Festspiel-Passagen V: Die unerträgliche Provokation – Castorfs „Ring“ in Bayreuth

Die Festspiele sind aus. Glanzlos gingen sie vorüber in diesem Jubiläumsjahr, sagen die einen. Kühn waren sie, meinen andere. Bayreuth wurde seinem Ruf gerecht, ist im 200. Geburtsjahr des „Meisters“ eine Werkstatt geblieben.

Noch unverhüllt: Das Bayreuther Festspielhaus 2012. Foto: Häußner

Noch unverhüllt: Das Bayreuther Festspielhaus 2012. Foto: Häußner

Der „Ring“ des Berliner Alt-Enfant-Terrible Frank Castorf: eine Provokation mit Buh-Stürmen nach bester Bayreuther Manier. Der „Tannhäuser“ Sebastian Baumgartens: dekonstruierende Installation eines postmodernen Konstrukteurs. „Lohengrin“ von Hans Neuenfels: die putzigen Ratten des einstigen Provokateurs, der inzwischen als „altersmilde“ gilt, als Trost für Regie-Zumutungen. Da fällt der „Holländer“ Jan Philipp Glogers gar nicht mehr auf. Auch das mag man als Zeichen für den andauernden Werkstatt-Charakter Bayreuths werten: Solide erarbeitetes Musiktheater punktet nicht in der Aufmerksamkeits-Skala. Man nimmt es zur Kenntnis, die Kritik mäkelt, dann wendet man sich wieder den Aufregern zu.

Werkstatt war 2013 aber auch anders: Das Festspielhaus so säuberlich camoufliert, dass man die Ziegelwerk-Fassade auf den Handy-Fotos für echt halten kann. Villa Wahnfried – eine Baustelle. Wer weiß, ob Wagner diese Zeichen des Vorläufigen nicht sogar gefallen hätten. Zu schaffen, nicht zu schauen, ist er selbst ja nach Bayreuth gekommen. Was allerdings an Neuem aus den Baugruben wachsen, hinter den Gerüsten vorscheinen wird, bleibt noch zu erwarten. Die Besucher trösteten sich mit den bunten Wagner-Männchen des Künstlers Ottmar Hörl. Wagner allgegenwärtig – als ironischer Plastik-Nippes. Auch das vielleicht ein Zeichen der Zeit.

Nicht mehr gegen den Strich gebürstet

Mit den Zeichen der Zeit wohl vertraut gibt sich „Ring“-Regisseur Frank Castorf. Zweite oder dritte Wahl war der Berliner, dort seit 1992 Leiter der Volksbühne, nachdem Wim Wenders abgesagt hatte. Castorfs Berliner Stücke mögen nach wie vor lustvoll und wild, schrill und aggressiv sein. Aber sie sind längst nicht mehr gegen den Strich gebürstet, weil die Borsten der Regie nicht einmal mehr an der Oberfläche kratzen. „Wirre, müde, vor allem lange Abende“ schrieb die „Zeit“ über die Castorf’schen Elaborate. Und welches Publikum wird noch erreicht, lässt sich noch einfangen von den theatralischen Exkursionen des freundlichen Sauriers aus der Vorregietheaterära?

In Bayreuth hatte er – endlich? – wieder einmal eine Öffentlichkeit, die diesen Begriff tatsächlich verdient: Wie Castorf die Reaktionen genossen hat, ist hinlänglich berichtet worden. „Das für Bayreuth wirklich Neue fand vor dem Vorhang, beim Applaus statt“, schrieb der Festspiel-Kenner Peter P. Pachl in der „Neuen Musikzeitung“. Castorf ließ den Buh-Sturm, das Crescendo der Trillerpfeifen-Attacken, das Wutgeschrei und den aggressiven Tumult nach der Premiere der „Götterdämmerung“ über sich hereinbrechen, setzte sich dem Affront offen und offenbar lustvoll aus, hielt stand und reagierte mit provozierenden Gesten. So ungeniert hat wohl noch niemand in Bayreuth auf Konfrontation gesetzt.

Patchwork-Sätze und Bilder-Trümmer

Es war nicht anders zu erwarten. Castorfs Theater-Ansatz verträgt sich nicht mit den Erwartungen: Nicht mit denen der alten Wagnerianer, die unverdrossen glauben, des Meisters Regieanweisungen seien geschriebenes Gesetz. Nicht mit denen, die sich vom Musiktheater die große, schlüssige, emotional ergreifende Erzählung erhoffen. Nicht mit denen, die sich nach der ästhetischen Illustration sehnen, egal, ob in den abstrahierenden Stilisierungen der fünfziger Jahre, der vorsichtigen Bild-Moderne der achtziger oder dem kühl-kühnen Glamour der Neunziger.

Aber Castorfs Theater-Erfindung hat auch wenig zu tun mit den bespielten Installationen, wie sie Sebastian Baumgarten mit einem ambitionierten Bühnenkünstler wie Joep van Lieshout für „Tannhäuser“ geschaffen hat. Dabei ist auch der „Ring“ 2013 visuell dominiert: Aleksandar Denićs „Route 66“-Nostalgie, seine schmuddelige B-Movie-Ästhetik, die Dreckswelt der Ölförderzentren im Kaukasus (oder anderswo auf der Welt), die ideologische Maskerade der Mount-Rushmore-Karikatur im „Siegfried“,  der Coup mit verhülltem Reichstag und New Yorker Börse in der „Götterdämmerung“ oder die triste DDR-Alltags-Ästhetik erfuhren in der Kritik viel Lob. Eine konsequente Entwicklung in einer Welt, in der das Visuelle immer mehr dominiert, der äußere Schein, die perfekte Gestaltung, die mit dem Auge erfassbare Ästhetik ausschlaggebend wird für Anerkennung und Erfolg, bis hinein in die Intimsphäre des Menschen, den Kult des makellosen Körpers.

Geschichten erzählen? Zusammenhänge deuten? Subtext aufhellen? Bedeutung klären oder konstruieren? Das ist alles nichts für Castorf. Selbst im Interview nicht. Vor der Kamera von 3sat spricht er in Patchwork-Sätzen, nestelt sich durch Gedankenfäden, springt von Buna, Kaukasus und Stock Exchange zu Wagner als Nicht-Romantiker und zum Bakuninschen Weltenbrand. Irgendwie hängt das alles in Castorfs Gedankenwelt zusammen, aber er kann nicht aussprechen, wie.

Die „anarchistischen Situationen“, die er in Wagners „Ring“ entdeckt, spiegeln sich im assoziativen Lauf seiner Rede. Aber auch das scheint konsequent: Was Castorf interessiert, sind die „logischen Widersprüchen, die man nicht erklären kann“, die verschiedenen Welten, die zusammentreffen. Einmal wird Castorf in diesem aufschlussreichen Interview sehr deutlich. Da regt er sich sogar ein wenig auf: Er wolle kein „soziologisches Besserwissertheater“ sehen, wo ihm jemand die Welt erkläre, die nicht mehr zu erklären ist.

Bedeutungsebenen – nicht kontrollierbar

Vielleicht trifft Castorf hier den Punkt, von dem aus sein „Ring“ betrachtet werden kann, ohne als bloße Provokation, als „Apotheose der Sinnlosigkeit“ oder auch als lustvoll-bedeutungsloses Bildertheater durchgewunken zu werden. Die Frage, ob hier bloß ein Scharlatan am Werke sei, der ein ernsthaft strebendes Publikum mit hinterhältig erfundenem Nonsens in die Irre führen wolle, stellt sich bei Castorf ebenso wenig wie etwa in der bildenden Kunst bei Joseph Beuys. Denn selbst die perfide Scharlatanerie, so sie denn mit der schillernden Intelligenz des Diabolischen erfunden sein sollte, reißt Bedeutungsebenen auf, die sie selbst nicht mehr kontrollieren kann. So ist eben zeitgenössische Kunst: Was der Betrachter mit ihr, aus ihr „macht“, hat sie selbst nicht mehr unter Kontrolle.

Castorf überschüttet den Zuschauer im „Ring“ mit einem Wust aus Zitaten, Klischees, Gags, Bildfetzen aus biographischer oder kollektiver Erinnerung, medialen Chiffren, politischen Zeichen und symbolbehafteten Schauplätzen. Doch die Suche nach dem fügenden „großen Gedanken“, nach dem Zusammenhang, nach der „Idee“ geht ins Leere. Die Frage nach der „Interpretation“ stellt sich nicht, auch wenn der Regisseur irgendetwas von der Bedeutung des Öls vorabgeraunt hatte. Das klassische Regietheater-Konzept will nicht mehr greifen.

Unerklärbar gewordene Welt

Es gibt nicht einmal mehr die privatistische Ideologie, wie sie zum Beispiel Ruth Berghaus meisterhaft über einige ihrer Inszenierungen gestülpt hat. Es gibt nur mehr Material, bunt verspielt ausgekippt und lustvoll verrührt. Und den Zuschauer, der auf sich alleine zurückgeworfen ist. Fügt sich ihm ein Bild, mag er zu den wenigen Bravo-Rufern gehören, die sich tapfer gegen die kollektive Empörung im Festspielhaus gestemmt haben. Fügt sich ihm keines, kann er wählen, wie er damit umgehen will: hedonistisch, gleichgültig, ironisch-abwertend, resigniert, sauer oder wütend.

Jede dieser Reaktionen – das wird Castorf aus seinem Kunstbegriff heraus nicht bestreiten dürfen – ist gerechtfertigt. Er hat das Spiel-Feld eröffnet, überschreiten werden es andere. So gesehen ist es für ihn folgerichtig, sich dem Ansturm der Reaktionen zu stellen. Was Castorfs „Ring“ in Bayreuth geleistet hat, ist zweierlei: Er hat Wagner in einen Kontext geholt, den wir aus der zeitgenössischen bildenden Kunst sehr gut kennen, der aber im Opernhaus – vielleicht zum Glück – (noch) nicht angekommen ist. Und er mag einen Finger in eine Wunde gelegt haben, die schwärt und brennt, ohne dass wir uns groß darum kümmern: die einer unerklärbar gewordenen Welt, die uns, wenn wir sie dann doch als solche erleben müssen, unerträglich provoziert.




Festspiel-Passagen IV: Salzburg – Fanatische Kämpferin, zerbrechliches Opfer

Anna Netrebko: umschwärmter Star in „Giovanna d’Arco“ in Salzburg. Foto: Silvia Lelli

Anna Netrebko: umschwärmter Star in „Giovanna d’Arco“ in Salzburg. Foto: Silvia Lelli

Die Jungfrau von Orléans, die heilige Johanna, die kriegerische Maid: Hexe und Heilige, Symbol der Nation, Identifikationsfigur in Zeiten der Unterdrückung, selbstbewusst-selbständige Frau, keusche Verkörperung eines Reinheitsideals, amazonenhafte Kriegerin, radikale Kämpferin, Bild des Edel-Erhabenen, verehrt und verspottet, unantastbar und unverstanden. Die Ikone der 1431 auf dem Scheiterhaufen hingerichteten und 1920 heiliggesprochenen Bauerntochter Johanna aus dem lothringischen Domrémy ist immer wieder neu gemalt und übermalt worden.

Voltaires Spottgedicht „La Pucelle d’Orleans“ zieht den Johanna-Mythos ins Ordinäre, diffamiert das Religiöse durch das Obszöne. Friedrich Schiller wehrt sich in seiner „Jungfrau von Orléans“ vehement gegen die abschätzige Dekonstruktion. Temistocle Solera erkennt als Librettist Giuseppe Verdis für die Oper „Giovanna d’Arco“ einen wichtigen Aspekt der historischen Rolle der Johanna, die im späten Mittelalter Euphorie und Rohheit der Masse gleichermaßen ausgelöst hat. Und in Walter Braunfels‘ „Jeanne d’Arc“ – 1939 bis 1943 in der inneren Emigration entstanden – spiegelt sich die existenzielle Unsicherheit der Zeit, der Verlust aller kultureller Gewissheit und eine entschiedene Zuwendung zum Transzendentalen, das alleine im alle Werte vernichtenden Feuerbrand Bestehen verheißt: Das Herz der Jungfrau bleibt von der Glut des Scheiterhaufens unversehrt.

Die Salzburger Festspiele haben sich mit den beiden Werken des Musiktheaters und mit Schillers „romantischer Tragödie“ einigen Aspekten des Johanna-Mythos genähert. Natürlich hätten noch andere dazu treten können: Arthur Honeggers mystisches Gleichnisspiel „Jeanne d’Arc au Bucher“ hätte dazu gepasst; Tschaikowskys heroische Tragödie „Die Jungfrau von Orléans“ auch. Aber bedauerlicher ist, dass beide Opern nur konzertant zu erleben waren: Die Chance, den Johanna-Mythos szenisch unterschiedlich auszudeuten, blieb so ungenutzt.

Das Landestheater Salzburg: Hier wird Michael Thalheimers Version von Schillers "Jungfrau von Orléans" gespielt. Foto: Häußner

Das Landestheater Salzburg: Hier wird Michael Thalheimers Version von Schillers „Jungfrau von Orléans“ gespielt. Foto: Häußner

Michael Thalheimer will uns die Schiller’sche Heldin in ihrer anachronistischen Mischung aus nationaler Entflammung, dualistischem Reinheitswahn und mystischer Entrückung nicht nahe rücken. In seiner Inszenierung, die ab September am Deutschen Theater in Berlin zu erleben ist, steht Johanna von Anfang an isoliert: Bühnenbildner Olaf Altmann richtet einen einzigen, grellweißen Lichtspot auf sie, einen Strahl aus dem Jenseits, der diese einsame Gestalt im weißen Hemd mit dem Schwert in der Hand erleuchtet. Kathleen Morgeneyer spricht die so zerbrechlich wie verhärtet wirkende Figur mit dröhnendem Überzeugungston, jenseits menschlicher Realität. Sie gehört zu den Reinen, die nicht fühlen, die nicht weinen. Alexander Khuon kotzt als sterbender Montgomery sein Leben blutig über die ungerührte Johanna aus. Liebe, Mitleid, Schuld – das sind Regungen, die im Dienst einer höheren Macht nicht zählen.

Kathleen Morgeneyer als Johanna: Die Jungfrau im Licht. Foto: Arno Declair

Kathleen Morgeneyer als Johanna: Die Jungfrau im Licht. Foto: Arno Declair

Schließlich weint sie doch, die Unberührbare, getroffen vom Blick Lionels – und damit ist ihre Mission gebrochen: Sobald die ungeheuerliche Gotteskriegerin ihre mörderische Isolation verliert, einen Kontakt mit Menschen aufbaut, der ihr Subjekt fordert, ist die Magie dahin, die Kraft gebrochen. Thalheimer lässt die Figur in ihrer Ambivalenz unberührt, erklärt nichts weg von ihrer Problematik: weder ihren glühenden Nationalismus noch ihre geradezu antichristliche Umdeutung Marias von der barmherzigen Mutter zu einer blutgierigen Göttin der Schlachten. Am Ende löst das fahl aufdämmernde Licht (Robert Grauel) die Bühne aus der Schwärze. Sichtbar wird eine gewaltige Wölbung, eine Kirche, ein Mausoleum, eine düstere Himmelskuppel. Von der Jungfrau von Orléans bleibt ein verletzliches Mädchen, das einen riesigen Schatten wirft.

Thalheimers auf zweieinviertel Stunden und 14 Rollen konzentrierte Version der Tragödie funktioniert nur, weil er hervorragende Sprecher in seinem Ensemble hat: Den eindimensional auf den heiser bellenden Krieger festgelegten Andreas Döhler als Dunois. Die Agnes Sorel der Meike Droste, die in einer starken Persönlichkeit die Ideale der Johanna teilt, aber mit menschlichen Regungen verbindet. Den markant charakterisierenden Michael Gerber als Thibaud. Und Christoph Franken als König, der sich von praktischer Vernunft, politischer Resignation und einer halb wehleidigen, halb hedonistischen Vision privaten Lebens leiten lässt: ein Schlappschwanz, dessen winselnde Ohnmacht eine gewisse innere Größe nicht abzusprechen ist.

Expressive Theatersprache: Almut Zilcher als Isabeau. Foto: Arno Declair

Expressive Theatersprache: Almut Zilcher als Isabeau. Foto: Arno Declair

Das ausgefeilteste Rollenporträt spricht allerdings Almut Zilcher als Königinmutter Isabeau: Sie stochert als dürres Gespenst in High Heels über die Bühne, jedes Wort in eine andere Klangfarbe kleidend, jeden Satz nachkomponierend. So wünscht man sich Theatersprache.

Das Sprachliche, in diesem Fall in Verdis beredte Musik gekleidet, dominiert auch die konzertante Aufführung von „Giovanna d’Arco“ in der Felsenreitschule. Vor dem Eingang ein Defilee der Kartensuchenden: Anna Netrebko und Placido Domingo sind eine Besetzung, für die Melomanen wie Adabeis einiges springen lassen.

Die Oper von 1845 gehört nicht zu den bevorzugten Werken aus Verdis mittlerer Schaffensperiode. Zu Unrecht, wie sie herausstellt. Denn Verdi experimentiert mit musikalischen Mitteln, die er später perfektioniert: Die grellen Flöten, die fahlen Farben des tiefen Holzes und die exzessive Rhythmik für das Diabolische führen zu „Macbeth“, die ätherischen Momente zu „Don Carlo“ und „Aida“. Die Emphase der groß angelegten Chöre weisen von Rossinis Finali zu Meyerbeers Tableaux. Daneben gibt es das ausgesponnene Legato Bellinis und die lyrische Intensität der Bariton-Romanzen Donizettis. Doch Verdi setzt diese musikalischen Elemente seiner Gegenwart nicht, wie die ältere Kritik abwertend behauptete, aus kreativer Verlegenheit und Zeitmangel ein. Sondern er verwendet Ausdrucksmittel der Tradition bewusst, um Figuren musikalisch zu profilieren.

Die Reinheit der fragilen Heldin

Temistocle Soleras Libretto nähert sich eher dem Oratorium und der großen Oper an – ein italienischer Reflex auf die neuen Entwicklungen der Pariser Bühne. Giovanna ist bei ihm eher ein junges Mädchen, das demütig eine überirdische Botschaft empfängt und ausführt, als eine fanatisierte Kriegerin. Im ersten Auftritt träumt sie von einer politischen Rolle, von Rüstung und Schwert; später imaginiert sie sich aus dem Fest im Königspalast zurück in ihre ländliche Heimat. Ihre Schwäche ist die unmögliche Liebe, die in diesem Fall nicht ein Engländer, sondern der König selbst von ihr begehrt. Ihre Apotheose gleicht einer Entrückung: Der Himmel entzieht die Jungfrau dem irdischen Treiben und bestätigt ihre Unschuld.

Die Reinheit Johannas ist bei Solera nicht sexuell, sondern transzendental geprägt: Schon im Prolog wird der Widerstreit der bösen Geister und der Engel in den Chören ausführlich exponiert. „Giovanna d’Arco“ verbindet dieses Motiv mit dem Vater Johannas, Giacomo, der sich als treibende Kraft des Dramas entpuppt: Sein Anklage, Johanna habe sich den bösen Geistern – und der „niedrigen irdischen Liebe“ – verschrieben, formuliert er auf dem Höhepunkt des Geschehens, in dem Moment, in dem der König Johanna gegen ihren Willen zur Patronin des Landes und zur Heiligen hochstilisiert, ihr sogar eine Kirche weihen will.

Die Hybris wie die Verleumdung kommen von außerhalb: Johanna ist das Opfer dieser Mächte, die sie in ihrem Inneren nicht berühren. Sie gehört zu den fragilen Mädchen und Frauen der italienischen Oper, denen vom Druck ihrer Umgebung der vitale Lebensatem ausgepresst wird. Mag sein, dass Verdi – wie Roger Parker im Programmheft erklärt – durch die sanfte Lyrik der Stimme der Uraufführungssängerin Erminia Frezzolini zu dieser Lösung angestoßen wurde. Auf jeden Fall fügt sie den Deutungen des Jeanne d’Arc – Stoffes eine originelle Facette hinzu.

Für Anna Netrebko ist die Partie der Einstieg in das dramatischere italienische Fach, der sich bereits mit Donizettis „Anna Bolena“ angekündigt hatte. Die Leonora in Verdis „Trovatore“ und die Lady in „Macbeth“ werden in der kommenden Spielzeit folgen. Pünktlich zur Premiere der „Giovanna d’Arco“ wurde in Salzburg auch die neue Netrebko-CD vorgestellt, auf der das zu erobernde Terrain bereits vorweggenommen ist.

Die dunkler gewordene Stimme der Sängerin hat in der Tat klangliche Fülle gewonnen, ist im Zentrum dunkelgolden üppig, entfaltet sich in der Höhe mit Substanz und Glanz. Dabei ist die gleichmäßige Tonproduktion ebenso bewahrt wie die lyrische Finesse. Im Rezitativ ihrer Auftritts-Kavatina zieht Netrebko den schönen Ton der ausdrucksvollen Gestaltung vor; die träumerische Wehmut der Giovanna, ihre kindlich anmutende Sehnsucht nach einer Rolle im Freiheitskampf wirkt mehr vorgetragen als empfunden. Doch im Duett mit dem König im ersten Akt spielt sie die gestalterischen Trümpfe voll aus: Eine der seltenen Sternstunden technisch sicheren und dramatisch erfüllten Singens, zu dem der Tenor Francesco Meli einen gleichrangigen Part beiträgt.

Mit Meli steht – endlich – wieder einmal ein Sänger auf dem Podium, bei dem man nicht das eine oder andere Ohr zudrücken muss, um ihn in die Traditionslinie überzeugender Verdi-Stimmen einzuordnen. Er hat nicht ganz die Flexibilität und den strahlenden Schmelz eines Carlo Bergonzi, kommt ihm aber sehr, sehr nahe. Druckfrei gebildete Höhe und natürlich anmutendes Legato zeichnen sein Singen aus. Dass manches Piano mit viel Kopfstimme gebildet wird und ein Crescendo nicht bruchlos gelingen kann, ist noch ein Manko. Aber Meli kann sich als Carlo VII. erfreulich positionieren. Bisher hat er vor allem das Repertoire zwischen Nemorino („Der Liebestrank“) und Alfredo („La Traviata“) gesungen – die Partie in „Giovanna d’Arco“ bedeutet also auch für ihn, einen Schritt weiter.

Tendenz zum Spielen, auch auf dem Konzertpodium: Placido Domingo als Vater Giacomo in Verdis "Giovanna d'Arco". Foto: Silivia Lelli

Tendenz zum Spielen, auch auf dem Konzertpodium: Placido Domingo als Vater Giacomo in Verdis „Giovanna d’Arco“. Foto: Silivia Lelli

Mit Jubel wurde der erst im Juli von einer Lungenembolie genesene Placido Domingo begrüßt: Er hatte mit der Rolle des Giacomo eine Partie, die sich würdig in die Reihe der markanten Vätergestalten Verdis einreiht. Verdi baut die Rolle aus, gibt ihr Gewicht und tragische Konturen: dieser Giacomo wirft seiner Tochter vorurteilsbeladen den Pakt mit teuflischen Kräften vor, muss seinen tragischen Irrtum erkennen und tief bereuen.

Domingo hat von seiner gestalterischen Kraft nichts eingebüßt, die sich auch immer wieder in einem unmittelbaren Bedürfnis nach körperlicher Rollendarstellung Bahn bricht. Seine Stimme tendiert eher zum Silber des Tenors als zur warmen Bronze eines echten Baritons. Aber diesen Jahrhundertsänger so präsent, mit dem Hintergrund seiner Erfahrung zu erleben, ist ein Geschenk. Nicht zu vergessen ist Roberto Tagliavini als Talbot, der nur im ersten Akt einige rhythmisch scharf geschnittene Sätze zu singen hat – diese allerdings mit schlankem, gut fundiertem Bass.

Mit der ambivalenten musikalischen Leitung Paolo Carignanis sich anzufreunden fällt nicht leicht: Da herrscht ein schlanker, nerviger Klang im Münchner Rundfunkorchester, prägnante Kontraste in der Ouvertüre zwischen den robusten Tutti und den ätherischen Flöten-Fiorituren und Holzbläser-Kantilenen. Die Musiker des Orchesters treffen auch die unheimliche Sphäre beim Auftritt Giacomos, das geisterhafte Gelächter der Flöte, den spitzen, bewusst banalen Rhythmus für die Dämonensprüche des glanzvoll disponierten Philharmonia Chores Wien (Walter Zeh).

Carignani lässt auch den Donizetti-Rhyhmus „abspringen“, den Verdi der Arie Giacomos („Franco son io“) im ersten Akt unterlegt. Aber er hält den Takt immer wieder unflexibel und steif, gibt zu wenig Freiheit, kann so zum Beispiel den Kontrast der Dämonen- und der Engelschöre im Finale des Prologs nicht ausformen. Das Cantabile Verdis bleibt dann flach, eingespannt in eine missverstandene Präzision, die Verdis Musik genau das unterstellt, was tunlichst zu vermeiden ist: den Leierkasten-Rhythmus der dörflichen Banda. Mit der Frage nach einer idiomatisch zutreffenden Verdi-Interpretation jenseits von preußischer Akkuratesse und traditionalistischer Schlamperei wird man sich – auch nach diesem Verdi-Jahr – noch zu befassen haben.




50 Jahre Bundesliga: Die persönliche Geschichte einer Nicht-Liebe

Heute geht’s wieder los: 9. August 2013, 20.30 Uhr, München. Der FC Bayern tritt an gegen Borussia Mönchengladbach. Und am Sonntag wird die neue Bundesliga-Saison für das Ruhrgebiet in Gelsenkirchen eröffnet: FC Schalke 04 gegen den Hamburger SV. 50 Jahre alt wird die höchste deutsche Spielklasse: Am 24. August 1963 startete der erste Spieltag der neuen Bundesliga.

Von Anfang an mischten Revier-Vereine kräftig mit: Dortmund, der Meidericher SV und Schalke gehören zu den sechzehn Gründungs-Clubs. Das erste Tor der Fußballgeschichte gehört mittlerweile fast schon zum Allgemeinwissen: Der Dortmunder Timo Konietzka schoss es nach nur 58 Sekunden. Auch der erste Tabellenführer kam aus dem Pott: Der Meidericher SV hatte sich mit einem 4:1 in Karlsruhe den ersten Platz gesichert.

Das Ziel: Die Meisterschale. Wo wird sie in der Jubiläums-Saison bleiben? Foto: DFL

Das Ziel: Die Meisterschale. Wo wird sie in der Jubiläums-Saison bleiben? Foto: DFL

50 Jahre Bundesliga: Für viele dürfte das Jubiläum ein Anlass sein, sich zurückzuerinnern, an glanzvolle Siege und bittere Niederlagen, an persönliche Fußball-Erlebnisse, Begegnungen, Adrenalinstöße in Stadien oder vor dem Fernseher, im Kreis von Fans und Freunden. So auch für den Autor dieser Zeilen – der sich freimütig zur Geschichte einer Nicht-Liebe bekennt …

Die wilden Gründerjahre: Das Ritual am Rundfunk

50 Jahre Bundesliga – das ist für mich, ich gestehe es, die Geschichte einer Nicht-Liebe. Das Fußballfieber hat mich höchstens als temporäre Temperaturerhöhung gestreift, nie mit heftigen Zwei-Mal-Fünfundvierzig-Minuten-Schüben in anhaltende Hitze versetzt. Trotzdem habe ich mir das „Kicker“-Sonderheft „50 Jahre Bundesliga“ gekauft. Aber warum?

Als die „wilden Gründerjahre“ begannen, war ich gerade mal zehn. Bundesliga bekam ich mit dank väterlichen Hörens der Live-Spielberichte am Samstagnachmittag: die aufgeregt sich überschlagenden Stimmen der Kommentatoren, das rhythmisch Auf und Ab des Gebrülls der Zuschauer. Bei uns in Würzburg, in der Fußballprovinz, war Bundesliga eine Sache ferner Orte: Nürnberg war der nächste – und der ordentliche Franke war Anhänger vom „Glubb“: Dieser, der 1. FC Nürnberg, trat mir in der Schule in Gestalt eines Mitschülers leibhaftig entgegen. Winfried war ein echter Fan. Hatte der Club gewonnen, ertönte am Montag Jubelgeschrei. Hatte er verloren, hing mein Kumpel apathisch in der Bank. Manchmal gab’s sogar Tränen.

Emma und die Rote Erde

Und wie sich der erblühende Jungmann ein Weib wählen soll, spürte der Knabe am Gymnasium den sozialen Druck der Pflicht, einen Lieblingsverein zu küren. Ich hatte keine Ahnung und wählte einfach Borussia Dortmund. Vielleicht, weil der Name des Stadions einen Hauch von Exotik verbreitete. Kampfbahn „Rote Erde“, das erzeugte Bilder von tapferen Recken, die im sonnendurchglühten roten Staub in gewaltigen Turnieren streiten. Vielleicht war es auch die Ferne: Der Nürnberger Club war wie das sommersprossige Nachbarsmädchen mit Zöpfen. In das verliebt man sich nicht. Aber die ferne, geheimnisvolle, unerreichbare Schönheit, die fesselt die schwärmerische Zuneigung. Vielleicht kamen auch die Fußballbildchen dazu, die es damals zum Sammeln gab. Ich erinnere mich genau: Ich besaß ein Bild von Lothar Emmerich. „Emma“ war einer der Dortmunder Superstars der sechziger Jahre, Torschützenkönig 65/66 und 66/67.

Impressionen am Dortmunder Stadion, dem größten in Deutschland. Wie andere Stadien auch ist es nach einem Finanzier benannt. Foto: Häußner

Impressionen am Dortmunder Stadion, dem größten in Deutschland. Wie andere Stadien auch ist es nach einem Finanzier benannt. Foto: Häußner

Dann gab es noch die Münchner „Löwen“ – und wir Kinder konnten mitsingen, wenn Torwart Petar „Radi“ Radenkovic, der mit seinem TSV 1860 München die Meisterschaft 65/66 gewann, in einem Schlager bekannte: „Bin i Radi, bin i König, alles and’re stört mich wenig …“. Fußballerschicksale sind manchmal grausam: Später hat wohl der Torwart des konkurrierenden FC Bayern selbst den Hit umgedichtet zu: „Bin i Radi, bin i Depp, König ist der Maier Sepp“.

Das war in den unruhigen Jahren 1968/69: Der Newcomer Bayern München war zum ersten Mal Meister, der junge Franz Beckenbauer Fußballer des Jahres und Gerd Müller mit sagenhaften 38 Treffern auf Platz eins der Torjägerliste. Und Nürnberg, der Meister von 1968, musste schmählich absteigen. Nicht nur Winfried tat das weh: Irgendwie war der Franke ins Herz getroffen, als den „Glubb“ der erste seiner zahlreichen Schicksalsschläge traf. Als 13-jähriger zeigt man so etwas nicht, sondern lässt seinen kleineren Bruder, dem die Verwandtschaft die Nürnberg-Begeisterung eingepflanzt hatte, Häme und Spott spüren. Naja, zugegeben, Dortmund hatte sich auf Platz 16 auch nur gerade so retten können …

Uwe Seeler in Schwarz-Weiß

Inzwischen war auch der Schwarz-Weiß-Fernseher in den Haushalt eingezogen und die 1966er-Weltmeisterschaft war das erste mediale Fußball-Ereignis: Uwe Seeler kickte sozusagen direkt im Wohnzimmer. Aber so langsam setzte bei mir die Distanzierung ein. Brot und Spiele für die Massen – das war nichts für den Heranwachsenden, der sich gerne intellektuell gab. Die Aufmerksamkeit verlagerte sich; das Dortmunder Schicksal – der Abstieg 1971/72 – besiegelte mein Interesse am Fußball ebenso wie der erste Geld-Skandal 1971. Denn damals wurde auch klar: Bundesliga, das ist das große Geschäft. Fünf Jahre später wurde für Roger van Gool die erste Ablöse-Million gezahlt, aus heutiger Vierzig-Millionen-Perspektive ein „Peanut“. Die Zeiten, in denen der Lauterer Torwart nebenbei die Vereinswirtschaft betrieb, die gingen zu Ende. Die Professionalisierung war unvermeidbar, die Begleiterscheinungen traurig.

Eine zaghafte Rückkehr zum Fußball – wann kam die? Vielleicht 2001, als Schalke die Schale schon sicher in Händen wähnte – und dann „brutal aus seinem Meisterjubel gerissen wurde und ins Tal der Tränen stürzte“. Das war so ein Moment, der zeigt: Fußball ist doch nicht nur das kalte Geschäft, sind nicht nur die Spielermarionetten, die von PR-Abteilungen mit fertig vorgestanzten Sätzen programmiert werden. Fußball hat doch etwas mit großen und tiefen Emotionen zu tun. Mit Zugehörigkeit. Mit Schicksal. Manche fußballskeptischen Freunde meinen, ich sei altersmilde geworden. Kann sein. Aber vielleicht eben auch altersweise.

Wallfahrtsort für Schalke-Fans - muss man nicht weiter vorstellen ... Foto: Häußner

Wallfahrtsort für Schalke-Fans – muss man nicht weiter vorstellen … Foto: Häußner

Seither hege ich eine solidarische Sympathie für die Gelsenkirchener. Und habe meine alten Dortmunder wiederentdeckt – nicht erst seit dem glanzvollen Meisterschaft-Doppel 2011/12. Geht gar nicht, sagen meine Freunde im Ruhrgebiet: Man kann nicht gleichzeitig für die Blau-Weißen und für die Schwarz-Gelben sein. Ist mir wurscht, sage ich als an der Ruhr gastierender Franke. Als solcher ist mir – und damit ist meine persönliche Fußball-Trias komplett – auch der „Club“ nicht ganz egal. Immerhin habe ich in Nürnberg mein erstes Bundesligaspiel live erlebt. Warten wir die Jahre ab: Wer weiß, wie sich die Fußball-Fieberkurve noch entwickelt. Wenn ich doch den Anfall kriege, weiß ich schon das Gegenmittel: Ich kauf‘ mir ein Ticket, am besten, wenn der Club auf Schalke spielt – oder in Dortmund…




Festspiel-Passagen III: Salzburg – Jeanne d’Arc oder der Sieg im Scheitern

Alexander Pereira - noch Intendant der Salzburger Festspiele. Foto: Luigi Caputo

Alexander Pereira – noch Intendant der Salzburger Festspiele. Foto: Luigi Caputo

Wäre das in diesem Jahr überpräsente Verdi-Wagner-Thema die einzige inhaltliche Leitlinie der Salzburger Festspiele 2013, man könnte gelangweilt zur Tagesordnung übergehen.

Aber Alexander Pereira hat die sommerlichen Festtage wieder einmal mit einem fein gesponnenen Netz von Beziehungslinien überzogen: Die beiden zum Heiteren neigenden Meisterwerke der Jubilare – „Falstaff“ und „Die Meistersinger von Nürnberg“ sind freilich programmatisch eher unspektakulär, auch wenn Pereira mit Stefan Herheim einen der profiliertesten Opernregisseure der Gegenwart für Wagner gewonnen hat.

Spannender ist da schon die Konzentration auf verschiedene Aspekte der Geschichte der Jeanne d’Arc, einer Heiligen, die wie selten zwischen großer Politik und scheinbar naiver Frömmigkeit, pragmatischem Realismus und kühner Vision steht. Ein Fanal für unerschütterlichen Glauben an Gott, an das Wunder in der Geschichte und an die eigene Berufung; ein Beispiel, wie eine einfach Frau des späten Mittelalters gegen ihre Umwelt ihre Persönlichkeit behauptet.

Jeanne d’Arc bietet Stoff für viele Interpretationen. Pereira hat drei ausgewählt: Den Anfang machten Walter Braunfels‘ „Szenen aus dem Leben der heiligen Johanna“ und Friedrich Schillers „Jungfrau von Orleans“. Folgen wird noch Giuseppe Verdis selten gespielte „Giovanna d’Arco“, eines der geschmähten Werke der „Galeerenjahre“ des Komponisten, das heute wieder stärker in den Fokus rückt.

Wagners Schatten wird überwunden

Walter Braunfels, 1882 im Jahr der Uraufführung des „Parsifal“ geboren, gehört zu einer Generation, die darum ringen musste, aus Wagners übermächtigem Schatten herauszutreten. In seiner Musik blitzen die Spuren seines Lehrers Ludwig Thuille auf – etwa in den farbigen Bläsersoli und der subtilen Orchesterbehandlung. Aber sie trägt auch Züge des von ihm verehrten Hans Pfitzner, so in der rezitativischen Prosa des ersten Teils. Die Rückgriffe auf Musik der Renaissance, die archaisch anmutenden Anklänge an Gregorianik und italienische Monodie entsprechen teils dem Zeitgeist – man mag an Igor Strawinsky oder Ottorino Respighi erinnert sein –, sind aber eigenständig entwickelt und wollen das Werk atmosphärisch verorten.

Die Felsenreitschule, Aufführungsort von Braunfels' "Jeanne d'Arc". Foto: Silvia Lelli

Die Felsenreitschule, Aufführungsort von Braunfels‘ „Jeanne d’Arc“. Foto: Silvia Lelli

Mit der Salzburger Aufführung – leider nur konzertant – wird Walter Braunfels auch an diesem Ort die gerechte Beachtung gezollt, die er längst verdient hat. Denn der von den Nationalsozialisten zum Schweigen gebrachte Komponist gehörte zu den erfolgreichsten Protagonisten des musikalischen Lebens in den zwanziger Jahren.

Mit seiner Oper „Die Vögel“ hatte er 1920 den Grundstein seiner Popularität gelegt, war als Gründungsrektor der Kölner Musikhochschule auch in der Ausbildung junger Leute eine maßgebliche Größe. Die Nazis enthoben den „Halbjuden“ 1933 seiner Ämter, belegten ihn mit Berufsverbot. Konrad Adenauer setzte den Verfemten schon im Oktober 1945 wieder auf der früheren Kölner Stelle ein, holte ihn vom Bodensee zurück, wo er im inneren Exil Werke für die Schublade schuf – unter anderem seine „Jeanne d’Arc“.

Bis zu seinem Tod 1954 schrieb Braunfels unermüdlich weiter, zuletzt ein „Spiel von der Auferstehung des Herrn“. Danach hat sich dichtes Vergessen zwischen ihn und das Jetzt gesenkt, das erst seit etwa fünfzehn Jahren aufreißt. Braunfels’ Weg war in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte fatal folgerichtig: Wie anderen Nazi-Opfern ist es ihm nicht gelungen, an die Zeit vor 1933 anzuknüpfen. Das Musikleben bestimmten Leute wie Carl Orff oder Werner Egk, die nach den alten Machthabern nun die junge Demokratie bedienten.

Nach 1950 – die braune Vergangenheit war mittlerweile auch für den öffentlichen Dienst kein Hindernis mehr – hatten Musiker wie Braunfels in den sich dogmatisch verhärtenden Richtungen der zeitgenössischen Musik ihren Ruf als gestrig und überholt weg. Und man vermied es allzu gerne, sich den Aufbruch ins Neue durch die Erinnerung an Geschehenes vermiesen zu lassen. Zudem dürften Braunfels‘ Konservatismus und seine Ablehnung der musikalischen Avantgarde seine Isolation noch verstärkt haben. Auch sein künstlerisches Ethos – er wollte die „christliche Oper“ vollenden – war wohl nicht geeignet, ihm das Interesse der Nachwelt zu erhalten. Das ändert sich nun, und es ist zu wünschen, dass der erneuerte Blick auf Menschen wie Walter Braunfels nachhaltig bliebe.

Manfred Honeck als kundiger Sachwalter von Braunfels‘ Musik

„Jeanne d’Arc“ war schon als „Wiederentdeckung des Jahres 2008“ bei ihrer szenischen Uraufführung an der Deutschen Oper ein grandioser künstlerischer Erfolg, nicht zuletzt, weil Christoph Schlingensief ein Mysterienspiel in wuchernden Bildern entwickelte. In Salzburg dirigierte Manfred Honeck – wie bei der auf CD dokumentierten konzertanten Uraufführung 2001.

Manfred Honeck (Musikalische Leitung), Johan Reuter (Gilles de Rais). Foto: Silvia Lelli

Manfred Honeck (Musikalische Leitung), Johan Reuter (Gilles de Rais). Foto: Silvia Lelli

Nicht immer gelang es, dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien die Impulse für einen konturenreichen Klang zu vermitteln: Im ersten Teil standen die Klangkomplexe wie Blöcke da; auch die von einem ariosen Rezitativstil á la Pfitzner geprägten Szenen waren atmosphärisch eher beiläufig gestützt. Das änderte sich immer, wenn die vorzüglich einstudierten Chöre (Bachchor Salzburg, Chor und Kinderchor der Festspiele und des Theaters) zum Einsatz kamen. Alois Glassner und Wolfgang Götz haben, was Chorklang und Prägnanz der Artikulation betrifft, ganze Arbeit geleistet!

Mit der gesteigerten hymnischen Emphase des Finales des ersten Teils war das Orchester dann bei Braunfels angekommen: Die Musik zwischen vergeistigtem Oratorium und farbenfroher Oper fordert illustrative Details, theatralische Kommentierungsfreude, den Ton des Erhabenen wie des Burlesken – so etwa im „Zwischenspiel“, einer Solo-Szene des Herzogs von La Trémouille, in der Ruben Drole eine komödiantische Charakterisierungskunst zeigen konnte, wie wir sie etwa in Liedern von Hugo Wolf oder Ludwig Thuille wiederfinden.

An Juliane Banse, Protagonistin der Aufnahme von 2009, einem Mitschnitt der Uraufführung 2001, sind die Jahre nicht spurlos vorübergegangen: Das als engelsgleich gerühmte Timbre klingt vor allem in der Höhe hohl, die Stütze bemüht. Aber Banse wirft dafür ihre Erfahrung in die Waagschale: So gelingen ihr die Szenen im Gefängnis, ihr selbstbewusster Auftritt vor dem Gericht, ihre gereifte Ergebung in den Willen Gottes eindrücklicher als der Aufbruch des optimistischen jungen Mädchens.

Fedora Wesseler bezeichnet im Programmheft den „Schrei nach Gewissheit“ als ein zentrales Thema der Oper, das sich in der Figur des Gilles de Rais manifestiert. Johan Reuter bringt für diese zweifelnde, zuletzt resignierende Figur eine markante Stimme mit: Der Münchner Wotan – 2014 wieder zu erleben – trägt reflektierende Momente („Heißt das, dass Nacht nun sein soll…“) durch ein erlesenes Mezzoforte, gestaltet die Entwicklung zum auf ein Wunder hoffenden Pessimisten, der im Scheiterhaufen Johannas den Sieg Satans sieht.

Das diabolische Element des rechtsbeugenden Richters führt Michael Laurenz als Cauchon mit einem glänzend fokussierten Charaktertenor ein: Gellend preist er sein „System“, mit dem er die Seelen in die Richtung hetzt, die er für sein Urteil braucht. Vor dem Hintergrund der Entstehungszeit der Oper mag es nicht abwegig sein, an die giftigen Tiraden eines Roland Freisler zu denken.

Eine großartige Szene hat auch Pavol Breslik als von Selbstzweifeln geschüttelter Karl von Valois. Doch der gefeierte Tenor vergibt die Chance, über strahlende Töne und glanzvollen „Squillo“ hinaus subtilere Nuancen der Charakterisierung zu zeigen. „Ein neuer Morgen, und immer noch die gleiche Nacht“ wirkt wie ein Vortrag aus den Noten, nicht wie die tief empfundene seelische Verunsicherung eines Königs, die mit der großen Szene des Philipp in Verdis „Don Carlo“ konkurrieren könnte.

Licht und Schatten gibt es in der Besetzung der kürzeren Partien: Norbert Ernst gibt Colin, dem Jugendgefährten Jeannes, rhetorischen Pfiff, Tobias Kehrer kleidet die mahnenden und die trauernden väterlichen Worte des Jacobus von Arc in einen schlanken, substanzvollen Bass. Martin Gantner erweist sich als Ritter Baudricourt wieder einmal als zuverlässiger, stets sinnig gestaltender Sänger; an seiner Seite Wiebke Lehmkuhl mit feinem Ton als Lison.

Mit Siobhan Stagg und Sofiya Almazova gaben zwei Damen aus dem „Young Singers Projekt“ eine sympathische Kostprobe schöner Stimme; für Johannes Dunz (Herzog von Alençon) heißt es noch, an der Stütze zu arbeiten. Auch Thomas E. Bauer kann sich als Erzbischof von Reims nicht freisingen. Und Brian Hymel stellt mit ziemlich festgefahrenem Tenor und unfrei-knödeligem Timbre die Frage des Heiligen Michael: „Wer ist wie Gott?“ – eine Frage, die 1943, als Braunfels seine Oper vollendete, auf unheimliche Weise aktuell gewesen ist. Dass sie heute, unter ganz anderen Vorzeichen, nichts an Brisanz verloren hat, wird der Beobachter der Zeitläufte unschwer bestätigen können.

Informationen zu den Salzburger Festspielen: http://www.salzburgerfestspiele.at




Eine Ära geprägt: Der Dirigent Stefan Soltesz nimmt Abschied von Essen

Der Mann wirft einen prüfenden Blick ins Parkett des Aalto-Theaters, dreht sich um, schaut scharf in die Runde. Ruhe. Jeder Atemzug scheint kontrolliert. Spannung. Erwartung. Dann ein kurzes Anspannen der Schultern, ein Schlag – und die ersten dunklen Akkorde von Richard Strauss‘ „Frau ohne Schatten“ fluten den Raum: transparent, untergründig, mit dräuendem Nachdruck.

Stefan Soltesz. Foto: Matthias Jung

Stefan Soltesz. Foto: Matthias Jung

Stefan Soltesz beim Dirigieren: Das war stets eine Studie wert. Zu beobachten, wie er über den Rand seiner Brille eisblaue Blicke wirft. Zu verfolgen, wie der Finger hochschnellt, einem Sänger „Achtung“ signalisiert, im Abtauchen den Einsatz markiert. Mitzufiebern, wie er bald hundert Frauen und Männer im Orchestergraben antreibt, mitreißt, befeuert. Oder wie er mit unendlicher Geduld eine Innenspannung in der Musik aufbaut, einen schwerelosen Bogen trägt, eine Entladung vorbereitet.

Wucht und Macht: Nur sehr dosiert setzt Soltesz diese Mittel ein. Er weiß, dass sich die Riesengebärde, der massierte Klang schnell abnutzen. Gerade bei Richard Strauss, der so viele Dirigenten zu knalliger Koloristik verführt, setzt Soltesz auf Transparenz, auf Präzision, auf luftiges Acryl statt auf fettes Öl. Er hat damit einen Trend gesetzt, den andere inzwischen auch entdeckt haben. Ähnlich arbeitet er mit Partituren Puccinis: „Tosca“ oder „La Bohème“ sind bei ihm Chefstücke. Da gibt es keine hingeschmierte Kapellmeister-Routine, keine zuckersüße Opulenz. „Madama Butterfly“ gewinnt bei ihm emotionale Intensität aus einem – fast möchte man es so nennen – emotionsgedrosselten Zugang: Sehr nah am Notentext, mit allergrößter Sorgfalt gelesen.

Auch der üppige Orchesterzauber liegt ihm

Auf diese Weise setzte Stefan Soltesz am Aalto-Theater auch Vincenzo Bellinis „I Puritani“ mit einer suggestiven Qualität um, die das schnell vergebene Prädikat „einzigartig“ wirklich einmal verdient hat. Wer weiß, wie hilf- und lieblos Bellini-Opern abgewedelt werden, musste bei Soltesz ins Schwärmen geraten: So präzis, nuanciert, gleichzeitig auf die kantable Entwicklung geachtet und mitgeatmet sind die scheinbar einfachen, in Wahrheit unendlich sensiblen Notenbilder des sizilianischen Meisters selten in klingender Musik vollendet worden. Soltesz kennt nicht nur die Noten – er kennt auch die Tradition, wie sie zu lesen sind. So hat er die weiten, schwermütigen Seelenlandschaften Bellinis erschlossen,

Na gut: Auch Soltesz will sich dem Glanzvollen, dem Üppigen, der saftigen Entfaltung orchestralen Zaubers nicht entziehen. Sonst würde er Strauss nicht so lieben – obwohl er nicht als „Strauss-Dirigent“ gelten will. In der „Frau ohne Schatten“ ist er mit solchem Streben in seinem Element: Da klingen das Leuchtende und das Fahle, die schwelgerischen Aufschwünge und die harten Attacken, die sorgsam ausbalancierten Mischungen und die aggressiven Tutti. In der Wiederaufnahme im Aalto-Theater gibt es schon nach dem ersten Aufzug Bravi, nach dem zweiten Begeisterung, nach dem dritten eine herzliche, enthusiastische Ovation.

Szenenfoto aus der Inszenierung von Strauss' "Die Frau ohne Schatten" am Aalto-Theater Essen. Foto: Bernd Schmidt

Szenenfoto aus der Inszenierung von Strauss‘ „Die Frau ohne Schatten“ am Aalto-Theater Essen. Foto: Bernd Schmidt

Das Publikum in Essen liebt den Dirigenten, jubelt ihm zu, bereitet ihm in diesen Tagen bei seinen Abschiedsvorstellungen einen herzlichen, von Zuneigung und Hochachtung geprägten Empfang. Ein Flug der Herzen. Aber auch eine Ovation, die in der Stadt merkwürdig wenig Widerhall findet: Die Frage nach der Form von Soltesz‘ Abschied nach sechzehn Jahren Intendanz in Essen, die Kabale um den Titel des „Ehrendirigenten“: seltsame, hinter vorgehaltenen Händen geführte Debatten. Es scheint zur Unkultur unserer Zeit zu gehören, dass man Menschen wie Soltesz nicht mehr mit großzügiger, freier Anerkennung verabschieden kann.

Vielleicht hat er es seinen Partner auch nicht einfach gemacht: „Mal will er, mal will er nicht“, seufzte Hans Schippmann, Aufsichtsratsvorsitzender der Theater und Philharmonie, in der WAZ. Soltesz selbst hat seinen Abschied aus der machtvollen und in Deutschland seltenen Kombination des Intendanten und Generalmusikdirektors gern mit feinem Humor leichter dargestellt, als er ihm vielleicht fällt. Es ist nicht einfach, nach sechzehn Jahren äußerst erfolgreicher Arbeit in der letzten Saison den komplexen Betrieb zusammenzuhalten und bis zum letzten Tag zu motivieren.

Kämpferischer Theatermensch mit eindeutigen Positionen

Sicher: Soltesz war kein einfacher Chef, kein unkomplizierter Partner. Seine Wutausbrüche sind legendär. Dass seine Musiker auf der Stuhlkante spielen, wenn er dirigiert, ist ein offenes Geheimnis. Es gab heftige Worte, aber im Endeffekt war allen klar: Ohne Soltesz` unerbittliches und manchmal auch mit harten Bandagen durchgesetztes Regiment wäre die Qualität nicht möglich gewesen, die Essen über Häuser vergleichbarer Größe hinaushebt. Das hat dem Aalto-Theater beispielsweise 2008 das ehrenvolle Doppel des „Opernhauses des Jahres“ und des „Orchesters des Jahres“ eingebracht.

Und wer den Betrieb kennt – und der „Theatermensch“ Soltesz kennt ihn wie kaum ein zweiter – weiß, dass Koordination, Minimierung von Reibungsverlusten, aber auch der Kampf an den Fronten von Verstiegenheit oder Schlendrian aufreibend sind: Ein „netter Kerl“ erreicht da wenig. Dass er vor der Politik nicht kniff, muss man ihm hoch anrechnen. In der Debatte um die katastrophale Finanzlage der Städte und die notwendige Haushaltskonsolidierung bezog er eindeutig Position. Was er in einem offenen Brief vom 7. Januar 2010 in die Diskussion warf, ist ein ebenso schlüssiges wie notorisch nichtbeachtetes Argument:

„Die Kultur wird … zu einem Hauptverantwortlichen für die finanzielle Malaise der Kommunen gestempelt. Dass die Kultur dies nicht ist, wissen Sie genau. Selbst bei völliger Streichung der Kulturförderung wäre eine Haushaltskonsolidierung auch nicht ansatzweise erreicht. Die Staatsausgaben für Kultur in Deutschland betragen über alle öffentlichen Haushalte hinweg 0,8 Prozent der Etats. Ich appelliere daher dringend an Sie, das Thema Kultur weit hintanzustellen, wenn Sie über Haushaltssanierung diskutieren.

Als Stefan Soltesz mit der Spielzeit 1997/98 seinen Posten antrat, war noch nicht klar, mit welchem hingebungsvollen Einsatz er sich künftig seinem Stammhaus widmen würde. War er doch bereits ein Dirigent mit weitreichendem Aktionsfeld und hoher Reputation: von Hamburg bis Berlin, von München bis Amsterdam. Er brachte Leitungserfahrung mit, war in Braunschweig Generalmusikdirektor und in Antwerpen Chefdirigent. In Wien steht er seit seinem Debüt mit Rossinis „Barbiere di Siviglia“ 1983 regelmäßig am Pult, leitet in der kommenden Saison erneut den „Barbiere“ und Puccinis „Tosca“.

Entrée und Abschied mit Richard Strauss

Für Essen wählte er sich als Entrée ein Strauss-Werk, das nicht häufig gespielt und gerne gering geschätzt wird: „Arabella“. Das Publikum ging mit, erinnert sich der Dirigent, und so kam 1998 die „Frau ohne Schatten“ in der heute noch tragfähigen Regie von Fred Berndt heraus. Soltesz setzte auf Strauss: 1998, im 50. Todesjahr des Komponisten, folgte noch die Rarität „Daphne“ in einer Inszenierung Peter Konwitschnys, später „Elektra“, „Ariadne“, dann eine ehrgeizige „Ägyptische Helena“ und „Der Rosenkavalier“. Mehr Strauss gab es nicht einmal in München oder Dresden – und irgendwie ist es schade, dass ausgerechnet im Strauss-Jahr 2014 diese spezielle Essener Tradition abbricht: das sensible Alterswerk „Capriccio“ oder die Petitesse „Intermezzo“, von Soltesz dirigiert, wären das Schlagobers auf dieser feinen, reichen Tafel gewesen.

Der "Parsifal" Joachim Schloemers in Essen. Szene aus dem ersten Aufzug im Bühnenbild von Jens Kilian. Foto: Thilo Beu

Der „Parsifal“ Joachim Schloemers in Essen. Szene aus dem ersten Aufzug im Bühnenbild von Jens Kilian. Foto: Thilo Beu

Soltesz ist ein Pragmatiker: Die großen Stücke des gängigen Repertoires gehören für ihn zu jedem publikumsfreundlichen Spielplan: Mozart, Verdi, Puccini, Wagner. In Essen machte sich Soltesz 2008 an seinen allerersten „Ring“. Seine letzte eigene Premiere war Wagners „Parsifal“: musikalisch krönender, szenisch verunglückter Schlussstein der Reihe der zehn Opern des Bayreuther Kanon, die er im Lauf der Jahre in Essen dirigiert hat. Ausgrabungen waren seine Sache nicht – auch wenn er sich einen Meyerbeer durchaus auf der Aalto-Bühne hätte vorstellen können.

Gelegentlich ließ er sich auf Ausflüge ein: Verdis „Luisa Miller“, Umberto Giordanos „Andrea Chenier“, Alexander Borodins „Fürst Igor“ oder Händels „Hercules“ kamen unter seiner Intendanz heraus – und vor kurzem zum Verdi-Jahr „I Masnadieri“ nach Schillers „Die Räuber“. Soltesz machte sich auch für Aribert Reimanns „Lear“ stark und erinnerte an Hans Werner Henzes kluge Reflexion über das Künstlerdasein: „Elegie für junge Liebende“. Dass er sich 2008 mit Christian Josts „Die arabische Nacht“ abplagte, zeigte, wie undankbar der Einsatz für Zeitgenössisches sein kann.

Alles was ist, endet, sagt Erda im „Rheingold“. Das ist für sterbliche Menschen auch gut so. Mit dem Weggang von Stefan Soltesz geht eine lange, stabile und künstlerisch fruchtbare Ära am Aalto-Theater zu Ende. Seine Nachfolger werden die Akzente anders setzen. Die Zeiten, in denen eine starke Persönlichkeit Orchester und Ensemble prägte, sind wohl auf absehbare Zeit vorbei. Gastdirigenten kommen, neue Regisseure, andere Schwerpunkte im Spielplan. Soltesz‘ Erbe ist eine Herausforderung: Das hohe Niveau will gehalten sein. Die Zuversicht ist groß, dass es gelingt.

Als Dirigent wird Soltesz dem Essener Publikum erhalten bleiben: Am 10. November leitet er die Wiederaufnahme von „Tristan und Isolde“; weitere Vorstellungen der „Zauberflöte“, des „Fliegenden Holländer“, von „La Traviata“, „Ariadne auf Naxos“ und „Madama Butterfly“ sind geplant. Seine „riesige Musizierlust“ kann er wieder außerhalb Essens ausleben – bei Gastspielen, die er zugunsten seines Stammhauses stets zurückgestellt hat. In der kommenden Saison steht er u.a. in Wien, Budapest („Der Rosenkavalier“ und „Elektra“), Warschau („Lohengrin“) und Hamburg („Arabella“) am Pult.

Die letzten Vorstellungen: Strauss, Die Frau ohne Schatten, am 21. Juli (ausverkauft); Puccini, Tosca, am 14. Juli (Restkarten); Mahler, Sinfonie Nr. 2, am 18. und 19. Juli in der Philharmonie (ausverkauft).




Gleißende Raserei in Mülheim: Daniil Trifonov kehrt zum Klavier-Festival zurück

 

Daniil Trifonov. Foto: KFR

Daniil Trifonov. Foto: KFR

Bei seinem Klavier-Festival-Debüt 2012 hat die Rhein-Ruhr-Presse von Daniil Trifonov noch kaum Notiz genommen: Einer jener Newcomer eben, die einmal hochgespült werden, kaum Luft holen können auf den Schaumkronen jungen Ruhms, und schon wieder in den Wogen des Betriebs untergehen, die im selben Moment das nächste Wundertalent aus dem Wellental heben.

Bei Trifonovs Rückkehr in die Stadthalle Mülheim 2013 sieht das Echo anders aus. Jetzt hat der 22jährige einen Namen, eine Fama. Trifonov, so scheint es, hat es geschafft, spielt im Kreis der Pianisten mit, die „man“ einfach kennen muss, will man sich für die Kunst auf Elfenbein und Ebenholz ernstlich interessieren.

Was der russische Nachwuchskünstler im letzten Jahr in Düsseldorf gezeigt hat, führt er in Mülheim extrem geschärft weiter: Wucht und Kraft des Zugriffs, eine gewaltige Pranke im Bass, gleißende Raserei über alle Oktaven hinweg, schwer atmende Grenzerkundung der physischen Leistungsfähigkeit. Er hat sich die passenden Stücke dazu ausgesucht: Franz Liszt zuallererst, mit vier ins Dämonisch-Gewaltige übersteigerten Transkriptionen von Schubert-Liedern und der h-Moll-Sonate, und nach der Pause Sergej Rachmaninows Variationen nach Chopins Opus 22, ergänzt durch „Rachmaniana“, eine selbst komponierte Suite als Hommage an den großen Komponisten und Pianisten.

Ein veritables Virtuosenprogramm also, eines, das alle Kräfte fordert, intellektuell wie physisch. Bei einem vor Energie berstenden jungen Mann wie Trifonov muss das zu standing ovations führen. Sie brachen erwartungsgemäß los. Aber der Jubel über so viel Kraft, pianistische Bravour und musikalische Chuzpe ließ nicht vergessen, dass der Abend nach einer Seite krängt: Es bestätigt zu eilfertig das Klischee des Tastenlöwen und fegt die Aspekte der Kunst Trifonovs zur Seite, die 2012 in Düsseldorf zeigten, dass hier mehr als ein extrem zupackender Hochleistungssportler á la russe am Flügel sitzt.

Dabei war vor der Pause alles im Lot: In Schubert/Liszts „Frühlingsglaube“ sinnt Trifonov dem lyrisch-kantablen Aufschwingen nach, gibt der Melodie die weiche Farbe der Entrückung mit. Die „Forelle“ gestaltet er mit rhythmisch sinnigen Pointen nicht nur als fließend-sangliches Legato, sondern als ein sich bedrohlich verdichtendes, tödliches Drama. Und den „Erlkönig“ treibt er schnaufend in Extremkontraste: wildes Entsetzen in den Gewittern der Oktavtriolen, fahles, trügerisches Dämmerlicht in der matten Beruhigung. Die letzten Akkorde sind großes Liszt-Kino: So schlagen die Tore des Lebens zu, wenn ein Leinwanddrama in Vielfach-Surround-Sound zu Ende geht.

Derart vorbereitet, knüpft die h-Moll-Sonate bedeutungsschwer an den stickig-dunklen Klängen an. Trifonov macht schnell klar, dass er dieses Paradestück auch als solches darstellen will. Fülle und Überwältigung, krasse Extreme, eruptive Ausbrüche – aber kein Lärm: Trifonovs Exaltationen sind reflektiert, keine instinktiven Brutalitäten einer entfesselten Kraftprotzerei. Er versteht es, auch im Fortissimo noch so abzutönen, dass die harmonische Kühnheit nicht im schäumenden Gebräu der Klänge unhörbar wird. Er versteht es, zurückzunehmen, die dynamische Wucht des drängenden Verlaufs abzufedern. Und er lässt nicht vergessen, wie suggestiv Liszts lyrische Selbstversenkung am Klavier wirken kann.

Wäre mit dieser brillant reflektierten Deutung der h-Moll-Sonate der Abend zu Ende gewesen, er wäre mit Recht groß zu nennen gewesen. Doch Trifonov wollte noch eins draufsetzen und drosch die Rachmaninow-Variationen in den hörbar erschöpften Flügel der Mülheimer Stadthalle. Noch einmal ein Gewitter, noch einmal Anspannung bis zum Äußersten – doch selbst der stärkste Reiz stumpft ab. Und so bestätigten die silbrig hochfahrenden Arabesken, die dröhnenden Glockenschläge des Basses und das Fingerfeuerwerk nur noch, was man in der Liszt-Sonate bereits musikalisch eindrücklicher erfahren hatte.

Daniil Trifonov kehrt in die Region zurück mit einem Klavierabend in der Philharmonie Köln am Mittwoch, 2. Oktober 2013. Auf dem Programm stehen Werke von Strawinsky, Ravel, Schönberg und Schumann. Info: http://www.koelner-philharmonie.de

 




Gestochene Klarheit: Nikolai Tokarev beim Klavier-Festival Ruhr in Mülheim

Um mal gleich die Kleiderfrage zu beantworten: Beim Klavier-Festival Ruhr in Mülheim trat Nikolai Tokarev im schwarzen Hemd über nur wenig hellerer Hose an den Flügel. Keine Nadelstreifen, keine Chucks, und beim gut gelaunten Signieren nach dem Konzert ein eng anliegendes, helles Shirt.

Soweit die Nebensächlichkeiten, nun kann folgen, worum es jenseits der Styling-Masche eigentlich gehen soll: Der Pianist, mittlerweile dreißig Jahre alt, setzte nicht (nur) auf Glamour und die sichere Wirkung seines bravourösen Spiels. Sondern nahm sich mit Beethovens Opus 111 eine der heikelsten Sonaten der Klavierliteratur vor. Problematisch nicht so sehr durch technische Schwierigkeiten, sondern durch eine lange Interpretations- und eine philosophisch überhöhte Rezeptionsgeschichte: Was wurde nicht alles in Beethovens letzten Beitrag zur Gattung der Klaviersonate hineingedeutet!

Mülheim: Die Stadthalle im Zeichen des Klavier-Festivals Ruhr. Foto: Häußner

Mülheim: Die Stadthalle im Zeichen des Klavier-Festivals Ruhr. Foto: Häußner

Tokarev spielt – und das zeigt der prüfende Blick in die Noten – so nah wie möglich an Beethovens Text. In der „Maestoso“-Einleitung fordern die ersten Takte sogleich einen Wechsel zwischen forte und piano, dazwischen einen heftig betonten Triller („sforzando“) und eine rhythmisch pointierte Pianissimo-Kette. Tokarev überspielt nicht mit dem „großen“ Ton diese differenzierten Details, sondern versucht sie einzuholen, pflegt dafür einen unvernebelten Anschlag, der klar macht, warum er an den Konzertanfang Bachs e-Moll-Toccata BWV 914 gesetzt hat: Die strukturelle Transparenz im Werk des einzigartigen Kontrapunktikers ist auch der Maßstab für den Zugang zu Beethoven.

Man mag sagen, diese Lesart rücke das „brio“ und das „appassionato“ des Allegros in den Hintergrund. Doch die gestochene Klarheit, ein volltönender, farbrauchfreier Ton, die bestechend dynamische Differenzierung und die sinnstiftende Beachtung des „ritenente“, einem leichten Nachgeben des Tempos in Übergängen lässt – im Gegenteil – die dramatische Beredsamkeit dieses Satzes noch schlüssiger, noch unmittelbarer hervortreten.

Die Arietta beginnt Tokarev mit dem erhabenen Leuchten einer tragischen Gluck-Arie; man ist geneigt, die Winkelmann’sche Formel von der edlen Einfalt und stillen Größe zu zitieren, von der Beethovens Ästhetik wohl nicht unberührt geblieben ist. Tokarev betont weniger das Legato als das rhythmische Glasperlenspiel, das er – mit Igor Strawinsky im Kopf und Friedrich Gulda vor dem inneren Ohr? – bis zum Ragtime-Rhythmus der dritten Variation radikalisiert: Befremdlich, aber genau gelesen.

Am Ende, in fast unerträglich langen, brillant artikulierten Trillern, stellt er Beethovens insistierende Energie noch einmal ungeschützt aus, bis er das Stück pianissimo mit mattem Sforzando-Aufbäumen verklingen lässt. Die Suche nach der musikalischen Wahrheit, die Tokarev vor fünf Jahren im Eröffnungskonzert des Klavier-Festivals mit Schubert und Liszt demonstriert hat, die auch seine CD-Aufnahmen mit wechselndem Erfolg belegen, die führt er nun mit Beethoven auf einem faszinierenden individuellem Weg fort.

Nikolai Tokarev. Foto: Felix Broede

Nikolai Tokarev. Foto: Felix Broede

Manuelles hält ihn dabei nicht auf, auch wenn zwei, drei Mini-Blackouts die menschlichen Grenzen von Tokarevs viel gepriesenem, überlegenem Klavierspiel markieren. Wenn der Virtuose in ihm erwacht, gibt es für die glühende Rasanz seiner Hände, für den voluminösen Klang seines Anschlags kein Halten mehr. Das geeignete Material stammt, zum Leitmotiv des Klavier-Festivals passend, von Jahres-Genius Richard Wagner.

Die „Wagneriana“ von Tokarevs Freund Alexander Rosenblatt sind, glaubt man den Schott-Internetseiten, sogar eine Uraufführung gewesen. Das gut viertelstündige, vor Klangopulenz schier berstende Stück verarbeitet Themen von Tannhäuser über Tristan bis zum Fliegenden Holländer. Der russische Komponist des Jahrgangs 1956 ruft manuelle Reminiszenzen an die alte Virtuosenliteratur auf, bezieht sich augenzwinkernd auf Liszts raffinierte Schaustücke. Von der schwärmerischen Arabeske bis zur unendlich zelebrierten Chromatik sind Bezüge zur Salonmusik unüberhörbar. Das gibt dem Stück den ironischen Touch, der es vor der Banalität rettet. Wer vor Venusrausch und Geisterquinten im Salon keine Scheu hat, wird mit Vergnügen folgen, wer darüber nicht froh werden kann, entwickelt rasch Überdruss.

Tokarev widmet sich dem Werk mit der Passion, mit der er 2006 schon Goldenblatts Paganini-Variationen beim Klavier-Festival gespielt hat – nachzuhören auf der CD des Jahrgangs. Die symphonischen Episoden aus Wagners „Ring“ von Sergej Pavtschinski (1909 bis 1976) hatte Tokarev bei seinem Klavier-Festival-Debüt 2005 in Düsseldorf schon einmal vorgestellt. Sie beweisen ein weiteres Mal, wie aussichtslos es ist, den Zauber von Wagners Orchesterklang auf den Flügel reduzieren zu müssen. Es webt und klingt nichts; das dürre Gerüst von Wagners Motiven, Melodien und Materialbruchstücken verbreitet keinen Bann.




Festspiel-Passagen II: Bachfest Leipzig lässt das Leben Jesu in Musik erfahren

Festivals schmücken sich gerne mit einem Motto. Es soll inhaltliche Reflexion signalisieren, aber die Programme lösen den Anspruch oft nicht ein. Solchen Etikettenschwindel hatte das Bachfest Leipzig nicht im Sinn: „Vita Christi“ zog sich als inhaltliches Leitmotiv durch die 115 Veranstaltungen, prägte explizit die großen Oratorienkonzerte, gab einem Zyklus von sechzehn Kantaten inhaltlich ein Gerüst. Die Fülle der Konzerte litt nicht an einem übergestülpten dramaturgischen Konzept, driftete aber auch nicht in reine Beliebigkeit ab.

Streng schaut Carl Seffners Bach-Denkmal über die Besucher der Thomaskirche hinweg. Beim Bachfest dreht sich (fast) alles um den Thomaskantor. Foto: Häußner

Streng schaut Carl Seffners Bach-Denkmal über die Besucher der Thomaskirche hinweg. Beim Bachfest dreht sich (fast) alles um den Thomaskantor. Foto: Häußner

Schon die Eröffnung mit dem Thomanerchor unter Thomaskantor Georg Christoph Biller setzte mit dem ersten Teil von Händels „Messias“ in der Bearbeitung Wolfgang Amadeus Mozarts ein Zeichen: Es geht um biblische Lebensstationen Jesu – und mehr noch um die theologisch-musikalische Reflexion, wie sie Händel in seinem Oratorium beispielhaft durchführt. Strikt dem protestantischen „sola scriptura“-Prinzip verpflichtet, zeigt uns der „Messias“ in der Auswahl der vertonten Bibelstellen, wie die Evangelien den Erlöser in einer Mischung von Selbstzeugnissen, Zeugenberichten aus den Gemeinden und Bezügen zu älteren Schriftstellen interpretierend erfahren und erkennen.

Friedrich Schleiermacher verstand den „Messias“ als „compendiöse Verkündung des gesamten Christentums“. Einen ähnlichen Stellenwert genießt er auch im Programm des Bachfestes: Der „Messias“ ist gleichsam das zusammenfassende Präludium, das Prinzip, unter dem die Aufführungen der zehn Tage gesehen werden sollen. Dass Thomasorganist Ulrich Böhme das Konzert mit „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ (BWV 140) adventlich einleitet, macht ebenfalls Sinn: Zur Begegnung mit dem in unsere Welt kommenden Jesus bereit zu sein, ist eine Haltung, die für den Christen zu den Grundkonstanten seines Lebens gehört.

So ist es – auch wenn sich Festbesucher und sogar Pressekommentare mokierten – nicht unpassend, das Weihnachtsoratorium in den Programmverlauf einzubauen: Was Trevor Pinnock, der Tenebrae Choir und das Gewandhausorchester auf gerühmtem Niveau präsentierten, ist ja keine weihnachtliche Erbauungsmusik, zu der sie erst im bürgerlichen Konzertbetrieb des 19. Jahrhunderts degenerierte. Sondern es ist die musikalische Verkündigung eines Ereignisses, dessen existenzielle Bedeutung mit einer jahreszeitlichen Verortung nichts zu tun hat.

Dass das Minguet-Quartett kurz vorher in der Michaeliskirche Joseph Haydns bewegende „Sieben letzte Worte unseres Erlösers am Kreuze“ spielte, hat seinen tiefen Sinn: Auch Bach hat in seinen sechs Kantaten zur Weihnachtszeit nicht nur formal auf die Passionen Bezug genommen, sondern den heilsgeschichtlichen Zusammenhang von Geburt und Sterben Jesu in textlichen und musikalischen Verweisen deutlich gemacht.

Sorgfältige Abstimmung der Programme

Wie sorgfältig beim Bachfest die Programme mit dem Kontext der „Vita Christi“ abgestimmt waren, mag ein Beispiel verdeutlichen: Eine Motette in der Thomaskirche war unter das Thema „Lobgesang des greisen Simeon auf Christi Geburt“ gestellt. Eröffnet hat sie eine Bearbeitung von Franz Liszt, der „Chor der jüngeren Pilger“ aus Wagners „Tannhäuser“ für Orgel: Keine obligatorische Reverenz an den Sohn der Stadt Leipzig, dessen 200. Geburtstag heuer gefeiert wird, sondern ein inhaltlich motiviertes Präludium: Besingen die Pilger doch „der Gnade Wunder Heil“ und das Wunder, durch das sich der Herr „in nächtlich heil’ger Stund‘“ kundgetan habe.

Das Wunder der Menschwerdung des Messias, das der gottesfürchtige Simeon erkannt hat, ist dann Thema der bekannten Motette Felix Mendelssohn-Bartholdys: „Herr, nun lässest Du Deinen Diener in Frieden fahren“ (op. 69,1). Auch Johann Sebastian Bach macht das „Nunc dimittis“ zum Thema in seiner Kantate zum Fest der Darstellung des Herrn von 1724, „Erfreute Zeit im Neuen Bunde“ (BWV 83): Der Bass zitiert den Lobpreis Simeons wörtlich im Psalmton.

Das Gebet der Elisabeth aus dem „Tannhäuser“ schlägt wieder den Bogen zu Richard Wagner, während drei Sätze des estnischen Komponisten Cyrillus Kreek auf Worte aus den Psalmen 84 und 104 und die Vertonung von „Freu‘ Dich sehr, o meine Seele“, die geistliche Intention aufgreifen und vertiefen: die Sehnsucht nach einem Leben in der Gegenwart Gottes, die auch Elisabeth anspricht, wenn sie bittet, von dieser Erde in „dein selig Reich“ genommen zu werden.

Bachfest 2013: John Eliot Gardiner dirigierte Bachs "Johannes-Passion" in der Thomaskirche. Foto: Gert Mothes

Bachfest 2013: John Eliot Gardiner dirigierte Bachs „Johannes-Passion“ in der Thomaskirche. Foto: Gert Mothes

Dass sich der Lauf der „Vita Christi“ musikalisch mit Auferstehung und Himmelfahrt schließt, liegt auf der Hand. In zwei Chor- und Orchesterkonzerten in der Nikolaikirche erklangen „Die Auferstehung und Himmelfahrt Jesu“ von Carl Philipp Emanuel Bach und Oster- und Himmelfahrtsoratorium Johann Sebastian Bachs. Das Werk des Bach-Sohns war einst hoch geschätzt; Carl Philipp Emanuel selbst hielt seine drei Hamburger Oratorien für seine „am stärksten gearbeiteten Stücke“ und hoffte, sie würden ihm auch nach seinem Ableben noch Ehre bringen – eine Erwartung, die sich nicht erfüllt hat.

Warum dem so ist, lässt sich heute nur noch historisch nachvollziehen, denn musikalisch hat der Hamburger Bach nicht wenig zu bieten: ein festlich besetztes Orchester, drei strahlende Triumph-Chöre, dankbare Arien, eine „moderne“ Harmonik im Geiste der Empfindsamkeit und eine gesteigerte melodische Expressivität.

Mag sein, dass der Text Karl Wilhelm Ramlers der Nachwelt zu beschreibend und zu wenig biblisch verortet erschien; mag sein, dass den orthodoxen Bachianern der Stil des Sohnes zu wenig streng vorkam: Dass die Hamburger Oratorien ein Nischendasein im Repertoire der großen Chöre führen, ist kaum mehr zu rechtfertigen. Vielleicht ändert der 300. Geburtstags Carl Philipp Emanuel Bachs 2014 etwas; der Bach-Sohn wird auch im Zentrum des Bachfestes des nächsten Jahres stehen.

Facetten historisch informierter Aufführungspraxis

In Leipzig wird der Besucher mit der Vielfalt der aktuell gültigen musikalischen Konzepte konfrontiert. Die letzten drei großen Chorkonzerte – das Fest schließt mit der h-Moll-Messe – zeigten in drei Facetten, wie heute „historisch informierte“ Aufführungspraxis verstanden wird. Bei Hermann Max, dem unglaublich rührigen Entdecker vieler unbekannter Oratorien-Schätze, klingt Carl Philipp Emanuel Bachs Musik farbenreich, kräftig akzentuiert und expressiv befeuert.

Aber sein Orchester „Das kleine Konzert“ spielt in den Streichern höhenbetont bis schrill und verzichtet allzu demonstrativ auf Vibrato: ein Klangbild, das die meisten Ensembles inzwischen wieder hinter sich gelassen haben – und das nicht nur aus ästhetischen Gründen. Ein natürlich anschwellender, in sich gerundeter Ton klingt eben reicher und differenzierter als die gezogen-gläsernen, eng schwingenden Töne, wie sie vor einigen Jahren als definitive Konsequenz aus der Quellenlage zur Interpretation im 18. Jahrhundert in Mode waren. Auch die Artikulation und die Sauberkeit schneller Tonketten ließen zu wünschen übrig. Glanzvoll bewältigten die Hörner und Trompeten ihre Aufgaben; auch die Holzbläser erweiterten den Reichtum der Orchesterfarben mit frischem und elegantem Spiel.

Hermann Max scheint auch Stimmen vorzuziehen, die sich in der feintönigen, aber blässlich-weißen Welt des historisch imaginierten 18. Jahrhunderts wohl fühlen. Im flexiblen, präzisen Chor der „Rheinischen Kantorei“ führt dieser Ansatz zu unschön gedrückten Sopran-Höhen, deren schneidende Intonation längst nicht mehr als aufregender neuer Akzent einer frischen Interpretation wahrgenommen werden, sondern als das, was sie eigentlich sind: technisch unvollkommen.

Georg Poplutz formuliert schon in seiner Arie in Johann Sebastian Bachs einleitender Kantate „Halt im Gedächtnis Jesum Christ“ (BWV 67) die Sehnsucht nach dem Erscheinen des Heils in den Stürmen der Gegenwart mit einem quäkigen, nicht durchsetzungsfähigen Tenor, wie sie exemplarisch für diese Form der Aufführungstradition steht. Matthias Viewegs Bass könnte bei freierer Emission seine abwägend geformten Töne mit reicherem Klang gestalten. Kopfig eingesperrt wirkt Veronika Winters Sopran; die enge Höhe hat keinen Glanz und vermittelt im schnellen Teil ihrer Arie („Heil mir! Du steigst vom Grab herauf“) nichts von der beabsichtigten glühenden Ergriffenheit.

Sir John Eliot Gardiner. Foto: Gert Mothes

Sir John Eliot Gardiner. Foto: Gert Mothes

Von dieser Praxis verabschiedet hat sich John Eliot Gardiner, der mit Monteverdi Choir und English Baroque Soloists ein bejubeltes Konzert in der Nikolaikirche gab: Oster- und Himmelfahrts-Oratorium Johann Sebastian Bachs sind längst nicht so bekannt wie seine Passionen. Das mag an ihrer Form liegen, an der Verwendung älterer, zu weltlichen Anlässen komponierter Musik oder an der undramatischen Anlage, die eher Glaubensgeheimissen nachsinnt als eine Geschichte reflektierend erzählt.

Gardiners Ensembles artikulieren rhythmisch bewusst, pointiert und schwungvoll, meiden aber flach-glasige Adagio-Töne ebenso wie ruppig-überspitzte Attacken. Auch der Chor klingt lebendig und frisch, betont die festlich-triumphierende Haltung dieser von Freude und Heilsoptimismus durchzogenen Musik, in die sich nur ein Hauch von Sehnsucht nach dem baldigen Wiederkommen des in den Himmel aufgefahrenen Herrn mischt. Für diese süßen Schmerzen bringt Meg Bragle einen angenehm timbrierten, beweglichen Mezzo mit; Hannah Morrisons strahlende Sopranhöhen werden allerdings immer wieder zu spitz. Nicholas Mulroy (Tenor) und Peter Harvey (Bass) formulieren ohne Schwere, geben dem Wort den Vorzug vor dem Klang.

Mit dem Freiburger Barockorchester und seinem Thomanerchor gelingt Georg Christoph Biller am Ende des Bachfestes eine eindrucksvolle h-Moll-Messe als „Essenz der Vita Christi“. Ein sinnvoller Schlusspunkt, will doch die Messliturgie den gläubigen Mitfeiernden – unter anderem – in den Nachvollzug des Lebens Jesu rituell einbinden und ihm ihre existenzielle Bedeutung erschließen. Rhythmisch sicher, in den Details präzis, im Klang frisch und abgerundet singen die Thomaner, Christoph Biller hält anfangs das Metrum ein wenig zu streng fest, lässt dann im „Credo“ mehr Freiheit, modelliert dramatische Momente heraus – etwa die Melancholie des „Crucifixus“ gegen den eruptiven Glanz der Auferstehungsbotschaft. Der Thomaskantor findet einen passenden Mittelweg zwischen den Extremen eines historischen Rigorismus und einer geschichtsvergessenen Selbstgenügsamkeit und bestätigt damit eindrucksvoll, dass die Jahrhunderte alte Leipziger Tradition bis heute künstlerisch fruchtbar geblieben ist.




Entdecker ohne Allüren: Marc-André Hamelin erhielt den Preis des Klavier-Festivals Ruhr

Was ist an Klavier-Legenden eigentlich legendär? Sind es die Anekdoten über Marotten und Grillen? Die genialische Aura oder eine an Hexerei grenzende Virtuosität? Ihre geheimnisvoll-dämonische Ausstrahlung? Marc-André Hamelin, der Preisträger des Klavier-Festivals Ruhr 2013, ist so besehen alles andere als eine Klavier-Legende. Ein Super-Virtuose ohne Frack und Faxen, so beschreibt ihn Wolfram Goertz in seiner Laudatio im Programmheft; einer, der am Flügel aussieht wie ein Briefmarkensammler.

Marc-André Hamelin. Foto: Fran Kaufman

Marc-André Hamelin. Foto: Fran Kaufman

Das ist durchaus positiv gemeint: Der kanadische Pianist, der seit 1997 regelmäßig beim Klavier-Festival zu Gast ist, braucht weder Allüren noch Aura. Inszenierung ist ihm fremd. Er gibt weder den glamourösen Sunnyboy wie Lang Lang noch das schnaufende Emotionsbündel wie gerade eben erst Daniil Trifonov. Marc-André Hamelin ist sympathisch unauffällig – außer, er spielt gerade Klavier. Dann bleibt dem Zuhörer bisweilen der Atem weg.

So ganz ohne Legende scheint es freilich nicht zu gehen. Auf eine davon spielt auch Goertz an: Wenn Hamelin die schwersten Hürden der Klavierliteratur scheinbar spielerisch leicht überfliegt, als müsse er seinen Fuß nie auf die Erde setzen, klingt es so, als habe dieser Mann nie arbeiten müssen. Als übertrage ein geniales Hirn Kaskaden von Noten wie selbstverständlich an die Hände. Wenn Hamelin in der Essener Philharmonie die komplexesten Verläufe in Nikolaj Medtners e-Moll-Sonate op. 25,2 mit zwei unabhängig agierenden Händen in Überschalltempo nicht nur mit klarer Kontur nachzeichnet, sondern auch noch strukturell sinnvoll gliedernd darstellt, tauchen die alten Begriffe der Hexenmeister-Legenden unwillkürlich wieder an die Oberfläche des Denkens.

Dort, an der Oberfläche, sollten sie auch bleiben. Marc-André Hamelin stellt im Interview unmissverständlich klar: „Ich übe und arbeite genau so schwer wie andere.“ Vielleicht, so schränkt er ein, sei er fähig, Probleme schneller und effizienter zu lösen. Aber Geschichten wie die von Clara Haskil, die im Zug die Noten gelesen und am Abend das Stück gespielt haben soll, die träfen für ihn nicht zu.

Hamelin könnte es sich leicht machen, mit Rachmaninow, Skrjabin, Prokofjew oder anderen virtuos-pianistischen Schwergewichten das Publikum zum Rasen bringen. Warum tut er es mit Nikolaj Medtner, den niemand kennt? Und riskiert damit, dass der Saal eben nicht ganz so voll ist wie sonst, der Beifall nicht ganz so enthusiasmiert losprasselt? Die Antwort kommt ohne Zögern und eindeutig: Weil er an Medtner glaubt, und weil diese „Nachtwind-Sonate“ ein unentdecktes Meisterwerk der Klavierliteratur ist.

Das Chaos unter dem Sturm

So einsichtsvoll wie Hamelin diese Sonate in Essen spielt, glaubt man ihm aufs Wort: eine weiträumig konzipierte, schwer durchschaubare Musik mit einem poetischen Programm, das von „rasenden Klängen“ spricht, von der Sehnsucht nach dem Grenzenlosen und von der Angst von den Stürmen, unter denen das Chaos wallt. Wenn sich die Musik im Presto des zweiten Satzes in Bruchstücke auflöst, ahnt man, wie poetische Idee und formales Konzept der Musik korrespondieren könnten.

Marc-André Hamelin ist der 16. Preisträger des Klavier-Festivals Ruhr. Intendant Franz Xaver Ohnesorg überreicht das Symbol des Preises, die Stahlplastik „Diapason“ des Düsseldorfer Bildhauers Friederich Werthmann. Foto: KFR/Wieler

Marc-André Hamelin ist der 16. Preisträger des Klavier-Festivals Ruhr. Intendant Franz Xaver Ohnesorg überreicht das Symbol des Preises, die Stahlplastik „Diapason“ des Düsseldorfer Bildhauers Friederich Werthmann. Foto: KFR/Wieler

Marc-André Hamelin unterscheidet sich von anderen Pianisten, weil er die Literatur erschließt, von der andere vielleicht noch nicht einmal gehört haben. Für ihn ist das kein Selbstzweck. Er ist kein Klavier-Archivar, der Noten aus dem Schlummer stiller Regale hebt, damit sie, einmal gehört, wieder zur Ruhe gebettet werden. Wenn Hamelin ein Werk spielt oder aufnimmt – seine Diskografie ist die wohl vielgestaltigste aller Pianisten –, dann nicht, weil die Musik rar ist, sondern weil er sie für wertvoll hält.

In seiner Sammlung – er schätzt sie auf ein Volumen von 100 Umzugskartons – hortet er zahllose Noten: „Ich glaube, ich habe alles von Komponisten wie Karl Czerny oder Sigismund Thalberg zu Hause.“ Dennoch habe er stets „die Fühler ausgefahren“ auf der Suche nach Unentdecktem. Und heute, so ergänzt Hamelin, sei es einfach, Unbekanntes zu finden: „Wir haben einen riesigen Fundus von Quellen.“ Und zum Glück auch CD-Labels wie Hyperion, für das Hamelin viele seiner wiederentdeckten Schätze aufnehmen konnte: „Mit der CD können wir dunkle Ecken des Repertoires erkunden.“

Auf das Explorer-Image will sich Hamelin jedoch nicht festlegen lassen: Im Essener Konzert spielte er die f-Moll-Sonate op.5 von Johannes Brahms – ein nicht ganz so bekanntes, aber frühreifes Werk des 20-jährigen, das Robert Schumann zum Schwärmen brachte. Klar ausgeformt stellt Hamelin das thematische Material vor, hymnisch steigert er die formgebende Figur aus dem Beginn des ersten Satzes, unendlich zärtlich entwickelt die Poesie des zweiten Satzes, gebrochen durch das untergründig drohende Piano der Bässe. Das Erinnerungs- und Verarbeitungs-Gewebe des Finalsatzes zeichnet er mit entschiedenen Färbungen nach. Hamelins Sicht auf Brahms ist über die Jahre gereift: Die Sonate habe ihn schon als Teenager fasziniert, erzählt er.

Hamelins Pläne: Von Feldman bis Busoni

Nicht erst in letzter Zeit richtet der in Montreal aufgewachsene Franko-Kanadier seinen Blick auch auf das gängige Repertoire. Seine Liszt- und Schumann-Aufnahmen haben viel Lob erfahren; auch an Haydns Sonaten und Mozart geht er nicht vorbei. Vor kurzem erst hat er eine CD mit Haydn-Klavierkonzerten publiziert – und mit demselben Orchester (Les Violons du Roy) und Dirigenten (Bernard Labadie) eine Woche vor dem Essener Konzert Beethoven-Klavierkonzerte aufgenommen.

„Haydn ist ein wahres Kraftwerk“, schwärmt Hamelin, „er drückt sich einfach aus, seine Form wirkt unschuldig, aber er führt an ungeahnte Orte und auf dem Weg geschehen oft unerwartete Dinge.“ Auch Mozart hat er sich vorgenommen: Auf einer Doppel-CD will er demnächst eine Reihe seiner Sonaten aufnehmen: „Jedes Mal, wenn ich die Sonaten durchgehe, entdecke ich etwas Neues.“ Die „Sonata facile“, als Zugabe im Essener Konzert gewählt, lässt ahnen, wohin die Mozart-Reise mit Hamelin gehen mag: leuchtender Ton, noble, kühle Formung, prätentionslose Klarheit.

Hamelin wäre nicht er selbst, hätte er nicht auch wieder Unbekanntes auf seiner Agenda: Glücklich sei er, dass Hyperion zugestimmt habe, eine CD mit Morton Feldmans „For Bunita Marcus“ von 1985 mit ihm zu produzieren. Dann plant er das Klavierquintett von Leo Ornstein und dasjenige von Schostakowitsch gemeinsam mit dem Takacs-Quartett einzuspielen. Aufgenommen sind bereits ein Debussy-Programm und Schumanns Kinder- und Waldszenen, zusammen mit Klavierstücken von Leoš Janáček. Und voraussichtlich im November erscheint ein Album mit drei Discs mit Spätwerken von Ferruccio Busoni, darunter einige Ersteinspielungen.

Zu hoffen ist, dass auch das Werk einmal auf CD erscheinen wird, das Hamelin im Auftrag des Klavier-Festivals Ruhr komponiert hat: Die „Barcarolle“ im Zentrum des Essener Konzertprogramms wollte Hamelin ausdrücklich weder am Telefon noch im Programmheft beschreiben. Frisch und unbeeinflusst sollten die Zuhörer die Musik aufnehmen. Das atmosphärisch reizvolle Stück lebt aus dem weiten klanglichen Ambitus von anfangs fernen, dunklen Bass-Glockenschlägen und scheinbar absichtslos aufquellenden silbrigen Arabesken und Kaskaden.

Das Ende wirkt wie eine Frage, vorbereitet durch einen klanglichen Rückzug in den Bass und einen langsamer werdenden metrischen Puls. Die „Barcarolle“ bemüht sich nicht um Avantgarde-Originalität. Und Hamelin hat sich technisch mit seinem eigenen Werk sicher nicht unterfordert. Aber es wäre zu kurz gegriffen, das Stück in die Reihe selbstverliebter Entäußerungen komponierender Virtuosen einzureihen. Dafür hört man schon im ersten Eindruck zu viel, was neugierig auf eine Wiederbegegnung macht.




Akzent zum Verdi-Jahr: „Die Räuber“ („I Masnadieri“) am Aalto-Theater Essen

Was bringt eigentlich so ein Jubiläum? Im Zweifelsfalle nichts: Auf Richard Wagners 200. Geburtsjahr trifft das zu. Und für Giuseppe Verdi, dessen 200. Geburtstag im Oktober gerade medial präpariert wird, steht Ähnliches zu befürchten.

Schreibtischtäter: Szene aus Verdis "Masnadieri" am Aalto-Theater Essen: Marcel Rosca (Maximilian), Zurab Zurabishvili (Karl), Liana Aleksanyan (Amalia), Rainer Maria Röhr (Herrmann). Foto: Thilo Beu

Schreibtischtäter: Szene aus Verdis „Masnadieri“ am Aalto-Theater Essen: Marcel Rosca (Maximilian), Zurab Zurabishvili (Karl), Liana Aleksanyan (Amalia), Rainer Maria Röhr (Herrmann). Foto: Thilo Beu

Verdi hat nicht einmal die hässliche Seite aufzuweisen, die bei Wagner von einer aufgescheuchten Kultursociety nach jahrzehntelanger seriöser Forschung nun in hippeligem Moralismus breit getreten wurde. Verdi war kein Antisemit, sein Lebenswandel sperrt sich der Mythenbildung und kein Faschist hat ihn zum Inspirator erkoren.

Hätten sich wenigstens die Operntheater von seinem Œuvre inspirieren lassen, hätte das Jubeljahr den Blick weiten können. Denn Verdi hat gut doppelt so viel komponiert als das Dutzend Werke von „Nabucco“ bis „Falstaff“, die des Geburtstagsklamauks nicht bedürfen, um andauernd überall inszeniert zu werden. Doch bisher ist – auch mit Blick auf die Spielzeit 2013/14 – von einem Aufbruch hin zu unvertrauten Verdi-Ufern wenig zu spüren. Ein paar hochherzige Projekte gibt es: Krefeld-Mönchengladbach eröffnet die Spielzeit mit „Stiffelio“ – einer der am sträflichsten missachteten Opern Verdis. In Bielefeld wird es „Giovanna d’Arco“ in einer der Urfassung angenäherten Rekonstruktion geben. Und Frankfurt lenkt schon zum Ende dieser Spielzeit den Blick endlich einmal wieder auf Verdis großes französisches Experiment „Les Vêpres Siciliennes“ – in einer Inszenierung des Dortmunder Intendanten Jens-Daniel Herzog.

Als einziges der großen deutschen Opernhäuser plant Hamburg ein Projekt, das der Bedeutung Verdis angemessen ist. Wie als Gegenpol zur „Trilogia popolare“ (Rigoletto, La Traviata, Il Trovatore) stellt die Staatsoper im Oktober/November drei verschollene Verdi-Opern auf die Bühne: „I Lombardi alla prima crociata“, „I due Foscari“ und „La Battaglia di Legnano“ – letzteres ein Werk, das bei seiner Uraufführung 1849 wegen seiner politischen Stoßrichtung für Furore sorgte, aber kaum mehr gegeben wird, in Deutschland wohl seit Kriegsende nicht mehr.

Bei den selten gespielten Verdi-Opern mischt Essen mit

Aber das Aalto-Theater mischt diesmal vorne mit: Stefan Soltesz hat seinem Hang, im Zweifelsfall zu Populärem zu greifen, nicht nachgegeben und die Essener Erstaufführung von Verdis „I Masnadieri“ – nach Friedrich Schillers „Die Räuber“ – ermöglicht. 1847 uraufgeführt, gehören die italianisierten „Räuber“ zu den problematischen Werken Verdis: Der Komponist war seit „Macbeth“ dabei, neu aufgestoßene Wege in seinem Musiktheater zu erforschen, die er im „Rigoletto“ endgültig stabilisiert hat.

In der Regie setzte der Intendant auf Bewährtes und beauftragte Dietrich Hilsdorf mit der Erarbeitung seiner inzwischen neunzehnten Aalto-Inszenierung. Und wieder einmal schwankt Hilsdorf zwischen einer bravourös aus dem Stück entwickelten Interpretation und seiner Lust an überdrehten szenischen Nadelstichen. Für ihn sind die „Masnadieri“ zunächst eine Familiengeschichte: „Familienbande“ steht zweideutig auf dem Gazevorhang, auf dem vor Beginn der Oper schon ein dunkler teutscher Tann den Zuschauer ironisch in die Irre führt.

Den konservativen Spruch von der Familie als „Keimzelle der Gesellschaft“ nimmt er beim Wort: In der prunkvoll-kalten Eleganz eines gigantischen Büros, gestaltet vom bewährten Johannes Leiacker, exponiert er die Konstellation mit genau beobachteten Gängen und Gesten. Carlo Moor ist der Träumer, der Außenseiter, der nach Alternativen sucht; Francesco Moor, hinkend und missgestaltet, der eilfertige, machtlüsterne Anpasser; Amalia das begehrte Objekt zwischen den Männern, zu der noch Arminio gehört, Kammerherr der Familie, in Essen umgedeutet zum geduldeten Bastard des alten Moor. Dieser Graf Massimiliano ist eher hilfloses Opfer der Intrige als ein entschiedener Täter; Hilsdorf wird die Figur des alten Vaters im Lauf des Stück bis zum Zerrbild eines patriarchalistischen Richter-Vaters und Gottes-Ersatzes demontieren.

So weit ist die Exposition bestechend erdacht. Aber mit den Räubern kommt Hilsdorf nicht ins Reine, weil er im Räuber-Bild des zweiten Akts die „Kampfzone ausweitet“ und das Stück zur Kritik des liberalen Kapitalismus umbiegt. Da klemmen Broker und Börsianer vor Flatscreens, flimmern Zahlen und Grafiken, tummeln sich offenbar russische Oligarchen, gegen die ein paar bunte Pussy-Riot-Vermummte blank ziehen. Hilsdorf hat versucht, die Szenen mit den Räubern auf zwei Ebenen anzusiedeln – der von Alexander Eberle vorzüglich präparierte Chor singt teilweise von oben oder aus den Zuschauerraum –, aber es wird szenisch nicht klar, was die idealen Kopfgeburten des Carlo Moor und die Bande enthemmter Kapitalistenknechte auf der Bühne miteinander zu tun haben sollten.

Ende im Welt-Ekel: Verdis "Masnadieri", von Dietrich Hilsdorf gedeutet. Foto: Thilo Beu

Ende im Welt-Ekel: Verdis „Masnadieri“, von Dietrich Hilsdorf gedeutet. Foto: Thilo Beu

Ab hier verliert die Inszenierung ihre Schlüssigkeit, auch wenn sich am Ende abzeichnet, dass Hilsdorf auch die Geschichte von Menschen erzählen will, die am Lebens-Ekel zugrunde gehen. Der von Verdi dramaturgisch genial und musikalisch zukunftsweisend vertonte Wahnsinn der „Kanaille“ Francesco Moor wirkt aus sich heraus; der Schluss, als Carlo Moor einer völlig im existenziellen Nichts gestrandeten Amalia den Rest gibt, zeigt ihn als einen an der Welt verzweifelten Gescheiterten, ähnlich wie Corrado in Verdis wenig später entstandener Byron-Oper „Il Corsaro“. Für diesen Aspekt öffnet Hilsdorf die Augen: In der Schaffensphase um 1847/48 kreiert Verdi Anti-Helden, gekennzeichnet von einer schwarzen Negation jeglichen Sinns und einer dämonischen Hybris: Macbeth gehört hierher, die Gebrüder Moor, der Korsar. Ein Nachfolger tritt uns erst wieder mit dem Jago in „Otello“ entgegen.

Verdis „Galeerenjahre“ gehen zu Ende

Ähnlich ausgefeilt wie die Regie mit der Szene geht der Dirigent Srboljub Dinić mit Verdis Partitur um. Dinić will uns hörbar machen, dass Verdis „Galeerenjahre“ zu Ende gehen, dass er über die schlagkräftigen Cabaletten hinauswächst, dass seine Instrumentation reicher und dramaturgisch überlegter wird. Dass Dinić den zündenden Schwung und die federnd abspringende Attacke punktierter Rhythmen dämpft, muss nicht sein: Es ist gerade der Kontrast von innovativer Sprache und überkommenen „Floskeln“, die den Reiz der „Masnadieri“ ausmachen.

Das Orchester lässt spüren, wie es die „hohe Schule“ seines Chefs verinnerlicht hat: delikate Phrasierungen, sorgsame Balance, kultivierte Soli sorgen für einen veredelten Verdi-Klang. Das Sänger-Ensemble erreicht ein solides, gemessen an Verdis Anforderungen aber nicht immer konsistentes Niveau – was aber auch schon bei einer gefeierten „Masnadieri“-Produktion im Scala-Jubiläumsjahr 1978 in Mailand festzustellen war. Vokal am überzeugendsten nähert sich Aris Argiris seiner Partie des Francesco Moor: ein solide gestützter, klangschön timbrierter Bariton mit sicherer Höhe und psychologisch charakterisierend eingesetzten Nuancen im Klang.

I Masnadieri in Essen: Zurab Zurabishvili (Karl), Liana Aleksanyan (Amalia). Foto: Thilo Beu

Zurab Zurabishvili (Karl), Liana Aleksanyan (Amalia). Foto: Thilo Beu

Anders Zurab Zurabishvili als Carlo Moor: Der Tenor hat zwar entspannte Töne im Zentrum, zwingt seiner Stimme aber die Höhe förmlich auf und kommt so zu larmoyanter Schärfe und oft nur ungefähr treffender Intonation. Das Fach des Verdi-Tenors, das einst Sänger wie Carlo Bergonzi ideal verkörperten, scheint ausgestorben. Liana Aleksanyan bringt für die Rolle der Amalia – für die „Nachtigall“ Jenny Lind geschaffen – die nötige Leichtigkeit und einen gut anspringenden, lyrisch-hellen Ton mit. Auch ihre Mezzavoce kann sich hören lassen. Nur in der Attacke gelangen ihr einzelne Töne nicht ausreichend fokussiert – womöglich eine Frage der Tagesform.

Rainer Maria Röhr und René Aguilar als Arminio (Hermann) und Roller können auf Augenhöhe mithalten; sie überzeugen auch als Sing-Schauspieler in knappen, prägnanten Auftritten. Marcel Rosca ist als alter Graf Massimiliano ein die Facetten souverän beherrschender Gestalter. – Das Aalto-Theater hat mit dieser ehrgeizigen Produktion einen markanten Akzent in der deutschen Opern-Landschaft gesetzt und gezeigt, dass es sich lohnt, Kräfte für den wenig bekannten Verdi zu mobilisieren. Wenn der neue Intendant Hein Mulders im Herbst mit „Macbeth“ die Spielzeit eröffnen lässt, wird sich zeigen, wie beide Werke in ihrem Ringen um dramatische Wahrheit und Innovation miteinander verwandt sind.

Weitere Aufführungen am Aalto-Theater Essen: 20., 23. und 29. Juni; 3., 5., 7., 10. und 20. Juli. Kartentelefon: (0201) 81 22 200. Infos im Internet: http://www.aalto-musiktheater.de/premieren/die-raeuber.htm




Ein Europäer aus der bayerischen Provinz: Johann Simon Mayr zum 250. Geburtstag

Venedig, Karneval 1794: Im neuen „Teatro La Fenice“ wird die Oper „Saffo“ aufgeführt. Der Komponist ist ein „Zugereister“ aus Bayern, der sich durch einige Oratorien einen Namen gemacht hat: Johann Simon Mayr. Die Oper hat Erfolg, der 30-jährige Maestro erhält ein Jahr später erneut einen Opernauftrag: „Lodoiska“. In den kommenden Jahren sollte Mayr eine der führenden Gestalten nicht nur des venezianischen, sondern des italienischen Opernlebens werden.

 

Giovanni Simone Mayr. Bild: Archiv Häußner

Giovanni Simone Mayr. Bild: Archiv Häußner

Bis vor wenigen Jahren teilte dieser Komponist das Schicksal vieler seiner Kollegen, die in der Übergangszeit zwischen der Barockoper etwa eines Johann Adolph Hasse und der neuen Generation eines Gioacchino Rossini wirkten. Doch das Blatt hat sich gewendet: In Mayrs Heimat Ingolstadt bemüht sich seit 20 Jahren eine sehr aktive Johann-Simon-Mayr-Gesellschaft um die Wiederentdeckung seines Œuvres. An der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde eine Forschungsstelle eingerichtet. Symposien, Editionen, Dissertationen erschließen Werk, Person und Umfeld des Komponisten.

Der italienische Verlag Ricordi hat eine Ausgabe in Angriff genommen, die Zug um Zug die bisher in Archiven schlummernden Noten aus der Hand Mayrs kritisch ediert und der musikalischen Öffentlichkeit zugänglich macht. Die Folgen sind schon spürbar: In den letzten Jahren sind wichtige Opern Simon Mayrs auf die Bühne zurückgekehrt, etwa „Fedra“ in Braunschweig (2007/08), „Il Ritorno d’Ulisse“ in Regensburg (2009/10) und Mayrs wohl berühmteste Oper, „Medea in Corinto“, in St. Gallen und München (2010). Zum 250. Geburtstag Mayrs am 14. Juni 2013 führt das Münchner Rundfunkorchester in Ingolstadt die Oper „Ginevra di Scozia“ in einem Festkonzert auf.

Von Mendorf nach Venedig

Am 14. Juni 1763 wird dem Schullehrer und Organisten Joseph Mayr zu Mendorf, 25 Kilometer von Ingolstadt entfernt, ein Sohn geboren. Johann Simon, so sein Name, macht gute Fortschritte in der Musik. Im Kloster Weltenburg, wo er zur Schule geht, rühmt der Abt sein virtuoses Klavierspiel. Mit zehn Jahren erhält der begabte Sänger einen Freiplatz am Jesuitenkolleg in Ingolstadt, wechselt 1777 an die Bayerische Landesuniversität und beginnt, Theologie, Philosophie und Jura zu studieren. Nebenher verdient er sich seinen Unterhalt als Organist. Ohne theoretischen Unterricht genossen zu haben, veröffentlicht er 1786 „12 Lieder, beim Klavier zu singen“.

Ingolstadt ist damals ein Zentrum der „Illuminaten“, einer aufklärerischen Geheimgesellschaft. Mayr kommt mit der nach Freiheit, Bildung und persönlicher Vervollkommnung strebenden Bewegung in Kontakt. In dem Freiherrn Thomas von Bassus findet er einen Förderer, der ihn als Musiklehrer auf sein Schloss Sandersdorf holt. Als der Illuminatenorden 1785 verboten wird, muss Bassus fliehen. Mayr folgt ihm nach Poschiavo in Graubünden – und will sich endgültig der Musik verschreiben.

Wohl ermutigt und finanziert von Bassus geht Mayr 1789 nach Bergamo, lernt bei Carlo Lenzi, dem damaligen Kapellmeister der Kirche Santa Maria Maggiore, studiert ab 1790 in Venedig. Dort nimmt sich der renommierte Kapellmeister an San Marco, Ferdinando Bertoni, ein stark an Gluck orientierter Musiker, seiner an. Die Begegnung mit dem reichen Musikleben Venedigs und die Bekanntschaft von Komponisten wie Peter von Winter und Nicola Piccinni regen ihn an, sich der Oper zuzuwenden.

Der Bayer eignet sich schnell die Sprache und die Gewohnheiten seiner zweiten Heimat Venedig an, heiratet 1796 in eine venezianische Familie ein und ändert seinen Namen in „Giovanni Simone“. In den nächsten Jahren geht er ganz im aufreibenden Betrieb auf. Für vier der Opernhäuser Venedigs, zunehmend aber auch für Mailand, schreibt er komische und ernste Werke, typische, sogenannte „semiseria“-Opern, die Elemente der alten „Seria“ mit solchen aus der Welt der „Buffa“ verbinden.

Seine einaktigen Farcen sind im Karneval erfolgreich. Sein Ruhm dringt mit der Buffa „Che originali!“ („Was für Originale“) über Italien hinaus. Paris, München und Lissabon spielen das Werk, das die Marotten eines musikliebenden, aber ungebildeten Dilettanten in feinsinniger Satire verspottet. In Italien kann es sich bis 1830 auf den Spielplänen behaupten; in einer Ausgrabung an der Hamburger Kammeroper ist es auch jetzt wieder äußerst erfolgreich.

Der Übergang zur modernen italienischen Oper

Mit der Oper „Ginevra di Scozia“, die von Triest und Wien aus 1801 einen Siegeszug antritt, hat sich Mayr endgültig als führender Komponist der Zeit etabliert. „Ginevra“, basierend auf einem Epos aus Ludovico Ariostos „Orlando furioso“, wird als Maßstäbe setzend eingeschätzt. Die Oper auf ein Libretto Gaetano Rossis markiert den Übergang zum „Melodramma“ des 19. Jahrhunderts. Ein Hinweis ist schon die Stoffwahl: aufgegriffen wird der später so beliebte Schauplatz Schottland. Mayr und Rossi setzen nicht mehr auf die Intrigenhandlung, sondern den wechselnden Kontrast der Affekte. Lokalkolorit kommt ins Spiel; musikalische Charakterstücke kennzeichnen Personen und Schauplätze. Instrumentierung und Orchesterbehandlung sind richtungsweisend. Englischhorn und Harfe zum Beispiel werden eingesetzt, um charakteristische Farben zu erzeugen.

Einer der Biographen Mayrs, Cristoforo Scotti, meinte 1903, keiner von Mayrs Zeitgenossen habe so viel profitiert vom dramatischen Realismus Glucks, der poetischen Melodie Italiens und der Fertigkeit der Instrumentation der Deutschen. Früher sah man besonders den Einfluss Glucks, Mozarts und Haydns auf Mayr; heute sieht die Forschung eine wichtige Quelle in der französischen Revolutionsoper, die Mayr in den bisweilen engen und drückenden Grenzen der italienischen Tradition rezipiert hat.

Neben antiquierten Elementen, wie langen, reflektierenden Arien findet sich zum Beispiel in seiner „Medea“ viel Richtungsweisendes: die Verknüpfung der begleiteten Rezitative mit Arien, Duetten und Chören, die avancierte Orchesterbehandlung, der ausdifferenzierte Satz, die kühne Instrumentierung und eine fortschrittliche, im Dienste des charakteristischen Ausdrucks stehende Harmonik. Die Uraufführung vor zweihundert Jahren, am 28. November 1813, in Neapel sah Isabella Colbran, die spätere Frau Rossinis, als Medea und den Tenor Manuel Garcia, der später ein berühmter Gesanglehrer wurde, als Egeo. Als Hauptstück der Oper gilt die Szene im zweiten Akt, in der Medea die Götter der Unterwelt beschwört, ihr bei ihrer Rache zu helfen. Sie geht weit über die „Ombra-Szenen“ der Barockoper hinaus.

Als Mayr sich nach 1815 mehr und mehr aus der Opernszene zurückzog, dem neu aufstrahlenden Stern Gioacchino Rossini das Feld überlassend, konnte der allgemein geschätzte, liebenswürdige Mann auf 20 Jahre Erfolg und internationalen Ruhm zurückschauen – aber, mehr noch: er hatte die musikalische Entwicklung in Italien entscheidend vorangebracht. Zu den großen Verdiensten Mayrs gehört die Entwicklung eines modernen, sprechenden Opernorchesters.

Gebildet, gütig, generös

Der Nachwelt blieb er vor allem als Pädagoge in Erinnerung, hatte er ja einen weltberühmten Schüler, Gaetano Donizetti. Dieser besuchte als mittelloser Knabe von 1806 bis 1815 die von Mayr in Bergamo gegründete „Scuole caritatevoli di musica“. Der gebildete und belesene Mann ließ die Schüler nicht nur unentgeltlich im Gesang unterrichten, sondern sorgte für Unterweisung in Musiktheorie, Orgel, Klavier, Violine, dazu noch in Geschichte, Geographie, Mythologie und Poesie. Der fromme Mayr, der ein ausgeprägtes Mitleidsgefühl hatte, errichtete 1809 noch das „Pio Istituto Musicale“, in dem mittellose alte Musiker, Witwen und Waisen Aufnahme fanden. Für seine gerühmte Güte und Freundlichkeit spricht auch, dass er Donizetti teils auf eigene Kosten nach Bologna schickte, damit der Hochbegabte beim damals ersten Kompositionslehrer Italiens Unterricht bekäme.

Hätte der bescheidene Komponist, statt sich ab 1802 nur noch seiner Kapellmeisterstelle an S. Maria Maggiore in Bergamo verpflichtet zu fühlen, die verlockenden Angebote aus Paris, London oder Dresden angenommen – wer weiß, wie sein Nachruhm heute erklänge. Die Fama seiner guten Werke ist mit denen, an denen er sie getan hat, gestorben. Dass sein musikalischer Nachruhm gering ist, dafür hat er selbst gesorgt: er hat sich dagegen gewehrt, dass seine Partituren veröffentlicht würden.

Dass sich über Mayr dichtes Vergessen gesenkt hat, ist nicht mit einer sowieso fragwürdigen musikhistorischen Auslese zu begründen, in der das Bessere ein Feind des Guten sei. Iris Winkler, wissenschaftliche Betreuerin der Simon-Mayr-Forschungsstelle Ingolstadt, sieht in Mayr einen Komponisten von europäischem Format: „Mayr ist in einen europäischen Kontext einzuordnen, nicht nur wegen seiner Herkunft und seinem Lebensweg, sondern auch wegen seinen weit über die Musik hinaus greifenden Interessen und seiner musikalischen Sprache.“




Glühende Eruptionen: Federico Colli debütiert beim Klavier-Festival Ruhr in Dortmund

Mit Federico Colli, dem Sieger der renommierten Leeds International Piano Competition 2012, hat Italien nach längerer Zeit wieder einmal einen jungen Pianisten im Rennen, der alle Chancen hat, an die große Tradition von Arturo Benedetti Michelangeli über Maurizio Pollini und den oft unterschätzten Bruno Canino bis Andrea Lucchesini anzuknüpfen. Colli setzte sich – offenbar in einer knappen Entscheidung – gegen den gleichaltrigen Schweizer Louis Schwizgebel durch, der zumindest einen Teil der Kritiker auf seiner Seite hatte und 2013/14 Stipendiat der Dortmunder Mozart-Gesellschaft sein wird.

Federico Colli. Foto: Sirio Serugetti

Federico Colli. Foto: Sirio Serugetti

Dass die Hoffnungen auf Colli nicht eitler Public-Relations-Hochglanzschaum sind, konnte der 25jährige aus Brescia mit seinem Debut beim Klavier-Festival Ruhr in Dortmund fulminant beweisen. Beethovens „Appassionata“ op. 57 ist in ihrer stürmischen Unentwegtheit ein geeigneteres Stück für einen jungen Pianisten, sich vorzustellen, als die philosophische Spätsonate Opus 111, die der Franzose Ismael Margain im Harenberg Center gespielt hatte.

Collis zupackender Art kommt Beethovens Allegro- und Presto-Furor ideal entgegen: Sein Sinn für scharfe Kontraste, für einen sprühenden, entschiedenen Anschlag zielen auf Leidenschaft. Seine atemberaubende Konsequenz im Arpeggio-Spiel und seine Aufmerksamkeit für wechselnde Beleuchtungen erschöpfen sich nicht im virtuosen Vorzeigen, sondern dienen der strukturellen Klärung des Werks. Wenn Colli mit Wucht und Kraft die dynamische Skala nach oben öffnet, „meißelt“ er die Akkorde nicht heraus, um glanzvoll zu demonstrieren, was er „drauf“ hat. Sondern er trifft mit ihnen die insistierende Haltung, das Hineinsteigern in die Expression, die „furchtbaren, wilden Ausbrüche“, wie sie Willibald Nagel in seiner Analyse beschrieben hat.

Der Unterschied zur Kraftmeierei russischer Herkunft ist evident: Colli geht es um Erklärung, nicht um Überwältigung. Zwar ist sein Temperament kaum domestiziert, aber er findet den richtigen Moment, um im Sinne der musikalischen Gliederung die Eruption zu beruhigen. Das Magma der Klänge wird nicht mehr herausgeschleudert, sondern fließt: glühend zwar, aber ruhig und gelassen.

Und dann kann Colli etwa den resignativen Beginn der Sonate leicht und verhalten formulieren, auch zu Momenten gesanglicher Intensität finden. Im zweiten Satz verwechselt er das „con moto“ mit einem Entspannungs-Verbot: Der ruhigen Melodik des Andante wäre eine fließend kantable Haltung besser bekommen als Collis mechanistisches Beharren auf dem Rhythmus. Aber man registriert die Absicht: Colli will den hymnischen Frieden als gefährdet erweisen. Die Figurationen sind keine freundliche Dekoration eines frommen Gesangs, sondern das Nachbeben des lodernden Querfeuers, das Beethoven seinem thematischen Material im ersten Satz entgegengejagt hat. Der dritte Satz bringt dann wieder kompromisslose Klarheit, kaltes Feuer, traumhaft sichere Skalen.

Das feine Gespür für Nuancen und Atmosphäre, das die englische Presse dem Sieger von Leeds bescheinigt, ließ sich in Dortmund in Schuberts vier Impromptus op. 142 (D 935) wiederentdecken. Ein wenig Gelassenheit fehlt dem jungen Mann mit dem kecken Halstuch in schillerndem Türkis noch, aber das Liedhafte verzärtelt er nicht, die Kontraste nivelliert er nicht. Colli spielt einen klaren, rhythmisch pointierten, eher intellektuell als emotional phrasierten Schubert: Elegant der Walzer im B-Dur-Impromptus, beeindruckend die choralartige Steigerung am Ende. Und keine Spur vom „heiteren Capriccio“ im „Allegro scherzando“, dem Impromptus Nr. 4 in f-Moll. Sondern zupackender Rhythmus, scharf umgrenzte Akkorde und wilder Staccato-Schwung in der Coda – Beethoven lässt grüßen.

Keine Frage, dass Colli der musikalischen Idee von Ferruccio Busonis Transkription von Siegfrieds Trauermarsch aus Wagners „Götterdämmerung“ gewachsen ist. Und den manuellen Herausforderungen von Maurice Ravels „Gaspard de la nuit“ ebenso. Die gläserne Präsenz der „Ondine“, die rhythmische Akkuratesse und die grellen Kontraste zwischen Gewalt und Subtilität in „Scarbo“ lassen keinen Zweifel: Von diesem Pianisten wird man noch hören. Ende Juni nimmt er seine erste Solo-CD auf, unter anderem mit der „Appassionata“ und Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“; im Herbst gastiert er in Japan. Im Dezember spielt Colli in Wien Beethovens Zweites Klavierkonzert und am 18. November 2013 debütiert er im Herkulessaal in München: Spätestens dann, so wage ich zu prophezeien, wird die deutsche Musikszene von Federico Colli nachhaltig Notiz nehmen.




Offene Wege der Jugend: Ismael Margain beim Klavier-Festival Ruhr in Dortmund

Müssen junge Debütanten immer gleich nach den Sternen greifen? Müssen sie sich mit den Gipfelwerken der Klavierliteratur Vergleichen aussetzen, die wie eine gewaltige Last aus 100 Jahren dokumentierter Rezeptionsgeschichte auf ihnen lasten?

Ismael Margain, der 20-jährige aus einem – wie das Programmheft extra betont – mittelalterlichen Städtchen in der Dordogne, hat die Frage auf seine Weise beantwortet. Er bestritt beim Klavier-Festival Ruhr in Dortmund in der Reihe „Die Besten der Besten“ sein Debut mit Beethovens Opus 111, einem der Prüfsteine der Klaviermusik und für Generationen von Pianisten eine lebenslange Herausforderung.

Ismael Margain. Foto: KFR/Caroline Doutre

Ismael Margain. Foto: KFR/Caroline Doutre

Nun ist es, nähert man sich einem solchen abgründigen Werk, kein Dogma, sich gleich auch der aufgenommenen und geschriebenen Hinterlassenschaft der Kulturgeschichte stellen zu müssen. Denn man darf legitimerweise fragen: Ist die c-Moll-Sonate denn tatsächlich ein „Abschiedswerk“? Muss man Beethovens Opus 32 so lesen, wie Thomas Mann in „Doktor Faustus“ geraunt hat: als Schicksalswerk für die Sonate als Gattung, historischer Abschied einer Kunstform? Müssen wir in den sich verlaufenden Trillern und Triolen Beethovens eigene Todesahnung erlauschen? Oder gar das tragische Wehen des Weltgeistes rauschen hören, der auf seinen dialektischen Wegen etwas Großes, Erhabenes ins Wirbeln der Geschichte entlässt?

Im Harenberg Center kommt ein junger Franzose, von deutscher Grübelei offensichtlich nicht angekränkelt, und spielt tapfer gegen den Deutungsballast an. Er senkt den Kopf nicht lastend über das Maestoso, sondern spielt es erhobenen Auges: kraftvoll, mit überlegten Akzenten im Bass und sonnigem Ton. Er nimmt das Allegro „con brio“, wie notiert, mit drängender Energie und formaler Clarté, nicht angekränkelt von dunklem Pathos und dräuendem Abschiedsschmerz, sondern mit dem Streben nach Aufwärts im Blick.

So hält Margain es auch mit dem zweiten Satz. Und in diesem anscheinend harmonisch so unkompliziertem C-Dur überholt dann doch die gewichtige Philosophie den jugendlichen Sprinter. Denn wie liebevoll er auch die Noten modelliert: Der Variationensatz (sehr einfach und sanglich will ihn Beethoven haben) erschöpft sich zu schnell, wenn ein Pianist dem „Einfachen“ keine Tiefe mitgibt. Insofern ist Beethovens Sonate – und da trifft sie sich gemeinerweise mit seinem Konkurrenten Rossini – ein sehr „modernes“ Werk: In den Noten steht wenig, in den Händen des Interpreten liegt viel. Um diesen Satz mit Sinn zu erfüllen, reicht Margains Zugang nicht, sind seine Anschlagskultur und die Variabilität seiner Dynamik – um es technisch zu sagen – zu begrenzt. Es war erfrischend zu erleben, wie unbefangen er sich Beethoven genähert hat, aber bei diesem Impuls der Bewunderung jugendlicher Unbekümmertheit bleibt es. Transzendierung – wohin auch immer – findet nicht statt.

In Franz Liszts Bearbeitung des Schlussgesangs aus Wagners „Tristan und Isolde“ hinterlässt Ismael Margain den Eindruck, noch keinen Liebestod gestorben zu sein. Er steuert zielsicher den harmonischen Kulminationspunkt an, er kann steigern und intensivieren, aber am Schluss lässt er nicht los: Das weite Ausschwingen der sanglichen Linie, das Ersterben des Tons bleibt zu irdisch, zu gewollt.

Mag sein, dass der dritte Preisträger des Pariser Concours International Long Thibaud 2012 auch hier einen anderen Ansatz verficht, als den der gängigen und beliebten Romantik des süffig-schmerzlichen sich Vergessens. Seine Sicht auf Franz Schubert scheint das nahezulegen: Denn die A-Dur-Sonate (D 664) spielt er ganz auf Klarheit, unbeschwerte Eleganz, bewegliches Tempo ausgerichtet – ein Schubert mit den Augen von Claude Debussy oder Darius Milhaud.

Man möchte diesen sachlich-unbeschwerten Blick nicht gleich mit dem Adjektiv „vordergründig“ belegen. Aber wenn sich Margain in Wiederholungen keinen Wechsel der Beleuchtung erlaubt, wenn er die Bässe absichtslos leicht und damit bedeutungslos behandelt, muss man keinen „Geist“ einklagen, um schon am „Buchstaben“ Zweifel anzumelden. Und man entscheidet sich dann doch für eine reifere, bedeutsamere Interpretation, ohne die lichtvolle Frische von Margains Spiel betrüben zu wollen. Wohin die offenen Wege der Jugend führen, muss sich bei ihm noch zeigen.

 




Das Spektrum der Romantik: Michaela Selinger singt Lieder im Aalto-Foyer

Michaela Selinger. Foto: Ruth Ehrmann

Michaela Selinger. Foto: Ruth Ehrmann

Wien, Paris, Glyndebourne, Hamburg: Die Sängerin Michaela Selinger hat sich in den letzten Jahren einen internationalen Ruf erarbeitet. Und kehrt dennoch immer wieder gerne nach Essen zurück, so zuletzt mit einer Liedmatinee ins Foyer des Aalto-Theaters.

Sie beginnt mit einem raffinierten Bogenschlag: Sie nimmt mit Hanns Eislers „Erinnerung an Eichendorff und Schumann“ direkt Bezug zum zweiten Teil ihres Konzerts, dem „Liederkreis“ op. 39 Robert Schumanns auf Texte von Joseph von Eichendorff. Dazwischen fächert sie Aspekte der Liedkunst des 20. Jahrhunderts auf: Romantik in der Sprache Claude Debussys, Franz Schrekers, Gustav Mahlers. Und Neu-Romantik eines Wieners, der unter dem Namen Albin Fries feine Miniaturen komponiert, die in ihrer melodischen und harmonischen Sprache sich gerade noch im Kontext der Moderne von Schreker und Mahler behaupten.

Dem klug komponierten Programm entspricht eine klug geführte Stimme. In Essen am Aalto, seit 2010 ihr Stammhaus, hat sich Michaela Selinger große Rollen ihres Fachs als lyrischer Mezzosopran erarbeitet. In der nächsten Spielzeit kommen zwei dazu: die Charlotte in Jules Massenets „Werther“ und eine neue Händel-Partie in „Ariodante“. Seit sie Fotos vom Aalto-Theater gesehen hatte, war es ihr Wunsch, an diesem Haus zu arbeiten, bekennt die Österreicherin im Gespräch. Erstklassiges Orchester, gute Arbeitsbedingungen, schöne Rollen: diese Vorzüge schätzt Michaela Selinger am Aalto. Vor allem auf die Partie der Charlotte freut sie sich, nachdem sie sich bereits als Mélisande in Claude Debussys Oper im französischen Fach „ausprobiert“ hatte.

Das Aalto-Theater, Stammhaus von Michaela Selinger, an das sie immer gerne zurückkehrt. Foto: Werner Häußner

Das Aalto-Theater, Stammhaus von Michaela Selinger, an das sie immer gerne zurückkehrt. Foto: Werner Häußner

Das Lied steht für die Sängerin ganz oben in der Wunschliste: „Ich habe im Studium das Lied für mich entdeckt. Das war lange vor der Oper, denn ich komme vom Oratorium her. Für mich ist es ein Mittel des persönlichen Ausdrucks. Eine intime Form, in der ich Freiheit des Gestaltens bis ins Kleinste habe.“ Auf der Bühne sei das nicht möglich; der Zuschauer würde solche Nuancen gar nicht wahrnehmen. „Beim Singen eines Liedes kommt es darauf an, ob ich schnell oder langsam atme, geräuschlos oder laut. Alles kann dem Ausdruck dienen.“ Diese Möglichkeit, genau zu modellieren, fordert Michaela Selinger heraus. Und sie sieht den Liedgesang als „Stimmhygiene“: „Wenn ich viel Oper gesungen habe, merke ich, wie gut das Lied meiner Stimme tut.“

Die beiden Eisler-Lieder – Selinger sang noch „Die Heimat“ auf einen Hölderlin-Text – könnte man psychologisch als regressiv bezeichnen: Trauer über das Verlorene herrscht vor, das „Ich“ träumt sich weg, will sich im Kinderland ausruhen, sehnt sich danach, zum zweiten Mal ein Kind zu sein: Die deutsche Romantik als Sehnsuchtsort in einer Zeit, in der die Blaue Blume im Exil und auf hartem, blutgetränktem Boden vergeblich zu blühen versuchte.

Exemplarisch zeigte sich schon in dieser Exposition, was die Matinee kennzeichnen sollte: Der Wiener Pianist Clemens Zeilinger erwies sich als überlegt-überlegen gestaltender Poet, die Sängerin als ein aufmerksamer, für die Nuancen sich aufhellender oder eintrübender Emotionen hellwacher Kopf. Aber deutlich wurde auch, dass Michaela Selinger technische Grenzen hat, die das Spiel mit den Ausdruckswerten des Singens limitieren.

"Pelléas et Mélisande" in Essen: Michaela Selinger als Mélisande und Jacques Imbrailo als Pelléas. Foto: Hermann und Clärchen Baus

„Pelléas et Mélisande“ in Essen: Michaela Selinger als Mélisande und Jacques Imbrailo als Pelléas. Foto: Hermann und Clärchen Baus

Im Einzelnen: Schon bei Eisler fallen Perioden auf, die verschwommen artikuliert sind, in denen die Konsonanten nicht ausreichend gebildet werden. Geht es um erfüllte Bögen, fehlt dem Mezzosopran der sicher fundierte Kern und ein weiträumiger Klang. Wenn Selinger uns einen öden Strand vors innere Auge führt, wenn sie Tränen und fahle Resignation besingt, ist ihr ganz leicht rauchiges, feingliedriges Timbre genau richtig. Auch für Claude Debussys „Trois Chansons de Bilitis“ bringt sie lyrische Clarté im Zentrum mit. „Le Tombeau de Naїades“ kleidet sie zu den charakteristischen, hell-unwirklichen Klängen des Klaviers in einen zurückhaltend bleichen, tonarmen Schimmer. Aber Schrekers und Mahlers groß angelegte, blühende Entwicklungen – mit herrlichen Pointen Zeilingers auf dem Flügel – kann sie klanglich nicht entfalten; da bleibt Selingers Mezzo begrenzt. Manchmal klingt auch die Höhe erzwungen, der Ton mit einer Spur zu viel gaumigem Klang.

So kann Michaela Selinger in Schumanns Zyklus vor allem in den verhaltenen, traurigen, ironischen, auch spukhaften Momenten überzeugen, während Visionäres oder sehnsuchtsvoll Kantables unerfüllt bleibt. Nochmals sei Clemens Zeilinger hervorgehoben: Er durchlebt Schumanns Gefühlskosmos mit einer Vielfalt von Farben und Nuancen, mit einer gestalterischen Souveränität, die den Zuhörer staunend und ergriffen zurücklässt. Freudiger Beifall im Foyer, in dem noch Stühle zugestellt werden mussten: So schlecht scheint es um das Liedpublikum nicht bestellt zu sein. Und man zeigte, dass man die Gattung und ihre jugendlich-sympathische Interpretin ins Herz geschlossen hat.




Eklat in der Philharmonie: Krystian Zimerman unterbricht Konzert wegen eines Handy-Filmers

Der Humor war abhandengekommen: Karol Szymanowskis Schlussfuge in seinen „Variationen h-Moll über ein polnisches Thema“ op.10 will nicht hymnisch-ernst, sondern mit Augenzwinkern gespielt werden. Aber Krystian Zimerman beschloss sein Konzert beim Klavier-Festival Ruhr mit verärgertem Furor.

Krystian Zimerman in der Essener Philharmonie. Foto: KFR/Wieler

Krystian Zimerman in der Essener Philharmonie. Foto: KFR/Wieler

Nach traumhaft gespielten Debussy-Préludes und der geistig einzigartig durchdrungenen fis-Moll-Sonate des jungen Johannes Brahms war es zum Eklat gekommen: Zu Beginn der Szymanowski-Variationen hatte Zimerman offenbar aus den Augenwinkeln registriert, dass ein Zuhörer auf der Empore mit einem Smartphone filmte. Er richtete den Blick lange und durchdringend nach oben und forderte dann: „Würden Sie bitte aufhören damit“. Der als sensibel und anspruchsvoll bekannte Weltklasse-Pianist spielte noch einige Takte, brach aber dann ab und verließ den Saal.

Im Publikum: Ratlosigkeit und Betroffenheit. Kaum jemand hatte den Handy-Filmer bemerkt. Nach etwa zwei Minuten kam Zimerman zurück und wandte sich direkt an das Publikum: Er entschuldigte sich für seine Nervosität und erklärte, keines der Videos auf YouTube mit ihm sei legal. Viele Plattenprojekte seien gescheitert, weil ihm die Produzenten sagten: „Entschuldigung, das ist schon auf YouTube“. Die Vernichtung von Musik durch den Clip-Kanal sei enorm, fügte er hinzu.

Zimerman spielte dann zwar weiter, aber Konzentration und Atmosphäre waren dahin. Szymanowskis Variationen über ein Thema aus der Musik der Góralen, die in der Hohen Tatra in Südpolen um den Wintersport- und Künstlerort Zakopane leben, modellierte Zimerman tadellos aus: von der entschiedenen Grandeur der Agitato-Bewegung über ein hinreißend fließendes „dolcissimo“ bis zu dem an Mussorgskys „Bydlo“ erinnernden riesigen Crescendo-Decrescendo-Bogen der „Marcia funebre“. Demonstrativ brandete der Beifall auf, doch Zimerman zögerte, sich noch einmal sehen zu lassen, kam dann zwar noch drei Mal auf das Podium, gab aber keine Zugabe mehr und sagte auch den Empfang nach dem Konzert ab.

Der Zwischenfall hat ein Konzert gestört, das in seinem ersten Teil zu den Höhepunkten des diesjährigen Klavier-Festivals gezählt werden kann: Mit Debussy zeigte Zimerman seine hochsensible Kunst der Balance, der Nuancen, des klaren, lockeren, wie von selbst perlenden Spiels. Der Zauber seiner leisen Töne ist unübertroffen: „Pagodes“ beginnt wie ein aus dem Nichts aufkeimendes Naturgeräusch; „La Soirée dans Grenade“ versetzt den Zuhörer im Geiste in einen spanischen Abend, in dem wie von ferne Rhythmen und Melodien herüberwehen.

Zimerman bindet in Brahms‘ fis-Moll-Sonate op. 2 die disparaten Sätze zusammen, in dem er die motivischen Verbindungen enthüllt. Er kennt die schwärmerischen Arpeggien des Beginns dieser Clara Schumann gewidmeten Sonate; er balanciert den noblen Ausdruck des zweiten Satzes mit feinsten Anschlagsnuancen aus. Und wenn Zimerman im Scherzo im Bass das bestimmende Motiv aus dem ersten Satz wiederentdeckt, nimmt er den Zuhörer mit auf seinem Weg ins Innere dieser Musik.

In sechs Nummern aus dem ersten Heft von Claude Debussys „Préludes“ lässt er dann hören, was die Kritik beim Erscheinen seiner legendären Referenz-Aufnahme (1994) zu Begeisterungsstürmen hingerissen hat: ein natürlich, fast spontan wirkender locker-heller Ton, bewusst betonter Rhythmus, geistesgegenwärtige Phrasierung, die sich nicht im verliebten Verharren im klanglichen Impressionismus gefällt. Die transzendenten Piano-Schattierungen in „Des pas sur la neige“ und die dunkel glühenden Akkorde in „La Cathédrale engloutie“ beweisen wieder einmal: Zimerman gehört zu den führenden Pianisten der heutigen Zeit; seiner Anschlagskunst können nur wenige Andere auf Augenhöhe begegnen.

Dass der Abend nun auf andere Weise als durch das glanzvolle Finale der Szymanowski-Variationen unvergesslich bleibt, macht traurig. Ob gedankenlos oder aus dreistem Vorsatz: Wer auch immer da illegal mitgeschnitten hat, hätte besser daran getan, das Kunst-Ereignis auf sich wirken zu lassen als krampfhaft zu versuchen, den schönen Augenblick medial zu bannen – und damit zu zerstören.




Dem „Meister“ entkommt man nicht: Klavierduo Tal/Groethuysen würdigt Wagner

Sympathie-Bonus für das Klavierduo! Yaara Tal und Andreas Groethuysen kamen zum Klavier-Festival mit einem Programm, das genau auf das Thema dieses Jubiläumsjahres abgestimmt war.

Yaara Tal und Andreas Groethuysen. Foto: Uwe Arens

Yaara Tal und Andreas Groethuysen. Foto: Uwe Arens

In der Philharmonie Essen kombinierten sie Wagner, übertragen auf zwei Klaviere, mit Debussy, durchleuchteten damit berühmte Ausschnitte aus Opern des „Meisters“, stellten ihm die ganz andere Musik Claude Debussys zur Seite. Der Franzose ist einer der Vielen, die sich vom Sog der Wagner’schen Musik freischwimmen mussten und doch dem Strudel nicht  ganz entkamen.

Die Transkriptionen für zwei Klaviere sind mehrfach erhellend: Da überrascht eine Bearbeitung von „Siegfrieds Tod“ und vom Finale der „Götterdämmerung“ von Alfred Pringsheim, einem Münchner Mathematikprofessor und flammendem Wagnerianer, mit einer Professionalität, die sich durchaus messen kann mit der Fassung des „Bacchanale“ aus dem „Tannhäuser“ aus der Hand des renommierten französischen Komponisten Paul Dukas.

Die Philharmonie Essen: Das Klavier-Festival Ruhr ist häufiger Gast. Foto; Werner Häußner

Die Philharmonie Essen: Das Klavier-Festival Ruhr ist häufiger Gast. Foto: Werner Häußner

Die Fäden, die sich zwischen Wagner und Debussy spinnen, werden nicht so sehr in dessen Arrangement der „Holländer“-Ouvertüre deutlich, sondern eher, wenn Tal und Groethuysen „Siegfrieds Tod“ mit „En blanc et noir“ konfrontieren. Dann ist zu hören, dass Debussy 1915 – mitten im Ersten Weltkrieg – den Luther-Choral von Gott als der festen Burg zitiert und das rhythmische Todespochen zu Beginn von Siegfrieds Trauermarsch wörtlich übernimmt. Schwarz und Weiß – Freund und Feind? Man darf spekulieren. Yaara Tal hat sich nicht damit begnügt, sondern das nicht eben häufig zu hörende Klavierstück in einer klugen Analyse als Reaktion auf den Krieg gedeutet: „Schwarz“ und „Weiß“ sind hier tatsächlich nicht nur die Klaviertasten, sondern die Gegner im Kampf.

Das „Prélude à l’après-midi d’un faune“ schließt sich der musikalisch-erotischen Gischt des „Tannhäuser“ reibungslos an: Die lastend-laszive Atmosphäre wirkt wie eine Antwort auf die erschöpfte Beruhigung am Ende von Wagners Bacchanale. Tal und Groethuysen lassen spüren, wie selbstverständlich sie sich nach mehr als 25 Jahren gemeinsamen Spiels in minimalsten Nuancen verständigen können. Sie zeigen aber auch, wie skelettiert Wagners Kompositionen wirken, nimmt man ihnen die Magie des Orchesterklangs. Im süßen Pianissimo von Isoldes Liebestod aus der bearbeitenden Feder Max Regers erstirbt ein Konzert, das Freude gemacht hat: ein intelligentes Programm, zwei überzeugende Solisten.

(Der Bericht erschien in ähnlicher Form in der WAZ Essen)

 

Zum Nachhören: CDs mit Yaara Tal und Andreas Groethuysen:

Richard Wagner, Piano Transcriptions for four hands, Sony (1997)

Götterdämmerung, Transkriptionen von Wagners berühmtesten Opern für zwei Pianisten, Sony (2013), Preis der deutschen Schallplattenkritik




Der Stoff des Verderbens: „Gas“ bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen

"Aufbruch und Utopie" - das Motto der Ruhrfestspiele Recklinghausen 2013. Foto: Werner Häußner

„Aufbruch und Utopie“ – das Motto der Ruhrfestspiele Recklinghausen 2013. Foto: Werner Häußner

„Gas“! Der Titel hatte am Ende des Ersten Weltkriegs eine alarmierende Brisanz. In den Endkämpfen an festgefahrenen Fronten wurde zum ersten Mal Giftgas eingesetzt. Die europäische Zivilisation stand fassungslos vor den dämonischen Ergebnissen einer Entwicklung, die – wie wir heute erfassen – das Ende des alten Europa bedeutete. Georg Kaiser, der produktive Dramatiker seiner Epoche, hat seinem Sinnspiel um Macht und Vernichtung, Utopie und Humanität, Krieg und Klassenkampf diesen Titel gegeben.

Gas ist in den zwei Teilen dieses Endzeitstücks mehr als ein Energieträger, als ein Schmierstoff für die gesamte technische Zivilisation. Es ist der universale Stoff, der das Verderben begleitet. Das „Gas“ Georg Kaisers hat einen metaphysischen Geruch.

Aus der Rückschau von fast einhundert Jahren bewundert man, wie Kaiser mit damals aktuellen Ideen umgegangen ist, aber auch, mit welchem Instinkt er die Ursachen der Katastrophe analysierte, die in seinem Drama geschieht. Da fliegt eine Fabrik in die Luft – ein Sinnbild für Untergang überhaupt.

Vor der drohenden und nach der eingetretenen Katastrophe lässt Kaiser seine Figuren agieren und argumentieren: den Milliardärssohn mit seinen ideal-sozialen Ideen von der Beteiligung der Arbeiter und dem Verzicht auf Eigentum (Andrej Kaminski); den Ingenieur, der vergeblich vor den Gefahren der sich unheimlich verselbständigenden Technik warnt (Jan Andreesen); den Offizier (Jonas Riemer) als Repräsentant einer Kaste, die nur noch steril die Verhältnisse stabilisiert. Dazu die gesichtslosen schwarzen Vertreter des Kapitals. Und die Tochter des Milliardärssohns (Joanna Kitzl), die den großen, den neuen Menschen gebären will: Nietzsche lässt grüßen, eingehüllt in den sozialen Humanismus Georg Kaisers.

Jan Andreesen (Ingenieur) und Andrej Kaminski (Milliardärssohn) in Kaisers "Gas". Foto: Reiner Kruse

Jan Andreesen (Ingenieur) und Andrej Kaminski (Milliardärssohn) in Kaisers „Gas“. Foto: Reiner Kruse

Im zweiten Teil kann man „Gas“ fast visionäre Qualitäten zuschreiben: Der Krieg eint die von „oben“ und die von „unten“ im pragmatischen Ziel, den Staat zu erhalten, das Gas als Treibstoff der Gesellschaft zu produzieren. Der Großingenieur wird zum Führer der Massen in eine neue Zeit: Triumph der morallosen Technokraten, Sieg der scheinbaren Rationalität der Prozesse, die in den Untergang führen, besiegelt durch die neueste Erfindung: Giftgas.

Hansgünther Heyme, Regie-Altmeister und von 1990 bis 2003 Künstlerischer Leiter der Ruhrfestspiele, ist mit seiner Inszenierung von Kaisers „Gas“ – eine Koproduktion mit dem Staatstheater Karlsruhe – nach Recklinghausen zurückgekehrt. Er hat noch bei Erwin Piscator gelernt, kennt also Zeitzeugen der Epoche Kaisers.

Heyme zeigt sich sensibel gegenüber der Sprache: knapp, manchmal stenografisch, dann wieder mit Pathos erfüllt; knallhart konkret, dann wieder enthoben, sinnbildhaft. Keine leichte Kost, doch den Schauspielern gelingt es, den anachronistischen Duktus der Sätze und Satzfetzen, der Stichworte und Ausrufe ins Heute zu transferieren. Im Zeitalter des Fäkal- und Fernsehsprechs bedeutet dies eine Herausforderung, die auch den einen oder anderen im Publikum ratlos macht.

Nähe zum Sinnspiel und zum Gleichnis

Heyme nähert sich in seinem Stil nicht so sehr dem holzschnittartigen Expressionismus mit seinen kantigen Verkürzungen. Er rückt „Gas“ in die Nähe des Sinnspiels, fast des Symboltheaters – eine Art zu spielen, die heute aus der Zeit gefallen anmutet, aber gerade deshalb ihren Reiz hat: nostalgische Erinnerung und anregender Kontrast zugleich. Das Gleichnishafte des Stücks betont die Regie, wenn sie sein formale Gerüst, seinen symmetrischen Aufbau beachtet, etwa die miteinander korrespondierenden Bilder mit den posierenden Arbeitern im Zentrum der beiden Teile: Sie sprechen für den reduzierten Menschen, beschränkt auf einen produktiven Aspekt seines Daseins.

Sebastian Hannak hat in das kleine Theater im Festspielhaus eine geborstene Halle gebaut, mit auslaufenden Stahl-Galerien, die sich wie die Arme eines „U“ zum Zuschauerraum hin ausstrecken. Dort klinken sich die Akteure mit Sicherheitshaken in Führungsschienen ein, als drohten sie, jederzeit abzustürzen. Gerhard Meier leuchtet dieses Szenario mit expressiven Wirkungen aus; Saskia Bladts Musik operiert oft an der Grenze zum Geräuschhaften, nimmt sich zurück, bis sie kaum mehr hörbar ist, schleicht sich so – etwa in Gestalt eines Klarinettisten – in die Szene ein und wirkt gespenstisch, verstörend, unwirklich.

Das eigentlich Beklemmende an Kaisers „Gas“ ist, dass dieses Schauspiel aus der Hoch-Zeit der Industrialisierung bis heute seine Brisanz nicht verloren hat: Reduktion des Menschen und der Gesellschaft auf die technisch-ökonomisch-politischen Aspekte, Entfremdung und Selbstverlust, die geistige Selbstverstümmelung des Menschen und die Ohnmacht der humanen Utopien sind geblieben. Die „Menschen in Einheit und Fülle … entlassen aus Fron und Gewinn“ lassen weiter auf sich warten.

Aktuelle Welt- und Zeitbeschreibungen

Mit seinem ambitionierten Programm zeigt Festspiel-Intendant Frank Hoffmann, wie die Impulse aus der gärend-spannenden Zeit zwischen dem aufstrebenden deutschen Kaiserreich und dem Absaufen der Republik in der braunen Flut bis heute aktuelle Welt- und Zeitbeschreibungen bleiben. Das gilt für’s große Schauspiel – von Ibsens „Hedda Gabler“ bis Hauptmanns „Rose Bernd“, von Horváths „Geschichten aus dem Wienerwald“ bis zu Falladas Verzweiflungsrevue „Kleiner Mann, was nun“, die in der Regie von Michael Thalheimer ab 12. Juni die Serie abschließt.

Das "EntertainTent". Foto: Ruhrfestspiele

Das „EntertainTent“. Foto: Ruhrfestspiele

Das gilt aber auch für die anderen Spielstätten: Dass eine Kunstgattung wie das Kabarett, dessen Blüte mit dem Ende der Zensur 1919 begann, im Programm ansprechend gewichtet wurde, gibt den Festspielen eine passende Würze und spannt den unmittelbaren Draht zum Heute. Und auch Aspekte der Unterhaltungskultur, die für den Zeitgeist seit jeher geschärfte Sensibilität mitbringt, finden sich im erstmals eingerichteten „EntertainTent“: Schön wäre gewesen, wenn die zwischen bissiger Ironie, heiterer Resignation und zynischer Harmlosigkeit changierenden Chansons, Songs und Schlager jener Zeit zu Wort und Ton gekommen wären: Das Panorama dieser spannenden Zeit wäre noch kompletter beleuchtet worden.

Informationen und Spielplan: www.ruhrfestspiele.de




Die Liebe, ein sehnsüchtiger Wunsch: Das Hamburg Ballett unter John Neumeier in Essen

Logo: Hamburg Ballett

Logo: Hamburg Ballett

Das Licht verlischt, der Horizont glüht blassblau auf. Christoph Eschenbachs Charakterkopf und der Flügel zeichnen sich scharf konturiert vor dem Hintergrund ab – wie ein Scherenschnitt des 19. Jahrhunderts. Eine Tänzerin tritt an den Flügel, ihr Kostüm ist einfach; reines Weiß.

Eschenbach beginnt zu spielen, leicht und verträumt. Schumanns „Kinderszenen“ eröffnen das Gastspiel des Hamburg Balletts in der Essener Philharmonie. Es sind stille, in sich versunkene Momente; die Tänzer bilden in fließenden Abläufen poetische Bewegungs-Bilder.

John Neumeier. Foto: Steven Haberland

John Neumeier. Foto: Steven Haberland

Eschenbachs Schumann-Interpretation, die er auch bei der Premiere des Balletts 1974 spielte, war ein Grund für die Entstehung der Choreografie, bekennt John Neumeier in seinen Lebenserinnerungen. Der Mann ist jetzt schon eine Legende: dienstältester Ballettdirektor der Welt, über 140 eigene Choreografien. Seit 1973 prägt Neumeier das Hamburg Ballett. Im September 2013 feiert die Compagnie die 40-jährige Zusammenarbeit mit dem Amerikaner, der ihr ein unverwechselbares Profil gegeben hat.

Eine Uraufführung für Essen

Pünktlich zum Jubiläum hat es die Philharmonie Essen geschafft, Neumeiers Truppe zu einem Gastspiel an die Ruhr zu bringen. Es gab auch ein Geburtstagsgeschenk: Damit ist nicht die Torte gemeint, die Intendant Johannes Bultmann am Ende der gefeierten Gala aufs Podium bringen ließ. Sondern eine Uraufführung: John Neumeier schuf unter dem Titel „Um Mitternacht“ eine neue Arbeit zu den Rückert-Liedern von Gustav Mahler, die er 1976 schon einmal choreografiert hatte. Vom „In Residence“-Künstler Christoph Eschenbach mit feinsten Nuancen begleitet, sang Matthias Goerne die ergreifend resignativen Klagen Mahlers mit seinem dumpfen, gurgelnden Timbre, prekärer Wortverständlichkeit und unklarer Vokalisierung – stets ein neues Rätsel, warum dieser Bariton zu den führenden Liedsängern zählen soll.

Edvin Revazov. Foto: Holger Badekow

Edvin Revazov. Foto: Holger Badekow

Neumeier deutet tragisches Scheitern von Liebessehnsucht, Beziehungsnot und Einsamkeit eher an, als sie allzu erzählend auszubreiten. Wenn am Ende der grandiose Solist Edvin Revazov sein Gesicht in die Hände einer der Welt enthobenen Frau in grüner Gaze legt, sich die Farbe des Kleides als Licht über die Szene legt, wird die Entrückung greifbar. In der „realen“ Welt triumphiert derweil die Kälte: Anna Laudere sitzt trotzig mit unbeteiligt gelangweiltem Blick da; Revazov legt seinen Kopf auf ihre Knie: „Liebe um Liebe“, wie sie das Lied „Liebst du um Schönheit“ erträumt, bleibt eine Vision.

Eschenbach folgt am Flügel Mahlers Anweisung, die Tempi „äußerst langsam“ zu nehmen. Dass die Spannung hält, ist seiner Kunst zu verdanken, die Töne zusammenzubinden. Die Tänzerinnen und Tänzer des Hamburg Balletts beherrschen die konzentrierte Bewegung so virtuos, dass sie auch in der rubatoverliebten Metrik stets mit Eschenbach zusammen auf einen Punkt kommen.

Souveräne Bewegungs-Kontrolle

Auch in den anderen Choreografien des Abends, frühe Arbeiten Neumeiers aus den siebziger Jahren, weckt die souveräne Kontrolle fließender Abläufe Bewunderung. Neumeier fordert kaum einmal Tempo. Er lässt die Paare sensible, fast schon skulpturenähnliche Figuren bilden: präzise Abstimmung und dosierte Kraft sind bewundernswert. Beispielhaft sei der Solist Alexandre Riabko genannt: In „Vaslaw“ von 1979, einer Hommage an den Tänzer und Künstler Vaslaw Nijinski mit Musik Johann Sebastian Bachs, bildet er mit unglaublicher Körperspannung den ruhenden Gegensatz zu den ausgezirkelten Figuren der Paare und der Solistin Patricia Tichy.

Mitgebracht hatte Neumeier auch das von ihm 2011 gegründete und betreute Bundesjugendballett. Begleitet von dem beherzt zugreifenden jungen Pianisten Christopher Park tanzten drei Paare Strawinskys „Petruschka-Variationen“ (1976) mit Lust an der rhythmischen Mechanik und kraftvoller Geschmeidigkeit.

Der Abend unter dem Titel „Nirgends … wird Welt sein als innen“ ist noch einmal zu sehen: am Samstag, 22. Juni, in Hamburg.

(Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst in der WAZ erschienen).




Tiefe Gefühle, brisante Konflikte: Puccinis „La Fanciulla del West“ an der Oper Frankfurt

Christof Loy bezieht mit seiner Inszenierung von Giacomo Puccinis „La Fanciulla del West“ an der Oper Frankfurt klar Position: „Ich finde es … falsch, das Stück zu aktualisieren“, zitiert ihn das Programmheft. Falsch, weil die Naivität der Menschen auf der Bühne verloren gehen würde. Verzicht auf Aktualisierung freilich heißt für ihn nicht Verzicht auf Stilisierung: Herbert Murauer baut keine Hollywood-Wildwest-Kulisse. Sein Raum ist der von Loy so geliebten Kasten, diesmal eng, niedrig, flach wie ein Bretterverschlag.

Eva-Maria Westbroek ist die Minnie in der Frankfurter Inszenierung von Puccinis "La Fanciulla del West". Foto: Monika Rittershaus

Eva-Maria Westbroek ist die Minnie in der Frankfurter Inszenierung von Puccinis „La Fanciulla del West“. Foto: Monika Rittershaus

Nach draußen führt immer nur ein kleines, bedeutungsvolles Fenster. Es lässt einen blendend hellen Schein in den Raum – und in diesem Licht träumt Minnie, die Protagonistin: Von einem Aufbruch ins Irgendwo? Vom Glanz einer wahren Liebe? Vom inneren Licht der schmerzlich vermissten Bildung? Den Aufbruch wird sie am Ende wagen – hinein in ein goldenes Leuchten (Licht: Bernd Purkrabek), das sich auf den Gesichtern der Goldgräber im Frankfurter Opern-Kalifornien widerspiegelt.

Loy erzählt in dieser Übernahme von der Königlichen Oper Stockholm – ursprünglich sollte Richard Jones diesen Puccini inszenieren – nicht einen saftig-spannenden Western. Nur der Schwarz-Weiß-Filmvorspann spielt an auf die goldene Zeit der amerikanischen Filmindustrie, bedient den Primadonnen-Mythos, der ja auch in der Oper eine Rolle spielt, evoziert die Parallele zum Film, wenn handelnde Personen in Schwarz-Weiß auf die Bühnenwand projiziert werden.

Immer wieder überhöht Loy die vermeintlich realistischen Elemente der Erzählung und der Bühne: Nicht nur das Fenster ist mit seinem unwirklichen Lichteinfall eher eine Chiffre. Wenn Murauer zwischen Minnies Garderobe und die Bar „Polka“ eine Mauer zieht, und wenn der rasend verliebte Sheriff Jack Rance an dieser Wand steht und spürt, er werde sie nie überwinden, wächst der Raum über sich selbst hinaus, wird zum Gleichnisort tiefer Gefühle und brisanter Konflikte.

Western-Helden und Film-Primadonnen: Christof Loy zitiert die Mythen, die hinter Puccinis "Fanciulla del West" stehen. Foto: Monika Rittershaus

Western-Helden und Film-Primadonnen: Christof Loy zitiert die Mythen, die hinter Puccinis „Fanciulla del West“ stehen. Foto: Monika Rittershaus

Dennoch erzählt Loy vor allem: Er erzählt eine Geschichte von Melancholie, Heimweh, Einsamkeit; von Empathie und der Last der Herkunft, von Schicksal, Gemeinheit und Edelmut. Manchmal wirkt das etwas zu filmisch, macht es dem Zuschauer leicht, sich in der Rolle des genießenden Betrachters zurückzulehnen. Tilman Knabe hat das Konfliktpotenzial und die Tragödie in seiner Mannheimer Inszenierung radikaler zugespitzt: Knabe verlegt die Handlung in eine verlorene, heruntergekommene Militärstation an der Grenze zu Mexiko, brutalisiert die Konflikte zwischen den Goldgräbern, zeichnet Dick Johnson nicht als den edlen Tenor-Ganoven, sondern changierend zwischen Kriminellem und Widerstandskämpfer.

Scharf beleuchtet Knabe den Agenten des Konzerns Wells Fargo, Mr. Ashby, als Drahtzieher im Hintergrund, dessen Rolle die naiven Goldgräber nicht durchschauen, bis das Militär aufmarschiert – eine Lesart, die jene ausbeuterischen Zustände kritisiert, welche die historische Folie des sonst so malerisch empfundenen Western-Milieus sind. In Frankfurt ist Alfred Reiter ein geschniegelter, aber sonst eher harmloser Vertreter – was aber auch daran liegen könnte, dass die nachstudierte Übernahme aus Stockholm manches Profil nicht so scharf wie ursprünglich gedacht umrissen hat.

In seiner „Fanciulla“ – der ersten Inszenierung der Puccini-Oper in Frankfurt seit 1958 – gleicht Loy die zurückhaltende konzeptionelle Zuspitzung aus, weil er seine Protagonisten virtuos und sensibel führt. Das gilt nicht nur für die resolute, warmherzige Minnie der Eva-Maria Westbroek mit ihrer unbestimmten Lebenssehnsucht und ihrer tiefen Menschlichkeit, die man ganz altmodisch als Nächstenliebe bezeichnen möchte. Es gilt auch für den Sheriff Jack Rance, den abgebrühten Spieler, der unter seiner abgewiesenen Liebe zu Minnie wie ein Hund leidet, aber auch berechnend, zuschnappend wie ein scharfer Jäger, sein kann.

Carlo Ventre als Dick Johnson ist letztendlich doch eher Tenor als Darsteller – und nicht einmal ein besonders glanzvoller: Sein Timbre ist stets von einem heiser-verbrauchten Beiklang begleitet, seine Kraft ist eindimensional und führt nicht zu einem weit projizierten Stimmklang. Auch Ashley Hollands Bassbariton ist für den Sheriff nicht so optimal im Körper verankert, dass er seinen Ton resonanzreich gestalten könnte – so kommt sein psychologisch bewusstes, klug gestaltendes Singen leider immer wieder an physische Grenzen.

Im Licht der Sehnsucht: Eva-Maria Westbroek (Minnie) und Carlo Ventre (Dick Johnson). Foto Monika Rittershaus (3)

Im Licht der Sehnsucht: Eva-Maria Westbroek (Minnie) und Carlo Ventre (Dick Johnson). Foto Monika Rittershaus

Und Eva-Maria Westbroek, die oft gefeierte Dramatische, die Sieglinde des Frankfurter „Rings“, schafft es nicht, die Höhe in die Linie einzubinden, muss vor allem forcieren, wenn sie aus der Mittellage ins hohe Register aufsteigt. Dann wird der Ton gequält und prekär. Ihre warme, volle Mittellage dagegen überzeugt, steht ihr in allen gestalterischen Facetten zu Gebot und führt dazu, dass der zweite Akt – in dem das Keimen der Liebe zu Dick Johnson und die entsetzliche Enttäuschung fesselnd entwickelt ist – ein atemberaubender Höhepunkt der Frankfurter „Fanciulla“ wird.

Auch als Puccini-Dirigent gefeiert: Sebastian Weigle. Foto: Monika Rittershaus

Auch als Puccini-Dirigent gefeiert: Sebastian Weigle. Foto: Monika Rittershaus

Der Regisseur hat auch ein Auge auf die zahlreichen Nebenrollen und die Individuen des Chores, den Matthias Köhler musikalisch sicher präpariert hat. Dass Loy Elisabeth Hornungs Wowkle – die indianische Bedienstete Minnies – allerdings zur komischen Figur macht, will nicht mehr einleuchten, wenn man in Mannheim Tilman Knabes an dieser Figur entwickelte Studie über den Rassismus der weißen Frau gesehen hat.

Rundweg begeisternd agiert in Frankfurt wieder einmal das Orchester. Nun hat stellvertretender GMD Alois Seidlmeier in Mannheim seinen Job wirklich ausgezeichnet gemacht, aber die Vielfalt der Farben, die dynamische Finesse, den impressionistischen Klangschmelz, aber auch die Prägnanz rhythmischer und repetitiver Motive, die schon an Janáçek denken lassen, hat das Mannheimer Orchester nicht so bezwingend umgesetzt wie seine Frankfurter Kollegen unter Sebastian Weigle. Modern und klangsinnlich zugleich, emotional und strukturiert: Weigles Blick auf Puccini überwindet alle Vorurteile; lässt hören, wie der Komponist die Traditionen des Belcanto und der Spätromantik transformiert in seine unverwechselbare Klangsprache, die mehr als nur eine ferne Ahnung von den Aufbrüchen der Moderne in sich integriert. Auch deshalb darf man der Frankfurter Oper wieder einmal für einen spannenden, erfüllten Abend dankbar sein.




Festspiel-Passagen I: Heilloses Spiel um Macht und Liebe bei den Göttinger Händel-Festspielen

Gefangen: Yosemeh Adjei als Siroe. Foto: Theodoro da Silva

Gefangen: Yosemeh Adjei als Siroe. Foto: Theodoro da Silva

Irgendwann reicht es: Im dritten Akt klagt Siroe, eingekerkerter Sohn des Königs von Persien, die Götter an. Ungerecht sind sie: Der Redliche wird unterdrückt, der Verräter erhöht. Und Siroe schließt sein verzweifeltes Arioso mit der niederschmetternden Bilanz: Wenn Astraia – die Göttin der Gerechtigkeit – die menschlichen Verdienste auf diese Weise abwägt, dann regiert der Zufall, und Unschuld ist schlecht.

In Georg Friedrich Händels Oper „Siroe, Re di Persia“, bringt der Librettist Metastasio die Titelfigur in eine Lage, die dem Dulder Hiob oder dem Gerechten biblischer Klagelieder entspricht. Alles ist schief gegangen: Sein Vater Cosroe hat den intriganten und speichelleckenden zweiten Sohn Medarse seinem Erstgeborenen vorgezogen. Eine Kette unglücklicher Zufälle hat Siroe ins Licht eines Verräters und Attentäters gerückt. Er wird verfolgt von der heftigen Liebe einer Frau, die ihm gleichgültig ist. Und seine wirkliche Geliebte Emira trachtet seinem Vater nach dem Leben – aus Rache. Denn Cosroe hat einst Emiras Vater nach einem Feldzug grausam abgeschlachtet. Heillose Zustände.

Dass am Ende alles gut ausgeht, ist der Opernkonvention geschuldet, und der Botschaft, die dem Publikum vermittelt werden soll: Die Herrscher werden gewarnt, sich in ihrer machtumflorten Einsamkeit vor Intrigen zu hüten, die Stimme der Natur zu missachten. Die Standhaften und Tugendhaften tragen am Ende den Sieg davon. Mit Beständigkeit erringe man die Liebe, singt Emira am Ende, nachdem das Beispiel des großmütigen Siroe sie bewegt hat, ihren Hass zu begraben.

Doch derlei heroische Worte bemänteln nur, dass es in dieser Welt nur darum geht, die eigenen Interessen um jeden Preis durchzusetzen, sei es aus Verblendung (Cosroe), aus unlöschbarer Leidenschaft (Laodice), aus Machtgier (Medarse), Auch die „positiven“ Figuren haben ihre dunklen Flecken: Emira etwa, die sich als Mann tarnt, bei Hof einschleicht, heuchlerisch das Vertrauen des alten Königs gewinnt, um ihn im richtigen Moment zu ermorden. Und selbst Siroe ist keine Lichtgestalt: Auch er benutzt die Frauen im Schachspiel der Macht.

Göttingen atmet Festspiel-Atmosphäre. Foto: Werner Häußner

Göttingen atmet Festspiel-Atmosphäre. Foto: Werner Häußner

Bei den Händel-Festspielen in Göttingen hat Immo Karaman die heillosen Konstellationen in ein grandios durchleuchtetes Kammerspiel gefasst. Der Regisseur lässt über dreieinhalb Stunden lang kein Loch in der Spannung entstehen. Er hat weder zu den Mätzchen des Regietheaters gegriffen noch sich auf ein dekoratives Morgenland eingelassen, wie die Geschichte aus der persischen Frühzeit und der „Orient“ als diesjähriges Thema der Festspiele nahelegen könnten.

Bei ihm spielt das Drama in einer ungefähren Jetztzeit, wie die Kostüme von Okarina Peter signalisieren. Timo Dentlers aufgerissene Villa auf der Bühne ist eine Chiffre für den ruinösen und verkommenen Rahmen der Gesellschaft: Die einst noblen Räume, die sich um ein englisch anmutendes Treppenhaus gruppieren, sind alle offen, doch der Bau auf einem drehbaren Podest ist eine geschlossene Welt, aus der es kein Entkommen gibt.

Der 1972 in Gelsenkirchen geborene Karaman ist ein sensibler und aufmerksamer Menschengestalter. Das hat sich in seinen bisherigen Regiearbeiten immer wieder gezeigt: in seinen tiefschichtigen Britten-Opern an der Deutschen Oper am Rhein („Peter Grimes“, „Billy Budd“), im gespenstischen Realismus von „The Turn of the Screw“ in Leipzig und Düsseldorf, in „La Traviata“ in Dortmund, seiner Gelsenkirchener „Carmen“ oder seiner Wiesbadener „Aida“. Händels lange Oper, mit ausgedehnten Rezitativen und 25 Arien dramaturgisch belastet, lässt er nie im Leerlauf kreisen, füllt die Zeit aber auch nicht mit gezwungenem Handlungs-Beiwerk, das bei vielen Regisseuren bedeutungsschwer daherkommt, um dann doch im Dekor zu enden.

Karaman lässt seine Sänger die Räume besetzen, individuelle Bühnenpräsenz entwickeln. Er gibt ihnen Gänge und Gesten, die sparsam, aber bedeutungsvoll sind, stilisiert wie symbolische Choreografien. Und die aus den Charakteren entwickelt statt ihnen aufgesetzt sind. Die – oft allegorischen – Arien sind bei ihm Momente der zeitenthobenen Reflexion, die rasend schnell in den Köpfen der Menschen abläuft, während sich ihre Umgebung in Zeitlupe weiterbewegt. Zwischen den Gegnern und den Liebenden, den Heuchlern und den Freunden spitzt Karaman durch eine minutiöse Personenführung die Situationen so zu, dass der Zuschauer den Atem anhält. Minimal-Regie mit maximalem Ausdruck!

Die Sänger stellen sich auf dieses Konzept hochprofessionell ein, lassen ihre schauspielerischen Qualitäten herauslocken. Dass sie stimmlich ihren Partien, die für die berühmtesten italienischen Sänger der 1720er-Jahre geschrieben sind, bravourös gewachsen sind, ist ein Plus der Aufführung und hebt sie über so manche Göttinger Festspiel-Aufführung der letzten Jahre hinaus. Dabei werden weniger die virtuosen Kapazitäten der Stimmen gefragt. Nur Aleksandra Zamojska als Laodice darf die „geläufige Gurgel“ demonstrieren. Sonst kommt es eher auf emotionale Wahrheit, vielschichtige Expression, dynamische und klangliche Färbung und die vokale Darstellung des inneren Entwicklungsprozesses der Personen an: Fertigkeiten, die wohl schon im 18. Jahrhundert von einem Weltklasse-Sänger erwartet wurden – über perfekte Rouladen, Intervallsprünge und Spitzentöne hinaus.

So gestaltet Lisandro Abadie mit viel Fortune eine der ergreifenden Vätergestalten der opera seria: Sein Cosroe hat Lear’sche Dimensionen, entwickelt sich vom selbstbewusst energischen Vater-Herrscher zum gebrochen schlurfenden Greis, der nur noch mit Tabletten überleben kann. Abadie beglaubigt die Wandlung auch stimmlich mit seinem präsent geführten Bass. Auch Yosemeh Adjei muss eine Entwicklung durchlaufen, die er stimmlich überzeugend darstellt. Der athletisch gebaute Counter drückt mit seiner Körpersprache aus, wie der Titelheld Siroe abstürzt: vom trainierenden Beau am Boxsack zum geschundenen Gefangenen im Verlies unter der Treppe an einen schweren Heizkörper angekettet.

Ein Neurotiker der Macht: Antonio Giovannini als Medarse. Foto: Theodoro da Silva

Ein Neurotiker der Macht: Antonio Giovannini als Medarse. Foto: Theodoro da Silva

Sein Widerpart Medarse ist bei Antonio Giovannini ein verschlagener Neurotiker, der ewige Zweite, der seine Chance wittert. Seine schlanke, bewegliche Stimme mit einem angenehmen, zwischen Sopran und Altus schwebenden Timbre, klingt unforciert und ausgeglichen. Mit solchen Vorzügen ist auch Anna Dennis als Emira ausgezeichnet: die glänzende Artikulation und ihr locker fokussierter Sopran mit einer reichen Farbpalette machen sie zur Ersten unter Gleichen im Ensemble.

Arasse, die personifizierte Treue des Mannes in der zweiten Reihe hinter den Herrschenden, wird von Ross Ramgobin mit tragendem Bass gesungen. Dass ihm – im finalen Spiel um die Krone – noch eine andere Rolle als (lachender?) Dritter zwischen den rivalisierenden Söhnen zuwachsen könnte, deutet Karaman an. „Very British“ durchzieht der Regisseur dieses Finale mit feiner Ironie: Karaman lässt ein Hausmädchen Tee und Torte servieren. Bettina Fritsche füllt die stumme Tänzerinnen-Rolle – laut Programmheft „das Volk“ – mit unaufdringlicher Bravour, schon als sie während der Ouvertüre vor dem Spiegel ihr Aussehen prüft. Am Ende sitzt sie mit einer Tasse Tee auf der Treppe, unbeeindruckt von den Konflikten der Mächtigen, die – wie die Schatten hinter einer Glastüre andeuten – mit dem versöhnlichen Schlusschor wohl nicht abgeschlossen sind.

Die Bühne Timo Dentlers: aufgerissen und ausweglos zugleich. Foto: Theodoro da Silva

Die Bühne Timo Dentlers: aufgerissen und ausweglos zugleich. Foto: Theodoro da Silva

Dass sich der lange Abend nicht erschöpfte, war nicht zuletzt Verdienst des Festspielorchesters Göttingen. Händel hat sparsam instrumentiert, bis auf Oboen und Fagotte keine Bläser vorgesehen. Umso verdienstvoller ist, wie Laurence Cummings mit seinen sorgfältig artikulierenden und dynamisierenden Musikern die Stimmungslagen der Musik realisiert: vom Pathos zur Zärtlichkeit, von tiefster Depression bis zum hoffärtigen Höhenflug von Zorn, Wut, Triumphgefühl. Die schroffen Akzente und heftigen Pointen mit dem Bogen gelingen den Streichern meist ohne die ruppigen Unarten „historisch informierter“ Wiedergabe. Dass mancher Bogen flach gehalten wurde, Crescendi dünn blieben, gehaltene Akkorde mehr Substanz vertrügen, ist diskussionswürdig.

„Siroe“, ein selten aufgeführtes Werk Händels, hat sich musikalisch wie szenisch in Göttingen als ein packendes Stück Musiktheater erwiesen; trotz der Länge und einer für heutige Zuschauer sperrigen Dramaturgie emotional bewegend und glaubwürdig. Die Festspiele sind ihrem Sinn gerecht geworden: Sie haben uns Händel nahe gebracht.




Treffsichere Musikalität: Joseph Moog debütiert beim Klavier-Festival Ruhr in Moers

Als ich Joseph Moog zum ersten Mal hörte – er spielte als 17jähriger Franz Liszts „Totentanz“ – fiel mir die treffsichere Musikalität auf, die sich mit ausgereifter Technik verband. Das war 2005 in Würzburg. Inzwischen ist Moog 25 Jahre alt, konzertiert auf wichtigen Podien, hat einige von der Presse gerühmte CDs aufgenommen – und jetzt sein fälliges Debüt beim Klavier-Festival Ruhr gegeben. Und zwar mit einem Programm, das dem Verdi-Wagner-Schwerpunkt dieses Jahres Genüge tut, aber auch von der Lust an Ausgrabungen und entlegenem Repertoire zeugt.

Das Martinstift in Moers - ein intimer Raum. Foto: Werner Häußner

Das Martinstift in Moers – ein intimer Raum. Foto: Werner Häußner

Wobei die Frage zu stellen ist, ob ausgerechnet der intime Saal des Martinstifts in Moers ein geeigneter Ort gewesen ist. Dort steht ein für den Raum sowieso zu groß dimensionierter Steinway D. Bei der gebotenen Klangdramaturgie in den virtuosen Konzertparaphrasen kommt die Akustik schnell an ihre Grenzen. Bei aller Liebe zu der von vielen Pianisten bevorzugten Flügelfabrik: Mir wäre an dieser Stelle für dieses Programm ein Broadwood oder Erard willkommener gewesen.

Joseph Moog tat sein Bestes, um etwa Carl Tausigs hochvirtuose Bearbeitung des Walkürenritts so zu zügeln, dass er im klassizistischen Ambiente vor geschätzt 300 Zuhörern noch erträglich blieb. Das war nur bedingt erfolgreich. Die „Tristan“-Paraphrase von Moritz Moszkowski fordert die fiebrigen Steigerungen des Originals, will die Erlösung des Akkords aus drängendem Vorhalt und harmonischem „Irrweg“ mit großer Geste feiern. Aber statt Wagners Rausch spricht der Raum, bildet den Hall zu direkt ab, lässt nicht zu, dass sich Moog in die Ekstase freispielt, ohne die dieses Stück ziemlich flach gehalten wirkt.

Bei Haydn und Chopin, mit Grenzen auch in Debussys „Images oubliées“ hört man, was in diesem Saal sinnigerweise zu spielen wäre. In Haydns D-Dur-Sonate Nr. 24 lassen sich die Farbwechsel, mit denen der Pianist gliedert, wunderbar verfolgen. Haydns stets geistvolles Spiel mit der musikalischen Idee geht dem Hörer klar ins Ohr. Der flotte, trocken-entschiedene Ton Moogs liegt richtig, meidet papiernes Stochern wie weichen romantischen Anflug. Nur im näher an ein Andante gerücktes Adagio erlaubt er sich, empfindungsvoll zu färben. Warum Moog allerdings Arabesken und Verzierungen beschleunigt, ist nicht nachvollziehbar.

Auch Mozarts d-Moll-Fantasie KV 397 passt in den Architekturrahmen. In den Beleuchtungswechseln, in den Temponuancen spürt man, dass Moog gedankenvoll und konzeptuell bewusst an das Werk herangeht, das so typisch nach „einfachem“ Mozart klingt, aber höchst subtile Anforderungen stellt.

Joseph Moog. Foto: Paul Marc Mitchell

Joseph Moog. Foto: Paul Marc Mitchell

Es offenbart jedoch ein Problem, das der junge Pianist auch in den Opern-Paraphrasen noch nicht ganz bewältigt hat: Moog „atmet“ nicht mit dem Metrum, gibt dem Puls der Musik zu wenig Richtung. Das führt in der „Rigoletto“-Bearbeitung von Franz Liszt zu einem seltsamen Hang zum Statischen: Moog schlägt die kantigen Bässe mit Bravour an, zeigt in gleißenden Passagen und in Silbervorhängen, gewebt aus schäumender Notengischt, wie brillant er solche Herausforderungen meistert. Aber er phrasiert nicht sanglich-gelassen genug: „Bella figlia dell‘ amore“, dieses unvergleichliche Quartett aus dem letzten Akt des „Rigoletto“, strebt nach dem vokalen Kulminationspunkt, den Moog in der raffinierten, genau auf den Effekt berechneten Liszt-Bearbeitung dynamisch nivelliert. War es der Raum oder die Tagesform? Die „Miserere“-Paraphrase nach dem „Trovatore“ und diejenige zu Verdis Frühwerk „Ernani“ gelingen überzeugender: die eine als Studie über die expressiven Möglichkeiten des Bassregisters, die andere als genialische pianistische Veredelung von Verdis direkter Emotionalität.

Noch einmal zeigen die Zugaben – Chopin, Brahms, Rachmaninow –, was dem Saale besser frommt; vor allem Chopins op. 15/2 nimmt Moog mit eleganter Gelöstheit. Man möchte den jungen Mann in größerem Rahmen wiederhören. Er hat auf CD spannende Entdeckungen vorgelegt – zum Beispiel Rubinsteins Viertes Klavierkonzert –, so dass man gewissen Rundfunk-Sinfonieorchestern gerne empfehlen würde, solche Anregungen mit diesem Pianisten umzusetzen statt Äther und Archiv mit der nächsten Version von Tschaikowskys Erstem vollzustopfen.

Mehr zu Joseph Moog: http://www.josephmoog.de/




Rock als Religion: „We will rock you“ im Colosseum Essen

Die Kultur ist implodiert – und „Globalsoft“ hat seine Chance genutzt. Für einen Moment bekommt die Science-Fiction-Geschichte, in die sich das Musical „We will rock you“ kleidet, unheimliche Aktualität: Da erklärt in einer fernen Zukunft ein Konzern jede „handgemachte“ Musik für „illegal“.

Auf der Bühne stehen Klone des hochgezüchteten Einheitsgeschmacks und „moven“ mit automatenhaften Bewegungen. Blonde Mädels, smarte Jungs, der Quoten-Farbige. Dahinter verpixelte Figürchen aus irgendwelchen Teenie-Computerspielen. Bunte Animation, unteres Ende der Primitivitäts-Skala. Das ist die Welt von „Globalsoft“, wie sie sich im Essener Colosseum präsentiert. Und für einen Moment fürchtet man sich vor dieser Retorten-Welt, die gar nicht so ferne scheint wie in der Story von Ben Elton.

Bunte, neue, heile Welt: So stellen sich die letzten selbständig denkenden Menschen auf Planet iPad ihre Welt nicht vor. Foto: Nilz Böhme

Bunte, neue, heile Welt: So stellen sich die letzten selbständig denkenden Menschen auf Planet iPad ihre Welt nicht vor. Foto: Nilz Böhme

Das Stück hat seit seiner Londoner Premiere im Mai 2002 einen Siegeszug hinter sich, der – glaubt man den Statistiken im Pressematerial – beispiellos ist. Dreizehn Millionen Besucher weltweit, vier Millionen davon in Deutschland.

Vier Jahre lief „We will rock you“ in Köln, war in Berlin, Basel, Wien, Zürich und Stuttgart zu sehen – und kommt nun bis 30. Juni nach Essen, lässt im Colosseum wieder einmal Musical-Atmosphäre entstehen.

Ein derart erfolgreiches Stück hat ein Erfolgsgeheimnis. In diesem Fall heißt es wohl „Queen“. 21 Songs der legendären Band sind der Kern, um den sich die Geschichte rankt – und im Gegensatz zu manch anderem, mühsam zusammengestoppelten Musical funktioniert die Kombination aus Erzählstrang und Musik: Die Dramaturgie ist nicht zurechtgebogen, damit die Lieder passen. Sondern die Nummern fügen sich ein in das Profil der Figuren, geben ihnen emotionale Substanz, teilen dem Zuschauer etwas mit. Nur „Bohemian Rhapsody“, einer der berühmtesten Queen-Titel, wird wie eine Zugabe „nachgeliefert“ und fällt aus der Handlung heraus.

Auch die Story funktioniert trotz mancher dramaturgischer Hastigkeiten. Das bunte Punk- und Rock-Völkchen der „Bohemians“ beschwört das Lebensgefühl der siebziger Jahre herauf. Dagegen steht der krakenhafte Konzern mit seiner Massenkultur aus dem Computer, beherrscht von einer raubtierhaften Domina-Queen und einem schmierig-mafiösen Handlanger.

Individualität gegen Uniformität, Gefühl gegen Geschäft, Kreativität gegen Konformität: Das sind Botschaften, die den gesetzten Herrschaften im Publikum gefallen dürften, die in ihren jungen Jahren mit Gruppen wie Queen erwachsen wurden. Und die das Unbehagen an der globalisierten musikalischen Retorte ansprechen.

Bunte Verschwörung der Kreativen: Die "Bohemians". Foto: Nilz Böhme

Bunte Verschwörung der Kreativen: Die „Bohemians“. Foto: Nilz Böhme

Doch „We will rock you“ geht über solche kulturkritischen Anflüge hinaus: Die Rockmusik wird stilisiert zum universalen, befreienden Element, mit dem der Mensch zu sich selbst und die Welt zum Heile findet. Sie gewinnt die Züge eines diesseitigen Erlösungsmythos.

Da ist der junge Mann (Galileo), der seine wirr im Kopf umherfliegenden Gedanken endlich auf den Begriff bringt. Da ist die junge Frau (Scaramouche) – beide sind sie Außenseiter –, die erkennt, dass Rebellion ohne Liebe ziel- und wirkungslos bleibt. Da sind die magischen Instrumente: Die letzte Gitarre auf Erden findet ihren Herrn am Eingang zum verfallenen Wembley-Stadion – dem Ort zahlreicher legendärer Konzerte – wie das Schwert in Wagners „Walküre“. Und aus dem Genfer See taucht die goldene Statue von Freddy Mercury auf: das ultimative Heilzeichen, das den Sieg der Revolte ankündigt.

Dass Rockbands wie Queen einst selbst zum globalen Musikgeschäft gehörten, spielt keine Rolle: Hier ist der Rock als solcher universales Heilsmittel, Medium einer säkularen Religion. Die Inszenierung, pardon, das „musical staging“ von Ariane Phillips, setzt auch auf vertraute Zeichen: Am bitteren Tiefpunkt der Geschichte, als alles vergebens scheint, zitiert sie die „Pietà“ aus der christlichen Bildwelt.

So wirkt das Musical auf verschiedenen Ebenen, gibt den Queen-Songs einen neuen Sinnzusammenhang, hebt sie über die bloße Abfolge eines Konzerts hinaus. Das Staging lässt in Essen keine Wünsche offen: Die Technik ist top, die sieben Musiker der Band unter dem erfahrenen Jeff Frohner bringen den Queen-Sound auf den Punkt über die Rampe (Sound Operator: Bettina Hennes). Sie achten auch aufmerksam auf die Momente, in denen die Komposition Anregungen aus der Oper, aus opulenter Filmmusik oder leicht schrägen Music-Hall-Schlagern verarbeitet und sich in der Wahl der Tonarten, den Modulationen und harmonischen Entwicklungen weit über die simplen Strickmuster vieler Hits erhebt. Nur die spöttischen Nummern, in denen die banale U-Musik der Globalsoft-Kiddies abgespult und ironisch gebrochen wird („Radio Ga Ga“), hätten ausgeprägter und ruhig etwas übertriebener kommen können.

Der unsichere Held: Christopher Brose als Galileo. Foto: Nilz Böhme

Der unsichere Held: Christopher Brose als Galileo. Foto: Nilz Böhme

Glaubwürdig auch die Darsteller: Christopher Brose hat als Galileo nicht nur die ideale, geradlinige Mikro-Stimme mit klarer Höhe, sondern changiert als Darsteller auch zwischen der schüchternen Scheu des Außenseiters und der hartnäckigen Hingabe eines Menschen, der sein Ziel zwar nicht immer kennt, aber im Inneren erfühlt.

Die Scaramouche des besuchten Abends war die in Duisburg geborene Jessica Kessler, in ihrer Jugend als Eiskunstläuferin bekannt. Sie bringt einen schnoddrigen Charme in die Rolle, der ihr mit flotten Sprüchen über manchen Hänger im jugendlichen Selbstbewusstsein hinweghilft. Zwei sympathische Typen, die aus Menschlichkeit und Wahrheitsgefühl heraus rebellieren, und ihr Zweifel und Ängste nicht vertuschen.

Auf der anderen Seite stehen die perfekten Verkörperungen der Klischees des Bösen, wie es das Märchen braucht: Marjolein Teepen, eine erfahrene Musical-Darstellerin, „rockt“ als Killer Queen mit einer durchsetzungsfähigen Stimme, aber auch mit knallharten Methoden: Ihrem fiesen Sicherheitschef Khashoggi lässt sie einfach das Hirn löschen, als er versagt. Martin Berger spielt und singt ihn souverän – ein Darsteller, der die Rolle aus der Kölner Produktion „drauf“ hat. Ein „Urgestein“ ist auch Léon van Leeuwenberg, der schon damals den Bap gesungen hat.

Das Ensemble gibt der Show, was sie braucht: Tempo, Witz, Präzision. Ben Eltons Musical ist ein Zeitgeiststück, das den Rock zum Religionsersatz verklärt, aber auch eines, das uns mit viel Humor und einer unterhaltsamen Story sagt: Lasst euch nicht von euch selbst entfremden.

Info: http://www.wewillrockyou.de/

Am Mittwoch, 29. Mai, gibt es nach der Vorstellung (Beginn: 18.30 Uhr) im Foyer des Colosseum Theaters ein After-Show Gratiskonzert. Für alle Fans ist die Band Night ab 22 Uhr kostenlos zugänglich. Die Sänger und Musiker wollen mit Hits aus Rock, Funk und Soul mit dem Publikum zusammen in den Feiertag hineinfeiern.




Selbstbewusstes Konzept: Khatia Buniatishvili beim Klavier-Festival Ruhr in Duisburg

Die Unruhe ist von Anfang an da, zieht in ihren Bann. Sie ist präsent in den hart angeschlagenen Akkorden des Beginns von Chopins b-Moll-Sonate, sie wacht über dem aufgewühlten Agitato-Brausen, sie durchwebt auch die Beruhigung des Tempos, die sanfte Dolce-Versenkung. Bei Khatia Buniatishvili liegt diese Unruhe wie ein existenzielles Verhängnis über allen vier Sätzen der Sonate, die durch ihren „Trauermarsch“ eine manchmal traurig-banale Berühmtheit erlangt hat.

"Versinken ... ertrinken...": Khatia Buniatishvili bei ihrem Duisburger Konzert. Foto: Frank Mohn

„Versinken … ertrinken…“: Khatia Buniatishvili bei ihrem Duisburger Konzert. Foto: Frank Mohn

Bei der 25-jährigen georgischen Pianistin sitzt man das Stück nicht mit dem bestätigenden Eindruck des viele Male Gehörten ab. Wie Blitze eine bekannte und lieb gewonnene Landschaft unheimlich neu beleuchten können, durchfetzen ihre Einfälle das vertraute Gebilde. Etwa wenn sie die Dynamik, nicht aber die Toncharakteristik ändert und damit etwas Unerbittliches in die Noten legt. Oder wenn sie durch Bassakzente den ach so lieb gewordenen weit phrasierten melodischen Motiven etwas Irritierendes mitgibt, ein Gift gegen jede Heimeligkeit.

Sicher: Chopin spielen viele, und viele spielen ihn beeindruckend, beredt, ja beschwörend. Umso faszinierender ist es zu erleben, wie eine junge, selbstbewusst ihrem Konzept folgende Pianistin ein Stück neu gestaltet, ohne es zu zerlegen. Buniatishvilis Chopin ist beides: authentisch und subjektiv, textgetreu und wunderbar frei.

Die Pianistin, die 2009 beim Klavier-Festival als Einspringerin für Hélène Grimaud Aufsehen erregte, ist inzwischen vielfach ausgezeichnet worden. Zum Beispiel erhielt sie 2012 den Echo-Klassik-Preis als Nachwuchskünstlerin Klavier. Ihre drei Schubert-Piècen, von Franz Liszt bearbeitet, zeigen auch, warum: Das „Ständchen“ nimmt sie introvertiert, mit leichten Rubato-Akzenten, meidet aber die Einfärbung des Anschlags zum sentimentalen Dolce, hält den Klang gerade und ernst. Keinerlei Attitüde, kein Anflug von virtuosem Narzissmus. „Gretchen am Spinnrad“ ist ein Beispiel dafür, wie Monotonie ausgedrückt werden kann, ohne monoton zu werden. Buniatishvili leistet sich keine theatralische Aufladung: Das Drama ist leise, aber bitter. Den „Erlkönig“ hämmert sie rasend übersteigert in die Tasten; ein entfesselter Weltenbrand mit fahl verlöschendem Ende.

Die Transkription „Schafe können sicher weiden“ des einst berühmten Pianisten Egon Petri (1881-1962) ist eine jener romantischen Reflexionen auf Johann Sebastian Bach, wie sie durch Ferruccio Busoni oder Leopold Stokowski beliebt geworden sind. Buniatishvili steht zur Romantisierung, verwendet viel Pedal, gestaltet den Klang substanzvoll.

Den zweiten Teil ihres Konzertes in der Gebläsehalle des Duisburger Landschaftsparks Nord sieht Buniatishvili offenbar wie eine Meditation am Klavier: Chopins cis-Moll Etüde aus Opus 25, die a-Moll-Mazurka aus Opus 17, der „Oktober“ aus den „Jahreszeiten“ Tschaikowskys, Skrjabins cis-Moll-Etüde, schließlich Debussys „Clair de lune“ und Ravels „Pavane pur une infante défunte“.

Ohne Pause fließen die Stücke ineinander, verlangen Konzentration, Stille, fast schon Entrückung. Buniatishvili formt die Linien weltverloren aus: weit, behutsam im Anschlag, spannungsvoll in der Dramaturgie, in bewusstem Verzicht auf Kontraste. Wenn „Magie“ überhaupt eine taugliche Beschreibung für die Qualität von Klavierspiel ist, dann passt sie hier.

Als dann „La Valse“, Maurice Ravels raffiniertes Schaustück, das offizielle Programm abschließt, kehren wir wieder in die Welt zurück, begleitet von weniger grell verzerrten als pikant ironischen Rhythmen – eine Welt, die von der ersten der beiden Zugaben, dem letzten Satz aus Prokofjews wahnwitziger Siebter Sonate, in furioser Raserei übersteigert wird.




Lebensweise Poesie: Maria João Pires beim Klavier-Festival Ruhr in Essen

Das passiert nun schon zum zweiten Mal beim erst ein paar Tage alten Klavier-Festival Ruhe 2013: Man hört ein Konzert für Klavier und Orchester, das nicht so ganz zu einem Entwurf zusammenwachsen will, und dann gibt der Solist eine Zugabe – und die Töne leuchten am Firmament der Musik wie die schönsten Sterne!

Igor Levit zeigte im Eröffnungskonzert sein ganzes Können – mehr noch, seine tiefste Musikalität – in seiner Zugabe, der „Hommage à Rameau“ von Claude Debussy. Und Maria João Pires, eine der „grandes dames“ der Klavierwelt, durchmaß in einem sanften Nocturne Chopins – jener Nummer Drei aus Opus Neun – alle Seelenräume des Polen, dessen f-Moll-Klavierkonzert sie sich vorher mit einem eher neben- als mit-musizierenden Kammerorchester Basel gewidmet hatte.

Seit 1995 war Maria João Pires nicht mehr beim Klavier-Festival zu Gast gewesen, hatte sich auf den Podien der Welt rar gemacht. Sie ist keine Karriere-Frau, bekannte in einem Interview, dass ihr der Sprung in die Welt-Elite der Klaviermusik eher zugefallen sei. Sie hatte kein Glück mit ihrem Projekt einer Schule für unbemittelte Kinder in Portugal. Und 2006 musste sie sich einer schwierigen Herzoperation unterziehen. Kein Leben, das sich zwischen dem Dolce einer umsorgten Künstler-Existenz oder dem Furioso einer Virtuosen-Laufbahn bewegt. Eher ein Leben, das einem beibringt, Grenzen anzuerkennen. Ein Leben, das weise macht.

Trevor Pinnock und Maria João Pires. Foto: Mark Wohlrab

Trevor Pinnock und Maria João Pires. Foto: Mark Wohlrab

Mag sein, dass es nur eine Projektion von Gedachtem auf Gehörtes ist: In Maria João Pires‘ Klavierspiel meint man, etwas von diesem Lebens-Wissen zu spüren. Hätte sie doch ein Solo-Recital gegeben! Aber die Auftritte allein mit dem Flügel, die mag sie nicht. An Chopin schätzt sie nicht den Virtuosen, sondern den Poeten: Die entschiedenen Eröffnungs-Akzente schon gibt sie nicht mit der Geste des narzisstischen Auftritts, sondern fast zu zurückhaltend, als wolle sie dem Orchester generös den Vortritt lassen. Im Bass setzt sie freilich deutliche Ausrufezeichen: Die parfümierte Verschleierung ist ihre Sache nicht; so will sie „Poesie“ nicht verstanden wissen.

Warum ihr dann aber die quasi improvisierten silbrigen Verzierungsketten nicht blühend, nicht atmend gelingen, sondern eher wie eingeschoben wirken, bleibt rätselhaft. War das Orchester unter Trevor Pinnock zu wenig bereit, auf ein feines Rubato einzugehen? Der aus der historisch informierten Aufführungspraxis bekannte Dirigent, der faszinierende Mozart- und Händel-Aufnahmen vorgelegt hat, liebt Konturen und deutlich zugespitzte Akzente. Doch zu einem glückenden Einvernehmen mit der Pianistin kam es hörbar nicht: Das Orchester verdeckte ihr feinsinniges Passagenspiel, die schwermütigen Farben etwa der Dialoge mit dem Fagott verbanden sich zu keinem Bild. Hinreißend zeichnete Maria João Pires im Larghetto mit einem delikat differenzierter Anschlagspalette die sanften, zarten Linien der Landschaft, die der Poet Chopin für sich entworfen hat.

Am Beginn des Konzerts in der Philharmonie Essen stand eine Hommage an Wagner, den das Klavier-Festival noch auf seine Weise würdigen wird: Das „Siegfried-Idyll“, in den Violinen anfangs etwas brockig, glättete sich zu einem sehr sanften, sehr milden Sonnenaufgang über Tribschen. Die Phrasierung hatte in ihren weiten, ruhigen Linien einen Hang zum Schläfrigen.

Mozarts letzte, seine C-Dur-Sinfonie, schloss das Konzert ab. Der Eindruck mangelnder Durcharbeitung drängte sich schon in den Eröffnungstakten auf: Die Akkordschläge sitzen so pointiert, wie wir es von Pinnock kennen. Doch der gebundene Piano-Nachsatz wirkt wie ein Nachklappern statt wie ein lebendig gesetzter Kontrast. Den vielfältig angelegten Gegenstimmen, rhythmischen Schärfungen und auf Holzbläser und Streicher verteilten thematischen Varianten stellt sich das Basler Kammerorchester nicht mit brillanter Formulierung, sondern in einem matten Nebeneinander, gewinnt auch den Modulationen keine Spannung ab.

Im „Andante cantabile“ betont Pinnock die metrischen Überraschungen und Forzato-Akzente, achtet aber zu wenig auf die – als Kontrast gedachte – sanglich atmende Phrasierung. Der dritte Satz gelingt am schönsten, weil das Orchester locker und frei artikuliert; im vierten geht in der komplexen Struktur so einiges daneben, so, als hätten sich Dirigent und Musiker nicht ausreichend verständigt.




Auftakt zum Klavier-Festival Ruhr in Bochum: 25 Jahre Individualität und Schönklang

Desgleichen ist weltweit nicht zu finden. Solche Superlative gehen in der Werbung und der Politik leicht über die Lippen. Bundestagspräsident Norbert Lammert war in diesem Fall aber einschränkungslos Recht zu geben: Das Klavier-Festival Ruhr ist in der Tat eine einmalige Plattform für die Pianistenkunst – und das seit 25 Jahren. Auch wenn der erst 25-jährige Igor Levit und das WDR Sinfonieorchester nicht zu den allerersten Namen in der Klassik-Szene gehören: Das Eröffnungskonzert in der Jahrhunderthalle Bochum umwehte eine Aura des Besonderen.

Auftakt zum Klavier-Marathon: In der Jahrhunderthalle Bochum begann das Klavier-Festival Ruhr. Foto: Werner Häußner

Auftakt zum Klavier-Marathon: In der Jahrhunderthalle Bochum begann das Klavier-Festival Ruhr. Foto: Werner Häußner

Gottseidank sah der warme Frühsommerabend kein weihevolles Fest, sondern eine fröhliche Begegnung von Menschen, die Musik lieben, die sie unterstützen, die sich gerne unter Künstler und Liebhaber mischen. Die gepflegte Bräune der Schönen und Reichen war zu sehen, die edlen Roben und eleganten Maßanzüge auch, der teure Schmuck und einige in ihrer Kunstfertigkeit mit der Kunst konkurrierende Frisuren. Aber dazwischen tummelten sich junge Menschen in lässiger Kleidung, auch der eine oder andere Enthusiast mit einem leichten Zug zum Verschrobenen. Das Schöne an diesem Klavier-Marathon: Es ist ein Fest der Musik, das alle Menschen verbindet, kein Festival selbst ernannter Eliten oder Kennerzirkel, die gerne unter sich bleiben.

Dass es, wie Schirmherrin Traudl Herrhausen ausdrückte, „glänzend dasteht“, ist nicht zuletzt Verdienst eines einmaligen Kenners und Netzwerkers: Franz Xaver Ohnesorg hat es mit Klugheit, Diplomatie und Durchsetzungsvermögen geschafft, den Ruf des Festivals stets so zu mehren, dass kaum mehr vorstellbar ist, dieses Ruhrmetropolen-Alleinstellungsmerkmal zu schmälern oder gar zu beschädigen. Klar: Es gibt immer Stimmen, die einen seelenlosen Ökonomismus oder Pragmatismus predigen, der beim geringsten kühlen Konjunkturwind am liebsten an Kunst und Kultur abzwacken würde. Aber dass solche Misstöne gar nicht erst zum Klingen kommen, ist nicht zuletzt dem geschickten Intendanten geschuldet.

Muss hemmungsloser Populismus sein?

Mit Misstönen war an diesem Abend eh kein Staat zu machen: Igor Levit ließ seine paar flüchtigen Vergreifer in Tschaikowskys b-Moll-Konzert schnell vergessen, und der 29-jährige dirigentische Senkrechtstarter Krzysztof Urbánski zeigte mit einem vorzüglich disponierten WDR Sinfonieorchester, dass er zu den Apologeten des kompromisslosen Schönklangs gehört – und damit an seiner Chefstelle beim amerikanischen Indianapolis Symphony Orchestra sicherlich einen empfindsamen Nerv des Publikums berührt.

Eröffnungskonzert mit Igor Levit und dem Dirigenten Krzysztof Urbánski. Foto: Peter Wieler

Eröffnungskonzert mit Igor Levit und dem Dirigenten Krzysztof Urbánski. Foto: Peter Wieler

Tschaikowskys Klavierkonzert schlossen sich Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ an; eine Folge, die erwägen lässt, ob es wirklich Aufgabe eines Rundfunkorchesters ist, so hemmungslos populistische Programme anzubieten. Und auch ein Festival wird sich fragen lassen müssen, ob unter den selbst gewählten Akzenten (Wagner, Verdi, Britten Poulenc) nicht auch Eröffnungswürdiges und weniger Gängiges zu finden gewesen wäre. Oder ob man den polnischen Dirigenten nicht hätte überzeugen können, zum Beispiel den 100. Geburtstag von Witold Lutosławski unter die allseits gewürdigten Groß-Jubilare von 2013 zu mischen.

Igor Levit sorgte mit den allzu bekannten Eröffnungsakkorden des b-Moll-Konzerts sogleich für die erste Überraschung: Mit seinem Partner Urbánski am Pult leugnet er das „Maestoso“, schlägt einen poetischen, beinah schon innerlichen Ton an, lässt das Klavier über der Bewegung des Orchesters gleiten wie einen Ölfilm auf Wasser. Da war nichts Triumphales oder Trotziges zu hören. Levit rückt das Konzert näher an „Eugen Onegin“ als an „1812“.

Die lyrische Welt des „Onegin“ durchmessen

Dieser Linie bleiben die Beiden treu: Die breit strömenden Violinen des WDR-Orchesters leuchten im Tonfall süßen Schmerzes, das Blech nimmt sich bis ins Mezzoforte zurück. Levit zügelt sich in verhaltenen Passagen, als wolle er den virtuosen Aspekt des Konzerts bewusst verleugnen – was er nicht tut: In den dahinfliegenden gestochenen Akkordketten des Finalsatzes, in der emphatischen Konkurrenz mit dem Rollen der Pauken zeigt er, dass ihm Energie und zupackende Attacke nicht fremd sind. Technik muss er aber nicht demonstrieren – er hat sie einfach.

Von links: Krzysztof Urbánski, Franz Xaver Ohnesorg, Traudl Herrhausen, Igor Levit. Foto: Wieler

Von links: Krzysztof Urbánski, Franz Xaver Ohnesorg, Traudl Herrhausen, Igor Levit. Foto: Wieler

Was Levits Liszt-Spiel auszeichnet – es ist auf einer CD-Edition des Klavier-Festivals von 2011 nachzuhören –, überträgt er auch auf Tschaikowsky: differenzierte Dynamik, Sinn fürs Charakteristische, Lust an gleisnerischer, sogar grotesker Extroversion. Im ersten Satz liefert Levit dafür in einem rhythmisch angespitzten, koboldig purzelnden Intermezzo ein bezeichnendes Beispiel. Plötzlich scheint Mussorgsky Regie zu führen. Im zweiten Satz steht eher die Delikatesse im Vordergrund: weich und introvertiert der Anschlag, manchmal zu verliebt der Pedaleinsatz. Und im dritten Satz kontrastieren atemberauende Staccato-Ketten mit der fröhlich zelebrierten Simplizität russischer Tanzrhythmen und den dazwischen aufwehenden Schleiern von „Onegin“-Melancholie.

Hätte sich diese Kunst des Charakterisierens in zweiten Teil fortgesetzt, der Abend wäre bemerkenswert geblieben. Doch Urbánskis Interesse scheint vor allem auf einen perfekten Orchestersound gerichtet zu sein. Selten war das WDR-Sinfonieorchester so homogen, so samtig, so süffig zu hören wie an diesem Abend – auch wenn es, wohl durch die Akustik bedingt, zu einigen Klang-Ausreißern bei den Bläsern kam.

Ein Tänzer vor dem Orchester

Urbánski ist vor allem ein begnadeter Tänzer: Er wirbelt Phrasierungen durch die Luft, auf die man erst einmal kommen muss. Und er zeigt den Musikern mit gekrümmten Fingern, angezogenen Armen und hackenden Bewegungen, worauf es ihm etwa beim „Gnomus“ oder der „Hütte der Baba Yaga“ ankommt. Pech nur, dass es für das „Ballett der Küchlein in den Eierschalen“ offenbar noch keine dirigentischen Chiffren gibt – weshalb Urbánski die bizarre klangliche Umsetzung des Bildeindrucks durch Mussorgskys auf eine, sagen wir einmal, Kinderzeichnungs-Groteske verniedlichte.

Urbánski, so scheint mir, gehört in seinem Hang zum abgerundeten, glatten, füllig schimmernden Klang zu denjenigen jungen Künstlern, die in ihrem zweifellos durch großes Können abgesicherten Hang zur makellosen Politur vergessen, dass es allemal interessanter ist, das Originelle, das Charakteristische, das Sperrig-Individuelle zu entdecken. Und das zumal bei Mussorgsky, der alles andere im Sinn hatte als die glatt-verbindliche Musik zu schreiben, die ihm manche seiner gutmeinenden Bearbeiter später untergejubelt haben. So passte diese Mussorgsky-Wiedergabe eher zu den Roben und Maßanzügen als zu den leise versponnenen Freaks – was nicht heißen soll, dass unter der Haute Couture nicht auch ein Herz für Mussorgskys störrische, manchmal gespenstische musikalische Radikalität schlagen könne. Urbánski freilich hat das für sich noch zu entdecken.

Das Klavier-Festival Ruhr 2013 bringt bis 19. Juli 65 Konzerte in 21 Städten auf 26 Podien an Rhein und Ruhr. WDR, Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur werden zahlreiche Konzerte im Hörfunk übertragen; der WDR erstellt zudem eine TV-Dokumentation „25 Jahre Klavier-Festival Ruhr“. Der diesjährige Preis des Klavier-Festivals Ruhr geht an den frankokanadischen Pianisten Marc-André Hamelin, der am 29. Juni in der Philharmonie Essen konzertiert. Information: www.klavierfestival.de

Das nächste Konzert mit Igor Levit in der Region findet am 16. Juni in der Kölner Philharmonie statt: Gemeinsam mit dem Orchestre Philharmonique du Luxembourg spielt er Johannes Brahms‘ Zweites Klavierkonzert. Levits Debüt auf einer CD seiner Plattenfirma Sony mit Werken Ludwig van Beethovens wird für Herbst 2013 erwartet.




Todeskuss im Treibhaus: Richard Wagners „Tristan und Isolde“ an der Oper Bonn

Dass Vera Nemirova eine faszinierende Erzählerin ist, wissen wir spätestens, seit sie mit dem Frankfurter „Ring des Nibelungen“ einen der bedeutenden Beiträge zum Wagner-Jahr 2013 leistete.

Robert Gambill (Tristan), Dara Hobbs (Isolde). Foto: Thilo Beu

Robert Gambill (Tristan), Dara Hobbs (Isolde). Foto: Thilo Beu

Die Regisseurin braucht keinen dekonstruktiven Überbau, keine umständliche Symbolik, keine privatmythologische Verrätselung, um einem Stück Belang zu geben. Sie erzählt intensiv und klug eine Geschichte. So hat sie es auch in ihrem – 2007 sehr umstrittenen – Frankfurter „Tannhäuser“ gehalten: Das virtuos herausgearbeitete Ergebnis ihrer ersten Regiearbeit mit Wagner wird ab 19. Oktober 2013 wieder zu erleben sein.

Jetzt hat sich Vera Nemirova dem Schlüsselwerk des Wagner’schen Theaterkosmos zugewandt: Mit Spannung erwartet, ging jetzt „Tristan und Isolde“ über die Bühne der Oper Bonn. Und wieder ist ein Triumph der Erzählerin zu vermelden: Selten in den letzten Jahren wurde Wagners Bekenntnis zur transzendierenden Liebes- und Todesmystik so unverstellt und eindringlich in Bild und Aktion gebracht wie in dieser Premiere. Sicher auch ein Verdienst der Raumgestaltung von Klaus W. Noack und des Lichts von Max Karbe – aber eben auch das Ergebnis der passionierten Regiekunst der Nemirova.

Klar, auch diese Regisseurin hat ihre Stilmittel, ihre immer wiederkehrenden Codes: Das Brautkleid etwa, von dem Isolde im ersten Aufzug die aufgenähten Blüten abfetzt. Im zweiten schreiben die Protagonisten Schlüsselworte des Dramas auf die halbblinden, teils zerbrochenen Scheiben eines Glashauses: Du, Ich, Licht, Tod, Tag. Später beschriften sie gegenseitig nackte Haut. Aber solche Chiffren werden nie als billige Ersatzeffekte für fehlende Personenführung verwendet.

Nemirova inszeniert auch nicht naturalistisch: Es gibt kein Liebespaar, das aufeinander zufliegt, sich schmusend und küssend in der „Nacht der Liebe“ ergeht. Was so mancher Wagnerianer aus scheinbarer „Werktreue“ der Bayreuther Inszenierung Christoph Marthalers bitter ankreidete, zieht auch Nemirova konsequent durch. Tristan und Isolde singen zusammen für sich, sehen sich selten an. Sie bewegt sich innerhalb des gläsernen Baus, der offensichtlich auf „Im Treibhaus“ aus den Wesendonck-Liedern anspielt; er tastet sich außen an den Scheiben entlang. Erst bei „Nie-Wieder-Erwachens wahnlos hold bewusster Wunsch“ finden sich beide im Glashaus, dem Ort der jenseitigen Liebesvision.

Held aus Cornwall, Maid aus Irland

Der Kuss ereignet sich schon im ersten Aufzug: Endlos lang besiegelt er statt des äußerlichen Hilfsmittels des „Trankes“ die Wandlung. Ein mythischer Todeskuss, gegeben von einer rothaarigen Rätselfrau, die aus dem symbolistischen Bildkanon eines Dante Gabriel Rosetti oder Edward Burne-Jones stammen könnte. Wie Nemirova und ihr Bühnen- und Kostümbildner Klaus W. Noack überhaupt die angelsächsische Sphäre des Stoffes – es geht ja um einen Helden aus Cornwall, um eine Maid aus Irland – in die Bildwelt integrieren: Das Glashaus, das die Drehbühne füllt, ist den viktorianischen Gewächshäusern der Wagner-Zeit abgeschaut; der Baum, auf dessen Zweige Isolde enthusiastisch Zettel steckt, könnte ein Wünschebaum aus dem Feen-Aberglauben sein, wie man ihn heute noch auf dem irischen Lande entdecken kann.

Robert Gambill (Tristan) und Mark Morouse (Kurwenal). Foto: Thilo Beu

Robert Gambill (Tristan) und Mark Morouse (Kurwenal). Foto: Thilo Beu

Im dritten Akt steht die verfallende Glas-Villa dann voll exotischer Gewächse: ein direktes Bildzitat aus Mathilde Wesendoncks Gedicht „Im Treibhaus“, das Wagner als Vorstudie zum „Tristan“ vertont hatte. Wie die Heimat der Pflanzen, so ist auch die Heimat Tristans – der zwischen den Blättern und Stämmen im Bett liegt – „nicht hier“. Für die romantische Sehnsucht nach dem ganz Anderen sind die klagenden „Kinder aus fernen Zonen“ eine berührende Chiffre. Für den „Liebestod“ findet Nemirova ein unspektakuläres, konzentriertes Bild: Isolde steht in einem Regen von Papierblättern – Briefe, literarische Ergüsse, Tagebuchnotizen? –, bevor sie sich wendet und dem Glashaus zuschreitet: Erfüllung im „Nicht Hier“.

Mit ihren Protagonisten arbeitet Nemirova stets sehr intensiv. Umso schmerzliches muss es für die Regisseurin gewesen sein, dass ihre Isolde Dara Hobbs wegen eines Heuschnupfens nicht singen konnte und von Sabine Hogrefe am Bühnenrand eine „Leihstimme“ bekommen musste. Hobbs agiert mit intensiver Körpersprache und theatralischer Leidenschaft; man merkt der Sängerin an, wie schwer ihr der Verzicht auf die vokale Expression fällt.

Sabine Hogrefe, die 1989 am Aalto-Theater in Essen in Siegfried Matthus‘ „Graf Mirabeau“ als Zeitungsjunge debütierte, hat die Isolde bisher in Bremen, Hamburg, Nantes und Angers gesungen und 2008 bis 2012 in Bayreuth gecovert. Ab 26. Mai ist sie als Brünnhilde in der „Walküre“ in Duisburg zu hören. Ungeachtet aller Probleme aus einem kurzfristigen Einspringen hört man von ihr einen durch Erfahrung gereiften, auch des Lyrischen und der leisen Töne mächtigen, souveränen Sopran.

Neue Sicht auf König Marke

Mit der Besetzung des Tristan durch Robert Gambill stand kein ausgeprägter Tenor-Held auf der Bonner Bühne. Im zweiten Aufzug möchte man als Vorzug werten, wenn eine schlanke Artikulation auf eine tragfähige Mezzavoce trifft; im dritten allerdings fehlen Gambill dann Intensität, Schlagkraft und vokales Fieber. Auch die Brangäne Daniela Denschlags – von der Regie als besorgte ältliche Jungfer mit grauem Dutt gezeichnet – hat eine zu lyrische Stimme, überfordert im exaltierten Schrecken am Ende des ersten Aufzugs, zu sanft für die Rufe aus der Ferne im zweiten. Schade, wenn man eine solch kultivierte Stimme ins Wagner-Fach drängt – ihre Alt-Arien in einer Würzburger „Matthäus-Passion“ von 2005 blieben mit viel eindrücklicher in Erinnerung.

Trias des Leidens an der Welt: Tristan (Robert Gambill), König Marke (Martin Tzonev), Isolde (Dara Hobbs). Foto. Thilo Beu

Trias des Leidens an der Welt: Tristan (Robert Gambill), König Marke (Martin Tzonev), Isolde (Dara Hobbs). Foto. Thilo Beu

Für Martin Tzonev ist Marke eine Herausforderung, die er mit substanzvollem, aber nicht ausgeglichenem Bass bewältigt. Wieder ist es eher die szenische Umsetzung der Figur, die überzeugt. Nemirova bezieht den König ein in eine Trias des Leidens an der Welt: „Die kein Himmel erlöst, warum mir diese Hölle?“ hebt seinen Schmerz weit über eine beleidigte Beklagung seiner Situation hinaus. Für einige Augenblicke nehmen Tristan und Isolde den König in ihre Mitte, dann aber wird das Paar seinen Weg ohne ihn gehen: „Wohin nun Tristan scheidet, willst du, Isold‘, ihm folgen?“

Ansprechend besetzt sind in Bonn auch die weniger umfangreichen Rollen: Mark Morouse als prägnanter Kurwenal, Giorgos Kanaris als soldatisch korrekter Melot, Johannes Mertes als Hirt und Sven Bakin als Steuermann. Für eine musikalische Sternstunde sorgte Stefan Blunier am Pult des Beethoven Orchesters Bonn. Der Chefdirigent zerriss zwar den langsamen Beginn durch endlose Pausen, konnte dem Orchester aber den „schmachtenden“ Klang entlocken, den Wagner mit dieser Anweisung im Sinn gehabt haben mag. Allmähliches Steigern der Klangintensität, graduelle Verschiebungen in der Mischung der Klänge, flexible Artikulation: das sind die technischen Geheimnisse. Das Ergebnis ist eine für Bonner Verhältnisse außergewöhnliche Spielkultur, ein runder, warmer Gesamtklang, dem Blunier aber auch Feuer, Energie und Tempo mitgeben kann.

Intendant Klaus Weise kann aus Bonn mit einer Produktion scheiden, die der Leistungsfähigkeit des Hauses das schönste Zeugnis ausstellt. Wie sein Nachfolger Bernhard Helmich aus Chemnitz bei zurückgehenden Mitteln in der ehemaligen Bundeshauptstadt – immerhin einer Kommune mit über 325.000 Einwohnern – die Qualität des Angebots sichern will, ist noch sein Geheimnis: Der Spielplan 2013/14 wird im Mai veröffentlicht. Sicher ist schon, dass die Spielzeit mit Zeitgenössischem eröffnet wird: mit der Oper „Written On Skin“ (Auf Haut geschrieben) von George Benjamin. Erstmals in Deutschland wird sie schon am 23. Juli in der Uraufführungsinszenierung aus Aix en Provence von 2012 in der Bayerischen Staatsoper München gespielt.




Bravour ohne Risiko: Die Philharmonia Prag mit Jan Lisiecki in der Essener Philharmonie

Wächst da ein neuer Horowitz heran, wie es ein einflussreiches deutsches Magazin prophezeit hat? Wer Jan Lisiecki, den schlaksigen, ein wenig steif, aber selbstbewusst wirkenden jungen Kanadier polnischer Herkunft mit Chopins e-Moll Konzert in der Essener Philharmonie gehört hat, wird da seine Zweifel hegen.

Der blonde Klavier-Boy hat einen kräftigen Zugriff für die Eröffnung, gefällt mit einem lyrisch-perlenden Passagenspiel, stellt sich leichtfingrig und mit schwerelosen Linien den heiklen Stellen. Aber ein neuer Horowitz? Dafür fehlen dem erst Achtzehnjährigen die Passion, die persönliche Farbe, das Aushören von Innenspannung und harmonischer Reibung, die dramatische Flamme in der Steigerung, der – wie es Joachim Kaiser so unnachahmlich ausdrückt – raubtierhafte und brillant durchdachte Zugriff.

Jan Lisiecki (18) (© DG/Mathias Bothor)

Jan Lisiecki (18) (© DG/Mathias Bothor)

Wozu auch solche Vergleiche? Chopins Musik lässt es – wie alle große Klaviermusik – zu, sich ihr auf unterschiedliche Weisen zu nähern. Und was Lisiecki selbst mit einem Glenn-Gould-Zitat für seinen Mozart in Anspruch nimmt, nämlich „something different“ zu sagen zu haben, gilt wohl auch für seinen Chopin. Zu den hitzig-tiefgründigen Virtuosen wie eben jener Vladimir Horowitz gehört Lisiecki nicht; das offenbart auch die Zugabe, die erste von Chopins Etüden op. 25. Sie träumt vor sich hin, als kenne sie keine spannungsvolle innere Dramaturgie.

Lisieckis mit seiner Lust am frisch-quirligen Passagenspiel hat, das spürt man, nicht den Grund, sich als brillanter Virtuose zu präsentieren. Er sucht den seelenvollen Ton, die Poesie der Linie, aber er findet (noch?) nicht zu Entrückung und Schwermut. Warum Chopin sich immer wieder – als spinne er einen Gedanken in halbbewußtem Dämmer weiter – in seine von John Field inspirierten silbrigen Improvisando-Meditationen verliert, kann Lisiecki nicht deutlich machen. Dazu schaut er zu wenig auf Kontraste, auf Beleuchtungswechsel.

Mag sein, dass der junge Pianist mit dem Dirigenten Jakob Hrůša nicht gerade den idealen Partner gefunden hatte: Der Nachwuchs-Pultstar neigt nämlich zu einem Rhythmus ohne Atem, zum Metrum ohne Geschmeidigkeit. Das geht geschwinde und genau, aber ohne Sinn für den Aufbau von Spannung, ohne Rubato-Kultur, ohne entrückendes Innehalten in der lyrischen Delikatesse der Mittelsatz-Romanze. Hrůša blickt kaum einmal auf den Pianisten – und Lisiecki wagt es wohl nicht, ihm durch eigene Impulse Paroli zu bieten. Als das Solo-Horn im ersten Satz seinen Ansatz nicht gleich hat, geht das beinahe schief: Lisiecki ist für einen Moment irritiert, fängt sich aber gerade noch. Auch im Zusammenspiel mit dem Solo-Fagott fehlt das gemeinsame Atmen; solche Stellen wirken wie prima vista gespielt.

Die Philharmonia Prag, ein erst 1994 gegründetes, jung besetztes Orchester, folgt Hrůša offenbar willig in seinen Absichten: rasantes Tempo in Smetanas Ouvertüre zur „Verkauften Braut“, Präzision und scharfgeschnittener Klang in Antonín Dvořáks Sechster Symphonie. Den Aberwitz der frechen Pianissimo-Achtelketten Smetanas meistern die Streicher bravourös, aber der Charme wird der Virtuosität geopfert. Die Bläser präsentieren sich in der leider zu selten gespielten Dvořák-Symphonie glanzvoll, aber das metrisch steife, überkorrekte Musizieren wirkt in seiner kalten Perfektion auf Dauer fade: kein Risiko, kein Herzblut, keine Wärme.

Die Reihe der ProArte – Konzerte in der Essener Philharmonie wird am 7. Mai fortgesetzt: Anne-Sophie Mutter spielt mit den Dresdner Philharmonikern und Rafael Frühbeck de Burgos Beethovens Violinkonzert. Am 27. Mai ist dann die Camerata Salzburg mit dem Perkussionisten Martin Grubinger zu Gast. Information: www.pro-arte-konzert.de




Musikalische Welt nach Wagner: „Ritter Blaubart“ als Psycho-Stück in Augsburg

Von der musikalischen Welt nach Wagner wissen wir noch immer viel zu wenig: Wer in alten Musikgeschichten oder Opernführern liest, mag auf das eine und andere Werk stoßen, das von der zeitgenössischen Kritik als „wagnerisch“ gelobt oder gegeißelt wird. Wir kennen Strauss, wir kennen von Humperdinck eine einzige Oper, hin und wieder ein wenig Schreker oder d’Albert – das war’s. Leider bringt auch das Wagner-Jubiläumsjahr 2013 wenig Licht in die lebendige, gärende, explodierende Zeit zwischen 1880 und 1933. Aus den Opernhäusern in Nordrhein-Westfalen kommt – so weit jetzt schon bekannt – zu diesem Thema kein Ton.

So muss man reisen, will man die paar Versuche mitbekommen: Dessau befragt mit Massenets „Esclaramonde“ den romanischen „Wagnerisme“ (ab 26. Mai), Coburg inszeniert den lange beliebten, in den letzten Jahrzehnten leider vergessenen „Barbier von Bagdad“ des Wagnerianers Peter Cornelius (ab 27. April). In Annaberg-Buchholz demonstriert dagegen die komische Oper „Der Löwe von Venedig“ von Heinrich Köselitz – alias Peter Gast –,  wie sich ein Komponist unter Einfluss Friedrich Nietzsches von Wagners erdrückenden Modellen zu lösen versuchte. Und in Augsburg zeigt „Ritter Blaubart“ von Emil Nikolaus von Reznicek, wie sich die Generation der „Söhne“ des Bayreuther Über-Ichs entledigte, ohne es zu verleugnen.

Von daher passt dieser „Ritter Blaubart“ ausgezeichnet in ein Wagner-Jahr, das ansonsten in überflüssigen Zyklen und Neuinszenierungen der sowieso ständig „befragten“ Werke ertrinkt. Der in Wien geborene Reznicek (1860-1945) ist heute höchstens noch durch „Donna Diana“ bekannt, deren spritzige Ouvertüre gelegentlich in Wunschkonzert-Programmen gespielt wird – während man die kecke Oper „dahinter“ zuletzt 2003 in Kiel zu sehen bekam. Die 1920 in Darmstadt uraufgeführte und kurz darauf auch in Dortmund gespielte Blaubart-Adaption hatte vor rund zehn Jahren einigen Erfolg bei einer konzertanten Aufführung unter Michael Jurowski mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, die beim Label cpo auf CD erhältlich ist.

Gleisnerische Entgrenzung, üppiger Klang

Nach der Augsburger Premiere 2012 und der jetzt erfolgten Wiederaufnahme möchte man Rezniceks Musik durchaus seinen Zeitgenossen wie Schreker, Korngold, d’Albert oder Siegfried Wagner an die Seite stellen. Das opulent besetzte Orchester – in Augsburg mussten die Bläser aus aufführungspraktischen Gründen um etwa die Hälfte reduziert werden – ist souverän eingesetzt. Reznicek ist ein versierter Könner; das zeigt sich im ökonomischen Satz. Die vielen lichten, kammermusikalisch geprägten Momente verweisen ein wenig auf seine Zeitoper „Benzin“, 2010 in Chemnitz uraufgeführt. Aber er kennt auch die gleisnerische harmonische Entgrenzung, die an Mahler erinnert; die üppige Klangpracht, in der wir Schreker wiederhören. Und die Arbeit mit thematischem Material, das unverkennbar ein Erbe Wagners ist – bis hinein in wörtliche Zitate von „Ring“-Motiven.

Unter Dirk Kaftan, Noch-GMD in Augsburg und künftig der Chefdirigent der Oper Graz, verliert sich das Orchester nicht im süffigen Irgendwo, sondern bleibt bei aller sinnlichen Lust am Glanz des Klangs doch scharf in der Kontur. Kaftan dirigiert, so scheint es, einen Stil, der sich mit dem Zeitgeist der Zwanziger Jahre gut verträgt: Das Technische bleibt – anders als etwa bei Korngold – erkennbar, wird nicht im Sound ertränkt. Aber Kaftan kann auch die riesenhaften Aufschwünge zelebrieren, wenn der Schaum des Fortissimos in den oberen Lagen der Instrumente versprüht, wenn sich das Blech und die tiefen Streicher aufmachen zum Parforceritt nach Wagner’s Manier, wenn grelle Klang-Spots die Grenzen der Tonalität verlachen und einen disharmonischen Lichtkegel in die Zukunft klanglicher Entwicklung werfen.

GMD-Karriere in NRW begonnen

Kaftan ist in Nordrhein-Westfalen übrigens kein Unbekannter: Zu Beginn seiner Karriere, einer klassischen Kapellmeisterlaufbahn, „umkreiste“ er das Ruhrgebiet: Korrepetitor in Bielefeld, Kapellmeister in Münster, Bielefeld und Dortmund. Als er 2006 nach Graz ging, hatte er sich durch seine dynamische Arbeit am Dortmunder Opernhaus schon einen guten Namen geschaffen.

Projektion und Verdoppelung: Sally du Randt und Stephen Owen als Judith und Blaubart in Augsburg. Video: Patrik Metzger. Foto: A. T. Schaefer

Projektion und Verdoppelung: Sally du Randt und Stephen Owen als Judith und Blaubart in Augsburg. Video: Patrik Metzger. Foto: A. T. Schaefer

Szenisch stellt das Team Timo Dentler (Bühne), Okarina Peter (Kostüme), Patrik Metzger (Videos) und Henning Streck (Licht) das absichtsvoll verrätselte Stück in die zwielichtige Atmosphäre eines Metallgerüsts, das an eine historische Filmtrommel erinnert. Mit weißen Bahnen verhängt oder von einer Leinwand halbiert, gibt dieses Rund den Schauplatz der „Blaubart“-Handlung. In ihren Grundzügen folgt sie zwar dem Mythos von dem Frauenmörder, aber die Vorlage, ein Schauspiel des vergessenen Dramatikers Herbert Eulenburg, geht andere Wege als etwa Bartoks Oper über den gleichen Stoff.

Rezniceks und Eulenburgs Oper biegt den Mythos um zu einem großbürgerlichen Psycho-Stück, spart nicht mit symbolistischen Anklängen, lässt Blaubart am Ende an der Unverfälschtheit einer Frau scheitern. Man mag sich an Wagners „Holländer“ erinnern, aber auch an Schrekers „Irrelohe“, wenn Blaubart „dieses Lebens furchtbaren Alb voll Graus und Mord“ von sich schleudert und sich vom Feuer geläutert („Vernichtung! Erlösung!“) zur Sonne emporsehnt: eine säkulare Licht-„Religion“, wie sie der avantgardistischen Kultur des beginnenden 20. Jahrhunderts nicht fremd war.

Regisseur Manfred Weiß arbeitet eine Inszenierung aus, die geschickt die Assoziationen an die Psycho-Filmthriller eines Alfred Hitchcock oder die expressionistischen Schwarz-Weiß-Filme nutzt, wie sie die Wiener Jacob und Luise Fleck („Die Schlange der Leidenschaft“, 1918), Fritz Lang oder Robert Wiene („Orlacs Hände“, 1924) gedreht haben. Das Eröffnungsbild mit dem gespiegelten Raum erinnert an „Vertigo“; als Blaubart seine Braut Judith ermordet, zitiert die Szene mit dem herabfahrenden Messer und zerschlitzten Vorhängen die legendäre Dusch-Szene aus „Psycho“.

Der Monster-Mythos wird nicht bedient

In Farbe lässt Weiß die Morde an den fünf früheren Frauen auf die Leinwand inmitten der Trommel projizieren: alptraumhafte Erinnerungen, Bildfetzen, grelle Eindrücke traumatisierender Taten. Blaubart balanciert in diesem Stück auf einer gefährlichen Linie: Er ist Täter und Getriebener, ein großbürgerlicher Ritter und ein monströser Mörder, ein Psychopath, bei dem ein Klick genügt, um die unheilvolle innere Schraube in Drehung zu versetzen, die unweigerlich zur Bluttat führt.

Stephen Owen schlüpft nicht in die Rolle des düsteren Dämons. Manchmal hätte man sich einen Doktor-Mabuse-Touch gewünscht, aber Manfred Weiß‘ Regie und Owens Darstellung meiden die Horror-Klischees: Das Abgründige kommt nicht als Monster daher, sondern als jovialer, gesellschaftlich eingebetteter Grandseigneur. Die unheilvollen Ahnungen des Grafen Nikolaus (charakteristisch, aber undifferenziert laut: Vladislav Solodyagin) zerstreut er generös. Auch Werner, der Sohn des Grafen, spürt die Ausstrahlung Blaubarts; ihn aber treibt der schillernde Charakter zu einer fast homoerotisch anmutenden Faszination. Christopher Busietta füllt die kleine Rolle psychologisch genau beobachtet aus.

Blaubart – der in Rezniceks Oper mit dem banalen Vornamen „Rainer“ aus der Mythen-Sphäre gelöst wird – hat einst seine erste Frau in flagranti mit seinem besten Freund erwischt und diesen im Affekt erschossen. Die Frau, so heißt es, starb vor Schreck. Diese Szenerie wiederholt Blaubart traumatisch-zwanghaft bei jeder seiner Frauen – auch bei Judith, die schlank und blond wie alle anderen, die Erinnerung hervorruft. Sally du Randt hat die ideale Figur, das souverän weibliche Auftreten, die blonden Haare, um die krankhaften Muster abzurufen. Manfred Weiß schildert das mit der Genauigkeit eines Filmregisseurs.

Wichtige Ausgrabung mit Blick auf Wagner

Bei der Beerdigung Judiths setzt Blaubart seine vampirische Ausstrahlung gezielt ein, um Judiths Schwester Agnes zu bezaubern. Agnes – das Unschuldslamm – bleibt sie selbst, lässt sich nicht in das kranke Rollenbild zwingen, reißt die blonde Perücke, die ihr Blaubart aufzwingen will, wieder ab. Ihre Authentizität bricht den Bann. Katharina von Bülow zeigt diesen Widerstand aus Treue zu sich selbst in einer stimmigen, genau beleuchteten Darstellung, singt die Agnes mit klarem, gerundetem Sopran.

Mark Bowman-Hester als Diener Josua (links) ist eine der rätselvollen Figuren der Oper. Rechts: Stephen Owen als Blaubart. Foto: A. T. Schaefer

Mark Bowman-Hester als Diener Josua (links) ist eine der rätselvollen Figuren der Oper. Rechts: Stephen Owen als Blaubart. Foto: A. T. Schaefer

Eine dunkle, rätselvolle Figur hat Mark Bowman-Hester mit charakteristisch grellem Tenor und ausgearbeiteter Körpersprache darzustellen: Er ist der blinde Josua, eine jener sinistren Dienerfiguren, die schon in der englischen „gothic novel“ in den Handlungen spuken. Er setzt am Ende das Schloss in Brand: Irres Austicken oder Rache für Jahrzehnte der Qual? Das Libretto hält das wahre Motiv, wie so vieles in diesem Stück, in absichtsvoller Schwebe.

Mit Rezniceks „Ritter Blaubart“ ist dem Theater Augsburg eine wichtige Ausgrabung gelungen. Die Einwände gegen die Länge der Oper – zweidreiviertel Stunden – und gegen die dramaturgisch scheinbar ungeschickt eingesetzten langen instrumentalen Einschübe verlieren an Gewicht, wenn man der psychologisch motivierten Dramen-Struktur des Stücks folgt. Weiß und sein Team haben Rezniceks sinfonische Exaltationen unter anderem mit einem japanischen Blaubart-Trickfilm sinnvoll in das Geschehen eingebunden und somit den Spannungsbogen nicht reißen lassen. Dieser Komponist verdient es, auch andernorts beachtet zu werden: „Ritter Blaubart“, aber auch seine „Donna Diana“ lohnen den Fleiß des Ausgräbers.

In Augsburg geht’s im Mai mit der Serie von Opern aus dem 20. Jahrhundert vor der Nazi-Barbarei weiter: mit Korngolds Einaktern „Violanta“ und „Der Ring des Polykrates“ von 1916 (Premiere: 31. Mai).




Hohepriesterin des Gesangs: Montserrat Caballé wird 80 Jahre alt

Auf YouTube findet sich eine Aufnahme aus dem Teatro de la Zarzuela in Madrid aus dem Jahr 1978: Montserrat Caballé singt in einer staubigen, altbackenen Inszenierung „Norma“. Schepperndes Orchester, mäßige Tonqualität, die Sängerin mit einem plumpen Mistelzweig in der Hand und übertriebenen, auf Fernwirkung ausgelegten Augenbrauen. Und doch: Dieser Ausschnitt aus der großen Szene der Norma, „Casta Diva“, zeigt Caballé auf der Höhe ihres Könnens: Ihr Blick ist unverwandt in die Ferne gerichtet, ihre balsamischen Töne erzeugen eine melancholische Aura um die Priesterin.

Herzlich und humorvoll ist die Caballé im Umgang auf und hinter der Bühne. Foto Agentur Schmerbeck

Herzlich und humorvoll ist die Caballé im Umgang auf und hinter der Bühne. Foto Agentur Schmerbeck

Vor allem aber: Ihr Gesicht, ihr Hals ist frei von jeder Anspannung. Die Lippen sind locker, öffnen sich mit natürlichem Ausdruck, formen sich wie die Schallöffnung eines Blasinstruments. Die ätherischen Melismen, die ewig anmutenden Phrasierungen fließen ohne Anstrengung. Montserrat Caballé – die Hohepriesterin des schönen Gesangs. Heute, am 12. April, wird die Sängerin 80 Jahre alt.

John Steane, einer der bedeutendsten Sänger-Kritiker überhaupt, zählte Caballé gemeinsam mit Lilli Lehmann, Rosa Ponselle und Maria Callas zu den vier besten auf Tonträger dokumentierten Sängerinnen des verzierten lyrisch-dramatischen Fachs. Der Weg dorthin war der 1933 in einfachen Verhältnissen geborenen Katalanin nicht vorgezeichnet. Nach dem Studium in Barcelona und ersten Erfahrungen mit Zarzuelas, den unterhaltenden Operetten ihrer Heimat, bekam sie 1956 ihr erstes Engagement in Basel. In Italien, wo man damals hochdramatisch dröhnende Organe bevorzugte, wollte sie niemand haben.

In der Schweiz und bei einzelnen Gastauftritten an deutschen Bühnen sang sie das Repertoire, das sie zunächst für sich bevorzugte: Mozart, Verdi, Strauss. Pamina und Donna Elvira gehörten dazu, Salome, Aida, aber auch Marta in Eugen d’Alberts „Tiefland“, Renata in Prokofjews „Der feurige Engel“ und Marie in der szenischen Uraufführung der Oper „Tilman Riemenschneider“ von Casimir von Paszthory. Zwei Mal sang sie 1959 an der Wiener Staatsoper, hinterließ aber offenbar keinen Eindruck: als Donna Elvira in Mozarts „Don Giovanni“ und in der Titelpartie von Richard Strauss „Salome“.

Ein Bild aus den Anfangstagen der Karriere: Montserrat Caballé und Matti Lehtinen in der Oper "Tilman Riemenschneider" von Casimir von Pászthory 1959 am Theater Basel. Foto Theater Basel

Ein Bild aus den Anfangstagen der Karriere: Montserrat Caballé und Matti Lehtinen in der Oper „Tilman Riemenschneider“ von Casimir von Pászthory 1959 am Theater Basel. Foto Theater Basel

Als sie 1971 nach Wien zurückkehrte, war das anders. Inzwischen hatte sie ihre „Galeerenjahre“ in Basel und Bremen hinter sich, hatte in Mexiko gastiert und war 1965 für Marilyn Horne in New York eingesprungen, in Gaetano Donizettis damals kaum gespielter Oper „Lucrezia Borgia“. Auch für die 32jährige Sängerin war das zunächst nur ein – wenn auch erfolgreicher – exotischer Ausflug neben ihrer „Figaro“-Gräfin und einer Rosenkavalier-Marschallin in Glyndebourne oder der Marguerite in Gounods „Faust“ in New York.

Triumphe – aber nicht in Deutschland

Als sie 1970 ihre erste Norma sang, hatte Caballé sich auf der Schallplatte als Bellini-, Rossini- und Donizetti-Sängerin einen Namen gemacht, also in jenem Repertoire, das außer Maria Callas in den Nachkriegsjahren nur sehr wenige Sängerinnen adäquat beherrschten. Hinfort, so beklagte Caballé einmal in einem Interview, wurde sie auf dieses Genre festgelegt.

Nach Wien kehrte sie 1971 als Leonora im „Troubadour“ und als Elisabetta in „Don Carlo“ zurück – eine ihrer besten auf Tonträger dokumentierten Rollen. Man hatte nicht das Repertoire für eine Sängerin, die sich den Belcantisten des 19. Jahrhunderts verschrieben hatte; Opern wie Donizettis „Anna Bolena“ oder gar Raritäten wie Giovanni Pacinis „Saffo“ waren damals im deutschsprachigen Raum nahezu undenkbar. In ihrer Heimatstadt Barcelona, in USA und in Mailand dagegen triumphierte sie als Maria Stuarda oder Lucrezia Borgia, als Norma oder als Lina in Verdis „Aroldo“.

So ist es nicht verwunderlich, dass Montserrat Caballé – außer zum Beispiel in Hamburg – kaum an großen deutschen Bühnen auftrat. Erst im Herbst ihrer Bühnenkarriere nahm sie das breite Publikum wahr. In Wien sang sie 1988/89 eine Serie von Vorstellungen der damals wiederentdeckten Rossini-Spezialität „Die Reise nach Reims“ und brillierte mit ihrem komischen Talent als Duchesse de Crakentorp in Donizettis „Regimentstochter“ (2007). Längst hatte sie die anspruchsvollen Belcanto-Partien aufgegeben und sich – nach Herzproblemen 1985 – auf Konzerte konzentriert. Ihre Auftritte mit Marilyn Horne waren Publikumsmagneten, aber auch stets in Gefahr, große Belcanto-Nummern als das zu verkaufen, was sie gerade nicht sein wollen: Primadonnenzirkus.

Ein Instrument von „superber Qualität“

Maria de Montserrat Caballé – der Vorname verweist auf eine berühmte schwarze Madonnenstatue in der Benediktinerabtei Santa Maria de Montserrat bei Barcelona – wollte weder eine Diva sein noch als Nachfolgerin der Callas gelten, obwohl sie ihr dankbar war, das Tor zu den vergessenen Schätzen des Belcanto aufgestoßen zu haben. Die Stimme der Caballé war prädestiniert für diese Art von Vortrag: perfekt ausbalanciert in den Registern, weich und flutend in der Tongebung, schmelzend in den leisen Tönen.

Caballés Atemtechnik ist stupend – auch das ist in der erwähnten „Norma“-Aufzeichnung zu hören. Die Töne strömen schier endlos und ihr Atemholen ist fast unmerklich, stört das Ausschwingen der Phrasen in keinem Moment. In ihren besten Jahren zwischen 1965 und 1985 verband Caballé diese vokalen Tugenden auch mit ausdrucksvoller Eloquenz, mit brillanter, aber nie übertriebener Attacke und mit einem nuancenreichen Vortrag. Ihr dunkel schimmerndes Timbre, das erst in späteren Jahren zu einzelnen Schärfen neigte, wurde gerühmt. Keine geringere als Giulietta Simionato sagte ihr „superbe Qualität“ nach.

Es gab aber auch harsche Kritik: Cathy Berberian, Gesangs-Ikone der modernen Musik, die nicht im Entfernten über die Technik der Caballé verfügte, warf ihr vor, nicht darüber nachzudenken, was sie singe und sich auf den reinen Klang zu konzentrieren. Für Berberian bedeutete eine schöne Stimme nichts – Reflex der aus dem Verismo kommenden Kritik an den Stimmen der Ära vor Caruso und dem distanzierten Stil eines Singens, das Ausdruck durch Klang statt durch Rhetorik erzielen will.

In Deutschland sprach Ulrich Schreiber von einem „fossilartigen künstlerischen Zustand“ und beschrieb damit offenbar den Geschmack, der an deutschen Opernhäusern vorherrschte und der zuließ, dass italienisches Repertoire von Sängern interpretiert wurde, die weit von den stilistischen und vokalen Anforderungen der Partien entfernt waren. Jürgen Kesting gibt sich milder, konstatiert ein Fehlen „entscheidender Momente einer kommunikativen Kraft“ in Caballés sängerischem Ausdruck. Dass die Sängerin in Deutschland so selten auf der Bühne stand, hatte also nicht nur mit dem Regietheater der achtziger Jahre zu tun.

An ihrem heutigen 80. Geburtstag ist es still um Montserrat Caballé. Jahrelang hatte sie versucht, mit den Resten ihrer Stimme, mit charmantem Humor und unglaublicher Selbstironie Konzerte zu geben; viele Menschen kamen, weil sie sich bewusst waren, die letzte Protagonistin einer vergehenden Ära zu erleben. Ihren 75. Geburtstag beging sie im April 2008 mit einem Konzert in der Philharmonie Essen.

Das neueste Caballé-Album mit fünf CD. Bild: EMI

Das neueste Caballé-Album mit fünf CD. Bild: EMI

Zu einer Abschiedstournee will die Sängerin dennoch noch einmal antreten – ungeachtet ihrer gesundheitlichen Probleme, die ihr in den letzten Jahren schwer zu schaffen machten. Abgesagt ist allerdings schon ihr geplanter Auftritte in Düsseldorf; angekündigt sind Wien am 30. April und im Herbst Halle/Saale, Luzern und Linz.

Aus Anlass ihres Geburtstags hat die Plattenfirma EMI eine fünf CDs umfassende Box aufgelegt: „The Sound of Montserrat Caballé. Her great opera roles“ (EMI 7212962). Zahlreiche ihrer Gesamtaufnahmen – darunter Raritäten von Bellini und Donizetti – sind noch auf dem Markt, unter anderem die von Jürgen Kesting hoch geschätzte „La Traviata“ mit Carlo Bergonzi unter Georges Pretre (RCA), „Don Carlo“ mit Placido Domingo unter Carlo Maria Giulini (EMI 9668502) oder ihre „Aida“ unter Riccardo Muti (EMI 6406302).




„Fantasia“ mit Live-Orchester in Köln: Beethovens Visionen und Disneys Arkadien

Nur noch wenige mediale Ereignisse schaffen es, eine reine, unverstellte, gleichsam kindliche Poesie in unser Leben zurückzuholen. Walt Disneys „Fantasia“ gehört dazu.

Der große Wurf des Altmeisters der filmischen Erfindungsgabe lässt sich heute als DVD oder Blu-Ray bequem aus heimischen Surround-Anlagen genießen. Aber eine Aufführung in großem Raum – und noch dazu mit Live-Orchester – wie jetzt in der Kölner Philharmonie vermittelt den Zauber der bewegten Bilder zur Musik doch noch einmal anders als eine heimische Anlage, die trotz aller technischer Perfektion eben doch „Pantoffelkino“ bleibt.

Die beiden Konzerte in Köln, bestritten von der Neuen Philharmonie Westfalen, waren in ihrer Szenenfolge eine Mischung aus „Fantasia“ von 1940 und der 2000 in die Kinos gekommenen Weiterführung, die Disneys ehemaliger Mitarbeiter Hendel Butoy und ein illustres Regieteam verantworteten. So mussten die Zuschauer etwa auf den legendären „Tanz der Stunden“ zu Amilcare Ponchiellis Ballettmusik aus „La Gioconda“ verzichten. Dafür war „Clair de Lune“ nach Claude Debussys raffinierter Stimmungsmalerei zu sehen. Die Sequenz war als Moment der Ruhe für den ursprünglichen Film gedacht, blieb aber dann außen vor. Erst eine 1996 erfolgte Rekonstruktion machte die Szene zugänglich, die zu den künstlerisch anspruchsvollsten der beiden Fantasia-Filme gehört.

Mickey in Disneys "Fantasia". Bild: bb-promotion

Mickey in Disneys „Fantasia“. Bild: bb-promotion

Dass die Wurzeln des Films zu den „comic strips“ der Zwanziger Jahre zurückreichen, sollte nicht dazu verführen, „Fantasia“ als Kinderfilm oder als lustig-anspruchslosen Zeitvertreib misszuverstehen. Ohne das durchschnittliche Publikum aus den Augen zu verlieren, wollte Disney etwas Begeisterndes, Unterhaltendes, Schönes aus den Mitteln von Musik, Bild und Farbe schaffen. Denn er war überzeugt, dass Wahres, Gutes und Schönes für jeden Menschen, nicht nur für eine elitäre Auswahl, zugänglich sei.

Ein Anspruch, den er auch nicht an das Geschäft verriet: Die Keimzelle des Films, die Szene, in der Mickey Mouse als „Zauberlehrling“ nach Paul Dukas‘ Musik auftritt, hat damals so viel gekostet, dass eine Refinanzierung ausgeschlossen war.

Heute noch lässt die aufwändige Machart der Szenen von 1940 staunen. Die sprühenden und funkelnden Sternchen und Tautropfen, die sich zu Tschaikowskys „Tanz der Zuckerfee“ über Blumen und Spinnweben ergießen, können mühelos mithalten mit den Farbexplosionen, die „Fantasia 2000“ zu Beethovens Klopfmotiv im Beginn der Fünften Symphonie auf die Leinwand wirft. In den winzigen, leuchtenden Feen, die ihre Lichtbahnen durch die Dämmerung ziehen, liegt auch der Zug zum Abstrakten, der in anderen (nicht gezeigten) Teilen – wie Bachs Toccata und Fuge d-Moll – expliziert wird und an der übrigens der deutsche Trickspezialist und Maler Oskar Fischinger entscheidend Anteil hatte. Er gilt als einer der Vorläufer der modernen Videoclips – und auch „Fantasia“ selbst lässt sich so verstehen: als frühe Form der visuellen Umsetzung musikalischer Impressionen. Denn in „Fantasia“ werden die Musikstücke nicht als „Untermalung“ von filmischen Sequenzen oder als klassische Filmmusik eingesetzt, die emotionale Affekte steigern soll. Das Gegenteil ist der Fall: Die Bildwelt der Szenen ist inspiriert und dominiert von der Musik.

Magie und Poesie: Das sind stets sehr subjektiv zu empfindende Zustände, und was dem einen kitschig oder banal vorkommt, kann beim anderen an tiefe Gefühle rühren. Als künstlerische Kriterien sind diese Begriffe eher mit Vorsicht zu genießen. Die niedlichen kleinen Zentauren, Einhorn-Jungen und Genien in der Filmfolge zu Beethovens Sechster Symphonie mögen also als kindlich, naiv oder unangemessen empfunden werden – selbst wenn man die perfekte Choreografie der Szenen würdigt. Aber: Ist vielleicht ihre bezaubernd naive Anmut, ihr jeder Realität entzogenes heiteres Spiel nicht doch eine Annäherung an jenes Beethoven’sche Arkadien, in dem die Landleute unbeschwert sind und der Sturm nicht wirklich bedrohlich? Und in dem die „frohen und dankbaren Gefühle“ eine visionäre Kraft habe, die in einem „realistischen“ Bild unweigerlich in den Kitsch abgleiten würde? Disneys Zeichner dagegen entwerfen eine Welt, die in ihrer Comic-Herkunft eine ganz sanfte, leise Ironie mitbringt, doch in ihrer reinen Imagination bezaubernd unerreichbar bleibt.

Unter dem Filmmusik-Spezialisten Scott Lawton – er ist Chefdirigent des Deutschen Filmorchesters Babelsberg und arbeitet seit 2005 mit dem Landespolizeiorchester Nordrhein-Westfalen – blieben die Musiker der Neuen Philharmonie Westfalen stets am visuellen Geschehen „dran“. Tempo und Rhythmus werden von den Bildern festgelegt und vom Orchester so gut wie durchgehend punktgenau platziert. Der Klang war kompakt, aber konturenreich und farbig. Die Musiker stellten sich rasch auf die unterschiedlichen musikalischen Welten ein: von der pointierten Rhythmik Tschaikowskys über die rätselvolle Clarté Debussys hin zu den Wagner-Resonanzen in Ottorino Respighis „Pini di Roma“, den klangmalerischen Finessen von Dukas‘ „Zauberlehrling“ und der gleißenden Brillanz von Strawinskys „Feuervogel“. Und mit der kraftvollen Marianna Shirinyan am Flügel fühlten sich die Westfalen auch in der chromatisch lasziven, nervösen Welt von Gershwins „Rhapsody in Blue“ hörbar zu Hause.




Emotionaler Ausnahmezustand: Grigory Sokolov in Köln – und bald in Gelsenkirchen

Grigory Sokolov braucht kein „Einspielstück“. Er ist sofort mittendrin. Die einstimmige Melodie zu Beginn von Schuberts Impromptus c-Moll (op. 90,1) spielt er zurückhaltend, tastend, als müsse sie sich ihrer selbst versichern. Dann, sobald sie ihre akkordische Verdichtung erfährt, formuliert er sie zunehmend selbstsicher. Ein zögernder Einwand, eine harmonisch klare Antwort in selbstbewusstem Forte.

Harmonische Erweiterungen, Schärfungen, Modulationen: Sokolov behandelt Schuberts verwickelte Wanderungen wie die Rhetorik einer nuancenreichen Sprache. Nichts ist dem Zufall überlassen, alles in einem dichten Geflecht aufeinander bezogen. Intellektuelle Höchstleistung korrespondiert mit sinnlicher Klarheit. Dieser Schubert sucht seinesgleichen.

Sokolov hat in der Kölner Philharmonie mit den vier Impromptus op. 90 (D 899), mit Schuberts drei Klavierstücken (D 946) und mit der „Hammerklaviersonate“ Ludwig van Beethovens ein denkbar schwieriges Programm in gewohnter Souveränität gemeistert. Wie das c-Moll-Impromptus aus seinen simplen Anfängen in bescheidene Zweistimmigkeit zurücksinkt, dazwischen aber ein riesiger Bogen zu schlagen ist, stellt manuell wenig Probleme, geistig aber umso anspruchsvollere Herausforderungen.

Franz Schubert. Lithografie des 19. Jahrhunderts

Franz Schubert. Lithografie des 19. Jahrhunderts

Auch das zweite in Es-Dur will in seinem Gegensatz von rauschender, brillanter Bewegung und dramatischer Zuspitzung bewältigt sein. Sokolov gelingt das eine so überzeugend wie das andere; er formuliert zu Beginn vollgriffig, in silbrigem Strahlen, ändert aber die Beleuchtung bald und führt das Thema in grandiosem Ton zu Ende. Man ist geneigt, an Franz Liszt zu denken – und in der Tat: Über Karl Czerny, der bis heute zu Unrecht als bloß äußerlicher Virtuose gilt – schlägt sich die Brücke von dem früh verstorbenen Wiener Genius zu dem zwischen Paris, Weimar, Rom und Bayreuth vagierenden Schöpfer des späten romantischen Virtuosentums. Sokolov lässt etwas von der Faszination solcher hexerischer Expression aufblitzen und ruft spontanen Beifall hervor.

Mag sein, dass ihm das dritte Impromptu in Ges-Dur am schönsten, innigsten gelingt: ein Gesang in erlesenem Legatissimo, schwärmerische Crescendi, die in leuchtende Piani zurücksinken, ein romantischer Puls im Rhythmus, eine magische Kunst des rubatogestützten Steigerns. Wie Sokolov die „einfache“ Linie in Bewegung hält, wie er – auch im As-Dur-Impromptus – die Melodie dynamisch vielfältig gestaltet fließen lässt, wie er den formenden Gedanken durch kantable Differenzierung gestaltet: Das würde man sich von so manchem Operndirigenten wünschen!

Sokolov sieht die sieben Klavierstücke als Folge – beim Beifall nach den vier Impromptus erhebt er sich nicht vom Flügel, sondern wartet angespannt, bis er mit den rollenden Triolen des „Allegro assai“ in es-Moll weitermachen kann. Sokolov treibt dieses Stück energisch an, schärft die Punktierungen schroff und schneidend, erinnert im rastlosen Tempo und der leuchtenden Akkordik ein weiteres Mal an Franz Liszt. Im zweiten Stück, in Es-Dur, betont er wieder das Sangliche; im dritten arbeitet er den Rhythmus in trockenem Anschlag aus. Drängend und heftig zupackend verwandelt er Schuberts romantische Anmutung in ein expressionistisches Charakterstück, das mit vollem Recht den ersten enthusiastischen Beifall der vollbesetzten Kölner Philharmonie entzündet.

Und noch einmal Franz Liszt: Er hat die „unspielbare“ Große Sonate für das Hammerklavier nach Beethovens Tod erstmals wieder gespielt. Und Sokolov erinnert daran, dass es in op. 106 nicht mit dem herrischen Fanfarenton des Beginns oder den pathetischen Rhythmen der Durchführung, nicht mit den grotesken Fortissimo-Oktaven des Scherzo oder den hämmernden, kontrapunktischen Sechzehntelläufen des Finalsatzes getan ist. Sondern er zeigt mit seinem Sensus für die Poesie des Beginns, für das Zarte und Leise, wie Beethoven in diesem Sonaten-Ungetüm mit Kontrasten, mit musikalischen Schattenwelten ebenso arbeitet wie mit dem virtuosen Gipfelsturm.

Sokolov artikuliert heftig und kraftvoll, aber noch bewundernswerter ist, wie er im Adagio durch klugen Pedaleinsatz den Zusammenhang wahrt, wie er das langsame Tempo ausfüllt durch einen unendlichen Atem, wie er aber auch Figurationen herb anschlagen und damit aus einer Sphäre wohliger Piano-Wattierung lösen kann. Denn dieses Adagio gewinnt seine schmerzliche Intensität nicht durch Klavier-Belcanto, sondern durch eine extreme Innenspannung, die Sokolov in einer geradezu anti-romantischen Klarheit fördert. Der Beifall war riesig und ließ erst nach einer halben Stunde und sechs Zugaben erschöpft nach. Auf Sokolovs Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr am 9. Juli in Gelsenkirchen – übrigens mit dem gleichen Programm – darf man sich jetzt schon freuen.




Köln: Filmklassiker „Fantasia“ mit Live-Begleitung

Filmmusik richtet sich normalerweise aus an den Bildern und Stimmungen, die der Produzent eines Streifens vorgibt. Im Falle von Walt Disneys „Fantasia“ ist das genau umgekehrt: Der Schöpfer von Mickey Mouse ließ Bilder zu Musik komponieren. Er gab seinen Zeichnern weltberühmte Musik zu hören und beauftragte sie, die Klänge in Bildern zu fassen.

Herausgekommen sind zauberhafte Filmsegmente, die Disney selbst zu einem Film zusammenfasste. In „Fantasia“ gibt es kurze erzählende Episoden wie jener legendäre Kampf Mickeys mit den widerspenstigen Besen zu Paul Dukas‘ „Zauberlehrling“; witzige Szenen wie das Ballett der Tiere zu Amilcare Ponchiellis „Tanz der Stunden“; ästhetische Choreografien wie zu Tschaikowskys „Nussknacker“ oder abstrakte Kompositionen wie Zeichnungen zu Toccata und Fuge d-Moll von Johann Sebastian Bach.

"Fantasia": Mickeys Kampf mit dem Besen. Bild: bb-promotion

„Fantasia“: Mickeys Kampf mit dem Besen. Bild: bb-promotion

Das zweistündige Zeichentrick-Werk sollte ursprünglich „Der Konzertfilm“ heißen, weil dem Besucher zur Musik die Fantasiebilder der Zeichner gezeigt werden sollten. Die Musik, so war geplant, sollte dennoch im Mittelpunkt stehen. Dazu arbeitete Disney mit dem Dirigenten Leopold Stokowski zusammen, der aufgeschlossen war für neue mediale Wege der Musikvermittlung – und der auch im Film auftaucht. Disney hat sogar einen neuen Kino-Sound erfunden, einen Mehrkanal-Ton, den er „Fantasound“ nannte.

Technische Hilfsmittel brauchen die Zuhörer in der Kölner Philharmonie allerdings nicht: Am 3. und 4. April wird „Fantasia“ live begleitet auf Großbildleinwand zu sehen sein. Die Neue Philharmonie Westfalen spielt unter Scott Lawton und mit Marianna Shirinyan am Klavier all die unsterblichen Stücke, die Disney für sein Fantasia-Projekt ausgesucht hatte. Der Klassiker der Filmgeschichte, der 1940 entstand und zwei Jahre später mit zwei „Ehren-Oscars“ ausgezeichnet wurde, beginnt jeweils um 19 Uhr.

Karten: (52 bis 79 Euro): (0221) 280 280.




Rätselhafter Ausklang: Strauss‘ „Alpensinfonie“ in der Philharmonie Essen

Aufführungen der „Alpensinfonie“ von Richard Strauss sind stets ein herausforderndes Ereignis: Gebraucht wird ein Riesenorchester und ein Dirigent, der die Klangmassen nicht nur wuchtig und monumental ausspielt, sondern gliedert, staffelt und zügelt.

Marc Albrecht versuchte mit dem Nederlands Philharmonisch Orkest in der Philharmonie Essen sein Bestes: Er hielt die Dynamik im Zaum, damit die Höhepunkte wirken. Er nahm die lautmalerischen und die effektvollen Stellen zurück, damit das Werk nicht allzu sehr zu einer tönenden Gebirgspostkarte verkommt.

Vor allem aber konnte er zeigen, dass Strauss nicht bloß gewaltige Filmmusik geschrieben hat, sondern die literarischen Naturbilder im Sinne der Romantik aufzufassen sind: Aus der tonal verdunkelten Tiefe steigt der musikalische „Wanderer“ auf zu leuchtend ungebrochener C-Dur-Vollkommenheit, um sich dann Stürmen und Gewittern zu stellen und in einem rätselhaften Cluster in der Tonart b-Moll die Wanderung „ausklingen“ zu lassen. Die „Nacht“, die sich am Ende einstellt, ist nicht mehr romantisch-samten, sondern irritierend dunkel; das b-Moll des Nebels lässt sie undurchsichtig werden.

Wer die Sinfonie vom Ende her betrachtet, fragt sich, ob die filmischen Schauplatz-Bezeichnungen der Sätze nicht eher ihren Sinn verschleiern als erhellen. Und es schleicht sich ein Verdacht ein, den der Komponist Helmut Lachenmann einmal geäußert hat: Dass Strauss hier näher an Mahler und Schostakowitsch rückt, als die Bewunderer und Verächter des umstrittenen Werks wahrnehmen. Albrechts Verdienst war es, die Sprödigkeiten nicht zum samtenen Klang zu glätten, sondern als Ausdrucks-Ausrufezeichen stehen zu lassen. Reibungslose Schönheit hatten die Niederländer nicht im Sinn. Andererseits will Albrecht auch das Illustrative, das Vordergründige nicht leugnen. Aber die „gespenstische Emphase“, die Lachenmann in dieser Musik vernehmen will, macht er greifbar.

Einige Besucher des Pro-Arte-Konzerts wollten sich der Wanderung nicht aussetzen. Sie ließen sich in der Pause die Mäntel geben und begnügten sich mit Beethovens Viertem Klavierkonzert – wohl in der Meinung, diese Musik sei tiefgründiger oder verständlicher als der Strauss-Brocken. Irrtum: Sie ist nur vertrauter. Alexei Volodin spielte mit lockerer, eleganter Hand, klassizistischer Noblesse, Detail-Aufmerksamkeit und emotionaler Betroffenheit, vor allem im mittleren Satz, den er gemeinsam mit dem Dirigenten zum expressiven Adagio verlangsamte. Über den Gebrauch des Pedals und die saloppe Präzision mancher Stelle ließe sich streiten; ebenso über das überdrehte Tempo in der Chopin-Zugabe.




Der neue Papst setzt Zeichen: Mit dem Bus ins Gästehaus

Bei den Fernsehleuten herrschte eher Gelassenheit: Eine Diskussionsrunde mit der spekulativen Frage nach persönlichen Favoriten, ein paar Bilder von Menschen unter Regenschirmen auf dem Petersplatz, immer wieder der Schornstein über der Sixtinischen Kapelle, von Scheinwerfern angestrahlt. Und dann, um 19.05 Uhr, Rauch, dichter weißer Rauch. Eine schnelle Entscheidung, mit der kaum jemand unter den Wartenden gerechnet hatte: Schon im fünften Wahlgang war der neue Papst gewählt – eines der kürzesten Konklave der Kirchengeschichte.

Rom hat einen neuen Bischof - und die Weltkirche einen neuen Papst. Blick auf S. Pietro. Foto: Werner Häußner

Rom hat einen neuen Bischof – und die Weltkirche einen neuen Papst. Blick auf S. Pietro. Foto: Werner Häußner

Eine gute Stunde nach dem Rauchzeichen folgte die noch größere Überraschung: Keiner der „heißen“ Kandidaten trat da auf die Loggia des Petersdoms, angekündigt mit den Worten „Habemus Papam“. Mit Jorge Mario Bergoglio hatte keiner der Auguren gerechnet. Der Kardinal von Buenos Aires stand nicht auf der Liste der medialen Favoriten.

Die Wahl des argentinischen Jesuiten, Indiskretionen zufolge der Konkurrent Joseph Ratzingers im Konklave von 2005, dürfte eine klare Entscheidung der 115 wählenden Kardinäle gewesen sein: Kein Mann der Kurie wurde Papst. Kein Europäer. Keiner, der für eine ungebrochene Fortsetzung des Pontifikats Benedikts XVI. steht – da mögen die Harmonisierer noch so bemüht sein: Bergoglio verkörpert wohl nicht die „Kontinuität“, die der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch aus Freiburg, in seiner ersten Stellungnahme beschwor. Eher dürfte zutreffen, was der Würzburger Bischof Friedhelm Hofmann feststellte: „Die Entscheidung verspricht etwas Neues.“

Franziskus I.: Der Name ist Programm

Welche Richtung der neue Papst einschlagen wird, darüber dürfte in nächster Zeit viel spekuliert werden, bis er seine ersten inhaltlichen Positionen formuliert und seine ersten Personalentscheidungen getroffen hat. Ein Akzent ist allerdings jetzt schon deutlich: Jorge Maria Bergoglio hat sich den Papstnamen „Franziskus I.“ gewählt. Ein neuer Name in der Liste der nun 266 Päpste der Katholischen Kirche. Der Name eines Heiligen, der für seinen einfachen Lebensstil, für seine radikale Zuwendung zu den Armen und Ausgegrenzten, für seine tiefe Christusfrömmigkeit bis heute viel geliebt wird. Und ein Heiliger, der den Auftrag Gottes hörte, seine Kirche neu aufzubauen.

Das ist ein Ruf, der Franziskus I. ganz irdisch von vielen entgegenschallen wird. Festzustellen, die Katholische Kirche habe den Neuaufbau nach den Pädophilie- und Vatileaks-Skandalen bitter nötig, ist wohl richtig, greift aber zu kurz. Denn die Krise der Kirche liegt tiefer: in ihrem gebrochenen Verhältnis zu einer rasch sich wandelnden Welt, in ihrem Ringen um Tradition und Fortschritt, in ihren – etwa in der Einstellung zur Homosexualität deutlich sichtbaren – Problemen mit einer zeitgemäßen Anthropologie, im innerkirchlichen Umgang mit Pluralität und Autorität. Die deutschen Reizthemen wie Frauenpriestertum oder Zölibat sind da eher Randfragen: Kein Papst wird sie per Federstrich im Sinne der Kirchenkritiker hierzulande entscheiden können. Selbst wenn er es wollte. Er würde eine Spaltung der Kirche riskieren.

Warnung vor der Übermacht des Geldes

Franziskus I. wird sich mit vielerlei Erwartungen konfrontiert sehen. Wir wird sich der „stille Intellektuelle“ – wie ihn die „Zeit“ 2005 beschrieben hat – den Herausforderungen seines Amtes stellen? Sein bescheidener Lebensstil, seine Nähe zu den Armen, seine politische Entschiedenheit etwa in sozialen und ökologischen Konflikten sind bekannt. Ein erstes Zeichen hat er auch als Papst schon gesetzt: Statt mit der bereitgestellten Limousine fuhr der Eisenbahnersohn kurz vor Mitternacht mit den Kardinälen im Bus ins Quartier S. Marta.

Aber auch seine Vergangenheit dürfte dem neuen Papst zu schaffen machen: Hatte er tatsächlich irgendeinen Anteil am skandalösen Verhalten der als besonders konservativ geltenden argentinischen Kirchenspitze in der Zeit der Militärdiktatur? Bergoglio wurde beschuldigt, zwei seiner Ordensbrüder nicht ausreichend vor der Verfolgung durch die Militärs geschützt zu haben. Auch soll er Kontakte mit einem Mitglied der Junta gepflegt haben. Auf der anderen Seite der Bilanz steht der Kampf des Kardinals gegen das soziale Elend und die Korruption in seinem Land. Vor einigen Wochen erst warnte er vor der alltäglichen Übermacht des Geldes, prangerte Menschen- und Kinderhandel an. Man wird, das dürfte sicher sein, von diesem Papst deutliche Worte hören.

Erste Reaktionen aus Essen

Für das in Essen ansässige Bischöfliche Hilfswerk Adveniat ist Franziskus I. „ein Papst, der die Armen kennt“. Prälat Bernd Klaschka, Adveniat-Geschäftsführer, sagte kurz nach der Wahl: „Ich glaube, dass die von den lateinamerikanischen Bischöfen getroffene Option für die Armen und für die Jugend einen wichtigen Stellenwert in seinem Pontifikat einnehmen wird.“

Eine weitere Reaktion aus Essen kam von Bischof Franz-Josef Overbeck: Die Wahl „berührt und bewegt mich sehr“, sagt der Ruhrbischof in einem Beitrag auf YouTube. Die Namenswahl des ersten Papstes aus Lateinamerika sei für ihn „ganz bedeutsam“. Franziskus sei ein großer Reformer der Kirche gewesen, mit einer „großen Einfachheit des Lebensstils und einer großen Tiefe im Glauben. Das ist auch heute ganz wichtig“. Der frühere Ruhrbischof und jetzige Bischof von Münster, Felix Genn, sieht in der Namenswahl „eine Botschaft für die Armen“.

Für die Katholische Kirche könnte das nun anbrechende Pontifikat von Franziskus I. ein Schritt von erheblicher Tragweite werden. Jetzt schon vergleichen Kommentatoren die Wahl Bergoglios zum Papst mit derjenigen von Papst Johannes XXIII. Deutlich zeigt sich der Wunsch nach Veränderung.

Nicht durchgesetzt haben sich diejenigen, die wieder einen Italiener an der Spitze der Weltkirche sehen wollten. Auch die Kardinäle, die auf eine Reform der Kurie und ein kollegialeres Verhältnis zwischen der römischen Zentrale und den Ortskirchen drängen, werden ihre Erwartungen in dieser Wahl manifestiert haben. Schließlich dürfte auch der Eurozentrismus mit diesem ersten lateinamerikanischen Papst der Kirchengeschichte und ersten Nicht-Europäer seit dem Syrer Gregor III. (731 bis 741) beendet sein.




Wagner-Jahr 2013: „Rienzi“ in Krefeld oder das Scheitern eines Ideals

Ein Riss durchzieht die Bühne, mal blutrot leuchtend, mal in giftigem Pink strahlend. Oder ist es eine Fieberkurve, ein Schützengraben, eine Börsengrafik?

Thomas Gruber hat für den Regisseur Matthias Oldag in Krefeld wieder einmal (wie schon bei Poulencs „Dialogues des Carmélites“ in Gera) einen schwarzen Kasten gebaut, dessen Boden und Wände programmatische Texte zeigen: Zeitungsausschnitte über Syrien, die Ukraine – und das Rom vor 800 Jahren. Damals lebten die Päpste im Asyl in Avignon, war das antike und christliche Haupt der Welt zerrissen zwischen machtgierigen Parteien Vieh züchtenden Stadtadels, wurde in unbedeutenden Verhältnissen ein Junge namens Nicola geboren, der später als Cola di Rienzo zu einer der schillerndsten Figuren des späten Mittelalters wurde.

Ein Riss spaltet die gesellschafttlichen Gruppen in "Rienzi" in Krefeld, sinnlich erfahrbar auf Thomas Grubers Bühne. Alle Fotos: Theater Krefeld-Mönchengladbach

Ein Riss spaltet die gesellschafttlichen Gruppen in „Rienzi“ in Krefeld, sinnlich erfahrbar auf Thomas Grubers Bühne. Alle Fotos: Theater Krefeld-Mönchengladbach

Die Buchstaben auf der Bühne wollen uns sagen: Hier, in Richard Wagners „Rienzi“, wird ein Ideendrama durchgespielt, hier geht es nicht um Liebe und scheiternde Beziehungen, sondern um Aufstieg und Fall eines Menschen, der eine Idee in sich trägt, sie fanatisch verfolgt und schließlich scheitert: Die gewaltigen roten Buchstaben, die den Namen „Rienzi“ bildeten, liegen im fünften Akt von Wagners Großer Oper wie Trümmer verstreut; der Chor, der sie  beiseite räumt, bildet für einen Moment daraus scheinbar zufällig „INRI“, die Aufschrift auf Jesu Kreuz.

Jesus, Hitler und Rienzi

Rienzi als „politischer“ Christus? Ein Mensch, der sich um eines höheren Ziels, eines Ideals willen opfert? Der wie Jesus aus dem Weg geräumt wird, als er den Mächtigen im Wege steht? Ein Charismatiker, der seine Verführungs-Macht von Gott zu haben glaubt und sich einzig durch den „Himmel“ rechtfertigt? Oldags Bezüge wollen theologisch nicht korrekt sein, aber sie benennen einzelne Aspekte, die sich auch in der Passion Jesu entdecken lassen. Doch sie lassen auch an eine gespenstische Parallele denken, die in einem Text Saul Friedländers im Programmheft angesprochen wird: An die von Hitler und Rienzi, die sich beide von der „Vorsehung“ berufen fühlten und beide als von jedem Zweifel ungetrübte Fanatiker ihre Mission verfolgten.

Die Stoßrichtung von Oldags Krefelder Neuinszenierung der dritten Oper Wagners geht freilich in eine andere Richtung: Es geht um das Scheitern einer humanen Befreiungs-Idee aus äußeren politischen, aber auch inneren psychologischen Gründen. In der Gestalt des – in jedem Moment überlegt und glaubwürdig agierenden – Sing-Schauspielers Carsten Süß ist Rienzi zunächst ein vom Ideal der „hohen Roma“ beseelter Charismatiker, der das Volk befreien will aus der Umklammerung der Orsini und Colonna – düstere Geld- und Machtmenschen, an denen das einzig Edle die Marke ihrer Zocker-Anzüge ist.

Auf dem Höhepunkt der Macht: Carsten Süß als Rienzi und der Chor.

Auf dem Höhepunkt der Macht: Carsten Süß als Rienzi und der Chor.

Dass es vor allem um viel Geld geht, will der vierte Akt zeigen: Die Abwärtskurve der Kurse und die fallenden Notierungen bilden den Rahmen, in dem sich die Nobili und die vordem von Rienzi aus ihrer Umklammerung befreite Kirche in Gestalt des päpstlichen Legaten (Matthias Wippich) gegen den Tribun verschwören. Die zunehmende Fanatisierung Rienzis, die das Konzept des freien Rom zunehmend zu einer politischen Idée fixe degenerieren lässt, bleibt angesichts der massiven Kürzungen nur skizzenhaft wahrnehmbar: Jede Bühne, die das monumentale Sechseinhalb-Stunden-Stück Wagners bringen will, steht vor diesem Problem. Aber es passt auch zum Konzept: Es liegt nahe, dass Oldag in Rienzi eher die scheiternde politische Utopie Wagners im vorrevolutionären Deutschland entdecken will. Oder, grundsätzlicher genommen, die misslingende Idee einer Erlösung einer Gesellschaft vom Bösen. Das hat ja, politisch gesprochen, nicht einmal Jesus geschafft.

Aus Oldags Sicht ist es somit auch sinnvoll, die privaten Stränge der Handlung, vor allem die Liebesgeschichte zwischen Irene und dem zur Feind-Partei gehörenden Adriano Colonna, nur marginal anzudeuten. Immerhin belässt er Adriano seine wundervolle Szene im Dritten Akt, die den 29jährigen Wagner auf der Höhe psychologisch-musikalischer Charakterisierungskunst seiner Zeit zeigt – eine Fähigkeit, die freilich schon zehn Jahre zuvor in den „Feen“ weit entwickelt war. Mit Eva Maria Günschmann steht die beste Sängerin des Abends auf der Bühne: eine schlanke Gestalt, auch in der Stimme ohne pseudo-dramatische Verdickung, gesegnet mit einem adeligen Timbre und soliden technischen Grundlagen.

Das Ende eines Narrenkönigs

Rienzi endet als Narrenkönig: Die Königskrone, die er im ersten Akt zurückweist – er will lediglich „Tribun“ sein –, setzen ihm die Nobili als Parodie aus glänzender Pappe aufs Haupt. Wie der Gottesnarr in Mussorgskys „Boris Godunow“ irrt er durch den blutroten Graben, der sein Rom spaltet. Am Ende steht das Feuer: Rienzi und seine Schwester Irene werden mit Benzin übergossen; jemand gibt ihm ein Feuerzeug in die Hand, ein roter Vorhang fällt …

Untergang im Feuer - ein beziehungsreiches Bild, auch zur Rezeptionsgeschichte des Werks, das Hitlers Lieblingsoper war.

Untergang im Feuer – ein beziehungsreiches Bild, auch zur Rezeptionsgeschichte des Werks, das Hitlers Lieblingsoper war.

Ist er Zufall, der Gedanken an die Verbrennung von Hitlers Leiche im Hofe der Reichskanzlei, mitten im finalen Feuer auf Berlin? Und damit der behutsame Verweis auf die unglückliche Rezeptionsgeschichte des „Rienzi“ als Hitlers Lieblingsoper und Begleitmusik zu den Nürnberger Parteitagen? Philipp Stölzl hat in seiner Berliner Inszenierung die Parallelen zwischen Rienzi und modernen Diktatoren drastisch herausgestellt. Dass sich Oldag und seine Kostümbildnerin Heike Bromber nicht auf diesen Weg einlassen, nimmt seiner Inszenierung nichts an Brisanz. Nicht immer führt eine explizitere Bildsprache auch zu überzeugenderen Ergebnissen.

Ausschweifender Zugriff auf musikalische Mittel

Musikalisch gibt es viel Lärm zu vermelden: Das liegt an der Instrumentierung, aber auch an Mihkel Kütson, der das gut aufgelegte Orchester die hochfliegende Musik mit aller Inbrunst und ungehemmtem Willen zum Glanz spielen lässt. Es liegt auch an Wagners ausschweifendem Zugriff auf alle musikalischen Mittel seiner Zeit: Aubers Hymnen und Gebete aus „La Muette du Portici“, Halévys groß angelegte Finali in „La Juїve“, Bellinis krachende „Norma“-Chöre, Rossinis Feuer aus „Guillaume Tell“. Und dazwischen immer wieder Vorboten seiner Weiterentwicklung in Richtung der „Tannhäuser“-Romantik. Manchmal hätte Kütson den Furor des Wagner’schen Totalitarismus bremsen sollen; die anfangs erhaben-gluckisch gedehnte Ouvertüre wird zu rasch zu laut und kennt dann keine Steigerung mehr. Und Sänger wie die arg kopfig-enge Anne Preuß (Irene) haben gegen die Klangüberflutung keine Chance.

Krefeld schafft es tatsächlich, die Riesenpartien des Stücks ansprechend zu besetzen: Carsten Süß meistert sein Grundproblem mit einer wenig resonanzreichen Höhe und punktet vor allem mit psychologisch begründeten Klangschattierungen im Zentrum. Hayk Dèinyan ist als Steffano Colonna ein unheimlicher Finsterling, dessen standardisierter Geschäftsleute-Dress die häßlich enthumanisierte Gier nur mühsam verhüllt; auch sein grollend dumpfer Bass passt zu dieser Rolle. Der andere Clanchef, Paolo Orsini, wirkt bei Andrew Nolen eher wie ein abgedrehter Ex-Hippie, der seine langen Haare behalten und seine Brust mit billigen Blechorden behängt hat. Walter Planté und Thomas Peter überzeugen mit durchsetzungsfähigen Stimmen als beflissene Stützen der Macht. Maria Benyumova löst die gewaltige Aufgabe, den Chören Format zu geben, mit glücklicher Hand.

In Krefeld wird momentan unter Generalintendant Michael Grosse ehrgeiziges Musiktheater gemacht: „Rienzi“ ist die einzige Neuinszenierung des Wagner’schen Frühwerks in diesem Jubiläumsjahr im deutschsprachigen Raum; lediglich in Rom kommt im Mai dieses ur-römische Thema noch auf die Bühne. Das verdient angesichts der lahmenden Wagner-Routine an manch großem Haus Hochachtung. Aber „Rienzi“ ist – und das spricht noch mehr für Krefeld-Mönchengladbach – ein Glied in einer Kette, zu der solche Perlen wie Tschaikowskys „Mazeppa“, Nielsens „Maskarade“, Puccinis „Suor Angelica“ und „Le Villi“ und die „Lustigen Nibelungen“ von Oscar Straus gehören: Ein Spielplan, dem in seiner vielfältigen Entdeckerfreude nur wenige andere Theater an die Seite zu stellen sind.




Die Wiener Symphoniker in Essen: Sachte pocht das Schicksal …

Die Wiener Symphoniker waren auf Tournee in Deutschland, unter anderem in Köln, Düsseldorf und Essen. Mit Alison Balsom, neben Tine Thing Helseth eine der jungen Startrompeterinnen der Klassik-Szene, und mit Gerhard Oppitz, dem gereiften, stets gesetzte Ernsthaftigkeit ausstrahlenden deutschen Pianisten.

In der Essener Philharmonie präsentierte das Orchester unter Dmitrij Kitajenko ein durch und durch wienerisches Programm: Beethovens Fünfte und Haydns Trompetenkonzert. Dazu die „Rosenkavalier“-Suite als kleinen Vorgeschmack auf das Strauss-Jahr 2014; eines der Stücke, in denen sich der nostalgische Blick auf ein barockes Ideal-Wien erfüllt. Der nächste Strauss-Jahr „Preview“ wird übrigens schon am 12. März geboten: Das Nederlands Philharmonisch Orkest spielt dann in der Essener Philharmonie die „Alpensinfonie“.

Doch vor dem „Rosenkavalier“ pochte es erst wieder einmal an die imaginäre Pforte, das legendäre Schicksal: Kitajenko ließ das so berühmte wie unscheinbare Beethoven’sche Motiv jedoch nicht die künftigliche heroische Entwicklung dräuen, sondern setzte es in luftigem Piano in den Saal, ließ das Orchester dann ein dumpfes Forte spielen und hatte eigentlich erst im Seitenthema den „Bogen“ raus: Die Wiener ließen es in ihrem sanften, unverwechselbaren Streicherklang erblühen; auch die warmen Holzbläser weckten schönste Erwartungen.

Instrumental wurden die auch eingelöst, „szenisch“ allerdings nicht immer: Beethovens suggestive Rhetorik ließ Kitajenko ziemlich kalt. Er befrachtete das Eingangsmotiv nicht mit poetisch-romantischer Schwere, sondern beließ es bei dem Hinweis auf seine zunehmend strukturgebende Bedeutung. Das war eher ein Beethoven aus dem Geiste Haydns, weniger jener politisch-musikalische Feuerkopf, der in seine Fünfte Symphonie ungeniert französische Revolutionsmusik einbaute.

Neben den Details, in denen sich Kitajenko als genau beobachtender, konzeptuell denkender Kopf erwies, neben spannenden Crescendi und Momenten schwungvoller Frische stand eine merkwürdige Erschlaffung von Beethovens hochgespannter Idee: die drängende Dynamik, das ungeduldige Losbrechen aus Stauungen, der stürmerische Gestus blieben altmeisterlich distanziert.

So wechselte man ohne Bruch zu Haydn hinüber: Der hatte im Wien des Jahrhundertwechsels 1800 andere Revolutionen im Sinn als sein Kollege drei Jahre später. Er schrieb für Anton Weidingers „Klappentrompete“, die damals eine aufmerksam registrierte, grundlegende Verbesserung dieses Blechblasinstruments brachte. Haydn kostet die Innovation genüsslich aus und verwandelt die Trompete zu einer Primadonna, der er musikalische Kabinettstückerln geschrieben hat, wie sie die Zuhörer wohl aus der letzten opéra comique im Ohr hatten.

Für Alison Balsom genau das richtige Material, um souveräne Könnerschaft zu demonstrieren, von virtuosen Sprüngen bis zum schmeichelnden Dolce, vom tackernden Staccato bis zum kantablen Legato, vom schmetternden militärischen Fanfarenklang bis zu einem Piano, dessen Süße jedem Wiener Zuckerbäcker Konkurrenz androht. Dass Balsom auch anders kann, dass sie auch die „schmutzigen“, zwielichtigen Töne beherrscht, zeigte sie nach dem begeisterten Beifall in Astor Piazzollas „Libertango“ als Zugabe.

Im „Rosenkavalier“ schien sich Kitajenko eher in die derbe lerchenauische Ochsen-Gemütlichkeit verguckt zu haben als in die wehmütig verblassende Rokoko-Finesse der Marschallin und ihres Liebhaber-Buben. Recht behäbig zeigt schon das Hornsignal zu Beginn, dass wir mit dem Beisl rechnen müssen, weniger mit dem Ballsaal. Für ein rundum farbenfrohes Porträt des rustikalen Barons freilich ließ Kitajenko das Metrum zu wenig schlendern; auch der Kontrast zur Raffinesse der gläsern-ätherischen Welt der „Silbernen Rose“ erinnerte eher an den Stil einer ländlichen Skizze als an eine verfeinerte Silberstift-Zeichnung.

Die herzlich applaudierenden Zuhörer in diesem wieder fast ausverkauften „Pro Arte“-Konzert schickten Kitajenko und die Wiener Musiker dann „Ohne Sorgen“ ins „Krapfenwald’l“, wo der Kuckuck auch mal aufwärts schlägt und die Vogerln tirilieren: die Strauß-Polkas erweisen sich eben immer wieder als Sorgenkiller und Stimmungsraketen!




Metapher des Zufalls: Sergej Prokofjews „Der Spieler“ in Frankfurt

Dostojewskis „Spieler“ ist eine existenzielle Figur, die ein Thema der großen russischen Literatur des 19. Jahrhunderts zusammenfasst, nämlich die Frage, wie sich der Mensch im Spannungsfeld von Mächten verhält, die er nicht beeinflussen kann. Oder die auf seine Aktionen unberechenbar reagieren. Tolstoi hat den historischen Zufall in seiner ganzen Absurdität in „Krieg und Frieden“ ausführlich thematisiert. Wie heißen die Alternativen? Gottergebenheit oder Nihilismus?

Schon die Bibel wusste, dass sich Gott nicht zu einem für den Menschen einsichtigen Sinnzusammenhang zwingen lässt: Den Guten kann es schlecht, den Schlechten gut gehen. Selbst für den gläubigen Menschen, falls er nicht vollkommen naiv ist, bleibt der dunkle, unerklärbare Rest der Geschichte, das strukturell Böse jenseits des moralischen Übels. Und Sergej Prokofjews „Der Spieler“ ist eine Oper, die das Schicksal auf den Spieltisch schleudert – selbst, wenn die Figuren in diesem Reigen vordergründig logisch triumphieren oder scheitern.

Die alte Babuschka: Anja Silja im Rollstuhl mit der Aura der großen Bühnendarstellerin. Foto: Monika Rittershaus

Die alte Babuschka: Anja Silja im Rollstuhl mit der Aura der großen Bühnendarstellerin. Foto: Monika Rittershaus

Wer triumphiert in diesem Stück, das an der Oper Frankfurt eine bezwingende Neuinszenierung erfuhr? Nicht die Liebe, nicht das Glück, nicht die Berechnung. Die Kugel auf der riesigen leuchtenden Roulette-Scheibe von Hans Schavernoch rollt gleichmütig und unberührt. Nur die alte Babuschka, eine jener grotesk-unheimlichen Frauen aus Russlands literarischem Erbe, könnte als Siegerin durchgehen, weil sie der Kugel ihren Tribut zollt: Sie befeuert den blinden Zufall, indem sie ihr ganzes Vermögen verspielt statt es zu vererben.

Ein anderer Schein-Sieger ist der Spieler selbst, Alexej, der Hauslehrer des bankrotten Generals. Seine Glückssträhne – 20 Mal Rot hintereinander – aber ist die grelle Ouvertüre zum letzten Akt seines existenziellen Unglücks: Da scheitert mehr als die Liebe zu seiner Schülerin Polina, da scheitert ein Mensch im Angesicht des Ungreifbaren: Schicksal und Liebe sind unverfügbar, Geld rettet und richtet nichts.

Das Leben - ein Roulette: "Der Spieler" in der Szene von Hans Schavernoch in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Das Leben – ein Roulette: „Der Spieler“ in der Szene von Hans Schavernoch in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Die Bühne braucht einen solchen Kenner menschlicher Tiefen wie Harry Kupfer, um aus der spröden Konversationsoper das packende Stück zu schaffen, das in Frankfurt zu sehen war. Mit seiner auf die Personen konzentrierten Regie bespielt Kupfer das illustrierend-kommentierende Bühnenbild mühelos: Hans Schavernoch erinnert an Klinikflure und geheimnisvoll gläserne Paläste, zeigt die glamourösen Sterne der Halbwelt und die lautlosen Gefahren der Außenwelt. Die Katastrophe des Spielers Alexej beschränkt sich nicht aufs Individuelle: Als er am Ende die Pistole auf seine Schläfe richtet, schlägt ein Komet auf der Erde ein – wie in Lars von Triers „Melancholia“.

Sinnloser Geldregen: Frank van Aken in Prokofjews "Der Spieler" an der Oper  Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Sinnloser Geldregen: Frank van Aken in Prokofjews „Der Spieler“ an der Oper Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

In Frank van Aken weckt Harry Kupfer den Darsteller und führt ihn zu großer Klasse: Van Aken liefert sich an die Riesenpartie aus, singt sie psychologisch durchdringend, gestaltet sie spannungsreich in ihrer Ambivalenz, zwischen aussichtlos – und daher erst recht vorbehaltlos – Liebendem und grotesk im Spielrausch Versinkendem. An der Seite dieser grandiosen Sängerleistung kann kaum jemand bestehen, obwohl Kupfer mit den allesamt vorzüglichen Frankfurter Darstellern bewundernswert scharf beobachtete bizarre Typen formt.

Nur eine zieht gleich: Anja Silja als Babuschka, an den Rollstuhl gefesselt, kostet ihre Macht aus, auch wenn sie nur eine negative ist. Ihr Geld bekommt niemand, eher überlässt sie es dem blinden Lauf der Kugel: In dieser Szene triumphiert die absurde Sinnlosigkeit des Geldes. Siljas Auftritt ist eingehüllt von der Magie einer Bühnenlegende – und dieser auratische Glanz stimmt das Gehör für den Rest ihrer Stimme milde und aufmerksam.

Später, wenn Frank van Aken seinen Gewinn über sich abregnen lässt und in einem Haufen Papiergeld sitzt, wird dieser Gedanke szenisch noch einmal überhöht und präzisiert: Polina, das prätentiöse, undurchschaubare und in der Regie wohl bewusst uneindeutig belassene Weibchen, wirft dem hoffnungslos verliebten Alexej sein Geld an den Kopf – einer der unverwechselbaren Auftritte der wie immer in ihrer Rolle lebenden Barbara Zechmeister.

Dank Kupfers Regiekunst wirken die farcenhaft stilisierten Nebenfiguren nie übertrieben. Sie sind in ihrer Gier, ihrem Wahn, ihrer Verfallenheit grotesk komisch (die diversen Damen der Gesellschaft mit Claudia Mahnke als zynisch abgedrehter Blanche), lächerlich tragisch (der alte General Clive Bayleys) oder schmierig undurchsichtig (Martin Mitterrutzner als Marquis oder Sungkon Kim als Mr. Astley). Die Kostüme von Yan Tax, changierend zwischen historischen Anklängen und flirrender Eleganz, unterstreichen die Charaktere.

Sebastian Weigle. Foto: Wolfgang Runkel

Sebastian Weigle. Foto: Wolfgang Runkel

Mit dem Frankfurter Orchester bewegt sich Sebastian Weigle wieder einmal auf dem Niveau, das er durch seine Wagner-Interpretationen, aber auch mit Humperdincks „Königskinder“ oder Korngolds „Die tote Stadt“  markiert hat. Prokofjew schenkt den Musikern nichts: Seine Musik kann hitzig und auftrumpfend sein, bewegt sich aber oft in komplex konstruierten Klangmixturen, in denen solistische Präsenz und ein unbestechliches Gehör für die Partner-Instrumente im Orchester nötig sind. Weigle lässt diese rhythmisch verstörten Farbgemische so bunt vorüberziehen wie die Lichter in Schavernochs Bühnenprojektionen (realisiert von Thomas Reimer). Prokofjew kann sarkastisch kommentieren, aber die Musik löst sich auch vom Geschehen und hat dann einen Zug zu Hindemith’scher Autonomie.

Dass diese Oper so selten gespielt wird – in der Rhein-Ruhr-Region etwa in einer Regie Bohumil Herlischkas 1980 in Düsseldorf – ist nicht recht verständlich. Man darf auf eine Wiederaufnahme in Frankfurt hoffen, nachdem die sieben Vorstellungen ausverkauft waren. De Nederlandse Opera, die im Moment Prokofjews „Liebe zu den drei Orangen“ spielt, kündigt den „Spieler“ für die kommende Saison an: Premiere der Inszenierung von Andrea Breth ist am 7. Dezember 2013.

 




Wagner-Jahr 2013: „Die Feen“ in Leipzig, Kühnheit eines Zwanzigjährigen

Ob Wagner oder Verdi: In beider Jubilare Fall verlassen sich die Theater im Repertoire auf das Übliche. Die Opern der Anfangszeit kommen selten zum Zuge. Und leider setzt sich diese Linie auch im Jubiläumsjahr 2013 fort. Während sich selbst mittelgroße Häuser wie Cottbus, Darmstadt, Dessau oder Halle auf den „Ring“ stürzen, bleiben Wagners aus dem Bayreuth-Kanon ausgeschlossene Opern am Rand: Ein einziger neuer szenischer „Rienzi“ in Krefeld (Premiere am 9. März), das „Liebesverbot“ in Meiningen und in Radebeul – und „Die Feen“ nur in Wagners Geburtsstadt  Leipzig: Das ist die magere Bilanz des „Wagner-Jahres“ auf deutschen Bühnen.

"Die Geister schreiten hinein ins Leben...": Szene aus Richard Wagners "Die Feen" in Leipzig. Foto: Tom Schulze

„Die Geister schreiten hinein ins Leben…“: Szene aus Richard Wagners „Die Feen“ in Leipzig. Foto: Tom Schulze

Bei Verdi sieht’s noch trüber aus: Niemand bewegt sich über die bis zum Überdruss regielich gebeutelten Traviaten, Rigolettos und Troubadoure hinaus. Würde das Aalto-Theater in Essen nicht Verdis „I Masnadieri“ spielen, würden sich nicht das Theater an der Wien und die Festspiele Sankt Gallen des „Attila“ annehmen: Im deutschsprachigen Raum wäre das Verdi-Jahr ein kompletter Ausfall. Kein „Ernani“, kein Blick auf den kühn-düsteren „Corsaro“, nicht einmal ein „Stiffelio“. Für Opern wie „Jérusalem“ oder  die seit Jahrzehnten nicht mehr inszenierte „La Battaglia di Legnano“ zeigt kein Theater Interesse: Große Häuser bedienen das geschäftige Karussell der Dirigenten- und Regie-Stars und lassen die immer gleichen Stücke „neu befragen“, den kleineren scheint in Sachen Verdi die Intendanten- und Dramaturgen-Fantasie ausgegangen zu sein.

Wenigstens die Leipziger Verantwortlichen haben diese Lücke schon vor Jahren erkannt und – in Kooperation mit Bayreuth – für 2013 weltweit einzigartig die Trias der vor dem „Holländer“ entstandenen Wagner-Opern szenisch ins Programm genommen. Den „Rienzi“ hat die Leipziger Oper seit ihrer Wiedereröffnung 2007 im Repertoire, „Das Liebesverbot“ wird nach seiner Premiere in Bayreuth in der Spielzeit 2013/14 folgen – und jetzt, kurz nach Wagners Todestag, kam „Die Feen“ auf die Bühne.

Das Werk ist Wagners zweite Oper. Die erste, „Die Hochzeit“, vernichtete er nach einem ungünstigen Urteil seiner Schwester, nur eine Introduktion plus Septett blieb durch Zufall erhalten. 1833 geschrieben, wurde die „Große romantische Oper“ erst 1888 in München uraufgeführt. „Die Feen“ blieb trotz damaligen Erfolgs ein Bühnen-Exot – nicht zuletzt wegen der beharrlichen Versuche aus Bayreuth, den „Kanon“ der zehn „gültigen“ Werke zu zementieren.

Pionierarbeit für „Die Feen“ in Wuppertal

Seit Friedrich Meyer-Oertel 1981 in Wuppertal – und 1989 am Gärtnerplatztheater München – die moderne Rezeptionsgeschichte einleitete, gab es nur wenigen Inszenierungen, so 2005 in Würzburg – dem Entstehungsort der „Feen“ – und in Kaiserslautern. Diese erwiesen Wagners erhaltenen Erstling jedoch als erstaunlich lebensfähig: Kurt Josef Schildknecht entmythologisierte in Würzburg die Romantik des Dualismus von Feen- und Menschenwelt und inszenierte das Stück als einen gegen die junge Generation gerichteten Triumph beharrenden patriarchalen Strebens nach Machterhalt. Johannes Reitmeier – jetzt Intendant in Innsbruck – deutete in Kaiserslautern die Hoffmann’sche Seite der „Feen“ negativ, als Scheitern von Wagners Konzept der erlösenden Liebe und der Künstler-Utopien.

Der Bürger und die Fee: Christiane Libor und Arnold Bezuyen. Foto:Kirsten Nijhof

Der Bürger und die Fee: Christiane Libor und Arnold Bezuyen. Foto:Kirsten Nijhof

In Leipzig setzte man mit dem kanadisch-französischen Duo Renaud Doucet (Regie) und André Barbe (Bühne und Kostüme) auf eine Richtung, die weniger dem deutschen Regietheater als einer sinnenfroh dekorativen Opernwelt zuneigt. Die beiden Künstler beschreiben das Ziel ihrer Arbeit denn auch eher harmlos: Sie wollten zeigen, wie die Kraft der Musik die Fantasie anregen kann, heißt es im Programmheft. Schauplatz ist eine gutbürgerliche Altbauwohnung, vielleicht im Nachwende-Leipzig. Eine Familie sitzt beim Nachtmahle. Dann ziehen die jungen Leute los. Auch das Elternpaar trennt sich: Der Mann mit orangefarbener Weste um den Bauch schaltet seine Stereoanlage ein, die Frau packt die Tasche für Sport oder Sauna. Eine Rundfunkübertragung beginnt: Es sind „Die Feen“ aus der Oper Leipzig …

Was dann geschieht, folgt der Beschreibung E.T.A. Hoffmanns in seiner programmatischen Schrift „Der Dichter und der Komponist“  ziemlich genau: „Die Geister schreiten hinein in das Leben und verstricken die Menschen in das wunderbare, geheimnisvolle Verhängnis, das über sie waltet.“ Über der Wohnung öffnet sich das Feenreich: In einem Riesenbaum mag man Wagners Weltesche erkennen, die Kulissen atmen Natur-Idyll, die Feen selbst tragen neckisch-verspielte Biedermeier-Kostüme der Zeit Wagners. Die Welten durchdringen sich; der Bildungsbürger des 21. Jahrhunderts mutiert – die Musik mit der Hand mitdirigierend – allmählich zu Arindal, dem Helden Wagners.

Mittelalter in der Bildwelt des 19. Jahrhunderts

Das ist ein verheißungsvoll erdachter Ansatz, zumal er das „Romantische“ im ursprünglichen Sinne ernst zu nehmen versucht. Er setzt sich auch im Bühnenbild des zweiten Aktes fort, der in die kriegerische Welt eines imaginären Mittelalters führt, in der ein fremder, böser König Arindals Reich bedroht, seine Schwester Lora tapfer die Stellung als starke, sanfte Kriegerin hält (Lässt da nicht Wagners verehrte Schwester Rosalie grüßen?) und der von seiner geliebten Fee Ada getrennte Königssohn in passiver Depression zu kämpfen außerstande ist. Täuschung, Trug und Zauber spielen eine Rolle bis zur finalen Katastrophe.

Szenenbild Zweiter Akt der Leipziger "Feen". Foto: Kirsten Nijhof

Szenenbild Zweiter Akt der Leipziger „Feen“. Foto: Kirsten Nijhof

Barbes Bühne löst jetzt die Wohnung in Bruchstücke auf, die er in bewusst naiv gemalte Kulissen eines Mittelalters in der Bildwelt des 19. Jahrhunderts integriert. Moritz von Schwind lässt grüßen, der byzantinisierende Saal der Wartburg auch, und die Kostüme könnten einer Schulaufführung entstammen, die unbeholfen die Ritterzeit nachstellen will: Bewusst spielt Barbe auf das historisierende Mittelalter des Stücks an, das Wagner ja auch in „Tannhäuser“ und „Lohengrin“ auf die Bühne holt – und das, nebenbei bemerkt, auch Verdi oft als Camouflage diente.

Doch jetzt sackt die Regie ab: Doucet bewältigt mit einer konventionellen Aufstellung von Solisten und Chor die szenische Herausforderung etwa des groß angelegten Finales nicht. Weder das Wunderbare noch das Überraschende, weder die gespielte Imagination noch die innere Durchdringung der Welten vermitteln sich überzeugend. Und der „coup de théâtre“, bei dem Ada ihre und Arindals Kinder in einen „Feuerschlund“ stößt, ist einfach nur billiges Machwerk, wo er doch als perfekt inszenierte Feen-Gaukelei zwar trugvoll, aber zugleich auch überwältigend erscheinen müsste.

Wagner schwebt ein: Schlussbild der Oper "Die Feen" in Leipzig. Foto: Tom Schulze

Wagner schwebt ein: Schlussbild der Oper „Die Feen“ in Leipzig. Foto: Tom Schulze

Der dritte Akt begnügt sich mit Regie-Effekten von der Dilettanten-Bühne und überzeugt auch szenisch mit einem gemalten Fahrstuhlschacht in die Unterwelt des Feenreiches nicht mehr. Dass am Ende Wagner, von einem Schmetterling gehalten, einschwebt und die Moral der Geschicht‘ verkündet, ist ein gelungen ironisierender Moment. Das bürgerliche Ehepaar sitzt nach Operngenuss und Saunabesuch glücklich vereint auf dem Sofa. Erlösung heißt, im Wagner’schen Klavierauszuge zu blättern. Verwirklicht sich die Liebes-Utopie Wagners in der traulichen Zweisamkeit auf den Kissen? Wagners hochfliegende Ideen, mit leiser Ironie geerdet.

Musik mit Makel

Musikalisch stand es in Leipzig leider nicht zum Besten: Die Bläser verfehlen schon in der Ouvertüre ständig Einsätze, das Gewandhausorchester spannt über die mendelssohnisch lichten Feenmusik-Akkorde keinen blühenden Bogen. Wie schon in „Parsifal“ oder den „Meistersingern“ treibt Ulf Schirmer zu kompakter Lautstärke an. Das macht den Sängern das Leben schwer, verdickt den dichten Orchestersatz unnötig und trivialisiert die Pauken-Bläser-Tuttischläge, die Wagner als Zwanzigjähriger noch etwas zu ausdauernd liebte.

Ulf Schirmer, Generalmusikdirektor der Oper Leipzig seit 2009/10. Foto: Tom Schulze

Ulf Schirmer, Generalmusikdirektor der Oper Leipzig seit 2009/10. Foto: Tom Schulze

Luftiger, leichter und im Tonfall sehrender gespielt, würde die Musik ihre Qualität unbezweifelbarer offenbaren. Denn Wagner beherrscht – manchem in Kritiken vollmundig verkündetem Unfug über die „schlechteste Oper des 19. Jahrhunderts“ zum Trotz – die musikalische Sprache auf der Höhe seiner Zeit, braucht sich vor keinem Kreutzer, keinem Spohr, keinem Schumann zu verstecken, weiß auch sehr wohl, die Vorbilder von Marschners „Vampyr“ bis zu Beethovens heroischem „Fidelio“ oder der Spielopern wie Aubers „Maurer und Schlosser“ für sich zu nutzen. Und einen Zwanzigjährigen, der ein ausgreifendes Finale wie das des zweiten Akts der „Feen“ schreibt, den mag die Musikgeschichte erst einmal suchen!

Für seine Hauptpartien hatte der junge Wagner wohl konkrete Vorbilder im Kopf: Unschwer lässt sich vorstellen, wie er bei den hochgespannten Arien der Fee Ada sein Ideal Wilhelmine Schröder-Devrient vor Augen hatte, die dem Sechzehnjährigen in Leipzig im „Fidelio“ das Schlüsselerlebnis seiner Jugendjahre bescherte. Dass er bei Arindal an seinen Bruder Albert dachte, der seinerzeit in Würzburg von Rossinis Almaviva bis Webers Freischütz-Max, von Masaniello in Aubers „Die Stumme von Portici“ bis Beethovens Florestan alles sang, liegt nahe. Albert soll dem Jung-Komponisten ja prophezeit haben, dass ihn die Sänger für seine Partien verfluchen würden.

Enorme Forderungen an die Sänger

Arnold Bezuyen, dem Leipziger Arindal, mag sich ein solcher Fluch öfter auf die Lippen gedrängt haben, als er sich mit der vertrackt hohen und dramatischen Partie abmühte: beklemmt stemmt er die Töne, sucht die Höhe, verliert das Legato, quetscht die Spitzen. Christiane Libor als Ada muss zwar auch manchmal forcieren und drückt dann die Töne zu hoch, liefert aber insgesamt ein famos stimmlich abgesichertes Rollenporträt der Fee, die um ihre Sterblichkeit – und damit um ihre Menschlichkeit – kämpfen muss.

Mit Viktorija Kaminskaite und Jean Broekhuizen sind die Feen Zemina und Farzana aus dem Leipziger Ensemble ansprechend besetzt. Eun Yee You hat für die Lora eine zu undramatische, in der Konzentration des Tons oft überforderte Stimme. Jennifer Porto und Milcho Borovinov  als Drolla und Gernot liefern sich im zweiten Akt ein köstliches Rededuell, das bedauern lässt, dass Wagner geplante Ausflüge in die deutsche Spieloper nicht realisiert hat.

Detlef Roth singt sich mit gedecktem Bariton durch die Partie des getreuen Morald, Guy Mannheim zeigt, wie sich Wagner in der Rolle des Gunther an den drolligen Figuren eines Heinrich Marschner („Der Templer und die Jüdin“) orientiert hat. Roland Schubert lässt sich nicht verleiten, die kleine Rolle des Harald nicht ernst zu nehmen. Blass und fistelig in der Höhe bleibt Igor Durlovski als Zauberer Groma. Auch im Chor Alessandro Zuppardos klappert es öfter – aber bis zum (konzertanten) Gastspiel der „Feen“ in Bayreuth im Mai 2013 ist ja noch Zeit für einige ergänzende Proben.

Immerhin hat Leipzig wieder einmal gezeigt, was für eine theatralische Kraft in Wagners „Feen“ steckt, wenn sie durch eine sensible Regie geweckt wird. Das Stadttheater Regensburg hat für 2014 eine weitere Neuinszenierung angekündigt; würde das Wagner-Jahr wenigstens ein Signal für eine vertiefte Beschäftigung mit den Jugendopern geben, wäre ein wichtiges Ziel erreicht.




Zeitgeist-Zeugen: Warum „Zero Dark Thirty“ beim Oscar nur einen Trostpreis erhalten hat

Populäres Kino ist, wenn es gut gemacht ist, stets ein Seismograph für den Zeitgeist. Mit manchmal erschreckend ausschlagenden Zacken wie „Zero Dark Thirty“ der Amerikanerin Kathryn Bigelow. Dass dieser Film über die Jagd auf Osama Bin Laden keinen der Oscar-Blumentöpfe gewinnen würde, war von vornherein klar: Er ist heiß umstritten, einige Republikaner im US-Kongress verlangten sogar eine Untersuchung.

Das Schockierende an dem Thriller ist aber nicht, dass er (angeblich) geheime politisch Informationen verwendet, sondern dass er kompromisslos die dunkle Seite entfesselter Brutalität unserer Zivilisation zeigt: In „Zero Dark Thirty“ taugt jedes Mittel, um ans Ziel zu kommen. Und der Film verschwendet weder in seinem Plot noch in seinen Personen auch nur einen Gedanken an eine Kritik dieses brutalen Utilitarismus. Erlaubt ist, was nützt.

Dunkelzone der Gesellschaft

Dass Kathryn Bigelow mit diesem erbarmungslosen Blick auf die ethikfreie Dunkelzone unserer moralisierenden Gesellschaften schon in der Vorauswahl nicht landen konnte, hat wohl wenig mit der Qualität ihrer Arbeit zu tun. „Zero Dark Thirty“ hat lediglich einen – wie es ein Magazin heute nennt – „Trostpreis“ erhalten: Paul N.J. Ottosson muss sich einen Oscar für den Tonschnitt  mit Per Hallberg und Karen Baker Landers für „Skyfall“ teilen. Auch die viel gerühmte und bereits mit dem „Golden Globe 2013“ und dem „Broadcast Film Critics Association Award“ ausgezeichnete Hauptdarstellerin Jessica Chastain ging leer aus: Ihr wurde die 22jährige Jennifer Lawrence („Silver Linings“) vorgezogen.

Bigelow hat sich mit ihrem schonungslosen Streifen zwischen alle Stühle gesetzt: Den Linken gilt er als Verherrlichung von Folter, die Rechten witterten gleich Verrat und Beweihräucherung Obamas, nur weil der am TV im Film irgendwelche geänderten Zeiten ankündigt. Das beziehen die CIA-Folterer auf sich und raten sich gegenseitig zur Vorsicht. Ihre Methoden könnten auf einmal political incorrect werden. Doch der Film bringt nichts, was sich nicht aus Medienberichten rund um Guantanamo und Abu Ghreib erschließen und mit ein wenig Fantasie fürs Perverse ergänzen ließe.

Die Szenen sprechen für sich

Aber ist „Zero Dark Thirty“ eine „Verherrlichung“ der Folter? Muss ein menschlich zutiefst abschreckendes Verhalten in einem Film noch durch beschwichtigende oder kritische Kommentare bewertet werden, um in eine moralisch einwandfreie Position eingeordnet zu werden? Das ist zumindest im Falle von Bigelows Film nicht nötig. Die Szenen sprechen für sich: Wenn dem hilflos an Kabeln hängenden Häftling Ammar zu Beginn die verschissenen Hosen heruntergerissen werden, damit vor den Augen der Agentin Maya – das ist Jessica Chastain – sein „Gehänge“ bloßliegt, dann spricht diese entwürdigende Szene eine deutliche Sprache, die auch ohne Kommentar abschreckend genug ist.

Brutale Szenen gehören heute zum Filmgeschäft, und in vielen B-Movies wird Ekelhafteres gezeigt als in „Zero Dark Thirty“. Was das Verstörende ist: Bigelow lässt die Täter keine Sekunde an ihrem Handeln zweifeln. Sie gehören nicht einmal so sehr zum Typ der „aufrechten“ Patrioten, die für ihre Nation alles, aber auch alles erledigen würden. Sie sind vielmehr perfekte Angestellte, völlig reibungsfrei funktionierende Rädchen des furchtbaren Getriebes, die sich höchstens mal interne Karrierekämpfe liefern oder bei der erfolgsarmen Fahndung nach Al-Qaida-Tätern ihr Gesicht nicht verlieren wollen.

Das Grauen beschleicht den Zuschauer, wenn er diese Menschen verfolgt: Ihre zwangshafte Fixierung auf den Erfolg, ihr eiskalter Umgang mit ihren Mitmenschen, ihre private und emotionale Verelendung. Wenn Maya endlich Osama erwischt hat und im Flugzeug ganz alleine nach Hause reist, laufen ihr Tränen über das Gesicht. Es sind nicht einmal Tränen, die vom Abfallen der jahrelangen Anspannung zeugen. Maya vergießt sie, weil ihr das einzige und ausschließliche Lebensziel, das sie über Jahre beherrscht hat, nun genommen ist. Eindrücklicher lässt sich die Enthumanisierung dieser Anti-Terror-Roboter nicht einfangen als in dieser simplen Abschluss-Sequenz.

Entlarvung der „erweiterten Verhörmethoden“

Der Film tritt nicht – wie unterstellt – für die „erweiterten Verhörmethoden“ ein, die er zeigt. Sondern er entlarvt ihre ganze Sinnlosigkeit und Inhumanität, indem er sie lapidar und unverbrämt darstellt. Damit tritt er nicht für die Rechtfertigung der Täter oder für das fragwürdige Ethos der Bush-Regierung und ihrer Apologeten ein, wie die Historikerin Karen Greenberg behauptet. „Zero Dark Thirty“ ist eine Studie darüber, wie der totale Kampf gegen den Terror seine Protagonisten entmenschlicht. Und er wirft ein unverbrämt grelles Licht auf die Nischen unserer Gesellschaften, in denen das Abgründige gedeiht und sich mit dem Mäntelchen einer Legitimität umgeben kann, die von den Tätern bürokratisch korrekt verwaltet wird und daher in ihren Augen als gerechtfertigt gilt. Und er stützt damit eine ethische Position, die – trotz aller bekannten Problematik – der Folter Null Toleranz entgegenbringt.

Dass der Oscar-Segen des besten Films stattdessen an „Argo“ ging, spricht eine deutliche Sprache: Ben Affleck mag seinen Thriller fulminant inszeniert haben, die politische Botschaft bleibt im Rahmen: Amerikaner werden vor Islamisten gerettet und eine auch nur indirekte Kritik an herrschenden Konstellationen ist nicht ersichtlich. Auch ein Zeitgeist-Zeugnis.




Beseelte Technik: Joyce DiDonato brilliert in der Essener Philharmonie

Mit zwei Vorurteilen räumt die amerikanische Sängerin Joyce DiDonato gründlich auf: Das erste ist, mit einer Stimme, die für Richard Strauss` „Ariadne auf Naxos“ oder für Massenets „Cendrillon“ geeignet sei, könne man Barockmusik nicht stilistisch adäquat singen. Auch das zweite hat keinen Bestand: Es müssen keine weißen, flachen, dünn vibrierenden Stimmchen sein, um den „informierten“ historischen Klang korrekt zu treffen.

Joyce DiDonato bringt für ihre „Drama Queens“ alles mit, was in den Schulen des Belcanto seit dem 17. Jahrhundert essentielle Kennzeichen einer guten Stimme und eines ausdrucksvollen, weil technisch richtigen Vortrags waren: ein maßvoll individuelles Timbre, ausgeglichene Tonbildung in allen Lagen, eine volle, verfärbungsfreie Emission des Tons im Piano wie im Forte, eine sichere Atemstütze, einwandfreie Artikulation, bruchloses Legato und eine bewundernswerte Messa di Voce, jenes freie Anschwellenlassen des Tones auf dem Atem, das seit jeher die Bewunderung der Gesangsenthusiasten hervorgerufen hat. Dazu tritt bei ihr eine gestische Bewältigung des Singens, die zu einem natürlich wirkenden Ausdruck führt.

Leidenschaft und Technik müssen kein Gegensatz sein: Joyce DiDonato in der Philharmonie Essen. Foto: Sven Lorenz

Leidenschaft und Technik müssen kein Gegensatz sein: Joyce DiDonato in der Philharmonie Essen. Foto: Sven Lorenz

DiDonatos Stimme ist trotz aller technischen Finesse kein kühles Instrument. Für all die gekrönten Protagonistinnen aus der barocken Oper von Antonio Cesti bis Antonio Vivaldi bringt sie zwar die Virtuosität für die Darstellung der Affekte mit. Aber sie beseelt ihren Vortrag gleichzeitig durch eine innere Glut der Emotion, die einen distanzierenden „Vortrag“ überwindet. Was sie von anderen, durchaus auch beeindruckenden modernen Diven des barocken Genres unterscheidet, ist die technisch nahezu makellose Absicherung der musikalischen Gefühlswelten.

Da gibt es keine hauchigen Seufzer, keine verdünnten Piano-Piepser, kein forciertes Auftrumpfen. Aber dafür eine faszinierende Palette aus der Stimme und ihrem Potenzial entwickelter Farben. Kein Verismo also: Der Kunstcharakter des Singens bleibt erhalten. Singen im Geist der großen Opern-Epochen vor der Romantik, nicht „expressiv“ aufgemischtes Pseudo-Barock. Was sie auch von den anämischen Versuchen mancher fiepiger Kopfsänger auf den Spuren ihrer entmannten Vorgänger angenehm unterscheidet.

In der Philharmonie Essen streifte Joyce DiDonato noch einmal durch die Welt der antiken und mythologischen Herrscherinnen: Persische und mykenische Prinzessinnen fügen sich in Tod und Wonne; gleich zwei Mal beseelen die ägyptische Königin Cleopatra  edle Resignation und gespenstische Rachelust: Johann Adolf Hasses „Morte col fiero aspetto“ spiegelt jene barocke, aus dem christlichen Glauben gespeiste Vertrautheit mit dem Tod wider, aus der Mozart die lebensbeendende Macht noch als seinen „Freund“ bezeichnen konnte: Kein grausam-schreckliches Gesicht zeigt der Tod, denn er befreit die Seele aus dem Gefängnis der menschlichen Existenz. DiDonato fängt diese edle Resignation in exquisiten Farben und dynamischen Schattierungen ein.

Die Cleopatra aus Händels „Giulio Cesare“ ist aus einem anderen Holz: Sie beklagt in „Piangerò la sorte mia“ ihr Schicksal in wehmütigem Piano, um kurz darauf in energischer Koloratur dem Tyrannen Qualen aus dem Jenseits anzudrohen. Wie Joyce DiDonato Händels Phrasierungsbögen mit Glut und Glanz erfüllt, ist hinreißend. Nach Giovanni Portas „Madre diletta, abbracciami“, ein ergreifendes Lamento aus der Oper „Ifigenia in Aulide“, wagt das Publikum kaum zu klatschen, so intensiv gestaltet die Sängerin diesen Abschied von der Mutter. Und in Händels „Brilla nell‘ alma“ aus der selten gespielten Oper „Alessandro“ glänzt DiDonato mit frei und locker gefügten Koloraturenketten und technisch perfekt gebildeten Trillern – aber eben nicht als Selbstzweck, sondern als superbe Ausformung innerer Regungen.

Auch die Robe erregte Aufsehen: Die Sängerin und ihr Begleiter, Dmity Sinkovsky. Foto: Sven Lorenz

Auch die Robe erregte Aufsehen: Die Sängerin und ihr Begleiter, Dmity Sinkovsky. Foto: Sven Lorenz

Unter den drei Zugaben entrückt Reinhard Keisers „Lascia mi piangere“ aus „Fredegonda“ das Auditorium noch einmal in die elysischen Gefilde einer lyrischen Delikatesse, die momentan in der Welt des Gesangs nur mit Mühe ihresgleichen findet. „Il Complesso Barocco“, das begleitende Ensemble mit dem wendigen Geiger Dmitry Sinkovsky an der Spitze, wurde durch die „Queen“ des Abends auf den zweiten Platz verwiesen: nicht ganz zu Recht, wie Instrumentalstücke aus Glucks „Armide“ und Händels „Radamisto“ nahelegen. Der staubtrockene „historische“ Klang der Italiener wird freilich allein durch die farbenreiche, sinnliche Stimme DiDonatos in Frage gestellt: Vielleicht darf es auch auf Darmsaiten und Holzblättchen mittlerweile wieder etwas klangfroher zugehen?