickeln. Der oratorische Charakter des Erlösungsdramas der ägyptischen Maria kommt dieser Wahl entgegen. Statt eines Bühnenbilds gestaltete Christian Hampe Videoprojektionen, die von jungen Menschen im Rahmen des Medienprojekts Wuppertal unter Norbert Weinrowsky entwickelt wurden. Die Bilder, assoziative Formen und Szenen, arrangiert von Regisseur Johannes Blum, bilden einen visuellen Rahmen, der je nach Architektur der Aufführungskirche überzeugender oder überflüssiger wirkt. Im Saal der Thomaskirche etwa kamen sie nicht zur Geltung.

Thomas Laske und Dorothea Brandt in Respighis "Die Ägyptische Maria" in Wuppertal. Foto: Uwe Stratmann

Thomas Laske und Dorothea Brandt in Respighis „Die Ägyptische Maria“ in Wuppertal. Foto: Uwe Stratmann

So liegt das Gewicht der Aufführung vor allem beim Orchester, dem Chor und den Solisten. Das Sinfonieorchester Wuppertal hatte sich unter Florian Frannek auf zehn höchst unterschiedliche Kirchen akustisch einzustellen – keine günstige Voraussetzung für ein Werk, das den archaisierenden Kirchenton ebenso kennt wie das üppige Aufblühen. Bei der Aufführung in der Thomaskirche hatte Frannek die Balance und die Dynamik gut im Griff; die Musiker ließen die Farben leuchten, die wie die Lasuren eines Gemäldes übereinander liegen. Etwas angeraut klang der Chor – aber das dürfte weder Jens Bingert noch seinen Sängern zuzuschreiben sein: Der Klang im Raum war zu direkt, um sich optimal mit dem Orchester zu mischen.

Unter den Solisten traf Thomas Laske mit markantem Bariton den Charakter des zornigen Mahners, der Maria am Tor des Heiligtums den Eintritt verweht, und die Wandlung zum Einsiedler, der sich von Marias weltentrücktem Wüstenwandel tief beeindruckt zeigt. Für Dorothea Brandt ist die Titelrolle eine Herausforderung. Konzipiert für und gesungen von großen Verismo-Heroinen wie Gina Cigna, Maria Caniglia oder Gilda dalla Rizza, fordert sie eine satte Mittellage und eine flammende Höhe. Die Wuppertaler Sängerin gehört nicht in diese Riege, hat auch hörbar Mühe mit der Stetigkeit des Tons und einer flüssigen Emission, macht das aber wett durch überlegte Gestaltung und kluges Maß im Einsatz ihrer begrenzten Mittel.Christian Sturm, Annika Boos und Joslyn Rechter bewähren sich in den flankierenden Partien.

Die Wuppertaler Hommage an Respighi entdeckt nicht nur eine klangopulente Partitur. Sie weist auch auf ein Werk hin, das in einer Zeit, die ihre eigene Mitte nicht mehr spürt: Fanal einer Erlösungshoffnung, die uns in der anachronistischen Gestalt von Respighis musikalischem Mysterienspiel überraschend näherrückt. Mit dem neuen Leitungsteam der drastisch zurückgekürzten Wuppertaler Oper werden solche experimentellen Erfahrungen vorerst nicht mehr möglich sein. Unter Toshiyuki Kamioka und seinem alerten Stellvertreter Joachim Arnold dominiert in der nächsten Spielzeit einfallsloses Mainstream-Repertoire.

Von der „Ägyptischen Maria“ gibt es im Juni in Wuppertaler Kirchen noch zwei Aufführungen: am 16. Juni in der Emmauskirche Cronenberg und am 17. Juni in der Christuskirche Steinbeck. Beginn ist jeweils um 21 Uhr.

Ab 14. Juni verabschiedet sich das bisherige Wuppertaler Opernensemble mit seiner letzten ehrgeizigen Produktion: Florian Frannek leitet Karol Szymanowskis „König Roger“ in einer Inszenierung von Jakob Peters-Messer. In den Hauptrollen stehen noch einmal Kay Stiefermann und Banu Böke auf der Bühne. Bis 28. Juni gibt es fünf Vorstellungen – dann ist Schluss.




Begeisterndes Panorama des Ausdrucks: Evgeny Kissin beim Klavier-Festival Ruhr in Dortmund

Evgeny Kissin bei seinem Konzert in Dortmund. Foto: Mark Wohlrab/KFR

Evgeny Kissin bei seinem Konzert in Dortmund. Foto: Mark Wohlrab/KFR

Seine Auftritte sind nicht häufig, aber die Verknappung ist kein Programm zur Förderung einer Aura, sondern schlicht künstlerischer Verantwortung geschuldet: Evgheny Igorewitsch Kissin gehört zu den ganz Großen seiner Zunft, nicht weil er anderen technisch etwas vorzumachen hätte, sondern weil er in seinem Spiel den einfühlenden, gestaltenden, souveränen Geist erkennen lässt. Weil es ihm gelingt, das innere Erleben, das ihm nach eigener Aussage wichtiger ist als das äußere, in seinem Spiel zu kommunizieren. Weil er, der Distanzierte, Scheue, ein bisschen aus der Welt Gefallene, in diesen Momenten sich mit seinem Publikum tief verbindet.

Und die Menschen in den Sälen merken das: Der Beifall bei Kissins Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr im Konzerthaus Dortmund war nicht nur der Überwältigung durch ein makelloses Spiel geschuldet – das können viele andere Pianisten ja auch –, sondern drückte etwas aus von der „Begeisterung“ im wahrsten Sinn des Wortes. Wenn Kissin sich in Schubert, in Skrjabin versenkt, dann be-geistert er, dann nimmt er mit in die unergründlichen Welten, die Musik aufschließen kann. Vor wenigen Tagen wies Claus Leggewie beim Festkonzert zu zehn Jahren Philharmonie Essen auf die immense Kraftquelle hin, die Orte wie ein Konzerthaus für eine Stadt und ihre Gesellschaft bedeuten. Nach dem Kissin-Konzert möchte man mit Wotan sagen: „Heut hast Du’s erlebt“.

Man erlebt’s, selbst wenn nicht alles wie aus einem Guss gelingt: Warum Kissin in Schuberts „Gasteiner Sonate“ D 850 den einleitenden, später formal so bedeutenden rhythmischen Ruf so hastig zusammenzieht, wird nicht verständlich. Seine Artikulation wirkt unwirsch und verschwommen, sein Akkordspiel beruhigt sich erst im klar formulierten Seitenthema. Will man bei den oft strapazierten Naturbildern gerade für diese, in Schuberts Ferien in Bad Gastein entstandenen Sonate bleiben, könnte man für den ersten Satz sagen: ein Sturm im Gebirge. Allerdings einer, in dem sich mehr und mehr die Nebel lichten und im Wüten rauschender Triolen die vollgriffige Harmonik deutlich fassbar wird. Wie er das Signal des Beginns durch die harmonische Entwicklung immer wieder aufleuchten lässt, zeigt: Kissin ist ganz bei sich.

Im zweiten Satz bringt Kissin die harmonischen Wendungen zum Leuchten, sentimentalisiert sie aber nicht. Auch wenn er verzögert, mit der Agogik spielt, will er nicht verzücken, sondern vertiefen. Wie differenziert er die Wiederholungen färbt, ist ein Beispiel großer Kunst für sich. Das Scherzo lässt er aus der heftigen Bewegung und den scharfen Kontrasten Kraft gewinnen: Hier selbstbewusster Rhythmus, scharf konturiert; dort silbern filigranes melodisches Gespinst. Und im letzten Satz schaut Kissin weniger auf die humorigen Momente – die trockenen Staccatio empfand Schumann als Satire auf den „Schlafmützenstil“ von Pianisten wie Pleyer oder Vanhal –, sondern auf die einfache, unverkünstelte Poesie, mit der die Sonate endet.

Bei seinem Landsmann Alexander Skrjabin bewegt sich Kissin dann auch manuell auf Gipfeln, auf denen die Luft für andere sehr dünn wird: Das polymetrische Gewirk im zweite Satz der Sonate-Fantaisie gis-Moll (op.19) muss erst einmal jemand so präzis und souverän entflechten. Die Presto-Kaskaden muss erst einmal jemand so hindernisfrei abrauschen lassen. Und wem das nicht genug ist, dessen Blick stellt Kissin in all dem Trubel noch scharf auf die motivischen Bezüge zum Andante; denn die Sonate vergisst im Finale nicht die Ostinato-Glockenschläge des Beginns.

Auch in der Auswahl der sieben Etüden aus dem Zyklus Opus 8 von 1894 erweist sich das dramaturgische Geschick, mit dem Kissin seine Programme gestaltet. Nie verrät er die technisch anspruchsvollen Stücke an das bloß Triumphal-Zupackende. Nie umwölkt er die leisen Töne, das nachdenkliche Innehalten mit dem Parfüm, das Skrjabin noch vor dreißig Jahren in Westeuropa gerne nachgesagt wurde. Das „tempo rubato“ etwa in der Nummer acht ist kein sensualistischer Effekt, sondern unterstreicht die poetische Note des Stücks. Und das „Andante cantabile“ der Nummer elf wird herb, fast schmerzlich formuliert und endet in einem fragenden Dunkel, auf das in der abschließenden dis-Moll-Etüde Nummer 12 eine heroisch aufbegehrende Antwort gegeben wird.

Kissin entrollt ein unglaubliches Panorama pianistischer Ausdruckskunst – und seine Zugaben sind keine netten Schmankerln, um das Publikum noch einmal „Ah“ und „Oh“ rufen zu lassen, sondern erweitern den Blick um weitere Aspekte: von Skrjabin zu Chopin und von den Meistern des 19. Jahrhunderts zurück zum Meister aller Meister, Johann Sebastian Bach, gesehen durch die Bearbeiter-Brille eines der signifikanten Ausdrucksmusiker der verebbenden Romantik, Wilhelm Kempff.




Ein Ort kultureller Öffentlichkeit: Die Philharmonie Essen feierte Zehnjähriges

99 gold'ne Luftballons? Es waren sicher mehr, die Eingangsbereich und Foyer der Philharmonie schmückten. Foto: Werner Häußner

99 gold’ne Luftballons? Es waren sicher mehr, die Eingangsbereich und Foyer der Philharmonie schmückten. Foto: Werner Häußner

Vor 110 Jahren hat Richard Strauss höchstpersönlich den alten Essener Saalbau eröffnet. Mit einem neuen Stück, seiner „Sinfonia domestica“ als europäischer Erstaufführung. Vor zehn Jahren, am 5. Juni 2004, erklang das erste Konzert im neuen Saalbau unter Leitung von Stefan Soltesz. Auch jetzt spielte das heimische Orchester, dirigierte Tomáš Netopil die Strauss’sche Tondichtung. Und davor sein „Festliches Präludium für Orgel und großes Orchester“ aus dem Jahr 1913, als die Welt des alten Europa noch in Ordnung schien.

Beziehungsreicher hätte das Programm des Festkonzerts zum Zehnjährigen der Philharmonie Essen nicht zusammengestellt sein können. Es rückt den Saalbau und die Institution in den Blick, die ihn mit musikalischem Leben füllt. Es würdigt mit Richard Strauss einen der wichtigen Musik-Jubilare des Jahres 2014. Und es verweigert sich nicht der Zeitgenossenschaft. Dem selbstgewissen Dauerlärm von Richard Strauss` bombastischer Ouvertüre widersetzt sich ein sensibles, leises, suchendes Stück: Wolfgang Rihms „Verwandlung 6“. Geschrieben hat es der wohl bekannteste unter den deutschen Komponisten der Gegenwart im Auftrag der Philharmonie Essen. Und finanziert hat diese „Musik für Orchester“ die Ernst von Siemens Musikstiftung.

Festredner Claus Leggewie. Foto: Volker Wiciok

Festredner Claus Leggewie. Foto: Volker Wiciok

Das muss erwähnt werden. Denn bei aller Festlaune im Saalbau: Das finanzielle Korsett sitzt knapp. Ohne die Stiftung als Sponsor hätte es wohl keinen Rihm zum Jubiläum gegeben. Claus Leggewie, Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen, bediente in seiner Rede nicht nur den berechtigten Stolz und die Zufriedenheit über das Erreichte. Sein Plädoyer für Einrichtungen wie die Philharmonie als Orte kultureller Öffentlichkeit verband er mit dem „Ausdruck echter Sorge“: Auch an einem Feiertag sei es unmöglich, von Bedrohungen kultureller Autonomie nicht zu sprechen.

Leggewie erhofft sich „eine Debatte über den Wert öffentlicher Kultur und kultureller Öffentlichkeit“. In Häusern der Kultur – Theatern, Philharmonien, Opernhäusern, Museen, Lichtspielhäusern – kommen Menschen ins Gespräch und reden sich bisweilen die Köpfe heiß. Es sind Orte, an denen sich gesellschaftliche Erfahrung verdichtet. An denen sich, wie im Theater im alten Griechenland, die Bürger ihrer selbst bewusst werden. Originalton Leggewie: „Glücklich ist das Land, das solche Ressourcen ererbt hat, pflegt und auf den neuesten Stand bringt, das Kultur nicht als Luxus oder Spektakel abtut, sondern als moralische Bildung ernst nimmt, Kinder und Jugendliche sehr früh einbezieht und sich bewusst ist, dass eine Gesellschaft ohne diese sinnstiftende, oft auch verstörende und aufrüttelnde Grundlage arm dran ist.“

Die Philharmonie im Saalbau zu Essen sei ein herausragendes Beispiel für einen solchen Ort bürgerlichen Gemeinsinns, der kulturelle Höhepunkte, soziale Geselligkeit und demokratischen Diskurs verbindet. „Der Saalbau hat Essen das urbane Flair einer Großstadt gegeben.“ Hannelore Kraft hat es gehört – die Ministerpräsidentin saß in der ersten Reihe –, OB Reinhard Paß auch.

Uraufführung zum Jubiläum "10 Jahre Philharmonie Essen". Komponist Wolfgang Rihm und Dirigent Tomás Netopil freuen sich über den Beifall. Foto: Volker Wiciok

Uraufführung zum Jubiläum „10 Jahre Philharmonie Essen“. Komponist Wolfgang Rihm und Dirigent Tomás Netopil freuen sich über den Beifall. Foto: Volker Wiciok

Noch weiter vorne, auf dem Podium, gaben die Essener Philharmoniker ihr Bestes, um dem eröffnenden Strauss-Schinken mehr als „kolossalen“ Festesglanz abzugewinnen. Das Gebräu, angesetzt durch Roland Maria Stangier mit bedeutungsschweren Orgelakkorden, verkocht zum Glück, bevor es gänzlich ungenießbar wird.

Anders die „Sinfonia domestica“, mit der vor 110 Jahren Richard Strauss persönlich den alten Saalbau eröffnet hatte. Das ungenierte Selbstporträt seiner Familie zeigt Strauss als Perfektionisten der Farben, als Zauberer einer kaum zu bremsenden Orchester-Virtuosität. Der ausgiebige Einsatz aller Instrumente gibt den Philharmonikern Raum, sich zu entfalten. Dazu feuert sie ihr Chef Tomáš Netopil mit Elan an. Trillernde Fanfaren des Blechs stürmen die heitere Ruhe der Familienidylle wie eine Horde tobender Kinder; Hörner und Trompeten spielen sich Echos zu; Flöte und Klarinette tanzen miteinander wie in einem Ländler. In solchen Momenten spiegelt die häusliche Sinfonie etwas von der geordneten, behaglichen Ruhe, auf die Strauss so bedacht war. Aber auch die burleske Bewegungsfreude kommt zum Zug, wie wir sie zum Beispiel aus „Till Eulenspiegel“ kennen. Fugen spielen Fangen; Holzbläser in hoher Lage erinnern an Gustav Mahlers verzerrten Volkslied-Ton. Und die Uhr, die auch im „Rosenkavalier“ schlägt, erinnert behutsam an den unerbittlichen Gang der Zeit.

Ort der kulturellen Öffentichkeit: Der Alfried Krupp Saal der Philharmonie Essen. Foto: Volker Wiciok

Ort der kulturellen Öffentichkeit: Der Alfried Krupp Saal der Philharmonie Essen. Foto: Volker Wiciok

Wolfgang Rihm fordert das Orchester anders, weil das feine Gespinst seiner Klänge höchste Konzentration verlangt. „Verwandlung“ hat mit Stillstand und Fortgang von Zeit zu tun, wenn eine Rassel den ersten Rhythmus anklingen lässt, der sich bis zum Einsatz von vier Schlagzeugern steigert. Dazwischen tasten sich schüchtern-gebrochene melodische Motive durch die Stille, verbinden sich vorsichtig, wachsen zusammen und stützen sich gegenseitig. Wie Rihm das kreisförmige Schema des Stücks klangsinnlich neu füllt, hat nichts mit dem strotzend selbstsicheren Souveränität des Bayern zu tun: Der badische Meister aus Karlsruhe äußert sich nicht weniger selbstbewusst, aber er zeigt, wie er sich auch der Brüchigkeit seiner Welt stellt.

Die Feier in der Philharmonie hat viele Menschen aus der Essener Bürgerschaft versammelt, die sich des Wertes der Musik, der Bedeutung der Kultur für ein Gemeinwesen bewusst sind. Es wird sich zeigen, wie weit die Entschlossenheit reicht, wenn sich der finanzielle Horizont wieder verdüstert. Auch Hans Schippmann, scheidender Aufsichtsratsvorsitzender der Theater und Philharmonie Essen, scheint da seine Zweifel zu haben, wenn er den Entscheidungsträgern mit geradezu flehenden Worten ans Herz legt, die Zukunft der TuP zu sichern. Essen wäre gut beraten, die Philharmonie als Zeichen kultureller Bewusstheit und gelingenden Strukturwandels auch künftig leuchten zu lassen.




Aufbruch ins Reich der Freiheit: Schostakowitschs Zehnte Symphonie in Krefeld

Das musikalische Porträt einer Epoche – geht das? Ein Charakterbild in Tönen – ist das möglich? Wer Dmitri Schostakowitschs Zehnte Symphonie hört, wird dem zustimmen, auch wenn er das „Programm“ des Komponisten nicht kennt: Der erste Satz exponiert ein Motiv, das gewalttätig und verzerrt wirkt, führt es auf eine extrem geschärfte Art durch. Im vierten Satz will dieses Motiv noch einmal die musikalische Dominanz übernehmen, doch es wird verdrängt: Ein anderes setzt sich durch, das der Hörer im zweiten Satz kennengelernt hatte.

Schostakowitsch hat von diesem 1953 uraufgeführten Werk in seinen Memoiren behauptet, es gehe um die Stalin-Ära, ja um den Menschenschlächter selbst. Biografische Hinweise legen sich nahe, wenn das zweite Thema aus den Noten d-es-c-h, den Anfangsbuchstaben des Namens Dmitri Schostakowitsch gebildet wird. Doch man muss die Symphonie nicht als musikalische Genugtuung über den Tod des Diktators und das Überleben des Komponisten lesen: Schostakowitsch verbindet die formalen Ansprüche der klassischen Symphonie grandios mit einer modernen Ausdruckssprache, die damals wie heute in ihren Bann zieht.

Gemessen an ihrer Qualität stehen Schostakowitschs Symphonien immer noch zu selten auf den Spielplänen. Denn sie führen selbst internationale Spitzenorchester an ihre Grenzen. In Krefeld und Mönchengladbach wagten sich die Niederrheinischen Sinfoniker dran – und triumphierten auf ganzer Linie. Unter seinem Generalmusikdirektor Mihkel Kütson stellte sich das Orchester nicht nur den spieltechnischen Herausforderungen: Die Musiker trafen Atmosphäre und spezifischen Tonfall der aus dunklem e-Moll erkeimenden Symphonie, die sich dann tonal ein Reich der Freiheit erkämpft.

Der düstere Beginn im verschatteten Piano der tiefen Streicher ist ein Bild der Erstarrung. Die Musik kommt nicht von der Stelle. Die grelle Solo-Trompete bringt den unverwechselbaren Schostakowitsch-Ton ins Spiel – mit seinen dissonanten Blöcken, seinen hochgetriebenen Violinen und den harten Bläserkontrasten. Im Seidenweberhaus in Krefeld klingen solche Momenten öfter verschwommen: Sie überfordern die Akustik, nicht aber das Orchester.

Kütson lässt Piani färben, dass sie kriechend lauern wie eine Schlange, bereit zum Zupacken. Er zündet die Tuttischläge scharf und heiß wie die Flamme eines Schweißgeräts. Er hält in den Bläser-Eruptionen und den katastrophischen Zusammenbrüchen die unverstellte Gewalttätigkeit und den nackten Bruitismus der Musik fest, mit der sie in der Tat ein klingendes Dokument der Stalin-Ära wird. Man kann sich an den vier Sätzen nicht satthören: Die Sinfoniker überraschen stets aufs Neue mit ihrer reaktionsschnellen Präzision, dem Sog einer kraftvollen Phrasierung, aber auch der klanglichen Palette in den Soli – von skurril gellenden Einwürfen bis hin zur weichen Resignation kantabler Linien.

Für das viel gespielte Violinkonzert Jean Sibelius‘ haben die Sinfoniker mit Carolin Widmann eine Solistin gewonnen, die sich nicht mit den Zugpferden des Repertoires, sondern mit ihrer Vielseitigkeit und ihrem Einsatz für zeitgenössische Musik einen Namen gemacht hat. Sie macht schon mit dem sanft vibrierenden, schlanken, leuchtend erfüllten Ton der Einleitung klar, dass sie den schmerzgebärenden Gestus des „romantischen“ Virtuosen nicht übernehmen will. Details wie die traumsicheren Akkordgriffe oder die perfekten Sprünge auf der G- und D-Saite, das plastische Herausarbeiten von Details, der auch in schwierigsten Momenten souverän geführte Bogen sprechen für eine Solistin, die technisch problemlos in der Spitzengruppe heutiger Geigerinnen mithält.

Was nachhaltig für Widmann einnimmt, ist die musikalische Durchdringung des Sibelius-Konzerts: Der bewusst gestaltete Ton ist in der Farbe oder dem Charakter des Vibratos nicht am Zauber des schönen Moments orientiert. Er steht im Dienst einer komplexen Entwicklung, die großräumig gedacht und über die eine oder andere Phrase hinaus konzipiert ist. Das weckt beim Zuhören Entdeckerfreude und Spannung; das viel gehörte Konzert wirkt frisch und unverbraucht. Widmann schenkt dem Zuhörer den Aha-Effekt des neu Entdeckens, nicht des wohligen Wiedererkennens. So trägt der feinherbe, schimmernde Klang des „Adagio di molto“ im zweiten Satz eine edle Kantilene, führen die energischen Non-Legati und die stets zielführend gebildeten Repetitionen des dritten zu Sinn und Tiefe. Die Abstimmung mit dem Orchester klingt vorzüglich, Kütson ist ein engagierter, zuhörender Partner.

Begonnen hatte das Konzert mit Modest Mussorgskys „Eine Nacht auf dem kahlen Berge“ – in der schroffen, unangepassten Urfassung ein Zeugnis für die visionären, von seiner Zeit nicht verstandenen klanglichen und formalen Entwürfe des Russen. Kütson hatte anscheinend ein wenig Respekt vor der eigenen Schneid: Er legte temperamentvolle Tempi und dynamische Entwicklungen vor, entschied sich im Zweifelsfall aber eher für den kultivierten Klang eines technisch versierten Sinfonieorchesters als für das Ausstellen sich aneinander reibender Dissonanzen und klanglicher Extreme, etwa in den sehr schön, aber nicht abgründig offen intonierenden tiefen Holzbläsern. Dazu begünstigt die Akustik des Krefelder Saales die Detailschärfe des Klangs nicht: Die krachenden Fortissimo-Exzesse gerieten so neblig wie ein Wintertag auf dem Brocken. Dennoch: Die Begegnung mit diesem Orchester – jenseits der Oper – gab einen überzeugenden Eindruck mit, der auf einige auch programmatisch ansprechende Konzerte der nächsten Saison 2014/15 viel Appetit macht.




Massenet im Focus (II): „Thaïs“ in Bonn als Studie zu Hysterie, Begierde und Religion

Bildgewaltig, aber nicht konsequent genug genutzt: Rifail Ajdarpasics Bühne für Jules Massenets "Thais" am Theater Bonn. Foto: Thilo Beu

Bildgewaltig, aber nicht konsequent genug genutzt: Rifail Ajdarpasics Bühne für Jules Massenets „Thaïs“ am Theater Bonn. Foto: Thilo Beu

Sexualität, Psychoanalyse, Religion: Die geistigen Strömungen des 19. Jahrhunderts konnten diesem Spannungsfeld nicht entkommen. Faszination und Erschauern begleiteten es. Die katholische Kirche in Europa formulierte ihr tiefes Misstrauen gegen die gerade aufbrechenden Strömungen der Psychoanalyse, verschanzte sich hinter der Bekräftigung moralischer Konzepte und Urteile, die Jahrhunderte lang gegolten hatten. Die Moderne glaubte dagegen an einen Weg aus einer drückend empfundenen intellektuellen Erstarrung hin zu neuen Ufern der Erkenntnis und der geistigen Entwicklung.

1894, als der gläubige Katholik Jules Massenet seine Oper „Thaїs“ in Paris zur Uraufführung brachte, waren Sigmund Freuds „Traumdeutung“ und seine Studien zur Sexualtheorie noch nicht erschienen. Doch das Thema seines ersten Werks („Studien über Hysterie“, 1895) war allgegenwärtig. Wenn man so will, ist das Libretto zu „Thaїs“ eine theatralische Studie zum Thema Hysterie: Auf dem Roman von Anatole France fußend, spaltet es nicht eine einzelne Person, sondern die Welt in Heiligkeit und Verderbnis, in Sumpf und Glorie, in Erlösung und Verdammnis.

Die Repräsentanten dieser „hysterischen“ Spaltung sind die Kurtisane Thaїs, die mittels Schönheit und sexueller Raffinesse eine Großstadt wie Alexandrien in ihrem Bann hält, und der Mönch Athanaël, der die Wüste mit dem Geist der Askese und der Frömmigkeit erfüllt. Der eine macht sich auf, die andere zu bekehren. Das gelingt, aber anders als vorgesehen: Am Ende repräsentiert Thaїs das Keusche und Heilige, während sich Athanaël in den Fängen der sexuellen Begierde windet.

Evez Abdulla als Athanael im ersten Bild von "Thais". Foto: Thilo Beu

Evez Abdulla als Athanael im ersten Bild von „Thais“. Foto: Thilo Beu

Die berüchtigte „Méditation“, das Zwischenspiel mit Solo-Violine, einst vielgehört in Wunschkonzerten und von Kurorchestern, steht in der Oper am Wendepunkt dieses inneren Geschehens. Massenets betörende Melodie symbolisiert religiöse Verzückung, nicht etwa die wollüstige Sinnlichkeit, die sie aufs erste Hören zu verströmen scheint. Sie wird zum Leitmotiv einer sich in Glaubens-Inbrunst reuevoll verzehrenden Thaїs.

Was für ein Stoff – und was für eine Vertonung! Massenet streift die ästhetischen Kunstwelten der Symbolisten, führt sie aber nicht – wie Claude Debussy oder Erich Wolfgang Korngold – weiter. „Thaїs“ erinnert eher an den französischen Exotismus – und Massenet bedient sich auch der musikalischen Kennzeichen dieses Stils, etwa der Melismatik oder einer harmonisch prickelnden Chromatik.

In Thaїs begegnen uns die Odalisken der schwülen Malereien ebenso wieder wie die von Süße durchdrungenen Heiligen in den Kirchen der Jahrhundertwende. Hingabe unter jeweils anderen Vorzeichen, Leben an der Borderline: das zeichnet diese Kunstgestalten aus.

Der Augenmerk Massenets liegt dabei auf Thaїs: Ihre innere Wandlung ist ein dem Wort entzogener, allein der Musik anvertrauter Vorgang. Vorbereitet wird die Transformation allerdings in einer ausgedehnten Szene, in der die Venuspriesterin Thaїs – der religiöse Aspekt der Sexualität wird nicht ausgeblendet – ihre Maximen von Schönheit und Ewigkeit befragt. Athanaël liefert ihr das Stichwort: „vie éternelle“. Das ewige Leben, ist es, das die suchende Frau fasziniert, die „Glückseligkeit, die niemals enden wird“. Der Mönch zeigt sich gleichzeitig als wortgewaltiger, überzeugender Prediger, aber auch als moralischer Fundamentalist: Am liebsten würde er ganz Alexandrien vernichten. Und sein Begriff der Liebe ist ein idealistisch verbrämtes, supranaturalistisches Konstrukt: Nie habe er jemanden geliebt, erklärt er. Er liebe nur „die Liebe“.

Gestalten des Dämonischen: Vier Schakale bedrängen Athanael (Evez Abdulla). Foto: Thilo Beu

Gestalten des Dämonischen: Vier Schakale bedrängen Athanael (Evez Abdulla). Foto: Thilo Beu

So eine Vorlage müsste eigentlich jeden Regisseur Blut lecken lassen. Doch Francisco Negrin ist an der Oper Bonn, die Massenets Werk – nach dem Theater Lübeck – endlich einmal in Deutschland auf den Spielplan gesetzt hat, nicht in geistige Tiefenschichten vorgedrungen. Rifail Ajdarpasic hat ihm eine räumlich aufwändige Bühne gebaut, deren symbolische Anlagen nicht konsequent genutzt werden und im Lauf des Abends in die Schauplatz-Bebilderung abgleiten. Dabei wäre mit den geometrischen Formen von Kreis und Rechteck, mit der Wirkung des opulent eingesetzten Lichts (Thomas Roscher), auch mit den stilvollen Kostümen Ariane Isabell Unfrieds ein Potenzial visueller Deutung zu aktivieren gewesen. Aber wenn der auf Stelzen stehende Rechteck-Kasten im zweiten Bild – Kontrast zur runden Höhle des Eremiten Athanaël im ersten Bild – beliebig zurechtgerückt wird, wenn die runde Scheibe, in der Thaїs erscheint, zwar als Konkurrenz zur religiösen Sphäre der Mönche verstanden werden könnte, dann aber nicht ausgespielt wird, bleiben die Bilder inhaltlich unerfüllt.

Mit der Personenregie geht es ähnlich: Negrin lässt den Athanaël in der athletischen Gestalt von Evez Abdulla sich auf einem Kreuz winden, gibt ihm auch später heftige Gesten der Emotion. Wirklich glaubwürdig wird die Figur in ihrer Faszination und ihrem Furor damit nicht. Auch Thaїs soll mal mit statuenhaften Haltungen, mal mit dem üblichen schwülstigen Bewegungsrepertoire der exotischen Kurtisane ein Profil gewinnen, das der Figur versagt bleibt. Hat Negrin ein szenisch-gestisches Element – wie die kreuzförmig ausgebreiteten Arme des Athanaël –, dann fehlt ihm die szenische Konsequenz, die es zu einer über den Moment hinausgehenden Chiffre machen würde. Diese „Thaїs“ wirkt wie das schüchtern die Moderne antastende Bildertheater der siebziger Jahre.

Stefan Blunier am Pult des Beethoven Orchesters Bonn setzt gegen die zagende Szene eine höchst klangbewusste, atmosphärisch mutig ausgeleuchtete musikalische Interpretation: Wie schillerndes Öl verlaufen Töne ineinander, wie duftender Rauch ziehen exotische Farben durch tragende Säulen des Klangs. Und Konzertmeister Mikhail Ovrutsky gibt dem Violinsolo die verzückte Süße des Moments, ohne seinen feinen Ton an Kitsch zu verraten. Im Orchester stehen subtil ausgekostete Momente neben wenigen plump unkonzentrierten Holzbläserstellen, sanfter Streicherbrokat neben ein paar Webfehlern etwa in den Celli: Ein paar Kanten wären also noch abzuschleifen.

Die Besetzung hält das beachtliche Niveau des Abends: Nathalie Manfrino in der Titelpartie überzeugt durch präsenten, brillant gebildeten Ton und mit ihrer Kunst, die Facetten der Figur zwischen glamouröser Oberfläche, existenzieller Verunsicherung und verwandelnder Erfahrung der göttlichen Liebe stimmlich zu beglaubigen. Priit Volmer als mahnender alter Mönch Palémon und Mirko Roschkowski als junger Alexandriner Nicias zeigen ebenso wie Susanne Blattert als Wüstenkloster-Äbtissin Albine Stimmkultur und sichere Technik. Für die umfangreiche, herausfordernde Partie des Athanaël – eine Paraderolle für jeden Bariton mit dramatischer Anlage – bringt Evez Abdulla die kraftvolle Substanz und die souveräne Reserve mit. Stilistisch bleibt er der Sprache des Verismo verhaftet: Geschmeidiger Glanz ist seine Sache nicht, zumal ein kehligen Beiton und besonders zu Beginn ein gurgelndes Vibrato den freien Glanz des Tons beeinträchtigen.

Das Theater Bonn hat wieder einmal auf ein vernachlässigtes Werk aufmerksam gemacht. Die lange Reihe bemerkenswerter Aufführungen (erinnert sei an Eugen d’Alberts „Der Golem“, Franz Schrekers „Irrelohe“ und „Der ferne Klang“, ein Paul-Hindemith-Triptychon und jüngst Walter Braunfels‘ „Der Traum ein Leben“) setzt sich mit „Thaїs“ erfreulich fort. 2014/15 wird dieser konzeptionelle Faden mit Richard Strauss‘ „Salome“ mit einem Stück des eisernen Repertoires fortgesponnen; doch mit Verdis „Giovanna d’Arco“ und der deutschen Erstaufführung von Julian Andersons „Thebans“ – einer Nacherzählung von Sophokles‘ thebanischen Tragödien – dürfte der Oper Bonn wieder überregionales Interesse sicher sein. Bleibt zu hoffen, dass die Bonner Lokalpolitik auch nach den Kommunalwahlen des 25. Mai erkennt, welchen Schatz sie mit einem solch kreativen Opernhaus in ihren Mauern hütet.




Massenet im Focus (I): „Werther“ nach Frankfurt und Essen nun in Düsseldorf

Seltsames Phänomen: Da gibt es Komponisten oder Werke, die jahrelang kaum auf den Spielplänen auftauchen. Und auf einmal bricht eine Welle los und schwappt reihum über die Bühnen weg. So geht es derzeit mit Jules Massenet.

„Werther“ in Essen, Gera, Frankfurt, Saarbrücken, Weimar; „Manon“ in Krefeld, das sonst kaum gespielte Spätwerk „Don Quichotte“ in Wuppertal, Gelsenkirchen und jetzt Hagen, „Esclarmonde“ als gefeierte Ausgrabung in Dessau, am 18. Mai das noch seltenere exotische Kurtisanendrama „Thaїs“ in Bonn. Und als jüngste Premiere an der Düsseldorfer Rheinoper wieder der Goethe’sche Held, gebettet in den exquisiten französischen Klang zwischen Wagner und Verismo.

Warum das so ist? Wahrscheinlich unerklärbar. Mag sein, dass in den Repertoire-Strichlisten in den Dramaturgiebüros unter „französisch“ eine Lücke war; mag sein, dass sich zufällig gerade jetzt Regisseure, Intendanten oder Kapellmeister – unter die GMD-Stücke zählen Massenets Opern ja nicht – für das Genre interessierten. Zeitgeistig ist jedenfalls nichts identifizierbar, was etwa „Werther“, das parabelhafte Endspiel einer entgrenzten, aber unmöglichen Liebe, ausgerechnet für das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts qualifizieren würde. Selten war eine Jugend so weit entfernt vom verzweifelten Enthusiasmus eines Werthers wie heute.

Erinnerungen im Angesicht des Todes: Für "Werther" in Düsseldorf schuf Alfons Flores die Bühne, das Licht in satten Farben richtete Volker Weinhart ein. Foto: Hans Jörg Michel

Erinnerungen im Angesicht des Todes: Für „Werther“ in Düsseldorf schuf Alfons Flores die Bühne, das Licht in satten Farben richtete Volker Weinhart ein. Foto: Hans Jörg Michel

Der andorranische Regisseur Joan Anton Rechi ist dank seiner „Csardasfürstin“ an der Rheinoper kein Unbekannter; unter anderem hat er 2011 in Mainz mit einem grandios durchleuchteten „König Roger“ von Karol Szymanowski auf sich aufmerksam gemacht. Mit „Werther“ stellt er auf die sattfarbenen Bühne von Alfons Flores in das scharf geschnittene Licht von Volker Weinhart ein verhangenes Drama, das am Rand der Irrealität taumelt: Erinnerungen, Halluzinationen und bedrückende Bilder, materialisierte Seelenzustände, die trotz ihrer klaren Durchzeichnung nicht an Naturalismus rühren. Den Beginn markiert keine gemütliche Genreszene, sondern ein Schuss: Werther, in blutrotem Anzug – eines der ausdrucksvoll-beziehungsreichen Kostüme von Sebastian Ellrich –, schießt sich eine Kugel durch den Bauch. Was folgt, ist der „Film“ vor dem Tode, in dem Sterbende ihr Leben vor dem inneren Auge vorbeiziehen sehen.

Quälende Familien-Idylle: Laimonas Pautienius (Albert) und Kataszyna Kuncio (Charlotte). Foto: Hans Jörg Michel

Quälende Familien-Idylle: Laimonas Pautienius (Albert) und Kataszyna Kuncio (Charlotte). Foto: Hans Jörg Michel

Auch in Frankfurt und Essen gab es Bilder, die das Drama des bürgerlichen Sturm und Drang in einen Raum eines Nach-Tristan-Gleichnisses rücken: Wolfgang Gussmann schuf für Willy Deckers sensible Personen-Balance kosmisch erweiterte Räume; Frank Philipp Schlößmann baute in Essen für Carlos Wagners manchmal ziemlich verquere Figuren-Zurichtung ein Puppenhaus, das zertrümmert und aufgebrochen wird.

Einsamkeit am Telefon. Massenets "Werther" in Düsseldorf: Katarzyna Kuncio (Charlotte), Sergej Khomov (Werther). Foto: Hans Jörg Michel

Einsamkeit am Telefon. Massenets „Werther“ in Düsseldorf: Katarzyna Kuncio (Charlotte), Sergej Khomov (Werther). Foto: Hans Jörg Michel

In Düsseldorf erschafft Flores dumpfe Räume in formlos fließenden Linien, in denen sich Zustände materialisieren: Die kahlen Bäume in schrillem Licht lassen schon zu Beginn keinen Zweifel, dass der schüchterne Traum vom Glück unter Alpdruck steht; das großbürgerliche Souper des zweiten Aktes macht mit seiner gewalttätigen Zuspitzung nicht nur die brutale Seite von Alberts Charakter offenbar, sondern denunziert nachhaltig die familiäre Idylle als zwanghaft. Im letzten Akt lässt Rechi Werther und Charlotte nur mehr miteinander telefonieren: ein surreal angehauchtes Bild eines finalen Versuchs der Kommunikation, den Albert mit dem Druck auf die Fernsprechergabel endgültig unterbricht. Damit rückt Rechi Werther in die Richtung eines Depressiven: Neunzig Prozent der Menschen, die sich umzubringen gedenken, tätigen kurz zuvor einen Anruf, erklärt er seinen Einfall im Programmheft.

In Rechis Todesfilm quälen sich auch die Szenen unter depressiver Last, über denen noch ein Schimmer nie erreichten Glücks leuchten könnte. Doch Sergej Khomov ist als Werther nur ein Erinnerungsschatten seiner selbst, mit düster fixiertem Blick und dramatischer Schwere statt flexibler Leichtigkeit in der Stimme. Katarzyna Kuncio als Charlotte ist gefangen zwischen ihrem brutal seine Besitzrechte durchsetzenden Ehemann Albert und den kompromisslos vereinnahmenden Gefühlsstürmen Werthers: Kuncio agiert mit ihrem vollen, slawisch timbrierten Mezzosopran weniger mit finessenreichen Zwischentönen, eher mit dem lodernden Verismo der seelischen Qual. Der einzige Mensch, dem es gelingt, sich in diesem Drama „außen vor“ zu halten, ist Sophie, mit viel Licht in der Stimme gesungen von Alma Sadé.

Laimonas Pautienius reagiert als Albert auf den Schmerz, vernünftig geliebt, aber nicht leidenschaftlich begehrt zu werden, mit offener Aggression – und stimmlich mit einem festen, einfarbigen, für Massenets Musik zu groben Bariton. Auch die Düsseldorfer Symphoniker unter Christoph Altstaedt entscheiden sich im Zweifel für einen handfesten Klang und gegen dynamisch-koloristisches Sfumato. Für den fiebrigen Ton der seelischen Raserei, für den offen brennenden Schmerz bleiben die Farben zu geradlinig kühl.

In der neuen Spielzeit 2014/15 lassen sich die Aalto- und die Rheinopern-Versionen des „Werther“ vergleichen: Die Wiederaufnahme am Theater Duisburg ist am 6. Dezember vorgesehen; ab 29. März 2015 läuft Massenets Oper dann wieder in Düsseldorf. In Essen steht die Wiederaufnahme ab 11. Dezember auf dem Spielplan – gefolgt von nur zwei weiteren Vorstellungen am 27. Dezember und am 7. Februar 2015.




Das Absurde an der Straßenecke: Bohuslav Martinůs „Juliette“ in Bremen

Absurde Realität: Martinus "Juliette" in Bremen, Bühnenbild des ersten Akts (Johanna Pfau). Foto: Jörg Landsberg

Absurde Realität: Martinus „Juliette“ in Bremen, Bühnenbild des ersten Akts (Johanna Pfau). Foto: Jörg Landsberg

Ein Pariser Buchhändler reist in eine Kleinstadt am Meer, erkundigt sich nach einem Hotel, in dem er vor drei Jahren schon einmal abgestiegen ist. Damals hat ihn „das schönste Geschöpf der Erde“ fasziniert und er floh vor ihrer Anziehungskraft. Jetzt sucht er die Unbekannte wieder … Daraus könnte eine melodramatische Liebesgeschichte werden, doch der tschechische Komponist Bohuslav Martinů hatte in seiner Oper „Juliette“ anderes im Sinn.

Die Menschen, denen der reisende Michel begegnet, reagieren sonderbar: Sie können sich an nichts erinnern, was länger als zehn Minuten zurückliegt. Hinter der bühnenfüllenden Fassade eines alltäglichen französischen Hauses öffnet sich im Bremer Theater am Goetheplatz das Land des Surrealen, Unheimlichen. Es lugt hinter den Lamellen der Läden, es winkt aus den Fenstern: eine keifende Fischhändlerin, ein melancholischer Akkordeonspieler, ein schnarrender Kommissar. Und die faszinierende Frau, zunächst unsichtbar, nur durch ihr Lied präsent.

Das Treffen zwischen Michel und dem Objekt seines Begehrens an einer „Wegkreuzung“ könnte von Ionesco stammen, von Cocteau oder von dem tschechischen Schriftsteller Svatopluk Czech, dessen satirisch-surreale Novellen Leós Janáčeks „Die Ausflüge des Herrn Brouček“ zugrunde liegen. Die Bühne erweitert sich zu einem Geviert, Menschen in Frack und Zylinder hetzen steif über den Platz. Das dunstig-schummrige Licht Joachim Grindels schafft in Johanna Pfaus Bühnen-Architektur eine unwirkliche, schwebende Atmosphäre.

Aus den Türen ins Unbestimmte kommen skurrile Figuren: Ein Schankwirt mit mächtigen Epauletten auf dem Mantel, der sein Klavier nebst Hocker und Pianist hinter sich herzieht. Ein Mann auf einem dreirädrigen Veloziped, der wie ein dämonischer Marktschreier Erinnerungsfotos verstreut. Eine Handleserin, die wie ein Kastenteufelchen hinter dem Klavier aufspringt, mit weißen, langen Haaren wie eine Norn.

Jahrmarkt des Irrealen: Nadja Stefanoff als Juliette und Hyojong Kim als Michel in Martinus "Juliette" in Bremen. Links: Christian-Andreas Engelhardt als Erinnerungsverkäufer. Foto: Jörg Landsberg

Jahrmarkt des Irrealen: Nadja Stefanoff als Juliette und Hyojong Kim als Michel in Martinus „Juliette“ in Bremen. Links: Christian-Andreas Engelhardt als Erinnerungsverkäufer. Foto: Jörg Landsberg

Es sind Gestalten, die von René Magritte stammen könnten, oder aus dem unbehaglichen Alltag der Gemälde von Paul Delvaux. Manchmal erscheinen in leeren Fensterhöhlen flüchtige Projektionen (Videos: Ian William Galloway). Und das Spiel mit Vergessen und Erinnern, mit der scheinbar realen und einer – durch eine Lautsprecherstimme eingebrachten – mittelbaren Ebene schafft den Alpdruck eines Traumgespinstes, das uns entsetzt, weil mit der aufgehobenen Kausalität unsere Weltorientierung verfliegt; weil wir alles, mit dem wir rechnen, in einer teilnahmslos grotesken Welt als aufgelöst erleben. Auch der Text spielt mit surrealen Motiven: Was nie geschehen scheint, wird wiedererkannt, was soeben geschehen scheint, ist vergessen. Michel gelingt es nicht, aus der realen Irrealität dieses Welt-Gespinstes zu entkommen: Ob der Schuss, den er auf Juliette abfeuert, getroffen hat, werden er und wir nie erfahren …

Im dritten Akt in einem „Traumamt“ finden wir einen Bürokraten, der die Träume verwaltet und zuteilt – eines jener Motive, die sich in der tschechischen Literatur gerne finden. Aber Martinůs Libretto setzt noch eins drauf, zieht noch eine Ebene des Surrealen ein: Alle auftretenden Personen – ein vom Wilden Westen schwärmende Hotelboy, ein trauriger Mechaniker, ein begehrlicher Sträfling – sprechen von „Juliette“: Aus der einen, geliebten Juliette wird die Frau in vielen Facetten. Ihre Stimme aus der Ferne führt Michel wieder auf die Reise, wieder in eine Stadt am Meer: Vor der Fassade eines französischen Hauses fragt er nach dem Hotel …

Dem Regisseur John Fulljames ist hoch anzurechnen, dass er keinen zwanghaften Transfer versucht, sondern sich auf die Atmosphäre des Surrealen einlässt: Er will nicht mit Gewalt deuten, sondern setzt auf die Kraft der Bilder: Das sinistre Kabinett der Figuren agiert dabei mit der mathematischen Präzision, die wir aus surrealistischen Gemälden kennen. So folgt Fulljames der Vorlage der Oper, dem Drama „Juliette ou la clé des songes“ von Georges Neveux, und bewahrt das Uneindeutige und Unheimliche des Stoffs.

Bremen: Das Theater am Goetheplatz. Foto: Werner Häußner

Bremen: Das Theater am Goetheplatz. Foto: Werner Häußner

Fulljames, der vor allem in England und Frankreich arbeitet, hat in seiner zweiten Arbeit in Bremen auf das leise Verstörende in Martinůs surrealem Meisterwerk gesetzt und damit mehr Tiefe erschlossen, als es eine vordergründige Aktualisierung vermocht hätte. So kann sich die Bremer Inszenierung in der überschaubaren Reihe der „Juliette“-Produktionen der letzten Jahre (Bregenz, Paris, Genf) selbstbewusst behaupten. In Zürich und Frankfurt wird Martinůs Schlüsselwerk in der kommenden Spielzeit zu erleben sein: Man darf jetzt schon gespannt sein, welche Akzente die Regisseure Andreas Homoki und Florentine Klepper setzen werden.

Musikalisch muss sich die Bremer Aufführung ebenfalls nicht verstecken: Clemens Heil beschwört mit dem prächtig disponierten Orchester den lyrisch-schwebenden harmonischen Reichtum wie die perkussive Intensität oder die skurrilen Akzente in der elaborierten Partitur. Das tschechische Erbe Martinůs ist in einzelnen Wendungen hörbar, verdeckt aber den französischen Esprit der zwischen 1935 und 1937 entstandenen und 1938 in Prag uraufgeführten Oper nicht: Strawinskys brachiale Rhythmen lassen manchmal grüßen, Satie und Milhaud liefern den unsentimental-sachlichen Ton. Wenn im ersten Akt das „Quak-Quak“ einer mechanischen Ente auftaucht, fühlt man sich für einen Moment in Offenbachs groteske Operette „Die Insel Tulipatan“ ver-rückt.

Aber es gibt auch das lyrische Schweben, das schwer fassbare Funkeln apart gemischter Pianissimo-Klänge. Musikalisch ist „Juliette“ ein Meisterwerk, das sich hinter Martinůs bekanntester Oper „Griechische Passion“ nicht verstecken muss. Kein Wunder, dass ihm dieses Schmerzenskind, dem in der nazibesetzten Tschechoslowakei kein Überleben beschieden war, so sehr am Herzen lag.

Ausgefeilte Klangfarben – reaktionsschnelles Changieren

Das Bremer Sängerensemble ist in vielen nicht sehr umfangreichen Partien gefordert: Gefragt sind darstellerische Präzision und variable Expression – von der großbogigen Kantilene bis zum reaktionsschnellen Changieren zwischen Deklamation und rezitativischem Singen. Nadja Stefanoff als Juliette zeigt eine leuchtende Stimme, die ihre Stärke in den ausgefeilten Klangfarben hat. Hyojong Kim bringt die kindliche Ratlosigkeit, das irritierte Staunen, aber auch die aufbegehrende Hilflosigkeit des Michel mit einem präzise agierenden, scharf konturierten Tenor zum Ausdruck. Manche, wie Christian-Andreas Engelhardt als Kommissar, setzen zu einseitig auf Lautstärke, andere wie Tamara Klivadenko als „Alte“ treffen genau den richtigen, halb naturalistischen, halb stilisierten Tonfall. Eine Klasse für sich: Patrick Zielke als „Altvater ‚Jugend‘“.

Und wieder einmal wundert man sich, wie selig an vielen Opernhäusern die Aufmerksamkeit schlummert, eingelullt zwischen Wagner, Verdi, Mozart und Strauss. Zehn Jahre hat es gedauert, bis nach der denkwürdigen Bregenzer Inszenierung das Interesse an „Juliette“ erwacht ist. Unter uns sei gesagt: Es gibt noch weitere Opern von Martinů, die eine Aufführung lohnten, darunter die jetzt erst für Deutschland in Gießen entdeckte „Mirandolina“ oder die vor Jahren (2002) folgenlos in einer vorzüglichen Inszenierung in Augsburg vorgestellte Filmoper „Die drei Wünsche“. Dass auf solche Trouvaillen nicht geachtet wird, ist einfach absurd.

 




Der verkannte Meister: Zum 150. Todestag von Giacomo Meyerbeer

„Erhalte die fünf französischen Opern, die ich komponiert habe, auf dem Repertoire aller Theater der Welt während meines ganzen Lebens, und ein halbes Jahrhundert hindurch nach meinem Tode.“ Was sich der Komponist Giacomo Meyerbeer in seinem „Täglichen Gebeth“ vom „großen Gott“ gewünscht hatte, ist im Lauf der Geschichte in fataler Weise eingetroffen und wirkt bis heute nach: Während sich im letzten Jahr zu den 200. Geburtstagen von Richard Wagner und Giuseppe Verdi der merkantil beschleunigte Reigen des sowieso Bekannten noch erhitzter drehte, bleibt es in diesem Jahr um den 150. Todestag des dritten und vielleicht wichtigsten Erfolgskomponisten des 19. Jahrhunderts still.

Alle großen Opernhäuser drücken sich um Meyerbeers monumentale Werke; selbst seine Heimatstadt und – neben Paris – wichtigste Wirkungsstätte Berlin schafft es gerade einmal, seine opéra comique „Dinorah“ aufzuführen, und das auch nur konzertant, aber immerhin als Auftakt eines Meyerbeer-Zyklus‘, während Daniel Barenboim als glamouröser medialer Protagonist des hauptstädtischen Musiklebens mit „Parsifal“ wieder einmal ein Wagner-Event auf den Markt wirft.

Auch das Dutzend der Musiktheater in Nordrhein-Westfalen nennt seit Jahren den Namen Meyerbeer nicht auf den Spielplänen. Wären nicht ein so passionierter Entdecker wie Peter Theiler in Gelsenkirchen Intendant gewesen, hätte es auch 2008 dort nicht „Die Afrikanerin“ gegeben. Sie war in NRW neben „Der Prophet“ 2004 am historischen Schauplatz in Münster und der Rarität „Dinorah“ in Dortmund (2000) unter John Dew die bisher jüngste Meyerbeer-Tat des neuen Jahrtausends.

Theiler sorgt am Staatstheater Nürnberg für den bisher einzigen Lichtblick in diesem Meyerbeer-Jahr: Dort haben „Les Huguenots“ am 15. Juni Premiere. Wer heute von einer „Renaissance“ spricht, weil es hier und da einmal eine Wiederaufführung gibt, verbreitet leider Zweck-Optimismus: Keines der großen Opernhäuser pflegt ein Meyerbeer-Repertoire, keines bietet eine kontinuierliche Arbeit mit seinen Werken an.

Günstige Voraussetzungen – aber keine Rezeption

Dabei sind die Voraussetzungen heute so günstig wie seit Meyerbeers überraschendem Tod am 2. Mai 1864 nicht mehr. Die alten nationalen und antisemitischen Vorurteile sollten den Blick nicht mehr verstellen. Forscher wie Gudrun und Heinz Becker oder Sabine Henze-Döhring und Sieghart Döhring – letztere Autoren einer brandneuen Meyerbeer-Biografie im Verlag C.H. Beck – haben Person und Werk historisch erschlossen. Die Opernhäuser könnten auf neu ediertes, kritisches Notenmaterial zurückgreifen.

Dirigenten wie Marc Minkowski („Les Huguenots“ in Brüssel 2011), Frank Beermann („L’Africaine“ unter dem von Meyerbeer vorgesehenen Titel „Vasco de Gama“ 2013 in Chemnitz) oder Enrico Calesso („L’Africaine“ in Würzburg 2011) haben die spezifischen Qualitäten der kompositorischen Großformen und der raffinierten Instrumentation erkannt und die willkürlichen, entstellenden Kürzungen der Vergangenheit rückgängig gemacht. Und musikalisch hervorragend gebildete Sänger eröffnen die Chance, die schwierigen Gesangspartien – auf deren Interpretation Meyerbeer allergrößten Wert gelegt hat – stilistisch ansprechend gestaltet zu hören.

Die Unlust der Regisseure?

Warum also kein Meyerbeer? Die Antwort muss wohl in einem Knoten aus nachwirkendem Vorurteil, Scheu vor dem Aufwand angesichts immer knapperer Mittel, Schielen auf die Auslastung und Unlust an der Herausforderung gesehen werden. In Deutschland und Österreich kommt noch hinzu, dass in den Theatern des Dritten Reiches der Jude Meyerbeer eine Unperson war und die Aufführungstradition auch deshalb abgebrochen ist.

Bernd Loebe etwa, Intendant der Frankfurter Oper und ohne Scheu vor ungewöhnlichen Werken auf dem Spielplan, macht das Problem auch an der fehlenden Identifikation mit Meyerbeers Werk fest: Er habe für „L’Africaine“ mehrfach Absagen von Regisseuren bekommen. Käme heute ein Regisseur mit einem tragfähigen Konzept für eine Inszenierung zu ihm, würde er nicht zögern, Meyerbeer in den Spielplan zu nehmen, sagte er auf Nachfrage in der Spielplan-Pressekonferenz seines Hauses.

Sollte Loebes Eindruck verallgemeinerbar sein, spräche das nicht für den Horizont der kreativen Szene: Meyerbeer Sujets sind hochpolitisch und bestürzend aktuell. Aber vielleicht eignen sie sich nicht als „Material“, das sich der eigenen Privatmythologie beugt: Das desaströse Scheitern von Hans Neuenfels an Meyerbeers „Le Prophète“ in Wien (1998) mag dafür sprechen.

Der Mensch – zerstört im Sog der Geschichte

Meyerbeers Werke sind nicht nur beachtenswert, weil sie weit über das 19. Jahrhundert hinaus die Operngeschichte beeinflusst haben. Für die Bühne wiedergewonnen, wären sie auch nicht nur „bedeutende Kunstereignisse und grandiose Unterhaltung“, wie Sabine Henze-Döhring und Sieghart Döhring schreiben. Gerade die fünf Opern, die Meyerbeer in seinem „Gebet“ meint, sind heute wieder bestürzend aktuell, wie einzelne gelungene Aufführungen der letzten Jahre beweisen. Es sind pessimistisch gestimmte Geschichtsdramen, in denen der einzelne Mensch in den zerstörerischen Sog von Ereignissen gerät, gegen die er sich kaum wehren, gegen die er aber seine persönliche Integrität – auch im Scheitern – bewahren kann.

Nach erfolgreichen Jahren in Italien begann mit „Robert le Diable“ 1831 Meyerbeers sensationelle Pariser Karriere; mit diesem – wie kaum ein anderes geschmähtem – Werk wurde er neben Gioacchino Rossini („Guillaume Tell“) und Daniel-François-Esprit Auber („La Muette de Portici“, 1828) zum Erfinder der „grand opéra“. „Les Huguenots“ (1836) und „Le Prophète“ (1849) festigten seinen Ruf, der mit der posthum uraufgeführten „L’Africaine“ (1865) noch einmal internationalen Widerhall finden sollte. Ohne diese Vorbilder hätte es keinen Verdi, keinen Wagner, aber auch keinen Gounod oder Massenet, nicht „Boris Godunow“ von Mussorgksy und nicht „Krieg und Frieden“ von Prokofjew gegeben.

Meyerbeers gewaltige Geschichtspanoramen sind oft auf ihren – zweifellos angezielten und in der Pariser Oper unabdingbaren – Schauwert reduziert worden. Wagner sprach in seinen antisemitischen Hetzschriften von „Wirkung ohne Ursache“ und verschleierte damit nicht nur, was er in seiner Karriere und seinem Werk – bis hin zum „Parsifal“ – dem diffamierten Kollegen verdankte. Der „Meister“ hat ebenso wie der unermüdlich polemisierende Robert Schumann nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass Meyerbeer die Tragödie einzelner Menschen mit einem resignativen Bild einer von zerstörerischen Kräften bestimmten Geschichte verbunden hat. Die Opern Meyerbeers wirken – so der Musikjournalist Frank Siebert – „wie die Kehrseite deutschromantischer Idealisierungen“.

Zu der in den Werken gespiegelten Geschichtsphilosophie gehört das Religiöse untrennbar dazu. In „Robert le Diable“ etwa geht es Meyerbeer um ein Menschheitsdrama vor metaphysischem Hintergrund, gefasst in die Bilderwelt einer mittelalterlicher Rittergeschichte. Um die Seele eines schwankenden Helden (Robert) streiten Himmel und Hölle mit den Mitteln von Täuschung und Gnade. Meyerbeer zeigt theologisch scharfsichtig, wie das Böse seine Realität in der Welt nur als Scheinexistenz aufrechterhalten kann: durch Projektion und lügnerische Phantome. Er wendet sich aber gegen ein billiges Schwarz-Weiß-Schema, indem er den negativen Protagonisten, Bertram, nicht dämonisiert, sondern ihm auch die Züge eines ehrlich liebenden Vaters gibt.

Meyerbeer setzt auf zu seiner Zeit schockierend drastische Mittel: Die Orgel auf der Theaterbühne ist ein musikalisches, der oft lächerlich gemachte Auftritt der wiederbelebten Nonnen ein szenisches: Dass sich in der „Auferstehung“ ihrer toten Körper die nachäffende Perversion des Bösen zeigt, ist in der Empörung und der späteren Verspottung dieser Szene meist übersehen worden. Doch nicht umsonst hat George Sand „Robert le Diable“ als „katholische“ Oper bezeichnet.

Abrechnung mit dem Missbrauch von Glaube und Religion

In „Les Huguenots“ thematisiert Meyerbeer, wie die Religion selbst in den zerstörerischen Sog der Geschichte gerät und ihren inneren Kern verliert. Meyerbeer gelingt im politisch-menschlichen Panorama der „Hugenotten“, den Chor als „Masse“ im modernen Sinn zu konzipieren: Menschen, die von Stimmungen und Ideologien getrieben, zu Gewalt und Vorurteil neigen, und ab einem gewissen Punkt der Entwicklung kaum mehr zu bremsen sind.

Noch radikaler rechnet Meyerbeer mit dem Missbrauch von Glauben und Religion in „Le Prophète“ ab: Vor der Kulisse der Wiedertäuferbewegung im westfälischen Münster – und wohl auch der Pariser Revolution von 1848 – schildert die Oper Aufstieg und Fall des Schankwirts Jean als Gallionsfigur einer revolutionär-religiösen Bewegung. Meyerbeer exponiert das politisch-soziale Elend in der Willkürherrschaft des Adligen Oberthal, idealisiert aber die religiös bemäntelte Revolution der Wiedertäufer in keiner Weise: Ihre Mittel sind Täuschung, Gewalt und Betrug; ihr „Glaube“ ist bloßes Mittel zum Zweck.

Der zum „Prophet“ gemachte Jean ist Täter und Opfer zugleich: eine typischer Meyerbeer’scher Charakter, der rücksichtslosen, zynischen Manipulation durch die Wiedertäufer hilflos ausgeliefert, der er sich am Ende nur noch durch Vernichtung und Selbstauslöschung entziehen kann. In dem Trio der Wiedertäufer gelingt Meyerbeer nicht nur eine infernalische „unheilige Dreieinigkeit“, sondern auch ein Soziogramm des Funktionierens manipulativer Macht von bestürzender Modernität.

Umso erstaunlicher ist, dass diese wegweisende Oper im heutigem Betrieb überhaupt nicht beachtet wird: Ist sie doch viel mehr als eine Geschichte über die tragische Unvereinbarkeit von Macht und Liebe. „Le Prophète“ mit dem schillernden Helden und der messerscharfen Analyse der Mechanismen von Macht und Manipulation, von Ideologie und kollektiver Illusion, ausgearbeitet mit „stupender Bildhaftigkeit und psychologischer Tiefenschärfe, die in nie gekannter Genauigkeit auch die Szene und den Darsteller mit einbezieht (Döhring), wäre eine Herausforderung für jedes Theater, dem es darum geht, epochale Werke als relevant für unsere Zeit zu entdecken.




Mit Geschmack und Sentiment: Klarinettenmusik von Iwan Müller

Naxos CD 8.572885Ein anderer hätte alles hingeworfen: Da verbessert ein Deutsch-Balte namens Iwan Müller die Klappentechnik der Klarinette, schafft so ein Instrument, das auch in entlegenen Tonarten spielbar ist. Er gründet eine Klarinettenfabrik, stellt seine „clarinette omnitonique“ dem Pariser Conservatoire vor. Doch die Kommission dieser so einflussreichen wie konservativen Musik-Institution lehnt es ab, das Instrument einzuführen. Man fürchtet, der Charakter der Tonarten könne beeinträchtigt werden. Die Firma Müllers geht in Konkurs.

Doch Müller gibt nicht auf. Seine Konzertreisen sind gleichzeitig Werbefeldzüge: Mit selbst geschriebener, virtuoser Musik offeriert er die Möglichkeiten seiner chromatischen Klarinette, kann in Kassel, Berlin, Wien und London überzeugen. 1825 veröffentlicht er eine Klarinettenschule; mit Georg Wilhelm Heckel, einem begabten Instrumentenbauer aus Wiesbaden, baut er eine Serie von Musterklarinetten. Die „Müllerklarinette“ ist die Urmutter der heutigen „deutschen“ Klarinette.

Den Komponisten – und Virtuosen – Iwan Müller stellt eine kurzweilig anzuhörende CD der Firma Naxos vor: Die Klarinettisten Friederike Roth und Wenzel Fuchs spielen, begleitet von der Pianistin Erika Le Roux oder im Verein mit dem Berolina Ensemble Kammermusik des erfinderischen Weber-Zeitgenossen. Im gleichen Jahr 1786 geboren, hört man bei Müller den empfindsam-kantablen Tonfall des Romantikers, mehr noch freilich die Einflüsse der Belcanto-Oper des beginnenden 19. Jahrhunderts. Müller war Solo-Klarinettist unter anderem an der Pariser Oper, bevor er seinen Lebensabend am Hof von Schaumburg-Lippe in Bückeburg, an der Ostgrenze zu Westfalen, verbrachte. Dort starb er 1854.

Müllers Musik gehört zu jener später verpönten Art von Virtuosenmusik, die – zu schwer für den Dilettanten – vor allem der anspruchsvollen Unterhaltung und der Präsentation der spieltechnischen Raffinesse eines Solisten diente. Einen Mozart oder gar Beethoven wird man in seinen beiden Klarinettenquartetten aus dem Jahr 1820 nicht entdecken – aber das macht auch nichts: Müller entwickelt seine Melodien mit einem aparten Charme, der auch heute noch mit Vergnügen zu hören ist.

Ein Werk wie die „Scène romantique“ erinnert in seinem ersten Satz, „Adagio con espressione“, an Leidens- und Traumszenen aus der Oper; eine Polonaise wie „Le château de Madrid“ gibt der Klarinette reichlich Gelegenheit, wie eine Primadonna aufzutreten. Verzierungen, Rouladen, Sprünge, chromatische Eintrübungen, weite Legatobögen: Der stets mit leuchtend-brillantem Ton spielenden Klarinettistin Friederike Roth wird nichts geschenkt.

Auch die Pianistin Erika le Roux pflegt die theatralische Geste, ohne sich allzu sehr vom Sentiment zu distanzieren oder es überbetont zu denunzieren. Solche Musik will mit Geschmack und Sensibilität gespielt sein – und die Musiker, einschließlich der Streicher des Berolina Ensembles (David Gorol, Andreas Mehne, Martin Smith), pflegen diese Tugenden.

Fast möchte man meinen, im „Souvenir de Dobbéran“ für zwei Klarinetten und Klavier höre man das rhythmische Stampfen der Dampf-Schmalspurbahn, die heute noch Bad Doberan mit der „großen Welt“ verbindet – aber von diesem modernen Verkehrsmittel hatte Müller noch keine Ahnung. Eine CD, die an einem dämmrigen Nachmittag oder zu einer Tasse Tee mit Vergnügen hören lässt – und die ein Fenster in eine musikalische Kultur öffnet, die uns heute nur noch in Bruchstücken bekannt ist.

 

Iwan Müller: Souvenir der Dobbéran. Clarinet Quartets Nos. 1 and 2, Naxos 8.572885




Von Erfurt nach Westfalen: Bedeutsame Oper „Joseph Süss“ kommt 2015 ans Theater Münster

Szene aus Detlev Glanerts "Joseph Süß" in Erfurt, mit Marisca Mulder (Magdalena), Máté Sólyom-Nagy (Joseph Süß) und Robert Wörle (Weißensee). Foto: Lutz Edelhoff

Szene aus Detlev Glanerts „Joseph Süß“ in Erfurt, mit Marisca Mulder (Magdalena), Máté Sólyom-Nagy (Joseph Süß) und Robert Wörle (Weißensee). Foto: Lutz Edelhoff

Die Geschichte des Joseph Süß Oppenheimer ist die eines Glücksritters des 18. Jahrhunderts: Aufstieg bei Hofe, Finanzrat des Herzogs von Württemberg, nach dessen plötzlichem Tod Schauprozess und Todesurteil. Ein Justizmord, wie man heute zweifelsfrei nachweisen kann. Doch Joseph Süß war Jude, und der Prozess gegen ihn ein Manifest des offenen Antisemitismus. Als „Jud Süß“ wurde sein Schicksal zum Material für judenfeindliche Propaganda, die in Veit Harlans berüchtigtem Film von 1940 gipfelte: ein sogenannter Vorbehaltsfilm, der bis heute in Deutschland aus gutem Grund nur eingeschränkt gezeigt werden darf. Harlan, ein Meister seines Fachs, hat wie kein anderer antisemitische Hetze so subtil wie perfide künstlerisch bemäntelt.

1999 vollendete Detlev Glanert seine Oper „Joseph Süss“, die nun am Theater in Erfurt Premiere hatte. Die Inszenierung von Hausherrn Guy Montavon war 2012 am Gärtnerplatztheater München zu sehen – und der damalige Gärtnerplatz-Intendant Ulrich Peters holt sie ab 7. Februar 2015 an sein neues Haus in Münster. Glanert hat mit dieser Oper ein bemerkenswertes Erfolgsstück geschrieben: Seit der Uraufführung in Bremen hat es Nachfolgeinszenierungen in Regensburg, Heidelberg, Trier, Krefeld-Mönchengladbach und Zwickau-Plauen gegeben. Glanerts Werk entkräftet die Ansicht, zeitgenössische Oper könne nicht erfolgreich sein und habe keine Chance im Repertoire. Man muss sie nur spielen wollen.

Guy Montavon lässt sein Inszenierung – unterstützt durch die Bühne Peter Sykoras – um den Kerker des „Hofjuden“ kreisen: Er bildet das Zentrum des Bühne, ein enger Raum mit Wänden aus Goldbarren. Der Zuschauer erlebt die Stunden vor der Hinrichtung. Immer wieder kehrt Süss zurück in die Vergangenheit. Seine Erinnerungen „materialisieren“ sich in den Szenen auf der Bühne, bevölkert von schwarz-grau-weißen Gespenstern, zum Teil in groteskem Barock überzeichnet, unter denen sich Süss in seinem roten Prachtrock wie der einzig lebende Mensch ausnimmt.

Detlev Glanert, "Joseph Süß", am Theater Erfurt: 2015 wird die Inszenierung Guy Montavons mit der Bühne Peter Sykoras in Münster gezeigt. Foto: Lutz Edelhoff

Detlev Glanert, „Joseph Süß“, am Theater Erfurt: 2015 wird die Inszenierung Guy Montavons mit der Bühne Peter Sykoras in Münster gezeigt. Foto: Lutz Edelhoff

Das Libretto von Werner Fritsch und Uta Ackermann bezieht den antisemitischen Hintergrund explizit mit ein, radikalisiert noch von Montavons Inszenierung: „Juden sind in unserem deutschen Wald unerwünscht“, liest man vor Beginn der eigentlichen Handlung; zwei biedere Familienväter erzählen sich geschmacklose Judenwitze. „Judas verrecke“ kreischt der Herzog (Stephen Bronk), vom Schlaganfall gelähmt, aus seinem Rollstuhl.

Doch die Perspektive ist nicht auf dieses einzige Thema verengt: Es geht um die Niedertracht der Ränkespiele bei Hofe, um Täuschung, Neid, sexuelle Gier und Geltungssucht, exemplarisch verkörpert im Sprecher der Landstände, Weissensee (mit passend schneidender Stimme: Robert Wörle). Seine tückische Intrige bringt den verhassten Finanzmann letztendlich an den Galgen. Joseph Süss ist in diesem Spiel eine ebenso ambivalente Figur wie die anderen Beteiligten: Er sucht „Ruhm und Ehre“ für sein Volk, vernachlässigt seine Tochter, steht der nach Genuss und Luxus süchtigen Gesellschaft ohne Skrupel mit seinem Geschick zur Verfügung.

Máté Sólyom-Nagy läuft als Darsteller wie als Sänger zu großer Form auf, macht auch die inneren Kämpfe des Joseph Süss deutlich, die am Ende in einer schmerzvollen Klage gegen Gott, den „Allmächtigen“, münden. Und in der Beteuerung der eigenen Unschuld, mit der er in den Tod geht. So wird Glanerts Oper am Ende auch zu einer Frage nach der Gerechtigkeit Gottes und seiner Ohnmacht vor dem Wirken des Bösen in der Welt.

Im durchweg überzeugenden Erfurter Ensemble sind die Frauen auf beiden Seiten Opfer: Naemi (Henriette Gödde mit lyrischer Intensität) verliert ihr Leben, von einer gewaltbereiten Meute vergewaltigt. Magdalena, Tochter Weissensees, als „Judenhure“ denunziert, hat keine Chance, der entfesselten, unterdrückerischen Lüsternheit bei Hofe zu entgehen. Marisca Mulder singt diese traurige Frau mit bewegendem Ernst. Julia Neumann hat einen koloraturenreichen, ironisch durchtränkten Auftritt als Opernsängerin Graziella – ein Geschöpf, das sich widerstandslos in die Dekadenz ihrer Umgebung einfügt.

Samuel Bächli und das Erfurter Orchester geben jeder der dreizehn Szenen unverwechselbare Prägnanz, von den filigranen Momenten verlorener Holzbläser-Soli über tosend losbrechende schlagzeuggestützte Wucht bis hin zu choralartigen, geclusterten Melodiemotiven oder ariosem Klagegesang. Auch der Chor von Andreas Ketelhut bewährt sich zwischen skandierendem Geschrei und flüsterndem Sprechgesang.

Glanerts Musik ist dabei weder anbiedernd noch verflüchtigt sie sich in uneinholbare intellektuelle Höhenflüge. Sie zeichnet aus, was seit jeher für das Theater taugt: Fasslichkeit, dramatische Wirkung, einprägsame Faktur. Solche Musik ist ihm auch in anderen Opern gelungen: Von dem eindrucksvollen, leider bisher im deutschsprachigen Raum nicht wiederholten „Caligula“ (Köln/Frankfurt) bis hin zu „Der Spiegel des großen Kaisers“ (zuletzt 2005 in Gelsenkirchen und 2006 in Münster) oder zur Science-Fiction-Oper „Solaris“ (Uraufführung 2012 in Bregenz, deutsche Erstaufführung angekündigt am 2. November 2014 in Köln) hat sich stets die eminent bühnenwirksame Qualität seiner Kompositionen erwiesen. Fazit: Auch Musik des 21. Jahrhunderts hat eine realistische Chance, ein Publikum jenseits eklektischer Kreise anzusprechen. Die Oper lebt!




Eine Chance für junge Musiker: Orchesterakademie Essen vergibt Stipendien

Links, erste Geigen. Drittes Pult, vorne. Das ist er: Schlank, schwarze Haare, schwarze Augen. Nestor Luciano Casalino, einer der jungen Musiker aus der Orchesterakademie der Essener Philharmoniker. Einer aus 400 Bewerbern, der für ein Jahr eines der heißbegehrten Stipendien ergattert hat.

Der Geiger Nestor Luciano Casalino (rechts) mit seiner Mentorin Natalie Arnold. Foto: Werner Häußner

Der Geiger Nestor Luciano Casalino (rechts) mit seiner Mentorin Natalie Arnold. Foto: Werner Häußner

Geige zu spielen hat der Argentinier schon mit vier Jahren begonnen: „Mein Onkel ist Pianist und arbeitet als Korrepetitor. Er hat mit die Geige gekauft und den ersten Unterricht bezahlt.“ Casalinos Geigenlehrer in Argentinien hatte in Köln studiert – und dem jungen Mann die Musikhochschule in Deutschland empfohlen.

2010 war er zum ersten Mal hier, ein Jahr später hat er in Köln die Aufnahmeprüfung bestanden, erzählt Casalino in flüssigem Deutsch. Nein, in der Schule hat er die Sprache nicht gelernt: „Erst fünf Monate vor Beginn des Studiums habe ich intensiv begonnen, mich mit Deutsch zu beschäftigen.“ Die Alternative, in der vertrauten Sprache Italienisch zu studieren, hat er ausgeschlagen: „Ich wollte nicht nach Italien, sondern etwas Neues kennenlernen.“

Fünf Monate Deutsch – dann von Córdoba nach Köln

Der junge Mann aus Córdoba weiß um die tolle Chance. Und er weiß, wem er sie zu verdanken hat. Die Orchesterakademie wird ausschließlich von Sponsoren und engagierten Musikfreunden getragen. Der Verein mit gut 100 Mitgliedern ermöglicht pro Jahr acht jungen Musikern, sich eine Spielzeit lang intensiv auf den Einsatz in einem Spitzenorchester vorzubereiten. „Seit Gründung 1999 haben wir mehr als 100 jungen Menschen ein Stipendium ermöglicht“, berichtet Vorsitzender Herbert Lütkestratkötter. 2014/15 sollen es sogar zehn sein. Bereits mit 80 Euro Jahresbeitrag kann man zu den Förderern gehören. Für Lütkestratkötter ist der Verein ein Beispiel bürgerschaftlichen Engagements: „Ich habe Interesse an Musik und möchte etwas für junge Menschen tun“, erklärt er seine Motivation.

Nestor Luciano Casalino wird von einem „anonymen Privatspender“ gefördert. Bei seiner Geigen-Kollegin Johanna Radoy kommen die Mittel von der Alfred und Cläre Pott Stiftung. Der finnische Cellist Christian Fagerström wird von Helene Mahnert-Lueg unterstützt. Und bei der Fagottistin Kaitlyn Grace Cameron trägt der frühere Essener Orchesterchef Stefan Soltesz bei: Er war im März 1999 einer der Gründerväter der Akademie und ist seit 2012 ihr Ehrenmitglied.

„Musiker ist ein emotionaler Beruf“

Der 23-jährige Geiger, der in Wuppertal studiert, freut sich, den Spielbetrieb eines Orchesters kennenzulernen: Proben, Arbeit mit verschiedenen Dirigenten, Austausch mit erfahrenen Musikern. Jeder Stipendiat hat einen persönlichen Mentor aus dem Orchester zur Seite. Für Casalino ist das die Geigerin Natalie Arnold: „Wir machen jede Woche eine Stunde Unterricht, gehen Opern durch, bereiten die Standardstücke vor, die bei Probespielen verlangt werden.“ Vor allem die Oper komme in der Hochschul-Ausbildung zu kurz. Da bringen die Erfahrungen am Aalto-Theater die jungen Musiker ein gutes Stück weiter. Alleine fünfzehn Opern lernt Casalino in der laufenden Spielzeit. Dazu kommen die Dienste bei einigen Konzerten.

Natalie Arnold weiß auch, dass die angehenden Orchestermusiker Tipps brauchen, wie sie die psychisch belastenden Probespiele und – bei Anstellung – das Probejahr bewältigen können: „Musiker ist ein emotionaler Beruf, man muss sich im Orchester aufeinander einstellen. Ein junger Kollege kann dabei viel falsch machen.“ So geben die Mentoren den jungen Berufsanfängern auch Informationen, wie man eine Bewerbung richtig angeht: „Sie wissen nicht, auf was Orchester bei Bewerbern achten. Nach welchen Kriterien Bewerbungen ausgewählt werden. Und wie man sich im Gespräch und Vorspiel richtig präsentiert.“

Casalino hat’s offenbar richtig gemacht: Der aufgeschlossene junge Mann hat einen Jahresvertrag bei den Essener Philharmonikern in der Tasche. Und ist damit so glücklich wie sein Mit-Stipendiat Francesc Saez: Der bekam nach erfolgreichem Probespiel die freie Hornistenstelle im Orchester. Kein Einzelfall ist, dass ehemalige Stipendiaten zu den Philharmonikern zurückkehren. Andere sind in namhaften Orchestern in der ganzen Welt tätig. Nestor Luciano Casalino freut sich jetzt erst einmal, dass er bald bei seiner Lieblingsoper, Giacomo Puccinis „Turandot“, im Graben dabei sein darf. Und er möchte gerne wieder Mozarts „Figaro“ spielen: „Das war die erste Oper, die ich noch als Geigenschüler im Orchester in Córdoba mitspielen durfte.“

(Der Bericht ist in kürzerer Form bereits in der WAZ Essen erschienen)




Philharmonie Essen 2014/15: Programm mit Sahnehäubchen

Die Philharmonie Essen. Foto: Werner Häußner

Die Philharmonie Essen. Foto: Werner Häußner

Mit Mozart als Schwerpunktthema und dem internationalen Star der Alte-Musik-Szene Jordi Savall als „Residence“-Künstler geht die Philharmonie Essen in ihre elfte Spielzeit 2014/15.

Mit 127 Veranstaltungen – vom großen Orchesterkonzert bis zur musikalischen Kennenlern-Stunde für die Allerkleinsten – hat Intendant Hein Mulders bei der Pressekonferenz zu neuen Saison ein ausgewogenes, sorgfältig geplantes Programm vorgestellt. Der Erfolg gibt ihm bisher Recht: Schon jetzt konnte die Philharmonie stolz eine Zahl von über 100.000 Besuchern in der laufenden Spielzeit vermelden. Das bedeutet eine Platzauslastung von 80 bis 90 Prozent. Gut für Abonnenten und Einzelkartenkäufer: Die Preise werden nicht steigen, erst 2015 rechnet TuP-Geschäftsführer Berger Bergmann – auf Drängen der Politik – mit einer Anhebung.

Intendant Hein Mulders. Foto: Philharmonie Essen

Intendant Hein Mulders. Foto: Philharmonie Essen

Große Orchester und namhafte Solisten fehlen nicht, aber die Sahnehäubchen im Programm sind Ideen wie die „Piano Lectures“, bei denen bekannte Pianisten spielen und über Musik sprechen. Oder das Festivals „NOW!“ für zeitgenössische Klänge, das zum vierten Mal stattfindet und im November unter dem Stichwort „Parallelwelten“ acht ungewöhnliche Konzerte und ein Symposion anbietet.

Nicht zu vergessen sind die Education-Angebote der Philharmonie. Sie sprechen nicht nur Schüler an – etwa mit Kompositionsprojekten oder Klassenbesuchen in Konzerten. Sondern auch mit Ferien-Workshops, Konzert-Einführungen für Kinder oder speziellen Gebäude- oder Orgelführungen. Auch Erwachsene schätzen vielleicht eine Führung durch den Bau oder das Konzert „Klassik für Einsteiger“ am 28. Oktober, bei dem man unkompliziert Schwellenangst überwinden oder eine alte – oder neue – Liebe (wieder)entdecken kann.

Kuhn-Orgel im Großen Saal wird zehn Jahre alt

Zehn Jahre alt wird die Kuhn-Orgel der Philharmonie: Anlass für einen Abend mit vier Organisten am 27. September. Das Orgel-Abo mit sechs Veranstaltungen beinhaltet ein Konzert mit Iveta Apkalna und den „Kreuzweg“ von Marcel Dupré mit Bischof Franz-Josef Overbeck als Sprecher. Weitergeführt werden Themenreihen wie die beliebte „Musik bei Kerzenschein“, etwa mit Bachs „Weihnachtsoratorium“, der „Matthäus-Passion“ und einem Konzert mit Magdalena Kožená.

Kommt in die Philharmonie zurück: Joyce DiDonato. Foto: TuP/Simon Pauly

Kommt in die Philharmonie zurück: Joyce DiDonato. Foto: TuP/Simon Pauly

Mit Joyce DiDonato, Klaus Florian Vogt, dem Counter Valer Sabadus oder dem phänomenalen Liedsänger Christian Gerhaher kehren führende Gesangssolisten in die Philharmonie zurück. Und für Jazz-Freunde bietet das Haus am Essener Stadtpark elf Konzerte an, unter anderem mit der spanisch-afrikanischen Soul-Legende Buika, mit Rebekka Bakkens‘ Tom-Waits-Songs oder mit Ensembles wie dem Michael Wollny Trio und dem Marius Neset Quartet.

Erfolgreich gestartet ist im Herbst 2013 die Klavier-Reihe „Piano Lectures“. Deshalb eröffnet am 14. September kein Geringerer als Rudolf Buchbinder mit dem Thema „Beethoven“ die Reihe von vier Sonntagvormittagen. Es folgen Kristian Bezuidenhout, ein Spezialist für Hammerklavier, der junge Boris Giltburg und der stets spannende Individualist Fazil Say.

„Hauptsache“ Mozart mit acht Konzerten

Acht Konzerte zählt die „Hauptsache Mozart“: In diesem Rahmen tritt Janine Jansen mit dem Chamber Orchestra of Europa mit einem Mozart-Violinkonzert auf.Alexandre Tharaud spielt das „Jeunehomme“-Klavierkonzert. Kammermusikfreunde werden einen Streichquintett-Abend schätzen, prominent besetzt etwa mit Baiba Skride (Violine) Nils Mönkemeyer (Viola) und Alban Gerhardt (Cello). Das „Requiem“ stellt Peter Dijkstra mit dem Chor des Bayerischen Rundfunks so unvollendet vor, wie es Mozart hinterlassen hat, ergänzt es aber mit Kompositionen von Purcell bis Ligeti. Und für ein neues Forma, die „Happy Hour“ am 19. November, 19 Uhr, kommt das Sinfonieorchester des WDR mit Dan Ettinger nach Essen, um eine Stunde lang zwei Mozart-Sinfonien zu spielen. Danach trifft man sich auf ein Glas im Foyer.

Artist in Residence in der kommenden Saison: Jordi Savall. Foto: TuP/David Ignaszewski

Artist in Residence in der kommenden Saison: Jordi Savall. Foto: TuP/David Ignaszewski

Jordi Savall, der katalanische Gambist, wird in vier Konzerten ausgefallene Programme mit Alter Musik präsentieren: Einen Abend über das Leben von Erasmus von Rotterdam mit Renaissance-Musik und Texten der Epoche am 12. Oktober; einen Abend mit Meistern des Kontrapunkts von Bach bis Samuel Scheidt am 11. Dezember; einen wundervoll entdeckerfreudigen Abend mit Tänzen und Liedern aus dem alten und dem neu entdeckten Spanien jenseits des großen Ozeans am 16. Mai 2015. Und in der Basilika in Werden verbindet er Orient und Okzident in einem musikalischen Dialog.

Luxuriöse Abende versprechen die 22 auftretenden Gastorchester, unter ihnen die drei großen Londoner Orchester, das Concertgebouw Orkest aus Amsterdam und – letztmals unter Lorin Maazel – die Münchner Philharmoniker. Am Dirigentenpult stehen Stars wie Antonio Pappano oder John Eliot Gardiner, aber auch „Aufsteiger“ der letzten Jahre wie Daniel Harding oder Yannick Nézet-Séguin. Einen Höhepunkt verspricht das Konzert der Berliner Philharmoniker am 30. November: Unter Riccardo Chailly spielt Martha Argerich das Schumann-Klavierkonzert.

Andere Solisten sind Janine Jansen mit der deutschen Erstaufführung des Violinkonzerts von Michel van der Aa (8. November), Nikolai Lugansky mit dem unvermeidlichen b-Moll-Konzert Tschaikowskys (25. Januar), Lisa Batiashvili mit dem Sibelius-Violinkonzert (6. März), Tzimon Barto mit dem Klavierkonzert Wolfgang Rihms (6. September), Renaud Capuçon mit dem Violinkonzert (19. Oktober) und Lars Vogt mit dem zweiten Klavierkonzert von Johannes Brahms, und Patricia Kopatchinskaja mit dem „Offertorium“, Sofia Gubaildulinas tief spirituellem Violinkonzert Nr. 1.

Das Programmbuch liegt ab sofort in der Philharmonie, im Aalto-Theater und im Ticket-Center am II. Hagen aus.

Der Vorverkauf für die Abonnements und Eigenveranstaltungen der Philharmonie beginnt heute, 11. April: Tel. (0201) 81 22 200, www.philharmonie-essen.de.




Kafkaeske Geschichte von Willkür und Gewalt: Rossinis „Diebische Elster“ in Frankfurt

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Das Unheimliche triumphiert. Von Gioacchino Rossini ist der Opernbesucher leichte Kost gewöhnt – auch weil deutsche Opernhäuser nicht bereit sind, anderes zu gewähren. Und nur, wenn man mit dem Regisseur Glück hat, werden die grotesken und die irritierenden Momente in Werken wie „La Cenerentola“ oder „Der Türke in Italien“ auch herausgearbeitet. Im Falle von „La gazza ladra“ stand das bisher nicht zur Debatte, denn „Die diebische Elster“ mit ihrer weithin bekannten Ouvertüre wurde einfach nicht gespielt. In dieser Spielzeit hat sich das geändert: In Würzburg und Frankfurt steht das Stück auf dem Spielplan, das ein Rossini-Kenner wie der Dirigent Alberto Zedda unter die drei bedeutsamsten Opern Rossinis einordnet.

Doch während in Würzburg die Regie von Andreas Beuermann an der Rossini-Konvention kleben bleibt und eine leicht skurrile Winzerdorf-Posse mit märchenhaften Zügen auf die Bühne stellt, betont David Alden in Frankfurt das Unheimliche, ja Brutale in dieser Kleine-Leute-Geschichte.

In einem spukhaften Bühnenbild von Charles Edwards löst Alden das Drama um den vermeintlichen Diebstahl durch eine Hausangestellte und ihre Verurteilung zum Tode unter Kriegsrecht aus dem historischen Zusammenhang des französischen Rührstücks und rückt es zeitgemäß zurecht: als kafkaeske Geschichte von Willkür und Gewalt. Die von Bibi Abel erstellten Video-Projektionen lassen unheimliche schwarze Vögel über die Szene fliegen, die sich im ersten Finale zum bedrohlichem Schwarm ballen: der Verweis auf Hitchcocks Film passt zu der Bedrohung des Opfers, die auch unerklärbar aus dem Nichts erwächst.

"Spooky": Die Bühne Charles Edwards' zu Rossinis "Die diebische Elster" in Frankfurt. Foto: Wolfgang Runkel

„Spooky“: Die Bühne Charles Edwards‘ zu Rossinis „Die diebische Elster“ in Frankfurt. Foto: Wolfgang Runkel

Die Bühne, ein großmustrig tapeziertes Halbrund mit schweren, altmodischen Türrahmen, erinnert an Film-Spukhäuser, an Räume der „gothic novel“ oder an verloren-unheimliche Anwesen auf Bildern von Dennis Hopper oder des Fotografen Matthias Herrmann. In diesem Horizont wird ein trautes Heim herumgeschoben und je nach Bedarf zugerichtet. Rosige Tapeten zitieren das Muster des Halbrunds, die Einrichtung zeigt, dass sich hier kleine Leute nach dem Vorbild der Großen strecken. Dort erwartet man die Rückkehr des „eroe di guerra“, des Sohnes, der als Soldat den Interessen der Mächtigen dienen muss.

Zentrale Figur des Dramas ist der Podestá Gottardo, der in einer schwarzen Kutsche, von Menschen gezogen, vorfährt, als wolle Edwards Murnaus „Nosferatu“ zitieren. Er ist vom Ursprung her, wie viele in dieser Rossini-„Semiseria“, eine Komödienfigur: der lüsterne Alte, der gerne etwas junges Fleisch genießen würde.

Doch sein Verhalten sprengt nachdrücklich die Komödien-Konvention: Ein Provinz-Beamter, der übergeordneten Kontrolle entzogen, geriert sich als Tyrann. Er reagiert auf Ninettas selbstbewusste Ablehnung (in patriarchalischen Gefügen unangemessenes Beharren auf selbstbestimmter weiblicher Sexualität) mit der Wut des Gedemütigten und mit dem arglistigen Hintersinn eines juristisch versierten Rachsüchtigen. Der zufällig aufgeschnappte Vorwurf in einer eher familiären Auseinandersetzung, das Dienstmädchen habe einen Silberlöffel verschlampt, wird zum „Fall“.

Was folgt, ist ein Indizienprozess, in dem Menschen, die wohl kaum lesen und schreiben können, chancenlos einer vermeintlich zutreffenden Kette von Schlussfolgerungen ausgeliefert sind. Wer hinter die zeitgemäße, heute harmlos wirkende Einkleidung blickt, fragt sich: Wie weit weg ist da der Dorfrichter Adam aus Kleists „Zerbrochenem Krug“? Und wie nahe liegt diesen Menschen der Büchner’sche Seufzer: „Wir arme‘ Leut“?

Gefährlich groteske Figuren

David Alden misstraut dem „coup de théâtre“ mit der „diebischen Elster“: Im Libretto Giovanni Gherardinis wird Ninetta im letzten Moment vor der Hinrichtung gerettet, weil im Nest einer Elster das vermisste Besteck gefunden wird. In Frankfurt klaut nicht nur die hoffmanneske Figur des Hausierers Isacco (Nicky Spence gibt ihm gefährlich-groteske Züge), sondern auch der Bauernbursche Pippo (mit feiner Stimme: Alexandra Kadurina). Er zieht den Silberlöffel aus der Tasche, steckt ihn aber erschreckt zurück, als von „Todesstrafe“ die Rede ist.

Alden lässt die Geschichte so seltsam enden, wie uns heute der „glückliche“ Schluss vorkommt, zu dem Rossini durch Zensur und Konvention gezwungen war: keine Aufhellung, kein Schlussjubel, eher ein entkräftetes Zurücksinken. Ninetta und ihr Vater – das Schicksal dieses Deserteurs spitzt den Hauptstrang der Handlung zu – grüßen von der Kutsche des Podestá, der sich in einer Ecke als Verlierer krümmt. Wie so oft bei Alden gibt es freilich auch Momente, in denen die Regie übertreibt und sich verselbständigt: erst ein unmotiviertes Tänzchen, dann überflüssiges Gerenne des Chores und eine seltsame Orgie der „Gewalt gegen Sachen“ des Richterkollegiums bräuchte es nicht.

Keine einfache Aufgabe stellt Rossinis ausgefeilte Partitur an Henrik Nánási und das Frankfurter Opernorchester: lyrische Innerlichkeit, sanfte Traurigkeit, aber auch feurig-jugendliches Aufbegehren verbinden sich mit den hier beinahe zynisch wirkenden Crescendi und Repetitionen aus der koketten Opera buffa. Ungerührt wie der Lauf der Geschichte geht die Musik über die Schicksale hinweg: eine verstörende Wirkung. Doch im Vordergrund steht die moderne Expression, die Rossini in seinen neapolitanischen Opern nach 1817 kultivieren und perfektionieren sollte. Nicht umsonst wird der erhabene Ausdruck der Chöre und des Trauermarschs im zweiten Akt gerühmt.

Belcanto-Flexibilität und kühle Präzision

Nánási, Generalmusikdirektor der Komischen Oper Berlin, rückt die Ouvertüre noch zu sehr in die Nähe fröhlich-quadratischer Marschrhythmen, als sei Rossini ein mediterraner Paul Lincke. Doch im Verlauf des Stücks findet er zu einer überzeugenden Mischung aus belcantesker Flexibilität und kühler, rhythmisch-metrischer Präzision. Die Bläsersoli aus dem Frankfurter Orchester sind meist erstklassig; dass den Violinen im Lauf von mehr als drei Stunden das heikle, filigrane Fingerwerk nicht immer akkurat gelingt, ist kein Merkmal mangelnder Qualität.

Das Biedere wird unheimlich: Katarina Leoson (Lucia) und Federico Sacchi (Fabrizio Vingradito) in Rossinis "Die diebische Elster" in Frankfurt. Foto: Wolfgang Runkel

Das Biedere wird unheimlich: Katarina Leoson (Lucia) und Federico Sacchi (Fabrizio Vingradito) in Rossinis „Die diebische Elster“ in Frankfurt. Foto: Wolfgang Runkel

Die Sänger, wie stets bei Rossini erheblich gefordert, sind mal mehr, mal weniger mit dem spezifischen Idiom vertraut: Kihwan Sim ist als brutaler, unrührbarer Egozentriker der Macht eine auch vokal imponierende Figur; Sophie Bevan eine intensive Darstellerin der mädchenhaften Ninetta mit einem hübsch timbrierten, aber manchmal zu leichtgewichtigen und in der Höhe nicht ganz abgefederten Sopran.

Jonathan Lemalu macht aus dem untergetauchten Deserteur Fernando eine grob geschnittene, nicht sehr glaubwürdig agierende Gestalt mit ebenso grobem, nicht präzis vokalisierendem Bariton. Den unbedachten Anlass für die tragische Entwicklung gibt die Dienstherrin Ninettas mit ihrem kleinkarierten Genöle: Katarina Leoson zeichnet sie als eine bigotte, aufs Materielle bedachte Frau aus der bürgerlichen Mittelschicht des 19. Jahrhunderts – die sorgfältig gestalteten Kostüme stammen von Jon Morrell. Ihr Mann ist lockerer eingestellt, kann sich aber gegen niemanden durchsetzen: Federico Sacchi singt ihn passend profillos. Francisco Brito jammert und protestiert als Giannetto vergeblich gegen die übermächtige, juristisch abgesicherte Willkür an.

In der Pause echauffierte sich ein älterer Besucher über die „aufgeblasene Dorfgeschichte“. Wer nichts verstehen will, versteht eben auch nichts. Zum Glück gibt es in Frankfurt – und anderswo – das Publikum, das sich dem Neuen und Ungewohnten öffnet, auch wenn es in scheinbar so konventioneller Umkleidung wie in dieser genialen Rossini-Oper auftritt.




Ausflug nach Prag: Sinfoniekonzert der Essener Philharmoniker, halb geglückt

„Prag, goldene Stadt“ hieß das Motto des achten Sinfoniekonzerts der Essener Philharmoniker, und Tomáš Netopil nutzte die dramaturgische Steilvorlage kreativ. Die beiden der tschechischen Hauptstadt gewidmeten Werke zu Beginn und am Ende sind für deutsche Konzertbesucher ziemlich unerforschtes Terrain.

Karel Husa, der 92jährige in Prag geborene amerikanische Komponist, hatte 1968 unter dem Eindruck des sowjetischen Einmarschs seiner Heimatstadt ein tönendes Denkmal gesetzt. Dem Werk für ein Blasmusik-Orchester gab Husa eine sinfonische Fassung, die er nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1990 selbst in Prag aufführte.

Die andere Reminiszenz an die Perle an der Moldau stammt von Josef Suk. Den Spätromantiker (1874-1935) kennen Musikliebhaber trotz seines reichen Schaffens kaum. Seine sinfonische Dichtung „Praga“ von 1904 beschwört die Atmosphäre zwischen Vyšehrad und Hradschin mit üppigen Klangfarben und prachtvoller Instrumentation.

Beiden Werken ist gemeinsam, was sie auch mit einem Teil von Bedřich Smetanas „Mein Vaterland“ verbindet: Sie verwenden als grundlegendes Motiv das historische Lied der Hussiten „Ktož sú boží bojovníci“. 600 Jahre alt ist diese Gotteskrieger-Hymne, doch bis heute steht sie für das tschechische Nationalbewusstsein. Bei Karel Husa taucht die unverwechselbare rhythmische Figur aus dem Hussiten-Choral wie von ferne in der Pauke auf, durchzieht in wechselnden Instrumenten die vier Sätze und bestätigt sich machtvoll im Finale.

Die Musik erzählt eine Geschichte

Husa legt den Keim seiner klanglich exquisiten Kombinationen zu Beginn in einem schüchternen Flötensolo, der Klarinette, einer langsam anschwellenden Klangfläche und einer Trompetenfanfare, die einen Wendepunkt markiert: Die Dynamik entwickelt sich zurück, bis nurmehr ein schwebender Laut der gestopften Trompete und ein dünner Pianissimo-Faden verklingen. Die Musik, auch wenn sie heftig aufschäumt, scheint auf der Stelle zu treten, findet keinen Ausweg zu einer Entwicklung, scheint nur weiterzukommen, wenn sie sich in feine Einzelstimmen verzweigt.

Die Hatz aus abgerissenen Tönen und Motiven im „Interlude“ genannten dritten Satz, der festtönige Widerstand der Hörner, das Auffahren des rhythmischen Hussiten-Motivs und ein dagegen gesetzter Wirbel zweier militärischer kleiner Trommeln, schließlich ein vielstimmiges, geräuschhaftes Miteinander der Streicher und der Triumph des Chorals: Man ist geneigt, sich von der Musik eine Geschichte erzählen zu lassen, die viel mit dem politischen Leidensweg der Tschechen zu tun hat.

Ähnlich manifestiert sich das bestimmende Motiv des Hussiten-Chorals in der spätromantisch üppigen sinfonischen Dichtung „Praga“ von Josef Suk: Mit triumphalem Fortissimo beendet das Motiv ein Stück voll kraftvoller Klangfarben. Da zeigen die Philharmoniker noch einmal, was in diesem Orchester steckt: In einer fast unhörbaren Eröffnung von Harfe und Kontrabässen, in wuchtigem Cello-Marsch, in edlen Klarinetten- und Trompeten-Soli. Suk scheut das Pathos nicht, aber auch nicht die düsteren Farben: Auch das unheimliche Prag der Alchemisten und der finsteren Fanatiker, des Golem und der kafkaesken Gespenster tritt uns vor das musikalisch interpretierende Gehör.

In zwei von Mozarts in Prag komponierten Werken gelingt es dagegen nicht, einen überzeugenden Kontrast zur Moderne aufzubauen. Die Programmidee war glänzend, die Ausführung enttäuschend: Die „Prager“ Symphonie (KV 504) beginnt eigentlich mit einem ausdrucksintensiven Adagio, das aber bei Netopil ohne Atmosphäre und inneres Leben abläuft. Es fehlt der Blick auf die expressiven Bläserstellen, auf den Spannungsaufbau der Phrasen, auf die lebendige Rhetorik, auch auf die dräuenden Anklänge an die Welt des „Don Giovanni“.

Und zu allem Überfluss liefert die Pianistin Lauma Skride mit dem C-Dur-Konzert (KV 503) das wohl langweiligste Klavierkonzert seit langem ab: Sie spurtet flüssig durch das Werk der Passagen, der galanten Melodiebildungen, meidet im Rondo jede Spur eines variierenden Zugriffs oder eines Blicks auf expressive Trübungen oder Übergänge. Mozart’sche Rhetorik, Charakterisierungskunst oder der Charme der „Klangrede“ scheinen sie nicht zu interessieren. Von Netopil am Pult kommt kein Impuls; die Pianistin richtet auch keinen Blick nach links, um den Dirigenten oder die Orchestermusiker in ihr Spiel einzubinden. Mozart, ein Freund starker Worte, hätte das glatte, uninspirierte Spiel wohl so kommentiert: „Heruntergehudelt“.




Von der Lust am Werden: Schubert-Symphonien mit Pablo Heras-Casado

Zu den unseligen Traditionen in der Musikrezeption gehört, dass seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert der historische Belang zunehmend zum Qualitätskriterium erhoben wurde: Nur noch, was strukturell tiefgründig war, was als Fortschritt eingeschätzt wurde und was im hegelianischen Sinne den Zeitgeist voranbrachte, war es wert, dauerhaft zur Kenntnis genommen zu werden.

Vor diesem – tief im Unterbewusstsein der sich wahrhaft gebildet wähnenden Schicht weiter wirksamem – Kriterium musste vieles verblassen: vom „wälschen Tand“ angefangen über vermeintlich Epigonales und Kleinmeisterliches bis hin zu skurrilen Seitensträngen der Entwicklung. Und natürlich auch Erzeugnisse aus den Lehrjahren der wahrhaft Großen: Wagners für Bayreuth unwürdige Frühopern etwa schieben vor allem Wagnerianer immer noch halb geringschätzend, halb peinlich berührt zur Seite.

Auch für unbestrittene Meister wie Franz Schubert gilt das selektive Prinzip: Seine Opern? Fehlanzeige! Seine Lieder? Von den Hunderten, die er geschrieben hat, sind ein paar Dutzend bekannt. Und seine Symphonien? Von denen war schon der alte Brahms überzeugt, sie sollten besser „mit Pietät bewahrt“ als veröffentlicht werden. Der Konzertbetrieb schließt sich dieser Ansicht in der Praxis bis heute mehrheitlich an: Von der „Unvollendeten“ und der „großen“ C-Dur-Symphonie abgesehen sind sie selten auf den Programmen anzutreffen.

Franz Schubert, Symphonie Nr. 3 & 4, Pablo Heras-Casado, Freburger Barockorchester, Harmonia Mundi HMC 902154

Franz Schubert, Symphonie Nr. 3 & 4, Pablo Heras-Casado, Freburger Barockorchester, Harmonia Mundi HMC 902154

Das könnte sich ändern: Schuberts frühe Symphonien sind in letzter Zeit mehrfach neu und aufregend frisch eingespielt worden – und eine der besten Platten neuen Datums ist die Aufnahme der Dritten und der Vierten mit dem Freiburger Barockorchester unter Pablo Heras-Casado. Der spanische Dirigent, der sich bei Verdi ebenso zu Hause fühlt wie in der Barockmusik oder im 21. Jahrhundert, will nichts in diese Versuche des jugendlichen Komponisten hineingeheimnissen: Er bringt sie als frisch-pointierte Zeugnisse der Zeit. Die Dritte ist im Frühsommer 1815 entstanden, die Vierte im April 1816, beide für ein Orchester aus Liebhabern und Profis, das im privaten Rahmen spielte.

Haydn grüßt, Mozart hopst

So hört man in der „Adagio maestoso“-Einleitung der D-Dur-Symphonie (D 200) den erhabenen Stil von Schuberts Lehrer Antonio Salieri; das lebhafte Brio des Allegro könnte aus einer komischen Oper der Zeit stammen. Haydn grüßt von seinem Schreibtisch, wie er an einer seiner Ideen tüftelt; Mozart hopst mit tanzfreudigem Rhythmus und federnden Bläsern um die Ecke. Schließlich grüßen auch schon die Rouladen und Crescendi, mit denen Gioacchino Rossini die Wiener in einen süchtig machenden Taumel versetzte.

All diese musikalischen Zeitaspekte, die Schubert auf versierte und zum Teil schon sehr eigenwillige Weise verarbeitete, macht Heras-Casado mit dem phänomenalen Freiburger Barockorchester hörbar: mit vibrierender Energie zumal in den Vivace- und Presto-Sätzen, mit eleganter Leichtigkeit der Bläser, mit energischen, aber nicht überdrehten Tempi, mit exakter Artikulation, mit Pfiff im Rhythmus und mit klaren, schroffen Akzenten, Sforzato-Einwürfen oder vehement-kantigem Pauken-Donner. Eine tragfähige, aus dem Geist einer undogmatischen, „historisch informierten“ Aufführungspraxis belebte Alternative zur legendären Aufnahme von Schuberts Dritter (und Achter) unter Carlos Kleiber.

Pablo Heras-Casado war 2011 anlässlich seines Debüts bei den Essener Philharmonikern sogar als Nachfolger für Stefan Soltesz im Gespräch. Seine Karriere weist weiter steil nach oben: Am 2. April hatte er sein Debüt beim New York Philharmonic Orchestra; im März leitete er erstmals das Philharmonia Orchestra London. Erst am 16. März war er mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra zu Gast in der Essener Philharmonie. 2014/15 wird Heras-Casado an der Met Bizets „Carmen“ dirigieren; im Juli steht er beim Festival von Aix-en-Provence bei Mozarts „Zauberflöte“ am Pult.

In der Region gastiert Heras-Casado im Rahmen seiner Tournee mit dem Freiburger Barockorchester am 13. April in der Kölner Philharmonie. Auf dem Programm stehen die drei Konzerte für Klavier, Violine und Cello von Robert Schumann.

Franz Schubert, Symphonies Nos. 3 & 4, Freiburger Barockorchester, Pablo Heras-Casado, Harmonia Mundi, HMC 902154




Szenische Ernüchterung: „Der Traum ein Leben“ von Walter Braunfels an der Oper Bonn

Nilpferd und Nashorn: Der "Führer" (als Rustan: Endrik Wottrich) traf des "Feindes Macht" und kehrt als "Sieger" heim. Foto: Barbara Aumüller

Nilpferd und Nashorn: Der „Führer“ (als Rustan: Endrik Wottrich) traf des „Feindes Macht“ und kehrt als „Sieger“ heim. Foto: Barbara Aumüller

Wenn der Traum das Leben ist, dann ist dieses Leben ein Alptraum. Walter Braunfels hat sich, im nationalsozialistischen Deutschland aus allen Ämtern entlassen, in der inneren Emigration Franz Grillparzers Märchen „Der Traum ein Leben“ als Opernstoff gewählt und zwischen 1934 und 1937 komponiert. Die romantische Vorlage wird zu einer Parabel über Macht, Moral und Märchenwelten.

Dem jungen Rustan ist die häusliche Idylle mit ihrem Gleichmaß des Tage „schal und jämmerlich“; er fühlt sich zu Größerem berufen. Doch der Traum von großen Rettungstaten und einer verliebten Prinzessin wächst sich zum Alptraum aus: Macht und Ruhm gewinnt sich durch Lüge und Mord. Und Braunfels steigert das Unheimliche in seinem eigenen Libretto noch, indem er die Vorlage Grillparzers zuspitzt: Ist es dort die typisch romantische Polarität einer biederen Existenz mit einer mehrdimensionalen, faszinierenden wie unheimlichen zweiten Realität, dringt bei Braunfels der „Traum“ lebensgefährlich zugespitzt in die Lebenswirklichkeit ein.

Es ist sicher nicht zu weit gegriffen, die Oper auch im Licht von Braunfels‘ Lebenssituation zu lesen: Etwa wenn Rustans Diener Zanga, der sich als Verführer und Träger des Bösen entpuppt, in einem wilden Lied Sieg und Krieg verherrlicht. Aber auch, wenn Braunfels im Nachspiel die Genien räsonieren lässt: „Schatten sind des Lebens Güter … Die Gedanken nur sind wahr.“ Der Komponist hat es erfahren müssen: 1937 zog er sich mit seiner Familie nach Überlingen am Bodensee zurück, wo er bis Kriegsende „still und abseits“ überlebt hat.

Bei der Neuinszenierung an der Oper Bonn – erst die zweite nach der szenischen Erstaufführung 2001 in Regensburg – vermied Regisseur Jürgen R. Weber die triviale Lösung einer Nazi-Schmonzette. Er setzt auf Märchenhaftes, behutsam verbunden mit Ironie: „Regie – Theater – Vorfreude“ lesen wir über der Bühne noch vor den ersten Klängen aus dem Orchestergraben. Und schauen auf die gezimmerte Tragkonstruktion einer Kulisse, in der Bühnenbildner Hank Irwin Kittel ein Zeit-Tor offen gelassen hat: Ein von steinernem Barock flankierte Portal, darüber eine Uhr und schlafende allegorische Stuckfiguren. Durch diese Öffnung fährt später Rustans Bett ins Reich der Träume. Doch zunächst malt im Vorspiel die verliebte Mirza Blümchen an die Wand, ihr Vater Massud bestreicht einen Türrahmen mit grünen Linien, aus denen sich ein Häuschen formt: Bilder der familiär geordneten kleinen Welt, der unser Held so gern entfliehen würde.

Buntes Märchenland, verspielte Kostüme in "Der Traum ein Leben" von Walter Braunfels an der Oper Bonn. Foto: Barbara Aumüller

Buntes Märchenland, verspielte Kostüme in „Der Traum ein Leben“ von Walter Braunfels an der Oper Bonn. Foto: Barbara Aumüller

So weit, so gut. Doch als sich die Bühne für den Traum öffnet, stellt sich schnell szenische Ernüchterung ein. Denn Kittel hat ein Märchenland gebastelt, das weder schrill grotesk noch wahnhaft unheimlich wirkt. Geometrische Strukturen im Hintergrund, die Kontur einer Pyramide, ein aufgerissenes Dämonenmaul, ein paar läppische Videoprojektionen (Marjana Locic) und bunt verspielte Kostüme (Kristopher Kempf) setzen auf einem Niveau an, auf dem einst provinzielle Bühnen ihr weihnachtliches Hänsel-und-Gretel-Pflichtstück abzuliefern pflegten. So bewegt sich auch der Chor, hübsch auf Stichwort, ohne szenisch-psychologische Stringenz.

Wenn dann die Prinzessin Gülnare umspielt von weißen Luftballons einschwebt, der König würdevoll umherstolziert, die Familie des stummen Verbrechenszeugen Kaleb wie Orientalen aus einer miesen „Pilger von Mekka“-Inszenierung umhertrippeln, hat sich Weber endgültig davon verabschiedet, mehr als ein vordergründiges Geschichtchen erzählen zu wollen. Auch die Drei-Wort-Kommentare, die als wohl ironisierender running gag weiter aufs Bühnenportal geworfen werden, retten nichts mehr.

Rosa Herzchen zum Finale: Endrik Wottrich (Rustan) und Manuela Uhl (Mirza). Foto: Barbara Aumüller

Rosa Herzchen zum Finale: Endrik Wottrich (Rustan) und Manuela Uhl (Mirza). Foto: Barbara Aumüller

Wer bei einem solch komplexen Gefüge keine andere Bedeutungsebene als die des simplen Erzählstrangs einzuziehen weiß, verfehlt, was er vielleicht erreichen wollte: Eine Geschichte verstehbar zu machen, die sich in ihrer Hintergründigkeit nicht ohne weiteres erschließt.

Das Nachspiel rückt das Geschehen dann ins Peinliche: Mirza und Rustan haben sich endlich gefunden, weil der Junge in seinem Schrecktraum kapiert hat, dass er brav zu Hause sein Glück findet: Beide malen ein rosa Herzchen an die Wand. Eine Moral, die weder im Sinne Grillparzers noch in der Intention Braunfels‘ liegt. Aber vielleicht darf man ja auch hinter dieser sinnigen Bühnenaktion „Ironie“ vermuten?

Die knapp drei langen Stunden wären noch quälend langsamer vergangen, wenn nicht Will Humburg und das Bonner Beethoven Orchester als engagierte Sachwalter für die Musik aufgetreten wären. Das ist nicht einfach, denn Braunfels verweigert sich fast durchweg dem Kantablen und auch der orchestralen Opulenz. Er setzt zwar leitmotivähnliche Elemente ein, hebt sie aber nicht im Wagnerschen Sinn als prägnante Erinnerungen heraus.

Der über weite Strecken rezitativische Stil, die rhetorische Unmittelbarkeit und eine subtil ausgeformte, nicht selten spröde Klanglichkeit machen es dem Dirigenten und den Musikern nicht leicht, die Aufmerksamkeit zu fesseln, zumal sich Humburg zurückhält, wo es darum ginge, Akzente zu schärfen oder dramatisch motivierte Klangmomente herauszustellen.

Kindermärchen-Orient: Graham Clark (Kaleb) und Johannes Mertes (Karkhan). Foto: Barbara Aumüller

Kindermärchen-Orient: Graham Clark (Kaleb) und Johannes Mertes (Karkhan). Foto: Barbara Aumüller

Im Ensemble der Sänger hinterlässt Manuela Uhl den besten Eindruck: Die Sängerin, die sich auf die schwierigen Partien in den Opern der Vor- und Zwischenkriegszeit versteht, macht aus dem verträumten Mädchen Mirza und der selbstbewusst agierenden Prinzessin Gülnare durch ihre gewandte Darstellung glaubhafte Figuren, bleibt ihnen auch stimmlich mit einem schlank-brillanten Ton nichts schuldig.

Von Endrik Wottrich als Rustan ist solches leider nicht zu sagen: Mit der rezitativischen Deklamation hat der Tenor keine Probleme, aber die Höhe im Freiheits-Jubel des ersten Aufzugs bleibt stumpf und gaumig. Wottrich legt die Rolle eher im Sinne eines virilen Tatmenschen an; der Aspekt des Träumers erschöpft sich in konventioneller Wahnsinns-Gestik. Rolf Broman ist als Massud/König wenig gefordert; auch Graham Clark, einst in Bayreuth und auf allen großen Bühnen als Charaktertenor gefeiert, bringt als stummer Kaleb nur ein paar Töne ein – dafür aber eine auratische Bühnenpräsenz.

Mit deutlichem Registerbruch bewirbt Anjara I. Bartz als zombiehaftes Altes Weib ihren „schaumigen Saft“, mit dem Rustan den greisen König von Samarkand ums Leben bringen wird. Mark Morouse bringt einen kernigen Bariton ein. An dieser Rolle zeigt sich exemplarisch die kraftlose Ambivalenz der Regie Webers: Morouses Zanga ist frei von den Klischees des Dämonischen. Doch wer er denn dann sei, wird in der Anlage der Rolle nicht klar, die sich eher an drolligen Dienerfiguren als an den zwielichtigen Geschöpfen unheimlicher Zwischenwelten orientiert.

So bleibt als Resümee: Das Theater Bonn hat sich unter seinem neuen Intendanten Bernhard Helmich trotz gekürzter Zuschüsse und einer niederschmetternden kulturpolitischen Situation in der Stadt nicht nur mit dieser mutigen Produktion (der mit Massenets „Thais“ am 18. Mai die nächste Rarität folgt) vorteilhaft positioniert. Mit einer profilierteren Regie wäre dem Experiment sicherlich mehr Erfolg beschieden gewesen.




Tod an der Front: Kunsthalle Bielefeld erinnert an Weltkriegsopfer Hermann Stenner

Hermann Stenner: Skizze zu einem Selbstbildnis, 1912. Sammlung Bunte. Foto: Kunsthalle Bielefeld

Hermann Stenner: Skizze zu einem Selbstbildnis, 1912. Sammlung Bunte. Foto: Kunsthalle Bielefeld

Er wurde gerade einmal 23 Jahre alt: Der gebürtige Bielefelder Hermann Stenner starb im Dezember 1914 an der Ostfront. Ein Opfer des Ersten Weltkriegs wie andere Künstler auch, etwa August Macke oder Franz Marc. Die Bielefelder Kunsthalle zeichnet nun in einer großen Ausstellung zum ersten Mal die nur fünfjährige Schaffenszeit Stenners nach. „Er wäre einer der besten Maler Deutschlands geworden“, schrieb sein Studienfreund Willi Baumeister noch 1950 rückblickend an die Familie.

Über 250 Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen und Grafiken stellen Stenners Arbeiten in den Kontext seiner Zeitgenossen. 47 Künstler, von Max Ackermann bis Josef Alfons Wirth, der ebenfalls 1916 dem Krieg zu Opfer fiel, umfasst die Ausstellungsliste. Darunter sind prominente Namen wie Max Liebermann, Emil Nolde, Christian Rohlfs oder Oskar Schlemmer, aber auch Stenners Schicksalsgefährten August Macke, Franz Nölken oder Hermann Stemmler.

Die rund 400 Exponate der Ausstellung mit dem Titel „Das Glück in der Kunst. Expressionismus und Abstraktion um 1914“ stammen aus der Sammlung des Bielefelders Hermann-Josef Bunte. Sie wird erstmals in großem Umfang öffentlich gezeigt. Der bis zur Emeritierung an der Universität der Bundeswehr Hamburg lehrende Rechtswissenschaftler hat seit 1974 mit dem Schwerpunkt auf dem Œuvre Stenners gesammelt. Buntes Sammlung ist inzwischen die größte im Privatbesitz zum Werk des früh verstorbenen Bielefelder Künstlers, der mehr als 1.700 Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen geschaffen hat.

Hermann Stenner: Kaffeegarten am Ammersee, 1911. Sammlung Bunte. Foto: Kunsthalle Bielefeld

Hermann Stenner: Kaffeegarten am Ammersee, 1911. Sammlung Bunte. Foto: Kunsthalle Bielefeld

Die Ausstellung „Das Glück in der Kunst. Expressionismus und Abstraktion um 1914“ ist in der Bielefelder Kunsthalle bis 3. August zu sehen. Ein umfangreicher Katalog enthält Texte von Herausgeberin Jutta Hülsewig-Johnen, Alexander Klee, Uwe M. Schneede und anderen Autoren. Die gebundene Ausgabe mit etwa 300 Seiten, angekündigt für April, erscheint im Kerber Verlag und kostet im Buchhandel 39,95 Euro.

Die Kunsthalle Bielefeld ist Dienstag bis Freitag und Sonntag von 11 bis 18 Uhr, Mittwoch von 11 bis 21 Uhr und Samstag von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Der Eintritt kostet 8, für Ermäßigungsberechtigte 4 Euro. Zur Ausstellung gibt es ein umfangreiches Rahmenprogramm, unter anderem einen Ausstellungsrundgang mit Hermann-Josef Bunte am 16. April, ein Kurzseminar über Hermann Stenner am 2. Mai, ein Konzert („BilderKlang“) am 5. Mai und eine Lesung aus Hermann Stenners Briefen am 11. Juni.

Info: www.kunsthalle-bielefeld.de




Kent Nagano und Kit Armstrong überraschen in Essen mit Berlioz und Liszt

Kent Nagano. Foto: Leda and St-Jacques/Sony Classical

Kent Nagano. Foto: Leda and St-Jacques/Sony Classical

Über dem Konzert stand nicht die glutvoll goldene Sonne Italiens, sondern das kühle blaue Licht des griechischen Gebirges. Kent Nagano und das Orchestre symphonique de Montréal durchleben in der Essener Philharmonie Hector Berlioz‘ „Symphonie fantastique“ nicht als fiebriges Passionsstück. Sie richten den Blick auf die Exaltationen, Leidenschaften und Schmerzen dieser ur-romantischen Komposition, als säßen sie auf den Rängen eines Amphitheaters, während unten eine Tragödie spielt. Eine erhabene Tragödie, kein heißblütiges Melodram.

Kent Nagano hat einen höchst präzisen, höchst reflektierten Zugang zu solchen Werken. Er ist kein „Bauch“-Musiker, der sich in die elegischen und grotesken, die hochfahrenden und depressiven Seiten hineinwirft, die Berlioz in fünf Sätzen aufblättert. Er betrachtet diese Seelen-Landschaft nicht, als habe sie Eugene Delacroix mit sattfarbigem Schwung auf die Leinwand geworfen, sondern als habe – sagen wir einmal – der Goethezeit-Maler Jakob Philipp Hackert eine ordentlich gegliederte, kühl beleuchtete Landschaft gemalt.

Oder, musikalisch gesprochen: Bei Nagano führt eher der lichte, erhabene Tonfall des von Berlioz hochverehrten Christoph Willibald Gluck Regie, nicht der brodelnde Hexenkessel eines Franz Liszt. Frisch und durchsichtig wirkt der Klang des Orchesters aus Montréal. Hier interessieren Entwicklungen, Dissoziationen von Klang und Form, Reibungen und Verschränkungen des Materials. Kochende Emotionen, Wahn und Rausch, Bizarres und Magisches treten unter diesem nahezu perfekt gestalteten Klanggewand nicht offen hervor: Es scheint, als verhülle ein kostbar-leicht gewebter Stoff ihre brutale Unmittelbarkeit.

Wer sich auf diesen distanzierten Zugang zu Berlioz einlässt, muss zunächst Askese üben: Das Idyllische und das Fiebrige im zweiten Satz haben keine Farbe. Der „Szene auf dem Lande“ fehlt der melancholisch träumende Duft, den eine spannungsreiche Agogik, das Spiel mit Pause, Fermate und melodischem Bogen erzeugt. In der psychedelischen Wahnwelt des Finalsatzes sind weder die klanglichen Extreme etwa von Klarinette und Fagott ausgereizt, noch spielt das – ausgezeichnet disponierte – Blech mal so richtig „dirty“.

Aber die Belohnung lässt auch nicht auf sich warten: Nagano weiß ja, was er tut, sein Tauschgeschäft zeitigt Früchte. Er führt konsequent weiter, was einst Lorin Maazel mit dem Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks schon einmal durchexerziert hat: Gegen alle Kritik an den formalen Dispositionen gibt er Berlioz vor dem Hintergrund Beethovens die Würde als Symphoniker zurück. Hier erklingt eben nicht romantische Stimmungsmusik, sondern trotz aller „idée fixe“ ein auch aus seiner Form heraus faszinierendes Werk. Und um diese Erkenntnis nicht durch den überwältigenden Effekt zu übertönen, übt Nagano überlegte Zurückhaltung. Die Münchner mochten ihn deswegen nicht – aber wer sagt, dass an der Isar das Urmaß musikalischen Denkens definiert wird?

Mit dem 21jährigen Kit Armstrong hat Nagano einen Partner für Franz Liszts Zweites Klavierkonzert gefunden, der es ihm in der Verweigerung des Naheliegenden gleich tut. Hei, wie könnten die Finger fliegen, wie könnte das Pathos prunken, wie könnte der mondäne Virtuose sein Publikum becircen! Nichts dergleichen bei dem sehr ernsten, einmal zu reif, dann wieder fast kindlich schüchtern wirkenden Armstrong: Wie absichtslos verwebt er die Arpeggien des Beginns aufs Delikateste mit dem Orchester.

Wie glücklich geben und nehmen sich die Musiker aus Montréal und der Solist die Motive und Stimmungen gegenseitig weiter. Wie geschmackvoll finden sich die kontrollierte Noblesse des Pianisten und der fein-sonore Ton des Solo-Cellos zu intimer Salonmusik zusammen. Hier wird eher über Liszt meditiert als Material lustvoll ausgestellt. Für jeden Freund saftigen Musizierens enttäuschend, wer aber subtile Zwischentöne und einen moderat-unkonventionellen Zugang liebt, wird reich beglückt. Auch in seiner Zugabe hält sich Kit Armstrong konsequent von virtuosem Auftrumpfen fern: eine zart sinnierende Liszt-Miniatur statt einer beifallheischenden Glanznummer.

Mit Claude Viviers „Orion“ bringt das Orchester einen Blick auf Kanadas zeitgenössische Musik mit: Der 1948 geborene Vivier studierte unter anderem in Köln bei Karlheinz Stockhausen, ließ sich von östlich-asiatischer Musik inspirieren und kam 1983 durch einen Mord in Paris ums Leben. Das knapp viertelstündige Werk, 1980 vom Montréaler Orchester unter seinem damaligen Chef Charles Dutoit uraufgeführt, setzt ausgiebig Schlagwerk ein, aber der Solo-Trompete ist vorbehalten, eine Melodie vorzustellen, die in sechs Abschnitten verarbeitet wird. Das klingt, wie es eben in den achtziger Jahren geklungen hat: tonal gezügelt, klangverliebt und in ahnungsvoller Ruhe meditierend. Ein Konzert, das in der Sicht auf Berlioz wie auf Liszt aufschlussreich ent-täuschte.




Von der Ruhr nach Wien: Karin Bergmann am Burgtheater, Tomáš Netopil an der Staatsoper

Das Wiener Burgtheater hat sich in den letzten Wochen über einen Mangel an Schlagzeilen nicht beklagen können – wohl aber über ihren Inhalt: ein weitreichender Finanzskandal, dubiose Praktiken in der Geschäftsführung, der Rausschmiss von Direktor Matthias Hartmann, das Bekanntwerden üppiger Zusatzgagen und Produktionskosten, drohende Steuernachzahlungen in Millionenhöhe, ebenso ein deftiges Minus in der Bilanz. Nun soll es eine Frau aus dem Revier richten: Karin Bergmann leitet das größte Ensembletheater der Welt interimistisch bis 2016. Die 60jährige, die sich selbst als „Theaternarr seit Jugendtagen“ beschreibt, stammt aus Recklinghausen. Zum ersten Mal steht mit Bergmann eine Frau an der Spitze des Burgtheaters.

Aus Recklinghausen nach Wien: Karin Bergmann. Foto: Reinhard Werner, Burgtheater

Aus Recklinghausen nach Wien: Karin Bergmann. Foto: Reinhard Werner, Burgtheater

Das Ensemble habe sie mit tosendem Applaus begrüßt, hieß es in der österreichischen Presse. An der Burg ist Bergmann keine Unbekannte: Sie kam schon 1986 mit Claus Peymann als Pressesprecherin ans Haus. 1993 holte sie Intendant Rudi Klausnitzer als Pressesprecherin und Direktionsmitglied an die Vereinigten Bühnen Wien, bis sie 1996 in den gleichen Funktionen zu Klaus Bachler an die Volksoper Wien wechselte.

Als Bachler 1999 an das Burgtheater berufen wurde, nahm er Karin Bergmann als stellvertretende Direktorin mit. 2008 übernahm er parallel zum Burgtheater die Münchner Staatsoper; Bergmann führte für ihn in Wien die Geschäfte und organisierte den Übergang zur Matthias Hartmann, bei dem sie als seine Stellvertreterin noch in der ersten Spielzeit 2009/10 blieb. Bergmanns Theaterlaufbahn hatte 1979 unter Peymann am Schauspielhaus Bochum begonnen.

Für die Interims-Direktorin geht es nun darum, das wirtschaftlich schlingernde Haus zu stabilisieren und die Spielzeit 2014/15 zu planen. Ob sie sich für die Zeit nach 2016 auf die Burgtheater-Direktion bewerben wird, ließ Bergmann im Interview noch offen.

Tomás Netopil dirigiert in Wien und Dresden. Foto: TUP

Tomás Netopil dirigiert in Wien und Dresden. Foto: TUP

Auch für Tomáš Netopil zeigen die Wegweiser nach Wien: Der Essener Generalmusikdirektor debütiert an der Wiener Staatsoper. Am 5., 10. und 13. September leitet er drei Aufführungen von Antonín Dvořáks „Rusalka“ mit Kristine Opolais als Rusalka und Piotr Beczala als Prinz. Auch die Dresdner Semperoper hat eine Neuproduktion mit Netopil am Pult angekündigt: Am 18. Oktober hat an der Elbe Leoš Janáčeks „Das schlaue Füchslein“ in einer Regie von Frank Hilbrich Premiere, bis 9. Dezember folgen sechs weitere Aufführungen.

Man wird sehen, ob Netopil die „Rusalka“ auch nach Essen bringen wird – in seine Linie slawischer Opern würde das Werk passen. Freilich war „Rusalka“ erst 2012 in Gelsenkirchen zu sehen: Aus dem breiten slawischen Repertoire gäbe es durchaus Werke, die seit Jahren nicht – oder noch nie – im Ruhrgebiet zu erleben waren.




Kein Wunsch bleibt offen: Essener Philharmoniker erkunden die „russische Seele“

Der Dirigent Kirill Karabits. Foto: Sussie Ahlburg

Der Dirigent Kirill Karabits. Foto: Sussie Ahlburg

Eines muss man dem neuen Essener Generalmusikdirektor Tomáš Netopil lassen: Die Programme der Sinfoniekonzerte sind abwechslungsreich geworden und verlassen sich nicht vornehmlich auf den – durch häufige Aufführung eher abgewetzten als aufpolierten – Glanz gängiger „Meisterwerke“. Statt beim Stichwort „Russische Seelenklänge“ wieder einmal bei Tschaikowsky herumzuschwelgen, bot das siebte Sinfoniekonzert der Philharmoniker mit Mussorgsky (in der Überformung durch Nikolai Rimski-Korsakow), Skrjabin und Rachmaninow wahrhafte Seelen-Musik aus der geistesgeschichtlich spannenden Epoche vor dem Ersten Weltkrieg.

„Seele“ also nicht gleichgesetzt mit Sentiment, sondern in ihren rätselvollen Tiefen erforscht durch Kompositionen, die dem Symbolismus der Literatur und Bildenden Kunst und der radikalen philosophischen Selbstbespiegelung eines Friedrich Nietzsche anverwandt sind. So geht Programm!

Insofern ist es auch konsequent, von Modest Mussorgskys „Eine Nacht auf dem kahlen Berge“ nicht die kühne, schroffe Urfassung zu spielen, sondern Rimski-Korsakows luxuriöse, aber auch glättende Version. Dennoch: Es bleiben genug exzessive Orchesterfarben, rhythmische Grotesken, grelle Entladungen, um die Essener Orchestermusiker ihr Können vorführen zu lassen. Der Dirigent des Abends, Kirill Karabits, gehört unter den vielen neuen Kapellmeistern, die in Essen für Abwechslung und Qualitätssicherung sorgen sollen, zu den erfreulicheren Gästen: Er bringt offenbar das Gespür und die Technik mit, Schärfe und Konturen, Farben und dynamische Steigerungen detailliert und dennoch im Überblick zu entfalten. Vom lauernden Pianissimo bis zur Eruption glutheißer Klang-Lava hat Karabits den opulenten Apparat im Griff.

Körperlich-erotische Musik

Das gilt auch für Alexander Skrjabins „Poème de l’extase“. Der kühne Eigenbrötler unter den russischen Komponisten wollte seine eher symbolistisch als programmatisch gedachte Vierte Symphonie nicht nur schöngeistig aufgefasst wissen. Anspannen, aufheizen, explosives Entladen: Skrjabin fasste das in eine vor hundert Jahren als extrem, verrückt und manchmal auch zu offensichtlich körperlich-erotisch eingeschätzte Musik. Noch heute reißt das musikalisch frei dem Klang und dem Rausch huldigende Werk von 1908 in den Strudel seiner Exaltation mit.

Karabits hat den Überblick über ein noch einmal gewachsenes Orchester-Rund zu wahren und macht schon mit den einleitenden heiklen Pianissimo-Strukturen klar, wie umsichtig er den Philharmoniker helfen würde, aufeinander zu hören und die Balance des fragilen Klangs zu finden. Und im Gegensatz zu Mikhail Pletnev, der Skrjabins berauschend-ekstatischen Sabbat im November 2012 in Essen dirigiert hat, findet Karabits die drängende dynamische Energie, um der Steigerungsdramaturgie des Werks gerecht zu werden. Dass sich die wirbelnde Unruhe und die fiebrige Poesie zwischendurch erschöpfen, die klangfarblichen Effekte verblassen, hat wohl weniger mit der konzentrierten Ausführung durch die Philharmoniker als mit dem Werk selbst zu tun: übersteigerte Reize stumpfen schnell ab.

Und um die Philharmoniker in der Schwelgerei des Klangs und das Konzert in der Kulmination des ideellen Konzepts zum Höhepunkt zu führen, steht am Ende Sergej Rachmaninows Chor-Sinfonie „Die Glocken“ (op. 35) – ein wegen seines gewaltigen Aufwands nicht eben häufig aufgeführtes Werk. Verpflichtet dem morbid-üppigen Luxus eines Zeitalters, das selbstbewusst allen musikalischen Möglichkeiten gebietet; affiziert von einem Symbolismus, der sich wohlig in die Schauer untergründiger Ahnungen kuschelt; aber auch verstört vom existenziellen Grauen eines Edgar Allan Poe, dessen gleichnamiges Gedicht die programmatische Basis der entfesselten Musik bildet. Die Glocken sind ja nicht nur Träger von Klang: Sie stehen für die Lebensstationen des Menschen und sie sind Mahner an verborgene, abgründige, jenseitige Sphären – man mag sie tiefenpsychologisch zu fassen versuchen oder religiös zu ergründen.

Muster an Präsenz und Präzision

Karabits sucht und findet die klanglichen Entsprechungen dieses geistigen Programms in impressionistischer Lyrik und in imperialem Auftrumpfen. Anders als Simon Rattle, der auf CD eine intellektuell durchdrungene, aber klanglich zur Dürre neigende Version vorgelegt hat, scheut der in Kiew ausgebildete Dirigent der Essener Aufführung den Klang als Träger des Ausdrucks nicht. Das ist kein Gegensatz zu Präzision im Detail: die gespenstischen Spiccati des Beginns gelingen ebenso wie ein unheimlich starrer Spieluhren-Rhythmus; instrumentale Details sind expressiv eingearbeitet wie etwa die gestopften Trompeten des zweiten Teils, die den Klangteppich der Streicher pianissimo mit dem Rauch des Unheimlichen verschleiern. Dass Rachmaninow eminent theatralische und atmosphärische Musik geschaffen hat, wird nicht geleugnet.

Und wieder einmal muss Alexander Eberle bescheinigt werden, zu einem großen Moment beigetragen zu haben: Seine Chöre, der Opernchor des Aalto-Theaters und der Philharmonische Chor Essen, sind ein Muster an Präsenz und Präzision: Erst in dem Summchor, der sich ortlos schwebend in den Klang mischt, dann im dynamischen Aufwachsen, das den Klang der Stimmen wie einen Riesenschatten über das Orchester legt.

Dass unter den Solisten die Tenorpartie zu leichtgewichtig besetzt wird, scheint sich zu einer Tradition zu versteifen: Alexey Sayapin kämpft gegen den – vom Dirigenten keineswegs zu kräftig entfalteten – Orchesterklang. Sandra Janušaité hat dieses Problem nicht, weil sie einen metallisch leuchtenden, kraftvoll vibrierenden Sopran einsetzt. Alexander Vassiliev muss seinen eher baritonal als „schwarz“ gefärbten Bass in die Höhe treiben – und schafft das ohne Anspannung. Klug konzipiert und künstlerisch gelungen – bei so einem Konzert bleibt kein Wunsch offen!




„Und in dem ‚Wie‘, da liegt der ganze Unterschied“: Camilla Nylund singt Richard Strauss in Essen

Camilla Nylund. Foto: Markus Hoffmann

Camilla Nylund. Foto: Markus Hoffmann

So etwas nennt sich Pech: Zum zweiten Mal musste Anja Harteros, „Residence“-Künstlerin der Philharmonie Essen, ein Konzert absagen. Eine hartnäckige Krankheit hat ihren Auftritt unmöglich gemacht. Als Einspringerin kam Camilla Nylund an die Ruhr – und die blonde Finnin als „Ersatz“ anzusprechen, wäre mehr als ungerecht.

Im Gegenteil: Häufiger als Harteros, die sich auf das italienische Fach und 2013 fast ausschließlich auf Verdi konzentriert hat, singt Nylund seit Jahren Strauss: Ariadne in Frankfurt, Salome und Feldmarschallin in Wien, Chrysothemis in Amsterdam, Daphne in Dresden. In der Region war Nylund 2010 in Köln im „Rosenkavalier“ zu erleben; demnächst singt sie Salome in Philadelphia und Arabella in Hamburg – unter Essens Ex-GMD Stefan Soltesz.

An ihn musste bei dem Konzert öfter denken, auch wer keine Nostalgie pflegt: Unter Friedrich Haider waren die Essener Philharmoniker ziemlich weit weg von den raffiniert polierten Klängen, die Soltesz bei Strauss zu modellieren pflegte. Schon in der Szene der Ariadne „Ach, wo war ich? … Es gibt ein Reich, wo alles rein ist…“ nahm Haider wenig Rücksicht auf die eher mit lyrischer Innigkeit als mit dramatischer Attacke agierende Sängerin, ließ sie mit expansiver Energie zudecken.

Das Orchesterzwischenspiel aus der leider auch im Strauss-Jahr 2014 nicht gespielten launigen Miniatur „Intermezzo“ mag in dem verschmolzenen Klangbild, das Haider pflegt, noch hingehen. Aber im Schlussmonolog der Gräfin aus „Capriccio“ gewinnt das Orchester kein Profil, erstickt die leuchtende Finesse der Instrumentation in dickem Schwall, treten die harmonischen Spannungen nicht hervor, die Strauss vor allem durch die Holzbläser erzeugen will. Und Camila Nylund scheint sich im Konversationston dieser Partie auch nicht wohl zu fühlen: die Artikulation ist unscharf, der Stimme fehlen die Farben, um dieses Selbstgespräch plausibel und beredt zu gestalten.

Auch nach der Pause bleibt’s eher wuchtig als elegant. Die „Rosenkavalier“-Walzer poltern lieber lerchenauisch aufgebläht als in silbriger Eleganz zu schweben. In den Finalszenen aus „Arabella“ bleiben die Holzbläser wieder unterbelichtet. Und unter den Ausschnitten aus Opern von Ermanno Wolf-Ferrari erreicht nur das Vorspiel zu den „Vier Grobianen“ diskrete Eleganz; die Suite aus der Oper „Der Schmuck der Madonna“ – die man auch gerne einmal auf der Bühne kennenlernen würde – war weniger in die glühende Schärfe des italienischen Verismo gekleidet als in einen breiig aufgetriebenen Klang.

Camilla Nylund präsentiert sich vor allem im Lyrischen als exquisite Strauss-Sängerin. Ihre Stimme gebietet nicht über die klangliche Expansion, die für dramatische Zuspitzung nötig wäre, aber sie hat eine leuchtende Mittellage, eine natürlich wirkende Noblesse im Ton und eine funkelnde Höhe. So singt Nylund eine beredte Feldmarschallin und eine jugendlich strahlende Arabella, der man abnimmt, dass ihre Liebe über alle spießigen Niederungen ihrer Umgebung erhaben ist.




Das Theater, das Trauma und der Tod: Das Aalto-Theater entdeckt Bellinis „La Straniera“

Fremd und unnahbar: Marlis Petersen ist "die Fremde" am Aalto-Theater Essen. Foto: Thilo Beu

Fremd und unnahbar: Marlis Petersen ist „die Fremde“ am Aalto-Theater Essen. Foto: Thilo Beu

Richard Wagner ist als Zwanzigjähriger „La Straniera“ begegnet. Das war 1833 am Stadttheater Würzburg, Bellinis Oper war knapp vier Jahre vorher uraufgeführt worden, also eine aufregende Novität. Wagner erinnerte sich viel später noch an diese Oper, 1878, als sie längst aus den Spielplänen verschwunden war: „Wirkliche Passion und Gefühl“ bescheinigt er Bellinis Werk, und bemerkt süffisant, dass die „Herren Brahms & Cie.“ nicht gelernt hätten, was er, Wagner, davon in seine Melodie aufgenommen habe.

Leider hat Wagners Wohlwollen für die wohl komplexeste romantische Oper Bellinis das Werk nicht retten können: „La Straniera“ bleibt bis heute, was ihr Titel bedeutet: „Die Fremde“. Hier und da in Italien oder beim Wexford Opera Festival in Irland hat man sich ihrer erbarmt. Doch Folgen für das Repertoire blieben aus. Und die Neuinszenierung im Juni 2013 in Zürich, angeregt und gesungen von Edita Gruberova, die jetzt ins Aalto-Theater in Essen übernommen wurde und 2015 ans Theater an der Wien weiterzieht, stand von Anfang an unter dem Generalverdacht, hier werde einer alternden Primadonna ein weiteres Belcanto-Vehikel zugestanden.

In Essen stand nicht die Preßburger Diva im Fokus. Das tut der Wahrnehmung des Werks gut: „La Straniera“ ist nämlich nicht anders auf seine Protagonistin zugeschnitten als etwa „Norma“ oder ein beliebiges anderes Werk der Epoche. Bellinis Oper ist sparsam, zuweilen asketisch orchestriert; aber was zu hören ist, atmet Finesse, bezaubert durch subtile Farben, schafft nervöse Spannung und verströmt das Fluidum poetischer Resignation, aber auch kämpferischen Aufbegehrens. Bellinis Raffinesse im Einsatz der schweifenden Tonarten, gepaart mit einer höchst bewusst eingesetzten Dramaturgie, verbindet sich mit seiner unkonventionellen Melodik. Sie hat schon die zeitgenössische Kritik begeistert oder verstört – und Nachfolger wie Hector Berlioz und Richard Wagner zu höchstem Lob animiert.

Bellinis Aufbrechen der geschlossenen Formen entspricht musikalisch der radikalen Romantik des Librettos. Felice Romani schafft im Einverständnis mit dem Komponisten die gewünschten „neuen und großartigen“ Szenen, geeignet zum „Weinen, Schaudern und Sterben“. Doch diese Romantik hat – und das interessiert uns heute – eine moderne Seite: „La Straniera“ spricht davon, wie unmöglich es sei, ein Leben linear und folgerichtig zu erzählen. Und vermittelt das Gefühl der Fremdheit in einer Welt, in der die eigene Passion, der eigene Lebensentwurf an unbezwingbaren Barrieren zerschellt. Eine Welt zum Tode: Bellini und Wagner sind sich so fremd nicht. Wovon anders spricht denn der „Tristan“?

Sehnsucht über den Tod hinaus: Alaide, die "Staniera" (Marlis Petersen), und Arturo (Alexey Sayapin) kommen nicht voneinander los. Foto: Thilo Beu

Sehnsucht über den Tod hinaus: Alaide, die „Staniera“ (Marlis Petersen), und Arturo (Alexey Sayapin) kommen nicht voneinander los. Foto: Thilo Beu

Christof Loy, gebürtiger Essener, der zum ersten Mal in seiner Heimatstadt eine Regie übernommen hat, entdeckt noch andere Aspekte: Zum Beispiel, dass die Handlung Elemente einer Krimi-Story in sich trägt. Die Fremde, Alaide, muss ihre Identität unter allen Umständen geheim halten: Sie ist die französische Königin, die wegen Bigamie aus der Öffentlichkeit verschwinden musste. Romani hat überraschende „coups“ geschickt platziert: ein vermeintlicher heimlicher Liebhaber entpuppt sich als der Bruder Alaides. Zwei vermeintlich Tote kehren zurück.

Am Ende wird die Identität der „Straniera“ effektvoll enthüllt. Das löst das die Verwicklung nicht, sondern spitzt sie unentrinnbar zu: Für Arturo, der auf die geheimnisvolle Frau aus dem Wald eine existenziell unbedingte, alternativlose Liebe projiziert, ist die Geliebte künftig unerreichbar: Damit ist sein Tod durch eigene Hand erschütternd konsequent.

Einen so tragisch in seiner überhitzten Gefühlswelt verbrennenden Helden kennt die italienische Oper selten. Dieser Arturo ist im Rahmen des Geschehens ein glaubwürdiger Charakter: ein Werther des romantischen Melodramma zwischen egozentrierter Radikalität und Realitätsverlust. Alexey Sayapin gibt der Figur unter der kundig-einfühlsamen Hand Christof Loys darstellerische Kontur. Selbst seine monochrome, selten ganz frei schwingende Stimme passt zu diesem von einem einzigen inneren Gefühlsbrand verzehrten Menschen.

Ein Geschehen zwischen Realität und theatraler Imagination: So nähert sich Loy der Handlung, deren Kolportage-Bruchstücke und verweigerte Logik meist mit Begriffen wie „krude“ abgetan wird. Doch ein Alptraum, der sich monströs ins reale Leben wälzt, folgt keiner sauber ausgezirkelten Klassiker-Szenenfolge.

Das Bühnenbild von Annette Kurz macht Elemente des Theaters sichtbar: hölzerne Aufbauten, Hänger, Seilzüge. Die „romantischen“ Landschaften des Librettos sind als Bild-Zitate präsent; die Waldhöhle der „Fremden“ auf transparenten Schleiern ist zitierter romantischer Topos und Mittel der Verschleierung zugleich. Die Kostüme von Ursula Renzenbrink verharren in der Entstehungszeit der Oper, zitieren Figuren wie Braut und Brigant, machen nicht den Versuch, aus ihnen Menschen einer anderen Epoche zu machen: der Abstand des „Melodramma“ von unserer Gegenwart bleibt unangetastet.

Das Volk als bedrohliches kollektives Wesen: Wer fremd ist, wird ausgegrenzt und verfolgt. Foto: Thilo Beu

Das Volk als bedrohliches kollektives Wesen: Wer fremd ist, wird ausgegrenzt und verfolgt. Foto: Thilo Beu

Loy zeigt aber noch einen anderen, bedrohlichen Aspekt jenseits der romantisch exaltierten Personen des Stücks: Der Chor – von Alexander Eberle wieder vorzüglich einstudiert – agiert als bedrohliches kollektives Wesen: die Fremde im Wald wird beargwöhnt, ausgegrenzt, verdächtigt, verfolgt. Da wird die „Hexe“ auch schon mal als Puppe aufgeknüpft. Die Meute des Dorfes hat auch ihren Führer, den – mit leuchtender Klarheit singenden – Osburgo (Benjamin Bernheim), ein Aufhetzer, von dem eine direkte Linie zu Brittens „Peter Grimes“ zu ziehen wäre. Die „Fremde“ ist in der Konzeption Loys auch die „Andere“, die sich dem Anpassungs- und Erwartungsdruck der Gesellschaft nicht beugen will – und kann.

Während Christof Loy also – wieder einmal – eine durchdachte szenische Auseinandersetzung mit der romantischen italienischen Oper bietet, bleibt die musikalische Seite im Graben hinter diesem Niveau zurück. Josep Caballé Domenech, neuer GMD der Oper Halle, bringt die Essener Philharmoniker ungeachtet vieler solistischer Glanzpunkte nicht auf das Niveau, das Stefan Soltesz mit seiner sensationellen Deutung von Bellinis „I Puritani“ vor zehn Jahren erreicht hat. Das ist keine Frage des versierten Handwerks, sondern zum Beispiel eine der zu schematischen Agogik. Aber auch eine der Mischung von Farben, die bei der aquarellnahen Transparenz der Musik im Detail stimmen muss.

Ein großer Abend für Marlis Petersen als "La Straniera". Foto: Thilo Beu

Ein großer Abend für Marlis Petersen als „La Straniera“. Foto: Thilo Beu

Die „Straniera“-Premiere war ein großer Abend für Marlis Petersen. Ihr Sopran hat die fein melancholische Färbung, die der jugendlichen Frische einen resignativen Schleier überwirft: Im Gesang äußern sich Trauer und Qual einer gefangenen Seele. Aber die Sängerin kann auch voll Glanz und Energie den Abstand etwa zum zerbrechlichen Wahnsinn von Donizettis Frauen wie „Linda di Chamounix“ oder „Lucia di Lammermoor“ markieren. Petersen stehen erfüllte Phrasierungskunst und eine seelenvolle Geläufigkeit zu Gebot; nur die Höhe bildet sie mit Druck am Gaumen und verfärbt damit den Ton. Dennoch demonstriert die Sängerin, die unter anderem in Wien als Traviata und Medea und in New York als Ophélie in Thomas‘ „Hamlet“ brillierte, dass die Krise des Belcanto nicht durchgängig ist und es keiner „Diva“ bedarf, um eine Oper wie „La Straniera“ überzeugend zu besetzen.

Mehr Glück als Gram bereiten auch die anderen Sänger. Sie sind weit mehr als Stichworte gebende Comprimari: Luca Grassi als Valdeburgo versucht, seine Schwester zu schützen – auch vor der wahnwitzigen Leidenschaft seines Freundes Arturo – und wird so zu dessen Feind. Der Bariton singt mit kraftvollem, klar fokussiertem Ton, die geschmeidige Linie gehört nicht zu seinen Stärken. Ieva Prudnikovaite ist Isoletta – die Frau, mit der Arturo ein geregeltes Leben im gesellschaftlich anerkannten Rahmen führen soll, und die er mit seiner in sich selbst verkrümmten Liebesraserei brüskiert und tief verletzt. Ihr fest gefügter Mezzo kontrastiert stimmlich treffend mit der ätherischen Kantilenen-Deklamation ihrer unbezwingbaren Rivalin. Mit „La Straniera“ ist dem Aalto-Theater eine der wichtigsten Premieren dieser Spielzeit nicht nur in der Rhein/Ruhr-Region gelungen; es wäre dringen zu wünschen, dass dieses komplexe, überraschende und für eine ganze Epoche exemplarische Werk nicht wieder achtlos beiseite gelegt wird.

www.aalto-musiktheater.de




Ohrenöffner: Lise de la Salle bei der „Piano Lecture“ in der Essener Philharmonie

Was für eine Frage! Was wohl der Traum Chopins vom Klavier gewesen sei? Der Musikjournalist Christoph Vratz stellte sie zu Beginn der „Piano Lecture“ in der Essener Philharmonie. Und Lise de la Salle, die noch kein Vierteljahrhundert auf ihren zierlichen Schultern trägt, zog sich recht geschickt aus der Affäre: Statt musikphilosophische Allgemeinplätze zu bemühen, schwenkte sie um auf praktische Fragen des Chopin-Spiels. Gerade einmal, dass sie Chopins „Préludes“ als „revolutionary“ bezeichnete.

Zum Glück konzentrierte sich dieser erste Teil des Sonntagvormittags in der Philharmonie dann rasch auf die aussagekräftigen Beispiele aus der Reihe der 24 Chopin’schen „Préludes“, von denen fraglich ist, ob sie als „Zyklus“ gedacht waren – denn gespielt hat sie der Komponist selbst nie als solchen. Es ging um die Eröffnung in C-Dur, die Lise de la Salle als „informal“ bezeichnete: als steige der Interpret mit einer absichtslosen Improvisando ins Spiel ein. Es ging um die berüchtigte Mazurka Nummer sieben, die Bellinis berückende Simplizität mit den Problemen eines empfindungsreichen Belcanto verbindet. Und es ging um den verstörenden Abschluss, jenes d-Moll-Appassionato, über das André Gide im Programheft zitiert wird: unerbittliche Verzweiflung.

Die „Lectures“ sind für die erfreulich zahlreichen Zuhörer im zur Hälfte gefüllten Parkett des Alfried Krupp Saales ein doppelter Gewinn: Sie kommen durch die Erläuterungen dem Werk näher und sie erleben die Künstler nicht alleine als Interpreten am Instrument. Das kundige Gespräch öffnet die Ohren und lässt bewusster erleben, was sich in der Musik ereignet.

Im Falle der Chopin-Préludes ist das faszinierend vielfältig: die atmende Dynamik etwa, die Lise de la Salle der Eröffnung mitgibt; der Kontrast zwischen dem Einsatz der linken Hand im meditativen Lento (Nr. 2) und der Rechten im lebendigen G-Dur der Nr. 3. Das frappierende Konstrukt von Nummer vier, bei dem die „Melodie“ nicht zu sich selbst kommt, sondern fragile Brücken-Fragmente zwischen sich harmonisch entwickelnden Akkorden bildet. Oder der Rausch des Allegro molto in D-Dur (Nr. 5), bei dem der melodische Bogen in einem sprühenden Wasserfall virtuosen Spielwerks vergeht.

Die junge französische Pianistin zeigt kundiges Einfühlen in die Tiefen dieser Miniaturen; ein Faible für Chopin, das sie bereits mit ihrer Einspielung der vier Balladen (2010) demonstriert hat. Dennoch schien der Vormittag in der Philharmonie nicht von ihrem glücklichsten Stern beschienen zu sein: Die Figurationen im Bass des ersten Préludes blieben mulmig, im gis-Moll-Presto (Nr. 12) fehlte der Rechten die Kontur. Aber dafür gestaltete sie die Begleitung des ausgeprägt melodischen Basses im h-Moll-Lento (Nr. 6) mit größtmöglicher Sensibilität, fand sie im E-Dur-Largo (Nr. 9) zu erhabener Größe, kleidete das viel strapazierte Des-Dur-Prélude Nr. 15 in pathosfreie Schlichtheit. Und demonstrierte mit markantem Zugriff und famosem Gespür für die Linie, wo Chopin-Nachfolger wie Liszt und Debussy – von dem eine Zugabe erklang – anknüpften.

In der nächsten „Piano Lecture“ am Sonntag, 16. März, 11 Uhr, spricht Christian Zacharias über die Frage, warum Schubert eigentlich wie Schubert klingt, und spielt die Schubert-Sonate B-Dur (D 960).




Zwischen historischem Spektakel und modischer Revue: Händel-Festspiele und Premieren auf deutschen Bühnen

Georg Friedrich Händel. Stich von William Bromley nach einem Gemälde von Thomas Hudson.

Georg Friedrich Händel. Stich von William Bromley nach einem Gemälde von Thomas Hudson.

Intriganten und Tyrannen, Liebende und Leidende, Herrscher und Heroen: Georg Friedrich Händels Opern bringen ein Personal auf die Bühne, das denkbar weit von unseren Alltagserfahrungen entfernt ist. Ihre hochfahrenden Affekte, ihre extremen Leidenschaften wirken in einem Zeitalter, das sich – zumindest vordergründig – leidenschaftslosem Pragmatismus verschreibt, seltsam überspannt, die Beziehungen und Verflechtungen zwischen den Personen schematisch und vorhersehbar. Händel hat 42 Opern und 14 Pasticci, Bearbeitungen und fragmentarische Bühnenwerke hinterlassen: Nach seinem Tode wurden sie nicht mehr aufgeführt. Heute ist das anders.

2014 werden – so listet es die Website www.operabase.com auf – weltweit in 38 Städten 48 Händel-Produktionen in 201 Aufführungen gezeigt. Damit rangiert Händel zwar hinter Musiktheater-Giganten wie Verdi, Wagner oder Puccini, steht aber nahe vor dem Anschluss an die statistische Spitzengruppe der weltweiten Opernaufführungen.

Spätestens seit den Feiern zu Händels 300. Geburtstag 1985 gibt es ein neues Interesse an den Opern und für die Szene geeigneten Oratorien der musikalischen Leitfigur aus Halle an der Saale. Sicher, Händel-Opern wurden seit Ende des 19. Jahrhunderts hin und wieder ausgegraben, ehrfürchtig bewundert von den Zeitgenossen wie wiederentdeckte Artefakte aus längst vergangener Zeit: kunstfertig, aber fern und fremd. Und es gab auch die Händel-Festspiele in Göttingen seit 1920 und Halle seit 1922. Aber sie waren der Initiative einzelner Enthusiasten entsprungen und begannen erst allmählich auf die Theaterlandschaft auszustrahlen.

Händel-Renaissancen gab es einige: Nationalsozialistische Kulturpolitiker wollten in ihm einen deutsch-nationalen Komponisten erkennen, die DDR entdeckte in ihm den Aufklärer und Erzieher – nachzulesen in den Ergebnissen einer Forschungsgruppe, die sich seit 2010 in Halle mit der „Händel-Rezeption in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts“ beschäftigt hat. Doch als fester Bestandteil des Repertoires abseits spezialisierter Festivals oder individueller Interessen sind Händel-Opern erst seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts anzusprechen.

Woran liegt das? Entdeckt eine Zeit, in der postmoderne Beliebigkeit, kühle Kalkulation und pragmatische Selbstoptimierung den einsamen, leistungsorientierten Alltag bestimmen, die maßlosen Emotionen der Händel’schen Opernhelden wieder? Haben wir ein Gespür für die Grenzen der menschlichen Selbstbestimmung zurückgewonnen – sichtbar etwa in der Debatte um Willensfreiheit versus genetische oder biochemische Determination? Erkennen wir in den Personen auf der Bühne, die im Netz ihrer Affekte und Passionen verstrickt ihre Freiheit einbüßen, die an den unsichtbaren Fäden eines undurchschaubaren Schicksals hängen, unsere eigene Existenz wieder: ausgeliefert an anonyme Großstrukturen, eingebunden in unbeherrschbare Systeme, kontrolliert von dunklen Netzwerken, unterworfen modernen Götzen, getrieben von Beautywahn und Bankenkrise?

Das neue Interesse für Händel hat wohl nicht nur mit musikalischer Entdeckerfreude rund um die historisch informierte Aufführungspraxis, sondern auch mit unserer Befindlichkeit zu tun – wie unscharf solche Kategorien auch sein mögen. Die postmoderne Spaßgesellschaft ließ sich in den neunziger Jahren in München ihren Händel genießerisch und lasziv-ironisch zurichten. Das ist vorbei. Die Suche nach überzeugenden szenischen Lösungen führt über den Rückgriff auf barocke Affektdarstellung in Gestik und Bewegung über existenzielle Zuspitzung durch das Hässliche, das Fragmentarische, die Collage von Raum und Virtualität, etwa durch Video und Licht, bis hin zur beziehungsreichen, ironisch aufgebrochenen Revue, wie sie Stefan Herheim mit „Serse“ („Xerxes“) in Berlin und Düsseldorf überaus erfolgreich vorgeführt hat.

Das Karlsruher Staatstheater. Foto: Häußner

Das Karlsruher Staatstheater. Foto: Häußner

Das historische Ausdrucksrepertoire für eine zeitgenössische Expressivität fruchtbar zu machen, ist ein Ziel der Opernpremiere bei den Karlsruhe Händel-Festspielen 2014: Regisseur Benjamin Lazar will die Sprache der Barockbühne ins Jetzt transferieren. Er strebt keine Imitation an, sondern schöpft aus alten Wurzeln, aber mit dem Blick des 21. Jahrhunderts. Adeline Caron und Alain Blancot schaffen ihm dafür Bühne und Kostüme für „Riccardo Primo“. Händels erste Oper mit einem englischen Helden – König Richard Löwenherz – wird ab 21. Februar als deutsche Erstaufführung im Rahmen der Hallischen Händel-Ausgabe im Staatstheater Karlsruhe erklingen – in einem Raum, der wie vor 300 Jahren von Hunderten von Kerzen erleuchtet wird. Der international beachtete Countertenor Franco Fagioli übernimmt die Titelrolle, die bei der Uraufführung 1727 der legendäre Altkastrat Senesino gesungen hat.

Ab 1. März bringen die – seit 1978 bestehenden – Karlsruher Händel-Festspiele ein Gastspiel des Mailänder Marionettentheaters Carlo Colla & Figli: „Rinaldo“ ist wie „Riccardo“ ein Sujet aus der Kreuzritterzeit und enthält einige der populärsten Arien, die Händel je geschrieben hat. Leider ist es den Karlsruher Festspielen nicht möglich, mit Wiederaufnahmen ein Festspiel-Repertoire aufzubauen oder gar die Opernproduktion ins Repertoire des Staatstheaters aufzunehmen. Grund sind finanzielle Kürzungen, die schon einige Jahre zurückliegen – und deren Revision dem Land Baden-Württemberg, immerhin eines der reichsten Bundesländer – gut anstünde.

Laurence Cummings, Künstlerischer Leiter der Göttinger Händel Festspiele. Foto: Händel Festspiele Göttingen

Laurence Cummings, Künstlerischer Leiter der Göttinger Händel Festspiele. Foto: Händel Festspiele Göttingen

Unter dem Thema „Herrschaftszeiten!“ widmen sich die Göttinger Händel Festspiele 2014 dem 300-jährigen Jubiläum der Personalunion zwischen Großbritannien und „Kurhannover“: Georg Ludwig bestieg als George I. 1714 den britischen Thron. Im Zentrum der Festspiele in Göttingen steht die kaum gespielte Oper „Faramondo“ über den legendären Stammvater der Merowinger Faramund, die in Deutschland zuletzt 1976 in Halle zu sehen war. Göttingen bringt das Werk in einer Inszenierung von Paul Curran; am Pult steht der Künstlerische Leiter der Festspiele, Laurence Cummings. Der Premiere am 31. Mai folgen bis 10.Juni fünf weitere Vorstellungen.

Zum Jubiläum präsentieren die Händel-Festspiele Halle und Göttingen einen gemeinsamen Zyklus von Kompositionen für die britischen Monarchen aus dem Haus Hannover. Gleichzeitig werden damit auch die populären Krönungshymnen Georg Friedrich Händels in einen musikalischen Kontext gesetzt, das Spektrum der Musik reicht von Psalmenvertonungen Henry Purcells bis zu einer konzertanten Sinfonie von Johann Christian Bach. So erklingen am 30. Mai in der Jacobikirche Göttingen die Musik zur Krönung Georges I. und am 7. Juni in der Stadthalle die Coronation Anthems für George II.

Für den Abend des Pfingstmontag, 9. Juni, kündigen die Festspiele eine Uraufführung an: Das „Oratorium auf das Absterben des Königs von Großbritannien Georg I.“ des Händel-Zeitgenossen Johann Mattheson steht im Mittelpunkt eines Gastkonzertes des Händelfestspielorchesters Halle. Das Werk blieb zu Matthesons Lebzeiten auf Wunsch der königlichen Familie unaufgeführt. Mit dem Werk eröffnet Halle bereits am 5. Juni in der Marktkirche seine Händel-Festspiele. In Halle steht ab 6. Juni die Oper „Arminio“ – als Erstaufführung nach der Hallischen Händel-Ausgabe – auf dem Programm. Nigel Lowery inszeniert, Bernhard Forck dirigiert.

Das Opernhaus in Halle. Foto:  Häußner

Das Opernhaus in Halle. Foto: Häußner

In Bad Lauchstädt, dem reizvollen Goethe-Theater vor den Toren Halles, lässt sich die Karlsruher Version von „Riccardo Primo“ mit einer Inszenierung in einem kleinen, den Opern Händels akustisch entgegenkommenden Raum vergleichen: Elmar Fulda setzt die Oper in Szene, die LauttenCompagney Berlin spielt unter Wolfgang Katschner. Es singen Teilnehmer des Weimarer Meisterkurses für Barockoper 2014 der Musikhochschule Franz Liszt, Weimar. Auch die Oper „Almira“. Händels Erstling, wird wieder aufgenommen: Als Höhepunkt der Festspiele 2013 gedacht, die aufgrund des Hochwassers abgesagt wurden, hatte sie im Herbst ihr Premiere am Opernhaus Halle. Dort erklingt sie am 11. Juni unter Leitung von Andreas Spering.

Und ein unterhaltsames Pasticcio aus Händels Feder – eine Zusammenstellung vorhandener Musikstücke zu einem neuen Inhalt – gibt es drei Mal in Bad Lauchstädt zu sehen: „Giove in Argo“ behandelt die amourösen Abenteuer des Göttervaters Jupiter. Das Barockensemble l’arte del mondo unter Leitung von Werner Ehrhardt bringt diese Rarität am 13., 14. und 15. Juni zu Gehör; die Inszenierung besorgt Kay Link.

Einige Schlaglichter auf das Händel-Repertoire der Opernhäuser zeigen, dass der Opernfreund inzwischen aus einer reichen Auswahl schöpfen  kann: beginnend in Aachen, wo am 6. April der Klassiker „Alcina“ Premiere hat, über Essen, wo ab 19. April in „Ariodante“ der Belcanto triumphiert, bis Hamburg, wo ab 25. Mai „Almira“ unter Alessandro de Marchi an den Ort ihrer Uraufführung (1705) zurückkehrt. In Magdeburg inszeniert am 15. März Arila Siegert eine Oper mit Lokalbezug: „Ottone“. Ihr Titelheld ist der mittelalterliche deutsche Kaiser Otto II., bearbeitet hat das Werk kein Geringerer als Georg Philipp Telemann. Und in Ulm hat am 8. Mai ein anderer Händel-Klassiker Premiere: „Serse“. 1924 in Göttingen wiederentdeckt, ist sie eine der meistgespielten Bühnenwerke Händels – nicht zuletzt wegen des Arioso „Ombra mai fú“, das als „Largo“ fernab seiner musikdramatischen Funktion ein Eigenleben als Wunschkonzert-Stück entwickelt hat.




Im Gespinst des Irrealen: Aribert Reimanns „Die Gespenstersonate“ an der Oper Frankfurt

Aribert Reimann, Die Gespenstersonate: Dietrich Volle (Hummel) und Anja Silja (Die Mumie). Foto: Wolfgang Runkel

Aribert Reimann, Die Gespenstersonate: Dietrich Volle (Hummel) und Anja Silja (Die Mumie). Foto: Wolfgang Runkel

Phantome in der Oper: In Frankfurt haben sie Fleisch und Bein, wenn auch nur Glasknochen und morbides Gewebe. Im Bockenheimer Depot wehen sie durch Aribert Reimanns „Gespenstersonate“.

Die Kammeroper, 1984 bei den Berliner Festwochen uraufgeführt, radikalisiert August Strindbergs gleichnamiges Drama mittels einer Musik ohne Grund und Boden: geisterhaft irrlichternde Motivfetzen, schwebende Flageoletts, nebulöse Streicher-Piani, unwirklich schwebende Cluster, dazwischen Fragmente handfest definierter Akkorde, genau umrissene, grelle Bläsereinwürfe, polyphoner Tumult. Und dann die faulige Süße des Harmoniums, ein Ton wie aus dem Geisterhaus im Disneyland.

Reimann setzt diese Mittel virtuos ein: die klanglichen Chiffren des Gespenstischen, des Unheimlichen, wie wir sie aus entsprechenden Filmen kennen. Die Kraft der ins Unendliche geweiteten tonalen und atonalen inneren musikalischen Bezüge. Die immer wieder bezwingende Ausdrucksdichte seiner Erfindung, wie sie von „Lear“ bis „Medea“ seine Opern zu Fixpunkten der Musiktheater-Geschichte der letzten vierzig Jahre macht.

Das Drama – vom Komponisten gemeinsam mit Uwe Schendel eingerichtet – ist ein merkwürdiger Zwitter, erinnert an die psychologisch aufgeladenen Sozialdramen, aber auch an den in Mystizismus und Okkultismus versinkenden späten Strindberg. Die Frankfurter Inszenierung von Walter Sutcliffe leugnet das nicht. Kaspar Glarners Bühne, ein Talboden zwischen den beiden Abhängen der einander gegenübergebauten Besuchertribünen, mimt im kalten Licht Joachim Kleins ständig Realismus – und bricht ihn immer wieder ins Absurde. Die Villa Direktor Hummels steht als fein detailliertes Gebäude da, entlarvt sich aber als abgründiges Modell eines von unwirklichen Gestalten bewohnten Hauses. Sessel und Möbel fahren auf und ab, werden aus dem Untergrund ausgespuckt und verschwinden im Irgendwo. Ein Schrank dient als Habitat, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt; bewohnt wird er von einer „Mumie“. E.T.A. Hoffmann ist amalgamiert mit Maurice Maeterlinck und Alice im Wonderland.

Tod im Hyazinthen-Gitter: Szene aus Reimanns "Die Gespenstersonate" an der Oper Frankfurt. Alexander Mayr als Student Arkenholz, Barbara Zechmeister als Fräulein. Foto: Wolfgang Runkel

Tod im Hyazinthen-Gitter: Szene aus Reimanns „Die Gespenstersonate“ an der Oper Frankfurt. Alexander Mayr als Student Arkenholz, Barbara Zechmeister als Fräulein. Foto: Wolfgang Runkel

Schein oder Sein: Die Frage bleibt unbeantwortbar. Das Libretto, eine obskure Geschichte aus gespenstischen Täuschungen, Schein-Realitäten, beziehungsreich verrätselten Erläuterungen, monströsem Trug und symbolistischem Raunen. Die Handlung, eine nicht nacherzählbare Verstrickung der Personen in eine mörderische Vergangenheit, in Unsagbares, Verdrängtes, Irreales, Pathologisches. Die Personen selbst, Untote, Vampire, Wiedergänger, halbreale Irrende zwischen Räumen und Zeiten.

Sutcliffe bemüht sich um größtmögliche Klarheit, ohne die klebrige Geheimnislast des Gespinstes wegaufklären zu wollen. Absurdes kommt daher, als sei es alltäglich real; banale Vorgänge werden weggesogen in eine unheimliche Sphäre des Irrealen. Als „Mumie“ etwa, im grauen Glanz brüchigen Kleidergespinstes, setzt Anja Silja ihre ganze Bühnenerfahrung ein, changiert zwischen dem erbarmungswürdigen psychischen Elend einer verlebten Frau, dem grotesken Irrsinn einer Greisin und der schrankenlosen Wahrhaftigkeit eines desillusionierten Lebensrückblicks.

Direktor Hummel, Intrigant, Mörder und Verdränger, erinnert bei dem auch stimmlich großartigen Dietrich Volle eher an die patriarchalischen Sozialstudien Strindbergs aus seiner naturalistischen Phase – mit einem Dreh ins Fantastische, der die unheimlichen Seiten der Figur noch verstärkt. Brian Galliford als Oberst gehört auch in diese Kategorie der Väter, deren wohlanständig gesetzte Fassade Abgründe verdeckt. Martin Georgi (Konsul) und Nina Tarandek (Dunkle Dame) lassen durch ihr überlegtes Spiel im Gespenster-Souper erfahren, dass sie nur noch als geisterhafter Nachhall einer einst gelebten Existenz durch den Raum des Spiels klingen.

Einen dämonischen Zug bringen die „dienstbaren Geister“ mit: Bengtsson, der wissende Bediente des Oberst, aalglatt gespielt und schmierig gesungen von Björn Bürger; Johansson, das unterwürfige Faktotum Hummels, von Hans Jürgen Schöpflin als undurchschaubare Gestalt angelegt; die Köchin, Stine Marie Fischer, die sich als unheilvolle Vampirin als Gegenprinzip zum Leben profiliert, das im „Hyazinthenzimmer“ zaghaft zu keimen versucht. Auch das Milchmädchen, angeblich einst Opfer Hummels, gehört in diese Reihe: Kristina Schüttö gibt es als zerbrechliches Zwischenwelt-Wesen.

Verlorene Zeichen der Hoffnung

Beziehungsreich das Bild des Hyazinthenzimmers im dritten Bild, eine weiße Gitterstruktur, halb Gefängnis, halb Zufluchtsort. Die Blumen, in der herkömmlichen Floral-Symbolik für Lebensfreude, Genuss und Zukunftsglück, stehen hier als verlorene Zeichen einer Hoffnung, die sich nicht erfüllt. Nicht für das Fräulein, wieder einmal brillant gestaltet von Barbara Zechmeister, das sich nicht aus dem unheilvollen Trug ihrer Existenz lösen kann, ohne sein Leben zu verlieren. Und auch nicht für den Studenten Arkenholz, dessen hybriden hohen Tönen – diese Grenzüberschreitungen der Stimme sind eine expressiv sein wollende Marotte Reimanns – Alexander Mayr sich mit verzweifelt gebildeten Falsett-Bemühungen zu stellen versucht. Der junge österreichische Tenor ist auf den Spuren der alten, vergessenen Technik der „voce faringea“, hat aber ohrenscheinlich ihr Geheimnis noch nicht entschlüsselt.

Das Kammerorchester aus achtzehn Solisten führt Karsten Januschke ebenso wie die Sänger sicher durch Reimanns Partitur-Irrgarten. Der atmosphärische Klang, das scheinbar improvisierend hingeworfene Detail, die präzise Reaktion auf eine bewusst „unnatürliche“ Phrasierung sind bei ihm in besten Händen. Reimanns „Gespenstersonate“ – in der Region bisher in Köln, Münster und Bonn erschienen – könnte in dem seltenen Genre eine Chance haben, sich auch dreißig Jahre nach der Uraufführung im Repertoire zu verankern – neben Philip Glass „Fall of the House of Usher“, Benjamin Brittens „The Turn of the Screw“ und den leider immer noch unterschätzten frühen Ausformungen der Geisteroper, Heinrich Marschners „Der Vampyr“ und „Hans Heiling“.




Neuer Domorganist in Essen – der jüngste in Deutschland

Neuer Domorganist in Essen: Sebastian Küchler-Blessing. Foto: Monika Lawrenz

Neuer Domorganist in Essen: Sebastian Küchler-Blessing. Foto: Monika Lawrenz

Sebastian Küchler-Blessing ist der jüngste Domorganist Deutschlands: Ab 1. Februar ist der 26jährige für die Orgelmusik an der Kathedralkirche des Ruhrbistums Essen verantwortlich. Der Preisträger mehrerer Orgelwettbewerbe ist Nachfolger von Jörg Schwab, der an das Münster in Freiburg wechselte. Küchler-Blessing spielt erstmals am Sonntag, 2. Februar, 10 Uhr, im Gottesdienst im Essener Dom.

Der junge Orgelvirtuose lernte mit fünf Jahren das Klavierspiel und feierte früh Erfolge beim Wettbewerb „Jugend musiziert“. Ab 2003 wurde er von Sontraud Speidel an der Karlsruher Musikhochschule unterrichtet und war Jungstudent bei Christoph Bossert und Edoardo Bellotti an der Musikhochschule Trossingen. Seit 2007 studierte er in Freiburg Kirchenmusik und Musiktheorie, zuletzt in der Solistenklasse von Martin Schmeding.

Der neue Domorganist gibt europaweit Konzerte und war auch schon in der Philharmonie Essen und im Konzerthaus Dortmund zu Gast. Die Dortmunder Mozart Gesellschaft förderte ihn 2012/13 als Stipendiat. 2012 war er mit dem Orchestra Mozart Bologna unter Claudio Abbado auf Tournee. Küchler-Blessing gewann unter anderem den Mendelssohn-Preis, den ersten Preis der Internationalen Orgelwoche Nürnberg und den zweiten Preis beim Leipziger Bach-Wettbewerb 2012. Er ist auch Preisträger der Improvisationswettbewerbe Schwäbisch Gmünd und Herford. Im März 2014 erhält er den neugeschaffenen Arthur-Waser-Preis des Luzerner Sinfonieorchesters, eine der höchstdotierten Auszeichnungen der Schweizer Musikszene.




Etüden und Entlegenes: Klavier-Festival Ruhr 2014 mit überzeugenden Programmlinien

Klavier-Festival Ruhr, Leitmotiv 2014 (c) Norbert Hüttermann

Klavier-Festival Ruhr, Leitmotiv 2014 (c) Norbert Hüttermann

Der arme Karl Czerny. Er hat das Beste gewollt und sich für immer auf einen undankbaren Platz in der Musikgeschichte gebannt: Seine Etüden gelten als Schreckgespenst für jeden Klavierschüler, seine seriösen Kompositionen stehen im Schatten des bieder Bemühten. So gibt das Klavier-Festival Ruhr 2014 zwar der Etüde als Gattung einen besonderen Platz im Programm, aber der Etüden-Protagonist aus Wien kommt im Programm nicht vor.

Die ursprünglich als technische Übungsstücke gedachte Form der Klavierkomposition bildet nicht umsonst eine der fünf Programmlinien der Tastenfestspiele 2014. Sie hat sich – siehe Frédéric Chopin – im Lauf der Geschichte zu einer wichtigen Ausdrucksform gemausert. Und so dürfen sich die Besucher einiger der 64 Konzerte des Festivals auf Etüden des 20. Jahrhunderts freuen: Von Bartók über Liszt bis Szymanowski reicht die Liste.

Intensiv widmen sich Pierre-Laurent Aimard und Tamara Stefanovich dieser Gattung in ihren Konzerten: Aimard stellt am 2. Juni in Haus Fuhr in Werden Bartók, Chopin, Debussy und Skrjabin den Etüden von György Ligeti gegenüber. Und Stefanovich hat dort bei einem interdisziplinären Abend am 18. Juni unter anderem noch Liszt, Rachmaninow und den nicht häufig zu hörenden, in der Sowjetunion verfemten Nikolaj Roslawez im Programm. An diesem Abend klärt der Neurowissenschaftler Eckart Altenmüller darüber auf, was das Üben von Etüden so schwer macht, aber auch, welche Prozesse sie im Gehirn auslösen.

Sorgt für markante Programmlinien: Festival-Intendant Franz Xaver Ohnesorg. Foto: Peter Wieler

Sorgt für markante Programmlinien: Festival-Intendant Franz Xaver Ohnesorg. Foto: Peter Wieler

Die Programmlinien werden für Festivals immer wichtiger: Sie sichern individuelles Profil im Angebot von High-Class-Events, sie garantieren im günstigen Fall ein Alleinstellungsmerkmal. Auch das Klavier-Festival Ruhr – als eines von zwei großen weltweit – will darauf nicht verzichten.

Akzent auf Richard Strauss

Der Akzent auf den 150. Geburtstag von Richard Strauss wirkt auf den ersten Blick ungewöhnlich, denn diese prägende Gestalt des 20. Jahrhunderts ging nicht als Klavier-Komponist in die Geschichte ein. Dennoch: Strauss hat ein paar spannende Werke für Klavier geschrieben. Gerhard Oppitz widmet seinem bayerischen Landsmann am 14. Mai einen ganzen Abend in Düsseldorf, bei dem fünf Lieder, bearbeitet für Klavier solo, die frühe h-Moll-Sonate op.5 und das Melodram „Enoch Arden“ op.38 erklingen. Und Marc-André Hamelin stellt sich am 11. Juni in der Philharmonie Essen einer weiteren Strauss-Rarität: der Burleske für Klavier und Orchester.

Den Ausbruch des ersten Weltkriegs vor 100 Jahren hat Intendant Franz-Xaver Ohnesorg zum Anlass genommen, einen Schwerpunkt auf Werken für die linke Hand ins Programm zu nehmen. Jedem Kenner fällt dazu der Pianist Paul Wittgenstein ein, der in einem Gefecht seinen rechten Arm einbüßte, sich aber nicht geschlagen gab. Er hatte die Mittel, bei führenden Komponisten Werke für die linke Hand zu bestellen. Das bekannteste ist dasjenige von Maurice Ravel, zu hören beim Eröffnungskonzert in der Jahrhunderthalle Bochum am 9. Mai, gespielt von Nicholas Angelich. Er ist Meisterschüler von Leon Fleisher – und dieser Nestor der Pianisten ist mit Sergej Prokofjews viertem Klavierkonzert – ebenfalls für die linke Hand – mit von der Partie. Auch Fleisher war wegen einer neurologischen Erkrankung jahrelang auf das Spiel mit der linken Hand beschränkt. Am 10 Mai wird Fleisher in einem Gesprächskonzert in Essen von dieser Herausforderung berichten.

Eines der jungen Talente: Charlie Albright. Foto: KFR

Eines der jungen Talente: Charlie Albright. Foto: KFR

Vieles, was „mit links“ genommen werden muss, ist heute vergessen. So führt der Schwerpunkt des Klavier-Festivals auch dazu, entlegenes Repertoire wiederzuentdecken, etwa eine Suite für zwei Violinen, Cello und Klavier von Erich Wolfgang Korngold, und Solo-Werke von Skrjabin, Godowksy, Kapustin, Rosenthal oder Paul Wittgenstein, der Klavierwerke bearbeitete, um sie für sich spielbar zu machen. Der junge Pianist Charlie Albright, Stipendiat des Klavier-Festivals 2013, wagt sich am 4. Juli im Ibach-Haus in Schwelm an eigene Improvisationen für die linke Hand – und setzt so einen spannenden zeitgenössischen Akzent zu dem Thema.

„Beethoven-Gipfel“

Konventioneller wirkt dagegen der „Beethoven-Gipfel“: Die drei letzten Sonaten des Wiener „Titanen“, die stets mit der besonderen Aura eines quasi überzeitlichen Erbes umkleidet wurden, lassen sich in drei Konzerten in der Interpretation von drei führenden Pianisten vergleichen: am 3. Juni in der Stadthalle Wuppertal aus der Hand des Preisträgers des Klavier-Festivals Ruhr 2014, Krystian Zimerman, am 16. Juni in Düsseldorf, wo András Schiff auf einem Bechstein-Flügel aus dem Jahr 1921 spielt, den schon der große Wilhelm Backhaus genutzt hatte. Und am 30. Juni präsentiert in Mülheim ein Aufsteiger der letzten Jahre, Igor Levit, seine Sicht auf die Sonaten-Trias.

In der JazzLine: Till Brönner. Foto: Andreas H. Bitesnich

In der JazzLine: Till Brönner. Foto: Andreas H. Bitesnich

Manchmal vergessen wird die „JazzLine“ des Festivals, die auch das Programmbuch auf Seite 80 eher versteckt zusammenfasst: Acht Konzerte bieten die neun Festwochen des Klaviers, beginnend am 13. Mai in der Philharmonie Essen mit Chilly Gonzalez, der mit höchst individuell wohl nur unzureichend beschrieben ist, und endend am 12. Juli am gleichen Ort mit einem Jazz-„Klassiker“: Till Brönner, der „his piano friends“ Jacob Karlzon und Antonio Faraó mitbringt. Erstmals mit Jazz bespielt wird am 28. Juni die Henrichshütte in Hattingen. Die „JazzLine“ ist auch als Abo zu buchen: für alle Fans des Genres ein attraktives Angebot.

Selbstverständlich ermöglicht das Klavier-Festival wie in jedem Jahr wieder die Begegnung mit berühmten Pianisten und einmal berühmt sein wollendem Nachwuchs. Daniel Barenboim, Evgeny Kissin, Grigory Sokolov und Martha Argerich gehören zu den Publikumsmagneten. Aber auch Elisabeth Leonskaja, Maria João Pires, Herbert Schuch, Rafał Blechacz und Marc-André Hamelin sind Künstler, deren Kommen viele Fans – und nicht nur die – begrüßen dürften.

Kommt am 11. Mai nach Essen: Anne-Sophie Mutter. Foto: Harald Hoffmann

Kommt am 11. Mai nach Essen: Anne-Sophie Mutter. Foto: Harald Hoffmann

Anne-Sophie Mutter, deren Absage vor zwei Jahren einigen Wirbel verursacht hat, kommt am 11. Mai nach Essen und bringt gleich zwei deutsche Erstaufführungen mit: die Solo-Sonate „La Follia“ von Krzysztof Penderecki und die Sonate Nr. 2 für Klavier und Violine von André Previn. Dass der verdienstvolle Pianist Graham Johnson die Sparte des Liedes gepachtet hat – und seit Jahren eher mittelmäßige Sänger mitbringt – ist schade. In diesem Jahr vergoldet er die Schar seiner Schützlinge in Schloss Herten mit Dame Felicity Lott, einer der renommierten Strauss-Sängerinnen der jüngeren Zeit. Auf Schloss Herten bindet sie am 29. und 30. Mai ein „Strauss-Bouquet“. Dennoch: Lied und Liedbegleitung sind ein Aspekt, den das Festival einmal eingehender beleuchten könnte.

Eine der verdienstvollsten Traditionen des Ruhr-Tastenzaubers sind die Debüts junger Klavierkünstler und Preisträger. In diesem Jahr darf sich ein kundiges Publikum, das sich nicht von „großen“ Namen blenden lässt, etwa auf Hye Jin Kim freuen. Die Preisträgerin bei mehreren Wettbewerben debütiert am 17. Mai in Haus Witten. Im Bottrop gastiert am 19. Mai Benjamin Grosvenor mit einem ungewöhnlichen Programm, etwa mit Werken von Mompou und Medtner, das sich eher auf poetischen Gehalt als auf extrovertierte Virtuosität stützt.

Einer der "Neuen": Cristian Budu. Foto: KFR

Einer der „Neuen“: Cristian Budu. Foto: KFR

In Moers präsentieren sich zwei junge Aufsteiger, Nuron Mukumi (25. Mai) und Aaron Pilsan (18. Juni). Und die „Besten der Besten“ stehen zum Teil noch gar nicht fest. Von 20. bis 22. Juni spielen Wettbewerbs-Preisträger in Dortmund und Schloss Horst in Gelsenkirchen, etwa der Gewinner des Clara-Haskil-Wettbewerbs 2013, Cristian Budu.

„Ein Jahr mit Ligeti“

Nicht zuletzt sind es neben den ausgefeilten Programmen auch die mit Liebe, Hingabe und Sachkenntnis realisierten Education-Programme des Klavier-Festivals, die seine Leuchtturm-Funktion über die Region hinaus begründen: Dass ein international renommierter Pianist wie Pierre-Laurent Aimard bei einem altersübergreifenden Projekt für Schüler, Studenten und Erwachsene mitwirkt, ist schon eine Auszeichnung. Dass die Aktivitäten unter dem Thema „Ein Jahr mit Ligeti“ stehen, zeugt von Mut. Ein schöner Beweis, dass die jahrelange, hingebungsvolle Arbeit des Education-Teams um Tobias Bleek reiche Früchte trägt. Bei Karl Czerny jedenfalls muss keiner der Glücklichen stehenbleiben, die in den Genuss der Programme kommen!

Info/Tickets: www.klavierfestival.de