Kulturauftrag vorbildlich erfüllt: Die Tage Alter Musik in Herne und ihre Verdienste im Salieri-Gedenkjahr

Antonio Salieri auf einer um 1815 entstandenen Lithografie.

Ohne die „Tage Alter Musik“ in Herne wäre der 200. Todestag Antonio Salieris in Deutschland sang- und klanglos vorüber gegangen. Mit einer konzertanten Aufführung seiner Oper „La Grotta di Trofonio“ erinnerte das vom WDR und der Stadt Herne getragene Festival an den 1825 gestorbenen einflussreichen Komponisten, der für die Nachwelt nur noch als angeblicher Rivale Mozarts in Erinnerung geblieben ist.

Wer sich mit Salieris Musik befasst, wird immer wieder überrascht: Zwar bleibt sein melodischer Ausdruckswille hinter dem Mozarts zurück; auch den dichten, von Überraschungen sprühenden Satz des Salzburgers sucht man bei Salieri vergebens. Aber der formale Erfindungsreichtum und der souveräne Umgang mit den konventionellen Formen der italienischen Oper belegen Salieris Meisterschaft ebenso wie die farbige Instrumentationskunst. Der 1750, also vor 275 Jahren, im oberitalienischen Städtchen Legnago geborene Komponist erweist sich außerdem als genuiner Dramatiker: Seine Musik bleibt stets nahe am Text, passt ihre Formen elegant an die Situationen an. Vor allem hat Salieri das Talent zur Satire – eine Facette, die Mozart kaum gepflegt hat.

In der nach der Uraufführung 1785 in Wien höchst erfolgreichen „opera comica“ über die „Grotte des Trophonius“ kann sich diese Vorliebe in schönsten Tönen ausleben. Das Libretto des Klerikers Giambattista Casti, eines Meisters spöttischer Dichtungen, gibt ihm die passende Vorlage. Der vom griechischen Schriftsteller Pausanias detailliert geschilderte Kult um das Orakel des Trophonius in Böotien war den in antiker Mythologie wohlgebildeten Kreisen der Opernbesucher bekannt.

Philosophische Dilettanten und Esoteriker

Casti spinnt dieses Wissen ein in eine Gesellschaftssatire, in der philosophische Dilettanten ebenso verspottet werden wie der damals weit verbreitete Spiritismus, der sich im Glauben an allerlei geheimnisvolle Naturkräfte, übersinnliche Erscheinungen und okkulte Machenschaften äußerte. Mozart hat in „Cosí fan tutte“ den damals verbreiteten Mesmerismus – eine Heilmethode mittels magnetischer Kräfte – parodiert; Salieri und Casti nehmen mit „elektrischen Dünsten, … die Nerven und Muskeln erschüttern …“, die Esoterik der Zeit aufs Korn. Bei ihnen ist der scharlatanische Zauberer Trofonio der Auslöser aller Verwirrungen: Zwei Paare, die sich schon gefunden haben, und ein Heiratspakt, natürlich nur von Männern besiegelt, geraten durch einen Besuch seiner Zaubergrotte gründlich durcheinander.

Der Gang durch die Höhle verändert die Persönlichkeit: So wird aus dem Verehrer Platons und Liebhaber antiker Philosophen Artemidoro ein leichtfertiger Spötter; aus Plistene, der sich in der Grotte lediglich ein pikantes Abenteuer mit einer Nymphe verspricht, ein vergeistigter Jüngling. Für die beiden Mädchen, die belesene Ofelia und die zu jedem Scherz aufgelegte Dori ist der Wesenswandel ihrer Bräutigame eine Katastrophe. Der Vater der beiden, schon durch seinen Namen „Aristone“ als idealer Charakter im Sinne einer graecophilen Aufklärung gekennzeichnet, versucht zu beschwichtigen. Vergeblich. Trofonio verwandelt schließlich die beiden jungen Männer zurück. Doch bevor sie ihre Bräute wiedersehen, geraten diese in die Grotte und werden zu Opfern des Zaubers.

Beim nächsten Treffen ist die Verwirrung komplett: Dori, auf einmal „Weisheit, Reife, Ernst“ suchend, kann mit ihrem flatterigen Plistene nichts mehr anfangen; Ofelia, ungeniert frech, setzt ihrem wieder würdevoll gewordenen Artemidor mit selbstbewusstem Spott zu. Die Rettung ist die Rückverwandlung seiner Töchter auf Bitten des verzweifelten Vaters. Trofonio besingt mit Pauken und Trompeten den Triumph seiner Zauberkünste. Zum guten Ende wird die unveränderliche, treue Liebe besungen und der Hexenmeister mit seinen geheimen Wissenschaften bleibt zurück.

Musikalische Anspielungen und Ironisierungen

Es ist wie bei Jacques Offenbach: Humor hat ein kurzes Verfallsdatum, und da wir Anspielungen, Ironisierungen, Parodien und Übertreibungen oft nicht mehr erkennen, erschließt sich der Sinn vieler seiner Buffonerien nur über die kulturelle Vermittlung einer verständigen Inszenierung. Auch Castis ungenierte Ironie braucht Vorwissen, um verstanden zu werden – sonst geraten die Konstellationen und Charaktere seiner Komödie ins Blässlich-Schematische.

Die Münchner Hofkapelle in Herne. (Foto: Thomas Kost)

Salieris Musik ist da ein Heilmittel: Die pathetischen Dreiklänge, der chromatische Abstieg der Melodielinie und die jähen Akzente der Ouvertüre lassen sich unschwer als Anspielungen auf die Tragödien Christoph Willibald Glucks (und Salieris eigene tragische Opern) verstehen. Das Allegro kommt beschwingt gassenhauerisch daher. Ein großer Auftritt Aristones erklärt mit einer Gleichnisarie die so unterschiedlichen Charaktere seiner beiden Töchter, spielt aber auch auf die beiden Flüsse Lethe (Vergessen) und Mnemosyne (Erinnern) an, die im Trophonius-Kult eine Rolle spielen. Nikolay Borchev erklärt die beiden Ströme aus einer Quelle mit ausladendem Bassbariton, während das Orchester das Wasser über die Steine springen und schäumen lässt.

Prägnante musikalische Charakterisierung

Maria Hegele bei der konzertanten Aufführung von Salieris „La Grotta di Trofonio“ in Herne. (Foto: Thomas Kost)

Auch die beiden jungen Damen sind musikalisch prägnant charakterisiert: Maria Hegeles Mezzsopran kleidet das sanfte Pathos der ernsten Ofelia in gepflegtes Singen, das sich auch in gerundeten Haltetönen und kunstvoller messa di voce bewährt. Später bringt sie, zu witziger Leichtlebigkeit verwandelt, ihre trällernden Frechheiten gekonnt über die Rampe. Mit frischem, hellem Timbre stellt Elisabeth Freyhoff die unbeschwerte Dori vor, die im zweiten Akt nach einer prachtvollen Arie in komischer Ernsthaftigkeit in gravitätische Tiefe hinabsteigt.

Jan Petryka darf nach den lautmalerisch durcheinanderzwitschernden Vöglein im Forst in breiter lyrischer Kantilene die erhabenen Empfindungen des Philosophen in Waldes Wonne besingen, während das Orchester im Mittelteil seiner Arie das Lärmen der Stadt imitiert. Für den galanten Schelm Plistene findet der bewegliche Tenor von Jorge Navarro Colorado den richtigen Ton. Erst in der zehnten Szene hat Jonas Müller als Trofonio seinen großen Auftritt und beschwört in unverkennbar ironisch getöntem Pathos die „unsichtbaren Geister“, bevor er den wissbegierigen Artemidor in seine Höhle lockt. Mit Pauken und Trompeten besingt er im zweiten Akt seine bleibende Zaubermacht.

Dirigent Rüdiger Lotter. (Foto: Thomas Kost)

Unter Leitung von Rüdiger Lotter zeigt sich die Münchner Hofkapelle nach unscharf artikuliertem Beginnen allen augenzwinkernden Wendungen und ironischen Spitzfindigkeiten von Salieris Musik gewachsen. Da lassen die Streicher die erhabene Lyrik triefen, lachen die Bläser über hochgestimmtes Philosophieren, ergießt sich das Orchester in edler melodischer Einfalt á la Gluck und kontrastiert sie mit leichtfüßigen Weisen aus der Buffa. Das Tempo und die Verwirrungen des ersten Finales weisen schon auf Rossini voraus; auch das Männerterzett im zweiten Akt – von Zeitgenossen gepriesen, aber auch für geschmacklos gehalten – ist mit seinem wiederholten „qua, qua, qua“ ein herrliches Beispiel sprachlich-musikalischen Slapsticks, wie wir ihn bei Rossini und Offenbach wiederfinden.

Bis zum 16. Dezember im Internet-Auftritt des WDR nachzuhören

Dass sich die Beschäftigung mit Antonio Salieri lohnt, hat diese Aufführung bei den „Tagen Alter Musik“ bewiesen. Der WDR hat damit vorbildlich seinen Kulturauftrag erfüllt und für das Salieri-Gedenkjahr einen wertvollen Beitrag geliefert. Denn ansonsten bleibt die Ausbeute zum 275. Geburtstag und 200. Todestag des Wiener Hofkapellmeisters mager, trotz der verdienstvollen Arbeit von Jürgen Partaj und seiner Initiative „SALIERI 2025“ in Wien, die etwa viele Schätze aus Salieris kirchenmusikalischem Schaffen zu Gehör gebracht hat.

Aber die europäische Opernszene nahm von den Jubiläen kaum Notiz. Nur in seiner Heimatstadt Legnago im Veneto gab es im Oktober eine szenische Aufführung von Salieris „Falstaff“; am Salzburger Landestheater setzten Alexandra Liedtke (Regie) und Carlo Benedetto Cimento (Dirigat) die fantastische Oper „Il Mondo alla Rovescia“ in Szene, in der in damals komischer Verdrehung die Frauen auf einer von einer Generalin beherrschten Insel die Macht haben.

Dass aus der Zusammenarbeit Salieris mit Giovanni Battista Casti außer der bekannten Theaterpersiflage „Prima la musica, poi le parole“ zwei weitere musikalische Satiren entsprangen, ist leider fast völlig unbekannt. Beide Opern durften aus Gründen politischer Opportunität nicht uraufgeführt werden und kamen erst im 20. Jahrhundert zu Bühnenehren: „Catilina“ (Darmstadt, 1994) ist eine makabre Abrechnung mit politischen Intrigen; „Cublai, gran Kan dei‘ Tartari“ (Würzburg, 1998) eine bissige Satire auf höfische Machtspiele. Auch die großen Tragödien Salieris wie „Les Danaïdes“ harren darauf, Jahrzehnte nach ihrer Wiederentdeckung wieder eine kritische Würdigung auf der Bühne zu erfahren.

Antonio Salieris Oper „La Grotta di Trofonio“ ist bis 16. Dezember im Internet nachzuhören: https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr3/konzert/audio-tage-alter-musik-in-herne–wiener-griechen-100.html




Dortmunder Jugendoper: Ein Zoo am Lager Buchenwald

Der Zoo, in Emine Güners Bühne ein trostloser Ort für den Pavian (Cosima Büsing), das Murmeltier (Wendy Krikken) und den Bären (Franz Schilling). (Foto: Björn Hickmann)

In einem Zoo lebt ein Nashorn. In einer Winternacht stirbt es plötzlich. Was war geschehen?

Vertrug das exotische Tier die Kälte nicht? Hatte es Heimweh? Das fragen sich ein Murmeltier und der kürzlich erst neu angekommene Bär. Oder hat das Nashorn „sein Horn zu tief in Angelegenheiten gesteckt, die es nichts angehen“, wie der Vater einer Pavian-Familie mutmaßt?

Den Zoo, den Komponist Edzard Locher und sein Librettist Daniel C. Schindler als Schauplatz für ihre Oper für junges Publikum ab Zwölf gewählt haben, den gab es wirklich. Er lag direkt am Zaun des Konzentrationslagers Buchenwald bei Weimar. Der Lagerkommandant ließ ihn von den Häftlingen errichten; die Lagerbewacher und ihre Familien sollten sich dort entspannen. Alte Fotos zeigen, dass vom Tierpark aus Zaun und Lager sichtbar waren. Auch die Weimarer machten Ausflüge in den Zoo. Gewusst und gesehen haben sie natürlich nichts – ebenso wenig wie die Frau des Lagerkommandanten, die fröhlich Fotos schoss, auf denen die Baracken im Hintergrund zu erkennen sind.

Die Oper mit dem etwas umständlichen Titel „Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute“ nennt weder den Namen Buchenwald noch den Begriff „Konzentrationslager“. In Anlehnung an ein erfolgreiches Schauspiel von Jens Raschke erzählt sie in knapp 90 Minuten eine Fabel. Der Blick auf den Ort des Grauens fällt aus der Perspektive der Tiere im Zoo. Bär, Murmeltier und Pavian erkennen „Gestiefelte“, denen es offensichtlich gut geht, und „Gestreifte“, denen übel mitgespielt wird. Sie gehen damit unterschiedlich um: Das Murmeltier schläft und vergisst, der Pavian will nichts wissen. Nur der Bär, der gibt sich nicht zufrieden: Er will herausfinden, was es mit dem Schornstein auf sich hat, aus dem so übelriechender, beißender Qualm dringt. Und er ist damit dem Schicksal des Nashorns, das er nie kennengelernt hat, auf der Spur. Sehr zum Missvergnügen des Pavians, der seine Angst vor den möglichen Folgen der Bärenaktionen laut herausschreit.

Mehr als Feigheit oder Zivilcourage

Locher und Schindler entwickeln aus der Fabel kein Zeitstück zur Geschichte der Grausamkeit im Nationalsozialismus. Sie schildern vielmehr in einer Parabel mögliche Reaktionen auf das Unsagbare: Wegschauen, Verdrängen, Verharmlosen, aber auch Courage, Wissensdurst, Entschlossenheit. Und sie entdecken im Verhalten der Zootiere die Angst, die in ihre Existenz hineinkriecht und den vermeintlich so geordneten und harmlosen Alltag vergiftet. Es sind Verhaltensweisen, wie sie Menschen an den Tag legen, die mit Unrecht, Unterdrückung, brutaler Gewalt konfrontiert werden. Schauen sie hin, fühlen sie mit, handeln sie? Oder machen sie die Augen zu, nehmen nichts wahr, ergeben sich ihrer Angst und ihren Ohnmachtsgefühlen? Da geht es um weit mehr als um Feigheit oder Zivilcourage.

Der Oper gelingt es, ohne expliziten Geschichts- oder Politikbezug, aber auch ohne belehrenden Zeigefinger zu fragen, wie wir uns verhalten – in einer Situation, in der sich die Spaltung der Gesellschaft und der Einfluss menschenverachtender Ideologien immer deutlicher abzeichnet. Für die Schülerinnen und Schüler, die bei der Uraufführung im „Operntreff“ des Dortmunder Opernhauses dabei waren, könnte das Thema bis in ihren Schulalltag reichen: Wo entdecken sie Ausgrenzung, wo versteckte oder offene Gewalt, wo Mobbing? Und wie reagieren sie?

Angst und Ignoranz

Die sensible Inszenierung von Stephan Rumphorst lässt die drei Tier-Darsteller mit ihrem nur halb verstehenden Blick auf das Lager der „Gestiefelten“ und der „Gestreiften“ die ganze Ratlosigkeit, Angst und Verdrängung ausdrücken, bis hin zu einer schmerzhaften, von einem Trommel-Exzess überdröhnten Panik-Attacke des Affen. Cosima Büsing, von Emine Güner mit rosa Wimpern und Gesäßtaschen behutsam als Pavian gekennzeichnet, spielt sich die Seele aus dem Leib, charakterisiert von schmeichelnder Kantilene bis zum schrillen Schrei die Seelenlagen ihrer Tierfigur.

Die „Bärenburg“ gab es tatsächlich im Weimarer Zoo. Emine Güner hat sie auf ihrer Bühne stilisiert nachgebaut. (Foto: Björn Heckmann)

Wendy Krikken reckt und streckt sich nach dem Winterschlaf in wohliger Ignoranz, auch wenn dem Murmeltier klar ist, dass „das Nashorn etwas gesehen hat“. Immerhin: Es nimmt sich vor, den gestorbenen Kumpel nie zu vergessen. Am Ende wird in einer Szene, die für Jens Raschke der Ausgangspunkt seines Stücks war, in einem poetischen Bild die Wahrheit über den Tod des Nashorns offenbart – in einer Schilderung, deren träumerische Magie über den Fabel-Realismus der Geschichte hinausreicht. Da ist der Bär (Franz Schilling, deutlich artikulierend und mit der Stimme gestaltend) schon mit jungenhaftem Elan aus seiner „Bärenburg“ ausgebrochen und Opfer seines Wissen-Wollens geworden.

Dass beschränkte Mittel starke Ergebnisse möglich machen, ist an der Musik von Edzard Locher abzulesen: Die atmosphärisch bedrückende, trostlos graue Bühne Emine Güners ist flankiert von zwei Schlagzeugbatterien, zwischen denen Sven Pollkötter hin und her eilt, um vom Vibraphon bis zum Gong Klangerzeuger jeglicher Machart zu bespielen. Charmant beginnt die Musik – unsichtbar von Olivia Lee-Gundermann dirigiert – mit melodischen Motiven, die jeweils einem Tier zugeordnet sind, sich aber im Verlauf des Stücks nicht als Leit- oder Charaktermotive vordrängen.

Musik verdichtet die Emotion

Der Autor der Schauspiel-Vorlage für die Oper, Jens Raschke, und (rechts) Komponist Edzard Locher. (Foto: Werner Häußner)

Lochers Musik schafft Stimmungen und stützt die Stimmen, die er meist wortfreundlich, in emotional hitzigen Situationen aber auch in extreme Höhen und Lautstärken führt. „Was das Nashorn sah …“ ist seine erste Arbeit für das Musiktheater, das der Komponist aus der Praxis gut kennt: Er ist seit 2016 Erster Schlagzeuger des Orchesters des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden und so mit dem Repertoire der Oper wohl vertraut. Im Nachgespräch nach der Uraufführung waren es junge Zuschauer, denen in der Musik die verdichtete, über das bloße Wort hinausführende Emotion auffiel.

Mit dieser Premiere einen Tag nach dem Gedenken an die Reichspogromnacht leistet die Junge Oper Dortmund einen eindrücklichen Beitrag zum Erinnern. Die Kunst spricht, wo die Zeitzeugen verstummen. Und das an einem Ort in Dortmund, der mit den Schrecken der braunen Jahre eng verbunden ist: Das Opernhaus steht an der Stelle der 1938 von den Nazis abgerissenen Synagoge.

Weitere Vorstellungen: 18., 21. November; 3. Dezember; 21. Januar; 5. Februar; 15. Mai; 17. Juni. Beginn jeweils 11 Uhr. Weitere Termine in Planung. Info: https://www.theaterdo.de/produktionen/detail/was-das-nashorn-sah-als-es-auf-die-andere-seite-des-zauns-schaute/




Groteske Sozialkritik im Asia-Restaurant: In Hagen startet eine neue Intendanz mit Peter Eötvös‘ „Der Goldene Drache“

Spielfreudiges Ensemble (von links): Nike Tiecke, Anton Kuzenok, Angela Davis, Kenneth Mattice, Ks. Richard van Gemert. (Foto: Leszek Januszewski)

Abschied und Neubeginn: Mit dem ehrgeizigen Projekt einer Uraufführung hat Intendant Francis Hüsers in Hagen noch einmal für einen Höhepunkt gesorgt. Auch sein Nachfolger Søren Schuhmacher bekennt sich zum Musiktheater der Gegenwart.

„American Mother“, die Oper der amerikanischen Komponistin Charlotte Bray, einfühlsam inszeniert von Travis Preston und vom Orchester unter dem ebenfalls scheidenden GMD Joseph Trafton auf makellosem Niveau gespielt, setzte einen tief bewegenden Schlusspunkt unter Hüsers achtjährige Intendanz.

Schuhmacher wird sich am 4. Oktober mit einem Klassiker, Verdis „La Traviata“, als Regisseur vorstellen. Seine auf fünf Jahre angelegte Intendanz eröffnet er jedoch mit Zeitgenössischem: „Der goldene Drache“ des im letzten Jahr verstorbenen Peter Eötvös stellt zugleich das neue Format „CloseUP!“ vor: Das Publikum darf auf die Bühne, sitzt auf drei Seiten um eine zentrale Spielfläche. Die vierte Seite, zum offenen Bühnenportal und dem leeren Zuschauerraum hin, besetzen die sechzehn Musiker des Orchesters.

Seit der Uraufführung 2014 in Frankfurt wird „Der goldene Drache“ häufig gespielt. Das liegt sicher auch an der perfekten Machart der Vorlage, einem Schauspiel von Roland Schimmelpfennig, das 2010 zum „Stück des Jahres“ gekürt wurde. Die Story dreht sich um einen jungen, illegal in einem Schnellrestaurant arbeitenden Chinesen mit wahnsinnigen Zahnschmerzen. Da er nicht zum Zahnarzt gehen kann, reißen ihm die Kollegen den kariösen Zahn mit einer Rohrzange. Der „Kleine“ verblutet; sein Leichnam wird in einen Fluss geworfen.

Lakonisches Erzählen und surreale Komödiantik

Wie Schimmelpfennig verbindet Eötvös sozialkritischen Realismus mit grotesken Zügen, verwebt in das Drama des „Kleinen“ die alte Fabel von der Grille und der Ameise. Sie wird zum schockierenden Gleichnis ausbeuterischer Abhängigkeit und sexuellen Missbrauchs. Kennzeichnend für die stark gekürzten Textfassung, die Eötvös in Absprache mit Schimmelpfennig für sein Musiktheater erstellt hat, ist das Ineinandergreifen von lakonischem Erzählen und surrealer Komödiantik, die einmünden in eine fantastische Übersteigerung am Ende, wenn der „Kleine“ als Toter übers Meer nach Hause schwimmt.

Der Monolog des toten jungen Chinesen ist das einzige ariose Innehalten in den gut 90 Minuten und sprengt die Erzählebenen. Wenn zuletzt der gezogene Zahn in einen Fluss gespuckt wird, erinnert die absurde Szene nicht nur an den von Eötvös geschätzten Samuel Beckett, sondern reißt einen transzendenten Horizont auf: Der junge Mensch und sein Zahn sind im Fließen des Wassers wieder vereint. „Der Zahn ist weg, als ob er nie dagewesen wäre“, ist der letzte Satz des Stücks.

Zwischen leichtfüßigem Boulevard und verstörender Intensität

In ihrer Inszenierung in Hagen bricht Julia Huebner den Strang des Erzählens auf, gibt den realistisch anmutenden Abschnitten in der beengten Küche des Asia-Restaurants einen verfremdenden Touch von überzogenem Boulevard, setzt die Fabel-Szenen der Grille durch eine Gondel und Live-Videos auf Distanz, lässt sie dadurch gleichzeitig verstörend eindringlich wirken.

Das Spiel der fünf Hagener Ensemblemitglieder, die in achtzehn Rollen schlüpfen, hat Züge des Impro-Theaters und wirkt leichtfüßig und überzogen, als käme es von der Bretterbühne eines Jahrmarkts. Die Kostümwechsel auf offener Szene (punktgenau karg von Iris Holstein) unterstreichen die Distanz vom naturalistischen Spiel und heben die Extreme und Kontraste hervor, auf die Eötvös abgezielt hat.

Mit der Musik von Peter Eötvös demonstrieren die Hagener Musikerinnen und Musiker, wie vertraut sie mittlerweile mit dem Idiom zeitgenössischer Klänge und Strukturen sind. Steffen Müller-Gabriel spornt an, wo es um rhythmische Pointen oder Klangakzente geht, dämpft aber ab, wo untergründiges Flüstern, dünnwandige Tongebilde und verhaltene Akkorde gefragt sind. Eötvös‘ setzt nicht auf Schärfe und Überwältigung, aber auch nicht auf süffiges Illustrieren. Er nimmt Anleihen bei Kabarett- und Operettenmusik, lässt dem Sprachrhythmus und dem verständlichen Wort stets den Vortritt. Wenn sich die Leichtigkeit verdichtet, bilden sich magisch schillernde Blasen luftigen Klangs.

Angela Davis in „Der Goldene Drache“, u.a. als Ameise. (Foto: Leszek Januszewski)

Das Hagener Ensemble mit Angela Davis, Anton Kuzenok, Richard van Gemert, Kenneth Mattice und der leichtstimmigen, ursprünglich aus dem Musical kommenden Sopranistin Nike Tiecke als „Kleinen“ findet die Balance zwischen Disziplin und Momenten grotesker Übertreibung. Ein gelungener Start in die neue Spielzeit, der hoffen lässt, dass Schuhmacher das bisherige Niveau in Hagen hält und durch neue Akzente bereichert.

Info: https://www.theaterhagen.de/veranstaltung/der-goldene-drache-1926/0/show/Play/




Eisiger Schauer für Barbarossas Knochen: Verdi und Rossini zur Saisoneröffnung in der Philharmonie Essen

Der Dirigent Riccardo Chailly in der Philharmonie Essen. (Foto: Brescia e Amisano ©Teatro alla Scala)

Erfreulich, dass Riccardo Chailly mit Orchester und Chor des Teatro alla Scala beim Saison-Eröffnungskonzert der Essener Philharmonie einmal nicht den Schlager aller Chorschlager mitgebracht hat. Statt „Va pensiero“ aus Giuseppe Verdis „Nabucco“ eröffnen sie ihr Konzert mit italienischer Opernmusik von Verdi und Rossini mit einer mitreißenderen Hymne als dem „Gefangenenchor“: „Viva Italia“, der Einleitungschor aus Verdis vernachlässigter „La Battaglia di Legnano“.

Man spürt den Kampfgeist des Risorgimento, den Enthusiasmus der italienischen Einigungsbewegung: Ein „heiliger Pakt“, so heißt es, verbinde die Söhne Italiens (die Töchter waren damals nicht gefragt), mache sie zu einem Heldenvolk. Ein eisiger Schauer möge die Knochen des wilden Barbarossa durchfahren!

Viel eindringlicher als im „Nabucco“, der erst im Zuge der Auseinandersetzung mit den österreichischen Besatzern seinen nationalrevolutionären Anstrich erhielt, formuliert Verdi hier sein Ideal der Einigung Italiens. Die Ouvertüre zur „Schlacht von Legnano“, in der es um den Sieg der Lombardischen Städteliga über Kaiser Friedrich Barbarossa anno 1176 geht, ruft den unwirschen, roh-lapidaren Ton der Frühwerke auf, aber der lyrische Teil steht auf der Höhe der folgenden Opern „Luisa Miller“ und des bedeutenden, immer noch nicht gerecht geschätzten „Stiffelio“. Filigrane Bläser und hymnische Tutti, vom Scala-Orchester mit Saft und Sensibilität gespielt, tauchen Verdis Melodien in glühende Kantilenen; der Chor beginnt verhalten a cappella und steigert sich gegen den „wilden Barbarossa“ in schäumendes Forte. Ein fulminanter Auftakt!

Auch mit Vorspiel und Einleitungschor zur Oper „I due Foscari“ stellen Chailly und seine Ensembles ein Werk vor, das mehr Beachtung verdient hätte. Chailly hat es schon als junger Dirigent zum 200-Jahr-Jubiläum der Scala 1978 dirigiert und aus seinem Dornröschenschlaf erweckt. Der Chor „Silenzio, mistero“ fängt die unheimliche Atmosphäre eines nächtlichen Venedig ein, das nicht romantisch verbrämt, sondern ein düsterer Schauplatz von Verrat, Intrige und Lebensgefahr ist.

Weniger glücklich programmiert sind die anschließenden Ausschnitte aus „La Traviata“ und „Otello“. Die Chorstretta am Ende des Festes bei Violetta („Si ridesta in ciel l’aurora …“) eignet sich als Zugabe („Es ist Zeit für uns, zu gehen …“), hat aber als vorbeihuschendes Presto zu wenig Substanz, um für sich allein zu stehen. Auch die beiden Chöre der Wahrsagerinnen und der Stierkämpfer aus dem zweiten Akt, dem Fest bei Flora, sind mit ihrer prägnanten Rhythmik und ihrer koloristischen Melodik reizvolle Stücke, die ihre Wirkung aber eher im szenischen Zusammenhang als im Konzert entfalten. Ähnlich die Chöre aus „Otello“.

Leuchtender Klang und breites Ausdrucksspektrum

Dass die Sängerinnen und Sänger aus Mailand unter ihrem Direktor Alberto Malazzi einen leuchtend-kernigen Klang pflegen und selbst zwischen dem fahlen „sotto voce“ – der Meisterschaft halblauten Singens – und einem plastischen Pianissimo über ein breites Ausdrucksspektrum verfügen, bleibt unbestritten. Die Musiker des Scala-Orchesters wissen natürlich, wie sie einen Bogen spannen, wie sie Bläser und Streicher abmischen und wie in bläserbewehrten Tutti ein transparenter Klang bewahrt wird. Chailly hält stets einen Rest von Reserve aufrecht; so klingt das Vorspiel zu „La Traviata“ nicht depressiv-wehmütig, sondern resigniert-erhaben.

Dieses Ideal eines polierten, strahlenden, aber expressive Emphase meidenden Klangs kommt im zweiten Teil des Konzerts den Ausschnitten aus Gioachino Rossinis „La gazza ladra“, „Semiramide“ und seinem „Tell“ – hier in der italienischen Fassung als „Guglielmo Tell“ – entgegen. In der „Diebischen Elster“ sind die beiden kleinen Trommeln zwar am äußeren linken und rechten Rand des Ensembles positioniert, aber die Echo-Wirkung wird nicht realisiert. Die Dynamik bleibt gedämpft – somit spielt sich keine Szene ab, sondern die Musik bleibt auf Distanz.

Energie und Noblesse in Rossinis Chören

Die vordergründig malerische Ouvertüre zu Rossinis letzter Oper mag Chailly nicht dramatisch eindringlich aufladen. Im Orchester hat die Cello-Gruppe einen glänzenden Auftritt; auch die Holzbläser, namentlich die Flöten, verschlingen sich makellos in ihren melodischen Arabesken. Die finale Attacke wird weder im rhythmischen Biss noch in der Lautstärke vulgär übertrieben – das tut dem Stück gut. Wirkungsvoll gestaltet ist der Chor aus der 13. Szene der „Semiramide“, „Ergi omai la fronte altera, regio Eufrate“. Da lassen die Scala-Choristen die Nähe zu Verdi und damit die expressive Kraft Rossinis spüren; der wuchtige Chorklang hat Energie und Noblesse.

Auch der Chor der Schweizer aus der zweiten Szene des Dritten Akts von „Guglielmo Tell“ mit dem Wechsel von Soldaten und Frauen und dem Passo a tre für das Ballett ruft szenische Assoziationen hervor und verbirgt nicht, dass dieser Moment vor den Augen Geslers mit untergründiger Aggression aufgeladen ist, die sich im scheinbar so harmlos-folkloristischen Bordun der Männerstimmen artikuliert. Jubel des Essener Publikums für einen dankbaren Abend voller Italianità.

Große Orchester in Essen zu Gast

Die Philharmonie Essen startete mit diesem Konzert in eine neue Spielzeit, deren Programm weitere weltweit bedeutende Orchester wie das London Symphony Orchestra (5. Oktober), das Israel Philharmonic Orchestra (1. November), die Wiener Symphoniker (14. November) und das London Philharmonic Orchestra (4. Dezember) enthält. Zu Gast sind Dirigenten wie Daniele Gatti, Philippe Herreweghe, Marie Jacquot, Klaus Mäkelä, Sir Antonio Pappano, Raphaël Pichon, Petr Popelka, Sir Simon Rattle oder einer der Porträtkünstler der Saison, Maxym Emelyanychev.

Neben der Geigerin Carolin Widmann und der Jazz-Legende Nils Landgren gehört zum Quartett der Porträtkünstler auch der Dirigent Lahav Shani. Der Musikdirektor des Israel Philharmonic und designierte Chefdirigent der Münchner Philharmoniker geriet über seine künstlerische Tätigkeit Mitte September in die Schlagzeilen, als er und die Münchner Philharmoniker vom Flanders Festival in Gent in Belgien ausgeladen wurden. Als Grund wurde angegeben, der in Tel Aviv geborene, 36 Jahre alte Dirigent habe sich nicht eindeutig von der israelischen Regierung distanziert. Die Absage aus Sorge vor „emotional aufgeladenen Reaktionen“ wurde als Bankrotterklärung vor dem Terror und von Presse und Kulturszene weithin als kruder Antisemitismus gewertet.

Lahav Shani. (Foto: Marco Borggreve)

Auch die Philharmonie Essen stellte sich in einer Stellungnahme im Umfeld des Konzerts der Münchner Philharmoniker in Essen klar hinter ihren Porträtkünstler, der sich vielfach für Dialog und Versöhnung eingesetzt hat. Bei dem Konzert am 13. September in Essen distanzierte sich der belgische Premierminister Bart De Wever noch einmal öffentlich von der Entscheidung des Festivals van Vlaanderen.

Lahav Shani wird in Essen noch zwei Mal zu erleben sein: Am 1. November gastiert er mit dem Israel Philharmonic Orchestra mit Paul Ben-Haims Sinfonie Nr. 2 und dem Fünften Klavierkonzert Ludwig van Beethovens, gespielt von Igor Levit. Am 28. Februar 2026 steht beim Rotterdam Philharmonic Orchestra Richard Strauss‘ „Till Eulenspiegel“ auf dem Programm, dazu das Zweite Klavierkonzert Dmitri Schostakowitschs mit Shani in der Doppelrolle als Dirigent und Solist.




Auf der Suche nach einer geträumten Melodie: Marc L. Voglers „Klangstreich“ in der Jungen Oper Dortmund

Der Komponist Marc L. Vogler wuchs in Gelsenkirchen auf. (Foto: Christian Palm)

Finn ist nur eine kleine Note, aber mit einem großen Traum. Im Reich der Wünsche und Imaginationen hat sie eine wunderschöne Melodie gehört, die sie nicht mehr loslässt. Davon erzählt „Klangstreich“, eine Oper für Menschen ab vier Jahren, geschaffen von einem 27 Jahre alten Komponisten, uraufgeführt während des Theaterfestes als Auftragswerk der Jungen Oper Dortmund.

Eigentlich gehört die Note in ein Geburtstagslied; da springt sie einfach raus. Das Lied hat jetzt ein Loch. Aber die kleine Note Finn macht sich auf den Weg. Sie begibt sich auf die Suche nach ihrer eigenen, ihrer geträumten Melodie. Und dazu braucht sie Hilfe.

Marc L. Vogler, letzter Schüler von Manfred Trojahn, hat das Libretto von Dany Handschuh – nach dem Kinderbuch „Klangstreich – eine Note tanzt aus der Reihe“ von Inge Brendler – zu einem knapp 40-minütigen Capriccio für drei Sänger verarbeitet. Keine Instrumente, keine Begleitung, nur drei Stimmen: Eine kreative Herausforderung, die überraschend lebendig und farbig gelungen ist.

Vogler – nicht verwandt mit dem einst berühmten schwedischen Hofkapellmeister, Komponist und Musiktheoretiker Abbé Georg Joseph Vogler – hat bereits mit 17 in seiner Heimatstadt Gelsenkirchen als Pianist debütiert. Zwei Monate später, am 15. Januar 2016, kam seine erste Oper „Streichkonzert – Con brio ohne Kohle“ mit einem selbst verfassten Libretto auf die Bühne des Kleinen Hauses des Musiktheaters im Revier. Die Satire kam an; Vogler begann sein Studium bei dem ausgewiesenen Opernkomponisten Manfred Trojahn, gewann 2022 den Deutschen Musikwettbewerb und ist seither in allen musikalischen Genres gefragt und produktiv. In den Spielzeiten 2024/25 und 2025/26 ist Vogler Composer in Residence an der Oper Dortmund. Dort wurden bisher seine Opern „Marie Antoinette oder: Kuchen für alle“ und die Bürger:innenoper „Who cares?“ uraufgeführt.

Im Operntreff des Dortmunder Opernhauses, eine als variable Spielstätte genutzte ehemalige Cafeteria, lassen sich Kinder und ihre erwachsenen Begleitungen in einem kissengepolsterten Rund nieder. Anna Hörling hat die Bühne mit einfachen Requisiten für den mobilen Einsatz, etwa in Schulen, gestaltet: Als Schauplatz der Wanderung der Note Finn genügen ein mannshohes Metronom und ein Paravent mit abknickenden Notenlinien. Da stecken die drei Sänger ihre (Noten-)Köpfe durch und intonieren „Du hast heut‘ Geburtstag …“ Finn (Franz Schilling), schwarz-weiß mit Fliege und kurzer Pluderhose, macht sich auf den Weg: Eine Band probt, und Sängerin Wendy Krikken rockt mit der E-Gitarre, deren jaulende Glissandi und Tonpassagen von Cosima Büsing allein mit der Stimme nachgeahmt werden.

Weiter geht’s in ein Jazz-Café, wo ein – ebenso vokal imitiertes – Plüsch-Saxofon schmeichelt und ein Beatbox-Kontrabass den Rhythmus vorgibt. Aber die ersehnte Melodie bleibt aus: „Die wirst Du hier nicht finden“, bedeutet die Sängerin Antonia der kleinen Note. Wie Prinz Tamino in der „Zauberflöte“ geht Finn seinen Erkenntnisweg weiter, streift durch trocken auf Papier konservierte Musik und durch pseudo-bayerische Jodeljuchzer, bis sich endlich – schwebend, leuchtend, wunderschön – die gesuchte Melodie einstellt. Alle dürfen mitsingen; die Kinder im Publikum, vorher gebannt lauschend, überwinden endlich ihre Scheu vor fremdem Raum und unvertrauten Menschen, und sie machen mit.

Anspruch ist so hoch wie in der „großen“ Oper

Gerade die offene Neugier, das unverbrauchte Gehör und die unverbaute Auffassungsgabe von Kindern und Jugendlichen lässt sie vorbehaltloser als so manchen Klassik- oder Opern-Roué auf zeitgenössische Musik reagieren. Vogler macht keine Kompromisse, um sein Werk „leichter“, „fasslicher“ oder „zugänglicher“ zu gestalten. Er unterscheidet nicht, ob er für die „große“ Oper schreibt oder ob seine primäre Zielgruppe Kinder oder Familien sind. „Die Verantwortung, der Anspruch ist immer derselbe“, sagt der Komponist. „Die Liebe zum Detail, die Begeisterung für die stilistische Vielfalt ist bei einem Kinderstück gleich – wenn nicht noch höher. Denn Kinder sind gnadenlos ehrlich. Wenn ich es schaffe, ein Kinderpublikum mit Musik zu begeistern, dann weiß ich, dass da Qualität drinsteckt.“

Mit „Klangstreich“ wird dieser Anspruch eingelöst – unter erschwerten Bedingungen. Mit nur drei Stimmen, ohne jede Instrumentalbegleitung, die Spannung zu halten und musikalische Abwechslung zu garantieren, fordert von den drei Protagonisten, in jedem Moment präsent und konzentriert zu sein. Dazu kommt die Nähe zum Publikum. Franz Schilling, Wendy Krikken und Cosima Büsing schlüpfen gekonnt in ihre unterschiedlichen Rollen und setzen die polyphone und polystilistische Musik Voglers mit fabelhafter Intonation um. Ob Beatbox oder Kantilene, Geräusch, Gesang oder raffiniert verpacktes „Carmen“-Zitat: Die Drei harmonieren im besten Sinn des Begriffs und entfalten so eine Geschichte, die nicht nur unterhaltsam durch musikalische Genres streift. Die kleine Note Finn, die alleine nur für einen kläglichen Ton steht, findet erst in der Harmonie zu sich selbst und zu ihrem Traum. Wer will, mag darin auch eine berührende humane Botschaft entdecken.

Geplant sind bisher 14 Vorstellungen, zehn davon mobil, der Rest im Foyer des Opernhauses Dortmund. Das Stück ist für Schulen, Gruppen etc. mobil buchbar. Info: crschmidt@theaterdo.de

 




Im Geniekult vergessen: Vor 200 Jahren starb der Komponist Antonio Salieri

Antonio Salieri auf einer um 1815 entstandenen Lithografie.

Er gehört zu den bedeutendsten musikalischen Figuren im Wien des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Aber die Nachwelt hat aus Antonio Salieri einen zweitrangigen Kleinmeister und Rivalen Mozarts gemacht. Noch in seinem Theaterstück „Amadeus“ – weltbekannt geworden durch Miloš Formans gleichnamigen Film von 1984 – benutzt Peter Shaffer die längst widerlegte Legende, Salieri habe Mozart mit Gift beseitigt.

Der Film erzählt, wie der Italiener das kindlich-amoralische Genie „Amadeus“ durch seelischen Druck langsam ums Leben bringt. Er will damit Gott seine Macht zeigen: Jenem Gott, der sich in Mozarts perfekter Musik offenbart. Ihn, Salieri, dagegen hat er dazu verdammt, als einziger zu erkennen, wie mittelmäßig seine eigenen Kompositionen in Wirklichkeit sind. Und das, obwohl sich Salieri Gott mit all seiner kreativen Kraft und einem moralisch einwandfreien Leben als Instrument der Offenbarung zur Verfügung gestellt hat.

Die Wirklichkeit ist weniger melodramatisch: Mozart und Salieri waren im Wien Josephs II. keine Konkurrenten und schon gar keine Gegner, im Gegenteil. Alle Äußerungen in den Quellen, die etwa von „Cabalen“ gegen die „Hochzeit des Figaro“ raunen, halten einer Überprüfung nicht stand. Mozart selbst berichtet in seinem letzten Brief an seine Frau Constanze, Salieri habe „Die Zauberflöte“ mit aller Aufmerksamkeit gesehen: „ … von der Sinfonie bis zum letzten Chor, war kein Stück, welches ihm nicht ein bravo oder bello entlockte.“ Salieri sorgte nach dem Tod Mozarts weiterhin für Aufführungen seiner Werke und Constanze gab ihren jüngsten Sohn Franz Xaver bei ihm in den Kompositionsunterricht. Feindschaft sieht anders aus.

Warum also die haltlosen Gerüchte, woher die Abwertung Antonio Salieris und die Schmähung seiner Musik als bedeutungslos? Da spielt der gerade in Deutschland gepflegte Geniekult des 19. Jahrhunderts eine gewichtige Rolle: Gegen den strahlenden Stern Mozarts hatten italienische „Kleinmeister“ keine Chance zu bestehen. Der antiitalienische Affekt des ersten Mozart-Biographen Franz Niemetschek tat ein Übriges: Das Genie wurde dem intriganten Haufen „verdienstloser Menschen“ und ihrem „welschen Geklingel“ gefährlich und entfachte den „Neid mit der ganzen Schärfe des italienischen Giftes“, unterstellt er.

So verschwanden Salieris rund 40 Opern von den Spielplänen. Bei seinem Tod am 7. Mai 1825 in Wien war er als Autorität hoch geachtet, als Komponist jedoch schon so gut wie vergessen. Seine Schüler Ludwig van Beethoven und Franz Schubert hatten ihn verdrängt, das Rossini-Fieber die Wiener Opernbühne geradezu ins Delirium versetzt. Aber seine pädagogische und organisatorische Arbeit wirkte nach: Der Pianist Karl Czerny gehört zu seinen Schülern, der Komponist Joseph Leopold von Eybler, ebenso Johann Nepomuk Hummel und der Franzose Ferdinand Hérold. Er nahm Franz Schubert unter seine Fittiche. Salieri unterrichtete Größen wie Giacomo Meyerbeer, der zu den einflussreichsten Opernschöpfern des 19. Jahrhunderts gehört, Simon Sechter, den Lehrer Anton Bruckners, und in seinen letzten Lebensjahren den jungen Franz Liszt. Er war 1823 an der Gründung des Konservatoriums der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien beteiligt. und bildete zahlreiche exzellente Sänger aus, so auch Mozarts „geläufige Gurgel“ Catarina Cavalieri.

Erst in den letzten Jahrzehnten sind die Werke Salieris wieder entdeckt worden, seit 1975 sein „Falstaff“ in Verona wieder aufgeführt wurde. Seine erfolgreichen Pariser Opern in der Nachfolge Christoph Willibald Glucks („Tarare“, „Les Danaïdes“) ließen die Eigenart seiner Kompositionsweise einem staunenden Publikum vor Augen treten: Salieri bleibt stets nahe am Text, deutet lebhaft, farbig und dramatisch dicht die Aussagen des Librettos aus. Nicht umsonst haben Kapazitäten wie Cecilia Bartoli  Salieris Musik für sich entdeckt. 2004 sang Diana Damrau eine der extrem anspruchsvollen Sopranpartien von Saliers „L’Europa riconosciuta“ anlässlich der Wiedereröffnung des renovierten Mailänder Teatro alle Scala. Das innovative, bei der Uraufführung enthusiastisch gefeierte Werk erklang 1778 zur Eröffnung der Scala zum ersten Mal.

Salieris Freude an der Textdeutung kommt seinen satirischen Werken zugute – eine Facette, die Mozart kaum gepflegt hat: Die aus politischen Gründen unaufgeführt gebliebene Oper „Cublai, großer Khan der Tartaren“ („Cublai, Gran kan de‘ Tartari“) erwies sich bei ihrer Entdeckung 1998 am Theater Würzburg als beißender Spott auf beschränkt-gefährliche Machthaber, manipulative Priester und Erzieher, intrigante Hofschranzen und eitle Liebhaber. In dieser Produktion sang Diana Darmau die Rolle der persischen Prinzessin Alzima. Eine ähnliche politische Satire, „Catilina“, konnte erst 1994 in Darmstadt uraufgeführt werden.

Derzeit in Salzburg zu erleben ist eine Rarität aus der Feder Antonio Salieris: „Il mondo alla rovescia“ („Die verdrehte Welt“). Hier ein Szenenfoto mit Luke Sinclair, Alexander Hüttner und dem Unterstimmenchor. (Foto: SLT/Tobias Witzgall)

Zum Salieri-Jubiläum 2025 – zu feiern ist am 18. August auch der 275. Geburtstag des italienischen Meisters – veranstaltet seine Heimatstadt Legnago eine Serie „Salieri 200“ mit Konzerten und einer Aufführung von „Falstaff“. In Legnago verlebte der Kaufmannssohn die ersten 16 Jahre seines Lebens, bis er 1766 vom Komponisten Florian Leopold Gasmann in Vendig entdeckt und nach Wien mitgenommen wurde, wo er ab 1774 als Kammerkompositeur und Kapellmeister der italienischen Oper wirkte .

In Wien steht Salieris Gedenkjahr im Schatten des Johann-Strauß-Jubiläums. Dennoch bietet eine Initiative „Salieri 2025“ zahlreiche Veranstaltungen wie Vorträge, Symposien, Konzerte mit seiner Musik und der seiner Schüler sowie ein Opernprojekt zur Satire „Prima la musica, poi le parole“ an. In Salzburg zeigt das Landestheater noch bis 27. Mai „Il Mondo alla Rovescia“ („Die verdrehte Welt“), ein absurdes Spiel um Geschlechterrollen und -identitäten.

https://www.salieri2025.at/
https://teatrosalieri.it/salieri200/
https://www.salzburger-landestheater.at/de/produktionen/die-verdrehte-welt-il-mondo-alla-rovescia.html?m=535




Duell der Giganten: Gil Mehmert inszeniert am Broadway ein Stück über Bernstein und Karajan

Gil Mehmert, der an der Folkwang Hochschule Essen lehrt, setzt Bernstein und Karajan am Broadway in Szene. Foto: Felix Rabas

Gil Mehmert goes Broadway: Der Regisseur, der seit 2003 im Fachbereich Musical an der Folkwang Hochschule in Essen lehrt und in den Theatern im Revier kein Unbekannter ist, hat sich in New York mit einem Stück über zwei Dirigier-Giganten des 20. Jahrhunderts vorgestellt.

Leonard Bernstein und Herbert von Karajan, jedem Musikfreund ein Begriff, trafen sich zum letzten Mal 1988 im legendären Hotel Sacher in Wien. Die beiden Rivalen um Marktmacht und musikalische Meinungen verbrachten eine Nacht in der „Blauen Bar“, mit einem einzigen Zeugen, dem Kellner. Der bemerkt dreißig Jahre später, wie der amerikanische Schriftsteller, Filmemacher und Komponist Peter Danish Bernsteins Gesammelte Briefe liest, erzählt ihm von dieser Begegnung – und der fantasiebegabte Autor füllt die dürre Information mit Leben und imaginiert die Inhalte des nächtlichen Gesprächs. Peter Danish kennt die Welt der klassischen Musik gut; sein Debütroman „The Tenor“, 2014 erschienen, erzählt auf der Basis der frühen Biografie von Maria Callas die Geschichte eines jungen Opernsängers, dem der Zweite Weltkrieg die Karriere ruiniert.

Begegnung im Hotel Sacher: Leonard Bernstein (Helen Schneider) und Herbert von Karajan (Lucca Züchner); in der Mitte der Kellner als einziger Zeuge des Abends (Victor Petersen). Die Bühne schuf Chris Barreca, die Kostüme René Neumann. (Foto: Maria Barnova)

Mit „Last Call“, so der Titel des neuen, im März in New York uraufgeführten Stücks, wagt die junge Kölner Produktionsfirma apiro Entertainment den Sprung an den Broadway und hat mit Gil Mehmert einen erfahrenen Regisseur mitgenommen. Er hat u. a. „Cabaret“ an der Volksoper Wien und Michael Kunzes & Sylvester Levays „Elisabeth“ in Wien inszeniert. Seit er 2011 „Ganz oder gar nicht“ von David Yazbek und 2016 Webbers „Sunset Boulevard“ am Theater Dortmund auf die Bühne gebracht hat, ist er immer wieder als Regisseur auch in der Region hervorgetreten, so zuletzt mit Sondheims „Sweeney Todd“ in Dortmund und John Kanders „Chicago“ an der Oper Bonn.

„Last Call“ kreist 90 Minuten lang um Tiefsinn und Tratsch: Danish verwebt mit der leichten Hand des geübten „well made play“-Autors spritzige Pointen mit komplexen Themen. Es geht um die Art der Lebensführung – der ernsthafte Karajan versus den lockeren Lebemann Bernstein –, um die jüdischen Proteste gegen den Auftritt des im Dritten Reich regimenahen Österreichers mit mazedonischen Wurzeln 1955 in der Carnegie Hall, um Karajans Vergangenheit im Nazi-Reich und um Bernsteins unkonventionellen Zugang zur Musik, um Homosexualität und Lebensgenuss, um originäre und nachschöpferische Kreativität, aber auch um Selbstzweifel und Lebensbilanzen.

Und so spitzen die beiden Kontrahenten ihre Wortspiele zu und rüsten sich zum Duell der Taktstöcke. Das Publikum in einem der fünf „New World Stages“-Theater, einem Off-Broadway-Kulturkomplex, geht lebhaft mit: Viele Zuschauer sind zu jung, um die beiden Musik-Giganten noch persönlich erlebt zu haben. Wann und warum gelacht wird, lässt durchaus einen Generationen-Unterschied erkennen, aber das Florett der Worte touchiert auch die Jüngeren treffsicher. Man ist offenbar gut informiert. Und lässt sich auch von einer Debatte über den passenden Zugang zu Bruckner und Mahler mitreißen.

Helen Schneider als Bernstein. (Foto: Maria Barnova)

Weil es Gil Mehmert, wie er in einem Interview sagt, mehr auf die Seelen, Herzen und Gedanken als auf die äußere Erscheinung der beiden Protagonisten ankommt, hat er sie mit zwei Frauen besetzt: Helen Schneider, die brillante Musical-Darstellerin und Weill-Interpretin, gibt der Figur Bernstein die weltläufige Nonchalance, den souveränen Humor, eine heitere Gelassenheit, aber auch eine spitze Angriffslust und den beweglichen Intellekt. Ihre Mimik, wenn sie über Karajans Sottisen die Augen rollt oder seine künstlerischen Belehrungsergüsse mit einer beiläufigen Geste beiseite wischt, zieht Lacher und Sympathie auf ihre Seite.

Lucca Züchner als Karajan. (Foto: Maria Barnova)

Die Münchner Schauspielerin und Musicalsängerin Lucca Züchner schafft es als Karajan, dem Charmebolzen stand zu halten. Wie sie den alten, vom Schmerz gezeichneten Dirigenten mit den typisch nach hinten frisierten grauen Haaren durch die Szene wanken lässt, hat große Klasse. Bei ihr blitzt Karajans Energie auf, die sich aus dem Willen zu unbedingter Professionalität, künstlerischer Qualität, musikalischer Vollkommenheit speist. Sie verkörpert in manchmal schnarrender Härte, was der „echte“ Karajan in einem Spiegel-Interview 1979 gesagt hat: „Ich gehe auf keine Party. Was ich liebe, ist das Gespräch mit einem oder zwei Menschen, bei dem ernsthaft diskutiert wird. Mich interessieren eigentlich nur Leute, von denen ich was lernen kann. … Party-Geschwätz passt nicht in mein Dasein. Ich habe Besseres zu tun.“

Was für ein Gegensatz zu Bernstein, dem der Gesellschafts-Glamour und die „unterhaltende“ Musik wichtig war – was ihm Lucca Züchner mit vorschnellendem Zeigefinger auch vorwirft. Deutscher Ernst gegen amerikanische Lässigkeit: Solche Szenen belichten die Gegensätze in aggressiver Pointe, um sie Sekunden später witzig und leichtfüßig zu entschärfen, aber nicht zu verharmlosen. Schauspieler-Theater vom Feinsten, zu dem auch Victor Petersen als Kellner seinen Beitrag leistet.

Wenn Peter Danishs Dirigenten-Gefecht etwas vermissen lässt, dann ist es ein Spannungsbogen, der auf einen finalen Coup zuläuft. Sicher beeindruckt, wenn die alten Herren auf der Toilette alleine reflektieren und dabei die Zweifel und Wahrheiten ihrer Existenz streifen. Das Ende allerdings strebt nach Friede, Freude, Sachertorte; der „last call“ gibt sich versöhnlich im Zeichen der Musik. Ein Stück, das man in einer flotten deutschen Übersetzung gerne auf intimer Bühne oder bei Musikfestspielen wiedersehen würde – unterhaltsam reflektierend, wo Grenzen und Größe epochaler Musiker wie Bernstein und Karajan liegen.

Info: https://lastcalltheplay.com/




Wachsendes Interesse an Musik von Frauen: Warum der Weg ins Repertoire verwehrt blieb und was sich heute ändern muss

Zur „Wiederentdeckung des Jahres“ kürte das Fachmagazin „Opernwelt“ Louise Bertins Oper „Fausto“, die am Aalto Musiktheater im vergangenen Jahr ihre deutsche Erstaufführung feiern konnte. Jetzt war das Stück erneut in Essen zu erleben, mit Mirko Roschkowski (Fausto, rechts) und Almas Svilpa (Mefistofele). (Foto: Froster)

Komponierende Frauen gibt es, seit es die europäische Kunstmusik gibt, nur ist ihnen die Beachtung über den Tag hinaus versagt geblieben. Erst in jüngster Zeit gelingt es Komponistinnen, dauerhaft im Blick der musikalischen Öffentlichkeit zu bleiben. Die vor wenigen Tagen verstorbene Sofia Gubaidulina ist eine von ihnen, oder die Finnin Kaija Saariaho, die 2023 gestorben ist und deren letzte Oper „Innocence“ am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen eine großartige deutsche Erstaufführung erlebt hat.

Für das Defizit gibt es vielerlei Gründe, die nicht in der Qualität der Musik liegen: Im 19. Jahrhundert etwa waren Frauen wie die Italienerin Orsola Aspri (um 1807-1884) selbstverständlicher Bestandteil des römischen Operngeschäfts, wie die Wiener Musikwissenschaftlerin Melanie Unseld festgestellt hat. Warum Werken von Frauen den Weg ins historische Repertoire verwehrt wurde, hat gesellschaftliche und ideologische Gründe: eine männlich geprägte Presse, männliche Träger der Überlieferung und der Wissenschaft, schließlich auch der „Geniekult“ des 19. Jahrhunderts, für den ein auf Augenhöhe komponierendes „schwaches Weib“ undenkbar war.

In den letzten Jahren wächst das Interesse an dem, was Frauen hinterlassen haben. Bevor die Qualität ihrer Musik einem nach heutigen Kriterien fundierten Urteil unterworfen werden kann, muss sie erst einmal entdeckt und gehört werden. Denn noch so sorgfältige Editionen, noch so detaillierte musikhistorische Vergleiche nützen nicht viel, wenn sie nur zum Rascheln von Papier führen.

Merle Fahrholz bei der Pressekonferenz zu ihrer Vorstellung als neue Essener Intendantin 2021. (Foto: Werner Häußner)

Merle Fahrholz, die 2022 angetretene und 2027 schon wieder scheidende Intendantin des Aalto-Theaters Essen hat sich dieses Themas schon als Dramaturgin in Dortmund angenommen und für ihre Intendanz die Sicht- bzw. Hörbarkeit der Stimmen von Frauen zu einem programmatischen Schwerpunkt erklärt. Dass ein solches Projekt beim eher vorsichtig-traditionell geprägten Essener Publikum nicht gleich auf heftige Gegenliebe stößt, müsste auch den Verantwortlichen klar gewesen sein, die Fahrholz ihr Vertrauen geschenkt haben. Dass es nun ab 2027 wohl wieder weitergehen könnte, wie gehabt, ist bedauerlich.

Ein französischer „Faust“

Dabei ist nicht recht einzusehen, warum eine Oper wie Louise Bertins „Fausto“ – 2023 in deutscher Erstaufführung auf die Aalto-Bühne gebracht – auch bei einem eher das Gewohnte liebende Publikum nicht auf Gegenliebe stoßen sollte. Die Französin Bertin, eine körperlich beeinträchtigte junge Frau, die von ihrem Vater in jeder erdenklichen Weise gefördert wurde, konnte immerhin drei ihrer vier Opern auf Pariser Bühnen unterbringen – und der Konkurrenzdruck war um 1830 riesig!

Die Essener Aufführung in der Inszenierung von Tatjana Gürbaca, die im Februar noch einmal für eine kleine Serie wieder aufgenommen wurde, zeigt Bertins Eigenheiten im Umgang mit dem Stoff: Sie benutzt andere Quellen als Goethe und schildert einen Faust, der einem unerreichbaren Glück hinterherjagt und dafür bereit ist, die Existenz der jungen Margarita zu zerstören. Die Menschen in diesem Stück sind wankelmütig, manchmal zynisch, aber auch den Zwängen ihrer Gesellschaft unterworfen. Für die Mädchen etwa ist die Liebe Segen und Fluch zugleich: Sie sehnen sich nach Beziehung, wissen aber auch, wie ambivalent die Ehe als einzige akzeptierte gesellschaftliche Form sein kann. Und Mephisto ist bei Bertin eher ein Kommentator, der sich wundert, wie die Menschen sich ihr Glück und Leben selbst zugrunde richten.

Komponistin Louise Bertin. (Foto: Bru Zane Mediabase)

Das ist ein Stoff, der unter den Libretti bekannter Opern problemlos mithalten kann. Und die Musik? Bertin ist sich ihrer Mittel bewusst. Sie kennt den „Tonfall“ ihrer Zeit: Kantilenen á la Donizetti, Buffoneskes nach Art Rossinis, dazwischen Lyrismen, die aus dem Zauberkasten der erfolgreichen Opern Daniel François Esprit Aubers stammen könnten. Aber der Ton ist auf eine charmante Weise eigen, das Eklektische in der Musik hat seinen Platz. Man spürt, dass es dieser komponierenden Frau ums Ganze geht.

Blick in die Vergangenheit reicht nicht

Den Blick nur in die Vergangenheit zu richten, wäre eine halbe Sache: Frauen gehören in der zeitgenössischen Szene zwar vorbehaltlos dazu. Eine „Quote“ wäre auch abwegig und würde ihrer Musik einen Stempel aufdrücken, der ihr nicht bekommt. Gespielt werden soll, was gut ist. Aber neue Stücke müssen sich durchsetzen – und das bedeutet, dass eine Uraufführung hier und da zwar dienlich, aber nicht nachhaltig ist.

Das Fahrholz-Team weiß das, und hat für eine deutsche Erstaufführung die Oper „The Listeners“ der Amerikanerin Missy Mazzoli nach Essen geholt. Ein Werk, das den Stand des Komponierens in den USA anschaulich repräsentiert. „Accessible and surprising“ beschreibt Mazzoli ihre Absicht, mit ihrer Musik Menschen zu erreichen, ohne Kompromisse in der Qualität zu machen. Bei ihr stehen nicht Form und Struktur im Vordergrund, sondern der Klang, den der Essener GMD Andrea Sanguineti „eine Umarmung“ genannt hat.

Szene aus der Deutschen Erstaufführung von Missy Mazzolis „The Listeners“ am Aalto-Theater Essen. (Foto: Alvise Predieri)

„The Listeners“ ist ein ambivalenter Titel: Es geht um Menschen, die einen Brummton hören, der nicht von innen kommt und als Teil der Außenwelt feststellbar ist. Claire bricht – von diesem Ton gepeinigt – aus ihrer geordneten Lehrerinnen- und Familienwelt aus. Sie schließt sich mit Kyle, einem ihrer Schüler, der den „Hum“ auch hört, einer Selbsthilfegruppe an, die immer deutlicher sektenähnliche Züge zeigt. Schließlich entlarvt Claire den charismatisch-manipulativen Führer Howard und wird selbst zur Anführerin der Gruppe der „Hörenden“. Ein offenes Ende, denn Claire hat sich zwar von ihren bisherigen Rollenzwängen befreit, ob sie aber die Gruppe in eine bessere Zukunft führt, ist fraglich.

Manipulation und Befreiung

Das Thema des Librettos nach einer Erzählung von Jordan Tannahill lässt unterschiedliche Verständnisfacetten zu: Es schildert typische Mechanismen einer Sektenbildung und die Dynamik einer Manipulation, wie sie etwa bei Scientology beobachtet wurde. Aber es rückt auch den Entwicklungsprozess einer Frau ins Zentrum, die zu ihrer eigentlichen Bestimmung durchbricht. Die vieldeutige Figur eines Koyoten, dargestellt von einem Tänzer, eröffnet zusätzliche Horizonte, wenn man die Rolle des Tieres in der amerikanischen Mythologie einbezieht oder in ihm ein Symbol von „Wildheit“ oder „Natur“ erblickt. Anna-Sophie Mahlers Inszenierung hat diese Aspekte von Mazzolis Oper anklingen lassen, ohne sich zu sehr festzulegen.

Zur letzten Vorstellung von „The Listeners“ stellt sich im Rahmen des Festival „her:voice“ die extra angereiste Komponistin Missy Mazzoli den Fragen des Publikums. (Foto: Werner Häußner)

„The Listeners“ ist auch beachtenswert, weil es gelingt, einen zeitgenössischen Stoff ohne literarische Vorbilder oder historische Bezüge auf die Bühne zu bringen. Das erreichte auch Kaija Saariahos „Innocence“, zu der die finnische Librettistin Sofi Oksanen die Grundlage geliefert hat. Auch hier geht es um Gegenwärtiges: Zehn Jahre nach einem Schulmassaker müssen sich die Familie und die Schulfreunde des Amokschützen ihren Erinnerungen, ihren Gefühlen und auch ihrer Mitschuld stellen. In der Regie von Elisabeth Stöppler und der musikalischen Ausdeutung durch Valtteri Rauhalammi gelang ein erschütternder Abend im Musiktheater. Derzeit wird das Werk auch an der Semperoper Dresden in einer Inszenierung von Lorenzo Fioroni gezeigt.

Für die Amerikaner ist das „well made play“ ein wichtiges Kriterium für ein Stück – ein Konzept, das von manchen von Intellekt triefenden Libretti der deutschen Opernszene weit entfernt ist. Mazzolis Librettist Royce Vavrek gehört zu den am meisten gefeierten Musiktheater-Literaten der USA. Warum, war nicht nur in „The Listeners“ erfahrbar: Die Oper „Dog Days“ etwa, die er mit dem Komponisten David T. Little 2012 geschaffen hat, war in Bielefeld, Schwerin und Braunschweig zu sehen und hat in ihrer dystopischen Rätselhaftigkeit den Ruf Vavreks bestätigt. Für die „New York Times“ hat die Oper das Zeug zum „bahnbrechenden amerikanischen Klassiker“.

Kammermusik und Symphonik

Viel mehr noch als für die Oper haben Frauen im Bereich der Kammermusik geleistet. Sie waren entweder selbst ausübende Musikerinnen wie Clara Schumann, Sängerinnen wie Pauline Viardot-Garcia, oder hatten die private Sphäre eines Salons als Plattform, um sich als Komponistin zu zeigen. Wie diese Werke klingen, war in Essen beim zweiten Komponistinnenfestival „her:voice“ hörbar: In einem Kammerkonzert erklang Musik von Alma Mahler-Werfel, die derzeit auch im Essener Museum Folkwang in einer Ausstellung („Frau in Blau – Oskar Kokoschka und Alma Mahler“) präsent ist. So gut wie unbekannt sind ihre Zeitgenossinnen Evelyn Faltis (1887-1937) und Mathilde Kralik von Meyerswalden (1857-1944).

Alma Mahler stand auch beim Symphoniekonzert der Essener Philharmoniker im Zentrum: Bearbeitet für Alt und Orchester von Jorma Paula, erklangen fünf ihrer Lieder, die erhalten sind, weil sie der begeisterte Gustav Mahler im Druck erscheinen ließ. Es sind lyrische Miniaturen, durchtränkt von spätromantischer Melancholie, in denen sich Liebende im weiten Wald in sternlosem Dunkel finden und im düsteren Nebel ein Kindermund ein „Lichtlein“ aufgehen lässt. Bettina Ranch sang die Kostbarkeiten, gestützt von der gekonnt revitalisierten romantischen Orchestersprache, eher auf Klang als auf Deklamation bedacht mit weich strömenden Vokalen und Brokatschimmer im Timbre.

Auch im Falle der Symphonik wirkt in der Entstehung des „Kanons“ von Beethoven bis Bruckner und Mahler ein analytischer Filter mit: Relevant und anerkannt ist, was gattungsgeschichtlich Neues mit sich gebracht hat. Zu den nicht wenigen Symphonien, die diesen Anspruch nicht erfüllen, aber dennoch satztechnisch tadellose, abwechslungs- und einfallsreiche Musik bieten, gehören nicht nur Werke komponierender Frauen. Auch Symphoniker wie Charles Gounod oder Louis Théodore Gouvy ereilte das Schicksal einer – zudem nationalistisch gefärbten – Nichtbeachtung. Wie viel schwerer haben es in solchem Ambiente komponierende Frauen wie Emilie Mayer (1812-1883), Louise Farrenc (1804-1875) oder Charlotte Sohy (1887-1955) mit ihrer einzigen Symphonie.

Einfallsreich und professionell

Wer die Werke hört, die sich allmählich in Konzertprogrammen durchsetzen, kann nur bedauern, wie solche einfallsreichen und professionellen Arbeiten einfach verschwinden konnten. Sohys cis-Moll-Sinfonie „La grande guerre“, geschrieben 1914-1917, erstmals aufgeführt 2019, ist nur bedingt dazu zu zählen. So eindrucksvoll die gedrückte Stimmung des Beginns ist, so gekonnt sie Melodien ausbreitet und im zweiten Satz „vif“ Scherzo-Anklänge einführt: Die Instrumentierung ist stets dick, Kontraste fehlen und dem Hörer fällt es schwer, thematische oder strukturelle Fixpunkte zu erkennen – zumal die Essener Philharmoniker unter der sich wacker durchschlagenden Düsseldorfer Kapellmeisterin Katharina Müllner nicht zur gewohnten plastischen Durchzeichnung der dichten Gewebe finden. Da fällt der Kontrast zur Musik einer souveränen Könnerin drastisch aus: Kaija Saariahos „Ciel d’Hiver“ ist ein Meisterstück feinster fragiler flimmernder Klänge, in dem die Essener Philharmoniker zeigen, wie gut sie ihre solistischen Passagen untereinander abstimmen.

Überzeugender wirkt, was der Dirigent Jakob Lehmann vor einiger Zeit in Köln mit dem Concerto Köln aus Frauenfeder präsentiert hat: Louise Farrenc (1804-1875) ist in den Jahren 1845 bis 1849 mit drei Sinfonien hervorgetreten, die allen Maßstäben ihrer Zeit standhalten können. Auch ihre in Köln erklungene Es-Dur-Ouvertüre op. 24 aus dem Jahr 1834 ist ein mitreißendes Werk, vom düsteren Don-Giovanni-Pathos der Einleitung, über die einprägsame Thematik des Allegro bis zur gekonnten Finalwirkung. Man hört eine abwechslungsreiche Instrumentierung und aparte melodische Erfindung. Auch Emilie Mayers viersätzige Sinfonie Nr. 7 in f-Moll von 1856 kann mühelos mithalten: eine regelgerechte, dennoch nicht unoriginelle Sonatenform im Kopfsatz, ein farbenreicher Gesang im Adagio, der sich im Blech hymnisch erhebt, ein Scherzo mit rhythmischem Pep und einigen Überraschungen und ein energisches Finale. Das ist Musik, die man gerne wieder hört.

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Im Januar 2027 plant das Aalto-Theater Essen die Uraufführung der Oper „Day of Night“ der finnischen Komponistin Outi Tarkiainen. „Day of Night“ ist eine Koproduktion des Aalto Musiktheaters und der Finnish National Opera, wo die Oper dann im Herbst 2027 gezeigt wird. „Day of Night“ basiert auf dem gefeierten Debütroman „Halla Helle“ von Niillas Holmberg. Das Buch setzt sich den in Nordskandinavien beheimateten Sámi, dem einzigen indigenen Volk Europas, auseinander, dem Holmberg selbst angehört. Der finnisch-französische Autor Aleksi Barrière hat aus dieser Vorlage ein packendes Opernlibretto geschaffen. Intendantin Merle Fahrholz schreibt dazu: „Die Oper thematisiert den Wandel einer Region hinsichtlich Natur und Industrie, der sich auch im Ruhrgebiet beobachten lässt.“




Subtile Facetten, plakative Momente: Dmitri Schostakowitschs Elfte Sinfonie in Düsseldorf

Alina Ibragimova und Michael Sanderling nach dem Konzert der Düsseldorfer Symphoniker in der Tonhalle Düsseldorf. (Foto: Susanne Diener)

Bei Michael Sanderling, trifft zu, was oft nur als Lobpreis-Rhetorik zu klassifizieren ist: Er ist ein geborener Schostakowitsch-Dirigent. Zu erleben war die konzentrierte Rhetorik, der tiefinnerliche Ernst, den er den Sinfonien mitgibt, jetzt in der Düsseldorfer Tonhalle in einem Konzert mit den Symphonikern.

Michael Sanderling kam 1967 in Ost-Berlin zur Welt, er ist Sohn des Dirigenten Kurt und der Kontrabassistin Barbara Sanderling. Sein Vater hat nicht nur eine Reihe Schostakowitsch-Sinfonien mit dem Berliner Sinfonie-Orchester und anderen aufgenommen, er war auch eng mit dem Komponisten aus der Sowjetunion befreundet. Sanderling erinnert sich in einem Interview an die „sehr eindrückliche Persönlichkeit“ mit der besonderen Stimme und der angespannten, fast angsteinflößenden Mimik. Zum Biographischen – das für sich gestellt ja noch nicht viel aussagt – tritt ein Eintauchen in die Musik von klein an hinzu. Als deren Höhepunkt hat Sanderling mit der Dresdner Philharmonie alle 15 Sinfonien Schostakowitschs aufgenommen: Zeugnisse einer intensiven Beziehung, die aus beharrlichem Studium und aus tief verwurzelter Liebe lebt.

In diesem Jahr begeht die musikalische Welt am 9. August den 50. Todestag des Komponisten. Anlass für eine große Werkschau mit allen Sinfonien und Solokonzerten vom 15. Mai bis 1. Juni im Gewandhaus Leipzig. Da mitzuziehen, fällt schwer, aber auch die Orchester und Konzerthäuser in der Rhein-Ruhr-Region setzen ihre Schwerpunkte. So hielt es die Philharmonie in Essen im Februar mit dem Zweiten Klavierkonzert mit Anna Vinnistkaya und den Streichquartetten Nummer eins und neun mit dem Jerusalem Quartet.

Präsent, aufmerksam, klangpoliert

Die Symphoniker in Düsseldorf würdigten Schostakowitsch mit der Elften Sinfonie mit Sanderling am Pult – ein Konzert, das zum Ereignis geriet. Nicht nur, weil die Düsseldorfer sich präsent, aufmerksam und klangpoliert wie selten dieser expressiven Musik widmen. Michael Sanderling gelingt es, dem Orchester die subtilen Facetten, aber auch die plakativen Momente dieser beschreibenden, manchmal wie Filmmusik wirkenden Komposition zu entlocken. Denn mit der klassischen Form hat Schostakowitsch wenig im Sinn. Nur die vier Sätze erinnern an das früher unabdingbare Gerüst; der Inhalt schildert, statt motivisch-thematische Entwicklungen zu forcieren. Die Themen beruhen auf Arbeiter- und Revolutionsliedern; der letzte Satz zitiert mit typisch ironischem Hintersinn die „Warschawjanka“ aus der Zeit, als die Polen gegen Russland um ihre Selbständigkeit kämpften.

Mit dem Titel „1905“ hat der Komponist der Sinfonie einen historischen Bezugspunkt gegeben: den Volksaufstand des 9. Januar 1905 in Sankt Petersburg, den der Zar mit brutaler Gewalt beenden ließ. Schostakowitsch hatte jedoch eher den niedergeschlagenen ungarischen Aufstand von 1956 im Sinn, als er das Werk ein Jahr später schrieb – eine Konnotation, die damals auf keinen Fall offen zutage treten durfte.

Schostakowitsch wäre jedoch nicht einer der führenden Komponisten des 20. Jahrhunderts, hätte er lediglich sinfonische Filmmusik entworfen. Zwischen allen vier Sätzen gibt es motivische Verzahnungen, erklingen Reminiszenzen an bereits Gehörtes oder Details, die in einem späteren Satz musikalisch bedeutsam werden. Sanderling gestaltet die Balance der Klänge so, dass die strukturierenden Elemente hervortreten, stört aber nicht den „erzählenden“ Fluss der Entwicklung.

Solistische Herrlichkeiten

Große Geste, aber nicht viel zu erzählen: Alina Ibragimova mit den Düsseldorfer Symphonikern in der Tonhalle Düsseldorf. Michael Sanderling und das Orchester überzeugten dagegen mit Schostakowitschs 11. Sinfonie. (Foto: Susanne Diener)

Dabei kann er sich auf die Symphoniker verlassen. Das gespannte Pianissimo der Streicher zu Beginn mit seinen engen Intervallen schafft Atmosphäre, statt Melos oder gar eine Thematik vorzugeben, wird aber im Lauf der Sinfonie zu einem wiederkehrenden Motiv im Geschehen. Trompetensignale, kleine Trommel, Pauken, dann die Holzbläser mit einer ersten Melodie – das sind allmählich aufgebaute, sich intensivierende Bausteine. Mahler grüßt von ferne, und Sanderling erweist sich als Meister des atmosphärischen Spannungsaufbaus. Immer wieder nimmt er auch die Steigerungen der Dynamik zurück, damit er die Reserven an dramatischen Knotenpunkten voll ausspielen kann. Die explodieren im zweiten Satz, der die Hetzjagd und das Massaker an den Arbeitern schildert, mit Trommelgerassel wie MG-Salven, jagenden Streichern, gellenden Bläsern – und dann gespenstischer Ruhe.

Im dritten Satz mit der Überschrift „Ewiges Andenken“ hören wir die tiefen Streicher wie aus einem Guss, einen düster-erhabenen Choral, große, weite Melodielinien und – stets plastisch geschichtet – das Ostinato-Fundament der Musik. Das riesige Aufbäumen des letzten Satzes mündet in Glocken – ob Sieges- oder Totenglocken, das bleibt offen. Das Düsseldorfer Orchester glänzt als Ganzes, aber auch in solistischen Herrlichkeiten wie der Bassklarinette, dem Fagott oder der sensibel den Ton stufenden Blechbläserabteilung.

Strangulierter Lyrismus

Etwas erzählen sollte auch das Violinkonzert Ludwig van Beethovens, das Sanderling vor die Elfte stellte – aus seiner Sicht eine sinnige Wahl, weil er zwischen Schostakowitsch und Beethoven das einigende Band einer gesellschaftlich bewusst agierenden Musik erkennt. Die Solistin Alina Ibragimova beginnt zu den noch etwas metallharsch klingenden Violinen des Orchesters mit einem vorsichtigen, fast zärtlichen Ton, filigran, aber gefestigt. Sie hält den Kontakt mit Konzertmeister Dragos Manza, interagiert mit dem Orchester, bettet ihr Instrument in den Klang ein.

Aber es gelingt ihr nicht, im Laufe des ersten Satzes den Ton zu befreien: Ihr Forte weitet sich nicht strömend, sondern bliebt anämisch, bricht nicht aus stranguliertem Lyrismus aus. Am schönsten fließt noch das Larghetto des zweiten Satzes; im dritten bleiben Schwung und wilde Kadenz-Entschlossenheit unbefreit. Der Charakter der Bekenntnismusik, der das Konzert mit Schostakowitsch verbinden könnte, will sich nicht zeigen.

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Mehr von Schostakowitsch in der Region

Schostakowitsch steht in der Region noch mehrfach auf den Programmen in Oper und Konzert: Die Deutsche Oper am Rhein zeigt am 30. März und an weiteren Terminen im April und Mai die konzentrierte, auf Beiwerk verzichtende Inszenierung Elisabeth Stöpplers von „Lady Macbeth von Mzensk“ mit dem eindrucksvollen Dirigat von Vitali Alekseenok. In Köln spielt das Gürzenich-Orchester am 6., 7. und 8. April unter Eliahu Inbal die 15. Sinfonie. Die Achte steht am 6., 7. und 11. Mai auf dem Programm des Sinfonieorchesters Münster unter Golo Berg. Am 10. Mai spielt Lahav Shani mit Musikern des Israel Philharmonic und der Münchner Philharmoniker das g-Moll-Quintett op. 57 im Konzerthaus Dortmund.

Am 5. Juni ist das Jerusalem Quartet in der Tonhalle Düsseldorf zu Gast mit Schostakowitschs Streichquartett Nr. 12. Am 8. und 9. Juni erklingt in Köln die Fünfte mit dem Gürzenich-Orchester unter dem designierten neuen Kapellmeister Andrés Orozco-Estrada. Joseph Trafton dirigiert am 17. Juni das Philharmonische Orchester Hagen mit der Zehnten. Beim Klavier-Festival Ruhr gibt es dann einen Schostakowitsch-Schwerpunkt mit Evgeny Kissin. Am 2. Juli spielt er in der Tonhalle Düsseldorf die h-Moll-Sonate op. 61 und eine Auswahl aus den Präludien und Fugen; am 7. Juli ist er im Anneliese Brost Musikforum Ruhr Bochum zu Gast. U.a. mit Gidon Kremer (Violine) spielt Kissin dort die letzten Werke, die Schostakowitsch vor seinem Tod 1975 komponiert hat.

Im Kurort Gohrisch in der Sächsischen Schweiz finden von 26. bis 29. Juni die 16. Internationalen Schostakowitsch Tage statt. Info: https://www.schostakowitsch-tage.de/

Weitere Informationen zu Dimitri Schostakowitsch auf der Seite der Deutschen Schostakowitsch-Gesellschaft: https://www.schostakowitsch.de/




Ein Prinzip wird Gestalt: Ilaria Lanzino deutet Mozarts „Don Giovanni“ in Dortmund als zeitlose Figur

„Don Giovanni“ in Dortmund: Gleich umzingeln die Schlangen eines Medusenhaupts den Titelhelden (Denis Velev); sein Kumpan Leoporello (Morgan Moody, rechts) ist fassungsloser Zeuge des unheimlichen Geschehens. (Foto: Björn Heckmann)

Ein großbürgerlicher Wohnsalon. Eine Dame sitzt da und langweilt sich, während nebenan im Raucherzimmer zwei Herren angeregt parlieren, offensichtlich der Komtur und Don Ottavio. Es ist zu vermuten, dass da die Konditionen der Verheiratung verhandelt werden.

Die Frau ist dabei nicht gefragt. Mit Staunen blickt sie auf einen Mann im Kostüm eines Kavaliers des 18. Jahrhunderts. Doch die Faszination weicht rasch nacktem Entsetzen: Donna Anna wird auf dem Tisch vergewaltigt.

Don Giovanni bricht in diese Welt ein wie ein Anachronismus, ein Dämon aus der Vergangenheit zwischen all die Menschen, die Emine Güner an der Oper Dortmund in Kleider von heute gesteckt hat. Mal scheint es, als bleibe ihnen der Held der Oper unsichtbar, mal reagieren sie auf ihn wie auf eine Erscheinung. Für Ilaria Lanzino ist dieser Kontrast eines der Mittel, mit denen sie in ihrer Regie am Opernhaus Dortmund Don Giovanni einer konkreten Individualität entkleidet. Er ist ein Gestalt gewordenes Konzept, eine Unperson. Eine Metapher des Bösen, das sich im Gewand einer schrankenlosen Männlichkeit zeigt.

Hier geht es nicht mehr um Moral, Schicklichkeit oder Standesehre. Lanzino deckt auf, wie dieses aus der Vergangenheit überkommene Konzept einer rücksichtslosen, gewalttätigen, aber auch getriebenen Übergriffigkeit Frauen aus drei Generationen beschädigt. Sie bleibt dabei nahe am Stück und nahe an der Musik. Und sie offenbart, was vordergründige Deutungen, die sich an Erotik oder Sexualität abarbeiten, nicht einholen können: Don Giovanni ist bei Mozart und Lorenzo da Ponte kein bloß viriler Verführer. Er ist die Verkörperung eines Prinzips, ein Widersacher jeder Humanität. Eine Macht, die erst gestoppt wird, als sie die Übermacht des Transzendenten herausfordert.

Ohne Moral: Das Ende einer metaphorischen Figur

Lanzino verfällt in der letzten Szene aber nicht auf die vordergründige Lösung, die Power der Frauen-Solidarität von Anna, Elvira und Zerlina über die besoffene Männerhorde siegen zu lassen, die sich zum finalen Gastmahl versammelt. Die Stimme des Komturs tönt aus einem riesenhaften Medusenhaupt, dessen Schlangenhaare Don Giovanni umzingeln und verschwinden lassen. Die Lösung braucht die offene Perspektive des Mythos; in der konkreten Welt finden Leporello und Donna Elvira, zwei geschundene Opfer Don Giovannis, als Paar zueinander. Auch Ilaria Lanzino beendet – wie Roland Schwab in seiner tiefsinnigen Berliner Inszenierung – die Oper wie die Romantiker des 19. Jahrhunderts ohne das abschließende Sextett. Das Ende einer metaphorischen Figur entzieht sich der Moral.

Ihr Konzept will Lanzino durch eine detailreiche Durchzeichnung der Personen verdeutlichen. Frank Philipp Schlößmanns Bühne eröffnet dafür konkrete Raum-Orte: die vornehme Wohnung Donna Annas und Don Ottavios, ein Jugendzimmer mit Herzchen-Luftballons für Zerlina, in dem als Bild an der Wand allerdings schon das Gorgonenhaupt des Finales zu erkennen ist. Und für Donna Elvira ein Badezimmer, in dessen Wanne sie sich die Beine rasiert. Don Giovannis Sphäre dagegen ist von einer schwarzen, schräg nach hinten gekippten Neonröhren-Wand gekennzeichnet – ein undefinierbarer, mythischer Ort.

Nicht immer gehen die szenischen Chiffren so auf wie diejenige eines blauen Tuchs, das Donna Anna zunächst fasziniert ihrem Verführer überreicht – Blau als Farbe der Romantik? – und an dem sie ihn später wiedererkennen wird. Dass Donna Anna schwanger ist und später ein Baby mit sich trägt, fügt der Figur keine entscheidende Facette hinzu. Auch Donna Elvira ist als ältere, offenbar an ihrer schwindenden äußerlichen Attraktivität leidende Frau mit furiosen Zügen ziemlich verzeichnet. Dass sie ähnlich wie Leporello eine Liste führt, signalisiert eine Beziehung zwischen den beiden, die bis zum Finale verdichtet wird, ohne dass sie zu mehr Klarheit über die Personen beiträgt. Überzeugender ist, wie der Mythos mittels einer Horde von Männern trivialisiert wird: In der finalen Szene stimmen sie – ausgelassen das Mahl Don Giovannis mitfeiernd – ein, als Mozart im Orchester das Zitat aus „Le Nozze di Figaro“ erklingen lässt; fassungslos erkennt Zerlina, dass auch Masetto demonstrativ in der Schar der Möchtegern-Don-Juans mitmacht.

Ohne Romantisierung: Musik in striktem Tempo

Musikalisch führt George Petrou am Pult die Dortmunder Philharmoniker durch einen „Don Giovanni“ ohne Überraschungen. Manchmal fehlt es an Trennschärfe und Konzentration. Düsteres Moll wird nicht romantisiert. Anklänge an zu Mozarts Zeit schon „alte“ Musik, wie sie etwa Donna Elvira begleiten, wirken angemessen rhetorisch. Die Ensembles machen Freude, weil sie in den Tempi strikt, aber nicht steif, in der Gliederung durchsichtig, aber nicht konstruiert klingen.

Bei den Sängern wünscht man sich den Feinschliff, mit dem zum Beispiel die Streicher des Orchesters ihre Töne formen. Denis Velev fühlt sich als Don Giovanni am wohlsten, wenn er mannsbildhaft mit vollem Sound protzen kann; für die eleganten, verführerischen Töne des Duetts mit Zerlina („La ci darem …“) und die Canzona „Deh, vieni alla finestra“ ist sein Bass nicht geschaffen. Sein unfreiwilliger Kumpan Leporello wird von Morgan Moody anfangs eher üppig als schlank, später mit angemessen buffonesken Zügen gesungen. Sein Herr hat deutlich auf ihn abgefärbt – das Rot des Jackettfutters signalisiert es –, aber im Wettstreit mit der Aura Don Giovannis kann er als Mensch aus Fleisch und Blut nur den Kürzeren ziehen. Sungho Kim bleibt trotz seines feinfühlig geführten Tenors als Bühnenerscheinung noch blasser, als es die Rolle selbst vorsieht. Imposant, aber ein Riese auf wackligen Beinen: Artyom Wasnetsov als stimmstarker Komtur.

Anna Sohn kann als Donna Anna ihren zuverlässigen, rund und klangvoll gebildeten Sopran zeigen, kommt an technische Grenzen, läuft aber in der Arie „Non mi dir, bell’idol mio“ zu großer Form auf. Tanja Christine Kuhn kann als Darstellerin eindrücklicher überzeugen als mit ihrer überforderten Stimme, die immer wieder stumpf und nicht ausreichend in den Raum projiziert wirkt. Sooyeon Lee spielt als Zerlina den Soubretten-Liebreiz aus, der mit dem frischen Bariton ihres Masetto, Daegyun Yeong, bestens harmoniert.

Letzte Vorstellung am 15. März. Tickets unter www.theaterdo.de und telefonisch unter (0231) 50 27 222.




Die Zähne des Haifischs: Vor 125 Jahren wurde der Komponist Kurt Weill geboren

Kurt Weill (li.) und Bert Brecht. (Foto: Kurt-Weill-Fest Dessau)

Ernste Musik? Unterhaltungsmusik? Dieser Unterscheidung gab es für Kurt Weill nicht. Für ihn gab es nur „gute und schlechte Musik“. Verwirklicht hat er dieses Konzept, mit dem er die Grenzen zwischen „hoher“ und „populärer“ Kunst niederriss, 1928 mit dem Sensationserfolg der „Dreigroschenoper“. Gemeinsam mit Bertolt Brecht schuf der 28-Jährige dieses Meisterwerk des musikalischen Theaters, das zu den größten Bühnenerfolgen des 20. Jahrhunderts gehört.

Von Anhalt an den Broadway

Der am 2. März 1900 geborene Sohn des Kantors der jüdischen Gemeinde in Dessau ging diesen Weg nicht freiwillig. Schon 1933 floh er vor den Nazis nach Paris; zwei Jahre später emigrierte er mit seiner Frau Lotte Lenya in die USA. Weill gelang es, jenseits des großen Teichs Fuß zu fassen. Er tauchte tief in die amerikanische Kultur ein, wollte ein durch und durch „amerikanischer“ Komponist werden. Ab 1936 baute er eine stetige Musical-Karriere auf, die von „Johnny Johnson“ über die Erfolgsstücke „Lady in the Dark“, „A Touch of Venus“ und „Street Scene“ bis zu seiner „musikalischen Tragödie“ mit dem Titel „Lost in the Stars“ 1949 führt. Über der Arbeit zu einem Musical nach Mark Twains „Huckleberry Finn“ erlitt Weill einen Herzinfarkt, an dessen Folgen er vor rund 75 Jahren, am 3. April 1950 starb.

Prägende Zeit in Lüdenscheid und Berlin

Weills musikalische Entwicklung begann früh: Schon in der Schulzeit in Dessau schrieb er erste kleine Kompositionen und betätigte sich als Liedbegleiter. Mit achtzehn Jahren ging er nach Berlin und studierte u.a. Komposition bei Engelbert Humperdinck. Seine Suche nach Neuem hätte ihn beinahe zu Arnold Schönberg nach Wien geführt, aber die prekäre Situation seiner Familie – sein Vater hatte die Stellung als Kantor der jüdischen Gemeinde in Dessau verloren – zwang den Neunzehnjährigen zum Geldverdienen.

Seine erste Stelle fand er am Friedrich-Theater seiner Heimatstadt Dessau als Korrepetitor unter dem damaligen musikalischen Leiter Hans Knappertsbusch. Dessen autoritärer Stil ließ den jungen Weill bei erster Gelegenheit das Weite suchen. Ende November 1919 trat er ein Engagement als Kapellmeister am Stadttheater Lüdenscheid an. Dort sollte er viel über den Alltagsbetrieb eines Theaters lernen, fand er doch die „typischen Verhältnisse einer ‚Schmiere‘ vor, wie Weill-Biograf Jürgen Schebera beschreibt.

Seiner Schwester Ruth berichtet Weill in Briefen vom anstrengenden Alltag an einem kleinen Dreispartentheater, wo fast in jeder Woche eine Premiere stattfinden musste: „Du kannst Dir denken, wie ich zu tun habe. Sonntag nachmittag ,Fledermaus‘, abends ,Cavalleria rusticana‘, Montag nachmittag ,Zigeunerbaron‘, abends Premiere einer neuen Operette. Wie ich mit den Proben fertig werden soll, ist mir schleierhaft …“. Und ein anderes Mal beklagt er sich: „Morgen habe ich wieder Premiere, eine furchtbar dreckige Gesangsposse ‚Im 6. Himmel‘ …“. Dennoch: In Lüdenscheid, so erinnert er sich Jahre später in den USA, habe er erkannt, „dass das Theater meine eigentliche Domäne werde würde“.

Meisterschüler bei Busoni

Weill blieb nicht lange in Lüdenscheid; Ende Mai war die Spielzeit zu Ende. Sein Vater hatte eine neue Stelle angetreten; Weill strebte nach Berlin zurück und hatte Glück: Ferruccio Busoni nahm ihn Ende 1920 als einen von fünf Meisterschülern in seine neue Kompositionsklasse auf. Die Zeit in der brodelnden Kulturmetropole sollte für Weill prägend werden. Als Student schrieb er bereits sein Streichquartett h-moll, eine Suite für Orchester und 1921 eine einsätzige Symphonie No. 1. Andere seiner frühen Werke sind verloren.

Weill hielt daran fest, dass seine große Begabung die Arbeit für die Bühne sei. Mit 22 Jahren schrieb er die Musik zu einer Ballettpantomime „Zaubernacht“. Darin geht es um einen Kindertraum: Sobald Jungen und Mädchen eingeschlafen sind, kommt die Zauberin und lässt Spielsachen und Märchenfiguren lebendig werden. Partitur und Stimmen waren verschollen und wurden zufällig in der Yale Universität wiederentdeckt. Erst 2010 wurde das Stück beim Musikfest Stuttgart wieder aufgeführt. Eine Kritik würdigte die Musik: „Weill verwendet genial alle Möglichkeiten seiner Zeit, arbeitet mit atonalen Passagen, lässt die Streicher in schönster Walzerseligkeit schluchzen, imitiert den Neoklassizismus, aber auch die harmonischen Errungenschaften der Zweiten Wiener Schule.“

Ein „Ruhrepos“ mit Bertolt Brecht

Nach der erfolgreichen Aufführung seiner ersten Oper „Der Protagonist“ lernte Weill im April 1927 Bertolt Brecht kennen. Ihr erstes großes gemeinsames Projekt hätte eine monumentale „Ruhroper“ werden sollen, deren Konzept bereits im Juni 1927 weit gediehen war. „Das Ruhrepos soll sein ein künstlerisches Dokument des rheinisch-westfälischen Industrielandes, seiner eminenten Entwicklung im Zeitalter der Technik, seiner riesenhaften Konzentration werktätiger Menschen und der eigenartigen Bildung moderner Kommunen. Da nun aber der ganze Aufbau des Ruhrgebiets für unsere Zeit charakteristisch ist, soll das Ruhrepos gleichzeitig ein Dokument menschlicher Leistung unserer Epoche überhaupt sein“, umreißt Brecht die künstlerische Absicht des Projekts.

Kurt Weill hatte für die Musik sehr konkrete Vorstellungen: Sie schließe „alle Ausdrucksmittel der absoluten und der dramatischen Musik zu einer neuen Einheit zusammen“, schreibt er kühn. Geplant seien keine „Stimmungsbilder“ oder „naturalistische Geräuschuntermalung“. Sondern die Musik präzisiere Spannungen der Dichtung und der Szene in Ausdruck, Dynamik und Tempo. Abgeschlossene Orchesterstücke sollten als symphonische Vor- und Zwischenspiele dienen. Arien, Duette, Ensemblesätze, kleinere Instrumentengruppen oder über den Raum verteilte Chöre mit ihren Instrumenten, aber auch Songs mit Jazz-Rhythmus oder „kammermusikalische Stücke komischer Art“ waren vorgesehen. Mit Filmen und Lichtbildern des Filmregisseurs Carl Koch sollte das Werk ein „neues Ineinanderarbeiten von Wort, Bild und Musik“ begründen.

Das Projekt scheiterte an der antisemitischen Hetze nicht zuletzt in der Presse und an provinziellen Ressentiments gegen die Berliner Kultur, während das Mahagonny-Songspiel Weills und Brechts im Juli 1927 in Baden-Baden einen Skandal-Erfolg erlebte. Drei Jahre später hatte die aus dem Songspiel entwickelte Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ in Leipzig ihre sensationelle, aber bereits von den Nationalsozialisten massiv gestörte Uraufführung. Ein Jahr nach diesem wohl größten Theaterskandal der Weimarer Republik endete Weills Zusammenarbeit mit Brecht: Weill wollte sich mit der für ihn allzu restriktiven Rolle der Musik in Brechts politischem Theater nicht abfinden.

Gegen das Illusions- und Gefühlstheater

Für Brecht und Weill war es erklärtes Ziel, Formen des bürgerlichen Theater- und Opernbetriebs aufzubrechen und nach neuen Wegen zu suchen. In „Mahagonny“ sah Kurt Weill den Versuch, „das Wesen unserer Zeit von innen her zu beleuchten“. Er traf sich mit Brechts Intention, der damals verkündete: „Wenn man sieht, dass unsere heutige Welt nicht mehr in das Drama passt, dann passt das Drama eben nicht mehr in die Welt.“ Weill stand der herkömmlichen Form der Oper, dem Illusions- und Gefühlstheater, ebenso kritisch gegenüber: „Wenn also der Rahmen der Oper eine derartige Annäherung an das Zeittheater nicht verträgt, muss eben dieser Rahmen gesprengt werden.“

Vor diesem Skandal lag jedoch noch der Riesenerfolg der „Dreigroschenoper“: Die Story aus dem Gauner- und Proletenmilieu bedeutete für Weill nicht nur den endgültigen Schritt in eine neue Art von Musiktheater, sondern – ganz prosaisch – das Ende aller finanziellen Sorgen. Bis heute sind die Songs weltberühmt, allen voran die Moritat von Mackie Messer: „Und der Haifisch, der hat Zähne …“.

Passend zum Weill-Jubiläumsjahr 2025 bringt die Oper Bonn ab 6. April Brecht und Weills „Die Dreigroschenoper“ in einer Neuinszenierung von Simon Solberg. Daniel Johannes Mayr dirigiert. Termine: 6., 8., 20. April; 10., 29. Mai; 1., 8., 17., 19. Juni; 3., 9. Juli. Tickets im Internet unter www.theater-bonn.de oder telefonisch unter (0228) 77 8008.

Noch bis 16. März findet in Weills Heimatstadt Dessau das Kurt Weill Fest unter dem Motto „Farben des Lebens“ mit 72 Veranstaltungen statt. Info: www.kurt-weill-fest.de




Ausflug nach Holland: Opern-Akademie zeigt Haydns Rarität „Die belohnte Treue“

Das Ensemble der Dutch National Opera Academy in Joseph Haydns „Die belohnte Treue“. (Foto: Reinout Boss)

Die Welt im ausgehenden 18. Jahrhundert kennt die großen Opernhäuser von Paris, Wien, Mailand, Neapel. Dort werden die Werke aufgeführt, die Geschichte machen. Dass abseits der Herzkammern der Opernwelt – am Eingang zur ungarischen Tiefebene – der Puls des Musiktheaters ebenso heftig schlägt, bleibt unbemerkt.

Dort in Esterháza, einem Nest mit gewaltigem Schloss, entstehen Opern, die wohl in London oder Venedig Furore gemacht hätten, wären sie dort einem Kenner-Publikum präsentiert worden.

Allein: Ihr Schöpfer, „Haus-Officier“ am Hofe des Fürsten Esterházy, hatte kaum eine Chance, sie der großen weiten Welt vorzustellen. Joseph Haydn schrieb für seinen Dienstherrn und dessen Entourage. Und so blieben Meisterwerke wie „Il Mondo della Luna“, „Orlando Paladino“ oder „La vera Costanza“ dem Auge und Ohr der Welt verborgen. Haydn kannte die modernen Musikströmungen seiner Zeit, aber seine Zeit kannte ihn nicht. Und als sich das änderte, waren seine Werke schon vom Ruch des Altmodischen durchweht.

Leider hat sich daran nicht so furchtbar viel verändert: Feinsinnige Liebhaber schätzen Haydns Bühnenwerke, aber der Mainstream wälzt sich ungeniert über sie hinweg. Im Repertoire spielen sie nicht einmal auf mittleren Plätzen mit. Und so ist es überaus verdienstvoll, dass die Dutch National Opera Academy und ihr Künstlerischer Leiter, der Tenor Paul McNamara, den jungen Sängerinnen und Sängern dieser niederländischen Ausbildungseinrichtung mit „Die belohnte Treue“ („La Fedeltá premiata“) eine der kostbarsten Haydn-Opern für eine Aufführung anvertrauen. Die jungen Menschen lernen, so ist zu hoffen, zu schätzen, was ihnen der Eremit aus Esterháza zu bieten hat.

Konstellationen des Augenblicks

Dieses „dramma pastorale giocoso“ vereint in einer turbulenten Geschichte von Giambattista Lorenzi Elemente der opera seria, der komischen Oper und des modischen Schäferspiels der Zeit zu einem Plot, den man kaum nacherzählen kann, aber auch nicht verstehen muss. Denn es geht weniger um ein logisch entwickeltes Drama, sondern eher um Momente der Begegnung und Verstrickungen des Affekts, um Situationskomik oder -tragik, um Konstellationen des Augenblicks und um die Zeichnung von Typen.

Da ist das Paar Fillide (getarnt als Celia) und Filino, das aus der empfindsamen Sphäre stammt und dem Haydn zärtlich-wehmütiges Melos schenkt. Da ist der Priester Melibeo, eine zwielichtige Gestalt mit der undankbaren Aufgabe, einem Untier einmal pro Jahr ein Paar treuer Liebender zu opfern. Da entzücken die „eitle und arrogante“ adlige Dame Amaranta und ihr windiger Bruder Lindoro, mit denen die Blaublütigen in Esterháza ihr Vergnügen gehabt haben dürften, wenn sie sich selbst erkannt haben. Und schließlich stellt der exaltierte Conte „Perruchetto“ allen Frauen ohne Unterschied nach. Ob der Fürst im „Graf Perücke“ Wesenszüge seiner selbst entdeckt hat? Haydns Ironie jedenfalls ist in seinen Figuren und ihrer musikalischen Zeichnung unüberhörbar.

Gut, dass sich Regisseurin Anja Kühnhold nicht in Deuteleien verkünstelt: Sie richtet den Fokus auf die handelnden Personen und ihre Beziehungen, lässt Wehmut und Sehnsucht ebenso zu wie empathielose Blasiertheit, falsches Pathos und sarkastische Gleichgültigkeit. In der Charakterisierung der Figuren – unterstützt von den verschmitzt stilisierenden Kostümen von Anna Sophia Blersch – geht sie auf Haydns Musik ein, setzt die musikalische Gestik in den Konstellationen auf der Bühne, im Spannungsfeld von Annäherung und Distanzierung und in den abgestuften Graden des Grotesken in Bewegung und Haltung um. So entsteht ein unbeschwertes, wie von selbst laufendes Spiel, das auch Momente überbrückt, die der moderne Betrachter als langatmig empfinden könnte.

Eine Musik voller Ideen

Die Schouwburg in Leiden nimmt für sich in Anspruch, das älteste Theater der Niederlande zu sein. Foto: Werner Häußner

Haydns Musik, die wie stets voll Ideen und überraschenden Wendungen steckt, ist beim Orchester des 18. Jahrhunderts bestens aufgehoben. Von den Musikern wird viel Anpassungsvermögen erwartet: Die sechs Aufführungen fanden in unterschiedlichen Räumen statt: die Premiere im Konservatoriumssaal Amare in Den Haag, die hier besprochene Vorstellung in der entzückenden Schouwburg in Leiden, einem Theater von 1865, das an die vielen im Krieg verlorenen Stadttheater kleiner und mittlerer Städte erinnert. Da sich seit 1705 an derselben Stelle an der „Oude Vest“ ein Theaterbau befindet, nehmen die Leidener für ihre Schouwburg stolz den Titel des ältesten Theaters der Niederlande in Anspruch. Die Akustik lässt das aus dem kleinen Graben tönende Orchester nicht günstig klingen: Instrumente sind unausgewogen in der wahrgenommenen Lautstärke, je nach Platz driftet der Klang auseinander.

Aber die Energie, Dynamik und Detailarbeit der Musiker teilt sich mit, und Dirigent Benjamin Perry Wenzelberg gestaltet Tempo und Rhetorik mit viel Feingefühl. Auch die Sängerinnen und Sänger sind bei ihm in guten Händen: Der Dirigent achtet auf ihre stimmlichen Kapazitäten und lässt ihnen den Raum, ihre Fähigkeiten als Darsteller auszuformen. Das entspricht dem Ausbildungsziel der Dutch National Opera Academy: Sie richtet sich mit ihrem zweijährigen Trainingsprogramm an junge Sänger, die stimmlich bereits ausgebildet sind, aber für eine erfolgreiche Bühnenlaufbahn darstellerische Fähigkeiten, Körperbeherrschung und Theaterpraxis erwerben sollen. Auf diese Weise wird ihnen der Übergang in eine professionelle Karriere erleichtert.

Ensemble mit professionellem Anspruch

Das Ensemble der „Fedeltá premiata“ erfüllt die von Haydn geforderten hohen vokalen Standards erfreulich gut. Nachbesserungen empfehlen sich, wo die jungen Stimmen noch zu wenig im Körper verankert sind und die Projektion des Tons in den Raum nicht in allen Lagen gleichmäßig erfolgt. Femke Hulsman bringt das wehmütig verschattete Timbre mit für die Klagen und Sehnsüchte der Schäferin Fillide, die als Celia auf der Suche nach ihrem Geliebten ist. Ihre erste Arie „Placidi ruscelletti“ ist feinsinnig ausgesponnen; für das berühmte Accompagnato des zweiten Akts bräuchte es noch das Fundament eines sicheren Atems und einer kontinuierlichen Entwicklung des Tons aus dem Körper.

Aimee Kearney hat als Amaranta mit der brillanten Wut ihrer Arie „Vanne, fuggi, traditore“ ebenso wenig Probleme wie mit den tiefen Empfindungen ihres großen Auftritts im zweiten Akt. Auch Thalia Cook-Hansen bewältigt mit leichtem, kleinem, aber nicht spitz klingendem Sopran den munteren Auftritt der Nerina mit Charme. Salvador Simão bringt für den Fileno einen duftigen Tenor mit, der vor allem in den langsamen Arien des ersten Akts Ratlosigkeit, Trauer und schließlich entschlossene Verzweiflung des jungen Hirten aus Arkadien ausdrückt.

Wessel Wirken als Graf Perruchetto. Foto: Reinout Bos

Wessel Wirken als Graf Perruchetto laviert mit seiner Figur zwischen komisch exaltiert und zynisch gleichgültig an der Grenze der gestischen Übertreibung entlang; stimmlich bringt der junge Bariton eine klare Artikulation und einen sauber fokussierten Ton mit, der aber noch nicht ausreichend fundiert ist. Milan de Korte als vorwitziger Lindoro und Román Bordón als durchtriebener Priester der Diana erfüllen ihre Rollen mit Elan und Spielwitz. „La Fedeltá premiata“, erst 1970 beim Holland Festival in einer Regie von Jean-Pierre Ponnelle wiederbelebt, zeigt sich auch in dieser Produktion als ein feingeschliffenes Juwel der Oper zwischen Gluck und Mozart. Das Licht eines lebendigen Theaters bringt es zum Funkeln.

Die nächste Vorstellung der Dutch National Opera Academy ist am 25. April in Amsterdam mit Gioachino Rossinis „La Cambiale di Matrimonio“. Info: https://www.opera-academy.nl/performances/la-cambiale-di-matrimonio/

 




Wahn und Wirklichkeit: „Englischer“ Opern-Doppelabend in Duisburg

Ein Ort unheimlicher Vorgänge ist der Leuchtturm in Peter Maxwell Davies‘ Oper am Theater Duisburg. Auf dem Bild Roman Hoza (Blazes/2. Offizier), Sami Luttinen (Arthur/3. Offizier), Adrian Dwyer (Sandy/1. Offizier). (Foto: Anne Orten)

Peter Maxwell Davies dürfte gewusst haben, worüber er schreibt: Der Komponist lebte bis zu seinem Tod 2016 auf den Orkney-Inseln. Er kannte die Nächte, in denen der Sturm ums Haus heult, der Regen prasselt, das Meer brüllt. Oder wenn Nebel bleiern und grau alle Geräusche in unheimlicher Dämpfung erstickt, die Schwärze der Nacht sich mit den Ausgeburten der eigenen Phantasie zu monströsen Ängsten verbindet.

Der „Leuchtturm“ ist so ein Ort, dessen massive Mauern kühn den Elementen trotzen, ohne dem Menschen in seinem Innern Schutz geben zu können – Schutz vor den Gespenstern in der Seele, Schutz vor dem Unberechenbaren im Anderen, Schutz vor der „Bestie“ des eigenen Wahns oder des Meeres – wer weiß?

Davies‘ Kammeroper „The Lighthouse“, 1980 beim Edinburgh Festival uraufgeführt, 1984 in Gelsenkirchen nachgespielt und bis in die 2000er-Jahre vielfach neu inszeniert, spielt mit solchen Ängsten. In bester englischer Gruselgeschichten-Tradition berichtet sie vom rätselhaften Verschwinden dreier Leuchtturmwärter, ein historischer Fall aus dem Jahre 1900, als ein Versorgungsschiff ein Leuchtfeuer auf den äußeren Hebriden verlassen vorfand. Der Fall blieb ungeklärt, die Umstände des Verschwindens der Männer mysteriös.

So wenig damals eine Erklärung gefunden wurde, so wenig löst sich das Geschehen in den 75 Minuten Oper. Trieb jemand oder etwas die Männer in den Wahnsinn? Erhob sich gar die von den Wärtern beschworene unheimliche Bestie im Sturm aus dem Meer, ein Loch-Ness-Ungeheuer der Nordsee? Wurden sie Opfer ihrer eigenen Wahnvorstellungen, der Gespenster aus ihrem Unterbewusstsein? Brachten sie sich gegenseitig um, getrieben von den Furien ihrer Vergangenheit? Kamen sie in der kochenden Sturmsee ums Leben? Oder waren die Offiziere des Schiffes an ihrem Verschwinden nicht schuldlos? Deren Aussagen sind widersprüchlich und unklar. Sie scheinen mehr zu wissen als sie aussprechen. Davies‘ Libretto ist ein Meisterstück, in seiner unheimlichen Vieldeutigkeit vergleichbar mit „The turn of the screw“ von Henry James, auf dem Brittens gleichnamige Oper basiert – ebenfalls ein Stück, bei dem man vor Gespenstern nicht sicher ist.

Eine herausfordernde Aufgabe für Haitham Assem Tantawy, der die 75minütige Oper als ersten Teil eines Doppelabends inszeniert. Er hat sich für sein Regiedebüt an der Deutschen Oper am Rhein in Duisburg das geheimnisvolle Stück gewünscht, das er während seines Studiums in Karlsruhe kennengelernt hatte. In „The Lighthouse“ fasziniert ihn, wie ein tatsächlich stattgefundenes Ereignis mit Mythos, Tiefenpsychologie und Philosophie verbunden wird. „Davies hat eine Tür aufgemacht für das Übernatürliche, auch für die inneren Traumata der drei verschwundenen Leuchtturmwärter.“ Zudem spielt die Prophezeiung der Tarot-Karten im Stück für seine Inszenierung eine Rolle. Doch auch Tantawy lässt das Ende rätselhaft offen.

Emotionale Kraft, ausgeprägte Theatralik

Debüt an der Rheinoper: Dirigent Killian Farrell. (Foto: Andrew Bogard)

Mit dem zweiten Teil des Abends hat „The Lighthouse“ erst einmal nichts zu tun – außer, dass beide Stücke von englischen Komponisten stammen: Henry Purcells „Dido and Aeneas“ ist rund 300 Jahre früher entstanden. Für den Dirigenten des Abends ein reizvoller Kontrast: Killian Farrell, in Irland geboren, sieht nicht nur das Meer als gemeinsames Element. „Je mehr ich mich mit den Stücken beschäftige, desto mehr Verbindungen finde ich. Beide Opern sind in ihrer Komposition sehr auf das Drama konzentriert, beide haben eine große emotionale Kraft und eine ausgeprägte Theatralik.“ Farrell ist auch begeistert von der Bühne von Matthias Kronfuß: „Sie reflektiert die Innenwelt und setzt viele fantastische Effekte klug und reizvoll ein.“ Das sei wichtig für das Stück mit seiner atmosphärischen, geräuschhaft malenden, psychologisch vertiefenden, aber auch sperrigen, nicht äußerlich illustrierenden Musik. Killian Farrell, seit 2023 Generalmusikdirektor am traditionsreichen Staatstheater Meiningen, debütiert mit dem Doppelabend an der Deutschen Oper am Rhein.

Begegnung im Computerspiel

Dido und Aeneas in der virtuellen Welt: Morenike Fadayomi (Zauberin), im Hintergrund Charlotte Langner (Geist) und Anna Harvey (Dido). (Foto: Anne Orten)

„Dido and Aeneas“ ist für Regieassistentin Julia Langeder ebenfalls die erste selbständige Inszenierung an der Rheinoper. Sie erzählt die Geschichte aus dem trojanischen Sagenkreis als heutige: Dido und Aeneas treffen sich in einer virtuellen Welt. „Ich habe mich schwer getan mit dem Gedanken, dass sich eine so starke Frau und Königin wie Dido aus Liebeskummer umbringt.“ So fragt Langeder, was heutige Gründe für einen Suizid sein können, und findet Depressionen, psychische Erkrankungen, aber auch Hass und Mobbing im Netz. „So kam ich über Cybermobbing und unsere wachsende Abhängigkeit von der virtuellen Welt auf die Idee, die Begegnung der beiden Menschen in einem Computerspiel ‚Karthago‘ stattfinden zu lassen. Beide Figuren sind bei Vergil ja auch von den Göttern fremdgesteuert, ähnlich wie Avatare im Computerspiel. Dido und Aeneas treffen sich in meiner Inszenierung nie in der Realität.“

Die Premiere des „englischen“ Doppelabends mit „The Lighthouse“ und „Dido and Aeneas“ findet am Freitag, 7. Februar, 19.30 Uhr im Theater Duisburg statt. Weitere Vorstellung gibt es am 9. Februar (15 Uhr), 21., 23. Februar, 2. März (15 Uhr) und 5. März 2025. Tickets unter (0203) 283 62 100 oder im Internet unter www.operamrhein.de




Bildhauer Tony Cragg stattet erstmals eine Oper aus: „Castor et Pollux“ von Jean-Philippe Rameau am Staatstheater Meiningen

Sir Tony Cragg (links) bei der Besichtigung der Meininger Bühne mit dem Intendanten des Theaters, Jens Neundorff von Enzberg. (Foto: Christina Iberl)

Tony Cragg stattet erstmals eine klassische Oper aus. Das Staatstheater im thüringischen Meiningen hat für 21. Februar 2025 Jean-Philippe Rameaus „Castor et Pollux“ in einer Bühne des in Wuppertal lebenden Bildhauers angekündigt.

Die Inszenierung übernimmt Adriana Altaras; der Intendant des traditionsreichen Hauses, Jens Neundorff von Enzberg, hat die Spielfassung der Oper Rameaus erstellt. Co-Bühnenbildnerin ist die in Würzburg lebende Verena Hemmerlein. Die Meininger Hofkapelle wird geleitet von Christopher Moulds. Der britische Dirigent ist bekannt für seine Dirigate von Opern von Komponisten wie Claudio Monteverdi, Francesco Cavalli oder Georg Friedrich Händel in Amsterdam, Berlin, Glyndebourne, Halle, München, Salzburg oder Zürich.

Das Meininger Staatstheater. (Foto: Werner Häußner)

Cragg wird nach den Worten von Intendant Jens Neundorff von Enzberg in seinem Bühnenbild als Bildhauer wie als Zeichner sichtbar sein. Sein Kontakt mit dem Künstler reiche über 20 Jahre zurück, seit er als Chefdramaturg und Operndirektor die Oper Bonn mit der Kunsthalle und mit bildenden Künstlern verknüpft habe, erklärte Jens Neundorff von Enzberg.

Diese Zusammenarbeit mit bildenden Künstlern hat er in Meiningen wieder aufgegriffen: Markus Lüpertz stattete dort Giacomo Puccinis „La Bohème“ aus. Der Großmeister monumental gesteigerter expressionistischer Malerei und Skulptur schuf auch die Ausstattung für Vicente Martín y Solers Oper „Una cosa rara“, die 2018 am Theater Regensburg von Andreas Baesler neu inszeniert und 2024 nach Meiningen übernommen wurde. Auch Achim Freyer hat für Meiningen gearbeitet: Auf eine „Zauberflöte“ (2022) folgte in dieser Spielzeit Giuseppe Verdis „Don Carlos“.

Organisch sich windende Skulpturen

Sir Tony Cragg, 1949 in Liverpool geboren, hat bisher nur zwei Mal eine Bühne gestaltet: 2015 für eine spartenübergreifende Produktion von Shakespeares „Romeo und Julia“ und 2021 für ein Musical nach Hermann Melvilles „Moby Dick“ mit der Musik von Alexander Balanescu, beide in Wuppertal in der Regie von Robert Sturm.

Die Skulpturen Sir Tony Craggs für die Inszenierung von „Castor et Pollux“ in Meiningen. (Foto: Christina Iberl)

Der Künstler ist spätestens seit Mitte der Achtziger Jahre durch seine ungegenständlichen, sich windenden, organisch wirkenden, oft metallisch glänzenden Skulpturen bekannt geworden. Seine abstrakten Werke mit Plastik als Material machten vorher schon auf bedeutenden Ausstellungen wie der Kasseler documenta, der Biennale di Venezia oder in Museen wie dem Brooklyn Museum New York oder der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf auf ihn aufmerksam.

Tony Cragg lebt seit 1977 in Wuppertal. Ab 1979 lehrte er – mit einem Intermezzo in Berlin von 2001 bis 2006 – an der Kunstakademie Düsseldorf, deren Rektor er von 2009 bis 2013 war. 2006 erwarb er in Wuppertal Park und Villa Waldfrieden und gestaltete das 15 Hektar große Gelände zum Skulpturenpark um.

Cragg hat zahlreiche Ehrungen empfangen, so den Turner Prize und die Ordre des Arts et des Lettres. Er ist Ehrenbürger der Stadt Wuppertal und seit 2015 Ehrenmitglied der Kunstakademie Düsseldorf. Derzeit und bis zum 4. Mai zeigt in Rom das Museo Nazionale Romano in den Diokletiansthermen eine große Einzelausstellung mit 18 Skulpturen Tony Craggs aus den letzten zwei Jahrzehnten. Im Sommer ziehen dann vom 24. Juli bis 6. Oktober Skulpturen Craggs in die Prunkräume der Alten Residenz in Salzburg ein.




Ohne Sorgen in die Unterwelt: Neujahrskonzert der Essener Philharmoniker

Die Essener Philharmoniker mit GMD Andrea Sanguineti beim Neujahrskonzert in der Philharmonie. (Foto: Volker Wiciok)

Einmal im Jahr ist es so weit. Da öffnen sich alle Türen und die Noten tanzen im Dreivierteltakt herein.

Silvester und Neujahr sind Strauß-Tage: Zahllose Konzerte weltweit lassen die Walzer, Polkas, Märsche und Quadrillen des „Walzerkönigs“ erklingen, beschwören vermeintliche Glanzzeiten, vergoldet von den Melodien von Johann Strauß Vater und Sohn und dessen Brüdern Josef und Eduard. Das Wiener Neujahrskonzert hat sich seit Beginn der Radio- und später Fernsehübertragungen 1959 zum weltweiten Ereignis entwickelt, das in diesem Jahr von über 100 Stationen ausgestrahlt wurde.

Johann Strauß in einer historischen Fotografie von Fritz Luckhardt

2025 bleibt’s nicht beim Jahreswechsel-Event: Wien feiert das ganze Jahr über die Musikerdynastie und ihren einflussreichsten Protagonisten Johann Strauß (Sohn). Der wurde vor 200 Jahren geboren und prägte von seinem ersten Auftreten 1844 bis zu seinem Tod 1899 die Wiener Tanz- und Unterhaltungsmusik. Sein größtes Verdienst, für das ihn Verdi und Wagner, Brahms und (der nicht verwandte) Richard Strauss schätzten: Er schrieb – wie sein Zeitgenosse Philipp Fahrbach zutreffend bemerkte – „Tanz-Compositionen zugleich fuer’s Gehoer und fuer die Fueße“. Der große Konzertwalzer erschließt also seinen Wert über das Hören; Strauß hat den einst argwöhnisch beäugten, derb-sinnlichen Tanz in die Regionen eines betrachtenden Musikgenusses erhoben – „Sphärenklänge“ eben.

Operette in Dortmund und Essen

Johann Strauß, der Tycoon der musikalischen Unterhaltungsindustrie Wiens, suchte den Erfolg aber auch in der damals aufsteigenden und Gewinn versprechenden Gattung Operette. Mit der „Fledermaus“ schuf er – gemeinsam mit dem oft unterschlagenen Richard Genée – vor 150 Jahren ein Meisterwerk des Genres, aus dessen Schatten auch seine übrigen 14 vollendeten Operetten nur schwer heraustreten können. In Dortmund läuft der Scherz mit dem Flattertier derzeit im Opernhaus. Dort durchbricht man ab 9. Juni das oft einfallslose Strauß-Potpourri-Einerlei mit der originellen Idee, gleich sechs „Sträuße“ zusammenzubinden: Götz Alsmann moderiert eine Gala, in der Musik von Johann Strauß Vater und Sohn, Josef und Eduard Strauß, aber auch dem herausragenden Satiriker Oscar Straus und dem Gestalter des Übergangs von der Spätromantik zur Moderne Richard Strauss erklingen wird.

Fritz Steinbacher und Tanja Christine Kuhn in der Dortmunder Inszenierung der „Fledermaus“. (Foto: Björn Heckmann)

Auch die Oper in Essen lässt es sich nicht nehmen, an Strauß zu erinnern: In der letzten Spielzeit stand seine „Nacht in Venedig“ noch einmal im Spielplan, ab 29. März zeigt das Aalto-Theater in vier konzertanten Aufführungen – in Kooperation mit „Johann Strauß 2025 Wien“ – die Operette „Der Karneval in Rom“ mit Nikolaus Habjan als Erzähler und musikalisch geleitet von Guido Mancusi, den man von den Seefestspielen Mörbisch und der Wiener Volksoper kennt.

Nur Populäres zu Neujahr

Recht konventionell dagegen liest sich das Programm des Neujahrskonzerts der Essener Philharmoniker: Populäre Werke von Johann Strauß Sohn dominieren, der Vater kommt lediglich mit dem „Venetianer-Galopp“ zu Gehör. Josef Strauß darf sich als Walzerkomponist nicht zeigen. Seine vier Polkas gewinnen ihren Reiz aus dem Spiel mit Kontrasten: Zu Beginn verbreitet die Schnellpolka „Ohne Sorgen“ übermütigen Frohsinn, während sich die „Tanzende Muse“ eher gemessen-gemütvoll dreht. „Die Libelle“, eines der bekannteren Werke Josefs, gibt der Harfenistin erste Gelegenheit, die Musik feinsinnig zu färben.

Das „Plappermäulchen“, im April 1868 in der „Neuen Welt“ in Hietzing unter dem Titel „Die Plaudertasche“ uraufgeführt, ist mit seiner kribbeligen Steigerungsdramaturgie und der köstlich penetranten Rassel ein musikalischer Scherz wie Johann Strauß‘ „Perpetuum mobile“. Die Essener Philharmoniker führen ihren Klangsinn vor, die Violinen schwirren, die Celli baden in Melodie, vom Piccolo bis zum Fagott, von der Pauke bis zum Gong hat alles seinen Auftritt, und GMD Andrea Sanguineti feuert den Jux temperamentvoll an, bis das „… und so weiter“ die wiederholungsfreudige Kette musikalischer Capricen abschneidet.

Natürlich fehlen andere „Gustostückerl’n“ aus der Strauß-Feder nicht: „Auf der Jagd“ mit Hörnerschall und Pistolenknall, „Im Krapfenwald’l“ mit Kuckucksruf und die „ungarische“ Polka mit dem Hochruf „Éljen“. Das alles klingt bei den Essenern flott und forsch, anfangs arg krachend, im Lauf des Abends geschliffener und mit mehr Sinn für Finessen, etwa, wenn das Publikum mit dem „Vergnügungszug“ pfeifend und schnaufend in die Pause fährt.

Die Walzer suchen ihren Meister

GMD Andrea Sanguineti sorgt für temperamentvolle Polkas und fesche Walzerrhythmen beim Neujahrskonzert. (Foto: Volker Wiciok)

Die Walzer sind die Meisterprüfung für Sanguineti, und er führt ins „Künstlerleben“ mit seinen reizenden Oboen- und Klarinettensoli vor flirrendem Hintergrund mit distinguierter Noblesse ein, lässt das Crescendo aufblühen, erfasst mit Sinn für Agogik die „weichüppige und elegante Form des österreichischen Walzerrhythmus“, lässt die Philharmoniker den gemütvoll-diskreten Ton für die Stimmungsmalerei der Einleitungen – auch im „Donauwalzer“ – ausspinnen. Manche langsame Stelle gerät ins Zögern, so im „Accelerationen“-Walzer, aber der eigentlich monotone Dreierrhythmus erklingt fesch und spritzig.

In den „Geschichten aus dem Wienerwald“ hat die Wiener Zithermeisterin Barbara Laister-Ebner einen herzwärmenden Auftritt. Nach einer dramatischen Einleitung, einem romantisierenden Hornruf und der bukolischen Flötenkadenz erinnert die Zither an die niederösterreichischen Wurzeln der Walzermelodien, die Sanguineti mit ein wenig zu extremem Ritardando und scharfem rhythmischen Impetus musizieren lässt. Der fröhlichen Musizierlaune der Philharmoniker fehlt hier – wie in mancher Polka – der letzte Schliff in der Balance und die Eleganz der Artikulation.

Eine ganz eigene Köstlichkeit serviert der langjährige Soloklarinettist der Essen Philharmoniker, Harald Hendrich, der jetzt ans zweite Pult rückt: Als Dank für die warmherzige Würdigung Sanguinetis spielt er eine Hommage an den Jubilar: „Ich begrüße Sie, Herr Johann Strauß“, aus der Feder von Béla Kovács (1937-2021), der lange in Budapest und Graz Klarinette unterrichtete. Ein kleines Virtuosenstück zwischen edlem Cantabile und spritzigen Rhythmen, erschienen in der Edition Darok und extra von Boris Gurevich für Streicher bearbeitet.

Mit „Donner und Blitz“ stürzt der Fluss der Musik schließlich in die Unterwelt, für die Strauß‘ kongenialer Pariser Kollege Jacques Offenbach seinen zündenden Can-Can erfunden hat, der Wien schon einen Monat nach der Uraufführung des „Orpheus in der Unterwelt“ als Strauß-Quadrille in Furor versetzte. Ohne Sorgen in die Unterwelt – wenn das mal kein Programm für 2025 ist!




Wege zu sich selbst: Frühwerke Puccinis zum 100. Todestag in der Philharmonie Essen

Giacomo Puccini ist vor 100 Jahren, am 29. November 1924, gestorben. Seine Heimatstadt Lucca hat ihm dieses Denkmal gesetzt. (Foto: Werner Häußner)

Die Suche nach dem Funken der Genialität berühmter Komponisten gehört zu den Standards einer glorifizierenden Geschichtsschreibung, die selbst im weit abgelegenen Jugendwerk noch die Ahnung des späteren Meisters erspüren will. Das funktioniert bei Wagner schon nicht und geht bei Giacomo Puccini vollends ins Leere.

Nichts deutet darauf hin, dass aus dem Kirchenmusikschüler aus Lucca und dem bequemen Mailänder Studenten Amilcare Ponchiellis einmal der Schöpfer einer „Tosca“, einer „Madama Butterfly“ oder einer „Turandot“ werden sollte.

Trotzdem ist es eine gute Idee, den 100. Todestag Puccinis (geboren am 22.12.1858 in Lucca, gestorben am 29.11.1924 in Brüssel) zum Anlass zu nehmen, einmal in seiner Jugend zu kramen. Zum einen, weil eine Größe wie Puccini kein Jubiläum braucht, um mit seinem reifen Œuvre im Musikleben der Gegenwart ausreichend präsent und gewürdigt zu sein. Zum anderen, weil gerade der Kontrast zwischen den eifrigen Jugendwerken und den so souverän wirkenden, tatsächlich aber unter unendlichen Mühen entstandenen Opern Aufschluss geben kann, wie der Komponist Puccini zu sich selbst gekommen ist. Es sind nicht die sicherlich unersetzlichen Bemühungen um Kontrapunkt, Harmonielehre oder historische Musik, die den Durchbruch anfeuern. Es ist der Funke, der aus dem Musikdrama springt, der die Fantasie des Autors entfacht und in höchste Höhen treibt.

Dieses zündende Moment ist vielleicht am ehesten in Puccinis „Messa di Gloria“ zu spüren – ein Werk, in dem eben schon Text zur Musik tritt und sich beide unzertrennlich verbinden. Puccini-Biograph Dieter Schickling nennt sie „zeitgenössische Konfektionsware“ und hat damit wohl recht. Hätte die am 12. Juli 1880 in Lucca mit einigem Erfolg uraufgeführte Messe irgendeiner der tüchtigen Zeitgenossen des jungen Puccini geschrieben, läge sie wohl immer noch unbeachtet in irgendeinem Archiv. Puccini selbst hatte kein Interesse mehr an dem Jugendwerk. Doch der Name des Autors bringt die Erlösung: 1952 wurde die Messe wieder ausgegraben.

Zweifelhafte Hymne für die Stadt Rom

Der Essener GMD Andrea Sanguineti. (Foto: Volker Wiciok)

GMD Andrea Sanguineti ist zu danken, dass die Essener Gedenkfeier zum Tod Puccinis vor 100 Jahren nicht in irgendeinem geistlosen Highlight-Potpourri besteht. Er hat die „Messa a quattro voci con orchestra“ – so der korrekte Titel – ins Zentrum seines Vierten Sinfoniekonzerts mit den Essener Philharmonikern gestellt und das Programm mit Orchester-Frühwerken Puccinis aus seinen Studienzeiten in Lucca und Mailand ergänzt.

Sanguineti war aber auch mutig genug, den „Inno a Roma“ von 1919 ins Programm aufzunehmen, ein Stück Propagandamusik, wie sie auch Beethoven, Rossini, Verdi, Wagner und manch andere geschaffen haben. Und wie Wagners Musik in Deutschland, so wurde Puccinis martialische Hymne von den Faschisten vereinnahmt, deren Aufstieg der Maestro unpolitisch unbekümmert verfolgte, ohne seine eher konservativ patriotische Einstellung in Nationalismus oder gar Sympathie umschlagen zu lassen. Sanguineti ließ den „Inno“ richtig krachen und von Pathos triefen – und hat so mehr als in seiner wortreich entschuldigenden Erklärung dazu beigetragen, das Doppelgesicht dieser Musik und ihrer Missbraucher zu entlarven.

Entrückte Stimmung, melodischer Geschmack

Was zeigen die Orchesterwerke des jungen Puccini? Das „Preludio a Orchestra“, das er mit Achtzehn schrieb, steht in den vibrierenden Violin-Piani wohl unter dem Eindruck einer „Aida“-Aufführung, die er 1876 im Teatro Nuovo in Pisa miterlebt hat. Auf den tiefen Saiten intonieren die Geigen ein schmeichelndes Thema, in dem man das Material für eine Opernarie entdecken könnte. Aber von den späteren eleganten Übergängen ist noch nichts zu hören. Auch „Scherzo e Trio“, wohl um 1883 in Mailand entstanden, offenbart Puccinis melodischen Geschmack. Das „Preludio sinfonico“ atmet die entrückte Stimmung eines „Lohengrin“ und zeigt in den Holzbläserharmonien, wie sich Puccini für die Koloristik in der Musik interessiert.

Das bekannteste Werk aus dieser Zeit, das „Capriccio sinfonico“, genießt eine gewisse Bekanntheit, weil Puccini das Vivace daraus in „La Bohème“ wieder verarbeitet hat. „Sinfonisch“ im Sinne einer deutschen Tradition ist da wenig, die Struktur dieser frühen Heldentaten erinnern eher an die Themenreihungen von Opernouvertüren oder an locker gefügte sinfonische Dichtungen. Die Essener Philharmoniker haben diesen anregenden Einblick in die frühe Werkstatt des späteren Operngenies mit Lust und Spiellaune eröffnet.

Dramatisch und unkonventionell

Gedenktafel für Giacomo Puccini in seinem langjährigen Wohnort Torre del Lago. (Foto: Werner Häußner)

In der Messe findet sich keine Spur der späteren Opernmusik zu religiösen Momenten, etwa des falschen Pathos‘ des „Te Deum“ in „Tosca“. Dafür lassen sich zwei Beobachtungen machen: Puccini zeigt seine Stärken als Dramatiker, denn die schildernden Teile etwa des Credo wirken inspirierter als die reflektierend theologischen Passagen. Und er lässt sich nicht nur von Ausdruckskonventionen bestimmen. Das zeigt sich bereits im kontemplativen „Kyrie eleison“: Der Opernchor des Aalto-Theaters gibt ihm gemeinsam mit dem Philharmonischen Chor Essen pastorale Leichtigkeit, hebt aber auch den Kontrast zum „Christe eleison“ mit seinen Marcato-Männerstimmen heraus.

Man darf sich durchaus fragen, welche Gedanken Puccini hegt, etwa wenn er im Gloria das „in terra pax hominibus“ – also der weihnachtliche Wunsch nach Frieden auf Erden – zurücknimmt, als melde er seine leisen Zweifel an. Oder wenn er den Solo-Tenor – Alejandro del Angel singt die Stelle mit markig strahlender Stimme – den Dank an den König des Himmels („gratias agimus tibi“) vielfach wiederholen lässt. Das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt hinwegnimmt, wird wieder in leuchtender „Aida“-Stimmung besungen.

Das Bekenntnis zum alleine Heiligen („Quoniam tu solus sanctus …“) erklingt dann ganz konventionell in hymnischem Ton, blechgewappnet und fanfarenbegleitet. Sanguineti dirigiert diese Stellen mit Verve und Energie, und die Essener Philharmoniker folgen ihm mit eindringlicher, aber nicht überzogener Wucht. Wobei einzelne Stellen, die wie Schönberg’sche Abweichungen klingen, darauf hindeuten, dass das mühsam überarbeitete Material keineswegs fehlerfrei ist. Und obwohl seine Lehrer den Arbeitseifer des Studenten Puccini bemängelten, zeigt die klassische „Cum sancto spiritu“-Fuge, dass er sich auch dieses Metier vertraut gemacht hat.

Der zweite Solist der Messe, Massimo Cavaletti, bestätigt im „Benedictus“ und im Duett mit dem Tenor im „Agnus Dei“ den Eindruck aus der neuen Aalto-Produktion von Verdis „La forza del destino“: Sein Bariton ist klangvoll, sicher positioniert und bei aller Wucht in der Lage, eine melodische Linie flexibel zu gestalten.

Mit den Chören haben Patrick Jaskolka und Wolfram-Maria Märtig ganze Arbeit geleistet: Ein paar schwummrige Stellen zu Beginn, ein paar Unebenheiten bei den Frauenstimmen in heikel zurückzunehmenden Momenten sind schnell vergessen, wenn der Chor im Credo konzentriert und klangstark agiert, beim Hinweis auf die Auferstehung der Toten die Apokalypse von Verdis „Requiem“ anklingen lässt, die „eine, heilige, katholische und apostolische Kirche“ in lichterfülltem Dolce besingt und das „Sanctus“ ohne triumphale Geste wie in verhaltenem Staunen ausdrückt. Es sind diese fast zärtlichen Augenblicke, in denen der Chor seine Stärke ausspielt.

Als die Messe ohne knallige Schlussakkorde zu Ende geht, zeigt das Publikum viel Sympathie in herzlichem Beifall, den Sanguineti, der Chor und Wolfgang Kläsener an der Orgel mit einer geistlichen Miniatur Puccinis, dem „Requiem alla memoria di Giuseppe Verdi“ von 1905 belohnen.




Berührende Tragödie: Cecilia Bartoli mit Glucks „Orfeo ed Euridice“ in der Essener Philharmonie

Cecilia Bartoli. (Foto: Fabrice Demessence)

Es sind keine Blumenkränze und Myrtengirlanden, die der Chor in ein Grab streut: In den abgedunkelten Saal der Philharmonie Essen zieht er mit Kerzen ein, während das Orchester die erhabenen Weisen der Ouvertüre Christoph Willibald Glucks zu „Orfeo ed Euridice“ intoniert. Weinen, Klagen, Seufzer beschwören die Sängerinnen und Sänger in abgedunkeltem Klang.

Am Rand der Szene sitzt Orfeo, der seine über alles geliebte Gefährtin an die Unterwelt verloren hat. Sein sehnsuchtsvoller Ruf „Euridice“ durchbricht die melodische Linie des Chores – und schon mit diesem Moment hat Cecilia Bartoli ihr Publikum gefangen.

Mit „Orfeo ed Euridice“, der wohl bekanntesten Oper des Ritters Gluck, hat die Römerin bei den Salzburger Pfingstfestspielen 2023 einen Riesenerfolg eingeheimst. Nun tourt sie mit dem Ensemble durch Europa. Die Inszenierung Christof Loys bleibt dabei zu Hause in Salzburg, wo Cecilia Bartoli seit 2012 als Festspielchefin amtiert. Doch auch ohne Johannes Leiackers strenge, reduzierte Bühne vermitteln Bartoli und ihre Salzburger Bühnenpartnerin Mélissa Petit als Euridice (und in kurzem Auftritt auch als Amor) die bezwingende Präzision der Personengestaltung Loys.

Zu Beginn sitzt Bartoli ganz in Schwarz abseits auf einer Stufe des Podiums, ruft ihre Klage in den Raum, bewegt sich später auf den Treppen seitlich der Zuschauerreihen, trifft vor dem Podium auf Euridice, die Orpheus vergeblich aus dem Elysium zurück auf die Erde zu holen versucht. Die beiden Sängerinnen schaffen intime Momente seelischer Kommunikation: Cecilia Bartoli, jetzt ganz in Weiß, krümmt sich im ausweglosen Schmerz, weil sie der argwöhnischen Euridice das Verbot, sie anzublicken, nicht erklären darf.

Freudige Überraschung – fataler Trotz

Bei Mélissa Petit wandelt sich die freudige Überraschung, die Erwartung eines neuen Lebens in Liebe zu Orpheus, in Argwohn, Enttäuschung und fatalen Trotz: Lieber im Elysium friedliche Ruhe genießen als mit einem unberechenbaren Partner zur irdischen Liebe zurückkehren. Dann der aufwühlende Moment, der gegenseitige Blick in die Augen, der Euridice zurück in den Hades verbannt. Und am Ende namenlose Verzweiflung und Herzensleere bei Orfeo. Melissa Pétit findet dafür mit ihrem sanft leuchtenden, manchmal etwas kopfigen Sopran ergreifenden Ausdruck ratloser Seelenqual.

Christoph Willibald Gluck. Statue im Opernhaus Nürnberg. Gluck stammt aus Erasbach bei Berching, rund 50 Kilometer südöstlich von Nürnberg. (Foto: Werner Häußner)

Der Trost des „glücklichen Endes“ bleibt bei dieser Version versagt. Dieser „Orfeo“ folgt einer Fassung, die Gluck für die Hochzeit von Erzherzogin Anna Amalia von Österreich, einer Tochter Maria Theresias, mit Ferdinand, Herzog von Parma, im Jahr 1769 erstellt hat. Als einer von vier Einaktern war die Bearbeitung Teil eines luxuriösen apollinischen Festes beim Palast von Colorno. Bartolis Salzburger Fassung verzichtet auf das Finale, in dem Gott Amor die Liebenden endgültig zusammenführt. Die „azione teatrale“ – ergänzt durch populär gewordene Orchesterstücke wie den Furientanz und den „Reigen seliger Geister“ – endet in nachtschwarzer Pianissimo-Verzweiflung.

Glänzender Chor, feinsinniges Orchester

In solchen fragilen musikalischen Momenten glänzt der von Jacopo Facchini einstudierte Chor mit dem passenden Namen „Il Canto di Orfeo“, wenn er die Klage des Anfangs in subtilen dynamischen Nuancen wiederholt. Für Orfeo ist der Weg nun klar: „Erwarte mich, angebeteter Schatten!“, singt Cecilia Bartoli in resigniertem Schmerz. Der Chor breitet schon vorher die leisen Töne elegisch aus, trumpft aber auch auf mit markanter Artikulation und konzentrierter Energie in den Szenen in der Unterwelt. Bei allem Nachdruck pflegen die zwanzig Sängerinnen und Sänger einen geschmeidigen, gewaltlosen Klang mit leuchtender Transparenz, geschult an der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts, die sonst ihren auf hochgeschätzten CD-Aufnahmen dokumentierten Schwerpunkt bildet.

Auch das Orchester „Les Musiciens du Prince – Monaco“, 2016 auf Initiative von Cecilia Bartoli in Monte Carlo gegründet und seither regelmäßig in Salzburg zu Gast, pflegt feinsinnige Tugenden wie ein locker-luftiges Klangbild, Respekt vor den Farben einzelner Solo-Instrumente, ausgewogene Balance der Instrumentengruppen, variable Tonbildung, ohne die Ästhetik des Klangs aufgeraut expressiv zu beeinträchtigen. Das führt weg von der Glätte, mit welcher der „Klassizist“ Gluck früher marmorn – und nicht selten langweilig – aufpoliert wurde. Wo der Komponist aus der Oberpfalz in harmonische Tiefen reicht, fächern die Musiker den Klang fast barock ziseliert auf; wo er die Einfachheit einer melodischen Linie lediglich akkordisch stützt, wird die viel zitierte „stille Größe“, die von Johann Joachim Winckelmann für die antike Skulptur reklamierte „große und gesetzte Seele“ in der Musik hörbar.

Gianluca Capuano leitet sein Ensemble mit ausgewogener Umsicht und Gespür für Farben und Schattierungen. Der Falle des Saals entkommt er nicht ganz: In dicht besetzten Momenten wird das Klangbild schwummrig; auch hätte der Bass, der Raumgröße Tribut zollend, eine Verstärkung verdient. Wundervoll aber die Holzbläser, namentlich Solo-Flöte und Oboe, und die düsteren Posaunen, die nicht dominieren, aber auch nicht als bloße Farbe im Tutti untergehen.

Die Seele des Unternehmens

Und dann natürlich die Seele des ganzen Unternehmens, Cecilia Bartoli. Ihr Theaterinstinkt blitzt ihr nach wie vor aus den Augen, ihre Lust am Singen teilt sich in jeder Phrase mit. Ihre vokale Gestik belebt den Text: Sie macht den sehrenden Eros des Orfeo, den verzweifelten Kampf gegen die Endgültigkeit des Todes, die Tränen der Sehnsucht, das Feuer des Flehens hörbar. Schon 2001 hat sie auf einem ihrer Alben in unnachahmlich individueller Art in Arien Glucks vertieft. Dieser Orfeo markiert einen Respekt heischenden Höhepunkt in der Befragung eines Komponisten, der im Opernbetrieb nicht so präsent ist, wie er es verdient. Bartoli zeigt, woran das liegen könnte: Glucks Musik braucht die innere Beseelung durch Sänger, die Wort und Musik zu einer existenziell berührenden Einheit verbinden. Nicht umsonst waren seine bedeutenden Partien stets eine Domäne großer Tragödinnen.

Zu bemerken ist aber auch, dass sich die oft benannten vokalen Schwächen der Bartoli trotz ihrer atemberaubenden Gestaltung deutlicher zeigen: Die enge tremolierende Tonbildung trübt homogene Legati und sublime Kantilenen; den dynamischen Steigerungen fehlt der freie Glanz. Aber dann gelingen berückend nuancierte leise Momente, singt ein gebrochener Mensch in fahlen Farben seine Verzweiflung aus. Und so gelingt es Cecilia Bartoli nach wie vor, die Zuhörer in den Sog ihrer Kunst zu ziehen und aus dem Alltag hinwegzutragen in das Elysium der Klänge Christoph Willibald Glucks und einer uralten antiken Tragödie, die uns auf diese Weise bis heute tief berührt.




Vibration des Ungehörten: Festival „NOW!“ in Essen

Babette Nierenz und Günter Steinke stellten das Programm des Festivals „NOW!“ bei einer Pressekonferenz vor. (Foto: TuP Essen)

Acht Uraufführungen, drei Deutsche Erstaufführungen, Werke der Essener Komponisten Nicolaus A. Huber und Günter Steinke, und dazu in 15 Konzerten jede Menge hörenswerter neuer Musik: Das Festival „NOW!“ verspricht in seiner 14. Ausgabe seit 2011 wieder ein Highlight für Musikfreunde weit über die Grenzen Essens und des Ruhrgebiets hinaus zu werden.

Längst ist man auch überregional auf das vom 26. Oktober bis 10. November dauernde Festival aufmerksam geworden, betont Mitorganisator Günter Steinke, Professor für Instrumentalkomposition an der Folkwang Universität der Künste: Namhafte Komponisten wie Enno Poppe oder Rebecca Saunders reisen an; Porträtkünstler der Philharmonie Márton Illés ist ebenso dabei wie der 1971 geborene Franzose Franck Bedrossian – von beiden werden Werke aufgeführt.

Der Komponist Márton Illés ist Porträtkünstler der Essener Philharmonie 2024/25. Seine Werke spielen auch beim Festival „NOW!“ eine wichtige Rolle. (Foto: Sven Lorenz)

Die stärkere Präsenz von Live-Elektronik, so Steinke, solle die jüngere Generation ansprechen; Kinder und Jugendliche kommen durch einen Workshop und das Kompositionsprojekt „Sound LAB“ mit zeitgenössischer Musik in Kontakt. „NOW!“ erreicht inzwischen über das Stammpublikum neuer Musik hinaus auch die Besucher der traditionellen Sinfonie- und Kammerkonzerte, vermerkte Babette Nierenz, Intendantin der Philharmonie, bei der Vorstellung des Programms.

Nicolaus A. Huber hat lange an der Folkwang Universität der Künste unterrichtet. Aus Anlass seines bevorstehenden 85. Geburtstags wird er beim Festival „NOW!“ gewürdigt. (Foto: Gisela Grönemeyer)

Bewusst setzt „NOW!“ auf Zweit- und Drittaufführungen: Für Komponisten wie Interessenten an zeitgenössischer Musikentwicklung ist es wichtig, einmal uraufgeführte Werke weiter zu verbreiten. Das diesjährige Festival ist außerdem eine kleine Hommage an Nicolaus A. Huber zum 85. Geburtstag, den der frühere Essener Folkwang-Kompositionsprofessor am 15. Dezember feiern kann. Von ihm spielt das WDR Sinfonieorchester am 8. November in der Essener Philharmonie die Werke „ … der arabischen 4“ und das Solo für 18 Röhrenglocken, dessen Titel der Veranstaltungsreihe 2024 das Motto gegeben hat: „Laissez vibrer“. Die Resonanzen und das Nachschwingen der Instrumente soll sinnbildlich dafür stehen, was das Festival erreichen möchte: Die neue Musik soll bei den Zuhörern, aber auch im Raum der Gesellschaft widerhallen und ihre Spuren hinterlassen.

Wandelkonzerte in der Innenstadt

Ein Überblick zu den Veranstaltungen: Schon am Samstag, 26. Oktober, geht das Festival in die Essener Innenstadt. Ab 15 Uhr stimmen am Sitz des neuen Kooperationspartners, der Gesellschaft für Neue Musik Ruhr, am Viehofer Platz 18 Wandelkonzerte auf das Kommende ein. Der Eintritt ist frei, um Anmeldung unter www.gnm.ruhr wird gebeten. Ab 20.30 Uhr wird dort in der Neue Musik Zentrale mit DJ-Set gefeiert.

Die Eröffnung am Donnerstag, 31. Oktober, 19 Uhr in der Philharmonie gestalten das Ensemble Ascolta, Dirigentin Catherine Larsen-Maguire und Sprecher Gerhard Mohr mit „Der Sandmann“ nach E.T.A. Hoffmann von Günter Steinke. Passend dazu spielt um 20.30 Uhr das Konzerthausorchester Berlin unter Johannes Kalitzke dessen Beethoven-Variationen zum Stummfilm „Hoffmanns Erzählungen“ von Max Neufeld aus dem Jahr 1923. Das Abschlusskonzert bestreitet am Sonntag, 10. November, das Gürzenich-Orchester Köln unter Gergely Madaras mit „Quicksilver“ von Milica Djordjevic, einem Klassiker der Neuen Musik, den Fünf Orchesterstücken Arnold Schönbergs und der Uraufführung der vollständigen Fassung von „Tér-Szín-Tér“ von Márton Illés.

Perkussion und Elektronik

Dazwischen locken Kammermusikalisches und Elektronik oder Ensembles nur mit Drums oder nur mit Trompeten. Beim Kooperationspartner Folkwang Museum präsentieren am 1. November (15 Uhr) Studierende des Folkwang-Masterstudiengangs Neue Musik Solowerke von Luciano Berio, der „Sequenze“ u. a. für Klavier, Viola, Harfe und Fagott geschrieben hat. Am Abend steht um 20 Uhr in der Philharmonie Moderne-Klassiker Karlheinz Stockhausen im Mittelpunkt eines Konzerts mit dem Pianisten Ciro Langobardi. Roberto Doati hat zu den „Klavierstücken“ elektronische Resonanzen komponiert, die unter dem Titel „Studio“ an die frühe elektronische Klangwelt Stockhausens anknüpfen.

Am 2. November begegnet „NOW!“ einem der maßgeblichen Protagonisten des Komponierens heute, Enno Poppe. In der Philharmonie spielt das Percussion Orchestra Köln ein Auftragswerk des Festivals, „Streik“ für 10 Drumsets. Der vielfach ausgezeichnete Komponist aus Hemer im Sauerland schrieb schon für die Salzburger Festspiele, das Klangforum Wien und das Ensemble Modern. Dass sein Drumset-Werk im Auftrag auch der Donaueschinger Musiktage, des Festivals November Music, des Huddersfield Contemporary Music Festivals und des Festivals Wien Modern entstanden ist, zeigt die internationale Vernetzung, die das Essener „NOW!“ inzwischen genießt.

Acht Trompeten

Eine deutsche Erstaufführung spielt das Trio Abstrakt am 3. November, 16 Uhr in der Philharmonie Essen: „puLsar“ von Giorgio Netti für Saxofon, Klavier und Schlagzeug. Im Sanaa-Gebäude auf Zollverein erklingen am gleichen Tag um 19 Uhr die acht Trompeten von „The Monochrome Project“: Thomas Neuhaus, Spezialist für Elektronische Komposition und Computermusik an der Folkwang Universität, hat für das Festival „there is a draught every time that crack opens“ geschrieben. Das neue Stück erklingt nach Márton Illés‘ „Rez-Tér“ für acht Trompeten und „Felsen – Unerklärlich“ von 2020, einem Werk der 1982 in Teheran geborenen Komponistin Elnaz Seyedi, die u.a. bei Günter Steinke an der Folkwang Universität studiert hat und als freie Komponistin derzeit in der Villa Waldberta München und am Deutschen Studienzentrum Venedig arbeitet.

Viel Neues von Gordon Kampe

Mit Christoph Sietzen als Solist bringt das WDR Sinfonieorchester am 8. November das Konzert für Schlagzeug und Orchester von Johannes Maria Staud („Whereas the reality trembles“) als Deutsche Erstaufführung in die Philharmonie Essen mit. Den Titel des Konzerts „mein Fleisch“ gibt das gleichnamige Werk von Gordon Kampe für zwei Stimmen und Orchester, ein Auftrag des Festivals „NOW!“ und des WDR. Kampe ist ein Schüler von Nicolaus A. Huber und hatte 2023 mit der Oper „Dogville“ nach dem Film von Lars von Trier einen überwältigenden Erfolg am Aalto-Theater Essen.

Gordon Kampe (Foto: Manuel Miete)

Derzeit probt das Theater in Münster seine neue Familienoper „Sasja und das Reich jenseits des Meeres“ nach dem Kinderbuch von Frida Nilsson, die am 10. November ihre Uraufführung erlebt. Schon eine Woche später, am 16. November, wird sein Musiktheater für Kinder „immmermeeehr“ an der Deutschen Oper Berlin uraufgeführt, gefolgt im Januar 2025 von „DESPOT“, einem Musiktheater für eine Stimme und Ensemble an der opera stabile in Hamburg. Und für den Terminkalender der Region ist der 1. Dezember interessant: Dann spielt das Ensemble Resonanz unter Riccardo Minasi Gordon Kampes „boxen!“ für Pauken und Kammerorchester im Konzerthaus Dortmund.

Weitere Uraufführungen vermeldet das Festival „NOW!“ für den 9. November in der Philharmonie mit neuen Werken des in London lehrenden Komponisten und Live-Elektronikers Richard Barrett und einem Werk für Kontrabassklarinette und Klavier der im Berlin lebenden japanischen Komponistin Chikako Morishita. Und wer es klassisch haben will, freut sich am 10. November, 16 Uhr, über ein Konzert im RWE-Pavillon der Philharmonie mit dem Trio Recherche und dem Streichtrio op.45 von Arnold Schönberg, dem Streichtrio von Brian Ferneyhough und den beiden Streichtrios Helmut Lachenmanns, der 2025 seinen 90. Geburtstag feiern kann.

Info: www.now-festival.de

 




Momente großen Gesangs: Elīna Garança wird in der Philharmonie Essen gefeiert

Elīna Garança (Foto: Christoph Köstlin)

Perfekt, schlichtweg perfekt: Wie Elīna Garança die Arie „Mon cœur s’ouvre à ta voix“ aus Camille Saint-Saëns‘ „Samson et Dalia“ fließen lässt, erinnert an die größten Mezzosoprane der Gesangsgeschichte. Der Liederabend der Wiener Kammersängerin in der Philharmonie Essen wurde zum Ereignis.

Begonnen hat die lettische Sängerin im ersten Teil ihres Konzerts mit einem Liedprogramm. Von erinnerter, verschwiegener, verlorener Liebe sprechen die fünf Lieder von Johannes Brahms, denen sie Robert Schumanns Zyklus „Frauenliebe und Leben“ folgen lässt. Garança verbindet den dunkel leuchtenden Klang ihrer Stimme mit einer nie übertriebenen, aber auch nie dem schönen Ton opfernden Artikulation. Der diskret hoch über das Podium projizierte Liedtext ist in den meisten Fällen nicht nötig, hilft aber dem Verständnis und bewahrt vor dem Herumblättern im Programm. Ein Gewinn.

Garança gestaltet als Liedsängerin eher mit den Nuancen ihres abgerundeten Timbres als mit überdeutlicher Wortformung. So könnte der eine oder andere Konsonant prägnanter ausgesprochen sein. Aber wie sie in „Liebestreu“ eine fein nuancierte Dynamik einsetzt, um die Schlüsselworte „Lieb“ und „Treu“ zu akzentuieren, zeugt von eloquenter Gesangskunst. So färbt sie den Schlusssatz „Meine Treue, die hält ihn aus“ mit heroischem Ton zu einem trotzig-verzweifelten Bekenntnis.

Nächtlich duftende Stimmung

Kritik en detail trifft auf höchstes Niveau: „O wüsst ich doch den Weg zurück“ wird bei Elīna Garança zum poetisch sehnenden Zurückträumen in eine selige Kindheit. Dafür findet sie den zärtlich verhaltenen Ton. Aber wenn in der vierten Strophe zum zweiten Mal der Weg ins Kinderland beschworen wird, könnte die Vision eine Spur verhaltener, träumerischer erklingen. Dafür lässt sie die nächtlich duftende Stimmung der „Sapphischen Ode“ in verschattetem Timbre durch die Klänge wehen, ist sich am Schluss der erhabenen Größe des Moments bewusst. Und wenn in „Geheimnis“ die Blütenbäume flüstern, leuchtet die „Liebe süß“ am Ende schwärmerisch auf.

In solchen Momenten hat auch Garanças Klavierpartner Matthias Schulz innige Momente der Poesie und des Bei-Sich-Seins. Es kommt nicht oft vor, dass ein Intendant und Theatermanager – der Intendant der Berliner Staatsoper übernimmt 2026 das Opernhaus Zürich – eine Sängerin dieses Ranges begleitet. Aber Schulz hat am Mozarteum Salzburg Klavier studiert und offenbar seine pianistischen Fertigkeiten weiter gepflegt. Dass er Grenzen hat, wird in Schumanns „Arabeske“ op. 18 aber auch klar: Alle Sorgfalt der Artikulation und des Tempos verhindern nicht, dass die melodische Anmut oder die Frische der Bewegung in den „Kinderszenen“ op. 15/1 ein wenig matt bleiben.

Schumanns „Frauenliebe und Leben“ ist der Sängerin besonders ans Herz gewachsen, erzählt sie. Ihre Mutter, ebenfalls ein Mezzosopran, habe den Zyklus öfter gesungen. Elīna Garança kann „Seit ich ihn gesehen“ so zärtlich weltenthoben singen, dass der atemraubende Wirrwarr der Gefühle des frisch verliebten Mädchens im Klang der Stimme offen liegt. Die optimistisch verklärende Betrachtung des „Herrlichsten von allen“ strahlt in schimmerndem Mezzo-Gold auf. Ihr enthusiastischer Ton, die drängende Bewegung in der Stimme stellen den inneren Aufruhr unmittelbar dar, ohne dass Garança die Noblesse ihres Tons an künstliche Färbungen oder deklamatorische Schärfen verraten müsste. Berührend das tonlose Piano am Ende des letzten Liedes: Da hat sich ein Mensch wirklich in sein Innerstes zurückgezogen und ist „nicht lebend mehr“.

Oper in Feuerrot

Nach der Pause – wie es in Italien bei Gesangsrezitals stets erwartet wird – der Block mit den großen Arien, jetzt in feuerroter Robe. Zunächst heiße Liebesflammen aus Hector Berlioz‘ „La Damnation de Faust“, gesungen mit saftiger Tiefe, einem phänomenalen Sprung über den Registerwechsel nach oben, einer blühenden Expansion, aber auch angestrengter Höhe. Dann die Arie der Dalila mit ihrer schmeichelnd-sinnlichen Glut in einem goldflüssigen Ton, der nicht freier, gerundeter, erfüllter erklingen könnte. Schließlich „Voi lo sapete“ aus „Cavalleria rusticana“, leidenschaftlich und wortsensibel, aber so edel geformt, dass der wilde Verismo Pietro Mascagnis – zu hören etwa bei seiner sich verausgabenden Uraufführungs-Santuzza Lina Bruna Rasa – nobel geglättet erklingt.

Das Finale sollte fröhlicher sein: Ruperto Chapí, Meister der spanischen Zarzuela, scheint seine charmanten Liebesgesänge der Garança auf die Stimme geschrieben zu haben, so edel, temperamentvoll und lebensfroh erklingen die beiden Stücke. Als Zugabe darf die Habanera der „Carmen“ nicht fehlen – wie bei der großen Teresa Berganza ohne Vulgarität, aber nicht so kühl dargeboten. Als sympathischer Gruß an ihre lettische Heimat eines der rund 600 Lieder und Liedbearbeitungen von Jāzeps Vītols, Gründer der lettischen Musikakademie, dem Institut, an dem Elīna Garança studiert hatte, bevor sie ihr erstes Opern-Engagement im thüringischen Meiningen unter der Intendanz der späteren Dortmunder Opernchefin Christine Mielitz angetreten hat. Herzlicher, langer Beifall.




Vom Mysterium des Dirigierens: Klaus Mäkelä stellt sich als Porträtkünstler in Essen vor

Klaus Mäkelä (Foto: Marco Borggreve)

Da ist der Intendantin der Essener Philharmonie ein Coup gelungen. Noch bevor die Vermarktungsmaschinerie den 28jährigen Klaus Mäkelä richtig zwischen die Zahnräder bekam, hatte Babette Nierenz den kommenden Star für ein Künstlerporträt verpflichtet. Drei Mal kommt der gefragte junge Finne also nach Essen.

Das erste Konzert mit dem Concertgebouw Orkest, das er ab 2027 als Chefdirigent leitet, liegt bereits hinter ihm. Das zweite mit den Wiener Philharmonikern und der 1906 in Essen uraufgeführten Sechsten von Mahler findet am 19. Dezember statt. Und das dritte am 1. März 2025 bestreitet Mäkelä mit dem Orchestre de Paris, als dessen Musikdirektor er seit 2021 fungiert.

Es hat in den letzten Jahren keinen jungen Dirigenten gegeben, der so rasch und strahlend aufgestiegen ist wie dieses Wunder am Pult. Was ist sein Geheimnis? Wie fasziniert er die großen Orchester, die er in den letzten fünf Jahren quasi aus dem Stand heraus für sich gewonnen hat?

Mit 21 leitete er das Schwedische Radio-Sinfonieorchester, mit 22 ernannten ihn die Osloer Philharmoniker zu ihrem Chefdirigenten. Seither scheint es, als sammle er Orchester wie Trophäen: Münchner Philharmoniker, Bamberger Symphoniker, London Philharmonic Orchestra, Luzerner Festival Orchestra, Berliner Philharmoniker. In dieser Saison debütiert er mit den Wiener Philharmonikern und ist „Focus Artist“ im Wiener Musikverein. Ab 2027 folgt ein Chefposten bei gleich zweien der besten Orchester der Welt, dem Concertgebouw Amsterdam und dem Cleveland Orchestra. Wie geht das?

Schwindelerregender Terminplan

Ein Blick auf den Terminkalender seiner Webseite macht ebenfalls staunen und schwindlig: Anfang Oktober Mahlers Neunte in Paris, Mitte Oktober Mahlers Dritte in Cleveland. Dann eine Serie von Konzerten mit seinem Osloer Orchester in Brüssel, Stuttgart, Wien, Hamburg und am 3. November mit Strawinskys Violinkonzert und Tschaikowskys Vierter in Dortmund.

Drei Tage später das Orchestre de Paris mit Strauss‘ „Tod und Verklärung“, Messiaens „L’Ascension“, Faurés „Requiem“ und der Uraufführung von „Lux Aeterna“ von Thierry Escaich. Dann Zwischenspiel beim London Symphony Orchestra, bevor es mit dem Concertgebouw auf USA-Tour geht. In New York erklingt dasselbe Programm wie vor kurzem in der Essener Philharmonie: Schönbergs „Verklärte Nacht“ und Mahlers Erste Sinfonie. Man darf davon ausgehen, dass die Carnegie Hall ausverkauft sein wird – im Gegensatz zu Essen, wo erstaunlich viele Plätze frei geblieben sind. Es braucht offenbar mehr als eine Exklusivvertrag bei Decca und hochgerühmte Sibelius- und Schostakowitsch-Aufnahmen, um den Instinkt der Essener Kulturwelt zu animieren.

Jetzt sind wir im Fahrplan wohlgemerkt erst Mitte November. Bis Mäkelä vor Weihnachten nach Essen zurückkehrt, hat er noch seine Orchester in Oslo und Paris mit anspruchsvollen Programmen (Brahms, Berlioz) zu leiten, bevor er sich am 13. Dezember mit Mahlers Sechster im Wiener Musikverein vorstellt. Die Essener Konzerte sind komischerweise in seinem „schedule“ nicht aufgeführt – was man auch immer daraus schließen mag…

Schlichtweg eine Jahrhundert-Begabung 

Ja, wie geht das? Dass in Mäkelä eine Jahrhundert-Begabung schlummerte, die sich nun vehement Bahn bricht, dürfte unbestreitbar sein. Denn er ist ja kein tourender Kapellmeister, der sich überall präsent setzen will. Dazu sind – bei allen Vorbehalten – die künstlerischen Ergebnisse zu bemerkenswert. Liegt das Geheimnis vielleicht in seinem Umgang mit den Orchestern? Pflegt er einen empathischen, partnerschaftlichen Stil, der bei den Musikern Höchstleistungen hervorruft, ohne Druck, ohne Zwang, ohne Beklemmung? Er ermuntere, statt zu fordern, heißt es. Er sehe die Musiker als Individuen, schaffe eine familiäre Atmosphäre, gehe auf die Einzelnen ein. Das klingt ein wenig nach Orchester-Wellness, doch Mäkelä kann nicht bloß der gute Kumpel am Pult sein; er begnügt sich nicht mit beflissener Spiel-Perfektion.

Und sein Alter? Kein Argument: Arturo Toscanini war 31, als er an der Scala debütierte, Hermann Scherchen im gleichen Alter, als er Nachfolger Furtwänglers in Frankfurt wurde. Claudio Abbado dirigierte mit 28 an der Scala. Daniel Barenboim begann seine Dirigentenkarriere mit 25 und war mit 32 Chefdirigent des Orchestre de Paris. Bruno Walter war 25, als er unter Mahler Kapellmeister an der Wiener Hofoper wurde.

Das Charisma der Großen

Vielleicht stimmt es doch, dass Dirigieren ein „Mysterium“ ist. Dass es jenes unbestimmbare, aber deutlich zu spürende Charisma ist, das einen versierten oder sogar perfekten Dirigenten von einem der Großen unterscheidet. Meine bisherigen Live-Erfahrungen mit Klaus Mäkelä waren zwiespältig: Bei Berlioz‘ „Symphonie fantastique“ in Essen stimmte die Dramaturgie zwischen Idylle und Exaltation. Vor zwei Jahren lieferte er mit dem Concertgebouw Orkest in Köln eine Sechste, deren Scharfschnitt und Präzision geradezu unheimlich waren, weckte aber nicht den Eindruck, sich auf die wirklichen Abgründe Mahlers eingelassen zu haben. Die Chance, es mit Hilfe der Mahler-Erfahrung der Wiener Philharmoniker nun überzeugender zu machen, hat Mäkelä im Dezember.

Klaus Mäkelä und das Concertgebouw Orkest in der Essener Philharmonie. (Foto: Volker Wiciok/TuP)

Jetzt in Essen hinterlässt die Erste Symphonie einen gereifteren Eindruck. Brillanz und Streben nach Perfektion wirken nicht so glatt und geheimnislos wie der Kölner Mahler. Und das liegt nicht am Stück, denn Mahler war als 28-Jähriger bereits „fertig“, schrieb eine Musik jenseits des Suchens und Tastens nach dem persönlichen Ausdruck. Emotionale Extreme, das Aufeinanderprallen von Banalität und Transzendenz, musikalische Idiome zwischen Choral und Volksmusik – all das ist in der Ersten schon ausgereift.

Keine Ironie, keine Groteske?

Mäkelä scheint sich dennoch mehr für rein musikalische Vorgänge als für Stimmungen, Rhetorik oder gar Programmatisches zu interessieren (das Mahler, wie den hartnäckig weiterbenutzten Titel „Titan“, ja aus guten Gründen getilgt hat). Darin ist sein Blick klar und unbestechlich: Die Entwicklung von der gestaltlosen Klangfläche des Beginns über fragil gespielte motivische Ansätze bis zum liedhaften Thema ist unter seinen Händen ein wunderbar ausbalancierter Vorgang. Mäkelä achtet darauf, dass strukturell wichtige Momente wie das für die Durchführung bedeutende Motiv der Celli entsprechend hervorgehoben werden. Steigerungen hält er im Zaum, um das Fortissimo-Pulver nicht gleich zu verschießen. Die finale Trompetenfanfare und das Aufzischen der Becken ist minutiös vorbereitet. Der Effekt sitzt nicht als solcher, sondern als Kulminationspunkt einer logischen Entwicklung.

Neue Mahler-Lesart jenseits jeglicher Ironie

So ließe sich von der stampfenden Rhythmik des zweiten Satzes und seinen lockeren Kontrast im Trio über die düster lauernde Atmosphäre des „feierlich und gemessen“ betitelten Trauermarschs mit seiner makabren Ironie bis zur souveränen Strukturierung des Finalsatzes Punkt für Punkt Rechenschaft ablegen über Mäkeläs Scharfsicht. Und man fragt sich so langsam, ob dieser junge Kopf nicht auf blitzgescheite Weise eine Mahler-Lesart einführen will, die sich jeglicher Ironie, jeglicher Uneigentlichkeit, jeglicher Groteske oder Parodie „in Callot’s Manier“ (so Mahlers ursprüngliche Beschreibung des dritten Satzes mit Bezug auf E.T.A. Hoffmann) entziehen will – konzentriert auf die reine Musik, bedeutungslos wie ein Gemälde Gerhard Richters, bei dem man sich nicht fragen darf, was der Rausch der Farben bedeutet und worin die Transzendenz der Form liegen könnte. Die Antwort wird die Zukunft geben, live zu verfolgen im Dezember in der Philharmonie Essen.

Klaus Mäkelä kommt wieder mit dem Oslo Philharmonic Orchestra am Sonntag, 3. November ins Konzerthaus Dortmund und am Donnerstag, 19. Dezember mit den Wiener Philharmonikern in die Philharmonie Essen. Am Samstag, 1. März 2025 ist er hier auch mit dem Orchestre de Paris zu Gast. Info: www.theater-essen.de




Seelenfenster geöffnet: Tschaikowskys „Eugen Onegin“ in Krefeld-Mönchengladbach

Sofia Poulopoulou als Tatjana in der Inszenierung von Helen Malkowsky am Theater Mönchengladbach. (Foto: Matthias Stute)

„Eugen Onegin“ hat in diesem Jahr Konjunktur in Nordrhein-Westfalen. Bonn, Düsseldorf und Krefeld-Mönchengladbach zeigten Peter Tschaikowskys Meisterwerk. In Mönchengladbach wird die Inszenierung nun wieder aufgenommen.

Am 25. Februar dieses Jahres näherte sich Michael Thalheimer in Düsseldorf den „Lyrischen Szenen“ in einem harten hölzernen Verschlag von Henrik Ahr mit strengem, unbestechlich beobachtendem Minimalismus, gestützt von der leidenschaftlichen Lesart des neuen GMD der Rheinoper, Vitali Alekseenok (Wiederaufnahme war am 28. September). Nur eine Woche später präsentierte Regie-Shootingstar Vasily Barkhatov eine detailverliebte, psychologisch präzise Version der tragisch verfehlten Liebesgeschichte in opulenten Bildern von Zinovy Margolin an der Oper Bonn, begeisternd flexibel und transparent dirigiert vom neuen GMD des Theaters Hagen, Hermes Helfricht.

Einleuchtend erzählte Geschichten

Die Neuinszenierung in Mönchengladbach, die jetzt wieder aufgenommen und ab 16. November in Krefeld gezeigt wird, stammt von Helen Malkowsky, Wieder einmal stellt sie unter Beweis, wie einleuchtend sie eine Geschichte zu erzählen, wie unverkünstelt sie Figuren führen und Konstellationen entwickeln kann. Originelle, aber nie aufgesetzte Konzepte entwickelte die Professorin für Musiktheaterregie und Szenische Interpretation an der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien schon vor 20 Jahren, als sie in Nürnberg „Der fliegende Holländer“ oder Aribert Reimanns „Melusine“ mit Sensibilität für metaphorische Bühnenlösungen in szenische Psychogramme verwandelte. In ihre Zeit als Operndirektorin in Bielefeld (2010 bis 2013) fielen die faszinierend doppelbödigen „Contes d’Hoffmann“; an den Vereinigten Bühnen Krefeld-Mönchengladbach entdeckte sie bereits in Tschaikowskys „Mazeppa“ ebenso wie in Verdis „Stiffelio“ und Ambroise Thomas‘ „Hamlet“ die heute relevanten Aspekte der Stoffe.

Nun also „Eugen Onegin“: Der junge, schlanke Dandy bricht absichtslos in die bleigraue Welt auf Larinas Gut ein, sein goldener Rock (Kostüme: Anna-Sophie Lienbacher) spiegelt die zögerliche Faszination der Frauen wieder, stellt aber auch seine in diesen stumpfen Räumen schillernde Exotik aus. Malkowksy erfindet keine Charakterzüge über die im Stück angelegten hinaus, aber sie schärft das Profil der Menschen, indem sie – ähnlich wie Dietrich Hilsdorf in seiner sensationellen Kölner Inszenierung vor zehn Jahren – genau beobachtet. Sie arbeitet mit sprechenden Gesten und offenbarenden Konstellationen: Larina (Katarzyna Kuncio) ist eine pragmatisch gewordene Frau in mittlerem Alter, Filipjewna (Satik Tumyan) ein sympathisch mütterliches Wesen, gezeichnet mit feinem Humor.

„Das Glück, es war so nah“: Tatjana (Sofia Poulopoulou) und Onegin (Rafael Bruck) verfehlen sich auf tragische Weise. (Foto: Matthias Stutte)

Vor den vermauerten oder zugeklebten stilisierten Fenstern der Bühne Tatjana Ivschinas fehlt der verträumten Tatjana mit ihren langen dunklen Haaren ebenso die Wärme wie dem Licht, das eine Trauergesellschaft in fahle Helle kleidet. Offenbar ist der Gutsherr verstorben; Damen und Herren mit Mantel und Hut in Schwarz kondolieren. Der Vorsänger (Irakli Silagadze) singt tonschön und entspannt, wie es selten in dieser kleinen Partie zu erleben ist.

Nuancen von bösem Gelb

Die Briefszene gestaltet die vorzüglich dunkelglühend singende Sofia Poulopoulou – in weißem Kleid und barfuß ganz bei sich selbst – als einen verzweifelt-feurigen Ausbruchs- und Erweckungsmoment. Das Chaos ihrer Gefühls- und Gedankensplitter kritzelt sie auf Papier, das sie von den halb blinden, halb von Regentränen benetzten Fenstern kratzt, und bindet die Blätter zuletzt zu einem Konvolut. Das Öffnen eines der Fenster mag eine konventionelle Metapher sein: Malkowsky inszeniert es als ein ergreifendes Befreiungserlebnis. Die Zurückweisung Tatjanas wiederum wird zur Charakterstudie Onegins. Gelangweiltes Wohlwollen, unterschätzende Belehrung: Rafael Bruck gestaltet diesen Moment wort- und klangsensibel.

Beim Namensfest Tatjanas tragen die Protagonisten wie die geschwätzigen Gäste Kostüme in den Nuancen von bösem Gelb. Die Inszenierung schildert, wie sich Lenski, vom Alkohol benebelt, in seine Eifersucht hineinsteigert. Wie sorgfältig auch Nebenfiguren gezeichnet werden, ist am Triquet von Arthur Meunier abzulesen: Endlich einmal kein übergriffiger Fummler oder kasperlhafter Trottel, sondern ein sanft frustrierter, still mitwissender Charmeur mit leichtem Hang zur Selbstübersteigerung. Eine Studie, die Meunier auch durch solides gesangliches Gestalten aufwertet.

Nur die Olga der leuchtend leicht singenden Kejti Karaj aus dem Opernstudio Niederrhein bleibt etwas zu sehr am Rande. Das ist aber angemessen, denn das „Kind“ ist nichts weiter als eine Projektionsfigur der romantisch übersteigerten Wünsche des Dichters Lenski, die beim verhängnisvollen Tanz mit Onegin nichts, aber auch gar nichts provoziert. Lenski ist bei Woongyi Lee, ausgestattet mit einem fast überpräsent in der Maske gebildeten, in der Höhe gezwungenen und daher nicht immer intonationsreinen Tenor, ein verstiegener junger Mann, der sich im Duell todesbereit präsentiert. Seine Arie singt Lee mit gestalterischem Feinsinn. Nicht der widerstrebende Onegin erschießt ihn, sondern die Pistole entlädt sich, während jener mit dem Sekundanten ringt. Gereon Grundmann ist der düstere Hüter der Duellregeln und wirkt damit wie ein metaphorischer Repräsentant einer obstruktiven Ordnung, die es wieder herzustellen gilt. Matthias Wippich als balsamfrei singender Fürst Gremin ist im letzten Bild dann der Katalysator für die finale Lebenskatastrophe Onegins.

Die Niederrheinischen Sinfoniker und der Opernchor Krefeld-Mönchengladbach, einstudiert von Michael Preiser, haben in GMD Mihkel Kütson einen erfahrenen Kenner der russischen Romantik am Pult. Kütson hat auch „Mazeppa“ dirigiert und sich mit CD-Aufnahmen entlegenen russischen Repertoires etwa von Alexander Glazunov und Mili Balakirev hervorgetan. Das Orchester überzeugt mit einem dunkel-weichen Klang und ist auch in dramatischen Momenten nie unkontrolliert massiv. Kütson sorgt für sorgfältig gestaltete Tempi und Übergänge, einen überlegten Aufbau emotionaler Spannungen, lyrische Finesse und wehmütige Pastellfarben. Die Konkurrenz mit Düsseldorf und Bonn müssen die Niederrheiner nicht scheuen.

Eine weitere Vorstellung am 10. Oktober in Mönchengladbach-Rheydt. Premiere in Krefeld ist am 16. November, weitere Termine am 20.11., am 5., 14., 29.12 sowie 10.01., 4. und 14.02.2025. Info: https://theater-kr-mg.de/spielplan/eugen-onegin/




Reizendes Kaleidoskop: Anna Vinnitskaya ist Porträtkünstlerin der Essener Philharmonie

Die Pianistin Anna Vinnitskaya. (Foto: Marco Borggreve)

Sergej Rachmaninow ist einer der Komponisten, zu denen Anna Vinnitskaya immer wieder zurückkehrt – und das dürfte nicht alleine daran liegen, dass sie einst am Rachmaninow-Konservatorium in Rostow am Don unterrichtet wurde. Mit dem eher selten gespielten Ersten Klavierkonzert in fis-Moll stellte sich die aus Russland stammende Pianistin als Porträtkünstlerin der Essener Philharmonie dieser Saison im Alfried-Krupp-Saal vor, begleitet von den Philharmonikern unter ihrem GMD Andrea Sanguineti.

Anna Vinnitskaya hat sich für die laufende Saison einen gewichtigen Rachmaninow-Schwerpunkt gesetzt und wird in Essen und der Region viel Präsenz zeigen. Bevor sie am 4., 5. und 9. Februar 2025 mit Rachmaninows Dritten, dem d-Moll-Konzert, nach Münster kommt, spielt sie im November die vier Konzerte plus die Rhapsodie über ein Thema von Paganini op. 43 in zwei Konzerten mit der Dresdner Philharmonie unter Krzysztof Urbanski im Kulturpalast Dresden. Danach, am 6., 7. und 8. März 2025 tritt sie unter Joana Mallwitz mit den Berliner Philharmonikern mit dem Dritten Klavierkonzert auf. Prominente Engagements also für die Preisträgerin des renommierten Concours Reine Elisabeth in Brüssel, den sie 2007 als zweite Frau in der Geschichte des Wettbewerbs gewann und in dessen Jury sie im Mai 2025 sitzen wird.

Herbert Grönemeyer als Dirigent

In Essen ist Anna Vinnitskaya noch mehrfach in unterschiedlichen Formaten zu erleben. Die beiden Herbstkonzerte für Menschen mit besonderen Bedürfnissen im RWE Pavillon liegen bereits hinter ihr, aber am 3. Oktober präsentiert sie in der Philharmonie mit Dmitri Schostakowitsch einen ihrer dezidierten Lieblingskomponisten: Mit dem Brahms Ensemble Berlin spielt sie das Klavierquintett op. 57, solistisch lässt sie sich mit den „Puppentänzen“ hören, die sie auch 2024 auf ihrem jüngsten Album „Piano Dances“ eingespielt hat.

Das Zweite Klavierkonzert Schostakowitschs erklingt dann mit dem Mahler Chamber Orchestra zum 50. Todesjahr des Komponisten 2025 – am 14. Februar in Dortmund, am 15. in Essen und am 16. in Köln. Noch einmal ist Anna Vinnitskaya am 22. März in der Philharmonie Essen Solistin eines Orchesterkonzerts, diesmal mit dem Tonhalle Orchester Zürich unter Paavo Järvi und dem a-Moll-Konzert Robert Schumanns, bevor sie am 14. Juni mit Rachmaninows populärem c-Moll-Konzert op. 18 und den Bochumer Symphonikern nach Essen zurückkehrt. Als Dirigent des Konzerts, das am 13. und 15. Juni auch in Bochum auf dem Programm steht, ist Herbert Grönemeyer angekündigt.

Leuchtende Frische für Rachmaninow

Mit dem Ersten Klavierkonzert, das Sergej Rachmaninow als Moskauer Konservatoriumsstudent 1891 schrieb und 1917 überarbeitete, bestätigte Anna Vinnitskaya ihren viel gerühmten Rang als Solistin: Mit dem oft unterschätzten Werk ließ sie ein reizendes Kaleidoskop der Stimmungen aufleuchten. Nach dem kraftvollen Statement des Beginns nimmt sie den Ton des weiträumig in den Streichern exponierten Themas auf, der sich bald in lockerer Spielfreude verliert. Kein Wunder, dass dieses Konzert so wenig beachtet wird: Man muss wie Anna Vinnitskaya Freude daran haben, die eher rhapsodisch gereihten Momente brillanter Leichtigkeit, sentimentalen Verträumens und melodischer Melancholie elegant, frei und natürlich darzustellen.

Die Pianistin versucht nicht, die Wechsel illustrativ einzufangen. Sie bewahrt einen stetigen, freundlich leuchtenden, eher frischen als elegisch verschatteten Ton – den gönnt sie sich, gewürzt mit feinsinnigen Rubati, nur im lyrischen Teil des letzten Satzes. Ihr kurzes Duett mit dem Fagott im zweiten Satz wird zum poetischen Zwiegespräch, die Energie des Finales wird zupackend, aber kontrolliert freigesetzt. Die Philharmoniker unter Andrea Sanguineti sind mal näher, mal weiter von der Pianistin entfernt, wollen sich aber nicht vordrängen, sondern begleiten mit Noblesse, feinen Abstufungen und stellenweise zu diskreten Holzbläsern. Ein bezaubernder Einstand, der gespannt macht auf die weiteren musikalischen Facetten dieses Porträts.

Weitere Infos:

https://annavinnitskaya.com/de/home

https://www.theater-essen.de/philharmonie/

 




Ein Licht im Dunkel: „Vox Luminis“ bringt alte Passionsmusik in der Philharmonie Essen

Ein Schauprozess, eine ungerechte Verurteilung, eine brutale Hinrichtung: Was vor 2000 Jahren einem gewissen Jesus, Zimmermannssohn aus Nazaret, angetan wurde, wiederholt sich heute an tausenden von Opfern von Terror und Gewalt. „Vox Luminis“, die „Stimme des Lichts“ haben wir alle nötig in düsteren Zeiten von Krieg, gesellschaftlicher Spaltung, global beschädigter Natur.

Der Karfreitag erinnert Christen an den Tod ihres Erlösers Jesus Christus. Wer dem Christentum nicht folgt, mag diesen Tag zur Besinnung und Mahnung an das Leid so vieler Menschen weltweit verstehen.

An die christliche Tradition knüpft das Karfreitagskonzert in der Essener Philharmonie an, wenn es zwei bewegende Werke kirchenmusikalischen Schaffens aus der Barockzeit zum Klingen bringt: Das seit 20 Jahren bestehende Ensemble „Vox Luminis“ widmet sich der zwei Generationen vor Johann Sebastian Bach entstandenen „Matthäus-Passion“, komponiert vom „Churfürstl. Brandenb.(urgischen) und Pr.(eußischen) Capellmeister“ am Königsberger Hof, Johann Sebastiani, 1672 veröffentlicht und dem Markgrafen Friedrich Wilhelm, dem Dienstherrn des Tonsetzers gewidmet.

Als Neuheit führt Sebastiani in diese Passion erstmals Choräle ein, einige davon auf ältere fünfstimmige Sätze seines Königsberger Vorgängers Johann Eccard („O Lamm Gottes unschuldig“), andere wohl selbst gesetzt. Sie werden nicht vom Chor, sondern einer leider im Programm nicht genannten Sopranistin mit dem fein lasierten Klang einer vibratolos „weißen“, aber mühelos tragenden Stimme vorgetragen. Sie gestaltet vor allem das abschließende „O Traurigkeit, o Herzeleid“ als eine bewegende Meditation über „Gott des Vaters einigs Kind“, das ins Grab gelegt wird.

Originell ist auch Sebastianis Idee, zur Begleitung ein Gambenconsort einzusetzen, das den rezitierenden Evangelisten mit polyphonem Spiel begleitet, ohne sich je in den Vordergrund zu drängen oder die Stimme zu verdecken. Die vier Viole da Gamba des vortrefflichen Ensembles „L’Achéron“ differenzieren den Klang auf einer gemeinsamen Basis ungemein farbig auf, lassen mit ihrem seidigen Ton keine äußerliche Brillanz aufkommen, sondern wirken diskret und verinnerlicht in ihrem Spiel.

„Vox Luminis“ ist wahrhaftig eine „Stimme des Lichts“. Unauffällig aus dem Ensemble der 14 Sängerinnen und Sänger leitet der Bassist Lionel Meunier den Chor, der mit seinen intonationsreinen, klar durchgestalteten Tutti eindrücklicher überzeugt als in Momenten, in denen die Grenzen der auf „alte“ Musik getrimmten Einzelstimmen doch deutlich hervortreten. Das gilt auch für die Solisten: Während Sebastian Myrus mit streng fokussiertem, von zwei Violinen begleitetem und dadurch wie von jenseitigem Licht umflortem Bass die Jesusworte ohne Pathos artikuliert, stößt der mit dezenter Dramatik erzählende Evangelist Jacob Lawrence mit seinem dunkel timbrierten Tenor schnell an Grenzen, wenn es gilt, technisch anspruchsvoll in die Höhe zu springen oder ein spannungsfreies Forte zu singen.

Die letzte halbe Stunde des Konzerts galt dem „Stabat Mater“ des Komponisten, katholischen Titularbischofs und Hannoveraner Hofkapellmeisters Agostino Steffani, wohl sein letztes Werk vor seinem Tod 1728. Für diese Meditation über die Schmerzen Mariens unter dem Kreuz nutzt der erfahrene Opernkomponist Steffani alle damals modernen Mittel musikalischen Ausdrucks und endet, vom Chor brillant durchgestaltet, mit kunstvoller Polyphonie, die in ihrer Perfektion wie ein Spiegel der paradiesischen Vollendung wirkt.

Das belgische Ensemble „Vox Luminis“ ist wieder zu hören am Freitag, 7. Juni, 19.30 Uhr, im Orchesterzentrum NRW in Dortmund, Brückstr. 47. Dann steht Henry Purcells Oper „The fairy queen“ in einer halbszenischen Produktion auf dem Programm. Info: www.klangvokal-dortmund.de




Jede Oper eine eigene Welt: Mit Peter Eötvös verliert die musikalische Welt einen prägenden Komponisten

Das Bild zeigt Peter Eötvös bei einem Gespräch am 25. Juni 2014 anlässlich der Uraufführung seiner viel gespielten Oper „Der goldene Drache“ in Frankfurt. (Foto: Werner Häußner)

Eine typische Selbsttäuschung: Zuerst wollte ich die Nachricht gar nicht glauben, dachte, es sei eine Falschmeldung. Doch schnell bestätigte sich: Peter Eötvös ist am Sonntag, 24. März gestorben, mit 80 Jahren. Innerhalb nur weniger Tage hat die musikalische Welt nach Aribert Reimann (1936-2024) einen zweiten prägenden Komponisten der letzten Jahrzehnte des 20. und ersten des 21. Jahrhunderts verloren. Nachrufe wird es genug geben, daher hier ein paar persönliche Erinnerungen an einen Herzblut-Musikmenschen, der auch mit dem Rheinland eng verbunden war.

Der Ungar Peter Eötvös, geboren 1944 in Székelyudvarhely in Siebenbürgen, war ein wunderbar kreativer Kopf. Seine vierzehn Opern sind jede für sich ein individuelles Meisterwerk, verbinden immer neu gedachte Musik und mitreißende Bühnenwirkung. „Jede Oper muss eine eigene Sprache, eine eigene Welt, eine eigene stilistische Klangsprache haben“, sagte er einmal. 1998 gelang ihm der internationale Durchbruch mit der in Lyon uraufgeführten Oper „Tri Sestri“.

Schon ein Jahr später brachte die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf das Werk nach dem Drama „Drei Schwestern“ von Anton Tschechow nach Deutschland, wo es mehrfach nachgespielt wurde: Gabriele Wiesmüller inszenierte es mit scharfem Blick auf die ausweglose Situation der Figuren in Koblenz; im letzten Jahr war in Hagen eine Inszenierung von Friederike Blum zu sehen. Sie ließ erleben, wie die Menschen in folgenlosen Träumen und vergeblichen Sehnsüchten gefangen sind. Eötvös und sein Librettist Claus H. Henneberg weichen von der linearen Erzählweise Tschechows ab und nehmen in drei Sequenzen die Perspektive der Figuren Irina, Andrej und Mascha ein.

Auf dem Deckchen: „Tri Sestri“ in Hagen mit Vera Ivanovic (Natascha) in der Mitte. (Foto: Leszek Januszewski)

Über 200 Uraufführungen dirigiert

1998 war Eötvös bereits als Dirigent hervorgetreten. Zuvor hatte er 1958 mit Vierzehn das Studium an der Budapester Musikakademie bei Zoltán Kodály aufgenommen und ab 1966 in Köln Dirigieren studiert. Ab 1968 arbeitete er eng mit Karlheinz Stockhausen zusammen; zehn Jahre später übertrug ihm Pierre Boulez die Leitung des Ensembles „Intercontemporain“. Eötvös stellte das Komponieren zurück und widmete sich dem Dirigieren. Über 200 zeitgenössische Werke konnte er mit dem Ensemble uraufführen.

Aber er brachte mit seiner freundlichen Art und seiner Leidenschaft vielen großen Orchestern seinen Begriff von zeitgenössischer Musik nahe, vom Concertgebouw Orkest Amsterdam über die Berliner bis zu den Wiener Philharmonikern  – und nicht zuletzt seinem Radio Kammerorchester Hilversum, das er zehn Jahre bis 2004 leitete. Im Funkhaus Köln hatte Eötvös seine ersten Schritte getan; sein geplantes Konzert am 23. September 2023 mit dem WDR Sinfonieorchester mit eigenen Werken und Kompositionen seines Landsmanns György Kurtág und seines langjährigen künstlerischen Partners Karlheinz Stockhauen musste er bereits „aus anhaltenden gesundheitlichen Gründen“ absagen.

Stockhausen-Uraufführung in Mailand

Der Besetzungszettel der Uraufführung von „Donnerstag aus Licht“ aus dem Teatro alla Scala in Milano mit Peter Eötvös als Dirigent. (Repro: Archiv Werner Häußner)

Das erste Mal als Dirigent habe ich ihn in „Donnerstag aus Licht“ von Karlheinz Stockhausen 1981 an der Mailänder Scala erlebt. Das war die szenische Uraufführung des ersten Tages aus dem riesigen, alle sieben Wochentage umfassenden Zyklus des „Licht“-Musiktheaters.

Und die erste Oper, die ich von Eötvös gesehen habe, hat mich sofort fasziniert: „Love and other Demons“ 2009 in Chemnitz unter Frank Beermann hat in der subtilen Regie von Dietrich Hilsdorf den „magischen Realismus“ der Vorlage von Gabriel García Márquez eingefangen. Nichts in dieser Welt war so, wie es schien, Bilder und Figuren blieben unaufgelöst mehrdeutig: Die Offenheit erzeugte eine kaum mehr erträgliche Spannung. Dahinter blieb die Kölner Inszenierung von Silviu Purcarete 2010 in ihrer erzählenden Eindeutigkeit weit zurück.

Denn Eötvös erzählt in seinen Opern nicht einfach Geschichten. Ohne in platte Aktualisierung zu verfallen, greift er gesellschaftliche Entwicklungen auf. Dabei bleibt er aber nicht stehen, sondern gibt seinen Stoffen durch die Musik die Qualität erzählter Philosophie – etwa in der „Tragödie des Teufels“ durch einen vielfach gebrochenen, gleichnishaften Blick auf die in sich zerrissene menschliche Existenz, in „Liebe und andere Dämonen“ auf die unkalkulierbare Welt und den „romantischen“ Verdacht, hinter den erfahrbaren Eindrücken könnten noch ganz andere Kräfte stecken. „Angels in America“, in Frankfurt von Johannes Erath beklemmend intensiv inszeniert und in Münster von Carlos Wagner zu einer Weltentragödie erweitert, ist so nicht nur ein Stück über die zerstörerischen Folgen von HIV, sondern eines über die Zerbrechlichkeit des Menschen und seiner Beziehungen.

Bei der bislang einzigen Inszenierung seiner erfolgreichen, 2014 in Frankfurt uraufgeführten Oper „Der goldene Drache“ in der Rhein-Ruhr-Region 2019 in Krefeld durch Petra Luisa Meyer kam Eötvös zur B-Premiere nach Mönchengladbach und sprach – wie so oft andernorts – mit dem Publikum im Theatercafé. Zum „Requiem“ für ihn wurde nun die jüngste Uraufführung seiner Oper „Valuschka“ in Regensburg am 3. Februar 2024. Zur Premiere konnte er – schwer erkrankt – schon nicht mehr kommen, begleitete aber aus der Ferne den Produktionsprozess. Die groteske Tragikomödie über das Hereinbrechen einer Katastrophe thematisiert Angst, Macht und entfesselte Gewalt.

Peter Eötvös hat wie der am 13. März mit 88 Jahren verstorbene Aribert Reimann – dessen Oper „Bernarda Albas Haus“ in einer Inszenierung von Dietrich Hilsdorf in der vergangenen Spielzeit in Gelsenkirchen zu den Höhepunkten der Saison gehörte – gezeigt: Die Oper im 21. Jahrhundert ist keineswegs tot. Sie hat die Kraft, Menschen in ihren Bann zu ziehen und bleibt auch unter den Vorzeichen der Postmoderne ein unerschöpfliches „Kraftwerk der Gefühle“.




Seelische Zerstörung: Floris Vissers penetrantes Bildertheater für Mozarts „Idomeneo“ in Köln

In der Gummizelle: Kathrin Zukowski (Ilia), Kinderstatist, Anna Lucia Richter (Idamante), Peter Bermes (Idomeneo). (Foto: Sandra Then)

Der alte Mann entkommt seiner Zelle nicht. Auf weiße gepolsterte Wände zeichnet er mit nervösem Strich immer wieder das gleiche Männchen, mit einem Dreizack in der Hand. Beim Familienbesuch rastet er aus, muss mit einer Spritze ruhiggestellt werden.

Floris Visser führt während der Ouvertüre von Wolfgang Amadeus Mozarts „Idomeneo“ die Titelfigur als einen Gezeichneten ein. Kein herkömmliches Regietheater-Irrenhaus-Setting: Denn die Zelle weitet sich, eröffnet einen Hintergrund in hyperrealistischem Licht, mit dem James Farncombe die felsige Strandlandschaft der Bühne Jan Philipp Schlößmanns in überzeichnet scharfe Konturen taucht. Der Naturalismus eines „Schauplatzes“ wird so ausgehebelt; der alte Mann, unschwer als Idomeneo zu identifizieren, beginnt durch seine innere Landschaft zu irren.

Mit seiner Inszenierung an der Oper Köln im Staatenhaus versucht Visser, diese Seelenwelt eines Menschen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung einzuholen – einer psychischen Verwundung, die in Flashbacks Erlebnisse der eigenen Ohnmacht und Hilflosigkeit so intensiv zurückholen kann, dass die betroffene Person die Erfahrung wieder und wieder mit der gleichen emotionalen Intensität durchleidet und sogar unfähig sein kann, sie als Erinnerung zu identifizieren. So flutet Visser die Bühne mit heterogenen Bildern und Szenen, in denen Idomeneo doppelt präsent ist – als Uniform tragender Soldat Bestandteil des Geschehens; als Greis im Nachthemd ein stummer, staunender oder leidender Beobachter. Er steht im wahrsten Sinn des Wortes „neben sich“, wenn er sogar einmal den gemarterten Feldherrn Idomeneo in den Arm nimmt.

Unablässiger Aktivismus

Drei Stunden dichte, in kaum einem Moment ihre Tiefe und Komplexität verlassende Musik hat Visser szenisch zu bewältigen. Er setzt den langen Rezitativen einen unablässigen Aktivismus entgegen. Auch die Arien erlauben keine Ruhepunkte. Im Sinne des Konzepts ist das folgerichtig, denn ein Flashback kennt kein Innehalten und Reflektieren. Aber der Zuschauer, der nach dem Zeichenhaften der Aktionen sucht, wird von der Dynamik der szenischen Unermüdlichkeit zugeschüttet. Irgendwann stumpfen die visuellen Ausrufezeichen ab. Aber – das muss Visser zugestanden werden: Die penetrante Qual, die im Wiederholen traumatisierender Momente liegt, spiegelt sich in dieser Tretmühle der Zeichen wider.

Der Fluch der Gewalt gebiert das Trauma: Daniel Calladine personifiziert es in Floris Vissers „Idomeneo“-Inszenierung in Köln. (Foto: Sandra Then)

Visser verwendet Bilder aus den Kriegen der Gegenwart: Leichensäcke am Strand, Menschen, die Tote identifizieren müssen, das ertrunken angespülte geflüchtete Kind Alan Kurdi, die Anzüge von Abu Ghraib in Orange, Opfer mit verhüllten Köpfen, eine Trauerfeier an sandigem Gestade. Er verbindet diese Kriegs- und Gewaltchiffren mit Hinweisen auf den antiken Mythos: Eine schwarze Gestalt, „das Trauma“ (Daniel Calladine) geistert mit einem Beil durch die Szenerie, das auf den Tod Agamemnons und den Fluch der Atriden hindeutet. Anderes wirkt überzogen, etwa eine Szene, in der Idomeneo offenbar in den trojanischen Krieg abberufen wird, als er gerade mit seinem Kind Idamante am Strand ein Badetuch ausgebreitet hat. Deplatziert auch die griechische Fahne, neben der am Ende einträchtig eine türkische flattert. Solche allzu expliziten Verweise stören den psychologischen Gedankengang durch weit hergeholte politische Konkretion.

Zweifel am Sieg der Liebe

Wenn im Finale „die Stimme“ (Lucas Singer) – und, wohlgemerkt, nicht Neptun oder ein anderer der Götter – die Lösung verkündet, spricht der alte Idomeneo (Peter Bermes) tonlos auf der Bühne mit. Ein Funke Hoffnung? Ob aber wirklich die Liebe über alles siegt, zweifelt Vissers Schlussbild leise an: Sinnierend liest Ilia, die trojanischen Prinzessin, die eigentlich die „natürliche“ Feindin der Griechen sein müsste, ein Holzpferd ihres Kindes auf – ein Verweis auf das trojanische Pferd und die eigene, nach Vergeltung rufende Wunde?

Auch im Orchestergraben gelingt es nicht durchgehend, die Spannung zu halten. Bei aller Wertschätzung dieses genialen Wurfs eines 25-Jährigen neigt man dazu, die eine oder andere Kürzung in den Rezitativen als sinnvoll zu erachten. Rubén Dubrovsky verführt das Gürzenich Orchester schon in der Ouvertüre zu feinsinnig detailreichem Spiel. Er fasst den Klang mit scharfer Kontur, lässt luftige Bläserakzente setzen, hebt generell hervor, mit wie unermüdlicher Kreativität Mozart die Fallen gleichförmiger Wiederholungen, stereotyper Harmonie oder schematischer Instrumentation umgeht. Anderes, so das berühmte Quartett des dritten Akts, bleibt seltsam blass. Aber das Gürzenich Orchester spielt in der ganzen langen Zeit hoch konzentriert und verströmt elegant ausgewogenen Mozartklang.

Insgesamt eine gediegene Besetzung

Intendant Hein Mulders hat für diesen ambitionierten „Idomeneo“ eine insgesamt gediegene Besetzung verpflichten können: Sebastian Kohlhepp ist ein anfangs etwas kehlig intonierender, sich zunehmend frei singender Idomeneo, der in den Koloraturen seiner Arie „Fuor del mar“ alle inneren Qualen freilegt, da er die Bedrohung durch Neptun im fürchterlichen Meer seines Herzens weiter spürt.

Kohlhepp ist in den dramatischen Momenten ebenso sicher wie in dieser expressiven Beweglichkeit, die weniger auf technischen Glanz als auf den existenziell aufgewühlten Ausdruck achtet. Auch als Darsteller steigert er sich mit beinah stummfilmhafter Intensität in die Rolle eines Menschen, dessen furchtbarstes Schicksal ist, sich selbst nicht entkommen zu können. Floris Vissers Vorzeigetheater lässt ihn dabei keinen Moment allein. In der Arie „Vedrommi intorno“ erweitert er den Schauder vor dem bald zu vergießenden Blut: Eine nackter blutiger Junge erinnert Idomeneo wohl auch an die Opfer, die der Krieg um Troja gekostet hat. Die Orchesterbegleitung dieser Arie gehört übrigens zu den Höhepunkten des Abends.

Aus der Stimme gestaltete Musik

Anna Lucia Richter als Idamante. (Foto: Sandra Then)

Eine nahezu ideale Besetzung ist Anna Lucia Richter in der Rolle des Idamante: eine sanft geführter, ausgeglichener, leuchtender Mezzo, der den edlen, empfindsamen Charakter des jungen Prinzen in purem Wohllaut repräsentiert, ohne die entspannte Tonbildung aufgesetzten expressiven Gesten zu opfern. Gestaltung aus der Musik und aus dem Material der Stimme: Hier wird’s zur beglückenden Realität.

Auch Kathrin Zukowski punktet als Ilia mit kultiviertem Singen und einem zarten, gepflegten Timbre. Sie neigt allerdings zu flachen, manchmal dünn-ungestützten Tönen, die sie nicht nötig hat, um die lyrische Grundierung etwa von „Zeffiretti lusinghieri“ – einem vokalen Paradestück der Oper – zu sichern. Mit einer abgesicherten Stütze im Körper könnte Zukowski auch die ausdrucksvolle Deklamation in den Rezitativen technisch perfektionieren.

Ana Maria Labin stellt sich mutig und erfolgreich der Herausforderung, die „Furien der grausamen Unterwelt“ – bei Visser treten sie natürlich leibhaftig auf – in schneidender Dramatik zu beschwören und die bizarren Ausbrüche ihres wütenden Abgangs am Ende zu erfassen. Aber in ihrer Liebesarie im zweiten Akt zeigt sie auch ihre andere Seite, die einer zärtlich fühlenden Frau, die sich trügerischen Hoffnungen hingibt und daher umso herber enttäuscht wird. Anicio Zorzi Giustiniani darf sich als Arbace mit ausgeprägtem, manchmal zu grell nach vorne gedrängtem Ton ebenfalls in zwei Arien zeigen; John Heuzenroeder ist ein würdig gefasster Oberpriester.

Der Chor der Oper Köln (Rustam Samedov) ist eines großen Kompliments würdig für die wie selbstverständlich wirkende Integration in die szenische wie musikalische Seite der Aufführung. Floris Vissers Bildertheater ist durchaus eine Zumutung; wer sie als bloß illustrativ wahrnimmt, wird des Abends irgendwann einmal überdrüssig. Wer sie als Spiegel einer seelischen Zerstörung akzeptiert, wird in ihrer Penetranz die unheilvollen psychischen Abläufe erkennen, die – über den Kriegsheimkehrer Idomeneo hinaus – heute Tausende von Menschen innerlich überfluten.

Weitere Vorstellungen: 25., 28. Februar, 2., 8., 10., 13. März. Info: https://www.oper.koeln/de/programm/idomeneo/6687




Magie des vollendeten Tons: Joyce DiDonato und das Ensemble „Pomo d’oro“ in der Philharmonie Essen

Joyce DiDonato als Irene in Georg Friedrich Händels
„Theodora“ 2021 in der Philharmonie Essen. (Foto: Sven Lorenz)

Kaum merklich schwebt der Ton im Saal, nimmt allmählich Gestalt an, verdichtet sich, klingt erfüllt und leuchtend – und dann schwingt er sich auf das Wort und trägt es in den Raum. Joyce DiDonato stimmt die Klage der verlassenen Königin Dido an.

Der Tod ist ihr ein willkommener Gast: Aeneas, der Held aus dem gefallenen Troja hat sie verlassen, folgt einem vermeintlichen Befehl der Götter. Bei Henry Purcell, dem genialen Musikmagier aus dem alten England, bleiben die Götter außen vor: Der Spruch, der Aeneas zur Abreise nötigt, ist das Blendwerk von Hexen, deren Entzücken das Böse und deren ganze Kunst die Missetat ist.

Dagegen steht in Purcells Oper „Dido and Aeneas“ die edle, erhabene Gestalt der leidend verzweifelnden Königin. Joyce DiDonato, die im letzten Jahr mit ihrem Programm „Eden“ ihre nach wie vor stupende Gesangskunst präsentiert hat, schlägt als Dido in der Essener Philharmonie erneut den gut gefüllten Saal in ihren Bann. Der Geräuschpegel im Publikum nähert sich der Nullmarke, eine fallende Nadel würde Lärm verursachen.

Die Amerikanerin aus Kansas verbannt all die verbreiteten „barocken“ Stimmchen mit ihren harten, scharfen Tönen, ihrem körperlosen Timbre, ihren gläsernen Höhen und ihrem dünnstimmigen Legato ins Schattenreich der Gesangskunst. Obwohl auch sie manchen Ton verhalten flach ansetzt, ist sie nie in der Gefahr, Körper und Klangfülle zu verlieren. Ihre Technik ermöglicht ihr eine schier unbegrenzte Palette klanglicher Valeurs; sie kann den Ton eindunkeln oder strahlend aufblühen lassen, ohne sein Ebenmaß zu stören. Die Intensivierung des Klangs erreicht sie nicht durch Druck, sondern mit entspanntem Steigern. Und obwohl die Stimme von Natur aus eher zu wenigen Farben im helleren Spektrum neigt, kann DiDonato dank ihrer Flexibilität, ihrer bewussten Deklamation und einer tadellosen Vokalisation alles erreichen, was Emotion und Atmosphäre einer Szene erfordert. Sehnsucht, Kummer, zaghafte Liebe, Klage und seelische Verletzung drückt sie mit einer Stimme aus, die schimmert wie Silber und leuchtet wie Gold.

Schade eigentlich, dass an ihrer Seite niemand aus dem Solistenensemble so wirklich mithalten kann. Man hört gepflegtes, präzises Singen, aber vor den erfüllten Tönen der Primadonna verblassen die korrekt gebildeten Phrasen, fallen die Limits der anderen Stimmen umso deutlicher auf. Außer Konkurrenz ins Rennen geht dabei Beth Taylor, weil sie die üble Zauberin, die Widersacherin der karthagischen Königin, als beinah shakespearisches Giftweib mit prallem Theaterleben erfüllt. Auch die beiden flankierenden Hexen, Alena Dantcheva und Anna Piroli, tragen nach Kräften zu dem infernalischen Trio bei – und erinnern in ihrem Gekreisch und Gelächter sogar an Benjamin Brittens „Auntie“ und ihre beiden Nichten im „Peter Grimes“.

DiDonatos Aeneas ist Andrew Staples, ein Muster an exakter Musikalität und sorgfältiger Deklamation. Sein Tenor ist scharf fokussiert, beweglich und so sanft, aber auch so schneidend wie Aluminium. Dass sich in diesem kalten Feuer die Wärme eines Liebenden nur schwer entfacht, ist verständlich. Fatma Said (Belinda), die Vertraute Didos, ist ein Musterbeispiel dafür, wie einer an sich wunderschönen Stimme mit dem Schimmer eines klassisch ausgewogenen Timbres die belcanteske Abrundung fehlt. Sie neigt zu kopfigen Tönen, einem unentspannten Ansatz und gezwungen wirkendem Klang. Mit dieser Technik sind ihr immerhin die „geläufige Gurgel“ und eine meist präzise ausgestochene Intonation möglich. Eindrucksvoll der junge Counter Hugh Cutting als Geist; noch etwas befangen und trocken im Klang die Stimme des Seemanns Laurence Kilsby.

Carissimis gefeiertes Oratorium

Die „Diva“ hatte ihren Auftritt erst im zweiten Teil des Konzerts; im ersten überließ sie ihrem Tenorpartner Andrew Staples und dem Chor des Ensembles „Pomo d’oro“ das Feld für eines der gefeiertsten Oratorien des 17. Jahrhunderts, Giacomo Carissimis „Historia di Jephte“. Die Geschichte des biblischen Feldherrn Jephta aus dem Buch der Richter erinnert an die – u.a. von Mozart veroperte – Geschichte Idomeneos: Wie der griechische Kämpfer gegen die Trojaner gelobt Jephta, im Fall einer siegreichen Rückkehr aus dem Feldzug gegen die Ammoniter das erste zu opfern, das ihm vor seiner Haustür begegnet – und das wird zu seinem Entsetzen seine einzige Tochter sein.

Carissimi kleidet diesen biblischen Reflex auf religiös motivierte Menschenopfer in eine vielgestaltige, farbenreiche, sich ökonomisch auf eine halbe Stunde beschränkende Musik voll Anmut und volltönender Harmonik. Maxim Emelyanychev leitet das Orchester „Il Pomo d’oro“ ohne großen gestischen Aufwand. Die Musiker leisten sich, etwa in den Kornetten und Posaunen, manche Flüchtigkeiten. Für den großen Saal der Philharmonie wirken die Streicher etwas unterbesetzt. Aber der Ensembleklang, vor allem, wenn die Harmonien sorgfältig ausbalanciert erklingen, lässt fahrige Details wieder vergessen.

Der Chor mit den üblich schrillen Sopranen findet zu erhabenem Pathos. Als Jephte ist Andrew Staples ein dramatisch bewegter Gestalter; auch Carlotta Colombo als seine namenlose Tochter bildet Töne und Phrasen mit Gespür für die dramatische Situation, könnte aber in der heroischen Leidensbereitschaft ihrer Klage einen körperhafteren Klang einsetzen. Der Beifall setzt zögernd ein: War das Publikum gelangweilt oder gebannt? Carissimis Musik jedenfalls würde Letzteres verdienen.




Musikalisch lohnende Mozart-Rarität: „Ascanio in Alba“ an der Oper Frankfurt

Die künstliche Welt im Zentrum: „Ascanio in Alba“ mit Kateryna Kasper (Venus) und Cecelia Hall (Ascanio). (Foto: Monika Ritterhaus)

Glückliche Menschen, wenn das Sollen und das Wollen in so wunderbarer Übereinstimmung zueinander finden. Für die junge Silvia ist der vorher bestimmte Bräutigam zugleich der Mann ihrer Träume.

Ein Wunder ist das nicht, hat doch keine Geringere als die Göttin der Liebe, Venus höchstpersönlich, das Verhältnis für ihren Sohn Ascanio arrangiert und Amor losgeschickt, um die Träume des Mädchens zu manipulieren, das sich prompt in das Traumbild Ascanios verliebt.

Der Konflikt, der daraus in Wolfgang Amadeus Mozarts „Ascanio in Alba“ entsteht, ist ein milder. Nur kurz währt die Wehmut, als Silvia einen jungen Unbekannten kennenlernt, der dem Mann ihrer Träume gleicht. Aber sie ist ja „Ascanio“ versprochen, den sie nie gesehen hat. Dieser Verpflichtung bleibt sie, ihre Neigung unterdrückend, treu. Bald belohnt Göttin Venus die standhafte Braut und offenbart ihre sorgfältig eingefädelte Tugendprobe: Der Geliebte aus ihren Träumen ist niemand anderes als ihr Bräutigam! Silvia und Ascanio haben die Prüfung bestanden und werden verheiratet; Wonne und Jubel durchziehen das Ende der musikalisch erstaunlich avancierten Partitur des 15jährigen Mozart.

Eine Allegorie für die Gegenwart?

Bei der Frankfurter Erstaufführung der „festa teatrale“ (aus dem Jahr 1771) versucht Regisseurin Nina Barzier tapfer, die Allegorie auf die Hochzeit des Habsburgers Ferdinand Karl mit Maria Beatrice d’Este in die Gegenwart zu holen. Im Bockenheimer Depot baut Christoph Fischer dafür eine kugelförmige Bühne wie einen abgeschlossenen Globus, in dem alle gefangen sind. Eine Galerie bietet der Göttin Venus – im beziehungsreich ausgedachten Libretto von Giuseppe Parini ein Reflex auf die Mutter Ferdinands und Ehestifterin Kaiserin Maria Theresia – den passend erhobenen Auftrittsraum.

In Fenstern ist verschwommen eine Außenwelt zu ahnen, die aber keine Rolle spielen darf. Die Natur muss draußen bleiben. Auf einer halbierten Weltkugel rollt dagegen eine kristalline, magisch beleuchtete Skyline herein: Symbol der neuen Stadt Alba, die der mythische Gründer Ascanio errichten soll, aber auch eine Chiffre für die künstliche, selbst konstruierte Welt der Figuren. Denn Venus tritt bei Brazier auf wie eine coole Konzernchefin, die alles unter Kontrolle hat – eine mächtige Frau wie aus einem Science-fiction-Märchen, in dem es freien Willen oder wild wuchernde Emotionen nicht mehr gibt, die Menschen aber auch nicht mehr merken, wie sie manipuliert sind – oder es willig akzeptieren.

Ein Spiel mit komplementären Farben

Dieses luftige Spiel mit künstlichen Konflikten wird von einer raffinierten Farbwahl der Bühne Fischers und den Kostümen von Henriette Hübschmann sinnlich unterstützt. Jonathan Pickers flutet das Bühnen-Ei mit sattgelbem Licht, in dem das saftige Blau der Kostüme des Venus-Gefolges durch die komplementäre Farbwirkung umso kraftvoller wirkt. Die Pink-Schattierungen, in denen Ascanio und Silvia auftreten, beißen sich damit – aber wenn sich das Licht ins Lindgrüne verschiebt, ergibt sich auch mit dem Pink ein komplementärer Gegensatz. So spiegeln sich in den intensiven Farben die Beziehungen und die wirklichen Verhältnisse der Figuren wider. An so viel kluger Offensichtlichkeit hat man seine Freude.

Viel zu gewinnen für heute ist aus diesem Jugendwerk ansonsten nicht, auch wenn Nina Brazier versucht, die Problematik der arrangierten, politisch motivierten Ehe in die Gegenwart ´zu übertragen. Aber die klassische Konfliktsituation zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Erwartungen findet sich in anderen Opern des 18. Jahrhunderts eindrücklicher und emotional-musikalisch bewegender gestaltet. Was über die Zeit hinaus spannend wäre, der Konflikt zwischen dem Traumbild eines Menschen und seiner realen Existenz, bleibt in Braziers Inszenierung ein Nebenthema. Da sich die Regie aber auf die Personen einlässt, ihnen Profil gibt und die Bezüge szenisch intensiv gestaltet, kommen keine Längen auf. Die knapp zweieinhalb Stunden ziehen sich nicht.

Souveräne Musik eines 15-Jährigen

Das ist auch Verdienst der Musik, die letztlich rechtfertigt, das aus der Zeit gefallene, stark an seinen Zweck gebundene Stück zu spielen. Mozarts formale Souveränität, seine melodische Erfindungskraft, seine Instrumentation – die Bläser sind markant, aber noch nicht so selbständig wie später – tragen den Abend. Alden Gatt, seit dieser Spielzeit Kapellmeister und Assistent des GMD an der Frankfurter Oper, leitet das Frankfurter Opern- und Museumsorchester zu straffen, aber nie überzogenen Tempi an, sucht einen eher strahlend kompakten statt transparenten Klang, lässt den Sängern Raum, sich zu entfalten…

…und die nutzen ihre Chance fabelhaft. Wieder einmal ist zu hören, wie erfolgreich sich Bernd Loebes beharrliche Ensemblepflege auswirkt. Die Rollen sind nach Typen besetzt, aber die jungen Leute auf der Bühne bringen auch technisch ungetrübt ausgebildete Stimmen mit und setzen ihr Potenzial erfrischend musikalisch gestaltend ein. Kateryna Kasper ist die erfahrenste unter den Solistinnen und bereits seit zehn Jahren im Ensemble. Ihre Venus changiert mit Autorität zwischen den mütterlichen und den herrscherlichen Zügen der Figur, die nach dem Vorbild Maria Theresias durchaus die umfassende Kontrollgewalt über ihre „Kinder“ beansprucht.

Cecelia Hall als Ascanio. (Foto: Monika Ritterhaus)

Karolina Bengtsson, seit dieser Spielzeit im festen Ensemble, hat das passende Timbre und die bezaubernde Finesse für die Rolle der jugendlichen Braut Silvia. Ascanio, mit sanftem Sentiment und runden Tönen gesungen von Mezzo Cecelia Hall, ist der wohlerzogene Bräutigam, ganz so fügsam wie das historische Vorbild, der zur Zeit seiner Hochzeit 17jährige Ferdinand. Ein formidabler Tenor aus dem Opernstudio, Andrew Kim, ist eigentlich als Priester Aceste ein williger Helfer der Venus auf Erden – in Braziers Deutung mutiert er zu einer Art Assistent. Kim singt mit unbekümmerter Verve, glänzendem Material und ein wenig zu jugendlich riskanter technischer Brillanz.

Ähnlich Anna Nekhames als Fauno mit dekorativen virtuosen Koloraturen und anspruchsvollen, mit technischen Kunststückchen gespickten Läufen: Die junge Sopranistin, 2022 dem Opernstudio entflattert und gleich zur „Königin der Nacht“ avanciert, lässt es nicht an der „geläufigen Gurgel“ mangeln, darf aber in der Kontrolle des Stimmsitzes noch zulegen, um ihre künftige Entwicklung gefährdungsfrei weiterzuführen. Auch Sekretärin (Aijan Ryskulova), Bodyguard (Stefan Biaesch) und die beiden als liebreizrosa Hostessen ausstaffierten Freundinnen Silvias (Valentina Ziegler, Isabel Casás Rama) fügen sich bruchlos in das visuelle und vokale Konzept der Aufführung ein. „Ascanio in Alba“ wird allein wegen seiner Thematik eine Mozart-Rarität auf der Bühne bleiben, musikalisch lohnt sich die Begegnung jedoch allemal.

Vorstellungen noch am 30. Dezember, 1. und 3. Januar. Info: https://oper-frankfurt.de/de/spielplan/ascanio-in-alba/?id_datum=3576




Balkanien in Köln: Franz Lehárs „Lustige Witwe“ mit dem Essener GMD Andrea Sanguineti am Pult

Lieber Grisetten als das teure Vaterland: Adrian Eröd alias Graf Danilo in der Kölner „Lustigen Witwe“. (Foto: Matthias Jung)

Jetzt hat auch Köln seine „Lustige Witwe“. Es gibt wohl kein Theater in Nordrhein-Westfalen, in dem in den letzten Jahren niemand im Maxim intim gewesen und die „Weiber“ studiert hätte.

Nun gut, Intendant Hein Mulders wollte für das Ausweichquartier der Kölner Oper und in der (inzwischen erneut gefährdeten) Hoffnung auf rechtzeitige Eröffnung des Hauses am Offenbachplatz 2024 einen zugkräftigen Titel haben. Das ist Franz Lehárs Erfolgsoperette allemal noch – gehört sie doch zum Restbestand der Operetten-Monokulturlandschaft, die mit der „Fledermaus“, der „Csardasfürstin“ und dem „Orpheus in der Unterwelt“ des Kölner Operettenerfinders Jacques Offenbach weitgehend bestellt ist. Von den Dutzenden früherer Erfolgstitel ist kaum etwas geblieben; nur Paul Abraham darf sich im letzten Jahrzehnt über eine gewisse Renaissance freuen. Das Sterben der Operettenensembles, das Ausdünnen der Spielpläne, die generationenlang gepflegte Verachtung des jahrzehntelang lieblos abgenudelten Genres und der Hinschied des alten Operettenpublikums tragen Früchte.

Dem entgegenzuarbeiten ist eine reizvolle Aufgabe, der sich nicht nur Barrie Kosky früher an der Komischen Oper Berlin und die spezialisierten Häuser in Dresden, Leipzig und München widmen sollten. Insofern darf man hoffen, dass Hein Mulders in Köln, sonst eigentlich kein für Ideen verschlossener Kopf, auch einmal in die Tiefen des Repertoires der „leichten“ Muse greift. Immerhin: Dank der pfiffigen Regie von Bernd Mottl und einer beispielhaft schmähaffinen musikalischen Leitung des Essener GMD Andrea Sanguineti ist der Ausflug nach Pontevedro in Paris rundweg kurzweilig geraten.

Dialog von Wasserflecken an Neonröhren

20 Milliarden! Allein die Ansage lässt die Männer schmachten. Elissa Huber als Hanna Glawari und Herren des Chores der Kölner Oper. (Foto: Matthias Jung)

Pontevedro: Den Fantasie-Kleinstaat in Klischee-Balkanien verorten Friedrich Eggert (Bühne) und Alfred Mayerhofer (Kostüme) irgendwo im realsozialistischen Ambiente. Die großmustrigen braunen Tapeten erinnern an den biederen Charme Ost-Berliner Plattenwohnungen der siebziger Jahre. Über der Falttür rutschen die Porträts des pontevedrinischen Herrscherpaars in Schieflage. Der Vorraum ist mit Bauplastikplanen verhüllt, an der Decke prangt ein Dialog von Wasserflecken an kalten Neonröhren. Pontevedro zeigt sich so marode wie seine Staatskasse.

Und da kommt die Witwe ins Spiel: Deren 20 Milliarden sind das Kapital, das den fürstlichen Laden zusammenhält. Sie dürfen keinesfalls in die Hände eines leichtlebigen Franzosen geraten – etwa des in Brombeerfarbe hereinstelzenden Camille de Rosillon (Dmitry Ivanchey), des honeckerblau beanzugten Vicomte Cascada (John Heuzenroeder) oder eines gewissen Raoul de Saint-Brioche (Timothy Oliver). Die Milliarden selbst treten auf in aufreizendem Design in Schwarz, ein mondäner Gegensatz zu den schlicht geschnittenen Kleidern in gedecktem Bräunlichgrünlichblau der pontevedrinischen Hautevolee.

Elissa Huber ist eine hinreißende Hanna Glawari, die selbstbewusst und erfüllt vom Wissen um ihre Ausstrahlung verkündet, warum Witwen so begehrt sind, und später in wunderschön kitschiger Folklore-Ausstaffierung das Waldmägdelein im Vilja-Lied besingt. Ihr voller, samtig dunkel getönter Sopran strömt mit allem Charme und allem erotischen Prickeln, dem die Partie ihren Reiz verdankt.

Erst planen, dann bauen

Diese geldschwere Dame dem Vaterland zu erhalten, ist vornehme Aufgabe von Botschafter Mirko Zeta – und Ralf Lukas verkörpert ihn mit aller gewichtigen Pose, bedeutungsschwangere Deklamation eingeschlossen. Wäre da nicht die unsäglich gemusterte Krawatte, man könnte ihn gar für eine ernsthafte Person halten. Seine taktische Waffe heißt Graf Danilo: Adrian Eröd ist als Graf Danilo ein so souveräner Sängerdarsteller, dass er beinah zur heimlichen Hauptperson der ganzen Operette aufsteigt, wäre da nicht seine Noblesse, die der Diva stets den Vortritt gewährt. Er hat allerdings nicht die geringste Lust, dem Vaterland zuliebe ein Erbe zu erheiraten, zumal es mit einer Frau verbunden ist, mit der er eine unerfreuliche Vorgeschichte hat. Dass sich am Schluss die Liebe mit einem überraschenden Coup durchsetzt, ist dem Genre geschuldet. Tragische Operetten waren 1905 noch nicht im Blickfeld von Lehár.

Mottl inszeniert das Finale ohne derben Bruch, wie er dem Genre seinen Witz und seine Sentimentalität lässt. Nichts wird übertrieben, die Kalauer halten sich in Grenzen, der Herzschmerz auch. Beziehungen entstehen durch Gesten, Blicke, Pausen. Wenn Baron Zeta stolz den in nur einer Woche strahlend neu vergoldeten Saal seiner Botschaft preist, meint er, man habe erst geplant, dann gebaut. Da lachen die Kölner und denken an ihr Opernhaus. In den Choreographien von Christoph Jonas mischen sich Grisetten von „sämtlichen Ufern dieser Erde“, und die Tanzgruppe zitiert lustvoll alte Operettenklischees und baut mit leichtfüßiger Ironie daraus amüsante Körperwelten.

Zweifelhafte Zwitterwesen

Das Hin und Her zwischen diversen eifersüchtigen Paaren reduziert Mottl zugunsten des zentralen Konflikts, damit treten etwa Bogdanowitsch (Artjom Korotkov) und seine Frau Sylviane (Brigitta Ambs) ebenso in den Hintergrund wie Kromow (Zenon Iwan) mit seiner ewig des Seitensprungs verdächtigten Olga (Mariola Mainka). Dass die Romanze zwischen der „anständigen Frau“ Valencienne (Claudia Rohrbach als entzückendes Zwanziger-Jahre-Mädel) und dem trocken, aber passioniert die „Liebe aufglühen“ lassenden Camille (Dmitry Ivanchey) saftiger ausgespielt sein könnte, ist eine andere Sache.

Zwitterwesen von allen möglichen Ufern. Ralph Morgenstern (Njegus) und das Tanzensemble in der „Lustigen Witwe“. (Foto: Matthias Jung)

Ralph Morgenstern gibt dem Njegus nicht zuletzt dank einer langen, dürren Gestalt ein köstlich volatiles Profil jenseits des klassischen Operettenkomikers. Man glaubt ihm aufs Wort, dass er in die Pariser Art total vernarrt ist, vor allem, wenn ihn die „zweifellos zweifelhaftesten Zwitterwesen“ umschwärmen. Das alles wäre nur halb so animiert, würde nicht das Gürzenich-Orchester den mal samtig schmeichelnden, mal keck auffahrenden Lehár-Sound treffen und Andrea Sanguineti mit dezidierter Agogik und wundervoll pikanter Phrasierungsdramaturgie die Musik so gestalten, wie es die Operette braucht. Alles etwas altmodisch gedacht, aber vielleicht gerade deswegen so wundersam musikalisch, nostalgisch und hinreißend.

Weitere Vorstellungen: 16., 21., 23., 25., 27., 29., 31. Dezember.
Info: https://www.oper.koeln/de/programm/die-lustige-witwe/6634




Auf Augenhöhe: Lydia Steier stellt sich mit „Aida“ der legendären Regie von Hans Neuenfels

„Aida“ in Frankfurt: vorne in der Bildmitte Nicholas Brownlee (Amonasro) und Guanqun Yu (die Aida der Premiere), dahinter Claudia Mahnke (Amneris; in rotem Kleid), umgeben vom Ensemble. (Foto: Barbara Alumüller)

Eben noch besang die ägyptische Gesellschaft Ruhm und Ehre, da wird das Opernhaus dunkel und durch die Schwärze dröhnen Explosionen, Granateneinschläge, Geschützfeuer und tuckernde Panzermotoren.

Lydia Steier lässt in ihrer Frankfurter Neuinszenierung von Giuseppe Verdis „Aida“ den Krieg nicht zum beschaulichen Kostümfest verniedlichen. Sie beschwört ihn mit Geräuschen im Finstern. Beklemmend, unheimlich, und für manchen Zuschauer unbehaglich nahe rückend.

Radikal ist die Inszenierung der amerikanischen Regisseurin auch, wenn es um die (Über-)Zeichnung einer verkommenen, gealtert erstarrten Gesellschaft geht. Da marschieren keine knackigen Soldaten auf, wenn Radamès zum Feldherrn gekürt wird. Da versammelt sich eine Horde seniler Ordensträger, teilweise in den Rollstuhl gebannt, teilweise nur noch vom Sauerstoffgerät inspiriert, um mit „gloria“ und „onore“ den Krieg zu verklären und in eine zittrige Ekstase gereckter Greisenfäuste zu geraten.

Den Krieg muss Hausmeister Radamès erledigen, eher ein Zufallswahl, weil er gerade mit einem Wagen in den Raum fährt, um Fußbodenpaneele zu verlegen. Denn wir befinden uns nicht zwischen Palmen und Pyramiden, sondern in einem abgeranzten Saal (Bühne: Katharina Schlipf), wie er in einem Kolonialgebäude in Kairo vorfindbar sein könnte: Art-Deco-Lampen, die nicht mehr funktionieren, eine eingebrochene Decke mit einer Galerie, von der später der König und seine Entourage herabschaut, siffige Fliesen mit Schimmelrändern.

Erinnerung an „Putzeimer-Aida“ von 1981

Guanqun Yu (die Aida der Premiere) und Stefano La Colla (Radamès) in der Finalszene der Oper. (Foto: Barbara Alumüller)

Die vergreiste Gesellschaft hält sich Jugend nur in uniformierter Form: Junge Männer sind da nicht präsent, aber ein Kind: Mehrfach taucht ein kleiner Junge in der Uniform von Radamès auf – eine Metapher für die Seele des Heerführers oder (mehr noch) ein Sinnbild einer Jugend, die gemeuchelt und als Opfer davongetragen wird? In solchen Momenten ist Steiers detailverliebte Inszenierung in Gefahr, den Fokus zu verlieren und sich erläuternd auf Nebenkriegsschauplätzen zu verzetteln.

Präsent sind Kohorten junger Frauen, alle in adretten rosa Dienstmädchen-Kostümen und einheitlichen lackschwarzen Frisuren, die an brave japanische Manga-Schulmädchen erinnern. Am Anfang schrubben zwei von ihnen den Boden – eine ironische Anspielung auf die „Putzeimer“-Aida von Hans Neuenfels, die 1981 an der Frankfurter Oper Furore machte und zu einer Ikone des Regietheaters wurde? In Steiers Setting gelten Unterordnung und Disziplin alles, das macht Amneris brutal deutlich: Ein Fehler beim Frisieren entfacht ihre Wut, der Schuldigen bohrt sie die Augen aus. Eine andere Dienstbotin, die ihr beim sadistischen Metzeln in den Arm fällt, wird eiskalt abgestochen.

Man glaubt es kaum, dass eine solche enthemmte Gewalttäterin später ihre andere Facette, die der verzweifelt liebenden Frau zeigen wird. Eine harte Szene, auf die im Zuschauerraum ein massiver Buhruf reagiert. In der Tat: Steier flüchtet nie in malerische Opern-Harmlosigkeiten; sie nimmt die Zumutungen, die im Libretto Antonio Ghislanzonis stehen, radikal ernst. Das hat sie bereits 2011 in Heidelberg getan: Die Frankfurter Version darf als überarbeitete Neuauflage der damals heftig diskutierten Inszenierung gelten.

Der aufgewertete Ramfis

Eines ihrer Kennzeichen ist die erheblich erweiterte und aufgewertete Figur des Ramfis, eine Paraderolle für Andreas Bauer Kanabas. Ein soignierter Herr in schwarzem Anzug, äußerlich gelassen mit der Zigarette zwischen den Lippen. Aber ein Mensch, der offenbar unter seinem inneren Zwiespalt leidet und mit der ideologischen Weltsicht seiner Klasse nicht einverstanden ist. Die Fernchöre der Tempelszene im ersten Akt erklingen eher im Kopf von Ramfis: Er windet sich, presst die Hände an die Schläfen, klagt, wimmert, greint vor innerem Schmerz. Wenn am Ende der Oper Amneris entkräftet nach „Frieden“ ruft, wirft er sich auf eine Bank, eine Pistole in der Hand. Ob er damit einen Alptraum beendet, bleibt offen.

Amneris wird in Steiers Version zur Hauptperson der Oper. Ihr Auftritt ist der eines Mannweibs, der graue Anzug mit roter Krawatte ist eine perfekte Mimikry, um in einer maskulin korsettierten Gesellschaft eine Rolle zu spielen. Nur die weißblonden Haare markieren den Rest einer auf ein sexuelles Signal reduzierten Weiblichkeit. Als es darum geht, Radamès für sich einzunehmen, wechselt sie auf eine andere Kleidungschiffre: Mit rotem Abendkleid und neuer Frisur wird sie zur femme fatale; später, in der Szene des Triumphs, tritt sie mit kunstvollen weißen Haaren auf wie eine der ältlichen Sponsorinnen der Met aus der amerikanischen Society. Siegfried Zoller hat einfach tolle Kostüme erdacht.

Mit der Mimikry ist es erst vorbei, als sie im vierten Akt um das Leben von Radamès kämpfen muss: Da wälzt sie sich im Unterrock in der schmutzigen Brühe, die im dritten Akt als Nil-Reminiszenz schwappt und in der die Leiche des von Radamès erschossenen Amonasro liegt. Der erhebt sich mit mahnendem Arm wie der tote Siegfried in der „Götterdämmerung“. Amneris küsst ihn, schließt ihn in die Arme – eine der sinistren, verstörenden Szenen, mit denen Steier ihre Inszenierung verrätselt. Ramfis „erlöst“ Amneris mit einer Drogenspritze. Im Triumphmarsch erhielt auch Radamès seinen Cocktail in den Nacken gespritzt: Er, der traumatisierte Kriegsheimkehrer, hat keine so rechte Lust zu feiern; nach der Injektion stimmt er begeistert willenlos in den kollektiven Jubel ein.

Bei Claudia Mahnke sitzt jedes Detail

Frankfurt hat das Glück, mit Claudia Mahnke eine Darstellerin für die Amneris zu haben, die in imponierender Detailschärfe die Entwicklung dieses Charakters auszuspielen weiß. Da sitzt jede Nuance zwischen höhnischem Lächeln, die Gesichtszüge verzerrender Wut, namenloser Verzweiflung, trostlosem Leid. Jeder Schritt, jede Bewegung der Arme und Hände, jedes Drehen des Kopfes hat seine Bedeutung, macht die Figur sprechend und lebendig.

Nur die Stimme Mahnkes will nicht so recht zur Vollblut-Italianità einer Amneris passen. Das Legato wird durch ein grießeliges Flackern aufgeraut, in der Attacke fehlt der strahlend-präsente Ton. Mahnke kann den Wechsel zum tiefen Register nicht gut verblenden, versucht, die sonore Contralto-Lage allzu brustig und ordinär einzuholen. Dazwischen gibt es, wenn es um entspanntes Singen geht, Momente cremiger Tonfülle und subtil ausgeleuchteter Passion.

Aida ist die Ukrainerin Ekaterina Sannikova, ein typischer Sopran aus dem Osten mit ausgeprägtem Vibrato und fleischiger, manchmal ins Gaumige rutschender Tongebung. Solche Stimmen werden heute – vielleicht auch mangels Alternativen – für „Verdi-Sängerinnen“ gehalten, haben aber weder die Finesse des Stils noch die Flexibilität in der Bildung des Tons. Am passendsten gelingen Sannikova „Numi pietà“ und „O patria mia“ im Dritten Akt, aber es fällt auch auf, dass sie die Phrasen nicht auf dem Atem blühen lassen kann und immer wieder zurücknimmt, wo sie den Ton befreit strömen lassen müsste.

Auch Stefano La Colla operiert an den Grenzen seiner stimmlichen Mittel. Er bemüht sich um Piano-Schattierungen. Aber an ein „b“ im Piano oder Diminuendo am Ende der Auftrittsarie des Radamès glaubt man eh nicht mehr. Dort, wo er Kraft einsetzt, sind das Ergebnis eher enge Trompetenstöße. Der ätherische Schluss der Oper wird auf diese Weise zu einem bemühten Vorwärtshangeln von Phrase zu Phrase, bei der die technische Bewältigung volle Aufmerksamkeit fordert – an schimmernde, zu verhaltenem lyrischem Leuchten gesteigerte Bögen darf man nicht denken.

Dynamische Strapazen

Nicholas Brownlee ist in Wagners „Meistersingern“ als Hans Sachs und in Giordanos „Fedora“ als klug gestaltender Sänger aufgefallen; dass er den Amonasro vor allem als Chance auffasst, voluminöse Stimmgewalt aufzufahren, enttäuscht. In den kürzeren Rollen: Kihwan Sim (König), Kudaibergen Abildin als eindrucksstarker Bote und Monika Buczkowska als Priesterin. Das am besuchten Abend arg lärmig aufspielende Opern- und Museumsorchester blieb unter seinem Niveau, das auch durch Dirigent Erik Nielsen nicht zu heben war: Neben gekonnt formulierte Details treten zu viele klanglich undifferenzierte und dynamisch strapazierte Stellen.

Das Triumphbild, in dem der Chor von Tilman Michael seinen großen Moment hat, gefällt sich in massiertem Gedröhn, das man vielleicht der martialischen Stimmung für angemessen halten mag, das aber Verdis gezieltes Arbeiten mit „banaler“ Musik eher im Getöse erstickt als offenbar macht. Mit Lydia Steiers „Aida“ hat die Frankfurter Oper wieder ein Repertoirestück, das in seiner entschiedenen Art, den Themen auf den Grund zu gehen, auf Augenhöhe mit Neuenfels‘ legendärer Inszenierung steht.

Weitere Vorstellungen: 17., 21., 26., 29. Dezember; 1., 13., 20. Januar 2024, Info: https://oper-frankfurt.de/de/spielplan/aida/

 




Was wäre ich geworden, wenn…? – Uraufführung der Oper „Septembersonate“ von Manfred Trojahn in Düsseldorf

Surreale Treppen auf der Bühne von Heike Scheele: „Septembersonate“ von Manfred Trojahn in der Inszenierung von Johannes Erath in Düsseldorf mit Holger Falk (Osbert Brydon) und Juliane Banse (Ellice Staverton). (Foto: Wolf Silveri)

Spätestens, seit die Romantik die Welten hinter der Welt entdeckt hat, werden die Grenzen zwischen der positivistischen Realität in einer aufklärerisch-rationalen Perspektive und der Fiktion brüchig.

Einer Fiktion, die sich als mächtiger Einfluss auf das offenbart, was gemeinhin als „real“ beschrieben wird. Einer Fiktion, die sich im Begriff manifestiert, jenem denkerischen Instrument, mit dem wir unsere Welt „begreifen“. Aber auch, wenn Gott ein Hirngespinst sein sollte, auch, wenn Heilige und Helden nie leibhaftig gelebt haben, so existieren sie doch, haben auf den Lauf der Ereignisse gewaltigen Einfluss. Doktor Faust oder Harry Potter: Die Erinnerung, die Erzählung macht sie zu Personen unserer inneren Welten.

Erfahrungen und Erinnerungen, Träume und Traumata, Visionen und Projektionen: Die Antriebskräfte, die das Leben mit vitaler Dynamik aufladen, balancieren zwischen Realem und Fiktionalem, durchdringen das, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, geben ihm Sinn, Motiv und Richtung.

In Manfred Trojahns neuer Oper „Septembersonate“ treffen sich zwei Menschen, die schon in ihrer Existenz die Grenzüberschreitung in sich tragen: Er, Osbert Brydon, hat vor Jahrzehnten die auf realen Gelderwerb zielenden Aktivitäten seiner vermögenden Familie verlassen und ist nach „dort drüben“ gegangen, um ein Schriftsteller zu werden – also jemand, der fiktive Welten gestaltet. Sie, Ellice Staverton, ist Schauspielerin geworden, wechselt die Rollen und verleiht im Spiel fiktiven Personen eine leibhaftige Existenz. Beide liebten einst als Kinder das Puppentheater, in dem die Frauen Königin werden – oder das Krokodil.

Manfred Trojahn. (Foto: Dietlind Kobold)

Eine „Konjunktiv-Oper“ nannte Dramaturgin Anna Melcher Trojahns gut 100 Minuten wenig dramatisches, aber intensiv meditatives Musiktheater. Ein Satz der früheren Jugendfreundin bringt Osbert zum Nachdenken: „Was hätte ich dafür gegeben, Sie als junge Frau so getroffen zu haben, ich hätte mich auf der Stelle in Sie verliebt.“ Die Möglichkeit – die Frage „Was wäre, wenn?“ – lässt den Schriftsteller nicht mehr los. Im Traum, so Ellice, habe sie den anderen Osbert gesehen – den, der er geworden wäre, hätte er sich den Konten und Häusern seiner Familie gewidmet.

Wer ist dieser „Andere“? In einer surrealen Vision – oder ist es eine gespenstische Manifestation? – trifft Osbert auf sein anderes Ich: „Voll Wehmut grüßt der, der ich bin, den, der ich hätte sein können.“ Rainer Maria Rilkes „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ geben den Protagonisten die letzten Worte: „Du machst mich allein ….“ Das Ende bleibt offen.

Trojahn hat sein eigenes Libretto nach der Erzählung „The Jolly Corner“ von Henry James entworfen – jenem amerikanischen Schriftsteller, dessen Biografie sich in seiner 1908 erschienenen Story spiegelt. James ist ein Meister des Ungesagten, des Uneindeutigen, des dunkel Ungreifbaren – Benjamin Britten hat das in „The Turn of the Screw“ in unerreichter Meisterschaft in Musik gefasst. Auch bei Trojahn findet sich diese Atmosphäre mit dem Hauch des Surrealen und einer dämonischen Transzendenz wieder.

Blasen aus leiser Grundierung

Zitiert wird Richard Strauss‘ „Tod und Verklärung“, über Reminiszenzen an „Arabella“ oder an Arnold Schönbergs „Pierrot lunaire“ berichtet der Komponist im Programmbuch. Erinnerungen werden wach, an Korngolds „Die tote Stadt“, an Debussys „Pelléas et Mélisande“, an Richard Rodney Bennetts „The Mines of Sulphur“ oder an Philip Glass‘ „The Fall of the House of Usher“. Aber das fünfzehnköpfige Orchester, schon vor dem ersten Ton von einem ständigen Herzschlag-Pochen grundiert, findet nicht oft zu klangfülligem Ausbruch, bewegt sich meist in unendlichen Variationen von trüben Piano- bis delikatesten Pianissimo-Klängen, intim bis zum verschwimmenden Verschwinden.

Juliane Banse (Ellice Staverton) in der „Septembersonate“ in Düsseldorf. (Foto: Wolf Silveri)

Musikalisch erinnert nichts an eine „Sonate“: der Komponist hat den Begriff nicht strukturell, sondern eher atmosphärisch verstanden. Stattdessen sind flexibel-flächige Tonfolgen zu hören, die lange gleich bleiben, um sich plötzlich wie Blasen aus leiser Grundierung zu einem kurzen Forte aufzuwölben. Ihre Klangglätte wird aufgeraut, wenn Trojahn von den Ketten der Triolen oder Quintolen Staccato oder Marcato fordert. Die Gruppe der fünf Bläser (Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott, Horn) agiert im Kontrast oder in Wechselwirkung mit den Streichern, bei denen die Violinen fehlen, dafür die tiefen Instrumente in extreme Höhen getrieben werden. Die Folge ist ein melancholischer, an signifikanten Stellen unwirklich schwebender Flageolett-Klang.

Harfe, Klavier und Schlagzeug akzentuieren sparsam, brechen aber ebenfalls punktuell kraftvoller durch das Gewebe der Töne. Die Celesta taucht erstmals in der zweiten Szene auf, in der Osbert in seine Vergangenheit, in seine Erinnerung tanzt. Ihr entrückter Klang umschwebt das Bedrohliche der Erinnerung, vor dem die Haushälterin Mrs. Muldoon warnt: Sie versucht, das Nachwirken des Gewesenen zu verdrängen und auszulöschen – wie Mrs. Grose in „Turn of the Screw“.

Ein Meister des Uneigentlichen

Ein Meister des Uneigentlichen ist auch Regisseur Johannes Erath, der an der Deutschen Oper am Rhein zuletzt mit Vincenzo Bellinis „La Sonnambula“ ein anderes Werk mit schwankendem Realitätsbegriff inszeniert hat. Er nimmt die Statisterie der Rheinoper in Beschlag, um den geheimnisvoll in schwärzliche Fernen geöffneten Bühnenraum Heike Scheeles mit stummen Menschen(gruppen) zu füllen – einzig durch ihr Dasein sprechende Resonanzkörper zu den vier Akteuren.

Bibi Abel erweitert die Raumwirkung mit Video-Stills surrealer Treppenkonstruktionen – manchmal scharf definiert, als wären sie gegenständlich in drei Dimensionen erbaut, manchmal nur in Konturen in den wunderbar plastisch geführten Lichtakzenten Nicol Hungsbergs zu erahnen, dann wieder deutlich als Projektionen erkennbar, in denen sich dennoch die Protagonisten wie schwarze Schatten bewegen, so als seien die Stufen aus fester Materie.

Erath wechselt zwischen handfester Aktion und traumnahen Bewegungssequenzen. Osberts zweites Ich – der Kampf beider spielt sich in cineastisch wirkender Großaufnahme ab – wankt mit wunderliche Eselsohren durch die Szene. Ellice, die Schauspielerin, manifestiert sich in vielerlei „Rollen“-Kostümen, vom Zwanziger-Jahre-Girl über die Projektion einer ikonischen Szene von Marylin Monroe mit aufgebauschtem Kleid bis hin zur Diva, die auf einem lackweißem Krokodil reitet und von Bibi Abel einen opulenten Theatervorhang – als Projektion! – bekommt. Erath legt sich bewusst nicht fest, stellt eher Fragen als Antworten zu geben. Der Abend endet mit einem Coup, einer weiteren Ebene von Fiktionalität, die den Zuschauer von vielleicht mühsam errungenen Gewissheitsinseln in finale Unsicherheit vertreibt.

Souveräner Dirigent

Unter der souveränen Leitung des designierten Chefdirigenten der Deutschen Oper am Rhein, Vitali Alekseenok, sind die Solisten der Düsseldorfer Symphoniker hochkonzentriert und mit Klangsinn am Werk. Die vier singenden Darsteller gehen in ihren Rollen auf: Holger Falk als zunehmend an Boden verlierender Osbert Brydon, mit sprechstimmenhaft zurückgenommenem Bariton, aber exzellent deklamierend, kämpft manchmal mit dem Orchester. Juliane Banse als Ellice setzt all ihre Stimmkoloristik, all ihre körperhafte Präsenz, all ihre variablen Tonbildungskünste ein, um eine schillernde, kraftvolle Frauenfigur auf die Bühne zu zaubern.

Roman Hoza ist das andere Ich Osberts und achtet in seinen wenigen Sätzen darauf, das Spannungsfeld zwischen Distanz und Identifikation nicht zu verletzen. Susan Maclean (Mrs. Muldoon) wirkt zunächst tief in der Vergangenheit erstarrt, wie ihr pompöses viktorianisches Kostüm signalisiert, deutet aber am Ende eine überraschende Wendung an: Zögernd schlägt sie eine Taste der Schreibmaschine an, deren Geklapper am Beginn der Oper, vielfach multipliziert, als Signet für jene andere Welt steht, in der sich Osbert und Ellice ihre erinnerungsgetränkten Wenn-Fragen gestellt haben.

Manfred Trojahns „Septembersonate“ steht am 9.,14., 29. Dezember 2023 und am 3., 14. und 27. Januar 2024 auf dem Spielplan der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf. Info: https://www.operamrhein.de/spielplan/a-z/septembersonate/

Am Sonntag, 10. Dezember, 11 Uhr, zeigt das Opernhaus den halbstündigen Film „Das weiße Blatt“ mit anschließendem Publikumsgespräch. Der Film von Jo Alex Berg zeigt, wie die Uraufführung entstanden ist. Er begleitet die Künstler von der Arbeit an der Partitur bis zur ersten Hauptprobe auf der Bühne. Der Eintritt ist frei.




Jenseits der Mythen – Interview mit dem Callas-Biographen Arnold Jacobshagen

Vor 100 Jahren, am 2. Dezember 1923, wurde in New York eine der bedeutendsten Sängerinnen der Musikgeschichte geboren: Maria Callas. Zum ihrem 100. Geburtstag sprach Werner Häußner mit dem Autor einer neuen Biographie, dem Kölner Musikwissenschaftler Arnold Jacobshagen, über das Geheimnis der Gesangskunst der Callas und die Mythen um ihre Person.

Als Achtzehnjährige begann Maria Callas 1942 in Giacomo Puccinis „Tosca“ eine beispiellose Karriere. Mit Rollen wie Vincenzo Bellinis Norma und Amina („La Sonnambula“), Gaetano Donizettis Lucia di Lammermoor und Anna Bolena, Giuseppe Verdis Aida und Violetta („La Traviata“), vor allem aber mit der Wiederentdeckung von Opern wie Luigi Cherubinis „Medea“, Gasparo Spontinis „La Vestale“ oder Gioachino Rossinis „Armida“ wurde Maria Callas zur bis heute unerreichten Wegbereiterin des damals vergessenen Belcanto-Repertoires des 19. Jahrhunderts und eines technisch perfektionierten, von dramatischem Ausdruck geprägten Singens. Der Kölner Musikwissenschaftler Arnold Jacobshagen hat sich in seinem im Reclam-Verlag erschienenen Buch „Maria Callas. Kunst und Mythos“ auf die Spuren der großen Künstlerin jenseits des Mythos und hartnäckig wiederholter Klatschgeschichten begeben.

Was war Ihre Motivation, ein Buch über Maria Callas zu schreiben, nachdem es von John Ardoin bis Jürgen Kesting bereits viel und auch seriöse Literatur über diese Jahrhundertsängerin gibt?

Maria Callas ist für jeden, der sich intensiv mit Oper beschäftigt, eine Herausforderung. Besonders für mich, weil mich das italienische Belcanto-Repertoire von Rossini bis Puccini sehr interessiert. Ihre Stimme ist für viele Partien aus diesem Repertoire bis heute unübertroffen, auch wenn ich die Schwierigkeiten in ihrer stimmlichen Entwicklung sehe und hoffentlich auch gerecht beschrieben habe. Was die Callas-Literatur betrifft: Es gibt einige sehr gute und sehr viele nicht so gute Bücher, die leider bis heute das Callas-Bild prägen. Dieses etwas zu entrümpeln und einige Mythen zu hinterfragen war das eine Anliegen meines Buches. Das andere ist, ihre künstlerische Entwicklung möglichst genau zu beschreiben.

Wissenschaftler interessieren ungeklärte Fragen und Gebiete, auf denen man etwas Neues entdecken kann. Gibt es im Leben und der Karriere von Callas überhaupt noch „weiße Flecken“?

Ja, angefangen mit ihrer frühen Karriere in Athen, wo sie doch mehr als bisher bekannt von der Protektion der deutschen Besatzungsherrschaft profitiert hat. Das führte allerdings auch dazu, dass sie 1945 von der Operndirektion in Athen entlassen wurde und erst einmal zwei Jahre nicht auftreten konnte. In der späteren Karriere ist vieles gut bekannt. Wenig reflektiert sind die wahren Hintergründe ihres stimmlichen Abbaus, die vermutlich mit der erst 1971 diagnostizierten Dermatomyositis zusammenhängen. Die schleichende, aber dramatische und seltene entzündlichen Muskelerkrankung war ihr selbst bis dahin nicht bekannt. Sie führt zu einem kontinuierlichen Abbau des Muskelgewebes mit allen Konsequenzen für die Stimme. Den stimmlichen Niedergang, der ab 1957 offensichtlich war, kann man heute aus medizinischer Sicht besser verstehen. Die anderen Geschichten, die in der Callas-Literatur angeführt werden, die Onassis-Beziehung zum Beispiel, spielen hier keine wichtige Rolle.

Der Kölner Musikwissenschaftler und Callas-Biograph Arnold Jacobshagen. (Foto: privat)

Gehört dann auch die Rolle, die ihrer Gewichtsabnahme zugeschrieben wird, zu den aufklärungsbedürftigen Mythen?

Das ist ein komplexer Prozess, der auf die Singstimme unterschiedliche Auswirkungen haben kann. Es gibt positive wie negative Effekte; die positiven werden, denke ich, überwogen haben. Singen ist eine körperliche Ausdauerleistung. Gerade in den Jahren 1953 bis 1955, die den Höhepunkt ihrer künstlerischen Karriere bilden und die größte Dichte und Intensität an Auftritten in großen, unterschiedlichen Partien aufweisen, hat sie sehr wenig gegessen und einige Spezialbehandlungen wahrgenommen, um ihr erwünschtes Gewicht zu erreichen und zu halten. Über andere Ursachen für den frühzeitigen Verschleiß der Stimme kann man spekulieren. Man muss auch bedenken, dass Maria Callas sehr früh ihre Karriere begonnen hat. Aus meiner Perspektive müssen diese Faktoren eben anders gewichtet werden als bisher in der Literatur.

Stichwort Karriere: Es ist aus heutiger Perspektive sehr ungewöhnlich, dass eine 15-Jährige Santuzza, eine Frau mit Anfang Zwanzig Tosca, Kundry, Isolde und kurze Zeit später Bellinis Norma und Elvira in „I Puritani“ singt. Kommt man dem Geheimnis der Gesangstechnik auf die Spur, die so etwas ermöglicht?

Man kann vergleichen mit Sängerinnen der Gegenwart, aber auch der weiter zurückliegenden Vergangenheit. Im 19. Jahrhundert gibt es dafür Beispiele wie die von Callas bewunderte Rosa Ponselle oder Maria Malibran, die auch schon mit Fünfzehn die Rosina in Rossinis „Barbiere di Siviglia“ in London, einer der wichtigsten Bühnen der damaligen Welt, gesungen hat. Natürlich waren das Ausnahmepersönlichkeiten – genau wie Maria Callas. Da muss man andere Maßstäbe anlegen als an den Durchschnitt von Bewerberinnen an einer heutigen deutschen Musikhochschule.

Die Vielfalt der Repertoires, das sie in jungen Jahren gesungen hat, gehört dazu – gerade die Wagner-Partien, die sie zwischen 1947 und 1950 mit großer Freude gesungen hat. Sie sagte, Wagner sei einfach zu singen, da es keine komplizierten Verzierungen und Kadenzen gebe. Und dann habe man noch das wunderbare Orchester, das die Stimme trägt! Die meisten Sängerinnen fürchten sich dagegen davor, vom Orchesterklang erschlagen zu werden.

Callas hatte die enormen Möglichkeiten einer „grande vocaccia“, einer großen Stimme, die gepaart mit einer brillanten Technik Wagner und Bellini-Partien mit anspruchsvoller Agilität scheinbar mühelos bewältigen konnte. Größere Probleme hatte sie etwa mit der Partie der Turandot, die auch hochdramatisch ist, aber im Unterschied etwa zu Kundry ständig sehr hoch liegt. Turandot hat sie 1948/49 häufig gesungen, aber diese Rolle hat sie, wie sie selbst beklagt, zu viel Kraft gekostet.

Es gibt ja auch andere, die gesangstechnisch ein unglaubliches Repertoire auf einem ähnlichen Qualitätslevel gesungen haben, Lilli Lehmann etwa. Heute gibt es solche Sängerinnen so gut wie nicht mehr. Warum nicht?

Eine schwierige Frage. Es gibt ja hin und wieder Sängerinnen, die versuchen, in die Fußstapfen von Maria Callas zu treten, zuletzt Anna Netrebko. Heute gibt es eine starke Spezialisierung der Fächer, die Callas immer vehement bestritten hat. Sie hat immer gesagt, ein Sopran müsse alles singen können. Heute wird man schon in der Ausbildung auf Fächer festgelegt, in denen die Lehrer das Entwicklungspotenzial der Stimme sehen. Das hat alles gute Gründe. Solche Ausnahmeerscheinungen wie Maria Callas sehe ich heute allerdings nicht mehr.

In der Ausbildung von Maria Callas spielt Elvira de Hidalgo ja eine entscheidende Rolle. Sie haben aber noch einen Gesangslehrer erwähnt, Ferruccio Cusinati, langjähriger Chordirektor der Arena di Verona: Ist das eine Person, die bisher nicht genügend gewürdigt wurde auf dem Weg der Callas zum technisch perfekten Singen?

Das wäre übertrieben, aber er wird in der bisherigen Callas-Literatur nicht einmal erwähnt; der einzige war Callas‘ Ehemann Giovanni Battista Meneghini, der den Kontakt zu Cusinati vermittelt hatte. Es ging ab 1947 einfach darum, bei Callas, die zwei Jahre ohne wesentliche Auftritte in New York gelebt hat und nun in die italienische Opernszene eingeführt werden sollte, möglichst schnell Lücken ihres Repertoires zu schließen, damit sie als Primadonna auf dem Markt von ihrem künftigen Ehemann platziert werden konnte. Cusinatis Leistung war, mit ihr Rollen zu studieren, wohl auch Schwächen auszubügeln und die italienische Diktion zu perfektionieren. Die technischen Grundlagen hat Elvira de Hidalgo gelegt, die eine der letzten virtuosen Koloratursoprane war.

De Hidalgo hat ihre Partien ja noch ganz aus dem Geist des Belcanto gesungen, mit völlig ebenmäßig gebildeten Tönen und einer tollen Projektion des Klangs in den Raum, aber eben auch sehr instrumental. Dieses Streben nach absoluter Schönheit unterscheidet sie von Callas, die all ihre Farben einsetzt, um ihre Partien zu gestalten.

Der Vergleich vokal – instrumental ist interessant, denn es ist eine der besonderen Qualitäten der Stimme von Maria Callas, dass sie über unglaublich viele Schattierungen und Facetten verfügte. Darin liegt aber auch ein Problem des Kontrollverlustes. Man kennt ja die Schwierigkeiten, die sie bei Registerübergängen immer hatte. Es gibt auch unterschiedliche Meinungen zu der Frage, ob Callas diese Palette vokaler Schattierungen bewusst eingesetzt oder aus der Not eine Tugend gemacht und dieses unglaubliche Organ gar nicht kontrolliert eingesetzt habe, so wie es Elvira de Hidalgo in dieser Feinheit und Instrumentalität beherrscht hat. Für Callas war der Ausdruck der notwendige Kontrapunkt zur vorhandenen technischen Meisterschaft. Eines der Geheimnisse ihrer Stimme ist sicher, dass sie Expressivität mit einer stupenden Technik vereinen konnte.

Maria Callas war ja keine Intellektuelle. Woraus speist sich ihre unglaubliche dramatische Kompetenz? War das ein instinktives Erfassen ihrer Rollen, eine Empathie, die in ihrer Persönlichkeit wurzelt? Oder hatte sie ein tiefes Verständnis von den tragischen Seiten der menschlichen Existenz?

Ich denke beides. Es ist nicht notwendig, eine belesene Intellektuelle zu sein, um eine tragische Partie zu durchdringen, Dazu gehört eher Lebenserfahrung, Charakter, Empathie, Musikalität sowieso, weil Callas überzeugt war, dass alles, was eine Partie ausmacht, aus der Musik kommt. Sie hat auch viel übernommen von ihren Lehrern und den Dirigenten, mit denen sie zusammengearbeitet hat. Und so unbelesen war sie gar nicht: Zumindest nach dem Abschied von der Bühne hat sie sich Bücher empfehlen lassen und gelesen. Aber ich bezweifle, dass es unter den Sängerinnen ihrer Generation sonst so viele ausgewiesene Intellektuelle gab. Dessen ungeachtet ist die Frage nach der Bildung für das Verständnis der Partituren, die Aufführungspraxis oder die Art und Weise der Interpretation sehr wichtig. Maria Callas hatte eine rasche Auffassungsgabe, ihre Partien in kürzester Zeit beherrscht und ihre eigene Interpretation immer weiter verfeinert und vertieft.

Maria Callas wird in der Literatur als Persönlichkeit unterschiedlich beschrieben. Es gibt diesen Mythos von der tragisch verschatteten Existenz. Sie schreiben, sie sei in den meisten Phasen ihres Lebens ein glücklicher Mensch gewesen, der viel Liebe erfahren und sich wohl gefühlt habe.

Es wurden viele kurzschlüssige Folgerungen gezogen. Man hat ihre Bühnenpräsenz und ihre tragischen Rollen zum Ausgangspunkt genommen, ihre Persönlichkeit zu bewerten. Das heißt, man hat die vielen tragischen Frauenschicksale der Opern auf sie selbst projiziert. Die äußeren Umstände, besonders die Begegnung mit Aristoteles Onassis und der Verlust dieser Beziehung durch die auftretende Rivalin Jackie Kennedy, boten genügend Anlass, diese Mythen weiterzuspinnen. Aber selbst diesen Schicksalsschlag scheint sie einigermaßen schnell bewältigt zu haben, abgesehen davon, dass er mit ihrer künstlerischen Karriere nichts zu tun hat, denn er lag Jahre nach ihren großen Opernauftritten.

Was ist aus Ihrer Sicht des kritischen Wissenschaftlers der ärgerlichste Mythos über Maria Callas?

Das ist die Vorstellung, dass eine Frau aus Liebe zu ihrem Mann ihre Karriere aufgibt und dadurch in eine tragische Sackgasse gerät. Das ist vollkommen absurd: Maria Callas hat ihre Karriere aus künstlerischen und gesundheitlichen Gründen Ende der fünfziger Jahre stark reduzieren müssen und natürlich in ihrem Privatleben dann größere Erfüllung gefunden. Das eine muss man vom anderen trennen, und das geschieht in der Literatur nicht.

Ich halte es für ein sexistisches Element, Frauen grundsätzlich anders zu bewerten als Männer. Niemand käme auf die Idee, einen männlichen Sänger in gleicher Weise in einer – fast sklavischen – Abhängigkeit von einer Liebesbeziehung darzustellen. Ein Mann macht seinen Weg, aber von einer Frau wird erwartet, dass sie durch eine schicksalhafte Begegnung mit einem Mann ihre ganze Karriere verändert? Das mag man im 19. Jahrhundert erwartet haben – und diese Vorstellung scheint heute in vielen Köpfen noch so präsent, dass man einer Jahrhundertkünstlerin nicht zugesteht, auch unabhängig von Männergeschichten großartige Kunstwerke auf die Bühne zu stellen. Das finde ich sehr ärgerlich, obwohl ein guter Teil der Callas-Literatur von Frauen verfasst wurde.

Eine Frage zur Diskografie. Callas hat viel aufgenommen, es gibt auch viele Live-Mitschnitte. Welche Aufnahmen würden Sie als maßstäblich und unverzichtbar bezeichnen? Welche wären für Sie für die „einsame Insel“?

Heute hat man’s einfach, weil man mit der 131-CD-Box von Warner Classics alles mit auf die Insel nehmen kann. Aber im Unterschied zu vielen Callas-Enthusiasten würde ich die Studioproduktionen der früheren Zeit komplett mitnehmen. Sie war ja der erste Superstar in der Ära der neu entwickelten Langspielplatte. Wie Enrico Caruso durch die Schellackplatte hat Maria Callas von dieser medientechnischen Innovation profitiert. Gerade die frühen Aufnahmen sind technisch perfekte, mustergültige Interpretationen „für die Ewigkeit“, und es ist zu bedauern, dass Produzent Walter Legge kein großer Kenner des italienischen Opernrepertoires war und viele Rollen, die Callas live gesungen hat, nicht im Studio produziert hat. Umgekehrt finden viele Enthusiasten die wahre Diva in ihren Bühnenauftritten und nicht in den Studioaufnahmen.

Callas und die Region: Ihre deutschen Stationen waren Berlin und Köln.

Ja, in Köln gab es im Juli 1957 eine Jubiläumswoche der Mailänder Scala zur Eröffnung des Kölner Opernhauses. Zwei der insgesamt vier Opernvorstellungen mit Maria Callas in Deutschland fanden in Köln statt, beide Male Vincenzo Bellinis „La Sonnambula“. Die beiden anderen, zwei Mal „Lucia di Lammermoor“, gingen unter der Leitung von Herbert von Karajan in Berlin über die Bühne. Köln ist also eigentlich eine der deutschen Callas-Metropolen. Später ist sie noch öfter in Deutschland aufgetreten, aber nur in Konzerten – bis hin zu der problematischen Abschiedstournee mit Giuseppe di Stefano 1973/74.

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Arnold Jacobshagen: „Maria Callas. Kunst und Mythos“. Reclam, 367 Seiten, 38 Abbildungen. 25 Euro.




Aus dem Leben gerissen: Klavier-Festival-Intendant Franz Xaver Ohnesorg ist tot

Franz Xaver Ohnesorg, + 14. November 2023. (Foto: Mark Wohlrab)

„Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen“:  Der alte gregorianische Choral hat sich bitter bewahrheitet, als am Morgen des 15. November die schockierende Nachricht eintraf: Franz Xaver Ohnesorg, Intendant des Klavier-Festivals Ruhr, ist tot.

Man kann es kaum fassen, es dringt erst allmählich vom Verstand ins Herz vor: Der dynamische 75-Jährige, vor zehn Tagen noch brillant plaudernder Moderator einer Benefiz-Jazz-Gala in Duisburg zugunsten der Stiftung Klavier-Festival Ruhr, soll nicht mehr unter uns sein? Kein melodisches „Ohnesorg“ mehr am Telefon, kein charmanter Gastgeber mit der obligatorischen Fliege für sein kommendes, den Abschied vom Klavier-Festival markierendes Benefizkonzert in Essen, zu dem er noch einmal Musiker aus der Elite der Weltkünstler begrüßen wollte, von Martha Argerich bis Anne-Sophie Mutter? Man schaut verstört auf den Stuhl in seinem kleinen Büro und versteht nicht, dass er nie mehr hier sitzen wird, über Unterlagen gebeugt, ein Kännchen Tee an der Seite.

Franz Xaver Ohnesorg war ein Begriff in der Musikwelt, in die er 1979 mit einem Paukenschlag eingetreten ist, als der junge Orchesterdirektor der Münchner Philharmoniker den kapriziösen Sergiu Celibidache als Generalmusikdirektor gewann. Seine 16 Jahre Intendanz der Kölner Philharmonie ab 1983 waren prägend: Noch heute kursieren unter alten Hasen die Geschichten über ihn als Gründungsintendant; noch heute sind die Spuren seines Wirkens sichtbar. Sein phänomenales Händchen für das Knüpfen stabiler Beziehungen, heute zum „Networking“ vertechnisiert, sicherte den Kölnern den Genuss vieler Künstler von Weltrang. Mit Durchschnitt hat sich „FXO“ nie zufrieden gegeben.

Auch sein Intermezzo in New York ging er mit der ihm eigenen Energie und Zielstrebigkeit an. Isaac Stern, der legendäre Geiger, hatte ihn dazu gebracht, als erster nicht-amerikanischer Executive and Artistic Director die Leitung der Carnegie Hall zu übernehmen. Dass diese Zeit nur bis 2002 dauerte, ist den Berliner Philharmonikern zu verdanken. Als deren Intendant gestaltete Ohnesorg die ausklingende Ära von Claudio Abbado und den Beginn der Regentschaft von Sir Simon Rattle mit.

28 Spielzeiten beim Klavier-Festival Ruhr

So kannte man ihn: Am 1. Juli 2023 sprach Franz Xaver Ohnesorg vor dem Konzert mit Evgeny Kissin beim Klavier-Festival Ruhr in Essen. (Foto: Peter Wieler)

Das Klavier-Festival Ruhr hat er sagenhafte 28 Spielzeiten unter seine Fittiche genommen, zunächst 1996 als künstlerischer Leiter, ab 2005 als Intendant. In seinem Fall bedeutete das weit mehr als das Bestimmen einer künstlerischen Linie. Das Klavier-Festival als vollständig privat finanziertes kulturelles Leitprojekt des Initiativkreises Ruhr fordert einen Intendanten, der Jahr für Jahr die Finanzierung sichern muss.

Seine faszinierende Vielseitigkeit im Umgang mit Menschen machte ihn zur Idealbesetzung auf diesem Posten: Sponsoren, Donatoren und Förderer des Festivals können erzählen, wie „Xaver“ seinen bestrickenden Charme einsetzte, um an Ruhr, Rhein und Wupper große Klavierkunst zu ermöglichen, aber auch hoffnungsvollen jungen Pianisten einen Start in eine internationale Karriere zu ebnen. Joseph Moog oder Sergio Tiempo, die am 25. November auf dem Programm des Essener Benefizkonzerts stehen, sind ebenso Beispiele wie Fabian Müller, der fünf Preise beim ARD Musikwettbewerb 2017 abräumte und – inzwischen Professor an der Musikhochschule Köln/Wuppertal – international konzertiert.

Ohnesorg hat das Klavier-Festival zu dem gemacht, was es heute ist: das wohl weltweit größte Pianistentreffen, ein Zentrum großer, vielfältiger Klavierkunst. Ob er stolz darauf war? Wenn ja, ließ er es sich nicht anmerken, rückte immer die Künstler in den Mittelpunkt. Aber in seiner Stimme schwang der Enthusiasmus mit, wenn er berichtete, wie er beim Festival etwa George Antheils „Ballet Mecanique“ ermöglichte, wie viele Uraufführungen von Philip Glass – zuletzt sein Klavierkonzert – im Ruhrgebiet stattfanden, wie er immer wieder Pianisten dazu brachte, beim Klavier-Festival exklusive Programme zu präsentieren. Dass sein Herz besonders an der Musik von Franz Schubert hing, hat er in seiner letzten Saison vor seinem geplanten Abschied als Intendant zum 31.12.2023 immer wieder in bewegenden Worten bekundet.

Erzähler mit leuchtenden Augen

Richtig leuchtende Augen bekam er aber, wenn er von den Education-Programmen des Klavier-Festivals berichten konnte. Die Projekte für Kinder und Jugendliche, denen der Zugang zur Musik nicht in die Wiege gelegt wurde, hielt er für eine „moralische Pflicht“. Wichtig waren ihm dabei Nachhaltigkeit und Qualität. Dafür holte er sich bewährte Mitarbeiter ins Boot. „Glücklich bin ich, wenn ich in die Gesichter der Kinder in Marxloh schaue, wie sie durch unsere ‚Piano School‘ das Zuhören lernen oder bei Tanzprojekten stolz sind auf eigene Erfolge“, sagte er in einem Interview.

Faszinierender Erzähler: Franz Xaver Ohnesorg und Bundestagspräsident a. D. Norbert Lammert bei der Veranstaltung „Ein Gast. Eine Stunde“ am 23. Juni 2023 im Schauspielhaus Bochum. (Foto: Werner Häußner)

Das Erzählen lag ihm. Franz Xaver Ohnesorg hatte ein unbestechliches Gedächtnis, wusste auf Anhieb, wer wann und wo beim Klavier-Festival was gespielt hat. Als er im Juni 2023 an einem Sonntagvormittag im Bochumer Schauspielhaus in der Reihe „Ein Gast – eine Stunde“ auf der Bühne saß, sprudelte er vor Erinnerungen, Anekdoten, Bonmots. Unterhielt man sich mit ihm über Musik, zog er mühelos große Linien, beleuchtete wie selbstverständlich wichtige Details. Und er kannte buchstäblich Gott und die Welt, unter den Pianisten sowieso, aber auch unter Geigern, Cellisten, Bläsern und Dirigenten. Spannend war aber auch, wer bei ihm durchs Raster fiel. Das geschah meist durch beredtes Schweigen.

Perfektion im Dienste der Künstler

Franz Xaver Ohnesorg (links) bedankt sich bei den Künstlern des Galakonzerts des Klavier-Festivals Ruhr am 27. Oktober 2023 in der Historischen Stadthalle Wuppertal. (Foto: Peter Wieler)

Ohnesorg war ein Perfektionist, und was er von sich selbst verlangte, erwartete er auch von seinen Mitarbeitern. Alles musste stimmen, von Details des äußeren Rahmens der Konzerte bis zur hingebungsvollen Betreuung der Musiker. Er wollte „Künstlern helfen, besonders gut zu sein“ und ihnen das Musizieren leicht machen, „von der Abholung vom Flughafen bis zum idealen Saal.“ Sie sollten sich umsorgt fühlen. Große Stars und junge Pianisten dankten es ihm durch ihre Treue. Ein Lieblingsprojekt in seinen letzten Jahren waren die „Lebenslinien“: In seinen Ansprachen und in den Programmen der Konzerte zählte er gerne auf, wie oft die Künstler beim Klavier-Festival aufgetreten sind und wie lange die Verbundenheit schon währt.

Diese freundschaftlichen Beziehungen kamen nicht nur der Programmatik des Festivals zugute, sondern eröffneten dem Publikum die Chance, alle Facetten des Könnens berühmter Pianisten kennenzulernen, die Entwicklung von Künstlerpersönlichkeiten mitzuverfolgen, Legenden der Klaviermusik hautnah zu erleben, musikalische Aufbrüche und junge Talente zu bestaunen. Und wer kann sich schon ans Revers heften, eine Martha Argerich 30 mal, einen Pierre-Laurent Aimard gar 36 mal, einen Grigory Sokolov 25 mal zu Gast gehabt zu haben?

Bei einer Pressekonferenz am 22. Mai 2022 stellte Franz Xaver Ohnesorg Katrin Zagrosek, seine Nachfolgerin ab 1. Januar 2024, vor. (Foto: Peter Wieler)

Zur Ruhe wollte er sich nicht setzen, der unermüdliche Franz Xaver Ohnesorg. Sicher, er wünschte sich mehr Zeit für die Familie und für Freunde, mehr Muße für Bücher und versäumte Filme. Ehrenamtlich hatte er vor, sich um das Kölner Kammerorchester zu kümmern, dessen Trägerverein er bereits als Vorsitzender diente. Der plötzliche Tod hat einen grausamen Strich durch diese Planung gemacht.

Franz Xaver Ohnesorgs Memoiren bleiben ungeschrieben: Sie hätten mit Sicherheit viel Gewinn bei der Lektüre und manche Erkenntnis bereitgehalten. Das letzte der drei Benefizkonzerte – nach einer grandiosen Gala in Wuppertal und einem Fest für Jazz-Freunde in Duisburg – wird nun am 25. November in Essen zum Gedächtniskonzert für einen Menschen, dem nicht nur das Ruhrgebiet unschätzbar viel verdankt, sondern der bei jedem, der die Gunst hatte, ihm zu begegnen, markante Spuren hinterlassen hat. Requiescat in pace, lieber FXO!

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(Transparenzhinweis: Der Autor ist seit 2016 für die Pressearbeit des Klavier-Festivals Ruhr zuständig).




Fleisch und Geist: Dortmunder Festival „Klangvokal“ geht zurück zu den Anfängen der Oper

„Vox Luminis“ im Reinoldihaus Dortmund beim Festival „Klangvokal“. (Foto: Klangvokal)

Das Festival „Klangvokal“ in Dortmund pflegt über seinen Schwerpunkt im Mai/Juni hinaus eine Serie von Konzerten über das ganze Jahr hinweg. Letzter Höhepunkt war eine halbszenische Aufführung von Emilio de‘ Cavalieris „Rappresentatione di Anima, et di Corpo“. Damit geht das Musikfestival an den Anfang der Operngeschichte zurück.

De‘Cavalieri, ein hochgebildetes Multitalent, schrieb das allegorische Spiel im Jahr 1600 für die Bruderschaft des heiligen Filippo Neri in Rom. Jacopo Peri, der gemeinsam mit seinem römischen Kollegen mit seiner „Euridice“ am Ursprung der Oper steht, rühmt die „wundervolle Erfindungsgabe“ der Musik. In Dortmund sorgte das Ensemble „Vox Luminis“ mit einem vielfarbigen Instrumentarium nicht nur für beredte Rhythmen und variablen Klang, sondern vor allem für Transparenz, damit die kontrapunktischen Experimente, die sich über dem Generalbass erheben, deutlich zu verfolgen sind.

Cavalieris Spiel über den alten Gegensatz von Fleisch und Geist ist eindeutig für eine szenische Aufführung gedacht, denn die ersten Ausgaben enthalten Bühnenanweisungen. Kein Oratorium also, sondern eine in Szenen gegossene theologische Philosophie, geschrieben von Agostino Manni, einem Juristen, Schriftsteller und Biographen Filippo Neris. Die flüchtige Zeit – der Tenor Raffaele Giordani – äußert sich zuerst, dazu schlägt die Harfe (Sarah Ridy) eine tiefe Saite an wie den Glockenschlag einer Uhr. Der Theologe Anselm von Canterbury und der große Augustinus lassen grüßen, wenn der Verstand nach dem unstillbaren gierigen Verlangen fragt und eigentlich schon die Antwort des ganzen geistlichen Dramas vorwegnimmt: Zu erstreben ist das höchste Gut, das jedes andere Gut in sich einschließt – und das ist im christlichen Horizont des Stücks die Gemeinschaft mit Gott, die alles Sehnen stillt. André Peréz Muíño reflektiert diese existenziellen Fragen mit präsentem, brillant gebildetem Tenor.

Aber zuvor haben Körper und Geist ihren Weg der Erkenntnis zurückzulegen. Der führt über die Einsicht, dass Genuss den brennenden Durst des Menschen nur verstärkt und die Seele in sich selbst keine Befriedigung auf Dauer  erreichen kann. Giordani und seine Seelen-Partnerin – Sophia Faltas mit dem in der „alten“ Musik üblichen flach-schneidenden, vibratolosen Ton – formulieren diesen Disput sehr wort- und bedeutungsorientiert. Spannend im Sinne einer christlichen Auffassung ist, dass der Körper am Ende des ersten Aktes keinem Dualismus das Wort redet, sondern gemeinsam mit der Seele die Liebe, den Himmel, das ewige Leben und Gott, den Herrn suchen will.

Heiterkeit und Harmonie des Paradieses

Die Hindernisse, die es zu bewältigen gilt, formulieren zunächst der Counter Jan Kullmann als „Piacere“ mit seinen Begleitern Roberto Rilievi und Guglielmo Buonsanti in einem rhythmisch ausgelassenem Terzett, das in polyphoner Wirrnis endet. Das Vergnügen kann mit seiner irdischen Genuss-Botschaft nicht überzeugen. Geschliffenere Waffen zücken dann die Welt und das irdische Leben (scharf und kokett: Estelle Lefort), aber sie werden entlarvt und erweisen sich unter ihrer Verkleidung als todesträchtig. Ein Schutzengel (nicht ohne Mühe: Victoria Cassano) bestärkt die beiden Wanderer durch die Untiefen der Versuchung. Das lyrische Lamento des Körpers („Non so s’è stato bene“) und die folgende Echo-Arie der Seele sind Höhepunkte der Komposition de’Cavalieris.

Im dritten Akt erweitert sich dann der Horizont: Unter kräftiger Anteilnahme des „Guten Rats“ (Massimo Lombardi bringt eine neue Farbe ins Spiel, könnte aber die Stimme sorgfältiger kontrollieren) zeugen auch die seligen und die verdammten Seelen vom ewigen Tod und ewigem Leben (Zsuzsi Tóth und Lóránt Najbauer), bevor in einem finalen „Fest“ der Chor Heiterkeit und Harmonie des Paradieses besingen, wobei der Tenor Olivier Berten und vor allem der Altus Korneel van Neste wohlklingende, technisch befriedigende Stimmen erklingen lassen.

Die geschmückte Erde als Abbild des Himmels ist das in kraftvollen Farben gemalte musikalische Schlussbild, und sicherlich hat Emilio de‘ Cavalieri nichts gegen die Aufforderung an die „himmlischen Hierarchien“ gehabt, „neue Melodien“ zu machen. „Vox Luminis“ jedenfalls, unter der diskreten Leitung des Bassisten Lionel Meunier hat mit seiner beherzten Spielweise, seinem farbigen Instrumentarium, auch den durchaus unterhaltsamen Intermezzi und seiner Sensibilität für das gesungene Wort einen brillanten Beitrag geleistet, ein Stückchen Himmel auf dieser Erde erscheinen zu lassen.

Weiter geht’s am 10. November

Am Freitag, 10. November, setzt das Festival „Klangvokal“ die Reihe seiner Konzerte fort: Im Reinoldihaus Dortmund gestalten um 19.30 Uhr die Tenöre Emiliano Gonzalez Toro und Anders Dahlin zusammen mit dem Ensemble Gemelli Vokalmusik des italienischen Frühbarock und machen dabei auch auf unbekannte Komponisten wie Vincenzo Calestani oder Francesco Turini aufmerksam. Das Naghash Ensemble folgt am Freitag, 1. Dezember (19.30 Uhr) an gleicher Stelle mit Musik aus Armenien.

Tickets und Infos: www.klangvokal.de, Ticket-Hotline (01806) 57 00 70.    

 




„Achtung, Achtung! Hier ist die Sendestelle Berlin“: 100 Jahre Rundfunk als Massenmedium

Aus frühen Radiozeiten: historische Rundfunkempfänger im Radiomuseum Hans Necker zu Bad Laasphe. (Aufnahme von 2007: Bernd Berke)

Am 29. Oktober 1923 beginnt die Geschichte des Rundfunks als Massenmedium in Deutschland. Auf „Welle 400 Meter“ ist der Sprecher Friedrich Georg Knöpfke zu hören, wie er mit getragenem Pathos „Achtung, Achtung! Hier ist die Sendestelle Berlin, im Vox Haus“ ansagt. In Nordrhein-Westfalen und dem besetzten Ruhrgebiet startet die Radiogeschichte jedoch erst ein Jahr später.

An jenem Oktobertag, Punkt acht Uhr abends, teilt der Direktor der „Funkstunde Berlin“ den 253 Personen, die bereits eine Hör-Lizenz besaßen, mit, „dass am heutigen Tage der Unterhaltungsrundfunkdienst mit Verbreitung von Musikvorführungen auf drahtlos-telefonischem Wege beginnt. Die Benutzung ist genehmigungspflichtig. Als erste Nummer bringen wir: Cellosolo mit Klavierbegleitung, Andantino von Kreisler, gespielt von Herrn Kapellmeister Otto Urack, am Flügel Herr Fritz Goldschmidt.“

An diese erste Sendung erinnert sich Otto Urack in einem dreißig Jahre später entstandenen Interview: „… am Tag vorher hatten wir schon ein Programm zusammengestellt von einer Stunde und dieses Programm wurde am 29. Oktober vormittags nach dem Abgeordnetenhaus probeweise übertragen. Nach Ende des Konzert habe Hans Bredow, damals Staatssekretär für das Telegraphen-, Fernsprech- und Funkwesen im Reichspostministerium, angerufen: „Kinder, das hat gut geklungen, wir fangen an.“ Urack erinnert sich: „Als wir uns erkundigten, wann wir anfangen sollten, sagte er: Heute Abend.“

Anregung für ein „freudloses Volk“

Bredow erkennt weitsichtig, dass sich der „Rund-Funk“ für jedermann als neues Massenmedium eignet. Vorher hatte es nach ersten militärischen Experimenten ab 1920 die Ausstrahlung von Wirtschaftsnachrichten für Banken und von aktuellen Mitteilungen für Journalisten und Presseorgane gegeben. Bredow umreißt die Aufgabe der neuen technischen Möglichkeit, Worte und Musik zu übertragen: Der Rundfunk solle einem „freudlosen Volk“ Anregung und Freude bringen, es durch künstlerisch und geistig hochstehende Vorträge aller Art unterhalten. Er sollte mit seinen Sendungen der geistigen Verarmung der Bevölkerung entgegenwirken, für Erholung und Zerstreuung sorgen und die Arbeitsfreude steigern.

Der erste Käufer einer Lizenz ist der Berliner Zigarettenhändler Wilhelm Kollhoff. Nur mit der Hörgenehmigung kann er sich einen Radioapparat bei Telefunken bestellen. Aber schon ein halbes Jahr nach dem Start des Rundfunks überschreitet die Zuhörerzahl der Funk-Stunde die Marke von 100.000. Schnell gründen sich weitere Rundfunkanstalten: Noch 1923 der Südwestdeutsche Rundfunkdienst in Frankfurt (SWR), 1924 der Mitteldeutsche Rundfunk in Leipzig, die Deutsche Stunde in Bayern in München, die Nordische Rundfunk AG (Norag) in Hamburg und in Bremen. Da im besetzten Ruhrgebiet kein Sender eingerichtet werden darf, sendet die Westdeutsche Funkstunde AG (WEFAG) ab 10. Oktober 1924 aus Münster. Erst 1925 werden die „Nebensender“ Dortmund und Elberfeld eingerichtet; der Münsteraner Sender ein gutes Jahr später nach Köln verlegt. Die Reichs-Rundfunk-Gesellschaft in Berlin fasst 1925 die regionalen Sender unter einem Dach zusammen. Da war die Zahl der Rundfunkteilnehmer schon auf über eine Million angestiegen.

Fußball live im Radio

Das Interesse an der technischen Neuentwicklung ist gewaltig. Noch 1924 findet in Hamburg die erste Funkausstellung statt. 1925 strahlt der Nordische Rundfunk mir Richard Hughes‘ „Gefahr“ das erste Hörspiel in Europa aus. Am 1. November kommentiert Bernhard Ernst erstmals live ein Fußballspiel im Radio – eine Begegnung von Preußen Münster und Arminia Bielefeld; im folgenden Jahr schon gibt es die erste Live-Übertragung eines Länderspiels (Deutschland – Niederlande) aus Düsseldorf. 1927 ordnet die Internationale Weltfunkkonferenz in Washington Frequenzen und Wellenbereiche weltweit.

Eine Sendung aus den Pioniertagen des Rundfunks hat bis heute überlebt: Mehr als 3.500 Mal war seit 9. Juni 1929 das Hamburger Hafenkonzert zu hören, das am Sonntagmorgen ausgestrahlt wird. In dieser Zeit werden Sendeanlagen in ganz Deutschland ausgebaut, auch die Radiogeräte entwickeln sich stürmisch weiter. Der Röhrenempfänger mit Lautsprecher erobert den Markt. Die Nationalsozialisten erkennen den Nutzen des Rundfunks für propagandistische Zwecke. Die selbständigen Rundfunkgesellschaften werden aufgelöst.

Joseph Goebbels sieht in dem Medium „das aller modernste und … aller wichtigste Massenbeeinflussungsinstrument, das es überhaupt gibt“. Der „Volksempfänger“ sollte den Rundfunk weiter popularisieren. Führerreden werden übertragen, Kriegsberichtserstattung nimmt breiten Raum ein. Die pathetische Hymne aus Franz Liszts „Les Préludes“ ist bis heute vergiftet durch den Missbrauch als Ankündigung für Sondermeldungen von der Front.

„Radio Hamburg“ und der WDR

Nach dem Krieg bauen die Alliierten den Rundfunk schnell wieder auf. Schon am Tag der Besetzung Hamburgs, am 4. Mai 1945, beginnt „Radio Hamburg“ mit dem Sendebetrieb im unzerstörten Funkhaus unter der Aufsicht britischer Offiziere. Im Herbst 1945 wird in allen Zonen ein Vollprogramm ausgestrahlt. In der Sowjetzone entstand aus dem „Berliner Rundfunk“ der künftige, staatlich gelenkte Rundfunk der DDR mit fünf Programmen. Im Westen entwickeln die Briten mit dem am 1.  Mai 1948 lizenzierten Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) die spätere Struktur des öffentlich-rechtlichen Rundfunks mit einem Verwaltungsrat, bestehend aus Vertretern aller gesellschaftlichen Gruppen, als Kontrollgremium.

Die neu entstandenen Landesrundfunkanstalten schließen sich 1950 zur ARD zusammen. Am 25. Dezember 1952 fällt nach zwei Versuchsjahren der Startschuss für ein reguläres Fernsehprogramm. Die erste „Tagesschau“ einen Tag später können nur 1000 Haushalte empfangen. Am 1. Januar 1956 entstehen aus dem NWDR die beiden selbständigen Rundfunkanstalten NDR und WDR mit seinem Hauptsitz in Köln.

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Die „Geburtstagssendung“ des WDR: https://www1.wdr.de/radio/wdr3/thementag-hundert-jahre-radio-102.html?wt_mc=mail.wdr.newsletter.Happy+Birthday%2C+liebes+Radio.link

Im Technoseum Mannheim ist noch bis 12. November 2023 die Sonderausstellung „Auf Empfang! Die Geschichte von Radio und Fernsehen“ zu sehen: https://www.technoseum.de

In Königs Wusterhausen bei Berlin erinnert das Museum Funkerberg u.a. an die Sendestelle, von der 1920 das erste Rundfunkkonzert ausgestrahlt wurde: https://museum.funkerberg.de/

Historische Rundfunksendungen sind u.a. hörbar auf https://www.swr.de/swr2/wissen/archivradio/

 




Arbeitsschweiß und Maschinenrhythmus: „Stahlkocher“ als Thema eines Konzerts in Dortmund

Die Torte trägt einen Smoking, ist eingehüllt in Noten und fußt auf einer Klaviertastatur. Damit es endlich weitergeht, betätigt sich Dortmunds Generalmusikdirektor Gabriel Feltz ausnahmsweise destruktiv. Messer her, energische Schnitte, und schon landen die ersten saftigen Schokoladenkuchenstücke auf den Tellern.

Dortmunds GMD Gabriel Feltz schneidet seine Torte an. (Foto: Werner Häußner)

Das Produkt der Konditorenkunst gilt der Hommage an eine ansonsten durch und durch aufbauende Persönlichkeit: Gabriel Feltz feiert nach dem Zweiten Philharmonischen Konzert der Dortmunder Philharmoniker sein zehnjähriges Dienstjubiläum in der Stadt.

Da wird viel Harmonie bekundet: Oberbürgermeister Thomas Westphal, Theaterdirektor Tobias Ehinger und Orchestervorstand Hauke Hack singen Hymnen auf den rührigen GMD, heben Ideenreichtum, Innovationskraft, Energie und Fleiß hervor, lassen mit launigen Bonmots auch mal schmunzeln. Feltz dankt, bekundet seine Verbundenheit mit Dortmund und verteilt dann entschlossen das süße Präsent.

Künstlerisch hat das Philharmonische Konzert das Lob mit einem so originellen wie hochkarätig dargebotenen Programm unterfüttert. Einer der glückhaften Abende mit Feltz, von dem – der Kritiker hat die undankbare Aufgabe solcher Hinweise – es auch schon andere zu erleben gab. Ein Abend unter dem Motto „Stahlkocher“, denn diese Saison widmet das Orchester seiner Heimatregion, dem Ruhrgebiet. Die programmatischen Linien ziehen sich von unter Tage über Fußball, Flora und Fauna bis zum Tanz und mit der Taubenzucht auch hinauf in den früher gar nicht so blauen Himmel über der Ruhr.

Ein T-Shirt zum Jubiläum. (Foto: Sophia Hegewald)

Mit unbekannten Werken lassen die Philharmoniker also noch einmal die vergangene Landschaft der Schwerindustrie künstlerisch greifbar werden. Dass die Welt der Industriearbeit im Sozialismus zumindest dem Anspruch nach einen zentralen Schwerpunkt bildete, hat sich auch im musikalischen Schaffen niedergeschlagen. „In der Eisengießerei“ ist ein dreiminütiges Stück des in großen Musiklexika nicht auffindbaren Alexander Mossolow (1900-1973), das diesen Blickwinkel beispielhaft repräsentiert.

Mossolow, vor seiner Verurteilung als „Konterrevolutionär“ ein musikalischer Avantgardist, lässt das Orchester unter Missachtung herkömmlicher Regeln den Geräuschpegel einer Fabrik erzeugen: Lärmcluster, rhythmisches Stampfen, das regelmäßige Quietschen irgendeines mechanischen Teils, dumpfe und grelle Schläge – und dazwischen dürfen vier Hörner mit vollem Schalldruck Signale gellen lassen, bevor mit Gong und Knall die Maschinerie zum Stillstand kommt. Naturalistischer geht’s nimmer, und man fragt sich, was wohl geworden wäre, hätten Bert Brecht und Kurt Weill ihre von konservativen Kreisen in Essen hintertriebene „Ruhr-Oper“ tatsächlich geschrieben – oder Mossolow sein Ballett „Stahl“, das bis auf diesen Satz über die Fabrik unausgeführt blieb.

Mossolow hat noch andere solcher Werke wie „Die Traktorenbrigade fährt in die Kolchose ein“ hinterlassen; viele sind verschollen, fast alle wissenschaftlich unbearbeitet, aber die drei Minuten wecken Lust, zum Beispiel einmal eine seiner Sinfonien zu hören, die wohl einen wunderlichen Kontrast zu seinem Zeitgenossen Dmitri Schostakowitsch bilden würden. Denn Mossolow unterwarf sich später dem Diktat der sowjetischen Kunstdoktrin, um unauffällig sein Leben zu führen.

Das andere in den thematischen Rahmen passende Werk ist Sergej Prokofjews „Der stählerne Schritt“ op. 41, ein unverkennbares Propagandawerk, das nach Folklore-Fetzen, schrägem Pathos und verfremdetem Mussorgsky in eine hochvirtuos stilisierte Stahlfabrik führt, wo der neue „heroische“ Sowjetmensch in Richtung Kommunismus unterwegs ist. Dass die Entfremdung nicht aufgehoben ist, macht Prokofjews Musik – bewusst oder nicht – aber auch deutlich. Unter dem brutalen Stampfen des Rhythmus, dem Takt von Maschinen dem schrillen Kreischen unerkannt bleibender technischer Vorgänge droht das Individuum unterzugehen.

Vielleicht ist diese Lesart zu spekulativ: Aber Prokofjew sträubt sich dagegen. Er lässt immer wieder Soli durch die Kulisse des Lärmens brechen; zwei Fagotte haben viel zu tun, die anderen Holzbläser treten auf einmal mit einer Kantilene hervor und der Klang verschiebt sich immer wieder in neuen Instrumentenkombinationen. Die Dortmunder lassen keinen Arbeitsschweiß auf ihre Stirnen treten. Sie sind in jedem Moment souverän und reaktionsschnell bei der Sache, und Feltz plustert die dissonanten Blechbläser nicht auf, sondern strukturiert den Maschinenlärm, der weit stilisierter und „abstrakter“ gefasst ist als bei Mossolow.

Das ist eine der deutschen „Pacifics“ der Baureihe 01, wie sie Arthur Honegger musikalisch porträtiert hat. Solche Lokomotiven waren bis in die sechziger Jahre auch in Dortmund in großer Zahl anzutreffen. (Foto: Archiv Häußner)

Ein dritter Aspekt der Industrialisierung beschließt das Konzert. Arthur Honegger, wie übrigens auch Antonín Dvořák ein bekennender Eisenbahnfan, lässt in seinem Klanggemälde „Pacific 2.3.1.“ die Arbeitsgeräusche einer Schnellzug-Dampflokomotive zu einem raffinierten Musikerlebnis werden. Auch für dieses Stück kann man einen Dortmund-Bezug reklamieren: „231“ sagt in angelsächsischen Ländern etwas über Anzahl und Anordnung der Achsen einer Lokomotive. In Deutschland waren etwa die ab 1925 gebauten Dampfloks der Baureihe 01 solche „Pacifics“, und in Dortmund war bis zum Ende der Dampfzeit in den sechziger Jahren eine erhebliche Anzahl dieser Maschinen stationiert.

Das Orchester  bringt Honeggers beschreibende Musik mit Glanz und Verve zum Klingen, aber Feltz lässt sie nicht klangmalerisch schnaufen und pulsieren wie etwa Rossini in seinem köstlich-ironischen „Vergnügungszug“. Vielmehr stellt er heraus, dass Honegger eine gewitzte analytische Studie über Bewegung, Metrum und Rhythmus geschaffen hat.

Den Kontrast zu all diesen Reminiszenzen an das Industriezeitalter bildet Sergej Rachmaninows beliebtes c-Moll-Klavierkonzert op. 18, das Herz des Abends. Nikolai Lugansky hat am Anfang nicht die Entschiedenheit, den Flügel aus der Deckung des Orchesters treten zu lassen, aber die Balance findet sich rasch. Die dunkel timbrierten Streicher des Beginns münden in eine wirkungsvolle Steigerung, und dann findet der Pianist zu schwebenden Klängen, aparten Rückungen und Varianten im Tempo.

Der dritte Satz, ein „allegro scherzando“, gelingt konturenscharf, kraftvoll zupackend, aber nicht dröhnend. Brillanten Schritts geht es in Richtung Finale, es herrscht die Lust am saftigen Musizieren, das auch vor Pathos nicht zurückscheut. Rachmaninow als Gegenwelt – lassen da nicht die grünen Eilande des Ruhrgebiets grüßen, in die Denkmäler der Industrie als neue Orte einer Romantik ragen, die unseren schaffenden Vorfahren unwirklich vorgekommen wäre?

Das nächste Philharmonische Konzert, diesmal mit Christoph Altstaedt als Dirigent, trägt den Titel „Taubenzüchter“ und präsentiert Antonín Dvořáks „Die Waldtaube“, seine 9. Sinfonie „Aus der neuen Welt“ und das farbig-sinnliche Violinkonzert Erich Wolfgang Korngolds mit Anna Tifu als Solistin. Termin: 14./15. November, jeweils 19.30 Uhr im Konzerthaus Dortmund. Tickets: www.theaterdo.de, Tel.: (0231) 50 27 222.




Abschied ohne Nostalgie: Waltraud Meier hat die Opernbühne verlassen

Waltraud Meier auf der Bühne der Berliner Lindenoper. Die große Künstlerin hat ihre Karriere beendet. (Foto: Jakob Tillmann)

Eine der prägenden Künstlerinnen der Opernbühne der letzten Jahrzehnte hat Abschied genommen: In Berlin sang Waltraud Meier zum letzten Mal die Klytämnestra in Richard Strauss‘ „Elektra“. Werner Häußner kennt die Sängerin seit ihrem Debüt in Würzburg 1976 und lässt Stationen einer Karriere Revue passieren, die von 1980 bis 1983 auch nach Dortmund führte. Dort sang Meier erstmals die Kundry in Wagners „Parsifal“. Eine Rolle, die ihr 1983 den Durchbruch in Bayreuth bescherte.

Was soll man zum Bühnenabschied einer Sängerin schreiben, über die in den 47 Jahren ihrer Karriere wohl alles schon in Zeilen gefasst wurde, was öffentlich zu sagen ist? Wozu den Lebenslauf rekapitulieren, der überall nachzulesen ist; wozu das umfangreiche Repertoire aufzählen, das nun eh der Vergangenheit angehört?

Oder sollte man die Stimme von Waltraud Meier preisen, die am Freitag, 20. Oktober 2023, in der Berliner Staatsoper unter den Linden zum letzten Mal in einem Theater erklungen ist? Sollte noch einmal das „Bühnentier“ in den Vordergrund treten, das um 20.44 Uhr, nach langem herzlichem Beifall raschen Schrittes von der offenen Szene eilt, die Richard Peduzzi einst für Patrice Chéreaus „Elektra“ gebaut hat und die nun abgespielt ist?

„Tschüss“ für ein wunderbares Publikum

Waltraud Meier hat beklagt, dass heutzutage keine Blumen mehr geworfen werden. Bei ihrem Abschied in Berlin war das anders. (Foto: Jakob Tillmann)

Berlin erlebte den Bühnenabschied einer Sängerin, die mehr ist als eine verkörperte Stimme, die als „Jahrhundertsängerin“ bewundert, als „Callas der Jetzt-Zeit“ gerühmt wurde. Alle Rekapitulationen oder Lobeshymnen klingen in einer solchen Situation wie ein Nachruf, und den hätte Waltraud Meier noch lange nicht verdient und hoffentlich noch viel länger nicht nötig. Von ihrem „wunderbaren treuen Publikum“ verabschiedet sich mit einem fast schüchtern klingendem „Tschüss“ eine entschlossene Frau, bereit, das Leben nach dem Bühnendasein anzupacken und zu genießen. Wehmut? Wenn, ist er tapfer verborgen. Nostalgie oder gar Tränen? Das sind Waltraud Meiers Sachen nicht.

In Interviews hat sie deutlich gemacht: Es wird keine Rückkehr mehr geben, Altersrollen sind ausgeschlossen, und das Leben geht auch ohne Klytämnestra, Kundry, Waltraute oder Isolde weiter. Waltraud Meier hat musikalisch gesagt, was sie zu sagen hatte, jetzt ist Schluss. So kontrolliert, so entschieden und klar kennt man die Fränkin, die 1976 am Stadttheater Würzburg als Lola in Mascagnis „Cavalleria rusticana“ ihre Bühnenkarriere begann. Da hatte sie die Szene noch nicht betreten und war schon nach Mannheim wegengagiert.

Zum letzten Mal Klytämnestra in „Elektra“ von Richard Strauss, u. a. mit Ricarda Merbeth (Elektra) und Vida Miknevičiūtė (Chrysothemis). Dirigiert hat den Abschiedsabend Markus Poschner anstelle des ursprünglich vorgesehenen Daniel Barenboim, der leider nicht anwesend sein konnte. Waltraud Meier bedankte sich mit warmen Worten bei ihrem „Lebensdirigenten“: „Ich habe den ganzen Abend an ihn gedacht und er bleibt in meinem Herzen“. (Foto: Jakob Tillmann)

Was bleibt also noch übrig? Vielleicht ein paar persönliche Erinnerungen an die Anfänge von Waltraud Meiers Laufbahn, ein paar Eindrücke von Stationen dieses beinahe halben Jahrhunderts, in dem sich auch die Welt der Oper neuen Zeiten angepasst hat. Welcher Intendant würde heute eine zwanzigjährige Romanistikstudentin verpflichten, die keine „ordentliche“ Hochschulausbildung absolviert hat, beim Chordirektor des Hauses (damals war das Anton Theisen) Unterricht bekam und ansonsten „nur“ von unbändiger Lust am Singen angetrieben war? Wo fände sich noch ein Ensemble wie die Bühnenfamilie in Würzburg, die dieses Küken aufnimmt und mitträgt? Welcher Regisseur hätte noch die Geduld, mit einer unerfahrenen, aber selbstbewussten jungen Frau kleine Rollen sorgfältig einzustudieren? Aus Würzburg kann Waltraud Meier köstliche Anekdoten erzählen – sympathische Reminiszenzen an ein Theater, das es heute so wohl kaum mehr gibt.

Angeschwipst die Treppe runter

Die Lola habe ich von ihr gesehen und gehört, kann mich aber eher an die fulminante Gertraud Halasz-Kiefel erinnern, die Santuzza des Abends. Genauer steht mir die Rolle der Berta vor Augen, deren hübsche melodische Arie Waltraud Meier im Würzburger „Barbier von Sevilla“ singen durfte. Regisseur Wolfram Dehmel wollte sie als angeschwipstes, gar nicht so ältliches Fräulein eine Treppe hinuntertänzeln lassen, und in solchen Szenen zeigte sich ihre rasche Auffassungsgabe und ihre Bewegungsfreude. „Ich bin eigentlich ein Bewegungsmensch. Mein Ausdruck kommt nicht nur über die Stimme, sondern auch über den Körper, die Bewegung“, sagt sie in einem Interview.

Das war in Würzburg schon zu erkennen: Ihre Muse in „Hoffmanns Erzählungen“ und die Concepcion in Ravels „Die spanische Stunde“ profitierten nicht nur vom jugendlich frischen, warmen, dunkel-sinnlichen Klang ihres Mezzosoprans, sondern auch von diesem Geschick, eine Person mit dem Körper zu formen. Waltraud Meier stand auch in diesen Jahren nie einfach herum; sie hatte selbst dem provinziellsten Stückeeinrichter etwas anzubieten.

„Lebensfreude, Lebensenergie, Lebenslust will sich manifestieren durch Stimme. Wo das Wort nicht ausreicht, da geht die Emotion in Gesang über.“
(Waltraud Meier)

Die Stimme: Erinnerungen, die ein halbes Jahrhundert alt sind, drohen zu verblassen oder verklärter zu schimmern, als sie in der Routine-Wirklichkeit der Zeiten tatsächlich waren. Waltraud Meier sang 1976 in einer bemerkenswert atmosphärischen Inszenierung von Manfred W. von Wildemann die Alisa in „Lucia di Lammermoor“. Einer der beteiligten Sänger hatte sich einen Mitschnitt angefertigt, auf dem auch der noch nicht erstrahlte künftige Star zu hören ist.

Waltraud Meier. (Foto: Nomi Baumgartl)

Das Dokument bestätigt: Bei aller Entwicklung, die Waltraud Meier vor allem in ihren „Galeerenjahren“ in Mannheim und Dortmund durchmachte und für die sie immer wieder den Dirigenten Hans Wallat erwähnte: Die Stimme von damals ist in ihrer Klarheit und in ihrem sinnlich-individuellen Timbre unzweifelhaft identifizierbar. Der Keim des Erfolgs spross damals schon ins schummrige Licht eines stilisierten schottischen Friedhofs, mit dem Wildemann in der „Provinz“ die Oper Donizettis ernst genommen und aus der Rolle des „Primadonnenvehikels“ erlöst hat, als die sie in den siebziger Jahren an den Staatstheatern noch zelebriert wurde.

Wort und Klang durchdringen sich

Für den Belcanto hat sich Waltraud Meier in den kommenden Jahren nicht besonders interessiert. Die artifizielle Kunst des Singens, so sehr sie auch Seelenströme offenbaren kann, blieb ihr fremd. Klar, die großen Verdi-Partien, die Azucena, die Amneris, die Eboli waren von ihr zu hören – und manchmal bedauerte sie, auf Wagner festgelegt und für Verdi nicht gefragt zu werden. Aber ihre Domäne lag woanders. Nicht umsonst bestimmte Richard Wagner einen großen Teil ihres Bühnenlebens. Das „Gesamtkunstwerk“ hatte sie gepackt.

Mit Regisseuren wie dem von ihr unendlich geschätzten Patrice Chéreau, mit Dirigenten wie dem seit Jahrzehnten mit ihr verbundenen Daniel Barenboim („mein Lebensmensch“) konnte sie Musik, Wort und Szene mit der Intensität durchdringen, die für sie Voraussetzung einer gelingenden, glaubwürdigen, fundierten Interpretation ist. Das war in ihrer letzten Rolle in Berlin noch einmal deutlich zu spüren: Der Moment, in dem Klytämnestra auf extra ausgelegtem rotem Teppich aus dem Palast eilt und Ricarda Merbeth als Elektra fixiert, reißt in den wenigen Sekunden einer stummen Konfrontation dieses verdorbene Mutter-Tochter-Verhältnis auf. Und das Erschlaffen der anfangs so beherrschten Königin – „Götter … warum verwüstet ihr mich so“ – ist das erste Signal, dass diese Frau nur mit „furchtbarer Anstrengung“ Haltung bewahren kann.

„Was die Wahrheit ist, das bringt kein Mensch heraus“ singt Waltraud Meier mit der ihr eigenen Gabe, Wort und Klang zu Ausdruck zu verschmelzen. Hier ist sie, die Größe einer Sängerin, die über die schönen Töne hinaus in die Tiefe des Gesungenen dringt. Joachim Kaisers Wort von der „Callas“ wirkt in solchen Momenten zutreffend: Waltraud Meier ist nicht zum Scherzen aufgelegt, wenn es darum geht, eine glaubwürdige Figur zu erschaffen. Da arbeitete sie so hart und beharrlich wie Maria Callas. Der Scherz kommt später, in den Anekdoten, in den witzig absurden Momenten, die sich ereignen, weil auf der Bühne eben auch „nur“ Menschen arbeiten. Aber: Was die Wahrheit einer Rolle ist, das herauszubringen, war ihr Ziel.

Mit Loriot ins komische Genre

In einem der hoffentlich nächsten Gespräche werde ich ihr die Frage stellen, welches Verhältnis sie eigentlich zur „lustigen Person“ auf der Bühne hat. Komische Rollen? Ihr Repertoireverzeichnis auf ihrer Webseite verzeichnet keine einzige. Wie gut hätte man sich vorstellen können, in Otto Nicolais „Die lustigen Weiber von Windsor“ oder als Lady Billows in Brittens „Albert Herring“ ganz andere Seiten als die Wagner’sche Schwere an Waltraud Meier zu entdecken. Aber das hat sie ihrem Publikum – soweit ich mich erinnere – nur einmal wirklich von Herzen gegönnt: als Vicco von Bülow, der im November 100 Jahre alt werden würde, in Stuttgart Friedrich von Flotows „Martha“ als feine erotisch-ironische Petitesse inszeniert hat. Da war sie, Loriot zuliebe, mit allem Spielwitz dabei.

„Das hier ist das Ende einer Ära“, sagte ein Besucher der Lindenoper beim Rausgehen im Foyer. Das stimmt, weil mit Waltraud Meier eine prägende Bühnenkünstlerin der letzten 40 Jahre ihre Karriere beendet hat. Aber es stimmt auch nicht: Das Pathos, das im Begriff der „Ära“ steckt, wollte sich nicht einstellen, weil der Abschied die unverkennbar frischen Züge eines Aufbruchs trägt. Ein Aufbruch in einen neuen Abschnitt des Lebens. „Io me ne vado“, singt Lola leichtherzig bei ihrem Abgang in „Cavalleria rusticana“.

Auch Waltraud Meier hat nun die Bühne verlassen – und wie sie immer wieder beteuerte, nicht mit Herzensschwere. So wünschen wir der wunderbaren, einzigartigen Künstlerin dankbar auch für die kommenden Jahre die Leichtigkeit des Herzens und die Lebensfreude und Lebenslust, aus der heraus sie ihr Publikum 47 Jahre lang mit ihrer Stimme, ihrer Kunst und ihrem Wesen beschenkt hat.




Im Zaubernebel des Klangs: Essener Philharmoniker und Cellistin Raphaela Gromes spielen Konzert einer vergessenen Komponistin

Die Cellistin Raphaela Gromes. Foto: wildundleise

Seit Mitte August schon sind die Essener Philharmoniker wieder auf ihrem Posten. Sie haben die Spielzeit unter einer Dirigentin eröffnet und setzten sie jetzt mit dem Werk einer vergessenen Komponistin fort.

Anna Skryleva, noch bis 2025 Generalmusikdirektorin in Magdeburg, gab im August dem Saisonstart mit Gershwin und Bernstein angemessenen Schwung. Der neue Essener GMD Andrea Sanguineti präsentierte sich im Zweiten Sinfoniekonzert mit einer Rarität aus seiner italienischen Heimat, „Feste Romane“ von Ottorino Respighi, und einem sehr massiven, sehr lauten „Don Juan“ von Richard Strauss. Über ausufernde Lautstärke konnte man sich nun im Dritten Sinfoniekonzert unter Leitung des Geigers und Dirigenten Julian Rachlin nicht beschweren. Die Essener Philharmoniker spielten sich mit Diskretion und Finesse in die Herzen der Zuhörer in der Philharmonie, deren Großer Saal durchaus noch eine Hundertschaft Besucher vertragen hätte.

Schade, denn wer nicht da war, hat etwas verpasst. Das Programm ließ eine geschickt gestaltende Hand spüren: Den ersten Teil eröffnete das a-Moll-Cellokonzert op. 33 von Camille Saint-Saëns, eines der bedeutendsten Solokonzerte für dieses Instrument, gefolgt von einer Wiederentdeckung: Solistin Raphaela Gromes hatte ein Konzert der Saint-Saëns-Schülerin Marie Jaëll mitgebracht, das sich neben dem etablierten Stück mühelos behaupten kann und zum Höhepunkt des Abends avancierte. Nach der Pause zeigten die Philharmoniker, wie spannend und beredt Felix Mendelssohn Bartholdys „Schottische“ Sinfonie klingen kann, auch wenn sie nicht als Schaustück inszeniert wird.

Schottland als Inspiration

Mendelssohns Dritte Sinfonie hat nicht nur die Tonart a-Moll mit dem Cellokonzert von Saint-Saëns gemeinsam, sondern auch den Ausgangspunkt in einer klassischen Orientierung an der Form. Schottland war für den reisefreudigen Mendelssohn Quelle der Inspiration, nicht jedoch eine Ressource von Musik. Die Sinfonie hat keine folkloristischen Züge, das thematische Material stammt nicht etwa aus „schottischer“ Folklore, die der gebildete Berliner als „vulgären, verstimmten Müll“ schmähte. Es gibt wundervolle, lyrisch ausgekostete Stimmungen, es gibt erhabenes Pathos und lebhaft tänzerische Passagen. Alles ist jedoch in eine Form gebracht, die eher an die Wiener Klassik als an ein schroff-schottisches Landschaftsgemälde erinnert. Der Vergleich mag gewagt sein – aber die edle Einfalt und stille Größe erinnert ein wenig an die Zeichnungen, in denen der Komponist selbst die wilden Landschaften einfing.

Mit Blick auf die leisen Töne: Dirigent Julian Rachlin. (Foto: Janine Gulpener)

Rachlin hat in seinem Dirigat diese Züge bestätigt und nicht durch angespannte Expressivität zu verdrängen versucht. Das klingt im ersten Satz manchmal marmorfriesartig poliert, leidenschaftslos und mit Spuren von Langeweile. Das Allegro entwickelt keinen „agitato“-Biss, wird aber plastisch ausgeleuchtet. Wenn die Akkorde stampfen und der chromatische Wind heult, sind Heinrich Marschners Opern und Wagners „Fliegender Holländer“ nicht weit, aber sie treten nicht auf, sondern grüßen um die Ecke. Nicht ganz so gewollt ausgewogen der letzte Satz: Da wirft Mendelssohn Franz Liszts Schatten an die Wand, aber das Orchester wird nicht lauter oder schneller, sondern straffer.

Auch Saint-Saëns‘ Cellokonzert opfert die Form nicht der Emotion, was dem Franzosen ästhetische Vorwürfe eingebracht hat. Aber das aparte Spiel mit Triolen in variantenreicher Artikulation, die verspielten Verzierungen, die kostbar gestalteten Übergänge zwischen den Teilen der drei pausenlos aufeinander folgenden Sätze und die Verwendung des thematischen Materials lassen weder Zweifel noch Ermüdung aufkommen. Zumal mit Raphaela Gromes eine Cellistin am Werk ist, die formale Strenge und gelöst-lyrischen Ausdruck zu verbinden weiß.

Sind die Triolen des ersten Themas noch etwas verschwommen artikuliert, findet die Solistin im Wechselspiel mit den Orchesterstreichern einen intimen, leuchtenden Ton, der dramatische Zuspitzung erlaubt, ohne aufgedreht zu wirken. Die punktierten Achtel und Triolenfigürchen sind bei den Essener Philharmonikern bestens aufgehoben, die sich unter Rachlins Leitung in der Transparenz der Piano- und Pianissimo-Stellen selbst übertroffen haben. Gromes spielt verhalten, ohne sonor-blühenden Ton, aber mit luftiger Diskretion, und baut im ersten Satz eine entspannte Kadenz ohne Virtuosenhuberei auf. Dass sich die Dynamik nach 400 Takten zum Fortissimo steigert, macht das Orchester strahlend deutlich – aber knalliger Lärm bleibt tabu.

Lust auf mehr von Marie Jaëll

Die Überraschung des Abends war das F-Dur-Cellokonzert von Marie Jaëll, einer der vergessenen komponierenden Frauen des 19. Jahrhunderts. 1846 im Elsass geboren, wurde sie als Kind von dem legendären Pianisten Henri Herz unterrichtet, gab zusammen mit ihrem Mann Alfred Jaëll ab 1866 Konzerte in ganz Europa, wurde von Camille Saint-Saëns unterrichtet und vom eng befreundeten Franz Liszt beeinflusst. Bis zu ihrem Tod 1925 trat sie als Pädagogin hervor, die mit der „Méthode Jaëll“ eine von der Physiologie der Hand ausgehende Spieltechnik entwickelte. Ihr kompositorisches Erbe ist vielfältig und reicht über Solowerke zu Kammermusik für verschiedene Instrumente bis hin zu zwei Klavierkonzerten und dem in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts entstandenen Cellokonzert.

Dieses beginnt verschattet mit aufsteigenden Linien in den Celli und Kontrabässen, bevor das Solo-Cello die melodischen Motive aufgreift, mit zarter Violinbegleitung weiterentwickelt und quasi improvisando fortspinnt. Gromes entfaltet das Spiel mit dem thematischen Material, das durch sinnlich-spannende Harmonien getragen wird, und führt es durch den Zaubernebel des Klangs zum Satzfinale. Die hohen Ansprüche an die Solistin setzen sich im Andantino-Mittelsatz fort, der wie ein Notturno gedämpft anhebt, bevor lichte Bläserakkorde einen zärtlichen Abschluss herbeiführen. Im dritten Satz kann Raphaela Gromes dann Verve und Zugriff demonstrieren.

Das Konzert weckt Lust, mehr von Marie Jaëll kennenzulernen: Vielleicht ist ihr 100. Todestag 2025 ein Anlass, das Augenmerk auf diese außergewöhnliche Frau zu richten, die als eine der ersten in die Pariser Société des compositeurs aufgenommen wurde.




Das „Opernhaus des Jahres“ Frankfurt zeigt „Le Nozze di Figaro“ als schwerelose Komödie

Danylo Matviienko (Graf Almaviva) und Elena Villalón (Susanna) in der Frankfurter Neuinszenierung von Mozarts „Hochzeit des Figaro“. Foto: Barbara Aumüller

Im Frankfurter Opernhaus atmet alles Leichtigkeit. Thomas Guggeis, neuer GMD als Nachfolger von Sebastian Weigle dirigiert zum Einstand Wolfgang Amadeus Mozarts so leichtfüßiges wie gewichtiges Meisterwerk „Le Nozze di Figaro“.

Sein blonder Schopf hebt sich über die Brüstung des Grabens. Rötlich schimmern die Haare, rucken im Rhythmus eines Körpers, der dem Orchester Signale setzt. Eine Hand erscheint, dreht sich, winkt, zeigt, kommandiert, schlängelt sich um ein scheinbar ohne Widerstand bewegliches Gelenk. Das diskret alle Nuancen ausspielende Orchester zieht so federnd und flexibel mit, als würde Rossini den Musikern Bögen, Tasten, Klappen, Ventile und Schlägel führen.

Und Tilmann Köhlers Regie kleidet Beaumarchais‘ und da Pontes untergründig aufgeladene Komödie entsprechend in gewichtslose Beweglichkeit, bei der die jungen Darsteller mit Freude und Witz dabei sind. Bedeutung wird nicht vorgezeigt, nicht aufgesetzt, sondern ergibt sich wie von selbst aus der Bewegung eines Augenblicks, einem betonten Gang, einer kräftiger nuancierten Geste. Nichts wirkt schwer, wir blicken auf keine Atlanten, die das Gewölbe einer Deutung zu tragen hätten. Sogar das Finale lässt einen „glücklichen“ Ausgang offen: Der fast schon genetische Pessimismus heutigen Post-Regietheaters ist lustvoll mit leichter Hand gebannt. Das tut, gerade bei Mozarts quirliger, nervöser, manchmal hyperaktiver Musik richtig gut!

Schmerz in luftigem Gewand

Die sich beißenden Farben der Kostüme zeigen: keine Harmonie zwischen Graf und Gräfin (Adriana González). Foto: Barbara Aumüller

Das heißt nun nicht, dass Köhler die verschattete Seite der Medaille gnadenlos trivial wegleuchtet. Die kindlich-feine Verzweiflung der – reizend gesungenen – Barbarina Karolina Bengtssons lässt ahnen, wie sich Schmerz in luftiges Gewand hüllen kann. Und wenn die Gräfin in sattem Rot ihrer Robe auftritt, weht Melancholie durch den Saal. Thomas Guggeis wandelt dann die musikalischen Haltung hin zu einem träumerischen Impressionismus, den Adriana González auch vokal verströmt, wenn sie ihre Piano-Phrasen korrekt auf den Atem legt und sich nicht, wie manches Mal im Ensemble, auf zweifelhaft gelagerte Töne verlässt.

Aber auch dieser Hauch der anderen, der seelenmörderischen Welt strömt schwerelos: Die Qual enttäuschter Liebe trägt ja für die Außenwelt oft komische Züge; das Weh der bitteren Erkenntnis einer verdorbenen Lebenschance muss nicht zwangsläufig Betroffenheit oder Empathie auslösen. Das ordnet die Figur der Gräfin Rosina in die Komödie ein, macht aber ganz behutsam auch ihre endlose Einsamkeit spürbar. Wenn sich solche feinsten Charakter-Schattierungen vermitteln, ist Regie – auch ohne spektakulären Zugriff – gelungen.

Auch Thomas Guggeis kann im Graben getrost auf Spektakel verzichten. Er versteht die endlosen Achtelketten Mozarts als den dynamischen Triebimpuls der Musik, die vorwärts strebt, keine Pause einlegen will. Das passt zum Tempo der Musik, die ja „presto“ drängt und drängt und selbst im Innehalten den nächsten Impuls zum Lospreschen kaum zurückhalten kann. Guggeis macht aber auch deutlich, wo dieser hurtige Fluss auf Klippen stößt und scharfe Kanten umspülen muss: Die Bläser grätschen scharf dazwischen, wenn sich Figaro und Susanna in die Wolle kriegen, und die Dissonanzen im Umgang der Personen hallen nicht nur in Kostümen von Susanne Uhl, sondern auch im Orchester deutlich wider.

Ungeduldige Energie hat ihren Preis

Bei all der luftigen Präzision, dem ziselierten Tempo, das die Streicher des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters vorlegen, den lichtvollen Bläserakkorden und den sanft, aber mit Kontur getupften Staccati ist es kein Wunder, dass Guggeis nach dreieinhalb Stunden herzlich gefeiert wird. Aber man hört auch, dass der jugendliche Überschwang und die ungeduldige Energie einen Preis haben: Die Ouvertüre gerät überraschend flach, das Wechselspiel von Flöten und Klarinetten auf der einen aufsteigenden, Oboe und Horn auf der anderen absteigenden Seite bleibt beiläufig, die Doppelachtel der Bläser in Takt 16 und 17 sind nicht deutlich artikuliert, so wie zuvor die Violinen ihre Mini-Verzierungen nicht ausformen können.

„Presto“ ist, das ist den Mozart-Tempolimitgegnern á la Currentzis immer wieder vorzuhalten, eben eine Musizierhaltung, und keine Anweisung, sich das „Blaue Band“ der Orchesterrennen zu holen. Ein organischer Atem lässt selbst bei raschestem Puls Zeit, Melodie zu formen und Details zu modellieren. Schnappatmung verbreitet nur Hektik. Und das ist keine Frage der Virtuosität des Orchesters, dessen Mitglieder wohl in allen Taktschnellen den Kopf über Wasser halten können. Guggeis vergibt sich so manche Chance, den Klang plastisch zu gestalten, die Haltung zu wechseln, mit der Varietät des Tempos Ausdruck zu gestalten. Aber so, wie er dirigiert, wie er dann wieder den Sinn von Ensembles, von ariosen Momenten, von Rhythmus-Coups Mozarts erfasst, mag man getrost sagen: Kommt noch!

Was Guggeis als glückliche Wahl für die Oper Frankfurt qualifiziert, ist seine Expertise im Umgang mit den Sängern. Es ist ein Vergnügen zu beobachten, wie klar er durch komplexe Ensembles führt, wie er den Menschen auf der Bühne hilft, wie er dadurch Präzision und souveräne Leichtigkeit erreicht, auch, wie er selbst am Flügel die Rezitative mit witzigen Erinnerungsmotiven verziert. So kann Kihwan Sim seinen klangvollen Bassbariton frei entfalten und seinem Konkurrenten, dem Grafen von Danylo Matviienko Paroli bieten. „Non piu andrai“, von ausnehmend aparten Bläsern veredelt, vertrüge deutlicher ironische Farben in der Stimme. Matviienko hebt dagegen mit seiner stimmlichen Eleganz hervor, dass er das Spiel der Geschlechter durchaus als solches verstehen will, manchmal vordergründig gefasst, aber nie harmlos.

Vollendete Studie eines Zwischenwesens

Ganz zeitgenössisch, auch im Kostüm: Kelsey Lauritano (links) mit der Gräfin (Adriana González) als Cherubino – ein Wesen ohne festgelegte Geschlechtssignale. Foto: Barbara Aumüller

Kelsey Lauritanos Cherubino ist eine vollendete Studie eines Zwischenwesens, das sich im Labyrinth der Geschlechter erst orientieren muss. Die Sängerin gestaltet eher hell und brillant als mit sanften Mezzorundungen; ihr „Non so piu cosa son …“ huscht wie ein Irrwisch vorbei, ein rastloser Spuk ohne die Chance, auf differenzierte Artikulation. Auch „Voi che sapete“ könnte Lauritano sicher bewusster ausformen, würde ihr der Dirigent eine Spur mehr Zeit geben. Elena Villalón brilliert als Susanna in den Ensembles mit einer fabelhaften Sprach-Musik-Sensibilität. Zwischendurch will es ihr nicht gelingen, die Stimme im Körper zu halten – die Töne werden spitz und kopfig. Aber ihre Arie im vierten Akt ist ein Musterbeispiel bewussten, makellosen Singens.

Dass Frankfurt nicht umsonst zum wiederholten Mal den Titel „Opernhaus des Jahres“ eingeheimst hat, ist nicht nur der exquisiten Spielplanpolitik von Intendant Bernd Loebe zu verdanken, sondern auch seiner Ensemblepflege. Die zeigt sich in diesem „Figaro“ von ihrer besten Seite: Die kleineren, dennoch wichtigen Rollen sind mit der leuchtenden Cecilia Hall als Marcellina, dem wunderbar diskret polternden Donato di Stefano als Bartolo, dem fast zu schönstimmigen jungen Tenor Magnus Dietrich als Basilio und dem bewährten Franz Mayer als Antonio durchweg vorzüglich besetzt. Sie alle nutzen die Chance des neutralen Bühnenkastens von Karoly Risz, der sich mit raumhohen Drehlamellen durchlässig oder verschlossen geben kann: Hier triumphieren nicht die Szenerie, nicht die Atmosphäre, sondern die Darsteller.

Weitere Vorstellungen: 12., 14., 21. Oktober; 28., 30. Dezember 2023; 5., 7., 18., 21. Januar 2024. Info: https://oper-frankfurt.de/de/spielplan/le-nozze-di-figaro_3/




Wer hat die Nase vorn? „Parsifal“ in Düsseldorf und Hannover

Szene aus dem dritten Aufzug des „Parsifal“ in Düsseldorf mit Daniel Frank (Parsifal) und Sarah Ferede (Kundry). (Foto: Sandra Then)

In Düsseldorf steht er mit leeren Händen im gleißenden Licht, der neue Gralskönig Parsifal. In Hannover bleibt von den Wirrnissen der Ritter- und der Klingsor-Welt ein Kind übrig. Erlösung wird der Welt in beiden Inszenierungen nicht zuteil. Die Sicht auf Richard Wagners „Bühnenweihfestspiel“ ist pessimistisch, bei allen Unterschieden. Und die sind markant, in der szenischen wie in der musikalischen Gestaltung.

Die Premiere in Düsseldorf bringt den viel gelobten „Parsifal“ aus Genf an den Rhein, in einer minimalistischen Regie von Michael Thalheimer, der in der letzten Spielzeit einen faszinierenden Verdi-„Macbeth“ an der Deutschen Oper herausgebracht hat. Auf der Drehbühne (Henrik Ahr) ein Podest, abgeschlossen nach hinten durch eine mittig vertikal geteilte, schmutzigweiße Wand, horizontal gegliedert durch einen Querbalken. So ergibt sich ein Kreuz, einziger Hinweis auf die christlichen Konnotationen von Wagners Weltabschiedswerk.

Der künftige Erlöser schreitet strahlend weiß aus diesem Spalt auf eine Fläche, auf der Gurnemanz, ein stattlicher, gebrochener Mann, allzu hörbar schlurfend seine Runden dreht. Bis zu den Hüften muss er einmal im Blut gestanden haben – so wirkt jedenfalls sein schwerer Mantel. Das Blut holt alle ein: Die Gewänder von Michaela Barth, in denen die Gralsritter geistern, sind rot verschmiert; Kundry malt im dritten Aufzug unentwegt den Kernsatz des Werks wie eine Beschwörungsformel an die Wand: „Durch Mitleid wissend der reine Tor. Parsifal“. Die Sphäre Klingsors ist schwarz und vertikal gebrochen – die Rückseite der Welt der Gralsgesellschaft.

Woher das Blut, woher die Schuld? Thalheimer verweigert die Antwort, so wie er seinen „Parsifal“ überhaupt strikt von Deutung frei hält und damit bisweilen Bedeutung gefährdet. Mit den Mitteln minutiöser Personenführung und der peniblen Planung von Gesten und Gängen schafft Thalheimer ein zugespitztes Kammerspiel, das die Gefahr öder Langeweile bannt, weil die Figuren auch durch die szenische Konzentration der Darsteller selbst in langen Passagen gesungener Texte spannend und lebendig bleiben. Dieser „Parsifal“ hat viel mit der Magie des Spielens zu tun und ist deshalb auch ein Stück faszinierendes Schauspieler-Theater.

Vollgepackte Bühne in Hannover

Der Kontrast zu Hannover könnte nicht größer sein: Dort inszeniert einer der neuen Mode-Regisseure, der Isländer Thorleifur Örn Arnarsson, designiert für „Tristan und Isolde“ in Bayreuth 2024. Er schafft es, auf der vollgepackten Bühne von Wolfgang Menardi trotz ausgiebigen Einsatzes von Licht, Nebel und Personal langatmige Ödnis zu verbreiten. Auch bei Arnarsson gibt es verlangsamte Bewegung, wankende Choraufmärsche wie weiland bei Wolfgang Wagner, aber auch Schreiten und Stolpern, Holpern und Rennen, dazu einen nervigen Umbau bei offener Bühne, ein auf- und abfahrendes Gerüstpaneel mit Neonröhren über einem rätselhaften Becken, und verkohlte Baumstämme, die uns die wie auch immer geartete Katastrophe signalisieren und am Ende des ersten Aufzugs erwartungsgemäß nach oben entschweben.

Irgendwie Katastrophe: Die Bühne von Wolfgang Menardi für den „Parsifal“ in Hannover, hier mit Marco Jentzsch (Parsifal) und Shavleg Armasi (Gurnemanz). (Foto: Sandra Then)

Im Klingsor-Akt umschließt ein weißer Kasten eine steril-museale Landschaft, bevölkert von lethargischen Frauen mit aufgemalten primären Geschlechtsmerkmalen auf halbtransparenten Verschleierungen (Kostüme: Karen Briem). Das Gespräch zwischen Parsifal und der unruhig auf und ab tigernden Kundry wird zum finalen Durchhänger eines mit geschäftigen Leerläufen gesegneten Abends. Der im Interview im Programm zitierte C.G. Jung mag erklären, warum Arnarsson Amfortas und Klingsor vom selben Sänger – dem energisch, rotzig und gewalttätig, aber auch erbarmenswert schmerzvoll singenden Michael Kupfer-Radecky – verkörpern lässt. Aber die zentrale Idee der Regie wirkt trotz Psychologie als bloße Bedeutungs-Behauptung: Parsifal erscheint als Kind, junger Erwachsener und reifer Mann, um seine Entwicklung erfahrbar zu machen. Doch die Doppelungen und Mehrfachauftritte von Sänger Marco Jentzsch mit den Kindern Maximilian Blossfeld und Leandro Klyszcz vermitteln keine konzentrierte Erzähllinie.

Steril und ohne Blumenzauber: Klingsors Welt in Hannover. Im Zentrum Michael Kupfer-Radecky. (Foto: Sandra Then)

Was am Ende des Assoziationstrubels bleibt, als die blendende Weißlichtfläche, die wohl den „Gral“ symbolisieren soll, endgültig zur Hölle gefahren ist und die Gralsritter ihre Hörnerhüte – eine Assoziation an Hägar-der-Schreckliche-Helme und Frickas Widder – abgelegt haben, bleibt unklar. Die Sinnlosigkeit jeder Entwicklung? Das Kind – der Anfang der immergleichen Geschichte? Das Panorama vergeblicher menschlicher Versuche, der Akzeptanz des immerwährenden Leids der Welt zu entkommen? Das Gefühl der Erlösung jedenfalls wird nur in der erleichterten Erkenntnis spürbar, dass der Abend endlich zu Ende geht.

Spannungsreiches Klangbild

Musikalisch allerdings hätte er noch länger dauern dürfen, denn der Hannoveraner GMD Stephan Zilias spornt das vorzüglich auf Wagner eingestellte Niedersächsische Staatsorchester zu einem lebendigen und spannungsreichen Klangbild an. Man mag über das eine oder andere langsame Tempo an der Grenze zum Zähen streiten, man mag manche Steigerung für zu überbordend halten – am fabelhaften Eindruck des Abends ändert das nichts.

Zilias zeigt, dass „Parsifal“ sich nicht im Rausch der Linien erschöpft, dass die psychedelische Verführungsabsicht Wagners keineswegs das bestimmende Element der Musik sein muss, wie offenbar ein hartnäckiger, Protest im Publikum hervorrufender Buh-Rufer annimmt. Deutlich wird vielmehr, dass die Musik aus Konturen lebt, dass der Klang ausdifferenziert werden will, dass Einsätze, Farb- und Haltungswechsel nicht nur unmerklich ineinander übergehen, sondern akzentuierenden Zugriff brauchen. Auch der Chor von Lorenzo da Rio verliert sich nicht im Säuseln, lässt im marcato auch die aggressive Note dieser Gesellschaft erkennen. In den Fernchören gibt es schmerzhafte Wackler, das ist aber auch in Düsseldorf nicht anders, wo Gerhard Michalski seine Herren auf satte Sonorität und entschieden drängenden Gleichklang getrimmt hat.

Axel Kober in Düsseldorf, mit der Erfahrung des Bayreuther „Abgrunds“ im Sinn, liest die „Parsifal“-Partitur mischklangverliebter, aber auch mit Lust an langsamem, im ersten Aufzug zerfließend lahmendem Zeitmaß. Die Düsseldorfer Symphoniker zeigen in den Violinen wenig Kontur, bleiben im Finale zu sehr im Hintergrund und ohne Magie. Für die sensualistischen Provokationen der Klingsor-Welt produziert das Orchester nur gedeckte Farben und schalen erotischen Kitzel.

Sänger-Triumphe an beiden Häusern

Düsseldorf: Hans-Peter König (Gurnemanz) und Sarah Ferede (Kundry). (Foto: Andreas Etter)

Gesungen wird an beiden Häusern sehr achtbar, teilweise auf einem Niveau, das man sich für Bayreuth wünschen würde. Der Trumpf in Düsseldorf heißt Hans-Peter König: ein beispielhafter Wagner-Sänger, klangvoll im Timbre, ausgeglichen in der Tonproduktion, wortverständlich und mit musikalischen Nuancen gestaltend. Ein großartig erzählender Gurnemanz. Aber auch Luke Stoker als präsenter Titurel überzeugt auf ganzer Linie. Michael Nagy erscheint im Zentrum der sich kreuzenden Linien der Bühne als blutige Christus-Assoziation und singt entspannt und expressiv – ein markanter Kontrast zum Klingsor von Joachim Goltz, der mit bewusst gehärteten, schneidenden Tönen und konzentriert fokussierend aus dem verstoßenen einstigen Gralsritter die grimmige Enttäuschung und den Willen zur Vergeltung herausstößt.

Daniel Frank, der Düsseldorfer Parsifal, wirkt zunächst recht dünnstimmig und grell, fängt sich im zweiten Aufzug und kann im dritten beweisen, dass er mit Kern und gesichertem Klang aussingen kann. Sarah Ferede wird in die Partie der Kundry noch hineinwachsen: Ihr Auftritt im Reiche Klingsors beginnt imposant, ihren Schmeicheltönen fehlt es nicht an Schmelz. Die letzte Rundung, die Souveränität über die Momente des Extremen, das Vermeiden von Schärfe in der Kraft fordernden Höhe sind noch nicht ausgereift. Auch Irene Roberts, die Kundry in Hannover, ist noch nicht so weit: Lautstärke ist keine Garantie für die Intensität des Ausdrucks, eine Stimme am Limit wirkt eher gefährdet als gefährlich und das Vibrato darf kontrollierter sein.

Der Star in Hannover heißt Michael Kupfer-Radecky – in Bayreuth war er Wotan in der „Walküre“ und Gunther in der „Götterdämmerung“. In der Doppelrolle Amfortas/Klingsor versteht er es, das Gemeinsame der ähnlichen existenziellen Verletzung, aber auch die Spannung zwischen den beiden so unterschiedlichen Charakteren herauszuarbeiten. Sein Bariton ist kraftvoll, aber nicht übermächtig, der Klang konzentriert, ohne verfestigt zu wirken. Kupfer-Radecky legt die Seele der Worte frei, und allenfalls in der einen oder anderen Verzerrung eines Vokals macht sich bemerkbar, wie viel Einsatz und Mühe hinter einer solchen Gesangsleistung steckt.

Daniel Eggert rückt als Titurel nicht in den Vordergrund; er singt klangschön zurückhaltend, Shavleg Armasi ist ein beredter Gurnemanz, der dieser Figur eine sympathische menschliche Note mitgibt – kein Grund, Missfallen zu äußern, wie es am Ende vom Rang herabschallte. Marco Jentzsch entkleidet den Parsifal in Hannover jeder heldischen Attitüde, hat aber nicht die Reserven, um die plötzliche Einsicht nach dem Kuss Kundrys und die daraus folgende Entschlossenheit zu beglaubigen. Zumal der Tenor auch im Lyrischen dünn wirkt, Piani nicht gestützt sind und die ausgemergelte Schärfe des Tons in dramatischen Momenten nur lautes und explosives Stemmen erlaubt. Dennoch bleibt es dabei: Musikalisch hat Hannover wegen der Klasse des Orchesters und einem spannungsvolleren Dirigat die Nase vorn, szenisch muss sich Düsseldorf vor dem Aufwand auf der niedersächsischen Bühne in keinem Augenblick verstecken.

Vorstellungen in Düsseldorf: 1., 15., 21.10.2023; 29.03., 07.04.2024. Info: https://www.operamrhein.de/spielplan/kalender/parsifal/1285/?a=termine

Vorstellungen in Hannover: 3., 8., 15., 22., 31.10. Info: https://staatstheater-hannover.de/de_DE/programm-staatsoper/parsifal.1343152

 




Abschluss einer Ära: Hermann Max nimmt Abschied vom Festival Alte Musik in Knechtsteden

Hermann Max und seine Ensembles beim Eröffnungskonzert des Festivals Alte Musik Knechtsteden. (Foto: Michael Ratsmann)

Das mit den Kränzen, die den Mimen von der Nachwelt nicht geflochten werden, galt lange auch für ausübende Musiker. Erst Platten, Bänder und Speicher halten fest, was sonst ein flüchtiges Opfer der unaufhaltsam verrinnenden Zeit gewesen ist.

Hermann Max, der mittlerweile 82jährige Doyen der historischen Aufführungspraxis, hat mit vielen Rundfunk- und über 60 CD-Aufnahmen die Entwicklung seiner Klangästhetik dokumentiert, noch vor den ersten Anfängen des 1992 von ihm gegründeten Festivals Alte Musik Knechtsteden  bis in die Gegenwart – mit einem Passionsoratorium von Gottfried Heinrich Stölzel im Jahr 2021. Die Nachwelt hat also die Chance, die von Friedrich Schiller bedauerten fehlenden Kränze zu flechten.

Nun nimmt Hermann Max Abschied von „seinem“ Festival und lässt in acht Konzerten noch einmal die Musikerdynastie der Bachs feiern. Neben den berühmtesten aus allen „Bächen“, Johann Sebastian, treten Vorfahren, Verwandte und Nachkommen aus dem 16. bis in 19. Jahrhundert. Natürlich mit von der Partie sind die von Max gegründete „Rheinische Kantorei“ und „Das kleine Konzert“. Eröffnet hat der Bach-Medaillenträger des Jahres 2008 seine letzte Konzertreihe mit einem „Familientreffen“ der Bachs: Johann Christoph, Johann Ludwig, Carl Philipp Emanuel, Johann Christian, Johann Christoph Friedrich, Wilhelm Friedrich und natürlich Johann Sebastian fanden sich zusammen zu einem festlichen Pasticcio großartiger Musik. Ein Programm, das für eine der Leitlinien im Musikerleben Max‘ steht: Verschollenes entdecken, auf Rares aufmerksam machen, Unterschätztes ins rechte Licht rücken.

Aus der Verwandtschaft Bachs

Schauplatz der meisten Festivalkonzerte ist die romanische Basilika von Knechtsteden. (Foto: Werner Häußner)

In diese Linie gehört auch das Konzert in der Wochenmitte, bei dem in der romanischen Basilika der ehemaligen Prämonstratenserabtei Knechtsteden (auf dem Gebiet der Gemeinde Dormagen) Motetten von Bach-Familienmitgliedern erklangen. Rund 150 Lebensjahre durchmessen die sechs aufgeführten Motetten, die bei Begräbnissen bedeutender Persönlichkeiten gesungen wurden und entsprechend Themen von Trauer, Trost, Trübsal und Hoffnung behandeln. In allen Werken ist spürbar, wie hoch entwickelt die Komponisten das Wort-Ton-Verhältnis gestalten, wie sehr ihnen die Aussage der Texte am Herzen liegt, und wie bestrebt sie sind, in kunstvoller Anlage der Musik zu ihrem Recht zu verhelfen.

Der älteste der aufgeführten Meister ist Johann Christoph Bach, den Johann Sebastian als einen „profonden Componisten“ schätzte. 1642 in Arnstadt als Sohn von Heinrich Bach geboren und 1703 in Eisenach verstorben, hinterließ er rund ein Dutzend Motetten. „Der Gerechte, ob er gleich zu zeitlich stirbt“ ist im sogenannten Altbachischen Archiv überliefert. Die Ruhe des „Gerechten“ wird in der getragenen Einleitung versinnbildlicht, wenn er gleichsam unter einem großen musikalischen Bogen gelegt ist. „Er gefällt Gott wohl und ist ihm lieb“ schildert dann in aufsteigender Bewegung auch die Freude, endlich aus dem „bösen Leben“ zu enteilen.

Ob die Motette „Ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn“ von Christoph oder von Johann Sebastian Bach stammt, ist nicht klar, denn in Leipzig wurden unter Bach auch Werke von Johann Christoph aufgeführt. Die an den Vatergott gerichteten Worte aus dem Buch Genesis des Alten Testaments werden theologisch neu interpretiert, wenn sie mit dem Einwurf „mein Jesu“ auf den Erlöser der Christen hin bezogen werden. Die herbe Harmonik dieses Werks fällt auf: Der Ernst der Bitte drückt sich in der Musik aus.

Ausgeprägte Persönlichkeiten

Edzard Burchards leitet das Motettenkonzert in Knechtsteden. (Foto: Michael Ratsmann)

Bestens dokumentiert und eindeutig Johann Sebastians Feder entsprungen ist „Der Geist hilft unser Schwachheit auf“. Die Musik hat wenig vom getragenen Trauerpathos des 19. Jahrhunderts, sondern ist leicht und lebhaft: Der „Geist“ ist eben nichts Statisches, sondern bewegte Energie und inspirierender Beweger. Der Inspirator am Pult, Edzard Burchards, verdeutlicht das durch straffe Tempi; die reiche Polyphonie mündet am Ende in ein leuchtend harmonisches Halleluja.

Wie unterschiedlich sich trotz der Konventionen der geistlichen Musik der persönliche Stil des jeweiligen Komponisten ausformt, macht die Motette „Wir wissen, so unser irdisches Haus dieser Hütten zerbrochen wird“ von Johann Ludwig Bach deutlich. Der entfernte Verwandte des Leipziger Thomaskantors, 1677 in Thal bei Eisenach geboren, war bis zu seinem Tod 1731 Kapellmeister am Hof zu Meiningen. Elf Motetten aus seiner Hand sind in der Weimarer Anna-Amalia-Bibliothek überliefert. Ludwig Bach macht aus dem Gegensatz der irdischen Hütten zu den verheißenen himmlischen Wohnungen ein expressives Mini-Drama: „Wir wissen“ erklingt betont, in einer Generalpause wird die melodische Linie gekappt und das Wort „zerbrochen“ tatsächlich in zwei Teile gespalten.

Carl Philipp Emanuel Bach, das zeigt die vierstimmige Motette „Oft klagt dein Herz, wie schwer es sei, den Weg des Herrn zu wandeln …“, gehört dann einer anderen Zeit an. Nicht mehr die kontrapunktische Arbeit, die lebendige Polyphonie stehen im Vordergrund. Er vertraut den Ausdruck der Melodie an, auf der die Worte kontinuierlich getragen statt im Einzelnen musikalisch ausgedeutet werden. Das Pathos etwa der Opern Christoph Willibald Glucks oder Antonio Salieris ist nahe.

Das Solistenensemble der Rheinischen Kantorei und die Continuo-Gruppe von „Das kleine Konzert“. Foto: Michael Rathmann

Das Solistenensemble der Rheinischen Kantorei mit acht Sängern widmet sich diesen unterschiedlichen musikalischen Stilen so engagiert wie kompetent. Burchards hatte sich entschieden, die Motetten nicht – nach dem Ideal des 19. Jahrhunderts – unbegleitet singen zu lassen. Er lässt die Stimmen von der Continuo-Gruppe von „Das kleine Konzert“ begleiten. Sibylle Huntgeburth (Cello), Miriam Shalinsky (Violone) und Johann Liedbergius (Orgel) sind einfühlsame Partner des Gesangsensembles: Die begleiteten Stimmen klingen runder, die harmonischen Verläufe wirken wie von Brokat umkleidet, auch einzelne Schärfen oder Missverhältnisse in der Balance werden ausgeglichen.

Die Flexibilität der Stimmen, die Intonation, die Expressivität des Wortes, die noble Emphase des Klangs, die Präzision in Fugen und polyphonen Abschnitten sind auf dem professionellen Niveau, das man von Hermann Max‘ Ensembles gewohnt ist. Lediglich der Sopran tut sich schwer, sich in den Klang einzufügen: Forcierte, grell und flach gesungene hohe Töne stören die Balance. – Zum Abschluss des Programms trug „Jesu meine Freude“ in kunstvoller Ausformung zur Freude der Zuhörer in der Basilika bei, die nicht zuletzt auch Flóra Fábri mit vier Duetten aus der „Clavier Übung“ Johann Sebastian Bachs vital befeuerte: Ihr nobles Spiel an der Truhenorgel war eine willkommene „Gemüths Ergezung“.

Seinen Abschied nahm Hermann Max am Samstag, 23. September, in einem festlichen Konzert in der Abteikirche, das vier Kantaten aus dem Frühwerk Bachs vor seiner Leipziger Zeit vorstellte – krönender Abschluss einer Festival-Leitung, die man getrost als Ära bezeichnen darf.

Das Festival Alte Musik in Knechtsteden (Gemeinde Dormagen) findet alljährlich im September statt. Info: https://knechtsteden.com/