Wehmut und Dankbarkeit: Das Auryn Quartett verabschiedet sich mit einem Konzert in Duisburg

Das Auryn Quartett hat alles erreicht, was ein Kammermusikensemble nur erreichen kann. Nun ist nach 41 gemeinsamen Jahren Schluss.

Das Auryn Quartett. Foto: Manfred Esser

Die Vierer-Formation hat vom Wiener Musikverein über die New Yorker Carnegie Hall bis zu den Salzburger Festspielen alle großen Säle und Festivals bespielt; sie hat sich ein unglaublich breites Repertoire von Joseph Haydn bis Wolfgang Rihm erarbeitet, Werkzyklen von Beethoven bis Bartók aufgenommen und sich mit der Gesamteinspielung aller Streichquartette Joseph Haydns ein unsterbliches Denkmal gesetzt.

Vor allem spielt das Quartett seit 41 Jahren in der gleichen Besetzung und gehört damit zu den Ensembles mit der längsten Kontinuität: Die Geiger Matthias Lingenfelder und Jens Oppermann, der Bratscher Stewart Eaton und der Cellist Andreas Arndt hatten sich beim Studium an der Kölner Musikhochschule zusammengefunden und 1981 beschlossen, ein Quartett zu bilden. Bereits ein Jahr später waren sie u.a. beim ARD-Wettbewerb erfolgreich. Nach 40 Jahren sollte Schluss sein. Corona ist es zu verdanken, dass es 41 Jahre geworden sind. Aber am 27. Februar setzt das „allerletzte Abschiedskonzert“ in der Elbphilharmonie Hamburg den unverrückbaren Schlusspunkt. „Wir wollten aufhören, wenn wir noch oben sind im Niveau“, erklärt Stewart Eaton im WDR, einem Sender, dem das Auryn Quartett viel verdankt und für den es unvergessliche Aufnahmen eingespielt hat.

Zuvor jedoch, zum vorletzten Konzert, kamen die vier Musiker aus dem Rheinland – sie lebten auch rund 20 Jahre in Köln – noch einmal nach Duisburg. Hier waren sie 2013/14 „Artist in Residence“ bei den Duisburger Philharmonikern, spielten 2018 Beethoven und gemeinsam mit der Geigerin Carolin Widmann und dem Pianisten Alexander Lonquich Ernest Chaussons wundervolles Konzert für Violine, Klavier und Streichquartett.

Herzzerreißender Abgesang

Jetzt gab es in der Mercatorhalle einen bewegenden, warmherzig beklatschten Abschiedsabend mit Mozarts „Kleiner Nachtmusik“, Antonín Dvořáks Es-Dur-Streichquartett op. 51 und Franz Schuberts d-Moll-Quartett „Der Tod und das Mädchen“. Ein herzzerreißender Abgesang auf das Leben, den das Auryn Quartett mit der Zugabe in serener Milde vergoldete: Das Adagio aus dem „Lerchen-Quartett“ op. 64/5 von Joseph Haydn verströmt in seinem ruhevollen Puls und im makellosen Zusammenklang eine enthobene Ruhe, einen Kontrast zur Todesverzweiflung Schuberts, als hätte Haydn dem düsteren Tod den himmlischen Paradiesesfrieden entgegen gesetzt.

Dass dem Wiener Meister das Finale des Abends gebührt, hat seinen Grund. Das Auryn Quartett fühlte sich Haydn stets besonders verbunden. Auf die Frage in einer dem Quartett gewidmeten „Tonart“-Sendung im WDR nach dem Höhepunkt seiner Laufbahn verwies einer der Musiker auf die Gesamteinspielung aller Haydn-Quartette. „Alle 68 sind auf ihre Art ganz tolle Musik und ermöglichen so viele Entdeckungen.“

Doch die nach dem magischen Amulett aus Michael Endes „Die unendliche Geschichte“ benannte Formation gehört nicht zu der Fraktion, die ihre Klangvorstellung auf makellos lasierte Töne in perfekter Mischung aufbaut. Sicher, ein Unisono wie der Beginn der Mozart’schen „Kleinen Nachtmusik“ ist aus einem Guss. Aber durch die Fortspinnung, flott und mit Energie gegeben, windet sich die eine oder andere prägnante Nebenstimme, ist die Klangpolitur nicht schmeichelnd sanft, sondern auf die Individualität der Stimmen bedacht. Den fehlenden fünften Satz, der im Original entfernt wurde, ersetzt das Quartett mit dem Menuett KV567/3 aus den „Sechs deutschen Tänzen“. So beherzt und ungekünstelt musiziert, macht der Ohrwurm wieder richtig Spaß.

Dichter Satz, differenzierte Transparenz

Die Kunst, ineinander verwobene Stimmen in ihrer Individualität zu achten, musikalisch sinnvoll zu gewichten und dennoch den dichten Satz nicht zu zergliedern, sondern als klangliches Ganzes erleben zu lassen, führt das Auryn Quartett mit dem Es-Dur-Quartett Dvořáks vor. Wieder steht eher das Temperament als die vollendete Klangkultur im Vordergrund, wird das genaue Hinhören eingefordert. Die Anstrengung wird belohnt, weil die Transparenz nicht analytischer Selbstzweck ist, sondern einem klarsichtigen Durchdringen des Werks dient. Wolfgang Rihm hat es in einem Interview einmal so ausgedrückt: „Das Streichquartett ist eine Besetzung, die es erlaubt, aus der Homogenität heraus in die Bereiche des Heterogenen, ja des Disparaten zu gelangen.“ Treffender könnte der Ansatz des Auryn Quartetts nicht beschrieben werden.

Das „Disparate“ ist dann in radikaler Konsequenz in Schuberts „Der Tod und das Mädchen“ gefordert. Das betrifft die Klanglichkeit, deren Spektrum von den schrill-schmerzlichen Eröffnungsakkorden bis in täuschend gemütliche Ländler-Leichtigkeit reicht. Das umschreibt aber auch die Emotionalität dieses Ausnahmewerks, dessen seelische Abgründigkeit selbst in Schuberts Œuvre nicht so leicht wiederzufinden ist. Im Angesicht des Todes gibt es eben keine Kompromisse mehr.

Da insistiert die innere Unruhe des ersten Satzes mit einem selten so genau und gewichtig zu erlebenden Cello; da mischen sich aber auch, wenn sich Andreas Arndt mit seiner dunklen Farbe herausnimmt, die Klänge der Violinen und der Viola zu einer schimmernden Fläche, die jedoch nicht lockend glüht, sondern schmerzlich brennt. Der zweite Satz beginnt mit gläsern gelassenen, fast vibratolosen, allmählich intensiveren Tönen. Die Musiker verfolgen die allgegenwärtigen Melodiezitate und -bruchstücke in filigraner Transparenz und schier unendlichen Beleuchtungsnuancen. Das Scherzo spricht in seinem Grimm der Bezeichnung Hohn, es ist, kontrastiert von einem wehmütigen Trio, eine wilde Verzweiflungsjagd, die sich im Presto des Finales– trotz des Tempos genau artikuliert – noch steigert.

Das Auryn-Quartett präsentierte sich ein letztes Mal auf der Höhe seines erfahrungsgesättigten Könnens: Ein Abschied, der schwer fällt, aber in dem die Erinnerung an eine so lange Zeit außerordentlichen Musizierens die Wehmut mit Dankbarkeit mildert.




Neuer Blick auf verschwundene Werke: Mit dem Projekt „Fokus ´33“ fragt die Oper Bonn nach Mechanismen des Vergessens

Auch „Arabella“ von Richard Strauss gehört in die Reihe „Fokus ´33″ an der Oper Bonn. (Foto: Thilo Beu)

Ist das Bessere ein Feind des Guten? Das mag sein, aber was ist „das Bessere“?

Sicher ist etwa Mozarts Meisterschaft unbestreitbar und ein Werk wie „Don Giovanni“ unerreicht. Aber ist, weil Mozart auf dem Feld der Komposition in seiner Zeit unschlagbar war, Antonio Salieris beißende politische Satire – etwa in dem in Würzburg vor fast 25 Jahren leider folgenlos entdeckten „Cublai, Gran Khan dei Tartari“ – auf ihre Art nicht auch unübertreffbar? Oder Salieris nachtschwarz-depressive Sicht auf Macht in „Axur, Re d’Ormus“? Gerade unter der multiperspektivischen Betrachtungsweise geistesgeschichtlicher Zusammenhänge im 21. Jahrhundert relativiert sich die Frage nach dem „Guten“ und dem „Besseren“ schnell.

Die Oper Bonn hat ein Projekt ins Leben gerufen, das sich dieser Frage für das erste Drittel des 20. Jahrhunderts stellt, und zwar unter der Perspektive des Verschwindens, Vergessens und Verbleibens. Die Zeit zwischen dem Fin de Siècle und dem kulturellen Bruch durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten ist für die Oper ein seither wohl nicht mehr erreichter kreativer Höhepunkt. Zwischen Vollendung spätromantischer Raffinesse und Beharren im Wagnerismus (Erich Wolfgang Korngold, Eugen d’Albert, Cyrill Kistler), Verschmelzung von Tradition und behutsamen Aufbrüchen (Engelbert Humperdinck, Siegfried Wagner), Streben nach unerhörten Gestaden von Klang und Harmonik (Franz Schreker, Ferruccio Busoni) und radikalen neuen Konzepten (Arnold Schönberg, Alban Berg, Kurt Weill) öffnet sich ein beispielloses Spektrum formaler Experimente, musikalischer Ausdrucksweisen und theatraler Innovationen.

Dass davon im Repertoire der Nachkriegszeit lange nur der Monolith Richard Strauss überlebt hat, ist auf viele Ursachen zurückzuführen; die Ausschließlichkeit, mit der andere Komponisten daraus verbannt blieben, kann aber durch Qualität allein nicht erklärt werden. Das zeigte sich in den letzten 50 Jahren immer dann, wenn gelungene Produktionen ein vergessenes Werk dieser Epoche zur Diskussion stellten – von John Dews in Bielefeld begonnenem Einsatz für Franz Schreker über Peter P. Pachls hingebungsvolle Befassung mit Siegfried Wagner bis hin zur Wiederentdeckung Manfred Gurlitts in Trier oder Hans Gáls in Osnabrück.

Pioniertaten ohne Echo

Warum aber blieben solche Pioniertaten meist ohne Echo? Wie funktionieren die Mechanismen des Vergessens und Bewahrens? Mit der Reihe „Fokus ´33“ will die Oper Bonn dieser Frage nicht nur wissenschaftlichen nachgehen – das gab es schon öfter –, sondern das Rechercheprojekt ins lebendige Theater holen: Szenische Aufführungen von Werken, die nach 1933 oder ab 1945 aus den Spielplänen verschwanden oder in diesem Zeitraum entstanden und erst danach überhaupt zur Uraufführung gelangten, sind in den Spielzeiten 2021/22, 22/23 und auch darüber hinaus geplant. Gefördert wird das Projekt mit rund 1,2 Millionen Euro durch das Land NRW und das Förderprogramm „Neue Wege“.

Das ehrgeizige Unterfangen kann sich in Bonn auf eine länger anhaltende Tradition stützen, aus der zum Beispiel Aufführungen von Eugen d’Alberts „Der Golem“ (2009/10), Franz Schrekers „Irrelohe“ (2010/11), Paul Hindemiths Einakter-Triptychon (2012/13), Emil Nikolaus von Rezniceks „Holofernes“ (2015/16) oder Hermann von Waltershausens „Oberst Chabert“ (2017/18) zu nennen sind. Bei allen Werken konnte die behauptete Aktualität eingelöst werden – und wäre es einmal nicht gelungen, hätte sich auch aus dem Anachronismus, der geistigen Ferne zu unserer Gegenwart, dem Widerstand gegen den Zeitgeist ein Erkenntnisgewinn oder eine Kontrasterfahrung gewinnen lassen.

Eine Szene aus Rolf Liebermanns „Leonore 40/45″ an der Oper Bonn in der Inszenierung von Jürgen R. Weber und der Ausstattung von Hank Irwin Kittel. (Foto: Thilo Beu)

Die „Fokus ´33“-Reihe begann im Herbst 2021 mit zwei gegensätzlichen Produktionen, Richard Strauss‘ „Arabella“ von 1933 mit einem immer wieder in Kitschverdacht geratenen Stoff aus der Feder Hugo von Hofmannsthals, den man getrost als Beispiel für Verdrängung betrachten kann. Und mit Rolf Liebermanns „Leonore 40/45“, einem Skandalstück der fünfziger Jahre, das in einer bildmächtigen Regie von Jürgen R. Weber und in der mit Symbolen und Chiffren spielenden Ausstattung von Hank Irwin Kittel eine frappierende Aktualität an den Tag legte.

Weber gestaltete das „Fraternisierungsdrama“ zwischen einem deutschen Wehrmachtssoldaten und einer jungen Französin als einen Zirkus nationaler Symbole, als schräge Revue voll ironischer Anspielungen, von Beethoven und Dürer bis zur Marianne und dem gallischen Hahn. Und Dirigent Daniel Johannes Mayr gewann dem Zwölftöner Liebermann überraschend sinnliche Seiten ab. Ein treffendes Beispiel, wie aus der Ablage der Operngeschichte eine Akte hervorgeholt wird, die sich als aufschlussreich für die Gegenwart erweist.

Fränkischer Freiherr und chinesischer Dichter: Li-Tai-Pe

Ab 22. Mai 2022 wird die „Fokus“-Reihe fortgesetzt mit dem 1920 in Hamburg uraufgeführten Dreiakter „Li-Tai-Pe“ des im fränkischen Wiesentheid geborenen Freiherrn Clemens von und zu Franckenstein, einem Schüler Ludwig Thuilles, Generalintendant der Münchner Hofoper und ab 1924 bis 1934 der Bayerischen Staatsoper. Das Werk über den chinesischen Lyriker des 8. Jahrhunderts genoss bis zur Schließung der Theater 1944 ungebrochene Beliebtheit, verschwand danach jedoch völlig hinter dem Horizont der Geschichte. Regisseurin Adriana Altaras und Hermes Helfricht als Dirigent werden die Frage beantworten müssen, warum sich der Blick auf ein so nachhaltig vergessenes Werk jenseits der puren Entdeckerfreude heute wieder lohnen kann.

Zuvor schweift die Oper Bonn fast ein Jahrhundert weiter zurück: 1843 schrieb der damalige preußische Generalmusikdirektor Giacomo Meyerbeer ein deutschsprachiges Singspiel mit Szenen aus dem Leben Friedrichs II. „Ein Feldlager in Schlesien“ war in seiner originalen Fassung bisher so gut wie nicht bekannt. Die kritische Edition des Stuttgarter Mathematikers und Opernspezialisten Volker Tosta bietet nun die Grundlage, mit dem ungewöhnlichen Singspiel einen Meyerbeer jenseits seiner „grand opéra“ kennenzulernen. Die wohl erste Aufführung seit 130 Jahren ist dem Regisseur Jakob Peters-Messer anvertraut, am Pult steht Generalmusikdirektor Dirk Kaftan. Premiere ist am 13. März.

Franchetti und Schreker in der Saison 22/23

In der kommenden Spielzeit wird die „Fokus“-Reihe fortgesetzt. Eine veritable Wiederentdeckung ist die seit 1945 nicht mehr gespielte erste Oper von Alberto Franchetti, „Asrael“. Als Jude war der Sohn eines wohlhabenden Turiner Bankiers im faschistischen Italien am Ende seines Lebens gefährdet; die Nachkriegszeit verbannte ihn in die Vergessenheit. Ein Schattendasein fristet in der „Schreker-Renaissance“ der letzten Jahrzehnte – die freilich oft nur ein punktuelles Wiederaufflackern des Interesses bedeutet – die Oper „Der singende Teufel“. Nach einer aufsehenerregenden, aktualisierenden Bearbeitung von John Dew in Bielefeld ist die Originalgestalt des 1928 in Berlin uraufgeführten Werks bis heute kaum oder gar nicht mehr gespielt worden.

Doch auch jenseits dieser Reihe macht die Oper Bonn unter ihrem Generalintendanten Bernhard Helmich mit spannenden Produktionen jenseits des gängigen Repertoires auf sich aufmerksam. So mit der Uraufführung der Familienoper „Iwein Löwenritter“ von Moritz Eggert auf einen Stoff von Hartmann von Aue, von Felicitas Hoppe für ein heutiges Publikum erzählt. Und ab 10. April steht als Fortsetzung des vor acht Jahren begonnenen Zyklus‘ von Giuseppe Verdis frühen Opern der in Deutschland kaum gespielte „Ernani“ nach Victor Hugo auf dem Spielplan. Will Humburg dirigiert, die Regie führt Roland Schwab, der soeben in Essen mit Puccinis „Il Trittico“ eine so sinnlich überzeugende wie reflektiere Arbeit auf die Bühne des Aalto-Theaters gestellt hat. Es lohnt sich also, nach Bonn zu fahren!




Raum des blauen Wassers: Piero Vinciguerra schafft für Puccinis „Trittico“ in Essen eine magische Bühne

Die Bühne von Piero Vinciguerra für Giacomo Puccinis Dreiteiler „Il Trittico“ am Aalto-Theater Essen. Ein magischer Raum von Distanzierung, Verklärung und Selbstentäußerung. (Foto: Matthias Jung)

Was wäre bei Giacomo Puccini denn ein anderes Thema, das drei so unterschiedliche Opern wie in seinem „Trittico“ miteinander verbinden könnte, wenn nicht die Liebe?

So trivial die Feststellung klingt – denn fast alle Opern haben irgendetwas mit Liebe zu tun –, so grundlegend ist sie für Puccinis Experiment, drei Werke zu einem „Triptychon“ zu verbinden, die wie drei Flügel eines Kunstwerks einzeln stehen und doch zusammengehören. Aber Regisseur Roland Schwab hat in seiner dritten Inszenierung am Aalto-Theater Essen (nach Verdis „Otello“ und Leoncavallos „Pagliacci“) eine andere Antwort: der Tod.

Schwab entdeckt also, was Puccini in seiner letzten Oper „Turandot“ im schmerzlichen Scheitern letztlich bekräftigt hat. Doch schon das „Trittico“ beantwortet die Frage Friedrich Nietzsches, ob Liebe und Tod nicht Geschwister seien, in drei Versionen: dem gewaltsamen Mord, dem verklärenden Übergang und einem Satyrspiel mit dem Tod, dem Schwab durch den Suizid des Buoso zum Beginn von „Gianni Schicchi“ ein verstörendes Gewicht gibt. Aus dem Überdruss am Luxus – Buoso erschießt sich am Rand eines mondänen Pools – keimt die zerstörerische Gier nach Reichtum als Quelle materieller Völlerei. Von daher, und verbunden mit dem Blick auf die außerordentliche Qualität der Musik Puccinis, kann das „Trittico“ auf gleicher Höhe wie Verdis „Aida“ oder Wagners „Tristan und Isolde“ auf das unerschöpfliche Thema von Liebe und Tod blicken.

Die Scharniere zwischen den Werken interessieren Schwab bei seiner Neuinszenierung des „Trittico“ am Essener Aalto-Theater besonders. Am liebsten hätte er, so bekennt er im Programmheft-Interview, die drei Stücke ohne Pause aneinandergehängt, und begründet das tiefsinnig mit der Dreiteilung von Dantes „Göttlicher Komödie“: Der Beginn, „Il Tabarro“, als Abgrund der Welt, „Suor Angelica“, das ungeliebte Mittelstück, als das „Purgatorio“, den Reinigungsort. Und schließlich „Gianni Schicchi“, die rabenschwarze Komödie, als Verweis auf das Paradies. Abwegig? Sicher nicht, denn die einzige Liebe, die eine Chance auf Gelingen hat, ist die zarte, sich selbst sichere Beziehung zwischen den jungen Menschen Lauretta und Rinuccio.

Zerstiebt Hoffnung wie Seifenblasen?

Heiko Trinsinger (Gianni Schicchi), Lilian Farahani (Lauretta) in „Gianni Schicchi“. Foto: Matthias Jung.

Aber wer stärker ist, die Liebe oder der alles verbindende Tod, wird in „Gianni Schicchi“ Bild und Szene virtuos in der Schwebe gehalten. Zwar bekommt das kleine Luder Lauretta genau das, was sie will, aber hinter dem fröhlich posierenden Paar schäumen Seifenblasen auf. Und der Schelm Gianni Schicchi hält eine rote Kugel in der Hand, die während des gesamten „Trittico“ als Chiffre in der Szene präsent war. Ist es der Apfel der Eva, mit dem das Paradies unzugänglich und das Böse in der Welt wirksam wurde? Die verbotene Frucht, die den Menschen „wie Gott“ um sich selbst wissend, frei, aber auch der Mühsal unterworfen der Welt auslieferte? Und verheißt die Leuchtschrift „Addio Speranza“ nicht auch auf die vergebliche Liebesmüh‘? Die Hoffnung – addio, also „zu Gott“?

Schwab arbeitet gerne (und manchmal zu viel) mit solchen symbolischen Fingerzeigen, mit chiffrierten Hinweisen. In „Il Tabarro“ spielt ein Drehorgler einen verstimmten Walzer. Er sollte in den beiden anderen Teilen wiederkommen – stummer Repräsentant des Todes im Komödiantenkostüm und so ein Echo des „Leierkastenmannes“ Schuberts. Das Kleid in sanft abgestuften Rosa-Tönen – die Kostüme sind Gabriele Rupprechts sensible Schöpfungen – verbindet die Protagonistinnen der drei Opern, betont das Gemeinsame der Frauenfiguren, die bei Puccini von Manon bis Liu stets zu Opfern verurteilt sind.

Wesentlich getragen wird Schwabs jeden Realismus transzendierende Sicht von einem großen Wurf Piero Vinciguerras: Für diese erste komplette Realisierung des Puccini-Dreiteilers in Essen hat der international erfolgreiche italienische Bildmagier die Bühne mit einem riesigen Wasserbecken ausgefüllt. Doch was anderswo lediglich zum szenischen Aufreger taugte, erhält in Essen sinnliche fassbare Bedeutung: Das Wasser wird selbst zum symbolhaften Element von Zeit, Vergänglichkeit, Elendsstrom und Tränensee. Selbst in „Il Tabarro“, in dem der Verismo und das Sozialdrama Émile Zolas grüßen, illustriert es nicht das Ufer der Seine. Und in Verbindung mit dem meisterlich eingesetzten Licht wandelt es den Raum zur Sphäre. Hier geht es nicht mehr um Schauplätze, sondern um Seelenräume.

Das Licht schafft Verbindungen zwischen den Opern: Wenn Luigi im „Tabarro“ bitter feststellt, das Leben habe keinen Wert mehr, schimmert die Bühne in dem blauen Licht, das später Schwester Angelica umfließt, wenn sie sich vergiftet. Dieser Moment ist große Bühnenkunst: Der riesige Spiegel über der Wasserfläche senkt sich in der Hinterbühne und lässt die Zuschauer wie von oben auf die im Blau hingestreckte Angelica blicken. Der Moment des Sterbens als Selbstentäußerung, Transzendierung und Verklärung wird wie selten sinnlich fassbar. So legt Schwab Spuren aus, die sich im Lauf des Abends zu festen Banden zwischen den drei Teilen entwickeln. Puccini hätte seine helle Freude gehabt.

Sänger garantieren musikalische Qualität

Das Aalto-Theater kann mit einer Riege von Sängern aufwarten, die auch die musikalische Qualität des Abends garantieren. Bettina Ranch etwa spielt als Frugola den Frust einer derangierten Schönheit aus und streift die Spur des Naturalismus, ohne die Dichte der Szene zu durchbrechen. Als Fürstin in „Suor Angelica“ repräsentiert sie – bezeichnend mit der Chiffre des Lichts durch ihre Sonnenbrille spielend – die eiskalte Unerbittlichkeit, die empathielos auf das Erbe konzentriert schon die Gier der Nachfahren in „Gianni Schicchi“ präfiguriert. Jessica Muirhead ist ein Schatz im Ensemble des Aalto-Theaters: Die ganze Sensibilität, Verletzlichkeit und innere Qual der ins Kloster verbannten unehelichen Mutter legt sie für Schwester Angelica in ihre freie, blühende, im Piano reich schattierende Stimme.

Der Tod zerreißt das begrenzende Gespinst und öffnet den Raum: Jessica Muirhead in „Suor Angelica“. Foto: Matthias Jung.

Marie-Helen Joël hat als Äbtissin und vor allem als Zita in „Gianni Schicchi“ stimmlich sicher unterfütterte, szenisch dichte Auftritte. Auch die kleineren Rollen sind niveauvoll besetzt, etwa mit Liliana de Souza (Schwester Eiferin, La Ciesca), Giulia Montanari (Genovieffa) oder Christina Clark (Nella). Annemarie Kremer setzt als Giorgetta einen imposant-kraftvollen Sopran ein, aber den scharfen, vibratoreichen Tönen fehlt der sinnliche Schmelz einer Puccini-Stimme. Auch Lilian Farahani ist als Lauretta nicht optimal besetzt: „O mio babbino caro“, der Schlager des gesamten „Trittico“, erklingt zu leicht, zu soubrettig, und ohne fließende melodische Bögen.

Mit Heiko Trinsinger als Michele („Il Tabarro“) und als Gianni Schicchi kann sich das Aalto-Theater auf eine sichere Nummer verlassen. Er erfasst trotz eines nicht so sehr italienisch gefärbten Baritons die resignierte Trauer und den impulsiven mörderischen Ausbruch eines Mannes, der ratlos zusehen muss, wie ihm die immer noch geliebte Frau im Fließen des Schicksals entgleitet. Dem Gianni Schicchi gibt er weniger die Eleganz des gewitzten Betrügers mit, sondern eher virile Kraft, unbändige Komödiantenlust, aber auch einen Flash von Zynismus.

Sergey Polyakov (Luigi) und Annemarie Kremer (Giorgetta) im ersten Teil des Abends, „Il Tabarro“ („Der Mantel“). (Foto: Matthias Jung)

Sergey Polyakov ist ein standfester, zu kraftvollem Nachdruck fähiger Luigi, der dennoch die drückende Trostlosigkeit seiner Existenz und die leise Trauer in seiner Leidenschaft in flexiblen Tönen auszudrücken weiß. Baurzhan Anderzhanov (Il Talpa/Betto di Signa) fällt wie stets durch seine makellos geführte Stimme und den Wohllaut seines kühlen, aber schön abgerundeten Timbres auf. Zu hoffen ist, dass Christopher Hochstuhl aus dem Opernstudio NRW als Liedverkäufer künftig nicht auf ein paar Sätzchen und stumme Auftritte beschränkt bleibt. Zumal in „Gianni Schicchi“ machen die Sänger – mit Carlos Cardoso als erfrischendem Rinuccio und Uwe Eikötter als erfahrenem Gherardo – dem Begriff des „Ensembles“ alle Ehre. Opern- und Kinderchor des Aalto-Theaters unter Patrick Jaskolka bewältigen die schwierige Aufgabe, aus der Ferne und in ungünstiger Aufstellung zu singen, mit solider Sicherheit.

Im Orchester erklingt ein „moderner“ Puccini

Am Pult der Essener Philharmoniker waltet diesmal Roberto Rizzi Brignoli, Generalmusikdirektor in Santiago de Chile und häufiger Gast an Häusern wie der Mailänder Scala, Berlin, Hamburg oder Stuttgart. Er präsentiert einen „modernen“ Puccini, bedacht auf Transparenz und genaues Nachzeichnen der Komplexität von Puccinis Komposition. Das ist gerade für „Il Trittico“ ein passender Zugang. In „Il Tabarro“ betont er nach einem luftig-lockeren Beginn nicht die Qualitäten des Verismo-Reißers, sondern die diskret schattierten Töne, die lyrischen Momente, in denen sich die verletzten Seelen musikalisch äußern.

In „Suor Angelica“, die der Operntradition des 19. Jahrhunderts am nächsten liegt, hätte man sich stellenweise einen süffigeren Klang vorstellen können. Aber die Essener Philharmoniker bringen das mystische Kolorit zum Leuchten, funkeln in der differenzierten Instrumentierung in aparten Farben, spielen Lyrisches gelöst und ohne Druck. Beste Voraussetzungen für die agile Musik des „Gianni Schicchi“, in der die Moll-Klage ebenso geheuchelt klingt wie das heroische Preislied auf Florenz, und in der sich die Philharmoniker vergnügt auf punktierte Details und schräge Sprünge kaprizieren. Eine Burleske mit schaurigem Hintergrund – der Kreis ist geschlossen.

Vorstellungen am 13. Februar (mit Nachgespräch), 2., 20., 31. März, 24. April, 15. Juni 2022. Info: https://www.theater-essen.de/spielplan/2022-02/iltrittico/6384/




Eigenwilliges Informel: Neue Galerie Gladbeck würdigt Gerhard Hoehme

Mehr als 100 Jahre nach seiner Geburt rückt die Neue Galerie Gladbeck einen eigenwilligen und prägenden Künstler der Nachkriegszeit ins Blickfeld: „Relationen“ nennt sich die neue Ausstellung mit Werken von Gerhard Hoehme.

Gerhard Hoehme, Set your teeth on edge, 1981.
Acryl auf Leinwand, PE Schnüre,
178 x 174 x 25 cm.
© VG Bild-Kunst Bonn.
Foto: Kunstpalast, Horst Kohlberg, Artothek.

1920 in Greppin bei Dessau geboren und 1989 in Neuss gestorben, gehörte Hoehme zu den ersten Malern, die nach 1945 einen Neuanfang suchten. Seine Begegnungen mit den Pariser Informel-Künstlern Jean Fautrier und Jean Dubuffet –aber auch mit Persönlichkeiten wie Paul Celan und Pierre Boulez – führten ab 1952 zu seiner Hinwendung zur informellen Malerei, deren Vokabular er im Lauf der Fünfziger Jahre erweiterte und mit einer höchst subjektiven schöpferischen Kraft durchdrang. Bedeutsam wurde seine skulpturale, raumgreifende Malerei, die mit collageartigen Elementen über das Tafelbild hinausging und die er „Raumbeule“ oder „Farbpfahl“ nannte.

Hoehme kam 1952 nach einem kurzen Malereistudium auf Burg Giebichenstein in Halle an die Kunstakademie Düsseldorf, gründete gemeinsam mit Pierre Wilhelm 1957 die „Galerie 22“ und zählte zur Künstlervereinigung „Gruppe 53“ in Düsseldorf. 1959 war er Teilnehmer der documenta II in Kassel. Von 1965 bis 1984 leitete er an der Kunstakademie Düsseldorf als Professor eine Klasse für Malerei. Zu seinen Schülern gehören Sigmar Polke und Chris Reinecke.

Die Ausstellung legt einen Akzent auf das Spätwerk Hoehmes. 17 Werke stammen aus dem Bestand der Gerhard und Margarethe Hoehme-Stiftung. Unterstützt wird die Schau vom Museum Kunstpalast Düsseldorf und von der Stiftung Kulturwerk der VG Bild-Kunst.

Die Ausstellung in Gladbeck ist bis 20. März 2022 zu sehen. Die Neue Galerie Gladbeck hat mittwochs bis sonntags von 15 bis 20 Uhr unter Einhaltung der 2G-Regel geöffnet. Der Eintritt ist frei.

Info: https://www.galeriegladbeck.de/




Mit Selbstbezügen durchwebt: Frank Castorf ehrt Molière mit einem ausschweifenden Abend am Schauspiel Köln

Katharine Sehnert und Bruno Cathomas in Frank Castorfs „Molière“-Hommage am Schauspiel Köln. (Foto: Thomas Aurin)

Der schwere Mann hustet und droht sich zu übergeben. Heftig schüttelt ihn der Anfall. Die schwarzen langen Perückenhaare wirken verklebt, die Augen blutunterlaufen.

Ganz dicht hält die Kamera auf das Gesicht, zeigt den Schmerz, die Spuren des Verfalls. Es tut weh, wenn sich das Würgen laut, rauh und quälend lange aus der Kehle presst.

Frank Castorf erspart uns in seiner neuen Produktion am Schauspiel Köln nicht, dem tödlichen Martyrium des Mannes zuzusehen, dem er die fünfeinhalb Stunden im Depot 1 gewidmet hat: Jean-Baptiste Poquelin, später unter dem Namen Molière weltbekannt. Bruno Cathomas, eine Zeit lang im Ensemble Castorfs an der Volksbühne, spielt sich in diesem Moment existenziellen Grauens, aber auch der fesselnden Poesie die Seele aus dem Leib. Eine melodramatische Sterbeszene erspart Castorf sich und uns. Molière, in königlichem Hermelin mit blauem Samt, stürzt sich mit einem Beatmungsgerät in seinen alten Citroën-Kastenwagen und braust davon. Von seinem Tod wird nach Art der antiken Tragödie nur berichtet.

Castorfs Hommage gilt dem vor 400 Jahren am 14. oder 15. Januar geborenen Dramatiker, der die Komödie auf eine bis dahin kaum erreichte Höhe gehoben hat. Seine Stücke haben den Anspruch, in der Deutung der menschlichen Existenz mit der Tragödie gleichzuziehen. Es war nicht zu erwarten, dass Castorf ein Biopic auf die Bühne bringen würde – oder eine erzählende Handlung wie in Michail Bulgakows Molière-Schauspiel „Die Kabale der Scheinheiligen“, das Castorf 2016 an der Volksbühne selbst inszeniert hatte. Sondern er erfüllt die Erwartungen seiner Fans und entwirft ein riesiges Panorama von Molière-Texten, assoziativen Kommentaren, bildgewaltigen Auftritten, exzessivem Spiel. Und das alles immer wieder unterbrochen und verbunden durch die großartige Musikauswahl von William Minke.

Castorf provoziert spannungsvolle Langeweile, gelassene Dichte und atemlose Intensität. Er spielt mit Zitaten, Selbstzitaten, manchmal beiläufigen, manchmal ironischen Verweisen auf eigene Inszenierungen. Und das alles wäre nur halb so sinnlich reizvoll, gäbe es nicht die Kostüme von Adriana Braga Peretzki: showverliebt schillernde Stoffe, laszive Schnitte, betont sexuell konnotierte Weiblichkeit oder verunklartes Geschlecht. Dazu ein bisschen 17. Jahrhundert und viel, viel Erfindungsgabe.

Die Imagination ist unerschöpflich

So entsteht ein semiotischer Tsunami, gespeist aus der ausschweifenden, unerschöpflichen Einbildungskraft des Frank Castorf. Das Leben Molières selbst wird nur rudimentär thematisiert: Bei der Geburt des „bedeutenden Säuglings“ wirft sich Bruno Cathomas in voller königlicher Gewandung auf die Bühne, begleitet von einem greinenden Chor mit „Mutter“ Katharine Sehnert als Koryphäe. Der gelbe Kleinlaster spielt auf die wandernde Theatertruppe „L’illustre Théâtre“ an, das Molière mit der Schauspielerin Madeleine Béjart gegründet hatte. Davor reiht sich das Personal des Abends auf uns lässt sich erst einmal herunterputzen. Text nicht gelernt, Text vergessen, keine Textbücher: wiederkehrende Motive bei Castorf, lustvoll vorgeführt. Und Cathomas ereifert sich als Schauspieler-König mit unverkennbaren Anleihen an der Cholerik eines Theaterprinzipals. Unwillkürlich denkt man an Castorf selbst.

Zwischen lustvoller Gaukelei und poetischer Dichte: Das Ensemble des Schauspiels Köln bleibt fünfeinhalb Stunden in großer Form. (Foto: Thomas Aurin)

Der bestreitet den Hauptanteil des Abends mit Bruchstücken aus Molière-Komödien; der rote Faden in der Reihung und die Herkunft der Texte bleiben sein Geheimnis. „Der Bürger als Edelmann“ taucht auf, auch „Die gelehrten Frauen“. Andere Bausteine könnten aus „Der Geizige“ stammen. Und klingen nicht auch „Die lächerlichen Preziösen“ und „Der eingebildete Kranke“ an, nach dessen vierter Vorstellung der historische Molière, noch im Kostüm der Hauptrolle, gestorben ist?

Zitiert – nein, eindrücklich gelesen – wird auch Michail Bulgakow, so der demütigende Brief an Stalin, in dem er zuerst um eine Regieassistenz bittet und am Ende der „Sowjetmacht“ alle Verfügungsgewalt über sich einräumt. Ein von Jeanne Balibar und Justus Maier beklemmend vorgetragenes Zeitdokument. Sein Verweischarakter ist deutlich: Wie Molière vom „Sonnenkönig“ abhängig war, der ihn vor Angriffen aus Teilen des katholischen Klerus schützte, war auch Bulgakow der unberechenbaren Gunst des Sowjetdiktators ausgeliefert.

Virtuos bespieltes Panorama

So virtuos wie stets die Bühne von Aleksandar Denic – Ausstatter u.a. von Castorfs Bayreuther „Ring“ – in ihrer Breite auch bespielt wird: In den Monologen der Schauspieler, in Momenten konzentrierter Intimität schafft es Castorf nicht zuletzt dank der Lichteinfälle von Lothar Baumgarte, den Raum genau auf die Szene zuzuschneiden. Auch Denic zitiert: Den Thespiskarren mit einem kleinen Kulissentheater gab es schon in Castorfs Münchner „Don Juan“ (2018), die Zimmerchen, die sich hinter der monumentalen Fotowand mit vier zeitungslesenden Pariser Bürgern des 19. Jahrhunderts verstecken, erinnern an den „Baal“ von 2013. In einem davon spielt sich ein „Klassiker“ der Castorfschen Formensprache ab: eine Badeszene in einem raumfüllenden Zuber, mitsamt den nackten Leibern der Darsteller nur im Live-Video einsehbar und Schauplatz einer aufgedrehten Kunstdebatte, in der dann sogar der Primat der Fechtkunst eingefordert wird. Später sollte in einer halb drögen, halb komischen Molière-Szene das Ausformen der Vokale studiert werden.

Im Zentrum des Ensembles: Jeanne Balibar, hier mit Paul Basonga. (Foto: Thomas Aurin)

„Molière“ ist – mit Gast Jeanne Balibar als unverkennbares Kraftzentrum – ein Abend des Kölner Ensembles. Eine Reihe junger Darsteller, die sich immer lockerer freispielen, im Sprechen, Schreien, Deklamieren mit den Worten Emotionen hinausschleudern, mit ihren kratzenden Kehlen genauso rotzig wie die Szene, auf die ein „Arc de Triomphe“ als „Arsch mit Ohren“ gerollt wird. Und immer authentisch, sogar große Sprech-Kunst streifend: Alexander Angeletti und Paul Basonga, Justus Maier in Slip und weißen Strümpfen in großartigem Monolog, Lola Klamroth als hoch gewachsenes, blondes Pendant zu Balibar. Das junge Ensemblemitglied Kei Muramato aus Japan, zwischen Geschlechtern changierend, hat einen großen Auftritt, wenn er sich in den Butoh-Tanz versenkt und minutenlang japanisch rezitiert, während alte US-Filme über die Wirkung eines Atombombenabwurfs laufen. Das sind dann die Momente, in denen Castorf seine Assoziationsketten allzu arg strapaziert.

Ein Dämon, als Mensch verkleidet

Am Ende wird berichtet, warum das Grab des „Königs der dramatischen Kunst Frankreichs“ unauffindbar verschwunden ist, während Marek Harloff welke Blätter zusammenkehrt: Ein melancholisches Bild der Vergänglichkeit, das gleich wieder ironisch-vielsagend konterkariert wird, wenn das Ensemble als buntschillernde Schlange über die Bühne kriecht, ein Gaudiwurm oder ein chinesischer Drache. „Ich bin ein Dämon, Fleisch geworden und als Mensch verkleidet“ betitelt Castorf seinen Molière-Abend. Es ist ein in die Ich-Form gebrachtes Zitat aus einer zeitgenössischen Quelle über Molière, mit dem ihn seine kirchlichen Gegner verdammt haben.

Dabei haben sie übersehen, dass sich der als „pietätloser Libertin“ verschriene Molière mit seinem wohl berühmtesten Stück, dem „Tartuffe“, nicht gegen Glauben, Kirche oder Moral gewandt hatte, sondern gegen ihren Missbrauch durch Machtgier, falsche Frömmigkeit, religiöse Heuchelei und Gewalt im Gewand vermeintlicher Wohltat. Castorf könnte – das ist problemlos anzunehmen – den „Dämon“ genauso auf sich selbst beziehen wie auf den großen Franzosen. Denn mit seinem Kölner Abend hat er nicht allein Molière ein Denkmal gesetzt, sondern auch sich selber und seiner mit Selbstbezügen durchwebten Kunst.

Weitere Vorstellungen: 28. Januar, 4., 6.,  Februar, 5. März. Info: https://www.schauspiel.koeln/spielplan/a-z/moliere/




Wässeriger Humor-Transfer: Gilbert & Sullivans „Piraten von Penzance“ als biederer Operetten-Jux

Joslyn Rechter als Queen Elizabeth in der Wuppertaler Inszenierung von Gilbert & Sullivans „The Pirates of Penzance“. (Foto: Jens Großmann)

In der englischen Architektur gibt es seit dem 18. Jahrhundert die sogenannten follies, exzentrische, aber nutzlose Bauwerke. Sie ziehen den Blick auf sich und werfen Fragen auf, die sie nie beantworten.

Als eine solche „folly“ in musikalischer Form ließe sich auch William Schwenck Gilberts „The Pirates of Penzance“ begreifen: Literarisch perfekt gezirkelter Nonsens, kongenial in Musik gefasst von Arthur Sullivan. Eine der schimmernden Perlen des musikalischen Unterhaltungstheaters, deren Glanz auch nach 140 Jahren noch nicht ermattet ist.

Wer Gilbert & Sullivans „Piraten“ mit gesundem Menschenverstand oder gar Maßstäben dramatischer Logik auslotet, wird sich unausweichlich vermessen. So etwas gibt es im imaginären Penzance von 1879 nicht. Das Städtchen in Cornwall, damals schon direkt von London Paddington aus mit dem Zug erreichbar und entsprechend touristisch geflutet, verdankt nicht zuletzt dem ziselierten Unsinn der Operette seinen Ruf.

Was also anfangen mit einem 21jährigen Jungpiraten, der wegen seines schwerhörigen Kinderfräuleins statt zum „pilot“ (Lotse) zum „pirate“ ausgebildet wird und diesen Irrtum als „Sklave der Pflicht“ geduldig durchzieht? Was will uns ein „modellhaft moderner“ Generalmajor sagen, der sich auf nächtlichem Friedhof wegen einer Sünde gegen seine mit einem neuen Landsitz zusammen eingekauften Ahnen grämt? Und was sollen Piraten, die das hehre Prinzip pflegen, jedes Waisenkind von ihrem blutrünstigen Geschäft zu verschonen, daher beim Stichwort „orphan“ in friedliche Starre verfallen und folglich erfolglos bleiben?

Nur das Gelächter löst alle Fragen

Großes Pech, mit Pflichtgefühl getragen: Frederic (Sangmin Jeon) wird durch einen Hörfehler seines Kindermädchens Ruth (Joslyn Rechter) statt ein ehrenwerter Lotse („pilot“) ein anrüchiger Pirat. In der deutschen Version kommt er statt auf eine „Privat“-Schule in die Lehre als „Pirat“. (Foto: Jens Großmann)

Die Lösung könnte dem Vorbild der „folly“ in der Architektur entsprechen: Man nehme das Bauwerk ernst und stelle es in die Landschaft, „als ob“ es seriös gemeint sei. Nur so bietet es dem Fragenden Grund zum Anstoß und erlöst die Ratlosigkeit durch Gelächter. Bei der Wuppertaler Premiere der „Piraten von Penzance“ ist das nicht gelungen – und das liegt nicht am spezifischen englischen Humor; sondern daran, dass Regisseur Cusch Jung aus dem Material von Gilbert & Sullivan einen biederen Klamauk formt, der – wie in seinen Arbeiten an der Musikalischen Komödie Leipzig zu besichtigen – mit der deutsch-österreichischen Operette vielleicht gerade noch funktioniert, mit dem grotesk aufgezäumten Blödsinn der Briten aber ebenso wenig fertig wird wie mit der Ironie Jacques Offenbachs.

Dabei haben die Piraten auf der düster-dunstigen Bühne von Beate Zoff in ihren an die „Pirates of the Caribbean“ erinnernden Kostümen zunächst einen fulminanten Auftritt. Aber schon die dauerkreischende Töchterschar des Generalmajors gleitet ab in die Niederungen der Konfektionskomik, die sich dann – begleitet von stummen Nichtreaktionen der Zuschauer – auch in der Charakterzeichnung der Figuren durchsetzt. Ob der von seinem unbedingten Pflichtgefühl gebeutelte Piratenlehrling Frederic, der allzu trottelige Generalmajor, die kaum mehr als weinerliche Gouvernante Ruth oder der reaktionsarme Polizeisergeant mit seiner in hübschen weißen Gamaschen tanzenden Bobby-Truppe: Sie alle überwinden die komisch intendierte, aber nur harmlose Vordergründigkeit nicht.

Die Queen als rosa Übermutter der Nation

Es ist hoch anzuerkennen, wenn ein Regisseur Operette erzählen möchte, ohne sie mit gezwungener Konzept-Gewalt zu verbiegen. Aber gerade bei satirischen, mit zeitgenössischen Anspielungen operierenden Werken bedarf es einer Übersetzung. Die 1879 gesellschaftlich selbstverständlichen Voraussetzungen wären, soll der Humor gerettet werden, in treffenden aktuellen Analogien neu zu lesen. Cusch Jung ist das nur am Ende geglückt: Gilbert & Sullivan huldigen im Finale mit einer absurden Wendung der damaligen Übermutter der Nation, Queen Victoria. Sie zitieren damit den längst überholten Operntrick vom „deus ex machina“ und nehmen schlitzohrig aufs Korn, wie die Monarchie ideologisch zur Überbrückung kaum vereinbarer Gegensätze eingesetzt wurde. Die quietschrosa Elizabeth II., die Jung auftreten lässt, setzt diese Aspekte gegenwärtig und sorgt überdies mit putzigen Anspielungen für die längst fälligen Lacher. Dass die Piraten einem Einfall gelangweilter, blaublütiger Oberhaus-Mitglieder entstammen, geht allerdings im Geflöte der Bühnen-Queen (Joslyn Rechter) beinahe unter. Ein „höchst kurioses Paradox“.

So viele hübsche Mädchen auf einmal! Da werden auch hartgesottene Seeräuber schwach (Opernchor der Bühnen Wuppertal). (Foto: Jens Großmann)

Musikalisch hat der ehrgeizige Arthur Sullivan, der eigentlich lieber ein seriöser Opernkomponist geworden wäre (und auch solche Versuche hinterlassen hat), melodischen Esprit und solides Handwerk zu bieten. Er operiert vergnüglich mit rhythmischem Elan á la Auber und Offenbach, lässt die kurzen Noten mit den Silben der Wörter stolpern, was eine adäquate deutsche Übersetzung des englischen Textes ziemlich unmöglich macht, treibt das „very model of a modern major-general“ mit seinen rhythmisch ratternden Worthackschnitzeln nach der Art italienischer Plapperarien in ein aberwitziges Tempo. Bei den lyrischen Szenen mit ihrer geschmeidig-schmeichelnden Melodik denkt man an die leuchtende Transparenz eines Adolphe Adam, aber auch an Mendelssohn und an den leider vergessenen Erfolg „The Bohemian Girl“ des Iren Michael William Balfe.

Herzerweichender Belcanto und trocken gestricheltes Staccato

Johannes Witt und das Sinfonieorchester Wuppertal setzen das alles ansprechend und adrett um, finden den Ton der herzerweichenden Pseudo-Dramatik aus der Belcanto-Oper ebenso wie trocken hingestrichelte Staccato-Passagen. Warum aber ausgerechnet die Ouvertüre ein Kürzungsopfer werden musste – der schräge Piraten-Marsch wird so zur musikalischen Fußnote – und wozu man eine Bearbeitung (von William Shaw) spielt, erschließt sich nicht.

Die Solisten tun sich manchmal schwer, denn auch in der neuen deutschen Übersetzung von Inge Greiffenhagen und Bettina von Leoprechting sind die Wortsalven nicht einfacher abzufeuern als im englischen Original. Überraschend gut macht das Sangmin Jeon, der als Frederic sein naives Pflichtbewusstsein auch mit einem klaren und präsenten Tenor unterstreichen kann. Simon Stricker hat als Generalmajor eine komische Paraderolle, die er aber als bommelmütziger Trottel eher nach bieder deutscher als nach hintergründig englischer Art ausgestalten muss.

Ralitsa Ralinova ist als Mabel die stimmlich am prominentesten ausgestattete unter den Töchtern des hohen Offiziers: Während die Damen des Chores allerliebst übers Wetter schnattern, darf sie ihrem auserwählten Frederic amouröse Avancen in leuchtend lyrischen Kantilenen entgegenbringen. Sebastian Campione ist ein mit Bart wie Stimme eindrucksvoll ausgestatteter Piratenkönig, der mit Yisae Choi als Polizeisergeant keinen ernsthaften Gegenspieler hat. Oleh Lebedyev (Samuel) und Joslyn Rechter als altersdiskriminierte Ruth mit vergeblichen erotischen Erwartungen an ihren Schützling Frederic hätten in der entsprechenden Regie sicher noch einiges an Potential zuzulegen. Am Ende überwog der Eindruck, dass der Transfer von Humor aus der Musikalischen Komödie Leipzig, wo die Produktion 2016 Premiere hatte, ins Tal der Wupper so recht nicht geklappt hat. An Gilbert & Sullivans „folly“, das sei versichert, liegt`s nicht!

Weitere Vorstellungen: 6. Februar, 19. März, 29. April, 14. Mai, 12. und 25. Juni 2022. Info: https://www.oper-wuppertal.de/oper/programm/detailansicht-auffuehrung/auffuehrung/14-05-2022-die-piraten/




Die tiefe Wahrheit der Komödie: Vor 400 Jahren wurde der Dramatiker Jean-Baptiste Molière geboren

Es ist sicher nicht übertrieben, Molières „Tartuffe“ als eine der wichtigsten Komödien der Weltliteratur zu bezeichnen. Bei ihrem Erscheinen 1664 erzeugte sie einen gewaltigen Skandal. Ihr Autor wurde als Jean Baptiste Poquelin am 15. Januar vor 400 Jahren getauft*. In seiner Bedeutung als einer der großen dramatischen Autoren der Literaturgeschichte ist er William Shakespeare an die Seite zu stellen.

Jean Baptiste Molière im Jahr 1664. Stich von Charles Courtry nach einem heute verlorenen Gemälde von Michel Corneille d. J.

„Le Tartuffe“ wird bis heute häufig aufgeführt. Die Geschichte eines gerissenen Betrügers, der sich der Religion bedient, um mit vorgetäuschter Frömmigkeit und demonstrativem Glaubenseifer eine ganze Familie unter Kontrolle zu bringen, ist nach wie vor aktuell. Denn Molière beleuchtet in seinen Figuren die Mechanismen der Manipulation. Er führt die psychologischen Ursachen vor, die Menschen dazu bringen, ihre Einsichtsfähigkeit auszuschalten.

Der wohlhabende Herr Orgon und seine auf religiöse Perfektion fixierte Mutter Madame Pernelle unterwerfen alles, was sie erfahren und erleben, einem auf Tartuffe bezogenen Erklärungsmuster. Die Menschen in ihrem familiären Umfeld entlarven die Täuschung unschwer. Aber ihre Kritik führt dazu, die eigene Anschauung noch hartnäckiger zu verteidigen und sich an ihrer Wahrheit festzuklammern. Das Ende ist ein menschliches Desaster und der Bankrott der bürgerlichen Existenz. Ein Phänomen, das nur allzu bekannt wirkt. Doch in der Realität gibt es, anders als bei Molière, keinen wissenden König, dessen Eingreifen eine Katastrophe verhindern könnte.

Molières „Tartuffe“, eine bissige Abrechnung mit falscher Frömmigkeit und religiöser Heuchelei, wird im Frankreich Ludwigs XIV. als Angriff auf Glauben und Kirche missdeutet. Die Königinmutter Anna erwirkt, ganz im Sinne einer katholischen gegenreformatorischen Geheimgesellschaft, der Compagnie du Saint-Sacrement, ein Aufführungsverbot. Molière wird verdammt als ein „in Fleisch gehüllter, als Mensch verkleideter Dämon“, als „pietätloser Libertin“. Fünf Jahre kämpft er beim König, der ihm eigentlich gewogen ist, für sein Stück, bis es endlich nach der Entmachtung des alten Hofstaats 1669 mit riesigem Erfolg öffentlich in Paris aufgeführt werden kann.

Verblendung und Realitätsverlust

Dass Tartuffe erst im dritten der fünf Akte persönlich auftritt, ist mehr als ein spannungsfördernder Theaterkniff, den schon Goethe bewundert hat. Er gibt Molière den Freiraum, die Unzulänglichkeiten der Charaktere zu entwickeln, die auf ihre eigenen Gedankenkonstruktionen und Illusionen hereinfallen. Er führt dem Zuschauer schmerzlich vor, wie sich Menschen verrennen und von der Realität verabschieden.

Nicht nur in „Tartuffe“ überwindet Molière das possenhafte Unterhaltungstheater seiner Zeit. Seine Komödien haben den Anspruch, in der Deutung der menschlichen Existenz mit der Tragödie gleichzuziehen. Molière nimmt charakterliche Schwächen aufs Korn und kritisiert soziale Verhältnisse seiner Zeit. Ironie und karikierende Verzeichnung sollen die Zuschauer jedoch nicht nur lachen lassen, sondern dienen dazu, den Blick in die menschliche Seele zu vertiefen.

Als Molière 1659 mit seiner Komödie „Der verliebte Arzt“ auf Einladung seines Förderers Herzog Philippe von Orléans in Paris gastiert, gewinnt er das Wohlwollen des jungen Königs. Davor lagen für ihn fast zwei Jahrzehnte Theater in der Provinz. Molière hatte als Zwanzigjähriger darauf verzichtet, das erfolgreiche Geschäft seines Vaters, eines Tapissiers (Raumausstatters) zu übernehmen, und gemeinsam mit seiner langjährigen Gefährtin Madeleine Béjart eine Theatertruppe gegründet. Dieses Unternehmen geht nach zwei Jahren Bankrott und Molière wandert in Schuldhaft.

Komödien für den König

In den folgenden 13 Jahren lernt er das Theater von Grund auf kennen: Er leitet eine Theatertruppe, betätigt sich als Schauspieler und Autor. Mit „Die lächerlichen Preziösen“ karikiert er das exaltierte Verhalten von Pariser Mädchen, die gerne adelig und gebildet wären, und erzielt einen viel beachteten Erfolg, den er mit „Die Schule der Frauen“ fortsetzt. Wie der „Tartuffe“ ist dieses Stück über eine sich selbst bewusst werdende junge Frau und ihr Recht auf Liebe Anlass für eine heftige Kontroverse.

Für den König entwickelt Molière in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Jean-Baptiste Lully unterhaltsame Ballettkomödien, bleibt aber auch dem Genre der Charakterkomödie treu. Bis heute gespielt werden etwa „Der Geizige“, „Der Bürger als Edelmann“ oder „Der eingebildete Kranke“. Die Titelrolle dieses Stücks über naive Medizingläubigkeit und unfähige Quacksalber sollte am 17. Februar 1673 sein letzter Auftritt auf dem Theater werden: Während der Vorstellung attackiert den seit Jahren an Krankheiten laborierenden Molière ein schwerer Hustenanfall. Mit Fieber und Schüttelfrost bringt man ihn nach der Vorstellung nach Hause, wo er einen Blutsturz erleidet und stirbt. Nur auf Drängen des Königs gewährt die Kirche ihrem exkommunizierten Kritiker ein Begräbnis in aller Stille.

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* Geburtsdatum vermutlich einen Tag vor der Taufe, am 14. Januar 1622.

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Von den über 30 Stücken Molières ist in seinem Geburtsjahr an den Theatern in der Region so gut wie nichts zu finden. Lediglich die Burghofbühne Dinslaken spielt den „Tartuffe“  (Premiere war am 10.01.2020) in drei Vorstellungen in Limburg, Goch und Kamp-Lintfort.

Das umfangreiche Werk und die schillernde Persönlichkeit Molières stellt Frank Castorf ab 21. Januar 2022 ins Zentrum eines Abends im Depot 1 des Schauspiels Köln: „Ich bin ein Dämon, Fleisch geworden und als Mensch verkleidet“ ist der Titel der Produktion, zu der Aleksandar Denic die Bühne geschaffen hat. Tickets gibt es unter Tel. (0221) 221 28 400.

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Eine Stimme für die Leidenden: Seit 50 Jahren leisten die „Ärzte ohne Grenzen“ weltweit medizinische Hilfe

2010 erschütterte ein katastrophales Erdbeben Haiti. Geschätzt 100.000 Menschen starben, 200.000 waren verletzt, rund eine Million verloren ihre Wohnungen. Die Ärzte ohne Grenzen halfen wie hier im Krankenhaus Carrefour. Die Patientin im Bild hatte zwei gebrochene Beine. Auf dem Foto: Doktor Adesca aus Haiti, der Chirurg Paul McMaster und die deutsche Krankenschwester Anja Wolz. (Foto: Julie Remy/Médecins Sans Frontières/MSF)

Die Älteren erinnern sich noch an die Bilder: Große Augen schauen aus abgemagerten Gesichtern. Ausgemergelte Körper strecken dürre Ärmchen aus. Auf dem Arm verzweifelter Mütter kauern kleine Kinder, die Skeletten gleichen.

Es war 1969, als die Fotos aus Biafra die Welt aufrüttelten. Die Provinz in Nigeria hatte sich für unabhängig erklärt. Ein Krieg und eine Hungerblockade waren die Folge. Biafra ist seither ein Symbol für Hunger und Leid.

Damals beschlossen Ärztinnen und Ärzte, die mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz in Einsatz waren, nicht länger zu der humanitären Katastrophe zu schweigen. Zwei Jahre später, am 22. Dezember 1971, gründete eine Gruppe von 12 französischen Ärzten und Journalisten eine Organisation, die Menschen in Not helfen sollte und nannte sie „Médecins Sans Frontières“ – Ärzte ohne Grenzen. Aus der Initiative entstand eine Bewegung, die heute ein weltweites Netzwerk bildet. In diesem Verbund leisten rund 41.000 Menschen in mehr als 70 Ländern medizinische Nothilfe. 25 Mitgliedsverbände bilden fünf „operationale Zentren“, die Projektentscheidungen treffen, qualifiziertes Personal entsenden und die Finanzierung organisieren. Die 1993 gegründete deutsche Sektion gehört zum Zentrum Amsterdam.

„Wir wissen, dass Schweigen töten kann“

Die Gründungsversammlung der Médecins Sans Frontières in Paris 1971. Beteiligt waren Dr. Marcel Delcourt, Dr. Max Recamier, Dr. Gerard Pigeon, Dr. Bernard Kouchner, Raymond Borel, Dr. Jean Cabrol, Vladan Radoman, Dr. Jean-Michel Wild, Dr. Pascal Greletty-Bosviel, Dr. Jacques Beres, Gerard Illiouz, Phillippe Bernier, Dr. Xavier Emmanuelli. (Foto: D.R./MSF)

Die Organisation hat sich verpflichtet, unparteiisch und unabhängig zu helfen. „Die Hilfe orientiert sich allein an den Bedürfnissen der Notleidenden“, heißt es in ihren Leitsätzen. „Ärzte ohne Grenzen“ helfen Menschen ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft, politischen und religiösen Überzeugungen sowie ihres Geschlechts. Damit stehen sie oft zwischen den Fronten. Doch neutral zu handeln heißt für die „Ärzte ohne Grenzen“ nicht, stillschweigend zu helfen. Zur humanitären und medizinischen Hilfe tritt die sogenannte Témoignage (französisch für ‚Zeugnis ablegen‘).

Sie gehört zu den Satzungsaufgaben: „Wir sehen uns selbst in der Pflicht, das Bewusstsein für Notlagen zu schärfen. Wenn wir also konkret miterleben, wie Menschen extrem leiden, wenn ihnen der Zugang zu lebensrettender medizinischer Versorgung verwehrt oder systematisch behindert wird oder wir Zeugen von Gewaltakten gegen Individuen oder Bevölkerungsgruppen, von Missstände oder Menschenrechtsverletzungen werden, machen wir dies, wenn möglich, öffentlich.“ So beschreiben die „Ärzte ohne Grenzen“ ihre Rolle als Anwalt und Sprachrohr derer, die keine Stimme bekommen. „Wir sind nicht sicher, dass Reden Leben rettet. Wir wissen aber, dass Schweigen töten kann“, heißt es in der Dankesrede für den Friedensnobelpreis, mit dem die Vereinigung 1999 ausgezeichnet wurde.

Herausforderungen für die humanitäre Hilfe

Ein historisches Bild aus dem Krieg mit der Sowjetunion aus Afghanistan. (Foto: MSF)

Einige Stationen aus der Geschichte: Beim Erdbeben in Nicaragua 1972 leisteten die „Ärzte ohne Grenzen“ schnelle medizinische Soforthilfe. In Honduras richteten sie nach einem Hurrikan das erste langfristig angelegte medizinische Hilfsprojekt ein. In großen Konflikten wie den Kriegen im Libanon und in Afghanistan halfen Ärzte oft unter Einsatz ihres eigenen Lebens. So überquerten nach 1979 kleine Teams die Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan. Mit Maultieren versuchten sie, abgelegene Bergregionen zu erreichen und der Zivilbevölkerung zu helfen. In Thailand unterstützten sie Anfang der achtziger Jahre Kambodschaner, die vor dem Pol-Pot-Regime geflüchtet waren. Hunger in Äthiopien, Bürgerkrieg in Liberia, Krieg in Bosnien, Genozid in Ruanda, der verheerende Tsunami 2004 und das Erdbeben in Haiti 2010, schließlich Aids-Programme in Asien und Afrika und die Covid19-Pandemie des Jahres 2020 waren riesige Herausforderungen für die humanitäre Hilfe.

Schwester Séraphine unterzieht sich dem ersten Schritt der Dekontamination nach ihrer Runde durch die Hochrisikozone des Hospitals in Mangina in der Demokratischen Republik Kongo während eines Ebola-Ausbruchs. (Foto: Carl Theunis/MSF)

Das Preisgeld des Friedensnobelpreises nutzten die „Ärzte ohne Grenzen“, um Menschen den Zugang zu medizinischer Behandlung zu erleichtern. Ihre „Medikamentenkampagne“ tritt dafür ein, Arzneien, Tests und Impfungen erreichbar, bezahlbar, für alle geeignet und an den Orten, an denen die Patienten leben, verfügbar zu machen. Seit mehr als 30 Jahren setzt sich die Organisation auch für die Behandlung von Menschen mit seltenen tropischen Krankheiten ein. „Hunderttausende wurden behandelt, die sonst nicht überlebt hätten“, heißt es in einem zum Jubiläum erschienenen geschichtlichen Überblick.

Außerdem suchen die Ärzte nach einer Antwort auf den tödlichen Ebola-Virus. Dazu gehören Methoden, einen Ausbruch zu begrenzen und die Übertragung zu vermeiden. Migrationsströme, Flüchtlingsrettung auf See, aber auch die Folgen von Naturkatastrophen, verursacht durch Klimawandel, Ressourcenknappheit und Naturzerstörung durch den Menschen sind neue Herausforderungen für die Organisation, die sich aus Spenden finanziert – 2020 waren das weltweit 1,9 Milliarden Euro von mehr als sieben Millionen Spendern – und die in Deutschland im letzten Jahr mehr als 770.000 Spender mit 204,5 Millionen Euro unterstützten.

Weitere Informationen im Internet unter www.aerzte-ohne-grenzen.de

Ein Überblick über die Geschichte mit vielen Fotos unter 50years.msf.org/home/de




Szenisch demontiert, musikalisch erhöht: Mozarts römischer Kaiser Titus an der Rheinoper Düsseldorf

Maria Kataeva als Sesto in Mozarts „La Clemenza di Tito“ an der Rheinoper in Düsseldorf. (Foto: Bettina Stöß)

Ein Fest der noblen Töne und der durchgearbeiteten Details: Die Dirigentin Marie Jacquot hebt in luziden Klang, was Wolfgang Amadé Mozart in seine kurz vor der „Zauberflöte“ uraufgeführte Krönungsoper „La Clemenza di Tito“ an kompositorischen Kostbarkeiten eingeschrieben hat.

Trotz der Herkunft des Stoffs aus der Opera seria des Wiener Hofdichters Pietro Metastasio ist die alte Manier an vielen entscheidenden Stellen überschrieben. Äußerlich mag die Folge von Arien und Rezitativen noch an Althergebrachtes erinnern; innerlich haben es Librettist Caterino Mazzolà und Mozart mit seiner Kunst des Ensembles, aber auch mit der Aufwertung der Rolle des Orchesters gründlich hinter sich gelassen. Da ändern auch die Rezitative nichts, die vermutlich aus Zeitmangel von Mozarts Schüler Franz Xaver Süßmayr in Töne gesetzt wurden.

Die „Milde des Titus“ also. Zuletzt im Mozartjahr 2006 in Düsseldorf, diesmal unter dem so analytischen wie leidenschaftlichen Blick der jungen französischen Kapellmeisterin, die sich gerade an der Deutschen Oper am Rhein und bei einer Reihe von Gastdirigaten erfolgreich ihre Sporen verdient. Mit dem „Barbier von Sevilla“ war sie zu Beginn der Spielzeit schon mit viel Willen zu lockerer Beweglichkeit und witzig-spritziger Rossini-Verve unterwegs, ausgebremst freilich von einem nicht entsprechend alert reagierenden Orchester und einer wenig inspirierten Inszenierung von Maurice Lenhart.

Staatsaktion mit beseelten Menschen

Jetzt kommt ihr in diesem Lehrstück eines exemplarisch-idealen Regierungsstils die Regie von Michael Schulz ebenfalls nicht gerade entgegen. Aber die Düsseldorfer Symphoniker verstehen sich auf Mozart weit einfühlsamer als auf den trockenen Humor des Italieners. Und so wird der Abend in erster Linie ein musikalisches Erlebnis. Man mag sich den Kopf heiß reden über die Frage, ob das innere Pathos der Musik dem rückwärtsgewandten Auftragsstoff geschuldet ist – die böhmischen Stände als Auftraggeber wollten unbedingt einen „Titus“ haben –, oder ob Mozart nicht doch ein feines Ohr für die aus Frankreich kommende, neue musikalische Ausdruckssphäre hatte. Spannend auch zu hören, was Mozart seinen Zeitgenossen Christoph Willibald Gluck und Antonio Salieri an die Seite stellt, die beide auf ihre Weise bewegende Seelentöne trafen, ohne Mozart in seiner unendlich einfallsreich variativen musikalischen Sprache zu erreichen.

Marie Jacquot. (Foto: Werner Kmetitsch)

Marie Jacquot jedenfalls treibt das Pathos nicht auf die Spitze, entdeckt aber die Subtilität der Komposition, wie sie sich in der Ouvertüre nach der Dreiklangseröffnung und einem gekonnt gesteigerten Mannheimer Crescendo in der Verarbeitung des eigentlich simplen Themas mit seinen schreitenden, durch Pausen getrennten Achteln zeigt. Bei ihr klingen diese Momente nicht kühl poliert, sondern erfüllt mit lyrischer Wärme – denn es geht ja nicht (nur) um eine Staatsaktion oder ein Herrscherideal, sondern ebenso um beseelte Menschen. Jacquot lässt sie in sensibler Finesse und Liebe zum Detail vor unser musikalisches Ohr treten: Man hört das Fagott im Aufzugsmarsch des Kaisers, man folgt den Halbtonschritt-Sequenzen, die Titus als abgeklärten, in sich ruhenden Charakter in die Nähe Sarastros rücken. Wolfgang Esch mit seiner Bassettklarinette und Ege Banaz mit dem Bassetthorn haben den Raum, den Reiz des Instrumentalklangs wunderschön zu entfalten.

Auch die hohe Kunst der Ensembleführung wird vom Dirigentenpult aus gepflegt. Ob im Finalquintett des ersten Akts, das Friedrich Rochlitz ein „großes Meisterstück“ nannte, oder in der erregten Hektik des Terzetts „Vengo! Aspettate …“: Marie Jacquot übertreibt die Ausdrucksmittel nicht, hält Tempi und Dynamik stets ausgewogen im Zaum, ergreift aber gerade dadurch die Chance, sie mit innerem Leben und mit eleganter Expressivität zu erfüllen. Da sie die Sänger diskret und rücksichtsvoll begleitet, haben sie die Chance, sich stimmlich ohne Druck zu entfalten.

Utopische Milde contra Zynismus der Macht

Das glückt nicht durchgängig: Immer wieder setzen sie sich unter Spannung, wo die Dirigentin eigentlich locker führen will. Aber Maria Kataeva singt sich schon nach dem ersten, noch etwas gehemmten Einstand frei und gestaltet vor allem ihre Arie „Parto, parto“ und das große, zum Finale überleitende Rezitativ „Oh Dei, che smania e questa“ mit dramatischem Gespür und flexibler Beweglichkeit. Das Freundschafts-Duettino mit Annio leidet unter der Manier von Anna Harvey, Töne zu „stoßen“ statt gleichmäßig auf dem Atem zu führen; in der Arie „Tu fosti tradito“ im zweiten Akt gelingt es Harvey besser, den Ton zu fokussieren und strömen zu lassen.

Als eine mit allen kriminellen Wassern gewaschene Zynikerin der Macht hat Titus‘ Gegenspielerin Vitellia ein breites Spektrum von Affekten vokal zu bewältigen, von zupackender Aggressivität über fiebrige Erregung bis hin zu – für die Figur erstaunlichen – Äußerungen weicher Empfindung. Dem strahlkräftigen, mit funkelndem Metall angereicherten Sopran von Sarah Ferede kommen die energischen und dunklen Seiten dieses Charakters eher entgegen; gleichwohl gelingt es ihr, ihre erste Arie („Deh, se piacer mi vuoi“) differenziert zu singen.

Jussi Myllys hat die undankbare Aufgabe, mit dem Kaiser eine Figur ohne innere Entwicklung und Handlungsmacht darzustellen. Der Edelmut des Herrschers – ganz im Gegensatz zum historischen Titus Flavius Vespasianus, wie ihn der römische Historiker Sueton sicher in tendenziöser Absicht schildert – ergießt sich in Betrachtungen etwa über die Rolle der Wahrheit vor Fürstenthronen, macht aber auch den Schmerz und die Enttäuschung deutlich, über die Titus dennoch seine „clemenza“ siegen lassen will. Die trocken-unbeteiligte Farbe des Tenors von Jussi Myllys und eine introvertierte, öfter belegt wirkende Tongebung mache die Rolle nicht eben interessanter. Auch Beniamin Pop als Publio kann – anders als Lavinia Dames als anmutige Servilia – keinen nachhaltigen Eindruck hinterlassen.

Dirk Beckers Bühne zu Mozarts Oper. Foto: Bettina Stöß

Für seine Inszenierung hat der erstmals an der Rheinoper inszenierende Gelsenkirchener Generalintendant Michael Schulz genau eine Idee – und die stellt sich nach langen, umständlichen Auftritten und Abgängen in einem unspezifischen, für alle möglichen Werke recycelbaren Bühnenaufbau von Dirk Becker erst am Ende ein. Milde, Verzeihung, Menschlichkeit? Alles nur Show. Mit dieser Desavouierung von Mozarts hochgestimmtem Fürstenspiegel entlässt Schulz die Zuschauer in eine Realität, die leider allzu oft einen ähnlichen Eindruck nahelegt. Ob allerdings auf diese Weise „Macht, Güte, Milde und Weisheit als Korruption, Schmeichelei und devoter Untertanengeist“ enttarnt werden, wie Wolfgang Willaschek in einem provokanten Programmheftbeitrag meint, bleibe dahingestellt.




Vokale Spitzenklasse: Händels Oratorium „Theodora“ mit Joyce DiDonato in der Philharmonie Essen

Joyce DiDonato als Irene in Georg Friedrich Händels
„Theodora“ in der Philharmonie Essen. Foto: Sven Lorenz

Wien, Paris und am Ende Essen: Die Philharmonie war Endstation einer Fünf-Städte-Tournee von Orchester und Chor „Il Pomo d’Oro“ unter Maxim Emelyanychev und einer luxuriös besetzten Solistenriege, an ihrer Spitze Mezzosopran Joyce DiDonato. Nach dreidreiviertel Stunden erlesener Musik von Georg Friedrich Händel gab es begeisterungsfrischen Jubel.

Joyce DiDonato, die zuletzt im Juni dieses Jahres mit einem Lied- und Arienabend in Essen zu Gast war, präsentiert sich diesmal ähnlich vollendet in der Kunst, die Affekte und Subtilitäten der Vokalmusik des 18. Jahrhunderts zu gestalten. In Händels „Theodora“ geht es nicht um Koloraturenprunk und den Rausch jäher Leidenschaften. Das 1750 uraufgeführte Oratorium beschreibt das Martyrium einer standhaften jungen Frau in der diokletianischen Christenverfolgung am Ende des dritten Jahrhunderts.

Händel erfindet dazu über weite Strecken eine intime, verinnerlichte, komplex durchgearbeitete, aber allen äußeren Effekten abholde Musik. Nicht das, was seine Zeitgenossen erwartet hatten: „Theodora“ war ein krachender, für Händel schmerzlicher Misserfolg. Er zählte die Geschichte mit ihrem düsteren Ausgang – Theodora und ihr Geliebter Didymus gehen „zerstört von unglücklicher Standhaftigkeit“ ihrer Hinrichtung entgegen – zu seinen besten Werken. Heute legt der historische Abstand einen Grund nahe: Händel nähert sich bereits der „Empfindsamkeit“ der nächsten Generation, schafft also ein „modernes“ Werk, das wohl die Erwartungen seines Publikums irritiert hat. Dass Händel eine christliche Heiligengeschichte zum Sujet gewählt hat, mag dazu zusätzlich beigetragen haben.

Brutale Staatsmacht, widerlicher Wohlstand

Was war die beklagte „Standhaftigkeit“? Theodora weigert sich, die verordneten Opfer für Jupiter zu leisten, und der römische Statthalter Valens erklärt klipp und klar alle, die den Staatskult – aus welchen Motiven auch immer – nicht mittragen können, zu Feinden des Kaisers. Theodora soll an den „üblen Ort, an dem Venus ihre Hof hält“ gebracht werden, als Prostituierte, wie Valens ohne Umschweife erklärt. Und sollte sie dort nicht fügsam sein, wisse er schon ein paar der schäbigsten seiner Gardisten, die mit lüsternem Vergnügen über ihre Züchtigkeit triumphieren werden. Er droht also mit einer Massenvergewaltigung. Ein Befreiungsversuch misslingt, weil Theodora nicht bereit ist, ihren Retter Didymus an ihrer Stelle sterben zu lassen.

In den Texten der 72 Nummern hat Librettist Thomas Morell nicht nur ein bemerkenswertes Plädoyer für die Gedanken- und Glaubensfreiheit eingestreut („Sollten wir nicht den frei geborenen Geist des Menschen frei belassen?“) und Gnade, Wahrheit und Liebe als Quell jeden Glücks qualifiziert. Er lässt auch indirekt Kritik an der staatstragenden Rolle der Religion zu – der König ist gleichzeitig Oberhaupt der anglikanischen Kirche –, und er stört die Idealisierung des römischen Imperiums, das die aufgeklärten politischen und philosophischen Geister der Epoche als Vorbild für das britische Empire sahen. In „Theodora“ ist die römische Staatsmacht barbarisch und brutal. Kaum auf Gefallen bei Händels Publikum dürfte auch die Attacke auf den Wohlstand gefunden haben: Irene, Theodoras Gefährtin erklärt „prosperity“ durch das Pathos der Musik unterstrichen zur Nährmutter widerlicher Leidenschaften und übler Neigungen.

In dieser wunderbaren Arie („Bane of virtue“) gestaltet Joyce DiDonato den Gegensatz von leerer Befriedigung und erfülltem Glück allein mit der Vielfalt ihrer stimmlichen Mittel: mit feinen Differenzierungen in der Dynamik, mit Akzenten durch die Farben der Töne, mit einem Spektrum von vibratoarmer Helle bis zu einem gesättigten, vital vibrierenden Leuchten. Damit ist sie den weißgekalkten, geradegezogenen, kopfverankerten Stimmchen, die oft als vorbildhaft „barock“ gepriesen werden, grundsätzlich überlegen. Ihre ausgereifte, den beschriebenen Idealen des Belcanto nahekommende Stimme verströmt jene kunstvolle Natürlichkeit, die mit leichter, aber substanzvoller Tonproduktion und unverkrampfter Emission vergessen lässt, wie viel Disziplin und Mühe dazu gehört, ein solches Niveau zu erreichen und zu halten.

Große Kunst, kontrolliert und reflektiert

Aber der Lohn ist süß: So kann DiDonato in der Arie „As with rosy steps the morn“ das rosige Morgenrot als Widerschein ewigen Lichtes in allen Piano-Schattierungen aufgehen lassen und mit einer schwebend-ätherischen Kadenz abschließen. Große Kunst, so kontrolliert und reflektiert gesungen wie aus dem inneren Impuls des Gedankens heraus gestaltet. Auch das Air „Defend her, Heav’n“, eigentlich ein Gebet um Beistand für die angefochtene Theodora, kleidet Joyce DiDonato in verhaltenen Klang, intensiviert mit diskretem Vibrato. In solchen Momenten zeigt auch der Dirigent Maxim Emelyanychev, wie er die Sänger atmend trägt statt sie in Tempo oder Metrum zu dominieren.

Debüt an der Met und bald Premiere an der Scala: Lisette Oropesa als Theodora in der Philharmonie Essen. Foto: Sven Lorenz

In der Titelrolle von Händels vorletztem Oratorium ist die in New Orleans geborene Lisette Oropesa zu hören. Sie debütierte bereits mit 22 Jahren an der Metropolitan Opera New York als Susanna in Mozarts „Nozze di Figaro“ und spannte ihre Karriere über die Scala (Verdis „I Masnadieri und jetzt Bellinis „I Capuleti e i Montecchi“) und Paris (Marguerite in Meyerbeers „Les Huguenots“) bis Covent Garden (Donizettis „Lucia di Lammermoor“). Im März/April 2022 soll sie – nach einem Zarzuela-Programm in Madrid – Konstanze und Lucia an der Wiener Staatsoper singen.

Oropesa hat eine dunkel getönte, sinnlich-füllige Sopranstimme, die man eher mit dem Belcanto des 19. Jahrhunderts als mit Händel verbindet. Aber schon ihre Auftrittsarie, in der Theodora der „flatt’ring world“ zugunsten von „Gottes Verheißung“ Adieu sagt, offenbart eine vorzügliche Beherrschung des Tons und ein schmelzend flutendes Timbre, das weniger der präzisen Artikulation von Händels Musik entgegenkommt als ihren sinnlichen Qualitäten. In der flehentlichen Bitte, die „Angels, ever bright and fair“ mögen sie vor der Schmach der Prostitution bewahren, entfalten sich die Vorzüge dieses Singens frei und faszinierend. Die edle, beherrschte Tongebung Oropesas lässt allerdings nicht vergessen, dass ihre auf Vokale konzentrierte Artikulation dem Text nicht entgegenkommt.

Glanzvoller Ton, unverkrampfte Höhe

Mit Michael Spyres steht als Septimius ein ausgewiesener Spezialist für die Epochenwende vom 18. zum 19. Jahrhundert auf dem Podium, der mit Rossinis „Otello“ (derzeit in Gelsenkirchen zu erleben) beim Festival „Rossini in Wildbad“ auf sich aufmerksam machte und seither neben dem Belcanto auch das französische Repertoire für sich erschlossen hat. Er agiert stimmlich nicht so geschmeidig wie Joyce DiDonato, hat aber in der sicher-unverkrampften Höhe, in einer glanzvollen Mittellage und in unerschütterlicher Geläufigkeit alle Voraussetzungen, um Händels Musik souverän zu gestalten.

Solches gelingt auch dem Bariton John Chest als mitleidlos zynischem Römer, auch wenn er eher eine robust feste Tonbildung pflegt. Counter Paul-Antoine Bénos-Djian als von Theodora bekehrter römischer Offizier Didymus zeigt in elaborierten Rezitativen, wie er mit seiner ausgeglichenen, elegant geführten Stimme den Inhalt der Worte in Musik fassen kann. In der Tiefe funkelt sie wie golddurchwirkter Brokat, in der Höhe leuchtet der unforcierte Ton wie schimmernde Seide. Nur einzelne dunkle Vokale lösen sich manchmal aus der Kontrolle und wirken unvermittelt heftig.

Die 16 Sängerinnen und Sänger des von Giuseppe Maletto geleiteten Chors versetzen mit bravouröser Phrasierung und lupenreiner Intonation in pures Entzücken. So war zu hören, warum Händel den Chor „He saw the lovely youth“, der mit Verweis auf den von Christus auferweckten Jüngling von Naim dem bevorstehenden Martyrium eine hoffnungsvolle Perspektive gibt, dem „Halleluja“ aus dem „Messiah“ vorgezogen hat. „Il Pomo d’Oro“, erst im Juni 2021 mit Händels „Oreste“ in der Philharmonie, bewegt sich unter der agilen Leitung Emelyanychews auf gewohntem Niveau und gleicht einige pauschal klingende Momente in Händels schweifendem Streichermelos mit spritziger Präsenz und akzentuiertem dramatischem Zugriff aus. Ein Abend der vokalen Spitzenklasse, wie er nicht häufig zu erleben ist.

Die Philharmonie Essen war auch Ort einer Live-Aufnahme des Händel-Oratoriums, die demnächst auf CD erscheinen soll.




Gelächter statt Respekt: In Gelsenkirchen wird Rossinis „Otello“ zum Drama des Verfalls europäischer Ideale

Draußen vor der Tür: Otello (Khanyiso Gwenxane) hat keine Chance, zur Gesellschaft zu gehören. (Foto: Björn Hickmann)

Kinder können grausam sein: Sie tänzeln mit Baströckchen vor dem schwarzen Mann, zeigen mit Fingern auf ihn, strecken ihm eine Banane entgegen. Wir kennen solche rassistischen Beleidigungen unter anderem von Fußballplätzen.

Doch Empörung ist unter Umständen vorschnell und billig: Denn nicht nur raubeinige Sporthooligans, denen niemand die Segnungen der Intelligenz zusprechen möchte, sind unverblümte Rassisten. Die Abwertung von Menschen ist in „feinen“ Kreisen vielleicht nicht so drastisch spürbar, dafür aber umso subtiler. Manuel Schmitt, Regisseur der Gelsenkirchener Neuinszenierung des „Otello“, zeigt mit der umtriebigen Schar auf der Bühne auch keine Kinder, sondern eher kleine Gespenster: Was die Gesellschaft hinter einer Fassade von gutem Benehmen verbirgt, lassen die grauen Wesen in seiner ganzen Gemeinheit in die Realität einbrechen.

Ein gespenstischer Alptraum vor der „Festung Europa“. (Foto: Björn Hickmann)

Dabei sieht zunächst alles nach eitel Wonne aus: In einer eleganten Nachkriegsarchitektur wird ein Bankett vorbereitet, ein hierarchiefreier runder Tisch gedeckt. Einer der blütenweiß livrierten Bediensteten zertritt angewidert etwas am Boden – offenbar ein lästiges Insekt. Aber all diese harmlosen Schilderungen haben einen doppelten Boden: „In varietate concordia“ lässt Bühnenbildner Julius Theodor Semmelmann über dem Bauwerk prangen. Es ist das Motto der Europäischen Union. „In Vielfalt geeint“, ein hehres Ideal, zu schön, um bloß zynisch dekonstruiert zu werden. Aber wie weit es in der Realität trägt, will der Regisseur am Beispiel des „Mohren von Venedig“ im Lauf des Opernabends demonstrieren. Und er spendet, das sei jetzt schon gesagt, wenig Hoffnung.

Draußen vor der Tür

Gelsenkirchen hat Manuel Schmitt nach seinem erstklassigen Regiedebüt mit Georges Bizets „Die Perlenfischer“ 2018 erneut ein Werk aus dem Randbereich des Repertoires anvertraut: „Otello“ ist nicht die bekannte Oper Giuseppe Verdis, sondern ein Hauptwerk von Gioachino Rossini, 1816 uraufgeführt und im ganzen 19. Jahrhundert oft gespielt, bis es durch den Wandel des Zeitgeschmacks und das Fehlen koloraturerprobter Gesangssolisten – man braucht sechs Tenöre mit hoher Tessitura – von den Bühnen verschwand. Die Welle der Wiederentdeckung der ernsten Opern Rossinis hat auch dem „Otello“ eine Renaissance beschert, wenn diese auch an deutschen Theatern eher verhalten ausfällt.

Der Regisseur Manuel Schmitt. Foto: Werner Häußner

Der Regisseur Manuel Schmitt. (Foto: Werner Häußner)

Das zertretene Ungeziefer ist nur ein Hinweis, dass es mit der heilen Fassade nicht weit her ist. Als Otello auftritt, im eleganten Outfit von Carolas Volles an die noble Gesellschaft angepasst, wird die Kluft schnell deutlich: Er bleibt draußen vor der Tür, während drin eine privilegien- und machtbewusste Jeunesse dorée feiert. Jago gehört dazu, Rodrigo ebenso. Otello sagt es deutlich: „Ein Fremder bin ich“. Allzu bemüht erkennt die Gesellschaft seine Verdienste an, aber als es um „Respekt für den Helden“ geht, flammt Gelächter auf.

Schmitts Inszenierung hält in vielen bezeichnenden Details fest, wie sich auf der toleranten Fassade die Sprünge zeigen und der rassistische Kern durchscheint. Und welchen Stellenwert Desdemona, der Braut Otellos, zugeschrieben wird, zeigt er ebenso drastisch: Sie wird präsentiert als die Frau im Bett, observiert von einer Emilia, die wie eine alte englische Gouvernante wirkt. Dass hinter den kultivierten Konventionen Gewalt und Roheit lauern, wird am Ende des ersten Akts überdeutlich. Es stellt sich aber die Frage, ob sich ein Kriegsheld wirklich die körperlichen Übergriffe einer Bande entfesselter Luxusknaben gefallen lassen würde.

Europäische Werte – nur noch museal

Der Bau auf der Bühne mutiert zum Museum. Ein antiker Torso mag an die humanistische Tradition Europas erinnern, ein Gemälde wie Théodore Géricaults „Floß der Medusa“ aus dem gleichen Jahr wie der „Otello“ (1816) kann als Verweis auf die Bootsflüchtlinge von heute gelesen werden. Auch das Blau von Yves Klein – die riesigen Flächen im Foyer sind der Stolz des Musiktheaters im Revier – taucht auf. Aber die Kunst degeneriert zur Staffage und zum Objekt des Marktes. Otello tritt sie wütend und desillusioniert mit Füßen, während der schicke Bau von Stacheldrahtrollen umgeben wird: ein beklemmendes Bild für die „Festung Europa“.

Der südafrikanische Tenor Khanyiso Gwenxane als Otello und Rina Hirayama, bisher Mitglied des jungen Ensembles am MiR, als Desdemona. (Foto: Björn Hickmann)

Bei den Personen auf der Bühne meidet Schmitt eine allzu eindeutige moralische Kategorisierung und lässt damit Tragik und Fallhöhe zu: Rodrigo erweist sich als ein zwar berechnender, aber wirklich Liebender, Iago als der falsche Strippenzieher, dem Otello in seiner Verzweiflung vertraut. Über das Ende entscheiden die Zuschauer in einem scheinbar demokratischen Verfahren, das eine bloße Abstimmungs-Farce ist. Ohne zu wissen, wohin ihr Votum führt, wählen sie das tragische Ende mit dem Tod Desdemonas oder ein von Rossini für die römische Karnevalssaison 1820 nachkomponiertes, absurdes Happy End.

Herausfordernde stimmtechnische Hürden

Wie herausfordernd die Partien sind, die Rossini damals für die Sängerelite seiner Zeit schrieb, kann in Gelsenkirchen nicht verleugnet werden. Die drei Tenor-Hauptrollen sind respektabel besetzt, stellen sich mutig den technischen Hürden, bleiben aber bei der Galoppade der Koloraturen, Verzierungen, Höhensprünge, unangenehmen Registerwechsel und bei der kräftezehrenden Dramatik in schwindelnder Höhe immer wieder an den Sprungbalken hängen.

Khanyiso Gwenxane ist ein in seinem Auftritt zurückhaltender Otello, kultivierter als diejenigen, die ihn von oben herab betrachten. Sein Abstieg macht ihn ratlos, hilflos, zuletzt verzweifelt. Gwenxane legt die Emotionen in seine Stimme, die ihre Position erst finden muss und die mit ausgeprägtem Vibrato das Legato zerhackt. Das wird im Duett mit dem Rodrigo Benjamin Lees zum Problem, wenn die Stimmen nicht harmonieren. Lee singt eine beeindruckend gefasste Arie, aber seine Höhen sind abenteuerlich gebildet und neigen dazu, unsauber zu werden. Immer wieder drückt er auf die Leichtigkeit des Tons.

Adam Temple-Smith ist ein harter Iago mit scharf geschliffener Stimme ohne vokale Eleganz und ebenmäßige Tongebung. Dieser Iago ist nicht die Inkarnation des nihilistischen Bösen wie bei Arrigo Boito und Giuseppe Verdi – eine solche Figur hatte Rossini bereits ein Jahr vorher in seiner „Elisabetta, Regina d’Inghilterra“ geschaffen. Der aus Hass kalkulierende Intrigant, der Otello mit scheinbarer Freundschaft eine Falle stellt, ist dennoch als Charakter verkommen genug, um das Trio der Gegner Otellos zu komplettieren. Dazu gehört auch eine bei Verdi nicht vorkommende Figur: Elmiro, Vater Desdemonas. Er schmiedet einen hinterhältigen Plan, um die Heirat seiner Tochter mit Rodrigo zu erzwingen. Man hat dem verdienten Sänger Urban Malmberg keinen Gefallen getan, ihn mit dieser Rolle zu betrauen, denn er ist alles andere als ein Schönsänger. Mit Mühe stellt er sich den Noten Rossinis, gleitet auf öligem Vibrato von Ton zu Ton und liefert eine Karikatur von Belcanto.

Romantisch-expressive Tonsprache

Rina Hirayama hat als Desdemona ihre berührendsten Momente im dritten Akt, für den Rossini eine neue, romantisch-expressive Tonsprache entwickelt, die direkt von Giovanni Simone Mayr zu dessen Schüler Gaetano Donizetti führt. Hirayama singt das Gebet der Desdemona und „Assisa a pie‘ d’un salice“ – das „Lied von der Weide“ – schlicht und intensiv, wie den Gesang einer tragischen Heroine. Ihre Stärken zeigt sie jedoch ebenso im Gestalten der Rezitative, die Rossini mit viel Bedacht und genauer Anpassung an die dramatische Situation komponiert hat. Der Tenor Tobias Glagau gefällt im melancholischen Lied eines Gondoliere; Lina Hofmann (Emilia) und Camilo Delgado Díaz (Lucio) sind in den kurzen Momenten ihrer Nebenrollen präsent und konzentriert. Der Chor, einstudiert von Alexander Eberle, hat zu Beginn Mühe mit dem Tempo, in den großräumig gestalteten Finali packende vokale Prägnanz.

Die Neue Philharmonie Westfalen kann in den reich bedachten Bläsern – stellvertretend seien die geschmeidige Oboe in der Ouvertüre und das Solo-Horn im ersten Akt genannt – viel Sinn für Rossinis vielgestaltige Klang- und Rhythmus-Dramaturgie beweisen. Giuliano Betta am Pult fordert zugespitzte Tempi und eine nicht immer eingelöste federnd-impulsive Artikulation; Momente der Kontemplation bleiben aber hin und wieder zu zäh. Wechselhaft auch der Eindruck der Rezitative – mal feurig gelungen, mal zu flott-beiläufig formuliert. Dennoch: Rossinis Musik trägt den Sieg davon, trotz der vokalen Schwächen. In Verbindung mit der starken Regie Manuel Schmitts zeigt der Abend in Gelsenkirchen, wie wenig auf die alten Vorurteile Verlass ist: Dieser „Otello“ ist packendes, berührendes Musiktheater. Der „ernste“ Rossini ist es wert, endlich in seiner Vielfalt auf der Bühne zu erscheinen.

Vorstellungen am 05. und 26. Dezember 2021, am 9. und 16. Januar 2022. Info: https://musiktheater-im-revier.de/de/performance/2021-22/otello




Zweifacher Schumann in der Philharmonie Essen: Claudia Barainsky und Elīna Garanča mit „Frauenliebe und Leben“

Elīna Garanča (Foto: Christoph Köstlin/Deutsche Grammophon)

Innerhalb einer Woche zwei Mal Robert Schumanns „Frauenliebe und Leben“: Die Philharmonie Essen macht’s möglich. Claudia Barainsky, 2019 eine gefeierte Medea in der Essener Inszenierung von Aribert Reimanns gleichnamiger Oper, wählte mit dem delian::quartett (ja, so will das geschrieben sein!) Reimanns Fassung des Liederzyklus für Streichquartett. Elīna Garanča bot mit Malcolm Martineau am Flügel das Original.

Der Vergleich ist unter zwei Aspekten anregend: Reimann hat Schumanns nicht eben anspruchslose Begleitung kompositorisch nicht überformt oder als Material für eigene Entwürfe verwendet, sondern lediglich auf die vier Streicher verteilt und so die filigrane Harmonik genüsslich ausgebreitet. Adrian Pinzaru und Andreas Moscho (Violine), Lara Albesano (Viola) und Hendrik Blumenroth (Cello) nutzen die Vorlage vorteilhaft und bieten ein Lehrstück für analytischen Scharfsinn und poetische Intensität gleichermaßen. Malcolm Martineau war für Elīna Garanča ein Partner, der sich die lyrischen Qualitäten der Musik zu eigen macht und Schumanns Klaviersatz ohne Druck und ohne Schärfen in einem zarten Wellengang feinster Farbvaleurs fließen lässt.

Der Vergleich der Sängerinnen – und dabei ist selbstverständlich die Individualität jeder Stimme zu berücksichtigen – fällt jedoch technisch wie stilistisch eindeutig zugunsten von Elīna Garanča aus. Claudia Barainsky, die sich in ihrem Programm vor Schumann mit William Byrd und Henry Purcell weit zurückgewagt hatte, schien sich dafür einen Ton zugelegt zu haben, der pseudo-renaissancehaft klein und eng gebildet war. Wenn sich jedoch eine satte Bühnenstimme auf diese Weise zurücknimmt, kommt nicht der helle, gerade Klang mit den feinen Lasuren heraus, der in der „alten“ Musik geschätzt wird. Sondern ein enger, weißlicher, substanzloser Klang, kopfig, körperlos und nicht tragend.

Voller Stimmeinsatz

So nähert sich Barainsky auch Schumann. Seit sie „ihn“ gesehen, glaubt sie, blind zu sein, sagt das lyrische Ich im ersten der Lieder. Eine frisch entzündete Liebe, wie aus einem Traum, die alles in der Welt verändert. Das zärtliche Piano des „ihn“ blüht nicht, der erzählende Ton, den Barainsky anstimmt, trägt nicht. Wie ihr die ungewohnte Erfahrung den Atem raubt, versucht die Sängerin zu verdeutlichen, indem sie „glaub ich blind zu sein“ aspiriert. Auf solche naturalistischen Mittel lässt sich Elīna Garanča nicht ein: Sie scheut sich nicht, die volle Stimme einzusetzen, die sie freilich dynamisch perfekt kontrolliert dosieren kann. Und so, aus dem Körper gebildet, kann sie mit Klang und Farbe spielen: Ihr „ihn“ leuchtet innig auf, ist bei jeder Nennung ein wenig anders nuanciert. Ihr „Begehr“ ist verschattet, ihre musikalische Rhetorik eher nachdenklich reflektierend als direkt erzählend.

Wenn die frische Frauenliebe dann vom „Herrlichsten von allen“ schwärmt, bleibt Claudia Barainsky allzu sehr dem filigranen Ton verhaftet. Die Begeisterung bleibt trocken, Glanz und Schmelz äußern sich nicht „hell und herrlich“. Elīna Garanča dagegen setzt jetzt voll auf einen satten, leuchtenden Klang, entschieden in der Artikulation, selbstgewiss und voll sinnlichem Licht. Ihre Tiefe ist füllig und strahlend, die „Würdigste von allen“ bebt vor enthusiastischer Erregung. Sicher lassen sich solche Momente unterschiedlich interpretieren, aber die technischen Mittel wirken bei Garanča souveräner und vor allem aus dem Fundus einer unbezweifelbaren Technik entwickelt.

Auch „An meinem Herzen“ hält Barainsky künstlich klein. Ihre Passion bleibt nur innig, der Ton, nicht auf dem Atem getragen, wirkt welk. Von blühendem Mutterglück kaum eine Spur. Garanča dagegen gibt dem Lied eine enthusiastisch drängende Dynamik, eine verzückte Bewegung, und das stets technisch perfekt abgesichert. Dabei hütet sie sich vor vordergründiger Dramatik. „Opernhaft“ – ein dummer, aber gern angewandter Begriff – wirkt da nichts. Der Abschluss („Du hast mir den ersten Schmerz getan“) bleibt bei Claudia Barainsky trotz der heftigen Akzente der Streicher eine zarte, introvertierte Klage, seelische Erschütterung im Pianissimo. Garanča gestaltet dieses Finale aus dem Geist der Tragödin, aus dunkler Fülle in tonlos bleiches Weiß tauchend.

Der Pianist – eine Entdeckung

Das Nachspiel von Malcolm Martineau: ein Wunder bittersüßer Trostlosigkeit. Wie überhaupt dieser Pianist die Entdeckung des Abends war. Schon der Schumann-Zyklus erwies ihn als sensiblen Gestalter, mit der Sängerin atmend, frei und doch streng in Phrasierung und Agogik. Johannes Brahms‘ E-Dur-Intermezzo op.116/4 – als Überleitung zu einem Block von sechs ausgewählten Liedern – war eine traumverlorene Meditation. Zarte Innigkeit, wehmütige Schwärmerei, anmutige Naturlyrik findet Martineau in glückliche Übereinstimmung mit Elīna Garanča.

In drei Liedern von Henri Duparc erfüllen beide nicht nur das ekstatische Aufblühen in „Au pays où se fait la guerre“, sondern auch die jenseitig duftende Ruhe von „Extase“ und die magisch-sinnliche Atmosphäre von „Phidylé“ mit der großen, wagnerisch aufschäumenden Klimax, in der Martineau trotz der orchestralen Akkorde kultiviert im Ton und kontrolliert in der Dynamik bleibt. Reizend folkloristisch inspirierte Miniaturen von Manuel de Falla schließen das Liedprogramm ab, bevor es mit zwei Arien aus spanischen Zarzuelas und dem unvermeidlichen Tribut an Georges Bizets „Carmen“ zum triumphalen Finale des Abends kommt, für den Garanča völlig zu Recht entsprechend enthusiastisch gefeiert wird.




Einbruch mit Überraschungen: „Celine“ bietet leichtfüßiges französisches Boulevard-Theater

Stefan Pescheck (Pierre) und ChrisTine Urspruch (Anna) in der Komödie „Celine“. (Foto: Andreas Bassimir)

Vorhänge bewegen sich sacht, ein Lichtstrahl fingert im Dunkel. Eine Gestalt huscht vorbei. Völlig klar: ein Einbruch. Aber was als großer Coup geplant war, endet jämmerlich.

Der Ganove hat sich nicht nur in der Adresse vertan. Er macht auch mit seinem Pistolengefuchtel keinen Eindruck, als er erwischt wird. Und er scheitert vollends an der völlig ungerührten Furchtlosigkeit einer mondänen Dame namens Celine. Sie hat dem jungen Kerl schnell alle Chuzpe abgekauft.

Celine gibt dem französischen Boulevardstück auch den Titel, das in Emmerich am Niederrhein in einem vollen Theatersaal seine Premiere feierte und bis Dezember (und wieder im Frühjahr 2022) durch Deutschland tourt. Maria Pacôme, 1923 geborene Schauspielerin und Theaterschreiberin hat mit dieser leichtfüßigen Kriminalkomödie 1977 einen beachtlichen Erfolg errungen. Unterhaltsames Schauspielertheater ohne viel Tiefgang, aber mit einer aparten Handlung, die auf ihrer Klimax einen überraschenden Coup bereithält – mehr soll nicht verraten werden. Genau der richtige Leckerbissen also für die fünf auf der Bühne versammelten Stars. Denn die Theatergastspiele Fürth haben sich nicht lumpen lassen und das Fünf-Personen-Stück attraktiv besetzt.

Als glückloser Einbrecher stolpert Moritz Bäckerling mitten hinein in die erlesene Kunstsammlung in einer noblen modernen Villa, gebaut mit reduzierten, aber sehr effizient eingesetzten Mitteln von Elmar Thalmann. Aufgeschossen, dünn, etwas linkisch und verzweifelt Selbstbewusstsein und Professionalität mimend, ist sein Guillaume die köstliche Studie eines wohl gerade der Pubertät entwachsenen Jungen, der viel lieber lieb sein würde, als seinem anrüchigen Handwerk nachzugehen – und das letztendlich auch werden darf. Der in Unna geborene Jungstar verkörpert einen grundanständigen, ein bisschen weinerlichen und naiven jungen Mann, der sich zutraulich der Führung weiser Frauen übergibt.

Eine hat er offenbar in seinen Augen in Celine gefunden: Christine Neubauer („Soko 5113“), Trägerin vieler renommierter Auszeichnungen wie des Adolf-Grimme-Preises, stellt mit wunderbar gestützter und damit wandlungsfähiger Sprechstimme eine abgebrühte Dame von Welt auf die Bühne: schlagfertig, selbstbewusst, souverän. Das sind Eigenschaften, die den unsicheren jungen Mann beeindrucken. Celine scheint nichts aus der Ruhe zu bringen. Wirklich gar nichts? Die Frage stellt sich im Lauf des Stücks auf spannend-rätselhafte Weise.

Neben Christine Neubauer brilliert ChrisTine Urspruch, die als „Alberich“ im Münsteraner „Tatort“ stets verdiente Sympathie- und Bekanntheitspunkte einfährt. Hier wirkt sie als Anna, Haushälterin und Gefährtin Celines, als Gewissen des Hauses, als ausgleichendes Element und als warmherzige Frau, die dem Leben, obwohl sie es kennt, noch die guten Seiten abgewinnen kann. Eine durch und durch menschlich gezeichnete Rolle, sicher die anrührendste im Stück.

Hochkarätig besetzt hat Tourneetheatergründer und –leiter Thomas Rohmer auch die kürzeren Rollen: Celine hat nämlich einen Sohn, Pierre, und der hat eine neue Freundin. Fatal, fatal, denn wie es das Schicksal will, gibt es da sprichwörtliche Leichen im Keller – in diesem Fall Kunstwerke von unschätzbarem Wert. Und mit denen ist ausgerechnet die Favoritin Pierres durch ihre Vergangenheit verbunden. Stefan Pescheck, der in der Komödie „Patrick 1,5“ seit Jahren höchst erfolgreich mit den Theatergastspielen tourt, gibt den passenden Gegenpol zu dem hippeligen Einbruchs-Anfänger: Er tritt gemessen und gereift auf, in konservativem Anzug, ganz junger Mann aus gutem Hause.

Fee Denise Horstmann („Rosenheim Cops“, „Soko München“) dominiert nicht nur ihn, sondern auch die Szenerie und sorgt sehr cool für eine unangenehme Überraschung. Thomas Rohmer lässt in seiner Regie viel Raum, damit die Schauspieler ihre individuellen Stärken einsetzen können. Herausgekommen sind zwei Stunden Erzähltheater, in dem kein tieferer Gedanke vom trefflich konstruierten Fluss der Handlung ablenkt.

Was es nun wirklich mit Celine auf sich hat, kann man in der Region am 18. November in Recklinghausen und am 9. Dezember in Unna erfahren.




Vom Rätsel der Vollendung: Das Mandelring Quartett mit allen Schostakowitsch-Streichquartetten in Duisburg und Kempen

Das Mandelring Quartett im Duisburger Lehmbruck Museum. (Foto: Werner Häußner)

Noch schmücken sie die Gehölze, die verblassenden Farben des Herbstes, aber das Rascheln der Schritte durch das Laub verrät, dass es nicht mehr lange so bleibt. Die lichten Kronen der Bäume, die nackten Zweige der Sträucher lassen das Duisburger Lehmbruck Museum schon von weitem durch den Park leuchten.

An mehreren Abenden strahlten die Spots länger als üblich auf die Skulpturen der renommierten Duisburger Sammlung: Es gab Musik im Museum. Das Mandelring Quartett präsentierte alle fünfzehn Streichquartette von Dmitri Schostakowitsch in fünf Konzerten – zwei davon allerdings im Kulturforum Franziskanerkloster im niederrheinischen Kempen.

Die Duisburger Philharmoniker und Kempen Klassik e.V. ermöglichten damit ein Ereignis, das sonst etwa den Salzburger Festspielen (2011) oder wenigen Kammermusikzentren vorbehalten ist. Erst neun Mal, sagt die Geigerin Nanette Schmidt, habe sie einen solchen Zyklus gespielt, obwohl sich das vor 38 Jahren gegründete Mandelring Quartett seit mehr als 15 Jahren immer wieder diesen epochalen Werken des 20. Jahrhunderts widmet. Die 2011 erschienene CD-Box gilt inzwischen als eine der Referenzaufnahmen und kann den „Klassikern“ etwa des Borodin- oder des Brodsky-Quartetts auf Augenhöhe begegnen.

In diesem Fall ist eine zyklische Aufführung auch kein leistungsprotzender Musik-Marathon, bedient keinen Vollständigkeits-Fetisch und keine Marketing-Strategie. Die Konfrontation der Zuhörer mit den zwischen 1938 und 1974 entstandenen Quartetten zeigt wider erstes Erwarten nicht so sehr Linien einer Entwicklung oder gar eine Steigerung der künstlerischen Ausdrucksmittel – die beherrscht Schostakowitsch schon im ersten Quartett, das er schreibt, als er bereits durch fünf Sinfonien und seine Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ als führender Komponist der Sowjetunion anerkannt war und die lebensgefährliche stalinistische Kulturpolitik in eigener Person erdulden musste.

Die Faszination des Individuellen

Sondern: Hört man alle 15 Quartette in einer solchen Konzentration, ideal verteilt auf vier Tage, erschließt sich, wie individuell jedes einzelne gearbeitet ist, wie profund Schostakowitsch klassische Vorgaben und einander ähnelnde Strukturmuster immer neu variiert, aber durchaus auch, wie er noch in vorgerücktem Alter offen für Neues ist und etwa ab dem 12. Streichquartett von 1968 mit zwölftönigen Themen experimentiert.

Drei Konzerte fanden im Duisburger Lehmbruck Museum (Bild) statt, zwei in Kempen. (Foto: Werner Häußner)

Mit Vergnügen meint man wahrzunehmen, wie er sich etwa im ersten Satz des dritten Quartetts mit leiser Ironie von der gassenhauerischen melodischen und rhythmischen Erfindung distanziert. Schmunzeln lässt sich, wenn er ins Neunte Quartett die berühmte Galoppade aus Rossinis „Wilhelm Tell“ einbaut. Der Musikjournalist Jonas Zerweck wies in seinen kundigen Einführungen immer wieder auf solche aufschlussreiche Details hin. Etwa wie Schostakowitsch im ersten Satz des Zweiten Quartetts schon mit dem Titel „Ouvertüre“, aber auch mit kompositorischer Raffinesse verschleiert, dass er einen an Beethoven angelehnten – und damit in der Sowjet-Musikästhetik verpönten – Sonatenhauptsatz konstruiert hat.

Aber wichtiger als solche Detail-Reminiszenzen ist, wie Schostakowitsch seine eminente satztechnische Kunst verfeinert, expressiv schärft und in den letzten Quartetten gegen Ende seines Lebens reduziert und damit atemberaubend konzentriert. Wie erschütternd das wirkt, war an den Zuschauern abzulesen: Der Schlussgesang des Zyklus, das nur aus langsamen Sätzen bestehende 15. Quartett, nahm dem Auditorium wahrhaftig den Atem. Selten erlebt man eine solche ergriffene Stille.

Mit existenziellem Ernst musiziert

In der Ästhetik ihrer Wirkung passen die Quartette in die Jahreszeit. Selten hört man unbeschwerte Musik, nur eines endet mit einem schlagkräftigen Finaleffekt. Auch das heiter-gelöste Sechste geht ruhig-harmonisch zu Ende. Ob in jenseitigem Pianissimo verschwebende oder in ätherischer Zurücknahme ersterbende Finali: Das Mandelring Quartett musiziert in solchen Momenten mit einem existenziellen Ernst, der jede Kunst„fertigkeit“ hinter sich lässt und sich dem emotionalen Risiko des Augenblicks ungeschützt aussetzt. Genannt sei speziell das Ende des Achten Streichquartetts. Als es verklungen war, fanden sich in der Kempener Paterskirche erst nach langem, regungslosem Verharren die ersten Hände zu zögerndem Beifall zusammen.

Dass die drei Geschwister Nanette, Bernhard und Sebastian Schmidt gemeinsam mit dem Bratscher Andreas Willwohl nicht auf solche herausgehobenen Momente spekulieren, versteht sich. Aber die konstante Achtsamkeit, das gleichbleibend überragende spieltechnische Niveau aller fünf Konzerte ist alleine schon als mentale Leistung wert, herausgehoben zu werden. Am Beginn des ersten Quartetts dauert es nur wenige Augenblicke, bis sich die Vier zu gelassenem Miteinander gefunden haben. Von Auftritt zu Auftritt wächst die Konzentration, so als verlören die Musiker keine Energie aus der Anspannung der vorherigen, sondern zögen daraus die Kraft für das nächste Konzert.

Hervorzuheben ist, wie präzis sie selbst im dichtesten Geschlinge der Linien, im härtesten rhythmischen Ostinato, im zerbrechlichen Pianissimo übereinstimmen. Stets herrscht transparente Balance, stets bleibt durchhörbar, wie komplex Schostakowitsch mit dem motivischen Material umgeht. Es gibt keine klangliche Überwältigungsstrategie; alles wächst aus dem Notentext heraus.

Alle Vier sind gleichermaßen gefordert

Schostakowitsch fordert alle Vier gleichermaßen, gibt jedem Instrument ausgedehnte solistische Auftritte, sucht alle möglichen Kombinationen auszureizen. Zunächst wirken das dialogische einander Zuspielen von Motiven, das Kehraus-Temperament des Finalallegro des Ersten Quartetts, auch die harmonischen Verschränkungen des Kopfsatzes des Zweiten noch in der Tradition verankert. Die schweifend-epische Melancholie langsamer Sätze, noch verstärkt durch den dunklen Gesang der Viola, erinnert an Tschaikowsky oder an die russischen melodischen Formulierungen eines Mussorgsky. Das zelebrieren die Mandelrings mit schönster Hingabe, aber stets auch einer objektivierenden Distanz, die Sentiment außen vor lässt.

Aber im Tanz des Zweiten Streichquartetts wird es ernster: Ein wehmütiger Abglanz vom Walzer-Schwung verschärft sich grimmig. Die Repetitionen des Cello insistieren, treten gespenstische Kaskaden los, bis die Viola mit herbem Ton die stilisierte Folklore des abschließenden Variationensatzes singt. Im Vierten Quartett streichelt Bernhard Schmidt aus seinem Cello seidig-samtige Töne für die jüdischen Melodien heraus, mit denen Schostakowitsch dem weit verbreiteten Antisemitismus Paroli bot – öffentlich allerdings erst nach Stalins Tod, als das Werk endlich vor Publikum uraufgeführt werden konnte. Mal fein und leise ausgekostet, mal energisch durchgezogen werden kontrastierende Themen ineinander geflochten. Da herrscht, auch wenn’s laut werden muss, keine Extroversion, sondern eine behutsam abgestimmte Innerlichkeit.

Mit solchem spieltechnischem Rüstzeug gelingt es dem Mandelring Quartett, die eigene Prägung jedes der Werke auszuschöpfen. Im dritten Satz des Sechsten Streichquartetts zum Beispiel gelingen fabelhafte Wechsel der Klangfarben, von dunkel-samtig zu grell-brillant. Im Achten fasziniert der gedankenverlorene Gesang der ersten Violine Sebastian Schmidts, bevor im zweiten Satz mit vehementen Schlägen ein Inferno losbricht, in dem man sich schwer tut, nicht das Tackern eines Maschinengewehrs zu hören, während heftige Akkorde wie Einschläge dröhnen. Das Quartett trägt die Überschrift „Im Gedenken an die Opfer des Faschismus und des Krieges“ – und der Gedanke liegt nahe, dass Schostakowitsch beim Komponieren im Angesicht des noch zerstörten Dresden hier noch einmal die Schrecken des Krieges vergegenwärtigt.

Musik jenseits aller Verstörung

Im Kopfsatz des Fünften brillieren die Vier in einem wunderbar ausgewogenem, aufeinander bezogenem Spiel; Nanette Schmidt mit der zweiten Violine adelt eines der Duette mit der leuchtend intonierenden Bratsche von Andreas Willwohl, der sich immer wieder als ein Meister der Vielfalt auf seinem Instrument erweist. In den melancholischen Gesängen, die Schostakowitsch dem Instrument anvertraut, beschwört er die tröstende Kraft der Musik, die jenseits aller Verstörungen dieser Welt liegt und von ihnen nicht berührbar ist.

Die letzten Abende mit den Quartetten zehn bis fünfzehn versetzen in beinah meditative Betroffenheit. Sicher lässt sich bewundern, wie kontrolliert das Mandelring Quartett die heftigen Kontraste, die gellend insistierende Härte, die Ansätze zum Geräuschhaften in der Musik spielt. Oder wie souverän die unerbittliche Unruhe des Finalsatzes des Zehnten realisiert wird. Oder wie nobel verhalten Sebastian Schmidt mit seinem Vibrato den seidigen, substanzreichen, aber nie üppigen Ton der Violine gestaltet.

Aber die konzentrierte Ruhe, die verklärte Resignation, der erhabene, fast liturgische Duktus spröde konzentrierter Melodien oder die höchste Sensibilität in Ton, Dynamik und Balance reichen nicht aus, die emotionale Tiefe dieser Abschiedswerke zu erklären. Hier geschieht etwas, was der Komponist Moritz Eggert jüngst als essenziellen Teil von Kunst beschrieben hat: Hier geben sich Rätsel auf, stellen sich Fragen, bleiben Erschütterung und Verunsicherung. Wer mit solchen Gedanken in die kalte Herbstnacht hinausgewandert ist, hat aus den Konzerten das mitgenommen, worum es geht.

 




Verzicht auf die Katastrophe: „Schwanensee“ am Essener Aalto-Theater

Mika Yoneyama (Odette) und Corps de ballet in „Schwanensee“. (Foto: Bettina Stöß)

Ben Van Cauwenbergh wirkt seit 2008 am Aalto-Theater, zunächst als Ballettdirektor, später als Ballettintendant. In dieser Zeit hat der in den siebziger und achtziger Jahren renommierte Tänzer als Choreograf das Essener Ballett als Stätte klassischer Tanzkunst bewahrt und zu einer festen Größe in der Beliebtheit des Publikums ausgebaut.

Van Cauwenbergh tat jedoch nichts, um den liebgewonnenen Geschmack seiner kulinarisch verwöhnten Anhänger herauszufordern. Allenfalls erlaubte er sich hin und wieder ein stärkeres Gewürz. Sein Essener Publikum ist bis heute beglückt; wer anderes im Sinne hat, fuhr und fährt eben nach Düsseldorf, zu Pina Bauschs Erben nach Wuppertal, zu Xin Peng Wang nach Dortmund oder zu Bernd Schindowski, Bridget Breiner und jetzt Giuseppe Spota nach Gelsenkirchen.

Gegen die Vielfalt von Stilen in einer dichten Tanzlandschaft ist ja auch nichts einzuwenden. Aber Van Cauwenbergh, verliebt in die immer wieder aufgewärmten „großen“ Stoffe, hat seine Affinität zum Handlungsballett nie genutzt, um einmal entlegenere Regionen zu betreten. Ihn interessiert durchaus – um einen Spruch von Pina Bausch zu paraphrasieren –, wie die Menschen sich bewegen, aber ob ihn auch interessiert, was sie bewegt, das darf man bei Stückauswahl und Choreographien durchaus fragen.

In der Petersburger Tradition

Yurie Matsuura, Yulia Tikka, Yusleimy Herrera León und Yuki Kishimoto (Vier kleine Schwäne) in „Schwanensee“ in Essen. (Foto: Bettina Stöß)

Unwidersprochen, dass ein Meisterwerk wie „Schwanensee“ zum Œuvre einer Tanzcompagnie vom Format Essens dazugehört. Van Cauwenbergh bezieht sich in seiner Choreographie auf die legendäre Petersburger Einstudierung durch Marius Petipa und Lew Iwanow von 1895 und bewegt sich damit in einer traditionellen Rezeptionslinie. Entsprechend sind die Szenen mit den Schwänen und die Nationaltänze ganz konventionell gestaltet und bedienen die Erwartungshaltung. Doch Ben Van Cauwenbergh lässt den Prinzen die Geschichte um die Schwäne, die verzauberte Odette und ihr dunkles Spiegelbild Odile träumen: Am Ende erwacht Siegfried und kann mit der zauberhaften Odette in eine heitere Zukunft aufbrechen.

Die Traum-Idee ist ein probates Mittel, um Libretti psychologisch glaubhafter zu machen, zumal wenn sie handlungslogisch nicht konsequent durchgestaltet sind. Aber das Vermeiden des tragischen Endes lässt den „Schwanensee“-Stoff allzusehr ins Märchenhaft-Episodische abgleiten. Trotz des beeindruckenden Kostüms von Dorin Gal für Rotbart, einer geheimnisvollen, düsteren Figur á la E.T.A. Hoffmann, bleibt er ein Kinderspiel-Bösewicht und hat nicht viel gemein mit der unheimlichen Eule, die in der Moskauer Uraufführung 1877 den bösen Geist charakterisiert hatte.

Bei der Wiederaufnahme des „Schwanensee“ am Aalto-Theater wurde deutlich, wie Dorin Gals liebevoll gestaltete Bühne mit ihren stimmungshaften Bildern Klischees des Romantischen bedient, die aber auch durch die Video-Überblendungen Valeria Lampadovas keine dechiffrierbare Tiefe, keine Meta-Ebene, keinen psychologischen Hinweiswert gewinnt. Es bleibt gut gemachte Kulisse. Van Cauwenberghs Truppe hat die Pandemiezeit ohne wesentliche Verluste im tänzerischen Niveau überstanden. Dass im einen oder anderen Bild ein Entree flüchtig ist oder synchrone Bewegungen nicht ganz präzise abschließen, sind nur kleine Randbemerkungen in einer ansonsten schlüssigen Textur. Vor allem in den „weißen“ Akten funktioniert der Reiz des Synchronen: die „kleinen Schwäne“ entzücken wie eh und je.

Elegante Kraft, fabelhafte Disziplin

Unbeschwert, in einer südlichen Landschaft mit einem freundlichen Seeufer, kommt die Geschichte um Prinz Siegfried in Gang. Zwei junge Leute vergnügen sich am Wasser. Bei Artem Sorochan fällt schon jetzt auf, wie schwerelos er springt. Seine Ballons federn, sein Timing gibt der Bewegung Kraft von innen heraus. Auch Siegfrieds Begleiter Benno ist von Davit Jeyranyan elegant verkörpert; sein Solo sagt etwas aus über ein fröhlich-leichtes Leben. Moisés León Noriega hat als Rotbart mit seinem schwarzen Federmantel einen imposanten Auftritt. Mika Yoneyama kann ihre aparten Figuren als Odette in spielerischer Selbstverständlichkeit präsentieren; ihr schwarzer Schwan offenbart die fabelhafte Disziplin, mit der sie den Spannungsbogen gerade in langsamen Abläufen hält. Wataru Shimizu und Adeline Pastor brillieren im Spanischen Tanz.

Moisés León Noriega als Rotbart. (Foto: Bettina Stöß)

Weniger funkelnd finden sich die Essener Philharmoniker in Tschaikowskys Partitur ein. Unter Wolfram Maria Märtig schmettert das Orchester zu häufig, treten die Bläser zu stark hervor. Die mangelnde Balance lässt die Musik diesseitig und geheimnislos wirken. Die rhythmisch zündenden Divertissements gelingen überzeugender als die dramatisch-elegischen Teile; sehr ansprechend allerdings sind die Soli der Oboe und der Violine (Daniel Bell).

So trägt die Musik dazu bei, dem untergründigen Ton im „Schwanensee“ die beklemmende Nachtseite der Romantik zu nehmen – eben jene Seite an Tschaikowsky, die das zeitgenössische Publikum verstörte, da sie die leichtfüßig-virtuose Ballettunterhaltung in ein ernsthaftes Drama verwandelte. Eine Entwicklung, die auch Van Cauwenberg mit seiner Lösung zurückdreht: Der mäßige Schauder des Traums ist rasch weggewischt, der Kampf um die im Programmheft unscharf beschriebenen „humanistischen“ Ideen wird von Siegfried nicht geführt und der tiefe, existenziell erschütternde Fall des Protagonisten, wie ihn die Musik suggeriert, bleibt aus. Statt E.T.A. Hoffmann grüßt Rosamunde Pilcher.

Das Aalto-Ballett zeigt derzeit ein für Essen neues, allerdings schon 1969 uraufgeführtes Handlungsballett von John Cranko: „Der Widerspenstigen Zähmung“ nach Shakespeares gleichnamiger Komödie. „Schwanensee“ wird im Dezember noch fünf Mal gegeben. Im Januar 2022 ist die Essener Compagnie damit ins Teatro de la Maestranza in Sevilla eingeladen ist. Nach „Romeo und Julia“ 2016 ist dies das zweite Gastspiel der Aalto-Compagnie in der spanischen Metropole.

Im Frühjahr 2022 kommt ein zweites Handlungsballett des 20. Jahrhunderts erstmals zur Aufführung im Aalto-Theater: Die Essener Ballettcompagnie präsentiert zu live gespielten Klavierstücken von Sergej Rachmaninow „Drei Schwestern“ des russischen Choreografen Valery Panov. Beteiligt an dieser spartenübergreifenden Produktion sind auch zwei Schauspieler, die Passagen aus Anton Tschechows Drama sprechen.

 




Satans Gesicht tanzt: Szene aus Stockhausens „Samstag aus Licht“ eröffnet das Festival „NOW!“

„Luzifers Tanz“ beim Festival „NOW!“ in der Philharmonie Essen. Die Aufstellung der Musiker an der Stirnwand des Alfried-Krupp-Saales ermöglicht es, die szenische Vision Stockhausens anzudeuten. Das rote Licht steht gerne für Teufel und Hölle, aber Stockhausen hatte dem „Samstag aus Licht“ eigentlich die Farbe Eisblauschwarz zugeordnet. (Foto: TuP/Sven Lorenz)

„Lin-ker Au-gen-brau-en-tanzzzz!“ zischt der Bass. Er verkörpert Luzifer, steht im Zentrum der Stirnwand der Essener Philharmonie unter der Orgel und dirigiert ein Gesicht. Es ist die Fratze des Diabolus, des zerstörerischen Geistes. Mit einiger Fantasie lässt sie sich erschließen aus den nacheinander beleuchteten Segmenten der Wand aus Galerie und Balkonen.

Musiker sitzen dort, spielen, bewegen sich rhythmisch. Am Ende ergeben die rot strahlenden Sektoren so etwas wie ein maskenhaftes Antlitz. Und der Traum des Komponisten und kosmischen Mystikers Karlheinz Stockhausen wird wenigstens in einer Ahnung wahr: In „Luzifers Tanz“ aus seinen Musiktheaterwerk „Samstag aus Licht“ sollte das Harmonie-Orchester aus 70 Bläsern und zehn Schlagzeugern, übereinander gestaffelt aufgestellt, ein Gesicht darstellen. Die Philharmonie Essen hat für diese Vision eine passende räumliche Grundlage.

Wahrscheinlich das anspruchsvollste Konzert der letzten Jahre

Die Deutsche Erstaufführung der Originalversion für Harmonieorchester, Bass, Piccoloflöte und Piccolotrompete von „Luzifers Tanz“ eröffnete das Festival „NOW!“ für Neue Musik auf spektakuläre Weise. Ein Projekt der Superlative, das wegen seiner fantastisch überzogenen Dimension selbst von großen Institutionen des Musiklebens kaum realisiert werden kann. Nach zwei Jahren Vorbereitung war es in Essen möglich – dank der Kooperation mit allen Musikhochschulen in Nordrhein-Westfalen (Detmold, Düsseldorf, Essen, Köln, Münster). Instrumentalisten aus deren Klassen erarbeiteten sich in 77 Proben über Monate hin Stockhausens visionäres Werk. „Es ist wahrscheinlich das anspruchsvollste Konzert, das wir in den letzten zehn Jahren gemacht haben“, sagte der 2022 an die Oper Köln wechselnde Intendant Hein Mulders.

Der „Samstag“ gehört dem gefallenen Lichtengel

„Luzifers Tanz“ ist die dritte Szene aus Karlheinz Stockhausens „Samstag aus Licht“, einem Teil des gewaltigen, über 30 Stunden dauernden „Licht“-Zyklus, den der Visionär aus Kürten bei Köln zwischen 1977 und 2003 geschaffen hat: sieben Musiktheaterwerke, benannt nach den Tagen der Woche, im musikalischen Material abgeleitet aus einer „Superformel“ und konstruiert aus Formeln, die ähnlich wie Wagners Leitmotive wiedererkennbar sein sollten. Alle sieben Teile verbindende Personen sind Michael, der schöpferische Engel und Symbol des Göttlichen, Eva, die Mutter, Menschenfrau und Prinzip des Weiblichen, und Luzifer, der reine Geist und eine zerstörende Kraft. Der „Samstag“ ist ganz dem gefallenen Lichtengel gewidmet, der in seinem Tanz die Teile seines Gesichts bewegt: Augenbrauen, Augen, Backen, Nasenflügel, Oberlippe, Zunge, Kinn.

Erfahrener Stockhausen-Dirigent: Adrian Heger. (Foto: TuP/Sven Lorenz)

Mit einem raumfüllenden rhythmischen Crescendo, dessen Ursprung im Saal kaum ortbar ist, beginnt diese Synthese aus Klang, Licht und Bewegung. Die Musik verändert sich, spaltet sich auf. Dann hört man Reminiszenzen an andere „Tage“ des Zyklus, etwa an den Kampf himmlischer Trompeten gegen die teuflischen Posaunen aus „Dienstag“. Wunderbar gestaltet Christopher Seggelke – stehend, knieend, schließlich liegend – sein Trompetensolo, gedacht als Protest gegen das satanische Tanzvergnügen. Folgerichtig erinnert es an Michaels große Szenen aus „Donnerstag aus Licht“, die Stockhausen für seinen Sohn Markus geschrieben hatte.

Myriam Ghani bringt als „schwarze Katze“ im „Zungenspitzentanz“ mit ihrer traumsicher artikulierenden Piccoloflöte einen ambivalenten Humor ins Spiel. Adrian Heger, ein erfahrener Stockhausen-Dirigent, koordiniert souverän die weit entfernt und in großen Abständen positionierten Musiker. Klang und Rhythmus, Verschmelzung und Separation, weich schmeichelnde und hart auftrumpfende Passagen gelingen gleichermaßen.

„Luzifers Traum“. (Foto: TuP/Sven Lorenz)

Dem Tanz vorgeschaltet war die erste Szene aus „Samstag aus Licht“: In „Luzifers Traum“ schlüpft der Bass (Damien Pass mit klarer Stimmfülle) aus einem blau beleuchteten Raum vor den Vorhang, macht sich an einem Flügel zu schaffen, wirft sich in einen Liegesessel, als der Pianist aus einer rot dampfenden Spalte auf die Bühne kommt und fällt in Meditation, Trance oder Schlummer. Alphonse Cemin begleitet am Flügel das Murmeln des Schläfers, der öfter bis 13 zählt (Verweis auf das Klavierstück XIII oder auch Zahlenmystik?) oder Worte raunt, bis ein kleiner humoristischer Coup den „Traum“ beendet.

Mit dieser grandiosen Eröffnung haben die Philharmonie Essen und ihre Kooperationspartner eine Messlatte gelegt, nach der andere Neue-Musik-Festivals ziemlich hoch springen müssen. Dass die weiteren Konzerte unter dem Thema „Mikrokosmos – Makrokosmos“ (das übrigens auch auf Stockhausen verweist) zwar nicht die Größe, wohl aber die Qualität dieser Eröffnung erreichen, davon ist bei der ehrgeizigen Konzeption von „NOW!“ auszugehen.

Das Festival „NOW!“ dauert noch bis 7. November. Programm, Information und Karten unter www.theater-essen.de.




Wie sich Wahn in Wirklichkeit drängt: Erich Wolfgang Korngolds „Die tote Stadt“ an der Oper Köln

Stefan Vinke als Paul in Erich Wolfgang Korngolds Oper „Die tote Stadt“ in Köln. (Foto: Paul Leclaire)

Erich Wolfgang Korngolds „Die tote Stadt“ zu inszenieren, dürfte zu den schwierigsten Aufgaben für Regisseure gehören. Der Symbolismus der Vorlage Georges Rodenbachs („Bruges-la-morte“), das hoffmanneske Changieren zwischen dem Dämmer des Realen und dem Nebel des Traums, das Verschieben der Wahrnehmungsräume, in denen behauptete Lebenswirklichkeit mit Fantasien, Erinnerungen, Wunsch- und Wahnbildern im Kopf verschwimmen: Überzeugende Bühnenlösungen sind rar.

Aber die Rezeption von Korngolds vor 100 Jahren, am 4. Dezember 1920 in Köln und Hamburg gleichzeitig uraufgeführter Oper ist in den letzten Jahren in Schwung gekommen. Armin Petras in Bremen, Anselm Weber in Frankfurt und kurz vor der Pandemie Immo Karaman in Wuppertal etwa haben überzeugende szenische Lösungen vorgelegt.

Tatjana Gürbaca ist ihnen in Köln mit hohem Anspruch gefolgt. Die Premiere am 100. Jahrestag der Uraufführung konnte nicht vor Publikum stattfinden und wurde im Livestream übertragen; eine Serie von Aufführungen im Staatenhaus, der Ersatz- und mittlerweile beinahe Dauer-Spielstätte der Kölner Oper, folgte nun zu Beginn der Saison.

Sein und Schein im Seelenraum

Die breite Spielfläche des Staatenhauses nutzt Bühnenbildner Stefan Heyne für einen kreisrunden Aufbau: ein hoher Zylinder, der sich als Kaiser-Panorama identifizieren lässt – so nannte man einst den hölzernen Guckkasten, in dessen Inneren Bilder zu betrachten waren. Drum herum sitzen Menschen wie an einer Bar, unbeteiligt wie auf Bildern von Edward Hopper („Nighthawks“). Schon dieses Objekt exponiert die Spannung zwischen vermeintlich Realem und raffiniertem Schein: Das massive Möbelholz erweist sich als bloße Stoffmalerei. Wird der Vorhang weggezogen, liegt im Inneren ein surrealer Raum frei, den herabhängende Schnüre unterteilen und verunklaren, erfüllt von rätselhaften Gestalten und Gegenständen, die aus einem Bild von Paul Delvaux stammen könnten.

Spannung zwischen vermeintlich Realem und raffiniertem Schein: Stefan Heyne baut ein „Kaiser-Panorama“ als zentralen Spielort seiner Bühne. (Foto: Paul Leclaire)

In diesem Innenbereich hat sich der Künstler Paul, mit einem Pinsel als Attribut gekennzeichnet, die „Kirche des Gewesenen“ eingerichtet, mit der er seiner verstorbenen Frau Marie huldigt. Im Lauf des Abends erschließt sich dieser Gedankenraum. Er ist erfüllt von manifestierten Symbolen aus der Vorstellung Pauls, die sich verselbständigen und seine Wahrnehmung bestimmen. Drei Frauen in blauen Kleidern stehen offenbar für verschiedene Aspekte der Erinnerung an die Tote. Eine trägt das Haar, das wie eine Reliquie eine entscheidende Rolle spielen soll. Wenn Marietta, in der Paul bei einer zufälligen Begegnung seine „geliebte Tote“ wieder zu erkennen glaubt, in diesem Raum bei den Worten „Bin ich nicht schön?“ ein blaues Kleid anlegt, wird deutlich, dass die junge Frau mit dem Erinnerungsideal im Kopf des vereinsamten Mannes identisch wird.

Gürbaca arbeitet mit szenischen Signalen – einer blauen Laute, dem Haar der toten Marie, einem Kindertorso als Reinheitssymbol –, um die Spirale der Entillusionierung zu verdeutlichen, in der sich die Tänzerin Marietta immer weiter vom Entwurf des vielleicht nur imaginierten Vorbilds entfernt, bis Paul sie in einem Ausbruch höchster emotionaler Erregung erdrosselt. Diese Szenen sind diffizil erarbeitet, aber Gürbaca neigt – wie etwa auch in ihrem kürzlich wieder aufgenommenen Essener „Freischütz“ – dazu, die Vorgänge mit Details aufzuladen, die eher verunklaren als verdeutlichen.

Die falsche Auferstehung

Die bedeutungsvolle Theaterszene im zweiten Bild etwa, in der die teuflische Rückkehr dreier Nonnen aus dem Grab aus Giacomo Meyerbeers „Robert le Diable“ parodiert wird, knüpft in ihrer distanzierten Gestaltung keinen rechten Zusammenhang zum Rest der Inszenierung, obwohl in ihr etwas Entscheidendes verhandelt wird: Die Untoten thematisieren einen falschen Begriff von Auferstehung – genau jenen, der Pauls Imagination der „wiederkehrenden“ Marie zugrunde liegt und gegen den die Marietta der Außenwelt im Namen des Lebens den Kampf aufnimmt. Ein Kampf, der zum Ausstieg aus dem „Traum der Fantasie“ und zur Erkenntnis führt, es gebe kein Wiederauferstehen. Wer in Gürbacas Inszenierung die Leiche ist, die am Ende deutlich erkennbar in der Gedankenkirche Pauls liegt, bleibt sinnigerweise offen; ebenso unbestimmt bleibt, ob es Paul gelingt, Brügge (die „tote Stadt“) zu verlassen. Sein Freund Frank – von Gürbaca deutlich als „Alter Ego“ Pauls gestaltet – verlässt den Bannkreis des Unheils, Paul dagegen schneidet sich die Schlagader durch.

Korngold war ein begnadeter Virtuose der Instrumentierung, ein Sensualist der Klänge, aber auch ein Könner in der Konstruktion üppiger, schillernder Harmonien. Gabriel Feltz, GMD in Dortmund, kostet die sinnlichen Eruptionen der Musik passioniert aus. Aber das Gürzenich-Orchester sitzt zu breit auseinandergezogen, um die sublimen Mischungen des Klangs, die opalisierenden Effekte verschmelzender Instrumente, die Piano- und Mezzoforte-Raffinessen und Reibungen zu erreichen. So hört man unter Feltz‘ temperamentvoller Leitung mehr von der Technik Korngolds als von seinem koloristischen Zauber. Die Musik bleibt gleißend-kühl und oft sehr laut. Das Orchester wird von Feltz auch nicht so zurückgenommen, dass die Stellen, an denen sich Klangpracht und Kraft der Attacke entfalten könnte, vorbereitet und spannend ausgefüllt werden könnten.

Keine Gnade für die Sänger

Für die Sänger kennt Korngold keine Gnade. Die Partie des Paul dürfte eine der schwersten Tenorpartien im jugendlich-dramatischen Fach sein – und Stefan Vinke bringt ein unglaubliches Durchstehvermögen und bewundernswert ungebrochene Kraft mit. Er hat sich nach anfänglicher Beklemmung energisch freigesungen, verfügt auch in der gesteigerten Emphase des Finales noch über Reserven. Freilich bleiben bei einer so überhitzten vokalen Stichflamme die Momente des Zurücknehmens, der Melancholie, der lyrischen Bewegung äußerlich.

Auch Kristiane Kaiser powert sich durch die Partie der Marietta/Marie, singt durchgestützte Linien in hoher Tessitura, erschrickt nicht vor der drängenden Attacke. Ihr Sopran hat keinen sinnlichen Samt, kein geschmeidiges Legato. Kaiser rettet sich immer wieder in kraftvoll gepushte Töne. Mit Druck bleiben aber Farben und Klangdifferenzierung auf der Strecke. Eine eher imponierende als berührende Tour de force, die allerdings auch dem Dirigenten geschuldet ist: Auf die Sänger nimmt Feltz keine Rücksicht. Miljenko Turk lässt als Frank und als Pierrot einen noblen, technisch solide abgesicherten Bariton hören.

Szene aus der „Toten Stadt“ mit Dalia Schaechter als Brigitte (rechts). (Foto: Paul Leclaire)

Für Dalia Schaechter bietet die Partie der Haushälterin Brigitte keine stimmliche Herausforderung. Als Gegenspielerin von Marietta entfaltet sie aber ihre wunderbare Vertrautheit mit allen Nuancen der Bühnenkunst. Im Ausdruck untergründigen Begehrens, in den von Paul übersehenen Signale der Sehnsucht, beachtet zu werden, im Versuch, den Mann aus den Wirren seiner eigenen Imagination zu befreien und für sich zu gewinnen, zeigt sich die Meisterschaft der großen Darstellerin.

100 Jahre nach der Uraufführung bewegt sich diese Produktion der Kölner Oper auf der Höhe der Zeit und öffnet jenseits kulinarischer Opulenz den Weg zum Nachdenken über die Frage, wie Realität entsteht und welche Wirkung unsere innere Disposition auf das Erfassen unserer Welt hat. Wahrlich alles andere als ein belangloses Thema.

Nähere Informationen hier




Keine Erlösung: Webers „Freischütz“ als ausweglose Endlosschleife der Gewalt

Blutiges Kugelgießen: Maximilian Schmitt (Max) und Heiko Trinsinger (Kaspar) in Webers „Freischütz“ am Aalto-Theater Essen. Foto: Martin Kaufhold

Jetzt würde er gern wieder durch die Wälder und Auen streifen, Max der Jägerbursche. Allein: Auf der Bühne des Essener Aalto-Theaters ist der Wald zu einem einsamen dürren Ast verdorrt. Und die Auen liegen hinter einem düsteren Dorfanger, umstellt von schwarzen Haussilhouetten.

Ein „Exit“, wie mit Kreide an die Wand geschrieben, öffnet sich da nicht. GOTT steht in Spiegelschrift an der Wand, neben einem Kreuz. Den haben die Menschen also auch hinter sich gelassen, die sich „in Güte und Liebe“ lustvoll gezwungener Gewalt und kollektivem Sex hingeben. Allerlei magischer Krimskrams hilft nicht aus der Not: Das Pentagramma macht dem Teufel keine Pein, an die Wand genagelte Tierkörperteile setzen keine rettende Kräfte frei. Und das Böse spricht erst im Kollektiv und dann aus einem Wesen, das man im weißen Kleid als die reinste Unschuld betrachten würde. „Hier bin ich.“

Heiko Trinsinger als Kaspar. Foto; Martin Kaufhold

Tatjana Gürbaca hat in Essen aus Webers „Freischütz“ eine hoffnungslose Dystopie gemacht, aus der niemand entkommt. Das Kreuz an der Wand, an dem erst Max am Pranger steht, später Agathe gebannt wirkt, ist ein Passions-, aber kein Erlösungszeichen. Die Menschen wiederholen ihre Traumata, ihre uneingestandene Schuld, ihre verborgenen Qualen. Die Wolfsschlucht ist kein ferner Ort, sondern Zentrum der Gesellschaft, die ihre verdrängten Erinnerungen ritualisiert hat und von ihnen geschüttelt wird. Bis ins vierte Glied, so sagt die Bibel, würden die Sünden der Väter gerächt – und was damit gemeint ist, lässt Gürbaca auf der Bühne sehen: Die Untaten ereignen sich wie in einer traumatisierten Seele immer wieder. Gewalt und Erniedrigung in Endlosschleife.

Deutscher Wald oder Gefängnisdraht?

Am Ende kommt doch so etwas wie der „deutsche Wald“ zurück, oder ist es die Projektion von Stacheldraht? Klaus Grünbergs Bühne versinkt in einem schwarz-weißen Rauschen, aus dem sich wie Erinnerungs-Blitzlichter Bilder und Szenen manifestieren und wieder verschwinden. Gürbaca zertrümmert so die Erzählung des glücklichen Endes. Wer da auf wen oder was seine Hoffnung setzt, ist nicht mehr entscheidend. Der Weg hinaus ist ein Gleis, das in graue Ferne führt.

Oder endet es, wie eine Äußerung Gürbacas im Programmheft nahelegt, in Auschwitz? Die Romantik als Vorbereitung des deutschen Chauvinismus und letztendlich der Weltkriege und des Völkermords ist die These, mit der die Regisseurin ihre Inszenierung belädt und die sie mit der Projektion andeutet. Doch es gibt noch ein szenisches Signal: Die weißen Rosen sind erst zum Schluss zum Kranz gebunden: Es ist eine Totenkrone, ein Grabkranz oder was auch immer, das einsam vor der schwarzen Bühne leuchtet. Rettung ist in dieser Welt nicht möglich, vielleicht – das könnte man aus dem Rosenkranzmotiv als vage Hoffnung herauslesen – in der jenseitigen?

Kugeln aus blutiger Brust

Die unauffälligste Gestalt in dieser unheilvollen Welt ist Max: Sieht er den Probeschuss als Ausweg? Maximilian Schmitt beschwört die Erinnerung an eine unbeschwerte Existenz und seine Verzweiflung hingebungsvoll sorgfältig gestaltet und in der Tongebung frei. Ihm wühlt Kaspar in der Wolfsschlucht mit blutigen Händen die Freikugeln aus dem Körper, ein brutales Bild der inneren Not, die den dunklen Jägerburschen treibt. Heiko Trinsinger hat in seinem üppigen Bariton die abgründige Farbe der Drohung, den grinsenden Glanz der tückischen Trinksprüche und den verächtlichen Sarkasmus eines Menschen, der im Kampf ums Überleben alle Illusionen verloren hat – bis auf die, Samiel könne einen Ausweg öffnen und ihm doch noch die Frist verlängern.

Gürbaca betont die im Libretto nur angedeutete Dreiecksbeziehung zwischen den beiden Männern und Agathe: Kaspar tanzt am Ende des ersten Bildes mit ihr hinaus; in „Leise, leise“ lösen sich Max und Kaspar aus dem Schatten der Häuserzeile zu einem surrealen Trio mit Agathe. Hoffnung, Rettung verspricht sie sich wohl von Max, denn wenn all ihre „Pulse schlagen“, packt sie einen Koffer – eine jener Chiffren, die Gürbaca in überbordender Detailfülle einsetzt und die später in den „lebenden Bildern“ des Finales den Zuschauer nur noch überfluten. Rebecca Davis singt eine leichtgewichtige Agathe mit schlankem Ton, in den großen Bögen mit angefochtener Substanz und einem soubrettigen Anklang, in dem sich andeutet, was in forcierter Höhe bestätigt wird: Mit der Fundierung der Stimme im Körper ist es nicht weit her.

Befeuerte Musik

Kilian im Soldatenrock (zeitlich nicht festgelegte Kostüme: Silke Willrett), also alles andere als ein des Schießens ungeübter Bauer, ist von Rainer Maria Röhr mit schneidend greller Stimme passend gezeichnet; dem Fürsten, der sich vornehmlich um seinen Braten kümmert, gibt Tobias Greenhalgh nachdrückliche Sätze. Kuno (Karel Martin Ludvik) und die Schlüsselrolle des Finales, der von Christoph Seidl ansprechend gesungene Eremit, sind in diesem Konzept zu szenischer Blässe verurteilt. Die Brautjungfern sind ein Haufen graumausiger, streng gekleideter, aggressiver Frauen, aus denen Uta Schwarzkopf und Helga Wachter solistisch heraustreten. Auch Wendy Krikkens Ännchen kann szenisch kaum Profil gewinnen; gesanglich passt ihre frische, leichtgewichtige Stimme eher zu ihrem Auftritt im ersten Aufzug als zur ironisch-dramatischen Schilderung von „Nero, dem Kettenhund“.

Lustvolle Gewalt, aber „alles in Liebe und Güte“: Der Chor des Aalto-Theaters hat im „Freischütz“ eine Hauptrolle. Foto: Martin Kaufhold

Mit Chor und Statisterie hat der Leiter der Wiederaufnahme, Sascha Krohn, ganze Arbeit geleistet: Die exaltierte Bewegungsregie der Wolfsschluchtszene und die rasch wechselnden Positionen in den Bildern des Finales funktionieren. Auch musikalisch wirkt der Chor, einstudiert von Jens Bingert, auf der Höhe. Die Premiere im Dezember 2018 hatte Essens GMD Tomáš Netopil geleitet. Bei der Wiederaufnahme – passend zum 200. Jahrestag der Uraufführung des „Freischütz“ – steht sein Bremer Kollege Yoel Gamzou am Pult der glänzend aufgelegten Essener Philharmoniker.

Der Beginn der Ouvertüre wirkt zäh, trotz heftigen Körpereinsatzes bleibt die innere Spannung zunächst mäßig. Das ändert sich im Lauf des Abends, den Gamzou mit befeuernder Leidenschaft und energischer Kraft bestreitet, ohne Details zu übergehen oder sich an starren Tempi festzuhalten. Der Jägerchor wird bei ihm mit betonter, stampfender Regelmäßigkeit beinahe zur Parodie eines gemütvollen Männergesangsvereins. Mit diesem „Freischütz“ reiht sich Essen ein in die Bühnen, die in den letzten Jahren ambitionierte Regieansätze und komplexe Deutungen eingesetzt haben, um den Rang von Webers Oper als aktuelles Kunstwerk zu behaupten und zu bestätigen.

Weitere Vorstellungen am 24. Oktober und 14. November.
Info: www.theater-essen.de




Luzifers Tanz und Traum – Mit Stockhausen-Erstaufführung beginnt am 29. Oktober das Festival „NOW!“ in Essen

Seit seiner Gründung im Jahr 2011 hat das Essener Festival „NOW!“ die Liebhaber zeitgenössischer Musik mit faszinierenden Programmen verwöhnt. Die Eröffnung in diesem Jahr verspricht jedoch ein außergewöhnliches Ereignis. Am 29. Oktober erklingen in der Philharmonie „Luzifers Tanz“ und „Luzifers Traum“ aus Karlheinz Stockhausens monumentalem Sieben-Tage-Musiktheater-Zyklus „LICHT“.

Präsentation des Programms des Festivals „NOW!“ in der Philharmonie Essen. Abgebildet sind: (v.l.) Christof Schläger (Installationskünstler), Christof Wolf (Stiftung Zollverein), Dr. Ingomar Lorch (Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung), Hein Mulders (Intendant Philharmonie Essen), Marie Babette Nierenz (Künstlerische Leiterin Philharmonie Essen), Prof. Günter Steinke (Folkwang Universität der Künste) (Foto: TUP)

Zu dem spektakulären musikalisch-szenischen Projekt aus Stockhausens „SAMSTAG aus LICHT“ hat die Philharmonie in zweijähriger Vorbereitung alle fünf Musikhochschulen in Nordrhein-Westfalen für eine Kooperation gewonnen, die auch in die Studienarbeit der Hochschulen integriert ist. Anders – so „NOW!“-Kurator und Folkwang-Professor Günter Steinke – wäre der immense Aufwand nicht zu stemmen gewesen: Für die deutsche Erstaufführung von „Luzifers Tanz“ in der originalen Fassung für Harmonieorchester werden 70 Bläser und 10 Schlagzeuger benötigt.

Das von Stockhausen erdachte szenische Konzept kann im Alfried Krupp Saal optimal umgesetzt werden: Die Musiker werden auf der Empore in Gruppen verteilt und symbolisieren bei entsprechender Ausleuchtung mit ihrem Spiel und mit Bewegungen die Fratze Luzifers, lassen etwa die Augenbrauen, die Nase oder das Kinn „tanzen“. Philharmonie-Intendant Hein Mulders, der sein letztes „NOW!“-Festival bei einer Pressekonferenz präsentierte, sagt mit Recht: „Das hört man einmal, das kommt nicht wieder.“

Uraufführungen und moderne Klassiker

Nicht so schnell wiederkommen dürften auch die Programm-Kombinationen unter dem Motto „Mikrokosmos – Makrokosmos“ und die Anwesenheit prominenter Komponisten wie Nikolaus A. Huber, Helmut Lachenmann oder Rebecca Saunders, die 2019 den Ernst von Siemens Musikpreis erhielt – einer der weltweit wichtigsten Auszeichnungen auf diesem Gebiet. Elf Uraufführungen und zwei deutsche Erstaufführungen werden in den 20 Veranstaltungen zwischen 29. Oktober und 7. November erklingen.

Wie immer stehen die Novitäten und wichtige Zweitaufführungen von kürzlich erst aus der Taufe gehobenen Stücken in Bezug zu „Klassikern“ der modernen Musik. Zu nennen sind da etwa Luigi Nonos „…sofferte onde serene …“ für Klavier und Tonband (30. Oktober in der Folkwang Universität) und sein letztes Werk „On hay caminos, hay que caminar … Andrej Tarkowskij“ von 1985 (7. November in der Philharmonie). Dann Helmut Lachenmanns frühe Werke „Kontrakadenz“ (30. Oktober in der Philharmonie Essen) und „Allegro sostenuto“ (31. Oktober im RWE Pavillon der Philharmonie). Oder ein zentrales Werk der Zwölftonmusik, Arnold Schönbergs „Variationen für Orchester op. 31“ (30. Oktober in der Philharmonie) und Olivier Messiaens „Chronochromie“ für Orchester (6. November in der Philharmonie).

Die Liste der Ur- und Zweitaufführungen liest sich ebenfalls prominent: In der ersten der drei Veranstaltungen der Folkwang Universität der Künste in der Neuen Aula in Essen-Werden am 30. Oktober, 16 Uhr, erklingt viel elektronische Musik, darunter zum ersten Mal „Seven Rotations of Seven for Three (Triple Doubles) für drei Violen mit oder ohne Live-Elektronik“ des seit 2017 amtierenden Folkwang-Professors für elektronische Komposition, Michael Edwards. Das hr-Sinfonieorchester hat für sein Konzert am 30. Oktober, 18.30 Uhr, zwei Auftragswerke der Philharmonie Essen im Notenkoffer: „NUT I LAC“ des Leiters des Studios für elektroakustische Musik (SeaM) in Weimar, Maximilian Marcoll, und ein neues Werk des 1939 geborenen Bialas-, Nono- und Stockhausen-Schülers Nicolaus A. Huber mit dem ironischen Titel „Lockdown – Basket Music“.

Endoskopie in der Tuba

Der Komponist Simon Steen-Andersen. Foto: Sven Lorenz

Das Trio Catch in der ungewöhnlichen Besetzung Klarinette, Cello und Klavier kommt am 31. Oktober um 16 Uhr in den RWE Pavillon der Essener Philharmonie und spielt zwei erst kürzlich uraufgeführte Werke: „Whirl and Pendulum“ des 1980 in Wien geborenen Matthias Kranebitter und ebenfalls ein Pandemie-Stück, „Fenster – zwölf wundersame Welten im Lockdown“ der Ungarin Judit Varga. Uraufgeführt wird am 31. Oktober, 19 Uhr, ein weiteres Auftragswerk der Philharmonie Essen: Der Tubist Melvyn Poore spielt Simon Steen-Andersens „TRANSIT“, ein „szenisches Konzert“ für Tuba, Ensemble und Live-Endoskopie, bei dem eine Mini-Kamera ins Innere des Instruments eingelassen wird und Bilder überträgt, während die Töne erzeugt werden.

Rebecca Saunders trägt ebenfalls ein neues Werk zum Festival bei: Das Ensemble Modern spielt am 4. November, 20 Uhr in der Philharmonie eine Collage für Musik und Tanz, entwickelt gemeinsam mit der Performerin und Choreographin Frances Chiaverini. Auch dabei spielt ein szenisches Konzept eine Rolle: Die Ensembles, Musiker und Tänzer werden dezentral verteilt und bespielen den gesamten Raum.

Rebecca Saunders, Siemens Musikpreiträgerin des Jahres 2019. Foto: Astrid Ackermann

Das JugendZupfOrchester NRW unter Eva Caspari hat am 1. November, 17 Uhr gleich vier neue Werke im Programm seines Konzerts im RWE Pavillon. Sie stammen von Andrea Tarrodi, Christopher Grafschmidt, Lutz Werner Hesse und Mike Marshall. Beinahe eine Uraufführung ist „Tableaux“ für Orchester von Beat Furrer, das kurz zuvor in Donaueschingen vorgestellt wird und am 6. November, 20 Uhr im Konzert des SWR Symphonieorchesters in der Philharmonie erklingt. Weitere Uraufführungen tragen Hèctor Parra und Ying Wang bei.

Maschinen musizieren auf Zollverein

Der Klangkünstler Christof Schläger mit seinen Schiffshörnern in der Maschinenhalle auf Zeche Teuthoburgia in Herne, in der er seine Werkstatt hat.
Foto: Gregor Schläger.

Im Zentrum des Programms auf Zollverein stehen die spektakulären Klangerzeuger-Neuerfindungen des Komponisten, Klang- und Installationskünstlers Christof Schläger. Der Erfinder und Ingenieur hat in seiner Maschinenhalle in Herne mechanisch-akustische Instrumente geschaffen, von denen er 62 in drei Aufführungen im Salzlager der Kokerei Zollverein am 5., 6. und 7. November präsentiert. „Reconnected“ ist der Titel des Konzerts für „musikalische Maschinen“. Das Publikum sitzt und – im Idealfall – bewegt sich dabei nicht in einem extra Raum für Zuhörer, sondern zwischen den Maschinen und fängt die Eindrücke eines überraschenden Kosmos aus transformierten Alltagsgeräuschen, neuen Klangzusammenhängen und technischen Rhythmen auf.

Das Festival wird in bewährter Weise getragen von der Philharmonie Essen, der Folkwang Universität der Künste und der Stiftung Zollverein und vom Landesmusikrat NRW, der Kunststiftung NRW und der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung gefördert. Einzeltickets (17 Euro) gibt es unter www.theater-essen.de und telefonisch unter (0201) 81 22 200. Mit dem NOW!-Festivalpass (25 Euro) sind für alle Veranstaltungen vergünstigte Karten zu jeweils 6,60 Euro erhältlich. Die ermäßigten Tickets lasen sich nur telefonisch oder beim TicketCenter (II. Hagen, 45127 Essen) erwerben. Der Vorverkauf beginnt am 14. Oktober.

Info: www.theater-essen.de




Südsee-Glamour und politische Utopie: Paul Abrahams Operette „Blume von Hawaii“ in Hagen

Frank Wöhrmann (Jim Boy) und Penny Sofroniadou (Raka) in Paul Abrahams „Blume von Hawaii“ in Hagen. (Foto: Klaus Lefebvre)

Was der Gentleman im Dschungel zu tun hat, erfahren wir nicht so richtig. Aber dass ihm bei einem möglichen Rendezvous die Affen zuschauen, der Tiger brüllt und jede Menge „uh uh“ dabei ertönt, macht uns Paul Abraham in diesem herrlichen Nonsens-Song ausgiebig bewusst.

In Hagen, wo die Operette zum Glück noch eine Heimstatt hat, gibt es mit der „Blume von Hawaii“ eine prickelnde Mischung aus höherem Blödsinn, kitschtriefender Südsee-Romantik und behutsamen politischen Anspielungen – also eine Melange wie geschaffen für eine wirkungsvolle Unterhaltungs-Show. Doch die musste coronabedingt mager ausfallen: Bei der Premiere im Oktober letzten Jahres war Abstand nötig und weder große Chorauftritte noch opulente Tanznummern möglich.

Regisseur Johannes Pölzgutter reduziert folgerichtig bis nahe ans Kammerspielformat, in dem jedoch die Personen mit ihren Nöten und Konflikten schärfer gefasst sind. Die Tableaus treten zurück, mit denen Abrahams Operette im Berlin der Wirtschaftskrise und des Verfalls der Weimarer Republik die vergnügungssüchtige Gesellschaft in eine exotische Märchenwelt einlullte. Pölzgutter dagegen hebt auch durch behutsame textliche Retuschen den Konflikt zwischen den Amerikanern als kolonialer Besatzungsmacht und der hawaiianischen Opposition hervor: Die letzte Anwärterin auf den Thron von Hawaii, Prinzessin Laya, kehrt inkognito aus einem durchaus vergnüglichen Pariser Exil in ihre Heimat zurück, verliebt sich nicht nur in den Kapitän ihres Dampfers, sondern auch in Volk und Vaterland und soll statt zur harmlosen „Blume von Hawaii“ zur richtigen Regentin gekrönt werden. Klar, dass der amerikanische Gouverneur not amused ist und die politische Demonstration zu verhindern versucht. Dank der Liebe hat er Erfolg, und die Operette könnte nach dem zweiten Akt in einer Tragödie enden. Doch dem stehen eherne Gesetze des Genres entgegen. Im dritten Akt löst sich alles in liebestolles Wohlbehagen auf und gleich vier Paare finden sich.

Hawaii-Glamour auf Distanz

Prinzessin Laya (Angela Davis) steht im Spannungsfeld zwischen politischen Forderungen und privaten Gefühlen. Kanako Hilo (Insu Hwang) will sie für den Widerstand gewinnen. Die Hochzeit mit Prinz Lilo-Taro (Richard van Gemert) soll die Monarchie von Hawaii festigen. (Foto: Klaus Lefebvre)

Pölzgutter erfindet, um den Hawaii-Glamour durch Distanz erträglich zu machen, eine Rahmenszene: Zu Beginn hängt der unglückliche Kapitän Stone in einem Varieté erinnerungs- und alkoholtrunken mächtig in den Seilen, während eine leicht derangierte Diseuse „ein Schwipserl“ hat und vergeblich um die Aufmerksamkeit des abgetakelten Seemanns buhlt. Dann öffnet sich die Bühne und lässt eine billig aufgemachte Hawaii-Show sehen: Unter Goldpalmen präsentiert sich das „Paradies am Meeresstrand“, bevölkert von Yankees mit Plastik-Blumenkränzen und auf naiv getrimmten Locals.

Doch die Show verliert zunehmend ihren inszenierten Touch; der Bühnenrahmen verschwindet und wir sind mitten in einem Traum, in dem es um Liebe und Verzicht, Macht und Intrige geht. Wirkungsvoll arbeitet Pölzgutter den Konflikt heraus, in dem sich die eindrucksvoll spielende Angela Davis als Laya unversehens wiederfindet: Sie hat nicht damit gerechnet, das politische Faustpfand der Unabhängigkeitsbewegung unter dem wild entschlossenen Kanako Hilo (eine undurchsichtige Gestalt: Insu Hwang) zu werden; sie hat auch nicht damit gerechnet, dem ihr schon als Kind zugesprochenen Bräutigam, Prinz Lilo-Taro (kernig und altväterlich: Richard van Gemert) zu begegnen und sogar Empfindungen jenseits von Pflichtgefühl für ihn zu entwickeln.

Und dann gibt es da noch die Amerikaner, die sich fröhlich und machtbewusst durch die Szenerie steppen: Der pfiffige John Buffy (Alexander von Hugo) überlebt vokal nur mit Mikroport, hat aber dank eines gut geölten Mundwerks das Glück auf seiner Seite. Ebenso Frank Wöhrmann als Jim Boy, dem man seinen Song „Bin nur ein Jonny“ gestrichen hat, um eilfertig jedem Vorwurf von „Rassismus“ zu entgehen, und der damit vom melancholischen „Nigger“ zur frohgemuten Nebenfigur abgewertet wird. Einen mondänen Auftritt hat die verwöhnte Bessie Worthington, die der Gouverneur als gute Partie für den Hawaii-Prinzen importiert hat, die sich aber im saftigen Spiel und Gesang von Alina Grzeschik rasch emanzipiert.

Utopie statt Desaster

Wären wir nicht in der Operette, das Ende käme als Desaster: Die Krönung der Königin vereitelt, Laya gefangen, Lilo-Taro auf dem Weg zum Selbstmord auf offenem Meer, der wackere Kapitän Stone (unstet und unfrei: Kenneth Mattice) wegen Befehlsverweigerung entlassen, Buffy, Jim und das kleine, süße Hawaii-Girl Raka vor dem Vakuum ihrer gescheiterten Liebe. Doch der dritte Akt, in Paris, richtet es: Das Varieté kehrt wieder. Penny Sofroniadou als frischstimmige Raka wandelt sich vom radebrechenden Naivchen zur Strippenzieherin, die studiert hat und drei Sprachen beherrscht. Paar für Paar wird die Liste des Begehrens abgearbeitet; zum Schluss bekommt Buffy auch seine Bessie. Und Pölzgutter erfindet zur Krönung noch eine politische Utopie: Versehentlich unterschreibt Gouverneur Harrison (Götz Vogelgesang) ein Papier, in dem er auf sämtliche Rechte auf Hawaii verzichtet. Schöne, heile Operettenwelt!

Auch in Hagen verwendet man die „bühnenpraktische Rekonstruktion“ der vor etwa 15 Jahren zufällig wiedergefundenen Original-Partitur von Matthias Grimminger und Henning Hagedorn. Sie stellt die ursprüngliche Instrumentation aus dem Geist der Zwanziger Jahre wieder her, gespeist aus genauer Kenntnis des Notentextes und der alten Aufnahmen. Das gibt ein lebendiges, facettenreiches Klangbild, doch die die Musiker des Philharmonischen Orchesters Hagen legen sich unter Andreas Vogelsberger allzu mächtig ins Zeug und werden zu laut, was auf Kosten der Differenzierung geht und den Sängern Probleme bereitet. Wenn das Schlagzeug nicht überbetont ist, erinnert der swingende Rhythmus – allerdings ohne die Stütze des Sousaphons – an die Schellack-Zeugnisse von Paul Abrahams Stil. Spaß macht es, wenn es gelingt, die vibrierende Energie, die Farbwechsel, den melodischen Schmelz auszuspielen. Dann wird der Sound einer fiebrig-ausgelassenen Zeit lebendig, die ahnungsvoll und besinnungslos in ihren Untergang tanzte.

Buchtipp: Der in Witten lebende Autor Klaus Waller hat 2014 eine Biographie über den Komponisten veröffentlicht, die 2021 in einer Neuauflage erschienen ist: Paul Abraham. Der tragische König der Operette: Eine Biographie. 384 Seiten, 196 Abbildungen. starfruit publications, Fürth, 28,00 Euro.

 




Ein großes Versprechen: Der 26jährige Patrick Hahn tritt sein Amt als GMD in Wuppertal an

Patrick Hahn und das Sinfonieorchester Wuppertal. (Foto: Uwe Schinkel)

Ein spannender Tag für Wuppertal. Man spürt es im Publikum. Erwartungsfroh strömen die Menschen in die Historische Stadthalle. Das Foyer füllt sich wie früher. „Was für ein Zeichen des Aufbruchs“, freut sich Wuppertals Oberbürgermeister Uwe Schneidewind.

Nach eineinhalb Jahren Corona-Pandemie ist der glanzerfüllte Saal der Stadthalle wieder einmal voll besetzt. 1.200 Menschen erwarten den neuen Generalmusikdirektor Patrick Hahn zu seinem Antrittskonzert. Und auf dem Podium harrt das volle Orchester.

Patrick Hahn ist erst 26 Jahre alt und der jüngste GMD im deutschsprachigen Raum. Mit 19 stand er in Budapest zum ersten Mal vor einem großen Profi-Orchester; inzwischen hat er eine stattliche Liste vorzuweisen, die vom Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks über das Gürzenich-Orchester Köln und die Düsseldorfer Symphoniker bis zu den Wiener Symphonikern reicht – eingeschlossen Dirigate an der Bayerischen Staatsoper München, wo er mit Kirill Petrenko zusammengearbeitet hat.

Der neue Wuppertaler GMD, Patrick Hahn. (© Gerhard Donauer C&G Pictures)

Als „Shooting Star“ gehandelt, hat Hahn neben seinem Wuppertaler Engagement noch weitere Posten angenommen: Er ist Erster Gastdirigent und künstlerischer Berater beim Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra und übernimmt die neu eingerichtete Position eines Ersten Gastdirigenten beim Münchner Rundfunkorchester, wo er die neue Spielzeit am 10. Oktober mit dem 1. Sonntagskonzert und Viktor Ullmanns Kammeroper „Der Kaiser von Atlantis“ eröffnet.

In Wuppertal will Hahn sechs von zehn Abo-Konzerten und zwei Opern pro Spielzeit dirigieren. Eine Menge Verpflichtungen; ob der neue Stern am Dirigentenhimmel sie mit jugendlicher Energie alle zu erfüllen weiß, wird die Zukunft erweisen. Die Stadt hat erst einmal mit seinem Engagement einen Coup gelandet und die Wuppertaler haben den jungen Mann mitsamt dem Orchester mit herzlich langem Beifall begrüßt.

Dokument des Ehrgeizes

Hahn, in Graz geboren, stellt sich mit einer Hommage an einen der bedeutendsten österreichischen Komponisten der Moderne und einer Huldigung an die Alpen vor. Anton Weberns „Sechs Stücke für Orchester“ op. 6 sind ungeachtet ihrer Kürze und Transparenz eine diffizile Herausforderung für Orchester und Dirigent. Bei Richard Strauss‘ „Eine Alpensinfonie“ liegt die Sache umgekehrt: Da sind Länge und Opulenz zu bewältigen. Doch die Fülle saftiger Akkorde und das Leuchten des Instrumentierungsglanzes darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass bei aller üppigen Pracht eine ausgefeilte Balance der klanglichen Hierarchien vonnöten ist, sollen die Alpen nicht im dicken Nebel der orchestralen Fülle versinken, sondern ihre Gipfel klar und strahlend präsentieren.

Strauss‘ Alpensinfonie wird an diesem Abend zum Dokument des Ehrgeizes. Dieser junge Mann will viel, und er hat das Zeug, alles zu erreichen. Das zeigt sich in exemplarischen musikalischen Bildern, die ja oft als bloß illustrative Naturschilderungen missverstanden werden, tatsächlich aber eine Reflexion auf den Kosmos der Strauss’schen Form- und Klangvorstellungen sind. Hahn wählt den passenden Ansatz, wenn er die Musik nicht allzu illustrativ auffasst, wenn er sich darum bemüht, die breite Malerei („Auf dem Gipfel“ – „Vision“) nicht pastos aufzutragen, wenn er im Gebrodel von Sturm und Blitzen das Orchester – manchmal allerdings vergeblich gegen die Spiellust ankämpfend – vor platten Effekten zu bewahren sucht, wenn er das Gebimmel auf blumigen Almwiesen und das Duljöh der Holzbläser mit Mahler’scher Ironie übertreiben lässt.

Harte Arbeit bis zum Gipfel

Aber auf der anderen Seite spürt man deutlich, dass Dirigent und Orchester noch nicht beieinander angekommen sind. Die Routine im positiven Sinne fehlt. Der mystische, dem „Rheingold“ abgelauschte Beginn, der aller Strauss’schen Anti-Transzendenz Hohn spricht, bleibt (noch) brüchig. Der Aufschwung des Sonnenaufgangs gerät laut, nicht strahlend. Auf dem Weg zum Gipfel arbeiten sich Hahn und sein neues Orchester vorwärts, lassen so manche Schönheit unbeachtet, verlieren sich im Getümmel, das den Musikern willkommene Gelegenheit bietet, loszulegen, statt die raffinierten Strauss-Abmischungen durch eiserne Disziplin der klanglichen Balance einzuholen. Diese Alpenwanderung ist ein großes Versprechen, aber noch keine Erfüllung.

Mit exquisiten Klangmischungen haben es Hahn und das Sinfonieorchester Wuppertal auch in Anton Weberns Orchesteraphorismen zu tun, die wie so manche in Sprache gefassten Sinnsprüche höchste Prägnanz mit scheinbar improvisatorischer Spontaneität verbinden. Patrick Hahn steuert die transparente Luzidität, die kammermusikalische Finesse dieser vorbeihuschenden Miniaturen an. Die Soli aus den Reihen der Sinfoniker, etwa des neuen Konzertmeisters Nicolas Koeckert, sind brillant. Die riesige Geräuschwalze des „Trauermarsches“ (Nr. 4) gelingt aufmerksam kalkuliert. Bei Webern sind wir dem Einlösen des Versprechens schon sehr nahe.

Marlis Petersen, 2014 in Bellinis „La Straniera“ in Essen, als Alban Bergs „Lulu“ in Wien, München und New York gefeiert, als „Ophélie“ in Ambroise Thomas‘ „Hamlet“ gerühmt, als Aribert Reimanns „Medea“ in Wien ausgezeichnet, gehört zu den schlankstimmigen Strauss-Interpretinnen. In den „Vier letzten Liedern“ in Wuppertal kann sie ihren Ruf nur schwer verteidigen. Zum straff geführten, klanglich aber unspezifischen Orchester setzt sie sich mit kopfigem Vibrato, dünner Höhe und klangloser Tiefe nicht durch, lässt ihren Sopran nicht frei strömen und in den herrlichen Legati Samt und Leuchtkraft missen. Dem gespannten Ton fehlt die Flexibilität zur Gestaltung. Ein seltsamer Eindruck der jüngst gekürten bayerischen Kammersängerin, deren „Salome“ von der Kritik als fulminante, atemberaubend fesselnde Charakterstudie gefeiert wurde. Mag sein, dass ihr „weißliches, nicht sinnliches Timbre“ (Manuel Brug) für die raffiniert-kindliche Prinzessin passend ist, für Strauss‘ Weltabschied taugt es nicht.

Patrick Hahn ist am Sonntag, 19. September, und Montag, 20. September 2021 erneut am Pult des Sinfonieorchesters Wuppertal zu erleben. Als Solist begrüßt er den in Wuppertal bereits mehrfach gefeierten Cellisten Alban Gerhardt, der die Hebräische Rhapsodie „Schelomo“ von Ernest Bloch im Gepäck hat. Außerdem im Programm: „In the Beginning“ , das letzte Werk des 2016 verstorbenen finnischen Komponisten Einojuhani Rautavaara, und – passend zum 125. Todestag von Anton Bruckner – dessen Vierte Sinfonie.

Tickets sind erhältlich online unter www.sinfonieorchester-wuppertal.de oder telefonisch unter (0202) 563 7666. Es dürfen nur getestete, genesene oder geimpfte Personen die Konzerte besuchen.




Reisen durch ein fantastisches Universum: Vor 100 Jahren wurde Stanislaw Lem geboren

Als Science-Fiction-Autor wollte er sich nicht gerne bezeichnen lassen, aber auf diesem Feld hat sich Stanislaw Lem einen unsterblichen Namen gemacht. Vor 100 Jahren, am 12. September 1921, im damals noch polnischen Lemberg geboren, hat er originelle Werke voll Humor und visionärer Kraft geschrieben, die laut Wikipedia in 57 Sprachen übersetzt und über 45 Millionen Mal verkauft wurden.

Die Werke von Stanislaw Lem erscheinen im Suhrkamp-Verlag, so auch der Roman „Die Stimme des Herrn“. (Cover: Suhrkamp Verlag)

Zu seinen bekanntesten Büchern zählt der Roman „Solaris“, der drei Mal verfilmt und von Michael Obst, Detlev Glanert und Dai Fujikura auch zum Opernstoff erkoren wurde. Stanislaw Lem hatte gerade begonnen, Medizin zu studieren, als die Deutschen in Lemberg einmarschierten. Während des Krieges gelingt es ihm, seine jüdische Herkunft zu verschleiern; er arbeitet als Mechaniker und Schweißer für eine deutsche Firma. Bis auf Vater und Mutter wurde seine Familie Opfer des Holocausts. Wehrmacht und Rote Armee, Sowjets und Deutsche: Die Erfahrung willkürlicher Gewalt und der zerstörerischen Katastrophe der Besatzungszeit in Polen prägten ihn.

1946 zieht er aus seiner nun sowjetisch besetzten Heimat nach Krakau und studiert weiter. Da er sich weigert, im Abschlussexamen Antworten im Sinne der stalinistischen Ideologie zu geben, fällt er durch und geht, da er nicht als Arzt arbeiten kann, in die Forschung.

In dieser Zeit beginnt seine schriftstellerische Arbeit. 1946 erscheint in einer Zeitschrift „Der Mensch vom Mars“. Lem spricht darin bereits Themen an, die in späteren Werken bedeutsam werden sollten: Das Wesen vom Mars ist eine Kombination aus einem organischen Gehirn und einer atomgetriebenen Maschine, ungeheuer fremdartig, ohne Gefühl und Empathie, aber nicht bösartig. Die Menschen, die es untersuchen, haben jedoch kein Interesse an der Persönlichkeit des Außerirdischen; es gelingt ihnen keine dauerhafte Kontaktaufnahme.

Unbegreiflich andersartige Intelligenz

Diese Unfähigkeit, mit unbegreiflich andersartigem Leben, mit unverständlicher Intelligenz umzugehen, ist auch in „Solaris“ ein bestimmendes Thema. Dort umfließt ein riesiges Wesen wie ein Ozean einen ganzen Planeten. Ewig alleine, versucht es, mit den Menschen in Kontakt zu treten, die es entdeckt haben und die seit Generationen versuchen, das offenbar denkende Plasmameer zu erforschen. Lem verweigert sich in diesem wie in anderen Romanen einfachen Lösungen, aber die offen bleibende, dennoch sehr bewegende Begegnung des Psychologen Kelvin mit dem Wesen deutet den utopischen Moment eines Kontakts an.

Mit dem in viele Sprachen übersetzten Roman „Die Astronauten“ gelingt Lem 1951 ein Erfolg, der es ihm ermöglicht, als freischaffender Autor zu leben. Das Buch erschien drei Jahre später in der DDR auf Deutsch als „Der Planet des Todes“. Eine Expedition zur Venus entdeckt dort die Reste einer aggressiven Zivilisation, die sich selbst vernichtet hat, bevor sie ihren Plan, alles Leben auf der Erde auszulöschen, in die Tat umsetzen konnte. „Wesen […], die sich die Vernichtung anderer zum Ziel setzten, tragen den Keim des eigenen Verderbens in sich – und wenn sie noch so mächtig sind“, schreibt Lem über sein Buch, das er später selbst als „naiv“ bezeichnet hat.

Nachdenken über technologischen Fortschritt

Aber die gesellschaftlichen Probleme und Visionen, die Lem auch in Romanen wie „Eden“ (1959) oder dem Zukunfts-Szenario „Fiasko“ (1986) in fantastische Welten überträgt, fesseln den Leser und lassen über die Folgen unseres zivilisatorischen und technischen Fortschritts nachdenken. Lem nimmt schon früh etwa mögliche Folgen neuer Kommunikationstechnologien in den Blick. Über die Epoche der Neuro- und Gentechnologie und die Verbindung von Mensch und Maschine sagt er in einem Interview kurz vor seinem Tod 2006: „Wir stehen am Anfang einer Epoche, vor der mir ein bisschen graut.“

Stanislaw Lem hat es virtuos verstanden, ungewöhnliche philosophische Fragen, Probleme der technologischen Entwicklung und kühne Gedankenexperimente in seine Art von „Science Fiction“ einzubeziehen. Doch er ist auch Autor von geradezu prophetischer Sachliteratur wie der „Dialoge“ (1957) oder der „Summa technologiae“ von 1964, in der er sich bereits mit „virtual reality“ und Nanotechnik beschäftigt.

Zwischen 1982 und 1988 lebt Lem nicht im krisengeschüttelten Polen, sondern als hochgeachteter Autor in Berlin und Wien. Seine Kurzgeschichten, Anthologien und Romane finden in den siebziger und achtziger Jahren in beiden Teilen Deutschlands breite Resonanz, so etwa die „Robotermärchen“, der „Futurologische Kongress“ oder „Der Unbesiegbare“. Figuren wie der Raumfahrer Ijon Tichy, der Pilot Pirx oder die beiden skurrilen Robot-Konstrukteure Trurl und Klapaucius bevölkern sein Universum, in dem Humor und Satire nicht zu kurz kommen, aber auch – wie in der Erzählung „Terminus“ – bisweilen eine kaum zu fassende, unheimliche Atmosphäre entsteht, die Lem selbst so beschreibt: „Obwohl in dieser Erzählung keine Gespenster vorkommen, sind sie dennoch da.“

Persönliche Empfehlungen? Unheimlich und faszinierend zugleich, wie in „Der Unbesiegbare“ unscheinbare, harmlose Maschinenteilchen zu einer unüberwindlichen Macht zusammenwachsen. Höchst amüsant und geistreich, wie in den „Robotermärchen“ ein Elektrodrachen besiegt wird. Wen heute bei „Alexa“ oder „Siri“ im smart durchdigitalisierten Home leises Unbehagen befällt, sollte unbedingt mit der dümmsten vernunftbegabten Waschmaschine der Welt Bekanntschaft schließen. Immer wieder ins Nachdenken führend, wie fremdartig Lem außerirdisches (intelligentes) Leben erfindet und beschreibt, etwa in „Solaris“. Und eine bittere Abrechnung mit der menschlichen Fähigkeit zum Guten wie zum Bösen ist „Die Stimme des Herrn“, spröde zu lesen, aber ein Buch, das den Verstand fliegen lässt.




Der Traum von Bayreuth: Festspiel-Inspirationen für Aalto-Chorsänger Wolfgang Kleffmann

Keine Ruhepause für Wolfgang Kleffmann nach der Rückkehr von den Bayreuther Festspielen: Einen Tag nach der letzten Vorstellung von Wagners „Meistersingern“ war er bereits morgens auf dem Weg zur Probe im Aalto-Theater.

Wolfgang Kleffmann singt seit 2003 im Essener Aalto-Chor und seit 2005 im Bayreuther Festspielchor. (Foto: Werner Häußner)

Nach Wagner steht nun Verdi an: Der Chor des Essener Opernhauses bereitet sich auf die Wiederaufnahme von „Rigoletto“ am 12. September vor, in einer „semikonzertanten“, von Sascha Krohn eingerichteten Form. Tianyi Lu, aus Shanghai stammend und in Neuseeland groß geworden, steht als Gastdirigentin am Pult. Sie ist die Gewinnerin des internationalen Sir Georg Solti Dirigentenwettbewerbs 2020. Die Titelrolle singt der isländische Bariton Ólafur Sigurdarson, als Rigolettos Tochter Gilda ist Tamara Banješević in ihrem Rollendebüt zu erleben. Im Chor der Höflinge, die willig jede Bosheit ihres Herrn, des Herzogs von Mantua (Carlos Cardoso), mitmachen, singt Wolfgang Kleffmann im Tenor.

Szene aus Verdis „Rigoletto“ am Aalto-Theater Essen, mit Tamara Banješević und Carlos Cardoso. (Foto: Saad Hamza)

Für die Festspiele hat der Sänger gerne auf Urlaub verzichtet: Bayreuth hat ihn gepackt, seit 2005 singt er dort im Chor. „Wagner erschüttert, wenn man dafür empfänglich ist“, bekennt er. Auch wenn es pathetisch klingt: Wagner hat das Leben von Wolfgang Kleffmann verändert. Ein Besuch der „Walküre“ entfachte die Wagner-Begeisterung. Nach zehn Jahren Praxis als Zahnarzt in Eschweiler begann er mit 33 Jahren noch ein Gesangsstudium, das er in Maastricht abschloss. Sein Ziel von vornherein: Singen im Chor. Der Wunsch erfüllte sich 2003, als er seine erste Stelle im Chor des Aalto bekam. Da blieb es nicht bei der Liebe nur zu Wagner. Die Opern Giacomo Puccinis oder ein Werk wie Giuseppe Verdis „Don Carlos“ sprechen den Sänger ebenso an.

Singen in Gemeinschaft

Das Singen in Gemeinschaft hat ihn schon als Jugendlicher interessiert. Kleffmann erinnert sich an ein prägendes Erlebnis, das wieder mit Wagner zu tun hat: „Ich hörte eine alte Platte meines Vaters, so eine Sammlung berühmter Chöre. Beim Pilgerchor aus dem ‚Tannhäuser‘ musste ich weinen.“ Was lag also näher als der Versuch, als professioneller Sänger beim Bayreuther Festspielchor zu landen? „Beim Vorsingen habe ich gedacht, ich hätte alles in den Sand gesetzt“, erinnert er sich. „Ich bin mit Tränen in den Augen nach Hause gefahren“. Aber zu seiner Überraschung kam die Zusage: 2005 durfte er anfangen. Der Traum hat sich erfüllt.

Seither ist er mit nur einer Unterbrechung jedes Jahr dabei. Schmerzlich war der Ausfall im letzten Jahr, durch Corona bedingt. Kleffmann ärgert sich: „Weder Chor noch Orchester haben eine Ausgleichszahlung erhalten, weil unsere Verträge, die seit März fertig ausgehandelt waren, noch nicht unterzeichnet waren.“ Er findet das für die Ensembles als „Rückgrat der Festspiele“ schlichtweg beleidigend. „Viele Kollegen sind durch den Ausfall ihrer Einkünfte unglaublich unter Druck geraten“.

Als der Chor geteilt werden musste

Bei den Festspielen 2021 stand der Chor vor einer nie dagewesenen Situation: Die knapp 140 Sängerinnen und Sänger wurden geteilt: Die Hälfte sang im Chorsaal, die andere Hälfte spielte stumm auf der Bühne. „Wir sitzen in einer Art Telefonzelle aus durchsichtigem Material und singen. Der Ton wird direkt ins Festspielhaus übertragen. Das funktioniert hervorragend, und ich bin gar nicht unglücklich. Denn es tut gut, sich einmal ausschließlich auf die musikalische Arbeit zu konzentrieren.“

Im Rückblick auf 16 Jahre Bayreuth erinnert sich Kleffmann an manche unvergessliche Zeit, so die Arbeit mit Christoph Schlingensief, ein „unheimlich sympathischer Typ“. An den „Parsifal“ Stefan Herheims, einen Höhepunkt seines Sängerlebens. Oder an den „Tannhäuser“ von Tobias Kratzer: „Ein Regisseur, bei dem alles durchdacht ist.“ Musikalisch ist für ihn die Zusammenarbeit mit Christian Thielemann ein Erlebnis, aber er schätzt auch Semyon Bychkov: „Er führt mit den Händen, hochmusikalisch.“

Inspirierend ist für Kleffmann auch, an der Seite berühmter Sängerkollegen wie Georg Zeppenfeld zu stehen: „Ein so bescheidener Mensch und ein Sänger, bei dem alles stimmt.“ Oder Tenöre wie Piotr Beczała und Klaus Florian Vogt als „Lohengrin“ zu erleben. So nimmt Wolfgang Kleffmann, der bald wieder seine Fußball-Jugendmannschaft in Bredeney trainiert, aus Bayreuth willkommene Impulse für die tägliche Arbeit am Aalto-Theater mit. Und hofft, im nächsten Jahr wieder dabei zu sein, wenn sich der Vorhang für die neue „Ring“-Inszenierung von Valentin Schwarz hebt.




Eine Frau leitet künftig das Aalto-Theater: Merle Fahrholz wechselt aus Dortmund als Intendantin nach Essen

Stellte sich bei einer Pressekonferenz vor: Dr. Merle Fahrholz, ab der Spielzeit 2022/23 Intendantin des Aalto-Theaters und der Essener Philharmoniker. (Foto: Werner Häußner)

Zum ersten Mal werden das Essener Aalto-Theater und die Essener Philharmoniker von einer Frau geleitet: Merle Fahrholz, bisher stellvertretende Intendantin und Chefdramaturgin an der Oper Dortmund, folgt zu Beginn der Spielzeit 2022/23 Intendant Hein Mulders nach, der die Leitung der Oper Köln übernimmt.

Ein Arbeitsausschuss des Aufsichtsrats der TuP (Theater und Philharmonie Essen GmbH) hatte die 38jährige promovierte Musikwissenschaftlerin in einem „straffen und intensiven Prozess“ – so der Essener Kulturdezernent Muchtar al Ghusain – aus über vierzig Persönlichkeiten aus der nationalen und internationalen Opernszene ausgewählt. Die einstimmige Entscheidung bedeutet auch, dass die Philharmonie Essen künftig eigenständig geleitet wird.

Fahrholz, in Bad Homburg geboren, war nach dem Studium als Dramaturgin an den Theatern in Biel-Solothurn (Schweiz), Heidelberg und Mannheim tätig. Erfahrungen auch im Bereich der Kulturvermittlung sammelte sie bei den Berliner Philharmonikern, der Semperoper Dresden, der Metropolitan Opera New York und bei einem interkulturellen Händel-Projekt in Serbien. Ferner arbeitete sie mehrfach an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis, so etwa mit den Universitäten Heidelberg, Zürich und dem Forschungsinstitut für Musiktheater der Uni Bayreuth. 2015 promovierte sie in Zürich über den Komponisten Heinrich August Marschner. Mit Merle Fahrholz tritt in Essen eine „neue Generation von Führungskräften“ an, die „wissenschaftliche Sorgfalt mit hohen Anforderungen an künstlerische Projekte verbindet“, so die Vorsitzende des TuP-Aufsichtsrats, Barbara Rörig.

In Dortmund war Fahrholz ab 2018 an der Konzeption eines ehrgeizigen Spielplans beteiligt, der u.a. Raritäten wie Daniel François Esprit Aubers „Die Stumme von Portici“ vorgesehen hatte, aber durch die Corona-Pandemie weitgehend nicht realisiert werden konnte. In der laufenden Saison betreut sie u.a. die moderne Erstaufführung von Gaspare Spontinis „Fernand Cortez oder Die Eroberung von Mexiko“ (Premiere 7. April 2022) und die Ausgrabung von Ernest Guirauds unvollendeter, von Camille Saint-Saëns fertiggestellter Oper „Frédégonde“ (Premiere 20. November 2021).

Das Aalto-Theater in Essen wird künftig zum ersten Mal in seiner Geschichte von einer Frau geleitet. (Foto: Werner Häußner)

Da die Essener Spielzeit 2022/23 bereits vorgeplant ist, werde sie ihren Spielplan ab 2023 in „ausgewogener Programmatik“ gestalten, gab sie bei einer Pressekonferenz im Aalto-Theater bekannt. Neben die Klassiker des Repertoires sollen unbekannte, für die heutige Gesellschaft mit ihren Ausprägungen und Bedürfnissen relevante Werke verschiedener Epochen treten, die „einen neuen Blick verdienen“.

Schwerpunkt auf Komponistinnen

Fahrholz plant einen Komponistinnen-Schwerpunkt auf der Opernbühne und im Konzert. Dabei werde es um zeitgenössische Komponistinnen gehen, sagte Fahrholz. Aber auch aus vergangenen Jahrhunderten gebe es viele Werke von Frauen zu entdecken. Nicht zu kurz kommen solle die sogenannte leichte Muse. „Die Oper spricht Emotionen an. Ihr geht es um das Mitfühlen und im besten Fall das Ausleben von Emotionen“, so Fahrholz. „Ich lege Wert auf das Erzählen von Geschichten“. Für eine „Vielfalt der Ästhetik“ plant sie mit verschiedenen Regiehandschriften von in Essen bekannten Persönlichkeiten, aber auch mit neuen Gesichtern aus der Regieszene.

Unter dem Schlagwort „Open up“ möchte Merle Fahrholz mit künstlerischen Projekten Essen entdecken und sich gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern intensiv mit ihrer Stadt auseinandersetzen. Ein zentrales Anliegen sei dabei der Ausbau der Arbeit mit und für Kinder und Jugendliche. Die Zukunft des Theaters, über die jetzt gesprochen werden müsse, sieht Fahrholz auch in partizipativen Projekten, die es zu einem „Brennglas von Sehnsüchten, Wünschen und Utopien“ machen. Das Aalto-Theater solle sich zu einem Ort des Begegnung und des sozialen Miteinanders entwickeln, an dem sich alle willkommen fühlen.




Coup zur Saison-Eröffnung: Bayreuther Festspielorchester in der Philharmonie Essen

Christine Goerke, Klaus Florian Vogt und – im Hintergrund – Andris Nelsons in der Philharmonie Essen. (Foto: Sven Lorenz)

Dieser Aufbruch hat es in sich: Vierfach geteilte Violinen in ätherischem Pianissimo, vier einzelne Geigen, ein ständig gefordertes An- und Abschwellen des Tones in kleinräumiger Dynamik. Ein auf Richard Wagner spezialisiertes Orchester wie dasjenige der Bayreuther Festspiele sollte mit der fragilen Faktur des „Lohengrin“-Vorspiels versiert umgehen. Sollte.

Tatsächlich tritt die silbrige Klangfläche nicht wie von Ungefähr in den Bereich hörbaren Klangs, sondern beginnt, wie oft in der Wagner-„Provinz“, zu laut, zu körperlich – und auch zu brüchig. Andris Nelsons am Pult mag sich in der Essener Philharmonie noch so sehr bemühen: Der Zug der Dynamik hatte Fahrt aufgenommen und war nicht mehr zu bremsen. Der Einsatz der Bläser: kein Gänsehaut-Moment. Das Hinzutreten der Hörner: ein fast unmerkliches Ausbreiten feinsten Samts. Die Blechbläser: kein Ereignis, es sei denn, man zählt die zögerlich gehaltenen Töne der Posaunen als solches.

Kein Ruhmesblatt für ein Orchester, das sich in Bayreuth ausschließlich der Musik des „Meisters“ widmet. Aber auch des Dirigenten Anteil war nicht eben auf dem Niveau des publizistisch befeuerten Ruhmes: Nelsons Tempo flackert zunächst, die von Angaben zur Dynamik und von teils riesigen Bögen gegliederte Phrasierung wirkt nicht zielgerichtet, ohne innere Spannung. Man hört, was man bei Wagner auf keinen Fall wahrnehmen sollte: wie die Musik „gemacht“ ist. Zauber? Geheimnis, gar Ergriffenheit? Ach wo. Aber dafür einen gellenden Beckenschlag, von einer viel zu massiven Klangwalze nicht vorbereitet. Und am Ende Sentiment in bröselnd langsamer Phrasierung nebst präzis platziertem Huster aus der Galerie mitten hinein ins milde Pianissimo-Licht: Holla, wir sind wieder da!

Magische Momente, sensible Abmischung

Dieses Einstiegs ungeachtet ist das Orchester aus Bayreuth ein hochklassiger Klangkörper und hat Andris Nelsons ein charismatisches Geheimnis, das ihn zu den führenden Dirigenten seiner Generation macht. Und daher konnte es nicht so weitergehen: In den folgenden Highlight-Auszügen aus „Lohengrin“ finden sich die Musiker zusammen; in Vorspiel und Karfreitagszauber aus dem „Parsifal“ gelingen magische Momente, weit aufgespannte Bögen, sensible Abmischung des Klangs. Nelsons bevorzugt ein „modernes“ Wagner-Bild, also keine raunend ungefähr einsetzende Klänge, sondern klare Schnitte; kaum organisch pulsierende Tempi, sondern eher den Kontrast von extrem langsamem Auskosten und verzögerungslosem Fortschreiten. Seltsam aber, dass er aus der Auffächerung des Klangs keinen Zauber gewinnt, dass er beim einen oder anderen Bläser (Trompete!) keinen markanteren Ton einfordert. Dennoch: Diese „Parsifal“-Auszüge waren der Höhepunkt des knapp dreistündigen Konzerts.

Andris Nelsons. (Foto: Sven Lorenz)

Ob es eine gute Idee war, den zweiten Teil mit dem „Walkürenritt“ einzuleiten, mag man bezweifeln. Mit mechanischen Rhythmusfloskeln unterlegt, donnern die Wellen der reitenden Walküren einher, das Blech schlägt mit frohem Grimm Fortissimo-Schneisen in die Phalanx der Streicher, deren stürzend chromatische Skalen im dröhnenden Messing ertrinken. Eine Dramaturgie der Dynamik ist nicht erkennbar: Wo es schon beim ersten Höhepunkt kaum lauter geht, nützt beim zweiten auch die Tuba nichts mehr. Dass Lärm wiederum Lärm erzeugt, ist ein altes Mittel, Beifall zu entfesseln: Die Philharmonie schreit auf, der Applaus brandet, Begeisterung bricht sich Bahn. Nach Subtilitäten wird da nicht mehr gefragt.

Leider ging der Balsam, der in „Siegfrieds Rheinfahrt“ zunächst die Ohren zu heilen schien, rasch zur Neige. Nelsons kostet das Motivgeflecht bis zur Neige in seliger – und bisweilen verschleppt phrasierter – Langsamkeit aus, auf Disziplin in der Dynamik achtet er dabei weniger. Die Posaunen kennen bis zum Schlussgesang der Brünnhilde offenbar nur eine Lautstärke; der Trauermarsch aus der „Götterdämmerung“ wälzt sich breit, mit ausladend süffigem Klang dahin, aber ohne die ergreifende Schärfe, die ihm ein Dirigent wie Michael Gielen zu geben verstand. Das ist, wie leider so manches Mal bei Nelsons, üppig-luxuriöses Volumen, adrett hergerichtet, aber ohne tiefere Berührung verströmend.

Entspanntes Singen, leuchtender Klang

Unter solchen Bedingungen hat Christine Goerke kaum eine Chance. Sie versucht, die letzten Worte der Brünnhilde aus der „Götterdämmerung“ entspannt zu singen, sauber zu artikulieren, nicht mit dramatisch überschrieenem Aplomb aufzuladen. Das gelingt ihr, soweit ihr das Orchester eine Chance lässt. Was sie kann, wird sie 2023 im nächsten Bayreuther „Ring“ beweisen; einstweilen bleibt der Eindruck, einen Sopran gehört zu haben, der sich weder durch angestrengt flackerndes Vibrato noch durch gestaute und druckvolle Töne Geltung verschaffen muss.

Zum Star des Abends avanciert Klaus Florian Vogt mit den – im Programm seltsamerweise als „Arien“ betitelten – Auszügen aus „Lohengrin“ und „Parsifal“. Er hat, was die Italiener „squillo“ nennen, die Fähigkeit, den Ton konzentriert und voluminös, aber ohne Kraftmeierei in den Raum zu projizieren. Sein Timbre, das nicht dem geschmäcklerischen Streben nach baritonaler Grundierung entspricht, passt zur transzendentalen Erscheinung des Gralsritters, entspricht auch der Naivität Parsifals. Dabei setzt er in „Höchstes Vertrau’n“ kraftvoll leuchtenden Klang ein, „Glanz und Wonne“ von Lohengrins Herkunft spiegelt er in abgesicherter, strahlender Höhe. Nahe am Wort gestaltet er die Gralserzählung: Das sorgsam gestaltete Piano-Leuchten der Stimme für die himmlische Taube überzeugt ebenso wie die veränderte Farbe des Wortes „Glaube“. Mit „Mein lieber Schwan“ gelingt Vogt ein Musterbeispiel verhalten-wehmutsvollen Singens; der Einsatz der Mezzavoce ist ohne jede Verkünstelung locker und unverfärbt.

Jubel in der Philharmonie. Schon die Begrüßung des Orchesters zu Beginn ist mehr als ein herzliches Willkommen, mehr als die Antwort auf den Ruf der Truppe aus dem „mystischen Abgrund“. Mehr auch als der Dank des nun – trotz Schachbrett-Besetzung – gut gefüllten Hauses, nach eineinhalb Jahren ausgedünnter Reihen, wieder ein Publikums-Feeling zu genießen. Und mehr als eine Anerkennung für den Coup von Intendant Hein Mulders, zur Eröffnung seiner letzten Spielzeit das Bayreuther Orchester – zwischen Köln. Paris und Riga – an die Ruhr geholt zu haben. Man meint, die Erleichterung zu spüren. Und die Freude: Die Strahlen des Klanges vertreiben die Nacht, zernichten der Viren erschlichene Macht.




Der erste Opernstar der Schellack-Zeit: Vor 100 Jahren starb der gefeierte Tenor Enrico Caruso

Der legendäre Tenor Enrico Caruso im Jahr 1910. (Laveccha Studio, Chicago / Wikimedia, gemeinfrei/public domain)

Schon mal gehört? „Der singt wie ein Caruso“. Ein geflügeltes Wort, auch von Menschen zitiert, die den wirklichen Caruso nie gehört hatten, nicht einmal auf seinen legendären Schellack-Platten. „Caruso“ galt als bedeutungsgleich für faszinierendes Singen, spätestens seit der Tenor aus Neapel vor 100 Jahren, am 2. August 1921, in seiner Heimatstadt unerwartet an den Folgen einer Rippenfellentzündung gestorben war.

Carusos Karriere war auch in der Zeit der großen Opern-Diven und der gefeierten Heldentenöre einzigartig. Kaum ein Sänger – vielleicht mit Ausnahme von Maria Callas – versetzte die Opernwelt so sehr in Aufregung. Kaum ein anderer Name ist bis heute auch außerhalb der Welt des Musiktheaters so geläufig. Caruso war und ist eine Legende, um die sich zahllose Anekdoten ranken, während er selbst sein Privatleben sorgsam verborgen hielt.

Befeuert wurde dieser Ruhm auch durch einen Film wie „Der große Caruso“, 30 Jahre nach seinem Tod mit Mario Lanza in der Titelrolle gedreht. Was Wahrheit und was Erfindung ist, lässt sich in den Biografien nur schwer bestimmen, denn es gibt wenig Material aus erster Hand. Schon seine Herkunft aus einer armen Familie war durch die – inzwischen widerlegte – Behauptung verklärt, seine Mutter habe 21 Kinder zur Welt gebracht.

Der „Carusiello“ singt Serenaden

Das Singen war ihm offenbar in die Wiege gelegt: Die schöne Stimme des kleinen „Carusiello“ fiel dem Pfarrer Giuseppe Bronzetti auf, der ihn daraufhin förderte. Der junge Altist sang in der Kirche und verdiente sich – vielleicht auch eine Legende? – ein paar Lire, indem er an so manchen Abenden „unter dem Fenster irgendeines italienischen Mädchens“ eine Serenade sang, „während der Verehrer in der Nähe stand, erwartungsvoll hinaufblickend, ob sein teuer bezahlter Gesangstribut auch Anerkennung fände“. Dass der Unterricht bei lokalen Gesangslehrern ebenso harte Arbeit war wie diejenige in Fabriken, um den Lebensunterhalt zu verdienen, wird oft nicht ausreichend gewürdigt. Schon in der Jugend entdeckt wurde jedoch auch Carusos Zeichentalent. Sein Leben lang pflegte er diese Kunst als Hobby; witzige Selbstporträts und gekonnte Karikaturen belegen seine Begabung.

Auch als Zeichner talentiert: Selbstkarikatur von Enrico Caruso beim Singen in einen Aufnahmetrichter, 1902. (Wikimedia, gemeinfrei/public domain – Quelle: https://soundofthehound.files.wordpress.com/2011/01/img565.jpg)

Auch ein Caruso musste seinen Weg durch die Provinz machen und seine Stimme heranbilden. Im Alter von 24 Jahren debütierte er 1897 in der Uraufführung von Francesco Cileas „L’Arlesiana“ am Teatro Lirico in Mailand, 1898 folgte dort Umberto Giordanos „Fedora“. Sein erstes Auftreten an der Scala, einem der führenden italienischen Opernhäuser (als Rodolfo in Giacomo Puccinis „La Bohème“) brachte ihm die Bewunderung des Dirigenten Arturo Toscanini, mit dem Caruso künftig zusammenarbeitete, auch in einer seiner Favoriten-Rollen, dem Nemorino in Gaetano Donizettis „Liebestrank“.

Nie wieder Neapel

Caruso genoss bereits eine gewisse Berühmtheit, als er im Winter 1901 für seinen ersten Auftritt am renommierten Teatro San Carlo nach Neapel kam. „Nachdem er auf fremden Schlachtfeldern so oft gekämpft und gesiegt hatte, kehrte er frohen Herzens in seine Heimat zurück, um sich auch hier den Ruhmeslorbeer zu pflücken“, heißt es in einer alten Biografie. Intrigen, Rivalitäten und Carusos Stolz sorgten jedoch dafür, dass der „Liebestrank“ nicht den gewünschten Erfolg brachte. Vielleicht sahen seine Landsleute in dem jungen Tenor auch immer noch den Straßensänger von einst. Caruso schwor, nie wieder in Neapel aufzutreten und höchstens zurückzukommen, um einen Teller Spaghetti zu essen. Dem blieb er sein Leben lang treu.

Erster Star der Schallplatte

Die noch folgenden 20 Jahre seines Lebens waren ein Triumphzug. Über Buenos Aires und London ging es an die Metropolitan Opera in New York, wo er 1903 als Herzog in Giuseppe Verdis „Rigoletto“ debütierte und fortan – mit einer Ausnahme – bis 1920 in jeder Eröffnungspremiere einer neuen Saison sang. Die großen Partien in den Opern Giuseppe Verdis und Giacomo Puccinis blieben seine Domäne. Viele Male gab er den Radames in „Aida“ und triumphierte 1910 mit der legendären Emmy Destinn als Minnie die Uraufführung von Puccinis „Mädchen aus dem goldenen Westen“ unter Arturo Toscanini.

Caruso baute sich erfolgreich einen märchenhaften Ruhm auf und verstand es, den viel bewunderten Glanz seiner Stimme auch finanziell zu vergolden. Zwei Rollen schien er besonders geliebt zu haben: die des Canio in Ruggero Leoncavallos „Pagliacci“ („Der Bajazzo“) und die 1919 erstmals gesungene Partie des Eleazar in Jaques Fromental Halévys großer Oper „La Juīve“ („Die Jüdin“). Eine Beobachterin erinnert sich an seine innere Rührung: „Ich habe ihn nach dem ersten Akt (des „Bajazzo“) fünf Minuten in seiner Garderobe schluchzen hören; ich habe ihn so aufgewühlt gesehen, dass er auf offener Bühne ohnmächtig zusammenbrach.“ Eleazar war auch seine letzte Partie an der Met im Dezember 1920; er sang unter großen Schmerzen, von seiner Partnerin gestützt.

Dass Carusos Ruhm bis heute anhält, ist auch seinen Schallplatten zu verdanken. Er war einer der ersten Opernsänger, die erkannten, wie bedeutsam dieses neue Medium ist. Und er hatte Glück, dass seine Stimme für die Mittel der damals beschränkten Aufnahme- und Wiedergabetechnik passgenau geeignet war. Der Tenor mit dem zu männlich-baritonaler Fülle hin entwickelten Timbre hat sich mit fast 500 Aufnahmen zum ersten großen Plattenstar gemacht. Die Aufnahmen zeigen auch, wie er seinen Gesangsstil einem sich wandelnden Geschmack angepasst und ihn vom kunstreich verzierten, leichten Singen des klassischen Belcanto des 19. Jahrhunderts zu dramatischer Gestaltung mit kraftvoll-wuchtigen Tönen entwickelt hat.




Geistvoller Zaubertrank: „Le Philtre“ von Daniel François Esprit Auber wiederentdeckt

Konzertante moderne Erstaufführung von Aubers „Le Philtre“ im Kurtheater Bad Wildbad. Von Links: Emmanuel Franco, Luiza Fatyol, Patrick Kabongo. (Foto: Saskia Krebs)

Moment! Die Geschichte kommt uns bekannt vor: Ein einfacher Landarbeiter, ziemlich naiv, aber rührend seelenvoll, schmachtet für eine kapriziöse junge und begüterte Frau. Ein geheimnisvolles Elixier, verkauft von einem großmäuligen Quacksalber, bringt ihn auf die Sprünge, löst ihm die Zunge, aber ein schneidiger Soldat fährt ihm in die Parade. Am Ende kriegt er, was er ersehnt.

Das ist doch die nicht zuletzt wegen „Una furtiva lagrima“ beliebte Oper Gaetano Donizettis, die als „Elisir d’amore“ den Ruf des „Liebestranks“ in alle Ecken der musikalischen Welt verbreitet hat?

Stimmt – und stimmt doch nicht: Denn ein knappes Jahr vor der sensationellen Uraufführung von Donizettis Meistwerk ging im Juni 1831 in der Pariser Opéra „Le Philtre“ über die Bühne, eine von rund 45 Opern des geistvollen Franzosen Daniel François Esprit Auber. Dieser „Zaubertrank“ ist auf ein Libretto von Aubers zuverlässigem Stofflieferanten Eugène Scribe komponiert – eben jenes, das Felice Romani dann für Donizetti übersetzte und an die Gepflogenheiten des italienischen Opernbetriebs anpasste.

Obwohl Aubers „Le Philtre“ in Paris mit 243 Aufführungen bis 1862 ein beachtlicher Erfolg war, kam das Stück kaum über die Grenzen Frankreichs hinaus. Denn bereits Mitte der 1830er Jahre war Donizettis „Elisir d’amore“ international so verbreitet und beliebt, dass Auber keine Chance mehr hatte, sich durchzusetzen. Ein Schicksal, das andere Opern Aubers ähnlich ereilt hat, etwa „Gustave ou le bal masqué“ (1833) gegen Giuseppe Verdis „Un ballo in maschera“ (1859) oder „Manon Lescaut“ (1856) gegen Jules Massenets „Manon“ (1884).

Der Floh von Isoldes Zaubertrank

Die moderne (konzertante) Erstaufführung von „Le Philtre“ beim Festival „Rossini in Wildbad“ lässt es endlich zu, beide Vertonungen miteinander zu vergleichen, was nicht unbedingt zum Nachteil für Auber ausgeht. Während Donizetti den Charakter Nemorinos nicht zuletzt durch die auf seinen Wunsch eingeschobene Arie von der heimlichen Träne gefühlvoll ausgestaltet, bleibt der junge Guillaume bei Auber ein naiver Landbursche, der durch seine Ahnungslosigkeit belustigt, doch in seiner unverstellten Gutgläubigkeit auch berührt.

Dessen Angebetete heißt bei Auber Térézine und ist Donizettis Adina nicht nur an musikalischer Koketterie, sondern auch an durchtriebener Lust an der kalkulierten Quälerei überlegen. Ihre ironische Ballade über die „Reine Yseult“, mit der sie dem armen Guillaume den Floh von Isoldes Zaubertrank ins Ohr setzt, hat schon die typische melodische Brillanz, in die Auber seine Airs und Couplets kleidet. Und die folgende Arie „La coquetterie fait mon seul bonheur“ ist ein Selbstbekenntnis, das denkbar fern jedes tristanesken Liebesrausches liegt: Térézine genießt es, bewundert und angebetet zu werden, aber selbst zu lieben kommt für sie nicht in Frage – jamais! Finden wir hier nicht die kapriziös-seelenlose Pariserin, wie sie der männliche Blick in den schlüpfrigen Jahren von Aubers Erfolgen konstruiert hat?

Der Wein vom Hang des Vesuvs

Die anderen Mitspieler bei Donizetti gleichen Aubers Vorlagen bis hinein in wörtliche Übernahmen im Text: Fontanarose ist der gerissene Händler des „Filtrats“, das er selbst als „Lacryma Christi“ – ein am Vesuv wachsender Wein – entlarvt; seine Arie ist auch bei Auber ein unterhaltsames Zugstück. Und Joli-Cœur, der fesche Sergeant, hat sogar seinen Namen im Italienischen behalten: Belcore. In „Le Philtre“ hat er mit „Je suis Sergent brave et galant“ ein Auftrittslied, dessen einfache Melodik ausgiebig wiederholt und damit zum Ohrwurm gekürt wird.

Dass Auber den militärischen Draufgänger damit auch als einfaches Gemüt charakterisiert, ist Teil seiner Raffinesse. Die zeigt sich stets, wenn Auber seine einfachen, vorhersehbar gestrickten musikalischen Mittel einsetzt, um zu illustrieren und zu charakterisieren. Immer auf leichte Fasslichkeit und gute Unterhaltung bedacht, mutet Auber seinem Publikum weder komplexe Harmonien noch ungewohnte Klangideen zu – sicherlich ein Grund, warum seine Opern trotz ihrer geschickt gemachten Libretti noch vergeblich ihrer Auferstehung harren. In der Anlage seiner Ensembles und Finali entpuppt sich jedoch der Schöpfer der „Muette de Portici“, mit der Auber der „grand opéra“ einen entscheidenden Entwicklungsschub gegeben hat.

Bleibt der Anbeter komplexer Fugen und ausgefeilten Kontrapunkts also unbedient, wird der Liebhaber frisch instrumentierter Melodik und raffinierter Rhythmen umso zufriedener gestellt. In den lichten Bläserakkorden, die den Streichersatz stützen oder färben, finden wir die leuchtende Transparenz seines Zeitgenossen Adolphe Adam wieder. Im mitreißenden Sog des Duetts von Térézine und Guillaume schäumt nicht nur die Wirkung des soeben genossenen Liebestranks auf, sondern auch der Einfluss Gioachino Rossinis. Und die Arie „Philtre divin“ ist ein Paradestück musikalischer Komik, wenn sie die allmähliche Wirkung des zaubrischen Tranks auf den schüchtern-verzweifelten Guillaume schildert, nachdem das vermeintliche Elixier Isoldes in chromatischem Fall die Kehle hinunter geronnen ist.

Der mühelose Klang der Höhe

Diese Szene gestaltet Patrick Kabongo so einfühlsam wie gesanglich tadellos. Der Tenor ist seit gut zehn Jahren im französischen Fach unterwegs und hat seit 2017 immer wieder in Bad Wildbad begeistert. Seine Stimme ist ideal für das Genre der opéra comique: ohne jede Schwere im Ansatz, mit leichtem, dennoch substanzreichem Ton, mühelos beweglich, in der Höhe ohne jeden Druck und ohne Verfärbung, dazu mit einwandfreier Artikulation. Ein vollkommener Genuss, wie er selten zu erleben ist. Luiza Fatyol als Térézine bringt ebenfalls Beweglichkeit und eine kühle Brillanz des Timbres mit und weiß mit Sprache umzugehen. In der Höhe ist ihre Tonemission oft zu impulsiv und wird daher scharf. Die Sängerin gehört zum Ensemble der Deutschen Oper am Rhein und ist in der kommenden Saison u.a. in Mozarts „Zauberflöte“ und „La Clemenza di Tito“ sowie in Verdis „La Traviata“ zu hören.

Als Joli-Cœur setzt Emmanuel Franco eher auf die voluminösen Klänge seines gewaltigen Organs als auf stilistisch reflektiertes Singen. Eugenio di Lieto bringt in seinen Auftritt als „grand docteur“ die Komik ein, die offenbart, wo Jacques Offenbach sein Vorbild gefunden hat. Adina Vilichi ist die Wäscherin Jeanette, die aus ihrer bedeutsamen Nebenrolle in ihrem Couplet zu Beginn des zweiten Akts und in den Ensembles notable Funken schlägt, sich nur vor zu viel Vibrato hüten muss. Wie hoch der Grad an Subtilität war, mit dem Luciano Acocella das Philharmonische Orchester Krakau einstudiert hat, war leider nur zu erahnen: Die Vorstellung musste wetterbedingt im Kurtheater stattfinden und das Orchester hatte im Bühnenraum keine Chance, über einen pauschalen Klang hinwegzukommen. Die träumerische Bläser-Einleitung zu Guillaumes Arie im ersten Akt immerhin hinterließ den Eindruck, Aubers leichtfüßige Brillanz sei durchaus zu ihrem Recht gekommen.




Strahlendes Glück: „Elisabetta, Regina d’Inghilterra“ beim Festival „Rossini in Wildbad“

Serena Farnocchia als Elisabetta in Rossinis Oper „Elisabetta, Regina d’Inghilterra“ beim Festival „Rossini in Wildbad“. (Foto: Patrick Pfeiffer)

Macht hat ihren Preis: Um störende emotionale Einflüsse auszuschalten, will die Königin hinfort die Liebe aus ihrem Herzen verbannen. Dulden wird sie in sich nur noch Ruhm und „Pietá“ – ein italienischer Begriff, der schwer ins Deutsche zu übersetzen und zwischen Barmherzigkeit und religiös fundiertem Wohlwollen anzusiedeln ist. Man möchte nicht tauschen mit Gioachino Rossinis englischer Königin „Elisabetta, Regina d’Inghilterra“.

Die knapp drei Stunden dauernde Studie über die Ohnmacht der Mächtigen, die Macht der Täuschung und Intrige und das Verhängnis verborgener Gefühle ist die zentrale Oper des diesjährigen Festivals „Rossini in Wildbad“, das seit mehr als 30 Jahren unendlich wertvolle Entdeckerarbeit leistet. Was sich die über 80 öffentlich finanzierten deutschen Musiktheater nur in Ausnahmefällen zumuten, ist in dem einst noblen württembergischen Staatsbad im Norden des Schwarzwaldes alljährliche Herausforderung. Intendant Jochen Schönleber, gestützt von der inhaltlichen Vorarbeit der Deutschen Rossini-Gesellschaft, erarbeitet mit einem schwindelerregend bescheidenen Etat diejenigen Meisterwerke aus der Feder des „Schwans von Pesaro“, die ansonsten dem deutschen Publikum – ungeachtet einer weltweiten Rossini-Renaissance – weitgehend vorenthalten blieben.

In diesem Jahr sind es, allen Behinderungen durch die Corona-Pandemie zum Trotz, neben „Elisabetta, Regina d’Inghilterra“ die entzückende „Farsa“ aus frühen Rossini-Jahren „Die seidene Leiter“ („La Scala di Seta“) und eine Wiederentdeckung des Meisters der französischen Opéra comique, Daniel François Esprit Auber, mit dem Titel „Le Philtre“ von 1831. Das Libretto Eugène Scribes wurde ein Jahr später erneut von Gaetano Donizetti vertont und erlangte als „Der Liebestrank“ Weltruhm.

Wertvolle Musik aus früheren Opern

Für Rossini stand mit seiner ersten Oper für Neapel einiges auf dem Spiel: Er musste sich als Komponist in einer Stadt mit bedeutender musikalischer Tradition und einem gebildeten, kulturell aufgeschlossenen Publikum beweisen und den später legendär gewordenen Impresario Domenico Barbaja überzeugen. Für „Elisabetta“ wertete Rossini frühere Werke aus und übernahm etwa aus dem experimentellen, beim Publikum durchgefallenen „Sigismondo“ – ein psychologisch komplexes Werk, das höchste Aufmerksamkeit verdient – wertvolle Musik.

Für den heutigen Zuhörer irritierend ist, wenn zu Beginn des Dramas die Ouvertüre erklingt, die Rossini aus seiner frühen Oper „Aureliano in Palmira“ übernahm und später für den „Barbier von Sevilla“ drittverwertete. Sie zeigt aber damit eine ästhetische Maxime Rossinis jener Epoche: Musik ist nicht „romantischer“ Spiegel der Gefühle der Bühnen-Protagonisten, sondern hat eine absolute Qualität, für die sich die Zuschreibung zu bestimmten außermusikalischen Affekte verbietet.

Was nicht heißt, dass Rossini seine Musik, quasi über allem schwebend, jeder beliebigen Regung überziehen würde. In „Elisabetta“ finden sich zwar solche Momente wie die Cavatina der Königin, deren freudig bewegter zweiter Teil das musikalische Material für die kecke Rosina des „Barbier von Sevilla“ abgegeben hat. Aber expressive Momente wie die Arie der Mathilde („Sento un‘ interna voce“) oder die große Arie des Leicester im zweiten Akt zeigen Rossini auf der Höhe seiner gestaltenden Kraft für den Aufruhr der Emotionen.

Der Charme einer Wanderbühne

Die Wildbader Aufführung hat etwas vom Charme früherer Wanderbühnen: Die üblichen Aufführungsorte – etwa die Trinkhalle – standen wegen der Pandemie nicht zur Debatte. Die zugige „offene Halle“ an einem Sportgelände am Ende des Kurparks ist eine immerhin resonanzreiche Balken- und Bretter-Konstruktion mit einer Mini-Bühne und dem dicht gepackte Orchester vor Stuhlreihen, auf denen das Publikum – genesen, geimpft oder getestet – sich nach den Sitzbrettern des Bayreuther Festspielhauses sehnt. Entsprechend kompakt ist der Klang, den Antonino Fogliani mit energischen Gesten dem Philharmonischen Orchester Krakau entlockt: flott und etwas steif in der Ouvertüre, auch sonst in den Phrasierungen eher lakonisch als geschmeidig, mit teils elegisch ausschwingenden, teils robust unflexiblen Bläserklängen und manchmal fahrigen, meist aber um leichten Schmelz bemühten Streichern. Der Philharmonische Chor Krakau bleibt, vom Orchester zugedeckt, unsichtbar im Hintergrund und darf nur im Finale auf der Bühne Aufstellung beziehen.

Die Szenerie führt uns in ein beliebiges Zentrum heutiger Macht: ein paar Designermöbel, Security-Leute mit Sonnenbrillen, ein stets präsenter Lakai mit Einblick in die Machtstrukturen (Luis Aguilar) und Elisabetta im roten Glitzerkleid (Kostüme: Ottavia Castellotti). Schönleber lässt als Regisseur den Darstellern weitgehende Freiheit, was zu manch abgelebter Operngeste oder zu seltsam reaktionslosen Momenten in Szenen höchster dramatischer Verdichtung führt – etwa wenn im Finale des ersten Akts die heimliche Ehefrau des Helden Leicester samt ihrer Abkunft von Elisabeths politischer Rivalin Mary Stuart enthüllt wird.

Ein nachtschwarzer Charakter

Gehört zu den düstersten Charakteren der Operngeschichte: Norfolc in Rossinis „Elisabetta, Regina d’Inghilterra“, in Bad Wildbad verkörpert von Mert Süngü. (Foto: Patrick Pfeiffer)

Auch Norfolc, der von Rossini am subtilsten ausgearbeitete Charakter der Oper, könnte den Zugriff der Regie gut vertragen: Mert Süngü gibt zwar den abgebrühten Intriganten, den Egozentriker der Macht, den von Neid auf den erfolgreichen Militär Leicester zerfressenen Ehrgeizling, bleibt aber in der Ausdeutung dieser Figur immer wieder an der Oberfläche. Reto Müller hat im Programmheft zu Recht auf die Parallelen zu Jago hingewiesen und den Rang dieser wohl zu den schwärzesten Opernfiguren gehörenden Partie betont. Und in der Tat erinnert etwa die Szene, in der Norfolc der Königin die Wahrheit in giftigen Dosen verabreicht, frappierend an eine Entsprechung in Verdis „Otello“. Rossini stellt hier mehr als den üblichen Opernschurken auf die Bretter – ein Grund, sich dieser „Elisabetta“ einmal mit einem dezidierteren Regie-Zugriff zu stellen. Süngü hat unter den drei Tenören die robusteste Stimme, muss sich bisweilen bemühen, ein hart schlagendes Vibrato unter Kontrolle zu halten, bringt aber für die Farbe des Bösen den passenden, entschiedenen, bis zum Zynismus geschärften Ton mit.

In der Titelrolle lässt Serena Farnocchia keine Gelegenheit aus, ihre dramatisch fundierte Geläufigkeit zu demonstrieren und ein sattfarbenes Timbre leuchten zu lassen. Man staunt über die Anforderungen dieser Partie und wundert sich, über welche technischen Mittel und gestalterischen Raffinessen Isabella Colbran, die Frau Rossinis, anno 1815 bei der Uraufführung verfügt haben muss. Serena Farnocchia taucht in der Darstellung der instrumentalisierten, ihren eigenen Liebes-Illusionen verfallenen, mit unmittelbaren, kaum reflektierten Affekten reagierenden Königin nicht sehr tief in die Psychologie der Figur, reizt aber ungeachtet manch vibratoschwerer Passagen die vokale Bravour bis an die Grenzen aus.

Mühelose Gesangskunst

Auch bei Veronica Marini als Mathilde hindert ein ausgeprägtes Vibrato immer wieder eine geschmeidige Gesangslinie, aber sie singt mit präsentem, gut fokussiertem Ton nahe an den seelischen Schmerzen ihrer Rolle und findet vor allem in den Ensembles – dem Duett des ersten und dem Terzett des zweiten Akts – ein glückliches Einverständnis mit ihren Partnern. Die dritte Frau im Bunde ist Mara Gaudenzi in der kleinen Rolle des Enrico, die man sich gerne größer gewünscht hätte: Die Sängerin aus der Wildbader Akademie BelCanto zeigt einen frischen, ausgeglichenen Mezzo und eine wunderbar unangestrengte Bildung des Tons.

Militärisch erfolgreich, tappt Leicester in die Fallen seines Widersachers Norfolc. Patrick Kabongo vermittelt mit seinem exquisiten Tenor reinstes Rossini-Glück. (Foto: Patrick Pfeiffer)

Vollendetes Rossini-Glück gewährt Patrick Kabongo in der männlichen Hauptrolle des heimlich verheirateten, von Elisabetta begehrten militärischen Siegers über die Schotten, des Generals Leicester. Selten hört man einen so leuchtenden, sicher fundierten Tenor, der jede Höhe unangestrengt selbstverständlich erreicht und souverän ausformuliert, der auch in der Mittellage mit flexibler Fülle prunkt und der in den Koloraturen und Verzierungen wie in den schwierigen, nur mit zuverlässiger Stütze zu bewältigenden Legati keine Spur von Mühe erkennen lässt. Strahlendes Rossini-Glück, wie es nicht häufig erreicht wird!

Für das Festival im Juli 2022 hat Intendant Jochen Schönleber ein anspruchsvolles Programm mit drei Raritäten angekündigt: Adina, Armida und Ermione. Doch auch in der Region lässt sich im Herbst eine seltene Oper Rossinis erkunden: Am 23. Oktober 2021 feiert am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen Rossinis „Otello“ Premiere. Info: https://musiktheater-im-revier.de/de/performance/2021-22/otello




Selbsterlösung ins Ungewisse: Claus Guth inszeniert in Frankfurt Francis Poulencs „Dialogues des Carmélites“

Maria Bengtsson als Blanche in der Frankfurter Neuinszenierung von Francis Poulencs „Dialogues des Carmelites“. Foto: Barbara Aumüller

Als letzte Neuinszenierung in dieser so hoffnungsvoll verkündeten und so bitter ausgefallenen Pandemie-Spielzeit hat die Oper Frankfurt Francis Poulencs „Dialogues des Carmélites“ angesetzt.

Intendant Bernd Loebe vertraut die aus zutiefst katholischem Urgrund erwachsenen „Gespräche der Karmeliterinnen“ mit Claus Guth einem Regisseur an, bei dem man sich, was immer er auch in die Hand nimmt, einer schlüssigen, zumindest aber auf hohem Niveau diskutierbaren Lösung sicher sein kann. In Frankfurt und im Falle der als Märtyrerinnen sterbenden Nonnen bleibt es bei der Diskussion.

Guth beginnt mit einem Bild: Martina Segnas abstrahierter Raum ist dunkel; ein Kubus mit geometrisch gegliederten und durchbrochenen Wänden erscheint ahnungsvoll im Hintergrund, in einem trüben Lichtband stehen gespenstische Schattengestalten. Poulencs Chormotette „Timor et tremor“ greift vor auf das Thema. Eine einsame Frau auf der Bühne wird zum musikalischen Beginn der Oper aus einer Pyramide gleich gekleideter Frauen herausgeschält: alle in Weiß und Gelb, als paraphrasierten die Kostüme Anna Sofie Tumas die Kirchenfarben Weiß und Gold. „Furcht und Schrecken kamen über mich“: Der Frauenchor setzt das Thema der Angst, den bestimmenden cantus firmus dieser Inszenierung.

Das ist nicht unberechtigt. Denn der emphatische, aber unorthodoxe Katholik Poulenc hat aus dem historische Stoff der Märtyrerinnen von Compiègne, wie ihn Gertrud von Le Fort in einer Novelle und Georges Bernanos in einem Filmdrehbuch adaptiert haben, keine katholische Erbauungsoper gemacht. Blanche de la Force, die einsame junge Frau, trägt die Stärke im Namen, flieht aber in die Stille des Klosters, streckt sich auf einem Podium mit der leuchtenden lateinischen Inschrift „Silentium“ aus. Ihre Angst ist nicht einfach die Angst eines Kindes vor Schreckgespenstern. Sie steckt tief: Ihr Bruder beschreibt sie als „Frost im Herzen eines Baumes“. Eine existenzielle Angst, die Blanche zur Vertreterin des Menschen schlechthin macht. Denn wer hat es nie erlebt, das namenlose Erschrecken vor dem Nichts, vor dem Fall in einen Abgrund, in dem nur noch bewusstloses Dunkel herrscht, in dem sich jeder Sinn und jeder Verstand auflöst?

Keine Politik, kein Christentum

Dass sie beim Eintritt in den Karmel den Namen „Schwester Blanche von der Todesangst Christi“ wählt, hat von daher seinen Sinn: Wir denken an die Nacht am Ölberg, als die Angst Jesus blutigen Schweiß auf die Stirne getrieben hat. An den Verlassens-Schrei am Kreuz. Das Kloster ist für Blanche der Raum des Glaubens, der Kraft, die dem Menschen Sicherheit geben kann. Dass auch dessen Gewissheit brüchig ist, macht der Tod der alten Priorin klar: Jahrzehnte lebte sie eine Existenz in Gebet und Gottsuche. Und nun spürt sie die entsetzliche Einsamkeit des Todes. Alle Zuversicht des Glaubens zerstiebt.

Für Claus Guth spielt wie für eine ganze Reihe von Regisseuren der letzten Jahre der Glaubens-Aspekt der Oper keine Rolle. Christliche Symbolik ist getilgt, Anspielungen auf eine Marienfigur oder ein Jesuskind sind religiös entleerte Chiffren psychischer Fremdbestimmung. Guth achtet auch nicht auf die möglichen politischen Konnotationen der Oper, wie sie etwa Andreas Baesler 2010/11 in Münster herausgearbeitet hat: Figuren wie der Diener Thierry, der die junge Adlige Blanche als riesiger Schatten im Schein einer Kerze zutiefst erschreckt, oder die Schergen der Revolution kommen als Funktionsfiguren unauffällig dunkel gewandet auf die Bühne.

Die Angst Blanches führt Guth auf ein „Urtrauma“ zurück: Ihre Mutter hat kurz vor ihrer Geburt in einem gewalttätigen Volksauflauf einen Schock erlitten und ist an der Frühgeburt gestorben. Die seelischen Last und die vergeblichen Fluchtversuche der jungen Frau macht Guth in eindrücklichen Bildchiffren sichtbar. Hochschwanger schreitet die Mutter stumm durch den Hintergrund, als Todesbotin kreuzt sie beim elenden Sterben der alten Priorin unübersehbar die Szene. Auch in der Mutter aller Gläubigen, Maria in blauem Gewand und goldenen Strahlen, verbirgt sich die alte Marquise de la Force mit ihrer Ancien-Régime-Robe – einen blutbefleckten Säugling im Arm, wie er vorher schon einer Sturzgeburt ähnlich vom Himmel geschwebt war. Bei der Aufhebung des Klosters werden die Funktionäre der Revolution die in einem Lichtband aufgebahrten Kindlein einsammeln und entsorgen – und Blanche lässt das letzte, den „kleinen König“ fallen und in tausend Scherben zerspringen, vielleicht ein erster Hinweis darauf, wie sich ihr Inneres von der Bedrückung der Angst zu lösen beginnt.

Ende einer Selbstfindungsreise

Guth geht so weit, das Kollektiv der Nonnen zu entpersonalisieren und zu einem Spiegel der unbewussten Seelenkräfte Blanches zu machen – etwa, wenn die Tänzerinnen in uniformem Blau in einem weißen Kasten – kein Schauplatz, sondern ein Innenraum – sich synchron bewegen, als wollten sie sich ein Messer in den Leib stoßen (Choreografie: Ramses Sigl). Auslöschungswunsch, Selbstbestrafung, Martyriumsbegehren? Alles spielt in solchen Bildern mit.

Ein Defizit dieser Konzeption ist, dass sie im dritten Akt den Konflikt mit der Revolution und die innere Auseinandersetzung des Konvents mit der Forderung nach dem Martyrium nicht sichtbar stringent einbinden kann. Umso überraschender dann das berühmte Finale, in dem die Schwestern eine nach der anderen zum „Salve Regina“ guillotiniert werden, die Stimmen immer weniger, der Gesang immer dünner wird, bis nur noch Blanche bleibt. Guth inszeniert die Szene als Ende einer „Selbstfindungsreise“: Die Frauen sind alle im gleichen Gelb-Weiß wie Blanche gekleidet, als seien sie Aspekte ihrer selbst. Eine nach der anderen stößt Blanche in eine Grube; das böse Zischen der Guillotine, von Poulenc in die Musik eingeschrieben, ersetzen Schläge des „Schicksals“-Hammers aus Mahlers Sechster Sinfonie. Blanche befreit sich von den Figurationen ihrer Angst; welchen Weg sie – allein und frei – weitergeht, bleibt offen.

Befreiung von den eigenen Schatten: Maria Bengtsson (Blanche de la Force) stößt eine der „Schwestern“ (Mirjam Motzke) in den Abgrund. Foto: Barbara Aumüller

Das ist eine beeindruckend entwickelte Konzeption, aber sie erschöpft sich in einem psychologischen Phänomen: Blanches existenzielle Angst ist auf ein Trauma zugespitzt und mit dieser Pathologisierung gleichzeitig relativiert. Der Sohn, der von den Toten auferstanden ist: In den letzten Worten Blanches bringt Poulenc das Hoffnungsprinzip zur Sprache, das den Nonnen die Kraft zur Selbstbehauptung, zum Widerstand und zum Sterben gibt. Für die Selbsterlösung ins Ungewisse braucht’s das nicht.

Hochkarätiges Sängerensemble

Mit Maria Bengtsson hat die Oper Frankfurt eine geradezu ideale Darstellerin der Blanche gewonnen: Sie strahlt die Mischung aus tiefer Verunsicherung und entschlossener Konsequenz aus, erfüllt die lyrischen Linien mit leuchtend satter Kraft, modelliert den Text deutlich und schwerelos. Elena Zilio hat als sterbende Priorin Madame de Croissy einen großen Moment, wenn sie in unbestechlicher Diktion ihre Verzweiflung hinausröchelt und von sich schreit. Ambur Braid zeichnet Madame Lidoine, die neue Priorin, mit ihrem locker strömenden Sopran als charakterstarke, reflektierte Frau. Claudia Mahnke, als langjähriges Ensemblemitglied der Frankfurter Oper nach der Premiere zur Kammersängerin ernannt, gibt der Mère Marie mit scharfer Bestimmtheit Züge einer innerlich gespaltenen, zum Fanatismus neigenden Persönlichkeit. Florina Ilie trägt in ihrem frischen Sopran die fröhliche Gewissheit und kindliche Weisheit der Sœur Constance.

Die Rollen für die Herren sind in dieser Oper allesamt weniger gewichtig – mit Ausnahme des Bruders von Blanche, dem Chevalier de la Force: Jonathan Abernethy gibt dieser Rolle Profil, wenn er im Gespräch mit seinem Vater (vor allem großstimmig: Davide Damiani) ein erstes Psychogramm seiner Schwester skizziert; auch wenn er vokal sehr bewusst und mit klug detaillierter Diktion das Gespräch mit Blanche im Kloster führt, in dem die Regie in die Kindheit der beiden rückblendet und sie in einer stummen Familienaufstellung agieren lässt.

Corona hat’s verschuldet, dass die volle Pracht der Orchestersprache Poulencs auf ein Musikerensemble von rund 30 Köpfen reduziert werden musste. Der Frankfurter Studienleiter Takeshi Moriuchi hat eine Kammerfassung erstellt, die beim Zuhören überzeugt und wichtige Schlüsselmomente der Partitur nicht schwächt, aber die großen Aufschwünge, die samtene Lasur zärtlicher Intimität, aber auch die kalkuliert gestalteten kühlen Momente nur begrenzt vergegenwärtigt. Den Frankfurter Orchestermusikern ist eine klanglich ambitionierte, aber nicht immer faltenfreie Wiedergabe zu verdanken; ob einige allzu dissonante Bläserstellen tatsächlich so gemeint sind, wäre nur durch einen Blick in Moriuchis Notentext zu entscheiden.

Die junge litauische Dirigentin Giedrė Šlekytė für so manche politurfähige Finesse des Klangs verantwortlich zu machen, verbietet sich, weil der Einfluss der Fassung nicht abzuschätzen ist. Anders ist es mit manchen breiten Tempi oder mit unscharfen Akkorden und Akzenten. Šlekytė bleibt auf dem Weg zu einer klanglich aufgerauten, Spaltklänge und geschärfte Modellierung suchenden musikalischen Sprache auf halbem Weg in Richtung Arthur Honegger oder Darius Milhaud stehen. Mag sein, dass dieses Bemühen mit einem vollen Orchester besser gelingt, mag aber auch bedeuten, dass die Möglichkeiten der kleinen Besetzung nicht genügend ausgereizt wurden. Auf jeden Fall bereichert diese Frankfurter Erstaufführung der 1957 uraufgeführten Oper das Repertoire des Hauses um eine wichtige Farbe und stellt in der Lesart von Claus Guth die Frage nach dem Verhältnis von Psychologie und Glaube, konsequenter Immanenz und weiterführender Transzendenz wieder neu.

Letzte Vorstellung bereits am 14. Juli; 2021/22 keine Wiederaufnahme geplant: https://oper-frankfurt.de/de/spielplan/dialogues-des-carmelites/

 




Feinsinnig und differenziert: Das Mannheimer Streichquartett spielt in Essen Bartók, Schubert und Schumann

Das Mannheimer Streichquartett. Foto: Saad Hamza

Wer sich an das klassische Ideal des Streichquartetts als Gespräch selbständiger Stimmen hält, wird an Robert Schumanns unter der Opuszahl 41 zusammengestellten drei Streichquartetten einiges auszusetzen haben.

Hier gilt es nicht den verspielten melodischen Verschränkungen eines Joseph Haydn, hier tritt auch die Transparenz der Satztechnik, wie sie Mozart gepflegt hat, in den Hintergrund. Was im Konzert zunächst als orchestrale Fülle wahrgenommen wird, ist im dritten der Quartette in A-Dur tatsächlich ein Zurücktreten motivischer Arbeit, die aber durch eine beispiellose harmonische Verdichtung aufgefangen und beinahe unkenntlich gemacht wird.

Das Mannheimer Streichquartett schloss bei seinem Konzert in der Essener Philharmonie mit diesem Werk sein Programm ab. Das dürfte kein Zufall sein, denn auch in Béla Bartóks erstem Streichquartett op. 7 finden wir einen kühn erweiterten harmonischen Raum, der bei aller Orientierung an traditionellen Formmodellen (Fugato und Doppelkanon) die tonalen Zentren schwankend und flüchtig werden lässt und damit heftige Dissonanzen nicht ausblendet. Wer will, kann die akkordischen Satzfelder Bartóks mit den komplexen, klangdichten harmonischen Konstruktionen Schumanns in seinem langsamen Satz (adagio molto) vergleichen, der die Stimmen, statt sie zu spreizen, zu Klangbildern verklammert. Die vier Musiker steigern diesen und den letzten Satz von Schumanns A-Dur-Quartett zu einer exzessiven Fülle des Klangs, der allerdings ein wenig die Kontraste überströmt und zu Gleichförmigkeit neigt.

Diskretion und Noblesse

Ob das von den Vieren so beabsichtigt war, lässt sich jedoch bezweifeln: Die der Bekämpfung des Virus geschuldete Hygiene verringert die Zahl der verfügbaren Plätze um etwa zwei Drittel, was nicht ohne Auswirkungen auf die Akustik bleibt. Und so zuverlässig der Saal sonst die Nuancen auch gelten lassen mag – jetzt wird man in der Mitte des Raumes das Gefühl nicht los, als litten Farbe und Charakteristik des Tones. Andererseits kommt ein verhalten weicher Klang den Werken Franz Schuberts und Robert Schumanns entgegen: Diskretion und Noblesse korrelieren mit einer Haltung, die auf einen fein abgestuften, differenziert gestalteten Ton setzt.

Béla Bartóks Streichquartett op. 7, 1910 uraufgeführt, bildet den Abschluss einer kleinen, seit 2016 laufenden Reihe von Konzerten, die jeweils eines der sechs Quartette des Ungarn mit Werken der Klassik und Romantik verbanden. Der ruhevolle Beginn koppelt schon im ersten Takt die zweite Violine von Shinkyung Kim an die expressive absteigende Figur der ersten Violine (Daniel Bell) an. Aber nicht allein um die formale Entwicklung geht es, sondern um aparte harmonische Wirkungen: Debussy und Wagner lassen grüßen.

Die Viola (Sebastian Bürger) und das Cello (Armin Fromm) schalten sich behutsam ein, letzteres verhalten in hoher Lage. Die vier Musiker lassen zwar harmonische Reibungen hervortreten, fassen sie aber eher in feinsinnige Differenzierungen statt in extrovertierten Überschwang. Auch der hartnäckige Bordun des Cello, ein früher Reflex auf Bartóks Interesse an der Volksmusik, erklingt nicht ruppig-derb, sondern gefasst und gerundet. Selbst in der wilden Energie des Schlusses ein beherrscht gestalteter Bartók.

Franz Schuberts einzigartiges Fragment in c-Moll (D 703), der vollendete erste Satz eines abgebrochenen Quartettversuchs, steht am Beginn: Die feine Tongebung der süßen, echt Schubert’schen Melodie wird ausgekostet, die vibrierende Unruhe des Tremolo-Beginns ballt sich nicht zu düster-romantischem Dräuen. Alles fließt locker und zärtlich, mit leiser Wehmut, hinter der man den doppelten Boden nur ahnt. Hier herrscht wissendes Gelingen.

Man freut sich über die erlesene Musik und blickt voraus auf die kommende Philharmonie-Saison 2021/22, in der sich ab Herbst so renommierte Formationen wie das Pavel Haas Quartett gemeinsam mit dem Dover Quartet (1.Oktober), das Delian Quartett (8. November) und das Cuarteto Casals (17. November) in Essen die Ehre geben. Auch das Mannheimer Streichquartett wird, so ist zu hoffen, wiederkommen – und diesmal wieder an seinen angestammten Auftrittsort auf Zollverein, den ihm die Corona-Pandemie nun schon zwei Mal verwehrt hat.




Die Hoffnung auf Befreiung in der Geschichte: Luigi Nonos „Intolleranza“ als Stream aus Wuppertal

Die Tristesse von Containerbehausungen moderner Arbeitssklaven. Szene aus „Intolleranza“ in Wuppertal. (Foto: Bettina Stöß)

Luigi Nonos Musiktheater ist eine Ikone der Moderne. Immer wenn eines der Werke aufgeführt wird, umweht ein Hauch säkularen Weihrauchs die Stätte, fühlen sich Musiker und Publikum besonders herausgefordert. Eher bewundert als geliebt, stellen „Al gran sole carico d’amore (1975) und sein Erstling „Intolleranza 1960“ (1961) immense Ansprüche an die Ausführenden.

In Wuppertal wurden sie überzeugend eingelöst: Aus Anlass des 200. Geburtstags von Friedrich Engels war die Inszenierung von „Intolleranza“ (mit dem aktualisierenden Zusatz „2021“) dazu gedacht, an das Schaffen des in Barmen geborenen Urvaters des Marxismus zu erinnern. Tatsächlich ist Nonos Protagonist, ein Gastarbeiter in einer schmutzigen Mine eines fremden Landes, ein Prototyp eines Menschen, der seiner selbst als Subjekt der Geschichte bewusst wird und den Kampf mit den ökonomischen Verhältnissen aufnimmt. Auch Nonos Begriff von der Geschichte, in der sich ein Befreiungsprozess vollzieht, lässt sich auf philosophische Vorstellungen Engels‘ zurückführen.

Dass die Premiere von „Intolleranza 2021“ im Wuppertaler Opernhaus erst ein halbes Jahr nach Engels‘ Geburtstag stattfindet, ist der Corona-Pandemie geschuldet. Es bleibt – aus diesem Grund – auch bei einer einzigen Live-Vorstellung für die Presse. Das Publikum bekommt die „szenische Handlung“ ab 18. Juni als Stream zu sehen. Was in diesem Fall bedauerlich ist, weil Johannes Harneit als musikalischer Leiter die sonst kaum gewährte Chance nutzt, nach Nonos Vorstellungen einen mehrdimensionalen Raumklang zu entwickeln, der im Stream wohl kaum akustisch nachvollziehbar wird.

Aus der Not der Pandemie macht Wuppertal eine Tugend: Das Publikum – in diesem Fall die Musikjournalisten – sitzen im Parkett, haben vor sich auf der Hinterbühne, zehn Meter hoch gestaffelt, 12 Schlagzeuger und 12 Blechbläser, im Graben Streicher, Celesta und Harfen, auf den Rängen 12 Holzbläser und die 24 Sängerinnen und Sänger des Wuppertaler Opernchores, verstärkt durch Einspielungen des Chorwerks Ruhr. Harneit dirigiert im Graben und wird durch einen zweiten Dirigenten, Stefan Schreiber, hinter der Bühne unterstützt.

Das Ergebnis ist eine musikalische Wucht: breit gesplitteter Klang, extreme Transparenz, Reibungen statt Vermischung. Harneits präzise Führung der Ensembles und seine minutiöse Klangkalkulation im Raum führen auch zu verdichteten und verschmelzenden Klängen, zu sphärischen Interferenzen und schwebenden Tongespinsten. Harneit entdeckt in Nonos weiterentwickelter Zwölftonmusik nicht nur die scharf geschnittenen Schläge, die schmerzhaften Dissonanzen, die Spannungen zwischen extremen Registerfarben von Instrumenten, sondern auch die Stille, die Finesse, den von den Solisten des Sinfonieorchesters Wuppertal wohlgeformten Klang.

Mit der Bezeichnung „azione scenica“ (szenische Handlung) setzt sich Nono bewusst von der „Oper“ ab. „Intolleranza“ erzählt nur skizzenhaft eine äußere Handlung, reiht eher innere Prozesse aneinander und verknüpft diese mit politischen Statements, die vor sechzig Jahren als so brisant angesehen wurden, dass der Schott-Verlag in der deutschen Übersetzung auf Entschärfung drängte. Schon Peter Konwitschny hat in seiner Berliner Inszenierung 2001 darauf hingewirkt, die Geschichte klar und unmissverständlich zu erzählen. Dem ist auch Dietrich Hilsdorf in Wuppertal gefolgt.

Dietrich Hilsdorf aktualisiert die 60 Jahre alte szenische Handlung: Anspielung auf den Fleischskandal während der Corona-Pandemie. (Foto: Bettina Stöß)

Dieter Richter stellt die Bühne voll mit einem unwirtlichen Wohncontainer-Aufbau, eine schäbig eingerichtete Behausung für den Arbeitsmigranten. Ein Datum wird eingeblendet, der 11. Januar 2021, der Tag, an dem die zweite Verschärfung des Lockdowns bekanntgegeben wurde. Gestalten in weißer Schutzkleidung mit blutigen Schürzen hecheln über die dunkle Bühne (Kostüme: Nicola Reichert). Markus Sung-Keun Park, der Emigrant, klagt mit gequält positioniertem, aber dramatisch effektvoll attackierendem Tenor über die verzehrende Sehnsucht nach seiner Heimat, beschließt, seine Geliebte (Solen Mainguené) zu verlassen und zurückzukehren. Er gerät durch Zufall in eine Demonstration, wird festgenommen, verhört, erfährt in Folter und Konzentrationslager die Allmacht des Staates und die Ohnmacht des Einzelnen. Das Verlangen nach seiner Heimat verwandelt sich in den Willen zur Freiheit. Eine neue Gefährtin (Annette Schönmüller) gibt ihm neue Hoffnung in der Einsamkeit; beide versinken in einer gewaltigen Sintflut.

Hilsdorfs Verweise auf den Tönnies-Fleischarbeiterskandal und das Schicksal moderner Arbeitssklaven aktualisieren das Provokante des Stücks. Die Videos Gregor Eisenmanns sind im Sinne Nonos, der Filmeinblendungen und Projektionen vorgesehen hatte. Sie holen das Außen nach Innen, lassen sich aber auch als überhöhende Momente lesen, die das Einzelschicksal transzendieren. Und während sich – so eine Regieanweisung Nonos – die Projektionen von „Albträumen der Intoleranz“ fortsetzen, sieht man in den Fenstern des Containers die Flut steigen: Die Natur übernimmt am Ende den Willen der marschierenden Arbeiter, „mit dem Hochwasser einer zweiten Sintflut die Städte der Welten zu waschen“. Spätestens in diesem Bild mündet Nonos politisch gemeinte Aktion in eine apokalyptischen Vision, für die er im Schlusschor Textteile aus Bertolt Brechts Gedicht „An die Nachgeborenen“ montiert. Hilsdorf inszeniert dazu sparsam-stille Bilder, die an ein Oratorium erinnern. Was bleibt, ist die Hoffnung auf eine Zeit, in der „der Mensch dem Menschen ein Helfer ist“.

Luigi Nonos „Intolleranza“ 2021 ist ab 18. Juni im Online-Streaming zu sehen. Weitere Termine, jeweils um 19.30 Uhr, sind 26. Juni, 2. Juli, 13. und 27. August 2021. Tickets zu 12 Euro über die Webseite der Wuppertaler Bühnen: www.oper-wuppertal.de




Schleuderpartie der Emotionen: Joyce DiDonato und ihr Begleiter Terry Craig begeistern in Essen

Joyce DiDonato und ihr Klavierpartner Craig Terry. (Foto: Sven Lorenz/TUP)

Am Anfang steht ein Bekenntnis. Joyce DiDonato eröffnet ihren Solo-Abend in der Philharmonie Essen mit Franz Schuberts Hommage an die „heil‘ge Kunst“, die in vielen grauen Stunden in „eine bess’re Welt entrückt“.

Eine persönliche Widmung der Sängerin, dem Programm vorangestellt. Der Dank dafür, endlich wieder ihre Kunst teilen, endlich wieder vor Publikum singen zu dürfen. „In my Solitude“ überschreibt Joyce DiDonato ihr Konzert. In der Einsamkeit der Pandemiewochen, erzählt sie, habe sie Gustav Mahler für sich entdeckt: Die fünf Rückert-Lieder bilden den Schwerpunkt des Abends.

Die tiefgründigen Meditationen umkreisend, bleibt Joyce DiDonato aber ihrem Ruf als Belcantistin und als stimmtechnisch unanfechtbare Interpretin kostbarer Arien des 18. Jahrhunderts nichts schuldig. Zunächst aber öffnet sie die Tiefen von Joseph Haydns Solokantate „Ariadne auf Naxos“, ein schwer zu übertreffendes Seelendrama, in dem sich die bittersüße Sehnsucht nach dem Geliebten Theseus allmählich in besorgte Ungeduld und schließlich in fassungsloses Entsetzen transformiert – eine Schleuderpartie der Emotionen, die im Abgrund trostloser Todesgedanken endet.

In dieser guten Viertelstunde entfaltet Joyce DiDonato das Panorama ihrer gestalterischen Mittel technisch souverän, stilistisch brillant und in höchster expressiver Bewusstheit. Schon im ersten Satz, „Teseo, mio ben, dove sei?“ setzt sie frei, was die Italiener „abbandono“ nennen: jenen schwerelos schwebenden, von aller Materialität der Stimme gelösten, von allen technischen Mühen scheinbar befreiten, unendlich gestaltungsfähigen Ton. Mit einem Satz beglaubigt sie, dass hier eine zutiefst Liebende ihr liebendes Gegenüber ersehnt. Die Worte „sposo adorato“ („angebeteter Bräutigam“) blühen auf, werden in ihrer Sinntiefe erschlossen. Bei Joyce DiDonato braucht es dazu nur den Glanz der Stimme. Kein aufgesetztes Vibrato, keine deklamierende Einfärbung, keine rhetorischen Kniffe sind nötig. Singen in Vollendung.

Damit ist der Weg geschildert, auf dem die Amerikanerin bis zum bitteren Ende der Kantate fortschreitet: die wachsende Unruhe Ariadnes, die sich langsam in Schmerz eintrübende Sehnsuchtsarie, die gesteigerte Intensität des Fragens, schließlich der Schock der Erkenntnis, verlassen zu sein, als sie das griechische Schiff – mit Theseus an Bord – am Horizont verschwinden sieht. Diesen Moment gestaltet Joyce DiDonato mit kontrolliertem Forte und mit einer in höchster Erregung glänzend fokussierten Stimme, die sich keinen Ausbruch in die wabernd-breite Tongebung sogenannter dramatischer Soprane erlaubt. Und als sie fühlt, wie ihr Schritt wankt und ihre bebende Seele die Brust verlässt, kleidet sie dieses Gefühl des inneren Ersterbens in einen weißen, vibratolosen, enthobenen Ton.

Verzauberung mit Gustav Mahler

Beste Voraussetzungen also, um sich mit einer Fülle sängerischer Mittel den Rückert-Liedern Gustav Mahlers zu nähern. Der Druck der Konkurrenz ist gewaltig: Joyce DiDonato erwähnt in ihrer stets charmanten Anmoderation Christa Ludwig. Sie hätte aber auch auf eine der größten Belcantistinnen des 20. Jahrhunderts, Marilyn Horne, verweisen können, die sich diesen trauertrunkenen Liedern mit großer Innigkeit gewidmet hat. Joyce DiDonato findet ihren eigenen Weg: rhetorisch zurückhaltend, anfangs auf die Schönheit des stetigen Tons setzend, in „Ich atmet‘ einen linden Duft“ in weggeträumten Klängen ohne Schwere, die weiten Bögen von Mahlers Legato in Wehmut verschattet. „Liebst Du um Schönheit“ hatte nichts von der neckischen Variation im Ausdruck, mit der manche Sänger die Strophen einfärben; Joyce DiDonato setzt eher auf die Delikatesse minimaler dynamischer Abstufungen und eine wundervolle messa di voce im Piano. Und in „Um Mitternacht“ genügt ein Vokal, das „a“ in „gelacht“, um den ganzen Schmerz einzufangen, der auf dem Fanfaren-Höhepunkt des Liedes in Grimm umschlägt.

Keine Frage, dass mit solcher stimmlicher Sicherheit auch die beiden Arien der Kleopatra aus Johann Adolf Hasses „Marc‘ Antonio e Cleopatra“ und aus Georg Friedrich Händels „Giulio Cesare“ zu Szenen der Passion und der emotionalen Entäußerung werden: zwischen imperialer Geste, tonloser Klage, erregter Koloratur und schicksalsbewusster Ergebung. Joyce DiDonato singt mit hohem Einsatz und Risiko am Limit kontrollierten Ausdrucks, aber sie hat noch die Reserven, um mit diesen Grenzen zu spielen.

Subtil und behutsam: Craig Terry am Flügel

Wenn es eine Einschränkung zu vermerken gibt, dann die Beobachtung, dass die Sängerin in der Arie „Piangerò la sorte mia“ ihre Freiheit nicht recht findet: der Tonansatz verflacht und die Höhe neigt dazu, sich zusammenzuziehen statt unbeschwert zu strömen. Nach so viel Zauber, so viel Subtilität fällt es nicht leicht, in die Sphären Duke Ellingtons und in die melodische Süße von Louis Guglielmis „La vie en rose“ einzutauchen. Joyce DiDonato singt das titelgebende „In my Solitude“ fast zu nobel, das Chanson mit Hingabe, aber sehr artifiziell.

Ein solch konzentrierter Abend wäre nicht möglich ohne einen Pianisten, mit dem tiefes Einvernehmen herrscht. Craig Terry ist ein hierzulande unverdient wenig bekannter Partner am Klavier, der mit behutsamer Einfühlung und bezaubernd modellierten Tönen stützt, führt, begleitet, kommentiert und sich von Zeit zu Zeit auf eigene Wanderschaft begibt – so etwa in Nachspielen der Rückert-Lieder. „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ etwa lässt Terry so entrückt, delikat und ruhevoll ausklingen, dass man kaum zu atmen wagt. Auch der in sich gekehrte Beginn in dunkel-schwebenden Tönen zeigt das außerordentliche Format dieses Musikers. Doch bereits in der einfachen Begleitung des Schubert-Liedes zu Beginn, in der gelösten Bewegung, den feinen Differenzierungen der Dynamik streichelt Craig Terry seinen Flügel so liebevoll, dass ihm die Aufmerksamkeit sicher ist. Und da ist es auf einmal, das höchste Glück.

Ein Wiederhören mit Joyce DiDonato verspricht die Philharmonie Essen im Herbst: Am 26. November 2021 kommt sie mit Georg Friedrich Händels „Theodora“ wieder, diesmal mit dem Orchester „Il Pomo d’oro“ unter Maxim Emelyanychev.




Trauma-Theater statt Thespiskarren: Roland Schwab radikalisiert in Essen Leoncavallos „Pagliacci“ („Der Bajazzo“)

Theater der Grausamkeit: Sergey Polyakov (Canio) und Seth Carico (Tonio). Foto: Matthias Jung

Ruggero Leoncavallos Oper „Pagliacci“ gilt gemeinhin als Musterbeispiel des Verismo: Kleine Leute in einem zurückgebliebenen Landstrich, eine aus dem Alltag wachsende Tragödie  und ein reales Ereignis als Vorbild: Ein Doppelmord, den der Komponist als Kind in Montalto in Kalabrien angeblich selbst mit ansehen musste. Ein Trauma.

Nichts vom vertrauten „Verismo“ mit bunt beleuchtetem Thespiskarren und Commedia dell’arte-Kostümierung findet sich im Essener Aalto-Theater: Roland Schwab hat jeden Naturalismus dezidiert hinter sich gelassen, aber er legt die Emotionen der Menschen bis zur Schmerzgrenze frei. Auf der jedem konkreten Schauplatz abholden Bühne von Piero Vinciguerra ballt sich ein Trauma zusammen, dessen Explosion den Zuschauer berührt und überwältigt zurücklässt. Wenn Theater sein muss, dann genau so: unmittelbar, packend, bildgewaltig und dabei in jedem Moment des verdichteten Ablaufs gedanklich konzentriert und schlüssig. Roland Schwab ist damit nach seinem grandiosen „Othello“ wieder ein Meisterstück eines tief in die Seele dringenden Musiktheaters gelungen. Nichts für einen netten Abend, nichts zum nebenbei Erleben, sondern zutiefst erschütternd und wahrhaftig: „Verismo“ auf einer ganz anderen Ebene als der fragwürdige italienische Stilbegriff meint.

Zwangsläufiges Geschehen jenseits der Logik

Im Prolog löst sich aus dem Hintergrund ein schwarzer, entstellter Mann, der einen anderen an der Kette heranzerrt: Es ist derjenige, der zuvor in einer rasanten Filmsequenz durch die Keller und Gänge des Opernhauses hetzt und an der Glastür zur Billettkasse schmerzlich scheitert. Es gibt kein Entkommen aus dem Raum des Theaters. Für ihn – es ist Canio – „muss Theater sein“. Das lesen wir auch auf dem Schild, das ihm der schwarze Prolog wie die Schandtafel eines Delinquenten umhängt. Canio, der „Bajazzo“, ein Opfer seiner Kunst, ein Gefangener schönen Scheins, gar einer bitteren Illusion? Die Kette der Assoziationen ist eröffnet, und sie lässt sich auch am Ende, als die „Commedia“ ihr blutiges Finale erreicht, nicht ganz schlüssig knüpfen. Das ist keine Schwäche, sondern einer der Vorzüge der Inszenierung. Denn ein Trauma, wie der Protagonist es hier auf schwarzglänzendem Boden in einem Raum voller Bruchstücke durchleidet, erfüllt sich nicht in Logik, sondern in der Zwanghaftigkeit eines Geschehens, das nicht aufzuhalten ist.

Diesen Raum füllt Schwab mit beziehungsreichen Chiffren. Tote, deren rotbeschuhte Beine aus den Leichensäcken ragen: Opfer des mannhaften Wahns von „echten“ Gefühlen, von zu Wahnsinn gesteigerter „Liebe“ und tödlich explodierender Eifersucht? Der Mann mit einer Blutwunde auf dem Unterhemd, zum Tode verletzt wie Amfortas und doch zum Leben, zum Spielen gezwungen? Der schwarze Mitspieler Tonio, nicht der drollig-gefährliche Krüppel wie sonst, sondern ein Gezeichneter und ein teuflischer Strippenzieher. Eine transzendierte Figur, die zum Höhepunkt der Tragödie mit einer Stange auf- und abgeht, während der weiß geschminkte Tod auf einem Hochrad über die Bühne huscht: ein Klingsor im bösen Reich entfesselter Lüste.

Komplexes Spiel enthüllt die Sehnsüchte der Personen

Auch das Theater auf dem Theater bleibt beziehungsreich unbestimmt. Keine putzige Wanderbühne, sondern ein Geflecht von Lichtern, aufgespannt wie eine Zirkuskuppel, dann herunterfahrend wie eine gierige Spinne an ihrem Faden, schließlich eine Arena, an deren Brüstung die gemordete Nedda über ihren Rücken hängt, wie auf einem surrealen Gemälde. Vorher hatten die junge Frau und ihr Geliebter Silvio mit der Lichterkette eine Verbindung zwischeneinander gezogen, im Liebesduett, im dem sie sich ihrer Sehnsüchte versicherten.

Szene auf der Bühne von Piero Vinciguerra für „Der Bajazzo“ am Aalto-Theater in Essen. Rechts Seth Carico als Tonio. Foto: Matthias Jung.

Und um Sehnsucht geht es in diesem Stück. Bei Canio, der von seinem jungen Findelkind geliebt sein will und bei dem er am Ende nicht einmal Mitleid und Gnade findet. Ein Schmerzensmann, der die Illusion der Liebe verinnerlicht hat und am Ende im Jähzorn abschlachtet. Bei Silvio, dem jungen Bauern, der sich schwärmerisch eine Zukunft ausmalt. Bei Beppe, dessen scheinbar leichtfüßige Harlekin-Arie erfüllt ist mit elegischem Begehren, das sich auf der Bühne im makabren Spiel mit einem der Frauenbeine als konkret fleischlich manifestiert.

Vor allem aber bei Nedda: Ihre langen blonden Haare machen sie aus der Perspektive der Männer zum Gegenstand der Begierde; sie selbst setzt sie auch als erotisches Signal ein. „Voller Leben und erfüllt von unnennbaren Sehnsüchten“, schnallt sie sich bei ihrer Vision von den frei fliegenden Vögeln die Flügel eines Engelchens um. Ihre roten Schuhe hat sie dazu abgelegt, sich befreit von diesem Zeichen sexueller Objektivation. Das komplexe Spiel mit visuellen Signalen und Chiffren überzeugt auch bei Tonio, bei dem die Seite der seelischen Bezauberung durch den Gesang Neddas, jäh zerstört durch den beißenden Spott der jungen Frau, in der Inszenierung allerdings kaum herausgearbeitet wird. Die maliziöse Gier gewinnt schnell die Dominanz.

Schwab stellt uns Menschen vor Augen, deren Sehnsucht im traumatischen Geschehen offenbar wird; das Spiel entlarvt die Innenseiten der gequälten Seelen. Was Leoncavallo in der Handlung der „Pagliacci“ aus dem Zusammenprall von Spiel (im Spiel) und (dargestellter) Wirklichkeit entwickelt, wird in Schwabs Inszenierung kongenial erfasst und auf eine neue Ebene geholt. Da kommt es auch nicht darauf an, dass die von Leoncavallo erzählte Story des Kriminalfalls als Vorbild der Oper längst als Fälschung entlarvt ist: Die Fiktion des Realen hat eine neue Wahrheit hervorgebracht, das Theater ist der magische Ort dafür – Hermann Hesses „Steppenwolf“ wird direkt zitiert.

Die Höhe des musikalischen Stils wird geschleift

Wäre das musikalische Glück ebenso vollkommen gewesen, man hätte von einem einzigartigen Opernabend zu berichten gehabt. Doch lassen die Sänger allesamt spüren, was ein kundiger Kritiker einmal „die Schleifung der Stilhöhengesetze“ genannt hat. Leoncavallo – und seine Kollegen wie Mascagni, Giordano oder auch Zandonai – stehen für eine damals neue Art des Singens: Addio zum stilisierten, kunstvollen „canto fiorito“ hin zum naturalistischen „Schrei“, in dem sich die Stimme exzessiv verausgabt und Schauer des Entsetzens oder der Wollust über die Rücken der Zuhörer treiben will.

Heute gilt im Singen von Verdi bis Puccini nicht einmal mehr das. Ein Beispiel ist der Bariton Seth Carico als Tonio: Ein robustes Material wird, kaum berührt von Differenzierungen in Farbe oder Tonbildung, robust eingesetzt und schindet mächtig Eindruck. Die subtilen Nuancen des Prologs, die emotionalen Zwischentöne dieses so geschundenen wie boshaften Charakters werden mit der immergleichen Präsenz herausgeschleudert. Schmerz, Zynismus, Verschlagenheit, oder auch einfach nur Kantabilität, dynamische Flexibilität, Schmelz oder Strahlkraft sind zu einem stählern gefassten, im Zurücknehmen schnell rissigen Klang zusammengepresst.

Sergey Polyakov als Canio. Foto: Matthias Jung

Der Canio von Sergey Polyakov versucht sich darin, seinen wuchtigen Tenor zu zähmen, ihm die Farben der Schmerzes, der unendlichen Enttäuschung, aber auch der ungebändigten Wut abzuringen. Die Höhe drängt anfangs sehr an den Gaumen, kann sich erst im zweiten Akt befreien. In „Vesti la giubba“ ersetzt Nachdruck den Ton der Resignation und der inneren Qual. Doch in den sich steigernden Ausbrüchen der Wut hat Polyakov seinen Weg gefunden. Carlos Cardoso bleibt dem elegischen vokalen Maskenspiel des Arlecchino einiges schuldig; Tobias Greenhalgh vermittelt mit schwacher Tiefe und einer in unbefreiter Lautstärke übertönten Lyrik nicht den Eindruck, seine Rolle über das Verismo-Klischee – laut und ungeschliffen – hinausheben zu wollen.

Abgeschlachtet in der Arena der Emotionen: Gabrielle Mouhlen (Nedda). Rechts Sergey Polyakov (Canio). Foto: Matthias Jung

Bleibt Gabrielle Mouhlen als Nedda: Ihr Timbre von der Härte eines Brillanten taucht ihre große Solo-Szene in ein kühles, klares Licht. Der Traum von den freien Himmelsvögeln schimmert wie Glas, die Farben der Sehnsucht bleiben hell und ungebrochen. Zu flexibler Phrasierung hat sie kaum Gelegenheit, denn Robert Jindra am Pult gibt ihr kaum den Raum zum Atmen, drängt auf Tempo und vor allem auf stabile, ungeschmeidige Metren. Bei einem so erfahrenen Kapellmeister wundert dieser Rigorismus – dass Leoncavallo gut mit dem Hohenzollernkaiser konnte, ist kein Argument für preußische Exaktheit.

Vom ausschwingenden Cantabile abgesehen lässt Jindra den Essener Philharmonikern viel Raum für fein ausgestaltete Soli und duftige Tutti, denen man die reduzierte Orchesterfassung von Francis Griffin nicht negativ anzukreiden braucht. Die filigrane Brillanz der Begleitung in der Nedda-Arie lässt keine Wünsche offen; die elfenhaften Staccati und Pizzicati zur Arietta Beppes haben den passenden Hauch des Künstlichen. Auch der Opernchor von Jens Bingert erfüllt seinen Part von den Rängen des Hauses, nur kurz von breitem Tempo irritiert, mit Glanz und einer in diesem Stück sonst kaum herstellbaren Transparenz. Noch einmal: Ja, so soll Theater sein. Und wir alle sollten froh sein, dass wir es wieder haben!

Weitere Vorstellungen in dieser Spielzeit nur noch am 13., 18., 20. Juni 2021. Info: www.theater-essen.de




Maschinen-Oper und Elektronik: Erinnerung an Max Brand, dessen „Maschinist Hopkins“ 1929 in Duisburg uraufgeführt wurde

Der Kritiker war begeistert. Ein „geradezu sensationeller Erfolg“ war da 1929 in Duisburg über die Bühne gegangen: „Maschinist Hopkins“, die erste Oper des 32jährigen Max Brand. Der Beifallssturm des Premierenabends sei jedenfalls „doppelt überraschend“ für den „aus seiner Reserviertheit nicht so leicht aufzurüttelnden Niederrheiner“ gewesen, heißt es im Artikel Waldemar Webers. Vor 125 Jahren, am 26. April 1896, wurde Max Brand in Lemberg in der k.u.k. Monarchie geboren. Ein Anlass, um an sein Schicksal und sein weithin vergessenes Hauptwerk zu erinnern.

Vor 125 Jahren geboren: Max Brand (1896-1980). Foto: Universal Edition

Mit „Maschinist Hopkins“ zog die moderne industrielle Arbeitswelt auf der Musiktheaterbühne ein – eine Oper, die wie kaum eine andere in die Stahlkocherstadt Duisburg passte. Saladin Schmitt, damals Intendant der vereinigten Stadttheater von Bochum und Duisburg und Begründer des Ruhmes des Bochumer Schauspiels, hatte selbst die Inszenierung dieses Erstlings eines kaum bekannten Komponisten übernommen.

Für die Duisburger wurde dieser 13. April 1929 ein denkwürdiger Tag. „Maschinist Hopkins“ war „der größte Erfolg überhaupt, den die Duisburger Bühne seit den zehn Jahres ihres Bestehens zu verzeichnen hatte“, konstatierte der Kritiker Weber in den „Musikblättern des Anbruch“. Der Erfolg blieb nicht auf den „Premierenrausch“ des Uraufführungsabends begrenzt, heißt es weiter. „Die folgenden Aufführungen sahen – ein seit Jahren nicht mehr gewohnter Anblick – bis in die letzten Winkel ausverkaufte Häuser.“

Unerhört neuer Stoff für eine „Zeitoper“

In Augsburg und Gießen wurde in jüngerer Zeit die Oper „Maschinist Hopkins“ nachgespielt. (Fotos der Programmhefte aus dem Archiv von Werner Häußner)

Als „Zeitoper“ sollte sich „Maschinist Hopkins“ nicht mit „antiquierter, neben den Forderungen des Tages einher laufender Kunst“ befassen, sondern einen Zuschauer in seiner Gegenwart ansprechen, der sich selbst auf der Bühne mit „allen seinen Wünschen, Leiden, Sehnsüchten und seinem Wollen“ wiederfinden sollte. Der Stoff, aus dem Brand selbst sein Libretto formte, war „unerhört“ neu: Die Hauptpersonen sind Arbeiter; die Schauplätze setzen eine Maschinenhalle der Schwerindustrie in Kontrast zur mondänen Vergnügungswelt des Theaters, noble Direktorenbüros zur bedrückenden Sphäre billiger Kaschemmen.

Die Handlung, unter dem Einfluss moderner Filmästhetik gegliedert in zwölf Bilder, wirkt schnell geschnitten, kolportagehaft und trägt die Züge eines Krimis. Es geht um einen Arbeiter, der dank gestohlener Produktionsgeheimnisse aufsteigt, aber durch Erpressung wieder zu Fall kommt. Die Oper kennt auch eine schwärmerische Liebesnacht mit Schrekerschen Sphärenklängen und Puccini-Süße. Die Frau, die am Verbrechen mitbeteiligt ist, endet als billige Prostituierte durch die Hand ihres früheren Geliebten.

Ambivalente Figur mit Führer-Zügen

Brands trunkene Liebesmusik wirkt falsch, beinahe ironisch. Romantische Liebe ist nur die Fassade, dahinter lauert berechnende Kumpanei. Die Männer benutzen die Frau lediglich: Der eine, um das Wissen zu stehlen, das ihm seinen Aufstieg ermöglicht; der andere, um sich zu rächen und den Gang des Geschehens in seinem Sinn zu steuern. Nell, die sensible Künstlerin mit ihrem „unaussprechlichem Verlangen nach Dingen, die ohne Namen sind“, hat ihre Funktion erfüllt und wird verstoßen, während Hopkins, der Diener des schaffenden Geistes der Maschine seinen Weg „allein und unbeschwert“ gehen muss.

Mit dem Maschinisten Hopkins erschafft Max Brand eine ambivalente Figur, die wie kaum eine andere für den Zeitgeist steht: für die Bewunderung der Technik, für den Fortschrittsglauben des Futurismus, für die alles durchdringende Idee der Arbeit. Aber er ist ein „Mann aus Eisen“, ein Diener der Maschinen, auch eine überhöhte Figur, ein „neuer Mensch“, in dem sich die Faszination für einen „Führer“ wiederspiegelt, die vier Jahre später folgenreich Realität werden sollte. Die Arbeiter, für die er die Fabrik vor der Schließung bewahrt, marschieren am Ende unter dem Ruf „Arbeit, Arbeit …“ im Gleichschritt in die Maschinenhalle, eine amorphe Masse, in der es kein Individuum mehr gibt: ein Kollektiv unter dem Diktat des mechanischen Arbeitsrhythmus‘ der Maschine.

Singende Maschinen wie phantastische Fabelwesen

Doch Max Brand greift in seiner Oper noch weiter aus und trifft damit einen Nerv der Zeit. Die Maschinen sind bei ihm nicht bloße Accessoires eines Schauplatzes, sondern eigenständige Wesen mit Bewusstsein und Stimme. Sie singen von ihrer Versklavung durch den Menschen und von ihrer immensen, auch tödlichen Kraft. Sie werden stilisiert wie in der schwarzen Romantik: „Gigantische Maschinen wie phantastische Fabelwesen … hie und da blinkt ein glatter Metallteil nackt, wie ein bösartiges Auge, auf“, beschreibt eine Regieanweisung.

Die Überhöhung trägt religiöse Züge: Im Schlussbild soll der Aufbau der Hauptschalttafel für die Maschinen „symbolhaft und altarartig“ wirken, wie ein Tabernakel glitzernd im magischen Licht des Mondes. Fritz Langs „Metropolis“ lässt grüßen. Musikalisch orientiert sich Brand an Arnold Schönberg, den er intensiv studiert hat: Die Maschinen äußern sich in verschiedenen Formen deklamatorischen Sprechens und Singens. Schönbergs „Die Glückliche Hand“ wurde damals ebenfalls in Duisburg gespielt.

„Vision der Oper unserer Zeit“ oder skrupellose Erfolgsoper?

Die Duisburger Uraufführung von „Maschinist Hopkins“ war kein Theaterskandal wie die wohl bekannteste „Zeitoper“, Ernst Kreneks „Jonny spielt auf“ zwei Jahre zuvor in Leipzig. Doch die Kritik reagierte gespalten. Die Duisburger Rhein- und Ruhrzeitung schrieb, Brand sei der geborene Musikdramatiker, in seiner Musik gebe es keine Langeweile. Alfred Einstein kritisierte dagegen im Berliner Tageblatt „Maschinist Hopkins“ als „skrupellose Erfolgsoper, nacktes Filmgerüst für Musik“. Theodor W. Adorno hielt sie für hohl und hilflos, andere höhnten über ihre „dramatische und musikalische Minderwertigkeit“. Als „Vision der Oper unserer Zeit“ gerühmt, wurde „Maschinist Hopkins“ als „Oper des Jahres 1929“ ausgezeichnet und bis 1932 an 27 Theatern nachgespielt.

Max Brand. Foto: Universal Edition

Max Brand war 1907 mit elf Jahren mit seinen Eltern von Lemberg nach Wien übergesiedelt, nahm am Ersten Weltkrieg teil und studierte ab 1918 bei Franz Schreker und Alois Haba in Wien und Berlin. 1921 debütierte er mit (heute verschollenen) Werken beim Internationalen Musikfest in Winterthur.

In den zwanziger Jahren beschäftigte er sich mit den Möglichkeiten modernen Musiktheaters, gründete in Wien ein „Mimoplastisches Theater für Ballett“ und legte in einigen Essays kühne Reformideen für die Oper vor.

Brand schwebte eine Überwindung der „persönlichen Erfassung im Gefühlsmäßigen“ und der individuellen Auslegung eines musikalischen Geschehens vor. Stattdessen überlegt er eine „Loslösung musikalischer Geschehnisse und ihrer bühnenmäßigen Begründung vom rein menschlichen Beziehungsproblem“. Die Folge wäre eine Bühne, die nichts Konkretes mehr vorstellt, sondern ihr Leben mit seinen Bewegungen und Formen, Farben, Lichtern und Schatten aus dem „Sinn“ der Musik empfängt. Das Klangliche sollte in Licht und Farbe transponiert werden; der Mensch auf der Bühne nicht nach menschlichen, sondern nach rein musikalischen Notwendigkeiten handeln. Brand dachte an „Vorgänge abseits jeder Realistik“. Diese „Musik-Mechanisierung“ war damals eine visionäre Vorstellung, die etwa auch bei Arnold Schönberg greifbar wird, aber – soweit feststellbar – kein Echo in der Praxis gefunden hat.

Pionier der elektronischen Musik

1938 musste Max Brand als Jude Österreich verlassen und ging über Prag und Brasilien, wo er mit Heitor Villa-Lobos zusammenarbeitete, in die USA. Schon die in Berlin geplante Uraufführung seiner zweiten Oper „Requiem“ (1932) scheiterte an den Nazis. In New York gelang es ihm, sein Oratorium „The Gate“ zur Aufführung an der Metropolitan Opera New York zu bringen.

Stets begierig auf Neues und fasziniert von der Technik, entdeckte er die elektronische Musik für sich, mit der er sich seit Kriegsende zunehmend intensiv beschäftigte. Mit dem Techniker Frederick C. Cochran und dem Elektronik-Pionier Robert Moog erstellte er 1968 das „Moogtonium“, einen aus dem Trautonium entwickelten Synthesizer. Der funktionsfähige Prototyp ist heute im Museum im niederösterreichischen Langenzersdorf ausgestellt, das Max Brands Tonstudio bewahrt.

1975 kehrte Brand nach Österreich zurück, wo er vergessen und in den letzten Jahren dement 1980 starb. Seine Oper „Maschinist Hopkins“ wurde erst 1984 von John Dew in Bielefeld wiederentdeckt und wenige Male, etwa in Gießen und Augsburg, nachgespielt – leider aber nicht im Ruhrgebiet, wo das Thema Arbeit, Industrie und Maschine eigentlich ein Heimatrecht haben müsste.




„Kreativität aus der Krise“: Manuel Schmitt über seine Revier-Herkunft und seine Inszenierung von „Romeo und Julia“

Szenenfoto aus Boris Blachers „Romeo und Julia“ auf der Bühne des Theaters Duisburg. Foto: Hans Jörg Michel

Es ist eine der faszinierendsten Liebesgeschichten der Weltliteratur: Zwei junge Menschen aus seit Generationen verfeindeten Familien, eine verbotene Liebe auf den ersten Blick, eine schwärmerische Liebesnacht und der Tod nach tragischer Verkettung glückloser Umstände. „Romeo und Julia“ erschüttert bis heute mitfühlende Seelen.

Kein Wunder, dass der Stoff vielfach in Musik gefasst wurde: Allein über 40 Opern werden gezählt. Die bekanntesten Vertonungen stammen von Vincenzo Bellini („I Capuleti e i Montecchi“) und von Charles Gounod (kürzlich an der Deutschen Oper am Rhein und in Aachen neu inszeniert). Ein kaum bekanntes Juwel verfasste Riccardo Zandonai („Giulietta e Romeo“), andere stammen von Heinrich Sutermeister oder dem Bellini-Zeitgenossen Nicola Vaccai.

Für einen an Corona adaptierten Spielplan hatte die Deutsche Oper am Rhein (Düsseldorf/Duisburg) eine Version aus dem 20. Jahrhundert ausgewählt: Im November 2020 sollte Boris Blachers „Romeo und Julia“ Premiere feiern, inszeniert von Manuel Schmitt, der vor zwei Jahren in Gelsenkirchen mit Georges Bizets „Die Perlenfischer“ einen markanten Erfolg landen konnte. Allein – dazu kam es nicht; der Herbst-Lockdown machte eine Live-Aufführung der fertig geprobten Oper unmöglich. Jetzt wird sie wenigstens medial nachgeholt: Ab Samstag, 17. April, 19 Uhr, streamt die Deutsche Oper am Rhein die Produktion, aufgezeichnet im März im Theater Duisburg.

Corona-Lockdown und Wasserschaden

Der Regisseur Manuel Schmitt. Foto: Esther Mertel

Für Manuel Schmitt, der in Mülheim/Ruhr aufgewachsen ist, ein Grund zur Freude. Denn die Pandemie hat den 32-Jährigen in einer wichtigen Phase seiner Karriere voll erwischt. In der Zeit seit März 2020 hätte er in den Münchner Kammerspielen, an der Oper Frankfurt und erneut am Musiktheater im Revier vier wichtige Premieren gehabt. Einen Tag vor der Premiere von Heinrich Marschners „Der Vampyr“ im sächsischen Radebeul wurde der erste Lockdown verkündet. Und seine Inszenierung einer selten gespielten Oper des Italieners Saverio Mercadante nach Schillers „Die Räuber“ in Hildesheim musste im September 2020 nach der Premiere wegen eines Wasserschadens abgesetzt werden. Trotzdem sagt Manuel Schmitt, es gehe ihm eigentlich noch ganz gut: „Ich bereite zuhause meine Produktionen vor und konnte bisher einen Teil der geplanten Proben abhalten. Daher bin ich vielleicht noch in einer vergleichsweise glücklichen Position.“

„Hier hängt mein Herz“

Schmitt bezeichnet sich selbst als „Kind des Ruhrgebiets“: „Hier hängt mein Herz“, sagt der junge Regisseur mit derzeitigem Wohnsitz in München. „Im Rhein-Ruhr-Gebiet zu arbeiten, ist toll“. Zwar steht in seinem Ausweis Oberhausen als Geburtsort, aber Schmitts Heimat ist Mülheim. Ein mit klassischer Musik groß gezogenes Bildungsbürgerkind ist er nicht. Er wuchs in einer Familie auf, die eher zu technischen Berufen hin orientiert ist. Doch sein Interesse für Musik wurde noch vor der Grundschule geweckt und zunächst im Klavierspiel ausgelebt. Ein einschneidendes Erweckungs-Erlebnis gab es nie: Der kleine Manuel ging zwar mal in „Hänsel und Gretel“, aber an die Begeisterung über Engelbert Humperdincks Oper erinnert sich nur noch die begleitende Patentante.

„Mit Zehn ging’s dann los“, blickt Schmitt zurück. Aus heiterem Himmel kam ein Casting zum Musical „Tabaluga & Lilli“ mit Peter Maffay in Oberhausen. „Ich wusste nicht, was auf mich zukommt, hab‘ aber dann zwei Jahre mitgespielt.“ Der Theater-Virus wirkte: Manuel Schmitt erschnupperte in Essen „die völlig neue Welt der Oper“. Er hospitierte am Aalto-Theater, war dort Statist, assistierte unter anderem bei Willy Decker bei der Ruhrtriennale, erinnert sich an eine ihn faszinierende „Aida“ in Gelsenkirchen. Am Aalto hat er auch gemerkt, „was es für einen Drive hat, mit Leuten wie Hans Neuenfels oder Barrie Kosky zu arbeiten. Ohne diese Erfahrung wäre ich meinen Weg nicht gegangen.“

Dazwischen lag eine Ruhrgebiets-Jugend zwischen Mülheim, Oberhausen und Essen und das Abitur am Gymnasium Heißen: „Vier U-Bahn-Stationen, und man hat alles um sich rum“, schwärmt Schmitt, „ob einen Rückzugsort im Wald oder eine heiße Party.“ Er schätzt die offenen Menschen, das multikulturelle Umfeld, den hohen Stellenwert von Kultur. „Ich glaube an das Potenzial des Ruhrgebiets: Hier gibt es die Menschen, den Raum, die Innovation.“

Regie und Philosophie

Als einer von zweien bestand er die Aufnahmeprüfung an der Münchner Bayerischen Theaterakademie, benannt nach August Everding, einem gebürtigen Bottroper. 2013 schloss er sein Regiestudium mit einer Inszenierung von Philip Glass‘ „Galileo Galilei“ ab. Danach, um tiefer zu blicken, folgte noch ein Philosophie-Studium an der Hochschule für Philosophie der Jesuiten in München.

Manuel Schmitt bei einer Probe von „Romeo und Julia“. Foto: Esther Mertel

Dass er nun eine unbekannte Oper von 1943 mit einem Weltliteratur-Thema inszeniert hat, macht ihm „großen Spaß“. Boris Blacher, ein in China geborener Kosmopolit, 1975 in Berlin gestorben, hat keinen Blockbuster geschrieben, sondern den Stoff von Romeo und Julia auf seine Essenz konzentriert. Damals durch den Krieg, heute durch die Pandemie, sind die Möglichkeiten, große Oper zu spielen, begrenzt. Blacher hat sein Werk den Umständen der Zeit angepasst: Eine gute Stunde Spieldauer, neun Musiker, zwei Hauptrollen, der Rest kann aus dem kleinen Chor besetzt werden. Ideal also für einen an Corona angepassten Spielplan.

Blachers Musik gibt sich akribisch konstruiert und völlig unromantisch, erreicht aber mit einem „Minimum an Mitteln ein Maximum an Wirkung“, wie der Kritiker Hans Heinz Stuckenschmidt schrieb. Die strenge, rhythmisch betonte Schreibweise erinnert an Paul Hindemith, aber auch an den Esprit der französischen Sachlichkeit eines Darius Milhaud. Zusätzlich gebrochen wird die Handlung – streng nach Shakespeare, aus dessen Drama Blacher den Text destilliert hat – durch einen Chansonnier: Der singt einen Prolog und zwei Songs nach Art von Kurt Weill, die bezeichnenderweise bei der offiziellen Uraufführung der Oper in Salzburg 1950 weggelassen wurden.

Ein pazifistisches Werk

Bemerkenswert für Manuel Schmitt ist, dass Blacher seine Oper mitten in der Kriegszeit auf einen Text des Engländers Shakespeare geschrieben hat und mit einem Friedensappell beginnen lässt: „Zu Boden werft, bei Buß‘ an Leib und Leben, die mißgestählte Wehr aus blut’ger Hand“, singt der Chor am Anfang. „Heute ist schwer herauszulesen, dass die Oper unter den damaligen Umständen ein pazifistisches Werk war“, ist sich Schmitt sicher. Blacher lasse sie auch nicht mit dem Tod der Liebenden enden, sondern reflektiere die Auswirkungen der Liebe. Für Schmitt eine positive Auswirkung der Krise: Statt der üblichen „großen“ Opern erlebten Werke eine Renaissance, die vorher unbeachtet geblieben seien oder die man sich nicht zugetraut habe. „Wir schlagen Kreativität aus der Krise.“

Schmitt stört es überhaupt nicht, dass er derzeit eher unbekannte Opern – wie die von Mercadante, Marschner oder jetzt Blacher – inszeniert. „Publikum und Ausführende schauen unbelastet auf diese Stoffe. Wir können frei von Erwartungen und Sehgewohnheiten die Stärken und Schwächen solcher Werke aufdecken. Man wächst an den Vorlagen. Und ich bin sicher, dass die Krise ästhetisch und in den Spielplänen Spuren hinterlassen wird.“ So freut sich der Theatermann, dass er seine nächste große Herausforderung in Gelsenkirchen bestehen kann: Dort soll er demnächst Gioachino Rossinis Oper „Otello“ proben. Das bedeutet für ihn absolutes Heimatfeeling: „Wenn ich sage, ich gehe nach Hause, dann meine ich das Ruhrgebiet.“

Die Online-Premiere von „Romeo und Julia“ am Samstag, 17. April 2021, 19 Uhr, wird von einem Live-Chat mit Regisseur Manuel Schmitt und Dramaturgin Anna Grundmeier begleitet. Danach ist das Stück für sechs Monate – bis 17. Oktober – kostenfrei online abrufbar. Unter der musikali­schen Leitung von Christoph Stöcker wurde es am 18. und 19. März aus sechs Kameraperspektiven im Theater Duisburg aufgezeichnet.

Weitere Informationen zur Inszenierung hier und zum Stream auf www.operamrhein.de




Erfolg mit Klimper-Kulleraugen: 50 Jahre „Sendung mit der Maus“

Immer wenn die orange-braune Maus mit den Augenlidern klimpert und der kleine blaue Elefant trötet, wissen Jung und Alt: Jetzt gibt es Lustiges und Lehrreiches aus der bunten Vielfalt der Welt – „Lach- und Sachgeschichten“ eben.

50 Jahre trippelt sie über den Bildschirm: Die Maus freut sich über Ihre Geburtstagstorte.
© WDR/Michael Schwettmann.

Unter diesem Titel startete am 7. März 1971 eine neue Sendereihe für Kinder, produziert vom WDR in Zusammenarbeit mit anderen ARD-Sendern. In 50 Jahren hat sich die „Sendung mit der Maus“ zum beliebtesten Familientermin vor dem Fernseher entwickelt.

Inzwischen sitzen Großmütter, die als Kinder die ersten „Maus“-Episoden verfolgt haben, vor der Mattscheibe und verfolgen mit ihren staunenden Enkeln, was das kleine Nagetier wieder Spannendes vorzuführen hat. Der Zuschauer-Altersdurchschnitt von 40 Jahren macht deutlich: Eine „Kindersendung“ ist die „Maus“ längst nicht (mehr). Auch Erwachsene haben Spaß daran, sich Fragen beantworten zu lassen, die sie sich schon immer stellten – oder auf die sie bisher noch gar nicht gekommen sind.

Alltagsfragen und schwierige Themen

Bild: © WDR

Das Erfolgsrezept wurde bereits in Doktorarbeiten untersucht. Es besteht, einfach gesagt, aus der geglückten Mischung von wiedererkennbaren Elementen und sorgfältig recherchierten, anschaulich präsentierten Aha-Erlebnissen.

Das mittlerweile auf neun Mitarbeiter angewachsene Maus-Team hat für die 2309 bisherigen Ausgaben nicht nur Klassiker wie die Frage nach den Löchern im Käse beantwortet. Sondern die halbstündige Sendung geht Alltäglichem auf den Grund, fragt, wie Dinge funktionieren, die wir wie selbstverständlich benutzen. Oder die wir gar nicht so genau beachten, weil sie uns ständig über den Weg laufen.

Wer weiß denn schon genau, wie Brötchen gebacken werden? Oder wie ein Wasserhahn oder eine Spülmaschine funktionieren? Die Maus lässt uns die Natur besser verstehen – etwa, warum Ohrwürmer hinten eine Zange haben. Sie führt uns auch an Orte, die man nur schwer betreten kann, zum Beispiel die Hallen, in denen ein ICE gebaut wird. Ob Japan oder das Mittelalter: Ferne Orte und fremde Zeiten spielen eine Rolle, wenn die Trickfigur ihre große Ohren und neugierigen Augen auf Reisen oder sogar bei einem Flug ins All auf kaum erreichbare Dinge richtet.

50. Geburtstag der „Sendung mit der Maus“! Von links nach rechts: Christoph Biemann, Ralph Caspers und Clarissa Correa da Silva freuen sich auf das Maus-Jubiläum.
© WDR/Annika Fusswinkel.

Die Maus entdeckt, was im Alltag spannend ist und worüber man sich erst Gedanken macht, wenn man – vielleicht von den eigenen Kindern oder Enkeln – danach gefragt wird: Etwa, wie ein Rollstuhlfahrer Auto fahren kann. Oder woher die Kartoffel kommt und was man alles aus ihr herstellen kann. Wer hätte gewusst, wer die Chips erfunden hat, die wir zum Fernsehabend knabbern? Die Maus-Macher nähern sich auch sensiblen, schwierigen Themen: Etwa der Geschichte eines Mädchens, das an einer unheilbaren Krankheit gestorben ist. Oder der Frage, was passiert, wenn ein Mensch stirbt, den man gern hat.

Elefant, Ente und Käpt’n Blaubär

Unermüdlich spinnt er für die drei kleinen Bärchen Seemannsgarn. Juhuu! Jetzt hat an Käpt’n Blaubärs Angel was angebissen!
© WDR/Grafik Walter Moers.

Damit die „Sachgeschichten“ nicht zu trocken werden, gibt’s dazwischen kleine Sketche mit der seit 50 Jahren sprachlosen Maus und ihrem gezeichneten Freundeskreis wie dem blauen Elefanten und der gelben Ente. Zur Sendung gehör(t)en auch beliebte Trick-Tiere wie Schnappi, das kleine Krokodil oder Shaun, das Schaf. 1998 erhielt ein Maus-Star sogar eine eigene Briefmarke: Käpt’n Blaubär, der schon seit 1991 mit seinem Gehilfen Hein Blöd und den drei kleinen Bärchen Seemannsgarn spinnt. Auch jetzt zum 50. Geburtstag hat die Deutsche Post der Maus mit ihren Freunden eine Sondermarke gewidmet: Das 80-Cent-Wertzeichen mit einer Auflage von 65 Millionen Stück ist seit 1. März erhältlich. Und für Münzsammler gibt’s ein 20-Euro-Stück, sogar mit der Maus in Farbe drauf.

Inzwischen beschränkt sich der Aktionsradius des agilen Tierchens nicht mehr nur aufs Fernsehen: Seit 2011 gab es neun „Türöffner“-Tage, an denen Unternehmen, Institutionen und sogar Privathaushalten Kinder „Sachgeschichten“ live erleben lassen. Beim neunten Mal im Jahr 2019 öffneten sich auf allen Kontinenten 800 Türen für 80.000 Kinder.

Nilpferd oder Maus?

Gert K. Müntefering, Erfinder der „Sendung mit der Maus“. © WDR/Oliver Schmauch.

Als Gert K. Müntefering, Leiter des Kinder- und Familienprogramms des WDR, die „Lach- und Sachgeschichten“ erfand, hat keiner mit einem Dauerbrenner gerechnet. Mit-Erfinder Armin Maiwald berichtet, der Titel der Sendung sei damals „veritabel auf dem Flur“ entstanden.

Die Maus hatte sogar Konkurrenz: Die Redaktion diskutierte, ob sie nicht ein Nilpferd als Titelfigur nehmen sollte. Inzwischen ist das sprachlose Nagetier eine der beliebtesten Kinderfiguren überhaupt. „Generationen von Kindern sind mit der Maus groß geworden. Die Maus ist eine öffentlich-rechtliche Erfolgsgeschichte – ein Familienangebot im besten Sinne, das sich ständig weiterentwickelt“, sagt WDR-Intendant Tom Buhrow.

Armin Maiwald hat die Maus miterfunden und ist bis heute dabei.(Archivbild von 1997)
© WDR/Hajo Hohl.

Zum 50. Geburtstag gibt es „Zeitreisen mit der Maus“ (ARD Mediathek) und sie zeigt jeden Sonntag „Früher-Heute-Geschichten“: Wie war das um 1970 und wie ist es heute bei der Müllentsorgung, an der Eisenbahnschranke oder bei einer Fahrt mit dem Auto? Doch beim eigentlichen Jubiläum soll der Blick in die Zukunft gehen: Die Geburtstagssendung mit der Maus am Sonntag, 7. März um 9 Uhr im Ersten und um 11.30 Uhr im KIKA steht unter dem Motto „Hallo Zukunft“. Kinder haben Ideen für künftige Themen an das Redaktionsteam geschickt. In „Frag doch mal die Maus – Die große Geburtstagsshow“ (Das Erste, 6. März, 20.15 Uhr, ARD-Mediathek) lädt Eckart von Hirschhausen ein zu den schönsten Erinnerungen aus fünf Maus-Jahrzehnten und den besten Kinderfragen zu Geschenken, Feiern und Torten. Das dritte Programm des WDR zeigt ab 23.30 Uhr eine 180 Minuten lange „Zeitreise mit der Maus“  in die 70er Jahre.

Zum 50. Geburtstag kann sich die Maus keinen Urlaub gönnen. Am Wochenende wird kräftig gefeiert!
© WDR/Trickstudio Lutterbeck.

Für Maus-Fans bietet die Webseite www.die-maus.de jede Menge Infos und Hinweise auf aktuelle Sendungen und Mediathek-Inhalte, so auch die Hörspiele aus dem Wettbewerb „Dein Hörspiel #mitdermaus“: Dafür haben Kinder Geschichten zur Zukunft in 50 Jahren geschrieben. Aus den Einsendungen von 1.500 Sieben- bis Zwölfjährigen aus Deutschland, einigen europäischen Ländern und den USA wurden die Geschichten von acht Kindern ausgewählt und professionell als Hörspiele produziert. Darunter ist auch ein Text der acht Jahre alten Autorin Leni Luisa aus Dortmund, der am 6. März in der „Sendung mit der Maus zum Hören“ zu erleben ist.

Tipp für zu Hause: Wer die Erkennungsmelodie der Maus liebt, kann sie auch selbst nachspielen. Der Schott-Verlag hat die Noten des musikalischen Sketches von Hans Posegga im Programm, wahlweise für Klavier zu zwei oder vier Händen, zwei Gitarren, Flöte und Gitarre oder Blockflötenquartett.




Über alle Regeln hinweg: Als die Tänzerin Lola Montez Bayernkönig Ludwig I. den Thron kostete

Lohnt es sich wirklich, sich mit dieser Frau zu beschäftigen, und das noch 200 Jahre nach ihrer Geburt? Braucht eine Hochstaplerin, eine offenbar nur mittelmäßige Tänzerin, eine unschwer als narzisstisch erkennbare Persönlichkeit noch 2020 eine nagelneue, kritische Biografie?

Marita Krauss‘ Biographie über Lola Montez, im Dezember 2020 erschienen bei C. H. Beck. (343 Seiten, 24 €).

Muss jemand wie jene Lola Montez in Filmen, Dramen und sogar einer – 1937 in Dortmund uraufgeführten, heute vergessenen – Operette von Eduard Künneke („Zauberin Lola“) verewigt werden, nur weil sie sechzehn Monate lang die Geliebte eines Königs war, den sie schließlich sogar die Krone gekostet hat?

Es lohnt sich, weil die kaum 40 Jahre der Lebensspanne dieser Frau bunt, anrüchig und dramatisch waren, wie sie im Roman nicht besser hätten erfunden werden können. Und weil sie zu einer Art Urtyp der „femme fatale“ wurde, die Ende des 19. Jahrhunderts das Frauenbild und die Kultur des Fin de siècle prägte.

Heute vor 200 Jahren geboren

Die Geschichte der Lola Montez beginnt am 17. Februar 1821 – heute vor 200 Jahren – in einem Nest namens Grange im irischen Nordwesten, führt über Indien und Schottland in ein englisches Internat für höhere Töchter, von dort über Spanien und London ins thüringische Reuß-Ebersdorf zur ersten Affäre mit einem regierenden Fürsten. Als ihr im Oktober 1846 an der Münchner Hofbühne die Erlaubnis zu einem Tanzauftritt verweigert wurde, hatte sie bereits ihren ersten Mann verlassen. Sie war aus London geflohen, weil sie sich als spanische Tänzerin „Maria de los Dolores Porrys y Montez“ ausgegeben hatte und als Hochstaplerin aufgeflogen war. Und sie zählte als Halbweltdame in Paris die beiden Schriftsteller Alexandre Dumas den Älteren und den Jüngeren sowie Franz Liszt unter ihre Verehrer, bevor einer ihrer weiteren Liebhaber bei einem – wegen ihr ausgefochtenen – Duell erschossen wurde.

König Ludwig I. von Bayern weiß davon nichts, als ihm in seiner unermüdlichen Kleinarbeit für sein Land auch der Bescheid der Intendanz unter die Augen kommt. Eine spanische Tänzerin mit hochtönend klingendem Namen! Der König, für seinen bisweilen hartnäckigen Eigensinn berüchtigt, wird aufmerksam. Er liebt den Zauber der spanischen Sprache. Der Sechzigjährige, im Grunde einsame Mann ist zudem empfänglich für weibliche Schönheit. Lola Montez versucht, zum König vorzudringen, um doch noch zu ihrem Tanzspiel zu kommen. Sie weiß um die Wirkung ihrer Reize und ist entschlossen, sie einzusetzen.

Nach drei Versuchen erhält sie Audienz. Der König spricht mit ihr lange über Kunst und Literatur – auf Spanisch. Wenig später liegt die Genehmigung vor: Die „Spanierin“ darf tanzen! München ist neugierig, das Theater voll. Stürmischer Beifall für die geheimnisvolle Fremde. Die Kenner stellen fest, dass sie von Fandango und Bolero nichts verstehe. Aber das innere Feuer wirkt. Ludwig ist begeistert, beschließt: Hofmaler Joseph Karl Stieler muss dieses herrliche Wesen für die Galerie der Schönheiten malen. Und Lola Montez nutzt die Zeit der Sitzungen, das „liebeleere“ Herz des Königs für sich zu entflammen.

Feuchter Schimmer wilder Leidenschaft

Das leicht idealisierte Porträt hängt heute noch in der „Schönheitengalerie“ im Münchner Schloss Nymphenburg und entfacht eine ganz eigene Faszination. In seiner Ludwig-Biografie beschreibt Egon Cäsar Conte Corti die gebürtige Irin als „Kunstwerk der Natur“: „Tiefblaue, feurige, glänzende Augen, die zuweilen eine feuchten Schimmer wie von wilder Leidenschaft zeigen, erhellen ein formvollendetes Antlitz, das bei nicht allzu hoher Stirn von seidenweichen, ebenholzschwarzen Haaren überschattet ist… Man sieht ihr an den Augen ab, dass sie nicht unklug ist, aber ihr Herz ist ebenso kühn wie leidenschaftlich, ebenso mutig wie unbändig und setzt sich über alle Regeln hinweg, die ihre Mitwelt in Bann halten.“

Über alle Regeln hinweg: Sehr schnell werden sich die maßgeblichen politischen Kreise bewusst, welche Gefahr ihnen in der ehrgeizigen Frau droht: Elizabeth Rosanna James, geborene Gilbert, beherrscht den König komplett. Minister, Behörden, Polizei, kirchliche Kreise, Adel sind alarmiert. Ihre Versuche, den bezauberten Mann zur Vernunft zu bringen, scheitern. Ludwig empfindet sie „als Angriff auf sein Glück“ und als „Einmengen in sein privates Leben“. Sein Starrsinn ist geweckt: Gelten in Bayern die königlichen Weisungen nicht mehr? Im November 1846 ändert Ludwig sein Testament, vermacht ihr 100.000 Gulden und setzt eine jährliche Rente von 2.400 Gulden aus.

Lola nutzt die Gunst der Stunde. Sie provoziert nicht nur die Politiker, sorgt für den Fall von zwei Regierungskabinetten und für königliche Ungnade gegen ganze Reihe von Beamten. In der Öffentlichkeit provoziert sie einen Skandal nach dem anderen. Dass die Beziehung zu Ludwig wohl so gut wie keusch bleibt, ist erst eine Erkenntnis aus jüngeren Recherchen. Dafür umgibt sie sich mit jungen Liebhabern und einem Kreis von Studenten des Corps Alemannia, die bei den Münchnern verächtlich „Lolamannen“ genannt werden. Ein gewalttätiger Zusammenstoß von Studenten lässt den entrüsteten Ludwig die Universität schließen. Jetzt ist das Maß in der Münchner Gesellschaft voll: Ein Aufstand droht. Der Monarch willigt schließlich ein: Die erst vor wenigen Monaten erhobene „Gräfin von Landsfeld“ muss Bayern verlassen.

Bigamie und Shows in Goldgräber-Städten

Erst allmählich und nach seiner erzwungen Abdankung 1848 wird dem König klar, wie sehr er hintergangen und ausgenutzt wurde. Lola Montez lebt zunächst mit dem Geld Ludwigs luxuriös in der Schweiz, geht dann nach London, wo sie einen jungen Offizier heiratet und wegen Bigamie angeklagt wird, weil ihr früherer Ehemann noch lebt.

1852 spielt sie sich selbst am Broadway in der Revue „Lola Montez in Bavaria“ und kommt mit einer Tournee sogar bis in Goldgräber-Städte Australiens. Bevor sie am 17. Januar 1861 in New York an einer Lungenentzündung stirbt und in Brooklyn begraben wird, sichert sie ihren Lebensunterhalt durch Lesungen und wandelt sich zur bekennenden Christin.

Die Historikerin Marita Krauss gibt ihrer neuen Biografie als Titel ein Zitat von Lola Montez: „Ich habe dem starken Geschlecht überall den Fehdehandschuh hingeworfen.“ Ein „herzloses dämonisches Wesen“, wie Richard Wagner urteilte? Eine machtgierige, berechnende Narzisstin? Oder eine Frau, die mit ihrem Willen zur Selbständigkeit und ihrem ungestümen Temperament an einer Gesellschaft zerbrach, die den Frauen genau das nicht zubilligen wollte?




Krimi-Kult am Sonntag: Vor 50 Jahren wurde der erste „Tatort“ gesendet – Jubiläums-Doppelfolge aus Dortmund und München

Heute, 29. November, um 20.15 Uhr (und danach in der Mediathek) zu sehen: erster Teil der Jubiläums-Doppelfolge mit den „Tatort“-Teams aus Dortmund und München – hier eine Szene mit (v. li.) Peter Faber (Jörg Hartmann), Ivo Batic (Miroslav Nemec), Nora Dalay (Aylin Tezel) und Franz Leitmayr (Udo Wachveitl). (Bild: WDR / Frank Dicks)

Der 29. November 1970 sollte in die Fernsehgeschichte eingehen – aber das war damals noch alles andere als klar.

Die Idee des Fernsehredakteurs Gunther Witte, eine gemeinsame Krimi-Reihe der ARD-Fernsehanstalten unter dem Titel „Tatort“ zu produzieren, stieß zunächst auf wenig Interesse. Als das Projekt schließlich doch genehmigt wurde, war die Zeit zu knapp, um die ersten Folgen zu produzieren. Der Auftakt der Serie, „Taxi nach Leipzig“, war daher ein vom NDR bereits fertiggestellter Film.

Der frühere WDR-Fernsehspielchef und Tatort-Erfinder Gunther Witte beim Fototermin anlässlich des Jubiläums „40 Jahre Tatort“ 2010 in Hamburg vor dem Logo der meistgesehenen Krimireihe im deutschen Fernsehen. (Bild: ARD/Thorsten Jander)

Darin ermittelt Hauptkommissar Paul Trimmel aus Hamburg in einem deutsch-deutschen Mordfall. Der Schauspieler Walter Richter verkörpert den cholerischen Einzelkämpfer, bei dem Zigaretten und Cognac stets in Reichweite waren, zwischen 1970 und 1982 in elf „Tatort“-Folgen.

Der erste eigens für die Serie produzierte Film war „Kressin und der tote Mann im Fleet“ mit Sieghardt Rupp als Zollfahnder Kressin, ausgestrahlt am 10. Januar 1971.

Ein Straßenfeger der Siebziger

Schon bald zeigten die Zuschauerquoten, dass Wittes Konzept aufgehen sollte: markante Typen als Ermittler im Mittelpunkt der jeweiligen Folgen, realitätsnahe Fälle, regionale Verankerung im Sendegebiet der beteiligten Anstalten und ausgeprägtes Lokalkolorit. In den siebziger Jahren war der „Tatort“ mit seinem bis heute kaum veränderten Vorspann und seiner Titelmelodie von Klaus Doldinger ein „Straßenfeger“. Bis zu 25 Millionen Zuschauer saßen am Sonntagabend vor der Mattscheibe. Der Stuttgart-Krimi „Rot – rot – tot“ mit Curd Jürgens in einer Hauptrolle belegt den bisher nicht mehr erreichten Spitzenplatz: Am 1. Januar 1978 fieberten 26,57 Millionen Zuschauern mit, ob Kommissar Lutz (Werner Schumacher) die vermeintliche Mordserie an rothaarigen Frauen aufklären könne.

Nach Einführung des Privatfernsehens Mitte der achtziger Jahre sanken die Einschaltquoten. Dennoch gehört der „Tatort“ nach wie vor zu den meistgesehenen Fernsehserien in Deutschland. Zwischen sieben und über dreizehn Millionen Zuschauer werden pro Folge erreicht. „Fangschuss“ mit dem Ermittlerteam aus Münster erzielte 2017 mit 14,56 Millionen das beste Ergebnis seit 1992, als die Hamburger Episode „Stoevers Fall“ 15,86 Millionen Menschen vor die Flimmerkiste lockte.

Dortmund, Duisburg, Essen

Derzeit sind für den „Tatort“ 21 Teams sowie die beiden Einzelgänger Felix Murot in Wiesbaden (Ulrich Tukur) und Ellen Berlinger in Mainz und Freiburg (Heike Makatsch) in den Abgründen der Kriminalität unterwegs: Falke (Wotan Wilke Möhring) und Grosz (Franziska Weisz) haben seit 2016 das norddeutsche Revier rund um Hamburg übernommen; in München traten Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) das Erbe des Ur-Kommisars Melchior Veigl (Gustl Bayrhammer) an, der 1972 seinen Einstand mit „Münchner Kindl“ gegeben hatte.

In Dortmund bewegen sich Jörg Hartmann als psychisch belasteter Hauptkommissar Peter Faber, Anna Schudt als seine Kollegin Martina Böhnisch, die junge, ehrgeizige Nora Dalay (Aylin Tezel) und der Neuling Jan Pawlak (Rick Okon) in den Spuren der legendären Ruhrgebiets-Kommissare Horst Schimanski (Götz George) in Duisburg und Heinz Haferkamp (Hansjörg Felmy) in Essen – beide gehören zu den beliebtesten Kommissaren der „Tatort“-Serie.

Der WDR lädt anlässlich des 50. „Tatort“-Geburtstags zum Wiedersehen mit Kult-Kommissar Horst Schimanski. Links Thanner und Schimanski (Eberhard Feik und Götz George) im unbearbeiteten Original der Folge „Duisburg-Ruhrort“, rechts die restaurierte und colorierte Nachbearbeitung in HD. (Bild: WDR/Bavaria/ D-Facto Motion)

Felmy wies in einem Interview darauf hin, dass bereits in der Figurenentwicklung versucht worden sei, Haferkamp ein bisschen persönlichen Background zu geben, damit der Kommissar für die Zuschauer nicht allein als Ermittler, sondern als Mensch interessant würde. Seine Vorliebe für Frikadellen habe er sich selbst ausgedacht. Sie mache die Figur „einfach liebenswerter, lebenswerter, menschlicher“. In 20 Fällen führte Haferkamp zwischen 1974 und 1980 ins damals noch typische Ruhrgebiets-Essen.

Die Schimanski-Folgen sind schon zur Zeit ihrer Erstausstrahlung Kult gewesen: Götz Georges unvorschriftsmäßige Eskapaden, seine rüde Sprache und seine Wutausbrüche, seine sensibel-nachdenklichen Momente und sein unwiderstehliches Lächeln, wenn er es mit einer schönen Frau zu tun bekommt, sind genauso legendär geworden wie die Schwerindustrie-Kulisse des Duisburg der frühen achtziger Jahre. Nicht zu vergessen Eberhard Feik als Christian Thanner, der so einige der chaotischen Aktionen von „Schimi“ wieder zurechtrückt.

Frauen als Ermittlerinnen gibt es übrigens erst seit 1978, als Nicole Heesters als Kommissarin Buchmüller in Mainz – für nur drei Fälle – ihre Arbeit aufnahm. Bis heute mit von der Partie ist Ulrike Folkerts als Lena Odenthal, die für ihr Debüt als „Die Neue“ am 29. Oktober 1989 in Ludwigshafen ihren Dienst angetreten hat. Heute gibt es nur noch fünf männliche Teams und – in Wiesbaden – Ulrich Tukur als Einzelkämpfer Felix Murot.

Kommissare als Persönlichkeiten

Das bisher jüngste Team hat im April 2020 einen der Ur-Schauplätze des „Tatort“ übernommen: Adam Schürk (Daniel Sträßer) und Leo Hölzer (Vladimir Burlakov) haben in Saarbrücken in „Das fleißige Lieschen“ lange zurückreichende Verstrickungen entwirrt. Auch sie lassen die Zuschauer an ihrer persönlichen Geschichte und ihren individuellen Prägungen teilhaben – ein Konzept, das wohl für den anhaltenden Erfolg der Serie mitentscheidend ist: Das Interesse reicht über die Psychologie von Täterfiguren und ihre Beziehungsgeflechte hinaus. Die Kommissare rücken als Persönlichkeiten in den Mittelpunkt. Die Zuschauer kommen ihnen nahe, können ihre innere Entwicklung, ihre Probleme und Macken, ihre Stärken und Schwächen miterleben.

Aus der Schimanski-Folge „Schicht im Schacht“ von 2008: Noch am Tatort befragen Hunger (Julian Weigend, l.) und Hänschen (Chiem van Houweninge, m.) Heinz Budarek (Walter Gontermann, r.), ob er etwas gesehen hat. (Bild: WDR/Uwe Stratmann)

Die heftigen Diskussionen über die einzelnen „Tatort“-Folgen auf social-media-Kanälen wie Facebook und Twitter oder Internetseiten wie www.tatort-fans.de oder www.tatort-fundus.de zeugen davon, wie die wöchentlichen Krimis auch nach 1146 Folgen die Gemüter ihrer Fans bewegen. Die ARD hat zu „50 Jahre Tatort“ eigene Internet-Seiten erstellt und im Sommer ein Voting in elf Runden veranstaltet. 1.168.000 Stimmen wurden abgegeben, um den Lieblings-„Tatort“ zu wählen. 50 Fälle standen zur Wahl; unter den Gewinnern waren die Dortmund-Folgen „Tollwut“ (2018) und „Kollaps“ (2015).

Das Dortmunder Team hat auch die Ehre, die Jubiläums-Produktion gemeinsam mit den Münchner Ermittlern zu bestreiten: In dem zweiteiligen „Tatort“ geht es um eine italienische Familien-Pizzeria in Dortmund, einen Mörder aus München, Kokain-Geschäfte und die mafiöse „‘Ndrangheta“. Die erste Folge wird am heutigen Sonntag, 29. November um 20.15 Uhr in der ARD ausgestrahlt, die zweite am 6. Dezember. In der ARD-Mediathek sind die Filme dann noch sechs Monate lang abrufbar.

Der WDR bringt übrigens die 29 „Schimanski“-Folgen 2020 und 2021 zurück ins Fernsehen. Schon jetzt sind in der Mediathek elf Folgen verfügbar, der Klassiker „Duisburg Ruhrort“ allerdings nur noch für fünf Tage.




10 Jahre Festival NOW! für neue Musik: Aufbruch in andere Klangwelten – jäh durch Corona gebremst

Ab Montag, 2. November 2020, fallen – wegen der aktuellen Corona-Lage –sämtliche Veranstaltungen des Festivals NOW! aus. Der folgende Vorbericht kann leider nur noch den vorherigen Stand der Planungen wiedergeben.

Ausgerechnet in diesem Jahr, in dem die Corona-Pandemie das Reisen so gut wie unmöglich macht, hatte sich das Festival NOW! in Essen vorgenommen, musikalisch „von fremden Ländern und Menschen“ zu erzählen.

Wird beim Festival NOW! in einigen Konzerten gewürdigt: Komponistin Unsuk Chin. Foto: Eric Richmond/ArenaPAL

Hein Mulders, Intendant der Philharmonie mit seiner rechten Hand Marie Babette Nierenz und Folkwang-Professor Günter Steinke planten um, luden Künstler ein, die nicht in ihren fernen Heimatländern festsitzen, aber dennoch Klänge ihrer Herkunfts- oder ihrer Sehnsuchtsländer mitbringen. Das Ergebnis laut Planung: 16 Veranstaltungen zwischen 29. Oktober und 8. November, 22 Uraufführungen und ein Programm, so bunt wie die Farbschnipsel auf dem Cover des Begleithefts. Alles unter der Voraussetzung, dass der Kulturbereich nicht wieder einem Lockdown unterworfen werden würde. Dies ist aber jetzt der Fall.

Hein Mulders. Foto: Sven Lorenz

Hein Mulders. Foto: Sven Lorenz

Hein Mulders zeigte sich zuvor „überglücklich“, das Fest neuer Klänge in einem so verflixten Jahr feiern zu können, auch wenn im Saal der Philharmonie – Stand vor ein paar Tagen – nur 250 Zuhörer zugelassen sind. Nur durch viele Partner ist es möglich, ein derart vielgestaltiges Ereignis auf die Beine zu stellen: Die Folkwang Universität der Künste und der Landesmusikrat NRW waren schon bei den ab 2007 laufenden Reihe „Entdeckungen“ dabei; seit der Überführung ins Festival NOW! vor nunmehr zehn Jahren sind einige andere dazugekommen, etwa von Anfang an die Kunststiftung NRW, die Stiftung Zollverein, PACT Zollverein und seit 2019 die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung.

Das NOW!-Programm lässt ahnen, wie unbeschwert die „neue“ Musik in den letzten Jahrzehnten stilistische Limits und geografische Grenzen übersprungen hat. Längst sind es nicht mehr die Europäer, die sich an „exotischen“ Importen erfreuen, die sie wie weiland Gluck oder Mozart als fröhlich lärmende Janitscharenmusik in den europäischen Kontext zwängten. Längst sind es auch nicht mehr die bildungsbeflissenen Musiker aus dem fernen Osten, die ihre Begeisterung für europäische Kunstmusik in ihre Heimatländer brachten und dort im schlechten Fall imitierten, im besten Fall zu einer Symbiose mit eigenen Traditionen verschmolzen.

Passé sind auch die Zeiten, in denen es genügte, ein Sinfonieorchester mit etwas tempelhaftem Bling-Bling zu garnieren, um „Fremdes“ zu integrieren. Der Wandel, von dem NOW! auch zeugt, reicht tiefer: Menschen bewegen sich in vielfältigen kulturellen Kontexten, in denen sie nicht aufgewachsen sind. Andere sind in zwei Kulturen tief verwurzelt, wieder andere verlassen – manchmal auch unfreiwillig – ihre Heimat und suchen in der Fremde eine neue. Die Lebenssituationen sind so unterschiedlich wie die Herkünfte, Traditionen und Interessen. Und daraus erwächst zur Zeit unglaublich viel Spannendes, ereignen sich Aufbrüche, die das befürchtete „Ende der Musik“ doch ein gutes Stück hinausschieben.

Beispiele aus dem NOW!-Programm: Unsuk Chin, in Korea geboren, dort und bei György Ligeti in Hamburg ausgebildet, lehnt es strikt ab, ihre Musik einem bestimmten Kulturkreis zuzuordnen. Sie beschäftigt sich mit europäischer Moderne und mit Gamelanmusik aus Bali, mit koreanischen Instrumenten und mit mittelalterlichen Kompositionstechniken. „Cosmigimmicks“, ein Stück für Ensemble, 2013 bei den Wittener Tagen für Neue Kammermusik uraufgeführt, spielt im Titel mit diesem universalen Interesse, ironisiert den eigenen Anspruch zu „gimmicks“ und erinnert in seinen fragilen Klängen nach Aussage der Komponistin an Schattentheater, Pantomime oder Puppenspiel. Das Ensemble Musikfabrik bringt das Stück am 30. Oktober um 20 Uhr in der Philharmonie Essen, zusammen mit der Uraufführung von „fragments inside“ der persischen Komponistin Elnaz Seyedi, die ab 2020/21 Composer in Residence für die Bürger:innenOper der Oper Dortmund ist. Maliko Kishinos „Ochres II“ nimmt japanische Traditionen auf; die in Kyoto geborene Komponistin wuchs in einem Tempel auf.

Önder Baloglu. (Foto: Ulrike von Loeper)

Ganz aktuell auf die Corona-Pandemie gehen 24 Miniaturen ein, die am 31. Oktober, 17 Uhr in einem Konzert in der Neuen Aula der Folkwang Universität in Essen-Werden uraufgeführt werden: „Unvoiced Diaries“ des im türkischen Adana geborenen Konzertmeisters der Duisburger Philharmoniker, Önder Baloğlu, sind kaum eine Minute dauernde Stücke für Violine solo von 24 Komponisten, entstanden während der erzwungenen Untätigkeit ab März dieses Jahres. Uraufgeführt werden auch „Khronos“ des Brasilianers Celso Machado, ein Stück für das afrikanisch-brasilianische Berimbau, Gitarre und Elektronik; außerdem Werke von Levin Zimmermann und Po Chien Liu.

Der Komponist Mithatcan Öcal. (Foto: privat)

Für sein Konzert am 31. Oktober, 20 Uhr, in der Philharmonie Essen bringt das WDR Sinfonieorchester Köln eine „Klassikerin“ der Neuen Musik mit: Younghi Pagh-Paan und ihr Stück „Lebensbaum III“ von 2015. Die Koreanerin steht für die kreative Verbindung koreanischer Volksmusik mit europäischen kompositorischen Parametern. Außerdem erklingen „Yet“ des 1981 geborenen und 2010 tragisch verstorbenen Franzosen Christophe Bertrand, „Zipangu“ des 1983 in Paris ermordeten Kanadiers und Stockhausen-Schülers Claude Vivier, der asiatische und iranische Musik studiert hatte, und die Mini-Oper „Belt of Sympathies“ des 2019 von der Ernst von Siemens Musikstiftung ausgezeichneten türkischen Komponisten Mithatcan Öcal.

Klang und Bewegung auf PACT Zollverein

Aus Syrien stammt die Komponistin Dima Orsho. (Foto: Martina Novak)

PACT Zollverein beteiligt sich am NOW!-Festival am 1. November mit dem Tanzprojekt „The Waves“ des Choreografen Noé Soulier. Sechs Tänzerinnen und Tänzer und die beiden Perkussionisten des Ictus Ensembles, Tom de Cock und Gerrit Nulens, untersuchen das Beziehungsgeflecht von Geste, Bewegung und Klang. In der Philharmonie Essen geht es am 1. November in den Nahen Osten: Hasti Molavian (Gesang) aus dem Iran und das E-MEX-Ensemble präsentieren unter anderem Werke der syrischen Komponisten Zaid Jabri und Dima Orsho. „Khorovod“, das Stück, das dem Konzert den Titel gibt, stammt von dem in London geborenen Julian Anderson und bezeichnet einen russischen Rundtanz.

Die Musik Afrikas vorzustellen, ist einer der diesmal nicht erfüllbaren Wünsche der Festival-Macher. Nicht nur, weil die Reisemöglichkeiten fehlen, sondern auch weil sich die Musik dieses Kontinents vornehmlich in Pop und Folk äußert. Das Ensemble Modern hätte am 7. November in der Philharmonie Essen seinen 40. Geburtstag mit einem Programm feiern sollen, zu dem ausschließlich Komponistinnen und Komponisten mit afrikanischem Background zu Klang gekommen wären: Daniel Kidane und Hannah Kendall (Großbritannien), Tania León (Kuba), Jessie Cox und Alvin Singleton (USA) sowie Andile Kumalo aus Südafrika.

Weitere Informationen: www.theater-essen.de

 




Festival Alte Musik im rheinischen Knechtsteden: Beethoven im Licht seiner Lehrer und Zeitgenossen

Die Rheinische Kantorei und Das kleine Konzert. (Foto: Thomas Kost)

Offenbar kommt selbst ein Festival für Alte Musik in diesem Jahr nicht an Beethoven vorbei. Im rheinischen Knechtsteden organisiert Festivalleiter Hermann Max einen Beethoven-Abend, dessen Programmheft den pathossatten Titel „Nacht und Stürme werden Licht“ trägt.

Wer jedoch in der ehrwürdigen romanischen Basilika der ehemaligen Prämonstratenserabtei Knechtsteden auf dem Gebiet der Gemeinde Dormagen einen der üblichen Beethoven-Meisterwerk-Hommage-Abende erwartet, würde Hermann Max ziemlich unterschätzen: Der Leiter der Rheinischen Kantorei und des Barockorchesters „Das kleine Konzert“ erkundet „Beethovens Musikwelt“ in einem – mit zwei Pausen – mehr als dreistündigen Programm. Es leistet damit, was man sich andernorts öfter wünschen würde: Der „Ausnahme“-Komponist wird mit der „Regel“ des Komponierens seiner Zeit, mit Musik seiner Vorgänger, Zeitgenossen und Lehrer konfrontiert. Er verliert damit den Nimbus des Solitärs, wird aber in seinem einzigartigen Rang bestätigt, ohne dass alle anderen notwendigerweise ins Vergängliche oder gar in belanglose „Kleinmeisterei“ abgedrängt werden. Beethoven als einer unter anderen und doch nicht als einer wie alle anderen – das ist eine der Erhellungen des Programms.

Die romanische Basilika von Knechtsteden ist ein bedeutendes Zeugnis der Baukunst des 12. Jahrhunderts. Die ehemalige Prämonstratenserabtei ist heute Sitz des Provinzialats und des Missionshauses der Spiritaner. (Foto: Werner Häußner)

Die andere: Der in Wien zu monumentaler Größe herangewachsene Bonner ist nicht das einsame Genie, zu dem ihn eine nicht zuletzt nationalistisch beseligte Musikgeschichte stilisiert hat. Sondern er wurzelt in vielfältigen Traditionen; er saugt Einflüsse seiner Umwelt auf. Mehr noch: Bei ihm ist die Musik eine Kunst der Form und Ordnung, strebt aber nach Ausdruck, nach Aussage, sogar nach Überwältigung. In dieser Spannung spielt das Nachdenken über die Welt eine entscheidende Rolle – daher gilt Beethoven als „Philosoph“ unter den Komponisten, als der er sich wohl auch selbst verstanden hat.

Der „große Tonmeister oben“

Was im säkularisierten Kontext oft vergessen, verdrängt oder als marginales biographisches Beiwerk kaum beachtet wird: In diesem Nachdenken ist Gott, der „große Tonmeister oben“, ein unverzichtbarer Begriff, der Ausgangspunkt und das Ziel jeglichen Denkens. Dass Beethoven – wie sein sonst nicht immer zuverlässiger Biograph Anton Schindler wohl zutreffend sagt – nie über „Religionsgegenstände“ gesprochen habe, sein kirchliches Bekenntnis im nachjosephinischen Wien „gewissermaßen eingeschlummert“ sei, bedeutet für den Denker Beethoven nicht viel. Ob er weniger gläubig war als etwa der eifrig praktizierende Anton Bruckner, lässt sich am Mangel an frommer Verrichtung jedenfalls nicht entscheiden.

Ist Beethovens geistliche Musik also weniger „geistlich“ als etwa die Messen Bruckners oder Haydns? Martin Geck kommt in seinem brillanten Beethoven-Buch zu einem anderen Ergebnis. Er betont den Wert religiöser Autoren wie Christoph Christian Sturm („Betrachtungen über die Werke Gottes im Reiche der Natur und der Vorsehung auf alle Tage des Jahres“) und Johann Michael Sailer, dessen „Goldkörner der Weisheit und Tugend. Zur Unterhaltung für edle Seelen“, vor allem aber die Übersetzung der „Nachfolge Christi“ des Thomas von Kempen prominente Lektüre Beethovens waren. Der immer wieder angefeindete Sailer, ab 1829 Bischof von Regensburg, ist nach Geck eine „zentrale Figur in der inneren Welt Beethovens“.

Lächerlich und geschmacklos?

Hermann Max gründete das Festival im Jahr 1992. (Foto: Werner Häußner)

Der Komponist versucht vor allem in seiner „Missa solemnis“ op. 123, aber auch bereits in seiner C-Dur-Messe op. 86, sich der liturgischen Form unterzuordnen, aber gleichzeitig persönliche Betroffenheit und religiöse Erfahrung auszudrücken. Hermann Max demonstriert diesen innovativen Ansatz Beethovens mit seiner Rheinischen Kantorei am letzten Abschnitt der C-Dur-Messe, dem „Agnus Dei“: Fast zum Verzweiflungsschrei wird das Forte auf „Dei“ in der eröffnenden Anrufung, düster drückt der Bass die Welt in die Tiefe („peccata mundi“). Der Kontrast des flehentlich gesteigerten „miserere nobis“ zum milden piano des „dona nobis pacem“ ist geschärft, die Bitte um Frieden mit der nötigen Emphase ausgedrückt. Max macht mit seinen Sängern deutlich, wie Beethoven jedes Wort des Textes mit Ausdruck belegt. Dem Auftraggeber, dem Fürsten Nikolaus II. Esterházy, hat die mit großem Ehrgeiz komponierte Messe – Beethoven musste sich ja dem achtunggebietenden Vorbild Haydn stellen – nicht gefallen; er fand sie lächerlich und geschmacklos.

Warum das harte Urteil? Beethoven hatte ganz im Sinne damals modernen liturgischen Denkens das Wort sorgsam behandelt, ohne die musikalische Form aus dem Blick zu verlieren – er selbst sagt, er habe den Text behandelt, „wie er noch wenig behandelt worden“. Die Tradition, derer sich Beethoven bedient, erklang in dem Konzert mit dem „Kyrie“ aus der Messe A-Dur Johann Sebastian Bachs – in der Weite der Knechtstedener Basilika gesungen in wundervoll reiner Intonation – und im „Crucifixus“ der h-Moll-Messe, deren expressiven ostinaten Bass Hermann Max‘ Orchester kraftvoll, aber nicht ruppig intoniert – und damit zeigt, wo die Wurzeln von Beethovens Ausdrucks-Musik liegen.

Ein anderes Beispiel liefert Johann Philipp Kirnbergers „Erbarm dich, unser Gott“, in dem das Wort „Gott“ ähnlich wie im „Agnus Dei“ der Beethoven-Messe ein beschwörender Aufschrei ist. Antonio Salieris „Salve Regina“ mit seinem harmonisch-sanglichem Satz spiegelt die flehentliche Süße des „dona nobis pacem“ wieder. Als Kontrast darf die „Missa Sancti Huberti“ von Johann Ries gelten: Deren „Sanctus“ ist aufklärerisch in seinen leicht fasslichen Harmonien und dem Verzicht auf kontrapunktischen Ehrgeiz, gibt dem Sopran Kerstin Dietl dankbares Material, um die Stimme leuchten zu lassen, und erfüllt wie das Klavierquintett op. 74 seines Sohnes und Gefährten Beethovens Ferdinand Ries sehr gekonnt die Form, ohne ihre Grenzen zu sprengen.

Pathos und Dramatik

Spannend auch die Begegnung mit Christian Gottlob Neefe. Nach Einschätzung der Beethoven-Spezialistin Julia Ronge wird er als Lehrer des jungen Louis zwar überbewertet, wie sie in einem der Gesprächseinschübe zwischen den drei Musikblöcken des Konzerts kundtat. Doch zeigt sich Neefe in der Szene „Der Regen strömt, der Sturm ist erwacht“ als treffsicherer Dramatiker, dessen erregte Klavierfiguren Tobias Koch auf einem Hammerflügel der Beethovenzeit aus der Werkstatt des Wieners Conrad Graf mit passender Bravour aufschäumen lässt.

Auch ein Ausschnitt aus Johann Nepomuk Hummels Oratorium „Der Durchzug durchs Rote Meer“ aus dem Jahr 1806 gibt ein Zeugnis davon, wie Pathos und Expression in die Musik der Zeit Einzug gehalten haben: Der Donner rollt, die Blitze zucken und die Musiker von „Das kleine Konzert“ haben hörbar Freude daran, diese auf Carl Maria von Weber vorausweisenden Klänge zu befeuern. Andreas Post singt den „Würg’engel“ in unheimlich engen chromatischen Schritten mit einer unfehlbar sitzenden, schneidenden Stimme. Und wenn am Ende die Pauke aufrollt, meint man, die musikalische „Mahlerey“ eines Abbé Georg Joseph Vogler zu vernehmen, jenes avancierten Musiktheoretikers, dessen Verhältnis zu Beethoven bisher kaum beleuchtet wurde.

Die über drei Stunden dieser langen Konzertnacht verflogen im Nu und bereicherten mit einer Fülle musikalischer Eindrücke, die das Phänomen Beethoven mit treffsicher ausgewählten Schlaglichtern überraschend und aufschlussreich beleuchteten.