Unauflösliche Märchenwelt: Oper Köln eröffnet die Spielzeit mit „Die Frau ohne Schatten“

Daniela Köhler (Kaiserin) und Irmgard Vilsmaier Der(Amme). (Foto: Matthias Jung)

Dem früheren Intendanten des Aalto-Theaters Essen, Hein Mulders, ist mit der Strauss-Oper „Die Frau ohne Schatten“ zum Spielzeitauftakt ein markantes Statement gelungen. Die Inszenierung von Katharina Thoma hat jedoch Leerstellen, die auch von der hervorragenden Orchesterleistung unter Marc Albrecht nicht verfüllt werden können.

Das üppige Orchester, die häufigen Verwandlungen, die Länge und die fünf extrem anspruchsvollen Hauptpartien: Richard Strauss‘ und Hugo von Hofmannsthals „letzte romantische Oper“ über ein Zwischenwesen aus dem Geisterreich, das keinen Schatten wirft, ist ein dicker Brocken selbst für große Bühnen. Im Staatenhaus, der Spielstätte der Oper Köln bis zur hoffentlich baldigen Wiedereröffnung des Hauses am Offenbachplatz, sind häufige Verwandlungen oder ein technischer Bühnenzauber nicht zu realisieren. So macht Johannes Leiacker die Not zur Tugend: Eine Erhöhung, aus Schichten geformt wie eine geologische Formation, ganz in Weiß, in organisch verlaufenden Kurven, mit einem krönenden Felsen – das war’s in Sachen Bühnenbild.

Das Gürzenich-Orchester sitzt weit gestaffelt rechts von der Bühne: Der Klang ist weniger fokussiert als in einem Graben. Dirigent Marc Albrecht lässt die Musiker diesen Raum nutzen: Strauss‘ filigran verwobene Linien und Motive bündeln sich, streben massiert zusammen, spritzen in glitzernder Gischt wieder auseinander, entfalten sich frei und räumlich. Die wundervoll ausgekosteten Piano-Stellen tragen. Albrecht kann die Musik großzügig aufblühen lassen, breitet ein leuchtendes Spektrum aparter Klangfarben aus, baut vom zurückhaltenden ersten bis zum pathossatten dritten Akt einen Spannungsbogen auf, der sich nicht dynamisch verausgabt, bevor er die Kulminationspunkte in der zweiten Hälfte des Abends erreicht.

Sinnlich und klug disponierte Musik

Die Musiker des Gürzenich-Orchesters können zeigen, was sie drauf haben, ob Celli oder Celesta, die fünf Tuben oder Tamtam und chinesische Gongs. Aber der Raum setzt auch Grenzen: Blechbläsereinsätze geraten allzu gerundet, wo sie scharf attackieren müssten, die Holzbläser gehen seltsamerweise immer wieder unter. Trotzdem: Albrecht präsentiert sich als ein Strauss-Dirigent von Format, der diese „Frau ohne Schatten“ so sinnlich wie klug disponiert und nicht an den knalligen Effekt verrät.

Der Kaiser (AJ Glueckert) und sein Falke (Giulia Montanari). (Foto: Matthias Jung)

Für die Sänger ist der Vorteil unüberhörbar: Sie müssen nicht forcieren, werden vom Orchester nicht übertönt, auch wenn Albrecht die massive Wucht dieser vollkommenen Synthese des Symphonischen und des Dramatischen auskostet. Diese Chance nutzt AJ Glueckert als Kaiser. Er nimmt die Dramatik zurück, legt die Partie kantabel an, betont so, dass dieser romantische Jäger der weißen Gazelle, die sich zur Frau verwandeln sollte, ein verträumter Held ist, dem Geisterreich nicht zugehörig, aber zugetan. Der Stimme des Tenors kommt dieser Ansatz sehr entgegen.

Die Kaiserin Daniela Köhler setzt zu Beginn („Ist mein Liebster dahin …“) zu viel Vibrato ein und stört damit den ruhigen Fluss der Stellen im piano. Doch mit zunehmend bewusstem Stützen normalisiert sich das Schwingen des Soprans, der substanzvoll, leuchtend und sich in den typischen weiten Strauss-Phrasen blühend aufschwingt. Köhler verkörpert die zentrale Figur dieser Inszenierung: Das Streben nach einem Schatten führt sie in die Welt einfacher Menschen, in der sie mehr und mehr erkennt, wie Empathie und Zuwendung das Leben menschlich machen – und der Schatten steht ja als Symbol nicht nur für weibliche Fruchtbarkeit, für die Erweiterung der Person in die Welt hinein, sondern für die ambivalente menschliche Existenz, die auch Schmerz, Opfer und Tod umfasst. Im Kontakt mit dem Färber Barak und seiner unverbrüchlich naiven Bereitschaft, Schattenseiten anzunehmen und zu ertragen, erkennt sie, was es bedeutet, als Mensch zu fühlen und zu handeln. Deutlich wird ihr Wandel in einer berührenden Szene im zweiten Akt, als sie dem erschöpften Barak den Schweiß von Stirn und Füßen wäscht.

Kampf mit vokalen Herausforderungen

Die Hierarchie ist klar: Oben steht die Kaiserin (Daniela Köhler), unten die Färberin (Lise Lindstrom), dazwischen die Amme (Irmgard Vilsmaier). Foto: Matthias Jung.

Auch die Färberin gestaltet ihre Rolle als einen Lernprozess: Lise Lindstrom kämpft nicht nur mit der Armut, mit den Zumutungen der drei versehrten Brüder im Haushalt (Insik Choi, Christoph Seidl, Ralf Rachbauer), sondern auch mit ihren unerfüllten Wünschen. Die bunten Kleider, die ihr Kostümbildnerin Irina Bartels verpasst, stehen für ein Lebensbegehren, das die Färberin im Mutterglück sucht, und für das Streben nach Anerkennung in einem Haus, in dem sie als „Weib“ abgewertet und lediglich „gehegt und gefüttert“ wird. Beide, der Färber und seine Frau, lernen, sich zu achten und Liebe aus gegenseitigem Respekt zu gewinnen.

Lindstrom kämpft aber auch mit den vokalen Herausforderungen: Ihr Sopran leidet unter übermäßigem Vibrato. Spitzen- und andere im Metrum bedeutende Töne werden überstark herauskatapultiert, während Linien unterbelichtet bleiben und nicht kontinuierlich durchgestützt werden. Die flackernde Tonproduktion lässt die Farben der Stimme verblassen und stört eine saubere Artikulation. Anders der Färber von Jordan Shanahan: Er singt verständlich, bildet den Klang füllig und sonor, ist auf entspannten Fluss bedacht.

Als Amme hat Irmgard Vilsmaier eine Reihe exponierter Momente, in denen sie stimmlich alles geben muss. Als alte Dame mit Stock, altbackenem Hütchen und einem großmütterlich schwarzem Kostüm mit weißen Handschuhen steht die Amme zwischen dem cleanen, gestylten Weiß der Geister und der realistisch farbvielfältigen Welt der Menschen. Die „schwarz-weiße Schlange“ wirkt enthoben und mutiert zum Symbol, wenn sie im zweiten Akt als Spinne in einem projizierten Netz den Schlaftrunk für Barak bereitet, auf dass der verführerische Jüngling als Preis für den Schatten ungestört für die Färbersfrau verfügbar sei. (Bryan Lopez Gonzalez sieht blendend aus, bewältigt die Rolle aber mit müden und mühevollen Tönen unbefriedigend). „Was Menschen bedürfen, du weißt es zu wenig“ sagt ihr die Kaiserin: Die Amme konnte die Entwicklung ihres Schützlings nicht mitvollziehen. Stimmlich wie szenisch bleibt Irmgard Vilsmaier mit herben und gleißenden Tönen präsent, bis sie von der machtvollen Stimme des Boten (Karl-Heinz Lehner) aus dem Geisterreich verstoßen und bewegungslos hinausgefahren wird.

Zwischen Phantastik und Sozialrealismus

Der Vorzug der Inszenierung von Katharina Thoma ist, den Personen den erzählerischen Raum zu öffnen, soweit die Berg-Insel Leiackers es zulässt. Doch wohin mit dem Märchenhaften der „Frau ohne Schatten“, mit dem Symbolismus? Der Falke ist lediglich eine aparte, rot leuchtende Erscheinung (Giulia Montanari), aber die Nachtwächter (Sinhu Kim, Yongmin Kwon, Michael Terada) dürfen in schwarzen Priestersoutanen über die Bühne schreiten und ihren Sinnspruch in magischen Strauss-Choralklängen verkünden. Und wohin mit dem anfechtbaren Frauenbild oder gar dem Immanentismus von Richard Strauss, der seltsam quer zu den transzendierenden „romantischen“ Bestrebungen des Hoffmannsthal-Librettos steht? Dafür bietet Thoma keine plausible Lösung.

Die Regisseurin, Wunschkandidatin von Intendant Hein Mulders, gestaltet in den ersten beiden Aufzüge weitgehend die Story aus, nutzt Georg Lendorffs Projektionen, um erzählerischen Realismus aufzubrechen, setzt aber mit dem Verteilen und Verpacken von Altkleidern szenische Markierungen, die sich erst im dritten Aufzug auflösen: Jetzt wird verständlich, warum vorher schon Kinder die Fetzen und Lumpen von der Bühne geräumt haben. Alttextilhändler Barak ist am Werk! Doch jetzt, nach der videogesättigten Katastrophe am Ende des zweiten Aufzugs, wird ein Lebloser von Sanitätern abtransportiert, bevölkern Kinder und Erwachsene die Stufen wie Migranten den Strand von Lampedusa.

Gleichzeitig kriechen fantastische Lemuren am Bühnenrand entlang, die später die Amme hinausfahren werden. Die Kaiserin hat ihr Geisterweiß verloren und tritt in fraulichem Gewande auf, der Fels, an dem der Kaiser bereits in ununterscheidbarem Grau angeklebt war, zerbricht. Übermächte und Sozialrealismus vermischen sich, ohne dass eine Sinn-Synthese geboren würde. Katharina Thomas Inszenierung verpufft. Was bleibt, sind szenische Bilder und das Gefühl, diese unzeitgemäße „Frau ohne Schatten“ beharre starrköpfig in einer unauflösbaren Märchenwelt.

Weitere Vorstellungen am 23., 29. September, 3., 8., 11. Oktober.
Info: https://www.oper.koeln/de/programm/die-frau-ohne-schatten/6547




Mit Lust in die neue Spielzeit: Daniel Hope eröffnet den Konzertreigen der Essener Philharmonie

Daniel Hope und Ryszard Groblewski beim Eröffnungskonzert der Philharmonie Essen. (Foto: Sven Lorenz)

Was für eine sympathische Idee, die Spielzeit der Essener Philharmonie mit Mozart und mit einer Uraufführung zu beginnen.

Da haben wir musikalisch den „inspirierenden Dialog“, den sich die neue Intendantin Marie Babette Nierenz für die Philharmonie als Teil der Stadtgesellschaft wünscht. Da haben wir die künstlerische Exzellenz, die einen Konzertsaal dieser Größe und diesen Renommees füllt. Und wir richten den Blick auf ein musikalisches Genie, das mit früher höher geschätztem Pathos, aber nicht zu Unrecht als „apollinisch“ bezeichnet wurde: Wenn es denn einen Gott gibt, dann hat er in Musik wie der „Jupiter“-Sinfonie seinen tönenden Abglanz auf Erden gefunden.

Mit dieser C-Dur-Sinfonie, die den Höhepunkt der musikalischen Entwicklung des 18. Jahrhunderts markiert und gleichzeitig visionär in die Zukunft weist, präsentieren sich Daniel Hope und das Zürcher Kammerorchester vor fast voll besetztem Saal. Der in Südafrika geborene Geiger mit irischen und deutschen Wurzeln ist seit mehr als zehn Jahren häufiger Gast in Essen. Das Konzert war der erste von drei Teilen einer Reihe, welche die Philharmonie Hope zum 50. Geburtstag widmet. Die beiden anderen Konzerte – eines davon seine „Irish roots“ musikalisch freilegend – folgen am 20. und 21. April 2024.

Daniel Hope. (Foto: Daniel Waldhecker)

Das Zürcher Kammerorchester hat sich die Frische im Spiel bewahrt, die sein Gründer und langjähriger Leiter Edmond de Stoutz gepflegt hat – auch wenn diese Generation unter seinen Musikern inzwischen abgetreten sein dürfte. Hope leitet die Sinfonie als „Erster unter Gleichen“ an der Violine und lässt den frisch-geschmeidigen, auf Transparenz und sauber polierte Tongebung achtenden Klang des Orchesters frei sich entfalten. Nicht ohne Dramatik das heftige Pochen, in dem man den Komtur aus „Don Giovanni“ an die Pforten klopfen hört; mit sanfter Eleganz und wunderbar warmem Flair die kontrapunktischen Spiele der Bläser mit ihrer „Zauberflöten“-Poesie. Flott das Tempo, deutlich die Artikulation – nur die Balance zwischen Streichern und Bläsern fällt dann fragil aus, wenn die Violinen einmal kräftig Contra geben müssten. Da sind dann doch die Limits der Besetzung zu spüren.

Elegante Transparenz

Ganz aus dem Geist eleganter, beseelter Transparenz heraus entwickelt sich auch Mozarts Sinfonia concertante (KV 364). Daniel Hope und der Bratscher Ryszard Groblewski spielen sich die Notenlinien zu, turnen auf den Phrasen mit stupender Leichtigkeit, sorgen für Beleuchtungswechsel und bebend sanfte Rhythmik. Manchmal wirkt die Artikulation ein wenig weich und kraftlos, dann werden auch die Tutti des Orchesters mulmig. Aber das straffe Tempo, vor allem im prägnanten „Presto“-Finalsatz, richtet es wieder: Wenn’s hurtig wird, zeigen die Musiker, wie trennscharf und präzise sie zu gestalten wissen. Mozart, unsere Freude!

Ob in Salzburg, Paris, Mannheim, Italien oder Wien: Wolfgang Amadé hat stets Neues begierig aufgesogen, als genialer Imitator adaptiert und in seine eigene Sprache verwandelt. So passt es programmatisch bestens, zwischen Mozarts Paradestücken eine Uraufführung zu platzieren: Der 1970 in Stanford, Connecticut geborene und in England aufgewachsene David Bruce hat bereits 2014 Gil Shaham ein Violinkonzert („Fragile Lights“) gewidmet und nun für Daniel Hope sein zweites Werk in diesem Genre vorgelegt: „Lully Loops“ ist ein gewitzt-spielerisches Capriccio, das Fragmente des italienisch-französischen Komponisten und Violinisten in neue musikalische Zusammenhänge stellt – eben auch eine Anverwandlung in eigene Sprache.

Knistern und Blühen

Die vier Teile werden jeweils von einem knisternd aufgenommenen, kaum verständlichen Text – soll der Ton lediglich nostalgisches Gefühl wecken? – eingeleitet. Die Themen Lullys treten deutlich hervor und wiederholen sich wie „loops“. Im ersten Teil setzen sich unterschiedlich artikulierte harmonisch konsonante und spannungsreiche Liegetöne mit dem Thema auseinander, im zweiten kommentieren Pizzicati ein eher tänzerisches Thema. Im dritten blühen aus einer Art Bordun die Töne heraus, die sich zur Melodie verdichten. Das vierte lässt den klaren Rhythmus Lullys hören und bricht mit einem Absinken der Stimmung ab, so, als werde ein Tonband verlangsamt. Ein harmonisch dichtes Gewebe, das spielerisch sicherlich Freude bereitet und den Zuhörer nicht ohne Humor mit Vergnügen am Entdecken und an der Verfremdung, aber auch einem Hauch augenzwinkernder Nostalgie abholt.

Bunte Vielfalt im Herbst

Ein Saisonauftakt voller Musiklust und ohne bemühte Schwere, dem die Philharmonie in den nächsten Wochen eine bunte Vielfalt von Konzerten folgen lässt. Mit dem Dirigenten Sir Antonio Pappano und der Geigerin Patricia Kopatchinskaja stellen sich demnächst die beiden „Porträtkünstler“ dieser Saison vor. Beide kommen am 22. Oktober mit dem London Symphony Orchestra, als dessen neuer Chefdirigent Pappano fungiert: Kopatchinskaja spielt das Violinkonzert „Tausend und eine Nacht im Harem“ von Fazil Say; Pappano widmet sich Beethovens Siebter Sinfonie. Am 8. November ist Pappano dann mit seinem bisherigen Orchester, der römischen Accademia di S. Cecilia und Igor Levit zu Gast, diesmal mit dem c-Moll-Klavierkonzert Beethovens und zwei Tondichtungen, „En Saga“ von Jean Sibelius und Richard Strauss‘ „Till Eulenspiegel“.

Schon am 22. September eröffnet die moldawische Geigerin die Reihe ihrer sechs Saisonkonzerte mit einem sehr persönlichen Programm im RWE Pavillon. „Zu Hause bei Patricia Kopatchinskaja“ vereint Werke von George Enescu, Béla Bartók, Darius Milhaud, Paul Schoenfield, Igor Strawinsky und ein eigenes Stück „für Polina und andere Traumwesen“: Gemeint ist die Pianistin Polina Leschenko, die mit dem Klarinettisten Reto Bieri den instrumentalen Part des Abends gestaltet. Am 9. und 10. November spielt Kopatchinskaja mit den Essener Philharmonikern als Uraufführung ein Violinkonzert von Aurelio Cattaneo.

Ligeti und Bruckner

Mit fünf Konzerten in den kommenden zwei Monaten fehlt auch ein Schwerpunkt zum 100. Geburtstag von György Ligeti nicht. Die Spanne reicht von einem Abend mit Pierre-Laurent Aimard und Ligetis „Musica ricercata“ am 26. September, dem „Poème Symphonique“ für 100 Metronome am 1. November, Ligetis „Lux Aeterna“ und dem Requiem, verbunden mit einem neuen Orchesterwerk von Clara Iannotta ebenfalls am 1. November, bis zu Ligetis Erstem Streichquartett in einem Konzert des Mannheimer Streichquartetts am 19. November in der Alten Synagoge.

Im nächsten Jahr erklingt dann in einem Schwerpunkt zum 200. Geburtstag Anton Bruckners vor allem geistliche Musik des österreichischen Meisters. Damit nicht genug des Chorklangs: Mit Mozarts „Requiem“ mit Philippe Herreweghe, Felix Mendelssohn Bartholdys „Elias“ mit Raphaël Pichon und Joseph Haydns „Die Jahreszeiten“ mit Jordi Savall erwarten das Essener Publikum große Vokalwerke in hochkarätigen Besetzungen.

Info: www.theater-essen.de

(Das Konzert mit Daniel Hope wurde vom WDR aufgezeichnet und wird am Sonntag, 8. Oktober, im Fernsehen ausgestrahlt).

 




„Wenn man einmal in Bayreuth war, ist man süchtig danach“: Altistin Karolin Zeinert aus Düsseldorf singt im Chor der Festspiele

Karolin Zeinert vor dem Bayreuther Festspielhaus. (Foto: Werner Häußner)

Die Düsseldorfer Altistin Karolin Zeinert singt mittlerweile in ihrer 11. Spielzeit im Chor der Bayreuther Festspiele. Im Interview erzählt sie, wie sie in Bayreuth ihre professionelle Laufbahn begonnen hat und warum es so faszinierend ist, im Chor der Festspiele mitzuwirken.

Wie hat’s bei Ihnen begonnen mit Bayreuth?

Ich habe immer gerne im Chor gesungen. Mit fünf habe ich damit angefangen, bin dann in meiner Heimatstadt Gera auf ein chororientiertes Gymnasium gegangen und wollte immer Choristin werden. Ich habe dann das Studium begonnen, war nach vier Semestern beim RIAS Kammerchor als Praktikantin und habe festgestellt: Chorsingen ist wirklich meins. Dann habe ich an verschiedenen Theatern Produktionen mitgemacht. Nach dem Abschluss meines Studiums habe ich mich initiativ in Bayreuth beworben. Wagners Musik mochte ich immer, ich habe ja auch am gleichen Tag wie er Geburtstag. Ich habe vorgesungen und ehrlich gesagt nicht geglaubt, dass es klappt, aber ich wurde genommen und bin nun seit 2012 jedes Jahr bei den Festspielen in Bayreuth. Als ich 2014 an der Deutschen Oper am Rhein ins Festengagement ging, habe ich mir das Okay geholt, dass ich im Sommer nach Bayreuth gehen kann. Mein Chef ist da extrem kulant und die Kollegen haben Verständnis für mich. Das klappt also ganz gut.

Sie sind also bei den Bayreuther Festspielen in Ihre professionelle Laufbahn eingestiegen?

Karolin Zeinert. (Foto: privat)

Ja, tatsächlich. Vorher war ich mal eine Spielzeit in Leipzig, hatte aber sonst immer nur Gastverträge. Ich habe so mein Studium finanziert und Erfahrungen gesammelt. Und nicht zuletzt für mich geklärt, ob ich diesen Job mein Leben lang machen möchte und auch kann. Denn das Singen im Chor ist schon ein spezieller Beruf. Man ist viel unterwegs, soziale Kontakte zu Menschen außerhalb des Theaterbetriebs sind schwierig, und immer, wenn andere frei haben, arbeiten wir. Aber Bayreuth war schon das Highlight für mich. Als ich hier anfing, war ich 26, und lange war ich die jüngste unter den zweiten Altistinnen im Festspielchor.

War Bayreuth neu für Sie? Waren Sie vorher einmal hier?

Weder als Gast noch als Stipendiatin. Die Festspiele waren für mich totales Neuland. Ich kannte auch die Stadt nicht, fühlte mich aber sehr schnell zu Hause. Auch weil ich in Weimar studiert hatte, eine Stadt von ähnlicher Größe und Struktur.

Und wie sind sie mit der Arbeit am Grünen Hügel umgegangen? Hat Sie ein besonderes Bayreuth-Gefühl erfasst?

Die Damen des Bayreuther Festspielchores in Richard Wagners „Der fliegende Holländer“ mit Nadine Weissmann als Mary (links) und Elisabeth Teige als Senta. (Foto: Enrico Nawrath)

Ich erinnere mich, dass ich an einem der ersten Tage einmal an der Hinterbühne vorbeigegangen bin. Die großen Tore waren offen, so dass man von dort in den Zuschauerraum blicken konnte. Ich hatte noch nie in einem Haus mit so vielen Plätzen gesungen und noch nie ein Theater mit so einer tiefen Bühne gesehen. Das war ehrfurchtgebietend, aber ich habe es damals nicht als furchteinflößend erlebt. Erst später, wenn ich jungen Kollegen davon erzählt habe, wurde mir bewusst, was man für Produktionen erlebt hat und mit welchen Sängern man zusammen auf der Bühne gestanden hat. Da habe ich so ein bisschen „das Fürchten gelernt“. Der Premierentag in Bayreuth macht mich immer noch etwas nervös und auch die Vorstellungen sind etwas Besonderes, wenn ich zum Beispiel die kleine Rolle eines Edelknaben im „Tannhäuser“ singe. Da herrscht eine andere Anspannung, weil man es besonders gut machen möchte.

Wie hat sich Ihr Verhältnis zu Wagners Musik entwickelt?

Ich hatte eine Lehrerin in Weimar, die schon recht früh gesagt hat, meine Stimme passe gut ins deutsche Fach und zu Wagner. Daher habe ich mich bald dran versucht und im Studium Erda oder die Wesendonck-Lieder gesungen. Das lag mir gut und passte zu meiner Stimme, weil es viel um die Ausgestaltung von Text geht. So habe ich mich in Wagner reinverliebt. Meine erste Produktion, da war ich Anfang Zwanzig, habe ich in Gera mitgemacht, das war „Tannhäuser“ mit einem Vierzig-Personen-Chor. Das habe ich sehr genossen, und so habe ich mich nach und nach mit den anderen Opern befasst.

Welche ist Ihre Wagner-Lieblingsoper?

Karolin Zeinert im Kostüm – hier für Wagners „Tannhäuser“. Rainer Sellmaier hat die Kostüme für Tobias Kratzers Inszenierung entworfen. (Foto: privat)

Das ist eine fiese Frage, schwierig zu beantworten und von den Umständen abhängig. Beim Bayreuther „Ratten-Lohengrin“ von Hans Neuenfels dachte ich, ja, das ist „meine“ Wagner-Oper. Dann kam der nächste „Lohengrin“, der szenisch anders war und bei dem ich die Längen des Stücks spürte. Ich bin auch eine große Freundin von „Parsifal“, der kann aber auch ewig dauern. Wenn ich mich entscheiden müsste, dann zwischen „Tannhäuser“ und „Parsifal“. Das Elegische im „Parsifal“ finde ich ganz wunderbar, und das zaubert Pablo Heras-Casado in diesem Jahr wirklich toll. Er lässt das Orchester so leise spielen, dass wir in der Höhe stehen und uns manchmal fragen, ob das Orchester überhaupt noch spielt. Für jemanden, der in Bayreuth debütiert hat und die akustischen Finessen des Hauses noch nicht kennt, hat er die Musik großartig umgesetzt. Er hat auch eine Chorsaalprobe mit uns gemacht und ganz fein gearbeitet. An einem normalen Haus ist gar keine Zeit, so intensiv an Details zu arbeiten. Hier ist es möglich, auszuprobieren, wie weit man ein piano dimmen kann, damit es noch trägt und hörbar bleibt. Das hat großen Spaß gemacht.

Wenn Sie die Arbeit hier mit Düsseldorf oder anderen Theatern vergleichen: Was ist das Spezielle in Bayreuth? Gibt es das?

Ja, das gibt es auf jeden Fall, und zwar unter einigen Aspekten. Zum einen ist der Chor mit 134 Personen hier groß genug. Wir haben zum Beispiel in Düsseldorf auch einen „Fliegenden Holländer“, und da ist es nicht üblich, dass am Abend die Matrosen und der Geisterchor beide live gesungen werden. Die Geister kommen in aller Regel vom Band. Und dabei sind wir in Düsseldorf mit 65 Sängern ein relativ großer Chor – aber hier ist es eben das Doppelte. Hier kommt alles live. Zum anderen konzentriert man sich hier nur auf Wagner. In Düsseldorf haben wir innerhalb einer Spielzeit ein breites Repertoire. Da ist für eine solche Konzentration einfach kein Raum. Es gibt auch nicht so viele musikalische Proben und nicht so viel Zeit, an kleinsten Nuancen zu feilen.

Hier machen wir zehn Wochen lang nichts anderes als Wagner. Wir treffen uns bei „Parsifal“ vor jeder Vorstellung, sogar vor jedem Akt, und singen uns ein. Das heißt, man singt sich zusammen, geht nahe ans Dirigat, lotet noch einmal die Dynamik aus. Man ist hier sehr darauf angewiesen, auf die Chordirigenten zu achten, weil auf der Bühne eine andere Akustik herrscht als im Saal. Wir sind extrem davon abhängig, dass unsere Chordirigenten gut hören und uns perfekt führen. Wir leben hier in der „Glocke Bayreuth“, das ist keine Alltagssituation.

Was nehmen Sie mit aus Bayreuth für Ihre Arbeit an Ihrem Stammhaus? Auch wenn das Niveau der Dirigate unterschiedlich beurteilt wird, arbeiten Sie hier mit verschiedenen musikalischen Charakteren mit unterschiedlichen Auffassungen.

Man nimmt in jedem Fall die unterschiedlichen Weisen des Herangehens an die Musik mit. Wir haben dieses Jahr mit Nathalie Stutzmann im „Tannhäuser“ eine Sängerin als Dirigentin, und es ist interessant, wie ganz anders sie mit der Musik umgeht als Axel Kober, der ja mein Chef in Düsseldorf ist und mit dem wir hier in den letzten Jahren viel Freude hatten. Frau Stutzmann macht viel vor, dirigiert sehr gesanglich, mit viel Bogen und Fläche. Für das Orchester mag das schwierig sein, weil sie wohl weniger akzentuiert. Aber für uns im Chor ist das etwas ganz anderes. Manchmal ist es auch ein bisschen schwierig, wenn ich zurückkomme und von Bayreuth eine genaue Vorstellung mitbringe, wie bestimmte Stellen zu klingen haben.

Aufschlussreich ist auch zu beobachten, wie unterschiedlich Dirigenten im Umgang mit dem Orchester, dem Ensemble und auch mit Regisseuren sind – und welche Entwicklung sie im Lauf der Zeit machen. Ich erinnere mich an meine ersten Begegnungen mit Christian Thielemann, bei denen ich dachte: Oh, das ist hier aber ein harscher Ton. Einige Jahre später habe ich ihn viel gelöster erlebt. Da wirkte er, als wäre er „angekommen“. Was ich an Bayreuth schätze, ist das Verschwimmen der Distanz zu den „großen“ Sänger-Solisten. Man sitzt in der Kantine, und dann setzt sich ein Georg Zeppenfeld einfach mit an den Tisch. Wenn solche Solisten an einem Haus als Gast kommen und gehen, kommt dieses Miteinander nicht auf.

Wie erleben Sie die Arbeit mit den Regisseuren?

In den letzten elf Jahren habe ich hier – wie auch anderswo – festgestellt: Arbeit und Name gehen nicht immer konform. Es gibt Leute mit großem Ruf, bei denen ich bei der Arbeit die Hände über dem Kopf zusammenschlage und denke, die Ergebnisse sind nur ihrem Team zu verdanken. Und dann gibt es welche, die vielleicht nicht den prominentesten Namen haben, aber genau wissen, was sie wollen und eine tolle Arbeit machen, bei der man sich als Choristin auch mitgenommen fühlt. Die große Herausforderung speziell in Bayreuth ist, dass man den großen Chor auf der Bühne abholt und mitnimmt. Wenn von 134 Leuten jeder am Abend wissen soll, was er zu tun hat, wie seine Rolle und Funktion ist, dann ist das nochmal eine andere Hausnummer als beispielsweise den Chor in Düsseldorf zu führen, der halb so groß ist. Manche Regisseure sind von dieser Menschenmasse einfach eingeschüchtert und vielleicht auch überfordert.

In welchen Inszenierungen haben Sie sich besonders wohl gefühlt?

Die beste Produktion, die ich in den letzten Jahren mitgemacht habe, ist sicherlich der „Tannhäuser“ von Tobias Kratzer. Er kam zur ersten Probe und konnte jeden mit Namen ansprechen! Jeder hat von ihm eine Intention, eine Rolle bekommen, hat genau erfahren, was er wann und wo zu tun hat. Da ist eine solche Truppe dann natürlich voll dabei. Genauso Barrie Kosky. Bei ihm würde ich gerne noch einmal eine Regierarbeit mitmachen, weil mich seine Perfektion beeindruckt hat. Das ist natürlich anstrengend. Im letzten Akt seiner „Meistersinger“ gab es einige „freeze“-Situationen, in denen alle Bewegungen auf Stichwort „einfrieren“ müssen. Das hat er so lange geprobt, bis es 134 Leute plus Statisterie auf den Punkt gemacht haben. Das beeindruckt, nimmt den Chor mit und macht Spaß. Bei Regisseuren, die den Chor eher als Masse oder als Kollektiv betrachten, fühlen sich nicht alle angesprochen. Das ist ein normales Gruppenproblem.

Hat der Bayreuther Festspielchor im Vergleich zu anderen Chören eine eigene Gruppendynamik?

Von den 134 Menschen, die wir in diesem Jahr glücklicherweise wieder sind, sind nicht alle in festen Engagements. Viele arbeiten frei, treffen sich im Sommer hier und haben Bayreuth als Schwerpunkt in ihrem Arbeitsplan. Wer nach Bayreuth kommt, um hier seinen Sommerurlaub zu verbringen, bringt ein spezielles Arbeitsethos mit. Das zeigt sich, wenn der Chor nach einem Jahr wieder zusammenkommt zur ersten Probe. Wir haben die Stücke im Jahr zuvor so minutiös geprobt, dass man das Ergebnis unter den Umständen eines anderen Opernhauses ohne weiteres auf die Bühne stellen könnte. Aber an diesem Punkt beginnt die Arbeit in Bayreuth erst. Da wird an der Intonation gefeilt, da werden Einzelstimmen herausgekitzelt. Das ist anstrengend, aber die Chorsänger, die hier sind, wollen genau das. In einem normalen Opernhaus würde man das zeitlich überhaupt nicht schaffen. Außerdem ist das Klangerlebnis ein ganz anderes. In Düsseldorf haben wir sechs Stellen im zweiten Alt, hier sind es zwölf. Das ist ein ganz anderes Gefühl in der Gruppe. Wenn man da die Augen zumacht, ist der Klang traumschön.

Kann es dieses Erlebnis nicht doch auch anderswo geben?

Ich glaube, das kann man an keinem anderen Haus erreichen. Der Chor ist auch sehr multikulturell, die Sänger kommen von überall her, man trifft so viele Leute, was total schön ist und ein ganz eigenes Gefühl erzeugt. Dann bilden sich Freundschaftsgruppen, die auch Bayreuth überdauern. Man hat eine gemeinsame Leidenschaft, gemeinsame Erinnerungen. Das sind Gründe, warum sich so viele Leute den Sommer um die Ohren schlagen und lange dabei bleiben. Wir feiern regelmäßig 30jährige Jubiläen. Viele sagen: Wenn man einmal in Bayreuth war, dann ist man süchtig danach.




Rudi Stephans einzige Oper „Die ersten Menschen“ in Frankfurt: Tobias Kratzer entdeckt ein aktuelles Endzeitstück

BegBegehren am Ende der Zeit: Ambur Braid (Chawa) und Ian Koziara (Chabel)ehren am Ende der Zeit: Ambur Braid (Chawa) und Ian Koziara (Chabel). Foto: Matthias Baus.

Begehren am Ende der Zeit: Ambur Braid (Chawa) und Ian Koziara (Chabel). (Foto: Matthias Baus)

Die Frau steht am Fenster und schaut hinaus auf sanft geschwungene Hügel, grüne Hecken, blühende Rapsfelder unter blauem Himmel. Im Raum waltet werkelnd ein Mann, pflegt ein Beet unter einer UV-Lampe. Ein Stromaggregat ist zu erkennen, neben der Wohnküche eine Kammer mit Dosen und Einmachgläsern. Bis zu 200.000 Prepper bereiten sich Schätzungen zufolge in Deutschland auf einen Zivilisationskollaps vor; auf der Bühne der Oper Frankfurt blicken wir in Rudi Stephans Oper „Die ersten Menschen“ auf eine Familie, die in ihrem Bunker eine solche Katastrophe überlebt hat.

Nach draußen geht der Weg über einen Schacht, der nur mit Schutzmaske erklettert wird. Die Naturidylle in den Fenstern erlischt bei einem Stromausfall und erweist sich als bloße Projektion auf LED-Screens. Frau, Mann, zwei erwachsene Söhne: die letzten Menschen stehen vor uns.

Tobias Kratzer, ab 2025 Intendant der Hamburgischen Staatsoper und ein gesuchter Regisseur („Tannhäuser“ in Bayreuth), hat das Thema der Oper virtuos umgedeutet, ohne dem Sujet Gewalt anzutun. Denn eigentlich geht es um Adam und Eva, Kain und Abel – das ist das Personal von Rudi Stephans Oper aus dem Jahr 1914. Der höchst begabte Komponist blieb 1915 in der heutigen Ukraine auf einem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs, eines von Millionen sinnlosen Opfern; einer, dessen Genius elend ausgelöscht wurde.

Passionierte, drängende Musik

Die Sehnsucht nach dem "wilden süßen Weib":

Die Sehnsucht nach dem „wilden süßen Weib“ führt zu einem ersten Gewaltausbruch: Iain MacNeil (Kajin) und Andreas Bauer Kanabas (Adahm). (Foto: Matthias Baus)

Welches Potenzial in dem 28-Jährigen am Erwachen war, eröffnet Sebastian Weigle dem Ohr mit dem sinnlich-üppig aufblühenden Frankfurter Opern- und Museumsorchester – die letzte von 38 Premieren mit ihm in 15 Jahren als Generalmusikdirektor in Frankfurt. Eine würdige Wahl: Die Epoche der in die Moderne hinüberklingenden Spätromantik liegt dem Dirigenten besonders nahe, das hat er mit Richard Strauss oder Franz Schreker bewiesen. Und der junge Rudi Stephan zeigt in jedem Moment seiner passionierten, drängenden Musik, dass er alle Mittel seiner Zeit verlegenheitslos beherrscht. Es gibt keine Durchhänger in den zweieinhalb Stunden.

Schon in der ersten Szene deckt Kratzer auf, welche psychischen Konstellationen die Beziehungen bestimmen. Auch dass die Figuren der Bühne mehr repräsentieren als ein individuelles Schicksal. Es geht um Lebenstriebkräfte, die den Zugang eines Menschen zu seiner Welt bestimmen: Sehnsucht nach Nähe und Zuwendung (Eva), Arbeit und Weltgestaltung (Adam), sexuelles Begehren (Kain) und Erfahrung des Transzendenten, die sich im Begriff „Gott“ verdichtet (Abel). Das Libretto verwendet die hebräischen Namens-Umschriften Adahm, Chawa, Kajin und Chabel mit einem dialektischen Sinn: Die Personen werden näher an die jüdische Heilige Schrift gerückt, gleichzeitig markieren die Bezeichnungen eine Distanz zur christlich-lateinischen Überlieferung und zur biblischen Thematik des Sündenfalls und der gestörten Gottesbeziehung.

In diesem Setting entwickelt sich eine Familienkonstellation, die eher an Ibsen, Strindberg und Freud denken lässt als an die Bibel. Adahm ist der unermüdliche Gestalter, der auch nach der Katastrophe aus seinem Geiste die Welt „neu pflanzen“ will. Seine Emotionen sind „im Brunnen in der Brust“ tief verschüttet. Chawa formuliert nach einem an Wagners „Tristan“ erinnernden Englischhorn-Solo in großen erotisch geladenen Bögen ihre Sehnsucht nach Nähe, unverständlich für ihren Mann, der den Sinn des Lebens in Arbeit sucht, ein „höheres Eden“ schaffen will: Das „neue Kleid“ für seine Frau ist eine praktische Schürze. Explizit und von explosiver Musik drastisch unterstützt, formuliert das Libretto das Erwachen von Kajins jugendlich ungestümer Sexualität: Aus unbestimmtem Drängen – er „fühlt nicht, was es ist, und fühlt doch, es ist da“ – kristallisiert sich das Begehren, das sich auf die einzige Frau dieser hermetischen Welt, seine Mutter Chawa richtet.

Präziser Sprach-Expressionismus

Der heute völlig unbekannte Dramatiker Otto Borngräber (1874-1916) hat diese Entwicklung in der überspannt expressionistischen Sprache des Librettos ohne blumige Umschreibung ausgedrückt – so explizit, dass die Uraufführung seines Schauspiels 1912 in München zum Skandal geriet und das Stück verboten wurde. Bei aller möglichen Kritik am Pathos der Worte: Borngräber erfasst die menschlichen Triebkräfte ungeniert direkt, anders als etwa Hugo von Hofmannsthal im raunenden Ungefähr seiner allegorischen und symbolischen Verschlingungen.

Ambur Braid (Chawa) und Iain MacNeil (Kajin). Foto: Matthias Baus.

Wenn sich Kajins aggressive Suche nach der Erfüllung seines sexuellen Begehrens zuspitzt, wechselt der Schauplatz auf Rainer Sellmaiers Bühne. Im düsteren Licht (Joachim Klein) wird eine zerstörte Welt sichtbar. Baumstümpfe, ein hoch gemauerter Kamin, ein aschgrau ausgebranntes Auto. Die Gestelle von Kinderschaukeln und ein wunderhaft farbenfroh gebliebenes Aufblas-Schwimmbecken signalisieren: Hier könnte einst ein Garten Eden gewesen sein, ein Zauberland verlorener Kindheit, bevor die Schlange dem Menschen das Wissen um „Gut“ und „Böse“, die Distanz zu sich selbst und zu seiner Umwelt eröffnet hat. Hier legen Chabel und Chawa ihre Masken ab, hier kommt es in einer Mischung aus religiöser Ergriffenheit und zitterndem Begehren zum Sex. Kajin, der zu kurz gekommene Bruder, oft begleitet vom „schmutzigen“ Instrument Saxophon, erschlägt Chabel in einem urgewaltigen Ausbruch purer Verzweiflung, ohnmächtig seiner ausbrechenden Gewalt ausgeliefert. In solchen Momenten zeigt sich, wie genau Kratzer die Personen führen kann, wie gekonnt er die inneren Kräfte und Konflikte der Charaktere freilegt.

Das Ende umreißt noch einmal den ganzen Horizont des Geschehens – und Stephans Oper bezieht in ihre Dramatik Eckpunkte der Religionskritik ein, die bis heute gültige Fragen stellen. Es geht um den Begriff des Existenz Gottes: Ist „Gott“ eine grenzenlose Lüge, schaffen wir ihn uns selbst, um unserer durchs All taumelnden Welt einen Sinn zu geben? Hat alles Geschehen seinen Grund, aber der ist ein Fluch (Adahm)? Was bringt es dem Leben, wenn ich einen Begriff von Gott habe (Chawa)? Und vor allem: Ist Gott gerecht, sieht er das „blutenden Herz“ (Kajin)? Was in Borngräbers Text formuliert ist, macht Kratzer auf der Bühne erlebbar: Theaterkunst von ungeahnter Tiefe und hohem Können. Wenn am Schluss für den sich selbst kastrierenden Kajin und das Elternpaar ein „neuer Tag“ anbricht, kriechen lemurenhaft graue Gestalten aus den Trümmern der alten Welt. Einer Welt, deren Bedürftigkeit nach Erlösung aus jeder ihrer düsteren Klüfte klagt.

Entdeckungen beanspruchen Aktualität

Die Frankfurter Produktion der „ersten Menschen“ bestätigt die Erfahrung mit anderen Werken abseits des Repertoires: Eine früher gar nicht einmal erfolglose Oper, länger vergessen, erweist sich als aktuell in ihrer Korrespondenz mit drängenden Themen unserer Gegenwart. Dafür hat es in den vergangenen Spielzeiten einige überraschende Beispiele gegeben: Karol Rathaus‘ „Fremde Erde“ in Osnabrück, Rolf Liebermanns „Leonore 40/45“ in Bonn, Walter Braunfels‘ „Die Vögel“ in Köln, Ernst Kreneks „Leben des Orest“ in Münster, Peter Tschaikowskys „Zauberin“ in Frankfurt, Gioachino Rossinis „Le Siege de Corinthe“ in Erfurt, Benjamin Godards „Dante“ in Braunschweig. Nicht zu vergessen eindrucksvolle Uraufführungen, von „Dog Days“ von David T. Little ebenfalls in Braunschweig über „Blühen“ von Vito Žuraj in Frankfurt bis „Dogville“ von Gordon Kampe in Essen. Keine Rede davon, dass die Kunstgattung Oper an ihr Ende gelange, was im Zusammenhang mit der eingebrochenen Kartennachfrage bei den Bayreuther Festspielen wieder herbeigeraunt wird.

Doch Frankfurt macht auch auf Rudi Stephans „eigene, neuartige Tonsprache“ – so der Kritiker Paul Bekker – aufmerksam, die sich zwischen Wagner-Erbe, Strauss-Innovation und Schreker-Sensualismus ihren Weg erkämpft. Sebastian Weigle schreitet den musikalischen Horizont ab, von Stephans Spektrum grell dissonanter Akzente bis zu smarten Akkordfolgen, wie sie zwanzig Jahre später Paul Abraham in seinen Operetten verwendet hat, von einer Klangfarbenpalette auf der Höhe der Zeit bis zu ausladenden melodischen Konstrukten für die Solisten.

Das Personenquartett ist szenisch gefordert und muss sich musikalisch im Wagner-Format bewähren. Ambur Braid als Chawa zeigt gestützte Präsenz, lässt aber auch die Anstrengung der großen Bögen in der Höhe merken. Andreas Bauer-Kanabas gibt den leidenschaftslosen Adahm präzis deklamierend, aber auch mit einer trockenen Verzweiflung, die sich hinter Pragmatismus verkriecht. Iain MacNeil hat als Kajin die komplexeste Figur zu verkörpern und realisiert sein wildes Aufbegehren, seinen verzweifelten Zynismus, aber auch das drängende Pathos der Figur mit einem in Farben und Klang imponierenden Bariton. Ian Koziara sichert die visionären Leuchtetöne des Chabel im Timbre seines Zentrums ab, die Passaggio-Übergänge und die Höhen wirken angefochten.

Die Oper Frankfurt hat mit Rudi Stephans singulärem Werk wieder einmal längst fällige Entdeckerarbeit geleistet und sich als wichtiges Kraftzentrum der Oper in Europa bewiesen. In der kommenden Spielzeit mit ihren elf Premieren setzt Intendant Bernd Loebe diese Linie fort. Während sich der Nachfolger von Sebastian Weigle als GMD, Thomas Guggeis, am 1.Oktober mit Mozarts „Le Nozze di Figaro“ vorstellt, verspricht der Spielplan mit „Le Grand Macabre“ des vor 100 Jahren geborenen György Ligeti, Mozarts Frühwerk „Ascanio in Alba“, Alexander Zemlinskys „Der Traumgörge“ und Wolfgang Fortners „In seinem Garten liebt Don Perlimplin Belisa“ wieder erstrangige Befragungen jenseits des Mainstreams.

 




Mit Hopfen und Malz ins Operettenglück: Ausflug zu einer ungewöhnlichen Novität in Mecklenburg

In Daniel Behles neuer Operette am Landestheater Neustrelitz siegen am Ende die Liebe – und das Bier! (Foto: Theresa Lange)

Die Operette ist tot? Nö, sie könnte vor Lebensfreude sprühen, aber sie wird seit Jahren ausgehungert. In Neustrelitz ist jetzt eine nagelneue Operette zu sehen. Ihr Thema: das Bier. Also auf zu einem Ausflug nach Mecklenburg.

Die arme Operette. Sie ist ein Opfer von Sparwut, die Operettenensembles abgebaut hat, von Intendanten, die sie aus den Spielplänen tilgen, von mahlerisiert ehrgeizigen Generalmusikdirektoren, die sie höchstens als Metier ihrer stabwedelnden Unteroffiziere geringschätzen, und von humorlosen Regisseuren. Was die schlampige Routine der siebziger und achtziger Jahre nicht umgebracht hat, erledigen Darsteller, die sie vibratosatt zur „kleinen Oper“ entstellen oder mit Musicalgequäke hinrichten. Das Publikum wurde dabei selten gefragt, es durfte nach und nach still aussterben. Auch ein Barrie Kosky – einer der wenigen, die nicht bloß mit warmen Worten an die Operette glauben – kann nur Leuchtfeuer entzünden. In die Fläche strahlen die aber eher punktuell. Das Elend der Gattung ist ja selbst an Häusern, die sich dem „Unterhaltungs“-Theater widmen sollten, unübersehbar.

Zu viel Schaum würden den Genuss mindern

Es gehört also einiges dazu, wenn ein Tenor zum Notenprogramm greift und eine nagelneue Operette komponiert. Daniel Behle hat es gewagt und sein „Kind“ sogar zur Uraufführung bringen können. Im Januar 2023 erschien „Hopfen und Malz“ an einem jener ein bisschen aus der Zeit gefallenen Häuser, an denen Operette noch geschätzt und gepflegt wird: Das Stück über einen skurrilen Bier-Krieg zwischen zwei norddeutschen Dörfern hatte in Annaberg-Buchholz im Erzgebirge Premiere und wird nun – was selbst für spannende neue Opern nicht so einfach ist – in Neustrelitz nachgespielt. Weitere Inszenierungen sind geplant, deutet Behle in einem Interview an. Keine schlechte Bilanz für ein Exponat einer für tot erklärten Gattung!

Das Landestheater Neustrelitz, ein Bau von Max Littmann aus den zwanziger Jahren. (Foto: Werner Häußner)

Also ab ins beschauliche Neustrelitz, das sein Herzogsschloss kurz vor Kriegsende durch einen Brand verloren, aber im Stadtbild klassizistische Eleganz bewahrt hat. Der Zuschauerraum ist gut besetzt. Im Graben lässt die Neubrandenburger Philharmonie unter Dirigent Daniel Klein ruhige, tiefe Streicherklänge gären, aber die Ouvertüre beginnt schnell zu schäumen. Marsch, Walzer, Galopp, beschwipste Tanzrhythmen, dazwischen perlt die Kohlensäure der Chromatik: Daniel Behle blättert schon mal auf, was im Lauf der kommenden zweidreiviertel Stunden musikalisch zu erwarten ist. Angst vor der Melodie hat er in seiner Operette nicht. Und Daniel Klein – ausgebildet an der Folkwang Hochschule in Essen und als Gastkorrepetitor auch mal am Aalto-Theater, in Gelsenkirchen und Hagen gewesen – nimmt diesen kunterbunten Stilmix nicht zu grell, sondern mit gebotener Dosierung und bedachtem Esprit. In der Musik wie beim Bier verhindert zu viel Schaum nämlich den Genuss.

Biergeister in der Wolfsbucht

Und so zieht sich das Thema „Bier“ wie ein goldener Fluss durch die Operette: Bierbrauer Horst Flens aus Ölsum – stimmgewaltig vorgestellt von Ryszard Kalus – gewinnt seit Jahren den regionalen Brauwettbewerb, den das brauende Paar Letty und Max Fisch aus Meersum gerne einmal für sich entscheiden würde. Aber wie? Ein bierkundiger Mönch und seltsame, an singende Bierkrüge erinnernde bayerische Biergeister kommen den beiden entgegen: Mit Hilfe des im protestantischen Norden auf Sündenforschungsreise weilenden Klosterbruders Theophil (Sebastian Naglatzki) und eines geheimnisvollen Rezepts aus dem Kloster Santo Demento brauen sie bei Vollmond in der Wolfsbucht – der Name ist kein Zufall – ein Freibier. Es schmeckt und versiegt obendrein nie. Heißa! Nach operettenüblichen Verwicklungen ist der Sieg der ihrige, am Ende tritt noch Mutter Cerevisia (schaumbekrönt: So Yeon Yang) auf und fordert alle zu „Maßhalten“ auf – oder ist doch eher das Maß Halten gemeint?

Der Mönch und die Brauersleute. (Foto: Theresa Lange)

Daniel Behle hat diesen Bierkrieg durch diverse Nebenhandlungen und -figuren teils unterhaltsam, manchmal aber auch etwas zähflüssig auf abendfüllende Länge gebracht und dazu viel Musik erfunden, deren melodische Stammwürze zu wohligem Genuss durchaus ausreicht. Wie es sich gehört, wird das Orchester nicht unterfordert: Die operettenseligen Rhythmen reihen sich mitunter recht schräg aneinander und Dirigent Klein darf schwungvoll und reaktionsschnell das Ruder herumreißen.

Unbekümmert mischt die Musik bajuwarisch tubasattes Humm-ta-ta mit Ragtime-Schwung aus dem klassischen Musical, fordernde lehareske Operettentenor-Kantilenen mit dem Harmoniegesang aus dem Madrigal. Tänzerische Energie und gleißende Lichtbögen, die von Richard Strauss gespannt sein könnten, verbinden sich mit Korngold’scher Harmoniensüße. Schmeichelmelodik und schmissige Mitsing-Schlager treffen ein bisschen Paul-Abraham-Wehmut, wenn Andrés Felipe Orozco in der Buffo-Partie des Ischias der Freundschaft zu seinem Wanderschafts-Kumpel Klaus nachtrauert. Das ist einer der wenigen Momente des Stücks, der dem Sentiment der Operette zu seinem Recht verhilft.

Wagner dient für Wortwitz

Man hätte sich mehr solcher Momente gewünscht, denn sie hätten den Figuren emotionale Tiefe geben können, die sich in den eher angerissenen als ausgespielten Liebeshändeln nicht einstellt. Wagner dient willig für Wortwitz: Dass die quirlige Senta (auch stimmlich prickelnd, Laura Scherwitzl) sich von ihrem Holländer Bernd (Robert Merwald, sportlich orangefarben) trennt, weil der die See, sie aber die Berge liebt, sorgt kaum für Drama. Und dass sich mit dem Wanderer Klaus prompt ein Operettentenor-Liebeskandidat findet, hat erst in einem fulminanten Duett gegen Ende des dritten Akts musikalische Folgen. Man spürt, dass hier ein Tenor komponiert: Behle gönnt seinem Kollegen die schönsten melodischen Exaltationen. Ein Richard Tauber wäre glücklich damit gewesen, für Bernd Könnes sind sie respektabel bewältigte Herausforderungen.

Frisch ans Werk! Einer der Juroren verkostet das Bier. (Foto: Theresa Lange)

Dazwischen streut Behle Szenen ein, die peripher bleiben und weder Handlung noch Figuren entscheidend weiterführen. So etwa eine für den unglücklichen Meersumer Brauer Max Fisch (Julian Younjin Kim). Dessen Frau Letty hat „schlechte Träume“ wie Klytämnestra und darf eine Ballade von einem geisterhaften Holländer mit Wohnwagen singen, was Anna Matrenina mit Lust am satten Mezzoklang bravourös absolviert. In diesen Szenen zeigt sich, warum die alten Operettenkomponisten wohlbedacht auf geschlossene Nummern gesetzt haben: Behles überquellende melodische Erfindung wäre formal kanalisiert weit wirkungsvoller als in den schnell verrauschenden offenen Episoden. Eine Disziplin, die vielleicht heute als einengend empfunden wird, aber auch dem Libretto von Behle und Alain Claude Sulzer gut getan hätte. Dass darin der Wortwitz eine tragende Rolle spielt, sorgt für heitere Anspielungen („Di quella Biera“ singt einer der Juroren des Wettbewerbs), trägt aber nicht über längere Abschnitte hinweg.

Mag sein, dass auch die kärgliche Ausstattung Sisse Gerd Jørgensens dazu beigetragen hat, dass die Szenen mit Chor und Tanzpaaren der Deutschen Tanzkompanie für eine zündende Operetteninszenierung nur blasse Blasen statt kräftigen Schaum bilden können. In der routiniert aufgestellten Regie von Rolf Heim wäre noch Luft nach oben. Doch der Abend in Neustrelitz hat ein deutliches Plädoyer für die Operette abgegeben: Tot ist die alte Dame noch lange nicht, und wer sie liebt, dem wendet sie ihr jugendfrisches Strahlen zu.

Info: Landestheater Neustrelitz, www.tog.de




Phil Glass mit viel Kaffee: Víkingur Ólafsson beendet seine Zeit als Porträtkünstler der Philharmonie Essen

Der Pianist Víkingur Ólafsson. (Foto: Sven Lorenz)

Mit einem Solo-Abend in der Mischanlage der Kokerei Zollverein und einem Auftritt mit den Essener Philharmonikern mit Wolfgang Amadeus Mozarts c-Moll-Klavierkonzert (KV 491) hat Víkingur Ólafsson seine Zeit als Porträtkünstler der Philharmonie Essen beendet.

Sechs Mal war der Isländer in der laufenden Spielzeit zu Gast: Mit dem Concertgebouw Orkest als Orchesters „in Residence“ spielte er das a-Moll-Konzert von Edvard Grieg, mit der Tschechischen Philharmonie erklang Robert Schumanns Konzert in der gleichen Tonart. Ólafsson begleitete den Liedsänger Matthias Goerne und widmete sich mit dem Philharmonic Orchestra aus dem norwegischen Bergen Maurice Ravels G-Dur-Konzert.

Die persönlichste Note jedoch trug sein Solo auf Zollverein. Eingepackt in einen Pullover in geometrischen Sechziger-Jahre-Mustern, entlockte er dem Flügel die magischen Klänge von Philip Glass und stellte zwischen dessen „Etüden“ den hierzulande noch unbekannten Briten Edmund Finnis vor. Der 1984 geborene Komponist schrieb für Ólafsson „Mirror Images“ für Klavier solo. 2022 in London uraufgeführt, sind diese Miniaturen harmonisch raffiniert verdichtete Klangjuwelen, die in wechselnder Beleuchtung ein Farbenspiel kreisen lassen, das tatsächlich an leicht verschwommene Bilder in einem Spiegel erinnern.

Der formsuchende Hörer zeitgenössischer Experimentalmusik kommt dabei weniger auf seine Kosten als der Genießer ästhetisch polierter Klangmagie. Dazu mag der Pianist auch selbst beitragen, denn er spielt delikat verschattet und taucht die Finnis-Stückchen in eine Sphäre eines beinah romantisch anmutenden Ungefährs. Das wie spontan entwickelt wirkende Spiel tut so, als wolle es die Raffinesse der Komposition verschleiern: In solchen Momenten selbstvergessenen Fließens, harmonisch wie absichtslos scheinenden Fortschreitens und virtuoser Gelöstheit könnte man Finnis für einen John Field des 21. Jahrhunderts halten: einen Träumer in Harmonien und Phrasierungen, der für sich selbst die Wege einer Musik erkundet, die sich leicht und luftig wie eine Wolke am Firmament bildet, scheinbar aus dem Augenblick geboren und im nächsten Moment in neuen, fantastischen Gestalten aufquellend.

Mit der Verschleierung steht auch Philip Glass auf gutem Fuß. Nicht umsonst tragen seine „Etudes“ diesen auf formale Strenge hinweisenden Titel. Hinter der Magie der Wiederholungen und unmerklichen Veränderungen, der simpel anmutenden harmonischen Transformation einfachen Materials verbirgt sich strenge, formal an Barockmusik erinnernde Architektur. Jeder Pianist, der sich diesen ausgeklügelten, meditativ gleichförmigen Stücken stellt, muss unglaublich konzentriert vorgehen und braucht Ausdauer, Formbewusstsein und einen langen Atem.

Víkingur Ólafsson zeigt mit der Eröffnung von „Glassworks“, wie sein Interpretationsansatz aussieht: Bei ihm mutiert der gleichförmige Rhythmus von einem milchigen Impressionismus zu immer schärfer wahrnehmbarer Kontur. Verdichtung und Steigerung werden deutlich markiert, die unmerklichen Verschiebungen in Dynamik und Anschlagsfarbe akzentuiert. Glass wirkt auf einmal lebendig inspiriert statt esoterisch versunken – wie ein Edelstein, den ein Lichtstrahl trifft und der in seinen Facetten zu funkeln beginnt.

Die Offenheit der Musik, die ihre scheinbare Simplizität nahelegt, gibt Raum für Reflexion, sagt Ólafsson in seinen Erläuterungen. Er arbeite gern mit lebenden Komponisten: „Das hilft mir bei der Arbeit mit den Toten“, denn mit denen lässt sich keine Debatte mehr führen, keine direkte Kritik mehr artikulieren und kein gemeinsames Experiment mehr durchführen. Das Spektrum der knapp 80 Minuten in der – jetzt Ende April – beinahe noch winterlich kühlen Mischanlage mit ihren akustisch günstig wirkenden, apart farbig ausgeleuchteten Betontrichtern reichte von der quirligen F-Dur-Etüde Nr. 13 („Phil Glass mit zu viel Kaffee“) bis zur depressiv pendelnden Nummer fünf in f-Moll, die in ihrer Kargheit unter Ólafssons Händen eine Expressivität ohnegleichen entwickelt.

Er habe diese Porträtreihe sehr genossen, bekennt der Pianist im Gespräch: das Essener Publikum, die spannenden Locations und nicht zuletzt die Gelegenheit, sich in verschiedenen Genres zu präsentieren, haben für ihn die Zeit in Essen „amazing“ gemacht.




Leidensweg eines unschuldigen Menschen: Bachs „Matthäuspassion“ in Dortmund und Essen

Das Freiburger Barockorchester spielte im Konzerthaus Dortmund. (Foto von 2019: Freiburger Barockorchester)

Auf ihre je eigene Weise haben zwei Aufführungen von Johann Sebastian Bachs „Matthäuspassion“ in Dortmund und in Essen ihren Beitrag zur „Recreation des Gemüths“ geleistet. Was sagen die geistlichen Werke heute einem weitgehend säkularisierten Publikum?

Ob Buß‘ und Reu‘ noch das Sündenherz entzwei knirschen? Was hat die protestantische Schuld- und Sühnetheologie noch mit uns zu tun, die sich in den Texten zu Johann Sebastian Bachs „Matthäuspassion“ äußert? Jener Christian Friedrich Henrici, Picander genannt, hat ja nicht nur den Bibeltext zusammengestellt, sondern in den Arien reflektierende Einschübe geschaffen, in denen sich ein gläubiges Individuum dem heilsgeschichtlichen Ereignis stellt: Christus, das Lamm Gottes, leidet „auf unsre Schuld“, trägt unsere Sünden und versöhnt uns mit Gott. Aber mit welchem Gott heute, da nicht einmal mehr die Hälfte der deutschen Bevölkerung Mitglied einer der großen christlichen Kirchen sind? Geht das noch: „Sünde“ als eine bewusste Entscheidung gegen Gott und seinen Heilsplan?

Vielleicht sind die traditionellen Kontexte geschwunden, aber das Thema selbst ist nicht passé. Ein allzu allgemeiner Begriff von „Liebe“, wie er im Programmheft der Dortmunder Aufführung der Bach’schen Passion an Gründonnerstag benannt wird, dürfte kaum die Lösung sein. Aber auch jenseits bloßer musikalischer Faszination, die beide Matthäuspassionen in Dortmund und an Karfreitag in der Philharmonie Essen wirkkräftig ins Bewusstsein riefen, bleibt aus allen barocken Wortziselierungen doch ein Destillat: der Mensch, der sich existenziell verfehlen kann, der sich seiner Unvollkommenheit bewusst wird.

Nicht allein große europäische Kunstmusik

Schuldig fühlen sich Menschen heute vor der zerstörten Natur, vor der Schreckensgeschichte von Kolonialismus oder Rassismus, vor dem eigenen Anspruch auf Selbstoptimierung. Der Gott des Gerichts ist ersetzt durch ein inneres Gericht. Und was von Bach jenseits christlicher Glaubensinhalte bleibt, ist die ergreifende Schilderung des Leidenswegs eines unschuldigen Menschen, ausgelöst durch persönliche Missgunst, politische Verstrickung und ein Schicksal, das den „Kelch des Leidens“ nicht vorübergehen lässt. Die Transformation historisch bedingter Formen des Glaubensausdrucks in einen gegenwärtigen Verstehenshorizont ist unabdingbar, will man eine Matthäuspassion nicht lediglich als ein Dokument großer europäischer Kunstmusik goutieren. Wenn Gott dabei außen vor bleibt, ist das nicht im Sinne Bachs, macht die Passionen aber nicht von vorneherein bedeutungslos.

So bleiben also immerhin die Zerknirschung und die Sehnsucht nach einer „angenehmen Spezerey“ für den leidenden Jesus. Und in dieser kunstvoll ausgeformten Arie zeigt sich in Dortmund ein Manko: Die Solistenrollen besetzt das 2004 gegründete Vokalensemble Vox Luminis aus sich selbst. Die beiden Altus-Sänger Alexander Chance und William Shelton treten jeweils aus dem Chor heraus. Wer es ist, der gerade solistisch agiert, ist nicht klar, denn das Programmheft gibt darüber keine Auskunft. Wer auch immer Buß‘ und Reu‘ besingt: Die Stimme bleibt flach, vom konsonantenreichen Knirschen ist wenig zu hören, der subtile Wandel von den Staccato-Zährentropfen zum kantablen Bogen des angenehm lindernden Tröstens ist ebenso wenig zu hören. Musikalische Rhetorik ist dieser Solisten Sache nicht.

Dortmund: Weicher Chorklang, verhaltene Impulse

So bauten sich in Dortmund ziemliche Gegensätze auf, denn der von dem Bassisten Lionel Meunier geleitete Chor ist tadellos aufgestellt. Er kleidet die Eröffnung „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen“ in einen weichen, mit verhaltenen Impulsen durchsetzten Klang, in dem die Knaben der Chorakademie am Konzerthaus Dortmund mit leuchtender Präsenz punkten. In den dramatischen Chorstellen lässt Vox Luminis  – bei abgerundetem, aber kernigem Klang – die dramatische Temperatur deutlich steigen. Die Choräle allerdings sind kantenlos poliert und die individuelle Harmonisierung verliert sich im milden Mischklang.

Zudem zeigt sich als Nachteil, dass Meunier lediglich aus dem Ensemble heraus einzelne Impulse gibt. So gepflegt das Freiburger Barockorchester auch spielt, so geschmeidig die Flöten intonieren, so fein definiert die „Tropfen meiner Zähren“ auch fallen, so luftig und rhythmisch entschieden die Streichersolisten auftreten: Der Orchesterklang, gestimmt auf 415 Hertz, hätte so manchen rhythmischen oder Artikulationsimpuls vertragen. Auch mit den Solisten gibt es Abstimmungsprobleme im Tempo, die eine wache, ordnende Hand rasch im Griff hätte.

Die beiden Soprane Zsuzsi Tóth und Gwendoline Blondeel zeigen die angeblich „historisch informierte“ anämische Stimmfarbe und einen flach gebildeten, durch strikten Verzicht auf natürlich schwingendes Vibrato ausgebleichten, in der Höhe spitzigen Ton. Dem bemüht sich der Tenor Raffaele Giordani zu entgehen – seine Tongebung ist runder und körperlicher. Raphael Höhn nimmt als feinstimmiger Evangelist für sich ein, Sebastian Myrus ist ein Jesus, der die Worte behutsam expressiv gestalten kann.

Essen: Reaktionsschnelles und vitales Musizieren

Justin Doyle in voller Aktion, hier 2018 in der Hamburger Elbphilharmonie. (Foto: Matthias Heyde)

In Essen steht in der Philharmonie mit Justin Doyle ein kundiger Dirigent von der Akademie für Alte Musik und dem RIAS Kammerchor aus Berlin. Und das spürt man sofort: Die Koordination der Ensembles ist flexibel und reaktionsschnell, der Klang sorgsam austariert, Rhythmus und Artikulation vital zupackend. Nicht zuletzt die Choräle sind plastisch ausgeleuchtet und lassen ihre harmonische Raffinesse erkennen. Die Akademie für Alte Musik spielt konturenreich und detailfreudig, Doyle wählt organische, nicht übertriebene Tempi und hält sich – etwa in dem in Dortmund überdramatisierten Chor „Sind Blitze, sind Donner …“ – mit rhetorischen Akzenten zurück, ohne das Drama zu unterkühlen. Dafür treten Bläserstimmen reizvoll hervor, und wenn die Akademie für Alte Musik ihre Instrumenten-Vielfalt, etwa die Doppelrohrblattinstrumente auspackt, sind Farbe und Ausdruck garantiert.

Der RIAS Kammerchor (Foto: Matthias Heyde)

Wechselhaft auch die Eindrücke von den Solisten in Essen: Patrick Grahl ist ein wohlklingender Evangelist, der eher nüchtern als melodramatisch berichtet und auf vokale wie sprachliche Intensität gleichermaßen setzt. Dominic Barberi gestaltet die Sätze Jesu enorm textaffin, gibt jedem Wort eigenes Gewicht, achtet aber ebenfalls darauf, den Klang der Stimme nicht deklamierend zu beeinträchtigen. Aoife Miskelly bringt den üblichen, also kopfig-silbrigen „Barock“-Sopran mit beengt gebildeten Tönen mit, Benjamin Glaubitz ist ein zuverlässiger, manchmal nicht ganz kontrollierter Tenor.

Mit Konstantin Krimmel werden Rezitativ und Arie „Am Abend, da es kühle war“ zum spirituellen wie ästhetischen Ereignis. Der Altus Benno Schachtner hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck: Beherrschte und entspannt ausgeglichen gesungene Episoden wechseln ab mit solchen, in denen die Stimme ihre Position nicht findet und der Ton seine Substanz verliert – eine Art, die man von diesem Sänger, der zur Zeit an der Oper Bonn als Ottone in Händels „Agrippina“ auftritt, sonst nicht kennt.

Auf ihre je eigene Weise haben die beiden Aufführungen ihren Beitrag zur „Recreation des Gemüths“ geleistet; wenn sie darüber hinaus ihre Zuhörer zum Nachdenken über die Grenzen der menschlichen Existenz und die große, unbeantwortete Frage nach dem Sinn des Leidens – des Gottessohnes und zahlloser Menschen auf diesem Planeten – gebracht haben, hat alles künstlerische Bemühen seinen Sinn erfüllt.




Schmerzlicher Verlust: Der Bonner Operndirektor Andreas Meyer ist überraschend gestorben

Andreas K. W. Meyer, Aufnahme aus dem Jahr 2012. Foto: Christian Hahn

Die Nachricht ist schockierend: Einer der profiliertesten Dramaturgen in der europäischen Opernlandschaft ist tot. „Mit großer Bestürzung“ teilte das Theater Bonn am Ostermontag den Tod seines Operndirektors Andreas K. W. Meyer mit. Meyer verstarb mit 64 Jahren infolge von Herzversagen am Karsamstag, 8. April 2023.

Andreas K. W. Meyer war keiner von denen, die sich an den Top-Positionen der Aufführungsstatistik entlanghangeln und ihre Spielpläne basteln, garniert mal mit einer Rarität, mal mit einer Uraufführung. Er schaute genau hin und durchforstete die Geschichte der Oper nicht unter der fragwürdigen Annahme, der historische Rezeptionsprozess habe in einer quasi natürlichen Auslese das Beste überleben und das weniger Gute in den Archiven verschwinden lassen.

Er war sich der Bedingungen bewusst, unter denen gerade im ideologisch aufgeladenen 20. Jahrhundert, aber auch schon zuvor Werke von den Bühnen verbannt wurden, deren Aktualität sich unter veränderten Konstellationen und in einem gewandelten geistigen Klima heute überraschend offenbart. Meyer hat bei einem untrüglichen Gespür für Qualität nicht einfach „Raritäten“ ausgraben lassen, sondern die Neuentdeckungen stets in einem größeren historischen, gesellschaftlichen und philosophischen Kontext betrachtet. Genauso, wie er scheinbar Bekanntes unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen aufregend neu zu lesen verstand, so etwa die Werke Richard Wagners.

Beispielhaft: Die Reihe „Fokus ’33“

Höhepunkt seiner Arbeit in den letzten Jahren war in Bonn die ehrgeizige und einzigartige Reihe „Fokus ’33“, eine „Forschungsreise zu den Ursachen von Verschwinden und Verbleiben“. In diesem beispielhaft auf mehrere Spielzeiten angelegten Inszenierungsreihe zeigte sich die Aktualität eines modernen, aber weitgehend vergessenen Werks wie Rolf Liebermanns „Leonore 40/45“. Die Ausgrabung von Giacomo Meyerbeers „Ein Feldlager in Schlesien“ brachte eine spannende Facette des Pariser Meisters der „grand opéra“ und preußischen Generalmusikdirektors auf eine opulent ausgestattete Bühne.

Eine Szene aus Rolf Liebermanns „Leonore 40/45“ an der Oper Bonn in der Inszenierung von Jürgen R. Weber und der Ausstattung von Hank Irwin Kittel. Foto: Thilo Beu

„Asrael“ des jüdischen italienischen Komponisten Alberto Franchetti konfrontierte mit einem symbolistischen, religiös aufgeladenen Stück Operntheater mit faszinierender Musik. Meyers Programmhefte zu solchen aus dem Bewusstsein entschwundenen Werken waren voluminöse Kompendien mit nicht selten grundlegenden Beiträgen. Besonders am Herzen lag Meyer die Wiederaufführung von Clemens von Franckensteins „Li-Tai-Pe“. Zuletzt arbeitete er mit Hochdruck an der ersten ungestrichenen Wiederaufführung von Franz Schrekers „Der singende Teufel“, deren Premiere am 21. Mai ansteht.

Seit 2013/14 an der Oper Bonn

Als Dramaturg prägte Andreas Meyer seit der Spielzeit 2013/14 das Gesicht und die Geschicke des Bonner Opernhauses entscheidend mit. Zu Beginn seiner Bonner Zeit brachte das Haus Opern wie „Der Traum ein Leben“ von Walter Braunfels, Emil Nikolaus von Rezniceks „Holofernes“ oder Hermann Wolfgang von Waltershausens „Oberst Chabert“ zur Aufführung. Doch das Interesse des 1958 in Bielefeld geborenen Musikdramaturgen und –publizisten an solchen Entdeckungen setzte nicht erst in Bonn ein, wurde dort aber von Intendant Bernhard Helmich nachhaltig gefördert.

Die Oper Bonn, letzte Wirkungsstätte von Andreas Meyer, hier mit Werbung für „Li-Tai-Pe“ und Giuseppe Verdis „Ernani“. Foto vom Mai 2022: Werner Häußner

Nach einem privaten Kompositionsstudium bei Rudolf Mors studierte Andreas K. W. Meyer ab 1981 Musikwissenschaft sowie Kunstgeschichte und Germanistik an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. 1987 begann er eine Tätigkeit als freier Kritiker, unter anderem für die Frankfurter Rundschau und verschiedene Rundfunkanstalten, vornehmlich für den WDR und den BR.

Stationen in Kiel und Berlin

Von 1993 bis 2003 arbeitete er als Musikdramaturg an der Oper Kiel, zunächst unter Generalintendant Peter Dannenberg, ab 1995 als leitender Musikdramaturg sowie ab 2002 als Chefdramaturg Musik und stellvertretender Opernintendant unter Kirsten Harms. 2004 wechselte er zusammen mit ihr an die Deutsche Oper Berlin, deren Chefdramaturg er bis 2012 war. Die Wiederentdeckung von Franco Alfanos „Cyrano de Bergerac“ hatte ein europäisches Echo.

Auch ein Zyklus mit weniger bekannten Werken von Franz Schreker und die Neubefragung von Gian Francesco Malipieros „I Capricci di Callot“ oder Richard Strauss’ „Die Liebe der Danae“ verhalfen der Oper Kiel zu erheblichem überregionalem Interesse. An der Deutschen Oper Berlin kamen Alberto Franchettis „Germania“ und Alexander von Zemlinskys „Der Traumgörge“ hinzu. Die „Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna“ von Walter Braunfels in der Regie von Christoph Schlingensief wurden bei der Kritikerumfrage der Zeitschrift Opernwelt im Jahre 2008 zur „Wiederentdeckung des Jahres“ gekürt.

Andreas K. W. Meyer wird schmerzlich fehlen. Seine ruhige, beharrliche Ernsthaftigkeit, sein Humor und sein enormes Wissen sind nicht zu ersetzen. All jene, die ihn gekannt und gemocht haben, werden ihn als Freund oder Ratgeber vermissen. Was bleibt, ist Trauer, aber auch zuneigende Erinnerung und Dankbarkeit für ein großes Lebenswerk.




Sehnsüchte und Selbsttäuschungen: Mit Peter Eötvös‘ Oper „Tri Sestri“ nach Tschechow wächst das Theater Hagen über sich hinaus

„Drei Schwestern“: Dorothea Brandt (Irina), Maria Markina (Mascha), Lucie Ceralova (Olga). (Foto: Leszek Januszewski)

Bis in die siebziger Jahre hinein waren sie in Mode und in jedem gepflegten Haushalt anzutreffen: Runde Deckchen, gehäkelt oder bunt bedruckt, schmückten Tischchen, Vitrinen, Buffets. Die Familie Prosorow macht es sich in Friederike Blums Inszenierung der Oper „Tri Sestri“ von Peter Eötvös im Theater Hagen auf einem solchen Accessoire der Gemütlichkeit bequem.

Eine mehrdeutige Chiffre mitten in der kargen Raffinesse von Tassilo Tesches Bühne. Sie steht für den trügerischen Schein des Äußerlichen, für den vergeblich gesuchten Schutzraum vor den Stürmen der Welt und der eigenen Gefühle, für Sehnsüchte und Selbsttäuschungen. Andrej, der gescheiterte Bruder der „Drei Schwestern“, wird sich darin einhüllen wie in einen Schutzmantel.

Mit Peter Eötvös‘ erster abendfüllender, vor 25 Jahren in Lyon uraufgeführter und 1999 an der Rheinoper Düsseldorf in Deutschland erstmals gespielter Oper „Tri Sestri“ ist das Theater Hagen über sich selbst hinausgewachsen und hat einen Abend präsentiert, an dem einfach alles stimmt. Möglich wird dieser Kraftakt durch den Fonds Neues Musiktheater des Landes Nordrhein-Westfalen und die Kunststiftung NRW.

Geld macht aber noch keinen künstlerischen Erfolg aus: Der ist gleichermaßen zuzuschreiben der wohltuend unspektakulär erarbeiteten Inszenierung Friederike Blums, der Klang- und Rhythmuspräzision des Philharmonischen Orchesters Hagen und dem Ensemble Musikfabrik, Hagens GMD Joseph Trafton und seinem Co-Dirigenten Taepyeong Kwak und dem in allen Partien glänzenden Sängerensemble mit seinen Gästen. Eine runde Leistung auf einem Niveau, das auch ein mit Mitteln reicher gesegnetes Theater in einem solch ambitionierten Stück nicht ohne weiteres erreicht.

Auf Tassilo Tesches Bühne bleibt sichtbar, dass die Oper zwei Orchester fordert: Die 18 Mitglieder des Ensembles Musikfabrik spielen im Graben; das Hagener Theaterorchester ist auf der Bühne platziert und bildet eine (Klang)-Landschaft, die mit Spiegeln im Hintergrund vielfach gebrochen, aber auch ins Spiel mit einbezogen wird. Für die drei „Sequenzen“ der rund 100minütigen Oper wird das weiße Deckchen jeweils neu ausgelegt. Die szenische Geste unterstreicht, dass Eötvös und sein Librettist Claus H. Henneberg von der linearen Erzählweise Anton Tschechows abweichen und den fragmentierten Stoff des Schauspiels aus der Perspektive der Figuren Irina, Andrej und Mascha betrachten.

Auf dem Deckchen: „Tri Sestri“ in Hagen mit Vera Ivanovic (Natascha) in der Mitte. (Foto: Leszek Januszewski)

Keine Tragödie für Olga

Olga, die dritte Schwester, hat keine eigene Sequenz: Sie hat, so sagt der Komponist, „keine Tragödie“, sie macht pragmatisch ihre Sehnsucht an der Welt fest, die sie vorfindet. Lucie Ceralová gestaltet sie als strenge Person, die nicht versteht, wie ihre Schwester Mascha ihrer Zuneigung zu einem Mann nachgeben kann, der die Ordnung ihrer Ehe mit dem sanften, aber farblosen Kulygin (Dong-Won Seo) stört. Mascha (Maria Markina) und der Offizier Werschinin (Insu Hwang) lassen – beide sensibel singend – in ihrem Duett den einzigen Moment anklingen, in dem zwei Menschen tatsächlich zueinander finden könnten, aber das innige Verstehen wird abrupt beendet, als mit der Tee servierenden alten Amme Anfisa (Igor Storozhenko) die gesellschaftliche Konvention einbricht.

In dieser, aber auch in der starken Abschiedsszene zwischen Mascha und dem mit seiner Einheit abziehenden Offizier zeigt die Regie, wie nahe das Schicksal dieser beiden Menschen einer Tragödie kommt, ohne deren Unbedingtheit zu erreichen: Ihre Träume bleiben für das Handeln folgenlos, bedeuten Sehnsucht und Flucht, nicht aber Motiv oder gar Ansporn. Tragische Züge finden sich auch in der Gestalt des Bruders der drei Schwestern, Andrej: Er, der zu Beginn seiner Sequenz eine Sanduhr aufstellt, treibt in der verrinnenden Zeit dahin und erreicht nichts – weder die erstrebte Professur, noch die Liebe seiner überdrehten Frau Natascha (Vera Ivanovic), der Eötvös geradezu obszöne Sprünge und exaltierte Koloraturen geschrieben hat. Kenneth Mattice ist ein melancholisch gebrochener Andrej, weltverloren in seiner wehmütigen Verkrümmung in sich selbst.

Kenneth Mattice als Andrej. (Foto: Jörg Landsberg)

Lichtgestalt Irina

Irina dagegen, weiß gekleidet wie eine Lichtgestalt und durch den leuchtenden Sopran von Dorothea Brandt charakterisiert, versucht als erste, aus der im eröffnenden Terzett der Schwestern – mit seinen langgezogenen Phrasen und engen Intervallen ein musikalischer Spiegel lastender Langeweile –  angesprochenen Angst vor dem Verfließen der Zeit auszubrechen. Doch als sie sich endlich entschließt, dem pragmatischen Rat ihrer Schwester Olga zu folgen und den smarten Baron Tusenbach (Dmitri Vargin) zu heiraten, ist es zu spät: Der junge Soldat fällt im Duell mit seinem Konkurrenten um die Liebe Irinas, dem durch aggressive Pauken gekennzeichneten Soljony, mit der nötigen offensiven Power gesprochen und gesungen von Valentin Ruckebier aus dem Opernstudio der Deutschen Oper am Rhein. Der jungen Frau bleibt nur die Sehnsucht „nach Moskau“, der Stätte ihrer Kindheit – eher der Begriff eines unbestimmten Erinnerns an einen Zustand des Glücks als ein realer Ort.

In Hagen gelingen diese an sich handlungträgen Abläufe atemberaubend spannend und gleichzeitig in einer lähmend bleiernen Atmosphäre, die dem Stück Tschechows eingeschrieben und hier kongenial in die Oper übertragen ist. Wesentlichen Anteil daran haben die Musiker der beiden Orchester, darunter allein vier Schlagzeuger, die Eötvös‘ musikalisches Spektrum in allen Farben leuchten lassen, vom dumpfen Pianissimo-Pochen bis zu gellenden Bläser-Aufschrei, von der kammermusikalischen Finesse der einzelnen Figuren zugeordneten Instrumente bis zum harmonisch verdichteten Arioso. Eine herausragende Leistung des scheidenden Hagener GMD Joseph Trafton, der keine Wünsche bei rhythmischem Zugriff und klanglicher Balance offen lässt.

Nicht unerwähnt bleiben dürfen die Sänger der Rollen, die nicht im Mittelpunkt stehen: Anton Kurzenoks burlesker Doktor, der in der Oper nicht die tragende Rolle des Tschebutykin in Tschechows Vorlage hat, Ilja Aksionov, Student an der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf, als schönstimmiger Rodé und Robin Grünwald als Fedotik.

Vorstellungen von „Tri Sestri“ am 20., 29. April, 21. Mai, 14. Juni 2023, Info: https://www.theaterhagen.de/veranstaltung/drei-schwestern-1562/0/show/Play/

 




Schamlose Klangfarben: Der Dirigent Klaus Mäkelä triumphiert mit Berlioz in der Essener Philharmonie

Klaus Mäkelä und das Orchestre de Paris in der Essener Philharmonie. (Foto: Sven Lorenz)

Klaus Mäkelä ist einer jener Shooting-Stars, die in der Klassik-Szene gerade willkommen sind. Denn die alte Garde der Dirigenten tritt allmählich ab und in der mittleren Altersgruppe sind charismatische Figuren rar.

Da steht er also zum ersten Mal am Pult der Essener Philharmonie, der 27 Jahre alte Finne Klaus Mäkelä, weltweit bei großen Orchestern gefragt und in vier Jahren Chefdirigent des Amsterdamer Concertgebouworkest. Man fragt sich: Ist es das Marketing, das die Aura erschafft? Oder baut der Ruf auf Ausstrahlung und Können auf? Bei seinem Kölner Debüt mit Mahlers Sechster am Beginn der Spielzeit 2022/23 hätte man Mäkelä gewünscht, mehr Zeit und Reife mitbringen zu können. Da lieferte er ein sinfonisches Hochglanzprodukt, das die existenziell aufwühlenden Tiefen der Musik überspielte.

Doch Hector Berlioz und seine „Symphonie fantastique“ zerstreuten nun den Verdacht, diese Dirigentenpersönlichkeit müsse sich erst noch ausformen. Da standen Präzision und Brillanz des Orchestre de Paris, das Mäkelä seit 2021 leitet, im Dienst der Sache. Und die heißt bei Berlioz: unbekümmerter Umgang mit der symphonischen Form, unerhörte Farben, ungeheure Rhetorik, ungeahnte Experimente in der Harmonik, von Robert Schumann einst als platt und verzerrt kritisiert. Der Deutsche hat Recht: Die gellende Gemeinheit des Hexensabbats steht – wie zwei Generationen später bei Mahler – nicht für die Raffinesse absoluter Musik, sondern für ein geradezu szenisch gedachtes Programm, dessen Radikalität viele entsetzte, aber andere wie Franz Liszt elektrisierte.

Fieberbrand mit Reserve

Alles beginnt mit einer gelösten Idylle: Mäkelä lässt den lyrischen Beginn sanft aufblühen, heimst erste Bewunderung ein für die fabelhaft abgestufte Mikro-Dynamik, an der sicher die Berlioz-Erfahrung des Orchestre de Paris ihren Anteil hat. Mäkelä hält klug die Reserven für die exaltierten letzten Sätze zurück, lässt den Fieberbrand des Berlioz’schen Opiumrauschs erst verhalten züngeln. Die heftigen Kontraste, die atemlose Rasanz haben zu warten. Der glühend aufgeladene Ton der Bässe oder das herrlich runde Blech: Sie haben ihre Höhepunkte noch vor sich.

Das Abmischen der Instrumentengruppen, das Verfließen der Farben, der intensive, mit vollem Bogen ausgekostete Klang der Streicher gelingen expressiv –ob sie sonor grundieren oder als dominierende Stimme hervortreten. Mäkelä evoziert mitreißende rhythmische Energie, kann das Orchester aber im Bruchteil eines Taktes zurückschalten in gelöstes Legato. Takt- und Rhythmuswechsel frappieren und lassen ahnen, wie Berlioz seine Zeitgenossen gefordert und überfordert hat. Der zweite Satz mit seinen Harfen-Effekten und seinem in verschiedenen Beleuchtungen schimmernden Walzer dirigiert er wie eine Opernszene, bedacht auf Rubato und pulsierenden Atem.

Im vierten Satz mit seinem unheimlich grellen Fagott-Marsch brechen dann die Gewalten herein, gefordert von Mäkeläs imperialen Gesten, seiner niedersausenden Faust, dem Aufstampfen mit dem Fuß. Dennoch drängt sich nie der Eindruck bloßen Effekts auf. Infernalischer Lärm und unwirkliches Filigran im Hexensabbat des letzten Satzes sind nicht unkontrolliert entfesselt. Sie folgen mit ihrer ganzen schamlosen Ausnutzung der Klangfarben einer wohlüberlegten Dramaturgie. Für Mahler mag Mäkelä noch manche Erfahrung sammeln müssen – mit Berlioz und dem phänomenalen Pariser Orchester legt er nahe, dass sein Ruf der Persönlichkeit entspricht. Zu hoffen ist, dass man von dem jungen Mann nach diesem Debüt auch in Essen noch hören wird.

Vom Schaum der Ekstase kaum ein paar Flocken

Janine Jansen und Klaus Mäkelä. (Foto: Sven Lorenz)

Vor der Pause ging es weit gesitteter zu: Jean Sibelius‘ Violinkonzert entbehrt zwar nicht der schwärmerischen Leidenschaft, aber selbst die prägnanten rhythmischen Passagen und die Ausbrüche des Orchesters im letzten Satz bleiben hinter dem Höllenritt von Berlioz zurück. Mäkelä emanzipiert das Orchester zu einem dynamisch wunderbar dosierten, mit kostbaren Farben spielenden Partner der Solistin. Doch die Geigerin Janine Jansen zeigt kein Interesse, ihre schlanke, bisweilen zu Blässe neigende Tongebung expressiv aufzuladen. Das „Espressivo“ will sich in ihrem abgemagerten Ton nicht einstellen, die schwer lastende, leidenschaftliche, mit edlem Sentiment getränkte Melodik des Adagio will Jansen entfetten, aber das löbliche Vorhaben verdünnt den Klang und überzeugt nur in den leisen Momenten. Im Finalsatz fliegen vom Schaum der Ekstase kaum ein paar Flocken.




Unsterblicher Mythos: Der künftige Essener Orchesterchef Andrea Sanguineti dirigiert Berliner „Don Giovanni“

Finale von Mozarts „Don Giovanni“ in der Deutung von Roland Schwab an der Deutschen Oper Berlin mit Mattia Olivieri (Don Giovanni), Lidia Friedman (Donna Elvira) und Tommaso Barea (Leporello). (Foto: Bettina Stöß)

Dem Mythos „Don Giovanni“ hatte sich Roland Schwab 2010 in Berlin genähert. Die Arbeit des Regisseurs, der am Aalto-Theater Essen mit Verdis „Otello“ und Puccinis „Trittico“ bildmächtige Inszenierungen geschaffen hat, stand an der Deutschen Oper wieder für vier Vorstellungen auf dem Kalender. Am Pult: der designierte Essener GMD Andrea Sanguineti.

Der Mythos Don Juan ist unerschöpflich. Nicht einmal über Faust wurde so viel gedacht und geschrieben wie über den vom spanischen Mönch Tirso de Molina in die literarische Welt erhobenen „Burlador de Sevilla“. Viriler Verführer, lustbetonter Eroberer, amoralisches Scheusal, Leidender in einer absurden Welt, zynischer Nihilist, scheiternder Gottsucher, Metapher des Bösen: In tausenderlei Gestalten tritt er uns entgegen. Der kluge, theologisch gebildete Dichter Lorenzo da Ponte hat ihn für Wolfgang Amadé Mozart in ein vielsagendes Libretto, der Komponist hat es in unsterbliche Musik gekleidet. Heute ist „Don Giovanni“ auf der Bühne vor allem in dieser Oper präsent. Entsprechend vielgestaltig sind die Deutungen.

Roland Schwab gelang vor gut zwölf Jahren mit einer von seiner Lehrerin Ruth Berghaus geschulten Hand, die innere Spannung von Mozarts „dramma giocoso“ zu inszenieren, ohne seine Kraftpole auszuschalten. Denn da ist die erzählte Handlung, eine Geschichte voller (Wort-)witz und bedeutungsvollen Momenten. Und auf der anderen Seite das Bewusstsein des Mythos, die Repräsentation einer Figur auf der Bühne, die unerschöpflich ist und ein zeitloses Geheimnis in sich trägt.

Schwab verzichtet mit seinem Bühnenbildner Piero Vinciguerra auf jeden Schauplatz. Und nicht ein einzelner Don Giovanni, nicht nur ein Leporello werden in ihren Konturen in der Schwärze der Bühne sichtbar: Sie vervielfachen sich, werden zum Kollektiv, oder, wenn man so will, zu einem Schwarm ihrer Erscheinungsformen im Lauf ihrer Geschichte. Auch der Komtur – am Ende nur noch dröhnend mahnende Stimme – schält sich als einer aus den Vielen heraus. Ein sinniges Bild für den Mythos, der sich in der Zeit vervielfacht hat, der, wenn er denn greifbar wird, nur einen Ausschnitt seiner ganzen Wirklichkeit kolportiert.

Ein Sisyphus der Lust

In Schwabs Deutung konkretisiert sich der Mythos aus purer Notwendigkeit im Individuum eines Don Giovanni (Mattia Olivieri) und seinem Leporello-Alter-Ego Tommaso Barea. Doch sie erinnern immer daran, dass sie keine Personen im klassischen Sinne sind. Auch die Kostüme von Renée Listerdal variieren die Konkretion immer wieder: In der komödiantischen Verwechslungsszene im zweiten Akt wird etwa das alte Mantel-und-Degen-Stück zitiert. Und wenn das Outfit der beiden Akteure sich immer deutlicher an Fetisch-Leder aus der SM-Szene annähert, entspricht das der ambivalenten Rolle des Don Giovanni: Er ist der Quäler der Menschen seines Umfelds und er wird gequält von seiner Existenz, die sich in der ständigen Wiederholung des Immergleichen erschöpft.

Schwab sieht offenbar Parallelen zu Sisyphus. Doch wenn der antike Steinroller zumindest bei Albert Camus‘ im Moment, in dem er die Absurdität seines Daseins annimmt, ein glücklicher Mensch ist, macht Schwab das Leiden seines Protagonisten deutlich: Geradezu flehentlich senkt er im ersten Finale den Kopf, um den Schwerthieb von Don Ottavio zu empfangen – aber sein Widersacher hat nicht das Format, um zuzuschlagen. Am Rand der Bühne strampelt derweil ein halbnackter Athlet auf einem Hometrainer – ein Fahrrad, das trotz größter Anstrengung nicht von der Stelle weicht.

Existenzieller Schmerz und Sehnsucht nach Erlösung. Szene aus dem ersten Finale von Mozarts „Don Giovanni“ an der Deutschen Oper Berlin (Aufnahme von 2015). (Foto: Bettina Stöß)

Zum genial komponierten musikalischen Chaos Mozarts drehen sich zwei Gestänge-Burgen wie gigantische Mahlwerke gegeneinander; eine davon erinnert an eine Parabolantenne, die Signale aus galaktischen Fernen empfangen könnte. Sie scheinen wie das magische Theater in Hermann Hesses „Steppenwolf“ alle zu verschlingen, nur Zerlina wandelt wie in Trance außen vorüber. Eine enge Pforte, einer Flughafenschleuse ähnlich, zitiert das Inferno-Motto Dantes: Lasst alle Hoffnung fahren. Eine bestürzende Umsetzung des Perpetuum-mobile-Kreiselns, das Mozart in der sogenannten Champagnerarie Don Giovannis musikalisch ausgeformt hat.

Der Butler stolpert über eine Leiche

In der letzten Szene überschlagen sich dann die Assoziationen: In den schemenhaft sich abzeichnenden Trümmern einer beständig gegenwärtigen Vergangenheit imitiert Leporello Freddie Frinton in „Dinner for one“, stolpert aber statt über den Tigerkopf übe die Leiche einer ermordeten jungen Frau. Don Giovanni füttert schwarze Gestalten wie Hunde, als säße er in Pasolinis „Salò – Die 120 Tage von Sodom“, Leonardos „Abendmahl“ wird heraufgerufen. Das Ende imaginiert Schwab wie die Romantiker des 19. Jahrhunderts ohne das abschließende Sextett. Das Schicksal des bestraften „Wüstlings“, eines von allen humanen Bindungen freien Charakters, entzieht sich der Moral. Eine entscheidenden Abweichung, die den Mythos für unsterblich erklärt. Die Tortur des Sisyphus geht weiter.

Dirigent des Berliner „Don Giovanni“: der künftige Essener GMD Andrea Sanguineti. (Foto: Volker Wiciok)

Musikalisch hinterlässt die Aufführung unter Andrea Sanguineti einen zwiespältigen Eindruck. Das liegt in erster Linie an einer akzentarmen, die Melodiestimmen betonenden Spielweise des Orchesters, der Sanguineti offenbar keine Impulse zu geben hat. Die Ouvertüre, schlank und ohne Abgründe, wirkt im Adagio eine Spur zu schnell, zu unverbindlich, wechselt mit dem Tempo im Allegro ihre musikalische Haltung nicht und bildet so keinen Kontrast aus.

Im Lauf des Abends zeigt sich Sanguineti als bedachter Begleiter der Sänger. Die reüssieren unterschiedlich: Mattia Olivieri singt „Fin ch’an dal vino“ vital und draufgängerisch, zeigt im Ständchen eine Stimmkultur, die es zu einem wehmütig-poetischen Intermezzo machen. Aber in den Rezitativen stößt er wie Leporello an seiner Seite die Silben heraus. Man mag diesen Verzicht auf elegante Formulierung dem Konzept der Figuren anrechnen, aber das forcierte Spucken der Silben macht wenig Freude und eröffnet in Tommaso Bareas „Registerarie“ keinen expressiven Zugewinn. Der Don Ottavio Giovanni Salas singt gepflegt, muss aber rollengemäß blass bleiben. Artur Garbas erfüllt die Erwartungen, die man an einen Masetto stellt, stimmlich mühelos, im Spiel zum Glück ohne übertreibende Möchtegern-Komik. Patrick Guetti darf als Commendatore aus dem Lautsprecher dröhnen.

Elvira ohne Schweißtropfen

Unter den Damen gebührt Lidia Fridman als Donna Elvira die Palme: Sie bewältigt den Umfang, die heiklen Sprünge und die heroinenhafte Attacke anstandslos, mit gleichmäßig geformten und verfärbungsfrei positionierten Tönen bei einwandfreier Artikulation. Endlich einmal eine Elvira, die der Partie ohne Schweißtropfen auf der Stimme gerecht wird. Elisa Verzier macht als Zerlina mit unverbrauchtem Timbre und sorgsamer Gestaltung auf sich aufmerksam. Flurina Stucki hat für die Donna Anna die Beweglichkeit und die melancholischen Töne, in dramatischen Momenten wirkt die Stimme im Kern zu klein und hilft sich mit aufgeblähtem Vibrato.

Roland Schwab hat mit dieser Arbeit die riskante Herausforderung bewältigt, den „Don Giovanni“-Mythos komplex chiffriert in all seinen Spannungen sinnlich erfahrbar zu machen; dass die Inszenierung nach zwölf Jahren noch so unmittelbar wirksam ist, dürfte auch der Spielleitung (Silke Sense) zu verdanken sein.

 




Kontrollierte Verstörung: Tomáš Netopil rundet seinen Essener Mahler-Zyklus ab

Die Essener Philharmoniker bei der Generalprobe zu Gustav Mahlers Dritter Sinfonie unter dem Dirigat von Tomáš Netopil. (Foto: Volker Wiciok)

Es wäre so schön gewesen: Schon bei seinem Amtsantritt hatte sich der Essener Generalmusikdirektor Tomáš Netopil mit Mahler vorgestellt. Hätte es Corona nicht gegeben, wäre die Dritte Sinfonie der Abschluss eines Zyklus über die letzten zehn Spielzeiten geworden.

Die Erste war zum Einstand 2013 ein Versprechen für die Zukunft, das der in Přerov im Osten Tschechiens geborene Dirigent immer überzeugender einzulösen wusste. Jetzt, da sich seine Zeit in Essen zum Ende neigt, hätte er bis auf die riesenhafte Achte alle Sinfonien Mahlers mit seinem Orchester erarbeitet. Doch die Siebte, im Februar 2021 geplant, blieb auf der Strecke; die Dritte eigentlich im Juni 2020 terminiert, konnte er jetzt erst nachholen. Sie geriet zum Fest: Zunächst ein leider allzu vorwitzig auf den letzten Ton aufsetzender Klatschorkan, als Netopil seinen Arm noch in die Höhe hielt, dann langer Jubel und Begeisterung. Ein verdienter Triumph für die Essener Philharmoniker, die an diesem Mahler-Abend hingebungsvoll und hinreißend gespielt haben. Der Nachfolger Netopils, Andrea Sanguineti, hat in einem Interview bereits angekündigt, das Auge auf Mahler und Strauss zu richten. Es wird ein reizvoller Vergleich werden.

Tomáš Netopil am Pult der Essener Philharmoniker. (Foto: Volker Wiciok)

Netopil macht aus der Dritten kein brutales Schlachtfest, wetzt nicht die Klingen, um das kontrollierte musikalische Chaos zu zerfetzen. Sein Zugang war stets der gemessene, manchmal sogar elegante. Vor zehn Jahren, in der Ersten, führte das noch zu rund geschliffenen Konturen. Das Schroffe, Irritierende der Sprache Mahlers fand sich samten und seidig ausgekleidet. Die in Essen uraufgeführte Sechste – wie die Neunte auf einer CD nachzuhören – klang da schon anders, entschieden aufgeraut und zugespitzt. Jetzt, mit der 1902 beim 38. Tonkünstlerfest in Krefeld erstmals erklungenen Dritten, schafft Netopil so etwas wie eine Synthese. Das Chaos fährt nicht in zermalmendem Fortissimo auf, die Philharmoniker bleiben selbst in Momenten höchster Erregung kontrolliert statt ungezügelt furios. Aber das Doppelbödige, Verstörende dieser Musik äußert sich in der smarten Ästhetik ihrer Darbietung vielleicht noch bedrohlicher als in unmittelbarem, rabiatem Zugriff.

Grinsende Schönheit

Dass diese Schönheit satanisch grinsen kann, dass mit ätherischer Transparenz der Hauch des Fauligen hereinweht, macht Netopil an diesem Abend in der ziemlich voll besetzten Essener Philharmonie erschreckend klar. Zu Beginn tun die triumphalen Hörner so, als gäben sie ein Thema vor, aber ihr schwankendes Motiv verlischt fast folgenlos. Der bald einsetzende Trauermarsch, in dem das Fagott den Messingglanz des Blechs ärgert, hat etwas von Berlioz’scher „Fantastique“-Groteskerie. Das Pianissimo der Posaunen ist nicht geheuer; in die wiegende Wagner-Idylle der Geigen quäken die Klarinetten ihren Misston. Nach der Reprise – einer der wenigen Momente, die an das Formmodell eines ersten Satzes erinnern – driften ein Märschlein und eine ungenierte Schlagermelodie endgültig in Ironie ab.

Die Essener Philharmoniker halten den Klang offen, auch wenn sich über aufgeregte Streichertremoli ein sonores Blech-Forte legt. Selbst wenn sich Mikro-Stimmen verschlingen und verheddern, bleiben die Vorgänge durchhörbar. Der Klang plustert sich nie ins Breiige, erschöpft sich aber auch nicht in kalter Analytik. Die surrealen musikalischen Traumlandschaften ziehen in scharfen Konturen vorbei.

Bettina Ranch. (Foto: Volker Wiciok)

In der ziselierten Ornamentik des zweiten Satzes, in dem Mahler das Kunstvolle ins Verkünstelte degenerieren lässt, bewähren sich die Philharmoniker in luftigen Klanggebilden. Und wenn im vierten Satz Bettina Ranch die menschliche Stimme in flutendem Alt in die Instrumente mischt, trifft das Orchester die dunkel grundierte Atmosphäre ebenso wie in der aufgelichteten Naivität der religiösen Nazarener-Idylle des fünften Satzes.

Die zurückhaltende Damenriege des Philharmonischen Chores Essen (Patrick Jaskolka) trägt diese Klangkonzeption ebenso mit wie der Aalto-Kinderchor und der Kinderchor der Deutschen Oper Berlin (Christian Lindhorst). Nachzuhören ist dieses musikalische Weltengemälde demnächst auf einer weiteren CD der Essener Philharmoniker oder im Video-Stream. Und für den neuen Chef des Orchesters hat Netopil die Messlatte hoch gelegt: Der Startpunkt für die Spannungskurve ist da.




Schlüssige Psychologie: Verdis „Rigoletto“ in Wuppertal

Bereit zur Entführung der Tochter Rigolettos: die verkleideten Funktionäre von Mantua. (Foto: Wil van Iersel)

Die Hofnarren von heute sind die Berater und Medienmacher, die Duodzefürsten von damals findet man heute in Vorständen und auf Vorsitzendenposten. Dort lassen sie ihre grauen Männer nach Gusto tanzen. Im Wuppertaler „Rigoletto“ verformt Timofey Kulyabin, der mittlerweile im Exil lebende russische Regisseur, Mantua zu einem Zwergstaat der Nachsowjetära.

Das dunkel holzgetäfelte Machtzentrum, in diesem Fall eine Parteizentrale, erinnert mit protzigem Schreibtisch und Schummerlicht an den verblassten, altmodischen Repräsentationsstil, den jeder kennt, der zum Beispiel einmal in Josip Broz Titos Feriendomizil „Villa Bled“ in Slowenien genächtigt hat. Wie man in diesem Ambiente mit Frauen umgeht, macht schon die erste Szene klar. Dem Leitwolf gehören alle, und der beißt nicht eben sanft zu. Was die Gräfin Ceprano (Christiane Inhoffen) erwartet, ist kein Schäferstündchen, sondern eine Schändung.

Bis Sommer 2023 Intendant der Oper Wuppertal: Berthold Schneider. (Foto: Jens Grossmann)

Mit diesem „Rigoletto“ ist Kulyabin ein Coup gelungen, der heute vielleicht noch beklemmender wirkt als bei seiner Premiere 2016. Wuppertals zum Ende der Spielzeit scheidender Intendant Berthold Schneider hat also gut daran getan, die Produktion noch einmal aufzunehmen. Kulyabin analysiert die Figuren des Stücks scharfsichtig und überträgt ihre Eigenschaften in Verhaltensformen und Machtstrukturen der Gegenwart. So wird aus der körperlichen Entstellung des „buckligen“ Rigoletto eine seelische: Der Mann verkauft seine innersten Gefühle dafür, dazuzugehören, was am Ende in einer kurzen, hinzugefügten Szene verstörend offenbar wird.

Vittorio Vitelli schlängelt sich geschmeidig durch die Schar der Funktionäre, singt klar artikuliert mit schlankem Bariton und lyrischer Noblesse. Die Farben des Schmerzes, der Wut, der Zynismus gehen ihm ab, dazu fehlt der Stimme gestalterisches Potenzial. Dass sich in seiner Vaterliebe obsessive Züge mit einem Zwang zum Überbehüten mischen, macht Vitelli in der Begegnung mit seiner Tochter deutlich, die am Anspruch Rigolettos überfordert zerbricht.

Einmal Clown, einmal Sadist

Das Narrenkostüm trägt in dieser Version der Herzog; es ist eines der „costumi“, mit denen er seine Umwelt manipuliert. Später tritt er tatsächlich mit Herrschermantel und Kappe auf, um Gilda zu zeigen, wer er „wirklich ist“. Im vierten Akt deuten die Klamotten (Kostüme: Galya Solodovnikova) ein sadistisches Spiel mit Maddalena an, die von Iris Marie Sojer untadelig und entspannt gesungen wird. Nur ein wenig mehr Entspannung in der Stimme hätte man sich von Sangmin Jeon gewünscht: Der Tenor hat das präsente Draufgänger-Timbre für den Herzog, kann die Emission des Tones dosieren von unbekümmerter Leichtigkeit für „La donna é mobile“ bis zum offensiven Selbstbewusstsein von „Possente amor mi chiama“.

Der Boss (Sangmin Jeon, Mitte) hält Hof. (Foto: Wil van Iersel)

Auch szenisch gibt Jeon seiner Rolle – vom machtbewussten Chef über den brutal fordernden Verführer bis zum leichtfertigen Spieler – scharfes Profil. Das zeigt sich besonders in „Parmi veder le lagrime“, in der Kulyabins Regie eine Deutung ausschließt, die dem Herzog einen Anflug echter, tiefer Liebe zugesteht. Das faszinierend durchgestaltete Doppelspiel mit seiner erniedrigten Gattin – Hong-Ae Kim in der eingefügten stummen Rolle – verdächtigt die Musik Verdis der Täuschung und legt den wahren Charakter des Herzog jenseits seiner Verkleidungen frei. Insofern passt es zur Zeichnung dieser Figur, dass Jeon auf belcanteske Raffinesse verzichtet.

Der Tick ist kein Trick

Die kaum überwindbare Problematik, eine Person wie Gilda in einen heutigen Verständnishorizont zu übersetzen, löst Kulyabin nur scheinbar mit einem muffigen Trick des Regietheaters: Rigolettos Tochter lebt in der geschlossenen Psychiatrie, Giovanna (Ute Elisabeth Temizel) ist die fürsorgliche Ärztin, die dem in seine Welt versponnenen Mädchen mal ein nettes Abenteuer mit einem Studenten gewähren möchte und am Ende mit dem Tod bezahlt. Ralitsa Ralinova ist die hochgelobte Gilda – und demnächst die Violetta in „La Traviata“ – in Wuppertal, konnte aber am besuchten Abend ihre Stimme nicht klingen lassen.

Akiho Tsujii vom Mainfrankentheater Würzburg lieh ihr von der Seite Ton und Klang – und das auf sympathische, wohllautende und versiert gestaltende Weise. Dass Ralinova trotz Krankheit spielte, ist ihr hoch anzurechnen, denn die szenische Darstellung einer von Ticks und zeitweiligem Aussteigen aus der Realität gehandicapten Person lässt sich nicht in einer Stellprobe vermitteln. Aber so erklärt sich das Verhalten Gildas, die strikte Klausur, zu der Rigoletto seiner Tochter zwingt, sogar das Liebesopfer des Mädchens am Ende.

Kulyabin vermeidet jede metaphorische oder metaphysische Überhöhung. Seine auf psychologische Schlüssigkeit konzentrierte Personenanalyse ist bei Gilda wagemutig, aber gelungen durchgezogen. Von daher: Keine Regieverlegenheit, sondern Regiekonsequenz. Der Überwachungsmonitor des zwielichtigen Security-Mannes Sparafucile – Sebastian Campione gibt den „Fremden“ mit südlichem Aussehen, Salafistenbart und spröder Stimme – zeigt Gilda zur rechten Zeit für den Mord vor der Tür. Für solche Szenen hat Oleg Golovko auf der Bühne einen kahlen Nebenraum geschaffen: Dort verhandelt Rigoletto mit dem Auftragsmörder, beklagen die erniedrigten Frauen ihr Schicksal, lagert der Müllsack mit dem Mordopfer. Kulyabins Konzept, mag zunächst wie eine der übergestülpten „Subtext“-Erzählungen wirken, ist aber tatsächlich wie eine neue Haut, die sich geschmeidig über das Stück spannt und seine wahren Konturen offenbart.

Warten auf dramatischen Nachdruck

GMD Patrick Hahn. (Foto: Gerhard Donauer)

Im Graben waltet kein Geringerer als GMD Patrick Hahn, der sich mit „Rigoletto“ die italienische Oper geöffnet hat. Er nähert sich vorsichtig, in gemäßigten Tempi, gönnt dem kurzen Vorspiel keine drängende Dramatik. Auch im Lauf des Abends lässt dramatischer Nachdruck öfter auf sich warten – auf der anderen Seite hütet sich Hahn davor, Erregung durch Lärm vorzutäuschen. Das ist ein kluger Ansatz, der jedoch die mangelnde Markanz in den Violinen, die Formung einer energischen oder auf den Bogen achtenden Phrasierung, die Emanzipation von scheinbar begleitenden Figuren zu tragenden musikalischen Momenten nicht verhindern sollte. Schlüsselszenen wie Gewitter und Quartett im vierten Akt gelingen in sich, der große Entwicklungsbogen könnte noch eindringlicher geformt werden.

Nicht zu vergessen: Die Höflinge und der Chor der Wuppertaler Bühnen gefielen allesamt, weil sie sich auf die detaillierte Personenführung eingelassen und jeder ihrer Rollen damit Gewicht gegeben haben. Ein „Rigoletto“, der aus der Masse alltäglicher Aufführungen heraussticht und einen berührenden Zugang zum Schicksal der Menschen auf der Bühne eröffnet. Siehe da, das alte Melodrama lebt und Victor Hugos Personal erkennen wir auch in der Gegenwart wieder.

Weitere Vorstellungen: 5. und 18. Februar. Tickets: (0202) 5673 7666, www.oper-wuppertal.de




Papsttochter am Aalto-Theater: Donizettis „Lucrezia Borgia“ öffnet den Blick auf psychische Extreme

Marta Torbidoni, die gastierende Premierensängerin, als Lucrezia Borgia in Ben Baurs atmosphärisch gelungenem Bühnenbau. (Foto: Bettina Stöß)

In Bergamo, dem Geburtsort Gaetano Donizettis, gibt es in jedem Herbst ein Festival, bei dem sich kaum gespielte Opern als überraschend gegenwärtig erweisen. So im Herbst 2022 zum Beispiel Donizettis „L’aio nell‘ imbarazzo“ („Der Hauslehrer in Verlegenheit“), eine skurrile Studie über extreme – heute würde man sagen – Verhaltensauffälligkeiten. Hin und wieder haben Opern Donizettis abseits des Mainstreams aber auch in Deutschland eine Chance.

Das Aalto-Theater Essen zeigt als zweite Premiere der Intendanz von Merle Fahrholz eine noch von ihrem Vorgänger Hein Mulders programmierte und wegen der Corona-Pandemie verschobene, selten zu sehende Donizetti- Oper: „Lucrezia Borgia“.

Hauptperson ist die uneheliche Tochter Papst Alexanders VI.: Borgia, deren – heute historisch entkräfteter – Ruf als verruchte, ausschweifende Giftmischerin im 19. Jahrhundert für schaudernde Faszination sorgte. Donizettis Oper von 1833 wurde für Deutschland eigentlich erst 2009 wiederentdeckt, als Edita Gruberova an der Bayerischen Staatsoper München in der Regie von Christof Loy als Lucrezia debütierte. Trotz gelegentlicher Neuinszenierungen – so vor einigen Jahren in Halle/Saale – bleibt das Werk eine Rarität.

Das dürfte nicht an der stupend ausgearbeiteten Musik aus einer Hochphase des Schaffens Donizettis liegen, sondern am Sujet. Ähnlich wie „Parisina d’Este“ (1833) oder „Maria de Rudenz“ (1837) ist „Lucrezia Borgia“ ein Stück der psychischen Extreme. Mit den nachtschwarzen Liebesgeschichten des romantischen „melodramma“ und seinen Opfer-Heroinen hat es nichts mehr zu tun. Eher weist die Oper in die Richtung, die Giuseppe Verdi später mit „Rigoletto“ eingeschlagen hat. Das ist kein Wunder: Beide Opern basieren auf Dramen von Victor Hugo, der seine „Lucrèce Borgia“ bewusst als Gegenstück zu „Le roi s’amuse“, der Vorlage für „Rigoletto“, konzipiert hat.

Geächtete Menschen

Beide sind Menschen, die gesellschaftlich geächtet sind – der eine wegen seiner körperlichen Entstellung, die andere aufgrund ihrer moralischen Verkommenheit. Und beide sollen Mitgefühl erzeugen, ja den Zuschauer laut Hugo „zum Weinen bringen“: Rigoletto durch seine Zärtlichkeit als Vater, Lucrezia durch die Qual, die sie über ihr verbrecherisches Vorleben empfindet, und durch ihre reine Mutterliebe. Die inneren Widersprüche der Existenz interessierten Hugo wie Donizetti; spätere Generationen hielten solche Sujets eher für widerlich.

Im Gegensatz zu „Rigoletto“ bleiben die Personen bei Donizetti aber in einer Sphäre zwischen Traum und Realität befangen. Lucrezia hat einen Sohn, Gennaro, von dem nur sie alleine weiß, nach dem sie sich sehnt, der aber in ihrem Leben tatsächlich keinen Platz haben darf. Gennaro, ein erfolgreicher Soldat ohne Wurzeln – Vater unbekannt, Mutter verschollen – ist abhängig von der Obsession für ein überhöhtes Mutter-Ideal. Die Mutter-Sohn-Beziehung zwischen Lucrezia und Gennaro bleibt bis zum Ende unausgesprochen, bestimmt aber den tödlichen Verlauf der von fatalen Zufällen bestimmten Handlung. Gennaro fühlt sich von der unbekannten Dame unerklärlich angezogen. Die rätselhafte Zuneigung schlägt in Hass um, als am Ende des als „Prolog“ betitelten ersten Teils der Oper ihre Identität aufgedeckt wird: Sie ist das Monster „Borgia“.

Mutter und Monster: Diesen Gegensatz hat Victor Hugo konstruiert, um im besten romantischen Sinn die Rätselklüfte des Lebens aufzureißen, Extreme zu markieren, die sich nicht besänftigen, sondern nur schaudernd aushalten lassen. Felice Romani, der Librettist Donizettis, hat sie fokussiert auf nur wenige Personen und so die extremen Spannungen betont, die das Stück so schwer inszenierbar machen. Eine Herausforderung für jeden Regisseur, aber eine mit dem eigenen Reiz, zu der brillanten Musik Donizettis eine adäquate szenische Lösung zu finden.

Surreale Regie-Elemente

Immer wieder bricht Ben Baur die Szene ins Surreale auf, so wie hier mit einem Zug von Klerikern. Links: Davide Giangregorio als Don Alfonso, rechts Marta Torbidoni als Lucrezia. (Foto: Bettina Stöß)

In Essen hat sich Ben Baur an das Experiment gewagt und sich dabei stark an Victor Hugo orientiert. Er verzichtet auf die Schauwert-Schauplätze Venedig und Ferrara, baut auf der Bühne einen monumentalen, an florentinische Renaissance erinnernden Saal mit Ziegelwand, einem dominierenden Kamin und einem Vorhang, der das Element des Theaters unterstreicht und Raum und Szenen gliedert. Die kostbare goldgelbe Robe für Lucrezia ist eine der wenigen Reminiszenzen an die historische Papsttochter, die mit Donizettis Figur kaum etwas zu tun hat, aber durch das Gewand gleichzeitig überhöht wird.

Uta Meenens Kostüme bewegen sich ansonsten im Spektrum von konkreten Anspielungen – Mönchskutten, Klerikergewänder oder biedermeierliche Nachthemdchen für die Kinderstatisterie, die ein surreales Element in die Inszenierung einbringen sollen – und einer uneindeutigen Phantastik wie in den queeren, androgynen Entwürfen für die jungen Menschen in der Entourage Gennaros oder dem wie ein Bustier gestalteten Brustpanzer von Lucrezias Gatten Don Alfonso.

Baur ist ein Meister solcher fluider Zeichen und setzt sie ein, um den Raum als eine Seelensphäre zwischen Wachen und Träumen zu kennzeichnen. Mehrfach tötet Gennaro im Lauf des Stücks Erscheinungen Lucrezias, ein Motiv, das surreal rätselhaft bleibt, vielleicht zu lesen als vergeblicher Versuch des jungen Mannes, sich von der Zwangsvorstellung seines Mutterbilds zu befreien. Wie sehr ihn dieses dominierende Ideal am Leben hindert, zeigt sich in der Szene mit seinem Freund Maffio Orsini im zweiten Akt. „Mit dir immer, ob lebend oder tot“ beschwören die beiden im melodischen Schwung eines Liebesduetts eine Verbindung, die unübersehbar homoerotische Züge trägt. In Baurs Inszenierung tritt Orsini im Gewand der Lucrezia Borgia auf – ein Signal für das verzerrte Gefühlsleben Gennaros, der Liebe offenbar nur mit dem inneren Bild der „Mutter“ verbinden und so nicht zu einem authentischen Verhältnis zu Orsini finden kann.

Das Problem bei Baurs überlegtem Regie-Zugriff ist, dass die szenischen Signale zu naturalistisch wirken und nur peripher mit der verlaufsgetreu erzählten Handlung korrespondieren können. Gestorbene Kinder Lucrezias, blutüberströmte Gemeuchelte, ein Zug von Kardinälen mit dem Papst an der Spitze: Wo Baur die Handlung im Sinne einer Zeichen- oder Traumlogik aufbrechen will, wirkt das Surreale nicht; wo Transzendierung wirksam werden sollte, bleibt die Handlung zu fasslich. Dennoch: Die Intention Baurs, das Stück aus dem Korsett eines schwer nachvollziehbaren Narrativs zu befreien, führt in die richtige Richtung.

Glanzvolles Debüt

Jessica Muirhead. (Foto: Nanc Price)

In Essen war jetzt erst die ursprünglich gedachte Besetzung zu erleben, mit der auch geprobt wurde: In der Premiere am 26. November mussten drei von vier Hauptrollen durch Gäste ersetzt werden. Auch jetzt grassiert die Krankheitswelle noch, wie sich vor allem im von Klaas-Jan de Groot einstudierten Chor bemerkbar macht. Endlich konnte aber Jessica Muirhead ihr Debüt als Lucrezia Borgia feiern – und sie hat die Anforderungen der Partie zwischen verträumter Lyrik („Com’e bello! Quale incanto …“), gefährlichem Auftrumpfen („Oh! A te bada … a te stesso pon mente“) und brennender Verzweiflung („Mille volte al giorno io moro“) glanzvoll ausgeschöpft. Muirheads leuchtender, bis auf ein paar Stützschwierigkeiten bei kurzen Noten in der Höhe sicher positionierter Sopran ist in der Lage, die emotionalen Spannungen in einer hinreißenden Gesangslinie auszudrücken. Das ist anders als die ziselierte Feinarbeit, mit der Gruberova die Schwächen ihrer Stimme in Expression verwandelte, anders auch als der dramatische Impetus, den Marta Torbidoni in der Premiere als Gast – sie hatte die Partie vorher in Bologna gesungen – mitgebracht hat.

Der giftige Wein der Borgia bringt den Tod. Marta Torbidoni (Lucrezia) und Francesco Castoro (Gennaro) im zweiten Akt der Oper. (Foto: Bettina Stöß)

Francesco Castoro als Gennaro kann in der jüngsten Vorstellung überzeugender punkten als in der Premiere. Er führt seinen Tenor bewusst leicht und mit einem unangestrengten Ton fern von dem oft als „italienisch“ missverstandenen Aplomb. Auch wenn man spürt, dass ihm manche Passage Mühe bereitet: Castoro vermittelt einen Eindruck davon, was Belcanto im Sinne Donizettis bedeutet. Alles andere als Schöngesang bot dagegen Davide Giangregorio bei seinem Deutschland-Debüt als Don Alfonso. Weit weg von der eleganten Linienführung und der unangestrengten Attacke eines Kavaliersbaritons dröhnte er mit undifferenzierter, auf bloße Außenwirkung getrimmter Kraft und unsteter Tonbildung. Ein Schönsänger ist die Hausbesetzung Almas Svilpa zwar auch nicht, aber in seiner bewussten Gestaltung kommt er den stilistischen Erfordernissen des Singens näher als der Premierengast aus Bologna. Vokal glänzend und als Darstellerin überzeugend: Liliana de Sousa als Maffio Orsini.

Farben der Melancholie

Dass auch die kleineren Rollen nicht ohne Anspruch sind, demonstrieren Mathias Frey (Rustighello), Tobias Greenhalgh und das Quartett der Kumpane Orsinis, Edward Leach (Liverotto), Lorenzo Barbieri (Gazella), Timothy Edlin (Petrucci) und Joshua Owen Mills (Vitelozzo). Andrea Sanguineti, designierter GMD von Essen, hat in der Januar-Vorstellung das Tempo merklich angezogen, lässt das Orchester akzentuierter spielen, gibt den Cabaletten drängende Energie und den lyrischen Momenten die Farbe der Melancholie, die – etwa in der Einleitung – an die zwei Jahre später entstandene „Lucia di Lammermoor“ erinnert.

Die vielen Krankheitsfälle im Ensemble gehen allerdings nicht spurlos vorüber: Die Präzision leidet, die Koordination mit der Bühne wankt öfter, die Geigen der Essener Philharmoniker klingen – im Gegensatz zu den warmen Celli – kreidig-scharf. So ganz ist der Versuch, Victor Hugos sperrige Thematik in unsere Gegenwart zu übertragen, in Essen nicht geglückt. Aber diese „Lucrezia Borgia“ zeigt, dass ein ambitionierter Regisseur aus anachronistisch wirkenden Stoffen überraschende Einsichten gewinnen kann. Das ist nicht neu, hat sich an so manchem Opernhaus aber noch nicht herumgesprochen. Und Donizettis Musik ist es allemal wert, von stilsicheren Sängern und Musikern (und *innen natürlich auch) verlebendigt zu werden.

Weitere Vorstellungen in dieser Spielzeit am 14. Januar, 4. und 15. Februar und 10. März. Karten (0201) 81 22 200 oder www.theater-essen.de

 




Papst Benedikt XVI. ist tot: Kritische Erinnerung an eine prägende Gestalt

Joseph Ratzinger, der emeritierte Papst Benedikt XVI., ist tot. Er starb am heutigen Festtag eines heiligen Papstes, Silvester. Die Gedenkartikel und Nachrufe, für einen 95-Jährigen längst vorbereitet, werden sich in den nächsten Tagen häufen und uns in ein neues Jahr begleiten. Joseph Ratzinger als Denker, als Theologen, als Kirchenmann und als Papst zu würdigen, ist eine kaum zu bewältigende Aufgabe. Daher nur ein paar wenige, persönliche Gedanken.

Der 2013 zurückgetretene Papst Benedikt XVI., aufgenommen am 10. Juni 2010. (Foto: Mark Bray/Flickr – Creative Commons). Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/

Natürlich gehörte Joseph Ratzinger für einen theologisch ausgebildeten und lange Jahre kirchlich tätigen Journalisten wie mich zum Alltag: Seine „Einführung in das Christentum“ war Standardlektüre, um seine Stellungnahmen als Konzilstheologe, als Erzbischof von München und Freising, als Präfekt der Glaubenskongregation und als Autor theologischer Werke kam man nicht herum. Sie waren stets bereichernd zu lesen, auch wenn man Dinge anders sah. Die Brillanz seiner Argumentation, die Eleganz der Gedankenführung, die intellektuelle Klarheit und geistliche Verantwortlichkeit, die aus seinen Äußerungen sprach, war stets beeindruckend.

Ob er wirklich „der größte Theologe, der jemals auf dem Stuhl Petri saß“, ob er der „meistgelesene Theologe der Neuzeit“ gewesen ist, mag zu Recht bezweifelt werden. Darüber entscheiden die Perspektiven der Betrachtung – und das Urteil einer Geschichte, die ganz im Sinne Joseph Ratzingers nicht in kurzatmigen Superlativen denkt. Dass er zu den großen Denkern des 20. Jahrhunderts zählt, ist aus einer kirchlichen und europäischen Sicht kaum zu bestreiten. Da tun ihm auch Häme, Spott und eine oft bittere Kritik keinen Abbruch. Ob diese Perspektive in der Sicht einer säkularen (Post-)Moderne und einer polyzentrischen Welt Bestand hat, ist eine andere Frage. Ratzinger war wohl zu sehr Protagonist eines durch und durch europäisch-konservativen Denkens, um auf dem säkularen Areopag mit seiner globalen Stimmenvielfalt so gehört zu werden, wie es seine durchaus weltweit verbreiteten Bewunderer als sicher annehmen.

Umgang mit der „Theologie der Befreiung“

Exemplarisch verdeutlichen könnte das sein Umgang mit der „Theologie der Befreiung“, aus meiner Sicht einer seiner fatalen theologischen und kirchenpolitischen Missgriffe. Er gab der aus dem tiefen Misstrauen gegen den Marxismus und dem Konzept des historischen Materialismus gespeisten Ablehnung Johannes Pauls II. dieser neuen Aufbrüche auf außereuropäischen Kontinenten, namentlich im katholischen Lateinamerika, die intellektuelle Grundlage. Damit begünstigte er – das darf wohl aus der heutigen Perspektive eine Generation später so gesehen werden – den gesellschaftlichen Niedergang des Katholizismus in Lateinamerika, wo heute Synkretismen und evangelikale Sekten obskurster Bekenntnisse mindestens starke Minderheiten bilden.

Joseph Ratzinger, der eigentlich aus seiner bayerischen Heimat ein tiefes Verständnis für die theologisch nicht immer fransenfreie Volksfrömmigkeit mitgebracht haben sollte, konnte die traditionelle Frömmigkeit etwa der Wallfahrer zur Madonna von Guadalupe akzeptieren; die Spiritualität der Basisgemeinden in den Barrios von Managua, den Favelas von Rio de Janeiro oder den von Gewalt erschütterten Elendsvierteln von Cali ist ihm fremd geblieben.

Woran lag das? Wohl nicht an mangelndem gutem Willen, vielleicht nicht einmal an kirchenpolitischen Vorbehalten. Denn Joseph Ratzinger war – anders als gerade in Deutschland gern gemutmaßt – kein gerissener Kirchenpolitiker. Die Ernennungen reaktionärer Gestalten zu Bischöfen, von Dyba (Fulda) über Krenn (St. Pölten) bis Groer (Wien) sind nicht aus seinem Einflussbereich gekommen. Die Ursache sehe ich in seinem Denken: Seine intellektuelle Systemik, das hochästhetische wie gedanklich schlüssige Konstrukt seiner Theologie hatte zu wenig Raum für das störend konkrete Leben in seinen schmutzigen Widersprüchen, für die Empirie und die Erfahrung konkreter Orte, an denen Menschen mit anderen Menschen Gottes- und Welterfahrung machen. Genau darüber aber spricht die Präambel der Konzilskonstitution „Gaudium et Spes“ über die Kirche in der Welt von heute. Zitat:

„Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände. Ist doch ihre eigene Gemeinschaft aus Menschen gebildet, die, in Christus geeint, vom Heiligen Geist auf ihrer Pilgerschaft zum Reich des Vaters geleitet werden und eine Heilsbotschaft empfangen haben, die allen auszurichten ist. Darum erfährt diese Gemeinschaft sich mit der Menschheit und ihrer Geschichte wirklich engstens verbunden.“

Das „Schiff der Kirche“ im Büro

Joseph Ratzinger hat sich auf diese Orte nicht eingelassen. Er hat, soweit ich weiß, die Realität dieser Gemeinden, dieser Kirche an den Rändern etablierter Gesellschaften und unter der Knute des (Neo-)Kolonialismus und eines gnadenlosen, verbrecherischen Kapitalismus nie persönlich kennengelernt. Der Ort seiner Entscheidungen war der Palast der Glaubenskongregation. Dort empfing er wohlwollend und aufgeschlossen Menschen und Berichte. Aber es ist eben ein Unterschied, ob man sich auf dem Deck des Schiffs der Kirche Jesu Christi unmittelbar der Gischt und den Stürmen des Ozeans aussetzt oder ob man in der geschützten Atmosphäre von Büro und Bibliothek verarbeitet, was man von Seegang und Unwetter draußen zu lesen und zu hören bekommt.

Ich erinnere mich genau an die Resignation, die aus den Worten lateinamerikanischer Bischöfe sprach, die vergeblich versucht hatten, den Kardinal Ratzinger zu einem Besuch dort zu bewegen, wo die Erfahrungen für eine Theologie der Befreiung gemacht werden. Ich erinnere mich auch an das Entsetzen, das seine Instruktionen zur Theologie der Befreiung hervorgerufen haben – freilich nicht bei den Bischöfen, die mit den Macht- und Wirtschaftseliten Lateinamerikas paktierten.

Persönliche Begegnungen

Persönlich begegnet bin ich Joseph Ratzinger nur zwei Mal: einmal mit einer kleinen Gruppe von Journalisten im römischen Campo Santo Teutonico und später beim Internationalen Treffen zum Jahr der Jugend 1985 in Rom. Seine Predigt in einem der großen Jugendgottesdienste hat mich damals tief beeindruckt: Er konnte in einfachen, aber brillant präzisen Worten zu den jungen Menschen sprechen und ihnen Jesus Christus nahebringen, ohne sich selbst in den Vordergrund zu spielen.

In meiner Erinnerung bleibt ein freundlicher älterer Herr mit etwas distanziertem Charme und geschliffenen Gedanken, der den „Zeitgeist“ vielleicht etwas zu sehr als Gegner und zu wenig als Chance begriffen hat, der Relationalität und Relativismus zu unscharf trennte und der mit seinem Rücktritt 2013 einen Akt der Demut und der Weisheit setzte. Er möge von den Stürmen der Welt, die ihn so sehr gebeutelt haben, hinweg ins Paradies geführt werden, wo in der Anschauung Gottes alle Grenzen überwunden sind, die gerade ihm, dem Denker, auf Erden schmerzlich bewusst gewesen sein dürften. Sein Anteil sei die Fülle des Lebens, die er nicht müde wurde, in seinem irdischen Wirken als beglückende Perspektive unserer fehlbaren menschlichen Existenz zu verkünden.




Satire in antikem Faltenwurf: Offenbachs „Schöne Helena“ mischt in Hagen Schmackhaftes und schlecht Verdauliches

Der Chor des Theaters Hagen spielt eifrig mit: Anton Kuzenok (Paris) schafft es am Ende doch, sich die „schönste Frau der Welt“ zu ergattern. (Foto: Björn Hickmann)

In Hagen ist es wieder bühnenfrisch zu besichtigen, das Dilemma der Offenbach-Rezeption. Gegeben wird „La belle Hélène“, von Simon Werle auf Deutsch übersetzt und von dem aus Wien stammenden Regisseur Johannes Pölzgutter mit ein paar neuen Texten bereichert.

„Die schöne Helena“ also entführt in ein kräftig parodistisches antikes Griechenland, in dem die Helden der Atridensage degenerieren zu Gesellschaftstypen des Jahres 1864. Die Hürde zum Heute ist eine doppelte: Paris, Menelaos, Achill, Ajax, Orest und Kalchas, das sind Namen, die einem wohlerzogenen Europäer von damals selbstverständliches kulturelles Grundwissen waren. Heute sind sie eine Sache von aussterbenden Bildungsbürgern und einer Minderheit von Absolventen humanistischer Gymnasien. Wer aber den Mythos nicht kennt, tut sich mit der Parodie schwer.

Die andere Stolperschwelle: Offenbach benutzte die wohlbekannten Figuren aus der Antike als Camouflage, um Polit- und Gesellschaftsgrößen seiner Zeit im unangreifbaren, aber pikant transparenten Gewand der Mythologie so bissig wie witzig zu karikieren. Aber wer kennt noch Louis-Napoléon Bonaparte mit seinem autoritären Regime und seinem Interesse an Julius Cäsar und der Archäologie? Wer weiß noch von seiner Sucht nach imperialen Erfolgen bei einer gleichzeitig schwachen Armee? Wer kennt sie noch, die Hofschranzen von damals, denen Offenbach offenbar genüsslich den Spiegel vorgehalten hatte?

Sandra Maria Germann (Eris), Angela Davis (Helena) und die schönste der Göttinnen, die „schaumgeborene“ Venus, wie sie Sandro Botticelli in seinem weltberühmten Gemälde sah. (Foto: Björn Hickmann)

Pölzgutter muss sich den Fragen stellen: Wie wirkt das Sujet unterhaltsam, wie ist Offenbachs persiflierender Witz, sein Tiefsinn zu erfassen? Wie seine bisweilen gallige Schärfe in die Jetztzeit zu übertragen, die alle „Werte“ der Gesellschaft seinerzeit verätzt hat und die mondän aufgehübschte Oberfläche der Verlogenheit, der Ideologie, der Selbsttäuschung freilegt? Sein Rezept, entwickelt mit Theresa Steiner (Bühne) und Susana Mendoza (Kostüme) vereint Schmackhaftes mit schlecht Verdaulichem. Zu letzterem gehört ein Teil der Kostüme: Sie sind zwar nett anzusehen, parodieren aber letztlich die Parodie und führen dazu, die Figuren in baren Unernst mit einem sauren Schuss Kitsch abdriften zu lassen, statt sie in behutsam übertriebenem Ernst in ihrem parodistischen Kern freizulegen. Bunte Antike und Herrentäschchen sind eben höchstens lachhaft.

Schauplatz mit Atmosphäre

Die Bühne dagegen hat in ihrer dekorativen Wirkung Potenzial: Das Meer, in Gold gerahmt, davor (und manchmal auch kopfüber eingetaucht) Sandro Botticellis schaumgeborene Venus. Im dritten Akt, wenn’s zur angeblichen Sommerfrische nach Nauplia geht, staffeln sich die gemalten Wellen. Ein Schauplatz mit Atmosphäre.

Zunächst agiert aber eine weitere Zutat der Regie: Pölzgutter führt – durchaus mythenkundig – die Figur der Göttin des Streits und der Zwietracht ein. Eris rächt sich mit dem goldenen Apfel für „die Schönste“ für eine nicht ausgesprochene Einladung – und Paris, der attraktive sterbliche Jüngling, muss unter den drei führenden Göttinnen wählen, eine Aufgabe, aus der er nur als Verlierer hervorgehen kann. In der Antike als verschrumpelte kleine Frau dargestellt, wird Eris auf der Hagener Bühne elegant, scharfzüngig und maliziös von der Schauspielerin Sandra Maria Germann verkörpert und knüpft und spinnt als befrackte Ariadne den Faden der Handlung.

Scheiternde Humorversuche

Was nicht funktioniert – und das hat sich bereits in zahllosen Regiebemühungen andernorts manifestiert – ist der schwerfällig kalauernde Humorversuch, „lustige“ Personen zu kreieren, indem man sie überzogen chargieren lässt. Sicher ist Menelaos ein grenzintelligenter Schwächling, aber wer ihn wie Richard van Gemert nur ein bisschen doof und ziemlich trottelig agieren lässt, unterschlägt das Gefährliche und Verblendete des Charakters. Auch das virile Protzgehabe der beiden Ajaxe (Götz Vogelgesang und Insu Hwang) und der blass gezeichnete Hedonist Orest der sympathisch frischen Clara Fréjacques gewännen durch Verzicht auf vordergründiges Humor-Gehabe. Gerade bei Offenbach lacht man über Personen, die sich selbst überaus ernst nehmen und damit den Graben zur Realität so tief aufreißen, dass sie mit all ihren Lebenslügen und Wichtigkeiten darin abstürzen.

Angela Davis (Helena) und der Damenchor des Theaters Hagen. (Foto: Björn Hickmann)

Glückender ist da schon das Porträt, das Angela Davis von der schönen Helena zeichnet. Auch wenn die Stimme mit eher schwerem Opernton die vitale Leichtigkeit der Diseuse uneinholbar macht, setzt Davis ihre Möglichkeiten gekonnt ein, gibt die aufgestylte Dame selbstbewusst, aber auch mit Momenten anrührender Nachdenklichkeit. Anton Kuzenok ist ihr Prinz Paris; er vermag vor allem durch seinen hübschen leichten, dabei klangvollen Tenor zu verzaubern. Kalchas als Parodie eines schmierigen Klerikers, mit den Blitzen Zeus‘ gekrönt, wäre ohne nachthemdähnliche Verkleidung als Charakter glaubwürdiger und bedrückender angekommen – wiewohl sich Igor Storozhenko alle Mühe gibt, aus der Figur etwas zu machen.

Taepyeong Kwak liefert mit dem Philharmonischen Orchester Hagen einen rhythmisch scharf geschnittenen Offenbach ohne Schwere und Fett. Die Couplets kommen auf den Punkt, die kurzgestanzten Ohrwürmer Offenbachs folgen einander in vergnüglicher Prozession.

Vorstellungen am 23.12., 31.12. (15 Uhr und 19.30 Uhr),  07., 15., 18.01., 25.02., 22.04.. Tickets: (02331) 207 3218, www.theaterhagen.de




Im Dunstkreis russischer Propaganda: Teodor Currentzis dirigiert Verdis „Messa da Requiem“ im Konzerthaus Dortmund

Teodor Currentzis nimmt im Konzerthaus Dortmund den Beifall entgegen. Rechts ist der Sänger Matthias Goerne zu sehen. (Foto: Holger Jacoby)

Darüber lässt sich keine übliche Konzertkritik schreiben: In Dortmund tritt ein Dirigent auf, der sich bisher erfolgreich um eine eindeutige Distanzierung von Wladimir Putins Angriffskrieg auf die Ukraine gedrückt hat, sich mit seinem Ensemble aber nach wie vor von Sponsoren mit Putin-Nähe fördern lässt.

Teodor Currentzis bringt ins Konzerthaus  statt der angekündigten konzertanten „Tristan und Isolde“-Aufführung Giuseppe Verdis „Messe da Requiem“ mit. Ein Statement gegen den Krieg? Der Abend in Dortmund sieht nicht so aus: Die bürgerliche Kunstreligionsfeier geht ungebrochen vor sich; im Programmheft ist kein Wörtchen zu lesen, das der Aufführung irgendeine über den Event selbst hinausgehende Bedeutung geben würde. Das Publikum im nicht ganz vollbesetzten Saal begrüßt Chor und Orchester von MusicAeterna mit verhaltenem, aber langem Beifall. Als Currentzis mit viertelstündiger Verspätung aufs Podium springt, gibt es bereits einzelne Bravos. Der Schlussbeifall ist ebenfalls durchmischt mit – künstlerisch verdienten – Anerkennungsrufen. Gilt’s also nur der Kunst?

Auf Gazprom-Tournee

Wenn es so einfach wäre, hätte sich die Kunst tatsächlich aus der gesellschaftlichen Relevanz verabschiedet. Denn im Falle von Currentzis und MusicAeterna geht es nicht um moralische Bewertung privater Meinungen oder um idealistischen, von den Niederungen der Politik elfenbeinern abgeschiedenen Musik-Enthusiasmus, sondern es geht um ein Ensemble und einen Dirigenten, die auf Gazprom-Konzerttour gegangen sind, als die sogenannte Spezialoperation längst im Gange war. Das Verdi-Requiem, das nun in Dortmund zu hören war, gab es kurz zuvor in Sankt Petersburg – und das etwa ohne Förderung von Gazprom oder der sanktionierten VTB-Bank, deren Sponsoring schon vor dem Krieg auf Kritik stieß?

Currentzis hat sich medial wahrnehmbar nicht einmal mit einer allgemein gehaltenen Aussage gegen Krieg und Gewalt von dem distanziert, was da seit Monaten in Europa an Grausamkeiten verübt wird. Er schweigt und entzieht sich den Fragen von Medien – und die machen, wie der Musikjournalist Axel Brüggemann dokumentiert hat, problemlos mit. Wo sonst um jede Straßenumbenennung eine Debatte geführt wird, ist die Haltung eines Nutznießers des Putin-Systems offenbar nicht der hartnäckigen Nachfrage wert. Dabei ist es naiv anzunehmen, man könne in der gegenwärtigen politischen Situation einfach nur Kunst um der Kunst willen genießen: Currentzis wird, ob er will oder nicht, Bestandteil der russischen Propaganda; ein Teil eines kulturellen Krieges, der nicht nur auf den Schlachtfeldern in der Ukraine ausgefochten wird.

Problematische Finanzierung

Die Kölner Philharmonie hat klare Kante gezeigt und ein Konzert mit Currentzis und dem SWR Sinfonieorchester abgesagt. So weit gingen weder der Ex-Dortmunder Benedikt Stampa in Baden-Baden noch Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech. Dem Bayerischen Rundfunk sagte er über die Finanzierung, er halte sie für kritisch, wisse aber, dass das nicht so schnell änderbar sei. Das mag so sein, aber wenn ein Ensemble keinerlei Indizien erkennen lässt, dass es seine Finanzierung von problematischen Sponsoren unabhängig gestalten könnte, ist das auch ein Statement. Und ob ein Klangkörper mit einem Sony Classical Exklusivvertrag und Hochglanz-Auftritten in ganz Europa – einem umstrittenen Event bei den Salzburger Festspielen dieses Jahres eingeschlossen – beim Abschied von problematischen Sponsoren gleich an den Rand seiner Existenz geraten würde, ist fraglich: Vielleicht hätte sich nach einer Distanzierung ein neuer Sponsor gefunden, der solchen Mut gewürdigt hätte?

Immerhin schließt von Hoensbroech weitere Auftritte von MusicAeterna im Konzerthaus Dortmund vorerst aus. Einige Musiker, die sich in sozialen Medien für den Krieg positioniert hatten, wurden suspendiert – ob nur für den Auftritt in Dortmund oder auf Dauer, ist unklar. Dazu zählt auch der Geiger, der in einem Video-Post angekündigt hatte, er zerstöre Deutschlands Wirtschaft, und dazu ein Heizkörperventil aufgedreht hat. Den Witz muss man nicht verstehen. Aber er könnte wohl auch als Indiz für die Haltung in Teilen der Orchesters verstanden werden und damit mehr als nur eine individuelle Entgleisung darstellen.

Die Kunst muss sich nicht verstecken

Um die Kunst soll es nun aber auch gehen – und in dieser Hinsicht braucht sich MusicAeterna nicht zu verstecken. Schon im „Te decet hymnus“ gibt der Chor eine erste Probe seiner Präzision, die sich im Verlauf des „Dies irae“ und in der „Sanctus“-Doppelfuge atemberaubend bestätigt. Selten ist diese oft als musikalisches Schlachtengemälde missverstandene Sequenz so durchhörbar und genau gestaltet zu erleben. Currentzis wägt sorgfältig ab, welche Gruppen im Orchester gerade dominieren und welche zurücktreten sollen, erzeugt so einen tief gestaffelten, bei aller Wucht variablen Klang, lässt hören, dass Verdi hier keine bloße Überwältigungsstrategie fährt und die differenziert ausgearbeitete Partitur nicht als Lektürevergnügen, sondern als blutvoll ausmusizierte Vorlage dienen soll.

Dass Currentzis mit seinen Manierismen nicht bricht, ist jedoch auch hörbar. Die Celli zu Beginn sind in ihrer absteigenden Dreiklangfigur kaum wahrnehmbar: Ein solch übertriebenes Pianissimo ist nicht im Sinne Verdis, der von den Instrumenten einen leisen, aber sonoren Klang verlangt. Der Chor singt das erste „Requiem“ nicht, sondern murmelt es vor sich hin, so wie er in „Quantus tremor“ das Zittern vor dem Weltenrichter flüsternd skandiert. Die Piano-Abstufungen gestaltet er jedoch meisterlich, auch wenn ihm dann die süße Wendung zum „lux perpetua“ nicht so recht gelingen will. Das „Te decet“ setzt nicht nur einen entschiedenen Kontrast, sondern platzt heraus: Da wäre weniger mehr gewesen. Zum „Dies irae“ bringt sich Currentzis in Stellung, aber er verzichtet tatsächlich auf Effekthascherei, schafft es stattdessen, den Sinn des Textes ausdeuten zu lassen, schafft es auch, „teste David cum Sibylla“ entspannt zurückzunehmen, damit sich die Kräfte der Dynamik wieder ballen und erneut losbrechen können.

Teodor Currentzis mit seinen Solisten. (Foto: Holger Jacoby)

Die Auswahl der Solisten hängt wohl mit dem ursprünglich geplanten „Tristan“ zusammen: Weder Andreas Schager – einer der führenden Tristan-Sänger heutiger Tage –, noch der Liedsänger Matthias Goerne passen in Verdis vokales Profil. Und sie harmonieren nicht mit dem Sopran Zarina Abaeva und dem Mezzo Eve-Maud Hubeaux, was vor allem im nur leise harmonisch gestützten Quartett („fac eas de morte transire ad vitam“) durch zerrissenen Klang Schmerz bereitet. Andreas Schager müht sich bewundernswert darum, seine Soli textsinnig und klangschön zu gestalten, aber schon das „Kyrie“ ist nicht leuchtend, sondern nur laut. Ein schönes Legato fällt ihm schwer. Im „Ingemisco“ sucht er den bittenden Ton, aber die Stimme ist nicht geschmeidig genug, auch nicht, um das „Inter oves“ in seinem fast kindlichen Flehen in einen schwerelosen Klang zu kleiden. Zarina Abaeva erweist sich dagegen als stilgewandte Verdi-Sängerin, die sich nicht zu vibratosatter Tongewalt hinreißen lässt und die Höhe auch im Piano sicher ans Zentrum anzubinden weiß. Ihr „Libera me“ erfleht sie sich von der Chorempore herab; vielleicht bleibt seine innere Bewegung deshalb etwas blass.

Eve-Maud Hubeaux und Andreas Schager. Foto: Holger Jacoby)

Nichts bleibt ungesühnt

Bei Matthias Goerne spürt man die Qualität des Liedgestalters: Kaum einer singt das dreimalige „mors“ jedes Mal anders aufgeladen – erschüttert, bitter, resigniert; kaum einer gestaltet die rhythmische Feinheit des „Hostias“-Beginns so klug wie Goerne. Aber schon im Kyrie befremdet der gewohnte, weit hinten gebildete, kehlige Klang der Stimme, der sich zu gurgelnder Intensität steigert und einen sinistren Gegensatz zum schlank-samtigen Timbre von Eve-Maud Hubeaux aufbaut. Die Schweizer Mezzosopranistin – die Amneris der Salzburger Festspiele 2022 und Eboli der Wiener Staatsoper 2020 – ist kein breiter italienischer „Contralto“, sondern eine präsent artikulierende Sängerin mit einer definierten Emission, die nur im Wechsel in die Bruststimme („latet apparebit“) ihren ästhetischen Ton nicht mitnehmen kann.

Hubeaux singt in der mittelalterlichen „Dies irae“-Sequenz den einen Satz, der sich in der gebannten Stille nach dem Verklingen des letzten „Libera me“ (und eines prompt einsetzenden Handy-Gebimmels) aufdrängt: „Nil inultum remanebit“. Nichts bleibt – glaubt man denn an einen Gott und ein Weltgericht – ungesühnt. Dieser Satz sollte den Mächtigen in den Ohren gellen, die heute ihre Gewaltorgien in der Ukraine und in vielen Teilen der Welt toben lassen. Der gerechte Gott ist die Hoffnung der Opfer. Das wäre das Statement dieses Requiems.




Begegnung musikalischer Kulturen: Das Essener Festival „NOW!“ öffnet neue Horizonte

Alexej Gerassimez, in Essen-Werden geboren, war Solist in Tan Duns „The Tears of Nature“ in der Philharmonie Essen. (Foto: Alexej Lund)

15 Ur- und deutsche Erstaufführungen, ein weiter Blick auf außereuropäische Musik von Indien über Afrika bis Indonesien, ein Schwerpunkt auf Korea und spannende Experimente, die europäische klassische Instrumente mit solchen aus anderen Kulturen kombinieren: Die 12. Ausgabe des Essener Festivals „NOW!“ kann eine respektheischende Bilanz vorlegen.

Die „Neuen Horizonte“, die das Motto versprach, wurden tatsächlich erreicht. Eigentlich wäre jede einzelne der so sorgsam kuratierten 17 Veranstaltungen wert, ausführlich betrachtet zu werden. Das Herauspicken von „Highlights“ ist nicht gerecht, denn wenn das eine Konzert mit Opulenz und Aufwand aufwartet, punktet das andere mit konzentrierter Intimität oder außergewöhnlichem Programm. Und so spektakulär etwa „The Tears of Nature“ auftrumpfen konnte mit den üppig besetzten Duisburger Philharmonikern, allein fünf Schlagzeugern im Orchester – plus Alexej Gerassimez als Solisten – und Komponistennamen wie Tan Dun oder dem persönlich anwesenden Toshio Hosokawa: Die jungen koreanischen Studenten, zwischen 26 und 40 Jahre alt, die sich im Eröffnungskonzert präsentierten, verdienten genauso Aufmerksamkeit.

Younghi Pagh-Paan, Grande Dame unter den koreanischen Komponistinnen. Nach ihr ist ein Wettbewerb benannt, dessen Sieger in Essen vorgestellt wurden. (Foto: Si-Chan Park)

Sie haben den seit 2015 bestehenden Kompositionswettbewerb gewonnen, der nach der Grande Dame der koreanischen Komponisten, Younghi Pagh-Paan benannt ist. Vier der fünf sind Frauen: Yonghee Kim kreuzt in ihrem Stück „Croquis in the Air“ das koreanische zitherähnliche Instrument Geomungo mit europäischen Streichern. Gitbi Kwon lässt ein koreanisches Gayageum mit der aparten Kombination von Gitarre, Flöten, Violine und Cello auftreten. Laewang Jang untersucht in seinem „Isomere“, wie sich europäische und fernöstliche Instrumente unterscheiden, aber auch in ihren Klangfarben annähern und ergänzen. Hongjoo Jung verbindet Ätherisches und Tänzerisches, und Yeoul Choi – die unter anderem in Essen studiert hat – fächert in ihrem Trio „Passenger 1“ den Tonraum in zunehmender Zerstreuung auf.

Vielfältiges Spektrum heutigen Komponierens

Wie vielfältig das Spektrum heutigen Komponierens auch unter dem Einfluss eines internationalen Austauschs geworden ist, war in den Konzerten zwischen 27. Oktober und 6. November sinnfällig erfahrbar. Deutlich wurde auch, wie weit hergeholt manche Theorien einer „kulturellen Aneignung“ bei einem Festival wirken, das auf gegenseitigen Austausch auf Augenhöhe, auf den staunenden Blick auf Fremdes und Eigenes, auf Durchdringen, aber auch Schärfen von Identitäten setzt.

Exemplarisch mag dafür das jahrelang vorbereitete Projekt des Italieners Riccardo Nova stehen, eines Experten für indische Musik, der in Austausch mit zahllosen Musikern in Südindien steht. „Hier entsteht wirklich Neues“ resümiert der Essener Komponist Günter Steinke, von dem eine Uraufführung im Abschlusskonzert erklang. Denn Nova arbeitet in seinem „Mahābhārata“, der Instrumentalsuite aus einem großen Opernprojekt, mit indischen Instrumenten und Musikern, Schlagwerk und Elektronik. Mit Varijashree Venugopal holte er eine führende indische Sängerin in die Essener Philharmonie.

Lukas Ligeti (Foto: Markus Sepperer)

Das nicht einfache Vorhaben, Musik aus einem Kontinent, der „klassische“ Musik im westlichen Sinn nicht kennt, zum Festival „NOW!“ zu bringen, löste Lukas Ligeti, Sohn von György Ligeti, mit den Musikern von „Burkina Electric“ aus Burkina Faso und dem Ensemble BRuCH. Eine faszinierende Begegnung: Rhythmen und Klänge traditioneller westafrikanischer Musik, verbunden mit Dance Grooves aus dem 21. Jahrhundert, treffen auf ein Kammermusik-Ensemble aus Sopran (Maria Heeschen), Flöte, Cello und Klavier.

In den pazifischen Teil der Welt führte „GAME-land“, ein Konzert mit dem indonesischen Gamelan-Ensemble Kyai Fatahillah und dem Perkussionisten Max Riefer. Er hat lange Zeit in Indonesien gelebt und spielte in einer Uraufführung des Komponisten Dieter Mack, einem weltweit renommierten Spezialisten für Gamelan-Musik. Ungewöhnlich an den Werken des Leiters des Gamelan-Ensembles, Iwan Gunawan ist, dass sie in europäischer Weise notiert sind: Kyai Fatahillah ist das einzige indonesische Ensemble, das Noten liest und nach Aufgeschriebenem musiziert. Gunawan und Mack wurden ergänzt von Werken des Niederländers Klaus Kuiper und des in Indonesien geborenen Roderik de Man.

Triumph des Rhythmus bei Tan Dun

Natürlich ermöglichte „NOW!“ wieder die Begegnung mit Werken der „großen Namen“ der Neuen Musik, etwa Georges Aperghis, Luciano Berio, Brian Ferneyhough, Iannis Xenakis, Isang Yun oder Bernd Alois Zimmermann. „The Tears of Nature“, das bekannte Schlagzeugkonzert Tan Duns, erklang im Konzert der Duisburger Philharmoniker unter der souveränen Leitung von Jonathan Stockhammer mit dem in Essen-Werden geborenen Alexej Gerassimez als Solisten. Hier triumphiert tatsächlich der Rhythmus, und die Perkussion ist nicht eine solistische Beigabe, sondern der Herzmotor der gesamten Komposition – ob er sich am Anfang in der robusten Harfe und dem trockenen Knall von aufeinander schlagenden Kieselsteinen äußert oder im weichen Sound des Marimbaphons.

Malika Kishino (Foto: TuP Essen)

Mit einer einsamen rhythmischen Figur zweier Holzklötzchen beginnt auch die Uraufführung des Percussion-Konzerts der in Köln lebenden Malika Kishino, die selbst erzählte, wie sie mit den zeremoniellen Instrumenten in einem buddhistischen Tempel in Kyoto aufgewachsen ist und jetzt japanische Claves, Becken und Metallplättchen für ihr neues Konzert nutzt. Das beginnt Gerassimez mit nuanciertem Spiel u.a. auf verschieden intonierten Holzblöcken, begleitet von einem rhythmisch-geräuschhaften Orchester. Einen signifikanten Wechsel der Klangfarben bringt dann der Übergang auf diverse Metallstäbe und –platten. Die fünf Schlagzeuger im Orchester sorgen für eine veritable Orgie an perkussivem Kolorit – dabei schreibt Kishino aber über weite Strecken kammermusikalisch fein, verzichtet auf fette Tutti und massierte Volumina. Das zyklisch angelegte Konzert endet fast, wie es begonnen hat, aber der Zuhörer, der mit dem musikalischen Material einen Prozess durchlebt hat, hört das hölzerne Ticken dann mit anderen, vielleicht weiseren Ohren.

Dass sich diese Klangwelten öffnen können, ist einer beispielhaften Kooperation vieler Unterstützer mit der Philharmonie Essen zu verdanken: der Folkwang Universität der Künste mit dem unermüdlichen Günter Steinke als Inspirator, der Stiftung Zollverein – mit einem eigenen Konzert mit dem Gitarristen Fred Frith & Friends –, der Kunststiftung NRW, dem Kultur- und Wissenschaftsministerium des Landes und der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach Stiftung, ohne die mancher künstlerische Höhepunkt und die vielen Aktionen für Kinder und Jugendliche nicht möglich wären.

In Zeiten, in denen schon wieder versucht wird, vorzutäuschen, durch Kürzungen in der Kultur könnten finanzielle Probleme gelöst werden, sind solche manifesten Bekenntnisse zum aktuellen und produktiven Musikleben mehr als nur Gold wert.




Cra Cra, Bum Bum, Din Din! Gioachino Rossinis „Italiana in Algeri“, historisch informiert aufgeführt in Berlin

Quicklebendiger Belcanto im nackten Mauerwerk der Kino-Bühne im Berliner Theater im Delphi. Auf dem Bild von links: Miloš Bulajić (Lindoro), David Oštrek (Mustafa Bey), Polly Ott (Elvira), Hannah Ludwig (Isabella), Manuel Walser (Taddeo). (Foto: Anna Tiessen)

Historisch informiert – das kannte man bis vor wenigen Jahrzehnten nur im Bezug auf alte Musik. Pioniere wie Gustav Leonhardt und Nikolaus Harnoncourt erweiterten das Wissen um historische Spielweisen und Aufführungspraktiken enorm. Inzwischen ist auch die Zeit der Romantik bis hin zu Johannes Brahms und Richard Wagner ins Blickfeld gerückt.

Nur bei einem der bedeutendsten Komponisten des 19. Jahrhunderts, Gioachino Rossini, und im romantischen Belcanto von Bellini bis Verdi hat diese Bewegung bisher kaum Resonanz erzielt. Eine Produktion in Berlin will das ändern: Im Theater im Delphi – sonst nicht gerade für Opernaufführungen bekannt – präsentierte ein ambitioniertes Ensemble Rossinis „L’Italiana in Algeri“, unterstützt von der Deutschen Rossini Gesellschaft, die in Berlin auch ein halbtägiges Seminar zur historischen Aufführungspraxis bei Rossini abhielt.

Bei den vom Ensemble Eroica Berlin unter dem mit Rossini wohlvertrauten Dirigenten Jakob Lehmann organisierten drei Vorstellungen ist es die spezielle Praxis des Musizierens, die einen spannenden Abend garantiert. Regisseur und Bühnenausstatter Dennis Krauß lässt in einer auf drei rote Kisten vor nacktem Mauerwerk reduzierten Szenerie spielen; die Kostüme von Pauline Heitmann enthalten sich jeglicher Anspielung an den früher üblichen klischeehaften Orientalismus. Rossinis ebenfalls auf exotische Effekte verzichtende Musik erweist sich als theaterwirksam genug, um die drei Stunden nicht zäh werden zu lassen.

Gespielt wird im Delphi, an der Grenze von Weißensee zum Prenzlauer Berg, einem 1929 erbauten Stummfilm-Kino, das 1959 geschlossen und u.a. als Lager genutzt wurde, bis es 2012 von dem Künstler-Duo Brina Stinehelfer und Nikolaus Schneider aus dem Dornröschenschlaf geweckt und zu einem neuen Kunst- und Kulturort entwickelt wurde. Im unrestaurierten Jugendstil-Tonnengewölbe des Kinosaals mit einer Bar auf der Rückseite sitzt das Publikum unter verblassten Farben und Wasserflecken an der Decke an alten Tischen und kann wie in einem Varieté der Vorstellung folgen.

Frische, detailreiche Musik

Die Musik spielt im Raum vor der Bühne und klingt präsent und transparent – ungetrübter Genuss der fein ziselierten Details von Rossinis Partitur ist garantiert. Deutlich hört man die Verzierungen und liebevoll ausgearbeiteten Phrasierungs- und Dynamik-Finessen, denen sich die jungen Musikerinnen und Musiker des Orchesters widmen. Das sorgt in der Tat für ein frisches, detailreiches, im Vergleich zu üblichen Darbietungen kühleres, brillantes, aber auch luftiges Klangbild.

Mit wenig Vibrato gespielte Darmsaiten, jeweils ein an den beiden Flanken und im Zentrum des Orchesters platzierter Kontrabass, etwas schwerer ansprechende, aber warmtönige Hörner und eine aus Hammerklavier, Cello und Kontrabass bestehende Continuogruppe versuchen, den Klang der Rossini-Zeit in unsere Gegenwart zu holen. Die beiden Schlagzeuger nutzen herrlich blechernes Metallzeug „alla turca“, darunter einen selbst gebauten Schellenbaum, und sorgen damit für zugespitzte Akzente – wie überhaupt die Tutti scharf und kurz gefasst sind und damit einen „lärmigen“ Eindruck von Rossinis Musik nicht aufkommen lassen.

Die Streicher sitzen einander gegenüber, wie es auf alten Stichen zu sehen ist,und haben so – zumindest in den ersten Violinen – unmittelbaren Kontakt zu Bühne. In der Ouvertüre macht die Oboistin Katharina Haritonov aus ihrem ersten Solo ein verziertes Bonmot, das gleich deutlich macht: Hier wird so musiziert, wie wir es aus Quellen des frühen 19. Jahrhunderts erfahren. Auch die Agogik und die genüsslichen Ritardandi, die Portamenti und die kurzen, trockenen Staccati zeigen, dass sich die Musiker eingehend mit früheren Praktiken beschäftigt haben. Das geht bis zum „battuto“, wenn die Geiger mit ihren Bögen auf die Saiten schlagen und einen geräuschhaften Effekt erzeugen.

Die Frage nach dem Belcanto

Ob das alles so war und so sein muss, sei dahingestellt – aber eine Diskussion darüber ist allemal spannend und fruchtbar. Und Rossinis Musik bekommt dieser Zugang so gut – man höre nur, wie vielgestaltig und harmonisch interessant auf einmal die einleitenden Pizzicati des Preludio wirken –, dass man sich fragt, warum so etwas nicht wenigstens bei spezialisierten Festivals wie Rossini in Wildbad oder in Pesaro zur Diskussion gestellt wird.

Ärger im Hause Mustafa (von links): Laura Murphy (Zulma), Polly Ott (Elvira), David Oštrek (Mustafa Bey). (Foto: Anna Tiessen)

Zur Debatte sollte auch der spezifische Belcanto stehen, denn in der Technik des Singens stehen Fragen an, die über bloßen Geschmack hinausgehen. Lockerheit und Modulationsfähigkeit der Stimme, ein entspannter Ton über alle Register, klare Artikulation, ein gut gestütztes, frei gebildetes Piano, ein unangestrengt in den Raum projizierter Klang und die Fähigkeit, die vielfältigen Formen musikalischer Verzierung einwandfrei auszuführen, gehören dazu. In Italien neigt man derzeit dazu, Stimmen auf harte Strahlkraft hin auszubilden, im östlichen Europa besetzt man italienische Oper, gleich ob von 1810 oder 1910, mit einander ähnlich klingenden, auf Kraft, üppigen Ton und nicht selten ausladendes Vibrato hin geformten Stimmen. Adäquater Rossini-Gesang, der einlöst, was stilistisch gefordert wird, ist also trotz vieler Fortschritte in den letzten Jahrzehnten immer noch rar.

Eine erfreuliche Ausnahme ist in Berlin mit Hannah Ludwig zu erleben. Sie bringt viele der Vorzüge mit, die eine virtuose Rossini-Stimme ausmachen, prunkt als Isabella mit leuchtendem, auch im tiefen Register nicht extrem eingebrustetem und gut verblendetem Ton, verfügt über Beweglichkeit, aber auch den nötigen dramatischen Impetus. Eine Sängerin, die Freude macht. Auch die feine Stimme von Laura Murphy als Zulma lässt viel Potenzial entdecken, während Polly Ott als unglückliche Ehefrau des Mustafa Bey den Ton eher kopfig und mit forcierter Brillanz bildet – was eigentlich nicht nötig wäre.

Verzierungen und dünne Stimmfäden

Miloš Bulajić zeigt in „Languir per una bella“ respektable Verzierungskünste, aber die Stimme ist angespannt und bisweilen druckvoll gebildet, der Einsatz der voix mixte tendiert zum Falsett – insgesamt aber verdient sich der Tenor, der viel an der Lindenoper gesungen hat, Hochachtung für seinen Einsatz in dieser anspruchsvollen Rolle. Bassbariton David Oštrek verfügt über eine ansprechend gebildete, zu Tönen mit genauer Kontur, doch nicht zu lockerer Fülle neigende Stimme. Seine Artikulation ist untadelig, das ornamentale Gestalten bringt ihn ebenfalls nicht aus dem Konzept. Ein viriler Patriarch, machtbewusst, von Empathie kaum angefochten, empfänglich für die „Pappataci“-Finte, doch zu eitel, einzugestehen, dass er nicht weiß, worum es geht – Oštrek macht aus seiner Rolle einen lebensvollen Charakter.

Das versucht auch Manuel Walser als Taddeo, den er weniger als Trottel, eher als Opportunist anlegt und damit auf dem richtigen Weg ist. Adam Kutny als Hajek ist ein Beispiel einer mächtig-klangvollen, aber ungeschliffenen Stimme. Während der Neue Männerchor Berlin eher dünne Stimmfäden spannt, vereinen sich die Solisten in den genialen Ensembles in crescendierendem Entsetzen, das ihnen Hirn und Verstand zu rauben droht, und unter den feurigen Steigerungen des Orchesters und dem Krachen des Schlagzeugs bleiben nur noch cra cra, bum bum und din din. Da zeigt sich Rossini als Meister eines Humors, der in seiner überdrehten Absurdität wie kaum ein zweiter einfängt, wie brüchig unsere armselige menschliche Erkenntnis daherkommt und wir vielleicht gut daran tun, wie der gütig von den Stahlstichen lächelnde Maestro das Dasein mit heiterer Ironie und wissender Menschlichkeit zu nehmen.




Totale Maskerade: Giuseppe Verdis „Un ballo in maschera“ am Aalto-Theater Essen wieder aufgenommen

Szene mit Chor und Solisten des Aalto-Theaters aus Giuseppe Verdis „Un ballo in maschera“. (Foto: Saad Hamza)

Gustav III. von Schweden, das historische Vorbild von Giuseppe Verdis Riccardo im „Maskenball“, war ein Opern- und Theaternarr. Dietrich Hilsdorf hat in seiner Inszenierung für das Essener Aalto-Theater daraus eine virtuose Konstruktion abgeleitet. Alles, bis aufs bittere Ende, ist Maskerade.

Jetzt erlebte die aus dem Jahr 1999 stammende Arbeit Hilsdorfs eine szenisch sorgfältig einstudierte Wiederaufnahme. Kompliment an Marijke Malitius: Die Intentionen des Regisseurs sind wiedererkennbar, der Abend hat szenische Spannung und wirkt unverbraucht packend wie eh und je.

Zum lebendigen Eindruck trägt das Dirigat von Elias Grandy, gastierender GMD aus Heidelberg, nicht unwesentlich bei. Er lässt das Orchester atmen und achtet auf die Sänger, lässt die Bögen blühen und Details leuchten. Und er sorgt dafür, dass die großen leidenschaftlichen Ausbrüche der Musik nicht vorher schon durch eine überdrehte Dynamik entwertet sind. Auch der Chor, einstudiert vom neuen Chordirektor Klaas-Jan de Groot, erweist sich nicht erst im finalen Maskenball als spielfreudig, sondern auch als sattelfest, ungeachtet einiger verwaschener Momente, wohl auch durch die fordernde Bewegungsregie verursacht.

Heute die anspruchsvollen Verdi-Gesangspartien zu besetzen, ist eine Herausforderung für sich. Das ist auch am Aalto zu spüren. Mit Valentina Boi hat man eine Sopranistin verpflichtet, die in Italien eine beachtliche Karriere macht und die Rolle der Amelia bereits am Teatro Regio in Parma gesungen hat. Doch dass Erfolge im Heimatland des Belcanto heute kein Maßstab mehr sind, wird in Essen nur allzu deutlich. Boi hat erhebliche Schwierigkeiten, den Ton über den Übergang in die Höhe bruchlos zu führen. Er verliert seinen Kern, wird angespannt und schrill. Wo sie sich auf die Mittellage verlassen kann, wie in ihrer Arie „Morrò, ma prima in grazia“ versteht sie, eindrucksvoll zu gestalten. Aber wenn es, wie in der Szene auf dem Galgenberg, auf weit gespannte, in sich gesteigerte Legati ankommt, fehlt der gleichmäßig geflutete Klang und das sichere Fundament des Atems.

Schwere Partie – selbst für Pavarotti

Für die Partie des Riccardo bringt Carlos Cardoso hörbar passende Anlagen mit. Die Rolle, in der selbst ein Luciano Pavarotti bisweilen seine Probleme hatte, verlangt die legere Leichtigkeit eines Filous, aber auch die Emotionalität eines Menschen, der vielleicht zum ersten Mal über das flüchtige Begehren hinaus von einem tiefen Gefühl von Liebe ergriffen wird. Cardoso hatte sich ansagen lassen und war spürbar beeinträchtigt, kann aber dennoch den spöttischen Ton in der Szene mit der Wahrsagerin Ulrica, die erwartungsvolle Freude in seiner Auftrittscavatina „La rivedrà nell’estasi“ und die leidenschaftliche vokale Geste im Duett mit Amelia treffen. Es dürfte spannend werden, den Tenor, der in anderen Werken nicht immer glückhaft agiert hat, gesundet in dieser Rolle wiederzuhören.

Der lettische Bariton Jānis Apeinis zeigt als Renato eine zu großen Ausbrüchen fähige Stimme. Auch bei ihm hört man den Willen zur Gestaltung; allerdings bringt er eine typisch modern-russische Stimmschulung mit – und das bedeutet kräftige, aber unflexible Tongebung, eine eher grobe Emission, wenig Schattierungsmöglichkeiten und kein geschmeidig gebildetes Mezzoforte und Piano. Die Arie „Eri tu“, seit jeher ein Prüfstein für einen Verdi-Bariton, gelingt in der bitteren Anklage, nicht aber in den „dolcezze perdute“ der wehmütigen Erinnerung, für die Apeinis keine Farbpalette einsetzen kann. So bleibt nur, die Imposanz einer mächtigen Stimme zu bewundern.

Für den von Hilsdorf als androgynes Geschöpf im erotischen Dunstkreis Riccardos gezeichneten Oscar bringt Cathrin Lange das jugendliche Auftreten und die entsprechende Stimme mit. Das kecke Geträller des Pagen singt sie sympathisch leuchtend, auch wenn sie in der einen oder anderen raschen Passage ein wenig tricksen muss. Oleh Lebedyev empfiehlt sich in einem verheißungsvollen Debüt als Silvano; auch die beiden Verschwörer von Andrei Nicoaro und Baurzhan Anderzhanov lassen keine Wünsche offen. Helena Zubanovich hat als Ulrica einen dem Konzept der Inszenierung entsprechend weniger dämonisch-geheimnisvollen als kühl-professionellen Auftritt: Auch sie steckt in einer „Rolle“, versinkt am Ende stumm im Bühnenboden. Alles „in maschera“ eben.

Info und Tickets: https://www.theater-essen.de/oper/spielplan/aaltomusiktheater/un-ballo-in-maschera/7319/




Kunst schlägt Couture: Das Concertgebouworkest Amsterdam beginnt Residence in der Philharmonie Essen

Martin Fröst (Klarinette), Alain Altinoglu (Dirigent) und das Concertgebouworkest in der Philharmonie Essen. (Foto: Sven Lorenz/TuP)

Wir kennen das noch aus so mancher Altherrenkritik: Wenn Damen aufs Podium traten, war die Garderobe mindestens so rezensabel wie die künstlerische Leistung. Das war manchmal eine hinterlistige Methode der indirekten Kritik, oft aber bloß purer Ausdruck von Sexismus.

Der genugtuenden Gerechtigkeit halber sei’s gesagt: Der Anzug des Klarinettisten Martin Fröst mit seinen weiß konturierten Kanten war so stylish, dass er eine Erwähnung wert ist.

Doch auch in diesem Fall muss die Couture hinter die Kunst zurücktreten: So viel spielerische Souveränität auf der Klarinette soll jemand erst einmal nachmachen! Was Fröst wie selbstverständlich aus seinem Instrument in den seltsam lückenhaft besetzten Saal der Essener Philharmonie entlässt, ruft in jedem Moment Staunen hervor, begeistert in den perfekt tragenden Piano-Nuancen ebenso wie in der kristallinen Artikulation und der atemberaubenden Behendigkeit. Das „Dance Mosaic“, das er zusammen mit seinem Bruder Göran zusammengestellt hatte, ist Virtuosenmusik vom Feinsten: Sie befriedigt die unbändige Lust an der Show, geht jedoch auch in die Tiefe – mit Bearbeitungen von Brahms- und Bartók-Originalen, mit Zeitgenössischem von Anders Hillborg und einem Klezmer-Tanz von Göran Fröst. Pure Lust, purer Genuss, und das für Ohr und Geist!

Martin Fröst ist Artist in Residence des Concertgebouworkest und also solcher Gast beim opulenten Sinfoniekonzert, mit dem das traditionsreiche Amsterdamer Orchester seine Residenz in der Philharmonie Essen begonnen hat. Fünf Konzerte folgen noch, davon drei in kammermusikalischen Formationen: Schon am Samstag, 1. Oktober, präsentieren sich die Bläser des Orchester unter dem Namen „RCO Brass“ mit einem bunten Programm von Alexander Borodin bis Jean-Philippe Rameau. Im nächsten Orchesterkonzert am 27. Januar 2023 dirigiert John Eliot Gardiner die Brahms-Sinfonie Nr. 4 und das Zweite Klavierkonzert mit Stephen Hough als Solisten.

Víkingur Ólafsson. (Foto: Sven Lorenz/TuP)

Diesmal war ein anderer Pianist am Zug: Víkingur Ólafsson stellte sich als Porträtkünstler der Philharmonie mit Edvard Griegs a-Moll-Klavierkonzert vor. Auch er wird mehrere Male verschiedene Facetten seiner Meisterschaft vorführen, demnächst schon, am 26. Oktober, mit dem – Griegs Konzert eng verwandten – a-Moll-Konzert von Robert Schumann mit der Tschechischen Philharmonie unter Semyon Bychkov. Dass der Isländer nicht nur am Flügel beredt zu parlieren weiß, bewies er nach dem Konzert im RWE-Pavillon mit einer geistvollen Stunde rund ums Klavier.

Melancholie und Entschiedenheit

Òlafssons Grieg verliert sich nicht in Romantizismus oder Schwärmerei, huldigt auch nicht dem bloß Lyrischen. Schon die Dreiklänge des Beginns setzen eine entschiedene Geste, aber wenn das Klavier das zweite Thema des Orchesters wiederholt, kommt Ólafsson ins Nachsinnen, spielt mit gelösten Akkordbrechungen, als wandle er absichtslos auf herbstlich beleuchteten Pfaden. Seine Melancholie wird nicht bitter; das Orchester antwortet leidenschaftlich, aber nicht laut – Alain Altinoglu hat in jedem Moment, auch im kraftvollen Finale die Zügel in der Hand. Wenn der Pianist schließlich das Thema in der Reprise formuliert, wählt er ein ruhiges Tempo, aber einen klar fokussierten Anschlag. Im zweiten Satz gelingt Ólafsson mit seinem Gespür für den richtigen Puls der Zeit ein glücklicher Moment ruhevoller Gelöstheit; aber auch hier hütet er sich durch seinen markanten Anschlag vor Sentiment. Der dritte Satz reizt zwischen Härte und Delikatesse alle expressiven Möglichkeiten aus.

Verdienter Beifall für Víkingur Ólafsson, Alain Altinoglu und das Amsterdamer Concertgebouworkest. Foto: Sven Lorenz/TuP

Im Orchester zeigen die samtgoldenen Streicher, dass sie auf dem Weg sind, ihre einzigartige Spielkultur wiederzugewinnen. Auch die sorgsam abgestimmte Streicher-Bläser-Balance und die Aufmerksamkeit der Hörner etwa im zweiten Satz sorgen für magische Momente. Dass zu dieser Palette auch eine gehörige Portion Artistik gehört, lässt sich das Concertgebouw nicht zwei Mal signalisieren: Der rasante Einstieg mit John Adams „Short ride in a fast machine“ zeugt davon ebenso wie die saftigen Rhythmen in Leonard Bernsteins beifallssicheren Tänzen aus der „West Side Story“. Ein fulminanter Einstieg in die Saison – so darf es gerne weitergehen.

Info: https://www.theater-essen.de/philharmonie/




20 Jahre Konzerthaus Dortmund (I): Symbol für den Wandel im Ruhrgebiet

Drei Intendanten prägten bisher die Erfolgsgeschichte des Dortmunder Konzerthauses (von links): Benedikt Stampa, Raphael von Hoensbroech und Ulrich Andreas Vogt. (Foto: Björn Woll)

Am 8. September 2002 wurde das Konzerthaus Dortmund förmlich überrannt: 40.000 Menschen wollten am „Tag der offenen Tür“ das neue Gebäude besichtigen. Die stolze Bilanz nach 20 Jahren: Dreieinhalb Millionen Besucher in rund 4.000 Veranstaltungen.

Doch Intendant Raphael von Hoensbroech will darob nicht die Hände in den Schoß legen: Die Aufgabe, neue Publikumsschichten in den Bau im Dortmunder Brückstraßenviertel zu locken, sieht er noch nicht als erfüllt an. Zufrieden zeigt er sich bei der Pressekonferenz anlässlich der Eröffnung der 21. Spielzeit mit dem Ticketverkauf: Schon jetzt sei der Umsatz des Jahres 2019 erreicht – allerdings bei leicht sinkenden Abo-Zahlen. Den von vielen beklagten und gefürchteten Publikumsschwund bemerkt das Dortmunder Konzerthaus bisher nicht.

Intendant Raphael von Hoensbroech. (Foto: Pascal Amos Rest)

Vor 20 Jahren, am 14. September 2002, eröffnete Kent Nagano mit Beethovens Neunter den neuen Bau mitten in dem problematischen Areal in Bahnhofsnähe. Er war das Ergebnis eines „großen gesellschaftlichen Projekts“ – so Gründungsintendant Ulrich Andreas Vogt beim Jubiläums-Pressegespräch –, entstanden aus einer Bürgerbewegung, der es gelang, die Politik zu überzeugen. Das Interesse an dem neuen Bau an der Stelle des 1922 eröffneten Universum-Kinos war überwältigend: „Wir hatten schon 1.600 Abos verkauft, bevor nur ein Stein stand“, erinnert sich Vogt.

Den wesentlichen Auftrag des Konzerthauses formuliert Vogt so: Musik zugänglich machen, Brücken bauen, Musik für Alle bieten. Von Anfang an setzte er auf große Namen: Internationale Künstler sollten den Saal und seine oft gelobte Akustik kennenlernen und seinen Ruf in der Welt verbreiten. Dass diese Rechnung aufgegangen ist, zeigen die zwanzig Jahre stetiger Entwicklung, nach Vogts Weggang fortgeführt von Benedikt Stampa – heute Intendant des Festspielhauses Baden-Baden – und vom amtierenden Konzerthauschef Raphael von Hoensbroech.

Stampa etablierte Formate wie die „Jungen Wilden“ oder den „Exklusivkünstler“, der sich für längere Zeit ans Haus bindet. Die „Zeitinseln“ bieten einen konzentrierten Blick auf eine bestimmte Epoche oder eine Werkschau eines Komponisten wie in dieser Saison von Sofia Gubaidulina. „Von Anfang an wollten wir in der Champions League der europäischen Konzerthäuser spielen“, sagt Vogt. Das ist gelungen: Dortmund gehört seit 2012 zur European Concert Hall Organisation (ECHO), einem Netzwerk von 22 führenden europäischen Konzerthäusern.

Ein Symbol, das in die Stadt hinein wirkt – das geflügelte Nashorn des Konzerthauses. (Foto: Werner Häußner)

Das neue Haus steht aber auch für den Wandel im Ruhrgebiet, betont Dortmunds Kulturdezernent Jörg Stüdemann: Er lobt die Kontinuität und die „hoch ambitionierten Programme“. Das geflügelte Nashorn – das Symbol des Konzerthauses – stehe als „Signum einer neuen Zeit“ für ein Ruhrgebiet, das nicht länger mit Kohle, Stahl und Bier zu identifizieren sei. Die Impulse für die Kultur der Stadt seien unübersehbar: Chorakademie, Festival Klangvokal, Orchesterzentrum seien ohne das Konzerthaus nicht denkbar. „Das Konzerthaus hat der Stadt unheimlich viel gebracht“.

Entsprechend festlich sollte es auch beim ausverkauften Eröffnungskonzert der Spielzeit 2022/23 zugehen: Eines der Top-Orchester der Welt, das Leipziger Gewandhausorchester unter seinem Chef Andris Nelsons, der dem Haus schon lange verbunden ist, bestritt den Abend (Kritik hier). Mit „Höhepunkten reihenweise“ will die Werbung das Publikum zu einem Abo überzeugen – und Hoensbroech hat mit seinem Team ein wirklich anziehendes Programm vorbereitet: So dirigiert der Exklusivkünstler der nächsten drei Jahre, Lahav Shani, das Orchestre de Paris mit Martha Argerich als Solistin (17.12.), Mirga Gražinytė-Tyla kommt zurück mit dem Orchestre Philharmonique de Radio France und Daniil Trifonov als Solisten (28.01.23), Barbara Hannigan dirigiert das London Symphony Orchestra (04.03.23).

Eröffnungskonzert mit dem Gewandhausorchester Leipzig, Andris Nelsons, Mao Fujita (Klavier) und Gábor Richter (Trompete). (Foto: Björn Woll)

Lahav Shani ist noch einmal am 13. Mai 2023 mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra und Gustav Mahlers Zweiter Sinfonie zu Gast; Herbert Blomstedt kommt mit dem Chamber Orchestra of Europe am 25. Mai. Eine der großen Klavier-Poetinnen, Mitsuko Uchida, leitet am 25. Januar 2023 das Mahler Chamber Orchestra und spielt die beiden Klavierkonzerte KV 503 und KV 595 von Wolfgang Amadé Mozart. Und im Rahmen der Sofia Gubaidulina gewidmeten „Zeitinsel“ im Februar 2023 präsentiert das ORF-Radio-Symphonieorchester Wien unter Duncan Ward mit dem Bratscher Antoine Tamestit das Violakonzert und „Der Zorn Gottes“ der 1931 geborenen Komponistin.

Die Namen der Künstler der nächsten Wochen lassen musikalische Erlebnisse auf höchstem Niveau erwarten: die Geigerin Hilary Hahn musiziert mit Lahav Shani und dem Orchester aus Rotterdam, Thomas Hengelbrock und der Counter-Star Jakub Józef Orliński sind in Christoph Willibald Glucks „Orfeo ed Euridice“ zu erleben, Julian Prégardien singt Lieder und Balladen Franz Schuberts, Dirigier-Aufsteigerin Joana Mallwitz bringt mit dem Mahler Chamber Orchestra Schuberts „Unvollendete“, und Sheku Kanneh-Mason streift in der Reihe der „Jungen Wilden“ durch die Gefilde von Klassik, Jazz und Improvisation. Die Reihe lässt sich von der Cellistin Sol Gabetta über die Dirigentin Marie Jacquot bis zu Sir Simon Rattle und dem London Symphony Orchestra beliebig fortschreiben. Sie zeigt: Dortmund spielt auch nach 20 Jahren hochkarätiger Kultur mit nicht nachlassender Energie in der Spitzenliga der Konzerthäuser.

Das Konzerthaus bietet auch ein neues Pop-Abo, Informationen gibt es unter www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/abonnements/pop-abo

Weitere Infos: www.konzerthaus-dortmund.de




20 Jahre Konzerthaus Dortmund (II): Beethovens „Apotheose des Tanzes“ fehlt der scharfe Blick auf den Rhythmus

Wenn schon die spritzige Eingangsfloskel zwischen Klavier und Trompete so nadelspitz akkurat gelingt, kann eigentlich nichts mehr schief gehen in Dmitri Schostakowitschs Konzert für Klavier, Trompete und Streichorchester op.35.

Andris Nelsons dirigiert das Gewandhausorchester Leipzig. (Foto: Björn Woll)

Der junge japanische Pianist Mao Fujita – eingesprungen für die erkrankte Yuja Wang – und der Trompeter Gábor Richter sticheln dieses ironische Zitat aus Beethovens „Appassionata“ so gekonnt in den Raum, dass für die folgenden drei Sätze kein Zweifel an ihrer Klasse aufkommt.

Der 23-Jährige am Flügel beginnt sein Eingangssolo eher lebensfroh beschwingt als im beiläufigen Improvvisando, steigert sich dann fulminant in die typischen atemlosen Repetitionen und schrägen Gassenhauer-Melodien, verliert sich im Lento – Moderato zu den delikat abgestimmten Streichern des Gewandhausorchesters in traumtrunkener Meditation, bevor er sich im Finalsatz in einen befeuerten Wettstreit mit der Trompete begibt, der auch einmal durch einen knallig dissonanten Akkord unwirsch beendet wird.

Mao Fujita beim Eröffnungskonzert der Saison im Komzerthaus Dortmund. (Foto: Björn Woll)

Fujita zeigt sich in all diesen so unterschiedlichen Ausdrucksmomenten voll bei der Sache, allenfalls die verträumte Gelassenheit des zweiten und der satirische Biss des vierten Satzes könnten noch pointierter formuliert sein. Gábor Richter ist in seinen Signalen punktgenau und in den wenigen Momenten, in denen die Trompete sogar einmal „singen“ darf, voll Poesie mit von der Partie. Am Pult geht Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons mit den Solisten mit; das Orchester verströmt eher seinen herrlich samtigen Klang als die herben und grellen Momente Schostakowitschs mit Humor zu zelebrieren. So bleiben die Bratschen zu weich und die rhythmische Finalknallerei eher wuchtig als messerscharf.

In Schostakowitschs Kammersinfonie op. 110a, einer mit Zustimmung des Komponisten von Rudolf Barschai erstellte Bearbeitung des Achten Streichquartetts, ist dieser Klang eher angebracht. Das melancholisch gestimmte Werk nimmt Nelsons in seinen drei Largo-Sätzen verhalten und breit, lässt die Streicher ihre vorzügliche Qualität im Legato ausspielen und den Ton nach einem ätherischen Violinsolo im Pianissimo verwehen. Der Allegro-Ausbruch im zweiten Satz, die explosiven Tutti-Schläge und der sardonische Walzer vertrügen eine spitzere Artikulation, um nicht allzu befriedet zu klingen.

„… in trunkenem Zustand komponiert“

Mit dieser Ästhetik nähert sich Andris Nelsons der Siebten Sinfonie Ludwig van Beethovens und liefert eine problematische Interpretation. Was dieser – nach Wagner – „Apotheose des Tanzes“ fehlt, ist eben jener scharfe Blick auf den Rhythmus, der im ersten Satz als konstitutiv entwickelt wird, und der sich in wechselnder Form durch die vier Teile zieht – als Marsch im zweiten, als impulsiver Drive im Scherzo und als grimmige Ausgelassenheit im Finale, von dem Friedrick Wieck argwöhnte, es könne nur in trunkenem Zustand komponiert sein.

Das Sostenuto des Anfangs wird zwar ausgekostet und die warm strömenden Holzbläser dürfen funkeln und schimmern. Aber das breite Tempo ermöglicht keinen Spannungsaufbau, das Pulsieren des Rhythmus bleibt gebremst. Der Sog der rhythmischen Struktur will sich nicht einstellen – und dann lässt Nelsons die Pauken losdonnern, als sei er bereits im Finale angelangt. So sind späteren dynamischen Gipfeln schon die Spitzen abgeschlagen, ehe sie erklommen werden. Der Mangel an rhythmischem Pep nimmt der Musik ihre Beredsamkeit; Nelsons agiert von Stelle zu Stelle statt Zusammenhänge herzustellen. Auch das Vivace gewinnt keine frühlingshafte Frische, keine spritzige Eleganz.

Dem Orchester ist das nicht anzulasten: Bis auf ein paar Artikulationsflüchtigkeiten im zweiten Satz sind die Violinen entwaffnend schön; die Bläsersoli makellos; das Orchesterpiano von selten gehörter Delikatesse. Die dröhnende Selbstbestätigung im Scherzo müsste nicht sein; das Finale bräuchte Brio und Exzess – aber der hat ja bereits im ersten Satz stattgefunden. Dennoch Jubel. Beethoven geht halt immer.




Mit Brahms in den Kosmos der Liebe: Magdalena Kožená in der Philharmonie Essen

Die Liebe, die von Johannes Brahms besungen wird, ist selten so jauchzend-berauscht wie in „Meine Liebe ist grün“. Oft hängt sie einer still schmerzlichen Sehnsucht nach, beschwört verzweifelt Festigkeit und Ewigkeit, schwimmt ratlos in Tränen. Wer also Brahms‘ Liebeslieder singt, wird sich dieser Ambivalenz stellen müssen – im Wort und im Klang der Stimme.

Magdalena Kožená hat für ihren Liederabend in der Essener Philharmonie vierzehn der gewichtigen Miniaturen zusammengestellt, die ein Spektrum der Liebe auffächern – Widerhall des Schwärmens in der Natur („Nachtigall“), resignierte Trostlosigkeit („Verzagen“), Ahnungsvolles und Geisterhaftes („Meerfahrt“), Sehnsuchtsvolles und auch ein wenig Schnippisches („Vergebliches Ständchen“). Diesen Kosmos durchschreitet sie mit kühlem Ton. Sie spielt kaum mit dem Wort, meidet es, Schlüsselbegriffe tonmalerisch hervorzuheben, trägt lyrische Farben nur sehr verhalten auf.

Aber sie spielt die Vorzüge ihres Mezzo aus, der von Natur aus nicht für Glut und Farbe zu haben ist, wohl aber in der Dynamik sich wandlungsfähig und flexibel erweist. Verhalten schimmerndes Piano führt über leider manchmal matte Zwischenstufen zu einer konzentriert fokussierten, aber nicht immer frei strömenden vollen Stimme.

Kožená trifft in Joseph von Eichendorffs „Anklänge“ den ruhig enthobenen Ton, korrespondiert auch in „Der Schmied“ (Ludwig Uhland) mit dem Klavier im malerischen Rhythmus. Aber ob das „Vergebliche Ständchen“ nur neckisch oder eigentlich grausam ist, vermag sie nicht zu klären. Dazu bleiben die Stimmfarben zu neutral. In „Von ewiger Liebe“ fehlt der selbstbewussten Zuversicht des Mägdeleins die Spur eines Beharrens, das der unterbewusst mitschwingenden Gefährdung die trotziges Behauptung der Liebe entgegensetzt: So dürfte „Unsere Liebe muss ewig bestehn!“ nicht nur schwärmerisch, sondern auch eine Spur verunsichert klingen.

Viel beredter gelingen Magdalena Kožená die „Kinderstuben“-Lieder Modest Mussorgskys, die gleich nach der Uraufführung 1960 verbotenen fünf Satiren op. 109 Dmitri Schostakowitschs und die veredelte Folklore der „Dorfszenen“ Béla Bartóks. Die kindlichen Dialoge mit der „Njanjuschka“ verniedlicht sie nicht, aber gibt ihnen einen charakteristischen Tonfall – ob es das weinerliche, verschmitzt argumentierende Kind oder die zeternde Njanja („V uglu“), das Entsetzen über den großen Käfer oder das vielsagend artikulierte Abendgebet ist. Auch bei Schostakowitsch spürt man den überlegten Umgang mit dem Wort, die Ironie („Kreutzer-Sonate“) und den augenzwinkernden Abstand zwischen Fiktion und Realität, der zu einer komischen Katastrophe führt („Missverständnis“).

Koženás Klavierpartner Yefim Bronfman lässt in nahezu jedem Moment spüren, wie tief er in die Musik eintaucht: Bei Brahms bringt er die Farben zum Leuchten, die man bei der Sängerin vermisst. So erzählen die letzten Töne von „Nachtigall“ von anklingender Wehmut, legt das dunkle Register in „Von ewiger Liebe“ einen Schleier des Zweifels aus, beschwört das Klavier das Visionäre in der „Meerfahrt“.

Mussorgsky beleuchtet Bronfman delikat und idiomatisch vielfältig. Bartóks kunstvolle Begleitungen spielt er, als seien sie selbständige Klavierstücke. Doch da liegt auch ein Problem: In den Brahms-Liedern konzentriert sich Bronfman bisweilen zu selbstverliebt auf seinen Part und vergisst, mit der Sängerin zu atmen. Bei Schostakowitsch trifft er sich mit Kožená kongenial beim Ausleuchten des Hintersinns, und in Béla Bartóks holt er frisch und farbenverliebt die berückenden Melodien aus der Folkloristik in den Himmel großer Kunst. Wenn’s so weitergeht, verspricht die Kammermusik in der anbrechenden Saison der Philharmonie noch viele anregende Abende.

Am 10. September erscheint beim Label Pentatone eine CD mit Liedern von Brahms, Mussorgsky und Bartók mit Magdalena Kožená und Yefim Bronfman. Das Album ist auch über Streamingdienste abrufbar.




Bereichernder Abend: Werke der Komponistin Lili Boulanger bei der Ruhrtriennale in Gladbeck

Die Bochumer Symphoniker mit Florian Helgath (Mitte) am Pult nach dem Konzert in der Maschinenhalle Zweckel. (Foto: Werner Häußner)

Wie war das mit komponierenden Frauen? Die Klagen über die Abwesenheit ihrer Werke klingen schon seit Jahren durch die gendersensiblen Räume, aber die Programme der etablierten Sinfonieorchester öffnen sich viel zu zaghaft, selbst wenn dirigierende Frauen am Pult walten – von den Opernhäusern ganz zu schweigen.

Dass ein beliebtes Argument, es gebe eben nicht ausreichend qualitätvolle Werke, so nicht gilt, demonstrierte ein Konzert der Ruhrtriennale in der weiträumigen Maschinenhalle der schon 1963 stillgelegten Zeche Zweckel in Gladbeck.

In dem seit 1988 denkmalgeschützten Industriebau mit seinen ungewöhnlich sorgfältig ausgeführten Baudetails – erwähnenswert ist zum Beispiel eine elegante eiserne Jugendstiltreppe – gestalteten das Chorwerk Ruhr und die Bochumer Symphoniker drei Konzerte mit einem Programm, das mit geistlicher Musik von Lili Boulanger überraschte. Das Motto „Schwerkraft und Gnade“ stammt aus einer 1948 erschienenen Textsammlung der Philosophin Simone Weil. Sie verwendet die beiden Begriffe als Metaphern: Die Schwere zwinge den Menschen in seinem Tun in eine ständige Abwärtsspirale, gegen die nur die Gnade das Licht der Erkenntnis und Hoffnung setzen könne.

Lili Boulanger auf einem Foto von 1912.

Lili Boulanger ist die jüngere Schwester der als Komponistin wie als Pädagogin bekannt gewordenen, 1979 mit 92 Jahren gestorbenen Nadia Boulanger. Lili war kein langes Wirken vergönnt. 1893 geboren, starb sie bereits mit 24 Jahren 1918 an Tuberkulose. In den elf Jahren, die ihr zum Komponieren vergönnt waren, gewann sie nicht nur als erste Frau 19jährig den Prix de Rome, sondern vollendete auch rund 50 Werke – die letzten diktierte sie ihrer Schwester Nadia, da sie selbst zu schwach zum Schreiben war.

Die beiden großen Vertonungen der Psalmen 129 und 130 entstanden mitten im Ersten Weltkrieg und wurden erst 1921 uraufgeführt. Es sind Klagelieder von tiefem Ernst, aber geprägt von Hoffnung und Zuversicht. Am deutlichsten jedoch formuliert ein altes buddhistisches Gebet – „vieille prière bouddhique“ – die Hoffnung auf Erlösung: „Möge alles, was atmet … den Schmerz überwindend und Glückseligkeit erlangend, sich frei bewegen, ein jeder auf dem Weg, der ihm bestimmt ist“, heißt es in jeder der vier Strophen.

Boulanger öffnet einen universal gedachten Raum in ihrer Musik, wenn sie die Spannung zwischen der Tiefe und der Höhe im Tonraum, im Timbre der Instrumente und in den Chorstimmen weit aufspreizt, den Grundton einer erhabenen Lyrik jedoch erst mit einer gewaltigen Fortissimo-Steigerung am Ende verlässt. Eröffnet wird diese Entwicklung in der dritten Strophe, die Timo Schabel ins blitzende Licht seines Tenors rückt.

Die Maschinenhalle der ehemaligen Zeche Zweckel in Gladbeck. (Foto: Werner Häußner)

Beim Chorwerk Ruhr unter seinem Leiter Florian Helgath begeistern ein weiteres Mal der reine und wandlungsfähige Klang, die sensible Artikulation, die freien, in der Höhe wie im Piano unverfärbten Frauenstimmen. Der Chor hat keine Probleme mit der tonalen, aber herb aufgerauten Harmonik Boulangers; er hält im Forte problemlos den Bläsern der Bochumer Symphoniker stand; er formuliert die dramatische Klage im Psalm 129 ebenso überzeugend wie die komplexen Klangmischungen des Psalms 130 und die ätherischen Vokalisen der hohen Stimmen im prière bouddhique.

Florian Helgath. (Foto: Ruhrtriennale/Christian Palm)

Die Bochumer Symphoniker werden in allen Gruppen erheblich gefordert; Lili Boulanger legt das harmonisch avantgardistische Geschehen ins Orchester und fordert, ob in dunklen Pianissimo-Clustern oder in wuchtigem Blech, in gläsern reibenden Streicherharmonien oder in fahlen Farben der Holzbläser, spieltechnisch Außerordentliches. Dies gilt auch für Francis Poulencs „Stabat Mater“, das wie zwei schlichte a-cappella-Kompositionen Igor Strawinskys – „Ave Maria“ und „Pater Noster“ – zwischen den Stücken Boulangers deren Modernität bestätigt. Die Bochumer und das Chorwerk Ruhr lassen die typischen, samtenen Disharmonien hören, die an Poulencs „Dialogues des Carmélites“ erinnern, setzen kräftige Akzente und gestalten die Betrachtung der schmerzhaften Mutter Gottes mit angemessener Dramatik. Ein durch und durch bereichernder Abend.




Unheimlich geheimnislos: Klaus Mäkelä und das Concertgebouworkest mit einem brillanten Mahler in Köln

Klaus Mäkelä. (Foto: Marco Borggreve)

Der Satz, so abgedroschen er klingt, stimmt: So hat man Mahler noch nicht gehört. Der 26jährige Klaus Mäkelä liefert bei seinem Debüt in der Kölner Philharmonie mit dem Concertgebouworkest eine Sechste, deren Scharfschnitt und Präzision geradezu unheimlich sind.

Ein unerbittlich flotter Marschrhythmus zu Beginn, räumlich aufgespannte Bläser – etwa wenn die Hörner den Trompeten antworten –, ruhevolle Choralinseln der Holzbläser, ein „Alma“-Thema, in dem die Streicher klingen, als habe Antonín Dvořák ein paar Takte seiner warmen Melodik ausgeliehen.

Mäkelä ist ab 2027 Chefdirigent des traditionsreichen, in den letzten Jahren im Zuge zweifelhafter Vorwürfe gegen seinen früheren Chef Daniele Gatti ins Zwielicht und durch lange Führungslosigkeit künstlerisch ins Trudeln geratenen Orchesters. Davon war in Köln nichts zu hören: Die Akkuratesse der Einsätze, die Balance der Orchestergruppen, die Konzentration des Klangs waren ohne Makel. Wer die auch bei großen Orchestern auftretenden Verunklarungen in den Mahler’schen Katastrophen erwartete, wurde auf faszinierende Weise enttäuscht. Ein gutes Omen für die bevorstehende Residenz des Orchesters in der beginnenden Spielzeit 2022/23 in der Essener Philharmonie.

Doch genau an diesen diamantgleich in kalter Präzision aufblitzenden Momenten macht sich das Unheimliche fest, nicht etwa im raunenden Dunkel verschwommener Klangmagie, sondern im erbarmungslosen Licht eines Dirigats, das alles, aber auch alles offenlegt. Mäkelä offeriert einen Mahler, den man durch und durch jugendlich nennen möchte – ein dirigierender Siegfried, der erst noch das Fürchten lernen muss. Ein von Zweifeln, Erinnerungen, Traditionen, Belastungen, vielleicht auch Momenten des Rauschs ungetrübter Blick richtet sich unbekümmert auf Mahler, flankiert von der Präzision des Gedankens, der reaktionsschnellen Schärfe eines jungen Geistes.

Der Dämon der technischen Überwältigung

Aber in der Kulmination dieser technischen Überwältigung gleißt der Mittagsdämon im unfehlbaren Licht auf die nackte Partitur. Unheimlich ist also nicht die düster-unerbittliche Grundierung der ins Extrem getriebenen Diesseits-Katastrophe der Sechsten, unheimlich ist die Abwesenheit der Mahler’schen Selbsterkundung, die in der Sechsten so auf die Spitze getrieben ist, dass Alexander von Zemlinsky sie Mahlers „Eigentliche“ genannt haben soll. Unheimlich ist der Zusammenbruch der verzweifelten Hochspannung zwischen „klassischen“ Formteilen und den geradezu traumatisch hartnäckigen Kräften ihres Aufsprengens.

Klaus Mäkelä, der schon große Orchester von Berlin über Chicago bis London dirigiert, macht nicht den Eindruck, sich in diesem alerten Umtrieb auf die wirklichen Abgründe Mahlers eingelassen zu haben. Das ist keine Frage von Lebensjahren: Jugend kann Ahnung spüren von tiefer Lebenstragik, so wie sich Alter in harmlosem Lebensfrohsinn vertändeln kann. Aber es ist bemerkenswert, wie ein zweifellos hochbegabter junger Dirigent einem Orchester mit der Mahler-Tradition des Concertgebouw eine Lesart abringt, die sich in geheimnisloser Brillanz erschöpft.

Die Folge ist ein sinfonisches Hochglanzprodukt, das die existenziell aufwühlenden Tiefen der Musik überspielt. Die sind in technisch-musikalischen Kategorien so schwer zu beschreiben, wie sie in einer Aufführung heraufzubeschwören sind – aber sie kennzeichnen einen gelingenden, berührenden Mahler-Abend. Einige Indizien: Die (zu leise) von draußen klingenden Kuhglocken kommen über die Wirkung als instrumentaler Effekt nicht hinaus, weil sich drinnen die Anmutung von Idylle nicht einstellt und die Farben des Orchesters zu freundlich und ungetrübt bleiben. Wenn sich dann die Kräfte ballen, wirken sie nicht bedrohlich, weil Mäkelä nichts über die Noten hinaus aus der Musik liest. Das Andante an zweiter Stelle wirkt sehr sanft, sehr transparent. Die Ländler wirken so unmittelbar, als habe Mahler tatsächlich naive Tänzlein gemeint und nicht die wehmutsvollen Erinnerungsfetzen an ein imaginiertes bäuerliches Arkadien.

Gepflegte Katastrophen

Die katastrophischen Zuspitzungen des Scherzos wirken überaus gepflegt – da klingt kein Höllengelächter und kein brutales Stampfen, nur zwingend dosierte Lautstärke. Die fahlen Holzbläser tragen keinen grinsenden Grimm auf der polierten Oberfläche ihres Klangs. Der vierte Satz beginnt für einige Momente so klangverliebt, als stamme er von Franz Schreker; danach leiden die – vorzüglichen – Violinen keine Schmerzen, bleibt die Spannung zwischen Tuba und Harfe Effekt statt herzzerreißende Kluft. Sicher, es gibt wundervolle kammermusikalische Momente als Kontrast zur Fortissimo-Entfesselung, aber sie sind kein zaghafter Trost in einem Meer von Brutalität. Alles, so hat man den Eindruck, ist bereits gesagt, als der Hammer niedersaust. So unheimlich brillant, glatt und aussagelos geht Mahler auch – das ist die Erkenntnis dieses Abends, der bei erschreckend vielen freien Plätzen im Rund der Kölner Philharmonie sein Publikum gleichwohl beeindruckt: Die Stille nach dem letzten Donnerschlag wollte sich lange nicht lösen; die ersten zögernden Klatscher wurden wie eine Störung empfunden.

Eigentlich nicht gerecht ist es, wenn das Eröffnungsstück des Abends in den Schatten Mahlers verbannt wird: Das 2002 entstandene Orchesterstück „Orion“ von Kaija Saariaho wäre eingehender Betrachtung wert. Zumal in Köln im Herbst 2021 die Oper „L’amour de loin“ in einer erhellenden Inszenierung von Johannes Erath und im klangsensiblen Dirigat von Constantin Trinks auf die Qualitäten der Musik der finnischen Komponistin aufmerksam gemacht hat. „Orion“ lebt im ersten Satz von rhythmisch unterfütterten flirrenden Klanggebilden, im zweiten von einer sich ständig, aber unmerklich wandelnden Gewebestruktur aus Mikro-Kombinationen der Instrumente, im dritten aus einem markanten, vom Xylophon in den Klangraum gesetzten Motiv, das sich mit rhythmischer Energie durchsetzt. Zwanzig Minuten subtile, sphärische Sinnlichkeit.

Das Concertgebouworkest beginnt seine Zeit als „Artist in Residence“ der Essener Philharmonie am Samstag, 10. September, mit einem Sinfoniekonzert: Alain Altinoglu dirigiert, der Porträtkünstler der Philharmonie, Víkingur Ólafsson, spielt das Klavierkonzert von Edvard Grieg. Weiter im Programm: Tänze von Johannes Brahms, Béla Bartók, Leonard Bernstein und Göran Fröst, mit Martin Fröst als Klarinettensolist.

Erstmals gestaltet ein ganzes Orchester die Künstler-Residenz der Essener Philharmonie. 1888 gegründet, gehört es zu den Top-Orchestern der Welt. Im Proramm stehen zwei weitere Orchesterkonzerte: am 27. Januar 2023 mit Sir John Eliot Gardiner am Pult und am 15. April 2023 mit dem Komponisten Matthias Pintscher, der neben eigene Werke den „Wunderbaren Mandarin“ Béla Bartóks stellt. Außerdem treten Musiker des Orchesters in kleineren Formationen auf, so am 1. Oktober die Blechbläser als RCO Brass. Tickets unter (0201) 81 22 200, Info: www.philharmonie-essen.de




Feinsinn und verhaltene Erotik: Ein Garten der Liebe im Globe-Theater Neuss

Xavier Sabata (links, Venus) und Roberta Mameli (Adonis) im Globe in Neuss. (Foto: Johannes Ritter)

Shakespeare hätte das wohl gefallen: Im rheinischen Neuss steht das „Globe“ am Rand der Galopprennbahn, eingekeilt von Bauzäunen, Parkplätzen, Funktionsgebäuden und einer schwer definierbaren Außengastronomie. Mitten unter dem Volk sozusagen, ein unauffälliger Holzbau, dem berühmten Londoner Theaterbau nachempfunden.

Innen schrauben sich 500 Plätze, nicht von englischer Eiche, sondern von feuersicherem Stahl getragen, in engen Kreisen in die Höhe. Meist von oben herab verfolgt der Zuschauer, was auf der Bühne geschieht. Nahe ist man den Darstellern – nirgends weiter entfernt als zehn Meter, heißt es auf der Homepage des Shakespeare-Festivals, das seit 1991 in dem nach Neuss geholten Bau Stücke von und um den elisabethanischen Dramatiker spielt.

Diesmal ging es weder um nachtschwarze Tragödien noch um deftige Komödiantik. Das „Globe“ wurde zum Schauplatz erkoren für feinsinnig höfische Kunst, eher geeignet für Plüschfauteuils als für Holzbänke (auf denen man erstaunlich gut sitzt!). Das Kulturamt Neuss hat sich für diesen „Neustart Kultur“ – gefördert aus dem gleichnamigen Programm des Bundesregierung – mit dem Festival Alte Musik in Knechtsteden zusammengetan, das im Herbst sein 30jähriges Bestehen feiern kann. Die Blockflötistin und rührige Organisatorin Dorothee Oberlinger steht mit ihrem Ensemble 1700 für ein mehr als gehobenes Level. Keine nette, barock kaschierte Unterhaltung also, sondern ein ernsthaftes Projekt.

Den Feinsinn hat man aus Italien importiert: Dort schrieb einer der führenden Komponisten des beginnenden 18. Jahrhunderts, Alessandro Scarlatti, irgendwann nach 1700 eine Reihe szenischer Kantaten, einer Kammeroper nicht unähnlich, gedacht für Aufführungen in privatem Rahmen in Palästen, Sommergärten oder Festsälen. Das für Neuss ausgesuchte Werk ist nicht unbekannt: Es wurde schon 1964 mit Brigitte Fassbaender unter Hans Stadlmaier aufgenommen. Man könnte es sich unschwer im Park einer römischen Villa vorstellen: „Il Giardino d’Amore“ bezieht die Natur ein in die züchtige Erotik zwischen Venus und Adonis. Bäume, Bäche, Vögel, Winde werden in Arien als Sinnbilder der verzehrenden Liebe und der martervollen Sehnsucht beschworen, bis sich für die beiden Liebenden Schmerz und Pein in Freude und Vergnügen verwandeln: ein heiteres, mit zarter Melancholie durchwebtes Drama, in dem Scarlatti sanft betrübte Tonarten und die Wehmut der Melodik sprechen lässt.

Der führende Opernkomponist seiner Zeit lässt auch in dieser Kantate seine Kunst ohne Nachlässigkeit im Niveau spielen. In der gut tragenden Akustik des intimen Raums können die Musiker des Ensembles 1700 Dynamik und Phrasierung, Modellierung des Tons und detaillierten Rhythmus so vielgestaltig ausformen, wie es Scarlattis Vorlage erfordert. Auch die Blockflöte Dorothee Oberlingers hat im Verein mit dem farbig besetzen Orchester (Laute, Harfe, Perkussion, sogar Trompete) und als Soloinstrument keine Probleme, sich durchzusetzen. So kann sie sich leisten, in einem der Kantate vorangestelltem Blockflötenkonzert Töne im Piano auszuhauchen und die Melodieführung Scarlattis, die in ihrer reizenden Elegie schon an das nächste Jahrhundert mit seinem „Melodramma“ pocht, in feinem Pastell aufzutragen. Damit sich Venus und Adonis nicht zu enthoben anschmachten, finden die Musiker jedoch auch den Ton des Dramas, etwa Konzertmeister Jonas Zschenderlein in einem entschieden artikulierten Violinsolo oder das Streicherensemble in zupackender Rhythmik.

Der dem Shakespeare-Theater „Globe“ in London nachempfundene Raum rückt Darsteller und Zuschauer ganz nah zusammen. Foto: Nicola Oberlinger

Auch den beiden Sängern kommt die Akustik entgegen. So zart wie im Globe könnte Xavier Sabata als Venus sonst wohl nicht die „geliebten Wälder“ fragen, wo ihr Schatz zu finden sei. Der tritt mit einem Speer auf, um den ihn mancher Wotan beneiden würde, und verkündet im antikisierenden Kostüm von Johannes Ritter, dass er keine Lust mehr hat, wilden Tieren mit Pfeil und Bogen nachzustellen und die Jagd künftig nur noch der Geliebten Venus gelten werde. Roberta Mameli verkündet das mit energischem Sopran der aus der Höhe zwitschernden Nachtigall und dem verzierungssüchtig begleitenden Sopranino.

Bei beiden Solisten fällt auf, dass ihr Vibrato oft nicht natürlich locker gebildet wird und damit eine ebenmäßige Tonbildung – eine essentielle Forderung des Belcanto – behindert. Auch die Intensivierung des Vibratos aus Ausdrucksmittel sollte nicht erzwungen wirken. Roberta Mameli verfügt über eine stupende Palette expressiver Mittel, die sie – eher einer modernen Richtung italienischer Stimmbildung folgend – oft druckvoll statt frei und geschmeidig einsetzt, was vor allem im Piano zu spitzen und engen Tönen führen kann. Dass Sabata wie Mameli fundierte Erfahrung in der Interpretation von Opernpartien des 17. und 18. Jahrhunderts mitbringen, lassen sie die vorzügliche Artikulation und die bewusste Ausgestaltung des Textes zum Vergnügen werden.

Die Regie von Nils Niemann orientiert sich an szenischen Vorgaben der historischen Schauspielkunst – gerade bei diesem rund 70minütigen, auf die Aktionen der Solisten konzentrierten Werk eine reizvolle Methode der Vergegenwärtigung. Torge Møller sorgt mit pastellfeinen Videoprojektionen dafür, dass dem hölzernen Bühnenambiente des Shakespeare-Theaters ein Hauch barocker Bildsinnlichkeit übergeworfen wird. Ein gut besuchter, künstlerisch hochwertiger Anfang, auf dessen Fortsetzung 2023 zu hoffen ist.




Bayreuther Festspiele beginnen mit „Tristan“ – Ein Gespräch mit dem Regisseur Roland Schwab

Vielleicht ist es genau das richtige Stück zur rechten Zeit am rechten Ort: Vor dem Hintergrund des barbarischen Krieges mitten in Europa und im von unappetitlichen Übergriffen und Skandälchen gebeutelten Bayreuth geht heute Abend, am 25. Juli, Richard Wagners „Tristan und Isolde“ über die Bühne.

Regisseur Roland Schwab. Foto: Matthias Jung

Für Regisseur Roland Schwab ein Gegenentwurf zu den Düsternissen unserer Zeit, ein „Bekenntnis zur Schönheit“, zugleich eine Flucht ins Universum der Liebe, eine Welt der Poesie, des Rauschs und der Verzauberung.

Schwab hat am Aalto-Theater Essen drei herausragende Arbeiten geschaffen, zuletzt Giacomo Puccinis „Il Trittico“. Mit der Eröffnung der Festspiele 2022 durch seine Inszenierung von „Tristan und Isolde“ erfüllt sich für den 52jährigen ein Lebenstraum. Werner Häußner sprach mit Schwab über die Berufung nach Bayreuth und über sein Verhältnis zu Wagner.

Frage: Waren Sie überrascht, als Sie die Anfrage der Bayreuther Festspiele erhielten?

Das Festspielhaus in Bayreuth. Archivbild: Werner Häußner

Schwab: Im letzten Jahr im Dezember kam unerwartet das Angebot, „Tristan und Isolde“ zur Eröffnung der Festspiele 2022 zu inszenieren. Das war Corona geschuldet und dadurch extrem kurzfristig; Bayreuth suchte einen Regisseur, der die Aufgabe jetzt und gleich übernehmen konnte. Für mich erfüllt sich damit ein Lebenstraum. Ich habe in meiner Heimatstadt München die „goldenen“ Wagner-Zeiten unter Wolfgang Sawallisch erlebt und bin als 16jähriger Wagner buchstäblich verfallen: Nach den ersten Takten des Vorspiels der „Walküre“ war es um mich geschehen. Die Begeisterung für Wagner und die tiefe Liebe zu ihm ist letztlich auch der Grund, warum ich Opernregisseur geworden bin.

Sie haben noch kaum Wagner inszeniert …

Schwab: Wagner ist der wichtigste Komponist für mich. Was mir heilig ist, verschenke ich nicht. Deshalb habe ich die Arbeit mit ihm bewusst hintangestellt. Ich wollte Wagner an würdigen Spielstätten inszenieren. Bisher habe ich nur 2019 den „Lohengrin“ in der Felsenreitschule in Salzburg gemacht. Und jetzt kommt der „Tristan“ im Wagner-Olymp.

Was fasziniert Sie so an Wagner?

Schwab: Ich verdanke ihm ein Schlüsselerlebnis. In meiner häuslichen Musikerziehung habe ich Musik immer nur als „Tafelmusik“ wahrgenommen – nebenher gespielt und erklungen. Wagner war anders, und dafür war ich als Jugendlicher unglaublich dankbar: Er durchbricht alle Grenzen, reißt alle Türen auf. Wagner ist mehr als ein Komponist, er ist ein Kosmos. Der Ambivalenz, der Dialektik, der Widersprüchlichkeit. Ewig modern und von abgründiger Tiefe.

Wie sah die Vorbereitung auf die Inszenierung aus?

Schwab: Es musste sehr stramm gehen. Parallel zum Essener „Trittico“ war es eine zusätzliche reizvolle Aufgabe, das Raumkonzept für Bayreuth zu erstellen. Nach anstrengenden Proben habe ich mit meinem Team – Piero Vinciguerra (Bühne) und Gabriele Rupprecht (Kostüme) – spätabends noch am „Tristan“ gewerkelt. Da war es ein Glück, dass wir alle in Essen für den Puccini-Dreiteiler zusammen waren. Innerhalb eines Monats musste das Bühnenbild soweit fertig konzipiert sein, dass die Bayreuther Werkstätten mit der Arbeit beginnen konnten. Aber ich liebe solche sportiven Herausforderungen …

Hatten Sie schon vor dem Bayreuther Auftrag ein Konzept im Kopf, wie Sie einen „Tristan“ inszenieren würden?

Schwab: Nein, ich habe nie vorher Konzepte im Kopf, aber ich entwickle über die Jahre ein Sensorium für die Stücke. „Tristan“ begleitet mich seit langer Zeit. Er ist eine Welt, die man in sich herumträgt, eine faszinierend abgründige. Konzepte werden oft überbewertet; bei „Tristan und Isolde“ muss die Musik das Konzept sein. Ich möchte als Regisseur der Musik den Raum zur Entfaltung gewähren. Mich interessiert, wie man die Musik auf der Bühne transzendiert. So haben wir einen Raum geschaffen, der dieses Transzendieren zulässt, der auch die Dialektik im Stück bedient. Als Regisseur interessieren mich Milieus herzlich wenig. Ich halte sie oft für unnötige Konkretionen, die man nicht umdeuten kann. Ich inszeniere Seelenräume, möchte Transformation erleben lassen. Im „Tristan“ geht es darum, Bilder und Bewegungsmuster zu schaffen für die Kunst des Übergangs, für die Transzendierung der Liebe, die dem hypnotischen Sog der Musik gerecht werden. Darin sehe ich meine Aufgabe.

Das hat Auswirkungen auf Ihre Sicht auf den „Liebestod“ …

Schwab: Zu Wagner bin ich wegen des Rauschs und der Überwältigung gekommen. Genau das möchte ich als Regisseur generell erreichen: Überwältigung und maximale Stimulierung der Sinne. Ich lese den Liebestod partout nicht im Sinne Arthur Schopenhauers und seiner völligen Negation. Wir wissen ja auch von Wagner, dass er diese Sicht abgelehnt hat. Der Liebestod ist für mich musikalisch die Bejahung des Lebens und der Liebe, die fortlebt in der Metamorphose. Er ist kein Desaster, sondern ein Ausblick in die Unendlichkeit. Anders als viele aktuelle Regiekonzepte von einer desillusionierten Liebe, einem „Mahnmal“ für die Liebe, greife ich den ursprünglichen Gedanken Wagners auf: Er wollte der Liebe ein Denkmal schaffen. Schopenhauers alles verneinendem Liebestod setze ich Sehnsucht und Utopie entgegen. Mein „Tristan“ wird ein Bekenntnis zur Schönheit, und darin fühle mich eins mit Wagners Musik.

Wie geht es für Sie in Essen weiter?

Schwab: Ich liebe das Essener Haus, es ist eines der schönsten in der Republik. Die neue Intendantin des Aalto-Theater, Merle Fahrholz, hat mich zu meiner Arbeit mit Puccinis „Il Trittico“ sehr beglückwünscht. Die drei Inszenierungen in Essen – 2019 Verdis „Otello“, 2021 Leoncavallos „Pagliacci“ und jetzt „Il Trittico“ – waren für mich ganz wichtige Stationen. Hier in Essen, aber auch mit dem an die Oper Köln gewechselten Intendanten Hein Mulders wird es weitergehen.

Und gibt es weitere Wagner-Pläne am Horizont?

Schwab: Noch nicht. Ich arbeite seit fast 20 Jahren als freier Regisseur und habe mir Wagner bis 2019 aufgespart – ein absoluter Verzögerungsgenießer! Mit Bayreuth gerät jetzt mein Lieblingskomponist in den Fokus. Ich bin also sehr gespannt auf die kommende Zeit.

Info: https://www.bayreuther-festspiele.de/programm/auffuehrungen/tristan-und-isolde/




Mit Leib und Seele der Oper verschrieben: Früherer Aalto-Intendant Stefan Soltesz gestorben

Stefan Soltesz in seiner Essener Zeit. (Foto: Matthias Jung)

Gestern spät abends drangen die ersten Kurzmeldungen durch die sozialen Netzwerke: Stefan Soltesz ist tot. Der frühere Essener Intendant und Generalmusikdirektor brach während seines Dirigats von Richard Strauss‘ „Die schweigsame Frau“ an der Bayerischen Staatsoper München zusammen und verstarb kurze Zeit später im Krankenhaus. Er wurde 73 Jahre alt.

Ein Augenzeuge berichtet: Gegen Ende des ersten Akts, gerade als die turbulente Probe der Operntruppe im Hause von Sir Morosus in vollem Gange ist und der alte Kapitän mit dem Speerschaft Wotans auf den Boden geklopft hat, ist ein dumpfer Knall zu hören. Einen Augenblick später „entsteht großer Trubel: einige Leute stehen auf, gestikulieren, schreien wild. Wir schauen vergnügt weiter, denn es ist ja eine lustige Oper und wir dachten, das gehöre dazu.“ Doch dann erklingen Rufe nach einem Arzt, der Vorhang fällt und der Abenddienst tritt vor den Vorhang und bittet das Publikum, vorzeitig in die Pause zu gehen.

Nach einer ungewöhnlich langen Zeit werden die Zuschauer wieder in den Saal gerufen und erfahren, dass die Vorstellung beendet werden muss. Zunächst denkt man im Publikum an einen Hitzschlag, doch dann verbreitet sich rasch die schreckliche Nachricht. Die Bayerische Staatsoper gibt auf ihrer Webseite „mit Entsetzen und großer Trauer“ den Tod von Stefan Soltesz bekannt. „Wir verlieren einen begnadeten Dirigenten. Ich verliere einen guten Freund“, twittert Staatsopernintendant Serge Dorny.

Stefan Soltesz prägte das Essener Musikleben als Generalmusikdirektor der Philharmoniker und Intendant des Aalto-Musiktheaters ab 1997. Seinen nicht ungetrübten Abschied aus Essen nahm er im Juli 2013 mit „Die Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss, eines seiner Lieblingskomponisten, für dessen Werke er als Spezialist galt. Geplante spätere Gastdirigate hat Soltesz abgesagt, nachdem die Stadt Essen es nicht geschafft hatte, den langjährigen erfolgreichen Motivator des Essener Musikkultur angemessen zu verabschieden. „Ich habe es geliebt, hier zu arbeiten“, sagte der scheidende Chef damals, und die WAZ zitierte seine Worte bei der Abschiedsfeier im Aalto-Theater: „Ich habe die 16 Jahre in Essen mit großer Begeisterung erlebt. Es war der wichtigste und schönste Lebensabschnitt. Behalten Sie mich in guter Erinnerung.“

Soltesz war ein Prinzipal alter Schule und als Dirigent den großen Namen verpflichtet: Mozart, Strauss, Wagner. Kompromisse, vor allem in künstlerischer Hinsicht, waren seine Sache nicht. So liebenswürdig er mit seinem Wiener Charme spielen konnte: Wenn es um die Musik ging, war er unerbittlich. Orchestermitglieder können davon erzählen, von seinen Sottisen, von seiner fordernden Detailarbeit, von dem Gefühl dauernder Hochspannung und des Spielens „auf der Stuhlkante“: Aber auch von seiner unbedingten Solidarität, seinem unbändigen Einsatzwillen – und vor allem seinem Charisma, seiner magischen Hand, mit der er die Musik in wundersamer Vollendung hervorlocken konnte.

Natürlich trat er in Essen 1997 mit „Arabella“ von Richard Strauss an – jener umstrittenen, oft gering geschätzten Oper von 1933, die jetzt wieder auf dem Spielplan des Aalto-Theaters steht und von Tomáš Netopil überzeugend, aber anders dirigiert wird. Strauss sollte den Essener Spielplan in den kommenden Jahren prägen: 1998 folgte „Die Frau ohne Schatten“, die in der Inszenierung von Fred Berndt bis 2013 im Repertoire bliebt. Es folgte die Rarität „Daphne“ (1999), dann „Elektra“ (2000), „Ariadne auf Naxos“ (2002) und „Die ägyptische Helena“ (2003). „Salome“ schloss 2004 diesen Strauss-Zyklus vorläufig ab. An die frühen Werke oder an ein kleines Juwel wie „Intermezzo“ wollte der Pragmatiker nicht denken, obwohl er schon in den neunziger Jahren Strauss‘ „Friedenstag“ in einer Inszenierung von Peter Konwitschny an der Semperoper Dresden dirigiert hat.

Stefan Soltesz war mit Leib und Seele ein Mann der Oper. Schon der Anfang seiner Karriere, 1971 am Theater an der Wien und im folgenden Jahrzehnt an der Wiener Staatsoper und der Oper Graz, war vom Musiktheater geprägt. In Salzburg assistierte er Größen wie Karl Böhm, Christoph von Dohnányi und Herbert von Karajan. Auch an seine nächsten Stationen in Hamburg und Berlin, in Braunschweig als GMD und in Antwerpen/Gent als Chefdirigent dominierte die Oper. Was nicht heißt, dass Soltesz nicht auch faszinierende, berührende, hochgespannte Konzertabende  dirigierte. Nicht umsonst wurden die Essener Philharmoniker unter seiner Ägide 2003 und 2008 zum „Orchester des Jahres“ gekürt.

Aber man spürte: Das Herz des gebürtigen Ungarn, der im Alter von sieben Jahren 1956 zu den Wiener Sängerknaben gekommen war, schlug im Musiktheater. Kennengelernt habe ich ihn 1991, als er in Berlin in John Dews durchdachter Inszenierung von Giacomo Meyerbeers „Les Huguenots“ den Taktstock schwang und demonstrierte, wie subtil Meyerbeer die dramatischen Situationen erfasst. Mit Meyerbeer erlebte ich Stefan Soltesz auch eines der letzten Male, 2019 an der Semperoper, wo er wiederum trotz fragwürdiger Kürzungen auf Wunsch von Regisseur Peter Konwitschny die „Hugenotten“ mit kundigem Blick durchdrang: „Soltesz dirigiert mit Gefühl für Farben und dramatische Entwicklungen“, schrieb ich damals.

Aber auch an seinem Stammhaus Essen ist an unvergessliche Aufführungen zu erinnern. Jeder wird da seine eigene Rangfolge entwickeln. Gelegenheit, den Dirigenten Stefan Soltesz zu erleben, gab es mannigfach. Er war ja omnipräsent, übernahm viele Premieren selbst, ersetzte seine eigenen Kapellmeister oder ausgefallene Gastdirigenten. „Soltesz ist ein Chef, der auch für sich selbst einspringt“, meinte ein Kollege einmal scherzhaft. Diese Präsenz ist heute leider unüblich geworden, sichert aber Vertrauen, Verlässlichkeit und gibt einem Haus und einem Orchester eine unverwechselbare Prägung.

Für mich eines der prägendsten Erlebnisse mit Soltesz war – neben seinen immer wieder mitreißenden Strauss-Abenden – seine Arbeit an Vincenzo Bellinis „I Puritani“. Die Sorgfalt, mit der er diese zunächst so „einfach“ erscheinende Partitur einstudierte, der Blick für den großen Bogen, die atmende Phrasierung, die Gliederung der Melodie, die Liebe zum instrumentalen Detail, brachten die Qualitäten Bellinis ans Licht des Tages und ließen den angeblich so simplen Belcanto in einem neuen Licht erscheinen. Eine Meisterleistung der Dirigierkunst.

Müßig aufzuzählen, wo der unermüdliche Dirigent als Gast anzutreffen war. Ob Hamburg oder Wien, München oder Berlin, Budapest oder Frankfurt, Rom, Paris, Zürich oder Buenos Aires. Sein Name tauchte immer wieder auf – auch an der Komischen Oper Berlin, wo er zuletzt in Franz Schrekers „Die Gezeichneten“ sein Faible für die Spätromantik des 20. Jahrhunderts ausspielen konnte und mit Paul Abrahams „Viktoria und ihr Husar“ einen hinreißenden Operettenabend bescherte.

Stefan Soltesz wird fehlen, aber die Erinnerung an ihn lebt in der Seele all jener weiter, die er mit Musik beglückt hat, und sie werden ihm im Herzen die Kränze flechten, die die flüchtige Zeit nicht nur dem Mimen, sondern auch den Musikern gern vorenthält.




Musik mit Testosteron: William Waltons Erste Symphonie in Essen

Die Essener Philharmoniker verabschiedeten sich bei ihrem 12. Sinfoniekonzert mit einem ungewöhnlichen Programm in die Ferien. Man merkte es am Besuch: Der Alfried Krupp Saal war nur schütter besetzt. Der konservative Teil des Essener Publikums lässt sich mit William Waltons Erster Symphonie nicht locken.

Solist Lutz Koppetsch. Foto: Alex Chepa

Und auch der Zaunpfahl Philip Glass konnte es nicht herbeiwinken. Dessen Violinkonzert in einer Bearbeitung für Sopransaxofon – von wem, verrät das Programm nicht – steht im Zentrum des Abends. Lutz Koppetsch, Leiter der Saxofonklasse an der Würzburger Musikhochschule, müht sich als berufener Solist redlich um die repetierten, sich allmählich entwickelnden Floskeln des Glass-Konzerts.

Aber was auf der Violine dank nuancierter Strich- und Griffarbeit lebendig klingt, bleibt auf dem Saxofon steif und mühsam, quillt in aufsteigenden Tonblasen schorfig aus dem Instrument. Koppetsch will die Mikro-Motiv-Reihen gerade nicht technizistisch abspulen, versucht ihnen Ausdruck zu geben, Leben einzuhauchen, spannt die Linien weit auf, legt ein wenig Melancholie in die gehaltenen Töne. Aber seine Mühen retten das unglückliche Stück nicht. Die Philharmoniker zählen wacker mit, bleiben in Form und füllen die altbekannten Glass-Harmonien mit schmeichelndem Klang.

Mit Klang können das Orchester und Gastdirigent Nicholas Carter in Jean Sibelius` „Der Schwan von Tuonela“ trefflich aufwarten: Die ausdifferenzierten Streicher schaffen zu Beginn eine zaubrische Lohengrin-Stimmung, das aufblühende Cello-Solo, der leise Trommeldonner, das schwermütige Englischhorn sind in das Gespinst aus Klängen sorgsam eingebettet. Alles atmet eine Atmosphäre, als wehten geheimnisvolle Schleier unbestimmter Beschaffenheit aus einem ungreifbaren Elfenland herüber in unsere Realität. Die magische Stimmung verliert sich am Ende – ein „Finale“ gibt es nicht.

Die Musik lässt die Muskeln spielen

Dafür trumpft der Abschluss von William Waltons Erster Symphonie umso imperialer auf. Die Musik lässt die Muskeln spielen, und Nicholas Carter, Chefdirigent der Oper Bern, tut alles, damit sich die Stränge unter gespannter Haut auch deutlich abzeichnen. Dass er die Philharmoniker um ihr Leben spielen lässt, macht seine gemessene Gestik erst einmal nicht sichtbar. Aber das musikalische Testosteron fließt ungehindert, heizt den komplexen kontrapunktischen Strukturen der Musik Waltons so energisch ein, dass die orgiastische Glut alles überschmilzt, was vielleicht trotz der steigenden Fortissimo-Grade noch an feineren Funken, harmonischen Blitzen oder elektrisierendem Leuchten erfahrbar hätte sein können. Das war entschieden zu viel, und der Final-Lärm hatte sich längst erschöpft, als er eigentlich zu seinem Höhepunkt kommen sollte.

Dabei begann die Symphonie, die in angelsächsischen Ländern durchaus zum Standardrepertoire gehört und in über 20 Aufnahmen vorliegt, sehr vielversprechend. Denn Carter legt den ostinaten Rhythmus, die pulsierende Streicher-Steigerung, die Harmonie der Hörner, die lang gehaltenen Basstöne und die markante Oboenstimme in feinsinnigem Zusammenhang an und lässt das leidenschaftliche Drama bis zur ersten, dann schon etwas zu beherzt ausgereizten Klimax organisch wachsen. Auch die süffigen Harmonien des Satzfinales, in denen man den Filmkomponisten Walton erspüren kann, sind in ihrer schillernden Vitalität reizvoll gelungen.

Der zweite Satz „con malizia“ sprüht in Tempo und Rhythmus; der dritte, in dem die Bosheit durch Schwermut ersetzt wird, hat die Anmutung von bittersüßer Lyrik, aber auch hier schon auf das Finale hin hoch gespannt. Der Beifall war passend üppig und bezeugt die faszinierende Wirkung von Waltons zupackender Finalenergie. Nicht umsonst hat der Mann 1937 und 1953 zwei Krönungsmärsche geschrieben – und Kenner dürften auch bei der Erinnerung an sein extravagantes spätes Öperchen „The Bear“ wohlbehaglich brummen!

Die Essener Philharmoniker sind zurück zum ersten Sinfoniekonzert der neuen Spielzeit am Donnerstag/Freitag, 18./19. August. Dirigent Marcus Bosch geleitet das Orchester dann durch die Wogen klassischer Filmmusiken, zum Beispiel von Erich Wolfgang Korngold („Captain Blood“), Max Steiner („Vom Winde verweht“), Bernard Herrmann („Psycho“) oder Nino Rota („Der Pate“, „Der Leopard“). Info: https://www.theater-essen.de/philharmonie/spielplan/klassiker-der-sinfonischen-filmmusik-105639/6962/




Größe und Grenzen: Oper über Kardinal Galen und seinen Widerstand im Dritten Reich in Münster uraufgeführt

Andreas Beckers Bühne für „Galen“ am Theater Münster macht Bedrohung und Zerstörung in der Symbolik des Raumes erfahrbar. (Foto: Oliver Berg)

Nur ein Name steht da: Galen. Kein Titel, keine Beschreibung. Wäre „Der Löwe von Münster“ nicht ein viel attraktiverer Titel gewesen? Aber der Schriftsteller Stefan Moster und der Komponist Thorsten Schmid-Kapfenburg nannten ihre Oper einfach nur „Galen“.

Der Bischof von Münster, entschiedener Gegner der Nazis und ihrer Ideologie, berühmt geworden durch seine Predigten gegen die Euthanasie, sollte als Mensch auf der Bühne auftauchen, nicht als Amtsträger, nicht als Subjekt der Verehrung. Am Theater Münster wurde die Oper uraufgeführt; nach über drei Stunden, die wie im Flug vergehen, bleibt das Auditorium lange Sekunden still, bis der Beifall einsetzt.

Golo Berg, Generalmusikdirektor in Münster und einer der Ideengeber für die Oper, fasst im Interview zusammen, worum es geht: Die Geschichte Clemens August Graf von Galens ist ein lokales Thema, das dennoch große Zusammenhänge herstellt und Konflikte anspricht. Galen musste, allein auf sich und auf seinen Glauben gestellt, zwischen Grundsätzen entscheiden, von denen er jeden für absolut verbindlich hielt. Sich entscheiden zu müssen, unter Umständen persönliche Freiheit und Leben zu riskieren, Ambivalenzen auszuhalten, schmerzlich eigene Grenzen zu spüren: Diese Erfahrung, die der Bischof von Münster in einer extremen historischen Situation machen musste, ist zu allen Zeiten eine existenzielle Herausforderung.

Gegenwart und Vergangenheit begegnen sich: Kathrin Filip als junge Frau von heute und Gregor Dalal als Bischof Galen. (Foto: Oliver Berg)

Dass Galen aktuell geblieben ist, zeigten die Debatten um seine Seligsprechung 2005. Seine „Ecken und Kanten“ werden in der Oper klar thematisiert: Sein striktes national-konservatives Weltbild, geprägt von seiner uradligen Herkunft. Seine Kriegsbegeisterung, als es gegen die gottlosen Bolschewiken ging. Seine unselige, damals theologisch kaum bestrittene Überzeugung, der von Gott eingesetzten Obrigkeit sei Gehorsam geschuldet. Seine anfängliche Sympathie für den „Führer“. Vor allem aber sein heute schwer verständliches Schweigen zur Verfolgung der Juden – und das, obwohl er ein entschiedener Gegner der NS-Rassenideologie war, Papst Pius XII. zur Enzyklika „Mit brennender Sorge“ drängte und in seinen Predigten auf unveräußerliche Menschenrechte Bezug genommen hat. In einer beklemmenden Szene wird Galens Verhalten nach der Pogromnacht thematisiert und erklärt. Der Stachel im Fleisch bleibt dennoch: Der Hut des Rabbiners liegt am Ende groß und einsam in Sven Stratmanns Videoprojektion im Hintergrund der Bühne.

Parabelhaft gesteigerte Charaktere

Die Konzeption der Oper ist eine tragfähige Mischung aus Erzähl-, Dokumentar- und ein wenig Belehrtheater. Holger Potocki arbeitet in seiner Inszenierung sehr sorgfältig an den Charakteren, bricht sie aber auch immer wieder pararabelhaft gesteigert auf. Suzanne McLeod als Galens Mutter etwa verkörpert nicht nur eine steif gekleidete alte adlige Dame, sondern verschmilzt in einer das Surreale streifenden Szene mit der Gottesmutter von Telgte, einem Gnadenbild, das Galen sehr verehrt hat.

Gauleiter Alfred Meyer, einer der Hauptakteure des Holocaust, ist bei Mark Watson Williams nicht nur ein mit gellender Stimme eifernder Zyniker, sondern steht in einer höllengelben Uniform für das Böse, dessen Assistent (Frederik Schauhoff) wie ein Kastenteufel aus dem Untergrund springt. Andere Figuren wie Regens Francken (Mark Coles als alter Weiser), Pfarrer Coppenrath (Stephan Klemm mit heiligem Zorn), Galens Bruder Franz (Youn-Seong Shim) oder Rabbiner Steinthal (anrührend und verzweifelt Enrique Bernardo) sind in den bis ins Detail zeittypischen Kostümen Andreas Beckers dagegen eher einem historischen Realismus zuzuordnen.

Rot, die Farbe der Kardinäle, ist vielfach symbolisch aufgeladen. Für Jasmin (Kathrin Filip) steht sie am Anfang und am Ende ihrer „Zeitreise“ zu Galen. (Foto: Oliver Berg)

Die Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart stellt Regisseur Potocki mit einer Videoszene zu Beginn der Oper her: Menschen werden befragt, was sie mit dem Namen „Galen“ verbinden. Eine junge Frau, ahnungslos, lässt sich zum Nachdenken anregen. Man sieht, wie sie auf dem Smartphone die Wikipedia-Seite über Galen aufruft, wie sie Bücher wälzt und schließlich in die Zeit Galens driftet. In den Anblick des (tatsächlich im Westfälischen Museum für religiöse Kultur in Telgte ausgestellten) roten Kardinalsgewands versunken, verlässt die Frau die Gegenwart, „um die Vergangenheit zu verstehen“.

In der Konfrontation der Fragerin von heute – und den Einwänden des Bischofssekretärs (Christian-Kai Sander) von damals – klären sich Galens Positionen, ob für Menschen des 21. Jahrhunderts irritierend zeitbedingt oder beeindruckend zeitlos. Im Libretto ist diese „Jasmin“ genannte junge Frau mit Kopftuch als Muslima angedeutet, verweist auch im Text einmal auf „Allah“. Auf diese Zuspitzung verzichtet die Inszenierung: Die Sängerin Kathrin Filip wirkt wie eine jener Studentinnen, die man in Münster jeden Tag über den Prinzipalmarkt gehen sieht.

Zwischen Befremden und Mitfühlen

Die Ratlosigkeit, das Befremden, die Distanz, aber auch die allmähliche Einsicht, das Verstehen, sogar das Mitfühlen mit den inneren Kämpfen und Entscheidungen des Bischofs macht Filip in sensiblem Spielen deutlich. Am Ende zieht sie ein Resümee: Das rote Kleid des Kardinals als leuchtendes Signal und die Erkenntnis, auch „seine Größe hatte Grenzen“. Vorbilder sind nicht vollkommen, und Helden, die „so sind, wie wir es gerne wären“, die gibt es eben nicht. Galen ist für sie ein „Tröster“, von denen es auf Erden nie genug geben könne. „Tröster leuchten, auch wenn wir sie nicht verstehen.“

Im Volksempfänger hört der Bischof die Rede Alfred Rosenbergs auf dem Markt in Münster. (Foto: Oliver Berg)

Kardinal Galen also als Opernheld: Gregor Dalal hat in dieser großartig ambivalenten Gestalt eine Paraderolle seines reichen Sängerlebens gefunden. Man spürt in jeder Phase, dass sich Dalal intensiv mit der Figur beschäftigt, dass sie ihm ganz und gar entspricht. Er verkörpert den Bischof nicht, er ist Galen in jeder Faser seiner Existenz – vom adligen Jäger des Anfangs über den Priester in Gewissenkonflikten, den entschlossenen Prediger bis hin zu einem erschütterten, gealterten Mann, der die Sieger nicht als Befreier willkommen heißen und die Schuld des deutschen Volkes nicht akzeptieren kann. Auch stimmlich ist Galen eine Paraderolle für den Bassbariton. Man meint, Schmid-Kapfenburg hätte die Rolle genau für diesen Sänger geschrieben.

Wundersame Klanggebilde

Möglicherweise stimmt das auch, denn der Komponist ist seit 2004 Kapellmeister an den Städtischen Bühnen Münster und kennt Dalal seit Jahren. Schmid-Kapfenburg hat bisher viel Kammermusik und eine Kammeroper, aber noch kein großformatiges Werk wie „Galen“ geschrieben. Seiner Partitur merkt man den versierten Kammermusiker und den erfahrenen Dirigenten an. Der Kompositionsschüler von Detlev Glanert schafft wundersame, filigrane Klanggebilde, luzide Klangflächen, kostbare Solo-Stellen für die Orchestermusiker. Auf Tonalität legt er sich nicht fest; so begleitet er die Ausfälligkeiten des Gauleiters ironisch mit den atonalen Klängen, die bei den Nazis als „entartet“ abgestempelt waren. Eine Orgel karikiert dazu musikalisch das Neuheidentum Alfred Rosenbergs, den Bischof Galen als einen der Urheber der menschenverachtenden Rassenideologie von Anfang an bekämpfte.

Schmid-Kapfenburg findet einen Tonfall zwischen dem sachlichen Formbewusstsein eines Paul Hindemith und der angeschrägten Harmonik von Werner Egk, nicht als Sklave eines musikalischen Fortschrittsglaubens, sondern als Schöpfer wirkungsvoll gearbeiteter Theatermusik. Golo Berg ist mit dem Sinfonieorchester Münster ein einfühlsamer Sachwalter, der vor allem für die leisen Töne viel Empathie mitbringt, aber auch heftigen Attacken und Aufschwüngen ihr Recht einräumt. Anton Tremmel hat Chor und Extrachor des Hauses für seine Partie auf und hinter der Bühne solide vorbereitet.

Dem Theater Münster ist für sein Auftragswerk Anerkennung zu zollen: Entstanden ist ein Stück Musiktheater, das eine beeindruckende Person der jüngeren Geschichte mit ihrer Größe und ihren Grenzen und einen profilierten Katholiken in seiner entschlossenen Konsequenz, aber auch all seinen inneren Widersprüchen zu einem Theatererlebnis verdichtet, das als zeitlose Parabel auch über Westfalen hinaus sein Publikum finden dürfte.

Vorstellungen geplant am 4. Juni im Rahmen des Festivals Musica Sacra, sowie am 10., 18., 24. Juni 2022. Info: https://www.theater-muenster.com/produktionen/galen.html, Karten-Tel.: (0251) 59 09 100




„Ich gebe viel, ich bekomme etwas zurück“: Jessica Muirhead singt die „Arabella“ am Aalto-Theater Essen

Endlich wieder singen: Jessica Muirhead, seit 2015 am Essener Aalto-Theater fest engagiert, freut sich riesig, dass die Corona-Pandemie kein Hindernis mehr ist, auf die Bühne zurückzukehren. Ab 14. Mai singt sie die „Arabella“ in Richard Strauss‘ gleichnamiger Oper.

Jessica Muirhead. (Foto: Nanc Price)

Auch sie selbst hat ihre Infektion überwunden und stürzt sich in eine für sie neue, große Partie: Mit der lyrischen Komödie „Arabella“, dem letzten gemeinsamen Werk von Strauss und Hugo von Hofmannsthal, biegt am 14. Mai die Spielzeit 2021/22 am Aalto in die Zielgerade ein. Es ist die letzte Opernpremiere der Intendanz von Hein Mulders. Werner Häußner sprach mit der britisch-kanadischen Sopranistin, die 2018 auch den Aalto-Bühnenpreis erhalten hat, über ihre Karriere und blickt mit ihr auf die Zeit mit Mulders zurück.

Ab Samstag sind Sie am Aalto-Theater Essen die Arabella in Richard Strauss‘ wehmütig-ironischem Rückblick auf das „alte Wien“.

Ja, endlich ist sie da! Ich finde, jetzt ist der richtige Zeitpunkt für meine Stimme, mit Strauss zu beginnen. Vor drei Jahren sollte ich schon die Marschallin singen, aber das empfand ich noch als zu früh. Ich möchte mir die Strauss-Rollen langsam erarbeiten, zum Beispiel „Daphne“, die ich in Frankfurt gesehen habe – ein berührendes Stück und großartig für die Stimme geschrieben. Da bekomme ich Gänsehaut.

Aber Puccinis Suor Angelica im „Trittico“, die Sie gerade am Aalto-Theater gesungen haben, ist auch nicht ohne …

Aber ja. Ich bin am Ende komplett fertig, obwohl die Rolle kurz ist. In dieser Inszenierung von Roland Schwab bin ich die ganze Zeit im Spotlight.

Jessica Muirhead als Schwester Angelica in Giacomo Puccinis „Il Trittico“ am Aalto-Theater Essen. (Foto: Matthias Jung)

Endlich wieder auf der Bühne singen

Wie sind Sie durch die Zeit der Pandemie gekommen?

Es war keine gute Zeit für mich. Diese Unsicherheit um unsere Zukunft hat mich geradezu depressiv gemacht. Am Anfang war die Ruhe für die Stimme okay. Aber nach zwei Jahren brauche ich ein Publikum und eine Bühne. Wenn man in einer Wohnung singt, ist das Gefühl ein anderes. Es war auch schwierig, die Zeit zu nutzen, um neue Partien zu lernen. Meine Seele war traurig, doch man braucht die Seele, um zu singen. Ich habe einige Rollen gelernt, die dann abgesagt wurden, zum Beispiel aus Rossinis „Il Viaggio a Reims“. Gottseidank dürfen wir jetzt wieder spielen und das Publikum kommt. Das ist nicht überall so. Aber ich habe bemerkt, dass unser Publikum die Kunst braucht und genießt, so wie ich auch. Jetzt fühle ich mich besser, weil ich sehe: Es gibt eine Zukunft.

Haben Sie stimmlich eine Veränderung bemerkt, weil Sie lange nicht auf der Bühne singen konnten?

Es herrschte zu viel Ruhe. Das ist wie bei der Fitness: Spazieren gehen ist super, aber man braucht auch die Anstrengung. Ich habe gemerkt, dass meine Stimme häufig zu tief intoniert hat. Da war die Spannung weg und es fehlte mir die Kontrolle. Jetzt erst ist meine Stimme wieder voll da.

Was war die erste Partie nach der Pandemie?

Am Aalto-Theater war es die Dido in Henry Purcells „Dido und Aeneas“. Aber im Herbst 2021 konnte ich in Israel in einer Uraufführung mitwirken: „Kundry“ von Avner Dorman, inszeniert von der künftigen Volksopern-Direktorin Lotte de Beer an der Oper in Tel Aviv.

Das Aalto-Theater als echtes Zuhause

Sie sind seit 2015 am Aalto-Theater im Festengagement. Was hält Sie so lange in einem Ensemble? Sie hätten die Möglichkeit, an vielen großen Häusern frei zu singen.

Dafür gibt es viele Gründe. Ich bin die Schritte sozusagen umgekehrt gegangen – erst war ich zehn Jahre frei, dann ging ich ins feste Engagement. Ich wollte ein echtes Zuhause haben. Das habe ich im Aalto-Theater gefunden. Es ist schön, die familiäre Atmosphäre hier am Haus zu genießen. Das ist nicht selbstverständlich. Ich brauche den Kontakt, weil meine Familie in Kanada weit weg ist. Außerdem eröffnen sich hier so viele schöne künstlerische Möglichkeiten. In München hatte ich früher einen Residenzvertrag, aber ich konnte nur drei Rollen singen: Musetta in „La Bohème“, eine Magd in „Elektra“ und ein Blumenmädchen im „Parsifal“. Ich war ein „small fish in huge water“. Ich wollte mehr singen, vor allem mehr Hauptrollen.

Dann eröffnete Essen Ihnen viele Rollendebüts …

Das nächste Rollendebüt für Jessica Muirhead ist „Arabella“ von Richard Strauss. Ein Probeneindruck mit Heko Trinsinger als Mandryka. (Foto: Matthias Jung)

Intendant Hein Mulders hat mir diese Möglichkeit gegeben. Ich habe als Rusalka, Luisa Miller, Elsa, Rosalinde und Anna in Marschners „Hans Heiling“ debütiert und Rollen wie Violetta, die Gräfin in „Nozze di Figaro“, Donna Anna, Micaëla, Margarethe in Gounods „Faust“, die ich früher bereits gesungen hatte, aufgefrischt. Was ich gerne wieder machen würde, ist „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ von Frederick Delius, ein wunderbares Werk. In der nächsten Spielzeit darf ich dann auch wieder Belcanto singen: die Lucrezia in Donizettis „Lucrezia Borgia“. Hier in Essen habe ich die Möglichkeit, das auszuprobieren.

Auf der anderen Seite muss ich nichts tun, was meiner stimmlichen Entwicklung schadet. Zum Beispiel habe ich die Elisabetta in Verdis „Don Carlo“ zurückgegeben, weil ich das Gefühl hatte, es sei noch zu früh für diese Partie. Das wird akzeptiert – was nicht an allen Häusern der Fall wäre – und ich fühle mich so als Künstlerin in meiner Verantwortung wahrgenommen.

„Die Vielfalt hat mir nicht geschadet“

Ein Vorteil ist auch die Verbindung von Aalto-Theater und Philharmonie. Im März hatte ich den Sopranpart in Rossinis „Stabat Mater“ übernommen, habe hier in Beethovens Neunter und zum ersten Mal in Brahms‘ „Deutschem Requiem“ gesungen. Die Vielfalt hat mir nicht geschadet, im Gegenteil: Eine Wiener Stimmspezialistin hat mir nach der Premiere der „Suor Angelica“ gesagt, meine Stimme sei so frisch wie damals, als sie mich zum ersten Mal gehört hatte.

Wann war das?

Das war 2006, als ich als Pamina in der „Zauberflöte“ an der Wiener Volksoper in der Inszenierung Helmut Lohners in Europa debütierte. Ich hatte in Kanada einen Wettbewerb gewonnen und Rudolf Berger, damals Direktor der Volksoper, war Mitglied der Jury. Er hat mich angerufen und mir Pamina angeboten. Ich bekam dann einen Residenzvertrag und habe noch Micaëla („Carmen“) und Agathe („Der Freischütz“) gesungen.

Was hat Ihnen diese Zeit in Wien gebracht?

In meinen ersten Jahren auf der Bühne habe ich viel gelernt! Ich hatte zuvor im Studium in Toronto nur in Mozarts „Idomeneo“ die Chance, szenisch zu agieren. Ich glaube, in dieser Wiener Zeit bin ich eine Schauspielerin geworden. Am meisten gelernt habe ich in der Arbeit mit einer Regieassistentin, Susanne Sommer. Ich habe bei meinem Debüt in Bizets „Carmen“ als Micaëla schlechte Kritiken bekommen. Ich war einfach zu langweilig. Bei der Wiederaufnahme habe ich mit ihr die Partie erarbeitet. Auch von Helmut Lohner habe ich viel gelernt, er war ein wunderbarer Künstler.

Was hat Sie dann bewogen, von Wien wegzugehen?

Ich bekam ein Angebot von München und an der Volksoper gab es eine neue Intendanz.

Und in Essen haben Sie sich von Anfang an wohl gefühlt?

Jessica Muirhead als Anna in Heinrich Marschners "Hans Heiling" am Aalto-Theater Essen. Foto: Thilo Beu

Jessica Muirhead als Anna in Heinrich Marschners „Hans Heiling“ am Aalto-Theater Essen. (Foto: Thilo Beu)

Ja, ich hatte das Gefühl, Hein Mulders schaut darauf, wie neue Sängerinnen und Sänger ins Ensemble passen, nicht nur von der Stimme, auch von der Persönlichkeit her. Was mich betrifft, fühle ich mich wertgeschätzt; ich gebe viel, ich bekomme etwas zurück. Ich hatte Intendanten, die waren nicht sichtbar. Hein kommt zu jeder Premiere. Es ist das Gefühl des Kontakts da. Er sagt auch offen, was er gut findet und was nicht. So ein ehrliches Feedback schafft eine Beziehung. Besonders für uns Sänger ist das wichtig. Ich fühle mich als Künstlerin wahrgenommen.

Außerdem hat Hein Mulders für die Sänger und für das Publikum ein tolles Repertoire von Purcell bis Marschner und Wagner aufgebaut. Er hat meine Stimme gut verstanden, weil ich nicht in ein Fach gehöre. Die Möglichkeiten, die ich vorher hatte, waren oft nur in einem Fach. Hein Mulders verstand, dass ich dramatischer Koloratursopran, jugendlich-dramatischer und manchmal lyrischer Sopran bin. Verdis „Luisa Miller“ zum Beispiel habe ich mir nicht zugetraut, aber er sagte: „Du kannst das“. Und am Ende war es mein Lieblingsstück und hat auch meine Stimme gesünder gemacht. Ich habe das Gefühl, er riskiert manchmal etwas, aber die Risiken nimmt er mit Erfolg auf sich. Auch bei „Rusalka“ war ich mir zuerst nicht sicher. Ich bin persönlich dankbar, dass er solche Schritte für mich bedacht hat. Vorher hätte ich nie gedacht, dass ich einmal Wagner singen würde.




Vom Verschwimmen des Privaten: Paul Hindemiths Satire „Neues vom Tage“ in Gelsenkirchen

Vor dem Bad noch schnell ein Selfie: Eleonore Marguerre in Paul Hindemiths „Neues vom Tage“ in Gelsenkirchen. (Foto: Monika Forster)

Die Badewanne war’s. Sie ließ Paul Hindemiths „Neues vom Tage“ zum Skandal werden. Eine Frau, die nackt und schaumbedeckt Männer empfängt, das erregte den wohlgesitteten deutschen Bürger der Weimarer Zeit: Ein bisschen gucken und sich empören.

In Berlin war die „Zeitoper“ zwar nicht sonderlich erfolgreich. Aber den nur 15 Wiederholungen an der Kroll-Oper folgten, so Hindemith selbst in einem Interview, „allenthalben zahlreiche Aufführungen, bis schließlich das nazistische Allerneueste vom Tage ihr vorläufig den Garaus machte“.

Jetzt setzt das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen dem „Garaus“ etwas entgegen und bringt Hindemiths „lustige Oper“ mit einer leider mäßig besuchten, aber begeistert gefeierten Premiere wieder in die Diskussion. Und siehe da, die 92 Jahre alte Satire auf die großstädtische Gesellschaft von damals erweist sich als überraschend vital. Mag zwar sein, dass die Ehescheidungs-Problematik, aus der Kabarett- und Revueautor Marcellus Schiffer sein Libretto entwickelt, heute nicht mehr den prickelnden Ruch von damals mitbringt. Aber im Zeitalter von social media, Selfies und überwachten Räumen, medialer Allgegenwart und konstruierter Realität erweist sich als ungebrochen aktuell, wie Hindemith und Schiffer das Verschwimmen von Öffentlichem und Privatem, Authentischem und Inszeniertem mit den Mitteln karikierender Überspitzung aufs Korn nehmen.

Die inhaltliche Klammer über die Epochen hinweg spiegelt sich schon zu Beginn in der Bühne von Dirk Becker: In Hintergrund fahren Hochhäuser auf, wie sie Ende der zwanziger Jahre auch in deutschen Großstädten entstanden. Die Spielfläche wird abgegrenzt von Elementen aus der „Neuen Sachlichkeit“, dem Kubismus und der Konkreten Kunst, reduziert auf schmucklose Elemente aus geometrischen Formen. Sie bewegen sich wie Maschinenkunst von selbst oder brechen, von Statisten verschoben, die Illusion des Theaters. Aber die expressionistische Anmutung wird relativiert: Ein Fernseher flimmert, und später ziehen die Videos von Moritz Hils eine neue Ebene medialer Gegenwart ein, wenn sie private Smartphone-Kurznachrichten oder Instagram-Clips übergroß für das Publikum – also öffentlich – sichtbar machen.

Romantische Liebe? – Nein, danke.

Punkt Neun wird die Maschinerie der Bürokratie angeworfen … (Foto: Monika Forster)

Jula Reindells Kostüme bewegen sich zwischen Revuefummel der dreißiger Jahre, unauffälliger Büromode der Fünfziger und Boxershorts der Gegenwart und lassen so Zuschreibungen bewusst außen vor. Auch Sonja Trebes benutzt in ihrer Inszenierung Accessoires unterschiedlicher Epochen: Aufgezeichnet wird mal mit einer altmodischen Videokamera, mal mit dem Smartphone. Die berüchtigte Szene im Bad bleibt erst überaus diskret. Bis sie sich zu einem grotesken social-media-Event steigert: Wie bei so mancher digital bekannt gemachten Teenie-Geburtstagsparty locken Tweets allerlei Schaulustige an, die in bizarr überzogener Nacktheit das Bad füllen. Authentizität und Camouflage: Das Thema spiegelt sich im Kostüm. Einzig wirklich Nackter ist Tobias Glagau, der Laura, der kompromittierten Ehefrau im Bad, die Wanne streitig macht.

Wir nehmen heute wohl eher amüsiert wahr, was die Zuschauer von 1929 geschockt haben muss: Die Vorstellung einer romantischen Liebe wird gnadenlos dekonstruiert. Beklemmender ist, dass Emotion bedeutungslos ist, mit Menschen pragmatisch, geschäftsmäßig aus der Sicht des nur noch auf sich bezogenen Vorteils umgegangen wird. Laura und Eduard, frisch verheiratet, verlieren ihre gegenseitige Attraktion schon im ersten Krach; Herr und Frau M., zunächst lustvolle Voyeure der lautstarken Auseinandersetzung, zerstreiten sich ebenso flugs und keifen mit denselben Schimpfworten wie das junge Paar vorher aufeinander ein. Jetzt geht es nur noch darum, die Scheidung möglichst unkompliziert hinter sich zu bringen. Für den Scheidungsgrund sorgt ein eingekaufter Dienstleister, der schöne Herr Hermann – und nur zu diesem Zwecke liegt Laura im Bad.

Zu dumm, dass sich Gefühle nicht ausschalten lassen – doch Hindemith lässt kunstvoll in der Schwebe, ob Hermanns Liebesbeteuerungen echt sind oder zum Geschäft gehören. Inzwischen hat jedoch der Scheidungsskandal, medial befeuert, Fahrt aufgenommen und sich selbständig gemacht: Die Freiheit, ihre Beziehung zu regeln, haben Laura und Eduard verloren. Die Öffentlichkeit fordert die Fortdauer des Scheidungsdramas. Am Schluss flimmern nur noch Schlagzeilen über die Bühne.

Vereinnahmte Menschen

Sonja Trebes erzählt mit einigem Geschick, was sich tagtäglich an medial präsenten prominenten Paaren – Amber Heard und Johnny Depp lassen grüßen – durchexerzieren lässt. Sie zeigt, wie die Menschen selbst Privates in die Kanäle des Öffentlichen gießen, wie sie aber auch vereinnahmt, entmündigt und funktionalisiert werden. Sie mutieren zu einer unter anderen sinnlosen Headlines. „Ihr seid keine Menschen mehr, ihr seid das Neueste vom Tage“, heißt es im Libretto. Wahr oder vorgetäuscht, echt oder falsch, authentisch oder gekünstelt? Hindemith hebt lustig und lustvoll die Orientierung auf, und die nur manchmal etwas schüchtern zupackende Gelsenkirchener Inszenierung folgt ihm mit Vergnügen.

Schlagworte und Schlagzeilen bleiben: „Ihr seid keine Menschen mehr, ihr seid das Neueste vom Tage“, heißt es in Paul Hindemiths Oper. (Foto: Monika Forster)

Mit Spaß am satirischen Überschwang sind auch die Darsteller am Werk. Eleonore Marguerre darf ihren wohlklingenden Sopran an das saftige Pathos einer Tristan-Parodie verschwenden und die Vorzüge moderner Warmwasserversorgung preisen. Ihr Ehemann Eduard (Piotr Prochera) strengt sich an, Paragraphen zu zitieren und sich vibratosatt aufzuregen, weil er lieber einen Scheidungsgrund ohne Eifersucht gehabt hätte. Denn der „schöne Herr Hermann“ – natürlich ein Tenor (Martin Homrich) – gleitet bei seiner Dienstleistung, die Scheidung zu befördern, ins Private ab und gesteht seiner Mandantin „Liebe“. Das empört wiederum die frisch geschiedene Frau M.: Almuth Herbst sieht sich um ihre Hoffnungen betrogen und macht ihrem neuen Liebhaber in herrlich schrillem Outfit eine Szene. Adam Temple-Smith gibt sein Bestes, damit Herr M. im Scheidungs- und Versöhnungskarussell mithalten kann.

Der Chor ist von Alexander Eberle bestens präpariert, um Tippfräulein und Bürokraten darzustellen, deren vokale Mechanik auf die Sekunde genau Punkt neun Uhr in Gang gesetzt wird. Einen großen Tag hat die Statisterie des Musiktheaters im Revier: Sie kann sich, unterstützt von Andreas Langschs Choreografie, im Mob der Scheidungsshow-Zuschauer richtig austoben. Giuliano Betta hält die Neue Philharmonie Westfalen zu präziser Rhythmik an, die von einer Uraufführungs-Kritik gegeißelten „stechendsten und stachlichsten Staccati“ pieksen in Bettas verbindlicher Lesart die Ohren nicht gar zu schmerzhaft, die parodierte Wagner-Harmonik ist süffig ausgekostet und vom Piccolo über die Harfe und die damaligen „Mode“-Instrumente Banjo und Saxophon bis in die Bassregionen hinein perlen und purzeln die Soli behend und klangschön durch die rhythmischen Lücken der Partitur. Ein Abend, den man nicht verpassen sollte.

Weitere Vorstellungen: 14., 21., 29. Mai; 10., 25. Juni 2022. Info und Karten: https://musiktheater-im-revier.de/de/performance/2021-22/neues-vom-tage




Fall ohne Fallhöhe in Gelsenkirchen: Gabriele Rech verpasst „Madama Butterfly“ ein neues Ende

Hochzeits-Show für den Fremden im ersten Akt von Puccinis „Madama Butterfly“ in Gelsenkirchen. (Foto: Björn Hickmann)

Irgendwann musste es so kommen: Am Ende von Giacomo Puccinis „japanischer Tragödie“ richtet Madama Butterfly den Dolch nicht gegen sich selbst, sondern sticht den hereinstürzenden Pinkerton ab. Damit macht Regisseurin Gabriele Rech das Opfer zur Täterin, nimmt ihr die Fallhöhe.

Tatsächlich ein „Schritt in Richtung Unabhängigkeit“, wie das Programmheft der neuesten Produktion des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier meint? Eher eine jener aufgesetzten Ideen, deren hervorstechender Wert die Neuheit ist.

Der Reihe nach. Dirk Beckers Bühne signalisiert von Anfang an: Hier wird „Japan“ für Touristen mit speziellen Interessen inszeniert. Papierwände und Kirschblüten als Deko, ein Podium, mit silbernem Glitter verhängt. Grotesk auf eine Wand vergrößert, gehört auch Katsushika Hokusais zum Kitsch verkommene „Große Welle von Kanagawa“ zum Inventar. Japanerinnen in bunten Folklore-Kostümen (Renée Listerdahl) trippeln herein. Ein paar Damen hängen an einer reichlich mit Flaschen ausgestatteten Bar ab. Der passend geschmeidig singende Goro (Tobias Glagau) vermittelt nicht nur Quartier, wird mit dem vergnügungswilligen B.F. Pinkerton schnell handelseinig. Immer wieder wechselt Geld die Hände.

Die Kolleginnen verfolgen interessiert die Show der Madama Butterfly. Die „Verwandten“ der arrangierten Hochzeit können ihr Kichern kaum verbergen. Und Michael Heine wirft sich als wütender Onkel Bonze mächtig ins Zeug. Wer für einen kurzen Moment glaubt, jetzt werde es ernst und die Galerie über der Szene repräsentiere eine Art inneres Gewissen der Cio-Cio-San, verliert diese Illusion schnell. Die „Bekehrung“ Butterflys zur Religion des Amerikaners gehört ebenso zum Spektakel wie das mit Gelächter verkündete Lebensalter von 15 Jahren. Zum Höhepunkt: Liebesduett mit falschen Papierampeln und Thomas Ratzingers Stimmungslicht.

Die tiefe Liebe an der Bar? In Puccinis „Madama Butterfly“ am Musiktheater im Revier bleiben Fragen offen. Ilia Papandreou (Cio-Cio-San) und Carlos Cardoso (Pinkerton). (Foto: Björn Hickmann)

Als die Show im zweiten Akt zu Ende ist, das Papier zerfetzt, die Bar geleert, stellt sich die Frage: Warum hängt „Madama Butterfly“ noch in diesem Ambiente herum, angetan mit der abgeschabten Uniformjacke ihres in die USA entschwundenen „Gatten“? Wie ist es möglich, dass ein professionelles Showgirl sich mit Haut und Haaren an einen Kunden verliert und seit fast drei Jahren auf die Rückkehr des Marineleutnants wartet? Woher ein solches fundamentales Missverständnis?

Calixto Bieito hat einst an der Komischen Oper – die Musik Puccinis bewusst missverstehend – Butterflys Strategie von Anfang bis Ende ausinszeniert: Ziel war es, mit einer Green Card rauszukommen aus ihren Milieu. Was Gabriele Rechs „Butterfly“ bewegt, aus Sehnsucht an der Flasche zu hängen, erschließt sich nicht. Und wenn sich im Duett „Bimba, dagli occhi pieni di malia“ der psychologische Schalter in Richtung schwärmerisch-radikaler Liebe umgelegt haben sollte, bleibt die Inszenierung diesen Moment schuldig.

Puccinis Oper über eine existenzielle Tragödie ließe sich wohl auch als soziales Drama erzählen, wäre da nicht die Perspektive des Komponisten, der alle Figuren auf Cio-Cio-San als Zentrum ausgerichtet hat. Rech entwertet die innere Katastrophe der Butterfly. Pinkertons Handeln erscheint in diesem Kontext durchaus verständlich und konsequent pragmatisch, wenn er mit der eingekauften Braut von früher nichts mehr zu tun haben will und bei seiner Rückkehr ein paar große Scheine als Kompensation hinterlässt. Er ist Geschäftspartner in einem Sex-Deal, nicht der gedankenlose Chauvi, der ein gewaltiges Missverständnis auslöst. Dass Butterfly am Ende zusticht, statt den Ehrenkodex ihrer alten Kultur im Suizid zu realisieren, ließe sich in der Tat als Chiffre für eine Befreiungstat lesen. Aber dazu müssten die Signale in der Inszenierung anders gesetzt werden.

Giuliano Betta am Pult der Neuen Philharmonie Westfalen unterstützt im ersten Akt die Atmosphäre der Vorspiegelung, indem er Puccinis Musik so unemotional wie möglich ablaufen lässt: kantig, bisweilen laut, mit wenig Raffinesse in Artikulation und Phrasierung, aber mit Sinn für Details, die das Orchester klarsichtig ausmusiziert. Später findet Betta das organische Pulsieren von Puccinis Metrum; die Lautstärke könnte jedoch subtiler geregelt werden. Den Solisten und dem trefflich agierenden Chor von Alexander Eberle wäre damit geholfen.

Ilia Papandreou hat als Cio-Cio-San den ironischen Tonfall des ersten Auftritts ebenso verinnerlicht wie die weiten Kantilenen ihrer sehrenden Sehnsucht. Wenn die Töne auf dem Atem ruhen, erschafft sie magische Momente intensiven Gesangs. Carlos Cardoso als Gast vom Aalto-Theater Essen bringt für den Pinkerton keinen warm strömenden, sondern einen wie Kristall strahlenden Tenor mit, besingt „America forever“ mit einiger Anstrengung und gestaltet „Addio fiorito asil“ eher kühl als – je nach Lesart – wehmütig oder larmoyant gefärbt. Butterflys Dienerin Suzuki bleibt in dieser Inszenierung eine Randfigur, mit ehrwürdigen Reifespuren gesungen von Noriko Ogawa-Yatake, die vor mehr als 20 Jahren, ebenfalls in einer Inszenierung von Gabriele Rech am Musiktheater im Revier, die Titelpartie verkörpert hatte. Zur Blässe verurteilt bleibt auch der Sharpless von Petro Ostapenko.

Könnte doch sein, dass  die unbändige kreative Energie künftiger Butterfly-Regieführenden zu noch originelleren Lösungen führt: Vielleicht ersticht Suzuki demnächst die abtrünnige Butterfly, oder gleich Pinkerton mit dazu? Könnte nicht Sharpless die beiden Frauen erschießen und über ihren Leichen die Hände Pinkertons schütteln? Oder werten wir mal die Randfigur der Kate Pinkerton auf (Scarlett Pulwey hätte sicher nichts dagegen gehabt) und lassen sie ihren unmöglichen Ehemann abknallen? Auf, auf ins Terroir der Deutungen, die gute alte Oper ist noch lange nicht am Ende!

Weitere Vorstellungen: 20., 22., 28. Mai, 18. Juni 2022. Info und Karten: Tel.: 0209/4097-200, www.musiktheater-im-revier.de




Faszination der Farbe Grau: Bottrop zeigt Werke des US-Malers James Howell

James Howell, 48.17 bis 73.20 02/16/02, 2002, Acryl auf Leinwand, sechsteilig, 168 × 168 cm, Serie 10© James Howell Foundation / Courtesy Bartha Contemporary, London (Foto: Mareike Tocha, Köln)

Das Josef Albers Museum Quadrat Bottrop zeigt eine Ausstellung mit Werken des Malers James Howell (1935-2014).

Das Museum will die Arbeiten in den Kontext der Bottroper Albers-Sammlung stellen, da Howell, so die Pressemitteilung, wie der 1888 in Bottrop geborene und 1976 in New Haven (Connecticut) gestorbene Albers „die Grenzen von Form und Farbe“ auslotete, um zu einem „erfüllten Ausdruck des Bildes zu gelangen“. Die Ausstellung unter dem Titel „Resolution and Independence“ entstand in Zusammenarbeit mit der James Howell Foundation und ist bis 10. Juli 2022 zu sehen.

James Howell wurde bekannt durch Bilder, in denen er den Übergang von Licht zu Schatten mit mathematischer Präzision konstruierte und dennoch den Eindruck von selbstverständlicher Leichtigkeit zu erzeugen wusste. Zu seinen Schlüsselwerken gehört „Series 10“ (1996). In den Bildern dieser Reihe verschattet sich die Farbe Grau von oben nach unten zunehmend in unmerklichen Schritten. Ein gleichmäßig weicher Farbverlauf lässt die Bilder leicht und ungreifbar erscheinen. „Grau verkörpert für mich Zeitverläufe“, erklärte Howell, „es ist mysteriös … und ich mag seine Weichheit; es ist auch Einfachheit und Raum.“

James Howell, 48.17 08/30/00, 2000, Acryl auf Leinwand, 102 × 102 cm, Serie 10 © James Howell Unifikation / Courtesy Bartha Contemporary, London (Foto: Mareike Tocha, Köln)

Der 1935 in Kansas City geborene Maler interessierte sich schon als Kind für Malerei, erwarb bereits mit 18 Jahren eine Pilotenlizenz und studierte Englische Literatur und Architektur in Stanford. Nach seinen Abschlüssen arbeitete Howell als Architekt in Seattle und Bainbridge Island. Ab 1962 widmete sich der Autodidakt auf den Feldern Malerei und Zeichnen ausschließlich der Kunst.

Unter dem Einfluss von Fairfield Porter (1907-1975), der ihn zur Acrylmalerei ermutigte, arbeitete Howell zunehmend abstrakt. Von seinem Studio auf San Juan Island (Washington) aus konnte er in der Natur die fließenden Veränderungen von Wasser und Licht beobachten, die er in reduzierter Farben- und Formensprache in seinen Bildern reflektiert. 1992 ging Howell nach New York, wo er 2014 mit 78 Jahren starb. Seinen künstlerischen Durchbruch erfuhr Howell erst in den neunziger Jahren; in Deutschland waren seine Bilder zuerst 1997/98 auf Ausstellungen in Köln und Düsseldorf zu sehen.

http://quadrat.bottrop.de




„Wenn List das Weib als Waffe schwingt“: Ermanno Wolf-Ferraris „Vier Grobiane“ haben keine Chance

Feinsinnig, stellenweise aber auch turbulent: Ermanno Wolf-Ferraris Komödie „Die vier Grobiane“ an der Folkwang Hochschule in Essen-Werden. (Foto: Gustav Glas)

Sie haben keine Chance. Sie mögen noch so vehement ihre Allmachts- und Gewaltfantasien ausmalen, sie mögen ihre Frauenverachtung noch so lautstark bekunden. Gegen weibliche Solidarität kann die Kumpanei der vier alten Machos nichts ausrichten.

Ihre larmoyante Besingung früherer besserer Zustände ist vergeblich. In Ermanno Wolf-Ferraris Buffa-Spätblüte „Die vier Grobiane“ setzen sich die Frauen mit ihrem humanen Anliegen durch. Immerhin geht es um Liebe und Selbstbestimmung: Die jungen Leute, die nach der Vorstellung der Patriarchen aneinander verschachert werden sollen, ohne sich je vor der Hochzeit gesehen zu haben, bekommen dank vereinter Frauenpower wenigstens eine Chance.

Das war mutig für das ausgehende 18. Jahrhundert am Vorabend der französischen Revolution, als Carlo Goldoni seine Komödien schrieb, um schlechte Sitten lächerlich zu machen. Das war auch noch mutig, als Wolf-Ferrari auf den Stoff zurückgriff, um 1906 der wilhelminischen Gesellschaft mit leichter Hand einen Spiegel vorzuhalten. Denn so harmlos die Konversation daherkommt, so viele Rückzieher auf dem Weg einer Emanzipation auch zugestanden werden: Der Stoff hat’s in sich. Die vier unmanierlichen reichen Herren, die da konspirieren, haben mit gierigen venezianischen Handelsherren ebenso viel zu tun wie mit dem saturierten Untertan der Vorkriegszeit. Und wer will, schafft problemlos den durch Heiterkeit erleichterten Transfer in den Sexismus unserer Tage.

An der Folkwang Universität der Künste in Essen-Werden, wo Wolf-Ferraris einst erfolgreiche, seit ein paar Jahrzehnten aber weitgehend vergessene Petitesse wieder einmal aufgeführt wird, belässt Regisseur Georg Rootering das Stück diesseits einer zupackenden Deutung. Ein Spielpodium, ein paar Venedig-Dias für den Hintergrund, fertig ist die Bühne. Alina Fischers Kostüme deuten die Nachkriegszeit an, als die Jugend sich anschickte, mit Rock’n‘Roll und Doo Wop aus ihren biederen Elternhäusern zu fliehen.

Rootering meidet kalauernd überzeichnete Komik und führt die Figuren mit leichter Hand, kann aber den Studenten auf der Bühne auch nur so viel komödiantische Grazie entlocken, wie sie selbst zu geben bereit sind. Und da gibt es, ebenso wie bei den Stimmen, merkliche Unterschiede. Komödie ist zudem ein anspruchsvolles Genre, das selbst erfahrenen Profis alles abfordert. Am schwersten tun sich die jungen Männer, die anachronistisch verstaubte Väter darstellen sollen; der tochterverhökernde Lunardo von John Lim gelingt da noch am überzeugendsten.

Bogil Kim als Filipeto. (Foto: Gustav Glas)

Bogil Kim wird als Typ vorteilhaft eingesetzt, um den verschüchterten Kaufmannsjungen Filipeto zu charakterisieren, der nur dank der Durchsetzungskraft seiner Unterstützerinnen das Mädchen zu Gesicht bekommt, das er heiraten muss. In seiner Arie „Lucieta xe un bel nome“ (gesungen wird auf Deutsch, wie bei der Münchner Uraufführung 1906), einem kleinen Juwel der Buffo-Oper, zeigt Kim einen klangfeinen, noch nicht ganz sicher positionierten, aber weitgehend entspannten Tenor.

Auch bei den Damen gelingt es nur in Ansätzen, die unterschiedlichen Typen zu charakterisieren. Jeanne Jansen fehlt weder die Süße für das naive Töchterlein noch die Leichtigkeit für ihre aparten Klagen über die Langeweile; lediglich in der Höhe wird der Ton eng und löst sich vom Körper. Kejti Karaj umkleidet ihre subversive Zähigkeit mit einem wohllautenden Mezzo, sollte sich aber in der Tonproduktion nicht so sehr auf das Vibrato verlassen. Tante Marina (Natalija Radosavljevic) verbirgt hinter reizenden Ariosi, dass sie durchaus willens wäre, die Krallen auszufahren, würde sie sich nur trauen.

Mit dem Mumm zu Widerstand hat Jiajia Zhang als Felice kein Problem: Galant, aber unverfroren und knallhart gibt sie den Männern Paroli und lässt deren autoritätsheischendes Gehabe zielstrebig verpuffen. Die Erkenntnis kommt spät: „Es kann kein Mann sich wehren, wenn List das Weib als Waffe schwingt“. In der Banja ringen sich die Herren der Schöpfung zu der bitteren, vom Fagott witzig-grimmig kommentierten Erkenntnis durch, dass es „ohne Weiber“ eben nicht geht – eine Erkenntnis, die ein Jahrzehnt später Emmerich Kálmán in seiner „Csárdásfürstin“ zum Schlager ausgebaut hat.

Wolf-Ferrari reiht im Orchester federleichte Passagen und blitzende Juwelen im Detail aneinander, wechselt graziös vom Konversationston ins Arioso, lässt melodische Schmetterlinge für ein paar dutzend Takte auf den Blüten eines delikaten Terzetts, Quartetts oder Quintetts landen und gleich darauf in entzückenden instrumentalen Details weiterflattern. Diese Kunst der leichtfüßigen Grazie, der eleganten Artikulation findet ihren szenischen Widerhall in den Choreografien von Victoria Wohlleber: Drei Harlekine (Sandro Haehnel, Biran Sariyer, Natalia Stellmach) huschen immer wieder über die Bühne, verharren einmal wie ein Möbelstück auf allen Vieren, umtänzeln ein anderes Mal die Darsteller oder eine augenzwinkernd am Rand des Podiums postierte Statuette des Michelangelo-David aus Florenz.

Xaver Poncette, der seit 1994 an der Folkwang Hochschule unterrichtet und sich Ende Juli in den Ruhestand verabschiedet, hat dem Orchester mit Erfolg vermittelt, wie die Musik Wolf-Ferraris zu gestalten ist: mit Feinsinn und Geschmack; ein Soufflé, kein üppiger Panettone.

Noch eine Aufführung am Samstag, 23. April, 19.30 Uhr, in der Neuen Aula der Folkwang Hochschule in Essen-Werden. Info: https://www.folkwang-uni.de/home/hochschule/veranstaltungen/veranstaltungen-des-laufenden-monats/veranstaltung-detail/11836-die-vier-grobiane/




Gezähmte Dämonen: Sinfoniekonzert der Duisburger Philharmoniker mit Marie Jacquot am Pult

„Romantische Dämonie“ war das neunte Philharmonische Konzert der Duisburger Philharmoniker überschrieben, doch in Robert Schumanns a-Moll-Klavierkonzert war von romantischen Anmutungen wenig zu hören.

Ab 2024 Chefdirigentin an der Königlichen Oper Kopenhagen: Marie Jacquot, Erste Kapellmeisterin an der Rheinoper. (Foto: Werner Kmetitsch)

Erst Felix Mendelssohn Bartholdys Vertonung von Goethes „Faust“-Vorstudie „Die erste Walpurgisnacht“ ließ im farbenreichen Orchester und in exzessiv ausgekosteter Chordramatik die Dämonen vorüberziehen: „Menschen-Wölf‘ und Drachen-Weiber“ rasen da in dampfendem „Höllenbrodem“ über den Himmel. Carl Maria von Webers Wolfsschlucht lässt grüßen und die effektsichere Musik Mendelssohns gibt eine Ahnung davon, wie es hätte klingen können, hätte der hochbegabte Berliner Jung‘ jemals die Chance gehabt, eine Oper zu komponieren.

Wer da das Duisburger Orchester und den erstmals nach der Pandemie-Zwangspause wieder in großer Form auftretenden Philharmonischen Chor anspornt, bringt ausgiebige Opernerfahrung mit: Marie Jacquot, seit 2019 Erste Kapellmeisterin an der Deutschen Oper am Rhein und ab 2024 Chefdirigentin der Königlichen Oper Kopenhagen, versteht es, Ensembles sicher zu führen. Klare Zeichen vom Pult helfen den breit aufgereihten Sängerinnen und Sängern in der Mercatorhalle zu größtmöglicher Präzision; Marcus Strümpe hat den Chor klangbewusst und rhythmisch hellwach vorbereitet. So überzeugen vor allem die Frauen mit kraftvoll-strahlendem Klang, während die Tenöre ein paar Stimmen mehr vertrügen, um den freien Frühlingswald mit Glanz zu besingen und das „Licht“ intensiv strahlen zu lassen, das Goethe beschwört und Mendelssohn pathetisch musikalisch herausstellt.

Das Licht als Aufklärungs-Chiffre

Um den aufklärerischen Begriff des Lichts geht es in der weltlichen Kantate, die 1832 entstand, aber erst 1843 in einer überarbeiteten Fassung vom Leipziger Gewandhaus aus ihren Weg in die musikalische Welt fand. Goethe setzt – historisch überholt – einen Konflikt zwischen Druiden und „dumpfen Pfaffenchristen“ voraus, in dem die heidnischen Priester mit einem listig entfesselten Spuk die Christen mit deren eigener Höllenangst in die Flucht schlagen. Die vom Rauch gereinigte Flamme, das Licht des alten Glaubens werden emphatisch besungen: aufklärerische Chiffren für eine vernunftgeleitete, idealistisch von Aberglauben befreite Religion.

In Mendelssohns Tonsprache hören wir die wilde Chromatik des „Hebriden“-Meeres und erahnen die Wogen von Wagners „Holländer“. Wenn sich die Druidenwächter im Wald verteilen, klingt der Chor nach Heinrich Marschners „Vampyr“-Dämonen. Und der Glanz der Lichtbeschwörung lässt an Mendelssohns „Elias“ denken. Bei Marie Jacquot schäumt das Unwetter in der Ouvertüre und die Duisburger Philharmoniker ahnen im Übergang zum Frühling in zarten Bläserstaccati und lichtem Streichersatz schon den Traum der Sommernacht. Effektvoll musizieren sie den exotischen Klang aus, mit dem Mendelssohn den Druiden mit tiefen Streichern, leisem Trommeldonner und Pianissimo-Becken eine charakteristische Sphäre schafft. Und wenn Kauz und Eule ins „Rundgeheule“ einstimmen, demonstrieren die Damen des Chores, was pointierte rhythmische Schärfe bedeutet.

Mit nur wenigen Sätzen bedacht hat Mendelssohn die Solisten: Einzig der Bariton Johannes Kammler kann als Priester seine warme, blühende Stimme länger zur Geltung bringen. Patrick Grahl pflegt als Druide und christlicher Wächter einen vornehmen Oratorienstil; Thorsten Grümbels Bass ist für seine kurze Szene eine luxuriöse Verschwendung. Anna Harveys schmeichelnde, (zu) lyrische Stimme hat für die „alte Frau aus dem Volk“ weder die tragende Tiefe noch die vorwurfsvolle Schärfe.

Schumanns Abgründe als Glitzerkram

So beeindruckend Marie Jacquot und die Ensembles also Mendelssohns dramatisches Geschick in der „Walpurgisnacht“ ausleuchten, so unterbelichtet bleibt in Schumanns Klavierkonzert, was „Romantik“ oder „Dämonie“ bedeuten könnten. Das liegt nicht an Dirigentin und Orchester, sondern an der Pianistin Mariam Batsashvili. Denn die 28jährige Georgierin, die als „große musikalische Hoffnungsträgerin“ vermarktet wird, lässt jeden persönlichen Zugang zu Schumanns facettenreicher Welt vermissen. Statt der im Werbesprech gepriesenen „aufrichtigen Emotionen“ hört man viele Flüchtigkeiten und noch mehr Pedal; statt eines gestaltenden Zugriffs kalt kristalline Monotonie.

Das viel gerühmte „kunstvolle Durchweben“ von Solo-Instrument und Orchester interessiert Batsashvili offenbar wenig. So sehr sich das Orchester um Impulse müht, das Echo bleibt matt. Da mögen die Violinen noch so weite Kantilenen phrasieren – Batsashvili antwortet ohne innere Bewegung. Da spielt die Klarinette im zweiten Satz zum Niederknieen seelenvoll – die Pianistin bleibt unbeeindruckt bei einer neutralen Korrespondenz: Geschäftsbrief statt Liebespost. Und der lebhafte dritte Satz mit seinem fulminanten Finale, das Marie Jacquot eben nicht vordergründig aufdreht, wird als prinzessinenhaftes Spielwerk durchgezogen. Schumanns Abgründe als Glitzerkram – das will man wirklich nicht hören.




Das Ende der Unendlichkeit: Erinnerungen an ein Buch, das die Welt verändert hat

Im Frühsommer vor 50 Jahren lag es in den Buchhandlungen: Ein blauer Umschlag, darauf lugt der Planet Erde zwischen den beiden Hälften eines aufgebrochenen Eis hervor. „Die Grenzen des Wachstums“ lautete der Titel; die Unterzeile verhieß epochale Erkenntnisse: Ein Bericht „zur Lage der Menschheit“! Kaum einer kannte den „Club of Rome“, noch unbekannter war der als Autor genannte, damals 30jährige Dennis Meadows.

Und doch hat dieses Buch Geschichte gemacht. Zwischen März und Juni 1972 erschien es in zwölf Sprachen mit rund 12 Millionen Exemplaren. Eine „Bombe im Taschenformat“ nannte die „Zeit“ die knapp 200 Seiten, vollgepackt mit hochkomplexen Berechnungen und Tabellen.

Seine Aussage: Wenn wir so weitermachen wie bisher, ist unser Lebensmodell bis zum Jahr 2100 am Ende. Die Modellrechnung, die der Amerikaner Meadows und sein Team vorlegten, ging von fünf Tendenzen mit globaler Wirkung aus, setzte sie in Bezug zueinander und untersuchte die gegenseitigen Rückkoppelungen:

„Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht. Mit großer Wahrscheinlichkeit führt dies zu einem ziemlich raschen und nicht aufhaltbaren Absinken der Bevölkerungszahl und der industriellen Kapazität.“

Das Fazit der Studie, die das Massachusetts Institute of Technology (MIT) mit Hilfe eines neuen Großcomputers im Auftrag des „Club of Rome“ erstellte, stieß auf kontroverse Reaktionen. „Unverantwortlicher Unfug“ hieß es im amerikanischen Magazin „Newsweek“. Der „Spiegel“ ordnete sie in die damals schon verbreiteten apokalyptischen Ängste ein und kritisierte eine „Weltuntergangs-Vision aus dem Computer“. Mit entsprechender Häme wurde in den folgenden Jahrzehnten immer wieder festgestellt, wie falsch die berechneten Zahlen für die Erschöpfung bestimmter Rohstoffe gewesen seien. Der „Club of Rome“ habe – so monierten Kritiker – auch die Rolle neuer Technologien unterschätzt, die den negativen Folgen des Wachstums entgegenwirken könnten. Es gab aber auch berechtigte Kritik, vor allem an der Vernachlässigung der sozialen und gesellschaftlichen Folgen eines eingeschränkten oder „Nullwachstums“.

Das Modell der Lilie im Gartenteich

Auch wenn sich kritische Einwände in einzelnen Fragen als zutreffend herausstellten: Das Grundproblem der „Grenzen des Wachstums“ bleibt bestehen. Die Gefahr exponentiellen Wachstums ist in Meadows Modell des Lilienteichs zutreffend beschrieben: Eine Lilie in einem Gartenteich wächst jeden Tag auf die doppelte Größe. Ihr Wachstum erscheint nicht besorgniserregend, denn auch wenn sie erst die Hälfte des Teichs bedeckt, scheint es noch genug Platz zu geben. Niemand denkt daran, sie zurückzuschneiden. Aber schon am nächsten Tag wächst die Lilie wieder um das Doppelte ihrer Größe, bedeckt den ganzen Teich und erstickt jedes Leben darin.

Die grundsätzliche Feststellung der Endlichkeit aller Ressourcen wird zum Teil bis heute nicht verstanden oder verdrängt. Die Unausweichlichkeit dieser Grenzen folgt aus physikalischen Gesetzen. Der Sozialethiker Wilhelm Dreier und der Physiker Reiner Kümmel haben damals in ihrem Forschungsschwerpunkt an der Universität Würzburg „Zur Zukunft der Menschheit“ die Thesen des „Club of Rome“ mit als erste in Deutschland aufgenommen und in ihrer Studie „Zukunft durch kontrolliertes Wachstum“ 1977 durch den Blick auf soziale und Bildungsprozesse ergänzt. Auch diese Ergebnisse wurden nicht verstanden oder – vor allem in konservativen und traditionell christlichen Kreisen – abgelehnt. Der vor 100 Jahren geborene CDU-Politiker Herbert Gruhl („Ein Planet wird geplündert“, 1975) ist ein Beispiel dafür, wie wenig Resonanz das neue ökologische Bewusstsein in seiner Partei fand, die er 1978 verließ.

Aktuelle Mahnung zu globalen Problemen

„Die Grenzen des Wachstums“ waren nicht, wie ihnen unterstellt wurde, eine Vorhersage apokalyptischen Schreckens. Sie waren ein Zustandsbericht zu einer Situation, die als veränderbar und beherrschbar eingeschätzt wurde – allerdings nur unter klar definierten Voraussetzungen: Dazu zählen eine radikale Energiewende weg von fossilen Brennstoffen, ein nachhaltige Landwirtschaft, der Abbau von Ungleichheit durch faire globale Steuersysteme, um zu vermeiden, dass die Reichsten der Erde mehr als 40 Prozent des Weltvermögens besitzen. Als nötig erachtet werden ferner enorme Investitionen in Bildung, Geschlechtergleichheit, Gesundheit und Familienplanung und neue Wachstumsmodelle für ärmere Länder.

Damals beflügelte das Buch die junge ökologische Bewegung in der Bundesrepublik; heute ist es nach wie vor eine aktuelle Mahnung, denn die globalen Probleme sind akuter, als wir es uns 1972 vorstellen konnten. Für mich persönlich waren „Die Grenzen des Wachstums“ ein wirklicher Augenöffner. Mein ökologisches Interesse war bereits durch die Lektüre von Rachel Carsons „Der stumme Frühling“ geweckt worden, hatte sich aber eher auf den klassischen Natur- und Tierschutz bezogen. Jetzt erweiterte es sich zu einem umfassenden ökologisch geprägten Nachdenken über die Entwicklung unserer Welt, die theologische, philosophische und politische Dimensionen mit einschloss und zum gesellschaftlichen Engagement für einen grundlegenden Wandel führte.

 

 




Auf Entdeckungstour: Die Oper Frankfurt präsentiert in Rossinis „Bianca e Falliero“ erlesenste Gesangskultur

Gefühle brechen Mauern – oder nicht? Karoly Riszs Bühne für Rossinis „Bianca e Falliero“ in Frankfurt, hier mit Heather Phillips (Bianca) und Beth Taylor (Falliero). Foto: Barbara Aumüller

Ein gewaltiger Kontinent liegt vor uns. Einige seiner zentralen Orte sind wohlbekannt und häufig frequentiert. Andere liegen abseits, kaum jemand weiß ihre Namen.

Zwar gibt es immer wieder – und immer häufiger – Expeditionen an solche entlegenen Stellen, denen aber kaum Neugierige folgen, obwohl ihre Schönheiten gerühmt werden. So bleiben diese Orte unbekannt, das Leben braust an ihnen vorüber.

Der Kontinent, es ist ein musikalischer, heißt Gioacchino Rossini. Außerhalb seiner Metropole namens „Il Barbiere di Siviglia“ wird der Verkehr schnell weniger. Es gibt ein paar beschaulichere Vororte, aber in die vielen weißen Flecken seiner Landkarte verirren sich nur Enthusiasten und Connaisseurs. Die Oper Frankfurt hat sich als eines der großen Repertoiretheater weltweit in den letzten Jahren des kaum erforschten Geländes angenommen und in mittlerweile vier Erkundungsgängen Werke vorgestellt, die sonst vornehmlich bei spezialisierten Festivals begegnen: Nach „La gazza ladra“ 2014 kam fünf Jahre später „Otello“ und kurz vor Ausbruch und als Opfer der Pandemie 2020 „La gazzetta“ – sämtliche in ambitionierten Inszenierungen, kundig dirigiert und fast durchweg auf der Höhe heutigen Rossini-Gesangs besetzt. Jetzt folgt die (vorläufig?) letzte Trouvaille dieser Serie, das 1819 für Mailand geschriebene Melodramma „Bianca e Falliero“.

Und wie im „Otello“ – vor kurzem auch am Musiktheater im Revier zu erleben – versetzt die Musik des „ernsten“ Rossini in Staunen. Da ist nichts zu hören von der angeblich so heiter-apollinischen Tändelei eines Genießers, der ansonsten als Verfasser (sämtlich verlorener) Gourmet-Rezepte in die Geschichte eingehen sollte. Da sucht man auch vergeblich die in polemischer älterer Literatur so angeprangerten Selbstzitate und leeren Wiederholungen. Nur das Schlussrondo der Sopranistin ist aus der zwei Monate vorher in Neapel uraufgeführten und in Mailand noch unbekannten „La Donna del Lago“ übertragen, und eine kurze Bläsersequenz erinnert an die Ouvertüre zu Rossinis letzter italienischer Oper „Semiramide“. Dafür hört man aber ausgefeilte Ensembleszenen, ein von Zeitgenossen und Nachfahren vielgerühmtes Quartett und einen dramatisch verdichteten virtuosen Koloraturgesang, dem man höchsten technischen Anspruch vorwerfen könnte, nicht aber sinnleeres Gezwitscher.

Beste Traditionen des Belcanto

Frankfurt hat für die vier tragenden Rollen dieses kammerspielartigen Dramas um familiäre Gewalt, gesellschaftliches Ansehen, starre Ehrbegriffe, erschreckende Übergriffigkeit und verstörende Lieblosigkeit eine Besetzung gefunden, die man sich passender kaum vorstellen kann. Die Europa-Debütantin Heather Phillips (Bianca) und die junge Schottin Beth Taylor (Falliero) knüpfen mit glanzvollem Material und unverkrampftem Timbre an die besten Traditionen des Belcanto der Rossini-Zeit an, verbinden den Stil des Ziergesangs mit modern gedachter Expressivität, ohne die Tugenden einer ausgeglichenen Tonbildung, einer durchweg auf dem Atem getragenen Emission, eines in allen Registern gleichmäßigen Klangs und einer stupenden, unforcierten Geläufigkeit zu missachten. Sicher: Diese Art zu singen setzt nicht auf rhetorische Überwältigung, auch nicht auf kräftig aufgetragene Farben. Aber in der Finesse, im Chiaroscuro der Dynamik, in der Bedeutung des gesungenen Wortes, in der flüssigen, im richtigen Moment akzentuierten Phrasierung eröffnet sie einen Ausdruckskosmos, der sich weit über den bloßen Wohllaut erhebt. Schlicht begeisternd.

Von links: Theo Lebow (Contareno), Heather Phillips (Bianca; kniend), Beth Taylor (Falliero) und Kihwan Sim (Capellio). Foto: Barbara Aumüller

Die beiden männlichen Stimmen stehen dem kaum nach. Vor allem Theo Lebow, in seinem übersteigerten Patriarchalismus eine seelisch verkrümmte, autoritäre Vaterfigur, kann mit seinem agilen, an die Herrscherfiguren der älteren Oper erinnernden Tenor den technischen und expressiven Anforderungen Rossinis gerecht werden. Contareno, der Vater, versucht mit allen Mitteln, eine Zweckheirat seiner Tochter mit dem venezianischen Patrizier Capellio durchzusetzen und greift dabei zu allen Mitteln psychischer Gewalt, die sich in einem Feuerwerk gesanglicher Raffinessen entäußern. Lebow erfüllt sie nicht nur bravourös, sondern gibt ihnen auch das nötige expressive Gewicht und macht damit die unbändige innere Wut seines Charakters greifbar.

Capellio lässt sich auf diesen Ehe-Deal ein. Kihwan Sim gibt der Rolle ohne Solonummer ein sattes, aber nicht zu breit geführtes Bass-Fundament mit und zeigt seine Tugenden als Ensemblesänger. Sim hat den wohl schwierigsten Charakter der Oper zu gestalten, obwohl Librettist Felice Romani über die Konfliktschablone von persönlicher Neigung und übergeordneter Pflicht hinaus alle vier Protagonisten differenziert zu charakterisieren weiß. Denn Capellio ist über beide Ohren verliebt, besinnt sich aber im entscheidenden Moment der Gerichtsverhandlung gegen seinen Rivalen Falliero auf die Ehre als Richter, der übergeordnetes Recht über persönliche Gefühle zu stellen hat.

Befreit aus patriarchalen Zwängen

Contareno, der Vater, will mit der Hochzeit den alten Glanz seines Namens wieder herstellen und verfolgt dieses Ziel mit einer verbissenen Wut, die seine inneren Zwänge und Nöte ahnen lassen. Im Finale des ersten Aktes, das unverkennbar an die Konstellationen in Donizettis „Lucia di Lammermoor“ erinnert, richtet sich die Aggression gegen den heimlichen Geliebten seiner Tochter Bianca, der bei der Unterzeichnung des Ehevertrags hereinplatzt. Dieser Falliero ist zwar als Kriegsführer erfolgreich, aber mittellos und daher keine angemessene Partie.

Heather Phillips als Bianca. Foto: Barbara Aumüller

Und Bianca, die Tochter? Heather Phillips gibt ihr nicht nur leuchtend freie Sopranklänge mit, sondern zeichnet auch ihre innere Zerrissenheit nach. Denn anders als heute sind gesellschaftliche Verantwortung und familiäre Bindung noch gewichtige Argumente, wenn es um die Frage nach einem selbstbestimmten Lebensweg geht. Tilmann Köhler baut darauf seine Regie-Idee auf: Er zeigt zunächst ein behütet-verspieltes Mädchen, das Susanne Uhl in rosa Chiffon und silberne Stiefeletten kleidet. Aber die Figur verharrt nicht in der Opferhaltung einer Lucia di Lammermoor, sondern wehrt sich, auch wenn sie die Gesellschaft der Männer ins konventionelle Brautkleid nebst Schleier und grauem Blazer steckt.

Am Ende tritt Bianca als Kämpferin von heute ins Rampenlicht. Die Erkenntnis, dass es nie um sie und ihre Liebe ging, sondern immer nur um die Befriedigung des männlichen Begehrens (Falliero/Capellio) und das gesellschaftlich-materielle Nutzbarmachen (Contareno) treibt Bianca in eine trotzige Selbständigkeit, die freilich auch Isolation bedeutet. Karoly Risz hat auf die Drehbühne eine Konstruktion aus vier Viertelkreis-Segmenten gestellt, die an Jean-Paul Sartres (im Programmheft zitierte) Beschreibung Venedigs als „Labyrinth aus Schnecken“ erinnert.

Die Teile lassen sich zu Halbkeisen verbinden, die sich ineinander drehen lassen und so eine abweisende, riesige Mauer, Durchgänge oder offene Räume für Szenen mit dem distanziert kommentierenden Chor bilden können: neutrale Schauplätze, die für alle möglichen Sujets geeignet wären, und auf die Bibi Abel ziemlich überflüssige Videos von Händen, Gesichtern und Hautlandschaften projiziert, wenn die Musik den Fluss der Zeit anhält und die Personen in sich selbst einkehren. Unter Giuliano Carella pflegt das Frankfurter Orchester eher einen warmen, sanft geschmeidigen als den „typisch“ spritzig-trockenen Rossini-Klang, dem lediglich hin und wieder Attacke und rhythmische Zuspitzung gut getan hätte.

Und wieder einmal ist aus dieser beeindruckenden Rossini-Exploration der Wunsch abzuleiten, es mögen doch auch andere Opernhäuser in die unbekannten Regionen des Schaffens Rossinis vordringen. Frankfurt rüstet sich derweil für eine andere Epochen-Entdeckung: Ab 3. April steht Umberto Giordanos Verismo-Thriller „Fedora“ in einer Inszenierung von Christof Loy im Spielplan.

Weitere Vorstellungen von Rossinis „Bianca e Falliero“ am 11., 17., 19. und 26. März 2022. Info: https://oper-frankfurt.de/de/spielplan/bianca-e-falliero_2/?id_datum=2825




Mehr als Charme und Jugend: Lucas und Arthur Jussen zeigen in Essen unterschiedliche Zugänge zu Mozart

Arthur und Lucas Jussen. (Foto: Marco Borggreve)

Zwei Menschen, ein Herz und eine Seele, setzen sich an einen oder zwei Flügel und spielen, als seien sie eins. Wie durch eine geheimnisvolle Aura verbunden, gelingt ihnen vollkommene Synchronie. Alles klingt wie von einem einzigen Geist gelenkt.

In der Tat sind solche Klavier-Duos ein Phänomen, das schon zu Zeiten faszinierte, als Nannerl und Wolferl Mozart zusammen hohe und höchste Herrschaften entzückt haben.

Auch heute ist ein gewisser Sympathiebonus schon vorab gewährt, wenn zwei so smarte junge Pianisten wie Lucas und Arthur Jussen das Podium entern und sich voll sprühender Lebensfreude auf die weißen und schwarzen Tasten stürzen. Die Duo-Abende der beiden Niederländer sind Publikumsmagneten; schon als Teenies hatten sie einen prestigeträchtigen Plattenvertrag. Doch alles auf Jugend und Charme zurückzuführen, wäre höchst ungerecht: Die beiden Brüder sind ernsthafte Künstlerpersönlichkeiten, auch wenn sie in der Zugabe im Siebten Sinfoniekonzert der Essener Philharmoniker ihrem Temperament freien Lauf ließen und Mozart in eigener Bearbeitung irgendwo zwischen Gershwin und Prokofjew landen ließen.

Mozart hätte vermutlich seinen Spaß dabei gehabt und noch eins draufgesetzt. Aber er hätte wohl auch aufmerksam verfolgt, wie es seinen drei Klavierkonzerten zuvor ergangen wäre. Dass Lucas und Arthur Jussen im Konzert für zwei Klaviere und Orchester (KV 365) als ein Herz und eine Seele brillieren würden, war vorherzusehen. Die beiden geben sich bruchlos gegenseitig die Einsätze in die Hände, der eine nimmt sich für den anderen zurück, jeder hört auf den Ton des anderen: ein geistvolles, auch verspielt-übermütiges Hin und Her, geprägt von Eleganz und Noblesse.

Der Essener GMD Tomas Netopil. Foto: Hamza Saad

Der Essener GMD Tomas Netopil. (Foto: Hamza Saad)

Das Besondere dieses Abends mit dem mozartverständigen GMD Tomáš Netopil am Pult der Essener Philharmoniker war, dass sich Lucas und Arthur als Solisten in je einem Mozart-Konzert vorstellen konnten. Bei den Duos wird ja gerne vergessen, dass sie nicht unbedingt eine Symbiose voraussetzen, sondern sich eigenständige Personen zusammenfinden, die ihr Format auch als Individuen behaupten.

Ein Duo aus zwei Individuen

Und so zeigt sich, dass jeder der beiden Pianisten einen durchaus eigenen Zugang zu Mozart findet: Lucas Jussen hatte sich mit dem d-Moll-Konzert KV 466 das bekanntere und ein für seine verschatteten Stimmungen und seine romantische Expressivität berühmtes Konzert vorgenommen; Arthur, der jüngere von beiden, wählte das A-Dur-Konzert KV 414, das gerne als „heiter“ wahrgenommen wird, mit dem sich Mozart aber den Weg ins „Klavierland“ Wien und unter die Kenner der Musikmetropole bahnen wollte.

Weder Tomáš Netopil noch Lucas Jussen wollen wahrnehmen, was das 19. Jahrhundert am d-Moll-Konzert fasziniert hat: Die Nähe zur „Prager“ Sinfonie KV 504 und zum „Don Giovanni“, das Einlassen auf den „Schwermut“-Charakter der Tonart rücken sie beiseite. Netopil lässt in der Orchestereinleitung zwar die Kontraste hervortreten, wählt aber weiche Phrasierungen und einen mild versonnenen Ton, der mit dem düsteren Dräuen aus der Oper kaum etwas zu tun hat.

Lucas Jussen tastet sich in einer lichten Neutralität durch das thematische Material, das er sich erst allmählich aneignen darf, um dann in gelassener Nonchalance durch die Figurationen zu treiben, bis er sich in der Kadenz konzentriert und gestaltungsmächtig erweist. Auch der zweite Satz, die „Romance“ wird von Netopil eher leicht und lyrisch gelesen, während der Pianist die Färbungen zurückhält, um ja keinen Anflug eines „romantischen“ Tons zuzulassen. Das Orchester mit einer dominanten Flöte plustert sich gegen das Klavier zu vordringend auf: Die Balance will sich nicht recht einstellen. Allerdings gibt Netopil den Bläsern Raum, sich in ihrer Rolle zu präsentieren und das Miteinander mit Jussens brillanter „Execution“ des finalen Allegro assai auszukosten. Was bleibt, ist der Eindruck einer funkelnden, aber emotional distanzierten Ausleuchtung des Konzerts. Es klingt mehr nach kühlem französischem Rokoko als nach den jenseitigen Ahnungen E.T.A. Hoffmanns.

Beredte Gesten, vollendete Poesie

Anders Arthur Jussen im A-Dur Konzert: Er findet im ersten Satz durchaus die unbeschwerte Finesse, das „Mittelding zwischen zu schwer und zu leicht“. Er lässt das figurative Spiel – wie Mozart sagt – „angenehm in die ohren“ klingen. Aber er kennt auch die beredte Geste, den rhetorischen Charakter von Mozarts Musik, die man mit der Oper im Hinterkopf zu identifizieren weiß. Im Andante phrasiert er selbstvergessen fließend, lässt die Melodik poetisch schwingen, findet zu einer introvertierten Innenspannung, die den berückenden Schimmer der Melodik betont.

Mit dem raffiniert simplen Rondeau-Thema reißt Mozart diesen zaubrischen Schleier auseinander – und Arthur Jussen bringt die Spieluhr zum Klingeln und lässt sich leicht und hell auf die gar nicht einfache Bearbeitung der thematischen Vorgabe ein. Die Essener Philharmoniker können sich nach der Pause in zwei Sätzen aus der Ballettmusik zu „Idomeneo“ zeigen: Der harte Schlag der Pauke und die temperamentvollen Streicher sorgen für einen energischen Zugriff, den Netopil später dämpft. Aber er verdeckt in seiner eher eleganten als expressiven Lesart nicht, mit welch unendlicher Erfindungsgabe Mozart selbst dieses Genre adelt.

Die nächsten Auftritte von Lucas und Arthur Jussen in der näheren Umgebung sind am Freitag, 22. April, in Arnhem (NL) und am Sonntag, 3. Juli, beim Klavier-Festival Ruhr im Anneliese Brost Musikforum Bochum.