Operetten-Spürsinn in Gießen: Amerikaner aus Westfalen schreibt „Tanz auf dem Pulverfass“

Der Mann war Westfale und stammte aus Herford. Sein Glück machte er aber – wie manch anderer – als Auswanderer in Amerika: Gustav Adolph Kerker, 1857 geboren, 1923 in New York gestorben, war ein Komponist der leichten Muse.

Investiert viel Sorgfalt in die Operette: der Dirigent Florian Ziemen.Foto: Rolf K. Wegst

Investiert viel Sorgfalt in die Operette: der Dirigent Florian Ziemen.Foto: Rolf K. Wegst

Gewichtige Fachbücher widmen ihm höchstens wenige Zeilen; seinen Zeitgenossen war er als Dirigent am Broadway, vor allem aber als Komponist, wohlbekannt. Sein Ruhm schwappte sogar über den Teich in die alte Heimat: Das Metropol-Theater Berlin bestellte bei ihm eine „amerikanische“ Tanzoperette, die 1909 unter dem Titel „Die oberen Zehntausend“ mit beträchtlichem Erfolg uraufgeführt wurde.

Aber nicht in Nordrhein-Westfalen erinnerte man sich an den als Zehnjähriger ausgewanderten Landsmann von damals: Das Stadttheater Gießen, bekannt für eine konsequente Politik origineller Ausgrabungen, setzte Kerkers Operette auf seinen Spielplan und gab ihr den – aus einem Songtext des Librettos von Julius Freund entlehnten – Titel „Tanz auf dem Pulverfass“.

Und siehe da: Was vor gut hundert Jahren als „gänzlich harmlose“ Groteske das wilhelminische Publikum Berlins höchlich amüsierte, was spätestens ab 1914 nicht mehr zu zeigen war, was der Biederkeit und Sentimentalität des Genres zwischen der Nazizeit und dem langsamen Siechtum der Operette ab den siebziger Jahren nicht anzupassen war, das wirkt heute frisch und aktuell – fast als sei es für unsere Zeit geschrieben:

„Wir tanzen auf einem Pulverfass, und grad‘ das, grade das, grade das macht Spaß. Man tanzt, und wenn schon die Lunte brennt. Man tanzt, man tanzt bis zum letzten Moment.“

Diese Mischung aus lästerlicher Chuzpe, sorglosem Zynismus und frivoler Unbekümmertheit trifft unsere neoliberale Zocker-Gesellschaft recht gut. Was sich da in dem Stück von 1909 tummelt, ist beileibe kein liebenswert überdrehtes, lustiges Völkchen, sondern eine Horde von Egomanen, Betrügern und Hasardeuren. Der größtmögliche Widerspruch zur Operette sentimentaler Prägung: „Liebe“ gibt es in diesem Stück nicht, höchstens Gier. Und alles, was attraktiv ist oder sein will, muss zumindest den Geruch des Geldes verströmen.

Goldene Schweinchen und rotes Herz: Kitsch gehört zur Selbst-Inszenierung des Kapitalismus. Foto: Rolf K. Wegst

Goldene Schweinchen und rotes Herz: Kitsch gehört zur Selbst-Inszenierung des Kapitalismus. Foto: Rolf K. Wegst

Gewinnen wird, wer am gerissensten die Verhältnisse ausnutzen und seine Mitmenschen täuschen kann. Im Gießener Falle ist das ein smarter junger Typ im goldenen Anzug: Millionärssohn James Boche (Tomi Wendt), der sein Insider-Wissen ohne Skrupel ausreizt. Die es trifft – die Millionäre Kahn-Stross und Théophile Boche, seinen Vater (Thomas Stückemann und Dan Chamandy) – sind um keinen Deut besser, nur eben etwas dümmer und nicht durchtrieben bis zu allerletzten Konsequenz: Jeder Anflug von Vertrauen oder Gefühl ist in diesen Konstellationen ein Fehler.

Ein monströses Weltbild, das Kerker mit federleichter Hand in rasch fassliche, eingängige Melodik und in Tanzrhythmen seiner Zeit fasst. Die Groteske triumphiert und das Absurde ist Urgroßvaters Operette so nahe wie unserem Zeitgeist. Hätte Roman Hovenbitzer der boshaften Satire vertraut, hätte der Abend unter die Haut gehen können. Aber dass der Regisseur die Figuren im günstigsten Falle flott über die Bühne tollen lässt und mögliche Studien der Charakterlosigkeit an vordergründige Späßchen verschenkt, nimmt dem Stück Brisanz. Zumal Choreograf Stefan Haufe eine Bewegungs-Klamotte an die andere reiht.

Da helfen dann auch die aktuellen Bezüge des Bühnenbilds von Hank Irwin Kittel nur wenig: die goldenen Sterne aus der Euro-Leuchtskulptur Ottmar Hörls in Frankfurt, der grüngeädert schwarze Marmor aus Lehman’s Bankfoyer, die Heuschrecken-Kostüme des Balletts und der hinzuerfundenen Conferencière Madame Criquet, die von der Schauspielerin Marie-Louise Gutteck mit dem heute üblichen Genäsel und Geschrei gegeben wird. Ein witziger Seitenhieb auf die Folgen der „Krise“ für die Kultur: Die Musiker schlüpfen in die Rolle eines billigen östlichen Reise-Orchesters, um dessen Qualität und Bezahlung es Streit gibt.

Das Ende ist jammervoll: Die Herren müssen ihre goldenen Bäuche abgeben, es winkt ein tristes Kleinbürgerleben. Wie so oft in Operetten ist der dritte Akt schwach: Wirklich neue Musik kommt nicht mehr vor, der Effekt der Handlung hält sich in Grenzen. Hier hätte es die straffende und belebende Hand des Regisseurs gebraucht.

Geschliffene Rhythmen, geschmeidige Melodik

Dass die musikalischen Petitessen Kerkers so richtig Spaß machen, ist vor allem dem Dirigenten Florian Ziemen zu verdanken. Er treibt dem Gießener Orchester die opernhafte Seriosität aus, was nicht ganz ohne Schrammen gelingt, animiert zu schlank geschnittenen Rhythmen und zu geschmeidiger Melodik, zu sprechenden Instrumentaleffekten und zu tänzerischer Verve. Kerker zieht in seiner Musik alle Register: die frech-kurzatmige Phrasierung eines Jacques Offenbach, die sinnbefreite Parlando-Virtuosität eines Arthur Sullivan, aber auch die eleganten melodisch-rhythmischen Reminiszenzen an die gute alte Wienerstadt und den schmissig-schnarrenden Ton der Märsche Paul Linckes. Und das Ganze gewürzt mit amerikanischer Tanzmusik.

Eine Melange, die jedem schmeckt, der eine simple Oberfläche nicht mit Oberflächlichkeit verwechselt. Ziemen hat die lockere und die präzise Hand für die funkelnden Halbedelsteine; er hatte sie bereits in Gießen mit Abrahams „Viktoria und ihr Husar“, in Bremen und Karlsruhe mit einem genial getroffenen Sound in Künnekes „Vetter aus Dingsda“ und jüngst in Berlin mit Kálmáns „Die Herzogin von Chicago“ bewiesen.

So viel Operetten-Spürsinn wünschte man sich öfter. Hin und wieder funktioniert’s – wie in der „Glücklichen Reise“ in Wuppertal in der vergangenen Spielzeit, in Krefeld/Mönchengladbach mit den „Lustigen Nibelungen“ von Oscar Straus oder in Gera mit „Du bist ich“ („Toi c’est moi“), einer vergessenen französischen Operette des Kubaners Moїses Simons mit einer hinreißenden Musik und einem „well made play“ als Libretto. Nordrhein-Westfalen hat ein Dutzend Musiktheater: Wie wär’s denn, meine Herrschaften?




Klänge wie Opal und Alabaster: Orchester „Les Siècles“ und Renaud Capuçon in Essen

Das Orchester ist gerade mal zehn Jahre alt und in Deutschland noch nicht sehr bekannt: „Les Siècles“ nennt sich die 2003 gegründete französische Formation. Ihre Besonderheit: Die Musiker beherrschen historische Instrumente aus verschiedenen Epochen – und das, wie im jüngsten „Pro Arte“-Konzert in der Essener Philharmonie zu erleben war, mit beachtlicher Perfektion.

Der Kontrast zwischen „original“, „historisch informiert“ und „modern“ verschwimmt: Jean-Philippe Rameau erklingt auf Instrumenten des mittleren 18. Jahrhunderts; Georges Bizet auf solchen, die ein gutes Jahrhundert später in Gebrauch waren. Und über das Erlebnis der unterschiedlichen Klänge hinaus war der Abend dank des engagierten, mit Freude und Lust spielenden Orchesters ein Vergnügen der Extraklasse.

Seinen Anteil am Plaisir hatte nicht zuletzt der Geiger Renaud Capuçon. Ihn hört man in unseren Breiten seltener als seinen Bruder, den Cello spielenden Gautier. Die beiden haben zwischen 2002 und 2008 einiges, vor allem an Kammermusik, gemeinsam eingespielt; nach längerer Pause ist Ende 2013 wieder eine Platte mit den beiden Franzosen erschienen: mit dem ersten Cello- und dem dritten Violinkonzert von Camille Saint-Saëns.

Eben dieses h-Moll-Konzert bezauberte in der Philharmonie in Essen mit lyrischer Innerlichkeit im zweiten und einem nobel gezügelten Feuer im dritten Satz. Bei Capuçon strahlt der Ton nicht aggressiv oder direkt, sondern wie ein Licht, das durch Opalglas oder Alabaster gedämpft wird: eine diskrete Tongebung, die nie der Versuchung erliegt, weich oder sentimental zu schmachten. Wie das im Zusammenhang mit Saint-Saëns oft verwendete Attribut des „Parfüms“ wohl sowieso eher in die nationalistische Polemik des ausgehenden 19. Jahrhunderts als in den Katalog seriös beschreibender Begriffe gehört.

Transaparenz und klare Konturen

Viel Freude macht das harmonische Einverständnis zwischen dem Solisten und dem vorzüglichen Orchester „Les Siècles“. Dessen Gründer François-Xavier Roth stand am Pult und führte straff, aber nicht eilig, mit der idealen Balance zwischen kreativem Freiraum und disziplinierter Präzision. Der schlanke, vibratolose Klang der Streichinstrumente gleitet nie in die schrill gezogenen Töne ab, die bei besonders eifrigen „Originalklang“-Experten eine Zeit lang als der Weisheit letzter Schluss galten. Die Bläser können den ungleich farbenreicheren, geschmeidigen Klang der alten Instrumente vorteilhaft einsetzen, weil Roth auf Transparenz und klare Konturen achtet. Auch Hörner und Blechbläser fügen sich unaufdringlich in dieses Bild ein; nur die Pauken spielen mit ihren ruppigen Schlägen ihre – so auch im Klangbild vorgesehene – irritierende Rolle.

In Jean-Philippe Rameaus Suite aus der Oper „Castor et Pollux“ ist es eine Landsknechtstrommel, die nebst Flöten und Fagotten für den exotischen „Spartaner“-Klang sorgt. In der Suite mit Tänzen aus „Les Indes galantes“ dürfen die „Wilden“ mit knalligem Getrommel und der Pracht der Bläser auftreten. Kultivierter geht es bei André-Ernest-Modeste Grétry zu: Der Komponist aus Lüttich, der im vergangenen September seinen – kaum beachteten – 200. Todestag hatte, gab seiner Version der Geschichte von der Schönen und dem Biest unter dem Titel „Zémire et Azor“ hübsche Melodien und tänzerische Pikanterie mit. Langjährige Opernfreunde erinnern sich vielleicht noch an die Inszenierung des reizenden Werks 1991 in Bielefeld, das John Dew mit ironischem Touch als „Film noir“ ablaufen ließ. Der Abend in Essen klang aus mit einer Deutung von Georges Bizets C-Dur-Sinfonie, in der Roth und seine Musiker dem melodischen Reiz und dem rhythmischen Temperament des Frühwerks lustvoll Tribut zollten.

Das nächste Konzert der „Pro Arte“-Reihe in der Philharmonie Essen: Samstag, 15. Februar, mit der Königlichen Philharmonie Flandern unter Edo de Waart und Alexej Gorlach (Klavier). Beethovens drittes Klavierkonzert wird gefolgt von Anton Bruckners vierter Symphonie. Info: www.pro-arte-konzerte-essen.de




Verklärung im Diesseits: Riccardo Muti und das Chicago Symphony Orchestra in Essen

Riccardo Muti. Foto: Todd Rosenberg

Riccardo Muti. Foto: Todd Rosenberg

Es gehört zum halben Dutzend der amerikanischen Spitzenorchester, ist auf zahllosen Aufnahmen unter berühmten Dirigenten festgehalten und garantiert für eine technische Brillanz, die weltweit nur von wenigen Klangkörpern erreicht wird: Das Chicago Symphony Orchestra machte bei seiner Winter-Tournee Station in Essen. Die Philharmonie als einer von vier europäischen und einziger deutscher Auftrittsort: Das ist eine Auszeichnung.

Chefdirigent Riccardo Muti steht – wie 2007, beim letzten Besuch der Chicagoer Musiker – am Pult und rahmt das Konzert mit zwei Werken Giuseppe Verdis, einem der „Jubilare“ des Jahres 2013. Zur Eröffnung die Ballettmusik aus „Macbeth“, höllisch ausgelassene und dämonisch erhabene Musik, die leider in szenischen Aufführungen – auch am Aalto-Theater – so gut wie immer fehlt. Und die „Nabucco“-Ouvertüre als Zugabe: ein Zugstück, das Klangpracht und Präzision des amerikanischen Spitzenorchesters zur Geltung bringt.

Seine technische Klasse zeigt das bald 125 Jahre alte Orchester in Prokofjews „Romeo und Julia“-Suite: Violinfiguren aus einem Guss und mit hinreißendem Schwung, ein schmeichelndes Klarinettensolo, auratische Mixturen aus Harfe und sehnsuchtsvollem Saxofon. Der stählerne Marschrhythmus in den „Masken“ ist auf pure Überwältigung angelegt; die feinen Abstufungen von Piano und Pianissimo lassen den Atem anhalten. Mit praktischen Folgen: Husten-Alarm gab es diesmal im Alfried Krupp Saal nicht, dafür klimperten die Armreife manch eleganter Dame wie die Ketten der Gefangenen im „Nabucco“-Chor.

Riccardo Muti, 72 Jahre alt und inzwischen eine Dirigenten-Legende, agiert ohne Show, gibt dem Orchester viel Freiheit. Das ist nicht immer vorteilhaft. Der erste Trompeteneinsatz in der „Macbeth“-Ballettmusik geht um ein Haar schief, weil der Maestro zu hastig beginnt. Das erste Orchester-Crescendo will nicht klingen. Die unheimliche Posaunen-Hymne markiert den Höhepunkt, das Erscheinen der düsteren Göttin Hekate, ohne majestätische Düsternis, weil die Balance mit den Streicher-Begleitfiguren nicht passt. Den Sostenuti, die für die lauernde Leere nach dem Ende des Spuks stehen, fehlt das gläsern-fahle Zwielicht. Dem Hexenwalzer des dritten Teils gibt Muti dann allerdings die expressive rhythmische Markanz, die seine Verdi-Dirigate gemeinhin auszeichnet – nachhörbar auf vielen Plattenaufnahmen, unter anderem einem „Macbeth“ mit Fiorenza Cossotto in der Titelpartie.

Zum „Auftakt“ des Strauss-Jahres 2014 bringt das Orchester aus Chicago „Tod und Verklärung“ mit. Das Werk des 24jährigen ist geprägt von der Klangsinnlichkeit der Musik an der Schwelle des 20. Jahrhunderts, aber auch von der spätromantischen Sehnsucht nach dem Ausgriff in Sphären jenseits irdischer Begrenzung. Der Agnostiker Strauss hat diesen spätromantischen Impetus später trocken-ironisch wegerklärt mit dem Bedürfnis, ein Stück zu schaffen, das in c-Moll beginne und in C-Dur ende.

Das ist Strauss gelungen – und wie! Die Raffinesse klanglicher Entwicklungen ist kein Selbstzweck. Ihre tiefe symbolische Bedeutung ist mit dramatischer Unmittelbarkeit zu greifen – da braucht es auch nicht das später hinzuerdichtete „Programm“. So wundert es ein wenig, dass ein genuiner Opern-Dirigent wie Muti auf den szenografischen Aspekt so wenig Wert legt. Das Orchester findet die Streicher-Bläser-Balance nicht so, dass die Mischklänge expressive Konturen erhielten.

Zu Beginn freilich erblüht die Idylle in schönster, weiträumiger Phrasierung, auch nach dem ersten Einschnitt durch einen markanten Trommelschlag baden sich Oboe, Harfen und Violinen in süßen Harmonien, die später durch das tiefe Blech und die Bassklarinette in sanfter Wehmut umflort, aber nicht in herber Düsternis gebrochen werden. Der dünne Faden zwischen dem letzten machtvollen Eintritt des Todesmotivs und der anbrechenden Verklärung ist irdisch direkt gewoben, statt sich im Pianissimo zwischen den Sphären zu spinnen. Und das Aufwölben der Motive auf das abgeklärte C-Dur zum Schluss hin geht ohne Haltungswechsel einher. Der Auftakt des Strauss-Jahres 2014 bleibt diesseitig.




Ihre Karriere begann in Gelsenkirchen: Die Sängerin Marilyn Horne wird 80

„Die größte Sängerin der Welt“: Was wie eine maßlose Übertreibung klingt, hat der Gesangsexperte Jürgen Kesting in seinem Standardwerk über große Sänger als Überschrift für das Kapitel über Marilyn Horne gewählt. Stimmkenner sind sich einig: Die Amerikanerin, die am 16. Januar 2014 achtzig Jahre alt wird, bleibt auf dem Feld des Belcanto ungeschlagen. Begonnen hat die Karriere der warmherzigen Frau mit den strahlend blauen Augen vor 57 Jahren in Gelsenkirchen.

Im Juli 1957 reiste die 23-jährige, in Bradford, Pennsylvania, geborenen Marilyn Horne von Wien aus ins Ruhrgebiet. In eine Stadt, die geprägt war von Bergbau und Schwerindustrie, noch versehrt von Wunden des Krieges, doch schon beflügelt vom Wiederaufbau: Das neue Theater war in Planung. Noch spielte man in der Schauburg in Buer, im Hans-Sachs-Haus, an zahlreichen Abstecherorten.

Generalintendant Gustav Deharde hat die junge Unbekannte, die Igor Strawinsky nach Wien geholt hatte, als „Zwischenfachsängerin“ engagiert. Ihre erste Rolle war die Giulietta in Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“. Ende 1957 alternierte sie mit der damaligen Primadonna in Gelsenkirchen, Maria Helm, als Amelia in Verdis „Simon Boccanegra“.

Im gleichen Jahr noch realisierte Deharde ein ehrgeiziges Projekt: In Bühnenbildern des später weltberühmten Günther Schneider-Siemssen inszenierte er Puccinis „Mädchen aus dem goldenen Westen“, mit Marilyn Horne in der Hauptrolle der Minnie. Von der späteren Karriere als Koloratur-Mezzosopran war noch nichts zu ahnen. Mit Rossinis „Italienerin in Algier“, in jenen Jahren auf dem Spielplan in Gelsenkirchen, wurde die Amerikanerin nicht betraut. Horne selbst, ihren enormen Stimmumfang bis zum hohen C nutzend, verstand sich als Sopran.

In der folgenden Saison wurde die überregionale Kritik auf die Sängern aufmerksam: Zum Händel-Jahr 1959 gab es in Gelsenkirchen eine Ausgrabung, „Ezio“, mit Horne in der Rolle der Fulvia. Auch wenn sie, wie die „Westfälische Rundschau“ maliziös vermerkte, „figürlich nicht immer ganz die zarte Römerin geben konnte“, wurde ihre Darstellung durchweg gelobt: ein „Sopran von erstaunlichem Volumen und bestechendem Timbre“, eine „warm strömende und dramatisch aufleuchtende“ Stimme, die den figurierten Stil überzeugend traf.

Ähnlich lauteten die Kritiken auch, als Marilyn Horne Tatjana in Tschaikowskys „Eugen Onegin“ übernahm und 1960, schon in neuen Haus, die Mimí in Puccinis „La Bohème“ gestaltete. Der Kritiker der WAZ bescheinigte ihr eine großartige Leistung. „Sie besitzt edles Stimmmaterial, das sie souverän einzusetzen weiß. In den großen Arien erblüht ihre Stimme zu vollem Glanz.“

Ihre „Galeerenjahre“ in Gelsenkirchen schloss Horne mit einer Aufsehen erregenden Partie ab: Sie sang die Marie in Alban Bergs „Wozzeck“. Ihre Vitalität überraschte, ihre Stimme hielt auch dem schmetternden Orchester stand, kommentierte die „Buersche Zeitung“. Die WAZ bewunderte ihr Temperament und ihre traumwandlerische Sicherheit. Ein Kritiker dieser Zeitung, Günter Engler, bewunderte ihr Temperament: „Ein Weibsbild … prallvoll von Leben. Da springt wirklich der Funke über.“ Und die „Rheinische Post“ wies damals schon darauf hin, dass man sich die Sängerin merken müsse.

Fünf Jahre später regierte Marilyn Horne gemeinsam mit der Sopranistin Joan Sutherland den Olymp des Belcanto. Danach sah es zunächst nicht aus: In San Francisco und Chicago begann sie ihre US-Karriere mit der Marie in „Wozzeck“. Ihre australische Koloratursopran-Partnerin lernte sie 1961 bei einer Aufführung von „Beatrice di Tenda“ von Vincenzo Bellini kennen. In den folgenden Jahren eroberte sich Horne das weitgehend vergessene Fach des Koloratur-Mezzosoprans. Mühelos brillierte sie mit anspruchsvollen, oft vergessenen Partien von Bellini, Rossini, Meyerbeer. Mit Montserrat Caballé, die 1965 für Horne in Donizettis „Lucrezia Borgia“ in der Carnegie Hall eingesprungen war, verband sie eine langjährige künstlerische Partnerschaft. Die Auftritte der beiden Belcanto-Sängerinnen gehörten zu den Höhepunkten zeitgenössischer Gesangskunst; die Duette aus Rossinis „Semiramide“, die Virtuosenstücke aus „Tancredi“ oder Meyerbeers „Le Prophète“ versetzten die Zuhörer in Taumel. Hornes Händel-Interpretationen ließen Tränen fließen.

Im Jahr 2000, immer noch makellos bei Stimme, beendete Marilyn Horne ihre Opernkarriere. Einige Jahre gab sie noch Liederabende mit Folksongs und populären Melodien amerikanischer Komponisten wie Irving Berlin oder Stephen Foster. Mit ihrer Stiftung, der „Marilyn Horne Foundation“, ermöglichte sie bisher in 300 Projekten über 30.000 Studenten, sich in Opern- und Liedgesang zu vervollkommnen. Sie gibt Kurse und Meisterklassen an mehreren Universitäten in den Staaten. An der „Music Academy of the West“ in Santa Barbara, Kalifornien, verantwortet sie nicht nur Meisterklassen in Gesang, sondern auch szenische Opernaufführungen. Ihre Ehrungen und Auszeichnungen füllen eine seitenlange Liste. Bewahrt hat sie sich ihre unkomplizierte, warmherzige Persönlichkeit – und ihre strahlenden Augen. Immer wieder, so wird erzählt, sei sie auf der Durchreise in Gelsenkirchen aufgetaucht und habe alte Kollegen besucht: Ihr warmes, freundliches Herz wollte sie keiner Karriere der Welt opfern.

An ihrem 80. Geburtstag am 16. Januar präsentiert die Carnegie Hall New York eine Lied-Gala mit einer Reihe weltbekannter, mit Marilyn Horne verbundener Künstler, darunter Piotr Beczala, Renée Fleming, Samuel Ramey, Federica von Stade und ihr langjähriger Liedbegleiter Martin Katz. Gleichzeitig findet die jährliche Meisterklasse der Sängerin statt – diesmal mit Christa Ludwig als Gast. Im Sommer wird die Music Academy of the West in Santa Barbara zu Hornes Ehren Bizets „Carmen“ in Szene setzen. Die Sängerin hatte 1954 in dem Film „Carmen Jones“ ihre Stimme der Schauspielerin Dorothy Dandridge „geliehen“ – Hornes erstes größeres professionelles Engagement.

 




Lichtvoll und leicht: Tomáš Netopil dirigiert Brahms in der Essener Philharmonie

Auf Mahler folgt Brahms: Zum zweiten Mal in dieser Spielzeit nähert sich Tomáš Netopil dem klassischen deutschen Repertoire des 19. Jahrhunderts: mit der beliebten „Zweiten“ des in Hamburg geborenen Wieners.

Diesmal vermittelte sich der Eindruck, als habe sich der neue Generalmusikdirektor mit der Akustik des Alfried Krupp Saales erfolgreich angefreundet. Netopil erschloss Brahms’ Zweite aus dem Geist heiteren lyrischen Schwebens, tilgte den „Trauerrand“, den der Komponist in schalkhaften Ankündigungen an seine Freunde um das Werk gezogen hatte. Überspitzt gesagt: Das Werk hätte auch am sonnigen Moldauufer statt am Wörthersee geschrieben sein können.

Tomás Netopil, der neue Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: TUP

Tomás Netopil, der neue Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: TUP

Ein solches Konzept lichtvoller Leichtigkeit kommt den Philharmonikern gerade recht: Sie können ihre Erfahrung im achtsamen Austarieren klanglicher Balancen, im Aushören kultivierter Piani, im Ausspielen erlesener Legati lustvoll einbringen. Ein „ben marcato“ wird bei ihnen nicht zum teutonischen Dröhnen; der energisch-lebhafte vierte Satz tobt sich nicht aus, sondern bleibt geistvoll gezügelt, auch in der leuchtenden Steigerung der Dynamik.

So führt Netopil die Stimmung genau in die Richtung, die schon die Uraufführungs-Kritiken lobten: Heiterkeit und Lebensfreude. Dem entspricht die Holzbläseridylle des dritten Satzes und die lyrische Selbstbespiegelung des zweiten: Selbst der Blick der Posaunen zurück auf den ersten Satz trübt das ruhevolle Licht nicht. Die Instrumentierung mit tiefen Streichern und Bläsern könnte auch anders gelesen werden – aber Netopil will sich die gelöste Atmosphäre nicht verdüstern lassen.

Auch den ersten Satz versteht der Dirigent offenbar ganz aus dem Geist des Lyrischen. Damit bettet er die gesamte Symphonie in eine einheitliche, geradezu pastorale Sphäre. Man mag das als befreiend empfinden, aber unüberhörbar ist auch eine Monochromie, die den Schattierungen und energischen Kontrasten nicht gerecht wird. Was Brahms-Forscher Peter Gülke eine „brutale, störende Intervention“ genannt hat – die Pauken- und Posaunen-Passage am Ende des Hauptthemas –, wird bei Netopil zum aparten Farbakzent. Auch die bohrenden Akkordbrechungen gewinnen keine dramatische Relevanz. Und die drängenden Imitationen des beiläufigen Eröffnungsmotivs, das sich als thematisch wichtige Zelle offenbart, bauen keine Spannung auf. Lyrik wird zum Lyrizismus.

Was bei Brahms den Eindruck des Defizitären nicht abschütteln kann, darf bei Haydn als reine Tugend gelten: Mit dem Cellisten Johannes Moser ergibt sich im C-Dur-Cellokonzert des Esterhazy’schen Meisters ein frisches, heiteres Zusammenspiel, ungetrübt von schwerköpfiger Reflektion oder sauertöpfischer Grübelei.

Moser verzärtelt weder den zupackenden Optimismus des ersten noch die pikante Beweglichkeit des dritten Satzes. Die Phrasierung ist markant, die Tongebung bestimmt und klar definiert; der Klang des Cellos changiert zwischen zart verrauchtem Piano und forscher Brillanz. Und das Adagio ist von jener schimmernden Sanglichkeit geadelt, die seit jeher als Prüfstein für die Musikalität jedes Cellisten gelten darf. – Die „Tänze aus Galánta“ Zóltan Kodálys zur Eröffnung des Abends leben aus den melodiösen Reminiszenzen, die der forschende Kollege Béla Bartóks in der heimischen Musik dieser Provinzstadt rund fünfzig Kilometer östlich von Bratislava entdeckt hatte und in einer subtilen symphonischen Form voll klanglicher Reize verarbeitete.




Radikaler Neuenfels-Abend in Frankfurt: „Oedipe“ von Georges Enescu

Mythos und Politik, Tragisches und Heiteres. In der Frankfurter Oper spielen derzeit Stoffe aus der Antike eine beachtliche Rolle: Ezio und Oedipus, Daphne und Dido, dazwischen Ariadne und bald Danae und Orpheus. Ein weit gefasstes Spektrum, aus dem Georges Enescus „Oedipe“ herausleuchtet. Eine Oper, die seit ihrer Uraufführung 1936 eine ewige Anwartschaft aufs Repertoire einzulösen versucht. 2006 schien in Bielefeld Nicolas Broadhurst mit einer vielschichtigen Inszenierung einen Anstoß zu gelingen: vergeblich. Jetzt hat sich Frankfurt wieder auf den Solitär des rumänischen Komponisten besonnen und kein Geringerer als Hans Neuenfels gibt den Ausgräber.

Den eigensinnigen Altmeister des Regietheaters interessiert die Radikalität des Mythos. Er will ihn weder aktualisieren noch in antiker Form belassen. Er will ihn „an uns heranziehen“. Und wie in seiner legendären Frankfurter „Aida“ von 1981 lässt er einen Archäologen in die mythische Zeit eintauchen und sich auf die Suche nach seinem Selbst begeben. Bevor Oedipus aus einem goldstrahlenden Ei geboren wird, streift dieser Mensch auf der Bühne Rifail Ajdarpasics durch unterirdische Grüfte aus Schiefertafel-Mauern, dicht beschrieben mit Formeln, Zahlen, Zeichen. Weltwissen, das vor der Dynamik des Mythischen verblasst.

Schuld und Freiheit: Die WIssenschaft löst diese Fragen nicht. Der Wissenschaftler (Simon Neal) stellt sich ihnen, indem er zu Oedipus wird. Foto: Monika Rittershaus

Schuld und Freiheit: Die WIssenschaft löst diese Fragen nicht. Der Wissenschaftler (Simon Neal) stellt sich ihnen, indem er zu Oedipus wird. Foto: Monika Rittershaus

Wir lassen mit Neuenfels die Deuter hinter uns: keine Altertumswissenschaft, kein Freud, auch keine Religion. Die Frage ist die nach der Freiheit des Menschen, die der Ödipus-Mythos radikal verneint. Die Sphinx sagt es schmerzhaft deutlich: Selbst die Götter sind Gefang’ne des Geschicks. Die Antwort Ödipus‘ auf das Rätsel, was größer sei als das Geschick, lautet: der Mensch. Doch die sterbende Sphinx nimmt das Geheimnis mit, ob sie geschlagen sei oder gesiegt habe. Neuenfels lässt sie mit – verzweifeltem oder wissendem? – Gelächter sterben. Und er greift die Ungewissheit auf, wenn er – eines seiner beliebten Regiemittel – am Ende auf die Bühne projizieren lässt: „Es gibt keine Erkenntnis außer der Hoffnung“.

Für dieses Ende nimmt Neuenfels schwere Eingriffe in Enescus Stückanlage vor, akzeptiert Dirigent Alexander Liebreich einen musikalischen Blutsturz. Beinahe die Hälfte des Originals sind gestrichen, neben wichtigen Szenen vor allem der gesamte vierte Akt: Die vermeintlich christliche Schilderung von Erlösung bedrohe die Radikalität des Mythos, meint Neuenfels im Interview im Programmheft. Er übersieht dabei, dass die Fatalität des Oedipus-Mythos an sich schon mit den Begriffen von Freiheit und Erlösung im Christentum in denkbar schärfstem Gegensatz steht.

Aber Lösungen sind ja von vorneherein (ideologie-)verdächtig, und so triumphiert die Verweigerung. Am Ende lässt sich Oedipus mit blutverschmierten, riesigen Augenhöhlen wegführen. Und Neuenfels bleibt uns bei aller Regiekunst, die sich vor allem in einer unfehlbaren Personenführung offenbart, die Antwort schuldig, warum es ausgerechnet die Oedipus-Adaption Enescus sein muss, mit der er seinen Fundamental-Fatalismus ausbreitet.

Man hat den Eindruck, diese Frage stellt sich auch Alexander Liebreich im Angesicht einer Partitur, zu der er offenbar mehr kritische Distanz als Zuneigung gewonnen hat: Mit der zwischen spätromantischer Fülle und neosachlichen Konturen, zwischen Detailfinesse und dem Atem großer Aufschwünge changierenden Musik Enescus geht er mit wenig mehr als kühler Genauigkeit um. In den kammermusikalischen Momenten zeigt das Frankfurter Orchester wie stets viel Kompetenz, aber die rauchig-herben, schimmernd exquisiten, sattfarbig fließenden Klangmixturen bleiben spröde, wirken nicht einmal analytisch, sondern nur ihrer sinnlichen Raffinesse harsch entkleidet.

Simon Neal als Oedipus und Katharina Magiera als Sphinx. Foto: Monika Rittershaus

Simon Neal als Oedipus und Katharina Magiera als Sphinx. Foto: Monika Rittershaus

Unter den Sängern brillieren die Frankfurter Damen des Ensembles wie Katharina Magiera als betörend schillernde Sphinx, Jenny Carlstedt als warmstimmige Merope, Tanja Ariane Baumgartner als entschieden-klangvoll singende Jokaste. Polternd-angestrengt tönen die drohenden Weissagungen des Tiresias: Magnús Baldvinsson intoniert sie als schmutziger Greis, in einem Laufkäfig gefangen. Dietrich Volle setzt seine schöne Stimme charakterisierend ein, wenn er den alerten politischen Aufsteiger Kreon vokal geschmeidig gestaltet.

Auch der Hirte (Michael McCown), der Hohepriester (Vuyani Mlinde), Phorbas (Kihwan Sim), der Wächter (Andreas Bauer) und der grobschlächtige, seinen Sohn mit Urin aus einem königlichen Penis beschmutzende Hans-Jürgen Lazar als König Laios – ohne einen solchen Prügel scheint es bei Neuenfels auch nicht mehr zu gehen – profitieren von der ausgefeilten Personenregie und ihrem stimmlichen Gestaltungspotenzial.

Simon Neal setzt sich mit fesselnder Ausstrahlung und der authentischen inneren Kraft eines großen Darstellers für die Riesenpartie des Oedipus ein; stimmlich opfert er zu heftig dem Drang zu rüder, vermeintlich expressiver Klangbildung. Der Chor hatte Glück: Durch die Kürzungen blieben ihm nur Reste, die er, einstudiert durch Matthias Köhler, mit überzeugender klanglicher Façon realisiert. Ein kühner Neuenfels-Abend, zu dem Enescu eine Vorlage geliefert hat, die man demnächst gerne an einem anderen Haus in ungefleddertem Zustand wiederhören möchte.

Weitere Aufführungen von „Oedipe“ am 3. und 5. Januar 2014.

Die nächste Frankfurter Produktion mit Antiken-Bezug – und gleichzeitig ein weiterer Beitrag zum Strauss-Jahr 2014: Wiederaufnahme von „Daphne“ am 28. Februar, inszeniert von Klaus Guth und mit Stefan Blunier, dem GMD der Oper Bonn, am Pult.




„Oh, muss das sein, Miss Sophie?“: Vor 50 Jahren wurde das Silvester-Fernsehritual aufgezeichnet

Same procedure as every year ... Foto: NDR, Annemanrie Aldag

Same procedure as every year … Foto: NDR, Annemanrie Aldag

Wie wär’s mit folgendem Silvestermenü? Als Vorspeise wählen wir eine Mulligatawny-Suppe. Das ist eine Köstlichkeit aus Hühnerbrühe mit Gemüsen und vor allem Zwiebeln und Curry. Sie wurde in England gerne serviert und stammt noch aus der Kolonialzeit. Dazu reichen wir einen alten trockenen Sherry. Es folgt der Fisch, idealerweise Schellfisch aus der Nordsee, kredenzt mit einem Glas Weißwein, vielleicht einem Rheinriesling. Zum Fleischgang, einem Hühnchen, passt ein feines Glas Champagner. Und den süßen Abschluss bilden gesunde Früchte: Äpfel, Birnen, Mandarinen, Bananen. Ein süßer Portwein rundet dann das Mahl.

Wem dieses Menü bekannt vorkommt, hat in den letzten Jahrzehnten an Silvester gut zugeschaut: Es ist die Speisenfolge des „Dinner for one“, das Butler James zum 90. Geburtstag von Miss Sophie aufträgt. Wir kennen es alle: Die Dame hat vier Gäste geladen, die sich dummerweise aber infolge Ablebens nicht mehr von irdischer Speise nähren. So obliegt es dem Butler, zumindest die Pokale der vier Herren zu leeren, denn Miss Sophie legt Wert aufs Zutrinken und einen Trinkspruch. So nimmt das weinselige Schicksal seinen Lauf – und James kämpft nicht nur mit Tigerschädeln, Silbertabletts und Blumenvasen …

Vor 50 Jahren, 1963, wurde der Sketch mit May Warden und Freddie Frinton in der ARD-Sendung „Guten Abend, Peter Frankenfeld“ ausgestrahlt und im Juli in Hamburg aufgezeichnet. Zwei Jahre zuvor lief er bereits in der Sendung „Lassen Sie sich unterhalten“ mit Evelyn Künneke. Davon gibt es aber keine Aufzeichnung. Seit 1972 gehört „Dinner for one“ zum festen Ritual der Silvester-Unterhaltung. Im Guinness-Buch der Rekorde landeten die achtzehn Minuten in Schwarz-Weiß 1988 als „weltweit am häufigsten wiederholte Fernsehproduktion“.

Unerschöpfliche Quelle der Heiterkeit: James, alias Freddie Frinton, und der Tiger. Foto: NDR, Annemarie Aldag

Unerschöpfliche Quelle der Heiterkeit: James, alias Freddie Frinton, und der Tiger. Foto: NDR, Annemarie Aldag

Obwohl Frinton das Stückchen in den vierziger und fünfziger Jahren in England häufig bei Unterhaltungsshows in Seebädern und Großstädten spielte, ist es heute dort weitgehend unbekannt. Im britischen Fernsehen war er nie zu sehen. In vielen anderen Ländern, von Australien bis Südafrika, von der Schweiz bis Grönland, ist „Dinner for one“ dagegen ein ähnliches Kult-Ereignis wie in Deutschland. May Warden und Freddie Frinton haben sich mit dieser liebenswerten Miniatur ein Denkmal gesetzt – die beiden wären sonst längst vergessen. So heißt es – wie jedes Jahr – an Silvester wieder: „The same procedure as every year, James!“

Mehr als jeder dritte Bundesbürger – 37,5 Prozent – sieht sich an Silvester in der Regel im Fernsehen „Dinner for One“ an. Das ergab eine repräsentative Umfrage des Apothekenmagazins „Senioren Ratgeber“. Wer sich in die Schar einklinken will: Der Sketch läuft in den Dritten Programmen der ARD zwischen 17.40 und 19.40 Uhr. Der WDR zeigt Miss Sophies Geburtstag um 18.50 Uhr. Für Spätgucker: Im NDR läuft er um 23.35 Uhr. Und nach dem Anstoßen auf 2014 kann man im Bayerischen Fernsehen gleich weitermachen: Auftritt von „James“ ab Mitternacht.

Der NDR widmet der unsterblichen Sendung eine Jubiläumsshow an Silvester: Von 09.10 bis 10.55 Uhr treten drei prominente Teams zu einem heiteren Wettkampf rund um „Dinner for one“ an. Heute, 30. Dezember, zeigt der NDR ab 22 Uhr eine einstündige Spurensuche rund um die – laut NDR – erfolgreichste Fernsehsendung der Welt: „Glückwunsch, Miss Sophie – 50 Jahre ‚Dinner for one‘: Das Erfolgsgeheimnis des Kultsketches“.Die Sendung wird an Silvester um 10.55 Uhr wiederholt.




„Anständige Musik und ein sauberes Gewissen“: Vor 50 Jahren starb Paul Hindemith

Paul Hindemith im Jahr 1927. Foto: Schott Music

Paul Hindemith im Jahr 1927. Foto: Schott Music

Er ist nach wie vor der am häufigsten aufgeführte Komponist der Moderne. Sein Werk ist von beispielloser Vielfalt, reicht von der großen Oper über Kammermusik für unterschiedlichste Besetzungen bis hin zur Kantate, zur Parodie, zur Musik für Laien. Die musikalische Welt begeht am 28. Dezember seinen 50. Todestag: 1963 starb Paul Hindemith im Frankfurter Marienhospital an Schlaganfällen in der Folge einer Bauchspeicheldrüsen-Entzündung.

Paul Hindemiths Biografie stellt uns einen schöpferischen Menschen vor, der von den äußeren Verwerfungen seiner Lebenszeit massiv getroffen, aber nicht aus der Bahn geworfen wurde. Aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen, große Erfolge als Bratscher und Komponist in den zwanziger Jahren, Aufführungsverbot in der Nazizeit, Übersiedlung in die Schweiz und Emigration in die USA, schließlich Rückkehr nach Europa nach dem Krieg und eine späte Karriere als Dirigent: Hindemith hat die Zeitläufte mit viel Glück überstanden, ohne sich zu verbiegen. „Es gibt nur zwei Dinge, die anzustreben sind: Anständige Musik und ein sauberes Gewissen“, schrieb er 1938, wenige Monate nach der Uraufführung seiner Oper „Mathis der Maler“ in Zürich.

Die Musik scheint der entscheidende Halt für den Menschen Paul Hindemith gewesen zu sein, so die persönliche Einschätzung von Susanne Schaal-Gotthardt, Direktorin des Hindemith-Instituts in Frankfurt. Sie betreut eine kleine Dauerausstellung zu Leben und Werk des Komponisten im Frankfurter Kuhhirtenturm. Der spätmittelalterliche Bau im Stadtteil Sachsenhausen, einst Teil der Stadtbefestigung des 14. Jahrhunderts, diente von 1923 bis 1927 den Hindemiths als Wohnung: Unter dem Dach lebten der Komponist und seine Frau Gertrud, in den Räumen darunter die Mutter und die Schwester. Die beiden Frauen bewohnten den Turm weiter, als Hindemith 1927 an die Berliner Hochschule für Musik berufen wurde. Sie verließen ihn erst 1943: Bei einem Bombenangriff wurde der Bau schwer beschädigt; dabei verbrannten auch etliche Manuskripte.

Der Kuhhirtenturm in Frankfurt, von 1923 bis 1927 Wohnung Paul Hindemiths, beherbergt heute eine Ausstellung zu Leben und Werk des Komponisten. Foto: Werner Häußner

Der Kuhhirtenturm in Frankfurt, von 1923 bis 1927 Wohnung Paul Hindemiths, beherbergt heute eine Ausstellung zu Leben und Werk des Komponisten. Foto: Werner Häußner

Schon von seinem Vater, einem glücklosen Handwerker, wurde Paul Hindemith „mit colossal strengem Drill“ an die Musik herangeführt. Die Ausstellung im Kuhhirtenturm zeichnet mit Fotos und Manuskript-Reproduktionen aus den Beständen des Hindemith-Instituts die frühen Jahre nach: Hindemiths Ausbildung am renommierten Konservatorium von Dr. Hoch, sein Kriegsjahr 1917/18 als Trommler in einer Regimentsmusik im Elsass. Den ersten Kompositionsabend 1919, der Hindemith einen Vertrag mit dem Verlagshaus B. Schott’s Söhne einbringt. Und den ersten Schritt zur Berühmtheit, als 1921 in Donaueschingen sein Streichquartett Opus 16 aufgeführt wurde. Dass sich Hindemith ab 1922 intensiv für „Alte Musik“ interessierte, wird in der Ausstellung verdeutlicht durch eine Viola d’amore. Hindemith ließ sie für sich anfertigen. Die Schnecke ziert ein geschnitzter Frauenkopf: das Porträt seiner Gemahlin Gertrud.

Der Berliner Zeit ab 1927 ist ein eigener Raum gewidmet. Hindemith galt seit der spektakulären Uraufführung seiner drei Einakter „Mörder, Hoffnung der Frauen“ und „Das Nusch-Nuschi“ 1921 in Stuttgart – 1922 ergänzt durch die als blasphemisch bekämpfte „Sancta Susanna“ in Frankfurt – als Repräsentant der Avantgarde und „revolutionärer Bilderstürmer“. In Berlin entfaltete er nicht nur eine fruchtbare pädagogische Arbeit, die ihn übrigens ein Leben lang interessiert hat – seine Sing- und Spielmusiken für Kinder und Laien zeugen davon. Er gewann Gottfried Benn für ein Oratorium („Das Unaufhörliche“) und entfaltete eine rege Konzerttätigkeit. 1929 entstand die Zeitoper „Neues vom Tage“, eine Mischung aus skurriler Komik und surrealer Revue. Sie wurde in der letzten Spielzeit am Theater Münster gezeigt und war ab 1996 auch an der Oper Köln in einer gelungenen Inszenierung Günter Krämers zu sehen.

Bis 1929 reiste er mit dem Amar-Quartett, das sich der Verbreitung moderner Musik verschrieben hatte. Der Dirigent Otto Klemperer erinnerte sich später an Hindemiths Musik: „Frische Luft und kein Pathos mehr…“. Auch mit anderen Größen der damals modernen Musik arbeitete Hindemith zusammen: mit Hermann Scherchen etwa, später auch mit Wilhelm Furtwängler, der 1932 das von ihm bestellte „Philharmonische Konzert“ dirigierte und sich nach den ersten Repressalien durch die Nationalsozialisten vehement für Hindemith einsetzen sollte.

Paul Hindemith war ein bedeutender Solist und hat eine Reihe von Werken für sein Instrument, die Bratsche, geschrieben. Foto: Schott Music

Paul Hindemith war ein bedeutender Solist und hat eine Reihe von Werken für sein Instrument, die Bratsche, geschrieben. Foto: Schott Music

Die Ausstellung dokumentiert, wie schon 1933 Hindemiths Konzerttätigkeit rapide zurückging. Susanne Schaal-Gotthardt sieht in seinen Kompositionen die Spuren dieser Zeit: im „Trauermarsch“ der ersten Klaviersonate, oder in der Hölderlin-Vertonung „Der Main“, in der die Verunsicherung in der Figur des heimatlosen Sängers greifbar wird. Lapidar vermerkt ein – als Reproduktion sichtbarer – Eintrag in Hindemiths Kalender unter dem Dienstag, 16. August 1938: „Letzter Tag Berlin!“

Hindemith hatte sich bereits 1935 von der Hochschule für Musik beurlauben lassen. Er nahm den Auftrag der türkischen Regierung an, das Musikleben im Land zu organisieren – sicher auch, um dem wachsenden Druck in Deutschland zu entgehen. Während die Ausstellung „Entartete Musik“ in Düsseldorf Paul Hindemith und sein Werk anprangert, feiert Zürich seine neuen Oper „Mathis der Maler“. Im Herbst 1938 bezieht das Ehepaar ein Häuschen in Bluche im Schweizer Kanton Wallis.

Hindemith erhielt Kunstpreis des Landes Nordrhein-Westfalen

Für den Komponisten sei der Umzug in das Bauerndorf „wie eine Befreiung“ gewesen, schätzt Susanne Schaal-Gotthardt. Eine Reihe von Werken entsteht dort, so das bedeutende Violinkonzert und mehrere Sonaten und Lieder. Worauf sich Hindemith früher nie eingelassen hätte, erzwingen die Verhältnisse. 1940 emigriert er in die ungeliebten Vereinigten Staaten und nimmt eine Professur an der Yale University an. Später sollte er die Rolle der USA und die Zuflucht, die er dort gefunden hatte, hoch anerkennen.

Trotz der angenommenen amerikanischen Staatsbürgerschaft und beachtlicher Erfolge in der Neuen Welt zieht ihn die Sehnsucht zurück nach Europa: 1951 nimmt er eine Professur an der Universität Zürich an und übersiedelt nach Blonay am Nordostufer des Genfer Sees. Seine letzten Werke entstehen dort, so die bis heute unterschätzte Kepler-Oper „Die Harmonie der Welt“. 1958 wird sein Oktett in Berlin uraufgeführt; Paul Hindemith sitzt noch einmal an der Bratsche, obwohl er das öffentliche Spielen schon seit fast zwanzig Jahren aufgegeben hatte. Der Komponist erhält den Kunstpreis des Landes Nordrhein-Westfalen.

Nach seiner Rückkehr aus den USA entfaltete Hindemith eine rege Tätigkeit als Dirigent. Zuvor hat er nur selten den Stab in die Hand genommen, unter anderem in den zwanziger Jahren in Bochum. Die Aufnahme zeigt ihn bei seinem letzten Konzert im Konzerthaus Wien am 10. November 1963. Hindemith litt bereits an seiner tödlich verlaufenden Krankheit. Foto: Fondation Hindemith Blonay CH

Nach seiner Rückkehr aus den USA entfaltete Hindemith eine rege Tätigkeit als Dirigent. Zuvor hat er nur selten den Stab in die Hand genommen, unter anderem in den zwanziger Jahren in Bochum. Die Aufnahme zeigt ihn bei seinem letzten Konzert im Konzerthaus Wien am 10. November 1963. Hindemith litt bereits an seiner tödlich verlaufenden Krankheit. Foto: Fondation Hindemith Blonay CH

Die Ausstellung im Frankfurter Kuhhirtenturm zeigt auch den Humor und die liebenswerten menschlichen Seiten des Komponisten: Seine Liebe zur Modelleisenbahn etwa, seinen Ordnungstrieb oder sein zeichnerisches Talent. Immer wieder stellte er seine Frau als „Löwe“ dar, dem Sternzeichen, in dem sie geboren war. So auch auf der letzten, selbst gezeichneten Glückwunschkarte zum Jahreswechsel 1963/64. Sie spielt auf das 1962 vollendete Orgelkonzert an: Hindemith traktiert die Orgel, ein Löwe tritt den Blasebalg.

Das Hindemith-Kabinett im Kuhhirtenturm, Große Rittergasse 118, 60594 Frankfurt, ist sonntags von 11 bis 18 Uhr oder nach Vereinbarung geöffnet. Tel.: (069) 59 70 362. Zurzeit ist dort eine Sonderausstellung über Hindemiths Dirigenten zu sehen.

Eine Ausstellung „Begegnung mit Paul Hindemith“ mit vielen Fotos und Dokumenten zeigt die Frankfurter Sparkasse noch bis 22. Januar 2014 in der Galerie in ihrem Kundenzentrum, Neue Mainzer Straße 49, 60311 Frankfurt. Sie ist Montag bis Mittwoch und Freitag von 9 bis 16 Uhr, Donnerstag bis 18 Uhr geöffnet.




Der Traum zum Tode: Jules Massenets „Don Quichotte“ in Gelsenkirchen

Almuth Herbst und Krzysztof Borysiewicz in Jules Massenets "Don Quichotte" am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen. Foto: Karl Forster

Almuth Herbst und Krzysztof Borysiewicz in Jules Massenets „Don Quichotte“ am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen. Foto: Karl Forster

Jules Massenets „Don Quichotte“ ist kein häufiger Gast auf den Musiktheaterbühnen. Dass er – nach einer Kölner Inszenierung vor zehn Jahren – in zwei Spielzeiten gleich drei Mal in Nordrhein-Westfalen zu sehen ist, darf wohl dem Zufall zugeschrieben werden.

Wuppertal zeigte im Frühjahr eine auf ein subtiles Traumspiel konzentrierte Inszenierung von Jakob Peters-Messer, im Mai 2014 folgt das Theater Hagen, wo Gregor Horres Massenets Alterswerk auf die Bühne bringt. Und jetzt hatte der groteske Ritter, der seit Cervantes‘ Roman nicht mehr aus der Weltliteratur wegzudenken ist, seinen Auftritt in Gelsenkirchen – hier verantwortet von Elisabeth Stöppler.

Die Regisseurin hat sich unter anderem am Musiktheater im Revier die Basis einer Karriere erarbeitet, die sie inzwischen an große Häuser wie die Dresdner Semperoper geführt hat. Nicht zuletzt ihre Arbeit mit Benjamin Britten – zu erinnern ist an die szenische Version des „War Requiem“ 2011 – hat dazu beigetragen. Der „Don Quichotte“ ist ein weiteres Beispiel, wie Stöppler zum Kern eines Werkes vordringt und ihn in ausdrucksstarken Bildern freilegt.

Bei Massenet ist der alternde Adlige nicht der Träger einer idealistischen Erhabenheit und eines weltzersetzenden Humors wie bei Cervantes. Er ist auch nicht der Protagonist einer Komödie, die sich aus verstiegen-bizarrer Fantasie speist. Massenet stellt auf der Basis einer Fin-de-siècle-Tragikomödie von Jacques de Lorraine die Frage nach dem Anteil von Traum und Imagination an der Liebe. Für eine Zeit, die in Rausch und Traum aufregende Welten „hinter“ der physikalisch determinierten Realität entdeckt hat, ein hochaktuelles Thema. Dale Wasserman und Mitch Leigh haben in ihrem tiefsinnigen Musical vom „Mann von La Mancha“ das Thema weitergesponnen und reflektiert, ob nicht das, was gemeinhin als die reale Welt gilt, nicht erst durch den Begriff von der Welt konstituiert wird.

Reales, Imaginäres und Erträumtes verweben sich untrennbar

Elisabeth Stöppler rückt Massenets „Don Quichotte“ in genau diese Richtung: Bei ihr ist Don Quichotte weniger ein „Träumer“ als ein Mensch, in dessen Weltbegriff Reales, Imaginiertes und Erträumtes sich untrennbar verweben. Dazu lässt sie sich von Bühnenbildner Piero Vinciguerra eine hyperrealistische Villa bauen: Küche, Sanitärräume, Wohn- und Schlafzimmer, detailliert eingerichtet. Noch bevor ein Wort fällt, baut Stöppler die szenische Spannung zwischen den Protagonisten auf: Eine Hausangestellte – Dulcinée – reinigt Bad und Toilette, während im Obergeschoss ein alter Herr in seiner Bibliothek versonnen sein Cello streicht. Das Instrument, das ja oft als Symbol des weiblichen Torsos gilt, behält die Funktion als erotische Chiffre in der Inszenierung – ein Zeichen für die Klugheit, mit der Stöppler in ihrer Bildfindung ans Werk geht.

Reales und Imgainäres verschwimmen: Krzysztof Borysiewicz als Don Quichotte. Foto: Karl Forster

Reales und Imgainäres verschwimmen: Krzysztof Borysiewicz als Don Quichotte. Foto: Karl Forster

Don Quichotte hat sich ein wenig in seine Zugehfrau verguckt. An dieser eher banalen Ausgangslage entzündet sich eine romantische Vorstellung. Sie gibt der Welt eine Bedeutungsebene, die am Ende nicht einlösbar ist: Das Gespinst aus Idee und Imagination wird schlagartig zerrissen, als Dulcinée den Heiratsantrag Quichottes brüsk ablehnt: In diesem Moment scheitert nicht nur die Konstellation, aus der die Komödie besteht – die Liebe eines versponnenen alten Mannes zu einer jungen Frau. Sondern, viel tiefer gründend, bedeutet er auch die Vernichtung des Weltbegriffs Don Quichottes. Ein Zusammenbruch, den Stöppler und Vinciguerra mit einer radikalen Reduktion der Bühne bildlich erfassen: Es bleibt nur das Sterbebett im Dunkel. Eine Szene, die über die Gestalt Don Quichottes hinaus in eine allgemeingültige Dimension wächst: Wo die Begriffe ihre gestaltende Kraft verlieren, bleiben nur noch Leerstellen: Der Mensch verliert sein Leben.

Der Weg dahin wird von Figuren flankiert, die zunächst aus der unmittelbaren Lebenswelt des Ritters kommen – seine Familie –, sich dann aber zu einer Galerie von Lebensentwürfen erweitern. Die vorzüglich agierenden Gelsenkirchener Choristen verwandeln sich in Gestalten aus Historie und Fiktion: Superman, Mutter Teresa, Fidel Castro, Fred Astaire, Elvis Presley; den Meister der dämonischen politischen Fantastik Adolf Hitler und den Schöpfer surrealer Welten Salvador Dalí. Stöppler zeigt damit, wie sich die Grenzen von Don Quichottes Weltentwurf immer weiter ins Imaginäre verschieben, aber auch, wie die Fiktion auf die Realität einwirkt – am Beispiel von Menschen, die auf welche Weise auch immer durch ihre Visionen ihre Welt geformt haben. Diese Menagerie der Geschichte ist die große Stunde des Kostümbildners Frank Lichtenberg: der fantastische Realismus seiner Entwürfe balanciert genau auf der Nahtstelle zwischen Tatsächlichkeit und Vorstellung.

Wo endet die Realität - wo beginnt die Imagination? Szene aus "Don Quichotte" mit Almuth Herbst (Dulcinée). Foto: Karl Forster

Wo endet die Realität – wo beginnt die Imagination? Szene aus „Don Quichotte“ mit Almuth Herbst (Dulcinée). Foto: Karl Forster

Wieder einmal bestätigt das Gelsenkirchener Orchester, die Neue Philharmonie Westfalen, dass es mit einem bemerkenswerten Fortschritt in seiner Klangkultur in der Oberliga in Nordrhein-Westfalen mitspielen kann. Dirigent Valtteri Rauhalammi betont nicht so sehr die veristischen Einflüsse in der eklektischen Partitur Massenets, sondern arbeitet die impressionistischen Momente heraus: Klangschattierungen und dynamische Finessen, die eher an Debussy als an Mascagni erinnern. Und er beleuchtet den „Wagnerisme“ Massenets: Momente in der Musik, die an Wagner erinnern, ohne ihn zu imitieren. Der Rang dieses Spätwerks wird hörbar.

Die Solisten auf der Bühne, darstellerisch ebenso gefordert wie musikalisch, bleiben Massenet nichts schuldig. An Stelle des in der Premiere gefeierten Krzysztof Borysiewicz sang Jongmin Lim die Titelpartie nobel zurückhaltend, auf subtile Valeurs mehr achtend als auf den Glanz der großen Töne. Den Mann, der in Don Quichottes Dasein das unlösbare Band mit der banalen Welt des Alltags verkörpert, war Dong-Won Seo: Sein Sancho Pansa, manchmal zu guttural eingefärbt, ließ nachvollziehen, wie sich jemand, der sich zunächst mit dem Vorgegebenen arrangiert, die Schönheit und Kraft einer Vision zu entdecken beginnt.

Almuth Herbst setzte einen vollen, saftigen Mezzo ein, um die Facetten Dulcinées auszudrücken: zuerst arglose Putzfrau, dann Klischeebild der verführerischen Spanierin, schließlich ungewollt verderbliche femme fatale. Berechtigte Begeisterung: Mit diesem „Don Quichotte“ knüpft das Musiktheater im Revier an seine große Tradition wegweisender Inszenierungen an und setzt einen markanten Akzent in der Rhein-Ruhr-Theaterlandschaft.

Massenets „Don Quichotte“ gibt es im Gelsenkirchen noch an sechs Abenden zwischen 28. Dezember und 15. Februar 2014.




Kollektive Verzückung: Nareh Arghamanyan und die Essener Philharmoniker spielen Tschaikowsky und Rachmaninow

Nareh Arghamanyan. Foto: Marco Borggreve

Nareh Arghamanyan. Foto: Marco Borggreve

Draußen hat es der Winter bisher nur zu einem Hauch von Schneeregen gebracht. Drinnen in der Essener Philharmonie bricht er mit voller Wucht los – zumindest musikalisch: Donnerschlag, heulender Schneesturm, glasige Erstarrung in Eis und Frost. Zu hören in Pjotr Iljitsch Tschaikowskys Erster Sinfonie, wenn man denn ihre Bezeichnung „Winterträume“ als Leitfaden zum Zuhören begreifen will. Die Essener Philharmoniker krönen mit dem selten gespielten Werk, der „süßen Sünde“ aus Tschaikowskys Jugend, ihr viertes Sinfoniekonzert.

Auch der Beginn zählt nicht zu den ewig wiederholten „Reißern“ aus der Feder des russischen Komponisten: Die Ouvertüre zu Alexander Nikolajewitsch Ostrowskis Drama „Das Gewitter“ – Vorlage für Leoš Janáčeks Oper „Katja Kabanova“ – wurde überhaupt erst nach dem Tode Tschaikowskys uraufgeführt. Aufgewühlt und stürmisch bricht die Musik los, peitschende Fortissimo-Schläge künden das Gewitter an, dazwischen formulieren Englischhorn und Harfe über verhaltenen Tremoli der Violinen auch einen Moment zärtlichen Schwärmens. Tschaikowsky gestaltet in der Ouvertüre – dem Drama entsprechend – ein Bild innerer Zerrissenheit, die ihn bis in seine Spätwerke hinein begleiten sollte.

Unter dem Gastdirigenten Michael Sanderling – der in Köln Sergej Prokofjews „Krieg und Frieden“ musikalisch veredelt hat – setzen die Essener Philharmoniker die eröffnenden Donnerschläge präzis in den Saal, laden die Ruhe dazwischen lauernd auf, als konzentriere sich die Kraft der Natur erneut, um sich nach kurzem Crescendo knallend zu entladen. Für die atemlose Unruhe, die abrupten Risse in der Musik haben die Philharmoniker den richtigen Biss. Wenn sich die elementaren Gewalten beruhigen, die wunderbare Harfe Gabriele Bambergers über dem hellen Kräuseln der Violinen schwebt, stellen sich auch die Momente der Beruhigung ein, die den entscheidenden Kontrast zu den aufkochenden Fortissimo-Eruptionen bilden.

War es die Absicht Sanderlings, Tschaikowskys hochemotionale Musik zu zügeln, die schwärmerische Exaltation in die Grenzen eines sachlichen Klangs zu bannen? Jedenfalls lassen die Philharmoniker an diesem Abend den gelösten, frei schwingenden, sich in Farben intensivierenden Klang missen: In der „Gewitter“-Ouvertüre macht sich das bemerkbar, wenn Melodien nicht konsequent ausphrasiert werden. Ungünstiger wirkt ein gestauter Atem im zweiten Satz der Ersten Sinfonie: Nach einem verloren-schwermütigen Beginn kann sich das „cantabile“ nicht recht entfalten, bleibt vor allem der Ton der Holzbläser zu körperlich.

Sanderling macht sich allerdings auf die Suche nach dem „Charakteristischen“, etwa am Beginn des vierten Satzes mit seinen knöchernen Holzbläsern und dem monumentalen Ausbruch im Fortissimo, zu dem das Blech in all seiner Majestät hinzutritt. Die insistierenden Anläufe, mit denen Tschaikowsky das Material zu steigern sucht, wirken jedoch wie ein bemühtes Fugato. Ganz ungetrübt war die Winterpracht also nicht.

Temperament, durch Verantwortung gezähmt: Nareh Arghamanyan. Foto: Julia Wesely

Temperament, durch Verantwortung gezähmt: Nareh Arghamanyan. Foto: Julia Wesely

Von Jahreszeiten unabhängig der Mittelteil des Konzerts, Sergej Rachmaninows Rhapsodie über ein Thema von Paganini (op. 43). Die Pianistin Nareh Arghamanyan beginnt trocken und schnörkellos, als gehe sie an ein Stück von Paul Hindemith: klar und kurz ihr Anschlag, ausgeprägt das „marcato“. Das „più vivo“ der vierten Variation muss man ihr nicht zwei Mal hinschreiben: Sie intensiviert nicht nur das Tempo, sondern auch ihren kühl-perlenden Ton.

All die pianistischen Kunstgriffe, die sogar der Komponist vor der Uraufführung fürchtete, bewältigt die Armenierin ohne Mühe. Der Kontrast zur Dritten Variation mit ihren Bögen und dem ausdrucksvollen Solo-Fagott gelingt. Das „Dies Irae“-Motiv löst einen apokalyptischen Ritt im Orchester aus, der den Essener Musikern offenbar eher entgegenkommt als die zahlreichen Pianissimo- und Crescendo-Vorschriften Rachmaninows.

Arghamanyan nimmt das Pathos aus der Musik heraus, ohne sie farb- und emotionslos zu skelettieren; sie kann träumerisch, verspielt, kraftvoll zupackend und wuchtig spielen, erfasst den theatralischen Aspekt dieser Musik, ohne sie an die bloße pianistische Bravour zu verraten. Dass die Virtuosa im eleganten roten Kleid auch als solche ankommt, zeigt die Reaktion auf die Zugabe: eine „Fledermaus“-Paraphrase, bei der die Finger über die Tasten huschen wie eine Schar vielbeiniger Strandkrabben auf der Flucht. Nach dem letzten Ton: ein kollektiver Seufzer verzückter Bewunderung.

Nächster Auftritt von Nareh Arghamanyan in der Region: Am 13. April 2014 spielt sie im Max Ernst Museum Brühl einen Solo-Abend.




Gezähmte Wildheit: Patricia Kopatchinskaja in der Essener Philharmonie

Patricia Kopatchinskaja. Foto: Marco Borggreve

Patricia Kopatchinskaja. Foto: Marco Borggreve

Auf die wohlige Sphäre berührungslosen Genusses war die in Moldawien geborene und in Wien aufgewachsene Geigerin Patricia Kopatchinskaja noch nie abonniert. Auch nicht auf die hochgezüchtete Virtuosität oder die augenzwinkernde Barbie-Erotik irgendwelcher geigenden höheren Töchter. Das hat ihr den zweifelhaften Titel der „jungen Wilden“ eingebracht, den sie selbst einmal scherzhaft übersteigert hat: „Wildsau unter Hausschweinen“.

Wenn die Kopatchinskaja spielt, geht es um Wahrhaftigkeit und Tiefenschichten. „Wir spielen ja keine Noten, sondern Emotionen“, sagte sie einer Interviewerin. Ihre Diskografie zeigt, wo sie diese findet: Beethoven ist der einzige „Klassiker“, alle andere Musik für Violine und Orchester stammt von unbekannten oder zeitgenössischen Komponisten: Johanna Doderer, Gerd Kühr, Gerald Resch, Otto Zykan. Oder vom Klavierkollegen und -begleiter Fazil Say. Da ist ihre neueste Aufnahme – erschienen im Oktober – beinahe schon Mainstream: Konzerte von Igor Strawinsky und Sergej Prokofjew.

Im Konzert des London Philharmonic Orchestra in der Essener Philharmonie stand eben jenes Zweite Prokofjew-Konzert in g-Moll auf dem Programm. Schon der Einstieg ließ aufhorchen. Man kann es ganz anders beginnen als die moldawische Geigerin. So wie Jascha Heifetz etwa, der eine rasche, klare Introduktion spielt, orientiert am Ideal der vom Komponisten propagierten „neuen Einfachheit“. Oder wie Geneviève Laurenceau: Sie formt eine russische Seelen-Kantilene, dunkel-vibrierend und voller Schmerzenslust.

Konzert in der Philharmonie: Patricia Kopatchinskaja und Dirigent Vladimir Jurowski. Foto: Sven Lorenz

Konzert in der Philharmonie: Patricia Kopatchinskaja und Dirigent Vladimir Jurowski. Foto: Sven Lorenz

Patricia Kopatchinskaja sieht diese schlichte Intervallfolge in einem anderen Licht: Sie startet leise, als habe sie einen Fetzen einer Melodie wie zufällig aus der Luft gefangen und banne ihn nun in den Zauberkreis ihrer Geige. Das Orchester unter seinem grandiosen Dirigenten Vladimir Jurowski – einem der Aufsteiger des neuen Jahrtausends – folgt dieser fragend formulierten, im Ton sanft, aber aufgerauten Kantilene in leisen Schatten, behutsam erblühenden Bläsermomenten, lässt die barfüßige Geigerin auf sattfarbige Bassklarinetten- und Fagott-Teppichen traumwandeln. Auch der erste Höhepunkt bleibt diskret: Prokofjew schreibt gedämpfte Lautstärken zwischen Pianissimo und Mezzoforte vor.

Mit der „Wildsau“ war es da nix. Auch wenn die Geigerin in Figurationen, Doppelgriffketten und Arpeggien zur Sache geht, mit feurig-risikobereitem Strich, mit unglaublichen Farben, mit expressiven hohen Tönen auf den tiefen G- und D-Saiten. Aber Kopatchinskaja sucht nicht exzentrisch nach dem Effekt eines wilden, rauen Tons. Sie verzärtelt auch nichts, sondern bricht den Ton im zarten figurierten Spiel, in der Dichte der Details, in den zugespitzten, virtuosen Parforce-Momenten des dritten Satzes.

Aber die Geigerin opfert deshalb nicht auf den rissigen Altären des kompromisslos „hässlichen“ Zugriffs. Sie hält auch das Überdrehte, die Anflüge des Grotesken stets im Zaum. Das ist keine faule Kompromissbereitschaft, um den Zuhörern die Zumutung der Musik zu ersparen. Es ist dem Blick auf Prokofjews Intention geschuldet: „Neue Einfachheit“ heißt ja auch, sich in der expressiven Wut nicht zu verlieren. Wunderbar ist, wie Kopatchinskaja ihr Spiel-Temperament in Bezug zu den Farben des Orchesters setzt. So erreicht sie gemeinsam mit den vortrefflichen Londoner Künstlern die emotionale Tiefenschicht einer Musik, die andere eher kühl-artistisch verstehen.

Das London Philharmonic und sein russischer Dirigent verstehen sich gut: Sergej Rachmaninows letztes Orchesterwerk, die „Sinfonischen Tänze“, gibt dem Orchester jede Chance, von prächtigen Soli bis zu satten Klangflächen alle Facetten seiner Kultur zu zeigen. Und für Nikolai Rimski-Korsakows Suite aus der Oper „Die Nacht vor Weihnachten“ findet es die glitzernde Helle der oberen Register, die teuflische Tiefe des gedämpften Blechs, den aggressiven rhythmischen Prunk in der scharfkantigen Polonaise. Und man fragt sich, warum es in den Theatern zu Weihnachten immer nur „Hänsel und Gretel“ gibt: Russland bietet bezaubernde Opern fürs Fest – es müsste sie nur mal jemand auf die Bühne bringen!




Ruhrgebiets-Flamenco: Rafael Cortés brilliert in der Lichtburg Essen

Rafael Cortés in der Lichtburg Essen. Foto: Hanns-Peter Huester

Rafael Cortés in der Lichtburg Essen. Foto: Hanns-Peter Huester

Dieses Konzert ist mehr als Tradition, es ist Kult: Alljährlich in der Vorweihnachtszeit kommt Rafael Cortés in die Lichtburg.

Der Gitarrist, der sich nicht entscheiden will, wie weit er Spanier, oder Essener ist, bringt Freunde mit und spielt einen Abend in Essens größtem Kinosaal. Und der ist knallevoll: Im Foyer wehen die harten Konsonanten des „Castellano“ durch den Raum. In der Pause diskutieren die Stamm-Besucher, die sich an jedes Konzert der Jahre zuvor erinnern. Spanier und Spanienfreunde mischen sich mit Menschen, die einfach Cortés‘ spezielle Mischung aus Flamenco, Jazz, Rock und Latin-Anklängen mögen.

Jugendliche sind wenige darunter: Cortés passt nicht zum Mainstream, nicht zu lulligem Wohlfühl-Pop, nicht zu maschinell stampfenden Disco-Beats. Er spielt einen anspruchsvollen Stil. Seine Mischung aus nachdenklichen Balladen, impulsiven rhythmischen Exzessen und klugen wie lebensfrohen Jazz-Elementen sperrt sich dem anstrengungslosen Hören. Aber sie passt auch nicht in die Fesseln klischeehafter Folklore oder in die Regeln des klassischen Flamencos, der oft in der Nachahmung vergangener Größen erstarrt.

Sein Publikum jedoch fesselt er nach wenigen Akkorden: Er spielt einige Motive an, erweitert sie zu einer schweifenden Melodie, spinnt sie meditativ aus, scheint sich im Improvisieren zu verlieren und kehrt dann mit impulsivem Akkordschlag zu hartem Rhythmus und grellen Akkorden zurück. Da kommen einem Bilder in den Sinn: Ein einsamer Gesang in einer kargen Bergwelt. Melismen aus der Musik der Mauren und Gitanos, die über eine ausgedörrte Ebene wehen. Liebesraunen in üppigen Parks, Trauergesänge an öden, steinigen Wegen. Innere Landschaften, die wenig zu tun haben mit den verkitschten Bildern iberischer Tourismus-Klischees, aber viel mehr mit der Härte und dem Zauber der Landschaft Andalusiens.

Der Flamenco, den Cortés pflegt – und das ist eine seiner ursprünglichen Wurzeln – hat zwar mit einer urwüchsigen Erotik zu tun, aber noch viel mehr mit einem harten, kargen Leben, mit existenziellem Leid, mit dem traurigen Gesang gebrochener Hoffnungen, aber auch mit dem hochfahrenden Aufbegehren von Menschen, die sich vom Schicksal nicht brechen lassen: Der Stolz einer Schicht, die nach unten gedrückt wurde, aber ihren Kopf hoch erhoben hält.

Cortés bleibt nicht im klassischen Flamenco stecken: Technisch souverän und musikalisch tiefsinnig verbindet er Tradition und Fortschritt. Für ihn sei es ein Glück gewesen, im Ruhrgebiet aufgewachsen zu sein, sagte er einmal in einem Interview. Nirgends sonst hätte er in seiner musikalischen Entwicklung all die verschiedenen Einflüsse aufsaugen können, die seinen Stil heute prägen.

Kreativer Mix musikalischer Kulturen

Da sind der unverfälschte Flamenco aus Granada, die „Alegría“ aus Cádiz, die balladesken Töne aus der andalusischen Musik, die kraftvolle, schroffe Farruca. Da ist das Herkommen seiner Familie: Flamenco seit Generationen. Da sind die alten Gitarristen wie sein Lehrer El Macareno. Aber da sind auch die Einflüsse des Jazz und des modernen Rock. Die raffinierten und tief ausgeleuchteten Harmonisierungen. Und der Mix der musikalischen Kulturen. Cortés, immer neugierig, nimmt sie auf – bis hin zum alten polnischen Tango, den er auf einer Tournee durch das östliche Nachbarland zufällig im Radio hört.

Wie ausgeprägt der Personalstil des weltweit gefeierten Gitarristen inzwischen geworden ist, lässt sich auf seiner gerade erschienenen CD „Cagiñí“ hören. Einige der Stücke spielte Cortés auch in der Lichtburg. Denn er kommt nicht allein: Unter seinen Freunden auf der Bühne spielt Rafael Cortés junior mit, die bekannten Gitarristen Juanfe Luengo und Miguel Sotelo mit seinem markanten Gesang. Oder Gonzalo Cortés, der mit seinem „cante“ einen spröden, archaischen Ton in das Konzert bringt.

Rafael Cortés; im Vordergrund die Tänzerin Rafaela Escoz Foto: Hanns-Peter Huester

Rafael Cortés; im Vordergrund die Tänzerin Rafaela Escoz Foto: Hanns-Peter Huester

David Bravo grundiert wie so oft den Rhythmus – mal kantig, mal geschmeidig. Wieder fasziniert Rafaela Escoz mit der kühlen Glut ihres Tanzes. Ihre hochvirtuose Fußtechnik im rasanten Konzertfinale ist nicht genug zu bewundern, vor allem, weil zur eigenwilligen Musik von Rafael Cortés nicht einfach traditionelle Schritte zu kombinieren sind. Miriam Suárez von der Essener Band „A solas sin mi“ und Riccardo Doppio bringen Pop-Anklänge ein, können aber nicht mit den urwüchsigen, aufgerauten Stimmen von Rebecca Carmona und Gonzalo Cortés konkurrieren. Als einzige Zugabe nach zwei wie im Flug vergangenen Stunden reißt der Evergreen „Tico Tico“ mit irrsinnigem Tempo die Fans aus den Kinosesseln.

In der Region tritt Rafael Cortes am 20. Dezember wieder auf: In der Essener Erlöserkirche spielt er bei einem Benefizkonzert zu Gunsten der Eggers-Stiftung. Mit dabei sind die Sopranistin Richetta Manager und der Chor „Gospel & More“. Am 2. Februar 2014 sind Cortés und seine Freunde im Scala-Club in Leverkusen zu Gast, am 8. März 2014 kommen sie nach Mülheim in den Ringlokschuppen.




Weltklasse: Das English Concert mit Händels „Messias“ in der Essener Philharmonie

Dublin, April 1742: Im neuen Konzertsaal in der Fishamble Street drängen sich mehr als 700 Damen und Kavaliere, um ein Musikstück zu hören, das die Kritik der damaligen Tage als „bestes Musikstück, das je zu hören war“, betitelt hat. Händels „Messias“, aufgeführt von vermutlich 32 Sängern der beiden Kathedralchöre von St. Patrick und Christ Church, „bezauberte Herz und Ohr gleichermaßen“.

In der Philharmonie Essen herrschte kein solches Gedränge, als Orchester und Chor des „English Concert“ den Oratorien-Evergreen wieder einmal aufführten. Aber der Saal war gut gefüllt – und die Zuhörer wurden Zeugen einer Aufführung, die man ohne Umschweife als musterhaft einordnen möchte.

Der Dirigent Harry Bicket. Foto: Richard Haughton

Der Dirigent Harry Bicket. Foto: Richard Haughton

Chor und Orchester entsprachen in etwa der Größe der Ensembles der Uraufführung; Dirigent Harry Bicket, seit 2007 künstlerischer Leiter von „The English Concert“, besetzte auch die für London hinzugefügten Oboen und ein Fagott. Die Bassgruppe war mit zwei Kontrabässen und Celli ausreichend stark besetzt, um eine warme Grundierung des Klangs zu erreichen – ganz im Sinne Händels, wie wir aus diversen Studien wissen.

„The English Concert“ pflegt den unorthodoxen Klang weiter, den Gründer Trevor Pinnock etabliert hat: in den Geigen ein vibratoloser, aber nicht grell gezogener Ton, in den Bässen markante Akzentuierungen statt scheuer Zurückhaltung. Die Bläser allerdings waren in Essen etwas zu abgedrängt und konnten – bis auf wenige Piano-Momente – ihre Farbe nicht durchsetzen. Bei der Größe der Philharmonie wäre eine zusätzliche Oboe nicht überflüssig gewesen.

So gelang es Bicket und seinem Ensemble, Herz und Ohr zu bezaubern: In der Einleitung wählt er ein betont langsames Grave, das die Dissonanzen wirken lässt. Auch den Chor „Behold the lamb“ nimmt er – als Einleitung zum zweiten Teil, der Betrachtung des Leides Jesu – sehr gemächlich: Der Beinahe-Zerfall der Phrasierung signalisiert eine aus den Fugen geratende Welt.

Auf knallige Demonstration akzentuierter Rhythmen verzichtet Bicket weise. Das heißt für ihn nicht, Prägnanz zu vergessen oder Konturen zu verschleifen. Der Chor „And the glory of the Lord“ ist in einem elegant schwingenden Rhythmus gefasst. Im schwer auftretenden Grave nach französischer Art kommen die Punktierungen zu ihrem expressiven Recht. Und in den Tempi kennt Bicket das erregte Presto, das fiebrige Tremolo, ohne je mit einer Hatz durch die Noten den Ausdruck der Musik zu gefährden.

Einen Genuss für sich bietet der Chor: Dem Wohlklang opfern die Sängerinnen und Sänger nicht; ihre staunenswerte Expressivität entspringt aus einem intimen Blick auf Händels Musik. Wie vortrefflich sie die Artikulation und die Balance der Stimmgruppen beherrschen, macht schon „And the glory of the Lord“ deutlich. Wenn der Bass den Satz „and the mouth of the Lord hath spoken it“ kraftvoll-dunkel hervorhebt, wird nicht nur der theologische Sinn des Wortes Gottes als wirkmächtiger Kraft herausgehoben, sondern gezeigt, wie die musikalische Struktur von Händel genau auf dieses Ziel hin angelegt ist.

Dass die Sänger die Praxis der Verzierung bewundernswert präzis beherrschen, mutet schon fast selbstverständlich an. Aber die dynamische Entwicklung des makellos artikulierten berühmten „For unto us a child is born“ signalisiert noch eine andere Klasse: Erst auf „wonderful“ ist der volle Glanz des Klanges erreicht, entfaltet sich eine stets transparent gehaltene Leuchtkraft, die später das „Halleluja“ aus der Chorschinken-Ecke erlöst und zu einem Paradebeispiel exquisiter Klangkultur erlöst: Strahlende Erhabenheit, mit dem nötigen Pathos, aber ohne Pomp.

The English Concert. Foto: Richard Haughton

The English Concert. Foto: Richard Haughton

Das Orchester hat an diesem klanglich vielgestaltigen Kosmos seinen entscheidenden Anteil. Wir hören Solisten, die in jeder Phase den von Händel angezielten Affekt im Auge behalten. Wir hören einen sorgsam ausgehörten, plastischen Gesamtklang mit sparsam eingesetzten rhetorischen Akzenten. Wir hören einen natürlichen, nie manierierten Stil in Tongebung, Strich und Phrasierung, einen leuchtenden, weichen Geigenton, sonore Celli ohne Grummeln, präzis intonierte Trompeten, die sich nicht vordrängen.

Die Solisten können sich in der Qualität des Ensembles behaupten. Jennifer Johnstone veredelt ihre wundervollen Alt-Arien mit unangestrengter Stimme, macht aus „He was despised“ einen demütigen Moment der Betrachtung, der keiner strimmlichen Kunstgriffe bedarf, um innerlich zu berühren. Bei Joshua Ellicott gefällt das verhalten gesungene „Thy rebuke hath broken His heart“. Wenn der Tenor dramatisch deklamiert, fehlt ihm die Stütze und die Stimme kommt ins Flackern.

Der Bass Benjamin Bevan hält sich in seinem Paradestück, der Arie „Why do the nations so furiously rage“ mit dem koloraturgesättigten Aufruhr stark zurück, macht keine Show der „tobenden Heiden“, verschenkt aber ein wenig die expressive Zuspitzung. Doch in den begleiteten Rezitativen des ersten Teils überzeugt Bevan mit einer lockeren, prägnanten Artikulation und treffsicher gesetzten Verzierungen.

Die Dunkelheit der Welt, die von Gottes Licht erhellt wird, stellt er – mehr mit Mitteln der Dynamik als der Färbung – ausdrucksvoll dar. Ein wenig aus der Reihe fällt Julia Doyle: ein zarter, klanglich begrenzter Sopran, sensibel geführt, aber für die strahlende Erlösungsfreude etwa von „Rejoyce greatly“ zu klein. Mit Konzerten wie diesem positioniert sich die Philharmonie vorteilhaft: In London, Paris oder New York ist der „Messias“ nicht besser zu hören!




Heiterkeit und Melancholie: Donizettis „Don Pasquale“ am Theater Hagen

Der Bruch der Zeiten ist überdeutlich: Norina und Ernesto, das sind zwei junge Leute von heute, Jeans, Jacket, hübsches Top. Don Pasquale lebt in einer anderen Welt, im „Damals“: Kniehosen, bestickte Weste, reich ornamentierter Hausmantel. Er sitzt in einem altertümlichen Rollstuhl und starrt in seinen herrschaftlichen Salon, in dem die Möbel mit weißen Tüchern verhängt sind. Ein gelebtes Leben.

Wer so jemanden auf seine alten Tage noch heiraten will, muss sich anpassen. Und so schlüpft Norina am Theater Hagen in eine ausladende Robe: Krinoline drunter, Stoffschichten zwischen bonbonrosa und veilchenlila drüber, Rüschen, Reffungen und Schleifchen. Kurz, eine Fassade, die dem heiratslüsternen Alten signalisieren soll: Hier kommt eine Frau, die in deiner Welt aufgehen wird, die genau in die Ausstattung deines Haushalts passt.

Schein und Wirklichkeit: Norina (Maria Klier) stellt sich Don Pasquale (Rainer Zaun) als schüchterne Klosterschülerin vor. Foto: Stefan Kühle

Schein und Wirklichkeit: Norina (Maria Klier) stellt sich Don Pasquale (Rainer Zaun) als schüchterne Klosterschülerin vor. Foto: Stefan Kühle

Kostümbildnerin Lena Brexendorff – auch für die Bühne zuständig – hat in ihren Kostümen eine der Kernfragen von Donizettis letzter komischen Oper „Don Pasquale“ sichtbar gemacht: die Frage nach Wirklichkeit und Täuschung, aber auch die Selbsttäuschung, die erst möglich macht, dass sich Don Pasquale von der Intrige seines zweifelhaften Freundes Malatesta – der Name meint einen „bösen Kopf“ – irreführen lässt. Und Annette Wolf deutet in ihrer Inszenierung an, dass die sexuellen Gelüste des Titelhelden – von Malatesta mit den bekannten, blauen Pillen angeheizt – nicht unbedingt das erste Motiv seines Treibens sind: Die Einsamkeit des Eröffnungsbildes verweist deutlich tiefer in die Psyche.

Es gab Regisseure, die „Don Pasquale“ konsequent der buffonesken Einkleidung entledigt und das Drama des einsamen, alten, grausam getäuschten Mannes herausgeschält haben. So weit wollten Wolf und Brexendorff nicht gehen: Die Tannenzapfen-Gewichte einer Kuckucksuhr hängen riesig vom Schnürboden herab in die Bühne und erinnern sachte daran, dass Donizettis Oper ihre Wurzeln in der alten „Commedia“ mit ihren mechanisch-schematisch agierenden Figuren hat. Oder eben auch an die verzopfte Puppenstuben-Welt, in der Pasquale nach dem Leben schmachtet – das mit dem Einzug der vermeintlichen, schüchternen Klosterschülerin „Sofronia“ auch einkehrt: Ein prachtvoller Hirsch wird ausgepackt und der Hausherr verlässt mit Schwung den Rollstuhl.

Doch das Verstellungsspiel funktioniert nur teilweise: Die Begegnung zwischen der getarnten Norina und dem leichtgläubigen Don Pasquale gleitet in witzig gemeinten, aber abgestandenen Klamauk ab, statt psychologisch glaubwürdig ausgeformt zu werden. Rainer Zaun ist ein Komödiant alter Schule, der sich auf die abgelebten Tricks des Genres verlässt. Maria Klier als Norina agiert heftig und kann das Blümchen, das hinter klerikalen Mauern aufgewachsen sein soll, nicht recht glaubwürdig machen. Im Publikum lacht kaum jemand: Die ollen Kamellen kommen nicht mehr an.

Nach der Pause: Das Drama spitzt sich zu

Nach der Pause spitzt Annette Wolf das Drama dann doch noch zu: Norina gibt im Leoparden-Outfit das hässliche Selbstbewusstsein einer verzogenen Wohlstandsgöre zu erkennen. Neffe Ernesto hat vorher schon den Eindruck erweckt, das „Hotel Onkel“ ziemlich bequem auszunutzen. Keija Xiong schlurft erst im Morgenmantel herein und zeigt – entsprechend seiner Rolle als schmachtender, aber wenig aktiver Liebhaber – später auch nicht viel mehr Initiative.

Die treibende Rolle besetzt Oleksandr Prytolyuk (ein stimmgewaltig dröhnender Gast aus Darmstadt für den erkrankten Raymond Ayers): ein durchtriebener Geselle, der im bürgerlichen Gewande an Mozarts Don Alfonso aus „Cosí fan tutte“ erinnert. Einer derjenigen, bei denen die Aufklärung alle Werte wegerklärt und an ihrer Stelle nur den handfesten Geldwert hinterlassen hat? Den Eindruck, an der Erfüllung einer wahren Liebe zwischen zwei jungen Menschen interessiert zu sein, weckt er nicht.

"Liebe" in Zeiten der Spielkonsole: Maria Klier (Norina) und Kejia Xiong (Ernesto). Foto: Stefan Kühle

„Liebe“ in Zeiten der Spielkonsole: Maria Klier (Norina) und Kejia Xiong (Ernesto). Foto: Stefan Kühle

Norinas durchtriebenes Spiel mit Pasquales blutleeren Alltagsidealen gipfelt in einem unerhörten Übergriff: Die Ohrfeige, die sie dem Alten verpasst, bricht das Stück endgültig ins Melancholische – eindeutig zu hören in Donizettis sensibler Musik. Für das Ende hat sich Wolf eine Überraschung ausgedacht: Das bezaubernde Liebesduett „Tornami a dir che m’ami“ verbringt das Paar mit gleichgeschalteten Bewegungen jeder für sich mit der Spielekonsole. Am Ende büchst Norina mit Don Pasquale aus: Beide verlassen ihre Lebenswelt, in der eine authentische Beziehung jenseits von Rollen- und Lebensmustern nicht möglich war. So bricht Wolf die Komödie auf, ohne Donizettis Oper ins Tragische zu ziehen: eine originelle Idee.

Auch musikalisch liegen in Hagen Heiterkeit und Melancholie nahe beieinander: Auf David Marlows Dirigat reagiert das Orchester mit wendigen Tempi und transparentem Klang, aber auch mit kantig phrasierten Melodiebögen und gepfefferter Lautstärke. Patzer und Schludrigkeiten folgen auf sensibel aufgebaute Momente in der Balance und der dynamischen Nuancierung: Theateralltag eben. Die souveräne Bühnenerfahrung gibt dem Pasquale Rainer Zauns Autorität; stimmlich zeigt er sich flexibel, wird allerdings vom Orchester immer wieder zugedeckt.

Maria Klier hat die kecken Koloraturen der Norina auf Abruf, der klanglich erfüllte Ton ist ihre Sache weniger. Keija Xiong hat ein ernstes Problem mit der Stütze seiner an sich wohltimbrierten Stimme, was vor allem in der Höhe schmerzlich bewusst wird: sie bleibt dünn und klanglos. Wolfgang Müller-Salow hat den Hagener Chor auf eleganten Klang studiert. Wozu die Choristen den berühmten Dienerchor in einer überflüssigen Großküchen-Szene singen, während sie mit Endlos-Nudeln hantieren, bleibt schleierhaft. Und das Licht ist schlichtweg Pfusch: Der Zuschauer im Parkett muss sich jedes Mal, wenn sich bestimmte Türen öffnen, vor einer grellen Scheinwerfer-Batterie schützen. Auf diese Weise blendend hat Annette Wolf ihr Konzept sicher nicht gemeint.

Die nächsten Vorstellungen: 19. und 28. Dezember 2013; weitere Termine bis März 2014 unter www.theaterhagen.de




Die Schule des „guten Singens“: Juan Diego Flórez in der Philharmonie Essen

Die Philharmonie Essen. Foto: Werner Häußner

Die Philharmonie Essen. Foto: Werner Häußner

Einen Sänger wie Juan Diego Flórez auftreten zu lassen, mutet eigentlich als pure Verschwendung an. Schon Theodor W. Adorno hat angemerkt, heute werde nur noch das Material als solches gefeiert. Und Adornos „heute“ liegt über 50 Jahre zurück. Seither hat sich die Lage auf dem Sängermarkt weiter verdüstert.

Stimmen, die früher sogar in der italienischen Provinz von der Bühne gezischt worden wären, feiern bejubelte Triumphe: technisch unfertig, stilistisch traditionslos, präsentieren sie verquollene Töne mit Kraft und Lautstärke, mit erschreckenden Defiziten in Atem und Artikulation. Egal: Laut ist schön und schön ist laut – das gilt zumindest für das italienische Fach. Was soll da noch ein Belcantist mit einer perfekt gebildeten Stimme wie Flórez?

Und dennoch: Auch wenn die Fetischisten, die einen Sänger schon feiern, wenn er sich irgendwie durch die Partie geschummelt hat, alle Kriterien des guten Singens als bloße Geschmacksurteile diffamieren: Der Gesang, der den klassischen Schulen des Belcanto folgt, fasziniert die Menschen noch immer. Vor allem, wenn sie ein unverbildetes Gehör mitbringen und sich von den hochgepuschten Namen der Klassik-PR nicht blenden lassen. Das atemlose Lauschen, die Stille im Saal, die gebannte Stimmung sprechen für sich. Das Gefühl, die Zeit stehe still, während die Töne fließen, die Entspannung beim Zuhören: das sind Reaktionen auf Sänger wie Flórez. Der Psychologe möge erforschen, woran das liegt. Die Beobachtung sagt: Der perfekt gebildete Gesang teilt sich dem Zuhörer mit – auch wenn er über die technischen Voraussetzungen keine Kenntnis besitzt.

So gesehen, war das Konzert des Peruaners in der Philharmonie Essen dann doch keine Verschwendung. In seiner Stimme teilt sich die Faszination des „schönen Singens“ mit. Selbst wenn er Salon-Petitessen bringt wie Francesco Paolo Tostis hübsche, naive Canzonen. Bei Flórez gibt es keinen falschen Schmelz, kein sentimentales Schmachten, sondern strenge, disziplinierte Tongebung. Aber dafür ein technisch abgesichertes, völlig entspanntes Piano („Ideale“), ein grandioses Diminuendo („Vorrei morire“), und einen leuchtenden hymnischen Ton („L’alba separa dalla luce l’ombra“).

Ähnlich behandelt Flórez die Arien aus drei im spanischen Sprachraum bekannten Zarzuelas von Pablo Luna („La pícara molinera“), Reveriano Soutullo („El ultimo romántico“) und José Serrano („El trust de los tenorios“): Montserrat Caballé hat solche melodischen Kostbarkeiten schalkhaft zu Charakterstückchen geformt; Juan Diego Flórez gibt ihnen eine fein sentimentale Stimmung, ohne sie an den Schmalz zu verraten. Die Stimme bleibt dabei ausgeglichen geführt – bis in die strahlende Höhe hinein. In solchen Momenten erinnert er an den unübertroffenen König der klassischen „leichten“ Muse, den irischen Tenor John McCormack (1884-1945).

Runder, ausgeglichener Ton über den gesamten Stimmumfang

In der Oper nähert sich Flórez mittlerweile dem legendären Alfredo Kraus. Dieser 1999 verstorbene Belcantist stand in einer Zeit des oft kruden, mit Lautstärke protzenden Verismo-Gesangs für stilistische Finesse und technischen Schliff. Die wehmutsvolle Legato-Linie in „O del mio amato ben“, der wohl berühmtesten der Arien „im alten Stil“ des Wahl-Sizilianers Stefano Donaudy, dürfte Flórez derzeit niemand nachmachen. Ebenso wenig wie die elegante, bruchlose Phrasierung auf einem Atem.

Mit solchen Vorzügen kann Flórez auch in zwei Arien aus Händels „Semele“ aufwarten: Oft wird heute übersehen, dass die Gesangsschulen des 18. Jahrhunderts das Legato, die Rundung und des Ausgleich des Tons über den gesamten Stimmumfang hinweg fordern. Flórez bringt alles das mit – aber ihm fehlt in diesem Fall das stilistische Rüstzeug: Die Arien sind zu verschlafen im Tempo, zu wenig akzentuiert artikuliert. Daran hat auch der Pianist Vincenzo Scalera, ein hochberühmter Begleiter führender italienischer Sänger, seinen Anteil: Er spielt Händel, wie man „arie antiche“ vor fünfzig Jahren begleitete: zäh, mit dickem Ton und üppigem Pedal.

Leider blieb Scalera auch im Feld des romantischen Belcanto den Klavierparts einiges schuldig. Technisch sind die Triolen, Sextolen, Dreiklangbrechungen, Arpeggi und Legato-Melodien nicht anspruchsvoll, gestalterisch umso mehr. Jeder Ton braucht seine Schattierung, seine Farbe. Scalera spielt das mitunter, als korrepetiere er bei einer Bühnenprobe.

Auf dem Weg zu Donizetti und Meyerbeer

Und Juan Diego Flórez zeigt, wohin sein Weg gehen wird: zu Donizetti, zu einigen ausgewählten Verdi-Partien, vielleicht auch zu Meyerbeer. Die Romanze des Raoul aus „Les Huguenots“ gelingt ihm mit makelloses Bögen, perfekt in die Linie eingebundenen Höhen, einer kühlen Tongebung voller Finesse im Detail. Dabei ist der Klang der Stimme so unforciert tragfähig, dass man sich Flórez im Meyerbeer-Jubiläumsjahr 2014 gerne in einer Rolle dieses nach wie vor unterrepräsentierten Giganten des 19. Jahrhunderts vorstellt.

Keine Frage, dass Flórez mit der sehnsuchtsvollen Farbe in seiner Mittellage für Come un spirto angelico“ aus Donizettis „Roberto Devereux“ ein ansprechender Interpret ist. Die Tessitura liegt ihm und hilft seinem Tenor, sich tragend im Raum zu entfalten. Flórez kleidet diese Abschiedsarie in einen elegischen Ton, hält sich in den Färbungen nobel zurück und beschwört einen Stil des Singens, wie er vor der kraftvollen Expressivität eines Enrico Caruso á la mode gewesen ist.

Sein feines Vibrato ist nicht aufgedrückt, wie etwa bei neo-italienischen und osteuropäischen Sängern heute üblich, sondern wächst gleichsam natürlich mit einem gesund und substanzvoll gebildeten Ton. Das hilft ihm auch in Verdis „Je veux encore entendre ta voix“ aus der selten gespielten Oper „Jérusalem“ – einer Bearbeitung des frühen Werks „I Lombardi alla prima crociata“. Allerdings zeigt diese Arie auch Flórez‘ derzeitige Grenzen: Das Rezitativ ist zu neutral geformt; es „spricht“ nicht, verleugnet in seiner streng gefassten vokalen Disziplin, dass Verdis Oper schon einer anderen Zeit angehört als die elegischen Helden Donizetti.

Dennoch: Flórez‘ Autorität als souveräner Gestalter erfährt dadurch keinen Abbruch; eine Kompetenz, die er in den Zugaben eindrucksvoll und zum Jubel des Publikums bestätigt: Rossinis augenzwinkernder Bolero „Mi lagneró tacendo“, Flotows „M‘ appari“, die italienische Version der Arie „Ach so fromm“ aus „Martha“, und „La donna é mobile“ als „Rausschmeißer“ – in einer Formung, die Klassen über der Bemühung liegt, mit der Vittorio Grigolo auf demselben Podium vor kurzem sein Publikum unterhielt.




Ein Kapitel Foto-Geschichte: Bilder aus der Sammlung Ernst Scheidegger im Museum Folkwang

Der Blick eines Top-Fotografen: Henri Cartier-Bresson nahm dieses Motiv bei der Feuerbestattung Mahatma Gandhis 1948 auf. © Henri Cartier-Bresson / MagnumPhotos / Agentur Focus.

Der Blick eines Top-Fotografen: Henri Cartier-Bresson nahm dieses Motiv bei der Feuerbestattung Mahatma Gandhis 1948 auf. © Henri Cartier-Bresson / MagnumPhotos / Agentur Focus.

Das Folkwang Museum Essen zeigt seit heute eine Ausstellung mit rund 60 Fotografien aus der Sammlung des Zürcher Fotografen Ernst Scheidegger. Sie stammen aus einem Ankauf, den das Museum mit Unterstützung der Krupp-Jubiläums-Stiftung in diesem Jahr tätigen konnte. Anlass ist der 90. Geburtstag des Bildjournalisten und Künstlerfotografen am Samstag, 30. November.

Das Konvolut von Fotos, das nun zum großen Teil in der Sonderausstellung im Folkwang Museum zu sehen ist, stammt aus einer Schachtel, die Scheidegger jahrzehntelang verwahrt hatte. Darin sammelte er lose Abzüge, die er als junger Fotograf mit berühmten Kollegen tauschte. So erhielt er Bilder von Robert Capa, Henri Cartier-Bresson, Ernst Haas oder David Seymour. Im Januar 2013 öffnete er die Schachtel mit den Bildern seiner Freunde für Tobia Bezzola, den Direktor des Folkwang Museums. Zu den 86 angekauften Fotografien schenkte Scheidegger dem Folkwang Museum noch 25 eigene Bilder aus Burma.

Die wertvollen Vintage-Prints entstanden damals als Tauschobjekte unter Freunden – daher rührt auch der Titel der Ausstellung: „Bilder unter Freunden“. Unter ihnen finden sich Ikonen der Fotogeschichte wie Capas umstrittenes Bild „Fallender Soldat“, aber auch Reportagefotos etwa aus dem Japanisch-Chinesischen Krieg. Werner Bischof, Ernst Haas oder George Rodger spannen mit ihren Arbeiten ein weites Panorama der frühen Nachkriegsfotografie, etwa mit Aufnahmen aus dem Sudan oder dem Wien der vierziger Jahre. Von Henri Cartier-Bresson hängt unter anderem eine bestechend eingefangene Szene von der Verbrennung des Leichnams von Mahatma Gandhi 1948 in der Schau.

Sogar ein Motiv aus Essen ist unter den Bildern: Entstanden 1951, zeigt es einen Arbeiter an einer Mauer mit einer politischen Parole. Im Titel wird vermerkt, der Mann sei Mitglied einer Nazi-Jugendorganisation gewesen. Die Fotos sind teils im Pressebildformat 18×24, teils in größeren Formaten für Ausstellungszwecke abgezogen. Die Präsentation versteckt den Werkstattcharakter der ausgezeichnet erhaltenen Abzüge nicht hinter Passepartouts, sondern zeigt die Bilder in ihrem ursprünglichen Zustand, manche mit breiten unbelichteten Randstreifen.

Vielseitig tätiger Fotokünstler

EIn Foto von Ernst Scheidegger selbst, aufgenommen bei einem Initiationsfest in Burma. Es gehört zu den 25 Bildern, die der Fotograf dem Folkwang Museum Essen schenkte. © Fondation Ernst Scheidegger Archiv

EIn Foto von Ernst Scheidegger selbst, aufgenommen bei einem Initiationsfest in Burma. Es gehört zu den 25 Bildern, die der Fotograf dem Folkwang Museum Essen schenkte. © Fondation Ernst Scheidegger Archiv

Der aus Rorschach am Bodensee stammende Scheidegger hat ein Kapitel Fotogeschichte geschrieben. Einem Studium der Fotografie bei Hans Finsler an der Kunstgewerbeschule Zürich folgten Assistenzen bei Werner Bischof und Max Bill. Zwischen 1949 und 1952 verantwortete Scheidegger im Rahmen des Marshallplanes fünf internationale Foto-Ausstellungen. Vielfältig waren die Bereiche, in denen Scheidegger tätig war: Er fotografierte für die Agentur Magnum Photos, war 1959/60 Dozent an der Hochschule für Gestaltung in Ulm, verantwortete als Bildredakteur von 1960 bis 1988 die Wochenendbeilage der Neuen Zürcher Zeitung, für die er rund 200 Bildreportagen erstellte. Außerdem war Scheidegger auch als freier Filmregisseur, Verleger und Galerist tätig.

Ernst Scheideggers Archiv umfasst rund 80.000 Negative und 50.000 Diapositive, dazu Filme über Künstler und Reisereportagen. Seit 2011 pflegt die „Stiftung Ernst-Scheidegger-Archiv“ den von der Neuen Zürcher übernommenen Archivbestand, inventarisiert und digitalisiert die Bilder. 2013 erschien im Verlag Scheidegger & Spiess eine Neuausgabe des Buchs „Alberto Giacometti. Spuren einer Freundschaft“ mit rund 30 bisher unveröffentlichten Farbfotografien. Scheidegger hatte Giacometti schon als junger Mann kennengelernt und 1964 bis 1966 einen preisgekrönten Film über den Künstler gedreht.

Die Ausstellung „Bilder unter Freunden – die Sammlung Ernst Scheidegger“ im Folkwang Museum Essen wird bis 16. Februar 2014 gezeigt. An den vier Adventswochenenden ist der Eintritt in das Museum frei. Geöffnet ist das Folkwang an diesen Tagen von 10 bis 18 Uhr.




Ausstellung im Kunstmuseum: Gelsenkirchen erinnert an die Gruppe ZERO

Blick in die Ausstellung ZERO im Gelsenkirchener Kunstmuseum. Foto: Lothar Bluoss, Copyright Kunstmuseum Gelsenkirchen

Blick in die Ausstellung ZERO im Gelsenkirchener Kunstmuseum. Foto: Lothar Bluoss, Copyright Kunstmuseum Gelsenkirchen

Vor fünfzig Jahren gab es im damals noch regen Kulturleben der Stadt Gelsenkirchen einen Höhepunkt: Die Avantgarde-Bewegung ZERO zeigte in der Künstlersiedlung Halfmannshof eine wichtige gemeinsame Ausstellung. Beteiligt waren unter anderem Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker. Das Kunstmuseum Gelsenkirchen will nun mit einer Ausstellung an das Ereignis von 1963 und an die aktive Rolle von Gelsenkirchen in der Unterstützung der Avantgardekunst in den 1960er Jahren erinnern.

In enger Kooperation mit der ZERO foundation Düsseldorf werden sieben Exponate der Ausstellung von 1963 präsentiert, dazu 18 vergleichbare Werke aus dieser Zeit von allen damals beteiligten Künstlern. Die Schau des Kunstmuseums greift das Grundprinzip der ersten Gelsenkirchener ZERO-Ausstellung wieder auf und zeigt Objekte, die durch Licht und Bewegung in den Raum greifen und diesen mit einbeziehen.

Die Ausstellung umfasst zudem einen Dokumentationsteil mit einem von Heinz Mack erstellten, erstmals ausgestellten Modell für das „ZERO-Haus“, ein der ZERO-Kunst gewidmetes Museum, das die Künstler Mack, Piene und Uecker der Stadt Gelsenkirchen zur Realisierung anboten. Vertreten sind in der Ausstellung: Pol Bury, Hermann Goepfert, Hans Haacke, Oskar Holweck, Adolf Luther, Heinz Mack, Otto Piene, Uli Pohl, Hans Salentin und Günther Uecker.

Die Avantgarde-Bewegung ZERO, die zwischen dem Ende der fünfziger und dem Anfang der sechziger Jahre unter dem Zeichen einer Reduktion künstlerischer Mittel angetreten war, erhielt ihren Namen von der 1958 durch Mack und Piene begründeten Zeitschrift ZERO.

Das 1984 eröffnete Museum zeigt außer seinen 1.300 Exponaten aus den Bereichen Klassische Moderne, Konstruktivismus, Kinetik, zeitgenössische Kunst und Graphik pro Jahr sechs bis acht Wechselausstellungen. Es ist Dienstag bis Sonntag von 11 bis 18 Uhr geöffnet. Der Eintritt ist frei. Die Sonderausstellung „ZERO in Gelsenkirchen 1963/2013 – Zurück in die Zukunft“ ist bis 19. Januar zu sehen.




Schillerndes Spiel um Macht und Liebe: Glucks „Ezio“ in Frankfurt

Die Frankfurter Oper hat es wieder einmal geschafft: Mit einer Inszenierung von Christoph Willibald Glucks „Ezio“ entriss sie ein Werk aus dem Dämmerschlaf, das noch vor Glucks bedeutsamen Reformopern entstanden ist. Gleichzeitig gelang dem Haus von Bernd Loebe damit das Präludium zum Gluck-Jahr: 2014 jährt sich die Geburt dieser wichtigen Gestalt der Musikgeschichte zum 300. Mal.

Edle Roben: Christian Lacroix schuf die Kostüme für Glucks "Ezio" In Frankfurt. Sene mit Max Emanuel Cencic, Paula Murrihy und Beau Gibson. Foto: Barbara Aumüller

Edle Roben: Christian Lacroix schuf die Kostüme für Glucks „Ezio“ In Frankfurt. Sene mit Max Emanuel Cencic, Paula Murrihy und Beau Gibson. Foto: Barbara Aumüller

Die Ausgangslage ist wie bei solchen Jubiläen üblich: Einige kleine Häuser in der deutschen Theaterlandschaft kündigen Premieren von Gluck-Opern an, die Flaggschiffe steuern unbeirrt daran vorbei. Ob sich an diesem Bild noch etwas ändern wird, wenn im Frühjahr die Pläne für die Spielzeit 2014/15 publiziert werden, steht noch dahin. Obwohl ein Komponist wie Gluck dringender eine zeitgenössische theatrale Befragung bräuchte als etwa Wagner.

Das ist kein Plädoyer für ein Opernmuseum: Sicher klaffen die musikhistorische Stellung und die aktuelle Bedeutsamkeit von Komponisten oder Werken bisweilen weit auseinander. Doch gerade die letzten Inszenierungen des „Ezio“, einer noch stark an den Konventionen der „opera seria“ orientierten Oper, lassen spüren, wie brisant ein Libretto des lange als Barock-Langweilers geschmähten Metastasio wirken kann, und von welch unterschiedlichen Positionen aus sich eine Regie der Gefühls- und Affektwelt des 18. Jahrhunderts nähern kann.

Vincent Boussard macht es in Frankfurt ganz anders als Andreas Baesler 2012 in Nürnberg. Dort verlegte eine freche, bestürzend aktuelle Regie den „Ezio“ in die Tiefgarage des Staatstheaters, verwandelte die Rezitative in Sprechtext, ließ die Sänger von Schauspielern doubeln, bot eine knallharte, temporeiche Action-Tragödie. Jetzt, in Frankfurt, wehrt sich die Regie im Schulterschluss mit dem genau analysierenden Dirigenten Christian Curnyn gegen Eingriffe in Glucks Musik, mutet dem Zuhörer von heute die ausführlichen Rezitative von damals zu.

Was Baesler in Nürnberg als brutales Kammerspiel herunterfetzte, wird in Frankfurt zu hochästhetischer theatralischer Aktion. Doch man sollte sich hüten, Stilisierung mit einem Verlust an Relevanz und packender Wirkung gleichzusetzen. Manchmal sind sparsame Gesten, Verzicht auf angeheizte Erregungszustände und Abstand von starken Effekten ergreifender als der zappelige Aktionismus, der noch die letzte musikalische Sekunde szenisch gewichten will.

Boussard spitzt das Drama um den neurotischen Machtinhaber Kaiser Valentinian, seinen von Ehrgeiz und Loyalität geschüttelten Feldherrn Ezio, der alptraumhaft rachsüchtigen Vaterfigur Massimo und den beiden Frauen Fulvia und Onoria ganz allmählich zu. Das führt im ersten Teil des gut dreistündigen Abends zu einigen Durchhängern, wenn die gepflegte und aufmerksame Gestaltung der Rezitative szenisch erlahmt oder von abgelebter Melodramengestik flankiert wird. Doch je mehr sich das Netz zuzieht, je verzweifelter sich die Figuren im Labyrinth ihrer Gefühle, Intrigen und Psychosen verrennen, desto eindringlicher spielen die Darsteller, desto schärfer zeichnet die Regie die Konturen des psychischen Verfalls, der seelischen Zerrüttung.

Paula Murrihy als Fulvia und Beau Gibson als Massimo in Glucks "Ezio". Foto: Barbara Aumüller

Paula Murrihy als Fulvia und Beau Gibson als Massimo in Glucks „Ezio“. Foto: Barbara Aumüller

Vor allen anderen gelingt Paula Murrihy ein gesanglich intensives, darstellerisch bewegendes Porträt einer Frau, deren seelische Qual jedes Maß sprengt: Fulvia liebt Ezio, wird vom Kaiser begehrt, von dessen Schwester Onoria mit Missgunst verfolgt und von ihrem eigenen Vater Massimo als Instrument seiner Rache an Valentiniano missbraucht. Die Sängerin klagt mit innig geführtem Mezzosopran über ihren zerstörten existenziellen Halt, kann erhabene Verzweiflung wie edle Menschlichkeit expressiv stimmlich darstellen.

Murrihy ist nicht die einzige, die vokal überzeugen kann: Mit Max Emanuel Cenčić steht als Valentiniano einer jener seltenen Counter, denen man die artifizielle Tonbildung dank einer soliden Technik problemlos abnimmt. Cenčić zeichnet den Kaiser – der historische Valentinian III. herrschte 30 Jahre lang im Weströmischen Reich – als eine Figur von shakespearehaften Dimensionen: machtbesessen und dennoch ohnmächtig den Intrigen ausgeliefert; selbstherrlich und brutal und dennoch fast infantil schwach; renaissancehaft selbstbewusst und dennoch seinen nagenden Zweifeln bis zum Verfolgungswahn ausgeliefert.

Cenčić drückt diese schillernde Figur stimmlich ausgezeichnet, in seiner Bühnenaktion oft mit auffahrenden, aber wenig profilierten Gesten aus. Den Ezio verkörpert Sonia Prina mit einem satten „Contralto“, der manchmal ebenmäßiger geführt sein könnte – eine energische, völlig von sich eingenommene Figur mit einem unerschütterlichen Selbstbewusstsein. Cenčić und Prina sind auch Protagonisten einer „Ezio“-Aufnahme unter Alan Curtis, die 2011 bei Virgin Classics erschienen ist.

Auch die Rollen in der zweiten Reihe kann Frankfurt ansprechend besetzen: Sofia Fomina hat für Neid wie Mitgefühl brillante Töne; Beau Gibson gibt dem Massimo die paranoid-gefährlichen Züge eines Triebtäters, aber auch die schleichende Gefährlichkeit des Intriganten; Simon Bode versucht erfolgreich, den Varo aus seiner Nebenrollen-Ecke herauszumanövrieren und gibt ihm das Profil eines willig dienenden Staatsglieds, das aber im richtigen Moment die menschliche Regung der Freundschaft über die geschuldete Räson siegen lässt und damit das „glückliche Ende“ ermöglicht.

Licht- und Schattenspiele als Mittel szenischen Ausdrucks: Sonia Prina als Ezio in Glucks gleichnamiger Oper in Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Licht- und Schattenspiele als Mittel szenischen Ausdrucks: Sonia Prina als Ezio in Glucks gleichnamiger Oper in Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Mit den fulminanten Roben des Modeschöpfers Christian Lacroix landete die Frankfurter Oper einen Coup, der ihr die Aufmerksamkeit des Boulevards sicherte. Barocke Flamboyanz, gediegenes bürgerliches Tuch, malerische Fantasie – so lassen sich die Elemente beschreibe, die Lacroix nutzt, um die Bühne Kaspar Glarners zu beleben. Die ist wieder einmal einer der weißen Kästen, an denen man sich in Frankfurt satt sehen kann. Mit beziehungsreichen Licht-Schatten-Spielen von Joachim Klein ermöglichen die kahlen Wände gleichnishafte wie gespenstisch-surreale Bilder, zusätzlich verlebendigt durch behutsam die Stilisierung stützende Videos der stets einfühlsam arbeitenden Bibi Abel.

Bis die heillosen Verwicklungen endlich gelöst werden können, haben Glarner und Boussard die Bühne mit einer allmählich wachsenden Schar von Imperatoren-Statuen zugestellt, die an den berühmten Augustus von Prima Porta erinnern. Zwischen ihnen streifen Touristen in Alltagskleidern herum, glotzen und fotografieren – und drängen die Personen des Dramas aus dem Fokus der Aufmerksamkeit. Was Boussard damit auch erzielen wollte – es bleibt unerreicht; der Bruch der Handlung verfängt nicht schlüssig, sagt uns über Metastasios ausgefeiltes Psychospiel im barocken Rahmen hinaus nichts Erhellendes über die Figuren und ihre Konstellationen.

Umso mitteilsamer ist die Musik: Christian Curnyn und die 27 Musiker des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters bringen Glucks Musik leicht und leuchtend zum Klingen. Sie leugnen nicht, dass der „Ezio“ von 1750 – man spielt die frühere Prager Fassung – vergeblich nach den Errungenschaften der späteren Reformopern suchen lässt. Aber das ist kein Nachteil, denn Gluck beherrscht sein Handwerk und setzt es in den vielfältigen formalen Varianten von Rezitativ und Arie virtuos ein.

Doch zeigt sich im „Ezio“ schon, dass Gluck den Bezug zwischen Wort und Musik – im Gegensatz zu Händel in seiner „Ezio“-Vertonung – offenbar für so bedeutsam erachtet, dass er manche musikalische Finesse der dramatischen Schlagkraft opfert. Curnyn freilich bleibt dezent: Von den schlagkräftigen Wirkungen, die Gluck – und, nicht zu vergessen, sein Schüler Antonio Salieri – später einsetzen, ist in diesem „Ezio“ nur manchmal zu hören, wenn Curnyn kräftige Akzente zulässt. Es wird sich zeigen, wie sich die Frankfurter Gluck-Initiative auswirkt; am Main steht jedenfalls ab 8. Dezember mit Georges Enescus „Oedipe“ die nächste selten zu erlebende Oper um einen antiken Stoff auf dem Spielplan.




„Tristan und Isolde“ in Essen: Peter Schneiders meisterliches Dirigat

Licht-Raum in abgründiger Schwärze: Klaus Grünbergs Bühnenraum für "Tristan und Isolde" fasziniert immer wieder. Foto: Matthias Jung

Licht-Raum in abgründiger Schwärze: Klaus Grünbergs Bühnenraum für „Tristan und Isolde“ fasziniert immer wieder. Foto: Matthias Jung

Hätte dieser Liebestod doch alleine im Orchestergraben stattgefunden! Musikalisch geformt von Peter Schneiders kundiger Hand, aufblühend aus einem delikaten Piano zu fiebrigem Glanz, transparent, geschmeidig und klangvoll, in leuchtender Ekstase auf dem Höhepunkt der dynamischen Entfaltung.

Aber zum Schlussgesang von „Tristan und Isolde“ gehört die Stimme – in Essen diejenige von Evelyn Herlitzius. Und die allseits gefeierte Sängerin brach am Aalto-Theater in der letzten der drei „Tristan“-Vorstellungen dieser Wagner-Jubiläums-Spielzeit den magischen Moment des Verströmens herunter auf höchst irdisches Buchstabieren.

Herlitzius hatte schon die Premiere von Barrie Koskys Inszenierung unter Stefan Soltesz 2006 gesungen. Es war ihre zweite Isolde nach Chemnitz – und die erste vor international relevanten Bühnen wie Dresden, Wien, Berlin. Bei ihrem Essen-Debüt lobte die Kritik ihre vokale Risikobereitschaft, ihren bedingungslosen Einsatz. Das stimmt auch für 2013, nur: Evelyn Herlitzius hat darüber vergessen, dass Isolde nicht nur ein Parforceritt im Zeichen von Forte- und Fortissimo-Anspannung ist. Der erste Akt geriet mit überbordender vokaler Gewalt zu einem Schrei-Duell mit der schönstimmigen, nur manchmal in der Höhe spitzen Martina Dike. Und der „Liebestod“ begann nicht „mild und leise“ – und setzte sich fort im Versinken und Ertrinken in riesigen Tönen, weit abgekehrt von sauberer Artikulation, flexiblem Legato oder sinnlichem Strömen.

Im zweiten Akt zeigte sich, dass allen prachtvollen Volumens zum Trotz der Kern der Stimme im Mezzoforte nicht erfüllt fließend, sondern flackernd gespannt klingt. Der Gegensatz zu Jeffrey Dowd, der sich bemüht, den Tristan lyrisch grundiert und entspannt zu singen, kann nicht größer sein: Zwei Stimmen, die im Duett nicht harmonieren, zumal Dowd die leuchtend-expansive Höhe nicht aufbringen kann. Mit kluger Ökonomie bewältigt das bewährte Essener Ensemblemitglied den dritten Akt, lässt sich nicht zum Forcieren hinreißen und kleidet so die Sehnsuchtsverzweiflung Tristans eher in resigniert gedämpfte als in aufbrausend gewaltige Klänge.

Resignation und Hingabe: Jeffrey Dowd (Tristan) und Heiko Trinsinger (Kurwenal) im dritten Aufzug von "Tristan und Isolde" in Essen. Foto: Matthias Jung

Resignation und Hingabe: Jeffrey Dowd (Tristan) und Heiko Trinsinger (Kurwenal) im dritten Aufzug von „Tristan und Isolde“ in Essen. Foto: Matthias Jung

Mit Liang Li präsentierte sich ein neuer König Marke, der die Partie aus einem kantablen Ansatz heraus gestaltet, aber hin und wieder den Ton nicht ausreichend fokussiert. Vielleicht kommt die Partie für den Bass, der einen mustergültigen Banco im Essener „Macbeth“ gesungen hat, noch zu früh. Tadellos Heiko Trinsinger, der die Rolle des Kurwenal szenisch wie musikalisch weiter verinnerlicht hat: Überzeugender als früher lässt er den Klang strömen, bildet kraftvolle Höhe statt mit gestautem mit freier gehaltenem Atemfundament. Die sorgende Zuwendung zu dem tödlich getroffenen Freund Tristan und das bedingungslose Einstehen für sein Leben haben in Trinsingers Gestaltung berührende Größe.

In den von Wagner weniger ausgiebig bedachten Partien kann das Aalto-Theater auf bewährte Sänger zurückgreifen: Albrecht Kludszuweit als kultiviert singender Hirte, Mateusz Kabala als klischeeferner Melot, Rainer Maria Röhr als Seemann und Thomas Sehrbrock als Steuermann. In der szenischen Wiederaufnahme gab sich Frédéric Buhr alle Mühe, die Intentionen Koskys zu reanimieren. Dennoch: Klaus Grünbergs Bühne mit dem in riesenhafter Schwärze schwebenden Licht- und Erzähl-Raum ist das Plus dieser Produktion, die Kosky nach einigen modisch-überflüssigen Sexual-Errationen im ersten und einer sorgfältigen, aber wenig pointierten Personenregie im zweiten und dritten Akt unschlüssig enden lässt.

Peter Schneider. Foto: TuP/Vivianne Purdom

Peter Schneider. Foto: TuP/Vivianne Purdom

So bleibt als prägender Eindruck das meisterliche Dirigat Peter Schneiders. Lange Erfahrung, eine intime Kenntnis der Partitur, Achtsamkeit für die Sänger prägen seine Auffassung. Schneider knüpft an der intensiven Arbeit von Stefan Soltesz an, der die drei „Tristan“-Vorstellungen ursprünglich als Gast an seinem langjährigen Stammhaus dirigieren sollte, aber alle Aalto-Auftritte abgesagt hat. Auf die Essener Philharmoniker ist Verlass: von der genau ausgehörten Streicher-Balance über die konturscharf zugeschnittenen prominenten Bläser-Momente, den solistischen Glanz bei Hörnern oder Holzbläsern bis hin zu Andreas Goslings elegisch-intensivem Englisch Horn.

Schneider nutzt dieses „Kapital“ für einen schlanken, fließenden Duktus der Musik, für bewegte Tempi – die nur im zweiten Aufzug die Holzbläser für einige Momente hastig wirken lassen – und für einen aufgelichteten Mischklang, der Details nicht zudeckt, aber auch nicht über Gebühr heraushebt und damit die Rundung des Klangs beeinträchtigt. Der dritte Aufzug beginnt mit der schmerzlich intensiven Tönung durch die tiefen Streicher und begeistert durch exquisit kultivierte Piano-Schattierungen und die Kunst des Übergangs – wie sie bei Schneiders letztem „Tristan“-Dirigat 2012 in Bayreuth schon zu bewundern waren. Wie hätte Wagner reimen können? In diesem „Tristan“ webt Wunder ein wissender Weiser.




Zwischen Avantgarde und Neo-Romantik: Krzysztof Penderecki ist 80 Jahre alt

Krzysztof Penderecki. Foto: Marek Beblot

Krzysztof Penderecki. Foto: Marek Beblot

Seine Musik kennen auch Menschen, die mit zeitgenössischer klassischer Musik nichts anfangen können, und seine Anfänge als weltweit renommierter Komponist sind eng mit Nordrhein-Westfalen verbunden: Heute, am 23. November, feiert Krzysztof Penderecki seinen 80. Geburtstag. Vergleichbar ist seine Popularität vielleicht noch mit Philip Glass oder Arvo Pärt – aber sonst gibt es nur wenige „klassische“ Komponisten, die seine Breitenwirkung erreichen.

Das Geheimnis hinter der ungewöhnlichen Akzeptanz liegt nicht allein in Pendereckis jüngsten Crossover-Konzerten oder in seiner Filmmusik. Der Pole hat die Frage, wie Komponieren heute geht, für sich klar beantwortet: „Ich glaube an eine Musik, die Wurzeln hat“, sagte er 2003 in einem Interview. Und aus diesen Wurzeln der europäischen Musik, die man „nicht vergessen darf“, schöpft Penderecki mit ungeheuerer Energie einen Teil seiner Inspiration.

Seine kreative Rückwendung, oft als Neo-Romantik kategorisiert, hat ihm nicht nur Freunde eingebracht. Kritiker und Komponisten-Kollegen stoßen sich an einem Stillstand, den Penderecki unverblümt zugibt: Seit vielen Jahren habe sich sein Musikstil nicht mehr geändert. Helmut Lachenmann wird mit dem spöttischen Wort zitiert, Penderecki sei der „die tonalen Paarhufer anführende Herr Penderadetzky“.

Das war nicht immer so: Mit seinen ersten Erfolgen wurde er unter die Avantgarde Europas eingereiht: „Aus den Psalmen Davids“ erregte 1958 Interesse; da hatte er gerade sein Studium am Krakauer Konservatorium beendet. 1959 gewann er bei einem polnischen Wettbewerb gleich drei Preise: Er hatte seine Stücke unter verschiedenen Namen eingereicht. Am 16. Oktober 1960 führte Hans Rosbaud bei den Donaueschinger Musiktagen „Anaklasis“ auf. Das Stück für Streicher und Schlagzeug katapultierte den 27-jährigen Polen in die Sphäre der Berühmtheit. Sein „Threnos“ für die Opfer von Hiroshima (1961) war jahrelang das meistgespielte zeitgenössische Werk.

„Die Avantgarde ist gestorben“

Doch längst legt Penderecki keinen Wert mehr darauf, zur Avantgarde zu gehören. Er habe sehr früh in seinem Leben Entdeckungen gemacht, sagte er im Interview. „Und dann habe ich festgestellt, dass ich nicht mein ganzes Leben lang Cluster schreiben will. Oder wieder etwas Neues erfinden, damit man in der ersten Reihe der Avantgarde steht. Die Avantgarde ist gestorben, das hat zehn Jahre gedauert, ca. von 1950 bis 1960, danach war es vorbei. Diejenigen, die das nicht verstanden haben, machen weiter, aber das ist sehr epigonal.“

Die „Wende“ kam recht früh in Pendereckis Biografie. Die „Flourescences für Orchester“ waren 1962 noch im damaligen Mainstream der Moderne eingeordnete Erforschungen klanglicher Möglichkeiten. Penderecki nannte es ein dekadentes Stück, das das klassische Orchester zerstört. Danach sei ihm klar gewesen, dass es für ihn so nicht weitergehe. Er schrieb ein „Stabat Mater“, ein Stück für Chor a cappella, das 1966 in die „Lukas-Passion“ aufgenommen wurde.

Kunstpreis NRW und Folkwang-Lehrauftrag

Dieses groß angelegte Oratorium war ein Auftragswerk des Westdeutschen Rundfunks anlässlich des 700jährigen Weihejubiläums des St. Paulus-Doms in Münster und wurde 1966 dort uraufgeführt. Der junge Komponist, damals 30 Jahre alt, hatte zum ersten Mal die erträumte große Form realisiert. Seine Studien des Kontrapunkts des 16. Jahrhunderts, die Entdeckung Bruckners als post-romantischen Symphoniker, die Referenzen auf Schostakowitsch, aber auch die Erfahrungen mit der Avantgarde, mit moderner Klangerzeugung und mit der menschlichen Stimme flossen in diesem Werk zusammen.

Der Erfolg war überwältigend: Mit Aufführungen in Warschau und Krakau durfte er zum ersten Mal im kommunistischen Polen geistliche Musik im Konzertsaal darbieten. Die Folkwang Hochschule in Essen bot ihm eine Dozentur. Von 1966 bis 1968 lehrte und lebte Penderecki mitten im Ruhrgebiet.

Die „Lukas-Passion“ brachte Penderecki mit dem Großen Kunstpreis des Landes Nordrhein-Westfalen die zweite bedeutende internationale Auszeichnung ein. Unter seinen zahllosen Preisen und Titeln zeigen einige weitere, dass er mit der Rhein-Ruhr-Region dauerhaft verbunden war – so der Musikpreis der Stadt Duisburg 1999 und der Staatspreis des Landes 2002. Außerdem ist er Ehrendoktor der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster.

Mit seinen Werken erwarb er sich in den folgenden Jahrzehnten die Zustimmung des Publikums. Die Ablehnung von Teilen der Musikkritik und der komponierenden Kollegen blieb. Seine erste Oper, „Die Teufel von Loudun“ (1969) erhielt bissige Kritiken. Dem Werk, das Rolf Liebermann für die Hamburgisch Staatsoper in Auftrag gegeben hatte, warf etwa Joachim Kaiser in der „Zeit“ die „banale Bilderfülle“ des Textbuchs vor, notierte einen „Eindruck der Trostlosigkeit und Uninspiriertheit“. Der Großkritiker ätzte, die Musik zu den „Teufeln von Loudun“ klinge oft deprimierend simpel und monoton.

Ironische Kritik an Pendereckis Werken für Musiktheater

Auch „Paradise Lost“ (1978) kam nicht besser weg: Heinz Josef Herbort kommentierte die Musik zu der „sacra rappresentazione“ nach Milton mit hintersinniger Ironie: Penderecki beherrsche seine seit zwanzig Jahren bekannten Techniken so gut, dass er von ihnen nicht mehr loskomme. „Paradise Lost“ war 2001 in Münster wieder einmal zu sehen: Der Eindruck, Penderecki habe nur seine erprobten, längst bekannten Mittel eingesetzt, ist nicht von der Hand zu weisen.

Auch als Dirigent eigener und fremder Werke genießt Penderecki einen exzellenten Ruf. Seine Beethoven-Dirigate etwa werfen stets ein erhellendes Licht auf den Komponisten-Kollegen aus der Vergangenheit. Foto: Ludwig van Beethoven Association, Bartosz Koziak

Auch als Dirigent eigener und fremder Werke genießt Penderecki einen exzellenten Ruf. Seine Beethoven-Dirigate etwa werfen stets ein erhellendes Licht auf den Komponisten-Kollegen aus der Vergangenheit. Foto: Ludwig van Beethoven Association, Bartosz Koziak

Trotz allem: Der Erfolg blieb und bleibt Penderecki treu. Sein Werkverzeichnis ist immens. Seit 1972 sind die Sinfonien Nummer eins bis fünf, sieben und acht entstanden; die noch fehlende Sechste will der Komponist demnächst vollenden. Seine Gerhart-Hauptmann-Oper „Die schwarze Maske“ traf ebenso wie seine komische Oper „Ubu Rex“ auf weltweite – leider nicht anhaltende – Aufmerksamkeit.

Mit „Dies Irae“, einem Oratorium zum Gedächtnis der Opfer von Auschwitz (1967) begann eine Reihe großer Werke für Chor, Solisten und Orchester: „Kosmogonia“ (1970) zum 25-jährigen Bestehen der UNO; ein „Te Deum“ (1980), das er nach eigenen Worten spontan nach der Wahl Karol Woityłas zum Papst geschrieben hat; schließlich das „Polnische Requiem“ von 1984 und ein „Credo“ 1998. In diesem Jahr wurde seine Messe für den Thomanerchor uraufgeführt – ein Beitrag zum 700jährigen Bestehen dieser Leipziger Institution von Weltgeltung.

Ein Publikum, das klassische Konzerte, noch dazu mit Musik von heute, kaum je einmal live erlebt, kennt Penderecki dennoch – vielleicht sogar, ohne es zu wissen: Die Soundtracks von Filmen wie „Shining“ von Stanley Kubrick, „Shutter Island“ von Martin Scorsese oder David Lynchs „Wild At Heart“ stammen von ihm. Bei seinen Festival-Auftritten mit dem Radiohead-Gitarristen Jonny Greenwood in Polen und in England wurde er von 50 000 Besuchern wie ein Pop-Star gefeiert.

Seit etwa 1998 konzentriert sich Penderecki auf Solokonzerte und Kammermusik. Viele Werke schrieb er für berühmte Interpreten, etwa ein Cello-Capriccio für Siegfried Palm oder das Zweite Violinkonzert („Metamorphosen“) für Anne-Sophie Mutter. Im Dezember führt die Geigerin in New York sein neues Werk auf, die Sonate „La Follia“ für Violine solo. Und der Komponist bekennt, er habe im Kopf noch Stoff für zwanzig Jahre Arbeit – unter anderem an einer Oper „Fedra“ als Auftragswerk der Wiener Staatsoper.

Das MDR Fernsehen zeigt heute, 23. November, 23.30 Uhr, einen Film von Anna Schmidt über Krzysztof Penderecki: „Wege durchs Labyrinth„.

In Münster steht ab 18. Januar 2014 das Tanztheater „Das Schloss“ nach Franz Kafka auf dem Programm des Stadttheaters. Zur Choreografie von Hans Henning Paar erklingt der vierte Satz von Pendereckis 3. Sinfonie.




Neue Sicht auf altes Motiv: Thomas Schüttes „Frauen“ im Museum Folkwang Essen

Einer der "Großen Geister" Thomas Schüttes vor dem Essen Saalbau. Foto: Werner Häußner

Einer der „Großen Geister“ Thomas Schüttes vor dem Essen Saalbau. Foto: Werner Häußner

Die Essener müssten ihn kennen. Zumindest drei seiner Werke. Wer durch den Stadtpark geht, am RWE-Pavillon der Philharmonie vorbei, kann sich ihrem Eindruck nicht entziehen. Drei Riesen marschieren da auf. Klobig und doch filigran, humanoid geformt und doch wie Wesen von einem anderen Planeten, mit wulstigen Körpern und Gliedmaßen. Das Trio „Große Geister“ stammt von Thomas Schütte, der als einer der bedeutendsten Bildhauer der Gegenwart gilt.

Der in Düsseldorf lebende Künstler hat soeben den Ernst-Franz-Vogelmann-Preis für Skulptur 2014 erhalten. Es ist eine der renommierten Auszeichnungen; dafür spricht auch die Dotation mit 25.000 Euro. Um seinen Rang zu bestätigen, hätte Thomas Schütte den Preis nicht gebraucht, eine schöne Anerkennung ist er dennoch.

In Essen gibt es momentan jedoch noch mehr Schütte: Das Folkwang Museum zeigt noch bis 12. Januar 2014 seine „Frauen“. Die Serie von achtzehn monumentalen Plastiken ist erstmals komplett in Deutschland zu sehen. Die Arbeiten in Bronze, Stahl oder Aluminium variieren das Thema des liegenden weiblichen Körpers. Kunstgeschichtlich nun wahrlich kein Neuland. Doch was Thomas Schütte aus dem Vorgegebenen macht, ist eine kühne Verbindung eines alten Motivs mit einer neuen Sicht. Tradition ist sichtbar nicht in der Negation, nicht im offenen Protest. Sondern in einer Verschmelzung mit einer durch und durch zeitgenössischen Formsprache, die sich Schütte unverwechselbar für sich selbst und aus sich heraus angeeignet hat.

In den weiten, voluminösen Räumen des neuen Folkwang Baus liegen sie, wunderbar proportioniert, auf Tischen. Sind das Arbeitstische? Bahren? Labor-Installationen? Oder einfach nur Sockel in der archaischen Form einer Platte mit vier Beinen? Dem Betrachter bleibt überlassen, was er sehen will. Aber Schüttes Anordnung hat einen demonstrativen Charakter, der sich auch von der Figur distanziert. Sie zeigt den „Werk“-Charakter, die Scheu vor dem Fertigen, vor der Behauptung einer Vollendung.

Thomas Schütte: Frau Nr. 5. Foto: Museum Folkwang

Thomas Schütte: Frau Nr. 5. Foto: Museum Folkwang

Perfekt sein wollen nur die Oberflächen. Die Skulpturen sind edel verarbeitet. Schwarz glänzender, makelloser Lack. Kühl wertvolle Silberglätte. Spiegelndes Gold. Grelle Lackschichten in Magenta, Blau oder Rostrot, wie der Metallic-Überzug eines teuren Sportwagens. Selbst die schwarz mattierte Bronze, das Rostbraun des Stahls wirken vollendet. Und die Größe der Skulpturen lässt die porigen Oberflächen des rohen Aluminium-Gusses oder des unbearbeiteten Metalls versöhnlich hinter die gewaltige Form zurücktreten.

Schütte ist weit davon entfernt, sich ständig selbst zu zitieren. Die „Frauen“ haben ein Thema gemeinsam, doch wie es konkret ausformuliert ist, variiert der Bildhauer ständig. „Frau 12“ von 2003 etwa ist gegenständlich aufgefasst, anatomisch wenig verfremdet. „Frau 8“ dagegen, aus dem Jahr 2001, zeigt abstrakt fließende Formen und große glatte Flächen. „Frau 16“ von 2005 wirkt auch durch das Material – unbearbeitetes Aluminium – wie ein Reflex auf die arte povera. Und „Frau 15“, entstanden zwischen 2003 und 2009, spiegelt das Licht auf ihrer rostroten Metallic-Lackierung tausendfältig; erinnert mit kantig-prismatischen Flächen an die geometrisch inspirierten Gemälde eines Lyonel Feininger.

Thomas Schütte: Aluminiumfrau Nr. 4. Foto: Nic Tenwiggenhorn

Thomas Schütte: Aluminiumfrau Nr. 4. Foto: Nic Tenwiggenhorn

Die Großskulpturen fangen den ersten Blick ein, aber darüber sollte der Besucher nicht die Keramiken vergessen. Zwei Werkgruppen, die „Ceramic Scetches“ und „Es tut mir leid – es tut mir sehr leid“, sind präsentiert in hohen Regalen, leider oft oberhalb der Sicht normal großer Menschen. Die Keramiken sind keine Entwürfe zu konkreten Frauen-Skulpturen, obwohl sich ihre Formen im Großen zum Teil wiederfinden. Sie sind eher inspirierende Vorarbeiten, die aber selbständig und autonom gesehen werden wollen – Dokumente der „Formsuche“, wie Schütte sie selbst nennt.

Auch hier wechselt das Formenspektrum zwischen organisch-körperlich und intuitiv-abstrakt. Manche sind gegenstandslose Gebilde, geformt aus fetten Tonwürsten, farbenfroh glasiert. Andere nehmen den Bewegungsgestus einer Figur auf, ohne den Körper nachzuformen. Wieder andere repräsentieren emotionale Gebärden: einen Schrei, ein Aufbegehren, auch Verinnerlichung oder Verzweiflung. Bei anderen ist die Anatomie brutal gestört durch deformierte Köpfe oder zerdrückte Gliedmaßen. Die absichtslose Souveränität der Form lässt diese „Scetches“ dennoch fertig – und faszinierend – wirken.

Thomas Schütte. Foto: Michael Dannemann

Thomas Schütte. Foto: Michael Dannemann

Mit viel Spaß am Hintersinn und an der traumhaft sicher aufs Blatt geworfenen Zeichnung betrachtet man die circa 100 Zeichnungen und Aquarelle aus der Werkgruppe „Deprinotes“ aus den Jahren 2006 bis 2008: spontan wirkende, oft humorvolle Capricci, mit denen sich Thomas Schütte dem rätselvollen, verstörenden Alltag, aber auch den „großen Themen“ von Himmel und Hölle nähert – mit feinsinniger Naivität oder mit sanftem Sarkasmus.

Thomas Schüttes „Frauen“ sind bis 12. Januar 2014 im Folkwang Museum Essen zu sehen. Das Museum ist Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr, Freitag von 10 bis 22.30 Uhr geöffnet. Der Eintritt für Museum und Sonderausstellung kostet acht Euro, ermäßigt 5 Euro. Am 13. Dezember, 19 Uhr, kommt Thomas Schütte selbst ins Folkwang und spricht über seine Schöpfungen.

Der Katalog „Thomas Schütte. Frauen“ ist bereits 2012 – zur ersten kompletten Ausstellung aller 18 Großskulpturen im Museo d’Arte Contemporanea Castello di Rivoli bei Turin – im Verlag Richter & Fey, Düsseldorf, erschienen. Er enthält auf 160 Seiten unter anderem 195 Fotos und Beiträge von Andrea Bellini und Dieter Schwarz. Der Preis beträgt 39 Euro.




Romantischer Feuerkopf: Ein Berlioz-Programm mit Valery Gergiev in Essen

Hector Berlioz konnte kurzweilig und scharfzüngig erzählen. In seinen Memoiren schildert er, wie er einst auf den Pariser Grandes Boulevards François Adrien Boieldieu traf. Der Kollege, Autor hübsch-frivoler komischer Öperchen, bemühte sich zu erklären, warum Berlioz mit seinem Werk „La Mort de Cléopâtre“ beim Wettbewerb für den Rom-Preis gescheitert ist: zu neu, zu unerhört. Berlioz konterte, er hatte ja Seelennöte und Qualen darzustellen. Ein Argument, das der verbindliche Boieldieu, der mit seiner Musik angenehm und höchstens mit feiner Ironie unterhalten wollte, wohl nicht verstanden hat.

Valery Gergiev. Foto: Marco Borggreve

Valery Gergiev. Foto: Marco Borggreve

Trotz eines Abstands von bald 200 Jahren: Die Kantate, mit der sich Berlioz 1829 vergeblich um den begehrten „Prix de Rome“ bewarb, lässt spüren, wie irritierend ungewohnt, drastisch und direkt Berlioz Gefühle in Musik fasste: düstere Akkorde, originelle Rhythmen, beängstigende Ausgriffe an die Grenzen der Harmonik. Die ägyptische Königin Kleopatra beklagt, bevor sie sich von einer Schlange den tödlichen Biss geben lässt, den Glanz ihrer Vergangenheit, die Schmach ihrer aussichtslosen Lage und die Angst vor ihrem Schicksal nach dem Tode.

Das London Symphony Orchestra entlässt Berlioz‘ klagende Klänge, seine fahlen Farben, auch sein dramatisches Dröhnen mit Sinn für die feuerköpfige Romantik des Franzosen in den weiten Raum der Essener Philharmonie. Die Musiker treffen unter Valery Gergievs hochkonzentrierter Leitung den dunkel-feierlichen Schicksalston ebenso wie die unerbittliche Steigerung. Auch wenn Berlioz von Debussy bis Schreker viele würdige Nachfolger gefunden hat: sein visionäres Genie in der Erfindung unerhörter Klänge fasziniert bis heute. So gepflegt und satt timbriert wie Karen Cargill die Cléopâtre sang, mag man sich heute noch wundern, wie wenig sich die Herren der Pariser Akademie auf diese expressive Musik eingelassen haben. Berlioz hat den Rom-Preis übrigens doch noch gewonnen: ein Jahr später mit seiner Kantate „La Mort de Sardanapale“.

Grandvilles berühmte Karikatur von Hector Berlioz als  Orchester-Feldherr, publiziert in "L’Illustration" 1845.

Grandvilles berühmte Karikatur von Hector Berlioz als Orchester-Feldherr, publiziert in „L’Illustration“ 1845.

Im selben Jahr, 1830, und im selben Konzert am 5. Dezember erklang zum ersten Mal ein Werk, das zu den Marksteinen der Symphonie des 19. Jahrhunderts gehört: die „Symphonie fantastique“. Mit diesem romantischen Fieberwahn in Musik zeigten Gergiev und das LSO, dass das Erbe des unvergessenen Dirigenten und grandiosen Berlioz-Pioniers Sir Colin Davis – er spielte mit dem Orchester den ersten Berlioz-Zyklus überhaupt ein – in würdigen Händen ruht. Das Gastspiel in Essen ist Teil einer umfangreichen Berlioz-Reihe, die in der Barbican Hall in London begann und das Orchester u. a. noch in die Salle Pleyel nach Paris führen wird.

Valery Gergiev, neben Daniel Barenboim der mächtigste Dirigenten der Gegenwart, bekennt sich zur Musik des Franzosen: „In Berlioz‘ Orchester können zwei oder drei Vulkane in einem Moment ausbrechen“, schwärmt er in einem Interview. „Und da ist auf seiner Palette diese außerordentliche Vielfalt von Farben.“ Schon vor vierzig Jahren, so sagt Gergiev, seien Berlioz‘ Memoiren sein Lieblingsbuch gewesen – lange bevor er auch nur davon träumte, eines Tages seine Musik zu dirigieren.

Ein Bekenntnis, das in einer passionierten Interpretation seine Wahrheitsprobe besteht: In einem sparsamen Dirigierstil, mit gefassten, manchmal ungeduldigen Gesten, aber ohne jedes Show-Getänzel lockt Gergiev aus dem Orchester ein Höchstmaß an Konzentration und klanglicher Präsenz. Er zieht die große Linie intensiv aus, er füllt Details mit Ausdruck. So bauen sich schon die scheinbar nur koloristischen Zwecken dienenden Pizzicati der Kontrabässe in der Einleitung zum dynamischen Spannungsbogen auf.

Die Musiker des Londoner Orchesters sind auf der Höhe ihres Könnens. Dass die Holzbläser an manchen Stellen klanglich zurücktreten, mag der Akustik geschuldet sein. Dort, wo sie süße und schreckliche Schauer hervorrufen sollen, sind sie auf dem Plan: elegisch wie das Englischhorn, grotesk wie die irre kreischende Klarinette in ihrem fratzenhaften Solo. In Tempo und knalliger Dynamik fordert Gergiev Äußerstes: Er feuert den Walzer an zu einem bizarr verrenkten Tanz, lässt den Hexensabbat in klirrender Schärfe und krachender Wucht explodieren, setzt aber auch bleierne Erstarrung und müde-benebelte Klangvisionen an der Pianissimo-Grenze dagegen.

Die „Waverley“-Ouvertüre, Berlioz‘ Opus eins, zu Beginn des Konzerts, ist nicht nur ein Zeugnis seiner intensiven Lektüre von Sir Walter Scott, sondern auch eines für die Wurzeln des Komponisten: Die persönliche Handschrift ist noch stark grundiert von Erinnerungen an die klassisch-erhabene Klangwelt von Cherubini und Spontini. Und in der Zugabe, dem Marsch aus „La Damnation de Faust“, hören wir, wie sich Berlioz mit den Wurzeln der deutschen Romantik verbindet – eine Liaison, die ihm den Weg zu einem Förderer und Bewunderer geebnet hat: Franz Liszt.




Mätzchen eines Show-Tenors: Vittorio Grigolo in Essen und Dortmund

Ein Glück, dass er nur den obersten Hemdenknopf geöffnet hat. Wer weiß, ob die enthusiasmierten Damen beim Anblick einer behaarten Brust nicht in Ohnmacht niedergesunken wären. Vittorio Grigolo, die neue italienische Tenor-Hoffnung mit der Betonung auf dem ersten „o“, hat seinen Auftritt in der Essener Philharmonie – der zwei Tage später auch im Konzerthaus Dortmund zu erleben war – zu einer Show genutzt, die sich gar nicht mehr die Mühe macht, den Anschein zu erwecken, als ginge es um die Kunst Donizettis, Verdis oder Puccinis.

Vittorio Grigolo. Foto: Alex James

Vittorio Grigolo. Foto: Alex James

Grigolo, schwarze Locken, gute Figur, dunkle Feueraugen – ein Mann, der sich vom Äußeren her zweifellos zum Tenorstar eignet. So einen brauchen die Italiener, die seit vierzig Jahren ihr musikalisches Bildungssystem und ihr Musikleben ruinieren. Einen, der den längst hohl gewordenen Mythos vom Land des Belcanto und der feurigen Hasardeure auf den Spitzen des hohen C stützt. Tatsache ist: Aus Italien kommt schon lange kein bedeutender Sängernachwuchs mehr – und auch Vittorio Grigolo ficht eher in der Nachhut als in der Attacke.

Wo es an stimmlicher Überzeugungskraft fehlt, muss die Charme-Offensive herhalten. Also wischen wir uns vor „Una furtiva lagrima“ demonstrativ eine heimliche Träne aus dem Auge, um diese sanfte, verinnerlichte, am Rande einer verzweifelten Selbsttäuschung lavierende Arie dann zu singen, wie sie garantiert nicht gemeint ist: extrovertiert, mit mangelhafter Linie, mit hochgedrückten Tönen statt eines fein dynamisierten Legatos, mit substanzlosen Piani und dem falschen Strahlen eines ziemlich hart sitzenden – und hier noch dazu unangebrachten – Forte, wenn der schüchterne Nemorino meint, bei seiner Angebeteten Spuren von Liebe entdeckt zu haben.

Grigolo bedient das Zuschauen, nicht das Zuhören. Er verzieht die Miene wie eine antike Theatermaske, stellt Schmerz oder Wonne überaffektiert aus, statt solche Gefühle stimmlich zu beglaubigen. Er wirkt wie eine Mischung aus Cecilia Bartolis artistischer Darstellungskunst und Rolando Villazóns übertriebenem Chargieren. Doch wo man den beiden das ernsthafte Engagement für die Musik, die sie ihrem Publikum präsentieren, abnimmt, drängt sich bei Grigolo vor allem der Eindruck einer abgeschmackten Fassade auf.

Denn wie soll man es sonst nennen, wenn der Tenor zu „Che gelida manina“ aus Puccinis „La Bohème“ erst mal armereibend den Menschen im Saal klarmachen zu müssen glaubt, dass an dieser Stelle gefroren wird. Wenn er sich hinkniet und seine – nach einem dünntönigen Aufstieg – respektable Höhe auf „speranza“ einer Dame in der Saalecke  hinschmettert? Und wenn er, in komischem Widerspruch zu den Frost-Signalen vorher, das Jackett auszieht und in einer pathetisch outrierten Geste auf den Boden breitet. So stellt sich Lischen Müller die Oper vor. Oder liegt die plötzliche Hitzewallung einfach daran, dass die imaginierte Mimí nun das Feuer des „Latin Lovers“ entzündet hat?

Wie auch immer, solche Eskapaden erinnern eher an Schmuseklassik à la André Rieu oder an Grigolos eigene Crossover-Vergangenheit als an eine seriöse Auseinandersetzung mit dem, was die Komponisten in ihre Musik gelegt haben. Die erste der drei Arien des Programms – mehr hatte Grigolo nicht zu bieten – eignete sich am wenigsten für pseudoszenische Mätzchen: Donizettis bewegendes „Angelo casto e bel“ aus „Il Duca d’Alba“ war mit nervöser Spannung aufgebaut. Um Brillanz zu erreichen, drückt Grigolo den Ton in die Maske. Die Folge: Die Piani können nicht auf dem Atem gebildet werden, bleiben substanzlos wie der Falsetteinsatz in der Höhe auf dem ausklingenden „dolor“.

Die Zugabe musste ein Schlager sein: Der Auftritt des Herzogs von Mantua aus Verdis „Rigoletto“ geriet beinahe zum Mitklatschen – nebst besagter Öffnung des Hemdenknopfs zwecks emotionaler Aufreizung. Die Rechnung geht, das ist das Erschütternde, weitgehend auf: Blümchen, Küsschen, Winkewinke. Da fallen diejenigen im Publikum, die nicht auf die Show hereinfallen, nicht weiter auf.

Der Mythos der „Scala“ lebt nur noch aus dem Glanz der Vergangenheit

Die Filarmonica della Scala half mit, das abgründige Niveau des Abends zu fördern; sicher auch ein Verdienst von Andrés Orozco-Estrada, der den Temperamentsbolzen am Pult mimte und so den Eindruck eines seriösen Dirigenten gefährdete. Auch die Scala lebt vom Nachleuchten eines Mythos, der längst seinen musikalischen Realitätsbezug verloren hat – und die Mailänder Musiker bestätigen das auf umwerfende Weise: So plump und lärmend ist die Ouvertüre zum „Barbiere di Siviglia“ weder in Gelsenkirchen noch in Krefeld zu hören. Das Orchester drosch auf Rossinis filigrane Noten ein, als habe es nie eine kritische Edition mit erheblichen instrumentalen Korrekturen gegeben.

Mascagnis Intermezzo aus „Cavalleria rusticana“ – dass dieser Komponist 2013 sein 150. Geburtsjahr hat, ist auch in Italien untergegangen – geriet zum seifigen Schmachtfetzen. Und in der Ouvertüre zu Verdis „Les Vêpres Siciliennes“ scheinen die saftig drauflos spielenden Scala-Musiker bestätigen zu wollen, dass diese Vorspiele zu italienischen Opern vor allem Lärm seien, um das Publikum zum Schweigen zu bringen. Immerhin: Orozco-Estrada hat den Musikern wohl nahegebracht, dass der Kontrast zwischen dem ätherischen Flirren der Geigen und den ruppig-bösen Einwürfen der Bässe musikalische Innenspannung aufbaut und Expressivität konstituiert.

Der an das Arienkonzert angeklebte zweite Teil mit Modest Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ in der Orchesterfassung von Maurice Ravel rettete nichts mehr – trotz guter Eindrücke über die virtuose Reaktionsschnelligkeit einiger Orchestermusiker. Doch der Anlass zur Klangüberflutung wurde nicht erst am „Großen Tor von Kiew“ wieder dankbar angenommen und umgesetzt – in einer Wucht, die sich am Ende dieses desaströsen Events längst abgenutzt hatte.




Zur Ikone stilisiert: Eine gelungene szenische „Giovanna d’Arco“ in Bielefeld zum Verdi-Jahr

Astrid Kessler als Giovanna in Verdis Oper "Giovanna d'Arco" in Bielefeld. Foto: Bettina Stöß

Astrid Kessler als Giovanna in Verdis Oper „Giovanna d’Arco“ in Bielefeld. Foto: Bettina Stöß

So werden Legenden gestrickt. So entstehen nationale Mythen. Sabine Hartmannshenn erzählt in ihrer Bielefelder Inszenierung von Giuseppe Verdis „Giovanna d’Arco“, wie eine einfache Frau für einen kurzen Moment ihre Träume realisiert – und für eine Ewigkeit in eine Rolle gepresst wird. Das ist so holzschnittartig und schlagkräftig wie Verdis Musik und Temistocle Soleras Libretto.

Mit diesem anregend gelungenen Versuch, Verdis siebte Oper endlich wieder einmal szenisch ernst zu nehmen, positioniert sich das Theater Bielefeld nicht nur günstig in der Spitzengruppe kreativer Häuser zum Verdi-Jubiläum, sondern es kann auch nachweisen, dass in Verdis mittleren Opern mehr steckt als gemeinhin angenommen.

Sabine Hartmannshenn verkürzt, fokussiert und spitzt zu. Das ist gutes Recht einer Regie, die sich im Falle der Jungfrau von Orléans auch noch an der immens vielfältigen Rezeption dieses Stoffes abarbeiten muss. Die Regisseurin konzentriert ihre Arbeit, wie sie selbst sagt, auf die Frage: Wie werden Stars gemacht? Man könnte sie erweitern: Wie werden Heilige gemacht? Identifikationsfiguren? National-Heroen?

Die szenische Exposition in Bielefeld verfährt genauso drastisch wie Verdis Musik. Stefan Heinrichs hat die Bühne mit einem düsteren Käfig zugebaut. Brutalität, Verschleppung, Vergewaltigung, Tod – das sind die herrschenden Kräfte. Das gilt heute wie im Frankreich des 15. Jahrhunderts, in dem das Wirken der historischen Jeanne d’Arc seinen Anfang nahm. Berufung hat für Hartmannshenns viel mit Imitation und Projektion zu tun: Giovanna trägt eine Marienstatue bei sich, stilisiert sich – am Ort der Erscheinungen, Geister und Dämonen – zur zweiten Jungfrau, steht da, in goldenes Licht getaucht, wie eine Vorwegnahme ihrer späteren Mystifizierung.

Stefan Heinrichs hat die Bühne mit einem düsteren Käfig zugebaut: Ein Bild für Gewalt und Tod. Foto: Bettina Stöß

Stefan Heinrichs hat die Bühne mit einem düsteren Käfig zugebaut: Ein Bild für Gewalt und Tod. Foto: Bettina Stöß

Bei Verdi und Solera wird der Widerstreit der bösen Geister und der Engel in den Chören ausführlich exponiert; in Bielefeld bleiben davon leider nur ein paar hohle Töne aus Lautsprechern übrig. Das hat Auswirkungen auf die Figur des Vaters, Giacomo, eigentlich eine treibende Kraft des Dramas. Seine Anklage, Johanna habe sich dem Bösen – und der „niedrigen irdischen Liebe“ – verschrieben, wird er auf dem Höhepunkt des Geschehens formulieren, in dem Moment, in dem der König Johanna gegen ihren Willen zur Patronin des Landes und zur Heiligen hochstilisiert, ihr sogar eine Kirche weihen will.

Kitsch fürs Volk: Giovanna, zur Heiligen stilisiert. Foto: Bettina Stöß

Kitsch fürs Volk: Giovanna, zur Heiligen stilisiert. Foto: Bettina Stöß

Doch der Konflikt zwischen der visionären Energie, die Johanna leitet, und dem in seinem begrenzten Horizont die Tochter grandios missverstehenden Vater interessiert Hartmannshenn weniger. Sie knüpft an der verstiegen-exaltierten Hybris des Königs an. Carlo VII. will – zum Entsetzen Giovannas – aus ihr eine lebende Heilige machen, die beinahe gottgleich zu verehren wäre; ein Thema, das Verdi schon im „Nabucco“ interessiert hat, in dem sich der König selbst zum Gott erklärt und Anbetung fordert.

Von da an beginnt der Prozess, in dem Giovanna sich selbst verliert und zur Ikone stilisiert wird: Dafür steht ein Ausschnitt aus dem berühmten Jeanne d’Arc-Gemälde von Jean-Auguste-Dominique Ingres. Wie ein Emblem vervielfältigt füllt es die Bühne. Giovanna wird diesem Ideal angeglichen: Purpurrock, Rüstung, Standarte, Schwert. Am Ende steht sie auf dem Altar mit der Lilienfahne, erstarrt zur Statue ihrer selbst, freigegeben zur Verehrung. Eine bunt glitzernde Leuchtschrift senkt sich herab: „Santa Giovanna“. Die Stilisierung mündet im Kitsch: Ein genau getroffenes Bild einer degenerierten Heiligenverehrung.

In „Giovanna d’Arco“ experimentiert Verdi mit musikalischen Mitteln, die er später perfektioniert. Vor allem die Holzbläser werden prominent eingesetzt, um dem Orchesterklang Farbe, der Bühne Atmosphäre zu geben. Die gellenden Flöten und das tiefe Holz werden schon ähnlich charakteristisch eingesetzt wie im zwei Jahre später entstehenden „Macbeth“. Der Rhythmus ist exzessiv, manchmal grob und krude zupackend.

Aber Verdi greift auf die Konventionen seiner Zeit zurück, um seine musikalische Charakterisierungskunst weiterzuentwickeln. „Giovanna d’Arco“ ist ein Werk mitten in einem Prozess stürmischer Entwicklung, doch darob ist ihre Musik nicht weniger gültig und authentisch. Alexander Kalajdzic animiert die Bielefelder Philharmoniker dazu, gerade die innovativen Momente deutlich auszuspielen. Das gelingt meist eindrucksvoll modelliert, manchmal aber auch zu lärmend und zu spröde geschliffen.

Von den Sängern wird viel verlangt: Die Partie der Giovanna ist eher lyrisch grundiert, braucht die fein gesponnenen Piano-Linien für den Ausdruck des Visionären. Aber sie kennt auch die Momente kraftvoller Expansion des Tons. Netta Or gibt den Momenten des Träumerischen gefasstes Leuchten, aber wenig Farbe. Im Forte neigt die Stimme zu harter Brillanz, überzeugt aber mit sicherer Höhe.

Evgueniy Alexiev hat als Vater Giacomo einen fabelhaft timbrierten, gut geführten Bariton, neigt nur hin und wieder in der Höhe zum Forcieren und zeigt damit, dass die Kontrolle des Atems noch nicht zu hundert Prozent glücken will. Aber die verblendeten wie die tragischen Seiten dieses komplexen Verdi-Charakters stellt er überzeugend dar. Paul O’Neill ist in der Klage des Königs im vierten Akt präsenter und glaubwürdiger als in seinem Auftritt zu Beginn, in dem er die Stimme in ihre Position quetscht. Für den König bedeutet Giovanna einen Halt im Leben, den er selbst durch seine Schwäche aufs Spiel setzt. Zum Schluss flüchtet er sich in Projektionen des Weiblichen, wie sie die Marienstatue am Bühnenrand symbolisiert: ein Objekt der Entfremdung, kein Subjekt der Selbstfindung.

Nach dieser Arbeit mit einer Oper Verdis, die dem Regisseur nicht entgegenkommt, darf man gespannt sein, wie Sabine Hartmannshenn im Januar 2014 an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf Wagners „Lohengrin“ erarbeiten wird: Wie Giovanna scheitert der Schwanenritter mit seinem göttlichen Auftrag an einer Welt und einem Menschen, die ihre Begrenztheit nicht überschreiten können.




Richard Wagners Steinway-Flügel „gastiert“ in Düsseldorf

Richard Wagners Steinway-Flügel kommt nach Düsseldorf. Aus Anlass des 200. Geburtstags Wagners, und weil die Villa Wahnfried in Bayreuth derzeit grundsaniert wird, „tourt“ der Steinway von 1876 durch die fünf Häuser des weltbekannten Klavierbauers in Deutschland. Vom 4. bis 9. November steht das reich verzierte Instrument aus braunem Holz im Steinway-Haus in der Immermannstr. 14-16. Wer einen Termin vereinbart (E-Mail: wagner@steinway.de), darf ihn auch spielen: „Interessierte können den Flügel im Dreißig-Minuten-Takt ausprobieren“, kündigt Verkaufsleiter Wolfgang Kaczmarek an.

Der Flügel mit der Opus-Nummer 34304 war ein Geschenk der Firma Steinway & Sons New York zur Eröffnung der Bayreuther Festspiele 1876. Über dem Manual trägt er die Inschrift „Festgruß aus Steinway Hall“. Damals repräsentierte der Flügel technisch den neuesten Stand; er war das erste Modell mit einem aus Metall gegossenem Rahmen. So konnten die Saiten stärker gespannt und ein kraftvolleres Klangvolumen erreicht werden.

Richard Wagner, aber auch Franz Liszt und vielleicht noch mancher Wahnfried-Gast haben den Flügel gespielt, der in der Rotunde des Saals der Villa stand. Nach Wagners Tod wurde er wie eine Devotionalie behandelt. Durch den Bombentreffer 1945 kaum beschädigt, kam er erst in den neunziger Jahren zu einer behutsamen Restaurierung in die Steinway-Fabrik nach Hamburg. Seither wurde er regelmäßig für Solo- und Kammerkonzerte im Saal von Wahnfried benutzt.

Die Villa Wahnfried, aufgenommen im Juli 2009. Foto: Werner Häußner

Die Villa Wahnfried, aufgenommen im Juli 2009. Foto: Werner Häußner

Der Flügel war bisher in München, Hamburg und Berlin zu sehen und geht nach seiner Station in Düsseldorf noch nach Frankfurt (11. bis 17. November), bevor er bis zum Abschluss der Sanierung der Villa Wahnfried, der Neugestaltung des 1976 eröffneten Richard-Wagner-Museums und des Erweiterungsbaus – voraussichtlich 2014 – in Hamburg verbleiben wird.

Der Steinway war Richard Wagners modernster Flügel. In Wahnfried steht noch ein Instrument von Breitkopf & Härtel, das Wagner 1843 zum ersten Mal erwähnt. Außerdem besaß Wagner u. a. einen Érard-Flügel, zwei Flügel und ein Komponierklavier aus dem Haus Bechstein sowie zwei Ibach-Instrumente, die er in Italien spielte.

Am Donnerstag, 7. November, 20 Uhr, spricht Sven Friedrich, Direktor des Richard-Wagner-Museums mit Nationalarchiv und Forschungsstätte der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth, über den Wagner-Flügel und die umfassende Sanierung von Haus Wahnfried. Dabei wird das Instrument auch gespielt.

 




Für die Ruhmeshalle der Opernregie: Hilsdorfs überwältigender „Eugen Onegin“ in Köln

Es war einer jener Opernabende, die – wie es Zerbinetta in Strauß‘ „Ariadne auf Naxos“ sagt – hingegeben stumm machen. Bei dem man den Eindruck hat, noch so gewählte Worten blieben schmerzhaft ungenügend hinter der Tiefe des Erlebten zurück. Bei dem jede Beschreibung vergeblich ist, die versucht, dem unmittelbaren Eindruck einen Begriff zu geben. Bei dem es dem Rezensenten schwer fällt, die professionelle Distanz zu wahren.

Geschafft hat das kein „neuer Gott“, sondern ein erfahrener Regisseur, in Einklang mit einem wunderbaren Team: Dietrich Hilsdorf hat in Köln im Zeltbau am Hauptbahnhof einen „Eugen Onegin“ erarbeitet, der es zumindest auf einen Spitzenplatz bei den diversen Umfragen zur besten Inszenierung der Saison schaffen müsste.

Olesya Golovneva (Tatjana) und Andrei Bondarenko (Onegin) in der Kölner Inszenierung von Tschaikowskys "Lyrischen Szenen". Foto: Paul Leclaire/Oper Köln

Olesya Golovneva (Tatjana) und Andrei Bondarenko (Onegin) in der Kölner Inszenierung von Tschaikowskys „Lyrischen Szenen“. Foto: Paul Leclaire/Oper Köln

Das schier unglaubliche Maß des Gelingens ist zuallererst dem Menschenbeobachter Hilsdorf zu verdanken. Tschaikowskys „Lyrische Szenen“ eignen sich ja nicht für den Aktionismus, mit dem andere Regieführer sie aufzupeppen suchen. Aus dem Zusammentreffen eines in das fiktive Leben und Lieben seiner Romane versponnenen Mädchens mit einem jungen Mann, der schon (zu) viel erlebt haben dürfte, sind kaum szenischen Funken zu schlagen. Es sei denn, man heißt Dietrich Hilsdorf und hat einen ausnehmend scharfen Blick für die menschliche Psyche.

Die anderen Ursachen für das Kölner Opernwunder heißen Marc Piollet und das Gürzenich-Orchester. Sie treiben die Verfeinerung der ohnehin in ausgesuchtem Raffinement schwelgenden Partitur auf die Spitze. Das liegt nicht nur an der stets lockeren, gelassenen Phrasierung, der sanften Brechung der Orchesterfarben, der dynamischen Delikatesse. Piollet versteht es, die milde Wehmut und den zitternden Enthusiasmus in noblen Klang zu kleiden; das Orchester ist in den neblig-depressiven Momenten des zweiten Akts ebenso sensibel bei der Sache wie in der auffahrenden Aggressivität der Polonaise oder der nervösen Rastlosigkeit des Finales. Und der intensiven Glut der emotional hochfahrenden Musik Tschaikowskys, die ja nicht nur lyrische Verinnerlichung kennt, folgt Piollet nicht mit vordergründiger Brillanz oder saftigem Ausspielen, sondern mit einem gebändigten, untergründigen Drängen.

Was „macht“ Hilsdorf mit den „lyrischen Szenen“, dass sie so eindringlich wahrhaft wirken? Dass die Kunstfiguren der Oper an die tragischen Charaktere aus einem Tschechow- oder Gorki-Drama erinnern? Die Antwort: Eigentlich nichts. Er beobachtet nur genau, was in ihnen vorgeht, und weiß mit sicherer Hand seine Darsteller zu animieren, jeden Moment auf der Bühne zu leben. Dieser „Eugen Onegin“ ist ein Abend subtiler Interaktion, erschlossen mit minimalen Gesten, mit sprechender Mimik, mit genau austarierten szenischen Reaktionen auf die Musik. Hilsdorf ist einer der Regisseure, die auf die Musik achten – auch wenn er aus dem Schauspiel kommt, hat er selbst in seinen provozierendsten Arbeiten nie den Blick auf die Musik vergessen.

Präzise szenische Darstellung innerer Zustände

Wie präzis Hilsdorf innere Zustände szenisch zu repräsentieren versteht, erweist zum Beispiel die entscheidende Begegnung zwischen Tatjana und Onegin: Wie den jungen Andrei Bondarenko bei der Lektüre des Briefes der Überschwang des Bekenntnisses nervt, wie er um pubertäre Gefühlslagen wissend grausam gerecht urteilt, mit einer Mischung von wissender Anteilnahme und der eisigen Klugheit seiner abgebrühten Erfahrungen. Auch Onegin ist ein mehrdimensionaler Charakter – und Bondarenko macht das im Spiel und im Tonfall seines schlanken, gestaltungswilligen Baritons deutlich.

Ein Buch der Gefühle ist das Antlitz Tatjanas: Olesya Golovneva, die in Köln in so einigen großen Rollen brillierte, lebt diese Rolle geradezu: Wie sich vorausschauender Schmerz mit vager Hoffnung paart, wie sie die Tränen zurückhält, unter den Worten Onegins immer mehr die Fassung verliert, wie sie die Fäuste im Schoß ballt und die stumme Bitte formuliert, es möge vielleicht doch glücklich ausgehen – alles das ist große Menschendarstellung. Und durch den manchmal etwas schwer schwingenden, aber tadellos geführten und zum enthusiastischen Aufschwingen ebenso wie zu lyrischer Verinnerlichung und traumatischer Blässe fähigen Sopran Golovnevas erfüllt sich die szenische Intensität auch musikalisch aufs Wahrhaftigste.

Hilsdorf verliert mit der Konzentration auf Schlüsselszenen nicht den Blick auf die Figuren, die scheinbar am Rand stehen, tatsächlich aber dem Drama unersetzlich Akzente mitgeben: Da ist Dalia Schaechter als Larina, eine ernüchterte Frau, pragmatisch, durch das Schicksal hart geworden. Tatjanas Bücherverliebtheit akzeptiert sie nur mühevoll und mit einer Spur scharfen Hohns. Eine Frau, die dem Chaos der Welt ein beherrschtes System gesellschaftlich kontrollierten Verhaltens entgegensetzt, das durch Onegins und Lenskis Ausbruch zusammenbricht. So geht es auch ihr: Teilnahmslos sitzt sie zuletzt im Rollstuhl, vom Schlaganfall gelähmt.

Raum und Licht stützen Hilsdorfs Menschenstudien

Schaechter, eine großartige Darstellerin, bringt mit Anna Maria Dur als Filipjewna das Quartett mit Tatjana und Olga in der ersten Szene musikalisch so wunderbar auf den Punkt, wie man es selten zu hören bekommt. Der „Njanja“, ebenfalls vom Leben gezeichnet, gibt Dur mütterlich-verständnisvolle Züge, ausgedrückt in kleinen Gesten und Zwischentönen. Adriana Bastidas Gamboa ist die attraktive Olga, die sich eigentlich nur langweilt, während Lenski seine Liebesschwüre vorträgt, als würde er eine Lesung seiner eigenen Gedichte veranstalten. Sie steht auf der „realistischen“ Seite und wäre die geeignete Nachfolgerin der Hausherrin im System Larina. Dass sie sich – wie in der Vorlage Puschkins – schnell mit einem Soldaten tröstet, zeigt Hilsdorf in einem Streiflicht während der Polonaise des dritten Akts, die eher Züge einer Totenzugs als eines Festes trägt.

Die Schärfe der Analyse lässt nur in der Episode mit dem Fürsten Gremin nach. Das mag an Robert Holl liegen, der szenisch eher neutral einherschreitet, leider auch in den Höhen ins Schwimmen gerät und den Schmelz für die Legati nicht mitbringt. Auch Matthias Klink erfüllt die Rolle des Lenski nicht ganz glücklich. Bei aller darstellerischen Sensibilität, die sich mit musikalischem Verstehen eint, fehlt ihm der freie, gelöste Ton.

Alexander Fedin macht aus Monsieur Triquet eine bitter-komische Variante des Hoffmann’schen Kapellmeisters Kreisler: Er ist für ein bisschen Unterhaltung gut, aber verstehen wird ihn in dieser rustikalen Ballgesellschaft niemand. Dass er die letzte Strophe seines Couplets der geduldigen Filipjewna im allgemeinen Trubel unbeirrt vorträgt, trägt die Züge einer Groteske. Auch Stefan Kohnke als Hauptmann, Luke Stroker als Saretzkij und Rolf Schorn als Guillot machen aus ihren marginalen Figuren große, weil im Detail durchgestaltete Rollen. Nicht zu vergessen: Der Chor gibt – dank Andrew Ollivant – nicht nur musikalisch, sondern auch in seiner präzisen Bühnenaktion sein Bestes.

Dieter Richter hat für Hilsdorfs Menschenstudie eine im besten Sinne unspektakuläre Bühne gebaut: Einen Salon, wie man ihn in russischen Herrenhäusern heute noch finden kann, lichtvoll, dezent in Pastellfarben, mit zurückhaltender florealer Dekoration. Das elektrische Licht ist nachträglich eingebaut; die Leitungen führen in schwarzen Röhren zu altertümlichen Bakelit-Schaltern. Liebe zum Detail verbindet diesen Raum, der sich zur Halle erweitern lässt, mit Renate Schmitzers Kostümen, die sich stilistisch zwischen der Zeit Tschaikowskys und den fünfziger Jahren bedienen. Dass Raum und Licht (Andreas Grüter) die Inszenierung kongenial stützen, trägt dazu bei, für diesen Kölner „Eugen Onegin“ schon mal einen Platz in der Hall of Fame der Opernregie zu reservieren.




Dualismus und Erlösung: Vera Nemirovas „Tannhäuser“-Inszenierung in Frankfurt

Iso-Matten, Rucksäcke, bunte Käppis: Die Truppe sieht aus, als komme sie gerade vom Weltjugendtag. Zum frommen Klang der Pilgerchor-Melodie lässt man sich nieder. Viele beten, manche denken in sich versunken nach. Eine Gruppe zieht ein, schleppt ein riesiges Kreuz mit sich. Alle scharen sich darum. Dann übermannt der Schlaf das Völkchen.

So lange, bis die ersten Tremoli der Venusberg-Musik aufzüngeln: Jung und Alt werfen sich in die Arme, bald fliegen die Klamotten. Die fröhlichen Nackten ziehen einem weiß-blauen Himmel entgegen. Doch das venerische Treiben geht nicht lange gut: In Richard Wagners Orchester setzen sich die Pilgerchor-Motive wieder durch. Zuckende Leiber kriechen mit Gesten des Entsetzens und der Reue zum Kreuz. Klagende Gebärden zur triumphal vom Blech intonierten erhabenen Melodie.

Szene aus der Ouvertüre zu "Tannhäuser" in der Inszenierung von Vera Nemirova in Frankfurt. Foto von 2007: Monika Rittershaus

Szene aus der Ouvertüre zu „Tannhäuser“ in der Inszenierung von Vera Nemirova in Frankfurt. Foto von 2007: Monika Rittershaus

Inszenierte Ouvertüren sind manchmal nur der Angst des Regisseurs vor der reinen Musik geschuldet. Doch im Falle des Frankfurter „Tannhäuser“ erschließt Vera Nemirova damit die Sinnrichtung des Stücks. Sie stellt den prägenden Dualismus zwischen Venus und Maria, zwischen sexuell-sinnlicher Entfesselung und keusch-vergeistigt Liebe in einer präzis entwickelten Szene auf die Bühne. Und sie behauptet so, dass der Dualismus nicht allein eine Angelegenheit des 19. und des vergangenen 20. Jahrhunderts sei.

Der „Tannhäuser“, eine wichtige theatrale Station auf dem lebenslangen Weg Wagners zur Bewältigung seiner Konflikte zwischen Reinheit und Trieb, wurzelt in einem christlichen Menschenbild, das aber mit den ideologischen Brillen des 19. Jahrhunderts kaum erkennbar war. Die Verbindung von körperlich-sexueller und seelisch-spiritueller Liebe hätte durch Tannhäuser und Elisabeth erreicht werden können: Hier der Mann mit den Erfahrungen des Venusbergs, der weiß, dass der sterbliche Mensch auch durch Götter nicht zum Gott gemacht wird; der erfahren hat, dass der schrankenlose, ungetrübte Genuss sinnlicher Reize nur zum Überdruss führt. Dort eine starke Frau, die eine widerstandsfähige Liebe bewahrt, die nach ganzheitlicher Erfüllung strebt, die das „Rätsel ihres Herzens“ zu lösen hofft.

Vera Nemirova. Foto: Thilo Beu

Vera Nemirova. Foto: Thilo Beu

Vera Nemirova behauptet in ihrer Inszenierung eindrucksvoll, dass diese Liebe scheitern muss: Die Ideologie der Wartburg, im Wettstreit der Sänger zweifelsfrei zum Ausdruck gebracht, lässt nur den dualistischen Bruch zu. Hier der „Liebe reinstes Wesen“, das Wolfram von Eschenbach nicht „mit frevlem Mut“ berühren will. Dort der Tannhäuser mit seinem faustischen Vornamen Heinrich, der „im Genuss nur Liebe“ kennt, der in Venus „die Quelle alles Schönen“ propagiert. In diesem Konflikt weist selbst der Papst keinen Ausweg, und die Barmherzigkeit ist eine Tugend, die in dieser Welt nicht reift und von oben kommen muss.

Nemirova – die Regisseurin des gefeierten Frankfurter „Ring“ und eines neuen „Lohengrin“ in Basel – inszeniert den „Tannhäuser“ nicht als ein Stück von gestern, dem man für seine Schlüssigkeit heute ein neues Thema überstülpen müsste. Und es genügen ihr im Verein mit ihrem Bühnenausstatter Johannes Leiacker knappe Hinweise und Andeutungen, um einen zwingenden, berührenden Opernabend zu gestalten.

Etwa die Szene mit dem Hirten: In Frankfurt ist er mit einem Kind besetzt (Cedric Schmitt). Er singt von Frau Holda und malt mit Kreide ein Kreuz auf den Boden – für eines jener Hüpfspiele, mit denen sich Kinder früher auf den Straßen die Zeit vertrieben. Tannhäuser, der Wanderer mit Gitarre und Federn am Hut, legt sich auf das Kreuz und wird von seinen Ex-Sängerkollegen entdeckt. Der Hirte spielt am Ende dann eine entscheidende Rolle: Das Kind, von den Konflikten unberührt, führt Tannhäuser zu den Klängen des Erlösungschores weg.

Johannes Leiackers Szene für den Frankfurter "Tannhäuser". 2007 sang Ian Storey die Titelrolle. Foto: Monika Rittershaus

Johannes Leiackers Szene für den Frankfurter „Tannhäuser“. 2007 sang Ian Storey die Titelrolle. Foto: Monika Rittershaus

Leiacker genügt für die karge Bühne eine Wand mit einem weiß-blauen Himmel, davor eine Peitschenlampe mit kaltem, trübem Schein (Olaf Winters Licht mit entscheidendem atmosphärischem Anteil). Dieser Himmel mag, wenn die aufgedrehten Kirchentags-Teenies in ihm „baden“, ein Ort emotionalen Höhenflugs sein; eine Erfüllung der menschlichen Sehnsucht ist er nimmer. Im dritten Aufzug hat die Leinwand Löcher, wird das hölzerne Traggerüst sichtbar. Eine höchst irdische, vergängliche Illusion.

Der Hirtenjunge führt den Tannhäuser zwar in Richtung des zerfetzten Himmelsbilds, aber darin hat sich eine Öffnung gebildet, die ins Unbestimmte führt. Nemirova lässt offen, wohin dieser Weg führt, aber keinen Zweifel, dass es sich um einen Moment des Transzendierens handelt. Die Szene erinnert an den Schluss von Schlingensiefs Bayreuther „Parsifal“. Eine bedeutungsvolle Parallele: Beide Regisseure sind nicht mit vorschnellen Lösungen bei der Hand, stellen die für Wagner essenzielle Erlösungssehnsucht nicht in Frage, lassen aber offen, worin die Erlösung bestehen könnte.

Sänger machen sich das Regiekonzept zu eigen

Wie wenig authentisch die Wartburg-Welt ist, zeigt Nemirova deutlich: Der zweite Aufzug ist eine Show, die aus den Fugen gerät. Landgraf Hermann, von Andreas Bauer mit Autorität gesungen, liest die Frage nach dem wahren Wesen der Liebe wie eine Quizfrage vom Spickzettel ab. Die Sänger, einheitlich in lila Rüschenhemd, liefern ihre Beiträge ab: der kleine, eitler Walther von der Vogelweide (präsent: Jun Ho You), der nur in der Kategorie des „Kampfs“ denkende Biterolf (überzeugend: Magnus Baldvinsson). Und Wolfram von Eschenbach, der Vertreter eines Liebesbegriffs, der sich in Anbetung verzehrt, ohne das Subjekt der Liebe je erreichen zu wollen. Daniel Schmutzhard spielt die inneren Qualen dieses Charakters aus; sorgt mit klug gebildeter, ebenmäßig geformter Stimme für den vokalen Höhepunkt der Frankfurter Aufführung. Dass Wolfram im dritten Aufzug Elisabeth erdrosselt und sie so beim Übertritt ins Jenseits „geleitet“, ist aus der Anlage der Figur heraus nur konsequent.

Die Neueinstudierung der Inszenierung von 2007 – aus Anlass des Wagner-Jahres – ist auch gelungen, weil sich Lance Ryan (Tannhäuser) und Annette Dasch (Elisabeth) das Regiekonzept zu Eigen gemacht haben. Ryan singt anfangs mit extrem gespanntem, beengtem Tenor; wird nach und nach freier, hat die Kraft für die gefürchteten Stellen im zweiten Aufzug und für eine durchdachte Rom-Erzählung. Aber Schmelz und gelösten Klang erwartet man von diesem Tenor vergeblich.

Annette Dasch genießt zurzeit viel Anerkennung. Für das jugendliche Strahlen der „Hallenarie“ reicht der Klangkern der Stimme nicht, aber die lyrisch-innigen Momente gelingen mit dem Zauber, den nur eine reflektierte Gestaltung hervorruft. Der Frankfurter Opernchor hatte nicht seinen besten Abend; das Orchester unter Constantin Trinks überwand die groben Momente des Beginns und steigerte sich auf ein solides Niveau, das im dritten Aufzug vor den Finessen einer subtilen Dynamik nicht kapitulieren musste.




Wagner-Jahr 2013: Die Jugendoper „Das Liebesverbot“ in Leipzig

Wagner in Leipzig: Das neue Wagner-Denkmal von Stephan Balkenhol. Foto: Werner Häußner

Wagner in Leipzig: Das neue Wagner-Denkmal von Stephan Balkenhol. Foto: Werner Häußner

Wagners Verdikt scheint eindeutig: „Ich irrte einst und möcht‘ es nun verbüßen. Wie mach‘ ich mich der Jugendsünde frei?“. Die Widmung an König Ludwig II. von Bayern galt dem heiter-sinnlichen „Liebesverbot“. Geniusworte werden gemeinhin nicht kritisch hinterfragt. So wurde Wagners opéra comique „Das Liebesverbot“ nach seinem Tode erst 1914 wieder aufgeführt und blieb seitdem ein nur gelegentlich beachteter Sonderling.

Kein Wunder: Wagner selbst hat sich nach der katastrophal misslungenen einzigen Aufführung 1836 in Magdeburg vom Konzept der opéra comique, wie es ihm im Theateralltag in den Werken Daniel François Esprit Aubers formvollendet entgegentrat, gelöst und andere Wege beschritten, die ihn letztlich zurück zur romantischen Sphäre der „Feen“ geführt haben. Und die spätere Wagnerianer-Literatur konnte mit dem „Liebesverbot“ überhaupt nichts anfangen: Die Überwindung des Dualismus von sinnlicher Lust und asketischer Geistigkeit durch eine kontrollierte Balance beider Kräfte war nicht das Thema einer Zeit, die manichäisch in den Kategorien von „schmutzig“ und „rein“ dachte. So galt das „Liebesverbot“ als die Jugendsünde schlechthin – ein Kapitel Wagner, das man am besten verdrängte und vergaß.

Der Bedeutung des Werks für Wagners Œuvre wird man so freilich nicht gerecht: Das Thema selbst taucht, romantisch kategorisiert, im „Tannhäuser“ wieder auf – und die Reflexe der „Liebesverbot“-Musik in der großen romantischen Oper sind zu deutlich, um bloßer Zufall zu sein. Inhaltlich befasste sich Wagner bis kurz vor seinem Tod mit dem „Weibe“, sprich, der Problematik von Sinnlichkeit, Erotik und Liebe, von Verdrängung, Überhöhung und Integration des Sexuell-Körperlichen.

Der junge Richard Wagner. Zeitgenössischer Stich

Der junge Richard Wagner. Zeitgenössischer Stich

Musikalisch ist die an Auber geschulte rhythmische Verve in den Folgewerken verschwunden. Aber die schwärmerische Bellini-Melodik begegnet uns ab dem „Fliegenden Holländer“ in allerlei Facetten wieder, und die ausgefeilte Ensemblekunst – von Auber und Rossini geprägt – war wegweisend für das spätere Musikdrama. Wer also das „Liebesverbot“ aus dem sowieso fragwürdigen „Kanon“ von Wagners Meister-Werken eliminiert, wird der Entwicklung des Komponisten nicht gerecht. Und Wagner „Genie“ zeigt sich eben auch in der Adaption von Vorbildern: So, wie der Zwanzigjährige in den „Feen“ ein Finale schreibt, das in der Oper von 1833 seinesgleichen sucht, so gekonnt lässt es sich ein Jahr später auf den zündenden Überschwang französischen Vorbilder ein. Wer Aubers Opern aus dieser Zeit kennt, kann ermessen, mit welcher Souveränität Wagner mit dem Meister des Genres gleich zieht.

Wagner artikuliert revolutionär-demokratische Ideen

Die wenigen Inszenierungen der letzten Jahre haben erwiesen, dass sich das „Liebesverbot“ durchaus jenseits einer bloß „museal“ verstandenen Jubiläums-Würdigung auf der Bühne behaupten kann. Die aus Shakespeares „Maß für Maß“ entlehnte Story hat Wagner für seine Zwecke geschärft: Ein bigotter Statthalter – heute würde man ihm Kontrollzwang diagnostizieren – verbietet jede sinnliche Lust bei Todesstrafe und stolpert durch die List einer Nonne (!) und den fröhlich-selbstbewussten Widerstand des Volkes über seine eigenen Regeln. Jenseits der Kritik am moralischen Rigorismus artikuliert Wagner aber auch eine revolutionär-demokratische Idee, die ihn noch 1849 in die Nähe der Dresdner Barrikaden führte: Das Volk ist der eigentliche Souverän des Geschehens.

Tuomas Pursio als Statthalter Friedrich im Leipziger "Liebesverbot". Foto: Kirsten Nijhof

Tuomas Pursio als Statthalter Friedrich im Leipziger „Liebesverbot“. Foto: Kirsten Nijhof

In Leipzig – und wo sonst wäre Wagners Frühwerk angebrachter – hatte nun das „Liebesverbot“ in der Regie von Aron Stiehl Premiere; jene Version, die im Sommer anlässlich des Wagner-Geburtstags in Bayreuth zu sehen war. Jürgen Kirner bot in seinem Bühnenbild den technisch beschränkten Möglichkeiten der Oberfrankenhalle Paroli: Stellwände und beleuchtete, rasch verschiebbare bühnenhohe Kästen ermöglichen schnelle Szenenwechsel und schaffen atmosphärische Räume: ein Dschungel mit wuchernden Pflanzen für das Reich der Sinne und der Triebe; ein weiß leuchtendes Kreuz für den Raum des Klosters. Statthalter Friedrich residiert zwischen riesigen, nummerierten Schubkästen, Chiffren des Ordnungszwangs und Kategorisierungswahns.

Sven Bindseils Kostüme schärfen mit leichter Ironie den Gegensatz von Geistigem und Triebhaften, den Regisseur Aron Stihl herausarbeitet: Das „Volk“ – der Chor Alessandro Zuppardos leistet auch szenisch ganze Arbeit – trägt die Flecken und Streifen wilder Tiere in einer Art von Steinzeit-Fetzen-Look; Friedrich dagegen tritt im schwarzen Rock des bürgerlich-klerikalen 19. Jahrhunderts auf, sein alles andere als überzeugter Gefolgsmann Brighella in einer pompösen Amtsdiener-Robe. Die Regie setzt auf Bewegung und lebhafte Aktion: Stiehl versteht es, Personen unspektakulär, aber konsequent zu führen. Wenn im Finale die Beine geschwungen werden, ist das ein durchaus beabsichtigtes Zitat: Der Triumph der lustvollen Ausgelassenheit führt direkt zur Sensation des Offenbach’schen Can-Can.

Bis an die Grenzen geforderte Sänger

Musikalisch wird man in Leipzigs Opernhaus leider wieder einmal nicht glücklich: In der Ouvertüre schon bringen die vehementen Staccati und das rhythmisch Ungestüm Wagners die Musiker aus dem Tritt; lustlos nivelliert das Orchester die Kontraste der Musik. Später lässt Dirigent Matthias Foremny arg massive Lautstärke zu. Geformte Phrasen, ausgearbeitete Details? Oft Fehlanzeige. Da haben es die Sänger schwer, die Wagner ohnehin ständig an die Grenzen führt. Christiane Libor muss als Isabella mal hochdramatisch auftrumpfen, mal lockeren Singspielton anschlagen oder sich durch Ketten kurzer Noten hangeln – was ihr mit beachtlicher stimmlicher Reserve auch gelingt.

Olena Tokar hat es als Mariana einfacher: die Partie der verlassenen Ehefrau des Statthalters ist in Leipzig kurz. Und die dritte der Frauen auf der Suche nach der ehrlichen Liebe, Dorella, wird von Magdalena Hinterdobler verkörpert: In bester, sexistisch anmutender Boulevard-Manier von einem Presseorgan als einzig sehenswertes Formenwunder auf der Leipziger Bühne angepriesen, quält sie sich ohne zuverlässigen Stimmsitz und ohne tragende Resonanz durch Wagners Noten.

Bis an ihre Grenzen gefordert sind Mark Adler (Luzio) und David Danholt (Claudio): beide haben mit Wagners hybriden Anforderungen hörbar zu kämpfen. Reinhard Dorn orgelt den Brighella nicht als verschlagenen Sbirren, sondern als gemütliche Charge. Der Pontio Pilato Martin Petzolds lässt sich stimmlich nichts zuschulden kommen, bleibt aber als Figur von der Regie merkwürdig unerklärt. Tuomas Pursio hat die stocksteife Figur für den in seinen politischen wie psychischen Zwängen eingeklemmten Friedrich, ist als herrischer Bürokrat glaubwürdig, stimmlich aber oft verhärtet und trocken: Die belcantistischen Aspekte seiner Rolle kommen nicht zum Tragen.

Am Ende reißt der entlarvte Statthalter einen Blumenstrauß an sich und zieht dem zurückkehrenden König entgegen, während sich in der bunten Truppe der Karnevalisten die Feiernden wie Domino-Steine der Reihe nach zu Fall bringen: ein angedeuteter Zweifel an der finalen Versöhnung, der nicht so recht überzeugen will, weil er szenisch zu unbestimmt bleibt. Eine verdienstvolle Inszenierung: Wer den „ganzen“ Wagner verstehen will, wer um die Wurzeln des Musikdramas wissen will, kommt am „Liebesverbot“ nicht vorbei.




Verdis „Macbeth“ in Essen: Das Drama der lebenden Toten verläuft sich in Bildern

Gun-Brit Barkmin als Lady Macbeth in Essen. Foto: Matthias Jung

Gun-Brit Barkmin als Lady Macbeth in Essen. Foto: Matthias Jung

Ein kleiner Erdhügel zu den gläsernen punktierten Zweiunddreißigsteln des Vorspiels von Verdis „Macbeth“. Ein Grab. Zwei Menschen nähern sich ihm, Lilien in den Händen. Der Fortissimo-Sturm der scharf akzentuierten Bläser bricht los. Unter der Bühne kracht und knallt es; ein riesiger Baum reißt sich los, kämpft sich hinauf in den dunklen Himmel, als starte ein monströses Raumschiff. Die Wurzeln triefen zu Boden – dorthin, wo sich ein kreisrunder Schlund geöffnet hat.

Mit einem spektakulären Bild werden die Zuschauer im Essener Aalto-Theater von Bühnenbildner Christof Hetzer in Verdis abgründige Tragödie hineingestoßen. Baum und Grab – Symbole für Leben und Tod – bilden die zentralen Motive der Bühne; Abgrund und Brücke treten dazu: Hetzer baut über den manchmal schwarz starrenden, manchmal trüb beleuchteten Krater einen Steg wie aus einem jener schwarzweißen, gruseligen Gothic-Krimis, in denen sich das Abgründig-Menschliche und das Unheimlich-Übernatürliche auf geheimnisvolle Weise verbinden.

Herbstblätter bedecken die weite Fläche der Bühne. Ein riesiger Raum, in dem die Figuren oft verloren wirken – wie hinausgeworfen in eine Welt in Dunkelheit oder Zwielicht, in der sie keine Orientierung finden. Nur die Gräber sind Bezugspunkte: ein erdiges Kindergrab und ein alter Sarkophag aus rissig-moosigem Stein. Dorthin werden die Toten gekippt. Dort stirbt Macbeth, noch lebend schon im Grabe, mit seinen letzten Worten die Krone von sich werfend.

Kinderlosigkeit löst den blutigen Machttrieb aus: Tommi Hakala am Grab. Ein gestorbenes oder nie geborenes Kind? Foto: Matthias Jung

Kinderlosigkeit löst den blutigen Machttrieb aus: Tommi Hakala am Grab. Ein gestorbenes oder nie geborenes Kind? Foto: Matthias Jung

Das Motiv der lebenden Toten ist auch für David Hermann in seiner Inszenierung ein entscheidendes: Wenn der König die Schotten für jenes fatale Fest versammelt, auf dem ihn der Geist des ermordeten Banco in Angst und Wut entrückt, scheint er längst selbst zum Totenreich zu gehören: Er spricht mit den Ermordeten, die wie lebensgroße Marionetten auf dem Sarkophag hocken, lässt sie wie Handpuppen sprechen und nicken, echauffiert sich, als eine der Gestalten zusammenklappt. Ein grotesk-makabres Theater, von dem die Menschen um ihn herum keine Notiz nehmen. Wie bei einem Picknick in Glyndebourne sitzen sie im Herbstlaub, speisen aus geflochtenen Körben, lassen sich von Macbeth ohne Reaktion die Weinflasche wegnehmen. Mit der realen Welt hat das mörderische Königspaar nichts mehr zu tun – es ist längst in seine eigene Horrorwelt hineingestorben.

Das ist alles sehr klug, sehr konsequent und sehr detailreich erfunden – und lässt dennoch auf seltsame Weise unberührt. Vielleicht, weil uns diese Wiedergänger-Geschichte nicht interessiert. Weil die Spannung zwischen der Welt der Lebenden und der Toten im allumfassend leblosen Raum aufgelöst wird. Weil der humane und der politische Aspekt des Stücks wegsymbolisiert, wegpsychologisiert wird. Oder auch, formal argumentiert, dem spektakulären Baumstart zu Beginn szenisch nicht mehr viel folgt.

Ein riesiger Baum reißt sich los, kämpft sich hinauf in den dunklen Himmel. Foto Matthias Jung

Ein riesiger Baum reißt sich los, kämpft sich hinauf in den dunklen Himmel. Foto Matthias Jung

Die Hexenchöre schallen aus der unbestimmten Dunkelheit; die Erscheinungen im dritten Akt sind ein beziehungsreicher, aber szenisch läppisch gelöster Aufmarsch schwangerer Frauen. Das Bild des leidenden Volkes zu Beginn des vierten Aktes – der Chor schiebt sich durch den Zuschauerraum nach vorne – bleibt stumpf; die blutigen Kinderleichen um den Sarkophag auf der Bühne wirken dazu wie ein zu billig geratener Schockeffekt. Auch die zwei Zeit-Ebenen, durch Hetzers Kostüme gekennzeichnet, helfen nicht wirklich weiter.

So spitzt sich das Drama nicht zu, sondern verläuft sich eher in den Bildern. Ein Grund mag sein, dass Hermann mehr auf die sorgfältig gesetzten symbolischen Gesten setzt als auf eine sprechende Personenführung. Der glänzende Handschuh, den Macbeth vom Arm des toten Duncan streift – ist es „la man rapace“, die „räuberische Hand“, die er gegen seine erklärte Absicht dann doch erhebt? Wenn Macbeth den toten Banco mit einer Lilie peitscht – ist es eine Chiffre für den verzweifelten Hass auf den Mann, der Kinder hat? Kleine Jungs in Anzügen plagen den König – sind es die drohenden Nachkommen Bancos?

Die Videos von Martin Eidenberger, projiziert auf den massiven Mauerwürfel, der sich einige Male über die Szene senkt, schaffen in der Hexenszene des dritten Akts eine deutende Bild-Ebene, sind aber an anderer Stelle aber banal: eine rote Hand etwa, oder kaleidoskopartige Muster. Wir sehen eine Inszenierung, die das Stück nicht verschenkt, die viel Reflexion und Dramaturgen-Subtext integriert, aber als Theater die Spannung nicht hält, die Aufmerksamkeit nicht durchgehend fesseln kann. Kein missglückter, aber auch kein rundum überzeugender Auftakt der neuen Ära am Aalto-Theater.

Einstand mit "Macbeth": Tomás Netopil, der neue Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: TUP

Einstand mit „Macbeth“: Tomás Netopil, der neue Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: TUP

Mit Spannung erwartet wurde den Einstand des neuen GMD Tomáš Netopil in der Oper: Kurz gesagt, war es ein glückliches Debut. Netopil bewies, was sich bereits in Verdis „Missa da Requiem“ im Sinfoniekonzert angekündigt hatte: Er hat die Sensibilität für Verdis musikalisch-dramatische Orchestersprache, für den klugen Aufbau dynamischer Großstrukturen, für das behutsam ausgeformte Detail, für die rhythmische Prägnanz und den erfüllten Duktus der Melodie. Dem Finale des Ersten Akts etwa gibt er den agogisch gestalteten, inneren rhythmischen Drang, der sich in der sicher angesteuerten Entladung befreit.

Die Philharmoniker lassen kaum etwas zu wünschen übrig, sind auf dem Punkt, wenn es um die Einfärbung des Klangs durch gekonnte Balance der Instrumente geht, um die Schärfe punktierter Rhythmen oder den wuchtigen Tutti-Zugriff, gestützt von prachtvollen Blechbläsern. Was sich noch entwickeln muss, sind die Finessen des Ausdrucks: Die „tinta“, die Verdi haben will, jene im Falle des „Macbeth“ dunkel verschattete Orchesterfarbe, die fahlen Klänge, die erstickten, halb unterdrückten Laute, die unwirklichen, atmosphärisch entrückten Momente, bleiben bei Netopil noch zu neutral. Und im Vorspiel schlittert er aus einer zu stark angezogenen Bewegung in ein nicht unheimlich-majestätisches, sondern schleppend langsames Tempo. Auch die kruden Striche waren überflüssig und ärgerlich: So etwas sollte sich Netopil gleich gar nicht angewöhnen.

Eine reife Leistung darf man Alexander Eberles Chor attestieren: Tönten die Hexenchöre anfangs zu lyrisch-brav aus dem Off, entwickelte sich der Klang ab dem Sextett mit Chor zu prachtvoller Größe. Die Solisten geben dagegen nicht nur Anlass zum Glücklichsein. Gun-Brit Barkmin als Lady wird mit den Anforderungen ihrer Riesenpartie in punkto Beweglichkeit und psychologischer Differenzierung anstandslos fertig. Aber die Stimmfarbe ist sehr hell und schwer zu verschatten. Ihre Piano-Skala lässt sich weit auffächern, aber das hohe b, mit dem sie im Sextett über den Chor kommt, klingt gellend und scharf. Außerdem neigt Barkmin dazu, in die Sprechstimme zu wechseln, nähert sich veristischen Ausdrucksmitteln, die sie auch in ihrer Wahnsinnsszene einsetzt, statt mit der Stimmfarbe zu spielen.

Auch der Macbeth des finnischen Baritons Tommi Hakala flattert unzureichend gestützt, wird immer wieder in der Höhe eng, verliert den Kern des Klanges. Doch in der finalen Szene, als Macbeth allen Sinns verlustig mit seiner Krone auch sein Leben wegwirft, läuft Hakala zu großer Form auf: Diesem unterdrückten, stammelnden Absterben des Tones, das Verdi in seinem höchst expressiven Schluss des „Macbeth“-Ursprungsfassung von 1847 fordert, entspricht der Sänger voll und ganz. Hätte er nur für die kantablen Szenen dieselbe Solidität. Aber dort, wo sichere Technik gefragt ist, kommt Hakala ins Schwimmen.

Für Alexey Sayapin, neues Ensemblemitglied, als Macduff gilt das nicht. Er demonstriert in seiner Arie eine versierte Beherrschung seines Tenors – die ihm in den dünn gequäkten Tönen des Finales wieder fehlt. Was Sayapin nicht hat, ist der flutende, freie Klang, der den traditionell geschulten, heute selten gewordenen italienischen Tenor auszeichnet. Die Stimme sitzt zu fest, der Klang wird nicht entspannt gebildet.

Ein Gewinn für Essen ist der Bass Liang Li: Eine voluminöse, aber beherrschte Stimme, reich an Farben und fähig, sie auch flexibel einzusetzen; ein meist kontrolliertes Vibrato und eine schmelzende Legato-Linie. Ein mustergültiger Banco. Marie-Helen Joël bewährt sich erneut erfreulich als Kammerfrau der Lady, die von Macbeth ebenso gemeuchelt wird, ebenso wie der in seinen wenigen Sätzen schönstimmige Arzt (Baurzhan Anderzhanov). Abdellah Lasri kann als Malcolm problemlos Tenor-Paroli bieten. Die erste Premiere unter Intendant Hein Mulders ist mehr als ein Versprechen, noch nicht ganz eine Erfüllung, signalisiert aber den Elan, mit dem sich das neue Team am Aalto die Zukunft erobern will. Nur zu!




Operette am Rande: Eindrücke von einer vernachlässigten Gattung aus Hagen und Wuppertal

Mondän: Banu Böke als Rosalinde in der Wuppertaler "Fledermaus". Foto Uwe Stratmann

Mondän: Banu Böke als Rosalinde in der Wuppertaler „Fledermaus“. Foto Uwe Stratmann

Operette – einst die Brot- und Butter-Gattung deutscher Stadttheater, ist an vielen Häusern weit in den Hintergrund getreten. Operetten-Ensembles mit ihren Diven, Liebhabern und Komikern gibt es nicht mehr. Das Repertoire, so man überhaupt noch davon sprechen kann, ist auf ein paar Titel zusammengeschrumpft. Dramaturgen-Fantasie glänzt meist durch Abwesenheit.

Man müsste nur bei Volker Klotz nachsehen – doch trotz dessen flammenden Plädoyers für die Gattung bleibt es bei diversen Fledermäusen, Lustigen Witwen und Csárdásfürstinnen. Dazu hin und wieder missverstandener Offenbach oder eine Galoppade des weißen Röss’l.

Wer etwas anderes kennenlernen will, muss etwa nach Gera fahren, wo bald wieder die Operette des Kubaners Moїses Simons „Du bist ich“ als exotische Ausgrabung gezeigt wird. Oder nach Ulm, wo sich jemand erinnert hat, dass Franz Lehár nicht nur „Das Land des Lächelns“ musikalisch bereist, sondern auch eine Goethe-Operette namens „Friederike“ hinterlassen hat. In der Rhein-Ruhr-Region dagegen sieht es (nicht nur) in dieser Spielzeit blässlich aus. Lediglich Aachen zeigt mit Offenbachs „Die Banditen“ ab 8. Juni 2014 eine witzig-spritzige Rarität; auch Münster besinnt sich mit den „Piraten von Penzance“ ab 29. März 2014 auf das komische Potenzial des jüdischen Franzosen aus Köln.

Während etwa in Essen seit geraumer Zeit Fehlanzeige zu melden ist, kümmern sich kleine und klein gesparte Häuser noch um die Sparte der unterhaltsamen musikalischen Lustbarkeiten. Deren Renaissance steht dennoch keineswegs an, auch wenn sich ein Barrie Kosky an der Komischen Oper intensiver um das leichte Metier kümmern will. In Hagen hatte Paul Burkhards zwischen „silberner“ Operette und Singspiel stehende Spätblüte „Das Feuerwerk“ Premiere. In Wuppertal setzt Intendant Johannes Weigand auf den allüberall totinszenierten Klassiker „Die Fledermaus“: Eine Auswahl, die sicher nicht für die künstlerische Auffrischung einer vernachlässigten Gattung steht.

„Fledermaus“ in Wuppertal: Sichere Pointen ohne Brechstangen-Lustigkeit

Dabei ist Weigand alles andere als die bequeme Bedienung eines bräsigen Publikums vorzuwerfen: In der letzten Spielzeit etwa landete Wuppertal mit Wolfgang Fortners „Bluthochzeit“ eine der besten Opernproduktionen in Nordrhein-Westfalen. Und aus Eduard Künnekes „Glücklicher Reise“ zauberte Weigand eine leichthändige, mit lässigem Sentiment gewürzte Petitesse – ein Glücksfall für die Operette. Die neue „Fledermaus“ nimmt er leicht, aber nicht leichtfertig: eine konzentrierte Personenführung, pointensicher, aber nicht kalauernd, heiter, aber ohne die peinliche Brechstangen-Lustigkeit, die dem musikalischen Flattertier oft szenisch Flügel machen soll.

"Champagner hat's verschuldet": Szene aus der Wuppertaler "Fledermaus". Foto Uwe Stratmann

„Champagner hat’s verschuldet“: Szene aus der Wuppertaler „Fledermaus“. Foto Uwe Stratmann

Der Bühne von Moritz Nitsche merkt man das Krisenprodukt an. Zwar funktioniert die Idee: Die beschränkte, scheinmondän tapezierte Enge von Eisensteins Salon wird in der Kellerkammer des „fidelen Gefängnisses“ von Etablissementsdirektor Frank wieder aufgegriffen. Aber dem Fest der Prinzen Orlofsky, das im Freien im barock gestutzten Park eines Palais‘ stattfindet, fehlt großzügiger Luxus, wie ihn der Hausherr zu leben vorgibt. Der ist einmal kein anämischer Jüngling, sondern ein blonder, fetter Wohlstandsrusse, dreist, aber ohne Melancholie. Joslyn Rechter übertreibt’s mit dem Akzent, singt aber mit sicherem Wohllaut.

Dramolett im Hause Eisenstein: Rosalinde (Banu Böke), Alfred (Christian Sturm) und das unglückliche Stubenmadl Adele (Elena Fink). Foto Uwe Stratmann

Dramolett im Hause Eisenstein: Rosalinde (Banu Böke), Alfred (Christian Sturm) und das unglückliche Stubenmadl Adele (Elena Fink). Foto Uwe Stratmann

Zwischen Klavier und Kanapee baut sich das Dramolett auf, als der frühere (und vielleicht eigentliche?) Liebhaber der jetzo verehelichten Frau von Eisenstein (Christian Sturm) arienschmetternd wieder auftaucht. Banu Böke als Rosalinde steckt ihm geschickt durchs offene Fenster die dienlichen Hinweise auf das bevorstehende Einsitzen des Gatten. Wie wir wissen, ist es ein Abschied auf Zeit.

Man trifft sich wieder auf dem Feste: Kay Stiefermann als schwerstimmiger, grisettengieriger Eisenstein, nicht mit dem eleganten Konversationston alten Adels, sondern dem schmierigen Imitat des Emporkömmlings; Banu Böke als ungarische Gräfin in einer grandiosen roten Robe Judith Fischers, leider in ihrem „Csárdás“ nicht frei und ohne Anflug von maliziöser Doppelbödigkeit. Und Adele – Elena Fink – mit leicht geträllerten Couplets ohne den nur an einer Stelle passenden stubenmadeltypischen Quietscher, obwohl sie mit ihrer „Schwester Ida“ (Annika Boos) als erst „angehende“ Künstlerin firmiert. Als solche muss sie sich stimmlich keineswegs verstecken, und nicht nur Olaf Haye als Frank findet Gefallen an dem feschen Geschöpf.

Für den flotten Fluss der Ohrwürmer sorgen die Wuppertaler Sinfoniker unter Florian Frannek, der schon die Ouvertüre leicht und plastisch ausformt, manchmal aber vergisst, dass in Wien das Metrum etwas lasziver schwingt als im Rest der Welt. Gregor Henze versucht als Frosch erst gar nicht, die schwer erreichbaren Wiener Originale wie Josef Meinrad, Otto Schenk oder Helmut Lohner zu imitieren. Er macht aus der Rolle einen böhmischen „Froschek“ und durchbricht mit schräg-trockenem Humor die Phalanx der alten Kalauer. – Eine sauber inszenierte „Fledermaus“, gestaltet mit solidem Regie-Handwerk, das heute nicht mehr selbstverständlich ist.

„Das Feuerwerk“ in Hagen: Dosierte Komik im Spießer-Heim

Auch Nicola Glück bringt für ihre Hagener „Feuerwerk“-Inszenierung ein glückliches Händchen für Tempo und dosierte Bühnen-Komik mit. Denn die Verwandtschaft, die da in ein ach so trautes Heim einbricht, um dem 60. Geburtstag des Patriarchen beizuwohnen, verführt schnell zum Überzeichnen: Onkel Fritz (Christoph Scheeben) und Tante Berta (Verena Grammel) babbeln irgendwie fränkisch-bayrisch-provinziell; Onkel Gustav (Richard van Gemert) und Tante Paula (Marilyn Bennett) kämpfen seit den Verlobungsküssen bereits mit einem pränatal angelegten Hustenreiz des Gatten. Und der an Länge wie Breite gewaltige Onkel Heinrich (Orlando Mason) genießt mit seiner aufgeputzten Lisa (Veronika Haller) sichtbar die Genüsse des entstehenden Wirtschaftswunderlandes.

Onkel und Tante ... Die Versammlung der Spießer ist bereit für die Geburtstagsfeier. Foto: Stefan Kühle

Onkel und Tante … Die Versammlung der Spießer ist bereit für die Geburtstagsfeier. Foto: Stefan Kühle

Pia Oertel hat sich für einen liebevollen Kostüm-Rückblick entschieden, der schon in der Entstehungszeit des Stücks 1950 nostalgisch gewirkt hätte: Wir befinden uns ja in einem Haushalt, in dem die Uhren seit der Kaiserzeit offenbar nur noch stark verlangsamt ticken. Auch die Maske unter Ronald Bomius hat Erkleckliches geleistet, um die Illusion zu perfektionieren.

Paul Burkhards liebenswürdiges Singspiel lebt nicht nur vom unvergänglichen Schlager „O mein Papa“. Schon der Auftritt der resoluten Köchin hat komödiantische Qualitäten. Kristine Larissa Funkhauser, einmal nicht die dicke drollige, sondern eine knackig kecke Küchenoberaufseherin, bringt ihn mit Lust über die Rampe. Die sentimentale Verwandtschaftshymne „Ja, an so nem Tag“ ist so genüsslich verlogen, dass sich sogar der Jubilar (Werner Hahn) irgendwann nur noch mit Spießen aus dem Käse-Igel ruhig stellen kann. Und Onkel Gustavs Husten-Ballade, von Richard van Gemert mit leidenden Anfällen vorgetragen, sorgt endgültig für heitere Laune beim Publikum.

Aufbruch in eine selbstbestimmte Welt

Das Ganze könnte man als gefällige, angestaubte Harmlosigkeit beiseitelegen, ginge es nur um ein wenig Slapstick und die sentimentale Story von den zwei jungen Leuten, denen die Alten mit ihren erstarrten Traditionen wieder einmal im Weg stehen. Paul Burkhard findet gefühlvolle Leichtigkeit in seinem Schlager für Anna. Maria Klier auf der Schaukel singt „Heut‘ hab‘ ich Flügel…“ und wirkt dabei ganz entzückend: ein Kind an der Schwelle zum Teenie-Mädchen der fünfziger Jahre. Und Gärtner Robert (Benjamin Hoffmann) ist der passende nette Junge für die gemeinsamen Träume vom lebenslangen Verliebtsein – so lange, bis das schwarze Schaf der Familie die Feier sprengt und mit dem Duft der Manege eine fremde, faszinierende Welt in die pastellfarbene Spießigkeit einbrechen lässt.

Dem Charme Idunas erlegen: Die Onkelriege und die Artistin (Ruth Ohlmann). Foto: Stefan Kühle

Dem Charme Idunas erlegen: Die Onkelriege und die Artistin (Ruth Ohlmann). Foto: Stefan Kühle

Pia Oertels sanft überstilisierte Arena bürgerlicher Zickereien verwandelt sich mit ein paar Lichtgirlanden zum Zirkus – und nicht nur die kleine Anna erliegt dem Charme der Manege und ihres charismatischen Direktors Alexander Obolski (Rolf A. Scheider). Der hat mit der französischen Artistin Iduna (Ruth Ohlmann) eine faszinierende Frau und liebende Gattin mitgebracht. Ihre Ausstrahlung bringt die dünne Kruste wohlanständiger Gesittung – zumindest bei den drei Onkels – widerstandslos zum Brechen. Zum Entsetzen der darin beharrlicheren Damen, die in der Zirkusluft zu krallenbewehrt fauchenden Bestien mutieren.

Zauber der Manege: Carola Casselly in einer atemberaubenden Nummer. Foto: Stefan Kühle

Zauber der Manege: Carola Casselly in einer atemberaubenden Nummer. Foto: Stefan Kühle

Erik Charell, der alte Fuchs des Berliner Unterhaltungstheaters, hat in seinem Plot noch etwas mehr verborgen. Es ist nicht nur der Show-Effekt des Zirkusrunds, den die Hagener Inszenierung mit Artisten vom Zirkus Jonny Casselly vergnüglich ausbreitet. Die glitzernde Welt stellt die Selbstverständlichkeit des biederen Bürgerhaushalts auf die Probe. Für Anna ein Grund, endlich einmal nicht mehr „vernünftig“ zu sein und den Aufbruch in eine selbstbestimmte Zukunft zu wagen. Dass sie den Weg letztendlich nicht geht, ist kein zagender Rückzug in die Welt ihrer Eltern, sondern einer Erkenntnis geschuldet: Iduna öffnet dem Mädchen den Blick darauf, wie brüchig der Glanz, wie einsam das Leben in der Zirkusluft sein kann. Und ermöglicht ihr damit, sich zu entscheiden, statt aus dem Impuls der Bezauberung zu handeln.

Dieser Prozess einer Selbstvergewisserung macht das Stück heute noch aufführenswert – abgesehen von der Fülle charmanter Musik, die Paul Burkhard für das „Feuerwerk“ eingefallen ist. Steffen Müller-Gabriel lässt die Hagener Orchestermusiker oft zu dick auftragen, da hilft auch die misslungene Verstärkung nicht, die etwa Dagmar Hesses (Mutter) Stimme verzerrt, Scheiders Obolski mit polterndem Vibrato dominieren lässt und der Iduna Ruth Ohlmanns ein ältlich-heiseres Vibrato aufdrückt. So bleibt der musikalische Eindruck dieser sympathischen Produktion am Stadttheater Hagen leider unnötig getrübt.




Verzichtbar: Giuseppe Verdis „La Traviata“, aufgewärmt in Duisburg

Strahlend schön und elend einsam: Violetta (Brigitta Kele) in Andreas Homokis "Traviata" in Duisburg. Foto Hans Jörg Michel

Strahlend schön und elend einsam: Violetta (Brigitta Kele) in Andreas Homokis „Traviata“ in Duisburg. Foto Hans Jörg Michel

Ist das Hauptstadtoper? Ist das die Deutsche Oper am Rhein, einst ein viel gepriesenes und beachtetes Institut, das über Deutschland hinaus künstlerische Akzente gesetzt hat? Nach der Premiere einer nun zum dritten Mal aufgewärmten „La Traviata“ am Opernhaus Duisburg stellen sich solche Fragen noch drängender als sonst.

Ein Blick auf den Premierenplan der Deutschen Oper am Rhein: „Luisa Miller“ in Düsseldorf – eine Inszenierung aus der vergangenen Saison. „La Traviata“ als zweiter, denkbar unorigineller Beitrag zum Verdi-Jahr 2013 – eine Inszenierung aus dem letzten Jahrhundert von Andreas Homoki, seit 1996 in Leipzig im Repertoire, 2006 und wieder im Frühjahr 2013 in Bonn gezeigt. Die „Csárdásfürstin“ – ebenfalls aus der letzten Spielzeit. „Die Zauberflöte“ – ein Import aus Berlin. Und so heißt die erste kreative Neu-Tat „Lohengrin“ – im Januar 2014! Im Klartext: Die erste Hälfte der Spielzeit am Institut des bis 2019 verlängerten Intendanten Christoph Meyer bringt keine einzige tatsächliche Neuproduktion. Und die Auswahl der gezeigten Opern könnte biederer nicht sein.

Der wirkliche „Skandal“ ist nicht der missglückte „Tannhäuser“ im Mai, denn Risiken gehören zum Theater und Flops auch. Es ist die schleichende Entkernung eines einst wegweisenden Hauses, das sich offenbar davon verabschiedet, Opernkunst mit einem eigenen, klar konturierten Profil anbieten zu wollen und sich auf ein massen- und kassenkompatibles Repertoire zurückzieht. Wären da nicht die drei Wiederaufnahmen der hochkarätigen Britten-Inszenierungen von Immo Karaman im Oktober/November, der Spielplan könnte nicht austauschbarer sein.

Schnell verblüht: Kamelien umgeben Violetta (Brigitta Kele) auf Frank Philipp Schlößmanns Bühne zu "La Traviata". Drohend im Hintergrund: der alte Germont (Laimonas Pautienius). Foto: Hans Jörg Michel

Schnell verblüht: Kamelien umgeben Violetta (Brigitta Kele) auf Frank Philipp Schlößmanns Bühne zu „La Traviata“. Drohend im Hintergrund: der alte Germont (Laimonas Pautienius). Foto: Hans Jörg Michel

Über Andreas Homokis Inszenierung ist in den letzten beiden Jahrzehnten genug gesagt worden; sie zeigt sich in ihrer konzeptionellen Stringenz ungebrochen. Konzentriert auf eine Traviata, die eher eine „vom Weg gestoßene“ als eine „vom Weg abgekommene“ Frau ist, von der Masse bedroht und ausgespuckt in die Einsamkeit einer kalten, spiegelglatten, blauschimmernden Fläche.

Frank Philipp Schlößmanns Bühne, sinnig ausgeleuchtet von Volker Weinhart, lässt alles weg, was von den Menschen ablenken könnte, die ihre Beziehungen auf immer zerstören. Nicht nur diejenige zwischen Violetta, dem gesellschaftlichen Geschöpf des cholerischen Barons Douphol, und dem linkischen, aufgeregten Bürschchen aus der Provinz. Sondern auch zwischen dem mit seinen Ehrbegriffen gepanzerten Germont und seinem Sohn. Der Blick, den Alfredo über die tote Violetta hinweg seinem Vater zuwirft, lässt für die Zukunft dieser Familie nichts mehr hoffen.

Mit solchen Momenten hat Co-Regisseur Mark Daniel Hirsch die alte Homoki-Inszenierung merklich aufgefrischt. Er kann auf das präzise Spiel der Protagonisten setzen, das bis in die kleinen, dennoch wichtigen Rollen hinein trägt: Auf Cornel Frey, der dem Gastone etwas von einem schmierigen Varieté-Conferencier gibt. Auf die Flora Sarah Feredes, die leuchtend singt, sich aber dem hilfesuchenden Arm ihrer Freundin Violetta wie alle anderen entzieht. Oder auf Bruno Balmelli als Douphol, der Violetta schon Scheine ins Decolleté stopft, bevor Alfredo seinen schüchternen Auftritt hat. Dass der Baron im zweiten Akt wie ein Duisburger Vorstadtschläger gebändigt werden muss, verzeichnet den latenten Zynismus dieser Figur ins Grobe: Ein Mann wie Douphol würde sich wegen einer Kurtisane nie die Hände schmutzig machen.

Gesungen wird – und das steht symptomatisch für die Verdi-Interpretation heute – weder technisch noch stilistisch einwandfrei. Da mag der Beifall noch so herzlich rauschen: Auch Laimonas Pautienius, der Publikumsliebling des Abends, hat als bedrohlich als schwarzer Schatten auftauchender Vater Germont nicht den rund und ausgeglichen geformten Bariton, den diese Partie fordert. Zwar singt er sich im Lauf des Abends von seinen verfärbten Mundhöhlen-Tönen frei, aber die Stimme schwingt nicht ebenmäßig, klingt nicht natürlich: ein angespannt-flackriger Ton, keine schmiegsame Phrasierung. „Di Provenza …“, die belcantistische Nagelprobe für jeden Verdi-Bariton, klingt unstet, im Vibrato manchmal holprig, auch nicht elegisch abgetönt.

"Als Zeugen rufe ich euch - hier habe ich sie bezahlt!" Jussi Myllys (Alfredo) und Brigitta Kele (Violetta). Foto: Hans Jörg Michel

„Als Zeugen rufe ich euch – hier habe ich sie bezahlt!“ Jussi Myllys (Alfredo) und Brigitta Kele (Violetta). Foto: Hans Jörg Michel

Der Alfredo des Abends, der Finne Jussi Myllys, kämpft sich durch die Partie, dass man Erbarmen haben möchte. Schon im ersten Duett mit Violetta wird der dünne, jammernde Klang seines Tenors abgeschlagen. In „De‘ miei bollenti spriti“ zu Beginn des zweiten Akts zwingt er die Phrasen vergeblich auf den Atem, verliert an den heiklen hohen Stellen den Kontakt mit der Stütze und bildet fragil-heisere Töne. Für Verdi hat diese Stimme keine Fülle, keinen Kern, keine expansive Kraft und keine Reserve – von Farben oder stilistischen Finessen ganz zu schweigen. Wer ist für eine solche Besetzung verantwortlich?

Und Brigitta Kele ist vor allem eine Besetzung für’s Auge. Eine glanzvolle Erscheinung, wie sie im Vorspiel schlank, hochgewachsen und schön, in der edlen weißen Robe der Kostümbildnerin Gabriele Jaenecke alleine mit ihren Juwelen auf der Bühne wartet. Nervosität beim Debüt in einer so prominenten Rolle ist natürlich; so muss nicht jeder Ton auf der Goldwaage gewichtet werden. Aber wenn in der großen Szene „È strano ….“ die Stimme immer wieder nach hinten rutscht, wenn die Koloraturen mit aufgerissener, gerade noch erreichter Höhe unschön erzwungen werden, die Töne merklich gezwungen klingen, muss doch ein Fragezeichen gesetzt werden.

Der zweite und dritte Akt kommen Kele merklich entgegen; im Duett mit dem fordernd, fast aggressiv auftretenden Germont kann sie mit damenhafter Noblesse, aber auch todesbewusster Resignation überzeugen. Nur wenn sie im dritten Akt immer wieder gaumige Töne produziert, zeigt sich, dass an der Partie technisch noch einiges zu arbeiten wäre. Vom Chor der Deutschen Oper am Rhein hört man zuverlässige Solidität, von den Duisburger Philharmonikern viel Willen zur Gestaltung und zur Formung expressiver Details, aber auch unschön schrille Violinen und grob-lautstarke Momente.

Lukas Beikircher sucht nicht nur die ätherische Schönheit der Verdi’schen Kantilenen und die sanfte Pianissimo-Verzauberung, sondern will die Musik am dramatischen Geschehen orientieren und folgt damit Verdis Intentionen. Das Legato bekommt bei ihm Gewicht, die Phrasierung wird beredt. Das Tempo unterstreicht die untergründige Spannung, das Getriebensein der Menschen auf der Bühne. Auch wenn der Dirigent damit manchmal den großen Bogen opfert: sein Konzept hat gute Argumente für sich. Das alles ändert nichts daran, dass diese „Traviata“ als Beitrag zum Verdi-Gedenkjahr und als Ergänzung des Rheinopern-Repertoires verzichtbar ist.




Phänomen an der Orgel: Giampaolo di Rosas meisterliches Konzert im Essener Dom

Es gibt viele vorzügliche Organisten, aber dieser Mann ist ein Phänomen: Giampaolo di Rosa, Titularorganist der portugiesischen Nationalkirche S. Antonio in Rom, weltweit als Organisator von Orgelfestivals, musikalischer Berater, Lehrer und Inspirator unterwegs. Di Rosa beschloss mit einem Konzert den 10. Internationalen Orgelzyklus am Essener Dom: Schlusspunkt unter einer Reihe von Auftritten weltbekannter Virtuosen an der „Königin der Instrumente“.

Zu nennen sind unter den fünf Gästen etwa die Londonerin Jane Parker-Smith, wegen ihrer atemberaubenden Virtuosität und ihres unstillbaren Temperaments die „Martha Argerich der Orgel“ genannt. Oder Hans Fagius aus Kopenhagen, der für die traditionsreiche skandinavische Orgelkunst steht. Das Eröffnungskonzert spielte Jörg Josef Schwab. Der seit 2008 amtierende Domorganist verantwortete den Internationalen Orgelzyklus zum letzten Mal: Er verlässt Essen und tritt schon im Oktober eine neue Stelle als Münsterorganist in Freiburg an. Wie weit die Nachfolge für Schwab gediehen ist, war trotz mehrmaliger Nachfrage bei der Bischöflichen Pressestelle nicht zu erfahren.

Di Rosa ist in der Region kein Unbekannter: In Wuppertal spielte er im Mai an der Sauer-Orgel der historischen Stadthalle Liszts B-A-C-H-Fantasie, dazu Guilmant und Widor. Bei den 33. Bochumer Orgeltagen im April war er in St. Marien in Witten zu Gast – mit demselben Programm, das er jetzt in Essen spielte. Auch bei den Orgelwelten Ratingen ließ sich der Schüler des legendären Jean Gouillou hören.

Ob die Wahl der von ihm selbst für Orgel bearbeiteten „Pathétique“ von Ludwig van Beethoven eine glückliche sei, ist trotz der ambitionierten Gestaltung di Rosas in Frage zu stellen: Beethovens Klaviersonate verändert sich zu einer üppigen romantischen Pièce, die ohne Ecken und Kanten durch die Werke fließt. Die Register der Orgel geben Farbe, die spieltechnische Brillanz des Organisten verbindet sich mit seinem Formgefühl. Der sangliche zweite Satz strömt erlesen dahin. Aber Konturen verschwimmen; Beethovens harsche Kontraste, sein Widerstand gegen allzu glatte Verläufe geht verloren. Vom Standpunkt Beethovens misslungen – vom Standpunkt des Orgelvirtuosen ein glückliches Experiment!

Anders bei Julius Reubkes 94. Psalm. Im monumentalen Werk des schon mit 24 Jahren verstorbenen Liszt-Schülers nutzt Giampaolo di Rosa die exquisite Farbpalette der Rieger-Orgel aus. Die dichten Akkorde leuchten; die leisen Momente geben dem Organisten Gelegenheit zu reizvollen Pianissimo-Finessen. Und über das Eingangsthema des Kirchenlieds „Ave Maria zart, du edler Rosengart“ improvisiert di Rosa fern jeder konventionellen Entwicklung bis zur Apotheose des Themas in einem rhythmisch hinreißenden Parforceritts. Der Beifall des Publikums war begeistert und ließ di Rosa noch einmal an die Orgelbank zurückkehren – zu einer weiteren kurzen Improvisation über Marc-Antoine Charpentiers bekanntes „Te Deum“.




Seltenes zum Verdi-Jahr: Fesselnder „Stiffelio“ in Krefeld-Mönchengladbach

Für einen Augenblick sieht es so aus, als würde er es schaffen, der Papierflieger. Aber dann schmiert er jämmerlich ab. Ein schüchternes Zeichen von Hoffnung stürzt. In der Gesellschaft, in der Lina und Raffaele versuchen, zueinander zu kommen, haben ihre Träume keine Chance. Helen Malkowsky exponiert ihre Version der Verdi-Oper „Stiffelio“ mit diesem Verweis auf eine unlebbare Vision. Sie endet im grellen Licht der Hoffnungslosigkeit.

Schuld und Rache: Izabela Matula (Lina) und Michael Wade Lee (Stiffelio) in Verdis gleichnamiger Oper am Theater Krefeld-Mönchengladbach. Foto: Matthias Stutte

Schuld und Rache: Izabela Matula (Lina) und Michael Wade Lee (Stiffelio) in Verdis gleichnamiger Oper am Theater Krefeld-Mönchengladbach. Foto: Matthias Stutte

Zum Verdi-Jahr 2013 entschied sich das Theater Krefeld-Mönchengladbach gegen den üblichen Reigen aus Rigoletto – Traviata – Troubadour und setzte Verdis bedeutende, aber kaum bekannte Oper „Stiffelio“ auf den Spielplan. Eine Maßnahme, die dem Theater am Niederrhein ähnlich viel Aufmerksamkeit garantiert wie im Frühjahr ein neuer szenischer „Rienzi“ zum Wagner-Jubiläum. Mit Recht, denn unter den deutschen Musiktheatern hält sich die Spielplan-Kreativität in Sachen Verdi sehr in Grenzen.

Das 1850 entstandene Werk ist in mehrfacher Hinsicht ein Sonderfall. Schon die Uraufführung in Triest war von massiven Problemen überschattet. Eine protestantische Sekte, ein verheirateter Pastor, eine Predigt und eine Beichte auf offener Szene waren für die Zensur inakzeptabel. Von den wenigen Inszenierungen ging nur eine – 1852 im liberalen Venedig – in der ursprünglich vorgesehenen Form über die Bühne. Verdi zog das Werk zurück und verarbeitete die Musik in seiner heute ebenfalls unbekannten Kreuzfahrer-Oper „Aroldo“. Die Mittelalter-Camouflage diente dazu, die Zensur kaltzustellen.

Eine Rarität trotz unverkennbarer Qualitäten

„Stiffelio“ war verschollen und wurde erst 1968 Jahren wieder entdeckt. In Köln gab es 1972 einen ersten Versuch in Deutschland, sich der Oper zu nähern. Doch erst als 1993 eine kritische Edition auf der Basis der in Verdis Villa S. Agata aufbewahrten Autographteile vorlag, waren gültige Inszenierungen von „Stiffelio“ möglich. Auf die deutsche Opern-Szene hatte das keinen Einfluss. Trotz seiner unverkennbaren Qualitäten bliebt „Stiffelio“ eine Rarität. Man arbeitet sich lieber zum hundertsten Mal am unmittelbar danach entstandenen „Rigoletto“ ab.

Beide Werke haben in der Tat einiges gemeinsam: Verdi rückt einen unkonventionellen Helden ins Zentrum; die Liebesgeschichte tritt in ihrer dramatischen Brisanz zurück. Verdi sah, das hat er später noch deutlich angemerkt, im „Stiffelio“ einen der neuen, leidenschaftlichen Stoffe, die er sich so sehnlich gewünscht hatte. Das Libretto Francesco Maria Piaves – Grundlage ist ein allerdings kaum mehr erkennbares französisches Boulevardstück – inspirierte ihn zu frei angelegten Szenen, zu einer subtilen musikalischen Charakterisierung zu diffizilen instrumentalen Details, aber auch zum Vermeiden gassenhauerischer Melodiebildung – aus Sicht der Rezeptionsgeschichte zweifellos ein Hindernis.

Was gilt Gottes Wort wirklich? Lina (Izabela Matula), Stiffelio (Michael Wade Lee) und Stankar (Johannes Schwärsky) in Verdis "Stiffelio". Foto: Matthias Stutte

Was gilt Gottes Wort wirklich? Lina (Izabela Matula), Stiffelio (Michael Wade Lee) und Stankar (Johannes Schwärsky) in Verdis „Stiffelio“. Foto: Matthias Stutte

„Stiffelio“ ist zweifellos Verdis „theologischste“ Oper – und ein Unikum unter den zeitgenössischen Werken. Die Titelfigur, ein protestantischer Pastor mit einer Frau an seiner Seite, war für das italienische Publikum ebenso exotisch wie ein Libretto, das die Fragen nach Schuld und Versöhnung, nach authentischer Liebe und ehelicher Treue im Kontext des Evangeliums stellt. Doch was damals befremdlich wirkte, könnte heute eine Chance sein. Denn „Stiffelio“ gibt uns nicht nur einen tiefen Einblick in die Religionsgeschichte des 19. Jahrhunderts, sondern lässt auch gewisse Schlüsse auf Verdis eigene Religiosität und seine Stellung zum Christentum zu. Und trotz der philosophischen Fragen agieren auf der Bühne, wie immer bei Verdi, lebendige, leidenschaftliche Menschen aus Fleisch und Blut.

Die Vaterfigur spielt eine entscheidende Rolle

Es mag sein, dass die Story von der evangelischen Pfarrersfrau Lina, die während der langen Abwesenheit ihres Gatten dem Werben eines jungen Mannes nachgibt, Verdi besonders berührt hat: Er lebte jahrelang mit seiner späteren Frau Giuseppina Strepponi zusammen, ohne verheiratet zu sein, und hat die moralische Missbilligung in seiner Heimat schmerzlich erfahren. In Verdis Oper werden aber auch zentrale ethische Themen verhandelt: Es geht um „Reinheit“, um „Ehre“, um Rache.

Wie in vielen Verdi-Opern, auch im „Rigoletto“, spielt eine Vaterfigur eine entscheidende Rolle: Der alte Stankar, Linas Vater, ist ein Offizier (man denke an den Vater Luisa Millers), dem die Ehre über alles geht. Mit allen Mitteln versucht er, den Ehebruch seiner Tochter zu kaschieren. Der Patriarch wütet im Namen der Ehre gegen jede barmherzige Lösung, kennt nur eine Konsequenz: die Rache, die er schließlich mörderisch an Linas Verführer Raffaele vollzieht. Der wiederum ist einer der schwachen Verdi’schen Liebhaber, eine Person ohne Profil. Lina dagegen tritt uns als starke Frau entgegen, die nicht bereit ist, sich vom Druck der Gesellschaft und der Männer um sie herum entwürdigen zu lassen. Sie ist sich ihrer Schuld bewusst und verleugnet sie nicht, steht aber dazu, eine „Sünderin“ zu sein.

Zahn um Zahn – oder Barmherzigkeit und Vergebung

Der zerrissene Held, Stiffelio: ein von seiner Mission durchdrungener Prediger und Seelsorger, aber auch ein eifersüchtiger Ehemann. Herausgefordert von der versöhnlichen Botschaft des Evangeliums und der barmherzigen Gestalt Jesu, aber auch erfüllt von rasender Rachgier. Das Programmheft hat den Konflikt auf den Punkt gebracht: Alttestamentliche Vorstellungen von Vergeltung („Zahn um Zahn“), die Verdi in der Institution und der unerbittlichen Morallehre der Kirche seiner Zeit erkannt haben mag – stehen der neutestamentlichen Botschaft des Verzeihens und der Barmherzigkeit gegenüber. In Stiffelios Bekehrung im Finale der Oper mag sich Verdis eigene Glaubenssehnsucht wiedergefunden haben: Heilung statt Rigorismus. Stiffelio schlägt das Johannes-Evangelium auf und liest die Stelle, in der Jesus der Ehebrecherin vergibt: „Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein.“

Düstere Gesellschaft vor trügerischer Alpen-Idylle im Bühnenbild Hartmut Schörghofers in Verdis "Stiffelio". Foto: Matthias Stutte

Düstere Gesellschaft vor trügerischer Alpen-Idylle im Bühnenbild Hartmut Schörghofers in Verdis „Stiffelio“. Foto: Matthias Stutte

Helen Malkowksy zeigt in ihrer Inszenierung eine Gesellschaft, die in ihren Tugendbegriffen gefangen ist wie in den bühnenhohen Mauern von Hartmut Schörghofer. Die Rituale – als Chiffren dienen Tücher – wirken entleert. Immer wieder geht die Gemeinde – der Chor ist von Ursula Stigloher bestens präpariert – wie in einer Front auf Konfrontation; sie distanziert sich, sie grenzt aus. Lina im spießig adretten blauen Kleidchen ist verdammt zur Existenz eines „Blaustrumpfs“: demütig sollen solche Frauen sein, sich unterordnen, keine eigenen Wünsche verfolgen. Izabela Matula gibt der von Schuldkomplexen schwer beladenen Frau, die es sich nicht nehmen lässt, zu sich selbst zu stehen, ein gesanglich bewegendes Profil, dem auch die bisweilen schrillen und engen Töne nichts nehmen.

Der äußere Schein zählt

Eine fesselnde Studie eines zwischen seinen patriarchalistischen Blockaden und seiner inneren Traumatisierung zerriebenen Charakters bietet Johannes Schwärsky als Oberst Stankar. Schwärsky setzt einen machtvollen, aber nicht immer gut fokussierten Bass ein. Mit bewegender Intensität bewältigt er sein Solo zu Beginn des dritten Akts, das man zu den großen psychologisch durchdrungenen und musikalisch avancierten Szenen Verdis zählen darf.

Stankars verkrüppelte linke Hand steht als Zeichen für seinen deformierten Charakter: Er ist der Repräsentant einer Gesellschaft, für die der äußere Schein alles zählt, in der die dunklen Seiten unter den Tisch gekehrt werden: Die Leiche des im rächenden Rausch erstochenen Raffaele wird hastig unter dem Altartisch versteckt; Stankar zieht noch das Tuch ordentlich gerade. An dem Alten lässt sich vielleicht auch ablesen, auf welche Weise Verdi Exponenten des katholischen Glaubens erfahren hat: Unter der Kruste einer nur selektiv akzeptierten christlichen Ethik brodeln atavistische Leidenschaften.

Auch Stiffelio ist von diesen Impulsen geschüttelt: Eben noch von Güte und Nachsicht durchdrungen, packt ihn das Begehren nach Rache, als er erfährt, wer der Verführer seiner Frau ist. Erst der Gesang der Gemeinde aus der Ferne – wie eine innere Eingebung wirkend – bringt ihn zur Besinnung. Michael Wade Lee kann in diesem Moment klar machen, wie schwer es Stiffelio fällt, dem Vorbild des vom Kreuz herab noch verzeihenden Jesus zu folgen. Die Figur macht klar, dass Verdi der Anspruch ehrlich gelebten Christentums bewusst ist, wie er ihn selbst als Maßstab in seinem Urteil anlegt. Nicht durchgehend hat Michael Wade Lee so eindrucksvolle Momente als Sänger und Darsteller: Gerne neigt er dazu, seine kraftvolle Stimme auszustellen, statt sich der Palette der von Verdi vorgegebenen psychologischen Grundierungen zu stellen. Michael Siemon als Raffaele bewegt sich klug im Bereich des Lyrischen; Hayk Dèinyan als Gemeindevorsteher Jorg scheint am Premierenabend nicht gesund gewesen zu sein: Er überzeugt als Darsteller, aber seine wenigen Sätze klingen heiser.

Wie stets klug konzipierend, gelingt es der Regisseurin Helen Malkowksy, die philosophisch-theologischen Fragen mit psychologisch glaubwürdigen, auch im Detail überzeugend gestalteten Personen zu verbinden. Sie will sich der verzeihenden Predigt Stiffelios nicht als Happy End nähern: Ob die Botschaft auf fruchtbaren Boden fällt, bleibt offen. Stiffelio will nicht nur Verzeihen, sondern auch Wahrheit: Während des Gottesdienstes wird das Licht entlarvend hell; schließlich reißt Stiffelio selbst das Altartuch vom Tisch und lässt der schockierten Menge die Leiche Raffaeles sehen. Und im Hintergrund leuchtet kalt und weiß ein Gitter aus Leuchtröhren auf: Werden sich die Menschen aus ihren inneren Gefängnissen befreien?

Mit Mihkel Kütson hat Verdi einen Anwalt am Pult der Niederrheinischen Sinfoniker, der auf differenzierende Detailarbeit Wert legt. Verdi hat den Bläsern viele dankbare charakterisierende Aufgaben gestellt, denen sich die Solisten im Theater in Rheydt gewachsen zeigen. Aber er fordert auch von den Streichern ein Höchstmaß an aufmerksamer Arbeit am expressiven Moment. Dem stellen sich die Sinfoniker anfangs noch etwas wackelig, später mit beträchtlichem Erfolg. Wieder einmal hat das Theater Krefeld-Mönchengladbach unter seinem Generalintendanten Michael Grosse gezeigt, wie anspruchsvolle Theaterarbeit abseits der Aufmerksamkeit heischenden Zentren aussieht. Gut, dass es solche Häuser gibt!




Gala zu 25 Jahren Aalto-Theater: Norbert Lammerts Plädoyer für die Oper

Wird 25 Jahre: Das Essener Aalto-Theater. Foto: Werner Häußner

Wird 25 Jahre alt: Das Essener Aalto-Theater. Foto: Werner Häußner

„Wacht auf“! Der Chor aus Richard Wagners „Meistersinger von Nürnberg“ hätte durchaus an den Schluss der Rede von Norbert Lammert gepasst. Nicht, weil dieser Appell an die Zuhörer bei der Gala zum 25-jährigen Bestehen des Essener Aalto-Theaters nötig gewesen wäre: Der Bundestagspräsident hielt sein Publikum gekonnt bei der Stange. Sondern weil sein leidenschaftliches, argumentativ brillantes Plädoyer für die Oper endlich einmal zum Aufwachen führen sollte.

Zum Aufwachen bei seinen Kolleginnen und Kollegen in der Kulturpolitik, die dem Musiktheater seit Jahren eine Krise nach der anderen einbrocken. Davon war bei der festlichen Gala im Aalto-Theater nichts zu hören. Verständlich: Man feiert zu Recht das Bestehende, freut sich am Gegebenen. Es muss nicht Krisen-Geraune über jedem Anlass zur Freude liegen.

Essen: Das Aalto-Theater. Foto: Häußner

Einer der schönsten Theaterbauten Europas: Das Aalto-Theater. Foto: Häußner

Und ein Grund zum Feiern ist das Jubiläum in der Tat: Essen besitzt mit dem Bau des finnischen Architekten einen der schönsten Theaterbauten Europas, wenn nicht sogar weltweit. Das betonte Oberbürgermeister Reinhard Paß zu Recht. Wohl kaum ein Essener Bürger wird vergessen, neben der Zeche Zollverein „das Aalto“ als kulturellen Leuchtpunkt der Stadt zu nennen. Die Festschrift zum Jubiläum, nach der Veranstaltung kostenlos verteilt, lässt zwischen blau-silbernen Buchdeckeln 25 Jahre Erfolgsgeschichte Revue passieren: Von der Eröffnungspremiere – natürlich „Die Meistersinger von Nürnberg“ – über die damals provokante erste von 18 Regiearbeiten Dietrich Hilsdorfs („Don Carlos“) bis hin zum Abschied von Stefan Soltesz mit Joachim Schlömers verstiegenem „Parsifal“.

Das Aalto hatte in diesen 25 Jahren drei Intendanten, drei Generalmusikdirektoren, drei Chordirektoren, drei Ballettchefs und drei Geschäftsführer: ein Zeichen von Solidität und kontinuierlicher Arbeit. Das Niveau in diesen Jahren ist unbestritten; die Auszeichnung „Opernhaus des Jahres“ 2008 ist nur ein Zeichen dafür, wie sehr das Aalto-Theater als eine der führenden deutschen Bühnen geschätzt wird.

Auch Nordrhein-Westfalen ist Theater-Krisenland

Aber: Man muss nicht nach Sachsen-Anhalt blicken, wo gerade eine von allen guten Geistern verlassene Landesregierung die Theaterlandschaft irreparabel zu schädigen plant und die Zukunftsinvestitionen Bildung und Kultur zusammenstreichen will. Auch Nordrhein-Westfalen ist ein Theater-Krisenland; da mögen sich die Kulturhauptstadt-Nachklänge noch so sirenenhaft entfalten: Die Kölner Opernkrise ist nach dem peinlichen Spiel um die Intendanz Uwe-Eric Laufenbergs mühevoll auf einem Niveau abgewendet, auf dem künstlerische Wagnisse kaum mehr finanzierbar sind. Die Oper Bonn muss unter ihrem neuen Intendanten Bernhard Helmich mit drei Millionen Euro weniger auskommen.

An der Deutschen Oper am Rhein herrscht Ruhe, so lange, bis die nächste Krisenrunde in Duisburg ansteht. In Gelsenkirchen wird in dem wunderbaren Bau von Werner Ruhnau dank des ungebrochenen Willens zur Kultur noch produktives Musiktheater gespielt – allerdings im Vergleich zu früher mit einem Rumpfprogramm, das zu unterschreiten seriös nicht mehr möglich ist. Hagen kämpft verzweifelt ums Überleben – und das schon seit Jahren.

Und in Wuppertal ist die – von politischer Seite sogar als mutig bezeichnete – Schließung des Schauspielhauses bittere Realität: Die Schauspieltruppe ist auf einen Zehn-Personen-Rest geschrumpft und auch die Oper wird unter ihrem neuen Intendanten Toshiyuki Kamioka, dem bisherigen Chefdirigent der Wuppertaler Sinfoniker, auf ein Niveau gekürzt, auf dem vielleicht noch ein Betrieb, aber kaum mehr künstlerische Herausforderungen bewältigt werden können.

Wuppertal steht exemplarisch für ein weithin beobachtbares Phänomen, das innere Aushöhlen kultureller Einrichtungen. Das liegt ja auch in Essen nicht fern: Auch das Aalto-Theater litt unter Kürzungsrunden. Ein Haus dieser Größe müsste sich eigentlich mehr als fünf Opernpremieren pro Spielzeit leisten können, von der fast verschwundenen Operette ganz zu schweigen. Aber das wagt kaum jemand mehr zu sagen – es könnte ja als undankbar gelten: Seien wir froh, dass wir noch so gut dastehen. Und wer weiß, wann die Theater und Philharmonie Essen (TuP) angesichts des Wetterleuchtens für den Essener Haushalt 2014 erneut mit dem falschen, aber dennoch wirksamen Totschlagargument konfrontiert wird, dass in Krisenzeiten „alle“ sparen müssten.

Harte Argumente für die Oper

Aufwachen also! Aber wie? Für die von Nothaushalten gebeutelten Städte, denen vor allem der Bund viele Kosten aufgebürdet, aber keine Entlastungen gewährt hat, ist diese Frage kaum zu lösen. Norbert Lammert ist als Bundestagspräsident weit weg von der kommunalen Kleinarbeit, aber nahe dran an denen, die große Linien vorgeben. Die Situation drängt nach der Frage: Wann kommt der Rettungsschirm für die Kultur? Die Kommunen alleine sind längst überfordert.

Gala zum 25jährigen Bestehen des Aalto-Theaters Essen: Norbert Lammert tritt für die Oper ein. Foto: Matthias Jung

Gala zum 25jährigen Bestehen des Aalto-Theaters Essen: Norbert Lammert tritt für die Oper ein. Foto: Matthias Jung

Norbert Lammert hat sein Eintreten für die Oper mit harten Argumenten untermauert: Die Kunst- und Kulturlandschaft gehört zu den Pfunden, mit denen das Ruhrgebiet wuchern kann. „Die Ausgaben für Kunst und Kultur fließen mit bemerkenswerter Präzision in die heimische Wirtschaft zurück“, fasste er das Ergebnis vieler Studien der letzten Jahrzehnte zusammen. Es sind also nicht allein schöngeistige Argumente, die für die Oper sprechen. Die werden zwar höchstens von Kämpfern gegen die „elitäre“ Kultur angezweifelt – wie jüngst in Bonn u.a. von den „Piraten“ –, aber angesichts von Haushaltszwängen und Verteilungskämpfen dennoch gerne in die zweite Reihe abgeschoben.

Lammert wusste auch solchen Einwänden überzeugend zu kontern: Wer die angeblich elitäre Hochkultur nicht ausreichend öffentlich fördert, „verschärft den sozialen Ausschluss hochinteressierter, in der Regel aber nicht hochverdienender Kunstfreunde“. Und weiter: „Wer Kulturausgaben kürzt, gefährdet nicht Salzburg, sondern Hagen und Gelsenkirchen.“ Dafür war ihm der Beifall des Auditoriums sicher.

Kein Haushalt wird durch Kultur-Kürzungen solider

Auch was Lammert zu den finanziellen Belastungen durch Kulturausgaben erwähnte, ist längst bekannt, wird aber in den Debatten regelmäßig verdrängt: Zehn Milliarden jährlich geben Bund, Länder und Gemeinden jährlich für Kunst und Kulturförderung aus. Eine Menge Geld, aber gänzlich ungeeignet, um Haushalte zu konsolidieren. Der Anteil an den Gesamtausgaben liegt nämlich bei lediglich 1,7 Prozent – zu gering, um selbst bei drastischem Kürzen messbare Ergebnisse für öffentliche Haushalte zu erbringen. Für die Kultur dagegen ist die Bedeutung dieser Ausgaben immens – und man muss dazu ergänzen: lebensnotwendig. Lammert räumte auch mit der Sage auf, die staatliche Finanzierung könnte durch privates Sponsoring ersetzt werden: Gerade einmal ein Prozent der Theaterfinanzierung kommt aus privaten Mitteln – und die fließen meist in prestigeträchtige Projekte.

Für die Theater und Orchester in Deutschland mit ihrer beeindruckenden Bilanz – 35 Millionen Besucher jährlich, 105.000 Theateraufführungen, 84 Musiktheater mit mehr als 9.300 künstlerische Beschäftigten und 6.000 Opernaufführungen jährlich – werden gerade einmal 0,2 Prozent der öffentlichen Ausgaben aufgewendet. „Das müssen wir uns leisten, wenigstens dann, wenn wir eine Kulturnation bleiben wollen.“ Es wäre zu wünschen, dass – um bei Wagners „Meistersingern“ zu bleiben – Lammerts „Stimm‘ durchdringet Berg und Tal“, auf dass in der Welt der Kultur „die rotbrünstige Morgenröt‘ her durch die trüben Wolken geht“. Schade, würden diese Worte bei den Tausenden wohlmeinender, aber folgenloser Sonntagsreden zur Kultur abgeheftet.

Großbürgerlich erhaben: Jubel mit Wagner

Hein Mulders, neuer Intendant. Foto: Matthias Jung

Hein Mulders, neuer Intendant. Foto: Matthias Jung

Dass der Rückblick auch mit Aufbruch verbunden ist, machte die Begrüßung durch den neuen Intendanten Hein Mulders deutlich: Spannendes Musiktheater und mitreißende Ballettabende versprach er für die Zukunft. Im künstlerischen Programm der Gala war davon noch nichts zu spüren. Früher hätte man für einen solchen Anlass unter Umständen eine neue Komposition in Auftrag gegeben; heute greift man auf Wagner zurück: Erhaben muss es sein, wenn großbürgerliche Weihe- und Jubelveranstaltungen zu untermalen sind. Dass der „Einzug der Gäste“ aus dem „Tannhäuser“ eine ziemlich verkniffene Gesellschaft schildert, wen kümmert’s? Es schmettert und marschiert so schön! Tomáš Netopil, der „Neue“ am Pult der Essener Philharmoniker, hat den Überblick und das Händchen fürs Rhythmische, kam mit Schwung und Präzision auf den Punkt, auch dank der kernigen Stimmen in Alexander Eberles Chor.

Der neue GMD Tomás Netopil mit den Essener Philharmonikern. Foto: Matthias Jung

Der neue GMD Tomás Netopil mit den Essener Philharmonikern. Foto: Matthias Jung

In „Wachet auf“ aus den „Meistersingern“ überzeugte der Aufbau der Dynamik. Doch an die „Walküre“ wird sich Netopil noch gewöhnen müssen: Fließend-transparenter Orchesterklang, aber ohne dramatische Gestaltung. Jeffrey Dowd, bewährtes „Urgestein“ im Aalto-Ensemble, sang einen lyrischen Siegmund; Anja Kampe holte sich als fein artikulierende Sieglinde herzlichen Beifall. Zum bunten Abschluss gab das Orchester Ben van Cauwenberghs „Bolèro“-Choreographie das strikte Gerüst. Auch das ein Zeichen: Im Ballett regiert die Kulinarik des Anstoßfreien, die smarte Verführung durch das Gängige. In diesem Sinne bewegten sich auch die Tänzer im fantastischen Bühnenbild Dmitrij Simkins. So wird es wohl bleiben, so lange Cauwenbergh alle die bedient, die nach der Aufführung vor allem „schön“ zu stöhnen belieben.

 

Die Festschrift. Foto: TuP

Die Festschrift. Foto: TuP

Anlässlich des 25-jährigen Jubiläums hat das Aalto-Theater eine Festschrift und einen Dokumentarfilm veröffentlicht. Buch und DVD sind ab sofort im TicketCenter der TUP sowie an den Kassen des Aalto-Theaters und der Philharmonie Essen erhältlich. Der Preis beträgt jeweils fünf Euro.

Die 224-seitige Festschrift lädt ein zu einer Reise in die Vergangenheit des Opernhauses. Sie bietet eine umfangreiche Rückschau auf alle im Aalto-Theater gezeigten Inszenierungen, dazu enthält das Buch unter anderem viele Szenenfotos, Kurzporträts der Intendanten und Geschäftsführer, die am Haus gewirkt haben. Die 35-minütige Dokumentation des amerikanischen Filmemachers Sam Shirakawa auf der DVD widmet sich – unter anderem anhand von Archivmaterial und Interviews – der Geschichte und der Architektur des Hauses, aber auch dem Alltag im Theater.




Expressive Eleganz: Neuer Essener GMD Netopil dirigiert in Dresden Halévys „Die Jüdin“

Tomás Netopil, der neue Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: TUP

Tomás Netopil, der neue Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: TUP

Jacques Fromental Halévys große historische Oper „Die Jüdin“ („La Juїve“) ist, was den Dirigenten betrifft, ein echtes „Chefstück“: Wer sich diesem Meilenstein der französischen Oper widmen will, muss einen untrüglichen Sinn für musikalische Kontraste mitbringen.

Halévy setzt das gesamte musikdramatische Arsenal seiner Zeit ein: Pompöse Aufmärsche, von denen Wagner profitierte („Rienzi“). Brillantes Koloraturfeuerwerk und verinnerlichte Lyrismen. Geradliniges Pathos und existenzielle Gebrochenheit. Halévy versteht das Handwerk des Musik-Magiers, kann satztechnisch dicht und mitreißend populistisch schreiben, kann in Melodie schwelgen oder mit exquisiten Harmonien frappieren.

Dresden: Halevys "La Juive": Der Tenor Ragon Gilles in der Rolle des Juden Eléazar. Foto Matthias Creutziger

Dresden: Halevys „La Juive“: Der Tenor Ragon Gilles in der Rolle des Juden Eléazar. Foto Matthias Creutziger

Für Tomáš Netopil war „Die Jüdin“ an der Sächsischen Staatsoper Dresden also keine leichte Fingerübung. Der neue Essener Generalmusikdirektor, der in diesen Wochen in der Philharmonie und am Aalto-Theater durchstartet, hatte im Juni die Premiere geleitet und stand jetzt in der Wiederaufnahme am Pult. Was ihm herzlichen Beifall, aber auch einige deutliche Buhs einbrachte. Netopils Zugang zur Musik des Franzosen jüdischer Herkunft mit familiären Wurzeln in Fürth in Bayern war hörbar nicht unumstritten.

Die Suche nach dem Grund für das Missfallen ist nicht einfach: Denn der Dirigent aus Tschechien hat nichts falsch gemacht. Zügig und elegant führte er die Sächsische Staatskapelle; tadellos signalisierte er Einsätze, trug er die Sänger mit, unterstützte er den prächtigen Chor der Semperoper. Zwischen den groß angelegten Szenen und der von Phrase zu Phrase changierenden Ausdruckswelt der Musik Halévys fand er die richtige Balance: Lektüre der Partitur mit Augenmaß, kein Verzetteln in reizvollen Details, aber auch kein großzügiges Übersehen charakteristischer Momente. Die Bläser des Orchesters klangen so, als fühlten sie sich mit dieser Leitung pudelwohl. Die Streicher zeigten nicht nur ihre gerühmte samtige Dunkelheit, sondern auch lichte Brillanz, geschmeidiges Reagieren auf die Wechsel der „Beleuchtung“ in der Musik.

Netopil ist ja mit 38 Jahren auch kein Newcomer mehr, sondern ein erfahrener Opern-Dirigent. In Prag, seiner bisherigen künstlerischen Heimat, hat er viel Mozart dirigiert: „Don Giovanni“, „Die Entführung aus dem Serail“, aber auch „Idomeneo“ und „La finta giardiniera“ („Die Gärtnerin aus Liebe“). In Dresden gastiert er bereits seit 2008, u. a. mit „Don Giovanni“ und „Le Nozze di Figaro“. Da hat man ihn nur zu gerne für eine neue „Rusalka“ geholt – ihn, der zu Hause nicht nur Janáčeks „Katja Kabanova“ dirigierte, sondern auch die im Westen zu Unrecht unbekannten Werke Dvořáks und Smetanas: „Jakobin“ oder „Libuše“. Und es gab in Antwerpen Camille Saint-Saëns „Samson et Dalila“ (2009) oder Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ in Paris (2012) – und im Frühjahr, in Amsterdam, Prokofjews „Die Liebe zu den drei Orangen“.

Seit 2008 gastiert Netopil in Dresden an der Semperoper, einem Haus mit großer Tradition. Foto: Matthias Creutziger

Seit 2008 gastiert Netopil in Dresden an der Semperoper, einem Haus mit großer Tradition. Foto: Matthias Creutziger

Was fehlte also dem Dresdner Publikum? Der geliebte Christian Thielemann am Pult? Der wird wohl lieber bei seinen Leisten bleiben. Vielleicht war es Netopils relativ kühle Sicht auf das Werk, die zum Unmut führte: Sattfarbige Schwelgereien sind offenbar nicht sein „Ding“; auch hütet er sich, Halévy allzu nahe an die koloristische Pracht und die wehmütigen Legati der Italiener zu rücken. Bei aller differenzierten Kunst der musikalischen Charakterisierung: Halévy steht dem agilen Esprit eines Auber und dem marmornen Klassizismus seines Lehrers Cherubini näher als der Herzensglut Bellinis oder Donizettis. Netopil hat das berücksichtigt; ob es seine Kritiker so sehen, lassen die Dresdner Missfallenskundgebungen bezweifeln – so sie denn keine anderen als musikalische Gründe hatten.

Nach dieser beeindruckenden „La Juїve“ kann Essen mit doppelter Spannung die erste Premiere Netopils am Aalto-Theater erwarten: „Macbeth“ von Giuseppe Verdi am 19. Oktober.




Ein Versprechen für die Zukunft: Der Einstand des neuen Essener GMD Tomáš Netopil

Vor einer Woche kassierte Tomáš Netopil für sein Dirigat von Jacques Fromental Halévys „La Juїve“ („Die Jüdin“) in Dresden einige kräftige Buhs. Nichts dergleichen beim Antrittskonzert des neuer Generalmusikdirektor des Aalto Theaters und der Philharmonie Essen: Nach Mahlers Erster Symphonie gab es Jubel und herzlichen Beifall. Aber im Foyer waren auch skeptische Stimmen zu hören: Der Schatten von Stefan Soltesz liegt über diesem Neuanfang. Es ist nicht einfach, sich gegen einen Vorgänger durchzusetzen, der sechzehn Jahre lang den Geschmack eines Publikums geprägt und die Kultur eines Orchesters in einsame Höhen geführt hatte.

Tomas Netopil dirigiert zum ersten Mal als neuer GMD ein Abo-Konzert der Essener Philharmoniker. Foto: Saad Hamza

Tomas Netopil dirigiert zum ersten Mal als neuer GMD ein Abo-Konzert der Essener Philharmoniker. Foto: Saad Hamza

Die „Buhs“ für Netopil in Dresden waren nicht gerechtfertigt; offenbar gibt es dort eine wenig tolerante Thielemann-Fraktion oder einige Musikenthusiasten, die ganz genau zu wissen glauben, wie große französische Oper zu klingen hat. Und wie steht es mit dem Jubel in Essen? Unter der energischen, bewegungsreichen, aber nie zur Show abgleitenden Stabführung des 38 Jahre alten Tschechen war ein Mahler zu hören, dessen Klasse außer Frage steht: Netopil punktet mit seiner präzisen Schlagtechnik vor allem, wenn es um komplexe Strukturen geht – etwa im dramatischen Kampf der Motive und Themen im vierten Satz.

Netopil überlässt den süffigen Klang, den symphonischen Hexenkessel mit seinen aufsteigenden und wieder in den Trubel zurückgerissenen Materialfetzen nicht sich selbst, führt sicher durch alle Wallungen hin zum majestätisch gefestigten Höhepunkt der sechs Hörner. Auch das Charakterisieren gelingt ihm: das unwirsche Bratschenmotiv, die gellenden Bläsereinwürfe, die krachenden Blitze der Schlaginstrumente, aber auch das falsche Gift eines kriechenden Piano-Klangs. Noch haben die Finalausbrüche dieses Erstlings etwas Bestätigendes – das wird bei Mahler noch anders werden!

Der Unterschied zu Soltesz‘ Interpretation – er hat die Erste 2008 dirigiert – ist evident. Soltesz nahm Mahler mit strahlendem, aber stets gerundetem Klang, mit einer auf vollendete Ästhetik gerichteten Kontrolle. Auch Netopil behält die Façon, aber er bringt den klanglichen Zug ins Herbe deutlich ins Spiel, verschließt sich den existenziellen Kämpfen Mahlers nicht.

Das ist viel, aber für Mahler noch nicht genug. Die Souveränität, auch das Zerklüftete, Zerrissene in dieser Musik zu entdecken, bringt der neue GMD noch nicht mit. Vielleicht spielt auch die Befangenheit des Neuanfangs mit, wenn zwar die Klangfläche des Beginns in den Streichern unheimlich gebrochen wirkt (Netopil hat selbst Violine studiert), aber die Einwürfe der Bläser, die absichtslos, quasi zufällig wirken sollten, zu entschieden und zu kalkuliert gesetzt sind. Wie dann die Celli den Impuls der Klarinette aufnehmen und weiterführen, zeugt wieder von einer anfechtungsfreien Kunst, Übergänge zu gestalten.

Wenn uns Pauke und Triangel dann zum ersten dynamischen Aufrollen der Mahler’schen Klangwellen geleiten, mündet das klug kalkulierte Crescendieren in dumpfem Tutti. Vielleicht muss sich Netopil mit dem Raum noch anfreunden: Die Transparenz des Orchesterklangs konnte an diesem Abend nicht überzeugen. Und was mit zum Schwersten gehört, was ein Mahler-Dirigent in klingende Expression zu bringen hat, bleibt bei Netopil auch noch eher im Bereich des Versprechens: Für das Uneigentliche, die Ironie, die Galligkeit, den Schmerz der wirklichen und der angeblichen Zitate in dieser Musik fehlen die Farbe, die Gebrochenheit, die drastische oder groteske Zuspitzung. Denn Mahler treibt kein nettes Spielchen mit augenzwinkernd gesetzten Reminiszenzen, die dann der Zuhörer zu seiner Freude entschlüsselt – das wäre eher eine Idee von Haydn. Sondern er schlägt dem fassungslosen Zuhörer den Tonfall, den Melodiefetzen, den er zu kennen glaubt, mit bitterem Sarkasmus um die Ohren. Das zu hören, war in der Essener Philharmonie nicht vergönnt.

Dennoch: Mahlers Erste war ein Versprechen, und der neue GMD wird, das war zu hören, sich mit einem technisch hochklassigen, sehr kooperativ wirkenden Orchester und dem eigentlich entgegenkommenden Raum sicher noch intensiv anfreunden. Das Potenzial ist da – im Essener Neubeginn knospt der Zauber.

Jan Vaclav Hugo Vorisek. Lithografie von Adolph Friedrich Kunike

Jan Vaclav Hugo Vorisek. Lithografie von Adolph Friedrich Kunike

Ein Versprechen war auch der Einstieg in das erste Sinfoniekonzert der Saison mit einem unbekannten Werk aus Netopils Heimat, Jan Václav Hugo Voříšeks D-Dur-Sinfonie. Wenn das kein Signal ist: Netopil bekennt sich zu dem reichen, aber bei uns längst nicht ausreichend bekannten Kulturraum des östlichen Mitteleuropa, zu seiner Heimat und Herkunft und zu einem Komponist und Werk, das nicht auf jeder gängigen Orchester-Agenda zu finden ist. Das ist nach den Mainstream-Programmen, die Soltesz bevorzugte, ein willkommener programmatischer Akzent.

Voříšek wurde geboren, als Mozart dahinschied: 1791. Er starb, als Beethovens Ruhm kulminierte und ein junger, unbekannter Wiener Komponist namens Schubert sich anschickte, Beethovens musikalischen Modellen Paroli zu bieten: 1825. In Voříšeks bewegter, schroffer, dann wieder klangsinnig eleganter Musiksprache hört man die Höhe seiner Zeit: Mozart grüßt, aber noch mehr die erhabene Dramatik Christoph Willibald Glucks, der theatralische Sensus Antonio Salieris, das neue Pathos etwa eines Peter von Winter. Wer aus diesen 1820er Jahren immer nur Beethoven vor Augen hat, leidet unter verzerrter Wahrnehmung. Netopils Verdienst ist, einen anregenden Außenseiter zu Gehör gebracht zu haben, der dennoch mittendrin in dieser lebendigen musikalischen Welt steht. Mehr davon wäre ungemein anregend!




Kunstszene am Rhein präsentiert sich: 50 Galerien beim „DC Open“ ab 6. September

Ein feines Kunst-Event, vor allem für Freunde zeitgenössischer Kunst, findet in diesem Jahr zum fünften Mal statt: Zum „DC Open“ schließen sich 50 Galerien aus Düsseldorf und Köln zusammen, um die Saison mit einem Wochenende zu eröffnen. Der Ausstellungs-Parcours soll die künstlerisch spannende Region vorstellen und knüpft an die Sammler- und Sammlungstradition im Rheinland an. Die Galerierundgänge, erleichtert durch einen Shuttle-Service zwischen den beiden Städten, beginnen am Freitag, 6. September, 18 Uhr.

Nach einem erfolgreichen Start im letzten Jahr bietet DC Open auch in diesem Jahr wieder ein breit angelegtes Programm an Kuratoren- und Sammlerführungen. Eingeladen sind 2013 die Museumsvereine der Umgebung, dazu Ausstellungsmacher, Kunsthistoriker und Sammler schwerpunktmäßig aus Warschau und Istanbul. Geplant ist der Besuch von Galerien, Künstler-Präsentationen und Privatsammlungen. Somit ist DC Open nicht nur ein Wochenende für Kunstinteressierte, sondern auch ein internationaler Treffpunkt für Profis aus der Kunstszene.

Einige Beispiele: Die Galerie Kaune, Posnik, Spohr in der Albertusstraße in Köln zeigt unter dem Titel „Excerpts from Silver Meadows“ Fotos des Amerikaners Todd Hido. Die Bilder, die bis 29. November zu sehen sind, beziehen sich auf eine reale Straße in Kent in Ohio, wo der Künstler seine Kindheit verbrachte.

Benedikt Hipp: "In der folgenden Betrachtung wird vorausgesetzt der Körper sei eindimensional". Bild: Courtesy Galerie Kadel Willborn

Benedikt Hipp: „In der folgenden Betrachtung wird vorausgesetzt der Körper sei eindimensional“. Bild: Courtesy Galerie Kadel Willborn

Hido hält jedoch nicht die – nicht mehr existierende – Vorstadtwelt der siebziger und achtziger Jahre fest, sondern fotografiert Orte, die ihn an diese nicht mehr betretbare Kindheitswelt erinnern. Entstanden sind sinnlich-expressive Bilder, geheimnisvolle Landschaften, ambivalente Porträts junger Frauen. Hido ist 1968 geboren, studierte an der „Boston School of the Museum of Fine Arts“ und der Tufts University. Seine Arbeiten werden weltweit gezeigt; der Künstler lebt in der San Francisco Bay Area.

In Düsseldorf zeigt Kadel Willborn an seinem Sitz in der Birkenstraße bis 12. Oktober Arbeiten von Benedikt Hipp: neue kleinformatige Gemälde in hellen Farbtönen und Zeichnungen mit Collagen-Einsprengseln sowie installative Arrangements aus Elementen wie Plastiken, Readymades und objets trouvés. Der 1977 in München geborene Künstler konnte sich seit 2004 in mehreren Einzelausstellungen vorstellen, ist aber für die Rhein-Ruhr-Region ein „Newcomer“.

Bei conrads in der Düsseldorfer Lindenstraße ist Kunst mit differenzierten Bezügen zu Politik, Kunst-, Architektur- und Mentalitätsgeschichte zu erleben: „Great Nature®“ zeigt Arbeiten von Blaise Drummond – etwa das Bild „When the Cathedrals were White“. Im Titel greift er eine Schrift des Architekten Le Corbusier auf, im Bild interpretiert er Camille Corots Gemälde „Chartres Cathedral“. Drummonds Bilder oszillieren – so die Galerie in ihrer Mitteilung – zwischen dem Scheitern der Ideale und dem Wunsch nach einem Neubeginn. Der Architektur stehe in den Bildern die Natur gegenüber – in einer fragmentarischen Repräsentation und auch als Element des Konflikts und des Widerspruchs. Die Ausstellung ist bis 19. Oktober zu sehen.

Matthias Danberg, Zahnrad, C-Print, 2013, courtesy Galerie Voss, Düsseldorf

Matthias Danberg, Zahnrad, C-Print, 2013, courtesy Galerie Voss, Düsseldorf

Die Galerie Voss, Mühlengasse, Düsseldorf, lässt sich mit Arbeiten von Matthias Danberg auf einen Künstler ein, der vor allem am Computer arbeitet. Danberg zielt auf Schichten historisch-kultureller Entwicklung, verarbeitet sie in einer narrativen, metaphorischen Bildsprache. „Seine künstlerische Strategie changiert dabei zwischen der kalten Simulationsästhetik des Virtuellen auf der einen Seite und der subjektivindividuellen Gestaltungskraft eines tendenziell anachronistischen und damit widerständigen Künstlerverständnisses auf der anderen“, heißt es in der Pressemitteilung der Galerie. Danberg hat in Dortmund und Münster Philosophie und Kunst studiert. Er lebt in Düsseldorf.

Fünf neue abstrakte Skulpturen des Mexikaners José Dávila zeigt die Galerie Figge von Rosen in der Aachener Straße in Köln unter dem Titel „Das muss der Ort sein“. Gezeigt werden auch einige seiner „cut-outs“, Fotodrucke, in die weiße Leerstellen geschnitten sind. Dávila, 1974 in Guadalajara geboren, hatte zahlreiche Einzelausstellungen weltweit. Schon 2011 zeigte die Galerie Figge von Rosen Arbeiten von ihm unter dem Titel „Nowhere Can Be Now Here”.

Jeff Cowens fotografisches Werk bewegt sich zwischen abstrakten, malerischen Kompositionen, Motivcollagen und subtil verfremdeter Porträtfotografie. Der 1966 in New York geborene Künstler wurde bereits 2012 vom Kunsthandel Michael Werner präsentiert. Zum DC Open sind nun neueste Arbeiten Cowens in der Kölner Gertrudenstraße ausgestellt. Zu der Schau erscheint ein Katalog. Bis 26. Oktober sind die Werke zu sehen, die das weite Feld bildnerischen Arbeitens in der Fotografie ausmessen.

Ganz „klassisch“ dagegen präsentiert sich die Galerie Boisserée in der Kölner Drususgasse: Sie zeigt bis 2. November Skulpturen, Radierungen, Lithografien und Arbeiten auf Papier des in Brühl geborenen Max Ernst (1891 bis 1976). Zu dieser Ausstellung erscheint ein 160seitiger Katalog mit einem Text von Jürgen Pech, wissenschaftlicher Leiter des Max Ernst Museums Brühl. Er ist zum Preis von 20 Euro auch per Postversand von der Galerie erhältlich.

Die DC Open 2013 findet vom 6. bis 8. September statt. Die beteiligten Galerien sind am Freitag, 6. September, ab 18 bis 22 Uhr geöffnet, am Samstag von 12 bis 20 Uhr, am Sonntag von 12 bis 18 Uhr. Am Samstag, 7. September verkehrt ein Shuttle-Bus zwischen Köln (Rudolfplatz/Barcelò Hotel) und Düsseldorf (Grabbeplatz/Hermannplatz). Er verlässt Köln um 13, 16, 19 Uhr und Düsseldorf um 12, 15, 18 Uhr. Information: www.dc-open.de




Oper Frankfurt: Verdi-Herbst mit „Les Vêpres Siciliennes“ glanzvoll eröffnet

Ein Schuss peitscht durch die Stille, noch vor der Ouvertüre. Ein junger Mann fällt und wird hastig weggeschleppt. Die Musik setzt ein, düster timbriert, mit einem unheilvoll dumpfen Doppelschlag. Er wird in der Oper immer wieder aufklingen, bis Schüsse und ein jäher, knapper Orchesterschlag das Drama beenden.

Die Oper Frankfurt hat ihre Spielzeit – und den Verdi-Herbst dieses Jubiläumsjahres – mit der Wiederaufnahme von „Les Vêpres Siciliennes“ eröffnet. Ein selten gespieltes Werk, mit dem Verdi 1855 während der Pariser Weltausstellung an der Opéra in Konkurrenz zu den „Klassikern“ der Grand Opéra trat. En Werk, dessen Dimensionen und Ansprüche einer breiten Rezeption im Wege standen. Aber in seiner psychologischen Differenzierungskunst steht Verdi in der „Sizilianischen Vesper“ auf der Höhe, die er mit „Rigoletto“ und „La Traviata“ erreicht und mit dem vier Jahre später entstehenden „Ballo in maschera“ perfektioniert hat.

Der Despot und der Revoluzzer: Quinn Kelsey und Alfred Kim in "Die sizilianische Vesper" in Frankfurt. Foto: Thilo Beu

Der Despot und der Revoluzzer: Quinn Kelsey und Alfred Kim in „Die sizilianische Vesper“ in Frankfurt. Foto: Thilo Beu

In Frankfurt hat Jens-Daniel Herzog inszeniert. Er lässt sich nicht auf Schauplatz und Zeit ein – Sizilien 1282, während der Gewaltherrschaft von Charles d’Anjou –, sondern arbeitet die Grundkonflikte des Stücks heraus, die mit den historischen Abläufen sowieso kaum etwas zu tun haben: Eine traumatische Vater-Sohn-Beziehung, eine Liebe im Spannungsfeld von politischer Kumpanei und zärtlicher Verinnerlichung, eine Auseinandersetzung von gesellschaftlichen Gruppen, getrieben von einem machtbewussten Regenten und einem fanatischen Freiheitskämpfer.

Den Schauplatz definiert Mathis Neidhardt mit seiner Bühne, dominiert von einem Hochhaus im Stil der sechziger Jahre. Der schwarzpolierte Stein des Erdgeschosses, der goldene Beschlag der Eingangstür erinnern an den aufwändigen, dennoch billig wirkenden Protz sozialistischer Repräsentationsbauten, aber auch den stillosen Aufwand der Wirtschaftswunderland-Architektur. Vor dem Haus wird im kalten Schein einer Neonlampe der Mord verübt. In der Ouvertüre huschen Menschen vorbei, stellen mit gehetztem Blick nach links und rechts ein Grablicht auf, legen Blumen ab, kleben das Bild des Ermordeten an den Marmor. Eine alte Frau wir vorbeigeführt, verharrt erschüttert vor dem Bild. Eine Moment, der uns an ähnliche Szenen aus den Bürgerkriegen dieser Welt denken lässt, ob Kosovo oder Afghanistan.

Herzog lässt in seiner Inszenierung, die zu seinen genauesten und scharfsichtigsten gehört, konkrete historische Andeutungen weg. Die Herren, die in geschmacksarm modischen Anzügen das Serviermädchen belästigen, könnten ihren Espresso im Sizilien der sechziger Jahre oder am Rand der französischen Studentenrevolte nippen. Ihre Gegner, dunkel und einfach gekleidete Menschen, stellen sich mit ihren Fahrrädern in einer Front auf. Herzog versteht es, die lauernde Konfrontation in einem kraftvollen Bild einzufangen.

Jens-Daniel Herzog erschließt die komplexen Charaktere

Die Inszenierung des Dortmunder Opern-Intendanten ist kein vordergründiges Polittheater: Herzog erschließt die komplexen Charaktere von Verdis Figuren in szenisch außerordentlich dichten Konstellationen. Guy de Montfort ist der Gouverneur des besetzten Landes, ein Machtmensch, rasch in der Entscheidung, knallhart in der Umsetzung. Seine klar strukturierte Welt beginnt zu bröckeln, als er in einem Brief erfährt, dass der kleine Revoluzzer Henri sein Sohn ist, geboren von einer von ihm vergewaltigten Sizilianerin. Von diesem Moment an spürt Montfort die innere Leere; er lässt seine verdrängte Sehnsucht nach Zuneigung zu – die Suche nach einem „Menschen“, die Verdi zwölf Jahre später in König Philipp im „Don Carlo“ so bewegend darstellen sollte.

Quinn Kelsey macht mit den Farben seines ausgewogenen, sicher geführten Baritons die innere Welt Montforts deutlich: Er ist, wie die anderen Hauptfiguren dieses Verdi-Dramas, kein einschichtiger Charakter. Er leidet an der Einsamkeit des Herrschenden und kann sie nicht überwinden: Im vierten Akt erzwingt er von seinem Sohn mit seinen vertrauten Machtmitteln das öffentliche Bekenntnis zu ihm als Vater. Verdi gibt ihm einen Zug ins Tragische: Montfort ist, innerlich angerührt und „bekehrt“, bereit zur gesellschaftlichen Versöhnung.

Doch die verhindert ein Anderer, der sich zunehmend verhärtet: Jean de Procida, aus dem Exil zurückgekehrt, besingt in seinem Auftritt innig und voll Pathos seine Heimat. In der Bass-Arie, einer der schönsten Verdis, nimmt man ihm eine ehrliche, tief empfundene Verbundenheit mit seinem Land ab. Später mutiert er zu dem, was Verdi als „gewöhnlichen Verschwörer … mit dem Dolch in der Hand“ beschreibt.

Unversöhnliche Fronten: Jens-Daniel Herzogs kluge Inszenierung von Verdis "Sizilianischer Vesper" in Frankfurt. Foto: Thilo Beu

Unversöhnliche Fronten: Jens-Daniel Herzogs kluge Inszenierung von Verdis „Sizilianischer Vesper“ in Frankfurt. Foto: Thilo Beu

Procida spitzt den Konflikt zu, schürt die Gewaltbereitschaft, opfert jede menschliche Regung seiner politischen Mission. Wer persönliche Gefühle zulässt, ist Verräter: Henri, weil er sich außerstande sieht, seinen Vater einem Mordkomplott zu opfern. Hélène, weil ihre Hochzeit mit Henri nicht als politisches Kalkül sieht und mit ihrem Ja nicht das Stichwort für eine blutige Erhebung geben will. Kihwan Sim gestaltet diesen Weg ins Unmenschliche mit einer sonoren Stimme, deren schneidende Härte gut zum Charakter Procidas passt. Doch Sim vergisst nicht, dass Verdi den Typ des „basso cantante“ vor Augen hatte – anders als Raymond Aceto in der Premierenserie des „Vêpres Siciliennes“ im Juni, der zu wenig auf Linie sang, zu rau intonierte.

Verdi hat die Entwicklung der großen historischen Oper in Paris genau beobachtet und ihre musikalischen und dramaturgischen Errungenschaften für sich zu nutzen gewusst. Aber er blieb bei seinem Interesse an den Leidenschaften und seelischen Konflikten und hat unter diesem Aspekt das Libretto Eugène Scribes mehrfach kritisiert. Henri und Hélène wirken in der klugen Sichtweise Herzogs nicht als Liebespaar, sondern zunächst als Verbündete in der Opposition. Ein Liebesduett gibt es nicht, doch Verdi gibt vor allem Henri den musikalischen Raum zu verzweifelter Leidenschaft und spitzt damit den dritten und vierten Akt ungeheuer spannungsreich zu: ein idealistischer Junge, zerrissen zwischen den väterlichen Ansprüchen, der Liebe zu Hélène und der patriotischen Pflicht, seine Heimat zu befreien.

Burkhard Fritz lässt diese ausweglosen Konflikte mitfühlen: Er gibt der Figur bis ins mimische Detail hinein Konturen, setzt einen kraftvollen, technisch versierten Tenor ein, der in der schwierigen Partie die gestalterische Herausforderung meistert. Vor ihm hat Alfred Kim den Henri gesungen, mit mehr italienischem Schmelz, Legato-Leidenschaft und hinreißender Attacke. Fritz hat nicht die satte, schmeichelnde Höhe seines Vorgängers, wird beim Aufstieg in die obere Lage gerne schneidend spitz, kann aber mit seiner überzeugenden psychologischen Durchdringung der Figur alles wieder wettmachen.

Elza van den Heever (Hélène) und Quinn Kelsey (Guy de Montfort). Foto: Thilo Beu

Elza van den Heever (Hélène) und Quinn Kelsey (Guy de Montfort). Foto: Thilo Beu

Mit Elza van den Heever kann Frankfurt die hybride Rolle der Hélène mit einer weltweit gefragten Sopranistin besetzen. Die Südafrikanerin gehörte bis Ende vergangener Spielzeit dem Ensemble an und ist jetzt – nach ihrem Debut an der Metropolitan Opera New York – freischaffend tätig. Hélène ist keine der duldenden Heroinen Verdis, trägt eher die Züge starker „Macherinnen“ wie Abigaille oder Odabella. Ihre solistischen Selbstäußerungen sind merkwürdig distanziert. Weder das gleichnishafte Revolutionslied des ersten noch der schillernde Boléro des fünften Akts sprechen über sie selbst. Traumatisiert vom Mord an ihrem Bruder dringt sie erst im fünften Akt, zerrissen von der Liebe zu Henri und der Solidarität mit ihren Kampfgefährten, zu ihrer seelischen Mitte vor. Zu spät: Im losbrechenden Aufruhr verlieren die Liebenden ihr Leben.

Van den Heever durchmisst ihre technisch anspruchsvolle Partie mit Bravour, die sie von einer lodernd-aggressiven Cabaletta über psychologisch feinnervige Ensembles zum Koloraturfeuerwerk des berühmten „Boléro“ führt, ein Schaustück vokaler Geläufigkeit, das eher der Sphäre des kapriziösen Oscar aus dem „Ballo in maschera“ nahesteht.

Beispielhafte Verdi-Inszenierungen

Frankfurt wählte die kaum gespielte fünfaktige französische Originalfassung, allerdings ohne die melodienreiche, fast halbstündige Ballettmusik, und setzte damit wieder einmal Maßstäbe in der deutschen Opernlandschaft. Das war auch dem engagierten Orchester zu verdanken, dem Pablo Heras-Casado genau die atmende Phrasierung, differenzierte Dynamik und melodische Intensität abverlangte, die Verdis Musik spannend und vielfarbig machen.

Der 35jährige Spanier hat sich mit diesem Frankfurter Debut nachhaltig als Verdi-Dirigent empfohlen, dem man gerne wiederbegegnen möchte. Die derzeit laufende Vorstellungsserie dirigiert Giuliano Carella, nicht ganz so differenziert im Detail und flexibel im Tempo, aber ebenso mit Gespür für Verdis orchestrale Farben und glühende Expression. Dem Chor, für seine umfangreiche Aufgabe von Matthias Köhler bestens präpariert, würden deutliche Zeichen vom Pult her gut tun: Verdis rhythmisch kantig geschnittene Einsätze sotto voce und a cappella gelangen nicht überzeugend.

Mit „Les Vêpres Siciliennes“ hat Frankfurt neben einem immer wieder bewegenden „Don Carlo“ in David McVicars Regie und einem szenisch wie musikalisch hochkarätigen „Ballo in maschera“ von Claus Guth eine beispielhafte Verdi-Inszenierung im Repertoire; ein Nachweis der Leistungsfähigkeit des Hauses, das unter seinem Intendanten Bernd Loebe in die europäische Spitzengruppe aufgerückt ist. Dass ein solches Erfolgsunternehmen mit Kürzungen bedroht wird, ist ein weiterer Beweis für die desolate Kulturpolitik in Deutschland, das von Rostock bis Halle, von Dessau bis Wuppertal derzeit drauf und dran ist, sein kulturelles Kapital im Bereich des Theaters zu verspielen. Das ist kein Krisen-Management, das ist die pure Leichtfertigkeit.

 




Festspiel-Passagen VI: Opernromantik unterm Sternenzelt – Verona feiert 100 Jahre Oper in der Arena

Der Inbegriff der Opernromantik: Ein samtblauer, sternübersäter Himmel spannt sich aus, ein sanfter, linder Wind erfrischt die Wärme des Abends, ein ägyptischer Tempel hebt sich aus dem Dunkel, warm beleuchtet, als würden ihn Tausende Kerzen illuminieren. Und eine Frau singt sehnsüchtig zur weichen, leisen Riesenharfe eines Orchesters: „Ah, komm, mein Geliebter, berausche mich, beglücke mein Herz!“

Vor der Vorstellung: Arena-Besucher stärken sich in der Bars und Restaurants der Piazza Brá. Foto: Häußner

Vor der Vorstellung: Arena-Besucher stärken sich in der Bars und Restaurants der Piazza Brá. Foto: Häußner

Für solche Momente bezaubernder Stimmung ist die Arena von Verona weltberühmt. Wenn sich Amneris in Giuseppe Verdis Oper „Aida“ mit einem schmeichelnden Melodiebogen nach dem fernen Radamès sehnt, der die ägyptischen Heerscharen an der Grenze zu Äthiopien zum Siege führt, bleibt den Zuschauern der Atem stehen. Ganz still wird es dann unter den Fünfzehntausend, die das Rund der römischen Arena füllen. Nur aus weiter Ferne wehen ein paar Stimmfetzen von der Piazza Brá bis zu den „gradinate“ des Monumentalbaus – den narbigen Steinstufen, auf denen vor 2000 Jahren die römischen Veroneser Gladiatoren und Tierhetzer anfeuerten.

So still ist es nicht immer: Italien trägt ein temperamentvolles Volk auf seiner Erde, und auch die zahllosen Touristen, von denen die Opern-Festspiele in der Arena di Verona leben, lassen sich zu gerne vom südlichen Feuer entzünden. „Brava Violeta“ schreit ein stimmgewaltiger Mann von oben, kaum dass der letzte Ton verklungen ist: ein Claqueur oder jemand, der sein eigenes Organ ebenso gerne hört wie das der Sängerin. Aber er steckt an: Menschen jubeln, klatschen, schreien. Die Oper, das alte „Kraftwerk der Gefühle“, drängt die innere Bewegung zum äußeren Ausdruck.

Am Beifall spürt der langjährige Operngänger in Italien aber den Unterschied zum früheren Publikum: Da haben die „tifosi“ nicht geklatscht, sondern getobt. Da war auf der Bühne der Wettkampf der Stimmen zu erleben – eine Arena der vokalen Exhibition, die nicht selten um des Effektes willen die Grenzen des Geschmacks und des stilistisch sauberen Singens hinter sich ließ. Haudegen wie Mario del Monaco oder Franco Bonisolli haben mit elektrisierenden Spitzentönen den kollektiven Aufschrei provoziert wie ein Siegestreffer in der Arena von Schalke 04. Und die Schlachtrösser des Sopranfachs – erinnert sei zum Beispiel an Ghena Dimitrova – haben in „Turandot“ oder „La Gioconda“ Expression und Opulenz auf die Spitze getrieben.

Blick in die Arena: 15 000 Zuschauer erwarten den Beginn der Oper. Ennevi Foto, per gentile concessione della Fondazione Arena di Verona

Blick in die Arena: 15 000 Zuschauer erwarten den Beginn der Oper. Ennevi Foto, per gentile concessione della Fondazione Arena di Verona

Daneben gab es Sänger, die mit den riesigen Dimensionen der Arena „gespielt“ haben, ohne die Musik an die Show zu verraten: Mit Wehmut ist an Fiorenza Cossotto zu denken, eine bestrickende Amneris in zahllosen „Aida“-Aufführungen. Gelingen ihnen die „Schlager“ ihrer Rolle, werden die Protagonisten auch heute hin und wieder noch mit „bis“-Rufen aufgefordert, ihre Arie zu wiederholen – und stellen sich, wenn der Maestro am Pult mitspielt, nur zu gerne der Ehre, ein vokales Schaustück noch einmal zum Besten zu geben. Auf der anderen Seite waren auch schmähliche Schiffbrüche zu erleben: Wer seine schönen Stellen versiebte, durfte nur mit Gnade rechnen, wenn das Rund gerade mehrheitlich mit angereisten Deutschen oder Amerikanern besetzt war. Ansonsten gab es schmerzliches Zischen, hämische Bemerkungen oder Rufe wie „vai a casa“ („Geh‘ nach Hause“).

Das Publikum – ein Raubtier

In solchen Momenten blitzt das antike Erbe der Arena auf: der Wettkampf, die emotionale Erregung, der mörderische Sport. Dann sind nicht nur die Akustik und die immensen Entfernungen zwischen Dirigent, Orchester, Chor und Solisten der Feind des Sängers, sondern auch die lauernden Raubtiere auf den Rängen: bereit, nach jedem glücklichen Spitzenton zu schnappen, bereit auch, jede Unaufmerksamkeit mit Angriff zu vergelten. Mit dem gesitteten Publikum unserer Stadttheater ist diese Atmosphäre nicht zu vergleichen. Aber mit dem Verlust des Maßstabs für gutes Singen, der in Italien noch schmerzlicher als anderswo zu spüren ist, versinken solche Konfrontationen in Vergangenheit: Heute genügt zum Jubel, dass die Partie irgendwie geschafft wird. Maßstäbe für gutes Singen werden für subjektiv gehalten, offene Kritik oder gar Unmut sind dann nicht mehr angebracht.

Oper in Verona – das hat wenig mit dem zu tun, was über die Kunstform reflektierend gesagt und geschrieben wird. Oper in Verona bedeutet Spektakel, Befriedigung der Schaulust, Ergötzen an der monumentalen Dimension, Unterhaltung und, ja, Romantik, im sentimentalen Sinne des Wortes: eine warme Sommernacht, die blitzenden  Sterne, die tausend kleinen Flämmchen der „candelini“ zu Beginn der Vorstellung, das lustvolle Auskosten der schönen Melodie, die unmittelbare Freude am faszinierenden Klang, an der Monumentalfilm-Kulisse, an den Klischees großer Gefühle.

Rekonstruiert: "Aida" in Kulissen und Kostümen von 1913. Foto Ennevi, per gentile concessione della Fondazione Arena di Verona

Rekonstruiert: „Aida“ in Kulissen und Kostümen von 1913. Foto Ennevi, per gentile concessione della Fondazione Arena di Verona

Wer sich der Oper mit dem scharfen Messer des Verstands, mit dem Skalpell der Analyse nähert, wird sein Instrument auf dem Stein der „gradinate“ schnell abstumpfen. Verona ist nichts fürs Konzept- oder Regietheater. Hier hat die Dekoration das Sagen. Es gab Versuche, auch in der Arena Oper anders zu machen als 1913. Sie sind resonanzlos gescheitert. Nicht umsonst hat man 1982 die „Aida“-Aufführung von vor 100 Jahren rekonstruiert. Sie gehört zu den beliebten Schaustücken – und in diesem Jahr, zum Arena-Jubiläum konnte der Besucher sogar wählen: zwischen einem bunten Alt-Ägypten, wie man es sich zu Verdis Zeit vorgestellt hat und dem postmodernen Schnickschnack, wie ihn das spanische Dekorations-Großunternehmen La Fura dels Baus derzeit über die Opernzentren der Welt ausbreitet. Gewonnen hat, so war auch aus den Kritiken zu entnehmen, die Postkarten-Belle-Époque der historisierenden Inszenierung Gianfranco de Bosios.

Alt-Ägypten in der Fantasie der Belle Époque: Víoleta Urmana als Amneris. Foto Ennevi, per gentile concessione della Fondazione Arena di Verona

Alt-Ägypten in der Fantasie der Belle Époque: Víoleta Urmana als Amneris. Foto Ennevi, per gentile concessione della Fondazione Arena di Verona

Und da schreiten sie, die ägyptischen Scharen, von hinten nach vorne, von links nach rechts über die riesige Bühne, zwischen bunt bemalten Säulen durch, die in ihrer Massivität mit Luxor oder Abu Simbel konkurrieren können. Erhaben gewandet, luxuriös geschmückt. Amneris und der König in Gold und Weiß, Aida im ägyptisierenden Modellkleid, alles andere als eine „ria schiava“, eine anonyme kriegsgefangene Sklavin. Gut, Elefanten sind nicht von der Partie, aber beim Triumphmarsch, dem Höhepunkt der spektakulären Aufzüge, reiten Pferde ein. Radamès, der Sieger, wird auf einem riesigen Thron hereingefahren. Kostbare Stoffe, edle Metalle, Federn: Vor diesem Altägypten verlöre jede Mode-Boutique im Paris der Belle Époque vor Neid und Scham ihre Farbe.

Dekorative Ästhetik von heute in der "Aida" von La Fura dels Baus. Foto Ennevi, per gentile concessione della Fondazione Arena di Verona

Dekorative Ästhetik von heute in der „Aida“ von La Fura dels Baus. Foto Ennevi, per gentile concessione della Fondazione Arena di Verona

Dagegen kann das stilisierte Sonnenkraftwerk von La Fura dels Baus nicht punkten. Ebenso wenig überzeugt das Planschbecken mit echtem Wasser und Plastik-Krokodil-Masken für plätschernde Statisten im Nilakt. Die „alte“ Inszenierung setzt dagegen auf stimmungsvolle Lichtregie, wenn die Säulen eines Tempels im dunstigen Mondlicht am Fluss sich gewaltig und düster über kleine Menschen erheben. Solche Momente wären durchaus in einer spannungsvollen, glaubhaften Regie mit dramatischem Leben zu erfüllen, wäre da nicht eine grenzenlos banalisierende Personenregie am Werk. Zwischen Rampengesang und Ausfallschritt, zeremoniellem Schreiten und vorhersehbaren Arrangements könnte ein Hauch von Psychologie, von wahrhaftigem menschlichem Verhalten Wunder wirken.

Das ist bei einem Tenor wie Marco Berti nicht zu erwarten, der mit robustem Ton durch seine Partie pflügt und es offenbar dem Zufall überlässt, ob eine Phrase mal stimmig ausgesungen, mal einfach nur mit Kraft geschmettert wird. Der Mann hat die vokalen Fertigkeiten für einen überzeugenden Radamès, aber weder das stilistische Bewusstsein noch das psychologische Feingefühl. Die Aida von Fiorenza Cedolins tut sich bei der Gestaltung von Angst, Ausweglosigkeit, Resignation, aber auch im Moment des Aufbegehrens gegen Amneris und im abgeklärten Einverständnis mit dem Sterben im Finale leichter. Aber ihr Timbre klingt ölig, ihr Vibrato verbraucht – da hilft auch nicht, dass sie die Höhe in der Nil-Arie sicher erreicht.

Der Tenor Marco Berti als Radamès. Foto Ennevi, per gentile concessione della Fondazione Arena di Verona

Der Tenor Marco Berti als Radamès. Foto Ennevi, per gentile concessione della Fondazione Arena di Verona

Violeta Urmana war als Amneris die überzeugendste Sängerin des Ensembles: In der Szene, in der Radamès von den Priestern verhört und verurteilt wird, breitet sie das Psychogramm einer stolzen, starken Frau aus, die an die Grenzen ihrer seelischen Leidensfähigkeit geführt wird. Überzeugend auch ihre stimmlich beglaubigte Doppelzüngigkeit am Anfang, in der Konfrontation mit Aida, als sich der Verdacht erhärtet, die Sklavin könne ihre erfolgreiche Konkurrentin um die Liebe Radamès‘ sein. Nur die schmeichlerischen Legati in der ersten Szene des zweiten Aktes gelingen ihr nicht ganz: Der Stimme fehlen Samt und schwärmerischer Ton.

Die männlichen Protagonisten bleiben auf mittlerem Niveau: Anbrogio Maestri imponiert in Statur und Stimmgewalt, singt den Amonasro aber wenig differenziert und mit vielen engen Tönen. Orlin Anastassov bleibt als Ramfis ebenso rau und stilistisch grob wie Carlo Gigni als König. Daniel Oren liefert ein routiniertes Dirigat ab, ohne auf die Finessen der Partitur intensivere Blicke zu richten.

Über 600 „Aida“-Vorstellungen in 100 Jahren

Arena und Aida – das sind beinahe schon Synonyme geworden: Mit über 600 Vorstellungen steht die Oper Verdis an der Spitze der Aufführungsstatistik. Vor 100 Jahren verwirklichte der Tenor Giovanni Zenatello zusammen mit dem Impresario Ottone Rovato die Idee, zu Ehren des Komponisten im damals frisch restaurierten römischen Monument „Aida“ aufzuführen. Das Experiment von 1913 – damals noch ohne elektrisches Licht! – gelang, die Arena etablierte sich als sommerliche Spielstätte. 1914 folgte Bizets „Carmen“, dann unterbrach der Erste Weltkrieg bis die junge Tradition, die aber bereits 1919 wiederbelebt wurde. Und zwar, was heute undenkbar ist, mit einer relativ neuen Oper Amilcare Ponchiellis, „Il Figliuol Prodigo“ („Der verlorene Sohn“) von 1880. In den Folgejahren gab es zwar wieder „Aida“, aber auch modernere Stücke: „Il piccolo Marat“ von Pietro Mascagni (1921), „Nerone“ von Arrigo Boito (1926) oder die erst drei Jahre zuvor uraufgeführte „Turandot“ Giacomo Puccinis 1928.

Gab den Anstoß für die Arena-Opernfestspiele: Der Tenor Giovanni Zenatello. Archivfoto Bain Collection

Gab den Anstoß für die Arena-Opernfestspiele: Der Tenor Giovanni Zenatello. Archivfoto Bain Collection

Ein letztes solches Experiment wagte die Arena 1952 mit Italo Montemezzis „L’Incantesimo“ („Der Zauber“). In den zwanziger Jahren spielte man sogar Wagner in der Arena – nicht einmal das traut sich das Opernunternehmen in seinem und Wagners Jubiläumsjahr: „Lohengrin“ erklang 1922, noch einmal in den Jahren 1933 und 1949 und zum letzten Mal 1963 – eine kluge Wahl für die szenischen Möglichkeiten der Arena. Selbst „Parsifal“ (1924) und „Die Meistersinger von Nürnberg“ (1931) standen je einmal auf dem Spielplan.

Die Gründer der Operntradition in der Arena hatten ein treffendes Gespür für die Auswahl der Werke. Camille Saint-Saëns‘ „Samson et Dalila“, 1921 gezeigt, erfüllt die Bedingungen ideal: große Tableaus und Chorszenen, monumentale Schauplätze, historisierender Stoff, wirksame Musik. Man fragt sich, warum dieses Stück 1974 zum letzten Mal in der Arena zu erleben war. Eine Erklärung: Die Aufführungen in Verona müssen massenkompatibel sein. Abend für Abend zwischen Juni und September sind 15 000 Plätze zu verkaufen. Und in Zeiten, in denen italienische Politiker die Oper nicht mehr für finanzierungswürdig halten, weil sie den Staat nicht in der Pflicht sehen, „Musikshows“ zu unterstützen, gibt es wohl keinen Spielraum für künstlerische Entscheidungen. So kristallisiert sich seit den neunziger Jahren ein Kern von einem Dutzend Opern heraus, die immer wieder aufgeführt werden, unterbrochen von nur wenigen „Ausreißern“ wie „La Gioconda“ (2005) oder dem ersten Mozart in der Arena, „Don Giovanni“ (2012).

Doch diese Entwicklung ist nicht nur ein Indiz finanzieller Risikovermeidung, sondern auch ein Zeichen für die sterile Erstarrung der Oper als Kunstform: Verona schwimmt an der Spitze des internationalen Mainstreams. Ideen wie etwa die Inszenierung einer Meyerbeer-Oper – wie sie in den dreißiger Jahren stattgefunden haben, weil sich die Grand Opéra hervorragend für den Raum eignen würde – sind daher selbst im 150. Todesjahr Meyerbeers 2014 utopisch. Der Spielplan für das nächste Jahr beinhaltet also wieder beide „Aida“-Inszenierungen, dazu Verdis „Maskenball“ sowie „Madama Butterfly“ und „Turandot“ von Giacomo Puccini, ergänzt durch „Carmen“ und Charles Gounods „Roméo et Juliette“ – eine Konzession an Veronas zweiten Touristen-Mythos.




Gelackte Landschaften: Sven Drühl in Wuppertal

Die Beachtung für den Künstler wächst, und die neue Ausstellung in der Wuppertaler Von der Heydt-Kunsthalle wird dazu beitragen: Ab 8. September werden dort Werke des in Berlin lebenden Malers und Lichtkünstlers Sven Drühl gezeigt.

Drühl, 1968 in Nassau/Lahn geboren, setzt sich vornehmlich mit Landschaften auseinander, malt aber auch Architekturdetails oder Einsichten in Industrie- oder Technikbauteile. Immer wieder kreiert er auch Installationen aus Neonröhren.

Sven Drühl: E.T.C., 2012, Sammlung Zeebs, Berlin, Copyright: VG Bild-Kunst 2013

Sven Drühl: E.T.C., 2012, Sammlung Zeebs, Berlin, Copyright: VG Bild-Kunst 2013

In der Region ist Drühl nicht unbekannt: Von 1991 bis 1996 studierte er in Essen Kunst und Mathematik; bis 1999 hatte er einen Lehrauftrag an der Gesamthochschule Essen inne. Im Museum Morsbroich in Leverkusen und im Museum am Ostwall in Dortmund fanden 2002 seine ersten Einzelausstellungen mit dem Titel „Die Aufregung“ statt; in Gruppenausstellungen wurden bereits 1999 Werke Drühls in Recklinghausen und Essen gezeigt.

Auch danach blieb er in der Kunstszene in NRW präsent: Zuletzt widmete die Galerie der Stadt Remscheid 2008 dem Künstler eine Einzelschau. Außerdem war Drühl 2012 in der Ausstellung „Kalte Rinden – Seltene Erden“ im Märkischen Museum Witten zu sehen, die sich der Landschaft in der Gegenwartskunst widmete.

In Wuppertal werden nun Arbeiten aus den letzten 12 Jahren seit 2001 ausgestellt. So will die Kunsthalle mit der Schau „unterschiedliche Werkserien und Motivlinien“ deutlich machen.

Kennzeichnend für Drühls Arbeiten ist das Arrangieren, Zitieren oder Dekonstruieren vorgefundenen Materials, das er aus den Werken anderer Künstler nimmt: Caspar David Friedrich oder Ferdinand Hodler kommen ebenso vor wie Zeitgenossen, etwa Wolfgang Tillmans. In seinen Gemälden verwendet Drühl Ölfarbe, Lack und Silikon und schafft mit diesem Materialmix Verfremdung und Vertrautheit, gibt ihnen den – ironisch geladenen – Charakter des Dekorativen und gleichzeitig eine unbehaglich sterile Enthobenheit.

Eines der neuesten von Drühls Neon-Bildern: F.H. von 2013. Copyright: VG Bild-Kunst 2013

Eines der neuesten von Drühls Neon-Bildern: F.H. von 2013. Copyright: VG Bild-Kunst 2013

Die Ausstellung „Sven Drühl. Werke 2001 bis 2013“ ist bis 14. Januar 2014 zu sehen. Die Von der Heydt-Kunsthalle in Wuppertal-Barmen ist von Dienstag bis Sonntag von 11 bis 18 Uhr geöffnet; der Eintritt kostet drei, ermäßigt zwei Euro. Am 10. November, 15 Uhr, findet ein Künstlergespräch mit Sven Drühl statt. Zur Ausstellung erscheint ein Katalog mit Texten von Gerhard Finckh, Peter Forster und Loop Moss. Das 144seitige Werk kostet 15 Euro.