Aus Westfalen in die große Opernwelt: Bariton Eike Wilm Schulte feiert 50. Bühnenjubiläum

Eike Wilm Schulte in Wagners "Meistersingern" in Wien. Foto: privat

Eike Wilm Schulte in Wagners „Meistersingern“ in Wien. Foto: privat

An einem mangelt es der internationalen Opernszene nicht: an Stimmwundern. Zumindest, wenn man den Plattenfirmen und PR-Agenturen Glauben schenkt. Da ist oft von „vielversprechenden Talenten“ die Rede, die aus den Opernstudios direkt zu umjubelten „Weltkarrieren“ aufbrechen.

Die Wirklichkeit indes sieht anders aus. Junge Sängerinnen und Sänger, von ersten Erfolgen geblendet, lassen sich von Agenten oder Intendanten hoffnungslos verheizen. Ein souveräner Tamino wird bald als Tristan gebucht; die Soubrette scheint innerhalb weniger Jahre zum dramatischen Sopran gereift. So mancher strahlender Star entpuppt sich dann als rasch verglühende Sternschnuppe.

Doch es gibt auch echte Stimmwunder. Sie überdauern viele Jahre wie Fixsterne, deren Glanz nicht blendet, sondern beständig ist und Orientierung schafft. Zu ihnen gehört zweifellos Eike Wilm Schulte.

Der 1939 in Plettenberg im Sauerland geborene Bariton feiert dieser Tage sein 50. Bühnenjubiläum. Allein die Statistik seines Schaffens liest sich beeindruckend: In bisher 2166 Vorstellungen sang Schulte 119 Opern- und 35 Konzertpartien an über 70 Theatern und bei 26 verschiedenen Festspielen. Auf drei Kontinenten arbeitete er mit 120 Regisseuren und 190 Dirigenten zusammen. Als gern gesehener Gast feierte er Erfolge an den großen Opernhäusern dieser Welt: der Metropolitan Opera New York, der Covent Garden Opera London, der Mailänder Scala, der Semperoper Dresden, den Staatsopern München und Wien.

Ein Höhepunkt seiner Karriere waren die zwölf Jahre ab 1989, in denen er zum Ensemble der Bayreuther Festspiele gehörte und als Heerrufer, Wolfram von Eschenbach und Gunther brillierte. Kritiker heben ihn stets lobend in ihren Besprechungen hervor. Oft ist die Rede davon, dass Schultes nobler Bariton mühelos jüngere Kollegen an die Wand singe.

Bei allem Erfolg ist Eike Wilm Schulte bescheiden geblieben. Dass seine Stimme in fünfzig Jahren nichts an Kraft eingebüßt hat, schreibt er keinem Wunder zu. Vielmehr sei die perfekte Beherrschung der Technik der Grundstein, auf dem eine erfolgreiche Sängerkarriere beruhe.

Dankbar erinnert er sich an seine Ausbildung bei Clemens Glettenberg und Josef Metternich an der Staatlichen Hochschule für Musik und Kunst in Köln zurück. Und an Grischa Barfuß, den damaligen Intendanten der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf. Er war es, der 1966 den jungen Schulte noch vor dessen Studienabschluss ins Opernstudio holte. Im gleichen Jahr debütierte Schulte mit der Partie des Sid in Brittens „Albert Herring“. Im Rahmen eines Anfängervertrages über zwei Jahre konnte Schulte seine Stimme in kleinen und mittleren Partien reifen lassen, etwa als Standesbeamter in Puccinis „Madama Butterfly“ und Iberto in Monteverdis „L´incoronazione di Poppea“.

1970 holte ihn Generalmusikdirektor Bernhard Conz dann nach Bielefeld. Hier erarbeitete er sich zahlreiche Partien als Spielbariton, etwa Dr. Falke in Strauß´ „Fledermaus“, Kothner in Wagners „Meistersingern von Nürnberg“, Zar in Lortzings „Zar und Zimmermann“ und Guglielmo in Mozarts „Così fan tutte“. Ein Höhepunkt war seine Rolle des Alfred Ill in der deutschen Erstaufführung von Gottfried von Einems „Der Besuch der alten Dame“ mit Martha Mödl als Partnerin.

Langjährige Wirkungsstätte von Eike Wilm Schulte: das Staatstheater Wiesbaden. Foto: Werner Häußner

Langjährige Wirkungsstätte von Eike Wilm Schulte: das Staatstheater Wiesbaden. Foto: Werner Häußner

1973 verließ Schulte Westfalen, um am „Sängerhaus“, dem Staatstheater Wiesbaden, in den kommenden 15 Jahren auch als Kavalierbariton zu triumphieren. Für kurze Zeit wechselte er noch einmal 1989 nach Düsseldorf und sang hier unter anderem den Escamillo in Bizets „Carmen“, die vier Bösewichte in Offenbachs „Les contes d´Hoffmann“, Frank/Pierrot in Korngolds „Toter Stadt“ und eine der Rollen seines Lebens, den Figaro in Rossinis „Barbier von Sevilla“.

Als sich die Angebote großer internationaler Häuser mehrten, entschloss sich Schulte, frei zu arbeiten. Dennoch kam er immer wieder als Gast zurück ins Ruhrgebiet. In Gelsenkirchen sang er den Grafen Eberbach in Lortzings „Wildschütz“, in Oberhausen Rossinis Figaro, in Köln glänzte er als Amfortas und Klingsor in Wagners „Parsifal“, in Essen konnte man ihn in der Titelpartie in Schumanns „Faust“ erleben, und als Meistersinger-Beckmesser – der Rolle, die er mit 149 Mal am häufigsten verkörpern sollte – in Köln, Düsseldorf und Krefeld.

Eine besondere Freundschaft verbindet ihn nach wie vor mit dem Hessischen Staatstheater Wiesbaden. Dort erarbeitete sich Schulte während der Amtszeit von GMD Siegfried Köhler zwischen 1973 und 1989 ganze 75 Partien. Oft stand er an hundert Abend jährlich auf der Bühne, zum Beispiel als glanzvoll singender Hamlet in Ambroise Thomas‘ gleichnamiger Oper. Eine Leistung, die gewürdigt wurde: Nachdem das Staatstheater Schulte 1993 zum Ehrenmitglied ernannt hatte, verlieh ihm das Land Hessen 2008 die Goethe-Plakette und machte ihn 2010 zu Hessens erstem Kammersänger.

Eike Wilm Schulte als Geisterbote in Richard Strauss' "Frau ohne Schatten" in Wiesbaden. Foto: privat

Eike Wilm Schulte als Geisterbote in Richard Strauss‘ „Frau ohne Schatten“ in Wiesbaden. Foto: privat

Aus Anlass der „Goldenen Hochzeit“ Schultes mit der Opernbühne ließ es sich das Theater nicht nehmen, seinem Ehrenmitglied ein großes Gala-Konzert zu spendieren. Neben politischer Prominenz waren es vor allem die Wiesbadener Fans, die den großen Sänger feierten. Mit Bedauern nahmen sie zur Kenntnis, dass der inzwischen 92-jährige Siegfried Köhler aus gesundheitlichen Gründen nicht anzureisen vermochte. Zehn Jahre zuvor hatte er noch die Gala zum 40. Jubiläum Schultes geleitet. Generalmusikdirektor Zsolt Hamar leitete das Orchester des Staatstheaters. Der seit 1991 in Wiesbaden engagierte Bass Wolfgang Vater moderierte den Abend. Als ehemalige Weggefährten nahmen die Bässe Eduard Wollitz, Harald Stamm, Hans Sotin sowie der Bariton Ekkehard Wlaschiha auf der Bühne Platz.

Mehr oder weniger teilnahmsvolle Grußworte richteten der Wiesbadener Oberbürgermeister Sven Gerich, die Wiesbadener Kulturdezernentin Rose-Lore Scholz, der Hessische Kultusminister Ralph Alexander Lorz sowie Intendant Uwe Eric Laufenberg an Schulte. Letzterer zog sich mit seiner peinlichen Rede, in der er den verdienstvollen Sänger mit „Herrn Schultewilms“ ansprach, den Unmut der Gäste und des Publikums zu.

Dass sich Eike Wilm Schulte besonders für junge Talente engagierte, bewies er, indem er den 17-jährigen Sauerländer Leon Lorey einlud. Der junge Harfenist ist Preisträger zahlreicher renommierter Wettbewerber und begeisterte mit Johann Dusseks „Sonate für Harfe“. Ebenso glücklich fiel Schultes Wahl seiner Sopranpartnerin aus: Cristina Pasaroiu – die aktuelle Wiesbadener Desdemona – überzeugte mit der Arie „Glück, das mir verblieb“ aus Korngolds „Die tote Stadt“.

Ein großes Geschenk für Jubilar und Publikum war René Kollo. Obwohl der berühmte Wagner-Tenor längst seinen Abschied von der Bühne genommen hat, gab er – nach wie vor technisch bravourös und mit beinahe jugendlicher Verve – nicht nur ein Berliner Lied seines Vaters Willi Kollo, sondern auch die Mutter aller Tenorarien, Puccinis „Nessun dorma“, zum Besten.

Kollo und Schulte als Stolzing und Beckmesser beeindruckten während des launig und auf hohem Niveau gegebenen Festwiesen-Wettstreits aus den „Meistersingern“, weil sie jede Phrase klug und ohne Mühe durchgestalteten.Selbst ein so simpel anmutendes Liedchen wie das des Besenbinders aus Humperdincks „Hänsel und Gretel“ geriet bei Schulte zur großen Szene.

Gipfelpunkt des Abends indes war die Landhaus-Szene aus dem zweiten Akt von „La Traviata“. Die Wandlung Germonts vom berechnenden Patriarchen zum mitfühlenden Vater durchmaß Schulte mit solcher Intensität, dass das vollbesetzte Haus schier den Atem anhielt.

Zum Abschluss der vierstündigen Gala gaben sich Schulte, Kollo und Pasaroiu noch der Operettenseligkeit hin. Viele Zuschauer erinnerten sich noch an die heute vergessene Arie „Wein am Rhein“ aus Willy Richartz´ „Kölnisch Wasser“, und dem Rauswerfer „Im Feuersturm der Reben“ aus der „Fledermaus“ folgte als eine der Zugaben die schelmisch auf Deutsch gesungene „Plapperarie“ des Figaro. Und es wäre ganz untypisch für Eike Wilm Schulte als Gastgeber, hätte er nicht das ganze Haus eingeladen, den langen Abend mit ihm im Theaterfoyer bei einem mitternächtlichen Umtrunk ausklingen zu lassen.

(wesentliche Mitarbeit und Recherche: Marcel Schilling)




Die Säulen der Macht: Franz Lehárs „Das Land des Lächelns“ wird in Hagen ernst genommen

Maskenhaft starr die Menschen und die Tradition: China im Bühnenbild der Hagener Neuinszenierung von Franz Lehárs "Das Land des Lächelns". Foto: Klaus Lefebvre

Maskenhaft starr die Menschen und die Tradition: China im Bühnenbild der Hagener Neuinszenierung von Franz Lehárs „Das Land des Lächelns“. Foto: Klaus Lefebvre

Säulen stehen für Macht, für Festigkeit, für ewige Werte. Sigfried E. Mayer stellt sie in das imperiale Wien; zwischen ihnen entwickelt sich die schwärmerische Liebe zwischen Lisa und Sou-Chong. Sie ragen aber auch im zweiten Teil in die Bühnenhöhe, wenn sich in China die Tragödie dieser Beziehung ereignet. In beiden Ländern stützen steinerne Grundsätze die Gesellschaft. Unverrückbar für Individuen wie die gebildete, persönlichkeitsbewusste Feldmarschallstochter; unbeweglich auch trotz seiner politischen Macht für den selbstbewussten, reformbereiten chinesischen Prinzen. Ein einfaches, aber sprechendes Bild, das Mayer für die Neuinszenierung der Franz-Lehár-Operette „Das Land des Lächelns“ in Hagen entworfen hat.

Keine Chance also, die Schranken auf Dauer zu überwinden zwischen dem alten Europa und dem noch älteren China. Der greise Offizier im unmerklich sich auflösenden k.u.k-Vielvölkerstaat – Werner Hahn ist der arg plebejische Marschall – hat zwar keine Chance mehr, seiner emanzipierten Tochter Widerstand zu leisten. Aber umso eiserner ist die Faust, mit der Onkel Tschang – Rainer Zaun in traditionellem Gewand und undurchdringlicher Miene – das fernöstliche Riesenreich zusammenhält und seinen Neffen in die Bahn der Tradition zwingt.

In Roland Hüves Inszenierung zieht sich die psychische Fessel unnachsichtig zu. Den Ausweg finden die flotte Prinzessin Mi und der unbekümmerte Leutnant Gustl: Sie schlüpfen unter dem Gewicht von Herkommen und Staatsräson durch: „Ich liebe Dich und Du liebst mich, und da liegt alles drin.“

Nicht weniger erstarrt - die Gesellschaft des alten Europa. Szene aus dem ersten Akt der Lehár-Operette "Das Land des Lächelns". Foto: Klaus Lefebvre

Nicht weniger erstarrt – die Gesellschaft des alten Europa. Szene aus dem ersten Akt der Lehár-Operette „Das Land des Lächelns“. Foto: Klaus Lefebvre

Maria Klier holt die Tennis spielende Mi heraus aus der putzigen Soubrettensphäre. Da leidet ein junges Mädchen, das etwas verstanden hat vom Eigenwert des Individuums, von persönlicher Liebe, von der seelisch mörderischen Folge eines hohlen Traditionalismus. Sie äußert bare Verzweiflung, wenn sie in ihren „Zig-Zig“-Rufen den Schmerz aussichtsloser Liebe über kulturelle Grenzen hinweg hinausschluchzt. Aber sie entdeckt den Fluchtweg, der dem „hohen“ Paar verschlossen bleibt. Mit ihrem Leutnant – Richard van Gemert lässt das Tenorbuffo-Klischee weitgehend hinter sich – ist sie auch der sängerische Pluspunkt der Hagener Aufführung.

Am Rollenporträt liegt es nicht, dass Veronika Haller als Lisa nicht zur Gänze überzeugt: eine elegante Erscheinung im Frack, eine Frau die weiß, was sie will, kein naiver Schwarmkopf aus der Wiener Oberschicht. Aber Haller kann das technische Niveau für ihre anspruchsvolle Gesangspartie nicht garantieren. Nach wunderschön verhaltenem Beginn wird ihr Sopran immer steifer und härter, in der Höhe kalt und forciert, im Legato uneinheitlich und unfrei.

Die Macht der Tradition verkörpert Onkel Tschang (Rainer Zaun). Gegen sie hat Sou-Chong (Kejia Xiong) keine Chance. Foto: Klaus Lefebvre

Die Macht der Tradition verkörpert Onkel Tschang (Rainer Zaun). Gegen sie hat Sou-Chong (Kejia Xiong) keine Chance. Foto: Klaus Lefebvre

Für den Prinzen aus dem Reich der Mitte kann Hagen mit einem chinesischen Sänger aufwarten: Kejia Xiong artikuliert ausgezeichnet, aber der Tenor hat keinen Schmelz im gequetschten Timbre, trifft die Intonation zu oft nur ungefähr. Bei Verena Grammel reicht ein Satz, mit dem sie als Tante Hardegg die ganze verknöcherte Welt der alten europäischen Monarchie vergegenwärtigt – so bringt man Nebenrollen ein.

Mit dem Philharmonischen Orchester Hagen waltet Mihhail Gerts über den Lehár-Klang. Er hat 2014 den „Deutschen Operettenpreis für junge Dirigenten“ gewonnen. Die zu klobigen Anfangstakte und das etwas schwerfällige Tempo überwindet er schnell, muss aber immer wieder nach einer flüssig-eleganten Phrasierung suchen. „Von Apfelblüten einen Kranz“ lässt er arg verschleppen. Im ersten Finale am chinesischen Hof macht der estnische Dirigent mit majestätischem Aplomb deutlich, wo Lehár wohl auf die drei Jahre vorher uraufgeführte – und schon im Juli 1926 in Dresden nach Deutschland gekommene – „Turandot“ Giacomo Puccinis geschielt haben mag. In der Zeremonie der „gelben Jacke“ (so hieß die erste Version der Operette) trumpfen Chor (Wolfgang Müller-Salow) und Orchester beeindruckend wuchtig auf.

Doch dabei bleibt es nicht: Das Orchester arbeitet immer wieder schöne instrumentale Details heraus. Alfonso Palencias Choreografie unterstreicht, wie die Gesellschaften funktionieren: in Wien mit hohler militärischer Mechanik, in Peking in ritualisierten Bewegungen maskenhaft-unheimlicher Gestalten.

Man verlässt das Theater Hagen voller Hochachtung für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Franz Lehárs viel gespieltem Meisterwerk und voller Trauer, dass solche Leistungen seit Jahren von einer Kulturpolitik, die diese Bezeichnung nicht verdient, ignoriert und finanziell immer weiter ausgehöhlt werden.

Nächste Vorstellungen am 31.12.2015, 8. und 20.1.2016. Karten: Tel.: (0 23 31) 207 32 18. Weitere Infos: www.theaterhagen.de




„Was ich mag? Das Leben!“ – Vor 100 Jahren wurde der Schauspieler Curd Jürgens geboren

„Sechzig Jahre – und kein bisschen weise“. Das geflügelte Wort stammt aus einem Schlager, den Curd Jürgens 1975 auf einer „Polydor“-Schallplatte eingesungen hat. Der Satz könnte auch über dem Leben des blonden Publikumslieblings stehen: Denn Jürgens wurde nie „weise“. Seine schweren Herzoperationen hielten ihn nicht davon ab, weiter gut zu essen, ordentlich zu trinken und viel zu rauchen. Und so starb er mit nur 66 Jahren in Wien während der Dreharbeiten zum Film „Teheran 43“.

Cover der neuen, im Aufbau-Verlag erschienenen Curd-Jürgens-Biographie von Heike Specht - Daten siehe am Schluss dieses Artikels. (© Aufbau-Verlag)

Cover der neuen, im Aufbau-Verlag erschienenen Curd-Jürgens-Biographie von Heike Specht, 480 Seiten, 22,95 € – Daten siehe auch am Schluss dieses Artikels. (© Aufbau-Verlag)

„… und kein bisschen weise“ ist auch der Titel seiner 1976 erschienenen Autobiografie. Ein Zeugnis eines lebensgierigen Mannes, der vor 100 Jahren – am 13. Dezember 1915 – in München geboren wurde und 45 Jahre lang ein Star war. Auf alles, so zitierte er Oscar Wilde, könne er verzichten, nur auf Luxus nicht. Den gönnte sich Curd Jürgens, wie er ihn von Beginn seines Lebens an gewöhnt war: Wohnsitze in den Pariser Champs-Elysées, in Zürich, Wien, der Schweiz und auf den Bahamas; in den Garagen Nobelmarken wie Rolls-Royce und Bentley, Mercedes und Porsche für den „Alltag“, fünf Ehefrauen und eine heiße Affäre mit Romy Schneider, dazu unzählige Bewunderinnen: Curd Jürgens brachte den Glamour des Lebemanns in die graue Nachkriegszeit in Europa.

Nicht nur ein schnoddriges Raubein

Die raue Hülle, die zupackende Energie, der grenzenlose Optimismus seiner Ausstrahlung: Jürgens zeigte der Welt die Seite seiner Persönlichkeit, die sie gerne sehen wollte. Die andere, intime offenbarte sich erst aus seinem Nachlass: In den privaten Aufzeichnungen erleben wir einen Jürgens, der vor dem Gedanken an den Tod erschrickt, der um seine verlorene Liebe trauert, der betet. Aber wir finden auch das schnoddrigen Raubein, als das er sich auch in seinen Filmen gerne inszenieren ließ, und den nach dem Leben fiebernden, glamourösen Bonvivant.

Um ein Haar hätten wir nie von Jürgens‘ verborgenen Seiten erfahren: Seiner letzten Frau Margie hatte er aufgetragen, nach der Beerdigung ein großes Fest zu feiern und am Ende im leeren Swimmingpool der Villa bei Nizza den Nachlass anzuzünden. Margie Jürgens folgte dem nicht, sondern überließ den Stapel von Zeitungsartikeln, Kritiken, Filmplakaten, Fotos, (Liebes-)Briefen und Tagebüchern dem Deutschen Filmmuseum in Frankfurt. Zum 100. Geburtstag des Schauspielers gestaltet das Museum eine virtuelle Ausstellung im Internet: http://curdjuergens.deutsches-filminstitut.de/

Jürgens‘ Vater war ein wohlhabender Hamburger Kaufmann, seine Mutter eine Lehrerin aus Frankreich. Die Karriere als Schauspieler strebte er bereits als Jugendlicher an. Jürgens arbeitete als Journalist und nahm parallel Unterricht; als Anfänger wurde er 1935 ans Dresdner Metropoltheater engagiert, wechselte aber ein Jahr später ans Theater am Kurfürstendamm in Berlin.

Bereits als Zwanzigjähriger wirkte er in seinem ersten Film „Königswalzer“ mit. Rund 160 sollten es in den folgenden vier Jahrzehnten werden. Um seinen aufwändigen Lebensstil zu finanzieren, scheute Jürgens nicht vor banalen Rollen zurück. Von „Küssen ist keine Sünd‘“ bis zur „Rose vom Wörthersee“ tingelte er sich durch das belanglose deutsche und österreichische Nachkriegskino. Titel wie „Käpt’n Rauhbein aus St. Pauli“ (1971) spielten perfekt mit dem Image des blonden, blauäugigen Hünen.

Doch seine Qualitäten zeigte Jürgens in anderen Zusammenhängen. Auf dem Theater zum Beispiel: Da spielte er am Wiener Burgtheater etwa in Brechts „Das Leben des Galilei“ oder in München in „Liliom“ von Franz Molnár. Bei den Salzburger Festspielen war er von 1973-1977 ein legendärer „Jedermann“. Und zum letzten Mal stand er in einer Oper auf der Bühne: 1980 gab er die Sprechrolle des Bassa Selim in Mozarts „Entführung aus dem Serail“ bei einem Gastspiel der Bayerischen Staatsoper in Japan.

Ein Sozialist im Rolls Royce

Sein feudaler Lebensstil hielt Jürgens nicht davon ab, sich politisch als links einzuordnen: Willy Brandt begeisterte ihn ob seiner moralischen Integrität und der Gegnerschaft zu den Nazis. Brecht spielte er nicht nur, weil er die Rollen hervorragend fand, sondern auch aus politischer Überzeugung. „Ich bin Sozialist“, sagte er einmal, „und wenn man mir dies hin und wieder zum Vorwurf macht, auch dass ich dazu noch einen Rolls Royce fahre, so meine ich: Besser ein Sozialist im Rolls als ein Faschist im Panzerwagen.“

1955 spielte er in Helmut Käutners Film „Des Teufels General“ nach Carl Zuckmayers Theaterstück den General Harras – eine Rolle, in der sich sein eigener ambivalenter Lebensstil widerspiegelt. Der leichtlebige, politisch eher holzschnittartig denkende, aufrichtige Militär, der am Ende seinem Gewissen verpflichtet den Tod wählt, hat Jürgens in die erste Riege internationaler Schauspielkunst aufrücken lassen; mit Robert Siodmaks „Die Ratten“ nach Gerhart Hauptmann bestätigte er seinen Rang als Charakterdarsteller.

„Was ich mag? Das Leben!“, sagte er einmal in einem Interview. Seinem Tod am 18. Juni 1982 folgte ein Begräbnis in einem Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof.

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Virtuelle Ausstellung, TV-Sendungen und neue Biographie

Die virtuelle Ausstellung des Deutschen Filmmuseums in Frankfurt zum 100. Geburtstag von Curd Jürgens wird zum 13. Dezember freigeschaltet: http://curdjuergens.deutsches-filminstitut.de/

Sein bekanntes Lied „Sechzig Jahre – und kein bisschen weise…“ ist hier zu hören: https://www.youtube.com/watch?v=BqfvLP–4Ew

Das Fernsehen würdigt Jürgens mit der Ausstrahlung von Filmen. „Katja, die ungekrönte Kaiserin“ von Robert Siodmak (1959) mit Romy Schneider als Katja zeigen das Bayerische Fernsehen am 13. Dezember, 13.50 Uhr, und das ARD-Vormittagsprogramm am 14. Dezember um 10.05 Uhr.

In einigen dritten Programmen zu sehen ist am 12. Dezember, 23.20 Uhr, Helmut Käutners „Der Schinderhannes“ nach Carl Zuckmayer, u.a. mit Maria Schell, Siegfried Lowitz und Eva Pflug. Der MDR zeigt am Montag, 14. Dezember, 23.40 Uhr die legendäre Zuckmayer-Verfilmung „Des Teufels General“.

Der Westdeutsche Rundfunk widmet seine „Flimmerkiste“ auf WDR 4 am 13. Dezember, 17.25 Uhr, dem Jubilar. http://www.wdr4.de/musik/liebhabersendungen/flimmerkiste/geburtstag-curd-juergens-100.html

In der Sendung wird auch die neue Curd-Jürgens-Biografie von Heike Specht vorgestellt, die im Aufbau-Verlag erscheint. http://www.aufbau-verlag.de/index.php/sachbuch/kunst-kultur/curd-jurgens.html




Erfrischend neu: Philippe Herreweghe eröffnet Beethoven-Zyklus in der Essener Philharmonie

Der Residenz-Künstler der Philharmonie Essen: Philippe Herreweghe. Foto: Bert Hulselmans

Der Residenz-Künstler der Philharmonie Essen: Philippe Herreweghe. Foto: Bert Hulselmans

Ein Beethoven-Zyklus. Wieder einer. Muss man das haben? Nein. Heerscharen von Dirigenten haben sich an Beethoven abgearbeitet, mehr als ein Dutzend Zyklen sind auf dem Tonträgermarkt verfügbar. Kaum ein Orchester kommt in seiner Spielzeit ohne Beethoven aus. Lesarten von Furtwängler bis Harnoncourt erschließen jeden denkbaren Zugang zur musikalischen Welt dieses Titanen – der diesen mythischen Titel wirklich verdient, weil er in seiner Zeit und noch ein Jahrhundert danach weltumwälzend gewirkt hat.

Also, was soll die Aneinanderreihung der neun Symphonien in den nächsten beiden Jahren in der Essener Philharmonie? Wäre es nicht aufschlussreicher gewesen, Beethoven mit der Symphonik seiner Zeit über Haydn und Mozart hinaus zu konfrontieren, um den revolutionären Zug seiner Musik einmal hörbar und nicht nur in musikwissenschaftlichen Traktaten nachlesbar zu machen? Wäre es nicht ergiebiger, Beethoven mit denen zu konfrontieren, die an ihm gelitten haben, gewachsen sind oder ihn kühn und keck hinter sich gelassen haben? Nein – Beethoven pur muss es sein – so verkauft sich’s am besten!

Es muss also nicht sein, aber man ist trotzdem dankbar, dass es so ist. Weil in Essen ein Dirigent Beethoven verantwortet, der vielleicht doch noch etwas mehr zu sagen hat als üblich. Weil dieser Mann Philippe Herreweghe heißt. Und weil er mit einem Orchester kommt, das seit 1991 auf ihn, seinen Gründer, eingeschworen ist.

Herreweghe gehört zu den Musikern, die erfolgreich Kurs halten – zwischen dem Traditionalismus eines Christian Thielemann oder Kurt Masur und den umstürzlerischen Neudeutungen, wie sie auf die grandiosen Entdeckungen Nikolaus Harnoncourts folgten und heute von Stars wie Teodor Currentzis weitergesponnen werden – am 9. Januar 2016 etwa in der Kölner Philharmonie mit Beethovens Fünfter.

Genauer Blick auf innovatives Potenzial

Herreweghe schaut genau hin, welche klanglichen Ergebnisse jenseits des Sinnenreizes des Ungewohnten für ein strukturelles Erforschen der Musik geeignet sind. Er übertreibt nichts, sondern liebäugelt mit der Eleganz und Gemessenheit des frühen 19. Jahrhunderts. Aber er verharmlost Beethoven damit nicht, sondern legt sein innovatives Potenzial für heutige Ohren vernehmbar frei.

Das ist nicht einfach: Die Dritte zum Beispiel, die das Eröffnungskonzert des Zyklus’ abschließt, Ist so bekannt, dass sich der Zuhörer gar nicht mehr vorstellen kann, was daran so neu und unerhört gewesen sein soll. Der unbestreitbar appellative Charakter des „Ideenkunstwerks“ Beethovens und die damit zusammenhängende Neuheit der Sinfonie erregen nicht mehr. Aber Herreweghe macht hörbar, dass der gewaltige erste Satz mit den formalen Kriterien des Sonatensatzes kaum in den Griff zu bekommen ist. Er holt mit kalkulierten dynamischen Effekten den „Trauermarsch“ aus der Sphäre des emotional berührenden Charakterstücks und betont, dass der Typus des Marsches aufgebrochen ist durch ein Fugato mit zwei neuen Themen.

Und er erschließt den letzten Satz als höchst ungewöhnlichen, formal ebenfalls kaum festzulegenden Variationensatz mit zwei Fugen, gestaltet aus dem Kontretanz und dem ungarischen Vérbunkos – und einem Geschwindmarsch als Coda dazu. Peter Schleuning hat dieses Finale als „das wagemutigste formale Experiment der gesamten Symphonie-Geschichte“ bezeichnet: Sicher einer der Gründe, Beethovens Dritte, gegen den „Genuss“ gebürstet, immer wieder zur Diskussion zu stellen.

Beethovens Zweite – wirklich „wild“ und „grell“?

Noch aufschlussreicher als die „Eroica“ gerät Herreweghe die seltener gespielte und oft unterschätzte Zweite. „Wild“ und „grell“ fand der Kritiker Friedrich Rochlitz Beethovens neues Werk. Herreweghe lässt mit einem deutlichen Ruck im Tonfall den Abstand zur Ersten erleben: Die heftig akzentuierten Schläge des Orchesters werden irritierender, die Tremoli hitziger, das Cantabile intensiver.

Das Orchestre des Champs-Élysèes ist für diese Demonstration bestens gerüstet: Die Bläser spielen farbenreiche, akzentuierungsfreudige historische Instrumente (bzw. Nachbauten), die tiefen Streicher sind ausreichend groß besetzt, die Geigen huldigen weder papieren-flachem Historisieren noch einer dogmatischen Vibrato-Abstinenz. So wird das motivische Wechselspiel zwischen den Instrumenten im ersten Satz lebendig und spannend, sind die Akzente „wild“ und eine Farbe wie die der Fagott-Stellen im zweiten Satz mehr als eine Anekdote. Die Schroffheit nimmt zu, die harten Pauken geben den Sforzati Nachdruck und machen die Orchestertutti „grell“. Man hört, wie Beethovens insistierende Energie seine Zeitgenossen irritiert haben dürfte.

Und die Erste? Die scheint Herreweghe bewusst aus „Haydns Geist“ zu gestalten – als Hommage an den Mann, dem Beethoven unendlich viel zu verdanken hatte. Locker der Ton, lyrisch anmutig das eröffnende Adagio, leicht und transparent die Durchführung des ersten Satzes. Aber Herreweghe verleugnet nicht, dass hier ein Feuerkopf am Werke war, der den Wienern gehörig einheizte – und das nicht nur durch seine rüden Manieren. Die Dynamik und Bewegungsenergie bleibt etwa im herrlich federnden Spiel des Orchesters im Finale nicht bloß eine pikante Zutat, sondern kündigt die Expressivität an, mit der Beethoven sehr bald über „Mozarts Geist aus Haydens Händen“ hinauswachsen sollte.

Mit Spannung darf erwartet werden, wie der Residenz-Künstler der Essener Philharmonie in dieser Spielzeit mit den mittleren Symphonien des Genies aus dem rheinischen Bonn das Unbekannte im allzu bekannt Scheinenden aufdecken wird: Am 5. März 2016 folgen die Vierte und die Fünfte – und dazu ein weiteres Werk, das Musikgeschichte geschrieben hat: das Violinkonzert.




Essen spielt wieder Hilsdorfs „Maskenball“ – Inszenierung von 1999 hat immer noch Bestand

Christina Clark (Oscar) und Michael Wade Lee (Riccardo) in der Wiederaufnahme von Verdis "Maskenball" am Aalto-Theater in Essen. Foto: Saad Hamza

Christina Clark (Oscar) und Michael Wade Lee (Riccardo) in der Wiederaufnahme von Verdis „Maskenball“ am Aalto-Theater in Essen. Foto: Saad Hamza

Dietrich Hilsdorfs Inszenierungen haben auch Jahre nach der Premiere nichts von ihrer Relevanz verloren. Entsprechend gut gefüllt war der Zuschauerraum des Essener Aalto-Theaters bei der Wiederaufnahme von Verdis „Un ballo in maschera“, einer Inszenierung von 1999.

Es lag auch an der szenischen Einstudierung von Carolin Steffen-Maaß, dass Hilsdorfs kunstvolles Spiel um Schein und Sein, um Theater und Wirklichkeit, um das Leben als fiktionales Kunstwerk und als reales Ereignis so plausibel funktioniert. Entgegen so mancher zeitgeistiger Regie-Äußerung hat sich dieser „Maskenball“ nicht überlebt; er hat das Zeug zum „Klassiker“.

Natürlich muss man nach 16 Jahren in der Charakterisierung der Personen mit Unschärfen rechnen. Von der ursprünglichen Besetzung mit Mihkail Dawidoff (Riccardo), Károly Szilágyi (Renato), Iano Tamar (Amelia) und Ildiko Szönyi (Ulrica) ist niemand mehr beteiligt. Aber die Darstellercrew der Wiederaufnahme fügt sich in das Spiel ein, verinnerlicht die Partien und gestaltet sie nicht nur sängerisch überzeugend. Da ist Michael Wade Lee der intelligente, zügellose Hedonist, der über seine höfische Umgebung Regie führt und Macht demonstriert. Der Tenor gibt diesem Riccardo – in Hilsdorfs sinnreicher Umdeutung der König von Neapel, der Stadt, in der Verdis Oper unter der Zensur litt – die Züge des renaissancehaften Individuums, das ein Leben in Fülle genießen will und es unerwartet verliert.

Wade Lees Riccardo wirkt wie ein verzogenes Kind, aber auch nachdenklich und seiner Lage bewusst in den intimen Momenten der Rolle. Sein kerniger Tenor bewältigt die lyrische Noblesse wie den dramatischen Nachdruck; nur in der Höhe wirkt der lockere Schmelz gefährdet. Das Duett mit Amelia („M’ami! … O qual soave brivido“) wird, ausgehend von einem sinnlichen Piano, zum hinreißenden Moment passionierten Singens.

Würdevolle Resignation: Katrin Kapplusch als Amelia am Aalto-Theater. Foto: Saad Hamza

Würdevolle Resignation: Katrin Kapplusch als Amelia am Aalto-Theater. Foto: Saad Hamza

Dazu braucht der Tenor die passende Partnerin, die er am Aalto in Katrin Kapplusch gefunden hat. Die Sopranistin hat die anspruchsvolle Partie der Amelia bereits in ihrem früheren Engagement in Plauen-Zwickau gesungen. Vor allem kommt ihr entgegen, dass ihre Stimme im Zentrum unanfechtbar sitzt. Ein störendes Tremolieren stellt sich nur ein, wenn Kapplusch den Aufstieg in die Höhe nicht im Griff hat; dann muss sie sich auch forciert über die Bögen retten und lässt unfreiwillig ahnen, wie schwer es Verdi in dieser Partie den Sängerinnen macht. „Morrò – ma prima in grazia“, ihre Arie im dritten Akt, gestaltet Kapplusch aber mit großartigem Gespür für die Farben der Töne, mit denen sie die würdevolle Resignation einer Frau ausdrückt, die weiß, dass sie gegen den Lauf des Unheils keine Chance mehr hat.

Ihr Partner ist Luca Grassi als Renato, der im dritten Akt eine Reihe von Bewährungsproben zu bestehen hat. Der Sänger mit einer langen Karriere in Italien hat sich in Essen bereits als Valdeburgo in Bellinis „La Straniera“ ausgezeichnet und wird demnächst als Scarpia in „Tosca“ zu hören sein. Er führt sich im ersten Akt mit gut gestützten, präsenten Tönen ein, die aber Farbe und Emotion vermissen lassen. Mit dem Ambitus von „Eri tu“ dürfte Grassi eigentlich keine Probleme haben, aber an diesem Abend entglitt ihm einmal die Höhe, deswegen wohl setzte er auf Kraft und erklomm die hoch liegenden Teile der Arie („O dolcezze perdute ….“) mit Druck statt mit Delikatesse. Sängerpech.

In der würdelosen Maskerade, in die Ulrica gezwungen wird, offenbart sich Ieva Prudnikovaite als überzeugende Darstellerin; entsprechend neutral lässt sie die eigentlich gespenstische Beschwörung „Re d’abisso“ klingen – es ist ja alles „Mache“, das Drohend-Unheilvolle der Szene ist Belustigung für die Damen und Herren bei Hofe, inszeniert vom König. So wirkt der Verzicht auf vokale Farben konsequent im Sinne der Konzeption des Stücks.

Als Oscar räumt – reizend und quicklebendig wie stets – Christina Clark ab; René Aguilar (Erster Richter) und Georgios Iatrou (Silvano) bleiben ebenso wie Sang Yun Lee (Diener Amelias) ihren kleinen Partien nichts schuldig. Die Verschwörer Tom und Sam sind bei Baurzhan Anderzhanov und Bart Driessen besten Kehlen anvertraut. Matteo Beltrami führt die Essener Philharmoniker für Farbe, Agogik und Spannung in weiträumiger Phrasierung; der Chor, den Patrick Jaskolka einstudiert hat, trägt mich wacher Aktion und vokaler Präsenz nicht wenig zum Gelingen des Abends bei.

Weitere Vorstellungen am 26. Dezember und 24. Januar 2016. Info: www.aalto-musiktheater.de




Giacomo Puccinis „Turandot“ in Duisburg: Chinesisches Team löst die Rätsel nicht

Der Schlag auf den Gong entscheidet sein Schicksal: Wird Calaf (Zoran Todorovich) die unnahbare Turandot für sich gewinnen? Foto: Hans Joerg Michel

Der Schlag auf den Gong entscheidet sein Schicksal: Wird Calaf (Zoran Todorovich) die unnahbare Turandot für sich gewinnen? (Foto: Hans Jörg Michel)

Der Ausgangspunkt hat seinen Reiz: Wie sieht ein chinesischer Theatermann, mit der Tradition seines Heimatlands vertraut, ein europäisch exotisches Märchen über ein China, das es nur in der Vorstellung der vielen Bearbeiter des Stoffes gegeben hat? Huan-Hsiung Li hat bei seinem Europa-Debüt als Regisseur mit Giacomo Puccinis „Turandot“ die Perspektive des Märchenhaften vor die Aspekte des Symbolismus oder der Psychologie gesetzt, die man in der Fabel von der mit Eis umgürteten chinesischen Prinzessin entdecken kann.

Der Theatermann aus Taiwan bezeichnet „Turandot“ als ein „politisches, historisches, wirtschaftliches und kulturelles Märchen“ und als einen „Traum, der ein modernes Volk im Schlaf heimsucht“. Mehr noch: Er stilisiert Turandot geradezu zu einer Symbolfigur für das aufsteigende, moderne China – und Calaf wächst so in die Rolle eines Repräsentanten der Welt „außerhalb“. „Wenn Chinas Aufstieg an die Macht die Welt zum Verlierer macht, dann wird die Liebe der Prinzessin ein verzweifeltes Ende finden“, schreibt Li im Programmbuch.

Ein komplexes Vorhaben also für die Neuproduktion des Puccini-Klassikers an der Deutschen Oper am Rhein in Duisburg. Sie entsteht in Kooperation mit dem National Kaohsiung Center for the Arts (Weiwuying), das in der Hafenmetropole Kaohsiung im Süden Taiwans als hochmodernes Kulturzentrum für mehr als 6.000 Opern-, Theater- und Konzertbesucher entsteht und 2017 mit dieser „Turandot“-Produktion eröffnet wird. Und ein Programm, das auf der Bühne letztendlich in einem hübsch anzusehenden Bildertheater mit wenigen, die Deutung nicht befördernden Regiezutaten mündet.

Die Zutaten sind etwa die schlanke, weißgekleidete Tänzerin Yi-An Chen, auf die sich zu Beginn in einer regnerischen „city of uncertainity“ – so ein Projektionstext – ein Spot richtet. Die symbolische Gestalt taucht immer wieder auf, ergeht sich in heftigen Verrenkungen, als im dritten Akt die Herren Ping, Pang und Pong Kalaf auf wohlfeilen Sex als Ersatz für seine Fixierung auf Turandot hinzulenken trachten.

Doch die so bedeutungsheischend eingeführte Figur erklärt nichts. Ebenso wenig eine dunkel wogende Volksmenge mit Regenschirmen in der Eröffnungsszene. Die Anspielung auf Protestdemos in Hongkong 2014, bei denen Schirme benutzt wurden, wird nicht weitergeführt: Der Chor taucht bald – der „Traumlogik“ der Inszenierung folgend – in folkloristischen Gewändern auf.

Die Kostüme von Hsuan-Wu Lai sind nicht nur prächtig, sondern stellen Bezüge zu Charakter und Situation der Personen her. Foto: Hans Joerg Michel

Die Kostüme von Hsuan-Wu Lai sind nicht nur prächtig, sondern stellen Bezüge zu Charakter und Situation der Personen her. (Foto: Hans Jörg Michel)

Wenigstens arbeitet Hsuan-Wu Lai mit seinen Kostümen Entwicklung und Beziehungen der Personen durch: Das Blau des Lichts (Volker Weinhart) zu Beginn wird aufgegriffen im Blau des Kostüms von Liu. Und wenn Turandot, überwältigt von des Radikalität der Liebe und des Vertrauens Calafs, ihre prachtvolle rote Robe, ihren Panzer gegen die Außenwelt, abgelegt hat, trägt sie ebenfalls Blau; nicht so leuchtend wie Liu, sondern matter und mit einem Hauch in Schwärzliche. Ping, Pang und Pong changieren zwischen europäischer und chinesischer Kleidung. Und der Kaiser – Bruce Rankin singt ihn nicht als zittrigen Greis, sondern als kräftigen Mann – zitiert den Komponisten selbst in schwarzem Hut, Mantel und Anzug.

Wie entschieden diese Produktion in Bildern denkt, verdeutlicht die Bühne von Jo-Shan Liang: die Silhouette einer burgartigen chinesischen Stadt vor dem Rundhorizont, getaucht in Lichtstimmungen zwischen Kalkgrau, Tiefrot und Varianten von Blassblau bis Violett. Bespielt mit Videoprojektionen (Jun-Jieh Wang), die Grundfarbe mal mit explodierenden Klecksen beschmutzend, mal mit filigranen, laufenden Mustern bedeckend.

Hinauf zum Tor führt eine breite, straßenartige Fläche. Auf den Mauern der Stadt thront der Kaiser, schreitet Turandot herein, erstarrt ihr rotes Prachtgewand am Ende zu einer toten Hülle. Ein imponierendes Setting für die Aufmärsche des Volkes wie für die intimen Szenen zwischen Timur, Calaf und Turandot mit Liu, aber keines, das der Inszenierung Richtung geben würde.

Der Personenführung fehlt jedes Profil

Bilder-Theater also – und damit steht man an der Deutschen Oper am Rhein in der Tradition eines Überwältigungs- und Illustrationstheaters, das letztlich das Illusionstheater alter Prägung nicht abstreifen kann. Das ist, auch wenn es postmoderne Theater-Theorie anders will, nicht verwerflich. Die Frage ist, wohin ein Regisseur mit welchen Mitteln zielt. Und da verharrt Huan-Hsiung Li mit einer unprofilierten Personenführung auf dem Niveau hilfloser Staatstheater-Arrangements für rasch wechselnde Sängerbesetzungen.

Brigitta Kele (Liu), Sami Luttinen (Timur) und der Chor der Deutschen Oper am Rhein in der Neuproduktion von Puccinis "Turandot". Foto: Hans Jörg Michel

Brigitta Kele (Liu), Sami Luttinen (Timur) und der Chor der Deutschen Oper am Rhein in der Neuproduktion von Puccinis „Turandot“. (Foto: Hans Jörg Michel)

Die wunderlichen Primadonnen-Gesten von Linda Watson korrespondieren mit dem tenoralen Biedersinn von Zoran Todorovichs rührend komischem Niederknien vor seiner statuenhaften Diva. Timur bleibt als Nebenfigur ebenso im Ungefähren wie Liu über ihr Opferklischee nicht hinauskommt. Der Blick, der die Rätsel des Stücks beantworten oder wenigstens eine dezidierte Position erschließen würde, bleibt verschlossen. Turandot – ein hübsch erzähltes Märchen; der behauptete Bezug zur Gegenwart erschöpft sich in den Projektionen von Mega-City-Szenen zu Beginn der Akte.

Musikalisch wagt Axel Kober ein anfechtbares, aber unter seinen Voraussetzungen erhellend geglücktes Experiment: Wie wohl kaum ein anderer rückt er Puccini weg vom italienischen Melodramma, weg von der erhitzten Passion des Verismo, hin zur musikalischen Moderne. Die Duisburger Philharmoniker realisieren mit der nötigen Präzision einen scharf geschnittenen, gläsern glitzernden Klang, negieren kompromisslos jedes atmosphärische Ungefähr, aber auch – und da ist das Konzept anfechtbar – eine klanglich gestützte, weitbogige Phrasierung und die spannungsreiche Kantilene.

Konsequenz herrscht unter Kobers Szepter nicht in impressionistisch anmutenden Klangmixturen, nicht in fiebrigem Aufrauschen, nicht in überwältigenden Explosionen. Sondern in der Zügelung der Dynamik, in der geschärften Rhythmik und in expressiv demonstrierten Details, von einem rhythmischen Trommelmotiv in der Rätselszene bis hin zu freigelegten Dissonanzen und offenen Reibungen zwischen Instrumenten.

Puccini, der Melomane und Zauberer orgiastischer Klangexaltationen? Vergesst es! Hier regiert Puccini, der Komponist, der tief verwurzelt in der italienischen Tradition den Weg in seine Moderne freigekämpft hat. Nebenbei bemerkt: Kober hat mit diesem Zugang auch Franco Alfanos oft kritisierter Vervollständigung des Finales Gerechtigkeit angedeihen lassen.

Linda Watson debütiert als Turandot

Bei den Sängern konnte die Duisburger Premiere auf bekannte Namen setzen: Linda Watson, Brünnhilde in Bayreuth und Wien, Elektra in Amsterdam und Buenos Aires, hat sich nach langer Zeit wieder auf eine italienische Partie eingelassen und debütiert als Turandot. Ihr extremes Vibrato kann sie nur in Maßen zähmen; die unnahbare Prinzessin liegt ihrem Rundung und Farbe barem Sopran näher als die in ihrer ganzen Existenz erschütterte Frau im Finale. Für Zoran Todorovich ist der Weg zur Calaf eine logische Folge aus seiner Entwicklung ins Dramatische – von Norma und Madama Butterfly über Andrea Chenier bis Otello, Florestan und der mörderischen Partie des Paolo in Zandonais „Francesca da Rimini“. Ganz glücklich macht das nicht: Wenn er auf einem fremdkörperartigen fahrbaren Treppchen sein „Nessun dorma“ singt, funktionieren die Töne zwar, aber sie haben keine emotionale Farbe. Und die expansiven Phrasen sind nicht so durchgestützt, dass sie Passion, Brillanz und Durchschlagskraft hätten.

Brigitta Kele, bewährtes Ensemblemitglied, kann als Liu die schimmernde Schönheit ihres Soprans ausstellen, hat aber keine Chance, die mangelnde Charakterisierung durch die Regie vokal auszugleichen. Auch Sami Luttinen ist als Timur dazu verurteilt, schöne Töne ohne Relevanz zu produzieren. Das Trio der chinesischen Ministerialen ist mit Bogdan Baciu, Florian Simson und Cornel Frey ideal besetzt. Chor (Gerhard Michalski) und üppig besetzter, klangschöner Kinderchor (Sabina López Miguez) lassen keine Wünsche offen.

Die Neuinszenierung ist bis 26. Dezember in Duisburg zu sehen und wird in der Spielzeit 2016/17 in Düsseldorf wieder aufgenommen, bevor sie 2017 nach Taiwan geht. Info: http://operamrhein.de/de_DE/termin/turandot.13056002




Neuer „principal conductor“ Adam Fischer tritt in Düsseldorf an: Haydn-Mahler-Zyklus eröffnet

Neuer "principal conductor" der Düsseldorfer Symphoniker ist Adam Fischer. Foto: Tonhalle, Susanne Diesner

Neuer „principal conductor“ der Düsseldorfer Symphoniker ist Adam Fischer. Foto: Tonhalle, Susanne Diesner

Düsseldorf hat einen neuen „principal conductor“. So wird Adam Fischer jedenfalls vor Beginn seines Antrittskonzerts bei den Symphonikern vorgestellt. Nein, nicht „Erster Konzertdirigent“ oder so ähnlich. Das könnte zu bieder rheinisch klingen.

Aber ein „principal conductor“, das ist etwas Internationales. Und da wollen die Düsseldorfer Symphoniker offenbar hin. Raus aus der oberen Mittelklasse, in der sie sich in den letzten Jahren wohl nicht ganz freiwillig eingenistet hatten. Der erste Schritt: Mit Adam Fischer entsteht ein Haydn-Mahler-Zyklus, der bis 2020 auch auf Tonträger gebannt werden soll.

Die Voraussetzungen stehen nicht schlecht: Zum ersten Mahler-Konzert mit der Siebten, eingeleitet von Joseph Haydns Symphonie Numero 88, federt der freundliche Herr mit den mutigen Ansichten aufs Pult, demonstriert souveränen Überblick, gibt seine Einsätze fern jeder Orchesterbändiger-Tanzshow, meidet hektisches Fuchteln, mit dem Teodor Currentzis etwa seinen Mozart jüngst in Dortmund in angeblich so unerreichte himmlische Sphären hineingefiebert hat. Wenn man Fischer beobachtet, seine innere Ruhe in der Bewegung, seine Spannkraft in der Lockerheit, sein Zupacken im richtigen Moment, dann erklärt sich, warum die Wiener Philharmoniker und die Symphoniker ihren Mahler so gerne mit ihm musizieren.

Aber Fischer bringt aus seiner erfahrungsgesättigten Vergangenheit noch einen äußerst sympathischen Zug mit. Er koppelt Mahler mit Haydn. So schlägt er den Bogen vom – traditionell, nicht tatsächlich aufzufassenden – Beginn der „Wiener Klassik“ zu ihrem Ausklingen in der zerrissenen Spätromantik Gustav Mahlers. Und er adelt einen Symphoniker, der leider immer noch gern zum Schöpfer adretter Einspielwerke für „Größeres“ degradiert wird. Haydns unglaubliches kreatives Potenzial, das sich heute hinter dem Schleier des vermeintlich allzu Bekannten verbirgt, wird Fischer in den nächsten Konzerten des Zyklus sicher freizulegen wissen. So wie er es auf seiner legendären Gesamtaufnahme aller Haydn-Symphonien vorgemacht hat, die er mit der Österreichisch-Ungarischen Haydn Philharmonie am Wirkungsort des Komponisten in Eisenstadt aufgenommen hat.

In der G-Dur-Symphonie Nr. 88 führt Fischer vor, was für ein Verwandlungskünstler Haydn gewesen ist: Aus simplen Motiven zaubert er neue, überraschende Wendungen, mit einem rhythmischen Element des Themas entwickelt er ein geistvolles Spiel, mit chromatischen Durchgängen und Modulationen demonstriert er Könnerschaft. Fischer lässt diese Finessen lebendig ausformen, wählt ein alertes Tempo, genießt die Forte-Piani-Kontraste, musiziert das Largo strömend aus und lässt das Finale kraftvoll auftrumpfen.

Obwohl die Düsseldorfer wirklich nicht schlecht spielen, zeigt die Haydn-Symphonie, dass es noch ein Stück des Weges bedarf, bis sich Dirigent und Musiker durch und durch verstehen. Von Unschärfen im präzisen Reagieren abgesehen, könnte der Klang weniger füllig, dafür etwas spritziger und eleganter werden. In Mahlers Siebter dagegen wirft das Orchester seine Erfahrung aus der Oper in die Waagschale – und die senkt sich tief in Richtung eines originären Mahler-Klangs. Der verlangt – wie sollte es anders sein – Präzision, die Fischer auch einfordert, aber keine Akkuratesse: Das Gefühl für die elastische Metrik der Musik kitzelt den Reiz heraus.

In den spannungsvoll angesteuerten Kulminationspunkten des „allegro risoluto“-Satzes finden sich diese Finessen wieder; in den geheimnisvoll ätherischen Momenten der Nachtmusik-Sätze auch. Die Märsche kippen dank dieses Gespürs ins unheimlich Groteske, die Klangfarben mischen sich zu magisch erleuchteten Feldern. Im zweiten Satz gelingt einer der Höhepunkte des Abends, wenn sich die Musik aus solch jenseitiger Pianissimo-Sphäre wieder löst, als kehre sie in unsere gegenständliche Welt zurück.

Sicher: Manche Farbreibungen könnten schärfer gefasst, manche Akzente entschiedener ausgespielt werden. Aber die Holzbläser lassen schon im ersten Satz Dünste eines Hexenkessels ins Ohr steigen. Die Streicher haben becircende Momente in den nächtlich leisen, flirrend verharrenden Tonfeldern, in denen die Idylle ins Unheimliche driftet. Im dröhnenden Lärm des letzten Satzes haben Pauken wie Flöten ihre prominenten Auftritte.

Fischer lässt es „krachen“, aber er meidet martialische Übertreibung und rettet Mahler mit einem Hauch österreichischer Noblesse vor dem Abgrund der Exaltation.

Der Mahler-Zyklus mit Adam Fischer wird erst in der Saison 2016/17 fortgesetzt. Das nächste Konzert der Düsseldorfer Symphoniker mit Musik Gustav Mahlers dirigiert der bis 2014 amtierende Generalmusikdirektor Andrey Boreyko als Gast. Am 1., 3. und 4. Juli 2016 erklingt der Blumine-Satz aus der Erstfassung der Ersten Symphonie. Info: http://www.tonhalle.de

 




Entdeckung in Bochum: Die Symphoniker präsentieren Mahlers Inspirator Hans Rott

Der junge Mann hat eine tragische Geschichte, seine Symphonie auch: Hans Rott starb 1884 mit 25 Jahren in der Niederösterreichischen Landes-Irrenanstalt in Wien an Tuberkulose. Seine erste und einzige vollendete Symphonie lag über 100 Jahre unbeachtet in einem Nachlass, bis sie 1989 uraufgeführt und sogleich als ein wegweisendes Werk der anbrechenden Moderne erkannt wurde.

Seither sind Enthusiasten für Hans Rott entflammt – von dem Gustav Mahler gesagt hat, er sei der „Begründer der neuen Symphonie“. Andere gestehen zwar zu, Rott könne das „missing link“ zu Mahler sein, halten aber sein unausgegorenes Jugendwerk für überschätzt. In Bochum kann man sich nun selbst ein Bild vom Geniestreich des Zwanzigjährigen machen.

Im Dritten Symphoniekonzert präsentieren die Bochumer Symphoniker im Audimax der Ruhr-Universität ein ausgeklügeltes Programm: Rotts E-Dur-Symphonie, vollendet 1884, flankiert von Hugo Wolfs 1887 entstandener „Italienischer Serenade“ und im Zentrum ein Werk des Antipoden: Johannes Brahms‘ „Variationen über ein Thema von Haydn“, ein Werk von 1873.

Alle drei Komponisten sind schicksalhaft miteinander verstrickt: Wolf und Rott studierten zur gleichen Zeit – zusammen mit Gustav Mahler – in Wien, beide waren hochbegabt und bettelarm, beide einte die Verehrung für Richard Wagner. Rott hatte sogar den ersten Bayreuther „Ring“ 1876 besucht.

Wolf sollte später Johannes Brahms als „Mörder“ von Hans Rott bezeichnen. Denn fünf Tage vor dem Ausbruch seiner Geisteskrankheit hatte der hypersensible junge Mann Brahms besucht, ihm seine Symphonie vorgelegt und eine herbe Abfuhr erlitten. Der etablierte Großmeister riet ihm, das Komponieren aufzugeben; Rotts Lehrer Anton Bruckner dagegen hatte prophezeit, von dem Manne werde man noch Großes hören. So tief waren damals die Gräben im musikalischen Wien, ausgehoben im Namen Wagners.

Er fühlte sich von Brahms verfolgt

Auf der Zugfahrt nach Mühlhausen im Elsass, wo er eine Stelle antreten sollte, bedrohte Rott einen Fahrgast, der sich eine Zigarre anzünden wollte, mit einer Schusswaffe: Brahms habe den Waggon mit Dynamit präpariert, da könne man nicht so unvorsichtig mit offenem Feuer hantieren. „Verfolgungswahn mit Halluzinationen“ diagnostizierten die Ärzte.

Und Gustav Mahler? Der hat Rott sehr geschätzt und das Werk seines Freundes mehrfach studiert, aber nie aufgeführt. Stattdessen verarbeitete er die Anregungen daraus in seinen eigenen Symphonien: Unschwer ist – bei allen Unterschieden zwischen den beiden – Rotts Einfluss in Mahlers Idiom bis hinein in die Fünfte zu entdecken. So ganz unberechtigt ist die Rede vom „missing link“ also nicht.

Am Pult der Bochumer ließ Antony Hermus, von 2007 bis 2009 GMD in Hagen und danach bis 2014 in Dessau, die Mahler-Vorwegnahmen deutlich ausspielen – unmittelbar zu hören vor allem im dritten Satz. Dieses Scherzo mit seinem erst harmlosen, dann grimmigen Ländler, seinen fast schon grotesken metrisch-rhythmischen Akzenten, seinem Dorf- und Kirmesmusik-Tonfall erinnert an die verzerrten Pseudo-Volksmusik-Zitate bei Mahler, weist voraus bis auf die bizarr verrenkten Walzer in Alban Bergs „Wozzeck“. In diesen Momenten zeigt sich, dass Rott am Beginn einer Traditionslinie steht, die sich über Mahler in die Moderne weiterspinnt.

Klänge einer zerrissenen Welt

Die Bochumer Symphoniker holen diese zerrissene Welt klanglich ein, zwischen sonorem Pianissimo und Posaunen-Aggression, zwischen erregter Pauke und Geigen-Flimmerlyrik, zwischen vulgären Schlägen und einem pfiffigen Tänzchen des Konzertmeisters. In den anderen Sätzen hört man, dass Rott der Lieblingsschüler Anton Bruckners war: Er kannte dessen erhabenes Blech, die geschichteten Klangblöcke und die gelösten Natur-Idyllen. Auch Wagner tritt uns entgegen, wenn im Finale noch einmal der Zauberglanz von „Lohengrin“ oder der „Walküre“ aufscheint. In solchen Momenten kämpfen die Bochumer mit der herben, trockenen Akustik des Raumes. Da wirkt das Blech nicht rund und die Klänge reiben sich eher als sich zu mischen.

Aber man hört auch, warum Brahms jenseits ablehnenden Gefühls die Symphonie des Anfängers nicht goutiert haben dürfte: Gegen die formale Souveränität und Perfektion der Haydn-Variationen – von den Bochumern genüsslich ausgespielt – wirkt der wichtige Kopfsatz von Rotts Symphonie unentschieden. Zwar sind die Themen ansprechend exponiert, aber die weitere Verarbeitung wirkt zuweilen, als trete sie auf der Stelle. Auch der vierte Satz kommt weitschweifig daher – wiewohl die Reprise des Materials des ersten und die Zitate aus dem zweiten und dritten Satz eine ehrgeizige symphonische Konzeption verraten.

Die souverän ordnende Hand, wie sie in Bruckners monumentalen Anlagen waltet, war Rott – verständlicherweise – noch nicht gegeben. Die Besucher im leider nur schütter besetzten Audimax zeigten sich Hermus und dem Orchester im Beifall herzlich zugetan: Es gibt eben auch Konzertgänger, die nicht nur die ewigen Zugstücke beklatschen, sondern auch aufschlussreichen Entdeckungen viel abgewinnen können – zumal, wenn sie in einem schlüssigen Kontext präsentiert werden.

Das 3. Symphoniekonzert mit Hans Rotts E-Dur-Symphonie wird am Samstag, 28. November, 20 Uhr, im Audimax der Ruhr-Universität Bochum wiederholt. Info und Karten: http://www.bochumer-symphoniker.de

Es gibt mehrere Aufnahmen der Rott-Symphonie; zuletzt hat Paavo Järvi das Werk mit dem Frankfurter hr-Sinfonieorchester eingespielt, zusammen mit der Erstaufnahme von Rotts Orchestersuite B-Dur. Die Compact Disc ist bei RCA erschienen: Sony RCA 88691963192.




Glanzvoll und ohne Verstörung: Toshiyuki Kamioka triumphiert in Wuppertal mit Mahler

Toshiyuki Kamioka. Foto: Andreas Fischer

Toshiyuki Kamioka. Foto: Andreas Fischer

Man möchte Gustav Mahler widersprechen: Doch, doch, das Beste in der Musik steht in den Noten, wenn sie jemand wie Toshiyuki Kamioka zum Klingen bringt. Als Opernintendant so ärgerlich gescheitert, triumphiert er nach wie vor als Dirigent: Das Wuppertaler Publikum liebt und feiert ihn, wie jetzt nach dem Konzert mit Mahlers Dritter Symphonie in der Historischen Stadthalle. Und das nicht ohne Grund: Was in den Noten steht, erfährt unter Kamiokas temperamentvoller, aber stets bewusst auf den Punkt geführter Leitung eine glanzvolle Wiedergabe.

Bei einer oft als „monströs“ beschriebenen Riesen-Symphonie wie Mahlers Dritter braucht es eine klare Linienführung und eine deutlich konturierte Klang-Disposition, soll nicht die formal disparate Anlage in ein lärmendes Chaos münden. Kamioka hält mit dem Sinfonieorchester Wuppertal die nötige eiserne Disziplin: Exakt abgestimmt treffen Streicher und Bläser aufeinander, die gewaltigen Eruptionen vor allem des ersten Satzes schleudern ihre Klangschichten stets differenziert in den Raum, kein Notenrauch vernebelt, was sich in den Momenten strahlend-majestätischer Entfaltung – die Kamioka offenbar sehr liebt – oder in tintiger Verdüsterung ereignet.

Auch die verzerrten Schein-Zitate aus militärischem Geschmetter oder die grell-primitiven Melodiefetzen von Jahrmarktsmusik sprengen die klare Disposition nicht. Kamioka zeigt sich als Souverän, der auch über scheinbar chaotische Bewegungen seiner Klangtruppen einen napoleonisch kühlen Überblick wahrt und die glänzend auf ihn eingestimmten Sinfoniker zum Siege führt.

Überhaupt das Orchester: Es muss sich mit diesem Mahler vor der Konkurrenz der Klangkörper der Umgebung nicht verstecken. Schon die entschiedene Exposition der Hörner lässt keinen Zweifel am versierten Umgang mit schwierigem Material. Wenn die Holzbläser mit ihrem Unisono den Marsch höllisch einfärben, wenn das mit acht Mann besetzte Schlagwerk im Pianissimo seine Kraft bändigt, wenn die hohen Streicher flirrend helle Kontraste ohne Scharten und Kratzer präsentieren, weiß man das Mahler’sche musikalische Universum in guten Händen. Vor allem: Die Konzentration bleibt ungebrochen, bis in den ätherischen letzten Adagio-Satz, in der die Entrückung des Klangs bei den Streichern leuchtet, dynamisch sorgfältig gesteigert und intensiv gefüllt. Den ruhevollen Pianissimo-Beginn muss eine Streichergruppe erst einmal so gelöst und „empfunden“ realisieren!

Gustav Mahler auf einem Foto von 1909, zwei Jahre vor seinem Tod.

Gustav Mahler auf einem Foto von 1909, zwei Jahre vor seinem Tod.

Mahlers musikalisches Universum bindet vokale Elemente mit ein: Kathrin Göring zitiert die Worte des Alt-Solos aus Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ auf dem dunklen Klanggrund wie eine aus dem Irgendwo kündende Prophetin; die Damen des Wuppertaler Opernchors und die Knaben der Wuppertaler Kurrende bringen zum Ausdruck, dass Mahler mit dem Lied „Es sungen drei Engel“ aus „Des Knaben Wunderhorn“ zwischen bewusster Naivität und erhabener Schlichtheit pendelt – auch die Chöre bindet Kamioka konsequent in das Klangbild ein.

Ungeheures Lachen über die Welt

So ist also alles aus den Noten herausgelesen? Mit Sicherheit. Aber die Suche nach dem „Besten“, das Mahler so unbestimmt in seinem Wort anspricht, führt dann doch über Aufgeschriebenes hinaus. Und um das zu finden, hätte Kamioka ein paar Risiken mehr eingehen müssen. Mahler sagte einmal zu seiner Dritten, sie sei ein „ungeheueres Lachen über die ganze Welt“. Über diese abgründige, sarkastisch gewürzte Verunsicherung schwebt Kamiokas Deutung weit hinauf in die Sphären von Schönheit und ungebrochenem Glanz.

Doch, doch, das Grelle, das Dissonante, das Gewalttätige ist präsent, ist von Kamioka gekonnt erfasst und ausgespielt. Aber der Hauch des sarkastischen Ingrimms, die flammende Verzweiflung, die brütende Depression, die sich furchtbar aufbäumende, in Erschöpfung verpuffende Energie – diese Extreme emotionalen Ausdrucks holt Kamioka nicht ein. Verstörung sollte nicht walten, aber die Mahler’sche Welt ist tief, tiefer noch als in den Noten gedacht…

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Das Vierte Sinfoniekonzert des Wuppertaler Sinfonieorchesters am 13. Und 14. Dezember in der Stadthalle präsentiert ein außergewöhnliches Programm mit Musik der polnischen Komponisten Karol Szymanowski, Mieczysław Karłowicz und Wojciech Kilar. Die Leitung hat Antoni Wit, Direktor der Warschauer Nationalphilharmonie. Info: www.wuppertaler-buehnen.de

Mehr Mahler in der Region gibt es am 20., 22, und 23. November in Düsseldorf: In der Tonhalle dirigiert Adam Fischer, neuer Chefdirigent der Sinfoniker, Mahlers Siebte Symphonie. Info: www.tonhalle.de . Im Februar gastiert das Mahler Chamber Orchestra mit der Zweiten Symphonie seines Namensgebers unter Daniel Harding in der Philharmonie Essen (19.), im Konzerthaus Dortmund (20.) und in der Philharmonie Köln (21. Februar 2016). Info: www.mahlerchamber.com




Die 40. Tage Alter Musik: Frühe Kult-Oper „Camilla“ und mehr beim Festival in Herne

Das Ensemble "Vox Werdensis" bei seinem Konzert in der Kreuzkirche in Herne. Foto: Thomas Kost/WDR

Das Ensemble „Vox Werdensis“ bei seinem Konzert in der Kreuzkirche in Herne. Foto: Thomas Kost/WDR

Vor 40 Jahren war das schon ein bisschen irre: Als der damalige Kulturdezernent der Stadt Herne, Joachim Hengelhaupt, 1976 die Idee umsetzte, Instrumente für Alte Musik auszustellen und einige kleine, feine Konzerte zu veranstalten, konnte er noch nicht auf eine vielfältige „Szene“ in diesem Sektor bauen. Und der Westdeutsche Rundfunk, der sich mit Herne zusammentat, leistete echte Pionierarbeit in einem Feld, das heute „Kult“ ist: Festivals, Ensembles, aber auch Musikwissenschaft und Musizierpraxis haben sich seither rasant weiterentwickelt.

Die Festival-Macher seit 1976. Von links: Klaus L Neumann (ehemaliger künstlerischer Leiter), Joachim Hengelhaupt (Kulturdezernent a.D. und Festivalgründer), Richard Lorber (künstlerischer Leiter). Foto: Thomas Kost/WDR

Die Festival-Macher seit 1976. Von links: Klaus L Neumann (ehemaliger künstlerischer Leiter), Joachim Hengelhaupt (Kulturdezernent a.D. und Festivalgründer), Richard Lorber (künstlerischer Leiter). Foto: Thomas Kost/WDR

Zur Erinnerung: Die ersten Harnoncourt-Aufnahmen bei Telefunken waren damals gerade mal fünf Jahre alt und Ensembles wie der Concentus Musicus oder Gustav Leonhardts Leonhardt-Consort agierten am Rand des Konzertbetriebs für eine kleine Gemeinde Begeisterter. Historische Aufführungspraxis war für die meisten klassischen Musiker ein exotisches Hobby einiger Enthusiasten, eine Ausbildung an Hochschulen noch alles andere als üblich.

Aber immerhin hatte es in Nordrhein-Westfalen mit der Cappella Coloniensis das erste Orchester weltweit gegeben, das im Sinne der historischen Aufführungspraxis musizierte. Ihr Debüt am 18. September 1954 im Sendesaal des Funkhauses am Wallraffplatz in Köln erfuhr internationale Beachtung; einer ihrer Gründerväter, Eduard Gröninger, war Musikwissenschaftler beim damaligen NWDR.

Heute sieht das anders aus: Ensembles und Festivals sprossen aus dem sprichwörtlichen Boden, genährt von Wissbegier und Lust an neuen Klängen und vergessener Musik. Weit über Bach und Barock hinaus richtet sich der Blick zurück in älteste mittelalterliche Überlieferungen, aber auch auf die Musik anderer Zonen und Völker. Ein Konzert wie das der „Vox Werdensis“ unter Stefan Klöckner, der an der Folkwang Universität Essen das Institut für Gregorianik leitet, ist heute nichts Ungewöhnliches mehr.

Stefan Klöckner: Er rekonstruierte die liturgische Musik für den heiligen Ludgerus. Foto: Thomas Kost/WDR

Stefan Klöckner: Er rekonstruierte die liturgische Musik für den heiligen Ludgerus. Foto: Thomas Kost/WDR

Die männlich markanten, traumhaft intonationssicheren, auf Raum und Wort ausgerichteten Männerstimmen geleiteten in der Kreuzkirche in Herne durch einen idealtypischen liturgischen Tag zu Ehren des heiligen Liudger: hochmittelalterliche geistliche Musik aus der Abtei Werden, bei der ein Einfluss der heiligen Hildegard von Bingen nicht ausgeschlossen werden kann. Das Konzert zeigte, was auch in einem gut erforschten Bereich noch an Fortschritt möglich ist: Instrumente wie Glockenspiel, Drehleier, Traversflöte und die lautenähnliche Quinterne gehören – wie mittelalterliche Abbildungen nahelegen – zur Aufführung des einst rein vokal angenommenen Chorals.

Mit dem Abschlusshymnus („Confessor o dignissime“) stellte Klöckner das Experiment einer metrisch gebundenen Interpretation vor, wie er sie aus zeitgenössischen Quellen als wahrscheinlich erschlossen hat: Der zeitlos getragene Choralgesang gewinnt plötzlich rhythmischen Schwung und eine „weltliche“ Artikulation. So folgt die Musik vertieften Einblicken in die mittelalterliche Theologie, die so weltabgewandt und zeitenthoben, wie sie einst verklärt wurde, eben nicht gewesen ist.

Das Kulturzentrum in Herne - einer der Veranstaltungsorte der Tage Alter Musik. Foto: Werner Häußner

Das Kulturzentrum in Herne – einer der Veranstaltungsorte der Tage Alter Musik. Foto: Werner Häußner

„Kult“ war das Thema der 40. Tage Alter Musik in Herne, und der verantwortliche WDR-Redakteur Richard Lorber verengt den Begriff weder auf den gottesdienstlichen Kult noch auf den „Kult-Status“ der (alten) Musik. Sondern er entwickelt in einer inhaltlich ausgefeilten Dramaturgie das Spektrum dessen, was aus dem lateinischen „cultus“ im Lauf der Zeit erwachsen ist: Der Marienkult im gegenreformatorischen 17. Jahrhundert spielt da ebenso eine Rolle wie der an exotischer Entdeckung sich erfreuende Türken-„Kult“. Beides wurde in anspruchsvoll programmierten Konzerten musikalisch konkretisiert.

Auch früher gab es „Kult“-Musiker: Das Festival rückte Arcangelo Corelli und Niccolò Paganini als Beispiele ins Blickfeld. Dass dem Herrscherkult in der Zeit des französischen „Sonnenkönigs“ Ludwig XIV. und seinem komplexen Verhältnis zur geistlichen Musik der Zeit nicht „gehuldigt“ werden konnte, ist den aktuellen Ereignissen in Paris geschuldet: Die Musiker von Le Concert Spirituel und Hervé Niquet sahen sich außerstande, angesichts des furchtbaren Massakers Paris zu verlassen und nach Herne zu reisen.

Auch „Kult“-Stücke gab es vor 300 Jahren. Mit Giovanni Bononcinis Oper „Camilla“ erfüllte Herne eine der vornehmsten Aufgaben eines solchen Festivals, ins Licht der Gegenwart zu rücken, was uns auch nach so langer Zeit noch etwas zu bedeuten hat, das reiche Erbe europäischer Musik unseren Ohren zu erschließen. „Camilla“ stand am Beginn des Hypes der italienischen Oper im vergnügungssüchtigen London des beginnenden 18. Jahrhunderts. Die Oper wurde in London von 1706 bis 1728 in einer sagenhaften Aufführungsserie von 111 Abenden gespielt, wie Dramaturgin Sabine Radermacher in ihrem sorgfältig recherchierten Programmheftbeitrag vermerkt. Sie war ein Stück Nostalgie für eine ganze Generation.

Aber ihre Botschaft dürfte über das übliche Interesse an herrscherlichen Ränkespielen, entflammten Affekten und Leidenschaften und komischen Verwicklungen hinaus wahrgenommen worden sein. Das Libretto von Bononcinis begabtem Mitarbeiter Silvio Stampiglia mag in der listigen, entmachteten Königin Camilla aus dem sagenhaften vorrömischen Reich der Volsker die Engländer an die eigenen bedrängten Königinnen erinnert haben. Und die Botschaft, über die politischen Interessen und Zugehörigkeiten hinaus dem Frieden und der Liebe zu frönen, mag dem Zeitgeist entgegengekommen zu sein: Man hatte Hass und Blut nach zwei Generationen des politischen Hin und Hers wohl einfach satt.

Konzertante Aufführung der Oper "Camilla" bei den 40. Tagen Alter Musik in Herne 2015. Foto: Thomas Kost/WDR

Konzertante Aufführung der Oper „Camilla“ bei den 40. Tagen Alter Musik in Herne 2015. Foto: Thomas Kost/WDR

Heute kommt Bononcinis Camilla über das Gewirre der Barockopern-Kabale nicht mehr hinaus: Die Wechselbäder von Leid und Liebe, Triumph und Ohnmacht, Wahrheit und Verstellung sind zu krass konstruiert, um noch einen Rest Glaubwürdigkeit zu bewahren.

Was aber bleibt, haben schon die Zeitgenossen Bononcinis gerühmt: sein Talent für den pastoralen Stil, seine originellen Harmonien und seine graziösen und eleganten Melodien. Die konzertante Aufführung im Kulturzentrum Herne ließ vernehmlich werden: Bononcini komponiert feinsinnige Lyrik, versonnene Schwermut, in Schönheit leuchtenden Schmerz mit so viel Eleganz und emotionaler Wahrhaftigkeit, dass es verständlich wird, warum die Londoner auf ihn flogen.

Den Verdienst, die in der Gruft der Geschichte erblindeten Edelsteine neu aufzupolieren und in Glanz und Wonne auszustellen, gebührt in erster Linie dem Elbipolis Barockorchester aus Hamburg mit Jürgen Groß als Konzertmeister und Jörg Jacobi am Cembalo. In den gut zweieinhalb Stunden Musik war kein Nachlassen der Konzentration, der exakten Formulierung, der rhythmischen Präzision und metrischen Wachheit, der Phrasierungs-Eleganz und Intonationssicherheit festzustellen.

Aber mehr noch: Die transparente Abstimmung und Mischung der Instrumente und das detailbewusste Spiel der fünfzehn Musiker garantierte ausdrucksstarke Farben: eine edel ebenmäßige Blockflöte (Elisabeth Champollion), zwei durchsetzungsfähige, saubere Oboen (Luise Haugk, Markus Müller), ein mal trauerschweres, mal burleskes Fagott (Stephan von Hoff), ein filigran-virtuoses Cello (Hannah Freienstein) und die präsente, reizende Koloristik oder versonnene Soli beitragende Theorbe (Johannes Gontarski).

Ironie und humorvolle Distanz hätten gutgetan

Die gepflegte, ausgefeilte Wiedergabe von Bononcinis Musik hatte freilich auch einen Nachteil: Den Willen zum expressiven Risiko, zum theatralisch geschärften Ton, zur gestischen Prägnanz brachten die Hamburger nicht mit. Die Ausbrüche der Wut, der Hilflosigkeit, der Verzweiflung blieben distinguiert wie eine englische Nachmittags-Teegesellschaft. Und die drolligen Szenen zwischen Tullia und Linco – dem „niederen“ Paar – kamen so seriös daher wie das unfreiwillige parodistische Potenzial der „hohen“ Gestalten, das schon die Zeitgenossen erkannt hatten.

Ironie und humorvolle Distanz hätten dem Stück gutgetan, auch bei den Sängern, die sich von der Tendenz zu seelenvoller Larmoyanz nicht ganz fernhalten konnten. Wieder einmal zeigte sich, dass eine konzertante Wiedergabe einer Oper nur eine halbe Sache ist: Eine lebendige Bühnenaktion hätte vieles unterstreichen können, was an szenischem Potenzial in der Musik angelegt ist, aber nicht ausgespielt werden konnte.

Nur der gut gelagerte Bass von Simon Robinson mit seinem gestaltungsfähigen Kern und der rhetorisch talentierte Tenor Michael Connaire schärften an ihren Figuren, dem getäuschten Eroberer und verbohrten Vater Latinus und dem unter Verkleidung schmachtenden, aber auch aufbrausenden Liebhaber Turnus, lebendige Konturen. James Elliott als Prenesto demonstrierte exemplarisch, wie problematisch Gesangskultur des 18. Jahrhunderts auf die Gegenwart zu übertragen ist: Der angestrebte schlanke, feine, bewegliche Ton geht auf Kosten der unverzichtbaren Stütze der Stimme; die dünne, manchmal quetschige Formung des Klangs lässt nur wenig flexible Farben zu, und von technischer Brillanz bei den Verzierungen zu sprechen fällt schwer.

Ohne komödiantischen Anflug trugen Cécile Kempenaers und Konrad Jarnot das Dienerpaar Tullia und Linco vor: Der so großmäulige wie kleinlaute Diener verharrte mit dem versierten Liedsänger Jarnot im Bereich gepflegter Lyrik; die gewitzte junge Frau hat eine virtuose Arie mit Begleitung der Piccoloflöte im zweiten und zarte Kantilenen im dritten Akt, aber beide blieben lediglich fein ausgearbeitet, gewannen mit der schmalen Stimme keinen Esprit.

Auch den beiden Heroinen des Stücks, Julia Sophie Wagner (Camilla) und Marysol Schalit (Lavinia) mangelte es nicht an lyrischer Intensität und einem schlank-innerlichen Ton im Leid. Aber das entscheidende Quantum vokalen Exhibitionismus‘, das auffahrende Temperament oder die vitale Brillanz ließen beide mit ihrem zaghaften vokalen Zugriff auf ihre Figuren vermissen. Nun ja – wenigstens in der Aufnahme, die den Tonmeister vor einige Herausforderungen stellte, dürfte sich diese Keuschheit im Theatralischen vorteilhaft auswirken.

Im kommenden Jahr stehen die Tage der Alten Musik Herne unter dem Thema „Hommage“. Sie finden vom 11. bis 13. November 2016 statt.

Die Mitschnitte einzelner Konzerte des Festivals dieses Jahres sind an den Montagen 23. und 30.11., 14., 21. und 28.12. jeweils um 20.05 Uhr in WDR 3 Konzert zu hören, beginnend am 23. November mit dem Konzert der „Vox Werdensis“.

Das „Ludgerus-Offizium“, das im Konzert in Herne gesungen wurde, ist auch auf CD erhältlich. Die Aufbahme basiert auf einem der wichtigsten Bücher mit Gesängen zu Ehren des Heiligen Ludgerus (des „Heiligen des Ruhrgebiets“), das vor einiger Zeit in Kapstadt aufgetaucht ist. Der südafrikanische Musikwissenschaftler Morné Bezuidenhout hat die Gesänge übertragen und mit den wenigen in Deutschland überlieferten Handschriften verglichen. Hieraus hat Stefan Klöckner, Professor für Musikwissenschaft an der Folkwang Universität der Künste und Leiter des Ensembles Vox Werdensis, ein „Ludgerus-Offizium“ zusammengestellt. Die CD ist für 15 Euro beim Institut für Gregorianik der Folkwang Universität erhältlich. Kontakt: anke.westermann@folkwang-uni.de

 

 

 




Siegfried Wagners Märchen-Oper „An allem ist Hütchen schuld“ kommt ins Audimax Bochum

Der zehnjährige Siegfried mit seinem Vater Richard Wagner. Die Aufnahme entstand 1880 in Neapel.

Der zehnjährige Siegfried mit seinem Vater Richard Wagner. Die Aufnahme entstand 1880 in Neapel.

Wer kennt sie nicht, die Charaktere aus den Märchen der Gebrüder Grimm? Den Frieder und das Katherlieschen, das singende springende Löweneckerchen, das Tischlein-deck-dich. Und dazu Königssohn und Müller, Tod und Teufel, Hexe und Menschenfresser.

Sie alle – und noch viele mehr – spielen mit in Siegfried Wagners Märchenoper „An allem ist Hütchen schuld“. Das burleske Werk, das komische und tragische Züge mit einer Fülle symbolischer und psychologischer Bezüge zu den Grimm’schen Märchen verbindet, ist am Sonntag, 18. Oktober, 18 Uhr, im Auditorium Maximum der Ruhr-Universität in Bochum in einer szenischen Aufführung zu sehen.

Siegfried Wagner (1869-1930), der Sohn Richard Wagners, gehört zu den vergessenen Komponisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Schüler Engelbert Humperdincks hatte es schwer, sich gegen den übermächtigen Schatten des Bayreuther „Meisters“ durchzusetzen. Dennoch waren unter seinen siebzehn Opern eine Reihe von Erfolgen, allen voran der 1899 in München uraufgeführte Erstling, „Der Bärenhäuter“. Nach dem Zweiten Weltkrieg zeigten weder die Familie Wagner noch die Opernhäuser Interesse am Werk Siegfrieds.

Erst Mitte der siebziger Jahre begann eine zaghafte Wiederentdeckung, die vor allem von der Internationalen Siegfried Wagner Gesellschaft und dem Musikwissenschaftler und Regisseur Peter P. Pachl – Autor einer Biografie des Wagner-Sohnes – getragen wird. Ergebnisse waren unter anderem die sehr erfolgreiche szenische Aufführung von „An allem ist Hütchen schuld“ 1997 am Theater Hagen und konzertante Präsentationen von „Die Heilige Linde“ in Köln 2002 und „Der Heidenkönig“ in Solingen 2004.

Die geringe Beachtung soll sich jetzt ändern: Die Bochumer Aufführung ist Teil eines Projekts, das in internationaler Zusammenarbeit die Opern Siegfried Wagner szenisch realisieren soll. In Sommer 2017 soll in Bayreuth das erste, das Festspielprogramm der Richard Wagner-Festspiele ergänzende Festival mit Opern von Siegfried Wagner stattfinden. Hierfür sollen bis dahin sechs Opern Siegfried Wagners – in internationaler Kooperation – erarbeitet werden.

Auf „An allem ist Hütchen schuld“ folgt als nächste Inszenierung in Shanghai/China „Schwarzschwanenreich“. Diese Produktion soll dann auch in Deutschland an verschiedenen Häusern gastieren. Schirmherrin des Projekts ist Theophana Prinzessin von Sachsen.

Der Regisseur der Bochumer Neuproduktion: Peter P. Pachl. Foto: Werner Häußner

Der Regisseur der Bochumer Neuproduktion: Peter P. Pachl. Foto: Werner Häußner

Das im Titel des 1917 in Stuttgart uraufgeführten Werks genannte „Hütchen“ ist ein Kobold, der als Drahtzieher im Hintergrund fungiert. Die „Helden“ des Stücks sind das Liebespaar Frieder und Katherlieschen, die eine Reihe von Prüfungen und Versuchungen zu überstehen haben, bevor sie sich am Ende des Märchenspiels glücklich in die Arme schließen dürfen.

Siegfried Wagner, der sein eigener Librettist war, verarbeitet Motive aus mehr als drei Dutzend Grimm-Märchen in die Geschichte, in der die Menschenfreundlichkeit und moralische Integrität der jungen Liebenden siegt. Das opulente Stück hat alleine sechzehn Solopartien, die zum Teil von Absolventen der Kölner Hochschule für Musik gesungen werden. In den Hauptrollen zu erleben sind der Tenor Hans Georg Priese (Frieder), der in Berlin, Köln, Meiningen und Saarbrücken unter anderem Max, Florestan und Tannhäuser gesungen hat, sowie Rebecca Broberg (Katherlieschen), die bereits zahlreiche Siegfried-Wagner-Partien erarbeitet hat.

Die Bochumer Symphoniker unter Leitung von Lionel Friend produzieren die Oper in Kooperation mit dem pianopianissimo-musiktheater München in einer Inszenierung von Peter P. Pachl im Bühnenbild von Robert Pflanz. Mit dabei ist auch der Sonderchor der Ruhr-Universität.

Das Gemeinschaftsprojekt geht auf die Initiative des Bochumer Universitätsmusikdirektors Hans Jaskulsky zurück, es wird unterstützt von der Internationalen Siegfried Wagner Gesellschaft e. V., Bayreuth. Deutschlandradio Kultur beabsichtigt die spätere Ausstrahlung der Aufzeichnung in Bochum.

Karten für die Aufführung am 18. Oktober, 18 Uhr, im Auditorium Maximum der Ruhr-Universität Bochum an der Kasse des Schauspielhauses Bochum, Tel.: (0234) 3333 5555, Mail: tickets@schauspielhausbochum.de 

Information, Inhaltsangabe und Hintergründe: http://www.siegfried-wagner.org/html/termine2015.html#

 




Ikone der Filmgeschichte: Vor 75 Jahren wurde Chaplins „Der große Diktator“ uraufgeführt

In diesem Film gibt es Szenen, die in die Weltgeschichte der bewegten Bilder eingegangen sind. Szenen, die man einmal gesehen hat und nie wieder vergisst. Szenen, die das Lachen herauskitzeln und die einem das Lachen im Hals steckenbleiben lassen. Die „New York Times“ bezeichnete ihn – unter einem bestimmten Blickwinkel gesehen – als vielleicht bedeutsamsten Film, der je produziert wurde. Gemeint ist Charlie Chaplins „Der große Diktator“.

Die bittere und zugleich erzkomische Satire auf Adolf Hitler und das Dritte Reich hatte vor 75 Jahren, am 15. Oktober 1940, ihre Premiere – und zwar in New York, nicht wie üblich in Los Angeles, weil Chaplin eine bereits angelaufene Protestwelle fürchtete. Das Hays-Office, die amerikanische Zensurbehörde, äußerte bereits im Vorfeld Bedenken gegen den Film; Chaplin erhielt aus pro-faschistischen Kreisen Drohbriefe.

Chaplin, wie Hitler im April 1889 geboren, ist vielleicht der einzige Künstler, dem es je gelungen ist, die Figur des größenwahnsinnigen Diktators künstlerisch adäquat umzusetzen. Leicht ist es dem britischen Komiker nicht gefallen: Bis 1935 reichen die Vorbereitungen für den Film zurück. Chaplin musste sein Konzept am Set auch gegen einzelne Mitarbeiter durchsetzen. Und die Kritik war keineswegs einhellig positiv. 1940 ging es in der öffentlichen Diskussion in den USA um einen möglichen Kriegseintritt; Chaplins „Großer Diktator“ wurde da als Beitrag zur Kriegshetze missverstanden.

Darf man über Verbrecher lachen?

Später hat man ihm sogar vorgeworfen, den Nationalsozialismus verharmlost zu haben. Die Frage, ob man über die furchtbaren Verbrecher des Dritten Reiches lachen dürfe, wurde auch in der Nachkriegszeit lange diskutiert. Chaplin selbst bekannte später, hätte er die wahren Gräuel in den Konzentrationslagern gekannt, hätte er den Film nicht produzieren können. Die Amerikaner gaben den Film nach Testaufführungen im Nachkriegs-Berlin nicht frei; er kam erst 1958 in die deutschen Kinos. 2004 erlebte er sein Comeback in einer aufwändig restaurierten Version.

Charlie Chaplin indes wusste, was er tat und was er wollte: Er hatte die Tiraden und Ausfälle Hitlers lange genug studiert, um ihren unmenschlichen Kern freizulegen. Er hatte erkannt, dass die Hassreden gegen die Juden und „Untermenschen“, ihre Diskriminierung und letztlich tödliche Verfolgung ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit unerhörten Ausmaßes waren. Er wollte die Wahrheit mit seinen Mitteln darstellen und die Menschen aufrütteln – mit den Mitteln des Komödianten, mit der Kunst der Parodie, der Überzeichnung, der Satire und Persiflage.

Und so ließ er „Adenoid Hynkel“, den Herrscher über „Tomania“, mit einem Luftballon in der Form eines Globus tanzen, bis der Luftbehälter platzt und nur ein paar Fetzen in den Händen des Diktators zurückbleiben. So persiflierte er die „Achse“ zwischen Hitler und Mussolini mit dem Treffen des kriegswütigen Hynkel mit dem kaum weniger gewaltversessenen Herrscher von Bacteria, Benzino Napoloni. Die Szene mit dem verfehlten roten Teppich vor dem Zug gehört zu den Ikonen gelungenen Slapsticks.

Plädoyer für Freiheit und Humanität

Für das Finale des Films – den Einmarsch Tomaniens ins Nachbarland „Osterlich“ – lässt Chaplin einen kleinen, aus dem KZ geflohenen Juden in die Rolle des Diktators geraten: Die tragikomische Gestalt des verfolgten Friseurs, der dem Gewaltherrscher zum Verwechseln ähnlich sieht – Zwei-Finger-Bart unter der Nase eingeschlossen –, muss die Rede nach dem erzwungenen „Anschluss“ des besetzen Landes halten. In diesem Moment wächst er über sich hinaus: Er plädiert für Völkerverständigung, gegen Sklaverei und Unterdrückung, für Freiheit, Toleranz und Humanität. Eine fast sechsminütige Rede, die in der Kritik auf Ablehnung stieß. Formal, weil sie die Ebene der Handlung verlässt und die „vierte Wand“ zum Zuschauer durchbricht; inhaltlich, weil Chaplin seine politische Position unverstellt und leidenschaftlich formuliert.

Die Worte dieser Rede stehen in denkbar scharfem Gegensatz zu dem Kauderwelsch, mit dem sich der echte Diktator in einer vorangegangenen Szene vor dem Mikrofon produziert hatte. Chaplin hatte für diese Ansprache Hitlers Gestik und Mimik genau studiert, um sie lächerlich zu überzeichnen. Und seine Sprache ist ein künstliches Gebrabbel, in dem man nur hin und wieder einzelne Worte erkennt: „Sauerkraut“, „Schnitzel“ oder „Blitzkrieg“. Eines der Kunstworte Chaplins, „Schtonk“, hat über den Film hinaus Karriere gemacht.

„Der große Diktator“ ist nicht nur eine genialische und tief bewegende Satire. Er ist, wie die „New York Times“ schrieb, ein von Grund auf tragisches – oder im klassischen Sinne tragikomisches Werk. Er ist bis heute ein Aufruf, hellsichtig zu bleiben und die Unmenschlichkeit, die sich nicht ausrotten lässt, zu erkennen und zu benennen. Und er ist ein berührendes Zeugnis für den großen Humanisten Charles Spencer Chaplin, der sich in der Rede des jüdischen Friseurs im Film unverstellt wiederfinden lässt:

„Es tut mir leid aber ich möchte nun mal kein Herrscher der Welt sein, denn das liegt mir nicht.
Ich möchte weder herrschen, noch irgendwen erobern,
sondern jedem Menschen helfen, wo immer ich kann.
Den Juden, den Heiden, den Farbigen, den Weißen.
Jeder Mensch sollte dem anderen helfen, nur so verbessern wir die Welt.
Wir sollten am Glück des andern teilhaben und nicht einander verabscheuen.
Hass und Verachtung bringen uns niemals näher.
Auf dieser Welt ist Platz genug für jeden, und Mutter Erde ist reich genug, um jeden von uns satt zu machen.
Das Leben kann ja so erfreulich und wunderbar sein.
Wir müssen es nur wieder zu leben lernen.“




Indonesien auf der Buchmesse: Ein kleiner Verlag präsentiert einen Roman über Bali

Ein deutscher Beitrag zum Schwerpunkt "Indonesien" der Frankfurter Buchmesse: Lothar Reichels Roman "Insel der Dämonen" entführt den Leser nach Bali. Buchcover: Verlag Peter Hellmund

Ein deutscher Beitrag zum Schwerpunkt „Indonesien“ der Frankfurter Buchmesse: Lothar Reichels Roman „Insel der Dämonen“ entführt den Leser nach Bali. Buchcover: Verlag Peter Hellmund

Die edelsten Perlen finden sich tief unten im Meer. Die indonesischen Perlentaucher wissen das. Der deutsche Buchmarkt, dessen große Verlage derzeit auf der Frankfurter Buchmesse ihre Neuerscheinungen präsentieren, taucht nicht immer so tief. Dort grast man gerne die Oberfläche ab, wo wächst, was sich geschmeidig der Strömung anpasst. Und so kommt es, dass eine schüchterne Perle in einer winzigen Nische zu finden ist. Ein Glück, dass es solche wagemutigen Verleger noch gibt.

Das Buch ist ein deutscher Beitrag zum Schwerpunkt „Indonesien“ der diesjährigen Buchmesse. Es widmet sich Asiens Ferieninsel Nummer eins: Bali. Vier Millionen Besucher jährlich beschäftigen ein Fünftel der Bevölkerung und tragen einen wesentlichen Teil zum Bruttoinlandsprodukt bei.

Die reiche Kultur Balis zog in den siebziger Jahren esoterisch angehauchte Backpacker an. Die sich offen gebenden Menschen, die farbenprächtigen Feste und Riten begeisterten sie. Der geheimnisvolle Zauber der Gamelanmusik, der Dämonenfratzen und der Bilder naiver Maler lassen die Besucher nicht unberührt. Auch wer Sprache und Kultur nicht versteht, wird bezaubert und erlebt Bali als faszinierend „exotisch“.

Auch Autor Lothar Reichel konnte sich der geheimnisvollen Anziehung der Insel mit ihren Vulkanen und Stränden nicht entziehen: Aus einer Reise als junger Mann wurden viele; aus ersten Eindrücken und Bildern wurde ein vertieftes Eindringen in balinesische Religion, Literatur, Mentalität. Dabei traf Reichel auf den in Russland geborenen deutschen Maler und Musiker Walter Spies, eine farbige Persönlichkeit mit intimen Kenntnissen balinesischer Kultur. 1942 kam er als Internierter ums Leben, als die Japaner das Schiff versenkten, das ihn mit 400 anderen Deutschen nach Ceylon bringen sollte. Außerhalb Balis vergessen, hat Spies der modernen Malerei der Insel, aber auch dem balinesischen Drama wichtige Impulse gegeben.

Der Maler Walter Spies. Foto: Paul Spies, Collectie Stichting Nationaal Museum van Wereldculturen. Leiden

Der Maler Walter Spies. Foto: Paul Spies, Collectie Stichting Nationaal Museum van Wereldculturen. Leiden

Spies ist eine der Personen, um die es in Reichels Roman „Insel der Dämonen. Eine Geschichte von Liebe und Tod auf Bali“ geht. Aber schon der Titel ist eine Anspielung: Die deutsche Autorin Vicki Baum hatte 1937 ihren Roman „Liebe und Tod auf Bali“ veröffentlicht. Bis heute gehört er zur Pflichtlektüre für Bildungstouristen – und er ist seither das einzige bekannte auf Deutsch geschriebene literarische Werk über Bali geblieben.

Auch Vicki Baum spielt in Reichels neuem Roman eine entscheidende Rolle: In einem fiktiven Bericht klärt sie auf, wie es damals wirklich gewesen ist, als sie auf der unerschlossenen Insel mit Spies zusammenkam und ihren Roman skizzierte.

Doch das ist die zweite Ebene des Buches. Die erste beginnt, wie Tausende schnell lesbarer Unterhaltungsschinken einsteigen könnten: Studiendirektorengattin Amanda, beflissen auf der Suche nach kulturellen Kicks, Impressionen der Fremde und ein bisschen nach sich selbst, hat ihre Tochter Lena zum Urlaub auf Bali überredet. Die ist eine Kunsthistorikerin in der zweiten Blüte der Jugend, auf der Suche nach einem Job und auch ein bisschen nach sich selbst. Bei ihrem ersten Besuch am Strand taucht wie ein Ungeheuer aus dem Meer ein dicker Mann aus den Fluten: ein zwielichtiger Kunsthändler. Auch er auf der Suche – nach einem verschollenen Bild von Walter Spies, seinem letzten und wichtigsten. Lena soll ihm bei der Recherche helfen. Und so kommt eine Handlung in Gang, an deren Ende nichts mehr so ist, wie es anfangs war oder zu sein schien.

Der Rest des Unerklärbaren

Reichel verknüpft die beiden Erzählebenen kunstvoll miteinander: Die eine erklärt Gedanken oder Geschehnisse auf der anderen, Ereignisse hier treiben die Handlung dort voran. Man erkennt den passionierten Krimi-Autor – Reichel hat bereits fünf Regional-Krimis über die fränkische Industriestadt Schweinfurt publiziert – im spannenden Aufbau des Plots. Wobei Reichel nicht auf das Wer-ist-der-Täter-Schema verfällt, sondern manches verrät, um den Leser dann in die umso packendere Welt der Motive, Gründe und Ursachen zu entführen.

Dass es dabei aus aufgeklärt-rationalistischer europäischer Sicht nicht immer mit rechten Dingen zugeht, liegt auf der Hand: Bali, geheimnisvoll und mystisch, gilt als ein Ort, wo übersinnliche Kräfte walten, bis hin zur schwarzen Magie. Eine Insel der Götter und Dämonen eben. So bleibt auch in Reichels Buch manches ungeklärt. Daraus resultiert – zum Glück – keine mystifizierende Esoterik.

Den Rest des Unerklärbaren auf Bali, das übrigens selbst höchst seriöse Wissenschaftler bestätigen, lässt Reichel gekonnt in der Schwebe: Wie steht es um die hinduistische Vorstellung der Wiedergeburt? Gibt es den Einfluss okkulter böser Mächte? Gibt es Schadenszauber oder durchdringt eine verborgene zweite Welt die sinnlichen Eindrücke der ersten? Darüber wird so geschrieben, dass dem Leser stets der Weg der Interpretation offen steht: Der europäische Verstand wird nicht beleidigt.

Sonnenuntergang über den Reisfeldern von Blimbing. In Reichels Roman wird auch über die Schönheit Balis reflektiert. Foto: Visit Indonesia Tourism Office

Sonnenuntergang über den Reisfeldern von Blimbing. In Reichels Roman wird auch über die Schönheit Balis reflektiert. Foto: Visit Indonesia Tourism Office

Dennoch öffnet das Buch auf lebendig geschilderte Weise Einblicke in die balinesische Kultur. Reichel meidet es, die Distanz des Europäers durch vordergründige Räucherstäbchen-Esoterik zu vernebeln; er lässt durchblicken, dass er stets mit den Augen des Fremden auf eine Kultur schaut, die sich wohl nie restlos erschließen lässt. Aber er öffnet Zugänge. Etwa, wenn er als einen entscheidenden Ausgangspunkt der Handlung die Feier einer Leichenverbrennung schildert – halb Volksfest, halb touristisches Spektakel, bei dem die Balinesen trotz der Menge von Gaffern auf diskrete Weise unter sich bleiben.

Mit Ironie betrachtet Reichel aber auch den europäischen Hang, sich auf Fremdes einzulassen und es erfassen zu wollen: seit alters her ein Impuls europäischer kultureller Entwicklung. Der trägt bei der höchst interessierten Amanda feine komische, im Falle Lenas irritierend ambivalente Züge.

Man erfährt viel über Bali, ohne dass Reichel seiner Erzählung den Drive nehmen würde. Seine Sprache hält dem Leser stets den Faden vors innere Auge, an dem er sich weiterhangeln kann: Da bewährt sich der erfahrene Journalist – Reichel ist als Radioredakteur in Würzburg tätig. Dass der Schreiber in bisweilen üppiger Sprache seine Belesenheit demonstriert, stört nicht: Reichel versteht es, von Goethe bis Hofmannsthal, vom „Faust“ bis zum „Rosenkavalier“ Zitat-Gemeinplätze geschickt zu platzieren und ironisch zu konterkarieren. Keine Bildungsschwere!

„Insel der Dämonen“ ist auch ein wunderschönes Buch geworden, weil der Buchverlag Peter Hellmund keinen Aufwand gescheut hat: Den Umschlag ziert ein Bild von Walter Spies, der Satzspiegel wirkt edel, das feine Papier und ein Lesebändchen sind liebevolle Details, mit denen ein Buch zum sinnlichen Greifen einlädt. Und Bali-Besucher dürften nun zu Vicki Baums Roman künftig ein zweites Buch in ihr Gepäck zu schnüren haben.

Lothar Reichel: Insel der Dämonen. Eine Geschichte von Liebe und Tod auf Bali. Buchverlag Peter Hellmund, Würzburg. 480 Seiten, 24,00 Euro. ISBN 978-3-939103-60-8.




Triennale-Nachlese: „Die stille Kraft“ des Niederländers Louis Couperus in Essen

Europa-Dämmerung: Kokerei Zollverein in Essen, Schauplatz der Triennale-Aufführung von Louis Couperus' "Die stille Kraft". Foto: Werner Häußner

Europa-Dämmerung: Kokerei Zollverein in Essen, Schauplatz der Triennale-Aufführung von Louis Couperus‘ „Die stille Kraft“. Foto: Werner Häußner

Das Wasser, dieses unheimliche Wasser, diese kraftvolle, unausweichliche Urgewalt: Zu Beginn der Aufführung ist die Grenze zwischen Trocken und Nass exakt über die Bühne gezogen; genau an der Trennlinie spielt jemand Klavier. Doch wenn das geregelte Leben zerbricht, stürmt das Wasser die Bühne, tobt sich in einem Gewitter aus, lässt die Planken aus Tropenholz dampfen, dünstet aus den Ritzen und hüllt die Welt in Nebel.

Ein Bild, das nicht die Atmosphäre des Monsunregens in Indonesien – dem Schauplatz von Louis Couperus‘ „Die stille Kraft“ – illustrieren will, sondern das als große Metapher die Bühnen-Einrichtung von Jan Versweyveld im Salzlager der Kokerei Zollverein in Essen dominiert. Das Wasser, ein naturhafter Akteur, der für das Unbewusste ebenso stehen kann wie für die unheimlichen, unaufhaltsamen Dynamiken, die in dem Schauspiel nach dem Roman des niederländischen Autors Krisis und Katastrophe hervorrufen.

„Die stille Kraft“ gehört zu den letzten Produktionen der ersten Triennale von Johan Simons. Ein vergessener Stoff, geschrieben im Jahr 1900 von einem damaligen Erfolgsautor, der wie Thomas Mann in Deutschland in großen Romanen den Zerfall der bürgerlichen Kultur und Familie in Augenschein nimmt.

„De stille Kracht“ spielt zwar in Indonesien, thematisiert aber ebenso die Brüchigkeit europäischer Lebenskonzepte wie eine Kolonialgeschichte oder den „Clash“ unvereinbarer Kulturen. Das Unbehagen an der ach so dauerhaft scheinenden, sich selbst so sicheren Gesellschaft Europas wird greifbar im Kontrast zu der geheimnisvollen, sich nicht rational aussprechenden asiatischen Welt.

Der Ruhrtriennale ist zu danken, auf diesen Autor aufmerksam gemacht zu haben, der in Deutschland ziemlich unbekannt ist. „Die stille Kraft“ ist 1993 einmal in deutscher Sprache erschienen, beim Aufbau-Verlag, aber längst nicht mehr erhältlich. Simons plant, auch 2016 und 2017 Bühnenadaptionen von Romanen Couperus‘ zu spielen und leistet damit, was eine vornehmes Ziel der Triennale ist: den Blick zu weiten für andere kulturelle Welten.

Es würde zu kurz greifen, die Geschichte auf einen vermeintlich unvermeidbaren Konflikt westlicher und östlicher Kulturen zu reduzieren, so reizvoll das unter aktuellen Vorzeichen auch wirken mag. Und Regisseur Ivo van Hove meidet folglich allzu explizite Anspielungen, deutet nur in Kostümen (An D’Huys) oder durch asiatisch geprägte Schauspieler den „exotischen“ Aspekt an. Denn tatsächlich geht es um das Scheitern eines europäischen Rationalismus, der heute zum ökonomisch-pragmatischen Utilitarismus degeneriert ist.

Der Unterschied wuchert in der Seele

Der Protagonist Otto von Oudijck, Kolonialverwalter der (erfundenen) Region Labuwangi auf Java, verbindet positivistisches Denken mit einer protestantischen Ethik, die das Wohl der Menschen will, es aber auf „vernünftige“ Aspekte reduziert: Als die Eingeborenen einen Brunnen mit einem Opferfest einweihen wollen, verweigert er die Zustimmung, weil er ein Ritual einige Wochen nach Inbetriebnahme für sinnlos erachtet.

Gijs Scholten van Aschat gibt diesem Mann, der sich im zufriedenen Mittelmaß eingerichtet hat, keine unsympathischen Züge, im Gegenteil: Er will das Beste für Land und Leute, aber er sieht und hört nicht, was sich außerhalb seines rational abgesteckten Horizonts zusammenbraut. Wir sehen ihn, wie er vor seinem Schreibstuhl kniet, wie er seine Akten aus dem Wasser zieht, wie er versucht, sich mit den Kladden gegen den Regen zu schützen. Noch am Ende, als er von der „stillen Kraft“ überwältigt, in einem einheimischen Dorf lebt, versucht er, das Wasser zu bändigen, zu ordnen: Er gießt es in Gefäße, die er in einer exakt geraden Linie voreinander setzt. Ein wunderbares Bild des Scheiterns – und des inneren Vorbehalts.

Louis Couperus‘ „Die stille Kraft“ – und das ist, zumindest in dieser klugen Einrichtung Peter van Kraaijs für die Bühne, ein Vorzug – verteilt keine Moralwerte, urteilt nicht, lässt seine Menschen in einer Ambivalenz, die auch tragische Züge ihres Unvermögens nicht verdeckt. Leonie van Oudijck etwa, die Frau des wackeren Kolonialbeamten, glüht in der wunderbaren Darstellung durch Halina Reijn vor sexueller Gier, lebt sie ungeniert und schrankenlos aus mit ihrem Stiefsohn Theo und dem dunkel-geheimnisvollen Halbindonesier Addy de Luce. Aber in dem Moment, in dem ihr Mann die javanische Prinzessin (formvollendet: Marieke Heebink) demütigt, weil er „dem Recht“ zum Sieg verhelfen, die „Ordnung“ bewahren will, appelliert sie voll Menschlichkeit und Anteilnahme an seine Barmherzigkeit – vergeblich.

Mag sein, dass Couperus nur einen Weg sah, den „in der Seele wuchernden Unterschied“ zwischen Europäern und Einheimischen zu überwinden – den einer intimen Begegnung. in den Kindern aus beiden Kulturen ließe sich so etwas wie Hoffnung festmachen. Aber sie werden verachtet und verleugnet: Auf den sinnlichen Addy (Mingus Dagelet) werden alle Vorurteile projiziert; der illegitime Sohn Oudijcks wird totgeschwiegen. Als der blonde, „reinblütige“ Theo von seinem Halbbruder erfährt, führt seine Rebellion zum finalen Umsturz: Er wirft den Stuhl um, an dem sein Vater sich festgehalten hat, das Instrument der Weltordnung und des Realitätsverlustes. Jip van den Dool spielt in dieser Szene bravourös die mühsam im Zaum gehaltene innere Wut des jungen Mannes, die sich nun endlich Bahn brechen kann.

Die Jugend macht die Heuchelei und die Verdrängungsspiele der Alten nicht mehr mit – auch das ein Krisensymptom. Ein anderes manifestiert sich in der Sekretärin von Oudijck, Eva Eldersma. Maria Kraakman verkörpert eine gebildete Frau, die den Abgrund spürt. Sie fühlt „die Kraft, die gegen die ganze Westlichkeit vorgeht“. Sie registriert, wie hohl die europäische Kultur an der Schwelle des Ersten Weltkriegs tönt: „Das Kunstgetue ist eine Seuche ….“. Dem Fremden, Unwirklichen, das mit Mücken, Termiten und Kakerlaken das westliche Gebäude unterminiert, hat sie nichts entgegenzusetzen.

Eine pessimistische Sicht, die sich im 20. Jahrhundert und bis heute bitter bewahrheiten sollte. Eva wird das Land verlassen, hin zu europäischen Zielen, die eher in Träumen und Visionen einer dynamischen Kultur eine Rolle spielen – wie Paris. Dass sie zum Abschied den „Feuerzauber“ aus Wagners „Walküre“ spielt, ist bezeichnend: Die „Götterdämmerung“ wird nicht auf sich warten lassen.

So wird Peter van Kraaijs Couperus-Adaption zu einer bitteren Bestandsaufnahme, die aber auch als Appell gelesen werden kann: Ein Appell zur europäischen Selbstbesinnung und für ein Reinforcement europäischen Selbstbewusstseins. Simons ist mit dieser Produktion der Toneelgroep Amsterdam, die noch bis Februar 2016 in Amsterdam und bei einem Gastspiel in Antwerpen zu sehen ist, eine wichtige Entdeckung gelungen. Ein gutes Zeichen für die beiden nächsten Jahre.




„Sein Bayreuth war Europa“: Meyerbeers „Vasco da Gama“ an der Deutschen Oper Berlin

"Vasco da Gama" von Giacomo Meyerbeer, Regie: Vera Nemirova, Premiere am 4.10.2015, Deutsche Oper Berlin, Foto: Bettina Stöss

Szenenbild aus „Vasco da Gama“ von Giacomo Meyerbeer (Foto: Bettina Stöss)

Für Giacomo Meyerbeer hat die Deutsche Oper Berlin einen großen Namen aus der Regieszene aufgeboten: Vera Nemirova, die einen gefeierten Frankfurter „Ring“ verantwortete und in der Region 2013 mit „Tristan und Isolde“ in Bonn auf sich aufmerksam gemacht hatte, wagte sich an „Vasco da Gama“ – früher bekannt unter dem verfälschenden Titel „Die Afrikanerin“ („L’Africaine“).

Die letzte große Oper des aus Berlin stammenden Komponisten – ein Jahr nach seinem Tod 1865 uraufgeführt – erlebte einen Tag nach der großen Wiedervereinigungsfeier eine umjubelte, wenn auch nicht unumstrittene Premiere.

Ein sinniges Datum: Während die Staatsoper im Schillertheater den 25. Jahrestag der Wiedervereinigung mit einer Premiere von Richard Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“ und damit mit so etwas wie einer deutschen Nationaloper beging, richtete das Haus an der Bismarckstraße mit Meyerbeer den Blick auf die internationale Musikszene des 19. Jahrhunderts: „Sein Bayreuth war Europa“ titelt ein Kongressbericht über Meyerbeer. Da ist viel Wahres dran.

Der gebildete Intellektuelle aus jüdischer Familie hat seine Karriere in Italien und Paris gemacht. Er steht als „der“ europäische Komponist des 19. Jahrhunderts für einen Musikbegriff, der sich von der nationalen Verengung der Musiktheorie seiner Zeit absetzt: ein internationaler Zug, der deutsche Tradition mit den Stilmitteln des italienischen Belcanto verbindet. Und der die moderne, von Eugéne Scribe und Daniel François Esprit Auber mit seiner „La Muette de Portici“ (1828) konkretisierte Form der großen historischen Oper perfekt auf den Betrieb der Pariser „Opéra“ und den Geschmack ihres Publikum zuschnitt.

Der Erfolg gab Meyerbeer recht; die Polemik – mit Wagner an vorderer Stelle – reagierte wütend: Ein Jude, so die krude These von damals, könne letztlich keine tiefe Musik schreiben, da der Kern wahrer, schöpferischer Musik immer im „Nationalen“ zu finden sei.

Giacomo Meyerbeer nach einem Porträt von Joseph Kriehuber.

Giacomo Meyerbeer nach einem Porträt von Joseph Kriehuber.

Heute sind solche Urteile zum Glück Geschichte – noch nicht historisch ist allerdings, dass Meyerbeer allmählich aus den Spielplänen verdrängt wurde. Inzwischen haben seine bedeutenden Werke wieder ihren Ort gefunden – wenn auch nicht im Zentrum des Repertoires, so doch auf einem geachteten Randplatz.

Berlin, Meyerbeers Heimat und langjähriger Wirkungsort – auf dem jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee ist er auch begraben – startet nun einen ehrgeizigen Versuch, die Rezeption auf höchstem Niveau wieder anzustoßen: In den nächsten drei Jahren ist an der Deutschen Oper ein Zyklus geplant, der mit „Vasco da Gama“ begonnen hat, im nächsten Jahr mit „Les Huguenots“ in der Regie Stefan Herheims fortgesetzt und 2017 mit „Le Prophète“ beendet wird.

Missbrauch des Glaubens

Nicht nur in „Vasco de Gama“ bilden Macht und Missbrauch des Glaubens einen zentralen Aspekt der geistigen Problematik. In der Nürnberger Inszenierung der „Hugenotten“ hatte das Regisseur Tobias Kratzer deutlich gemacht; auch Stefan Otteni fokussierte sich in seiner Braunschweiger Inszenierung des „Propheten“ in der letzten Spielzeit auf den Missbrauch der Religion im Mahlstrom der Macht. Und die bevorstehende Premiere von „Le Prophète“ am Staatstheater Karlsruhe am 18. Oktober wird zeigen, wie Kratzer seine Sicht auf dieses bestürzend aktuelle Werk präzisiert.

In „Vasco da Gama“ geht Meyerbeer mit diesem Thema weniger explizit um. Aber Nemirova will den Blick auf die unterschwellige Frage des Gottesbegriffs richten. Und auf die Rolle von Glauben für die Figuren. Vasco da Gama etwa stürmt in Felduniform auf die Bühne und in die Schar der Offiziere am Hof des portugiesischen Königs in ihren Galauniformen: der dynamische, aktive Eroberer gegen die beharrenden Vertreter eines Status Quo.

Jens Kilian konkretisiert in seinem Bühnenbild, wie unterschiedlich die Welt-Träume der Protagonisten sind: Für Ines, die in Vasco unsterblich verliebt ist, dient das aufrecht stehende Halbrund einer Weltkugel mit einer Zeichnung Afrikas und des Indischen Ozeans als Projektions- und Erinnerungsfläche. In ihrer das Stück einleitenden Arie spielt sie mit Papierschiffchen, malt die gedachte Route Vascos in die „neue Welt“ mit Kreide nach.

Für den königlichen Rat senkt sich das Halbrund und bildet einen Konferenztisch: Hier geht es um das Abstecken von Macht und Terrain, um Kontrolle und Einfluss – und die Vertreter der Kirche, von Marie-Thérèse Jossen in realistische Soutanen gesteckt, mischen kräftig mit. Scribes Libretto zeichnet sie, bestätigt von Meyerbeers Musik, als Prinzipienreiter. Der auf Erfahrung basierenden Argumentation des Seefahrers setzen sie die einfache Feststellung entgegen, er sei eben ein Ketzer: ein Totschlagargument im wahrsten Sinn des Wortes.

„Unsterblichkeit“ durch Ruhm und große Taten

Den statischen, die bestehenden Verhältnisse bestätigenden Gottesbegriff der Kleriker kontrastiert Meyerbeer mit der dynamisch-schwärmerischen Vorstellung Vascos: Er strebt nach „Unsterblichkeit“, aber in einem strikt diesseitigen Sinn. Die Garantie dafür sind Ruhm und unerhörte Taten. Dafür ist er bereit, alles zu opfern. Als er nach der gescheiterten Umrundung eines berüchtigten Kaps, gefangen im Bauch des Schiffs seines Rivalen Don Pedro, in die Hände der „Wilden“ gerät, ist seine größte Sorge nicht, das Leben zu verlieren, sondern den Ruhm. Unter allen Umständen soll die Nachricht, er habe als erster unbekanntes Land betreten und ein fremdes, exotisches Reich entdeckt, die Heimat erreichen.

Doch Meyerbeer hütet sich, seine Figuren schwarz-weiss zu zeichnen. Vasco etwa ist, wie in seiner berühmten Arie „Ô Paradis“ im vierten Akt zu hören, sensibel für die Schönheit und den Wert des Landes, auch wenn er im zweiten Teil in marschartigem Rhythmus das Gelüst des Eroberers ausspricht: Mein soll es sein, das Paradies. Nélusko, der verschlagene und gewalttätige Exponent des bisher unbekannten indischen Volkes, Begleiter seiner gefangenen Königin Sélica, zeigt bestürzenden Fanatismus und Fremdenhass.

Meyerbeers Analyse ist so scharf wie zeitlos und weit davon entfernt, ein idealisiertes Naturvolk auf die Bühne zu bringen. Im Missbrauch des Transzendenten für das Spiel der Macht sind sich Europäer und Inder gegenseitig nichts schuldig. Die Anrufung der Hindu-Götter im vierten Akt ist als große Show zu verstehen und wird auch so inszeniert: Exoten-Folklore in Weiß und Orange.

Die Stärke von Nemirovas Regie zeigt sich – darin entspricht sie ihrem Frankfurter „Ring“ – in der sensiblen Zeichnung intimer Begegnungen: zwischen Sélica und Vasco im vierten, im Duett der unglücklichen Frauen Sélica und Ines im fünften Akt. Schwach geraten Massenszenen und Tableaus: Da setzt Nemirova auf großflächige Bewegungs- und Bildregie, die aber nicht expressiv vertieft wirkt. Der dritte Akt mit seinen episodischen Momenten, mit Matrosenchören und Ines‘ erzwungener Hochzeit misslingt, weil sich die Regie nicht zwischen Stilisierung und Aktualisierung entscheidet. Und weil Jens Kilians Bühne mit drehbaren Elementen, die hier zu Segeln werden, keinen imaginativen Reiz entwickelt.

Problematisches Ende bleibt offen

Die Fernost-Piraten, die das aufs Riff gelaufene Schiff entern, sind Dritt-Welt-Kriminelle von heute, die den Portugiesen mit MG und Uzi den Garaus machen. Wenig erhellend auch Details wie die erzwungene Einkleidung Sélicas als Nonne oder die Vergewaltigung einer als Ordensschwester camouflierten Frau, deren schwarze Tracht aufreizende Dessous verbirgt. Néluscos berühmte Ballade vom Meeresriesen Adamastor degeneriert zu einer komisch-parodistischen Nummer. Zu Recht gab es nach diesem dritten Akt Buhs und Gelächter.

Das problematische Ende der Oper – Meyerbeer konnte es nicht mehr endgültig konzipieren – lässt Nemirova offen: In den letzten Takten von Sélicas langem Abschiedsgesang flutet eine Menschenmenge die Bühne, die indische Königin wird in einem symbolhaften, in Orange- und Rottönen wabernden Viereck versenkt. Aus ihm entspringt Vasco als junger Uniformierter mit Landkarte und Rucksack: der Urtyp des Eroberers, der als Militär oder als Backpacker kommt?

Die gewaltige Aufgabe, Meyerbeers Partitur in Klang umzusetzen, schultern Dirigent Enrique Mazzola und das Orchester der Deutschen Oper sowie der stark geforderte und nicht immer souverän treffsichere Chor und Extrachor unter William Spaulding. Meyerbeers aparte Kunst der Instrumentation und des expressiven Einsatzes von Klangfarben ist bei den Solisten des Berliner Orchesters in guten Händen – vom tintig dräuenden Fagottquartett über den „schmutzigen“ Klang des damals hochmodernen Sax-Hornes bis hin zu den raffinierten Kombinationen klassischer Orchesterinstrumente.

Mazzola geht dem manchmal episodischen Charakter von Meyerbeers Musik eher nach als der Konstruktion großer dynamischer Bögen; auch die Tempi könnten zupackender, die Phrasierung entschiedener ausfallen. Gegen Mazzolas temperamentloses und unentschiedenes Dirigat kann sich die Konkurrenz von Enrico Calesso (Würzburg 2011) und Frank Beermann (Chemnitz 2013) bestens behaupten.

Der Sänger-Star des Abends ließ sich ansagen: Roberto Alagna war im Kampf gegen eine Infektion hörbar indisponiert. Zu hören war aber auch, dass er, sofern gesundet, einen respektablen Vasco da Gama gestalten könnte.

Markus Brück stellt einen imponierenden Nélusco auf die Bühne: subtil und farbig in zurückgenommenen Momenten, dröhnend expansiv in der Gewalt und im Triumph. Clemens Bieber bewältigt die kleinere, aber wichtige Rolle des Don Alvar wie stets stimmschön und mit bewusstem Einsatz gestalterischer Mittel – dieser Tenor ist für die Deutsche Oper eine sichere Stütze des Ensembles. Seth Carico gibt den Don Pedro mit flutendem, manchmal etwas zu weit hinten positioniertem Bass; Andrew Harris als Don Diego, Dong-Hwan Lee als Großinquisitor und Albert Pesendorfer als Oberpriester der Inder ergänzen das Ensemble anstandslos und klangschön, ebenso Irene Roberts in ihren paar Sätzen als Dienerin Anna.

Nicht so überzeugend die Damen: Sophie Koch in der prominenten, herausfordernden Partie der Sélica hat zwar eine wunderschön sitzende Stimme, einen ebenmäßig polierten Ton und ein füllig-feines Timbre, aber zu wenig Farben, um die Facetten von hingebungsvoller Liebe bis hochfahrender Herrscherinnen-Arroganz, von Großmut bis Wehmut zu beglaubigen. Das differenzierte Schlaflied des zweiten Aktes ist lediglich schön gesungen; die Selbstreflexion der verlassenen, sich opfernden Frau unter dem giftigen Manzanillobaum in ihrem Spektrum von Resignation bis Ekstase gelingt Sophie Koch bewegender. Nino Machaidze als Ines demonstriert entschiedenen Willen zur Gestaltung, zeigt schimmernde, wenn auch zu wenig frei schwingende Höhen; im Zentrum jedoch bleibt die Stimme seltsam klangarm und ist von der kräftigen Amplitude eines metallisch klirrenden Vibrato gestört.

Gott und Glaube: Vera Nemirova stellt sich im Programmheft großen Fragen, löst die Erwartungen aber nicht ein. Sie bleibt zu sehr an den Szenen hängen statt sie zugunsten einer übergreifenden Idee konzeptionell zu bändigen.

Dennoch: Die Deutsche Oper setzt mit dieser Meyerbeer-Premiere einen Impuls, der hoffentlich auch andere Häuser anregt, sich mit diesem prägenden Musiktheater des 19. Jahrhunderts und seiner Aktualität zu befassen. Zum Beispiel in der Rhein-Ruhr-Region: Da hat zuletzt das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen 2008 mit der „Afrikanerin“ einen Versuch unternommen – damals noch auf der Basis alten Materials. Mit der neuen, in Berlin verwendeten kritischen Edition von Jürgen Schläder liegt nun – wie auch für andere wichtige Opern Meyerbeers – eine ausgezeichnete Grundlage vor; die Theater müssen nur noch zugreifen!

Informationen: http://www.deutscheoperberlin.de/de_DE/calendar/vasco-da-gama.12676793




Den „Piefke“ gab es wirklich: Vom Heldennamen zum Schmähbegriff

Johann Gottfried Piefke. Zeitgenössisches Porträt, entstanden vor seinem Todesjahr 1884.

Johann Gottfried Piefke. Zeitgenössisches Porträt, entstanden vor seinem Todesjahr 1884.

Der „Piefke“ gilt als österreichisches Schimpfwort für den typischen preußischen Großkotz: arrogant, besserwisserisch, militaristisch. Doch wer glaubt, das Wort sei nur ein typisierender Sammelname für all die unsympathischen Zeitgenossen nördlich der Mainlinie, der irrt.

Den Piefke gab es wirklich: Johann Gottfried Piefke war ein preußischer Militärmusiker von hohem Ansehen. Der Komponist von „Preußens Gloria“, heute noch ein beliebter Marsch, wurde vor 200 Jahren, am 9. September 1815 in Schwerin an der Warthe im damaligen Kreis Posen geboren.

Ins österreichische Schimpfwörterverzeichnis geriet Piefke, glaubt man den legendarisch verbrämten Erzählungen, ohne eigenes Zutun: Der fast Zwei-Meter-Mann sei bei der Siegesparade nach der österreichischen Niederlage bei Königgrätz 1866, abgehalten auf dem Marchfeld bei Gänserndorf, mit seinem ebenso langen Bruder Rudolf an der Spitze der vereinigten Musikkorps einmarschiert. „Die Piefkes kommen“, sollen da die Soldaten und die Wiener Schlachtenbummler gerufen haben. Seither hat sich der „Piefke“ zum Synonym für den halb belustigenden, halb bedrohlichen Deutschen entwickelt.

Johann Gottfried Piefke war damals schon über ein Jahr lang „Director der gesamten Musikchöre des III. Armeekorps“; ein einmaliger Titel, den vor und nach ihm niemand mehr getragen hat. Wilhelm I. ehrte damit den Schöpfer der beiden Düppeler Märsche, des „Düppeler Sturm Marsches“ und des „Düppel-Schanzen-Sturm-Marsches“. Beide entstanden im Schleswig-Holsteiner Krieg 1864 gegen Dänemark. Bei der Erstürmung der Düppeler Schanzen, so eine weitere Piefke-Legende, soll der Königliche Musikdirektor mit Beethovens Yorck’schem Marsch den Sturm begleitet haben – mit dem Degen dirigierend. Damals war Preußen mit den Habsburgern verbündet. Piefke erhielt die Goldene Medaille des Kaisers von Österreich-Ungarn, Theodor Fontane würdigte den „Tag von Düppel“ mit einem Gedicht – den Musiker eingeschlossen: „‘Vorwärts!‘ donnert der Dirigent, Kapellmeister Piefke vom Leibregiment.“

So eindeutig, wie solche Erzählungen wollen, ist die Zuordnung des „Piefke“-Begriffs zu dem preußischen Militärkapellmeister freilich nicht. Vorher schon verwendet etwa der Berliner Schriftsteller Adolf Glaßbrenner die Kunstfigur in diversen satirischen Publikationen. So annonciert er etwa im „Komischen Volkskalender für 1849“ die „nächste deutsche Kunstausstellung“, unter anderem mit dem Bild „Rellstab, an einer Tonne Weißbier dichtend … Hintergrund Die Villa Piefke bei Tivoli“. Oder er vermerkt für den 6. Mai: „Der Bürger, Schlächtergesell Piefke, heirathet die frühere Fürstin von Dämelhagen-Mottenau-Schimmelburg-Strohfelde-Pilzethal“. Im „Kladderadatsch“ stellt Glaßbrenner den Piefke neben satirische Figuren wie Strudelwitz und Pudelwitz oder Schulze und Müller.

In Wien rangierte „Piefke“ derweil als Wiener Grantler, wie Piefke-Forscher Hubertus Godeysen in seinem Buch „Piefke. Kulturgeschichte einer Beschimpfung“ niedergelegt hat. Im Duett mit Pufke zog er in der Zeitschrift „Der Humorist“ über Tagesereignisse her – und die Sottisen wurden offenbar so populär, dass sogar Johann Strauß senior nach den beiden Figuren eine Polka benannt hat. Nach der Niederlage von Königgrätz änderte sich das: Piefke mutierte zum Zerrbild eines preußischen Großmauls. Im Dritten Reich stand in der „angeschlossenen“ Heimat des „Führers“ der „Piefke“-Spottname unter Strafe: Bußgelder und Haftstrafen sollten die Schmähung eindämmen – mit wenig Erfolg, wie die Urteile und die medialen Aufforderungen zum Wohlverhalten belegen.

Der originale Piefke konnte freilich nichts dazu. Er nutzte sein ererbtes musikalisches Talent für die Weiterentwicklung der preußischen Militärmusik. Mit 19 Jahren trat er als Hoboist beim Leibgrenadier-Regiment Nr. 8 in Frankfurt an der Oder an. Drei Jahre später schickte man den begabten Jungen zum Studium an die Berliner Musikhochschule. 1843 zu seinem Regiment zurückgekehrt, ging er mit diesem 1852 nach Berlin, wo sein Talent schnell bekannt wurde: Die Militärmusik bestritt damals unter anderem Platzkonzerte, Bälle, Festkonzerte und viele andere Gelegenheiten mit populärer musikalischer Untermalung. Piefke beherrschte so gut wie alle Instrumente, die in seiner Kapelle benutzt wurden, und feilte unermüdlich daran, den Klang der Militärmusik zu verbessern. Ab 1860 war wieder Frankfurt/Oder sein Wirkungsort, wo er 1884 starb und unter hohen militärischen Ehren auf dem Alten Friedhof – heute der Kleistpark – beigesetzt wurde.

Piefke schrieb über 60 Märsche, unter ihnen als die bekanntesten den „Königgrätzer Marsch“, „Preußens Gloria“ und den „Kaiser-Wilhelm-Siegesmarsch“. Seine beiden Düppeler Märsche waren in Berlin Gassenhauer. In der Musikszene war Piefke hochgeschätzt. Hans von Bülow schrieb über ihn: „Seine aufgeführten Werke von Beethoven und Wagner waren Leistungen, wie sie in dieser Sphäre meisterhaft nicht einmal gedacht werden können und gereichen dem Dirigenten und der Kapelle zur höchsten Ehre.“ Zu den Bayreuther Festspielen 1876 erhielt er als einziger Militärmusiker eine Einladung. Schon im Juli 1876 soll er bei einem Platzkonzert in Frankfurt/Oder Teile aus dem „Rheingold“ in eigener Bearbeitung dem begeisterten Publikum vorgestellt haben. An dem gebildeten Feingeist in Uniform lag es also nicht, dass sein Name bis heute in Österreich herhalten muss, wenn es um deutsche Unkultur geht.




Festspiel-Passagen III: Katharina Wagner beleuchtet „Tristan und Isolde“ im Geist der Zeit

An der Leiche Tristans (Stephen Gould): Isolde (Evelyn Herlitzius) und Brangäne (Christa Mayer). Foto: Enrico Nawrath

An der Leiche Tristans (Stephen Gould): Isolde (Evelyn Herlitzius) und Brangäne (Christa Mayer). Foto: Enrico Nawrath

Von wegen ertrinken und versinken in des Weltatems wehendem All. Katharina Wagner holt „Tristan und Isolde“ ihres Urgroßvaters aus Wellen und Wogen, Düften und Lüften der Metaphysik gnadenlos herunter in das desillusionierende Ergebnis einer Dreiecksgeschichte: König Marke, ein senffarben gekleideter Pate mit Hut und Pelzkragen, zerrt Isolde weg von der Leiche Tristans, stößt sie im Hintergrund aus dem Raum. Aus der Traum.

Die immer noch junge Wagnerin, demnächst wieder „Alleinherrscherin“ am Grünen Hügel, hat sich in ihrer mit Spannung erwarteten Regiearbeit – die erste seit dem Mainzer „Tiefland“ 2011 – konsequent allem verweigert, was die Geschichte in jene ahnungsvoll-kunstreligiösen Sphären driften ließe, die Wagnerianer so innig lieben. Passend zitiert das Programmheft aus Thomas Manns „Leiden und Größe Richard Wagners“: „Es gibt kein Christentum, das doch als historisch-atmosphärisch gegeben wäre. Es gibt überhaupt keine Religion. Es gibt keinen Gott, – niemand nennt ihn, ruft ihn an.“ Genau: Es gibt nur diese entsetzliche, unerbittliche, zehrend-sehrende, allgewaltige Liebe.

Man könnte nun, um die „Religion“ zu retten, mit wagnerischem und mit gut christlichem Hintergrund einwenden, dass eben genau diese unbedingte, anarchische Liebe, die den Anderen und nichts sonst im Blick hat, das Göttliche, Transzendente präsent setze. Ist der Gott Jesu Christi nicht der Gott, der von sich behauptet, die Liebe selbst zu sein? Lässt uns nicht die Liebe für den Moment der ekstatischen Vereinigung all-eins werden, untertauchend, verhauchend im wehenden All? Ist dann der Tod nicht alles andere als eine absolute Lebensgrenze, sondern eine transformierende Macht? Nein. Bei Katharina Wagner sind die Wege zur Liebe Labyrinthe, die nicht umsonst an Giovanni Battista Piranesis monströse „Carceri“ erinnern, ereignet sich die „Nacht der Liebe“ im grellen Punktlicht der Suchscheinwerfer auf Gefängnismauern, gebiert der Sehnsuchtsschrei der Liebe im dritten Aufzug nur Wahn und Trug im undurchdringlich grauschwarzen Nebel von Kareol.

Souverän geleuchtet: Reinhard Traub taucht den ersten Aufzug in ein beklemmendes Zwielicht. Foto: Enrico Nawrath

Souverän geleuchtet: Reinhard Traub taucht den ersten Aufzug in ein beklemmendes Zwielicht. Foto: Enrico Nawrath

Reinhard Traub hat diese hoffnungslosen Bilder souveränn ausgeleuchtet – vom schummrigen Chiaroscuro des ersten bis zum stickigen Dampf des dritten. Wenn das Zwielicht im ersten Aufzug mehr als Konturen freilegt, schweben vier Personen vor einer an M.C. Escher erinnernden Raumkonstruktion – nur ist deren absurde Logik in willkürlich wirkende Konstellationen von Treppen, Brücken, Gängen und Pfeilern aufgelöst. Isolde ist dem „Eigenholde“ wie eine wilde Megäre auf der Spur, aber Stege fahren weg und unterbrechen Gänge; Treppen, die bisher im Nichts endeten, haben plötzlich Anschluss in begehbaren Raum.

Als die beiden endlich zusammenkommen, ist sofort klar: Ein Liebestrank ist nicht vonnöten, hier herrscht die pur brennende Leidenschaft. Kreisförmig verbinden sich die Arme, das Elixier wird in die Tiefe gekippt. Isolde setzt sich den Brautschleier auf, der sie wie eine Zwangsjacke umschließt; wie von Sinnen zerreißen ihn die beiden dann: Tristans bedachtsam-bedrückte Zurückhaltung verwandelt sich, dem Puls der Musik folgend, in enthemmte Raserei.

Blau, die Farbe der Romantik, in den Kostümen Thomas Kaisers für Tristan (Stephen Gould) und Isolde (Evelyn Herlitzius). Der "Liebestrank" wird weggeschüttet. Foto: Enrico Nawrath

Blau, die Farbe der Romantik, in den Kostümen Thomas Kaisers für Tristan (Stephen Gould) und Isolde (Evelyn Herlitzius). Der „Liebestrank“ wird weggeschüttet. Foto: Enrico Nawrath

Für den zweiten Akt konkretisieren die Bühnenbildner Frank Philipp Schlößmann und Matthias Lippert die Dreiecksform: Tiefschwarze Mauern umgrenzen ein Gefängnis, auf ihrer Krone patrouillieren die gelben Gefolgsleute Markes. Sie richten ihre „Zünden“ auf das Paar, das unter eine Zeltplane in einer Ecke die Geborgenheit sucht. Eine „Nacht“, die nur im Wunschdenken existiert: Das Paar schmückt seine Zuflucht mit künstlich leuchtenden Sternchen wie zwei Teenies, die in ihr selbst gebasteltes kleines Paradies flüchten.

Der Ausweg, der sich öffnet, ist ein projizierter: Tristan und Isolde stehen Seit‘ an Seite und blicken auf ferne, schattenhafte Gestalten am Ende eines Tunnels. Die „Nacht der Liebe“ – eine bloße Vorstellung, ein schwarzes Irrlicht in der ausweglosen Gefangenschaft der Welt. Die Liebenden erkennen das: An den Metallgerippen, die sie wie eine stählerne Klammer zu umschließen beginnen, reißen sie sich die Arme blutig.

Aber der Tod kommt nicht – den spendet erst Melot mit einem Springmesser. Der Einbruch Markes ist ein Fanal der Brutalität. Von dem milden König mit der balsamischen Stimme ist nur letztere geblieben: Georg Zeppenfeld – er verbrachte seine ersten Bühnenjahre in Münster und Bonn – ist der stimmschönste Sänger des Abends. Sein Monolog ist eine Wohltat, nicht weil er mit Timbre und Stimmführung ästhetische Erwartungen erfüllt, sondern weil er mit den Mitteln des Gesangs seinen Charakter expressiv ausdeutet. Er lässt hinter dem schönen Ton die Heuchelei, die Abgründigkeit des Willens zur Gewalt erkennen.

Szene aus dem dritten Aufzug. Foto: Enrico Nawrath

Szene aus dem dritten Aufzug. Foto: Enrico Nawrath

Tot, alles tot: Die unbehausten Männer, die da zu Beginn des dritten Teils in undurchdringlichem Nebel um eine Leiche kauern, erinnern an die Gruppe der „fremden“ Holländer-Mannen in Katharina Wagners erster Inszenierung in Würzburg 2002. Sie haben Tristan schon mit roten Grablichtern umstellt; das Warten auf ein Schiff zieht sich quälerisch lange hin, die Englischhorn-Elegien klingen nicht mehr elegisch-bukolisch, sondern depressiv und trauernd.

Tristans Lösung aus dem Kreis des Todes ist nurmehr eine Vision. In magischen Licht-Dreiecken erscheinen ihm Isolden, aber sie sind nicht lebendig: Es sind geisterhafte Gestalten, die bei Berührung zu Staub und Lumpen zerfallen, ins Dunkel stürzen, den Kopf verlieren. Auch Markes Erscheinen trägt irreale Züge: Unvermittelt knallt grelles Licht auf ein gelbes Dreieck, gebildet aus seinen Leuten. Erschütternd real ist nur das Ende: Der „Liebestod“ dürfte für Isolde ein dauerhaftes Sterben in der giftigen Welt Markes werden, der „sein Weib“ an sich gerissen hat.

Katharina Wagner dekonstruiert radikal und konsequent, was Richard sich noch philosophisch zurechtgemacht hatte: die transzendierende Macht der Liebe, die lösende Macht des Todes. Bei ihr bleibt nicht einmal der Glaube einer säkularisierten Kunstreligion. Die Liebesnacht – ein Pubertätstraum; die Liebesverklärung – eine Elendsprojektion. Das ist Moderne in der Endphase: nicht illusions-, sondern visionslos. Aus der bedrückenden Brutalität herrschender Machtverhältnisse gibt es nicht einmal mehr den Tod als Ausweg. Eine glaubenslose Welt verhärtet in der nihilistischen Macht des Faktischen. Der „Holländer“ Harry Kupfers, vor dreißig Jahren an gleichem Ort, lässt grüßen.

Überragend als König Marke: Georg Zeppenfeld. Foto: Enrico Nawrath

Überragend als König Marke: Georg Zeppenfeld. Foto: Enrico Nawrath

Oblag es also Christian Thielemann wenigstens musikalisch an Traditionen anzuknüpfen, die Transzendentalität des „Tristan“ wenigstens musikalisch zu retten? Mitnichten. Zwar liegen Welten zwischen der analytischen Auffassung, die etwa sein zum Antipoden hochstilisierter Kollege Kirill Petrenko vertritt, und Thielemanns sinnlich-gelöst fließender, großbogiger Interpretation. Aber der neue „Musikdirektor“ Bayreuths spielt nicht einfach die Rolle des „deutschen Kapellmeisters“ nach. Die Jahrzehnte, die ihn von Furtwängler und Knappertsbusch trennen, sind vernehmbar: Das Bayreuther Festspielorchester klingt frei, schlank und strömend, selbst die großen Aufschwünge rauschen nicht bassdonnernd über die Sänger hinweg.

Thielemann arbeitet am Detail, sorgt für rhythmische Präzision und für genaue Phrasierungen – etwa bei den Bläsern des Beginns des zweiten Aufzugs. Aber er hat auch eine Tendenz zum Weichzeichnen: Die fiebrige Ekstase des dritten Aufzugs war im letzten Bayreuther „Tristan“ bei Peter Schneider entschiedener, schutzloser zu erleben.

Auch Thielemanns Hang zur schönen Stelle fordert wieder ihren Tribut, wenn er das Tempo verlangsamt, um einen Übergang, einen pastos sinnlichen Augenblick, ein harmonisches Raffinessement auszustellen. Sicher, damit markiert er musikalisch wichtige Momente – aber manchmal bedarf es schon Thielemann’schen Tiefblicks in die Partitur, um den Verdacht der Willkür zu entkräften. Die „Buhs“, die ihm am Premierenabend entgegenschallten, hatten wohl andere Gründe als die der Leistung des Dirigenten Thielemann. Vielleicht mag als Hinweis genügen, dass sein Parkplatz mit dem hübschen Schild „Reserviert für Musikdirektor C. Thielemann“ und dem berühmten Porsche drauf ein vor der Vorstellung viel fotografiertes Motiv war.

Immer wieder gern fotografiert: Der Parkplatz mit dem Schild "Reserviert für Musikdirektor C. Thielemann". Foto: Werner Häußner

Immer wieder gern fotografiert: Der Parkplatz mit dem Schild „Reserviert für Musikdirektor C. Thielemann“. Foto: Werner Häußner

Wagners Oper als eine Herausforderung zu bezeichnen, ist für die Sänger alles andere als ein Gemeinplatz: Vor der Uraufführung in München vor 150 Jahren, galt sie als unsingbar. Der plötzliche Tod des Tristan, Ludwig Schnorr von Carolsfeld, galt lange als Beleg für die „mörderische“ Rolle – der jene der Isolde nicht nachsteht. So ist das Publikum in der Regel gewillt, jede auch noch so unvollkommene Darbietung mit dankbarem Beifall zu bedenken. Anders ist etwa der Jubel für Evelyn Herlitzius wohl kaum zu erklären: Ihre Isolde macht im Temperament der Attacke, in der wuchtigen Entschlossenheit des Spielens, in der mörderischen, gellenden Anstrengung der Töne nur annähernd wett, was ihr an Schliff und Schmelz fehlt. Ihr Vibrato ist das einer dramatischen Stimme in der Endphase, wie schon ihre „Isolde“ am Aalto-Theater in Essen 2013 nahegelegt hatte. Ihre Artikulation lässt weite Teile des Textes in der Sinuskurve kaum fokussierter Töne verschwinden. Das Publikum raste: Was zählt, ist die Exaltation, das unmittelbar theatrale Ereignis, nicht mehr die Kunst des formvollendeten Singens. Der überragende Georg Zeppenfeld erhielt nicht annähernd so viel Beifall.

Christa Mayer hielt sich als Brangäne tapfer und mit großem Ton neben den Eruptionen der Herlitzius. Ihr Profil bleibt im Konzept Katharina Wagners randständig: Ihre gehemmte Zerknirschung im dritten und ihre verzweifelte Sorge im ersten Aufzug sind deutlich ausinszeniert, lassen sie dennoch nicht aus dem Schatten einer Nebenfigur heraustreten.

Stephen Goulds Tristan dürfte momentan schwer zu übertreffen sein. Die Ökonomie des Krafteinsatzes, die gelöst gesungenen Momente des Elegischen und des Innerlichen, die klug disponierten Ausbrüche des dritten Aufzugs sind eine Klasse für sich. Iain Patersons rustikaler Bassbariton passt zu einem Kurwenal, der salutierend sein Bekenntnis zu Tristan hinausruft.

Raimund Nolte als schlangenhaft-eleganter Melot, Tansel Akzeybek – der „Nemorino“ des Jahres 2014 am Aalto – überzeugt als sicherer Hirt und als Steuermann. Kay Stiefermann – der Wuppertaler „Holländer“ – als handfester Steuermann ergänzt das Ensemble mit markanter Stimme.

Als Hirt und Junger Seemann in Bayreuth: der "Nemorino" des Jahres 2014 am Aalto-Theater Essen, Tansel Akzeybek. Foto: Enrico Nawrath

Als Hirt und Junger Seemann in Bayreuth: der „Nemorino“ des Jahres 2014 am Aalto-Theater Essen, Tansel Akzeybek. Foto: Enrico Nawrath

Was in Bayreuth ausblieb, ist die Sensation. Kein Skandal, keine Empörung, keine revolutionärer Umsturz der Tristan-Rezeptionsgeschichte. Was sich einstellte, ist viel mehr: Katharina Wagner und ihr Team verbinden eine durchdachte, wirkungsvolle Bildsprache mit einem tragfähigen Konzept jenseits genialisch daherkommender Ausflüsse dekonstruktivistischer Ideologien, assoziativ arbeitenden Material-Fetischismus‘ oder privatmythologischer Verstiegenheit. Der „Tristan“ ist eben eine zeitlose Geschichte, die soeben in Bayreuth im Geist der Zeit beleuchtet wird.

Am Freitag, 7. August, wird die Inszenierung Katharina Wagners live aus dem Bayreuther Festspielhaus in viele Kinos in Deutschland, Österreich und der Schweiz live übertragen. Beginn ist um 16 Uhr, ab 15.45 Uhr gibt es ein Vorprogramm.

Info über die Kinos in der Region: http://www.wagner-im-kino.de/land/deutschland/de-NW

Der Bayerische Rundfunk bringt auf BR Klassik die Übertragung als Live-Stream am 7. August ab 16 Uhr. Aus rechtlichen Gründen ist dieses Angebot nur in Deutschland verfügbar. Der Videostream ist bis 31.12.2015 nachzuschauen.

Info: www.br.de/radio/br-klassik/themen/bayreuther-festspiele-br-sendungen100.html

Am Samstag, 8. August, 20.15 Uhr, wird „Tristan und Isolde“ in 3sat gezeigt.

Info: http://www.3sat.de/page/?source=/musik/182785/index.html




Auto des Wirtschaftswunders: Vor 60 Jahren feierte Volkswagen die erste Million

Die Belegschaft feierte: Eine Million Volkswagen waren am 5. August 1955 in Wolfsburg vom Band gelaufen. Foto: Volkswagen AG

Die Belegschaft feierte: Eine Million Volkswagen waren am 5. August 1955 in Wolfsburg vom Band gelaufen. Foto: Volkswagen AG

Zehn Jahre nach Kriegsende. Das Wirtschaftswunder war in vollem Gang. Endlich konnte man sich wieder etwas leisten. Für viele Deutsche rückte der Traum vom eigenen Auto in greifbare Nähe. Und dieser Traum hatte eine Form: rundlich, bucklig, wie ein kleines Insekt. Am 5. August 1955 feierte Wolfsburg ein Fest: Eine Million Volkswagen waren vom Band gelaufen – die meisten von ihnen von dem Modell, das später als „Käfer“ weltberühmt wurde. Im Ruhrgebiet sorgten die fröhlich knatternden Wagen da schon für die ersten Staus …

Die „New York Times“ beschrieb schon 1938 eine kühne Vision: Bald sollten, so der Artikel, die deutschen Autobahnen „Tausende und Abertausende von glänzenden kleinen Käfern“ bevölkern. Ein eingängiges Bild: Bänder durch die Landschaft, auf denen lauter metallene Käferchen entlangkrabbeln. Der Begriff „Käfer“ für den deutschen „KdF“-Wagen wurde wohl mit diesem Vergleich geschaffen.

Es sollte allerdings bis weit nach 1945 dauern, bis das Auto auf den Straßen zum Alltag gehörte. Im Krieg war an die von Hitler angedachte Massenproduktion des „Volkswagens“ nicht zu denken. Und nach 1945 kam die Produktion nur allmählich in Gang. Erst ab 1946 konnten Privatpersonen – gegen Bezugsschein – einen Volkswagen kaufen. 5.000 Mark kostete er – je nach Kaufkraftberechnung wären das heute um die 20.000 Euro.

Der goldene Jubiläums-Käfer von 1955, heute ausgestellt im Zeithaus der Autostadt in Wolfsburg. Foto: Volkswagen AG

Der goldene Jubiläums-Käfer von 1955, heute ausgestellt im Zeithaus der Autostadt in Wolfsburg. Foto: Volkswagen AG

Die Herstellung des robusten und sparsamen Wagens in der typischen Buckelform und mit dem geteilten Fenster im Heck („Brezelkäfer“) kam richtig in Schwung, als im Werk Wolfsburg die Kriegsschäden beseitigt waren, die Währungsreform 1948 für neuen Schwung sorgte und der Export in die USA startete.

Fast 20.000 Fahrzeuge verließen im Reformjahr 1948 die Fabrik, für die Hitler mit großem Propaganda-Getöse 1938 den Grundstein gelegt hatte. Dass 1955, am 5. August vor 60 Jahren, der einmillionste Volkswagen vom Band lief, unterstreicht die Erfolgsgeschichte des Wagens, der wie kaum ein anderes Produkt zum Symbol für das Wirtschaftswunder und den sozialen Aufstieg breiter Bevölkerungsschichten wurde. Den Jubiläums-VW, einen 30-PS-Käfer, überzog von Goldstaub durchsetzter Lack; die Chromteile trugen geschliffene Steine aus Südamerika: Sichtbares Zeichen des Stolzes der Autobauer auf ihren Erfolg.

Meistgebautes Auto der Welt

Bis 1973 entwickelte der VW-Konzern das Modell weiter, das in den sechziger Jahren – wohl in Abgrenzung zu anderen Volkswagen-Typen wie dem VW 1500, der 1961 auf den Markt kam – auch in Deutschland „Käfer“ genannt wurde.

Als am 1. Juli 1974 der letzte seiner Art mit der Nummer 11 916 519 in Wolfsburg vom Band lief, wurde das in der Öffentlichkeit als Ende einer Epoche wahrgenommen. Fast zwölf Millionen „Volkswagen Typ 1“ – wie der Käfer intern hieß – sind dort hergestellt worden. Schon 1972 erreichte der Käfer den Rang des meistverkauften Autos der Welt: Er löste Fords Modell T „Tin Lizzy“ auf diesem Platz ab. Heute nimmt ihn der Nachfolger des Käfers, der VW Golf, ein.

Dennoch: Die Geschichte des motorisierten Krabbeltiers ist noch nicht zu Ende. Die Form ist einfach zu einzigartig, zu attraktiv, um sie im Design-Archiv verschwinden zu lassen. Bis 1978 baute VW den Käfer in Emden weiter, danach belieferte Volkswagen de México mit in Puebla produzierten Wagen den deutschen Markt. Bis 1980 baute Karmann in Osnabrück die Cabriolet-Version – sie war lange Zeit das erfolgreichste Cabrio der Welt! Erst 1985 bot Volkswagen in Deutschland keine Käfer mehr an. Produziert – und hin und wieder von Importeuren auch in Deutschland angeboten – wurde das Erfolgsmodell noch bis 2003: Der letzte von 21.529.464 gebauten Käfern ist im „Zeithaus“ der Autostadt in Wolfsburg ausgestellt.

Unsterbliches Design

Bis heute lebt das Design in veränderter Form weiter: Mit dem Werbeslogan „Eine Legende wird erwachsen.“ bietet VW den „Beetle“ als „Kultauto“ in einer modernen Form an. Erst im April hat Volkswagen auf der New York International Auto Show vier neue Versionen präsentiert. Im November 2014 hatte VW den Beetle und das Beetle Cabriolet mit fünf verschiedenen modernen EU-6-Motoren vorgestellt. Umgerechnet kostet der Wagen, ausgestattet mit modernster Technik, heute nicht mehr als sein Urahn im Jahr 1946: Wer einen der nur noch dezent buckligen Beetles fahren will, ist ab 18.000 Euro dabei.

Nicht mit zu verkaufen sind Gefühle. Das nostalgische Fahrgefühl, das Schwelgen in Erinnerungen verbinden sich nur mit den Modellen aus der Kindheit und Jugend derer, die den Käfer in seinen Glanzzeiten erlebt haben. Wer denkt noch an den Stolz über das erste Auto in den fünfziger Jahren, das Hochgefühl, mit einem vollgepackten Volkswagen zum ersten Mal über die Alpen ins Sehnsuchtsland Italien in den Urlaub zu fahren, die Freude am chromblitzenden Gefährt, das jeden Samstag poliert und gewienert wurde?

Rund 50.000 alte Käfer sind noch fahrbereit; das charakteristische Knattern des alten, zuverlässigen VW-Motors in den Straßen ist selten geworden.




An der Schwelle der Moderne: Vor 125 Jahren starb Vincent van Gogh an einem Schuss

Vincent van Gogh: Ein Selbstporträt mit grauem Filzhut von 1887. Das Bild gehört dem van Gogh Museum Amsterdam. Bis 6. September ist es in der Ausstellung "Van Gogh + Munch" im Munch Museum Oslo zu sehen. Foto: Van Gogh Museum, Amsterdam (Vincent van Gogh Foundation)

Vincent van Gogh: Ein Selbstporträt mit grauem Filzhut von 1887. Das Bild gehört dem van Gogh Museum Amsterdam. Bis 6. September ist es in der Ausstellung „Van Gogh + Munch“ im Munch Museum Oslo zu sehen. Foto: Van Gogh Museum, Amsterdam (Vincent van Gogh Foundation)

Seine Sonnenblumen, sein Selbstbildnis, seine Sternennacht: Bilder, die ins kollektive Gedächtnis eingegangen sind. Millionenfach reproduziert, weltbekannt. Vincent van Gogh, der niederländische Pfarrerssohn und exzentrische Außenseiter, gehört heute zu den populärsten Meistern am Beginn der Moderne – und zu den teuersten Malern im internationalen Kunstmarkt.

1987 wurden knapp 40 Millionen Dollar für eines seiner Sonnenblumenbilder gezahlt; drei Jahre später legte ein japanischer Sammler für das „Porträt des Dr. Gachet“ über 82 Millionen Dollar hin. Erst vor drei Wochen wurde bei Christie’s das frühe Aquarell der „Laakmolen“ bei Den Haag von 1882 für 2 Millionen Pfund versteigert.

Van Gogh war nicht zum Maler geboren. Erst mit 27 Jahren, im Herbst 1880, entschied er sich, Stift und Pinsel zu den Werkzeugen zu machen, mit denen er künftig seinen Lebensunterhalt verdienen – und mehr noch, sich selbst ausdrücken wollte. Die nötigen Kenntnisse eignete er sich selbst an. Er kopierte Zeichnungen und Drucke, um zu lernen, genoss gelegentliche Unterweisungen, etwa von seinem Cousin Anton Mauve. Sein Bruder Theo van Gogh kam für seinen Lebensunterhalt auf und erhielt dafür einen großen Teil von Vincents Werken.

Von der Theologie zur Kunst

Die nur 37 Jahre seines Lebens begannen mit einer Kindheit in Brabant, die van Goghs Liebe zur Natur weckten; mit einer schwierigen, mit 15 Jahren beendeten Schulzeit des eigenbrötlerischen Jungen; mit unglücklicher junger Liebe und der Suche nach einem Beruf.

Die Lehre bei einem bedeutenden Kunsthandel ging schief, weil van Gogh als Verkäufer ungeeignet war. In London fühlte er sich einsam, in Paris kapselte er sich ab und beschloss, ein Studium zu beginnen. An seinen Bruder Theo schreibt er: „Ich wäre unglücklich, wenn ich nicht das Evangelium predigen könnte … wenn ich nicht meine ganze Hoffnung und all mein Vertrauen auf Christus gesetzt hätte …“. Doch fand er die Theologie an der Universität einen „unbeschreiblichen Schwindel“, gab das Studieren auf und besuchte ein Laienprediger-Seminar in Brüssel.

Ging für zwei Millionen Pfund bei Christie's weg: Vincent van Goghs "Laakmolen bei Den Haag", ein Aquarell aus dem Jahr 1882. Foto: Christie's

Ging für zwei Millionen Pfund bei Christie’s weg: Vincent van Goghs „Laakmolen bei Den Haag“, ein Aquarell aus dem Jahr 1882. Foto: Christie’s

Eingesetzt als Hilfsprediger im Steinkohlerevier bei Mons in Belgien, identifiziert er sich bis hin zu einer bettelarmen Lebensweise stark mit den Arbeitern. Er malt die einfachen Menschen; er verschenkt Lohn, Lebensmittel, Kleider. Wohl auch, weil er radikal an die Ränder der Gesellschaft ging, wurde seine Anstellung nicht verlängert. Die Zurückweisung ist einer der Gründe, warum sich van Gogh vom Christentum abwandte, zeitlebens aber ein religiös und sozial sensibler Mensch geblieben ist.

In Brüssel, unterstützt von Bruder und Eltern, versucht er, sich zum Maler heranzubilden, besucht Museen, beginnt zu zeichnen. Entscheidend für van Goghs künstlerische Entwicklung ist die Begegnung mit der Kunst des Impressionismus im Paris der Jahre 1886 bis 1888. Van Gogh lebt dort bei seinem Bruder Theo und lernt später berühmt gewordene Maler kennen, von Alfred Sisley über Henri Toulouse-Lautrec bis Paul Gauguin.

Der Einfluss japanischer Farbholzschnitte beeinflusst seine Malweise: Er verzichtet auf Körper- und Schlagschatten und trägt die Farben, wie er selbst schreibt, „flach und einfach“ auf. Die japanische Kunst empfindet er aufregend neu: „Ist, was uns die Japaner zeigen, nicht einfach eine wahre Revolution…?“, schreibt er. Die Bilder von Eugène Delacroix bestärken ihn, seine Farbwahl zu ändern: Er verwendet nun kräftige und helle Farben, die sich gegenseitig verstärken.

Diese Einflüsse und sein gereifter persönlicher Stil führten zu der typischen Malweise, die wir heute mit van Gogh verbinden. Im Februar 1888 flieht der Maler aus Paris nach Arles: Psychisch angeschlagen, genervt von den Streitereien der Malerkollegen, strapaziert von der hektischen Großstadt und zermürbt von Absinth-Exzessen versucht er in Südfrankreich, zu sich selbst zu finden. In Arles will er in der Natur reine, intensive Farben finden, wie sie ihn interessieren: die „schönen Gegensätze von Rot und Grün, von Blau und Orange, von Schwefelgelb und Lila“.

Intensive Farben, symbolische Gegenstände

Van Gogh wählt für seine Bilder nicht mehr die natürlichen Farben der Gegenstände oder der Landschaft. Er entwickelt stattdessen für jedes Bild ein Farbschema, mit dem er eine „gute Wirkung“ erzielen will. Die Farben stehen – wie auch Gegenstände im Bild – für eine symbolische Aussage: „Ich habe versucht, mit Rot und Grün die schrecklichen menschlichen Leidenschaften auszudrücken“, schreibt er etwa zu seinem Bild „Das Nachtcafé“ von 1888. Auch seine Malweise ändert sich: Der dicke Farbauftrag macht die Pinselstriche sichtbar, neben die glatt aufgetragenen treten gestrichelte Farben, die van Gogh in Wellen oder rhythmischer Bewegung anordnet. Dass er seine Bilder schnell und ohne zu überlegen gemalt hat, ist eine Legende. Vielen Motiven gingen intensive Studien voraus.

Das van Gogh Museum Amsterdam. Es zeigt ab 25. September die Ausstellung "Munch - van Gogh". Foto: Rene Gerritsen/van Gogh Museum Amsterdam

Das van Gogh Museum Amsterdam. Es zeigt ab 25. September die Ausstellung „Munch – van Gogh“. Foto: Rene Gerritsen/van Gogh Museum Amsterdam

Eine der van-Gogh-Legenden ist auch, dass ihn plötzliche Wahnsinn befallen und er sich sogar ein Ohr abgeschnitten habe. Vermutlich hat er sich lediglich im Rausch am Ohr verletzt. Dass van Gogh psychisch angeschlagen war, hat er selbst in den letzten Lebensjahren als zunehmend belastend erlebt.

Im Mai 1889 ließ er sich in der Nervenheilanstalt Saint-Rémy-de-Provence unterbringen, im Mai 1890 zog er nach Auvers, wo er Patient des heute sehr kritisch betrachteten Arztes Dr. Gachet wurde. Dort entstanden in einem Schaffensrausch rund 140 Werke.

Vor 125 Jahren, am 27. Juli 1890, schoss sich Vincent van Gogh wohl selbst eine Kugel in den Körper. Neue Biographen bezweifeln jedoch die Selbstmord-These. Sie ziehen einen Unfall oder sogar eine Tötung durch einen anderen in Betracht. Zwei Tage später starb er an der Verletzung. Entgegen landläufiger Meinung war van Gogh zum Zeitpunkt seines Todes ein im Kreis seiner Kollegen höchst anerkannter Maler.

Das van Gogh Museum Amsterdam würdigt seinen Namensgeber im 125. Todesjahr mit zahlreichen Veranstaltungen. Ab 25. September ist dort die Ausstellung „Munch – van Gogh“ zu sehen, die Ähnlichkeiten zwischen beiden Malern und den Einfluss van Goghs auf die Entwicklung von Edvard Munch thematisiert. Info: http://vangogheurope.eu/event/munch-vangogh/




Festspiel-Passagen II (München): Die Gruberova zehrt nur noch vom früheren Glanz

Die Mechanismen der Macht lassen kein Erbarmen zu: In Donizettis "Roberto Devereux" ist Elisabetta (Edita Gruberova) eine Gefangene. Foto: Wilfried Hösl

Die Mechanismen der Macht lassen kein Erbarmen zu: In Donizettis „Roberto Devereux“ ist Elisabetta (Edita Gruberova) eine Gefangene. Foto: Wilfried Hösl

Eine der üblichen Dreiecksbeziehungen? Nicht ganz: In Gaetano Donizettis „Roberto Devereux“ muss eigentlich von einem „Viereck“ gesprochen werden, denn Sara, das eigentliche Opfer der unheilvollen Konstellation, wird von ihrem Mann Nottingham aufrichtig geliebt – und diese Liebe, verbunden mit gekränkter Ehre, ist für das nachtschwarze Ende dieser immer noch unterschätzten Oper entscheidend, die jetzt bei den Opernfestspielen in München mit Edita Gruberova als Königin Elisabeth I. von England im Spielplan stand.

Aber auch zwischen den anderen Personen geht es nicht um die schwärmerische, romantische Liebe: Die Königin, einsam den Zwängen der Macht und des Hofes ausgeliefert, sehnt sich nach jemandem, dem sie vertrauen, bei dem sie Mensch sein darf. Dem Grafen von Essex, Roberto Devereux, auch historisch eine schillernde Figur, wurde einst seine Liebe durch die Politik genommen. Er ist kein Zyniker der Macht, sondern eher ein charmanter Charismatiker, dem das Glück gewogen war – und den jetzt seine Fortune verlassen hat. Mit Elisabetta verbinden ihn eine zu hingabevoller Freundschaft abgekühlte erotische Anziehung, der Reiz der Macht und eine joviale Vertrautheit mit einer Spur zu wenig Respekt. Sage nochmal jemand, Belcanto-Oper habe nichts mit dem wirklichen Leben zu tun ….

Donizetti und sein Librettist Salvatore Cammarano destillieren das historische Sujet aus der Regierungszeit Elisabeths I. zu einer knapp und schlagkräftig gefassten fiktiven Geschichte über die heillose Geworfenheit von Menschen in eine Welt, in der das Kalkül der Macht selbst dem zaghaften Widerschein von Liebe eine kranke Farbe gibt.

Ein pessimistisches Nachtstück. Donizetti gibt ihm – manchmal möchte man meinen in ironischer Absicht – zum Teil den leichten, beweglichen Ton des Rossini’schen Idioms. Umso beklemmender schlagen die Momente aufs Gemüt, in denen Donizetti das expressive Spektrum einer emotional geladenen musikalischen Sprache einsetzt: Im Duett zwischen Sara und dem Herzog von Nottingham klingen schon die Racheschwüre von Verdis „Rigoletto“ auf.

Ein Vorhof der Hölle: Herbert Murauers Bühne - hier im Finale von "Roberto Devereux". Foto: WIlfried Hösl

Ein Vorhof der Hölle: Herbert Murauers Bühne – hier im Finale von „Roberto Devereux“. Foto: WIlfried Hösl

In seiner Münchner Inszenierung behaupten Christof Loy und sein Bühnen- und Kostümbildner Herbert Murauer die Gegenwärtigkeit des Werks. Das funktioniert in der Führung des Chores und der Personen nicht mehr so eindrucksvoll präzis wie bei der Premiere vor elf Jahren; auch die szenischen Chiffren sind nicht mehr so punktgenau gesetzt. Murauers unpersönlich gestaltete Lobby scheint noch dunkler und dunstiger geworden zu sein: ein unheimlicher Unort.

Aber immer noch bewegt sich der Star des Abends, Edita Gruberova, mit der ihr eigenen szenischen Präsenz in diesem Höllenvorhof. Ihr Selbstbewusstsein, gestützt von einem Margaret-Thatcher-Kostüm, kippt rasch: Im dritten Akt schleppt sie sich nur noch wie automatisch über die Bühne, selbst im Stürzen stößt ihr Flehen nach einer menschlichen Regung nur auf Gleichgültigkeit. Sara, die „Rivalin“, erreicht sie nicht einmal mehr kriechend für eine Geste der Versöhnung. Ein immer noch wirkmächtiges Bild existenzieller Verlorenheit.

„Roberto Devereux“ ist seit der Premiere der Pachterbhof der Gruberova, die 2004 die weibliche Hauptrolle mit fulminantem Feuer kreiert hatte. Das ist schade, denn es verstellt den Blick auf den Wert der Oper und rückt sie in die Nähe des „Primadonnen-Vehikels“. Und die Staatsoper tut implizit so, als gäbe es außer der Slowakin niemanden, der diese Partie auf adäquatem Niveau singen könnte. Dabei hat der umjubelte Abend während der Münchner Opernfestspiele erneut erbarmungslos offenbart, dass sich Edita Gruberova inzwischen heillos übernimmt. Die einstige Königin des Belcanto verrät den „schönen Gesang“ an die Reste einer Stimme, die ihren einstigen Glanz nur noch ahnen lässt.

Gutes Singen ist keine Geschmacksfrage

Warum tut sie sich das an? Warum wirft sie sich mit allen Mitteln, die ihr Technikreste und Erfahrungsschätze verfügbar machen, einem Publikum vor, das zu Recht ihre Lebensleistung bejubelt, das sich aber auch gierig auf den Star stürzt und sich am Mythos von einst sattfrisst? Es mag für diese Unfähigkeit, würdig Abschied zu nehmen, ganz prosaische Gründe geben; einer der poetischen wäre, dass Edita Gruberova einfach die Rampe braucht, den Glanz des Lichts, den Jubel ihrer Fans. Verständlich, aber auch traurig.

Und nein: Singen ist keine Geschmacksfrage und die technische Gestaltung einer Rolle kein Willkürakt. Wer das behauptet, verrät jede Tradition des Belcanto und diskreditiert alle die Sängerinnen und Sänger, die sich mit Hingabe und Beharrlichkeit bemüht haben und bemühen, Technik, Stil und Ausdrucksvermögen gleichgewichtig auszubilden.

Es wäre jetzt müßig, ein Buchhaltungsverfahren zu eröffnen über all die unscharf intonierten Töne der Gruberova, über ihre gezogenen Höhen oder ihre mühevoll platzierten Piani, über Tempo-Willkür oder unstete Tonbildung. Unstreitig ist: Sie hat eine intime Kenntnis der Rollen, die sie gestaltet. Sie schöpft aus einem immensen Vorrat an Erfahrungen, an Gestaltungswissen. Aber sie hat – Fluch der Zeitlichkeit des Menschen – nicht mehr die natürlichen und die technischen Voraussetzungen, um Partien wie die der Elisabetta zu erfüllen.

Der Bariton Franco Vassallo. Im Herbst singt er in München Amonasro ("Aida") und die Titelrolle in "Rigoletto". Foto: Bayerische Staatsoper München

Der Bariton Franco Vassallo. Im Herbst singt er in München Amonasro („Aida“) und die Titelrolle in „Rigoletto“. Foto: Bayerische Staatsoper München

Man mag das in Zeiten, in denen lyrische Mezzosoprane sich eine „Norma“ historisch informiert zurechtstutzen, für unerheblich halten. Man mag den Wandel in der Gesangskultur, der in allen Generationen stattgefunden hat, gleichgültig hinnehmen. Man mag unter dem Vorzeichen postmodernen Pluralismus‘ Gruberovas mühsames Abbilden einer Rolle für eine akzeptable Alternative halten. Anything goes. Aber all diese Wege müssen eines aushalten: Sie müssen sich der Kritik stellen. Und die kann im Falle Gruberovas bei allem Wohlwollen nur dann über die eklatanten Defizite weghören, wenn sie sich die Gegenwart im Glanz der Vergangenheit vergoldet.

Auch diese Kritik ist in die Primadonnen-Falle geraten, nur diesmal aus gutem Grund. Ungerecht ist das gegenüber denen, die in diesem „Roberto Devereux“ Beachtliches, ja sogar Hervorragendes geleistet haben. Der Bariton Franco Vassallo zum Beispiel, der als Herzog von Nottingham eine sorgfältig gebildete, schön timbrierte und zu expressiver Schattierung fähige Stimme zeigt. Sonia Ganassi, die ihre Sara zwar eher mit veristischer Wucht als mit stilistischem Schliff anlegt, aber die entsetzliche Hilflosigkeit ihrer aussichtlosen Lage berührend vermittelt. Alexey Dolgov, der seit seinem Auftritt in Rossinis „Tancredi“ in Berlin (2012) eine Karriere im Westen aufbaut und für Roberto einen kräftigen, manchmal etwas unsicher positionierten, eher robusten als feinsinnigen Tenor mitbringt.

Francesco Petrozzi (Lord Cecil), Goran Jurić (Sir Gualtiero), Andrea Borghini (Page) und Philipp Moschitz (Giacomo) ergänzten das Ensemble; der Chor der Bayerischen Staatsoper unter Stellario Fagione hatte mit den empfindlichen Piano-Momenten keine Probleme. Das routiniert aufspielende Orchester leitete Friedrich Haider, der seiner Dame auf der Bühne noch in jedem metrischen und rhythmischen Manierismus eine zuverlässige Stütze war.

Edita Gruberova wird in München im April 2016 dreimal, bei den Opernfestspielen einmal am 13. Juli 2016 die Titelrolle in Donizettis „Lucrezia Borgia“ singen. Info: www.staatsoper.de

 




„Klassische“ Musik als europäisches Phänomen: Zum Abschluss des Klavier-Festivals Ruhr

Riesenerfolg für den Pianisten Igor Levit beim Klavier-Festival Ruhr. Foto: Felix Broede

Riesenerfolg für den Pianisten Igor Levit beim Klavier-Festival Ruhr. Foto: Felix Broede

Das mit dem „nordischen Ton“ ist so eine Sache: Das Klavier-Festival Ruhr baute rund um die 150. Geburtstage von Jean Sibelius (mehr) und Carl Nielsen (weniger) ein Programm, um die großen Meister Skandinaviens zu ehren. Verdienstvolle Konzerte verwiesen auf die hierzulande kaum bekannte lebendige Musikszene im 18. und 19. Jahrhundert, zu der etwa Ture Rangström oder Wilhelm Stenhammer gehörten. Musiker aus dem Norden wie Olli Mustonen und Ketil Haugsand waren zu Gast.

Aber im Endeffekt zeigte sich, wie die Wege der Musik doch einem gemeinsamen Zentrum zustreben, sich nationalen Grenzen und „Stilen“ verweigern. „Klassische“ Musik ist ein europäisches Phänomen – eine Erkenntnis, die all den nationalen Aberrationen trotzt: Musik hat immer Brücken gebaut, selbst in Zeiten schlimmsten Nationalismus‘ und kulturellen Chauvinismus‘. Wagner hat eben nicht recht, sondern Meyerbeer: Nicht aus dem wie auch immer gearteten „Nationalen“ kommt der innerste Quell von Kreativität, Originalität und Inspiration, sondern aus der lebendigen Verbindung von Völkern, Sprachräumen und Nationen.

Dem widerspricht auch nicht, dass es musikalische Charakteristika und Ausdrucksformen gibt, die sich mit bestimmten Landstrichen verbinden. Ein Ländler ist keine Polka – aber beide sind international geworden. Und die „Volksmusik“, die etwa Jean Sibelius, der schwedische Finne mit dem französischen Vornamen und dem deutschen Studium benutzt, hat ein „Volks“-Idiom, das man möglicherweise auch in Galizien oder der Schweiz wiederfinden könnte.

Mit dieser Aufnahme der letzten Klaviersonaten Beethovens gewann Igor Levit den Jahrespreis der deutschen Schallplattenkritik. Die Verleihung fand statt im Rahmen des Abschlusskonzerts. Coverabbildung: Sony Classical

Mit dieser Aufnahme der letzten Klaviersonaten Beethovens gewann Igor Levit den Jahrespreis der deutschen Schallplattenkritik. Die Verleihung fand statt im Rahmen des Abschlusskonzerts. Coverabbildung: Sony Classical

Insofern hat das Abschlusskonzert des Klavier-Festivals in der Essener Philharmonie bestätigt, dass der „Nordische Ton“ in einen europäischen Kontext gebettet ist. Carl Nielsen schrieb die eröffnende „Helios“-Ouvertüre in Griechenland; ihr Thema ist nicht etwa die Mitternachtssonne, sondern der Lauf des Sonnenwagens, den die griechische Mythengestalt Helios über das Firmament lenkt. Und das Aufdämmern der tiefen Streicher aus dem Nichts, der kraftvolle Einsatz der Hörner, das langsame Crescendo im Wellenspiel der Streicher ruft Erinnerungen an Wagners „Lohengrin“ wach – oder an E.T.A. Hoffmanns Oper „Aurora“.

Das WDR Sinfonieorchester war trotz der Feldherrnpose seines Dirigenten, des Finnen Hannu Lintu, noch etwas befangen im Klang. Hörner und Violinen mussten sich locker spielen, fanden dann aber in Edvard Griegs Klavierkonzert zu schwingender Freiheit. Die breite Einleitung des Adagios strömte gelassen und klangschön dahin; die träumerische Atmosphäre, getragen von den gedämpften Streichern, wurde nicht durchbrochen. Anders in den rhythmisch geprägten beiden letzten Sätzen: Da setzte Lintu schon einmal auf den Effekt eines scharf und präzise geschnittenen Tutti und ließ die Klangwogen über dem Pianisten zusammenschwappen.

Der Pianist war Igor Levit: Noch keine dreißig Jahre alt, gehört er zu den jungen Leuten in der Szene, die seit Jahren die schönsten Erwartungen nähren – und immer wieder übertreffen. Für Edvard Grieg zieht er erst einmal das Jackett aus: Am heißesten Tag des Jahres soll die Etiquette nichts beeinträchtigen, was der Musik dient.

Levit ist keiner, der etwas „zeigen“ müsste; er kann es sich leisten, den markanten Solo-Einstieg nicht narzisstisch zu zelebrieren, sondern selbstbewusst hinzustellen, um dann den kleinen Formen nachzuspüren, eine Arabeske nachsinnend statt spielerisch zu formulieren, die Momente Liszt’schen Glanzes zu verinnerlichen, ohne dem riesigen Crescendo hin zu den markigen a-Moll-Akkorden des Satzschlusses seine Wirkung zu nehmen.

Levit ist auch in den folgenden Sätzen ein Mann der leisen Töne, der klanglichen Delikatesse, der klugen dialogischen Balance mit dem Orchester. Sympathisch seine Zugabe, die „Peter Grimes Fantasy on themes from the opera by Benjamin Britten“ aus dem Jahr 1971 als Hommage an den im März verstorbenen schottischen Komponisten Ronald Stevenson, dem sich Levit sehr verbunden fühlt.

Nochmal der nordische Ton, diesmal gefasst in Sibelius‘ Zweiter. Man fragt sich zunächst, warum es wieder einmal die populärste seiner sieben Sinfonien sein musste, hatte das Konzert doch schon mit Griegs Klavierkonzert den offenbar unverzichtbaren „Reißer“. Dann fragt man sich, warum Hannu Lintu trotz seines akkuraten Schlags manche Kanten weichzeichnet, während er die majestätischen Ausbrüche und die fahlen Holzbläser-Episoden richtig spektakulär ausspielen lässt. Die Frage nach der Folklore verweist auf die Orgelpunkte und Liegetöne, die man auch in anderen als den nordischen Traditionen findet.

Und wenn missgünstige, koboldige Bläser eine warme Dvořák-Idylle stören, könnte man sich auch in Böhmen wähnen. Dort, wo Gustav Mahler seine Wurzeln hat, dessen zerrissene Sinfonik die episodenhafte Materialverarbeitung und die Abbruchmomente bei Sibelius vorausahnen lassen. Das WDR Sinfonieorchester gibt sein Bestes, ob in den fantastisch ausgehörten Klangfarben der Holzbläser oder in den Momenten des Messingglanzes, ob in der Transparenz der Balance der Gruppen oder im Kontrast abrupter Brüche und kantabel entwickelter Bögen.

Jahrzehntelang verbunden: Martha Argerich und Misha Maisky

Tags zuvor entzückte wieder Martha Argerich ihre zahlreichen Fans in Essen, diesmal im Bunde mit dem Cellisten Misha Maisky und einem nicht-nordischen, erst kurz vor dem Konzert veröffentlichten Programm. Beethovens Variationen über „Bei Männern, welche Liebe fühlen“ aus Mozarts „Zauberflöte“ sind ein hübsches Einspiel-Stück’l. Die sieben Veränderungen des poetischen Themas zeugen davon, wie zwei Musiker im Lauf eines jahrzehntelangen Zusammenwirkens wie selbstverständlich aufeinander eingehen, sich in Nuancen abstimmen, aber auch einmal – wie ein altes Ehepaar – dem Anderen ins Wort fallen oder einfach über ihn weggehen.

Misha Maisky und Martha Argerich nehmen den Beifall entgegen. Foto: Peter Wieler / KFR

Misha Maisky und Martha Argerich nehmen den Beifall entgegen. Foto: Peter Wieler / KFR

Argerich zeigte ihre weichen Läufe, ihren diskret perlenden Ton, ihr elegisches Cantabile. Maisky räumte ihr chevaleresk elegante Vortritte ein, bemühte sich um einen noblen, zurückhaltenden Ton. Die folgende Schostakowitsch-Sonate d-Moll (op.40) wirkte manchmal ein wenig unbekümmert dahingespielt – und Martha Argerich erschrak auch mal neckisch, wenn sie sich vergriffen hat. Bei solchen Musikern wäre freilich selbst ein Spielen „prima vista“ aufregender als bei anderen wochenlang geübtes Kunsthandwerk. Da muss nichts mehr bewiesen werden: Der diskrete Klavierton in seinen expressiven Qualitäten nicht, der dicht-gesangliche Klang des Cello auch nicht.

Das zweite Allegro der Sonate beschwört in seinen wild-perkussiven Elementen auch einen „Volkston“, aber Schostakowitsch lässt Ironie mitschwingen – wie im vierten Satz, wo er eine Reihe von Final-Manierismen auf die Schippe nimmt. Die bedeutende Violinsonate César Francks – hier in einer Fassung für Cello – wollte trotz der Kontraste zwischen Lyrizismen und gesteigerten Erregungszuständen nicht recht für sich einnehmen: Maisky fand nicht zu einem gelösten, freien Ton; er verharrte in heiserer Anstrengung zumal in der Höhe. Argerich spielte wie auf einer Zauberharfe aus Glas und Elfenbein. Aber beides wollte sich nicht zu einem organischen Ganzen verbinden, das die Aufmerksamkeit hätte fesseln können. Jubel und drei Zugaben.

 

 




„Ein Stück von sich schenken“: Zum 75. Geburtstag der Sängerin Helen Donath

Sie war nie die strahlende Diva, aber auch nie ein schüchternes Mauerblümchen; sondern stets eine Sängerin, die mit Stimme und Karriere verantwortungsvoll und vorsichtig umgegangen ist. Und so kommt es, dass Helen Donath am heutigen 10. Juli ihren 75. Geburtstag feiern kann und nach wie vor singt. Bis gestern stand sie als Mrs. Grose in Robert Carsens Inszenierung von Benjamin Brittens „The Turn of the Screw“ auf der Bühne des Wiesbadener Staatstheaters.

Eine Rolle, die sie im Frühjahr auch in Köln gesungen hat, wo ihre Laufbahn vor 53 Jahren begonnen hatte. Die Texanerin Helen Janette Erwin, geboren in Corpus Christi, bekam 1962 ihr erstes europäisches Engagement am Kölner Opernstudio. Damals hatte die 22jährige jedoch schon eine lange Ausbildung hinter sich.

Helen Donath (Foto: Wikipedia Commons/DEDB - Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/)

Helen Donath (Foto: Wikipedia Commons/DEDB – Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/)

Begonnen hat alles, so erzählte sie einst August Everding in einer seiner berühmten „da capo“-Sendungen, mit dem Film „The great Caruso“ von 1951. Helen wollte singen wie Mario Lanza im Film und eignete sich die Tenor-Arien an. Als sie 14 war, gastierte George London in ihrer Heimatstadt – und sie nahm sich ein Herz und sang ihm „Vesti la giubba“ vor – das ergreifende Solo des Canio aus Ruggiero Leoncavallo „Pagliacci“. London muss ziemlich irritiert gewesen sein: Er fragte das Mädchen, was für ein Stimmfach sie denn sei, und Helen antwortete, ziemlich hilflos, mit einem Begriff, den sie vom Programmheft von Londons Konzert abgeschaut hatte: „I am a lady baritone“.

Eine derart exotische Stimme wurde Helen Donath zwar nicht – aber sie entwickelte sich zu einer der führenden lyrischen Sopransängerinnen, vornehmlich im deutschen Fach. Eine Position, der ihr 40 Jahre lang nur wenige streitig machten. George London übrigens traf sie in Köln wieder – auf der Bühne: Er sang in Wieland Wagners „Ring“-Inszenierung den Wotan, sie die zweite Rheintochter. Lange blieb sie nicht in Köln; Rollen wie Liú in Puccinis „Turandot“ oder Micaëla in Bizets „Carmen“ waren nicht das Richtige für die junge Stimme, die unter der Obhut von Londons Lehrerin Paola Novikova behutsam reifen sollte.

In Hannover debütierte sie 1963 in Mozarts „Zauberflöte“ als Pamina – eine Rolle, die für ihre Laufbahn prägend werden sollte. Schon ein Jahr später stellte sie sich mit dem sensiblen Porträt einer gefühlvoll-selbstbewussten jungen Frau bei den Salzburger Festspielen vor.

Mozart sollte ein ständiger Begleiter ihrer Sängerlaufbahn werden: Pamina, Susanna und Zerlina, auch Donna Anna, aber erst im Jahr 2000 Despina („Cosí fan tutte“). Dazu die Sopranpartien in den großen Messen. Donaths Zerlina am Aalto-Theater Essen, die sie in der „Don Giovanni“-Inszenierung von Stefan Herheim zuletzt 2011 gesungen hat, ist in lebendiger Erinnerung: Zerlina als ältere Dame mit Rollator, stimmlich aber jung geblieben und immer noch mit dem hellen, optimistischen Ton, der Helen Donaths anmutigen, feintönigen, stets leuchtend präsent geführten Sopran in ihren Glanzzeiten ausgezeichnet hat.

Hannover wurde auch in anderer Hinsicht bedeutend für die junge Sängerin: Hier lernte sie den Kapellmeister Klaus Donath kennen. Es war „eine Liebe auf den ersten Blick“, sagte sie später. Vor 50 Jahren heirateten die beiden – zum Geburtstag kann also auch Goldene Hochzeit gefeiert werden. Donath half seiner jungen Frau, die Karriere umsichtig aufzubauen. Vor allem aber lernte sie – die in Köln gerade einmal ein paar deutsche Wörter wie „Sauerkraut“ kannte – den Umgang mit der Sprache. Die Texanerin spricht völlig akzentfrei und mit einer Grammatik, um die sie mancher deutschstämmige Gymnasiast beneiden dürfte.

Bei Mozart, aber auch im Liedgesang und in moderner Musik kommt Helen Donath ihr Sprachgefühl zupass: Das Wort steht für sie im Vordergrund. Beim Lernen einer Rolle sei es „das Allererste, dem Text nachzugehen und zu fragen: Was möchte ich ausdrücken?“. Für sie ist es „absolut notwendig, dass das Publikum begreift, was ich ihm im gesungenen Wort vermitteln möchte“. Wer ihre Aufnahmen hört – sie hat wohl mehr als 100 Schallplatten und CDs gemacht –, kann diese Position nachvollziehen: Donath bleibt bei der Artikulation der Texte kompromisslos.

Das zeichnet nicht nur ihre Mozart- und Strauss-Aufnahmen aus. Helen Donath hat sich nicht um neue Musik und nicht um seltene Partien gedrückt. In Köln sang sie in Boris Blachers verschwundener Version des „Romeo und Julia“-Stoffs. In Hannover in Werner Egks ebenso vergessener „Verlobung in San Domingo“. Sie war Luise in Hans Werner Henzes damals brandneuer Oper „Der junge Lord“, sang später auch in Ernst Kreneks „Karl V.“ und in Hans Pfitzners „Palestrina“. Vor neuer Musik hat sie keine Angst: Wer mit Mozart umgehen kann, kann alles singen, ist ihr Bekenntnis. Und mit fortschreitendem technischem Verstehen habe sie auch aktuelle Musik für sich entdeckt – von Aribert Reimann bis John Corigliano.

Helen Donath (rechts) als Mrs. Grose in der Wiesbadener Aufführungsserie von Benjamin Brittens "The Turn of the Screw" in einer für Wien entstandenen Inszenierung von Robert Carsen. Foto: Hessisches Staatstheater Wiesbaden

Helen Donath (rechts) als Mrs. Grose in der Wiesbadener Aufführungsserie von Benjamin Brittens „The Turn of the Screw“ in einer für Wien entstandenen Inszenierung von Robert Carsen. Foto: Karl-Bernd Karwasz / Hessisches Staatstheater Wiesbaden

1967 wechselte sie an die Bayerische Staatsoper München, wo sie in den Folgejahren eine glanzvolle Karriere entfaltete. Sie sang unter George Solti die Sophie im „Rosenkavalier“; Herbert von Karajan holte sie 1970 für seine „Meistersinger“-Aufnahme als Eva. Karajan, so erzählt Donath, wollte keine erwachsene Stimme, sondern ein „Evchen“, naiv, jung und frisch. Erst 16 Jahre nach der Aufnahme hat sie die Partie auf der Bühne gesungen – später unter anderem in Wien und unter Colin Davis in Leipzig.

Als Helen Donath 1970 ihren ersten Münchner Liederabend gab, schwärmte der Kritiker Karl Schumann von „Geschmack und Intelligenz“ und von ihren edelsten vokalen Qualitäten. Ein Urteil, das sich in zahlreichen Lied- und Oratorienaufnahmen nachprüfen lässt. Mit Farbe und Attacke hält sich Helen Donath zurück; vokale Glut oder gar veristische Exaltation sind ihre Sache nicht. Dafür entwickelt sie dramatische Miniaturen aus der Welt des Liedes ganz aus dem Wort und aus der Leuchtkraft eines unbeschädigten Timbres. Auch ihren Strauss-Partien kommt die Sorgfalt in der Formung des Wortes entgegen. In Essen war das zu erleben, als Helen Donath erstmals die Aithra in der „Ägyptischen Helena“ sang, einer Partie, mit der sie 2003 auch in Salzburg großen Erfolg hatte.

Ihre internationalen Engagements führten sie an alle großen Opernhäuser, von London über Mailand und Zürich bis Paris. An der Metropolitan Opera debütierte sie erst 1991 als Marcelline in Beethovens „Fidelio“. In Detroit sang sie die Marschallin im „Rosenkavalier“ mit ihrem Mann Klaus am Pult und in der Regie ihres Sohnes Alexander Donath. An der Wiener Staatsoper debütierte sie 1973 als Pamina und Zerlina, später sang sie auch Sophie, Meistersinger-Eva und zuletzt 2006 Despina in Mozarts „Cosí fan tutte“. Nicht vergessen werden sollten die Operetten, in denen Helen Donath stets geschmackvolle Rollenporträts gestaltet hat.

Helen Donath singt nach wie vor, gibt aber auch Meisterkurse, um ihren reichen Erfahrungsschatz an die junge Generation weiterzugeben. Beim Singen komme es darauf an, die Stimme reifen zu lassen, sagt sie. Mit Sorge sieht sie, wie junge Menschen heute um des schnellen Erfolges willen unfertig auf den Bühnen verschlissen werden. „Das Wichtigste beim Singen ist, ein Stück von sich zu schenken“ – diese Botschaft liegt ihr am Herzen.

Am 23. Oktober 2015 gibt Helen Donath gemeinsam mit ihrem Mann Klaus Donath einen Liederabend in der Düsseldorfer Oper, wo sie wieder einen Meisterkurs mit dem Opernstudio hält. Der Titel des Abends: „Ein glückliches Sängerleben“.




Die Pranke des wilden Bären: Denis Matsuev in der Philharmonie Essen

Aber holla: Wenn Denis Leonidovich Matsuev auftritt, gibt’s für den Steinway kein Pardon. Der in Irkutsk geborene und von seinem Vater unterrichtete Russe verkörpert Eigenschaften, die man gemeinhin mit der „russischen Schule“ verbindet: stählerne Energie, gewaltiger Ton, dräuende Romantik. Und dazu phänomenale Treffsicherheit in Skalen, Grifffolgen, Oktavparallelen und was derlei virtuoses Handwerk noch mehr ist.

Ein amerikanischer Kritiker schrieb über ein Matsuev-Konzert, er habe in seiner fast sechzigjährigen Laufbahn noch nie ein Klavier so laut gespielt erlebt. Nun denn: Matsuev schafft es auch, die Essener Philharmonie so zu erschüttern, dass man in der Stille zwischen den Orkanen besorgt auf mögliches Knirschen der Stahlträger lauscht.

Die Philharmonie in Essen. (Bild: Werner Häußner)

Die Philharmonie in Essen. (Bild: Werner Häußner)

Matsuev wollte sich zunächst nicht als Extrem-Pianist einführen: Mit Peter Iljitsch Tschaikowskys Zyklus „Die Jahreszeiten“ stellte er – passend zum in Deutschland kaum wahrgenommenen 175. Geburtstag des Komponisten – ein mindestens so viel Zartheit wie Zugriff forderndes Werk an den Anfang seines Auftritts beim Klavier-Festival Ruhr. Und enttäuschte alle, die sich von altrussischer Kraft bestätigt sehen wollten. Matsuev spielt mit durchaus kernigem Anschlag; Verzärtelungen sind seine Sache nicht. Aber er gestaltet nicht ohne Poesie: wenig Rubato, aber sorgsam gebildetes Mezzoforte; sanft formuliertes Selbstbewusstsein in den „Weißen Nächten“, poetisch-melodienselige Reminiszenzen an Tschaikowskys Tatjana aus „Eugen Onegin“ in der „Barkarole“.

Natürlich geht es auch zur Sache, wenn Matsuev das „Lied der Schnitter“ (alles andere als „moderato“) als frischfröhlich gedroschenes folkloristisches Intermezzo versteht. Oder wenn er die herbstliche Jagd im „September“ als effektsicheres Schaustück vorführt, bei dem sich das Martellato schon gefährlich nahe an Großvirtuosen wie Skrjabin oder Prokofjew heranhämmert. Im „November“ streift Matsuev gar eine versonnene Melancholie; den „Dezember“-Walzer stattet er mit schwingender Melodik und gekonnten Salon-Fermaten aus. Kein übler Eindruck also zu Beginn; das „Russische“ des Denis Leonidovich scheint durchaus gebändigt und reflektiert.

Auch die kurze cis-Moll-Sonate Alexander Skrjabins (op. 2/1) hätte gefallen können: Matsuev wählt einen entschiedenen, aber nicht dröhnenden Ton, nimmt sich zurück und führt das Auf und Ab der Achtelfigur immer wieder ins Mezzoforte. Das wäre recht schön und schlüssig gewesen, hätte man nicht Benjamin Mosers energetisch dosierte Gestaltung drei Tage vorher in Haus Fuhr in Werden erlebt. Da klangen doch differenziertere Farben mit, da war das Spektrum der Dynamik elaborierter – und so Skrjabins Anweisungen treffender umgesetzt. Aber gut: Matsuev wählt einen „heroischeren“ Ton, sieht in der Etüde eher die geschichteten Akkorde als einen melodischen Verlauf. Ein Beispiel, wie grundverschieden die Zugänge zu einem Stück sein können.

Dann die dis-Moll-Sonate (op. 8, Nr. 12) Skrjabins: Jetzt erfreut sich Matsuev an den Läufen, die er mit machtvollem Bassfundament stützt und rauschend durchzieht. Jetzt zeigt er, wie er „patetico“ liest: formidable Konsequenz in der Phrasierung, erfolgreiches Überwinden irrwitziger technischer Hürden, zustoßende Finger wie Maschinen in einer alten Ruhrpott-Fabrik. Das reißt mit; der Beifall war merklich animierter als nach den Tschaikowsky-Miniaturen. Poesie heizt eben nicht an.

Nach der Pause fielen alle Hemmungen. Jetzt kam der Virtuose alten Stils zum Durchbruch. Werbegazetten und Lobhudel-Kritiken auf der Suche nach „Ausnahme“-Pianisten hatten Matsuev ja schon zum neuen Horowitz gekürt, und er hat das Etikett noch bekräftigt durch eine 2005 erschienene CD mit dem Titel „Tribute to Horowitz“. Aber um an den Altmeister aller Virtuosen heranzukommen, fehlt dem Vierzigjährigen aus Sibirien die Subtilität, die grandseigneurhafte Individualität und die ironische Distanz des Alten. Robert Schumanns „Kreisleriana“ transformiert er vom zerrissenen romantischen Seelenbild zum Futter furioser Exaltationen.

„Äußerst bewegt“ bedeutet für Matsuev rasant und forsch; „sehr innig“ ist bei ihm heroisch geladen. Ein Schumann voller Saft und Kraft, aber ohne in sich gekehrtes Betrachten, ohne jenseitige Feierlichkeit, auch ohne bohrendes Grübeln. Wobei Matsuev den „Kreisleriana“ durchaus interessante Facetten abgewinnt, etwa, wenn er sich in den beiden langsamen Teilen mit Noblesse zurücknimmt, wenn er das „Lebhafte“ groß und frei, mit kraftvollen Bässen selbstbewusst, aber nicht verdonnert spielt.

Nach der fulminanten Geste des Beginns war dann klar, wohin Sergej Rachmaninows b-Moll-Sonate op. 36 getrieben wird: Jetzt endlich kann Matsuev den wilden Bären geben, jetzt kann er mit Liszt-Ekstase, mit Prokofjev’scher Brutalität dem Flügel zeigen, wo die Grenzen der Materie liegen. Ob die grollenden Bassgewitter, ob die aufzischenden Diskantblitze, ob der Tumult der rasenden Finger noch den Noten entsprachen, weiß in dem Toben entfesselter Elemente wohl nur noch der liebe Gott.

Trotzdem: Matsuev entdeckt auch in dieser Sonate Momente des Nachsinnens, im „Lento“ sogar etwas wie andächtige Versonnenheit. Würde er in dem Stück durch mehr Kontrolle einen inneren Zusammenhang herstellen, könnte er das Zurücknehmen aus dem Ruch sentimentaler Ruhepausen befreien.

Konzept hin, Konzept her – die Zuhörer schrien elektrisiert auf, als Matsuev seine letzten Kraftkaskaden in den Raum gepulvert hatte. Und sie erklatschten sich fünf Zugaben, darunter Anatoli Ljadows impressionistische Porzellanton-Miniatur „The Musicbox“ op. 32 und eine einem grollenden Bergsturz gleich kommende Bearbeitung von Edvard Griegs „In der Halle des Bergkönigs“ in eigenem Arrangement.




Der Triumph des Absurden: Bohuslav Martinůs „Julietta“ an der Oper Frankfurt

Der Dschungel als Bild für die undurchdringlich überwucherte Grenze von Sein und Schein. Kurt Streit (Michel) und Juanita Lascarro (Julietta) in der Frankfurter Neuinszenierung von Bohuslav Martinus "Julietta". Foto: Barbara Aumüller

Der Dschungel als Bild für die undurchdringlich überwucherte Grenze von Sein und Schein. Kurt Streit (Michel) und Juanita Lascarro (Julietta) in der Frankfurter Neuinszenierung von Bohuslav Martinus „Julietta“. Foto: Barbara Aumüller

Traum oder Realität? Erinnerung oder Fiktion? Tatsache oder Vorstellung? Fragen, die nicht so einfach zu beantworten sind, wenn man in eine Stadt kommt, in der alle Bewohner ihre Erinnerung verloren haben. In der Vergangenheit nicht existiert. In der Geschichte synthetisch wird, nicht zu unterscheiden von bloßer Erfindung oder gar verkaufter Erinnerung. Bohuslav Martinůs Oper „Juliette ou La Clé des songes“ greift im Gewand des Surrealen, des Traumes, ein erkenntnistheoretisches Problem auf, über das wohl schon jeder einmal nachgedacht hat.

Ist das, was wir sehen und erleben, eigentlich „real“? Oder spielt uns der „Lügengeist“ René Descartes‘ eine Realität vor, die der Wirklichkeit nicht entspricht? Ist unser Leben ein Traum in einem Traum, wie Edgar Allan Poe sinnierte? Für den Skeptiker Descartes war die untrügliche Wahrheit, die des Menschen Vernunft erst möglich macht, die Voraussetzung der menschlichen Freiheit. Und die Evidenz Gottes die Voraussetzung dafür, der eigenen Vernunft zu vertrauen und damit in die Lage zu kommen, defizitäre Systeme und die eigene Begrenztheit zu kritisieren. Doch unsere Weltsicht schwankt zwischen naiver Vergötterung der Empirie („Ich glaube nur, was ich sehe“) und ratloser Auflösung jeglicher Gewissheit. Im Zeitalter eines radikalen Skeptizismus sticht der Gottes-Trumpf nicht mehr.

Die Frage nach Fiktion oder Realität stellt sich mit neuer Schärfe, angefacht noch durch eine populäres Denken durchziehende Form der Dekonstruktion, die keinen (Erkenntnis-)Stein mehr auf dem anderen lassen will. Für Jacques Derrida waren selbst Tod und Leben nicht unabänderlich – aus der Dekonstruktion ihres Gegensatzes entsteht das Gespenstische als neues Modell des Werdens der Welt. Da kommen uns Romantik und Surrealismus Hand in Hand entgegen und grinsen uns an ob unserer verzweifelten Versuche, beständige Ordnungen in der Welt zu finden, die wir – als letzten Ausweg – vielleicht noch im Hedonismus, Narzissmus oder der universalen Geltung des Ökonomischen entdecken.

Plötzlich stößt eine vergessene Oper auf gesteigertes Interesse

Kein Wunder also, dass Martinůs 1938 uraufgeführte und danach für zwei Jahrzehnte verschwundene Oper plötzlich ins Zentrum des Interesses rückt. 1959, nach der Wiesbadener deutschen Erstaufführung, war die Zeit dafür noch nicht reif; auch 2002 blieb die vorzügliche Wiederentdeckung in Bregenz ohne nennenswertes Echo, obwohl die Produktion auch in Paris gezeigt wurde. Jetzt, auf einmal, explodieren die Neuinszenierungen: Bremen, Zürich, Frankfurt; in der nächsten Spielzeit verlässt gar Daniel Barenboim sein wagnerisches Elysium, um in Berlin für Martinůs Werk zum Taktstock zu greifen.

Den Menschen fehlt das Gedächtnis: Geschichte schrumpft für sie auf einen Augenblick; dennoch gieren sie nach Erinnerungen. Szene aus der Frankfurter "Julietta"-Inszenierung Florentine Kleppers. Foto: Barbara Aumüller

Den Menschen fehlt das Gedächtnis: Geschichte schrumpft für sie auf einen Augenblick; dennoch gieren sie nach Erinnerungen. Szene aus der Frankfurter „Julietta“-Inszenierung Florentine Kleppers. Foto: Barbara Aumüller

Offenbar fasziniert die feine Grenze zwischen Illusion und Realität, auf der „alles Reale fiktiv erscheint und alle Fiktionen die Gestalt von Realität haben“, wie Martinů im Vorwort seines Klavierauszugs zu „Julietta“ (1947) formuliert. Ein weiteres Beispiel dafür, dass lange vergessene Opern plötzlich unglaubliche aktuelle Relevanz erhalten und mit Macht ins Repertoire drängen. In ihrer Frankfurter Inszenierung spitzt Florentine Klepper diesen Gegensatz zu – nicht zuletzt mit Hilfe des grellen, aber irgendwie künstlich wirkenden Realismus der Bühne von Boris Kudlička und der Kostüme Adriane Westerbarkeys.

In einer Hotelhalle – Beherbergungsbetriebe und fünfziger Jahre scheinen momentan bei Bühnenbildnern hoch im Kurs – bewegt sich eine quirlig bunte Gesellschaft. Dem Buchhändler Michel, der in die „kleine Stadt am Meer“ hineinstolpert, fallen die merkwürdigen Kleinigkeiten zunächst ebenso wenig auf wie dem mit dem detailreichen Realismus der Figuren beschäftigten Betrachter. Erst als ein kleiner Araber (die quirlige Nina Tarandek) behauptet, das gesuchte Hotel „du Navigateur“ existiere überhaupt nicht, erst als ein Mann mit Hut bekräftigt, er besitze einen Dampfer und ihn als Modell in einer wassergefüllten Plastiktüte vorweist, dämmert die Erkenntnis, in dieser Stadt könne es nicht mit rechten Dingen zugehen.

Michel, auf der Suche nach einer jungen Frau mit einer bezaubernden Stimme namens Julietta, muss erkennen: Die Menschen können sich an nichts erinnern, was länger als zehn Minuten zurückliegt. Es ist der Beginn einer Serie skurriler Begegnungen und Situationen. Was nie geschehen scheint, wird wiedererkannt, was soeben geschehen scheint, ist vergessen. Michel gelingt es nicht, aus der realen Irrealität dieses Welt-Gespinstes zu entkommen: Ob der Schuss, den er auf Julietta abfeuert, getroffen hat, werden er und wir nie erfahren …

Kurt Streit (Michel) und Juanita Lascarro (Julietta) in der Frankfurter Erstaufführung von Bohuslav Martinus "Julietta". Foto: Barbara Aumüller

Kurt Streit (Michel) und Juanita Lascarro (Julietta) in der Frankfurter Erstaufführung von Bohuslav Martinus „Julietta“. Foto: Barbara Aumüller

Im dritten Akt finden wir einen Bürokraten am Amte, der Träume verwaltet und zuteilt. Aber Martinůs Libretto setzt noch eins drauf, zieht noch eine Ebene des Surrealen ein: Alle auftretenden Personen – ein vom Wilden Westen schwärmender Hotelboy, ein trauriger Obdachloser, ein begehrlicher Sträfling – sprechen von „Julietta“: Aus der einen Geliebten wird die Frau in vielen Facetten. Ihre Stimme aus der Ferne führt Michel wieder auf die Reise. Er entkommt, genau wie der Traumverwalter – Michael McCown als vertrocknetes Subjekt – vorhergesagt hat, der geschlossenen Anstalt der Träume nicht.

Während in der letzten Spielzeit in Bremen Johanna Pfau und John Fulljames von Anfang an eine unbehaglich surreale Atmosphäre präsent setzten und zunehmend verdichteten, spielen Klepper und Kudlička mit dem zum Schein mutierenden realistischen Sein. Was logisch und stringent wirkt, verkrümmt sich allmählich in die aufgehobene Logik einer bedrohlichen Welt jenseits selbstverständlicher Kausalgesetze.

Was anfangs nur skurril wirkt, wird beängstigend, spätestens, wenn auf einer zweiten Ebene der Bühne graue, gesichtslose Gestalten wie Schlafwandler unfasslichen Zielen entgegenschwanken. In dem Moment, in dem sich die adrette exotische Bepflanzung eines Lichthofs als Dschungel in die Halle hineinschiebt, bricht die Illusion von Realität endgültig im Licht ungeheuerer Verrückung.

Zwischen rezitierendem Deklamieren und arioser Entfaltung

Für die Darsteller ist „Julietta“ eine doppelte Herausforderung: Sie müssen szenisch die skurrile Aktion in naturalistischen Habitus kleiden, der im Detail ständig Elemente eines bizarren Traums streift. Und sie sind in Martinůs Musik mit einem Spektrum zwischen Sprechen, musikalischem Rezitieren, Sprechgesang und arioser Entfaltung konfrontiert. In diesen Momenten bewährt sich wieder einmal die Frankfurter Ensemblepflege: Beau Gibson, Boris Grappe, Andreas Bauer, Magnus Baldvinsson, Judita Nagyová, Marta Herman und Maria Pantiukhova aus dem Opernstudio füllen in mehreren Rollen selbst peripher auftauchende Gestalten mit intensiver Präsenz.

Kurt Streit in der fordernden Partie des Michel agiert szenisch zu steif, um die zunehmende Verstörung deutlich zu machen. Stimmlich ist Streits ausgezeichnete Artikulation hervorzuheben, im Klang bleibt der Tenor allerdings oft fest und grell. Juanita Lascarro konkretisiert sich als Julietta aus der Erinnerung zum idealtypischen Weib mit warm-verführerischem Ton, um zum Schluss nur noch als – von Vibrato gefährdete – Stimme verortbar zu sein.

Frankfurts GMD Sebastian Weigle. Foto Monika Rittershaus

Frankfurts GMD Sebastian Weigle. Foto Monika Rittershaus

Das Wunder von Frankfurt ereignet sich im Orchester: Sebastian Weigle poliert Martinůs vielgestaltige Partitur zu einem funkelnden Edelstein erlesenster Klänge. Dem Hörer geht es wie der Figuren auf der Bühne: Er meint sich ständig, an etwas zu erinnern, was im nächsten Moment verflogen ist: die süffige Melodik Puccinis oder die perkussiven, querständigen Akkorde Strawinskys, die schwebende Lyrik Debussys oder die schwerblütigen Knalleffekte Skrjabins, der freche Ton des Schlagers oder die Melancholie eines Akkordeon-Chansons. Böhmischer Glanz oder Reibungen á la Erik Satie, trockener Humor á la Darius Milhaud oder die exotische Raffinesse eines Vincent d’Indy – das alles amalgamiert Martinů in einem elaborierten Reichtum, dessen facettenreicher Klang unter den Händen Weigles im Frankfurter Orchester blüht und hämmert, schwärmt und tanzt, raunt und fließt.

Es gab viele großartige Abende mit Sebastian Weigle, von Wagner bis Humperdinck und Strauss, aber die makellose Martinů-Premiere ragt heraus. Ein Glück, dass man von der Produktion eine CD erwarten darf. Und ein Glück, dass Martinůs Oper mit diesem Frankfurter Ereignis – hoffentlich – endgültig im Repertoire angekommen ist. Jetzt wäre es angebracht, den Komponisten nicht nur über „Julietta“ und seine bekanntere „Griechische Passion“ – in der nächsten Spielzeit am Essener Aalto-Theater – zu definieren, sondern sich auf Entdeckungstour zu begeben. Tipp für Spielplan-Macher: Die Filmoper „Die drei Wünsche“, 2002 in Augsburg vorzüglich, aber folgenlos inszeniert, harrt einer Wieder-Entdeckung.

Aufführungen von „Julietta“ in dieser Spielzeit an der Oper Frankfurt noch am 8. und 13. Juli.

Im „Bockenheimer Depot“ sind gleichzeitig drei Einakter Martinůs zu sehen: „Messertränen“, „Zweimal Alexander“ und „Komödie auf der Brücke“. Termine am 6., 9., 10., 12., 15., 16. und 17. Juli.

Info: www.oper-frankfurt.de




Super-Virtuoses, ironisch gebrochen: Marc-André Hamelin brilliert in Mülheim

Marc-André Hamelin bei seinem Mülheimer Konzert. Foto: Peter Wieler/KFR

Marc-André Hamelin bei seinem Mülheimer Konzert. Foto: Peter Wieler/KFR

Seit 1997 tritt Marc-André Hamelin immer wieder beim Klavier-Festival Ruhr auf; 2013 war er dessen Preisträger. Jetzt kam der kanadische Virtuose zurück und spielte in Mülheim ein atemberaubendes Programm ohne jeden Show-Effekt. Bei ihm steht die Musik im Zentrum, nichts anderes. Und wer käme einem genuinen Musiker mehr entgegen als Mozart?

Die D-Dur-Sonate KV 576, für andere vielleicht ein „Einspielstück“, wird von Anfang an in seriösem Ernst gefasst: Keine Koketterie im „Jagdthema“ des Beginns, klare Sicht auf die Struktur, abwechslungsreicher Anschlag zwischen dem trocken aufbegehrenden Staccato des aufwärts weisenden triolischen Motivs und der weichen Triller-Antwort, zwischen den leichtfüßig schweifenden gebundenen Sechzehnteln und den aus den Anfangsnoten gebildeten Verarbeitungen. Ein Forte-Piano-Echo als Übergang zur Reprise, klare Gliederung in den Verläufen statt süffiger Legato-Kulinarik, dabei ein genau ausgehörtes Spektrum kühler Klangfarben: Mit so viel Raffinesse adelt Hamelin diese Sonate, lässt erleben, was für ein Meisterwerk der ausgewogenen Form Mozart mit ihr geschaffen hat. Nachzuhören ist das übrigens auf seiner 2013 entstandenen Aufnahme, die Hamelin beim Label Hyperion vorgelegt hat.

Marc-André Hamelins Aufnahme von Mozart-Sonaten, erschienen bei Hyperion. Cover: Hyperion Records

Marc-André Hamelins Aufnahme von Mozart-Sonaten, erschienen bei Hyperion. Cover: Hyperion Records

Im langsamen Satz meint man, Schuberts Romantik am Horizont zu ahnen: Ganz in sich gekehrt formt Hamelin dieses Adagio aus, gliedert es durch sanfte Agogik, romantisiert es aber nicht mit dunklen Klängen oder bedeutungsschwangeren Akzenten. Mozart bleibt bei aller Entrücktheit licht: heitere Melancholie, elegische Gelöstheit – man versteht, warum Mozart früher gern mit dem Etikett des „apollinischen“ Genius versehen wurde. Ganz anders der Finalsatz. Da entdeckt Hamelin den Humor Mozarts: kecker Rhythmus, dialogischer Witz, aber stets klar durchformte Polyphonie. Über den trocken perlenden Anschlag hinaus, mit dem er die Noten genau definiert, gönnt er allenfalls dem Bass etwas Wärme.

Und wozu bekennt sich Hamelin bei Schubert? Hier ist die Romantik nicht mehr ein fernes Aufdämmern, sondern die Sphäre, in der sich die Musik ereignen will. Freilich nicht im Sinne der gefühlvollen Werbespot- und Wohlfühl-Romantik, in die der Begriff inzwischen abgesunken ist. Sondern als das Nachspüren des Einbruchs des „ganz anderen“ Unbekannten, Jenseitigen und Eigentlichen. Als die Sphäre, die alles Vorläufige zu sich kommen lässt, die aber so auch das Unheimliche und Unbehauste gebiert. Hamelin kommt dem Romantiker Schubert auf die Spur, ohne ihn zu romantisieren: Selten gibt es, selbst bei diesem Treffen der Großen der Klavierwelt, einen solchen Höhepunkt.

Schubert im Zeichen des Belcanto

Hamelin bedient sich der Stilmittel, die manch anderem als verpönt gälten. Er kleidet den berühmten und viel diskutierten Beginn der B-Dur-Sonate (D 960) in die sprechende Rhetorik des Belcanto: Eine bewegte Linie, ein zartes Rubato, wenn das d und das es erreicht werden, ein sorgsam gehaltenes Pianissimo und ein exquisites Legato. Also weder die fließende Eleganz Horowitz‘, noch die tastende Suche Svjatoslav Richters, auch nicht die einfach darstellende Exposition von Andras Schiff.

Das romantische Beben klingt nach in der folgenden, weit geschwungenen, von Sechzehntelgruppen unterlegten Melodiebildung, in den crescendierenden Repetitionen, im ersten Haltepunkt, in der ersten nachhaltigen harmonischen Irritation, in der zum ersten Mal Fortissimo erreicht wird. Hamelin exponiert hier eine innere Unruhe, eine Bewegtheit, die er folgerichtig auf die bruchstückhafte Poesie des Schubert’schen Ringens um die angemessene Form nach Beethoven anwendet. Das ist, immer in klare, präsente, unverdickte Töne gefasste wirklich große Kunst.

Der zweite Satz bezieht sich in seiner weltverlorenen Versunkenheit, aber auch in seiner klassischen Phrasierung zurück auf Mozart und weist gleichzeitig nach vorne mit seinen harmonischen Rückungen und seinen atmosphärischen Bezügen zu dem geheimnisvollen Basstriller des Kopfsatzes. Der dritte Satz lässt studieren, wie Hamelin zu einer völlig anderen Haltung „umschaltet“, wie er trocken geschlagene Bässe und perlenden Diskant miteinander verbindet und innerhalb der Phrasen unterschiedlich färbt. Der vierte Satz, nicht übertrieben extrovertiert, zeigt die irritierend heftigen Ausbrüche der Forte-Akzente, die Wucht der punktierten Akkorde, auch die Reminiszenzen an die kantable Leichtigkeit des ersten Satzes. Mit der Zugabe, dem Impromptus As-Dur (D 935), bestätigt Hamelin: Hier ist ein Schubert-Interpret am Werk, der es mit den großen Deutungen der Vergangenheit aufnehmen kann und der so leicht niemanden fürchten muss.

Mülheim: Die Stadthalle im Zeichen des Klavier-Festivals Ruhr. Foto: Häußner

Mülheim: Die Stadthalle im Zeichen des Klavier-Festivals Ruhr. Foto: Häußner

Weit weg von „sachlicher“ Darstellung und dennoch mit äußerster Präzision – so nähert sich Marc-André Hamelin Claude Debussys „Images II“ (Auch davon gibt es eine CD). Zögernd stellt er im ersten Stück die eröffnende Achtelfigur vor, als höre er ihrem sanften Pianissimo nach, diskret und zart tritt das triolische Auf und Ab der Sechzehntel ein; zart verfließende Mini-Arpeggien, mit der Leichtigkeit eines feinen Gespinstes ausgebreitet, aufquellend wie der Erguss klaren Wassers in einer heimlichen Waldquelle.

Mit dem Titel „Glocken, durch das Laub hallend“ provoziert Debussy ja geradezu die Synästhesie von Licht und Ton, von Hören und Schauen – und Hamelin setzt sie mit einer ihresgleichen suchenden Delikatesse um. Auch das Bild des Mondes, das sich „über die Tempel von einst“ senkt, schildert Hamelin mit einem fein nuancierten Spiel luftiger Akkorde und zaubrischer Arpeggien. Man meint, die Finger berührten in den zart-gläsernen Tönen kaum die Tasten. In „Poissons d’or“ lässt er die „Goldfische“ in grazilem Forte glitzern – auch die Fülle des Klangs bleibt licht, fast zerbrechlich. Und man fragt sich, was das für ein Publikum ist, das in den letzten, verhaltenen, verhallenden Ton ungeniert hineinklatscht.

Hamelin hat wieder – nach der Uraufführung seiner „Barcarolle“ 2013 beim Klavier-Festival – zwei eigene Werke mitgebracht: Die „Pavane variée“ von 2014 fußt auf dem Thema von „Belle qui tiens ma vie“ des französischen Priesters und Tanzmeisters Thoinot Arbeau (1519 – 1595) und zerlegt die eingängige Melodie in einer altertümlich wirkenden Kirchentonart in atemberaubende Skalen, Arpeggien und Arabesken, in jazzig leichte Rhythmen und eine dichte Polyphonie, wobei am Ende ein repetierter düsterer Glockenschlag im Bass an das Ende des Vergnügens mahnt.

Hamelins Paganini-Variationen von 2011 reizen das Element des Virtuosen dann vorbehaltlos aus, zerfetzen rhythmische und akkordische Trümmer, als reiße ein wildgewordenes Raubtier alles in Stücke, und ironisieren die Bestandteile traditionell-trivialer Finalakkorde so rasant, dass spontaner Beifall aufkommt. Irgendwann konkretisiert sich das bekannte Thema, bleibt ein paar hektische Takte stabil und zerstiebt in irrsinnigen Akkorden und rasenden Passagen. Mit diesem subtil gearbeiteten Blendwerk hebelt der Virtuose Hamelin die Virtuosität als seriöse Haltung durch noch mehr Virtuosität aus: Ein Super-Virtuose, der sich selbst ironisch gebrochen vorführen kann.




Dosierte Energie: Benjamin Moser beim Klavier-Festival Ruhr in Essen-Werden

Der Pianist Benjamin Moser. Foto KFR

Der Pianist Benjamin Moser. Foto KFR

Haus Fuhr in Essen-Werden ist mit seinem intimen Saal ein idealer Veranstaltungsort für das Klavier-Festival Ruhr. Allerdings hat der Raum seine Tücken; er bildet das Spiel des Solisten sehr genau ab, verstärkt aber die Lautstärke überproportional, sobald sie über ein verhaltenes Mezzoforte hinausgeht. Dazu steht auf der Bühne ein Steinway, erfreulich präsent im Klang, aber für diesen Raum wünschte man sich manchmal einen weicher intonierenden Flügel.

Benjamin Moser, nun schon zum vierten Mal beim Klavier-Festival zu Gast, hätte seine liebe Mühe gehabt, die ausufernden Klangfluten zu dämmen – wenn er es denn versucht hätte. Aber er konnte die Schleusen nicht geschlossen halten; nicht bei Alexandre Skrjabins Fantasie op. 28, nicht in Maurice Ravels „Gaspard de la nuit“. Wie auch: Skrjabin bläut dem Pianisten ständig „crescendo“ ein, um ihn dann beinahe unvermittelt auf „piano“ einzuschwören, sogleich aber wieder das Aufwachsen der Lautstärke einzufordern, Wer die Fantasie so steigern will, wie es in den Noten steht, landet eben beim Fortissimo „appassionato“. So geschehen auch unter den sorgfältig formulierenden Händen des Münchner Pianisten, der mit seinen 34 Jahren schon auf eine schöne Karriere blicken kann.

Ein intimer Veranstaltungsort: Haus Fuhr in Essen-Werden. Foto: Werner Häußner

Ein intimer Veranstaltungsort: Haus Fuhr in Essen-Werden. Foto: Werner Häußner

Der Anfang des Konzerts war explizit „lyrisch“: Sieben von Edvard Griegs Klavierminiaturen, beginnend mit dem differenzierten Arpeggienspiel und der schwärmerischen Agogik von „An den Frühling“, über den drollig anhebenden, sich ins Dämonische auswachsenden „Zug der Zwerge“ bis zu den Fanfaren und majestätischen Umspielungen des „Hochzeitstags auf Troldhaugen“. Dazwischen macht Moser in „Heimweh“ deutlich, wie subtil er Innenspannung aufbauen und halten kann, auch wenn die Noten „einfach“ scheinen.

Skrjabins cis-Moll-Etüde op.2/1 schließt mit ihrem versonnenen Auf und Ab einer charakteristischen Achtelfigur an Griegs elegische Lyrismen an. In dem kurzen Stück bewegt sich Skrjabin kaum über die Region des Mezzoforte hinaus; Moser versucht sich in Delikatesse und verhaltenem Gestus, aber der Steinway zeigt ihm, wo’s langgeht: Direkter Klang, stählerne Resonanz, später, in der Fantasie, dann auch (zu) vollmundiges Pedal.

Moser hat die Abfolge klug gewählt, denn in der Etüde lässt er die Energie ahnen, die sich in den machtvollen Arpeggien und Repetitionen der Fantasie Bahn bricht. Und der Pianist macht deutlich, dass er es versteht, den Feuerbrand der Töne allmählich, klug dosierend zu entfachen.

Nach der Hommage an den vor 100 Jahren aus nichtigem Anlass verstorbenen Komponisten (ein Pickel verursachte eine Blutvergiftung) folgte Musik der französischen Zeitgenossen Skrjabins, Claude Debussy und Maurice Ravel.

Debussys „Childrens Corner“ hat Licht und Schatten – und das nicht nur im durchaus gekonnten claire-obscure der licht wirbelnden Schneeflocken des vierten und der bassdüsteren Lesart des zweiten Stücks („Jimbo‘s Lullaby“). Sondern auch in Mosers Lesart, der in der Puppenserenade den Klang zu füllig, den Rhythmus zu geschmeidig gestaltet und im abschließenden Cakewalk einen Schuss Spontaneität vermissen lässt.

Entsprechungen zwischen Musik und Malerei: Hippolyte Petitjean hat die Prinzipien des Pointillismus in "Femmes au bain" exemplarisch verwirklicht. Foto: Wikimedia Commons

Entsprechungen zwischen Musik und Malerei: Hippolyte Petitjean hat die Prinzipien des Pointillismus in „Femmes au bain“ exemplarisch verwirklicht. Foto: Wikimedia Commons/public domain

Maurice Ravels „Gaspard de la nuit“ spielt Moser weit weniger entschieden als etwa Khatia Buniatishvili bei ihrem Mülheimer Klavier-Festival-Auftritt. Er achtet mehr auf Atmosphärisches, rückt die Musik vor allem in „Ondine“ in die Nähe eines Pointillismus, wie ihn Georges Seurat oder Hippolyte Petitjean in der Malerei etablierten.

Die flirrende Atmosphäre, die sich auf genau definierte Punkte zurückführen lässt, entspricht Mosers musikalische Auffassung: Flächen und Linien aus definiert gespielten Noten, die als Ganzes eine hundertfach in sich gebrochene Klangsphäre bilden. „Le Gibet“ fasst er eher als melancholisches Stimmungsbild auf als im Sinne einer Studie des Unheimlichen.

Aber in „Scarbo“ kommt das Abrupt-Spukhafte in scharf geschnittenen Akkorden, in der Grandezza des Zugriffs und in zugespitzter rhythmischer Energie zum Ausdruck. Wie Rauch durch das Schlüsselloch verschwindet der Nachtmahr, um herzlichem Beifall und zwei Zugaben – Debussys „clair de lune“ und einer weiteren Skrjabin-Etüde – Platz zu machen.




Fieberfrei in Dortmund: Skrjabin mit Joseph Moog und den Bochumer Symphonikern

Der Pianist Joseph Moog. Foto: Paul Marc Mitchell

Der Pianist Joseph Moog. Foto: Paul Marc Mitchell

Vor zehn Jahren, da war er gerade mal 17 Jahre alt, spielte Joseph Moog in einem Konzert Franz Liszts „Totentanz“ – und seine Zurückhaltung bekam Liszts abundanten Klangfantasien außerordentlich gut. Vor zwei Jahren debütierte er in Moers beim Klavier-Festival Ruhr – und überzeugte mit klug ausbalancierten Klavier-Versionen von Opernschlagern Verdis und Wagners. Nun kehrt Moog zum Tastenfeste zurück, stürzt sich im Konzerthaus Dortmund in Alexander Skrjabins mystisch-fantastisch-rauschhafte Musikwelten. Und lässt diesmal spüren, dass er an Grenzen stößt. Nicht an pianistische, aber an musikalische.

Sein Zugang zur Skrjabins fis-Moll-Klavierkonzert op. 20 ist zunächst durchaus logisch. Moog macht aus Skrjabins vermeintlich formvergessen schweifender, selbstversponnener Kunstmystik keine esoterische Meditation. Er formt seine Soli klar durch, gibt ihnen kühle Fasslichkeit, vernebelt nichts in dampfendem Klang. Auch im Andante-Satz träumt er nicht vor sich hin.

Moog vergisst nicht, dass Skrjabin einen Variationensatz und keine Fantasie konzipiert hat. In fein poliertem Porzellanton modelliert er die melodischen Motive, lyrisch gelöst reiht er Figurationen und absichtslos wirkendes Spielwerk. In der unterschiedlichen Gewichtung der Phrasen, in der Differenzierung des Anschlags macht er die Struktur des Satzes deutlich. Und die Bochumer Symphoniker lassen es unter ihrem Chef Steven Sloane nicht an Piano-Delikatesse, an lichten Streicherlinien, an einer aparten Klarinette fehlen.

Was zum glückhaften Gelingen fehlt, ist bei einem so bewussten und ästhetisch präsenten Pianisten wie Joseph Moog nicht einfach zu beschreiben. Vielleicht geht er zu ernst mit den emotionalen Schichten in Skrjabins Musik um. Vielleicht geht er in den Noten auf statt über den Noten zu fliegen. Vielleicht äußert sich eine Befangenheit, die den spontanen und durchaus einmal riskanten Zugriff hemmt.

Das dynamisch variable Spiel mit dem Orchester gelingt nicht durchgängig. Wo sich der Klavierpart mal wie eine zusätzliche Farbe in den Klang integriert, sind die Symphoniker zu dominant; wo er mal selbstbewusst und klangfroh aufleuchten soll, bleibt Moog zu diskret; wo das Piano in kostbar stillen Tönen singen sollte, lässt er die metrischen Fesseln nicht fahren.

Auch das Poème „Vers la flamme“, eines der letzten Werke Skrjabins aus dem Jahr 1914, hat zwar die Steigerungsdynamik, nicht aber das raffinierte Flair. Moog beginnt mit dem schattigen Pianissimo und intensiviert es bis zum „Forte crescendo“. Aber sein Ton bleibt kalt, das „éclatant, lumineux“ hat statt der Hitze einer Flamme die fröstelnde Grelle einer Leuchtstofflampe. Moog fast dieses Werk in den Ton der Moderne: nicht strahlend, sondern gleißend.

Das Farbenspiel, die züngelnden Nuancen einer Flamme liefern die Bochumer Symphoniker. Sloane exhibitioniert Skrjabins frei dem Rausch und dem erotisch geladenen Klang huldigende Werk von 1908 nicht; er lässt die Musik nicht schwitzen, den Klang nicht dampfen. Sondern er betont die Nähe zu den französischen Impressionisten und zu Claude Debussy. Der Duft der flirrenden Streicher, das feine Parfüm der Harfen, die sehnsuchtsvoll verklingenden Flöten: das ist eher die Ahnung „ekstatischer“ Ausbrüche als ihre klangprächtige Vergegenwärtigung. So hält Sloane die allzu direkte und schnell banal wirkende Effekt-Dramaturgie zurück. Und die Finesse ist bei den präsent und farbenfroh agierenden Philharmonikern in guten Händen. Nur in den finalen Entladungen trägt das Konzept nicht ganz: Lautstärke ist nicht Intensität, die entsteht durch Hingabe und Risiko – und da waren die Bochumer noch zu fest auf der Erde verankert.

Dass Sloanes zurückhaltender, ins Lyrische neigender Ansatz seine Probleme hat, wurde im „Tristan“-Vorspiel zu Beginn des Konzertes deutlich. Vermutlich wollte der Dirigent die Bezüge demonstrieren, die zwischen der vor 150 Jahren uraufgeführten Oper Wagners – einem Meilenstein in der historischen Entwicklung der europäischen Musik – und ihrem Echo im Werk des vor 100 Jahren gestorbenen russischen Komponisten feststellbar sind. Entsprechend legte er Wagners Musik nicht im Sinne des Drängens und Sehrens aus, das die wellenförmige Dynamik ihrer Entwicklung hin zur Ekstase der sich lösenden harmonischen Spannung bestimmt. Sondern er leuchtet die Statik der Klänge aus, lässt sie fast lyrisch verharren, nimmt ihr die innere Unruhe. Auch den „Tristan“ prägt das milde Licht Debussys statt der Fieberschübe Wagners.




Tiefgründiges Durchleuchten der Musik: Kit Armstrong beim Klavier-Festival Ruhr

Kit Armstrong. Foto June Artists Management

Kit Armstrong. Foto June Artists Management

Kit Armstrong ist in einer schwierigen Phase. Er merkt es vielleicht nicht einmal, weil es ihn nicht interessieren dürfte.

Aber: Die „Wunderkind“-Zeit – auch die hat ihn nicht interessiert – ist vorüber, und der Pianisten-Boygroup entwächst der 23-jährige gerade, auch wenn er noch wie ein schüchterner, etwas linkischer Teenie wirkt. Jetzt kommt das Hineinwachsen in die „erwachsene“ Musikerwelt, ohne Kinder- und Jugendbonus.

Für viele junge Musiker war und ist das eine schwer zu nehmende Schwelle. Denn der Betrieb ist knallhart; sich zu behaupten heißt nicht selten, um Gidon Kremers besorgten „Brief an eine junge Pianistin“ zu zitieren, seine Seele mit zu verkaufen.

Man lese die Autobiografie der Geigerin Midori Goto („Einfach Midori“), um zu ermessen, was das bedeutet. Wie viele wunderbar begabte junge Menschen sind auf der Strecke geblieben – aus unterschiedlichsten Gründen? Um im Klavier-Business zu bleiben: Wer erinnert sich zum Beispiel noch an den Wunderknaben Dimitris Sgouros, einst vom alten Arthur Rubinstein bewundert?

Kit Armstrong hat einen anderen Mentor aus der Kaste der legendären Tastengrößen, Alfred Brendel. Der gab ihm nicht nur die Attribute des Wunderkinds und des Jahrhundertpianisten mit, sondern begleitete auch die Wege des hochbegabten Jugendlichen am Flügel und ins Leben. Einen „superlative guide to life“ hat ihn Armstrong in einem Interview genannt.

Heute wirkt Armstrong nicht mehr wie ein verschlossen weltabgewandtes Genie. Wenn er in akzentfreiem, mit Wörterbuch und Grammatik selbst erarbeitetem Deutsch seine Zugaben ansagt, hört man einen zurückhaltend, aber selbstbewusst wirkenden jungen Mann.

Beim Klavier-Festival Ruhr gehört Kit Armstrong seit 2009 zu den regelmäßigen Gästen. Am Ort seines Debüts, in Mülheim, präsentierte er nun einen Gang durch die barocke Kunst des Variierens und sorgte nebenbei für die Entdeckung eines staunenswerten Schatzes früher Kompositionen für Tasteninstrument.

Die dreißig Veränderungen über das Thema des englischen Volkslieds „As I went to Walsingham“ von John Bull sind nicht nur in der Zahl Bachs „Goldberg-Variationen“ gleich, denen Kit Armstrong den zweiten Teil seines Konzerts widmete. Sondern sie offenbaren eine Klugheit und Dichte in der kompositorischen Anlage, die den englischen Virginalisten und Lieblingsmusiker der „Virgin Queen“ Elisabeth I. problemlos an die Seite Bachs erheben. Armstrong demonstrierte noch einmal mit einer seiner vier Zugaben, „Bull’s Good Night“, welche Schätze es aus Fitzwilliams Virginal Book, der Quelle der Stücke, auch für die Spieler eines modernen Flügels zu entdecken gibt.

2013 erschien bei Sony das Debüt-Album von Kit Armstrong mit einer bezeichnend unkonventionellen Auswahl von Werken: Bach, Ligeti und einer eigenen Komposition des jungen Pianisten. Cover: Sony

2013 erschien bei Sony das Debüt-Album von Kit Armstrong mit einer bezeichnend unkonventionellen Auswahl von Werken: Bach, Ligeti und einer eigenen Komposition des jungen Pianisten. Cover: Sony

Wer einmal Grigory Sokolov mit seinen vergeistigten Byrd-Interpretationen erlebt hat, weiß, dass große Musik nicht von historisch möglichst korrekten Bedingungen ihrer Aufführung abhängt. Armstrong spielt Byrd, Bull, Bach und Sweelinck, als hätten die ehrwürdigen Alten nichts anderes als den Steinway im Kopf gehabt, als sie ihre Noten niederschrieben. Das liegt daran, dass Armstrong sein Spiel aus einem bewundernswerten Überblick über den Plan der Kompositionen entwickelt und den Klang des Flügels in den Dienst dieser Einsicht stellt.

William Byrds „Hugh Ashton’s Ground“ lässt er andächtig aus der Stille entstehen. Er forscht jedem Vorschlag, jedem Triller, jeder harmonischen Subtilität nach. Die linke und die rechte Hand sind klug aufeinander bezogen. Das Rallentando, mit dem er das Tempo sanft abbremst, die maßvolle Agogik, mit der er den Satz belebt, sind keine Zeichen für eine Romantisierung.

Es sind stilistische Elemente, die Armstrong logisch platziert, um die Struktur des Stücks zu erklären. Sein Byrd hat nichts, aber auch gar nichts von dem mechanischen Geschnatter, an dem sich Alte-Musik-Fans jahrzehntelang erfreuten. Vor dem inneren Gehör entwickelt sich ein wundersamer Bau. Armstrong, der 2011 ein Mathematikstudium abgeschlossen hat, schwärmte einmal von der Schönheit, die es in der Mathematik zu entdecken gibt. Voilà – hier lässt sie sich hören!

Souverän berechnet, das ist eines der Kennzeichen der Musik des alten Sebastian Bach. Mag sein, dass sich Kit Armstrong eben deshalb bei ihm so wohl fühlt, ihn neben Mozart zu den prägenden Komponisten seines Lebens zählt.

In den Goldberg-Variationen ist es eben auch die strenge Schönheit einer vollendet beherrschten musikalischen Mathematik, die uns ins Reich der Ideen entführt und verzaubert: den einen durch die Logik der Entwicklung, den anderen durch den Zauber des strukturierten Klangs. Denn Bachs dreißig Variationen über eine Arie loten nicht nur alle möglichen formalen Möglichkeiten aus.

Die Vortragsbezeichnungen gehen – ungeachtet aller quellenkundlichen Einschränkungen – über das lapidare Bezeichnen der Tempi hinaus. Schon die Aria will „espressivo“ vorgetragen sein – also mit emotionalem Ausdruck. Von hurtiger Lebendigkeit bis maßvoller Distinktion reicht die Spannweite der geforderten Haltungen.

In dieser Welt fühlt sich Armstrong hörbar zu Hause. Sein Spiel leistet nichts weniger als den Blick in die klare, harmonische, vollendet wirkende Struktur der Variationen zu öffnen, ihre Entwicklung zu erschließen. Dass der Pianist auch noch die Möglichkeiten des modernen Flügels nutzt, sie in wechselndes Licht zu tauchen, ist eine wunderbare Zugabe. Ein mildes Licht für den ersten Kanon, ein sprödes, klares auf die Fughetta, ein luftig-leuchtendes auf das „leggiero“ der elften Variation. Das Andantino der Nummer Dreizehn lässt Armstrong mit feinen Rubati singen. Über verinnerlichtes Reflektieren, Staccato-Entschiedenheit, den majestätisch punktiert aufmarschierenden Prunk der Ouvertüre bis hin zu atemloser Energie, die keinen Punkt und kein Komma kennt, entfaltet der junge Pianist den Zyklus. Nach allen Stürmen und Wechselbädern kommt die Aria wieder: einfach, ruhevoll, geläutert.

Immer ist es der Blick auf strukturelle Entwicklungen, den Armstrong konsequent festhält, ohne den Zuhörer mit einem trockenen Lehrwerk zu strapazieren. Davon profitieren auch John Bulls komplexe „Veränderungen“ und Jan Pieterszoon Sweelincks deutlich von der Orgel her gedachte Variationen über „Mein junges Leben hat ein End“. Die Logik der Bezüge zwischen Bass- und Oberstimme ist souverän und klar herausgearbeitet, die Betonungen und Phrasierungen schlüssig gesetzt, rasche Passagen konsequent durchmodelliert.

Die Finger setzt Armstrong unbestechlich präzis; ein paar halb erwischte Töne erinnern sympathisch daran, dass hier ein Mensch am Flügel sitzt. Armstrong geht auch mehr als früher aus sich heraus: der Rhythmus bekommt etwas Swingendes, perkussive Momente und markante Repetitionen haben Gewicht. Aber stets – und das macht das Faszinierende von Armstrongs Kunst aus – dienen solche pianistischen Mittel nicht einer flüchtig-vordergründigen Expression, sondern einem tiefen Durchleuchten der Musik. Wer so spielt, muss um die Zukunft nicht bange sein. Beglückend, erhellend.




Bilder einer Seele: Khatia Buniatishvili bezaubert beim Klavier-Festival in Mülheim

Khatia Buniatishvili in Mülheim. Foto: Mohn/KFR

Khatia Buniatishvili in Mülheim. Foto: Mohn/KFR

Wie gewinnt man einem scheinbar so festgelegt beschreibenden Werk wie Modest Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ noch neue Facetten ab? Ganz einfach: Man spielt es wie Khatia Buniatishvili.

Ganz einfach? Mitnichten! Was die georgische Pianistin beim neuesten ihrer erfreulich zahlreichen Auftritte beim Klavier-Festival Ruhr – diesmal in Mülheim – aus einem nicht ganz optimalen Flügel zauberte, war überwältigende Kunst. Buniatishvili ist auf dem besten Wege, in Regionen abzuheben, die nur wenigen Pianisten überhaupt erreichen – und wenn, dann nicht mit „U 30“.

Machen wir uns also auf den Weg auf eine scheint’s längst bekannte Route. Schon die erste der „Promenaden“ ist ungewöhnlich gefärbt: Buniatishvili sinnt der Melodie leise nach, steigert sie sehr, sehr sanft, lässt sie mit einem Hauch Verlorenheit vorüberziehen – wie eine Erinnerung, die sich verdichtet und an den Rändern wieder verblasst.

Die zweite Promenade: Kein forsches Voranschreiten, sondern ein zartes Gespinst, von ferne in jenseitigem Pianissimo ansetzend. Erst in der dritten Wiederholung des melodischen Leitthemas materialisiert sich die Bewegung leuchtend und entschieden.

Und die einzelnen „Bilder“? Die verbindet Khatia Buniatishvili mit dem stets in anderem Licht wiederholten Melodiemotiv in wundersam inniger Weise, setzt also nicht auf Kontrast. Damit gibt sie die vordergründig beschreibende Sicht auf: Hier schlendert kein Betrachter an einer Reihe von Bildern vorbei, wie 1874 in der Gedächtnisausstellung für den Maler Victor A. Hartmann. Sondern Buniatishvili beleuchtet einen seelischen Prozess, bei dem Gedanken und Gefühle schweifen, sich eine Impression aus der anderen kristallisiert und wieder verweht.

Der „Gnomus“ hoppelt nicht als eine beschädigte Gestalt vor die Augen, sondern lauert als Alb in einem Winkel der Seele. Das „Alte Schloss“ steigt aus Nebel auf wie eine Geistervilla in einem alten Gruselfilm. „Bydlo“ ist nicht lautmalerisch nachgezeichnet, als sähe man ein musikalisches Video des vorbeirumpelnden Ochsenkarren, sondern wirkt wie eine Vision, die sich an einem unwirklichen Horizont verliert. Und das „Große Tor von Kiew“ fasst sie nicht als Einladung zum dröhnenden Abschluss auf, sondern als Gelegenheit, noch einmal grandiose Anschlagskunst zu zeigen, wenn sie das Klangbild chimärenhaft aufsteigend jedem realistischen Zugriff zu entziehen sucht. Bilder einer Seele.

Ein so anspruchsvolles Konzept lässt sich nur mit einer souveränen Technik vermitteln. Buniatishvili muss sich in dieser Beziehung nicht verstecken – das haben ihre früheren Klavierrecitals schon bewiesen. Wieder dokumentiert sie mit Maurice Ravels „Gaspard de la nuit“ und mit Franz Liszts aberwitzigem Virtuosenstück „La Campanella“, wie sie selbst an der Tempogrenze noch keine Artikulationskompromisse eingehen muss, wie sie im Rausch noch jede Kurve, jede Engstelle ohne Schaden passiert. Dass in den „Tuilerien“ oder auf dem „Markt von Limoges“ nicht jeder Schritt stolperfrei gelingt, mag der Mechanik des Flügels oder der inneren Mechanik der Spielerin geschuldet sein – sei’s drum. Denn selbst in solchen Momenten flacht die Spannung nicht ab, wird das klarsichtige Konzept nicht verletzt.

In den hämmernden Repetitionen des dritten Teils von Ravels „Gaspard“, in „Scarbo“, demonstriert Buniatishvili, dass ihr kontrolliertes Temperament, ihre rhythmische Entschiedenheit nichts zu fürchten brauchen. Da macht sie ihrem Ruf, eine „junge Wilde“ zu sein, alle Ehre. Aber daneben steht eben auch wieder das irritierend wasserklare Arpeggieren zu Beginn von „Ondine“, die atmosphärisch zwingende Wirkung detailgenauer Formulierungen, der betont subjektive Aufbau von Innenspannung im langsamen Mittelsatz: keine manierierte Willkür, sondern völlige Versenkung, die Metrum und Zeit außer Kraft setzt. Da wird die Zeit zum sonderbar‘ Ding.

Zum Finale furioso Franz Liszt: Wieder kein Einknicken zugunsten bloßer Lust am perfekt exerzierten Notensturm. Sondern die Vollendung der programmatischen Linie: Liszts „Étude d’exécution transcendante“ Nr. 5 heißt „Irrlichter“ – eine in die technische Monstrosität gesteigerte Apotheose der unheimlichen inneren Vorgänge bei Mussorgsky und Ravel. Die Mühelosigkeit ist quasi eine Zugabe, unverzichtbar für den gedanklichen Entwurf, aber nicht entscheidend. „La Campanella“ mit ihrer Übersteigerung des Virtuosen wendet Buniatishvili ins Skurrile.

Danach kann nur noch die geläuterte Rückkehr in die Wirklichkeit folgen: Die „Ungarische Rhapsodie“ cis-Moll, von Wladimir Horowitz schärfend bearbeitet, leistet sie: mit der mondänen Geste des Zirkus, aber auch mit dem Anwehen einer zart-poetischen Wehmut über den Verlust des „Geisterreichs“, das uns einen Abend lang bezaubert und gefesselt hat.

Das nächste Konzert von Khatia Buniatishvili in der Region: Am 19. Mai tritt sie im Konzerthaus Dortmund in der Reihe „Junge Wilde“ auf.




Versuchung und Glorie des Martyriums: „Mord in der Kathedrale“ von Pizzetti in Frankfurt

Eine Paraderolle für einen großen Darsteller: Thomas Becket in Ildebrando Pizzettis "Murder in the Cathedral" ist in Frankfurt der Bass John Tomlinson. Als Iwan Sussanin und Daland kehrt er 2015/16 nach Frankfurt zurück. Foto: Monika Rittershaus

Eine Paraderolle für einen großen Darsteller: Thomas Becket in Ildebrando Pizzettis „Murder in the Cathedral“ ist in Frankfurt der Bass John Tomlinson. Als Iwan Sussanin und Daland kehrt er 2015/16 nach Frankfurt zurück. Foto: Monika Rittershaus

„Murder in the Cathedral“ des heute kaum mehr bekannten italienischen Komponisten Ildebrando Pizzetti ist eines der ehrgeizigen Projekte, die unter der Intendanz von Bernd Loebe die Frankfurter Oper auszeichnen.

In dieser Spielzeit etwa gehörten dazu die glänzend durchdachte Inszenierung von Carl Maria von Webers „Euryanthe“ durch Johannes Erath oder die tief bewegende Aufführung von Mieczyslaw Weinbergs „Die Passagierin“. Nun hat Frankfurt das eklektische Werk um die Ermordung des Erzbischofs Thomas Becket, einer der Höhepunkte der Spielzeit 2010/11, wieder aufgenommen – und wieder mit John Tomlinson in der Hauptrolle.

Pizzettis neunzigminütige Oper nach dem gleichnamigen Drama von T.S. Eliot, 1958 am Teatro alla Scala in Mailand uraufgeführt, verschwand schnell aus den Spielplänen, ungeachtet gelegentlicher Aufführungen in Italien.

Für das zum Ideendrama und Mysterienspiel neigende Werk Pizzettis hat Regisseur Keith Warner im Bühnenbild von Tilo Steffens auf jeglichen Historismus verzichtet. Ein düsterer, in den Hintergrund gestreckter Raum erinnert an eine muffige Lagerhalle. Die Kostüme Julia Müers sind im Zweiten Weltkrieg verortet: Knickerbocker für die Ritter, Uniformen für die Chorführerinnen. Thomas Becket, der sich eine die Bühne diagonal durchschneidende Gangway heruntertastet, wirkt wie ein Flüchtling: Hut und schwarzer Mantel, Köfferchen, weißer Vollbart. Niemand außer ihm trägt einen Namen – das zeigt schon, dass es in diesem Stück ausschließlich um ihn geht.

Der Außenseiter, der aus dem Exil zurückkehrt und der herrschenden Macht im Wege steht: Warner säkularisiert die Figur Beckets, zeigt nicht den Erzbischof von Canterbury im Konflikt mit dem König, sondern einen Reisenden, der ein Jude im Zweiten Weltkrieg sein könnte – oder einer der Millionen, die heute zur Flucht gezwungen werden.

Die Regie konzentriert sich auf den geistigen Konflikt, den Becket durchstehen muss, und der schließlich im Martyrium endet. Auf ihn bezogen ist die bilder- und bewegungsreich gefüllte Bühne, bei der Warner und Steffens nicht vor einem symbolgeladenen Realismus zurückschrecken, wie er etwa der neuesten gegenständlichen Malerei eigen ist: Ein gewaltiger Corpus des Gekreuzigten löst sich vom Kreuz und wird in Teile zerschlagen.

Der Versucher, der Becket den Traum vom Ruhm des Märtyrers eingibt, kommt als Antichrist, wirft ihm das Kreuz zu: „Geh‘ vorwärts bis ans Ende“. Zwischen Realität, Wahn und Traum sieht der Erzbischof seinen Doppelgänger, sein eigenes Grab, seine Beerdigung. Im Hintergrund schlägt ein riesiges, blutiges Herz, als der „Dies irae“ eintritt und Becket von den vier Rittern ermordet wird.

Magischer Realismus: Szene aus der Inszenierung von Keith Warner. Foto: Monika Rittershaus

Magischer Realismus: Szene aus der Inszenierung von Keith Warner. Foto: Monika Rittershaus

Dass aus dem Stück keine platte Märtyrerstory wird, ist Geoffrey Dunns Adaption des Eliot-Textes geschuldet: Thomas Becket, ehemaliger Freund und Lordkanzler König Heinrichs II., ist hier kein lauterer Kämpfer für das Gute. Er ist stolz auf seine Tugend, hochfahrend, kompromisslos, hart und unnahbar. Weltlichen Verlockungen trotzt er ohne Probleme. Doch als der Verführer ihn an die „Glorie nach dem Tode“ erinnert, wird er sich der ausweglosen inneren Verfahrenheit bewusst: Gibt es überhaupt einen Weg, der nicht zur Verdammnis im Hochmut führt? Hätte er als Märtyrer wirklich „alles Wollen von sich geworfen“?

Der Konflikt löst sich nicht restlos. Als Becket gegen dringenden Rat die Tore der Kirche öffnen lässt, weil diese auch ihren Feinden offen stehen müssen, ermöglicht er den Mördern den Zutritt. Nimmt er den Tod in Kauf um des Ruhmes des Martyriums willen? Sieht er darin das letzte politische Instrument, das ihm bleibt, um gegen den anmaßenden Einfluss der weltlichen Macht auf die Kirche zu kämpfen? Oder überlässt er sich und sein Schicksal ganz dem Willen und der Lenkung Gottes?

Einsamer Flüchtling: John Tomlinson in der Oper "Murder in the Cathedral" in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Einsamer Flüchtling: John Tomlinson in der Oper „Murder in the Cathedral“ in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Mit John Tomlinson, dem einst viel gerühmten Bayreuther Wotan, hat Frankfurt die Reihe der großen Bässe weitergeführt, die den Thomas Becket verkörperten: Hans Hotter in Wien, Nicola Rossi-Lemeni in Mailand. Tomlinson durchdringt die Rolle als Schauspieler vollkommen, als Sänger mit vibratoreicher Mühe, rauen Stellen und gefährdeten Höhen.

Die Chorführerinnen Britta Stallmeister und Katharina Magiera werden mit den dramatischen Momenten an ihre Grenzen geführt und retten sich mit einer Tour de force. Wieder glänzend studiert und präsent auch im Spiel: der Chor und Kinderchor der Frankfurter Oper unter Tilman Michael und Markus Ehmann.

Das Orchester leitet Karsten Januschke mit viel Einsatz. Die dunklen Farben, archaisierenden Harmonien, lastenden Klangflächen und grellen Entladungen rückt er eher in Richtung eines süffigen Verismus‘, der die spröden Reibungen in Pizzettis Musik nicht betont. Das Ende zieht eine Moral fast wie im „Don Giovanni“, nur ist sie hier an Zynismus kaum zu übertreffen: Die Täter rechtfertigen sich. Schuld am Tode Beckets sei dieser selbst, hätte er doch seinen Mördern aus dem Weg gehen können. Außerdem habe man aus Liebe zu Vaterland und König gehandelt. Wer da etwa an Putins schwurbelige Ukraine-Erklärungen denkt, dürfte so falsch nicht assoziieren.

Nur noch eine Vorstellung am Freitag, 8. Mai; an zwei weiteren ursprünglich geplanten Terminen wird der Nachfrage wegen nun „La Bohème“ gespielt: www.oper-frankfurt.de

 




Einzigartige Vielfalt: Frankfurt stellt die Opern-Spielzeit 2015/16 vor

Die Frankfurter Oper. Foto: Werner Häußner

Die Frankfurter Oper. Foto: Werner Häußner

Ehrgeizige Projekte, eine umsichtige Ensemblepolitik und ein einzigartig vielfältiger Spielplan zeichnen die Oper Frankfurt unter der Intendanz von Bernd Loebe aus. In dieser Spielzeit etwa gehören dazu die glänzend durchdachte Inszenierung von Carl Maria von Webers „Euryanthe“ durch Johannes Erath oder die tief bewegende Aufführung von Mieczyslaw Weinbergs „Die Passagierin“. Loebe hat nun die Spielzeit 2015/16 vorgestellt und ein Programm präsentiert, das Maßstäbe setzt und in punkto Qualität – aber auch Quantität – weltweit einen Spitzenplatz beanspruchen darf.

Dreizehn Premieren kündigt das Haus an, davon zwei konzertant und drei in der Spielstätte „Bockenheimer Depot“. Ein zeitgenössisches Werk eröffnet wie schon in den letzten Jahren die Spielzeit: Helmut Lachenmanns „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ wird von Benedikt von Peter (Bremen) szenisch realisiert und von Erik Nielsen musikalisch geleitet. Von Peter hat in den letzten Jahren durch mehrere, umstrittene und eigenwillige Inszenierungen auf sich aufmerksam gemacht. Am 18. September ist die Premiere; das Stück wird wegen der räumlichen Ausdehnung ins gesamte Haus sieben Mal en suite gespielt. Der Komponist, der am 27. November 80 Jahre alt wird, ist als Sprecher mit dabei. Als Chor fungiert – wie bei der Aufführung der Ruhr-Triennale 2013 – das ChorWerk Ruhr.

Bernd Loebe, Intendant der Oper Frankfurt. Foto: Maik Scharfscheer

Bernd Loebe, Intendant der Oper Frankfurt. Foto: Maik Scharfscheer

Die zweite Premiere am 25. Oktober ist keines der typischen „Chefstücke“, dennoch steht Generalmusikdirektor Sebastian Weigle am Pult: Michail Glinkas „Iwan Sussanin“ ist ein Schlüsselwerk der russischen Operngeschichte, aber hierzulande kaum bekannt. Damit erfüllt sich der 80jährige Harry Kupfer einen Regiewunsch; er erstellt auch gemeinsam mit Chefdramaturg Norbert Abels aus den zahlreichen Fassungen eine für Frankfurt.

Im „Bockenheimer Depot“, einer ehemaligen Remise für die Straßenbahn, erklingt ab 23. Januar 2016 eine weitere Besonderheit: Valentino Fioravantis „Le cantatrici villane“. Die Komödie um Sitten und Unsitten der Belcanto-Oper des Mozart-Zeitgenossen war früher unter dem Namen „Die Dorfsängerinnen“ beliebt, ist aber seit Jahrzehnten aus dem Repertoire verdrängt. Fioravanti (1764-1837), zu seiner Zeit häufiger gespielt als Mozart, hat über 70 Opern geschrieben, bevor er 1816 in Rom in päpstlichen Diensten sich der Kirchenmusik zuwandte. Die 1799 uraufgeführte Buffa gehört zu seinen international beliebtesten Werken und ist ein Musterbeispiel des aus Neapel kommenden Unterhaltungsgenres der Zeit.

Eine Rarität, die erst in den letzten Jahrzehnten zögerlich neu gewürdigt wird, ist Giuseppe Verdis „Stiffelio“. Die Geschichte um einen protestantischen Prediger und seine zwischen Liebe und Leidenschaft zerrissene Gattin kommt ab 31. Januar 2016 in einer Inszenierung von Benedict Andrews auf die Bühne. Der australische Regisseur, der in Frankfurt debütiert, hat schon an der Berliner Schaubühnen am Lehniner Platz und der Komischen Oper gearbeitet. Andrews ist einer der jungen Regie-Hoffnungsträger Loebes. Händels „Radamisto“ erscheint ebenfalls ins „Bockenheimer Depot“, wo die Regie-Debütantin Dorothea Kirschbaum zudem Arnold Schönbergs „Pierrot Lunaire“ und der langjährige Regieassistent Hans Walter Richter die Uraufführung von Michael Langemanns „Anna Toll“ für einen Doppelabend inszenieren. Richter hat vor kurzem in Gießen die selten gespielte Donizetti-Oper „Linda di Chamounix“ wohlüberlegt aus dem Ruch des „Primadonnen-Vehikels“ befreit.

Das Kernrepertoire wird durch Neuinszenierungen von „Der Fliegende Holländer“, „Das schlaue Füchslein“, „Carmen“ und „Wozzeck“ ergänzt. Unter den 13 Wiederaufnahmen rangieren David McVicars gerühmter „Don Carlo“, Claus Guths „Rosenkavalier“ – der erst am 24. Mai Premiere hat – und sein Puccini-„Trittico“, Janáčeks „Sache Makropoulos“ mit Jonathan Darlington am Pult und Händels „Giulio Cesare“. Der „Ring“ Vera Nemirovas wird für zwei Zyklen wieder aufgenommen; hierfür beginnt der Vorverkauf schon am 1. Juni. Rasmus Baumann, Chef der Neuen Philharmonie Westfalen und früher Kapellmeister in Essen, dirigiert Humperdincks „Hänsel und Gretel“, Giacomo Sagripanti, mehrfach am Aalto-Theater zu Gast, leitet die Wiederaufnahme von Rossinis „Diebischer Elster“. Wiederkommen wird auch die von Anselm Weber (von Bochum kommender Schauspielchef in Frankfurt ab 2017) inszenierte „Tote Stadt“ von Erich Wolfgang Korngold, bei der Sebastian Weigle dirigiert.

Info: www.oper-frankfurt.de/de/page1019.cfm

Dirigiert in Frankfurt den "Ring", aber auch Glinkas "Iwan Sussanin": Sebastian Weigle. Foto: Wolfgang Runkel

Dirigiert in Frankfurt den „Ring“, aber auch Glinkas „Iwan Sussanin“: Sebastian Weigle. Foto: Wolfgang Runkel




Nur wenige echte Premieren – doch das Aalto-Theater präsentiert anregenden Spielplan

Das Essener Aalto-Theater. Foto: Werner Häußner

Das Essener Aalto-Theater. Foto: Werner Häußner

Mit einem Juwel aus dem tschechischen Opernschaffen startet das Essener Aalto-Theater am 26. September in die Spielzeit 2015/16: GMD Tomáš Netopil dirigiert zum ersten Mal in seiner Laufbahn Bohuslav Martinůs „The Greek Passion“. Der Komponist dieser Oper nach dem Roman „Griechische Passion“ (1948) von Nikos Kazantzakis wurde vor 125 Jahren geboren.

Mit „Elektra“ kehrt ein Schwergewicht des Strauss-Repertoires ans Aalto zurück. Prokofjews „Die Liebe zu den drei Orangen“ bereichert den Essener Spielplan mit einer skurril-burlesken Variante von Humor, während der Klassiker „Il Barbiere di Siviglia“ zwar das schmale Essener Rossini-Portfolio nicht erweitert, aber einen frech-spritzigen Abend für das breite Publikum verspricht.

Regie führt bei Rossini der durch seinen Bayreuther „Holländer“ bekannt gewordene Jan Philipp Gloger. Für Martinů engagierte Intendant Hein Mulders einen tschechischen Regisseur: Jiří Heřman, 2007 bis 2012 Künstlerischer Direktor der Prager Nationaloper, hat dort viel inszeniert, unter anderem Martinůs „Marienspiele“ und Antonín Dvořáks „Der Jakobiner“ mit Netopil am Pult (2011).

Hein Mulders, Intendant der Philharmonie und des Aalto Theaters Essen. Foto: Philharmonie Essen

Hein Mulders, Intendant der Philharmonie und des Aalto Theaters Essen. Foto: Philharmonie Essen

Von den fünf Premieren – für ein Haus von der Größe Essens zu wenig – sind drei Kooperationen: Prokofjews Oper kommt aus Amsterdam in einer Inszenierung Laurent Pellys. Die „Elektra“ hat David Bösch 2014 in Antwerpen/Gent erarbeitet. Und „Faust“ kommt in der Interpretation von Philipp Stölzl von der Spree an die Ruhr. In zwei Monaten, am 19. Juni hat Charles Gounods Oper an der Deutschen Oper Premiere.

Operetten- und Musical-Freunde gehen auch bei den Wiederaufnahmen leer aus: Einer Rückkehr der „Csardasfürstin“ standen Dispositionsgründe entgegen, ein neues Musical ist vorerst nicht vorgesehen, gab Mulders bekannt. Dafür versprach er für die nächste Spielzeit eine neue große Operettenproduktion.

Unter den dreizehn Wiederaufnahmen rangieren mit den Puccini-Opern „Madama Butterfly“, „La Bohème“ und „Tosca“ drei ausgesprochene Publikumslieblinge. Verdi ist mit „Macbeth“, „Ballo in maschera“, „Aida“ und „La Traviata“ vier Mal vertreten, Mozart mit seinen zwei maßstabsetzenden Werken „Die Zauberflöte“ und „Don Giovanni“. Von Wagner kehrt lediglich „Der fliegende Holländer“ zurück; die verdienstvolle slawische Linie des Hauses bleibt mit Dvořáks „Rusalka“ präsent.

Kommt wieder: "Giselle" mit der berühmtesten von Adolphe Adams Ballettmusiken. Foto: Bettina Stöss/Aalto-Ballett

Kommt wieder: „Giselle“ mit der berühmtesten von Adolphe Adams Ballettmusiken. Foto: Bettina Stöss/Aalto-Ballett

Im Ballett sind derzeit innovative künstlerische Impulse nicht zu erwarten: Ben Van Cauwenbergh arbeitet seit Jahren die „Top Ten“ des gängigen Repertoires ab; in der nächsten Saison erwartet das Essener Publikum am 24. Oktober folglich ein neuer „Nussknacker“.

Als zweite Premiere präsentiert das Aalto-Ballett unter dem Titel „Archipel“ vier zwischen 1986 und 2002 entstandene Kreationen des legendären Jiří Kylián: „27‘52“ mit Musik von Gustav Mahler und „Petite Mort“ sind viel gezeigte Klassiker, dazu kommen die von Mozart inspirierten „Sechs Tänze“ und „Wings of Wax“. Unter den fünf Wiederaufnahmen sind „Giselle“ und die Uraufführung der laufenden Saison, „Odyssee“.

Begleitprogramme, Einführungsmatineen und das Kinder- und Jugendprogramm „Abenteuer Aalto“ bewegen sich auf gewohnt hohem Niveau. Vom 14. bis 20. März 2016 zeigen die TUP-Festtage, wie sich die fünf Sparten der Theater- und Philharmonie Essen GmbH miteinander inhaltlich verbinden – eine Perspektive, die etwa auch in den Querverweisen zwischen Opern- und Konzertprogrammen immer deutlicher spürbar wird. Unter dem Thema „Unbeschreiblich weiblich“ sollen Heldinnen der Antike und Frauen in der heutigen Kulturszene in Klang und Wort, reflektierender Theorie und szenischer Praxis aufeinander treffen.

Info: www.theater-essen.de




Würziger Hopfen, weißer Schaum: Betrachtungen zum „Tag des Bieres“

Ein sumerischer Opfertisch: Die Sumerer kannten schon vor 6000 Jahren das Bier. Foto: Deutscher Brauer-Bund

Ein sumerischer Opfertisch: Die Sumerer kannten schon vor 6000 Jahren das Bier. Foto: Deutscher Brauer-Bund

Wilde Hefen waren es, die vor 6000 Jahren bei den alten Sumerern im Zweistromland für die erste Gärung sorgten. Das Bier war geboren – ein Getränk, das mit dem blonden oder braunen Gerstensaft von heute allerdings nicht mehr viel zu tun hat. Unsere geschmacklich einwandfreien und reinen Biere ließen sich erst im Zuge wissenschaftlicher und industrieller Entwicklungen im 19. Jahrhundert erzeugen. Aber eine Quelle unserer Bierkultur ist bald 500 Jahre alt und wurde am Georgitag des Jahres 1516 unterschrieben: Grund genug, jedes Jahr am 23. April den „Tag des Bieres“ zu begehen.

Die Quelle ist das Bayerische Reinheitsgebot, gegeben von Wilhelm IV., Herzog in Bayern, zu Ingolstadt. Die Forderung ist eindeutig: „Ganz besonders wollen wir, daß forthin allenthalben in unseren Städten, Märkten und auf dem Lande zu keinem Bier mehr Stücke als allein Gersten, Hopfen und Wasser verwendet und gebraucht werden sollen“, heißt es in der Urkunde. Die vierte Zutat, die Hefe, war damals noch nicht greifbar; erst dem dänischen Botaniker Emil Christian Hansen gelang es, im Carlsberg-Laboratorium in Kopenhagen eine Methode zur Reinzucht von Hefen zu entwickeln. Er beschrieb sie 1883 erstmals. Heute versuchen Mini-Brauereien wieder experimentell, mit Hilfe von Spontangärung durch anfliegende Hefen geschmacklich eigenwillige Biere zu brauen.

Das Original: Die Urkunde mit dem Reinheitsgebot von 1516. Foto: Deutscher Brauer-Bund.

Das Original: Die Urkunde mit dem Reinheitsgebot von 1516. Foto: Deutscher Brauer-Bund.

Das Bayerische Reinheitsgebot galt ab 1906 im gesamten deutschen Reichsgebiet. Bayern hat 1918 sogar seinen Verbleib in der neuen Republik unter anderem von der Geltung des Gesetzes abhängig gemacht. Bier ist damit bis heute eines der reinsten Lebensmittel – auch wenn moderne Hefen und Hopfensorten und die Aufbereitung des Brauwassers die Qualität der Zutaten verändert haben.

Hopfen versus Grut

Dass es lange vor dem Reinheitsgebot ein Bewusstsein für die Qualität des Bieres – im Mittelalter schließlich eines der Hauptnahrungsmittel der Bevölkerung – gegeben hat, bezeugen zahlreiche Zunftordnungen aus den für ihr Bier berühmten norddeutschen Städten. Von dort drang das Hopfenbier auch in die Gegenden ein, in denen wohl schon zur Zeit von Christi Geburt das „Grut“ als Bierwürze verwendet wurde. Grut ist eine Kräutermischung aus dem Gagelstrauch mit seinen starken ätherischen Ölen und verschiedensten Kräutern, von Schafgarbe bis Thymian, dazu unter Umständen auch Zutaten wie Wermut und Fichtenspitzen.

Im Land um Rhein und Ruhr waren diese „Grutbiere“ bis weit in die Neuzeit hinein verbreitet. In Dortmund etwa gab es wohl schon im Mittelalter eine städtische Aufsicht über die Qualität des Bieres, die sich nach dem Stadtbrand von 1232 aber erst Mitte des 13. Jahrhunderts in schriftlichen Quellen fassen lässt. Die Stadtrechnungen lassen auf die Bestandteile des Dortmunder Bieres schließen: Gersten- und Hafermalz und Grut aus Hopfen, Lorbeer und der Sumpfpflanze Porst (Rhododendron tomentosum, Moor-Rosmarin), heute auf der Roten Liste der gefährdeten Pflanzenarten. Porst verstärkte die Alkoholwirkung, konservierte das Bier aber auch.

Die Dortmunder liebten ihr Grutbier offenbar. 1548 beklagte der Stadtchronist Dietrich Westhoff eine Verdrängung des Grutbiers durch andere Sorten, so dass schließlich „des edeln gruten beers wenig gebrouwert wert“. Der letzte Gruter in Dortmund gab 1551 sein Gewerbe auf. Die Ratsherren mussten neumodisches Hopfenbier trinken, das ihnen wohl wegen der fehlenden aromatischen Würze nicht so gut geschmeckt haben soll.

Mit technischer Innovation zur Bier-Weltstadt

Erst die moderne Brautechnik ermöglichte gleichbleibende Qualität und lange Haltbarkeit. Ein Kupferkessel in einem Sudhaus. Foto: Deutscher Brauer-Bund.

Erst die moderne Brautechnik ermöglichte gleichbleibende Qualität und lange Haltbarkeit. Ein Kupferkessel in einem Sudhaus. Foto: Deutscher Brauer-Bund.

Um bei Dortmund zu bleiben: Das industrielle Brauwesen, für das die Stadt berühmt werden sollte, ist der von Bayern ausgehenden untergärigen Braumethode zu verdanken. Verbunden mit technischen Innovationen wie der Dampfmaschine und der von Carl Linde erfundenen maschinellen Kühlung konnte ganzjährig Bier in gleichbleibender Qualität gebraut werden. Die längere Lagerfähigkeit – davon spricht heute noch die Bezeichnung „Lager“ – ermöglichte auch den Export. Um 1900 wurde ein Viertel des weltweit industriell gebrauten Bieres in Deutschland hergestellt. Neben Kohle und Stahl trat das Bier als dritte Säule der industriellen Entwicklung.

Heute ist der Biermarkt in heftiger Bewegung. Die Zeit, in der internationale Großkonzerne versuchten, das Reinheitsgebot zu kippen, ist zum Glück – vorerst? – vorbei. Es bleibt zu hoffen, dass die Grundlage der deutschen Bierqualität auch den Abschluss der Verhandlungen um das TTIP-Abkommen überstehen möge. Die Absatzzahlen für klassische Biersorten gehen seit Jahren zurück. Die Deutschen trinken pro Kopf und Jahr nur noch 107 Liter Bier (2014) und stehen damit auf Platz zwei der Statistik gleichauf mit den Österreichern – und weit überholt vom „Bierweltmeister“ Tschechien mit 144 Litern.

Allerdings: Mit mehr als 5500 Biermarken und 95 Millionen Hektolitern Jahresproduktion sind die Deutschen nach wie vor die „Europameister“ des Bieres. Und auch die Zahl der Brauereien geht nicht zurück, wie der Brauer-Bund vermeldet: Sie stieg von 1281 im Jahr 2004 auf 1352 im letzten Jahr. Dennoch: Viele kleine und mittelständische Brauereien müssen ums Überleben kämpfen; andere, wie etwa die Hausbrauereien in Oberfranken, haben ihre Nische entdeckt und sprechen den Bierliebhaber mit variantenreichen regionalen Spezialitäten an.

Bierwerbung von einst: Zum Glück blieb die blonde Halbe keine "Fata Morgana". Historische Postkarte aus der Sammlung Willi Dürrnagel, Würzburg

Bierwerbung von einst: Zum Glück blieb die blonde Halbe keine „Fata Morgana“. Historische Postkarte aus der Sammlung Willi Dürrnagel, Würzburg

Auf solche Spezialitäten setzen nicht nur die Kleineren. Auch große Brauereien besinnen sich zurück auf Vielfalt und Individualität. In Dortmund beherrscht inzwischen die Radeberger Gruppe den Braumarkt, pflegt aber mit der Hövels Hausbrauerei am Hohen Wall ein Bier aus der Gründungszeit der alten „Brauerei von Hövel, Thier & Co.“ von 1854. Die alte Marke „Dortmunder Bergmann Bier“ wurde 2010 wiederbelebt und hat so viel Erfolg, dass 2014 die Planungen für eine neue Braustätte aufgenommen wurden.

In der alten Borbecker Dampfbierbrauerei in Essen werden seit den achtziger Jahren wieder traditionelle und neue Sorten gebraut und ausgeschenkt. Und apropos Grutbier: Das „Gruthaus“ in Münster experimentiert mit den Rezepten aus dem 15. Jahrhundert: „Erste Versuche ergaben ein sehr wohlschmeckendes und erfrischendes Kräuterbier mit süßlich-floraler Note“, heißt es auf der Homepage.

2016, wenn der 500. Jahrestag des Reinheitsgebots-Erlasses gefeiert wird, dürfte sich auch das historische Interesse auf das Bier lenken lassen. Liebhabern sei jetzt schon die Bayerische Landesausstellung 2016 in Aldersbach im Passauer Land empfohlen: Das Zisterzienserkloster mit einer wundervollen barocken Asam-Kirche ist Schauplatz von „Bier in Bayern“. Am 29. April 2016 geht’s los: Bis 30. Oktober – während der Sommer- und Herbst-Urlaubszeit – steht das „fünfte Element“ der Bayern im Mittelpunt der über zwei Millionen Euro teuren Schau.




„Nordischer“ Ton: Duo Tal & Groethuysen eröffnet in Duisburg das Klavier-Festival Ruhr

Eröffnung bei strahlendem Wetter im Landschaftspark Duisburg Nord: Das Klavier-Festival Ruhr versammelt wieder Pianisten aus aller Welt. Foto: Werner Häußner

Eröffnung bei strahlendem Wetter im Landschaftspark Duisburg Nord: Das Klavier-Festival Ruhr versammelt wieder Pianisten aus aller Welt. Foto: Werner Häußner

Der „nordische Ton“ klingt leicht, unbeschwert, spielerisch. Er hat nichts von dunklen Polarkreisnächten, eher etwas vom hellen finnischen Sommer, von der leuchtenden Frische schwedischer Frühlingstage. Er beschwört keine nebelverhangenen Wälder, sondern das flimmernde Grün des Schattenspiels in einem Mai-Garten. Yaara Tal und Andreas Groethuysen halten aus ihrem Programm alles Schwere, Lastende heraus. Sie eröffnen das Klavier-Festival Ruhr in Duisburg mit Mozart, Grieg und Strauss.

Mit dem „nordischen Ton“ als Leitlinie manövriert sich ein Festival in erhebliche Definitions-Schwierigkeiten. Da gibt es „nordische“ Komponisten, die eigentlich „international“ sein wollten, wie der ebenfalls zu Festival-Ehren kommende Jean Sibelius anlässlich seines 150. Geburtstags. Und da gibt es andere, die vielleicht auf die nationale Karte gesetzt haben, die aber heute keiner mehr kennt und von denen man kaum einen international renommierten Pianisten überzeugen kann. Wie wäre es zum Beispiel mit dem vor 200 Jahren geborenen Norweger Halfdan Kjerulf, der deutsche Romantik und norwegische Volksmusik in zahlreichen Klavierwerken verbunden hat? Das wäre ein „nordischer“ Ton – aber vermutlich würden sich Sponsorengattinnen für den schwergängigen Namen kaum begeistern lassen.

So bleibt es bei dem, was man so gemeinhin als „nordisch“ kennt, und mit dieser Dramaturgie kann auch das Duo Tal & Groethuysen gut leben. Immerhin: Die C-Dur-Sonate Mozarts (KV 545) und die c-Moll-Fantasie (KV 475) erklingen in der Gebläsehalle des Duisburger Landschaftsparks in einer Bearbeitung Edvard Griegs: Der Norweger hat eine Stimme hinzukomponiert und damit den Mozart-Ton entschieden romantisiert. Griegs Peer Gynt Suite (op. 46) in einem Arrangement für zwei Klaviere des britischen Spezialisten Richard Simm geht über gepflegte Hausmusik hinaus, wirft Blicke auf die Schichten unterhalb der weltberühmten Melodien. Yaara Tal gibt gemeinsam mit ihrem Ehemann und Klavierpartner Andreas Groethuysen dem lyrisch verhaltenen feinen Licht ebenso Raum wie der leisen Resignation von „Åses Tod“ und dem dunklen Marcato der „Halle des Bergkönigs“, das sich zu donnernden Tonketten im Bass steigert.

Seit 30 Jahren zusammen, seit 1997 regelmäßig zu Gast beim Klavier-Festival Ruhr: Das Duo Yaara Tal und Andreas Groethuysen. Foto: KFR/Frank Mohn

Seit 30 Jahren zusammen, seit 1997 regelmäßig zu Gast beim Klavier-Festival Ruhr: Das Duo Yaara Tal und Andreas Groethuysen. Foto: KFR/Frank Mohn

Richard Strauss‘ „Till Eulenspiegel“ lässt gemischte Gefühle zurück: Nicht, weil das Duo mit dem technisch anspruchsvollen Stück Probleme hätte – dreißig Jahre gemeinsamen Musizierens führen zu einer bewundernswerten Vertrautheit. Auch nicht, weil Bearbeitungen – diese stammt von Otto Singer junior – oft durch Reduktion strukturelle Einblicke gewähren, die sonst gerne mit dem üppigen Orchesterklang bemäntelt sind. Sondern eher, weil die Farben des Orchesters fehlen und Strauss eben nicht nur strukturell, sondern auch farbig-plastisch gedacht hat. Dennoch: Das Duo findet zu burleskem Charme und spritzigen Dialogphasen. „Nordisch“ freilich ist darin nichts.

Ein wenig enttäuschend blieb ausgerechnet Mozart, sonst ein Paradekomponist der beiden Virtuosen. In der „Sonata facile“ – die alles andere als „leicht“ ist – finden sie zu ausschwingenden melodischen Phrasierungen und zu einem apart zärtlichen Ton. Aber das Andante ist im Tempo nicht nur rasch, sondern auch angespannt; das Rondeau zu neutral in der Artikulation und damit weder spritzig noch beglückt mit dem sprühenden Witz Mozarts.

In der Fantasie (KV 475) entdecken Tal & Groethuysen nicht so sehr die auf Beethoven weisenden Kühnheiten in Chromatik und Modulation, sondern eher die klassische Gemessenheit, von Grieg lyrisch-romantisch eingedunkelt. Und Mozarts Sonate für zwei Klaviere (KV 448) demonstriert, wie traumwandlerisch sich die Beiden im lebendig flüssigen Tempo verstehen, lässt aber den Charme des „con spirito“ vermissen, will im zweiten Satz nur punktuell zur poetischer Tiefe und atmender Phrasierung vorstoßen und bleibt im dritten flach und rasch. „Heruntergehudlet“ schimpfte Mozart einmal in einem Brief über eine solche Demonstration fehlerfreier, aber auch seelenarmer Geschwindigkeit.

Der „nordische Ton“ bleibt im Programm präsent

Das Klavier-Festival wird in den kommenden rund 60 Konzerten in 20 Städten dem „nordischen Ton“ weiter nachspürenm aber auch dem 100. Todestag von Alexander Skrjabin Tribut zollen. So spielt Olli Mustonen am 27. April in Duisburg eine eigene Komposition – schlägt sozusagen den aktuellen „nordischen Ton“ an –, widmet sich aber auch Sibelius als Klavierkomponisten und stellt Griegs Ballade g-Moll op. 24 vor. Henri Sigfriedsson spielt am 10. Mai in Bottrop einen Sibelius-Abend. Skandinavisch geht es auch am 13. Mai in Schloss Herten zu, wenn Miah Persson, begleitet vom Klavierfestival-Urgestein Graham Johnson auch unbekanntere Lieder etwa von Ture Rangström und Wilhelm Stenhammar singt.

Jean Sibelius auf einem historischen Foto von 1913.

Jean Sibelius auf einem historischen Foto von 1913.

Am 19. Mai widmet sich dann in Essen in der Philharmonie Mikhail Pletnev den 23 Préludes op. 11 von Alexander Skrjabin. Und der junge Pavel Kolesnikov spielt am 31. Mai in Moers in einem der 25 bereits ausverkauften Konzerte die Fis-Dur-Sonate op.30 Skrjabins – die einen Tag später von Gabriela Montero in Düsseldorf wiederholt wird. Am 2. Juni bringt Rafał Blechacz mit „Pelimannit“ („Die Geiger“) das Opus 1 des 1928 geborenen Einojuhani Rautavaara, eines der wichtigen lebenden Komponisten Finnlands.

Am 5. Juni spielt in Dortmunds Harenberg Center der Sieger des Grieg-Wettbewerbs, der Norweger Joachim Carr, Stücke von Grieg und Nikolaj Medtner. Und am 6. Juni folgt ihm in der verdienstvollen Reihe „Die Besten der Besten“ der vielfache Wettbewerbssieger Andrey Gugnin mit Sibelius, Skrjabin und der Siebten Sonate von Sergej Prokofjew. Originell das Programm des norwegischen, in Köln unterrichtenden Cembalisten Ketil Haugsand. Er konfrontiert am 9. Juni in Schloss Hohenlimburg Bach und Buxtehude mit dem 1758 gestorbenen Johan Helmich Roman, dem „Vater der schwedischen Musik“ und mit dem in Memel geborenen und bis zu seinem Tod 1787 in Trondheim wirkenden Johan Daniel Berlin.

Am 15. Juni kehrt Joseph Moog zum Klavier-Festival zurück und widmet sich im Konzerthaus Dortmund mit den Bochumer Symphonikern unter Steven Sloane dem fis-Moll-Klavierkonzert Skrjabins. Und zum Abschluss des Klavier-Festivals am 4. Juli greift das WDR Sinfonieorchester unter dem Gastdirigenten Hannu Lintu noch einmal kraftvoll zum nordischen Repertoire und spielt Carl Nielsens „Helios“-Ouvertüre und Jean Sibelius‘ Zweite Symphonie. Igor Levit krönt das Programm mit Griegs Klavierkonzert.

Info: www.klavierfestival.de




Die Welt der Pilger – Ausstellung im Museum für religiöse Kultur in Telgte

Auf der Falkenburg bei Detmold gefunden: Ein "vera icon", ein Pilgerzeichen aus Rom aus dem 13./14. Jahrhundert mit dem Antlitz Christi. Leihgabe und Foto: Lippisches Landesmuseum Detmold.

Auf der Falkenburg bei Detmold gefunden: Ein „vera icon“, ein Pilgerzeichen aus Rom aus dem 13./14. Jahrhundert mit dem Antlitz Christi. Leihgabe und Foto: Lippisches Landesmuseum Detmold.

Was Telgte und seine Marienkapelle schon sind, kann das „Religio“ in diesem Jahr werden: eine Pilgerstätte. Jetzt ist im Westfälischen Museum für religiöse Kultur in Telgte die Ausstellung „Pilgerwelten“ zu sehen.

Die Ausstellung begleitet die Eröffnung eines neuen Teilstücks des Jakobswegs von Bielefeld bis Wesel. Die Federführung dieses Projekts hat die Altertumskommission des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL). Die Deutsche St. Jakobus-Gesellschaft e.V. firmiert als Schirmherrin für die „Pilgerwelten“.

Für die Kuratorinnen Anja Schöne und Lena Mengers ist das Pilgern auch eine Reise zu sich selbst. Dementsprechend haben sie nicht nur Leihgaben aus dem Stiftungsbestand Preußischer Kulturbesitz, dem Jüdischen Museum Berlin, dem Kölner und dem Essener Domschatz zusammengetragen, wie etwa eine Handschrift mit dem Pilgerbericht des Ritters Arnold von Harff vom Ende des 15. Jahrhunderts aus dem Kloster Maria Laach.

Arnold von Harff kniet vor den Heiligen Drei Königen. Aus dem Pilgertagebuch des Arnold von Harff, Niederrhein, Handschrift von 1554. Leihgabe und Foto: Bibliothek der Abtei Maria Laach.

Arnold von Harff kniet vor den Heiligen Drei Königen. Aus dem Pilgertagebuch des Arnold von Harff, Niederrhein, Handschrift von 1554. Leihgabe und Foto: Bibliothek der Abtei Maria Laach.

Die Ausstellung fragt auch nach den Motiven, warum sich Menschen auf Pilgerfahrt begeben – weltweit sind es jährlich 350 Millionen –, wie sie pilgern und was das Pilgern mit ihrem Körper und ihrer seelischen Verfassung macht.

Für den umfangreichen Katalog haben die beiden Ausstellungsmacherinnen Pilger aller Weltreligionen nach ihren Motiven, Erfahrungen und Erlebnissen befragt. „Dabei lag der Fokus stets auf Westfalen“, unterstreicht Mengers.

Der Schwerpunkt liegt auf der Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela. Diese Reise zum Grab des Apostels Jakobus in den äußersten Westen der iberischen Halbinsel entwickelte sich seit dem 9. Jahrhundert und zog bereits zwei Jahrhunderte später viele Pilger aus ganz Europa an. Die Ausstellung folgt ihren Spuren. Zudem beleuchtet sie die praktische Seite des Pilgerns, so dass man sich anschließend gleich auf den Weg machen könnte. Denn: Zur besseren Anschaulichkeit ist der Herdfeuerraum im alten Teil des Museums zu einer echten Pilgerherberge mit echten Stockbetten umfunktioniert.

Der Weg der Jakobspilger von Bielefeld nach Wesel wird mit einer ökumenischen Andacht und einer gemeinsamen Begehung am Freitag, 8. Mai, ab 14 Uhr, eröffnet. Info: www.jakobspilger.lwl.org

Info zur Ausstellung und zum umfangreichen Rahmenprogramm, u. a. mit Radpilgern und einem Musical: www.museum-telgte.de

 




Verkannte Moderne: Essener Philharmoniker mit spannendem Programm

Seltsame Wege geht die Geschichte manchmal: Was bleibt? Was wird vergessen? Von der spannenden Zeit der anbrechenden musikalischen Moderne im deutschen Sprachraum bis zum Ersten Weltkrieg, auch von der Vielfalt in den Zwanziger Jahren, ist wenig geblieben: Richard Strauss vor allem; auch der erst seit wenigen Jahrzehnten wiederentdeckte Gustav Mahler. Und natürlich die Wiener Schule, gehätschelt von den „Fortschrittlichen“ nach dem Krieg, wenig geschätzt von einem auf Genuss und Wiedererkennungswert fixierten Publikum.

Entsprechend abgemagert war, was Dirigenten und Orchester für ihre Abo-Reihen – manchmal bis heute – auswählen. Und so war das Schönste am Neunten Sinfoniekonzert der Essener Philharmoniker das ungewöhnliche Programm mit drei Aspekten der Moderne, das sich nicht wieder in den Göttern des Genres erschöpfte.

Der erste verbindet sich mit Max Regers „Lustspiel-Ouvertüre“ von 1911, das Werk eines einst gefeierten Sonderlings, dem die technische Brillanz des Komponierens über alles ging. Man wagt nicht sich vorzustellen, welches „Lustspiel“ die Musik hätte einleiten sollen. Reger führt in dem dicht gewebten Satz alles vor, was ein Meisterkomponist zu beherrschen hat: Sonatenform, Haupt-, Neben- und Seitenthema, kunstfertige Kontrapunktik, Abwandlung, Kombination und Verarbeitung des thematischen Materials, rasante Modulationen. Man staunt, was in knapp zehn Minuten alles an formaler Kreativität möglich ist.

Hyeyoon Park. Foto: Giorgia Bertazzi

Hyeyoon Park. Foto: Giorgia Bertazzi

Aber die Lust ist – mit Verlaub – die eines geschickten Handwerkers: Taucht einmal ein melodischer Gedanke, eine rhythmische Figur auf, gehen sie sogleich im Mahlstrom der Polyphonie unter. Das mag alles mit intellektuellem Gewinn zu lesen sein; mit sinnlicher Lust zu hören ist es nicht.

Gastdirigent Patrick Lange tat nichts, um Regers artifizielles Geflecht durchsichtig zu machen. Die Philharmoniker produzierten einen Klang so fett wie die Braten, die der Ur-Oberpfälzer zu verschlingen pflegte. Die Bruchstücke Mendelssohnscher Pianissimo-Fragilität oder Nicolaischen Rhythmus-Charmes reichen nicht, um die üppige Zubereitung leichter zu machen.

Im atonalen Frost verwelkt

Ein zweiter Aspekt der Moderne: Erich Wolfgang Korngolds Violinkonzert, eine 1947 uraufgeführte romantische Spätblüte, schnell verwelkt im atonalen Frost der Nachkriegszeit. Das Gegenteil von Reger: süffige Melodielinien, schmeichlerische Harmonik, statt inneren symphonischen Zusammenhangs ein rhapsodisches Zitieren aus Korngolds Filmmusiken. Kein Wunder, dass eine technikverliebte musikalische Epoche diese kunstvoll assoziativ verknüpfte Musik nicht würdigen konnte. Korngold galt als Edel-Kitsch mit dem sentimental-süßlichen Odeur der Operette.

Dass dem nicht so ist, dass Korngold, das „Wunderkind“ des Wiener Fin de Siècle, sein „Handwerk“ souverän beherrschte, ist auch im Violinkonzert ablesbar. Die Überleitungs- und Durchführungspassagen des ersten Satzes verlangen Musikalität und Formgespür – bloßer üppiger Ton reicht da nicht. Auch nicht für das Seitenthema: Es erinnert an den Opernkomponisten Korngold, dessen „Tote Stadt“ mittlerweile wieder zum Repertoire gehört.

Hyeyoon Park spielt mit leuchtendem Ton und angemessener Aufmerksamkeit für den Gehalt jenseits sinnlicher Vordergründigkeit. Aber für die erotisch glühende Melodik ist der Porzellanton der 1992 geborenen Koreanerin zu kühl – auch wenn sie mit siebzehn Jahren mit diesem Konzert den ARD-Wettbewerb gewonnen, auch wenn die Kritik die natürliche Süße ihres Tons gepriesen hatte.

Den schwelgerischen Überschwang einer Anne-Sophie Mutter braucht es nicht, aber die Kantilene darf blühen, der Ton hin zu befreiender Fülle drängen. Der transparente zweite Satz überzeugt eher: Hyeyoon Park gestaltet die Phrasierung manchmal verletzlich filigran, findet dezentes lyrisches Schimmern. Hier zeigt sie, wie sie mit Tönen modelliert.

In den spieltechnischen Raffinessen des dritten Satzes ist sie in ihrem Element: leichtfüßige Staccati, ein pfeffriger Tarantella-Rhythmus, mit souveränem Schwung durchformulierte Melodik, Temperament in der Stretta. Der Beifall war begeistert – sicher auch, weil das Orchester bemüht war, Korngold vom Klischee der Filmmusik – mit der er höchst erfolgreich war – wegzurücken. Das bei der Uraufführung heftig getadelte Vibraphon jedenfalls bringt wie andere Instrumente des reichen Schlagwerks wunderbare Schattierungen in die Farbpalette des klassischen Instrumentariums.

Musikalische Meisterschaft und philosophischer Tiefgang

Zum Dritten schließlich Alexander Zemlinskys „Lyrische Sinfonie“ von 1924. Sie verbindet technische Meisterschaft, formale Reflexion, sinnliche Unmittelbarkeit und philosophischen Tiefgang. Die sieben Liebesgedichte von Rabindranath Tagore spiegeln die unnennbare Sehnsucht, das abgründige Verlangen, das ruhe- und ziellose Begehren der Zeit wider, spielen mit bedeutungsvollen Naturmotiven und symbolträchtigen Bildern. Zemlinsky findet dafür einen hochdifferenzierten Ton, nutzt den Reichtum des Orchester-Instrumentariums gedankenvoll und virtuos aus, kennt die rhythmische Schärfe, das raunende Piano, die Majestät des Blechs.

Wieder lassen es die Essener Philharmoniker an subtiler Modellierung des Klangs fehlen. Dirigent Patrick Lange dämpft nicht ab, daher ist das Orchester oft zu laut, zu wenig atmosphärisch im Klang. Der Bariton Heiko Trinsinger schöpft in der Deutung der Worte aus seiner Erfahrung, setzt seine große, nach wie vor flexible Stimme ein. Katrin Kapplusch ringt ihrem Sopran gestoßene Töne, ein hartes Vibrato und schrille Höhen ab. Zemlinskys raffinierte Klangwelten wurden umrundet, aber nicht erobert.

Informationen: http://www.essener-philharmoniker.de/sinfoniekonzerte/9-sinfoniekonzert-der-essener-philharmoniker-lyrisch.htm




Makellose Technik im Dienste des Ausdrucks – die Sängerin Diana Damrau auf Bühne und CD

Diana Damrau. Foto: Michael Tammaro/Virgin Classics

Diana Damrau. Foto: Michael Tammaro/Virgin Classics

Fiamma del Belcanto“ heißt die neueste CD-Veröffentlichung der Sängerin Diana Damrau. Mit den Begriffen nimmt man’s bei Warner nicht so genau: Enthalten sind Arien des klassischen Belcanto, etwa aus „La Sonnambula“ und „I Puritani“ von Vincenzo Bellini, Raritäten wie Gaetano Donizettis „Rosmonda d’Inghilterra“, die der Opernbesucher im Ruhrgebiet vor einigen Jahren in Gelsenkirchen erleben konnte, und Ausschnitte aus Opern des mittleren Verdi, aber auch die Arie der Nedda („Qual fiamma“) aus Ruggero Leoncavallos „Pagliacci“, die das „schöne“ Singen der romantischen Ära hinter sich gelassen haben.

Wie auch immer: „Belcanto“ ist ein unscharfer Begriff geworden, der heute irgendwie mit einer geglückten Stimmtechnik und dem italienischen Repertoire zu tun hat – mehr nicht. Dass es noch wenige Sänger(innen) gibt, die mit den Mitteln dieser musikalischen Ausdruckswelt umgehen können, bewies Diana Damrau nicht nur mit ihrer CD, sondern auch bei einem Arienabend in der Alten Oper Frankfurt. Gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Bassbariton Nicolas Testé, sang sie Ausschnitte aus dem CD-Programm, begleitet von der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz unter David Giménez.

Ein Abend, der die Faszination des technisch makellosen Singens im Dienst einer klugen Expression in unsere Welt zurückgeholt hat. Trotz einer hartnäckigen Bronchitis war Diana Damrau in jedem Moment Herrin der Lage: Ein paar zögerliche Ansätze und heimliche Huster zwischendurch sind Marginalien, für die sich die Sängerin humorvoll selbst entschuldigte: Der Versuch der Ansage vor dem Konzert ging mangels gestützter Stimme des Sprechers kläglich unter.

Manchmal ist „Technik“ fast zu einem abwertenden Begriff geworden: „Technisches“ Singen gilt in diesem Sinn als instrumental, kalt, ausdrucksarm, seelenlos. Was man hören will, sind vor dem Hintergrund eines solchen Urteils die ins Grobe verzerrten „naturalistischen“ Stilelemente des Verismo oder eines deklamatorischen Wagner-Gesangs. Übersehen wird dabei, dass Gestaltung mittels musikalischer Mittel eine makellose Technik voraussetzt. Diana Damrau hat die Gabe, noch die schwierigste Phrase technisch einwandfrei zu bewältigen – und so ist sie imstande, inhaltlich erfülltes und emotional bewegendes Singen zu verwirklichen.

Zum Beispiel in Szene und Romanze der Giulietta aus Vincenzo Bellinis „I Capuleti e I Montecchi“: Das fragile Rezitativ („Eccomi in lieta vesta …“) verlangt von der Sängerin variable Pianissimo- und Piano-Schattierungen, ein sicher auf dem Atem getragenes Legato und die Kunst des sprachhaltigen, akzentuierten Bildens der Worte. Damrau macht schon in der unterschiedlichen Färbung des wiederholten Eingangswortes „eccomi“ deutlich, wie die emotionale Verfassung der blutjungen Julia ist, die sich vor einer erzwungenen Hochzeit fürchtet und nach ihrem fernen Geliebten Romeo sehnt. Die Hochzeitsfackeln brennen, aber für sie sind es verhängnisvolle Lichter, Zeichen künftigen Unglücks: Die Begriffe, die das seelische Leid des Mädchens umschreiben, färbt Damrau zwischen tonlos, fahl und düster, stets aber den rund und makellos gebildeten Ton bewahrend.

Den Namen des ersehnten Geliebten, „Romeo“, lässt sie dagegen zärtlich blühen. Damrau zeigt, wie viel Expressivität den „einfachen“ Noten Bellinis zu entlocken ist. Die Romanze „Oh! Quante volte, oh!“ legt sie dagegen eher instrumental an: Hier steht der vollendet gebildete Legato-Bogen im Vordergrund, der seinerseits nicht eine Demonstration technischer Kunstfertigkeit ist, sondern die Freiheit ermöglicht, das Singen auf den Sinn der Worte zu konzentrieren.

Wieder anders angelegt ist die Figur der Elvira aus Bellinis „I Puritani“: Damrau führt sie nicht so ätherisch ein wie vor 12 Jahre Elena Mosuc in der legendären Essener Inszenierung Stefan Herheims unter Stefan Soltesz. „Qui la voce“ nimmt sie fließend, mit kostbar klanggesättigtem Ton und leichter Akzentuierung. In ihrem Singen leuchtet das frühere Glück noch in der Wehmut über den Verlust nach. Die Cabaletta „Vien diletto“ gestaltet Damrau mit drängendem Begehren auf „vien“ – der Geliebte möge endlich kommen und sie aus dem Gefängnis ihrer Trauer befreien; der helle, neckische Ton, den Damrau anschlägt, trägt die Züge des Irrsinns.

Eine Verheißung für neue Partien in den nächsten Jahren sind die ebenso expressiv durchgebildeten Szenen aus Verdis „I Masnadieri“ („Die Räuber“) und „Luisa Miller“. Diana Damrau ist heute in der Lage, sich über die auch in Frankfurt gefeierte Violetta hinaus dem mittleren Verdi und allen großen Frauenpartien Donizettis problemlos zu nähern – und gerade bei Donizetti gäbe es noch vieles auf die Bühne zurückzuholen, von „Parisina d’Este“ bis beispielsweise „Maria di Rohan“. Mit Nicolas Testé stand ihr ein Sänger zur Seite, der zwar nicht über Damraus gestalterische Finesse verfügt, aber einen gut durchgebildeten, füllig timbrierten Bassbariton mitbringt. „Cedi, cedi“ aus dem groß angelegten Duett Raimondo – Lucia aus „Lucia di Lammermoor“ ist eine der wundervoll chevaleresken Kavatinen Donizettis, die Testé nobel zurückhaltend singt; die wehmütige Jugenderinnerung des Grafen aus Bellinis „La Sonnambula“ kleidet er in weite Phrasierung, weniger aber in die Farbe des nostalgischen Schmerzes.

Testé zeigt auch, dass die Erzählung des Ferrando aus dem ersten Akt von Verdis „Il trovatore“ meist viel zu wenig ernst genommen wird: Sie ist nicht nur dramaturgisch unersetzlich, um das Geschehen zu verstehen, sondern gibt dem Sänger auch reichlich Gelegenheit, balladeske Rhetorik zu entfalten. Testé trifft den erzählenden Duktus und beweist, dass er mit einem ansprechend gebildeten Zentrum punkten kann. So erlebt man ihn auch in der Szene zwischen Luisa und Wurm aus dem zweiten Akt von Verdis Schiller-Adaption – wobei andererseits auch deutlich wird, wo Testé am charakterisierenden Ausdruck arbeiten muss. Der „Canaille“ fehlen noch die Farben der Niedertracht.

Die neueste CD von Diana Damrau ist bei Warner Classics erschienen und enthält auch wenig bekannte italienische Arien etwa von Gaetano Donizetti. Cover: Warner Classics

Die neueste CD von Diana Damrau ist bei Warner Classics erschienen und enthält auch wenig bekannte italienische Arien etwa von Gaetano Donizetti. Cover: Warner Classics

Undankbar sind solche Arienkonzerte oft für das begleitende Orchester. Die Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz scheint gleich zu Beginn unterstreichen zu wollen, dass sie das Spektakel nicht ernst zu nehmen gewillt sei: Die Ouvertüre zu Bellinis „Capuleti e Montecchi“ gerät zur Jahrmarktsmusik, mit knallendem Schlagwerk und faserigen Einsätzen: Lärm statt Brillanz, Buchstabieren von Tönen statt Atmen von Phrasen.

Auch Dirigent David Giménez weckt mit hastigen Übergängen und steifer Agogik für die Ouvertüre zu „Norma“ schlimme Befürchtungen. Es sei zur Ehrenrettung des Klangkörpers betont, dass der Abend immer besser wurde: Trotz der kurzatmigen Anlage durch Giménez und der lärmenden Coda gelang in „Norma“ der Kontrast der kriegerischen Klänge mit der atmosphärisch reizvollen Entrückung. Und das Intermezzo aus Giacomo Puccinis „Manon Lescaut“ war so ausgesprochen leidenschaftlich wie das Vorspiel zu „La Traviata“ traurig-ätherisch.

Ein Sonderlob gebührt der Cellistin, die Diana Damrau in „Ah, non credea“ aus Bellinis „La Sonnambula“ sensibel begleitete. Am Ende großer Jubel und viele Bravi für Nicolas Testé, vor allem aber für Diana Damrau, die auch aus ihrer Zeit im Festengagement an der Oper Frankfurt trotz der zwölf mittlerweile vergangenen Jahre eine treue Fan-Gemeinde hat.

Fiamma del Belcanto. Diana Damrau, Orchestra Teatro Regio Torino, Gianandrea Noseda, CD bei Warner Classics 0825646166749

Die nächsten Auftritte von Diana Damrau in Deutschland sind beim Mozartfest Würzburg am Montag, 8. Juni, 20 Uhr, in Mozarts „Le Nozze di Figaro“ in Baden-Baden am 16. und 19. Juli, bei den Münchner Opernfestspielen am 22. und 25. Juli als Lucia in Donizettis „Lucia di Lammermoor“ und als Violetta in Verdis „La Traviata“ an der Deutschen Oper Berlin ab 9. Januar 2016.




Weg der Qual ohne Erlösung: Lars von Triers „Dogville“ am Theater Krefeld

"Dogville" am Theater Krefeld: Die Bühne von Gabriele Trinczek zitiert die "Versuchsanordnung" des Films aus dem Jahr 2003. Foto: Matthias Stutte

„Dogville“ am Theater Krefeld: Die Bühne von Gabriele Trinczek zitiert die „Versuchsanordnung“ des Films aus dem Jahr 2003. Foto: Matthias Stutte

Das Stück handelt von unverdienter Gnade, vom Unsinn von Barmherzigkeit. Vom Scheitern eines Lebensprinzips, das dem Weg Jesu folgt, in einer Gesellschaft, die man als „kleinbürgerlich“ bezeichnen könnte, die aber über jenes schiefe Etikett weit hinausreicht und für die Menschheit als Ganze stehen könnte. Lars von Triers „Dogville“ spielt wie kaum einer anderer Film mit christlich-biblischen Bezügen. Aus dem Film wurde ein Bühnenstück, das jetzt am Krefelder Theater Premiere hatte.

Eigentlich sind solche Adaptionen überflüssig. Warum sollte man einen nahezu perfekten Film nahezu eins zu eins ins Theater übertragen? Es gibt Tausende von Dramen, die auf der Bühne und nur da wirken. Wozu also dieses Wiederkäuen? Und die Frage lässt sich erweitern auf die modische Bearbeitung von großen Romanstoffen in handlichem Zweieinhalb-Stunden-Format. „Buddenbrooks“ oder „Zauberberg“ im Schnelldurchlauf – ein Tribut an die ungeduldige Kurzatmung unserer Zeit?

Vielleicht eher die Schwäche eines Theaters, dessen Lebenskern in den Gehirnwindungs-Labyrinthen endloser, selbstreferentieller Reflektion zerstoben ist. Das sich schwer tut, bedeutungsvolle Geschichten zu erfinden und zu erzählen. Das sein reiches Erbe in verstiegener Lust zwischen privatistischen Exzessen und gesuchter Originalität übersieht.

Voilá – mit einem Filmstoff darf man dann ungeniert erzählen, ohne das schlechte Gewissen des Regie-Originalgenies klopfen zu hören. Matthias Gehrt lässt sich in Krefeld darauf ein – zum Glück ohne schlechtes Gewissen. Und ohne den Zwang, unter allen Umständen etwas „Neues“ zu erfinden, dem etwa Karin Henkel in ihrer „Dogville“-Version in Frankfurt gefolgt ist.

Wir sehen in Krefeld eine Bühne, von Gabriele Trinczek gestaltet wie die Spielfläche des Films von 2003. Wir sehen treffende Kostüme von Petra Wilke, die in das verlorene Dörfchen der Dreißiger Jahre am Fuß der Rocky Mountains passen. Die Wände der Häuser sind angedeutet durch weiße Linien, nur die Möbel stehen dreidimensional und gegenständlich in den Zimmern. Diese nach außen durch die Natur isolierte Gemeinschaft ist total durchsichtig. Jeder weiß vom anderen alles, auch peinliche Geheimnisse wie den monatlichen Animierdamen-Besuch des täppischen Lastwagenfahrers Ben (Paul Steinbach).

Eine vermeintlich kleine, geordnete Welt: Szene aus "Dogville" am Theater Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Eine vermeintlich kleine, geordnete Welt: Szene aus „Dogville“ am Theater Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Ein abgeschlossenes Biotop, genau richtig für die gesellschaftlich-moralischen Erkundungen des jungen Möchtegern-Schriftstellers Tom Edison. Jonathan Hutter verkörpert ihn als intellektuelles Bürschchen in abgetragenem Sakko, eifrig erfüllt von seiner Mission. Aufklärung, so tönt er, löse jahrhundertealte Konflikte. Die Fremde, die auf der Flucht in das Dorf gerät, ist für seine Predigt über „Geben und Empfangen“ genau das pädagogische Versuchstier, das er braucht.

Das fremde Opfer, von einer zunächst kaum greifbaren Macht verfolgt, heißt Grace. Nele Jung verkörpert sie im modischen Blondinen-Look, in der eleganten Garderobe einer städtischen Oberschicht. Grace heißt „Gnade“: Die junge Frau muss sich ihr Bleiben in der Gemeinschaft verdienen – und sie bietet den Bewohnern ihre Hilfe an. Keiner braucht sie, keiner will sie annehmen, doch die behutsame Art von Grace, genau das zu suchen, was den Menschen fehlt und es ihnen unaufdringlich zu gewähren, durchbricht die Selbstgenügsamkeit. Nele Jung spielt das souverän und mit einer teilnahmsvoll weichen Diktion.

Die Parallele zur von Gott gewährten „unverdienten Gnade“ ist überdeutlich. Grace befreit die Menschen von Selbsttäuschung und dem Gefangensein in sich selbst: Die bildungsbeflissene Vera (verhärmt, abgearbeitet und im entscheidenden Moment gnadenlos grausam: Esther Keil) kann Vorträge in der Stadt besuchen. Der halbblinde alte Edison (Bruno Winzen) gesteht sich endlich die Wahrheit ein: Er kann nicht mehr sehen.

Ausbruch der Gewalt: Nele Jung als Grace, Adrian Linke als Chuck. Foto: Matthias Stutte

Ausbruch der Gewalt: Nele Jung als Grace, Adrian Linke als Chuck. Foto: Matthias Stutte

Der Bruch bahnt sich an, als die kleine Gemeinschaft mit Macht konfrontiert wird, mit dem unheimlichen, nicht fassbaren „Außen“. Ein Sherriff erscheint, klebt ein Plakat an. Grace wird als vermisst gesucht, gerät noch mehr in die Defensive, als eine Fahndung wegen einiger Banküberfälle nachgeschoben wird – die sie freilich nicht begangen haben kann, da sie in der fraglichen Zeit in Dogville war.

Dennoch: Der drohende Zugriff der Macht, die Angst, vor ihrem Gesetz inkorrekt zu sein, offenbart die andere Seite der Menschen – jene, die in den moralischen Tiraden von Tom angedeutet und in der bösen Rede von Chuck (Adrian Linke) konkretisiert wird. Sie wandelt die Menschen des Orts zu boshaften Ausbeutern, zu zynischen Vergewaltigern, zu gnadenlosen Seelenschändern. Und der Mann, der Grace liebt – Tom Edison junior – wird zum Verräter. Wenn sich Grace, mit einer Kette an einen Kanaldeckel gefesselt, zur Arbeit und dann zu Bett schleppt, um von den Männern Dogvilles missbraucht zu werden, denkt man unmittelbar an Händels „He was despised …“ aus dem „Messiah“.

Lars von Trier treibt die Parallele zum jesuanischen Modell von Gnade, Erbarmen und Vergebung in der Person Graces bis an die Grenze des Erträglichen – um es dann in einem Finale von alttestamentarischer Wucht zu kippen. Dieses Ende ist wie ein verzweifelter Aufschrei des zum Katholizismus konvertierten Lars von Trier: Das Konzept der Liebe ist zum Scheitern verurteilt, es ist sinnlos in einer schlechten Welt. Es bleibt nur die Rache und die Vergeltung, das „Aug‘ um Aug‘“ des zornigen Gottes aus dem alten Israel.

"The Big Man" Joachim Henschke in Lars von Triers "Dogville" am Theater Krefeld. Foto: Matthias Stutte

„The Big Man“ Joachim Henschke in Lars von Triers „Dogville“ am Theater Krefeld. Foto: Matthias Stutte

In Krefeld fehlt dem Finale die archaische Komponente der grausam ausgleichenden Gerechtigkeit. Es wirkt wie der Showdown einer mittelmäßigen Gangstergeschichte. Ansonsten verwendet Matthias Gehrt viel Sorgfalt auf die Charaktere: Ronny Tomiska und Henrike Hahn etwa als Geschwisterpaar Henson, hinter deren einfacher Glasschleifer-Existenz die Gier lauert, das Opfer Grace selbst mit ihren erbärmlichen Mitteln noch die Überlegenheit spüren zu lassen. Eva Spott trifft Ma Gingers opportunistische Gehässigkeit; Helen Wendt Marthas angstbesetzte Bigotterie. Dem „Großen Mann“ – Graces Vater – gibt die imposante Erscheinung und die amorphe Diktion von Joachim Henschke einen Zug ins Abgründige; Intendant Michael Grosse schlendert als jovialer Erzähler durch die Szene.

Bezeichnenderweise ist es ein Kind (Jason: Nikolas Jahnelt), das mit einer Erpressung das Kesseltreiben gegen Grace einleitet: Das Böse ist sozusagen im Urzustand dieser Menschen verankert. Und bezeichnenderweise ist der Hund „Moses“ der einzig Überlebende: Wie der alttestamentliche Patriarch hat das nichtmenschliche Lebewesen die Chance zum Exodus, zum Aufbrechen ins „Gelobte Land“. Viel Beifall und ein spürbar beeindrucktes Publikum.

Info: www.theater-kr-mg.de




Versöhnung im Sterben: Charles Gounods „Faust“ gelingt am Theater Hagen

Rolf A. Scheider (Méphistophéles) und Marylin Bennett (Marthe). Foto: Klaus Lefebvre

Rolf A. Scheider (Méphistophéles) und Marylin Bennett (Marthe). Foto: Klaus Lefebvre

Charles Gounods „Faust“ stand lange unter Kitschverdacht, vor allem bei literarische Gebildeten in Deutschland: Die Konzentration des komplexen „Faust“-Stoffes auf die Liebestragödie, die Abkunft von einem französischen Boulevard-Stück, der Transfer der musikalischen Diktion aus der „Großen Oper“ und die Spuren der tragischen Frauen Donizettis – all das rückte Gounods Werk in abschätziges Zwielicht, ausgedrückt auch durch den lange gebräuchlichen deutschen Titel „Margarethe“.

Seit einer Generation hat sich die Rezeption gründlich verändert, „Faust“ wird nicht mehr länger unsinnigerweise an Goethe gemessen, Gounods Musik unvoreingenommen betrachtet und geschätzt. Dafür haben die Regisseure erhebliche Probleme mit den religiösen Bezügen in der Oper des überzeugten Katholiken Gounod. Der Erlösungsschluss als befremdendes Element will nicht zu „aufgeklärten“; transzendenzfreien Deutungsversuchen passen und geht so regelmäßig schief, wird denunziert oder entwertet.

Dabei wird übersehen, wie entscheidend dieses Finale für die Konzeption der Gounod’schen Oper ist. Mephistopheles ist eben ein prinzipieller Gegenspieler des Lebens, kein Spaßmacher und auch kein bloßer Gangster. Und die „Liebestragödie“ wird, spielt man Gounods Oper komplett, zur Apotheose einer Frau, die ihre Selbstbestimmung und ihre Wahrheit auch gegen gesellschaftliche Ächtung und existenzielle Vernichtung behauptet: Sie alleine erkennt im letzten Terzett im Gefängnis – kurz vor der Hinrichtung – den wahren Charakter des Dämons, der selbst Faust in seiner ganzen Tragweite nicht aufgeht.

In Hagen hat die unspektakuläre, sorgfältige Inszenierung von Holger Potocki diese Interpretations-Leerstellen gefüllt. Potocki will das Transzendente nicht eliminieren, geht unbefangen mit christlich-religiösen Symbolen um, macht aber aus „Faust“ weder eine Predigt noch ein Moralstück. Sein „Faust“ ist die Geschichte einer Selbsterkenntnis im Moment des Todes. Das Drama einer Versöhnung eines alten Mannes mit sich selbst.

Sie beginnt in einem Krankenzimmer: Lena Brexendorff schafft einen beziehungsreichen Raum: Der alte Faust (Klaus Klinkmann) liegt, verkabelt und verschlaucht, im Bett. An der Wand ein Kreuz, im Vordergrund das Bild einer idyllischen Landschaft: die geistigen Koordinaten des Stücks, Christentum und Romantik. „Rien“ – das erste Wort Faustens, das „Nichts“, das ihn in diesem Moment erfüllt, kommt aus der Seitenbühne – ein Gedanke, in den sehnsuchtsvollen Klang des Tenors Paul O’Neill gekleidet.

Gounod schreibt kein Stück über die Last des Alters und die Freuden der Jugend, sondern eines über die Qual des Nihilismus angesichts des nahenden Todes. Das gibt dem „Gerettet“ am Ende eine gewichtige Wendung: Nicht nur Marguerite ist aus den Fängen des Bösen gerettet; auch Faust kann ruhig und versöhnt entschlafen. Ostern ereignet sich für Faust im Moment seines Todes.

Zunächst sucht der Todkranke jedoch eine andere Lösung: „Salut, dernière matin“ – der Gruß an den letzten Morgen – signalisiert die Entscheidung zur Selbsttötung. Er reißt sich die Schläuche aus. Die Krankensalbung, von einem Bischof gespendet, verstärkt nur die Zweifel: „Dieser Gott, was soll er mir?“. Mephisto schält sich aus dem Priester, ganz in Rot: die pervertierte Seite der Transzendenz.

Brexendorffs Bühne lässt nicht vergessen, dass der Traum Fausts anhält: Das Bett bleibt präsent, als übergroßes Gestell im Hintergrund, als Spielfläche, am Ende als Gefängnis Marguerites. Ein Zwischenvorhang, der in den Konturen eines Gehirns die Sicht auf die Bühne zulässt, erinnert vielleicht etwas zu plakativ daran, dass wir in der Gedankenwelt Fausts verharren. Die Videos von Volker Köster zeigen Fausts Mienenspiel in Großaufnahme, blenden bei Mephistos Lied vom Goldenen Kalb Kriegsaufnahmen und Aktienkurse ein. Das Kreuz steht in grünem Licht auf dem Kopf.

Die Begegnung von Faust und Marguerite: ein falscher Traum. Die idyllisch-romantische Landschaft des Gemäldes aus dem Krankenzimmer beherrscht nun die Szene. Der Sternenhimmel zur Juwelen-Arie ist ambivalent; er deutet ultimativen Kitsch und letzte Sehnsuchts-Erfüllung an. In der großen Klage der Marguerite wird dann der leere Bilderrahmen in der Szene schweben: Der romantische Traum ist aus.

Kristine Larissa Funkhauser (Siebel) in Charles Gounods "Faust" in Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Kristine Larissa Funkhauser (Siebel) in Charles Gounods „Faust“ in Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Potocki lässt auch in der Zeichnung seiner Figuren beziehungsreiche Sorgfalt walten. Valentin ist der Vertreter des gesellschaftlich etablierten Glaubens: Kenneth Mattice zeichnet ihn als pflichtbewusst, überzeugt und kämpferisch, aber auch unbarmherzig, dogmatisch, unversöhnlich, rechthaberisch und auf sexuelle Reinheit fixiert: Gounod wusste offenbar sehr genau, wie die düsteren Seiten des Katholizismus seiner Zeit ausgesehen haben.

Die rührende Tragödie des kindlich liebenden Siebel (Kristine Larissa Funkhauser) beleuchtet Potocki mit viel Emphase: Weihwasser machen seine Hände vom Zauber Mephistos rein, aber gegen die Juwelen – die „Ableger“ des Goldenen Kalbs – sind seine romantischen Blumen machtlos. Aber diesem sauber gescheitelten Jungen mit der Hornbrille gelingt es, seine begehrende Leidenschaft in liebevolle Freundschaft zu wandeln.

Mephisto, der Herr der Narren (und der Pfaffen) ist von Rolf A. Scheider als eleganter Verführer, aber auch brutaler Macher charakterisiert. Vor der Madonna knickt er schwächelnd ein – aber er kann die Statue auch in seinem Sinn benutzen: Im dämonischen Theater der Kathedralszene ist sie mit blutrotem Sternenkranz und böse funkelnden Rubinaugen die von Mephisto manipulierte Erscheinung einer strafenden transzendenten Macht, die dann – hart an der Grenze zum Kitsch – im Dampf der Hölle versinkt. Scheider lässt keinen Zweifel, dass dem Teufel diese Welt gehört: Der wieder in seine Jugend zurückversetzte Faust steckt in einem Anzug, der an eine Zwangsjacke erinnert. Er hat keine Wahl: Auf dem Weg zur Rettung muss er das Böse in jeder Konsequenz durchdenken.

Das Bett als Gefängnis: Veronika Haller (Marguerite) und Paul O'Neill (Faust). Foto: Klaus Lefebvre

Das Bett als Gefängnis: Veronika Haller (Marguerite) und Paul O’Neill (Faust). Foto: Klaus Lefebvre

Auch musikalisch überwiegen in Hagen die erfreulichen Aspekte: Steffen Müller-Gabriel weckt immer wieder in dem symphonisch ausgebauten Orchestersatz Gounods das Potenzial des Philharmonischen Orchesters, gestaltet dynamische Bögen, trifft die grelle, plakative Melodik der Mephisto-Ständchen, die untergründige Bosheit der Szene in der Kathedrale mit ihren „Dies Irae“-Drohungen, aber auch die schwärmerische Lyrik der vergeblichen Träume einer reinen, zukunftsfrohen Liebe. Nicht vergessen machen kann er, dass sein Orchester oft zu laut und zu vordergründig bleibt. Ein flexiblerer Umgang mit dem Metrum würde etwa der hymnischen Steigerung in der Finalszene Marguerites mehr Leidenschaft gewähren.

Der Chor von Wolfgang Müller-Salow ist diesmal in den wabernden Frauenstimmen richtig schlecht, muss im Finale aus dem Lautsprecher tönen, was den musikalischen Reiz der Szene zerstört, bringt aber die forschen Gesänge der Studenten konzentriert auf den Punkt.

Mit viel Stilempfinden und einer nahezu souveränen Stimme widmet sich Paul O’Neill der Rolle des Faust: Anfangs etwas gequetscht, singt er sich zunehmend frei, kommt in seiner Arie „Salut, demeure“ zu lyrischer Intensität und meistert die Höhe wunderbar vorbereitet und sicher gebildet. Dass er das Diminuendo nicht bruchlos verwirklicht, ändert nichts an einer großartigen Leistung, die man so auch von heute gesuchten Vertretern dieses Faches nicht so ohne weiteres erwarten darf.

Mit Kenneth Mattice hat sich Hagen einen viel versprechenden Bariton aus den USA verpflichtet: Ein attraktiver Valentin mit feuriger Mittellage und nicht ganz sattelfester, aber ungezwungener Höhe. Ein wenig mehr Eleganz in Tonbildung und Legato – und ein überzeugendes musikalisches Rollenporträt ist fertig. Rolf A. Scheider ist als Méphistophéles auch stimmlich ein direkter Sänger, der machtvolle Töne in den Raum schleudert, gut artikuliert, aber die elegante Bosheit, den heuchlerischen Kavalierston, die subtile Grausamkeit Mephistos differenzierter ausdrücken könnte.

Das bewährte Damenterzett im Ensemble des Hagener Theaters kommt auch in diesem „Faust“ zum Einsatz: Veronika Haller ist eine attraktive, die selbstbewussten Seiten der Figur herausarbeitenden Marguerite, aber ihre harte Tongebung, der Mangel an lyrischer Noblesse und Flexibilität stehen ihrem ambitionierten Rollenporträt immer wieder im Wege. Auch Kristina Larissa Funkhauser hat als Siebel stimmlich nicht ihren besten Tag: sie schluckt das Ende von Phrasen und tut sich schwer mit der geforderten Leichtigkeit und Innigkeit. Marylin Bennett hat als Marthe einen kurzen, aber wirkungsvollen Auftritt. Summa summarum hat das Theater Hagen aber wieder einmal mit einer ehrgeizigen Produktion überzeugt.

Infos: www.theater-hagen.de




Festspiel-Passagen I: Der Sound der Zwanziger Jahre in der Bauhausstadt Dessau

Um ihn geht es bei dem Musikfestival in Dessau: Kurt Weill,  lässig und cool, 1935 in Salzburg aufgenommen. Foto: Kurt Weill Fest

Um ihn geht es bei dem Musikfestival in Dessau: Kurt Weill, lässig und cool, 1935 in Salzburg aufgenommen. Foto: Kurt Weill Fest

„In eins verschmolzen sind Wort und Töne“ singt die Gräfin in Richard Strauss‘ „Capriccio“: Für sie ist die Frage nach dem Vorrang von Text oder Musik in der Oper gelöst. „Zu einem Neuen verbunden“ sind sie. „Eine Kunst durch die andere erlöst.“ Wenn es denn so harmonisch wäre. In einer Zeit, in der Strauss und sogar der Wortfanatiker Wagner das Übertiteln ihrer Bühnenwerke erdulden müssen, weil es an artikuliertem Singen mangelt, stellt sie die Frage auf ganz andere Weise neu.

Das gilt auch für das Abschlusskonzert des Dessauer Kurt Weill Festes: Sara Hershkowitz produzierte die Töne des programmatischen Schlussmonologs aus „Capriccio“ mit einem wie Messing blitzenden Sopran, mit monochromen Vokalen, ohne sprachorientierte Flexibilität und vor allem meist wortunverständlich. Da erlöst keine Kunst die andere.

Das 23. Kurt Weill Fest in Dessau hat sich unter dem Motto „Vom Lied zum Song“ aufgemacht, der Sprache und ihrem Verhältnis zur Musik nachzuspüren. Intendant Michael Kaufmann – bis 2008 in gleicher Funktion an der Philharmonie Essen und auf unschöne Weise geschasst – hatte schon Recht, wenn er meinte, man müsse eigentlich von der Arie und vom Kunstlied ausgehen. Aber im „Lied“ konzentriert sich die angesprochene Problematik: Es ist – anders als eine auf gesangliche Virtuosität oder Expression angelegte Arie – ohne den Text tödlich amputiert.

HK Gruber dirigierte in Dessau die "Dreigroschenoper". Foto: Sebastian Gündel

HK Gruber dirigierte in Dessau die „Dreigroschenoper“. Foto: Sebastian Gündel

Die Verbindung von Sprache, Ton und Bild war für Weill in seinen Bühnenwerken eine faszinierende Herausforderung. Er hatte in seinen „Songs“ diesen Primat des Textes akzeptiert, ohne die Musik an ihn zu verraten: für das Duo Brecht/Weill eine Quelle des Konflikts, der sich in den Proben zur „Dreigroschenoper“ exemplarisch entzünden sollte. Beim diesjährigen Kurt Weill Fest ließ sich nicht nur in diesem Schlüsselwerk für die Moderne wie für das Brecht-Theater – aufgeführt von HK Gruber und dem Ensemble Modern – der Wort-Klang-Problematik nachspüren.

Als Weill gemeinsam mit Bertolt Brecht und dem Filmemacher Carl Koch 1927 eine Revue über das Ruhrgebiet plante, sollte schon dieses Werk ein „neues Ineinanderarbeiten von Wort, Bild und Musik“ begründen. Da das „Ruhrepos“ von rechten Kreisen in Essen torpediert wurde, erprobte der aufstrebende Komponist sein Konzept dann im gleichen Jahr in „Royal Palace“: In einer überflüssig halbszenischen Form mit ein paar Dias an der Rückwand war dieses frühe Bühnenwerk das Kernstück des Abschlusskonzerts im Anhaltischen Theater.

"Letzter Tango in Berlin": Ute Lemper war zu Gast beim Kurt Weill Fest in Dessau. Foto: Sebastian Gündel

„Letzter Tango in Berlin“: Ute Lemper war zu Gast beim Kurt Weill Fest in Dessau. Foto: Sebastian Gündel

Weill und sein Librettist Yvan Goll schufen mehr als ein Zeitstück: „Royal Palace“ ist ein Hotel, das – ähnlich wie in Vicki Baums 1929 erschienenen Roman „Menschen im Hotel“ – eine Metapher für die moderne Lebenswelt ist. Wie so oft bei Weill gibt es Momente des Melodrams und des Sozialstücks. Aber das Parabelhafte gewinnt die Oberhand: Die Offenbachiade einer Frau mit zwei Liebhabern – einem verflossenen und einem zukünftigen – neigt sich zur schwermütigen Schau auf verlorene Existenzen, von Goll noch durch einen geheimnisvoll-märchenhaften Zug verstärkt. Die letzten Worte lassen gar an Büchners „Woyzeck“ denken, die Parabel über das Scheitern des verlorenen Menschen der Moderne schlechthin.

Die unterschiedlichen Stile der Musik hat Weill dramaturgisch sehr präzis eingesetzt. Klavier und Glocken zu Beginn und am Schluss mögen an Transzendentes mahnen; der verhaltene ostinate Rhythmus erinnert schon an minimal music, aber auch an das „Grundrauschen“ einer ständig in hektischer Bewegung befangenen Welt. Ausgiebige rhythmische Bewegungsimpulse, der Reflex auf moderne Zeittänze und eine grotesk verzerrte Zirkusmusik spiegeln die Unruhe, das Getriebensein der Zeit.

Dazwischen müssen sich Menschen ihren echten, eingebildeten, vorgetäuschten Gefühlen stellen, einsam, haltlos, orientierungslos. Der Sopranpart der Dejanira fordert eine dramatische Sängerin mit dem Esprit einer Diseuse – und Sara Hershkowitz sucht beiden Polen gerecht zu werden. Rainer Trost, der „Liebhaber von morgen“, zeigt eine vortrefflich beherrschte Stimme; Markus Raabs rauer Bass passt zur Rolle des Ehemanns; Jens Müller, der „Liebhaber von Gestern“ lässt ebenso wie Andromahi Raptis als namenloses Sopransolo nicht vergessen, dass Weill die gestalterische Potenz seiner Darsteller heftig herausfordert. Verstehen kann man kaum etwas: Weills Sprach-Sorgfalt wird auf der Bühne schmählich verraten, ertrinkt auch immer wieder im Mega-Sound der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz.

Unter Ernst Theis‘ meist nur taktgebendem Stab kann das Orchester aus Ludwigshafen nur punktuell zeigen, was in ihm steckt. Die riesige Bühne des Dessauer Theaters erweist sich als akustische Falle: Undifferenzierte Lautstärke, breiige Tutti, Mangel an Detail-Finesse dürfte nicht nur den Musikern und dem Dirigenten in die Schuhe zu schieben sein. Dennoch sind in diskreten Stellen der Streicher und in massiven Einlassungen der Bläser Schwächen hörbar, die mit der Akustik nichts zu tun haben.

Cornelia Froboess, Artist-in-Residence des Kurt Weill Festes, bei ihrem Programm "Liederliches". Foto: Sebastian Gündel

Cornelia Froboess, Artist-in-Residence des Kurt Weill Festes, bei ihrem Programm „Liederliches“. Foto: Sebastian Gündel

In Richard Strauss‘ Suite „Der Bürger als Edelmann“ ist zwar die Imitation der Tänze aus der Lully-Zeit gut getroffen. Aber Ernst Theis erweist sich – wie in der „Mondscheinmusik“ aus „Capriccio“ – als Nummer-Sicher-Dirigent: Der Metrik fehlt die souveräne Gelassenheit, den Phrasen der schwingende Atem, den Übergängen die Raffinesse der Agogik, den Farben die Eleganz. Der „Strauss-Ton“, gebildet aus exquisit zu mischenden Farben und sorgsam hergestellter Balance der Instrumente, will sich nicht einstellen.

Die vielen intimen unter den 57 Veranstaltungen waren es, die wohl mehr als die großformatigen Aufführungen die empfindliche Balance zwischen den Polen von Musik und Sprache ausmaßen. Da war mit Cornelia Froboess als „Artist-in-Residence“ eine Schauspielerin zu Gast, die als Schlagersängerin begonnen hatte und bis heute eine vielfach preisgekrönte Theaterkarriere verfolgt. Sie brachte gemeinsam mit dem Gitarristen Sigi Schwab Heinrich Heine zum Klingen oder las Texte und Briefe von Kurt Weill, seinem Komponistenkollegen Ernst Krenek oder dem großen Kabarett- und Revue-Komponisten der Weimarer Zeit, Friedrich Hollaender.

Der Dessauer Dichter Wilhelm Müller. Grafik aus einen zeitgenössischen Buch.

Der Dessauer Dichter Wilhelm Müller. Grafik aus einen zeitgenössischen Buch.

Und noch ein anderer stand im Fokus des Weill Festes, einer, den man zunächst nicht mit der Moderne verbindet, wohl aber mit der Bauhausstadt: der Dichter Wilhelm Müller, 1794 in Dessau geboren, 1827 ebenda verstorben. Ein Romantiker mit kritischem Geist, mit wachem Blick auf fragwürdige Entwicklungen in der Gesellschaft. Haltungen, die ihn mit Kurt Weill verbinden. Von dem Dichter stammen die Zyklen „Die schöne Müllerin“ und „Winterreise“, die Franz Schubert noch zu Müllers Lebzeiten vertont hat. Sie stehen exemplarisch für die Emanzipation der Musik von der bloßen Begleitung zur Trägerin einer Aussage, die über die Worte hinaus und in ihre Tiefen hineinreicht.

Am Beginn des Festes stand mit „Braver Soldat Johnny“ eine Erstaufführung: Das MDR Sinfonieorchester unter Kristjan Järvi spielte eine instrumental erheblich erweiterte Neufassung der ersten Broadway-Musicals Weills, „Johnny Johnson“. Das Stück mit einem Text des Pulitzer-Preisträgers Paul Green war 1936 für Weill der nötige Erfolg, der ihm den Zugang zum Broadway öffnete. Inhaltlich knüpft es an Jaroslav Hašeks „Soldat Schwejk“ an – eine brillante Politsatire mit einem tristen Ende, ein Bekenntnis des Pazifisten Kurt Weill gegen die groteske Sinnlosigkeit des Krieges.

Das Musical ist in Europa nie richtig zur Kenntnis genommen worden. Immerhin hat das Kurt Weill Fest 2002 in Bitterfeld die originale Fassung gespielt. Die neue Bearbeitung des Komponisten und Produzenten Gene Pritsker – mit Järvi schon aus Studienzeiten bekannt – verwandelt die federleichte Combo Weills in ein süffiges Orchester und liefert dick aufgetragene Filmmusik, die Kristjan Järvi mit der entsprechenden Opulenz in Szene setzt. Das Ergebnis mag nicht überzeugen; Weills Musik wird breiter, aber nicht stärker.

Der Schauspieler Bernhard Bettermann hat das Libretto zurechtgestutzt. Ein Sechser-Ensemble, darin er selbst, Partnerin Mimi Fiedler und Sohn Tim, trägt Dialoge und Songs vor: Das Lesen vom Manuskript funktioniert bei pointierten Musical-Texten nicht, vor allem, wenn gesprochen wird, als habe man die Sätze vorher gerade mal überflogen. Das war eine Stellprobe, keine festivalreife Aufführung. Und über die stimmlichen Ergüsse der Akteure auf der Vorderbühne bleibt besser der Mantel des Schweigens gebreitet; der piepsige Vortrag der Bettermann-Partnerin Mimi Fiedler mag als bezeichnendes Beispiel genügen.

Abschluss-Pressekonferenz des Kurt Weill Festes Dessau. Von links: Intendant Michael Kaufmann, Artist-in-Residence 2016 Ernst Kovacic und der Vorsitzende der Kurt-Weill-Gesellschaft, Thomas Markworth. Foto: Kurt Weill Fest

Abschluss-Pressekonferenz des Kurt Weill Festes Dessau. Von links: Intendant Michael Kaufmann, Artist-in-Residence 2016 Ernst Kovacic und der Vorsitzende der Kurt-Weill-Gesellschaft, Thomas Markworth. Foto: Kurt Weill Fest

Für das Kurt Weill Fest 2016 sind die großen Linien gezogen. Intendant Michael Kaufmann stellte bei der Abschluss-Pressekonferenz mit dem Geiger Ernst Kovacic den nächsten Artist-in-Residence vor. Der Österreicher ist nicht ohne Bedacht gewählt: Er ist Vorstandsvorsitzender der Ernst Krenek Privat Stiftung in Krems (NÖ) – und Weill und Krenek sollen anlässlich des 25. Todestages des österreichischen Komponisten im Mittelpunkt stehen. Geplant sind Aufführungen von Weills „Der Zar lässt sich photographieren“ und Kreneks „Der Diktator“, mit denen die Zusammenarbeit mit dem Anhaltischen Theater unter seinem neuen Intendanten Johannes Weigand erneuert wird.

Fest steht auch, dass Kovacic das Erste Violinkonzert Kreneks spielt, das 1925 in Dessau uraufgeführt wurde. Mit 16.500 Besuchern hat das Weill Fest in diesem Jahr einen neuen Rekord erreicht; mit dem Theater Magdeburg und der Stiftung Moritzburg in Halle sind neue Kooperationspartner im Boot. Die Hoffnung, dass die Theater in Dessau und Magdeburg trotz der desaströsen Sparpolitik der Regierung von Sachsen-Anhalt neue Impulse für szenische Aufführungen von Bühnenwerken Kurt Weills setzen, ist laut Intendant Michael Kaufmann begründet. Von daher darf das 24. Kurt Weill Fest „Krenek, Weill & die Moderne“ mit Spannung erwartet werden. Und für das 25. Fest im Jahr 2017 – Kaufmann hat einen Vertrag bis 2018 – hört man schon von Plänen, die hoffnungsfroh stimmen.

Info: www.kurt-weill-fest.de