Sophie-Mayuko Vetter zelebriert beim Klavier-Festival Ruhr die Klangfarben der Melancholie

Die Pianistin Sophie-Mayuko Vetter, mit verharrender Hand dem Klang nachspürend. Foto: Mark Wohlrab

Die Pianistin Sophie-Mayuko Vetter, mit verharrender Hand dem Klang nachspürend. Foto: KFR/Mark Wohlrab

Manchmal gibt es diese Abende. Die uns noch eine Zeit lang beschäftigen. Die nachwirken ob dessen, was es zu hören gab. Die dem Publikum Konzentration und Geduld abverlangen, außerdem die Bereitschaft, mehr zu wollen als pure Unterhaltung. So wie jetzt beim Auftritt der Pianistin Sophie-Mayuko Vetter, deren Programm sich als überwiegend dunkel tönender musikalischer Kosmos entpuppt. Wo Disparates auf lineare Poesie trifft, Melancholie auf trotziges Aufbegehren.

Vetter widmet sich, als Gast des Klavier-Festivals Ruhr, einem Werkkanon, der abseits jener üblichen Beethoven-Chopin-Schumann-Linien anzusiedeln ist, die uns allenthalben entgegen tönen. Sie erkundet die  schwärmerische, nachtschwarze, todesnahe Seite der Romantik und wagt, davon ausgehend, einen Blick zur Moderne. Das geschieht ohne nennenswerte körperliche Außendarstellung, nur manchmal schweben der Pianistin Hände über der Tastatur – wie ein kurzes Innehalten, um dem gerade Erklungenen noch mehr Nachdruck zu verleihen. Ohnehin scheint sie mit der Musik verwachsen,  mit dem Wechselspiel von Akkorden, Phrasen und Harmonien fest verwoben.

Der Auftritt der Deutsch-Japanerin in Holzwickede (Haus Opherdicke) ist jedenfalls von bezwingender Intensität. Wenn sie Richard Wagners kaum gespielte As-Dur-Sonate interpretiert, des Komponisten Liebeserklärung an Mathilde Wesendonck, dann entwickelt Vetter aus größter Ruhe heraus eine mehr und mehr ungezügelte Schwärmerei, verbunden mit sublimer Farbgebung. Und bereits dieser Beginn macht deutlich, dass die Solistin aus innerer Notwendigkeit heraus all ihr Können in die Waagschale legt. Um dem Publikum zu sagen, dass Musik hören mehr ist als nur Plaisir.

Es mag auch kein Vergnügen aufkommen, wenn Liszts Trauermusik „Am Grabe Richard Wagners“ aufklingt, stockend und düster, das Grübeln über den Tod inbegriffen. Oder wenn Liszts Spätwerk „Unstern. Sinistre. Disastro“ ertönt – des alten Meisters dumpfes Grollen und stampfendes Klagen über das Wüten der Welt sowie sein sanftes Singen über die Einsamkeit. Natürlich reizt die Pianistin hier die dynamische Bandbreite voll aus, doch nie wirkt ihr Spiel in dem kleinen Saal knallig. Und alles ist zuerst Klang.

Das verwundert kaum, denn Sophie-Mayuko Vetter hat auch ein Studium des Obertongesangs absolviert. Jener Technik also, die aus einem Ton gewissermaßen Ableitungen herausfiltert, sodass der Höreindruck von Mehrstimmigkeit entsteht. Diesen Umgang mit Klang hat sie auf bestechende Weise auf ihr Klavierspiel übertragen. Und in einem Stück wie Peter Ruzickas „Über Unstern. Späte Gedanken für Klavier“ kann sie ihre Sensibilität für die Farben einer Musik voll ausspielen. Hinzu kommt, dass Vetter sich mit Ruzickas Klavierwerk seit jeher intensiv beschäftigt hat.

Die Pianistin, ganz entspannt. Foto: KFR/Mark Wohlrab

Die Pianistin, ganz entspannt. Foto: KFR/Mark Wohlrab

„Über Unstern“ ist eine Reflexion auf die gleichnamige Liszt-Komposition, im Auftrag des Klavier-Festivals geschrieben. Das Stück erfährt an diesem Abend seine Uraufführung. Ruzicka hat im Prinzip originales Material verwendet, um es im nächsten Moment zu verfremden. Liszts düsteres Grollen wird mit harten Diskantschlägen konterkariert. Verdichtungen werden noch enger zusammengepresst, dann entlädt sich die Spannung in wilden Figuren. Wo Liszt Zeitläufte reflektiert, schildert Ruzicka das Weltenwüten selbst, das sich am Ende in quirligen Tonumspielungen auflöst, wie Messiaens farbentrunkenes Vogelgezwitscher. Vetter interpretiert das großartig und wir geben uns dieser rauschhaften Musik vorbehaltlos hin.

Hans Werner Henzes „La mano sinistra“ wirkt dann wie ein melancholischer Nachklang. Das Stück für die linke Hand, Leon Fleisher gewidmet, entwickelt sogar einen Hauch von lichter Transparenz mit harmonischen Farbspielen. Doch Akkorde, die wie ein Fanal wirken, stehen jeder freundlichen Stimmung im Weg. So bleibt am Ende, mit Brahms’ späten Klavierstücken (Opus 117/118), die Suche nach Trost im Melancholischen, die Hoffnung nach Erlösung von Resignation und Einsamkeit. Hier indes stößt Vetters klangbetontes Spiel an seine Grenzen. Um des Nachhalls willen geht die Stringenz bisweilen verloren. Dann schrumpft dunkel tönendes Melos zu einer Ansammlung von Aphorismen. Die Frage, die sich daraus ergibt, kann allerdings nur jeder für sich selbst beantworten: Mindert oder steigert das Verharren die Spannung?

Nun, für uns hat sich Sophie-Mayuko Vetters Klavierabend als einzig spannendes Abenteuer erwiesen. Eines, das noch eine Weile nachwirkt.

 

 

 




Benjamin Moser pflegt beim Klavier-Festival in aller Bescheidenheit das musikalisch Ernste

Der Pianist Benjamin Moser. Foto: KFR

Der Pianist Benjamin Moser. Foto: KFR

Benjamin Moser ist der Typ eines Pianisten, der sich selbst am wenigsten in den Vordergrund stellt. Der weder hyperventilierend-virtuos die Tastatur durchpflügt, noch in einer Art Trancezustand die Gesetze der Langsamkeit erforschen will. Der junge Münchner ist vielmehr ein Künstler mit bezwingender Musikalität, ein Diener des Notentextes. Nur manchmal verfällt er seiner Bescheidenheit, spielt dann derart akkurat, dass wir ihm mehr interpretatorische Freiheit wünschen wollen.

Zum zweiten Mal ist Moser nun Gast des Klavier-Festivals Ruhr, und er beginnt sein Konzert im Bottroper Kulturzentrum August Everding mit einer Hommage an Richard Wagner, dessen 200. Geburtstag derzeit gefeiert wird. In Form des „Tristan“-Vorspiels, in der Bearbeitung des berühmten ungarischen Pianisten Zoltan Kócsis. Es ist ein schwieriges Unterfangen, denn diese Sehnsuchts- und Begehrensmusik entfaltet ihren Reiz eigentlich nur als Orchesterstück. Moser gibt alles, um die Gefühlsseligkeit in Fluss zu halten, gleichzeitig die radikal neue Harmonik zu betonen. Dennoch wirkt die Klavierfassung brüchig. Dem Interpreten indes ist das nicht anzukreiden.

Einmal den romantischen Pfad beschritten, bleibt der Pianist dem Weg treu. Setzt aber auf harsche Kontraste. Denn Schumanns „Kinderszenen“ wirken im Gegensatz zu Wagner nachgerade leicht und locker. Doch im Einfachen, im schnell skizzierten Charakterstück, liegt oft das Schwerste. Mosers Mimik zeigt, was er will: sanften Passagen  eine heitere und keine kitschige Note geben, das Gewichtige nicht erdrücken. Und am schönsten klingen diese „Szenen“ dort, wo der Solist die Farben der Klänge durchschimmern lässt.

Johannes Brahms’ 1. Sonate ist hingegen von ganz anderem Kaliber. Dunkel und schwer, ein viersätziges Sturm-und-Drang-Opus, groß dimensioniert, in seinen Höhepunkten ein Werk symphonischer Wucht. Zu Recht schätzte Schumann die Musik des jungen Kollegen als revolutionär ein. Und Moser hat als Interpret alle Hände voll zu tun, um den Spannungen und Fallhöhen gerecht zu werden. Es braucht seine Zeit, bis der Pianist in den bisweilen herben, dann melancholischen, ernsten Tonfall hereingefunden hat. Manches klingt in der Akzentuierung noch unausgewogen. Er ringt, wie einst Brahms mit der Materie gerungen hat.

Doch welche Ruhe geht von Moser aus, wenn er Schuberts letzte Sonate (B-Dur) in aller Schlichtheit aufblühen lässt, sodass wir reine Schönheit hören. Der Pianist formuliert beinahe andächtig die einfachen, innigen Melodien, lässt sie atmen und nachklingen. Musik für die Seele ist das, und Moser hütet sich, Heiteres ins Überbordende zu treiben. Denn Schubert war es, der feststellte, er kenne keine fröhliche Musik.

(Der Text ist in ähnlicher Form in der WAZ-Ausgabe Bottrop erschienen).




Pierre-Laurent Aimard versöhnt beim Klavier-Festival die Romantik mit der Moderne

Der Pianist Pierre-Laurent Aimard. Foto: KFR/Frank Mohn

Der Pianist Pierre-Laurent Aimard. Foto: KFR/Frank Mohn

Pierre-Laurent Aimard schnauft, scheint zu atmen im Puls vertrackter Rhythmen. Und wenn der französische Pianist aus klavieristischem Gewusel und virtuoser Höchstleistung heraus einen Ruhepunkt findet, scheut er vor einem kleinen Seufzer nicht zurück. Am Ende, wenn er die Symphonischen Etüden Robert Schumanns rauschhaft zelebriert, zugleich strukturell seziert hat, müssen wir erst einmal durchpusten. Auf dass sich die Spannung löse, die Aimard in 45 Minuten aufgebaut, immer wieder angeheizt und gehalten hat.

Schumann ist so sehr Komponist des dunkel Melancholischen, des kindlich-naiv Lyrischen wie des Erhabenen, Stolzen, dass seine Interpreten aufpassen müssen, nicht in eine Kitschfalle zu tappen. Doch Aimard ist davor gefeit. Sein Ringen mit der Materie, um der unmittelbaren Ausdruckskraft willen, sowie  sein analytischer Zugriff vermeiden jede romantische Tümelei. Hier kommt vor allem das Symphonische zu Geltung, oftmals in harscher Klangsprache. Wer will, mag von einer Revolution sprechen, entwickelt aus dem Geist der Moderne.

Der Befund gewinnt an Bedeutung, ist doch von einem Konzert im Düsseldorfer Robert-Schumann-Saal zu berichten. Einst gelangte der Komponist in dieser Stadt zu großem Ruhm, bald aber zeigte man dem zunehmend abwesend wirkenden Künstler die verständnislose, kalte Schulter. Heute weiß Düsseldorf umso mehr, was sie an dem komponierenden und dirigierenden Sonderling hatte. Der Ehrungen waren und sind viele. Aimards Interpretation ist insofern bezwingend, als sie das Denkmal namens Schumann gewissermaßen entstaubt.

Für diese Herangehensweise ist der Franzose seit jeher bekannt. Nicht zuletzt beim Klavier-Festival Ruhr hat er stets seine avantgardistischen Wurzeln offengelegt, sich als maßgeblicher Interpret der Werke Olivier Messiaens, György Ligetis oder Pierre Boulez’ einen Namen gemacht. Dieses Düsseldorfer Konzert ist Aimards nunmehr 18. Auftritt beim Festival. Und natürlich hat er die Moderne im Gepäck. Mit Klavierstücken des amerikanischen Komponisten Elliott Carter, der im letzten Jahr starb. Als Hommage an einen Freund.

Aimard bedient sich dabei eines scheinbar gewagten, bei näherem Hinhören aber höchst sinnträchtigen Kunstgriffs. Nach der symphonischen Opulenz Schumanns streut er einige „Bunte Blätter“ des Komponisten zwischen Carters Klaviermusik. Das mag zunächst disparat klingen, gewinnt aber an Statur durch des Pianisten Kunst, mit Übergängen Entsprechungen zu evozieren – eine Art Versöhnung, zu unserer großen Verblüffung.

Schumanns kleine Formen und Carters Strukturelemente – in Stücken wie „90+“ oder „Tri-Tribute“ – zeigen sich in Aimards Deutung wie verwandt. Wenn auch um die Ecke gedacht, den Blick fest auf den Meister des komprimierten Ausdrucks gerichtet, Anton Webern. Carter arbeitete dabei mit Klangschichtungen, oft permanenten Tempoverschiebungen oder kleinteiligen Figurationen. Diese brechen sich im Werk „Caténaires“ in rasender Geschwindigkeit Bahn. Fulminantes Finale eines Konzertes, das unter Aimards Händen so schön wie aufregend Konstruktion und Expressivität verbindet.




Zwischen Popularität und Wagnis – der neue Spielplan des Dortmunder Theaters

Theater Dortmund - Gebäude -

Die Oper, die Dortmund verdient. Foto: Theater

Eine Dame und fünf Herren. Das Leitungssextett des Dortmunder Theaters gibt sich die Ehre zur Verkündung des neuen Spielplans. Ein 75 Minuten langer, sechsfach unterteilter Vortrag über Eckdaten, Produktionen, Programmprinzipien, über die Bedeutung des Hauses für die Stadt. Inklusive einiger dürrer Zahlen. Eine Pressekonferenz könnte spannender sein. Doch hinter allen Fakten verbergen sich interessante Details.

Bettina Pesch, geschäftsführende Direktorin des Theaters, ist die Herrin der Bilanzen. „Es geht wieder mal aufwärts“, verrät sie. 350.000 Euro Mehreinnahmen in allen Sparten, ein Auslastungsplus von 1,5 Prozent für die Oper oder plus 7 Prozent fürs Schauspiel seien Belege für solcherart Optimismus. Bezugsgrößen für diese Zahlen nennt sie nicht. Und Pesch muss konstatieren, dass die Stadt zwar die Tariferhöhungen 2013 fürs Personal ausgleicht, zudem aber einen Konsolidierungsbeitrag von 510.000 Euro einfordert. Dies gelte indes nur für die Saison 2013/14. „Weitere Einsparungen sind nicht machbar, sie gingen an die Substanz des Hauses“, sagt Pesch.

Wie die einmalige Konsolidierung aussehen soll, wo also ein Abzwacken noch möglich ist, bleibt offen. „Wir sparen nicht an der Kunst“ ist das Credo und dann verrät Pesch, sie habe auch ihre Tricks. Nun, abseits dieser sonderbaren Aussage bleibt festzuhalten, dass es im Musiktheater zwei Produktionen weniger geben wird: keine konzertante Oper, kein Werk der (klassischen) Moderne. Zwei Linien, die Intendant Jens-Daniel Herzog zu Amtsbeginn vorgegeben hat, sind erst einmal gekappt.

Immerhin: Im Doppeljubiläumsjahr zu Ehren von Richard Wagner und Giuseppe Verdi stehen zwei gewichtige Premieren an. Herzog selbst inszeniert „Don Carlo“ (Übernahme von Mannheim) und Schauspielchef Kay Voges wagt sich an den „Tannhäuser“. Eilig versichert er, es werde keine Nazis auf der Bühne geben. Andererseits wird betont, die Konstellation dokumentiere die gute Zusammenarbeit zwischen den Sparten des Dortmunder Hauses.

Szene aus dem Mannheimer "Don Carlo". Foto: Theater

Szene aus dem Mannheimer „Don Carlo“. Foto: Theater

Insgesamt sei angemerkt, dass der Opernspielplan,  um es dezent auszudrücken, populär ist. „Carmen“ und „La Cenerentola“, „Der Graf von Luxemburg“ und „Anatevka“ – Repertoire-Raritäten suchen wir vergebens. Dass Herzog Haydns Oratorium „Die Jahreszeiten“ dramatisiert, sei aber als Besonderheit durchaus erwähnt. Und dass sich die Junge Oper in Kooperation mit dem Kinder- und Jugendtheater des „Carmen“-Stoffes annimmt, darf ebenfalls als Zeichen guter Nachbarschaft gewertet werden.

Neu im Boot der Nachbarn ist Gabriel Feltz als Chef der Dortmunder Philharmoniker. Er gibt sich sachlich, beschwört keine visionären Ideen, ja bremst sogar die Erwartungen. „Es gab Anfragen, ob die Philharmonischen Konzerte nicht wieder an drei Abenden stattfinden könnten“, sagt Feltz. Doch er wolle erst einmal in Dortmund ankommen. Dort wird er drei Opernpremieren dirigieren, fünf der zehn „Philharmonischen“ sowie diverse Sonder-, Jugend- oder Familienkonzerte. Das klingt nach gehöriger Präsenz, aber sein Vorgänger Jac van Steen war im Grunde nicht weniger fleißig. Gleichwohl hat die Stadt ihn unsanft aus dem Amt gedrängt. Pech gehabt.

Der neue Chefdirigent Gabriel Feltz. Foto: Stadt Dortmund

Der neue Chefdirigent Gabriel Feltz. Foto: Stadt Dortmund

Ein Glücksjunge hingegen ist Ballettdirektor Xin Peng Wang. Die Sparte ist beliebt, die Compagnie wird international beachtet, das Programm zeugt stets von üppiger Fantasie. Dementsprechend launig verkündet er die Premieren der neuen Saison als opulentes, schmackhaftes Mehrgangmenü. Und vor allem die Hauptspeise hat es in sich: Wang selbst setzt Ödön von Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ in Szene. Die Choreographie wolle Menschenschicksale zeigen in der so schönen wie geisterhaften Stadt Wien. Mit Musik von Johann Strauss und Alban Berg, also mit übersprudelnden, prachtvollen wie brüchigen, morbiden Klängen.

Hier der Blick nach draußen, sonst aber stets der Hinweis, dass das Theater als Ganzes sich in der Stadt verorten müsse. Was niemand so konsequent angeht wie  Schauspielchef Kay Voges. Mit „Stadt der Angst“ will die Bühne das Ende der Leistungsgesellschaft einläuten – mit Hilfe einer Lichttherapie. Das klingt so kryptisch wie spannend. Ein Wagnis mit Intensität, denn an drei Tagen werden sechs Premieren, Vorträge und Diskussionen offeriert.

Andere Abgründe kommerzieller Art will wiederum Kristof Magnussons Komödie „Männerhort“ ausloten. Ein Blick auf weiblichen Shoppingwahn und die kleinen Fluchten des Mannes. Ein Spiel, das sich nur wenige Meter von Dortmunds Thier-Galerie ereignen wird, wie Voges eigens betont. Neben dem Premierenreigen – von „Peer Gynt“ bis „Der Elefantenmensch“ – setzt er auf Neues. Auf Stücke in türkischer Sprache (Kooperation mit Mülheim), auf Lesungen aus der Bloggerszene, auf eine Herbstakademie für Jugendliche.

Opernintendant Jens-Daniel Herzog. Foto: Theater

Opernintendant Jens-Daniel Herzog. Foto: Theater

Erste Adresse für diese Zielgruppe ist das Kinder- und Jugendtheater (KJT), das Andreas Gruhn nun in die 15. Spielzeit führt. In all den Jahren konnte er einen Publikumszuwachs von fast 26.000 auf 35.000 Besucher verbuchen.  Eine Erfolgsgeschichte, die sich auch nach 2015 fortsetzen soll, wenn die Spielstätte an der Sckellstraße aufgegeben werden muss, wenn möglicherweise ein neues Domizil neben dem Schauspielhaus entsteht. Zunächst aber bietet die neue Saison acht Premieren – Stücke, in denen etwa die Themen Liebe und Sexualität, Mobbing oder virtuelle Kriegsspiele verhandelt werden. Märchenhaftes wird das Programm ergänzen, ein Werk soll in Kooperation mit dem Jugendclub produziert werden.

Ja, die Dortmunder Bühnen haben in der Spielzeit 2013/14 einiges zu bieten. Doch vor allem die musiktheatralische Abteilung ächzt unter den Altlasten schlechter Intendanzen, ringt um jeden Zuschauer. Die Auslastung in der Saison 2011/12 liegt hier bei gut 53 Prozent. Dass Intendant Jens-Daniel Herzog den Satz in die Runde wirft, „Die Stadt hat die Oper, die sie verdient“, ist Ausdruck trotzig-optimistischen Nachvornblickens. Andererseits: Eine Kommune, die Millionen in einen „Kulturleuchtturm“ namens U pumpt, dem Theater aber kalt lächelnd das Geld aus der klammen Kasse zieht, bekommt eben die Oper, die sie verdient.

Alles zum Programm der Spielzeit 2013/14 unter www.theaterdo.de




Tamara Stefanovich mit neuen und alten Musikminiaturen beim Klavier-Festival Ruhr

Die Pianistin Tamara Stevanovich. Foto: Frank-Alexander Rümmele

Pianistin Tamara Stevanovich, regelmäßiger Gast beim Klavier-Festival Ruhr. Foto: Frank-Alexander Rümmele

25 Klavierminiaturen in einem Konzert, 25 musikalische Petitessen aus vier Jahrhunderten, mit Kompositionen von Domenico Scarlatti bis hin zu Thomas Larcher.

Scheinbar ist alles bunt gemischt, genau besehen aber sinnfällig verquickt, ein munteres, spannendes Exerzitium von 75 Minuten Länge, ohne Pause.

Solcherart Konzeptkunst mag den Verdacht schüren, intellektuell überzuquellen. Doch wenn die jugoslawische Pianistin Tamara Stefanovich sich der Sache annimmt, einerseits mit konzentriert kontrolliertem, analytischem Zugriff, zum anderen nicht ohne Emotion, wird daraus eine runde Sache. Mit Aha-Effekten fürs hochaufmerksame Publikum. Seht her, die Moderne, sie ist nicht vom Himmel gefallen, sondern hat ihre historischen, ästhetischen Bezugspunkte.

Stefanovich ist nicht zuletzt ein Ziehkind des Klavier-Festivals Ruhr, bei dem sie seit 2004 regelmäßig auftritt, und dem sie eben zum 25jährigen Jubiläum dieses außergewöhnliche Konzert geschenkt hat. Sie kredenzt uns in Wattenscheid sowohl Barockes wie auch Werke der Romantik, der klassischen Moderne wie vier Uraufführungen – diese geschrieben wiederum zum runden Geburtstag der Pianistin.

Ein Abend mit melancholischer, aufbrausender, verspielter, sentimentaler, quicklebendiger wie attackierender Musik. Klangvolle Episoden, die mitunter wie aus eines Komponisten Baukasten wirken. Wild Dramatisches im Wechsel mit zauberhaften Ruhepunkten. Pianistin und Publikum forschend und hörend im Steinbruch der Tonmassen. Ein Genuss für jeden, der neugierig ist.

Neugierig etwa auf den englischen Komponisten John Woolrich, der Stefanovich eine Etüde gewidmet hat. Basierend auf nur einem Ton, der an Gewicht gewinnt, umspielt wird, sich auswächst in wild dissonante Akkorde, sich mit ein bisschen Jazzidiomatik umgibt, um am Ende zart und ruhevoll dahinzugleiten. Und wenn sich daran György Ligetis 7. „Musica ricercata“ anschließt, ganz gemächlich, romantisch gefärbt, diese wiederum in Verbindung gebracht wird mit Chopin und Skrjabin, dann hören wir, wie die Jüngeren von den Altvorderen zehren.

Komponist Vassos Nicolaou. Foto: Klavier-Festival Ruhr

Komponist Vassos Nicolaou. Foto: Klavier-Festival Ruhr

Seinen Beitrag zur Gattung Etüde hat der Grieche Vassos Nicolaou ebenfalls der Pianistin zugeeignet, gleich drei an der Zahl. Hochvirtuos ist diese Musik, mit überraschenden Wendungen und Beschleunigungen, voller Kniffe und Tücken also.

Der Kontrast zu solcher Attacke kann kaum größer sein, wenn im Anschluss ein Walzer Ligetis gewissermaßen in sich kreiselt, melancholisch (mit Bartók im Rücken) das alte Österreich-Ungarn aufblühen lässt, immer durchzogen vom Dreivierteltaktbrodeln wie in Ravels Endzeitstück „La Valse“.

Dritter im Bunde der Neuschöpfer und Stefanovich-Gratulanten ist der Franzose Franck Amsallem, der eine grüblerische Improvisation schuf („Brooding“). Ein gewichtiges, dunkles musikalisches Schreiten mit zunehmendem Erregungsgrad – bedrohliche Bassfiguren treffen auf klirrende Diskantschläge. Schließlich York Höller, der sein Opus kurzerhand „Für Tamara“ nennt. Getragen von archaischen Akkorden, verdichtet sich die Materie immer mehr zu einem kraftvollen Fließen – damit unmittelbar hinlenkend auf das letzte Stück des Abends, Olivier Messiaens „Insel des Feuers“.

Komponist York Höller. Foto: Mark Wohlrab

Komponist York Höller. Foto: Mark Wohlrab

All dies interpretiert Stefanovich präzis, ohne einem analytischen Buchstabieren zu verfallen. Dass sie dabei in der Lage ist, stilsicher zwischen den Jahrhunderten zu wandeln, darf getrost als bravourös bezeichnet werden. Virtuose Manier kennt die Künstlerin im übrigen nicht. Nur Empathie, technisches Können und ein Gespür fürs jeweilige Kolorit. Mit einem Programm, das dem Klavier-Festival Ruhr gut zu Gesicht steht – abseits des allgefälligen Repertoires.

Tamara Stevanovich ist am 5. Juni (20 Uhr) erneut Gast des Klavier-Festivals. Mit dem Bariton Matthias Goerne interpretiert sie u.a. Lieder von Brahms, Alban Berg und Schostakowitsch – im Düsseldorfer Museum Kunstpalast, Robert-Schumann-Saal.

Info: www.klavierfestival.de

 

 




Mozarts Leichtigkeit, Bruckners Wucht – die New Yorker Philharmoniker im Ruhrgebiet

Pianist Emanuel Ax, Dirigent Alan Gilbert und das New York Philharmonic. Foto: Chris Lee

Pianist Emanuel Ax, Dirigent Alan Gilbert und das New York Philharmonic. Foto: Chris Lee

Respektvoll werden sie „The Big Five“ genannt, jene fünf amerikanischen Spitzenorchester, denen ein ganz spezieller Sound nachgesagt wird, im Gegensatz zu den europäischen Klangkörpern von Weltruhm. Wenn eines dieser „Fünf“ in unseren Breiten die musikalische Visitenkarte abgibt, ist der Ansturm auf die Plätze groß. Wie jetzt in der Philharmonie Essen und dem Konzerthaus Dortmund: volle Säle an zwei Abenden mit dem New York Philharmonic.

Mit dem Klang ist das so eine Sache. Die amerikanischen Orchester seien heller timbriert als etwa die Wiener Philharmoniker, zudem werde jenseits des Atlantiks das großsymphonische Repertoire oft blankpoliert, musikalische Ecken und Kanten würden unziemlich geglättet, heißt es. Nun, wer die New Yorker in Essen mit Bruckners 3. Symphonie hört, kann zwar einerseits wundersame Präzision bestaunen, erlebt zum anderen aber eine spannende, kernige, bisweilen schroffe Wiedergabe. Alan Gilbert am Pult sorgt dafür, dass die erratischen Blöcke der Komposition nicht im luftleeren Raum hängenbleiben, vielmehr wird die Musik ständig im Fluss gehalten.

Ein weiteres kommt hinzu: Dieses Spitzenorchester kann sich höchst professionell auf die akustischen Verhältnisse des Saales einstellen. Deshalb klingen Holzbläserlinien silbrig klar und nie überzeichnet. Die Artikulationskunst der Hörner ist von ganz eigener Faszination. Trompeten und Posaunen wiederum scheuen die heftigen Ausbrüche nicht, vermeiden indes bloße dynamische Kraft, formen vielmehr einen ergreifenden klanglichen Überbau. Andererseits pflegt der fast 70 Köpfe starke Streicherkorpus schimmernde, unheimliche Tremoli wie auch eine samtig-satte Lyrik. Einzig die augenzwinkernd derben Ländler-Anlehnungen lassen bei den New Yorkern Esprit vermissen. Da sind die „Wiener“ wohl die authentischeren Interpreten.

Bruckners Wucht und Religiosität, seine Wagner-Anklänge oder die Reduktion der Instrumentalstimmen zum Ätherischen formen sich zu einem großen, hymnischen, spannenden Ganzen. Ohne Verzögerungen, bar jeder Hetzerei. Dirigent Alan Gilbert lässt die Musik atmen, die Farbenpracht der Holzbläser sucht dabei ihresgleichen. Monumental wirkt diese Symphonie und doch fehlt alles Protzen.

Stets stellt sich die Frage, was ein Abendprogramm noch verträgt an der Seite dieser erzromantischen Symphonik. Zumeist wird die Genialität der Tonsprache Mozarts aufgeboten, wegen ihrer Macht über die Seele des Publikums. In der Philharmonie ist es das C-Dur-Klavierkonzert des Meisters (Nr. 25), der Solist heißt Emanuel Ax. Fast ein bisschen hemdsärmelig tritt der Amerikaner polnisch-jüdischer Abstammung an, findet aber schnell zu einem ausdrucksstarken Tonfall. Die Leichtigkeit und Innigkeit seiner Deutung spricht dafür, dass er mit dieser Musik gewissermaßen auf Du und Du steht. Statt virtuoser Akrobatik liefert Ax ein ruhiges, brillantes Figurenspiel. Selbst die Kadenzen (in der Fassung von Alfred Brendel) haben nichts von Tastenlöwentum oder Säuselei.

Manchmal indes gerät die dynamische Balance aus dem Gleichgewicht. Historisch informierte Aufführungspraxis – in dünner Besetzung, mit Originalinstrumenten – pflegt das New York Philharmonic nicht. Etwa 40 Köpfe zählt das Mozartensemble, sein Klang schimmert und glänzt, ein wenig auf Kosten markiger Akzente. Dennoch berührt uns die Musik, besonders die sublimen Dialoge zwischen Klavier und Bläsern im 2. Satz. Da ist Ax ganz in seinem poetischen Element.– Allüberall Applaus.

 

Der Pianist Emanuel Ax ist bereits am 16. Mai (20 Uhr) erneut in NRW zu Gast. Beim Klavier-Festival Ruhr spielt er in der Wuppertaler Stadthalle mit dem Geiger Frank Peter Zimmermann Werke von Johannes Brahms.

www.klavierfestival.de

 

 




Gefangen in der Furcht vor Beethoven – Pianist Yundi als Gast des Klavier-Festivals Ruhr

Der chinesische Pianist Yundi. Foto: Uli Weber/DG

Der chinesische Pianist Yundi. Foto: Uli Weber/DG

Wo Yundi, Pianist aus der chinesischen Flinkfingerschule, sich die Ehre des Auftritts gibt, sind die Fans aus fernöstlichen Landen nicht weit. Sie pilgern in Gruppenstärke zu seinen Konzerten, stehen Schlange für ein Autogramm, kaufen die CD’s des Künstlers auf. Wie jetzt in der Mülheimer Stadthalle.

Yundi als Popstar, als erster und einziger Chinese, der den Warschauer Chopin-Preis gewinnen konnte, als Deuter dreier so berühmter wie beliebter Klaviersonaten Ludwig van Beethovens. Eines Komponisten, dessen Name und Musik bei vielen Asiaten eine Mischung aus Begeisterung, Bewunderung, ja großer Ehrfurcht auslöst. Mehr Anreiz geht kaum.

Volles Haus also bei diesem Konzert des Klavier-Festivals Ruhr. Mit einem Pianisten, dessen Respekt vor dem Feuerkopf Beethoven, vor der so wütenden wie empfindsamen Musik, übermächtig sein muss. Warum sonst sollte der Chinese seinem virtuosen Können nicht recht trauen, sich in mancher Figuration unsicher verheddern, Sangliches allzu brav aufklingen lassen. Es scheint, als schlage des Pianisten Ehrfurcht bisweilen in Furcht um. Er spielt nicht frei, will dann mit Gewalt den Knoten zum Platzen bringen. Ja, Yundi hat es schwer mit Beethoven.

Nehmen wir nur die „Appassionata“: Da werden drohende Bassakkorde teils mit übertriebener Vehemenz ins Instrument gestanzt, werden Legato-Linien plötzlich porös, und virtuoses Losstürmen hat nahezu sportiven Charakter. Kein Wunder, dass Yundi gelegentlich aus der Kurve fliegt. Wie im schnellen Satz der „Mondscheinsonate“: Es erklingt ein Bravourstück, wirkmächtig zwar, aber kaum im Dienste von Beethovens heiligem Furor. Hier erlaubt sich der Solist zudem die große Geste, eine Art körperliches Triumphieren.

Yundi kann anders. Wenn er zur souveränen Kontrolle der Materie findet. Wenn er im „Grave“ der „Pathétique“-Sonate plötzlich durch weit atmende Generalpausen wunderbar Spannung erzeugt, oder ihm im berühmten Mondscheinsonatenthema ruhevolles Gleiten gelingt. So wie er in zwei Chopin-Nocturnes Melancholie zumindest durchschimmern lässt. Doch die Akkuratesse des Pianisten, auch hier Ausdruck von Unfreiheit, zerrt diese Nachtstücke allzu sehr aus ihrer Traumverlorenheit ans Licht.

Yundi, so scheint’s, steht sich selbst im Wege. Er ringt mit der Musik, verkrampft sich im Virtuosen. Ihn ehrt, dass er es vermeidet, mit  Manierismen und Marotten manches zu überspielen. Und doch ist sein Können von Tragik umrankt.

(Der Beitrag ist zuerst in der WAZ Mülheim erschienen.)




Benvenuto, Claudio Abbado – die neue Konzerthaus-Saison in Dortmund

Der Dirigent Claudio Abbado kommt nach Dortmund. Foto: Harald Hoffmann/DG

Elf Jahre gibt es nun das Konzerthaus Dortmund, die Philharmonie in Essen feiert 2014 ihr Zehnjähriges. Berühmte Namen und vielversprechende Nachwuchskünstler aus Klassik, Pop, Jazz und Weltmusik haben sich in den beiden großen Musikhäusern des Ruhrgebiets bereits die Klinke in die Hand gegeben. Doch nun ist dem Dortmunder Intendanten Benedikt Stampa für die Saison 2013/14 ein beachtenswerter Coup gelungen: die Verpflichtung des italienischen Dirigenten Claudio Abbado.

Erstmals gastiert der einstige Chef der Berliner Philharmoniker im Revier. Abbado, der nur noch wenige Konzerte gibt, kommt mit dem Mahler Chamber Orchestra (MCO), dessen Gründer er ist. Der Abend soll der Höhepunkt der NRW-weiten MCO-Residenz sein, die 2009 begann. Auf dem Programm am 8. November steht neben anderen Werken Beethovens 6. Sinfonie, die „Pastorale“. Pikantes Detail: Essen, ebenfalls Residenzstätte des MCO, geht in Sachen Abbado-Auftritt leer aus.

Einmal die großen Namen im Blick, verweist Stampa auf die Dortmunder Debüts der Tenöre Rolando Villazón und Klaus Florian Vogt. Neuer Konzerthaus-Exklusivkünstler für die nächsten drei Jahre ist der junge Dirigent Yannick Nézet-Séguin, erstmals tritt die Geigerin Hilary Hahn auf. Neuer Gast im Klassikkarussell à la Westfalen ist das San Francisco Symphony Orchestra unter Michael Tilson Thomas.

Intendant Benedikt Stampa stapelt, all diese Berühmtheiten im Blick, nicht tief. Es sei vielleicht das beste Programm in der Geschichte des Konzerthauses. Darüber ließe sich trefflich streiten. Eine Zeitinsel, die sich mit überwiegend bekannten Werken Antonin Dvoráks beschäftigt, kann mit den vorherigen „Inseln“ der (klassischen) Moderne, mit Kompositionen von Bartók, Messiaen oder Berg, nur bedingt mithalten. Stampa sagt, bei Dvorák käme es auf neue interpretatorische Sichtweisen an. Doch da Deutung sich bei jedem Werk als spannend erweisen sollte, geht das Argument eher fehl.

Indirekt mag Stampa das ähnlich sehen: Schließlich hat das Konzerthaus ein neues Format ins Leben gerufen, das den Titel „Kopfhörer“ trägt. An Hand von Tonbeispielen präsentiert der Musikwissenschaftler Frank Schneider eine kleine Interpretationskunde. Dvoráks berühmteste Sinfonie, die Nr. 9 („Aus der Neuen Welt“), hat er natürlich auch im Gepäck.

Zu der Reihe gesellt sich im übrigen ein gewichtiges Geschwister in Form einer zehnteiligen Vortragsreihe des Musikprofessors Michael Stegemann. „Von Waterloo bis Sarajewo – ein europäisches Jahrhundert im Spiegel der Musik“ wird dann einmal pro Monat aufgeblättert. Solcherart kernige Geisteskost – Ähnliches serviert, wie berichtet, das Essener Aalto-Theater seinem Publikum – ist Teil einer Vermittlungsoffensive, die Benedikt Stampa offenbar besonders am Herzen liegt.

Für ihn bedeutet der kernige Leitsatz „Musik für alle“ nämlich nicht weniger, als das Publikum generationenübergreifend ans Haus zu binden. Besondere Zielgruppe der neuen Education-Reihen seien dabei die Menschen zwischen 35 und 50 Jahren. Stampa ist offenbar überzeugt davon, dass ein alter Werbespruch, hier leicht abgewandelt, noch immer Gültigkeit besitzt: „Man hört nur, was man weiß“.

Nun, das Anliegen ist hehr, und es wird sich zeigen, wieviel Nachfrage besteht in Sachen musikalischer Weiterbildung. Guten Zulauf hat das Konzerthaus indes schon jetzt. Für diese, noch nicht ganz beendete Saison, rechnet Stampa mit einer Auslastung nahe 72 Prozent – eine Quote, die andere Kulturanbieter in Dortmund gerne hätten.

Alle Informationen zum neuen Programm unter www.konzerthaus-dortmund.de

 

 




In der Oper ist alles Schicksal – die neue Spielzeit am Aalto-Theater

Tomás Netopil, der neue Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: TUP

Tomás Netopil, der neue Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: TUP

Hein Mulders, der neue „Superintendant“ der Essener Philharmonie und der Aalto-Oper, ist von der Neugier des Publikums überzeugt. „Die Leute wollen mehr wissen“, betont er stets. Nun denn: Diesem als dringlich konstatiertem Streben nach Erkenntnis dürfte in der kommenden Musiktheater-Saison üppigst Rechnung getragen werden. Mit einer ganzen Veranstaltungsreihe zum „Phänomen Oper“ etwa, zudem mit Einlassungen zur „Wahrheit bei Verdi“ oder zu „Goethe als Global Player“.

Musikwissenschaft für alle: Mulders und sein eloquenter neuer Chefdramaturg, Alexander Meier-Dörzenbach, setzen auf ein Educationprogramm für Erwachsene, das es so im Aalto wohl noch nicht gegeben hat. Zum Teil ist dieser Schwerpunkt der Tatsache geschuldet, dass zum 25. Geburtstag der Bühne eben ein paar besondere Bonbons gereicht werden. Zum anderen aber gehört dieses breite Segment der Wissensvermittlung zu einer ausgeklügelten Strategie der Vernetzung.

Denn Intendant Mulders und der neue Chefdirigent des Hauses, Tomás Netopil, haben nicht lediglich Opernpremieren und Konzerte der Spielzeit 2013/14 vorgestellt, sondern Bezüge zu Schauspiel und Philharmonie geknüpft, alles unter den Leitbegriff „Schicksal“ gestellt, darüberhinaus das Folkwang-Museum und die Uni mit ins Boot geholt. In Dortmund, das sei hier angemerkt, sind solche Annäherungen kultureller Institutionen zumeist gescheitert – Essen darf es also besser machen.

Fünf Opern- und zwei Ballettpremieren wird es geben, das ist, mit Blick auf vergleichbare Häuser, nicht gerade opulent zu nennen. Am Beginn steht Verdis düsterer, dramatischer, ja schicksalsschwangerer „Macbeth“, nähert sich das Schauspiel dem gleichnamigen Werk Shakespeares. Ergänzend dazu wird in der Philharmonie des Komponisten Requiem aufgeführt.  Auch Jules Massenets „Werther“ wird von Lesungen und Vorträgen umrankt. Das Belcantofach wiederum ist vertreten mit Bellinis unbekannter „La Straniera“. Alles Stücke des 19. Jahrhunderts also, die umrahmt werden von Händels barocker „Ariodante“ und Janáceks modernem, sprachmelodiengesättigtem Kindsmorddrama „Jenufa“.  13 Wiederaufnahmen unterfüttern dieses Premierenpaket.

Programmatische Linien, hier noch wenig erkennbar, denn das Thema „Schicksal“ würde wohl mehr oder weniger auf jede Oper passen, sollen über die Jahre erkennbar sein, versichert Hein Mulders. Wie auch der neue Chefdirigent, Tomás Netopil, eine eigene Handschrift entwickeln will. Als Mozartianer und Botschafter eines böhmisch-tschechischen Klangkolorits sind seine Schwerpunkte vorgegeben. Sechs Sinfoniekonzerte wird er selbst dirigieren, ansonsten soll das Orchester durch zahlreiche Gastdirigenten neue Impulse gewinnen.

Eine Vielfalt der Farben nennt Mulders dies und beweist damit Mut und Risikobereitschaft. Denn die Qualität der Essener Philharmoniker hat viel mit einem überwiegend präsenten Chefdirigenten namens Stefan Soltesz zu tun, der das Orchester über Jahre formen konnte. Ähnliche Erfolge sind etwa in Bochum zu beobachten, unter der Ära Steven Sloane. Dass in Dortmund, wo der Chefdirigent beinahe alle fünf Jahre wechselt, manche spielerischen Defizite sich hartnäckig halten, ist andererseits kein Wunder.

Insofern hat Soltesz in Essen große Fußstapfen hinterlassen, und es dürfte nicht einfach sein, diese auszufüllen. Die neuen Gastdirigenten sollen aber, so wurde versichert, allesamt Spezialisten für die Werke sein, die sie jeweils dirigieren werden. Das wird sich zeigen.




Eine Betrachtung des Neuen: Heiner Goebbels‘ 2. Ruhrtriennale-Programm

Heiner Goebbels, Intendant der Ruhrtriennale. Foto:

Heiner Goebbels, Intendant der Ruhrtriennale, setzt erneut aufs Experiment. Foto: Wonge Bergmann

Teufel: Da hat doch die Kinderjury der Triennale im vergangenen Jahr ihren Preis „Die größte Qual für die Ohren“ ausgerechnet der Lieblingsband des Intendanten Heiner Goebbels zugedacht. Und dann musste er sich von Teilen des Publikums anhören, ein Theaterabend ohne Pause sei arg gewöhnungsbedürftig. So kann es gehen, wenn der Rezipient aus den eigenen (Hör)-Ritualen heraus einem kunstsinnigen Macher begegnet, der das Experiment liebt, das Neue, eben Unerhörte. Das Triennale-Programm dieses Jahres spricht darüber, wieder einmal, Bände.

Goebbels verfasst im Editorial ein Plädoyer für die herrliche Unbefangenheit der Kinderjury, sieht die Vorstellungspause als Störung eines komplexen Wahrnehmungsprozesses. Umgekehrt heißt dies wohl, dass sich der Intendant ein ebenso offenes, dazu höchst neugieriges, intellektuelles Publikum wünscht – für all die Produktionen, die wir hier ganz unbefangen als Theater 2.0, Antitheater oder Metatheater bezeichnen wollen.

Harry Partch: Delusion of the Fury, Probenszene - wie aus dem Futuristenlabor. Foto:

Harry Partch: Delusion of the Fury, Probenszene. Foto: Klaus Grünberg

Den Beginn markiert in dieser Saison das Musiktheater des Amerikaners Harry Partch, ein Stück zwischen Traum und Wahn namens „Delusion oft he Fury“. Mit vom Komponisten eigens gebauten Instrumenten und von ihm aufgezeichneten Tonsystemen. Das Bühnenmodell, das im Programmbuch zu sehen ist, wirkt wie aus dem Baukasten eines Futuristen. Das Original gibt’s dann in Bochums Jahrhunderthalle zu bestaunen.

Das Theater 2.0 wiederum findet sich im Tanzgeschehen der Brasilianischen „Grupo de Rua“: Wie zu lesen ist, leitet sich „CRACKz“ aus choreographischem Material ab, das im Internet zu finden ist: „download, remix, share – speichern, neu zusammenfügen, teilen“ ist das Prinzip, zu erleben auf Zollverein in Essen.

Nichts weniger als den Theaterbetrieb ad absurdum führen will „Forced Entertainment“: Altvertraute Figuren und Textfragmente stehen einem Science-Fiction-Sujet gegenüber. Eine Mixtur, „Das letzte Abenteuer“ genannt (Maschinenhalle Zweckel, Gladbeck). Ähnlich geheimnisvoll, märchenhaft und abenteuerlich geht es in Helmut Lachenmanns Oper „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ zu. Abgesehen davon, dass der Komponist hier die annähernd völlige Dominanz des musikalischen Geräuschs zelebriert, wird Hans-Christian Andersens bekanntes Märchen durch weitere Texte verfremdet. Das Ergebnis kann, wie jüngst in Berlin gesehen, ein unglaubliches Erlebnis werden. Zur Triennale darf nun Robert Wilson seinen Zugang zum wuchtigen Stück, in der Jahrhunderthalle, offerieren.

Beinahe spukig soll es zudem ausschauen in „Stifters Dinge“, einer von Goebbels selbst verantworteten Performance im Duisburger Landschaftspark. Fünf Klaviere erklingen, ohne Hilfe eines Pianisten, es gibt keine Akteure, nur Töne und Bilder. Ein Theater über das Theater: Im Zentrum stehen Bühnenbestandteile (Vorhang), Mittel für szenische Tricks wie Eis oder Nebel.

Die einzige Konstante bei all diesem avantgardistischen Vorpreschen ist das Publikum. Es darf  rätseln, entschlüsseln, sich wundern oder ärgern, debattieren, vielleicht sogar still genießen. Es darf im übrigen auch mitmachen: In William Forsythes großflächigem Labyrinth, einem Raum mit 400 Pendeln, die sich in variablen Tempi bewegen, sollen geneigte Betrachter lustvoll umherschweifen. Oder eher schlangengleich: Denn eine Berührung des Instrumentariums im Essener Museum Folkwang sei zu vermeiden, heißt es im Programm. Ja, wo die Kunst ihre Ordnung hat, ist im Zweifel der Mensch für das Chaos verantwortlich.

„Habt Mut !“ wollen wir den Besucherscharen zurufen. Denn schon manche Theaterrevolution hat sich im Nachhinein als Spiel auf der Bühne vor Publikum entpuppt. Wie in hunderten von Jahren zuvor. Auch Heiner Goebbels und seine Mitstreiter werden das Rad nicht neu erfinden können. Vielleicht sieht’s nur ein bisschen peppiger aus.

Im Internet (www.ruhrtriennale.de) stehen alle weiteren Informationen, im übrigen auch über sämtliche Produktionen der vorherigen Festival-Jahrgänge. Der Vergleich lohnt sich.




Herkules oder Sisyphos – Hein Mulders stellt sein erstes Philharmonieprogramm vor

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Hein Mulders, neuer Intendant der Essener Philharmonie und der Aalto-Oper. Foto: Philharmonie Essen

Der Held ist noch etwas müde. Langsam nur schwingt er sich auf, um mehr und mehr im Glanz zu erstrahlen. Es ist ein satt orchestrales Leuchten, das uns über Lautsprecher geboten wird, Richard Strauss’ sinfonische Dichtung „Ein Heldenleben“, als Introduktion zur Präsentation des neuen Philharmonie-Programms in Essen. Und wer mag, darf sich die Frage stellen, inwieweit der neue „Superintendant“ der Stadt, der Niederländer Hein Mulders, ein Held ist angesichts der gewaltigen Aufgabe, die es zu bewältigen gilt.

Jedenfalls ist es in NRW einmalig, dass der Chef der Philharmonie zugleich die Oper, hier das Essener Aalto-Theater, führt. Vergleichbares würden Dortmund, Düsseldorf oder Köln wohl weit von sich weisen. Mulders aber will den Kraftakt wagen, mit der Zeit wird sich dann herausstellen, ob er als tatkräftiger Herkules oder als stressgeplagter Sisyphos gelten darf. Eines jedoch scheint schon jetzt festzustehen: Der neue Mann will in seiner ersten Saison, der Spielzeit 2013/14, wenn die Philharmonie zehn Jahre alt wird, klotzen und nicht kleckern.

Denn mit avisierten 130 konzertanten Eigenveranstaltungen legt Mulders im Vergleich zu seinem Vorgänger Johannes Bultmann noch eine ordentliche Schüppe drauf, einem Plus von etwa 25 Prozent entsprechend. Zehn thematische Reihen enthält das neue Programm, zwischen 14 Abos kann das geneigte Publikum wählen. Gleichwohl gilt, dass auch der „Superintendant“ das Rad des Musikbetriebs nicht neu erfinden kann. Gutes bleibt, etwa die höchst erfolgreiche Reihe „Alte Musik bei Kerzenschein“, anderes wird erweitert – wie das sehr avancierte Neue-Musik-Projekt „NOW!“, das sich in der neuen Saison dem Phänomen des Klangs im Raum widmet.

Dirigent Mariss Jansons eröffnet die Philharmoniesaison 2013/14. Foto: BR/Matthias Schrader

Dirigent Mariss Jansons eröffnet die Philharmoniesaison 2013/14. Foto: BR/Matthias Schrader

Keine Spielzeit ohne „Stars“. Ein Konzerthaus muss Namen bieten, um das Publikum zu locken. Und damit wird in Essen wahrlich nicht gegeizt: Nehmen wir nur die neue Residenzkünstlerin, die Sopranistin Anja Harteros. Oder berühmte Dirigenten wie Riccardo Muti, der mit dem Chicago Symphony Orchestra gastiert, Lorin Maazel, der die Münchner Philharmoniker leitet, nicht zuletzt Valery Gergiev und das London Symphony Orchestra. Eröffnet wird die Saison 13/14 übrigens mit dem Gespann Mariss Jansons und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks: Am 5. September 2013 erklingen dann zwei Schlüsselwerke der klassischen Moderne – Bartóks Konzert für Orchester und Lutoslawskis gleichnamiges Opus.

Im Mittelpunkt aber steht die Programmmusik und mit ihr das Oeuvre Richard Strauss’, dessen 150 Geburtstag im nächsten Jahr ansteht. Dann erklingen diverse Symphonische Dichtungen wie eben auch „Ein Heldenleben“, das kaum zu hörende Festliche Präludium für Orgel und Orchester, zudem Lieder und Opernszenen. Strauss dirigierte im übrigen 1904 zur Eröffnung des Essener Saalbaus seine „Sinfonia domestica“ – ein Werk, das 2014 die Philharmoniker der Stadt mit ihrem neuen Chef, Tomás Netopil, interpretieren werden.

Vieles mehr wäre hier zu nennen: etwa die neuen Formate „Wege zu Bach“, „Piano lectures“ oder „Entertainment“. Doch da sei den Neugierigen die Lektüre des güldenen Spielzeitbüchleins oder das Studium der Internetseiten (www.philharmonie-essen.de) empfohlen. Verwiesen sei zudem auf Hein Mulders zweite Pressekonferenz über die neue Opernspielzeit. Erste Verzahnungen werden gewiss erkennbar sein. Für die Philharmonie aber gilt, dass der „Superintendant“ wohl auch an der Marke von 75.000 Besuchern gemessen wird, die Vorgänger Johannes Bultmann zuletzt erreichen konnte. Wir sind gespannt.




Monument, Witz, Spiel und Schönheit: Neue Musik für Orchester beim Festival „NOW!“

Jörg Widmann, Komponist des "Lied" für Orchester (2003/2009). Foto: Marco Borggreve

Jörg Widmann schreibt ein „Lied“ für Orchester und begibt sich dabei auf die Spuren österreichisch-schubertscher Melodienseligkeit sowie der musikalischen Brüche eines Gustav Mahler. Der Finne Magnus Lindberg, einst Propagandist des markigen „Sibelius ist tot!“, arbeitet mit kleinen tonalen Zentren, mit Inseln des Minimalismus und poppiger Rhythmik. Der Franzose Gérard Pesson wiederum liebt es gleich zitatengewaltig: Mahler, Bruckner, Messiaen. Schließlich der Italiener Salvatore Sciarrino: Sein Flötenkonzert liebäugelt mit einer traditionellen Gattung unter Verwendung von Lauten, die der Natur entlehnt zu sein scheinen.

So viele Blicke zurück – und doch reden wir von neuer Musik. In Form von großorchestralen, teils verdichteten, teils fragil aufgehellten Klangfeldern. Zu hören beim „NOW!“-Festival (in) der Essener Philharmonie. Gleichwohl verweigert sich das Avantgardistische nicht althergebrachten (bis heute gültigen?), uns passend erscheinenden Titeln. Lindbergs „Corrente II“:  Vom Monumentalen. Sciarrinos „Frammento e Adagio“: Vom Witz. Pessons „Aggravations et final“: Vom Spielerischen. Und Jörg Widmanns „Lied“: Von der Schönheit. Allesamt Tönendes, das eben mehr ist denn der konstruktive Umgang mit dem musikalischen Material.

Lindberg lässt es fließen. Aus düsterem Urgrund heraus, mit dumpfen Schlägen und Rasereien in tiefen Lagen, mit wilden Figurationen in wabernden Klangflächen. Ein archaisches Stück Musik, fast immer sich nervös artikulierend, nur bisweilen lichter, ruhiger dahingleitend. Insgesamt aber gibt sich Lindberg dem Rausch hin, bis zum Schlussklang, der wie eine volltönende Orgel anmutet.

Der Dirigent Brad Lubman. Foto: Erich Camping

Sciarrinos Flötenkonzert könnte gegensätzlicher kaum sein. Von fragiler Faktur, wie ein Dialog von Vögeln im sphärischen Raum. Denn der etwas affektiert virtuose Solist Michael Faust entlockt seinem Instrument weit mehr Pfeifgeräusche als Tonfolgen, oft im Austausch mit den Orchesterflötisten. Das wirkt erheiternd, gelegentlich auch monoton. Doch wie der Komponist sich mehr und mehr Stillstand und Stille erarbeitet, das Material entmaterialisiert, ist zugleich von großer Kraft.

Der Franzose Pesson wiederum setzt in seinem Stück vor allem aufs Geräusch. Es wird geschabt, gekratzt, geklopft, teils im Maschinenrhythmus, teils quirlig, wirbelig – als würde jemand am Radio knopfdrehend durch die Sender huschen. Dann tönt Mahlers Adagietto auf oder ein Bruckner-Scherzo. So wird der Orchestermusiker, hier sind es die Mitglieder des WDR Sinfonieorchesters Köln unter Brad Lubmans pointierter Leitung, zum Homo ludens. Technisches Können trifft auf muntere Spielfreude.

Jörg Widmann aber ist es überwiegend ernst. Er pflegt in Anlehnung an Schubert und Mahler die melodische Schönheit, die Kraft des Hymnus, allerdings auch die schmerzvolle Zerrissenheit zweier Künstlerseelen, der Hang zum Morbiden inklusive. Immer aber funkt der Vertreter der Moderne mit wilden Ausbrüchen oder enervierenden Klangschichtungen dazwischen. Herbe Schläge hier, sphärisches Erstarren dort. Und erneut macht sich die aus dem Hören gewonnene Erkenntnis breit, dass ein Neuerer ohne das Alte auf verlorenem Posten stünde.

Das mehrteilige Festival “NOW!” wird fortgesetzt mit einem Konzert am 9. November in der Folkwang Universität der Künste, Neue Aula (20 Uhr). 

Karten unter Tel.: 0201/8122-200

www.philharmonie-essen.de

 

 




Regina Schmekens Fotos von der Ästhetik eines Spiels namens Fußball

Fußball ist Geometrie. Die Beine gehören Toni Kroos. Foto: Regina Schmeken

Als Fredl Fesl, eine Art bayerischer Hippie der sanft-spöttelnden Natur, 1976 sein Lied von den „44 Fußballbeinen“ singsprechend zur Gitarre anstimmte, mochte ein wenig Gesellschaftskritik dahinter stecken (Heute würde das wenig nett gemeinte „Millionäre in kurzen Hosen“ bemüht). Doch eher ging es ihm wohl um das Beschreiben einer Sportart, die den einen Kult ist, anderen hingegen als sinnlose Rennerei vorkommt. Dass es sich um ein Spiel handelt, das gar ästhetische Komponenten in sich birgt, scheint der öffentlichen Wahrnehmung absolut fremd (geworden).

Hier nun hat sich die Fotografin Regina Schmeken zu Wort gemeldet. Mit aussagekräftigen Bildern, die nicht auf Action ausgerichtet sind, sondern auf Schönheit und (skurrilen) Witz. Die bisweilen Rätsel aufgeben, weil der Betrachter gerade nicht weiß, wo etwa der Ball ist. Weil er überhaupt nur Beine sieht, die sich in Verbindung mit Mittelkreis oder Seitenlinie zu einem grafischen Konstrukt formen. Keine Gladiatoren betreiben hier knallharten Sport, sondern der spielende Mensch gewinnt oder verliert in Schönheit.

Schmekens Fotos sind zurzeit im Berliner Martin-Gropius-Bau zu sehen. Großformatige Schwarzweiß-Studien, denen das Wort Fußballfieber fremd scheint. Eher verbinden sich mit ihnen die Begriffe Ruhe, Kontemplation, ja Intimität. Davon spricht jedenfalls Oliver Bierhoff. Ihm ist es zu danken, dass die in Gladbeck geborene Fotografin die Nationalmannschaft von März 2011 bis zum Juni dieses Jahres begleiten durfte. Die 40 ausgestellten Exponate fallen dabei vor allem durch eine choreographische Note auf. Und das kommt nicht von ungefähr.

Denn die Fotojournalistin hatte nicht nur selbst Ballettunterricht, sondern suchte stets tänzerische Elemente in ihren Bildern. Berühmt wurde eine Aufnahme vom Weltwirtschaftsgipfel 1992 in München. Da waren Staatsmänner in quirliger Unordnung offensichtlich auf der Suche nach ihrem rechten Platz fürs Gruppenfoto – heiter wirkende Wuselei abseits des steifen Zeremoniells.

Schmekens Fußballbilder also: eingefrorene Bewegungen, gruppendynamische Momente, Szenen abseits des Brennpunktes namens Strafraum. Da liegt etwa der Ball im Netz, und Torwart Ron Robert Zieler mit fragendem Blick daneben: Wie ist die Kugel bloß dahin gekommen? Oder Sami Khedira: Liegt da im patschnassen Gras und schaut offenbar versonnen aufs Regenwasser in seinen Händen.

Vier Beine und ein Kopf oder: Klose und Podolski. Foto: Regina Schmeken

Geradezu skurril die Aufnahme, in der sich Klose und Podolski nach dem Ball bücken: Perspektivisch so eingefangen, dass wir vier Beine, aber nur einen Kopf sehen. Manchmal winden sich Arme umeinander, tänzeln zwei Füße mit dem Spielgerät. Regina Schmeken blickt auf Details, wo der Zuschauer – im Stadion – nur ein Gesamtbild hat. Fans hat die Fotografin übrigens auch abgelichtet: Konzentriert dreinblickende, angespannt sitzende Menschen im deutschen Nationaltrikot, vielleicht in Erwartung eines Freistoßes.

Brutalität aber, randalierende Fans, schimpfende Spieler oder Trainer, brutale Fauls gar sind nicht Schmekens Welt. Man mag ihr Abkehr von der Realität vorhalten, von der Tatsache, dass es letztlich um eine Menge Geld geht und somit wichtige Dinge auf dem Spiel stehen. Doch was ist dagegen zu sagen, dass sie auf die Ästhetik eben jenes Spiels hinweist, zu dem 44 Fußballbeine gehören?

Berlin, Martin-Gropius-Bau, Regina Schmeken, bis zum 6. Januar 2013.

http://www.berlinerfestspiele.de/de/aktuell/festivals/gropiusbau/ueber_uns_mgb/aktuell_mgb/start.php




Vorwärts Komponisten, wir blicken zurück: Neue Musik für Schlagzeug

Mitglieder der Gruppe "Splash" in Aktion. Foto: Philharmonie Essen

Als 1913 Igor Strawinskys Ballettmusik „Le Sacre du Printemps“ in Paris uraufgeführt wurde, kam es zu einem der berühmtesten Skandale der Musikgeschichte. Glaubt man Zeitzeugen, war die Randale im Publikum kaum geringer als das archaische Wüten, das sich im Orchester abspielte. Wer hier sinnliches Melos erwartete, bekam brutale Rhythmik serviert. „Bilder aus dem heidnischen Russland“ ist das Werk untertitelt – und verweist damit auf Rituale unserer Ahnen, derer sich die moderne Zivilisation längst entledigt zu haben glaubte. 

Strawinskys Musik greift also auf die alte Kraft des Rhythmus zurück, um sich im Sinne einer futuristischen Moderne der Emanzipation eben jener Rhythmen hinzugeben. Hinter ihnen tritt alles andere zurück: Nur das Klangfarbenspektrum erfuhr zusätzliche Bereicherung, vor allem durch den Einsatz eines reichhaltigen Schlag-Werk-Apparates. Insofern ist das „Sacre“ als Schlüsselwerk der Moderne zu betrachten.

Bis zu den Schlägen und Klängen von „Ionisation“ des Franzosen Edgard Varèse, der ersten Musik für reine Percussion, war es dann nicht mehr weit. Seither ist das Komponieren für diese Instrumentengruppe gewissermaßen en vogue. Und mit Martin Grubinger, dem jungen Tausendsassa am Schlagzeug, ist uns selbst der Sound der exotischsten Trommeln oder Rasseln nicht mehr fremd.

Wenn nun also das Neue-Musik-Festival „NOW!“, für das die Essener Philharmonie verantwortlich zeichnet, zurück blickt, um nach vorn zu schauen, wenn das zweite Konzert in diesem Rahmen Werke für Schlagzeug in den Fokus rückt, dann gewiss auch mit Blick auf die Revolutionen eines Igor Strawinsky und Edgard Varèse. Das Konzert im Salzlager der Kokerei Zollverein macht aber darüberhinaus deutlich, wie die komponierende Avantgarde sich an anderen Altvorderen abarbeitet. Insofern scheint die Frage, ob nicht inzwischen musikalisch alles gesagt sei, durchaus berechtigt. Der Fortschritt ist eine Schnecke, die sich indes gelegentlich im Kreise bewegt.

Nehmen wir nur Thomas Gaugers dreiteiliges „Gainsborough“ für Perkussion: Schritte zurück ins heute eher ungewohnt Harmonische, Melodische, mit Anklängen an den Jazz und die Minimal Music. Im Mittelpunkt zwei Marimbaphone, die bisweilen schön traurig-kitschig vor sich hin meditieren, sich ins Gehör schmeicheln wollen. Ein Werk, das selbst vor Trivialem nicht zurückschreckt. Ähnlich naiv wirken nur noch die Clapping-Stücke Dietmar Bonnens, die sich zwar auf Steve Reich berufen, doch an dessen rhythmische Komplexität bei weitem nicht heranreichen.

Andererseits ist „NOW!“ auch das Festival einiger Uraufführungen. Gleich zu Beginn des Schlagwerk-Konzerts erblickt Stephan Froleyks’ „VCTRS“ das Licht der musikalischen Welt, eine Performance mit wanderndem, flüsterndem, sprechendem, heulendem Chor, raffiniert ummantelt mit Flatterbandgeräusch und Klängen, die ausgeweideten Klavieren entspringen. Die Saiten als Verfügungsmasse, Zerstörung als Voraussetzung für Neues: ein Werk nicht ohne Symbolkraft.

Das zweite neue Stück des Abends heißt „FOKUS-Spaltung“ und stammt von der Chinesin Ying Wang. Die Komponistin hat fünf Schlagzeugsets im Raum verteilt, zu bedienen von insgesamt acht Spielern, denen sich zwei Akkordeon-Solisten hinzugesellen, zwecks Klangfarbenbereicherung. In seinem teils rhythmischen Gleichmaß wirkt manches wie ein Ritual und findet so zurück zu Strawinsky. Anderes tönt wie ein exotischer Klangcocktail oder wie Stimmen der Natur: mit all ihrem Pfeifen oder Rascheln. Doch das Stück entflieht der Realität mit einem furios bruitistischen Finale.

Ähnlich stark wirkt Adriana Hölszkys  Gewitter-und-Sturm-Musik namens „Wirbelwind“. Besonders jedoch lässt „Lamento“ von Marei Seuthe aufhorchen, für Chor, sphärischen Gläserklang und Perkussion. Eine Studie über stimmliche und klangliche Varianten des Aufseufzens, bis hin zum klagenden Schrei. Am anderen Ende einer Skala von Empfindungen steht dann Silvia Ocougnes „Curto Circuito“, ein Stück praller Spielfreude, markiert auf Pfannen, Ententröten und anderen Skurrilitäten.

Diejenigen also blicken nach vorn (und kaum zurück), die sich, wenn schon nicht neue Klänge, so doch innovative Klangkombinationen erarbeiten. Und die sich glücklich schätzen dürfen, professionelle Interpreten an ihrer Seite zu haben. In diesem Fall den Chor „Les Saxosythes“ und die Schlagzeugformation „Splash“. Alle wagen sich an Un-erhörtes und gewinnen viel.

Das mehrteilige Festival „NOW!“ wird fortgesetzt mit einem Konzert des Ensembles musikFabrik am 2. November in der Philharmonie Essen (19.30 Uhr).

Karten unter Tel.: 0201/8122-200

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Klangwuchtiger Wahn – Die Rheinoper zeigt „Elektra“ als stetes seelisches Dahinwelken

Elektra, das Racheweib (Linda Watson), die Axt umschlingend. Foto: Matthias Jung

Plötzlich geht ein Ruck durch die Reihen. Ein paar Herrschaften schicken sich an, das Theater zu verlassen. Mitten im Stück. Ohne offensichtlichen Grund. Denn auf der Bühne wird weder bildmächtig gefoltert, noch blutig gemordet. Keine Orgien im Müll, keine Schändungen, nichts. Was also geschieht hier?

Positiv betrachtet, aus der Sicht der Kunst, in diesem Falle der Musik, spült die fantastische Kraft und Wucht der Klänge, die Wahn, Obsession und Deformation artikulieren, diese Menschen aus dem Düsseldorfer Opernhaus. Kein Wunder, wenn „Elektra“ gegeben wird, Richard Strauss’ revolutionär exzessiver Einakter mit all seinen dynamischen Extremen – hier sensibel, aber schon bedrohlich, dort immer noch lauter, brachialer, schockierender. Ins Negative gewendet aber heißt dies: Wer’s nicht aushält, der muss fliehen. Daraus einen Vorwurf zu stricken, ist indes Unsinn. Strauss hat sich in „Elektra“ einem dionysisch-pathologischen Rausch (auch der Orchesterfarben, bis hin zum Geräusch) ergeben, der im Grunde die Neurose auf die Bühne bringt. Kranke zu betrachten, wie sie seelisch dahinwelken, ist nicht jedermanns Sache.

Andere mögen diesen Abend im Düsseldorfer Opernhaus als Katharsis erkennen. Wer dieses tönende Stahlbad der Ekstasen durchschritten hat, sieht manch Nervositäten des Alltags mit einem milden Lächeln. Dass dies ein Werk leisten kann, das vor immerhin mehr als 100 Jahren uraufgeführt wurde, ist beachtlich. Dass Richard Strauss es mit „Salome“ und „Elektra“ bei seinem Ausflug in den wild-wuchernden Jugendstil und den harschen Expressionismus bewenden ließ, darf umso bedauerlicher registriert werden.

Es ist hier nicht zuletzt deshalb soviel von der Musik die Rede, weil die Düsseldorfer Neuproduktion der „Elektra“ ihre nervöse Spannung zuallererst aus der brodelnden Energie gewinnt, die aus dem Orchestergraben steigt. Dann muss von einer starken bis phänomenalen Sängerleistung die Rede sein. Zum Schluss von einer Regie, die, wie angedeutet, keinen Grund für reflexhafte Flucht liefert. Die sich mitunter gar der exaltierten Interaktion verweigert. Die andererseits ein wuchtiges Bühnenkonstrukt gewissermaßen mitsprechen lässt.

Grau, verwinkelt, unheimlich: Das Haus der Elektra. Foto: Matthias Jung

Roland Aeschlimann hat dies in Form eines gewaltigen Hauses erbaut und auf die Spielfläche gewuchtet. Flackernde Lichter. Fensterlose Löcher, aus denen bisweilen Tote herausbaumeln, graue Mauern, die das Innere weitgehend verbergen. Erst am Ende, wenn Elektras Bruder Orest aus Rache die Mutter und deren Liebhaber gemeuchelt hat, bekommen wir Einblick. In ein Eingeweide, das so deformiert ist wie die Seelen der Menschen.

Elektra also, gefangen in der Beschwörung ihres erschlagenen Vaters Agamemnon und ihrer Gier nach Vergeltung. Gefesselt vom eigenen Wahn und daraus resultierender Einsamkeit. Doch ach: So sehr Linda Watson die Partie betörend, verstörend, aufbegehrend singt, in leuchtenden Farben und in größter Kraft, so wenig körperliche Exaltation lässt Regisseur Christof Nel zu. Das Racheweib wirkt kalt, mitunter wie unbeteiligt. Selbst die große Mutter-Tochter-Szene, mit Renée Morloc als Klytämnestra, die ihre Stimme bis in die Überzeichnung treibt, bleibt ein eher zahmes Duell.

Immerhin darf sich Morloc wie eine Besessene, von Träumen Geplagte austoben, so wie Elektras Schwester Chrysothemis (Morenike Fadayomi, mit einigen Problemen bei der Stimmfokussierung), dauererregt an einem Brautkleid herumnestelt. Pure Statik hingegen umgibt den totgeglaubten Bruder Orest. Doch in seiner steifen Würde wirkt der Mann eminent bedrohlich, weil Hans-Peter Königs Bass noch das größte, stärkste orchestrale Wirbeln trefflich übertönt.

So soll erneut von den Düsseldorfer Symphonikern die Rede sein. Die Dirigent Axel Kober anfangs zügelt, um ihnen alsbald freien Lauf zu lassen. Und die doch, trotz aller Klangwucht, stets die Balance halten zu den Solisten, die ungemein textverständlich singen. Damit wird diese Rheinopernproduktion zu einem singulären Ereignis.

Wohl dem, der bis zu den letzten brutalen Schlägen des Orchesters ausgehalten hat. Sehr sehr schade allerdings, dass es nur noch eine Vorstellung gibt, am 7. Oktober.

Karten unter Tel.: 0211/8925-211

www.operamrhein.de

 




Neue CD mit Henryk Góreckis 3. Sinfonie – Spekulieren auf den einstigen Kultstatus

Neu erschienen auf CD: Henryk Góreckis 3. Sinfonie. Foto: Sony

Der polnische Komponist Henryk Górecki ist außerhalb seines Heimatlandes nahezu ein Unbekannter. Seine Hoch-Zeit hatte der 1933 Geborene ohne Zweifel in den 50er und 60er Jahren, zunächst beim Musikfestival Warschauer Herbst, später in Paris. Hier lernte er die westeuropäischen Avantgardisten Boulez, Messiaen und Stockhausen kennen. Góreckis Orchesterstück „Scontri“ war bei der Uraufführung 1960 einem Aufruhr des entsetzten Publikums ausgeliefert, schon allein wegen der teils extremen Lautstärke des Stückes.

Mitte der 60er aber vollzog sich die langsame wie stetige Wandlung des Bilderstürmers Górecki. Geprägt vom starken Katholizismus seines Landes, auf der Spur volksmusikalischer Wurzeln, komponierte er zunehmend harmonisch, meditativ, klar strukturiert. Als wichtiges Werk dieser Entwicklung dürfte die 1976 geschriebene 3., die „Sinfonie der Klagelieder“ gelten. Der gut 50minütige Dreisätzer für Streicher, Klavier und Sopran ist ein ruhig fließendes Lamento, ein Totengesang in drei Varianten. Maria beweint ihren sterbenden, toten Sohn. Die Textquellen sind eine spätmittelalterliche Heiligkreuzklage, eine KZ-Inschrift, ein oberschlesisches Volkslied. Religiös Inbrünstiges trifft auf weltliche Verzweiflung.

Die historische Pointe dieser Werkgeschichte liefert indes erst das Jahr 1992. Als die zweite CD-Einspielung der 3. erschien, mit der Sopranistin Dawn Upshaw und der London Sinfonietta unter David Zinman. Als diese Platte gut eine Million Mal verkauft wurde. Als sie zeitweise Eingang in die Album-Charts fand, also sich auch unter Jugendlichen größter Beliebtheit erfreute. Offenbar traf die Sinfonie den Zeitgeist: schwankend zwischen dem Bedürfnis nach Kontemplation und dem tönenden Protest gegen das Laute in der Welt.

Nun ist, 20 Jahre nach diesem unverhofften Run auf eine „Klassik“-CD, eine neue Deutung auf den Markt gekommen. Mit der libanesischen Sopranistin Isabel Bayrakdarian und dem Danish National Symphony Orchestra, dirigiert vom Amerikaner John Axelrod. Eine Liveaufnahme aus dem Konzerthaus Kopenhagen, die bei allem dunklen Streicherraunen hinreichend transparent erklingt.

Doch so eindringlich das Orchester die an- und abschwellende Dynamik nachzeichnet, so enttäuschend wenig Farbschattierungen sind zu hören. Górecki lässt mit seinem weiträumigen Minimalismus die Zeit verharren, aber daraus formt Axelrod nur bedingt Spannungsvolles. Die Sängerin trägt zudem oft reichlich dick auf, die Stimme leuchtet klagend, aber bisweilen rau, kehlig und nicht ohne Schärfe. So bleiben viele Zweifel, ob diese Aufnahme erneut Chancen auf Kultstatus hat. Denn warum sonst wurde die CD produziert? Eine ernstzunehmende Beschäftigung mit dem Werk Góreckis geht davon jedenfalls nicht aus.

Erschienen bei Sony Music

www.klassik.sonymusic.de




Slawische Schwermut, nordische Sehnsucht: Das neue Album der Geigerin Vilde Frang

Die junge norwegische Geigerin Vilde Frang hat ihre neue CD veröffentlicht. Foto: Marco Borggreve (EMI)

Sie hat den Bogen raus. Kann es sich inzwischen leisten, hinter einer präzisen, wie selbstverständlich aufblitzenden Virtuosität, den Kern musikalischen Ausdrucks anzupeilen. Denn die norwegische Geigerin Vilde Frang, 25 Jahre jung, hat entschieden an Reife gewonnen. Ihr zuzuhören, gleicht jedes Mal einer Entdeckungsreise – hin zu fragilen, verhangenen, satten, herb expressiven oder leidenschaftlich schroffen Klängen.

Nun ist ihr drittes Album erschienen, mit den Violinkonzerten von Peter Tschaikowsky und Carl Nielsen. Slawische Schwermut trifft hier auf nordische Sehnsucht, andererseits kerniges russisches Lokalkolorit auf dänischen Überschwang. Das macht den Reiz dieses Albums ebenso aus wie die Tatsache, dass sich ein Repertoireschlachtschiff neben einer Rarität findet. Vilde Frang schafft es, das eigentlich totgegeigte Tschaikowsky-Konzert zu einem aufregenden, glanzvollen wie spannend rauen Klangjuwel zu formen. Und sie nimmt das großformatige Nielsen-Stück so leicht wie ernst.

Akkuratesse in der Tongebung, Sicherheit in der dynamischen Balance, vor allem aber die Fülle an Farben, die Frang ihrem Instrument entlockt, lassen aufhorchen. Bei Tschaikowsky steht kernige Brillanz neben einer wehmütigen, teils wie hingehauchten, lyrischen, eleganten Phrasierung. Die Solistin kann wunderbar attackieren und sich blitzartig zurücknehmen. Sie gibt Nielsens teilweise putzig naiven Volksweisen jenes Funkeln mit, das uns milde lächeln lässt. Und Frang formt die rhapsodisch breiten, langsamen Sätze mit Vehemenz und Strenge.

Beinahe Ungewöhnliches kommt hinzu: Ein toller Orchesterklang, der nichts zudeckt, der Musik insgesamt Luft zum Atmen lässt. Eivind Gullberg Jensen dirigiert das Danish Radio Symphony Orchestra umsichtig, immer die rechte dynamische Balance, die Durchhörbarkeit im Sinn. Tschaikowskys Motivwiederholungen und –Sequenzierungen klingen nie langweilig, trotzdem nicht protzig übersteuert. Und Carl Nielsen wird weder künstlich in die Nähe eines Sibelius gewuchtet, noch erscheint das Verspielte der Musik verniedlicht. Ein schönes, spannendes Album.

(Erschienen bei EMI Classics 6 02570 2)

www.emiclassics.de




Vertrag verlängert: Benedikt Stampa bleibt bis 2018 Intendant des Dortmunder Konzerthauses

Vertragsverlängerung zum Konzerthaus-Jubiläum. Intendant Benedikt Stampa. Foto: Achim Multhaupt

Zehn Jahre alt wird das Konzerthaus Dortmund im September, und rechtzeitig zur anstehenden Jubelfeier sorgt die Stadt für gute Nachrichten. Denn soeben wurde der Vertrag mit Intendant Benedikt Stampa vorzeitig um fünf Jahre verlängert.

Bis 2018 also darf er die Geschicke des Hauses nun leiten. Er habe es seit seinem Amtsantritt 2005/06 durch kluge Programmpolitik und beispielhafte Formate wie „Exklusivkünstler“ (aktuell Esa-Pekka Salonen), „Zeitinsel“-Festivals oder „Junge Wilde“ zum Erfolgsmodell gemacht, heißt es in der offiziellen Begründung.

Das exklusive Popabo, Konzerte mit hochkarätigen Solisten und Orchestern oder kleinen Ensembles, Weltmusik oder konzertante Oper spiegeln zudem eine Erfolgsmixtur wieder, die in ihrer Vielfalt Spannung verheißt, das Publikum neugierig macht. Stampa hat stets betont, dass Klappern zum Handwerk gehört. Will sagen: Ohne eine subtile, ideenreiche, auch freche Werbestrategie wäre das Konzerthaus kaum in der Lage, eine Auslastungsquote von aktuell 70 Prozent zu erreichen.

Frechheit bringt Gewinn: Dass dies nicht nur ein Spruch ist, beweist der Werbefilm über die neue Generation der „Jungen Wilden“ ebenso wie der Schatz an markigen Sätzen, die sich im Programmbuch für die Saison 2012/13 finden. Da werden die Nachwuchssolisten, schon mehr oder weniger berühmt, unter dem Titel „Das Ende der klassischen Klassik“ vorgestellt, da lesen wir als Gesamtmotto „Musik bereichert“.

Binsenweisheit hier, die Neuerfindung des Rades dort? Nehmen wir also die „Jungen Wilden“: die Pianisten Jan Lisiecki und Khatia Buniatishvili, die Geiger Ray Chen und Vilde Frang, die Sopranistin Anna Prohaska, der Cellist Andreas Brantelid sowie Sebastian Manz (Klarinette) werden sich in den nächsten drei Jahren die Konzerthaustür in die Hand geben. Im Werbefilm agieren sie wild bis zum äußersten: Musizieren sich in einen Rausch, der zur Zerstörung der Instrumente führt, während sich die Sängerin die Perlenkette vom Halse reißt.

Derartige Leidenschaft, lautet die Botschaft wohl, ist auch bei den Konzerten zu erwarten (ohne Sachbeschädigung, versteht sich). Und wie steht’s um die Bereicherung mit Musik? Intendant Stampa weiß sehr wohl, dass die Kunst nach Brot geht. Doch Botschaften wie „Ich bin Millionär an Glückshormonen“ oder „Ich spekuliere. Auf Freudentränen“ bedeuten nichts anderes als die Tatsache, dass ein Leben ohne Musik seelenlos ist. Der Kunstgriff, Reizwörter aus der Wirtschaftssprache ästhetisch umzudeuten, ist dabei so originell wie frech. Aber viele mögen denken: So hätte das schon längst mal jemand formulieren müssen, um der Kunst willen.

Gut aufgestellt und ziemlich präsent also darf das Dortmunder Konzerthaus sein Zehnjähriges feiern. Mit vier Gala-Abenden vom 7. bis 10. September. Mit insgesamt etwa 100 Eigenveranstaltungen. Auf dass das geistige Kapital wachse, wie es im Programmbuch steht.

Informationen zur neuen Saison gibt es unter www.konzerthaus-dortmund.de

 




Neuer Spielplan, alte Probleme – die Oper Dortmund ringt ums Publikum

Das neue Programmbuch des Theaters Dortmund. Foto: -n

Nach der Saison ist vor der Saison. Die alte Fußballerweisheit gilt nicht zuletzt auch für das Theater. Und wer sieht, wie intensiv die Dortmunder Bühnen bereits Vorstellungen der Spielzeit 2012/13 bei Facebook posten, mag erkennen, dass Werbung eben auch in der Sommerpause wichtig ist. Genauer gesagt: Diese PR-Maßnahme ist dringend geboten, zumindest mit Blick auf die Besucherzahlen des Opernhauses.

Denn die nun abgelaufene Saison, die erste des neuen Opern-Intendanten Jens-Daniel Herzog, hat zwar einen leichten Publikums-Aufschwung bewirkt, von guten Auslastungszahlen zu reden aber wäre pure Beschönigung. Herzog ist allerdings zugute zu halten, dass ein Haus, das mit einer Zuschauerquote unter 50 Prozent zu kämpfen hatte, nicht von heute auf morgen aus dem Sumpf der Geringschätzung herauszuziehen ist. Abgerechnet wird am Schluss, nach den ersten fünf absolvierten Vertragsjahren des Intendanten.

Der Opernchef selbst hat zugegeben, dass die Imageverbesserung des Musiktheaters offenbar länger dauert als gedacht. Gleichwohl ist sein Optimismus ungebrochen. Und vor ein paar Monaten, als Herzog sein neues Programm im Kulturausschuss vorstellte, führte das von politischer Seite zu wahren Belobigungsattacken. Das klang allerdings so ehrlich wie routiniert.

Nun also das neue Programm: Der Intendant hatte zum Amtsantritt versprochen, über die fünf Jahre opernhistorische Linien zu verfolgen. Er begann mit Wagner, doch die Musik des Bayreuther Meisters hat in dieser Saison Pause. Stattdessen wird als erste Premiere Modest Mussorgskys „Boris Godunow“ zu sehen sein, in der Inszenierung der Dortmunder Hausregisseurin Katharina Thoma.

Es folgt Jule Stynes „Funny Girl“ als Fortführung der Musical-Linie, dann Monteverdis „Krönung der Poppea“ (Renaissance/Barock) in Herzogs Inszenierung. In Sachen Operette steht diesmal Kálmáns „Csárdásfürstin“ auf dem Programm, im dramatischen Belcantofach deutet wiederum Katharina Thoma Verdis „Il Trovatore“.

Mozarts „Figaro“ und Donizettis „Liebestrank“ bedienen nicht zuletzt die Abteilung „Beliebte Opern für jedermann“. Schließlich offeriert Intendant Herzog seine Sicht auf eine „knallige Revue-Oper“ (so das Programmbuch) des Briten Mark-Anthony Turnage: Anna Nicole. Das Stück um Aufstieg, Glanz und Verfall eines Playboy-Models wurde im letzten Jahr in London aus der Taufe gehoben. In Dortmund ist diese „Neue Musik“ in Deutscher Erstaufführung zu sehen.

Gestrichen ist indes die Linie „szenisches Oratorium“, wie sie mit Mendelssohns „Elias“ wirkmächtig begonnen hatte. Stattdessen steht als konzertante Oper Jules Massenets „Manon“ auf dem Programm.

Herzog hat stets betont, auch die Junge Oper zu stärken. Dies spiegelt sich in der neuen Saison in vier Premieren wieder: Der kleine Barbier (nach Rossini), das märchenhafte „Sneewitte“ (in Kooperation mit dem Kinder- und Jugendtheater), Xavier Montsalvatges „Der gestiefelte Kater“ (zusammen mit der Rheinoper Düsseldorf/Duisburg) und der experimentell klingende Dreiakter „Das Innere des Äußeren – Musik auf der Grenze zum Theater“.

Der Premierenkalender der Oper Dortmund ist also in der kommenden Saison prall gefüllt. Zum Vergleich: Im Essener Aalto-Theater gibt es 2012/13 ganze vier (!) neue Musiktheaterproduktionen. Nur blöd, dass dort fast alles immer ausverkauft ist.




Düstere Szenen und klare Linie – Plakate, Fotos und Grafiken im Museum Folkwang

Karl Jacob Hirschs Plakat "Was will Spartakus?" (1919). Foto: Museum Folkwang

Kaum etwas scheint langweiliger zu betrachten, nichtssagender in der Wirkung als Wahlplakate. Eine bunte, zumeist familienkompatible Szenerie oder ein plumpes Symbol, garniert mit so flotten wie hohlen Sprüchen – fertig. Doch vielleicht ist dies nur Ausweis eines routinierten, ja ritualisierten Politikbetriebes, trotz aller Krisen und Probleme.

Dieser Eindruck von gesitteter Normalität verfestigt sich, blickt man nur ein wenig zurück. Vor 90 Jahren, also in den „wilden“ 20ern, war Wahlkampf nicht weniger als Glaubenskrieg, schufen die Plakatmaler drastische und krasse Szenarien, in denen die werbende Partei als Engel, der Gegner indes als Killer der Menschheit dargestellt werden. Diese grob expressionistische Bildsprache ist nun in Essens Folkwang-Museum (kopfschüttelnd) zu bestaunen, im Rahmen einer Ausstellung, die sich mit Plakaten, Fotos und Grafiken zumeist der 20er Jahre auseinandersetzt. „Unsere Zeit hat ein neues Formgefühl“ ist der fast neutral wirkende Titel der großen Schau.

Die Formen waren, mit Blick auf die illustrierte politische Propaganda, ziemlich wuchtig. Der bildmächtige Expressionismus hielt sich nicht mit Filigranem auf. Hinzu kommt eine klare Farbsymbolik bei zumeist düsterer Grundierung. Ein Plakat mit dem Titel „Der rote Hammer der Vereinigten Sozialdemokratie zerschlägt den faschistischen Drachen“, Max Schwimmer schuf es 1927, bedarf im Grunde keiner näheren Beschreibung. Die Gegner, also die Rechten, waren in der Wahl ihrer Mittel nicht weniger zimperlich: Bei ihnen stellt sich der Bolschewismus als Zwergenfratze dar, mit wirrem Haar und gezücktem Dolch. Nur gut, dass ein engelsgleiches Wesen das Volk vor diesem Schurken beschützt.

All dies war gewissermaßen Symbol eines brodelnden Vulkans namens Nachkriegsdeutschland oder Weimarer Republik, wo die politische Debatte regelmäßig in Straßenkämpfen endete. Doch ungeachtet dessen wurde getanzt, gelebt, gelacht – zumindest von denen, die es sich leisten konnten. Und so zeigt die Essener Schau eben auch das dekorative Plakat jener Zeit. Präsentiert mit Walter Schnackenbergs „Deutsches Theater – Vornehmstes Variété Münchens“ symbolträchtig den Hang zum Vergnügen. Ein Paar bestaunt aus der Loge heraus eine Tänzerin – geschwungene Linien, freundlicher Blick, das Leben scheint schön.

Andere Exponate verweisen auf den Aufstieg des Kinos. B. Namirs Plakat zu „Quick“, mit Lilian Harvey und Hans Albers, wirkt fast fotorealistisch. Später entwirft Jan Tschichold, im Sinne von Bauhaus und Neuer Sachlichkeit hellgrundierte Blätter mit grafischen Elementen und viel leerer Fläche. Hier offenbart sich die neue Form, die der Ausstellungstitel vorgibt.

Anneliese Kretschmer: Der Arbeiterdichter Karl Höller (1931).

Von expressiver Kraft zur klaren Linie: Die Essener Ausstellung zeigt auch in der Sparte Fotografie wirkmächtige Beispiele. Auffällig ist, dass die Porträtaufnahmen, als messerscharfe Studien einfacher Leute, überwiegen. Helmar Lerskis „Köpfe des Alltags“ (1928-1931) sind markantes Beispiel. Leere, abgewandte oder trotzig aufbegehrende Blicke, die Gesichter motivfüllend, einzelne Partien durch wunderbares Licht-Schatten-Spiel hervorgehoben: Lerski illustriert das Leiden (an) der Zeit. Oder nehmen wir nur das Bild der Dortmunder Fotografin Annelise Kretschmer, die 1931 den Arbeiterdichter Karl Höller ablichtete. Gesicht und Kleidung verschmutzt, alles wirkt düster wie mancher Holzschnitt von Kirchner. Daneben aber hatte Kretschmer auch den Blick fürs Glamouröse, wie das Bild „Modisches Porträt“ (etwa 1931 entstanden) zeigt. Die fotografierte Dame, vornehm gekleidet mit Kappe, Handschuhen, Gürtel und Rüschenbluse senkt fast schüchtern den Blick – eine Aufnahme der stillen Art.

Das Neue, Sachliche in der Fotografie ist hier vor allem Produkt der zunehmenden Industrialisierung. Die Meister der Kamera entdeckten Strukturen wie etwa Germaine Krull die Verstrebungen des Eiffelturms oder Lotte Goldstern-Fuchs die Kölner Eisenbahnbrücke. Anton Bruehl wiederum bannte eine Anordnung von Garnrollen aufs Fotopapier, gesehen aus der Froschperspektive und aus nächster Nähe. Dieser Blick und das elegante Spiel mit Schatten gibt den Gebrauchsgegenständen eine bedrohliche Größe, als handele es sich um Fabrikschornsteine. Hier also überlagert sich grafische Anordnung mit expressivem Gehalt.

Schließlich Zeichnungen und Druckgrafik: Die Schau blickt etwa auf die Landschaften Alexander Kanolds, die mit ihren geometrisch angehäuften Gebäuden eher bedrohlich denn einladend wirken. Düster-expressionistisches (Kirchner) steht in schärfstem Kontrast zum Konstruktivismus eines László Moholy-Nagy oder El Lissitzky. Es ist eine imposante Schau im Folkwang-Museum, die die Kunst einer aufregenden Zeit ins Blickfeld rückt.

Die Ausstellung „Unsere Zeit hat ein neues Formgefühl“ ist im Essener Museum Folkwang bis zum 5. August zu sehen.




Meister der Notenmassen – Pianist Igor Levit mit Etüden von Debussy und Liszt

Igor Levit, Tasten und Finger fest im Blick. Foto: Mohn/Klavier-Festival Ruhr

Zehn Tage sind nunmehr beim Klavier-Festival Ruhr 2012 ins Land gegangen. Es hat sich einen fulminant wuchtigen, wie elegant pianistischen Auftakt gegönnt – mit den Bochumer Symphonikern unter Steven Sloane und dem Solisten Jean-Yves Thibaudet. Als berühmter Dauergast gab sich Daniel Barenboim die Ehre, als fingerflinke Sinnsucherin kam Yuja Wang.

So weit, so interessant. Nun aber hat der Russe Igor Levit in Essen die Bühne betreten. Als ein Zeremonienmeister des Klavierspiels, der in strenger Selbstdisziplin dafür sorgt, seine Kraft im Zaum zu halten. Der sich in einen dämonischen Virtuosen verwandeln kann, ohne Gefahr zu Laufen, als Hexenmeister apostrophiert zu werden. Und der vom Musizieren offenbar nicht genug bekommt, Werk um Werk, Stück um Stück auftürmt, als wolle er sich einer neuen olympischen Disziplin des Abarbeitens von Notenmaterial unterwerfen.

Wenn also dieser Mittzwanziger, der vom Feuilleton schon zum jungen Meister erkoren ist, in Essen Debussys 12 Etüden interpretiert, um nach der Pause noch eine Stunde Liszt draufzulegen, dann ist die Verehrung durchs Publikums schon ob der Quantität des Programms riesengroß. Levit liefert (zu) viel des Guten, füllt den Raum mit Klang(über)sättigung. Er exerziert und attackiert. Der Körper ist gebeugt, das Gesicht auf Tastenhöhe, die Mimik verrät zumeist Ernst, Ingrimm, bisweilen Verbissenheit. Diesem gewaltigen ästhetischen Rausch ergeben wir uns unmittelbar.

Dennoch: Levit ist kein Zauberer. Er kann viel, aber letzthin stellt er sich selbst ein Bein. Mag er als Meister der Notenmassen ungeheuer beeindrucken, stellt sich trotzdem die Meinung ein: Er hat’s im Griff, wir hören es wieder und wieder. Viel Ursache, viel Wirkung und manche Erschöpfung. Nun bitte, es ist genug.

Dabei beginnt alles spielerisch leicht. Debussys zwölf Etüden, die ja mehr sind als eine Abfolge raffinierter Triolen- Sextolen- oder Akkord-Exerzitien, serviert uns Levit als klangschöne Piècen. Der Pianist meidet allen Akademismus, zeichnet klare Strukturen, verzückt das Publikum mit hochdifferenzierter Dynamik. Wir hören kantige Motorik und entmaterialisiertes Schweben. Der Solist zelebriert, ohne die Etüdenfolge in falscher Schönheit zu ertränken.

Dem Zauber, der dieser Musik gleichwohl inne ist, darf sich das Publikum wohlig hingeben, darf Gedanken spinnen über Stimmungen oder eigene Bilder evozieren. Debussy hat, im Gegensatz zu seinen Préludes, hier keine poetischen Titel notiert. Und so gibt uns Levits kontrolliertes, Klangräume öffnendes Spiel alle Möglichkeiten der Assoziation.

Bei Franz Liszts „Douze études d’exécution transcendante“ liegen die Dinge anders. Die meisten Stücke dieses hochvirtuosen Dutzends tragen Titel, sind teils klavieristische Programmmusik. Der Komponist gießt Helden- und Befindlichkeitstum überwiegend in gleißende Fingerakrobatik. Für sich genommen ist dieser Zyklus eine Offenbarung. In Verbindung zu Debussys Etüden wirkt er eher derb, protzend, ranschmeißerisch.

So gesehen, ist Levits Konzertdramaturgie nicht glücklich zu nennen. Zudem werden seine pianistischen Grenzen deutlich. Unfallfrei entkommt er dem virtuosen Wahnwitz mancher Stücke jedenfalls nicht. Und alles Zarte scheint nur Atempause, um sich erneut ins Exzessive zu stürzen. Selbst das „Schneetreiben“, wie Liszt seine letzte Etüde umschreibt, ist bei Levit eher ein winterliches Unwetter. Wie gesagt: Wir ergeben uns.

 

Informationen zum Programm unter www.klavierfestival.de

 




Zuerst die Musik, dann die Worte – das neue Programm der Ruhrtriennale

Heiner Goebbels, neuer Intendant der Ruhrtriennale. Foto: Triennale

Wenn der Intendant eines internationalen Festivals von Haus aus Komponist ist, kann es kaum verwundern, dass die Musik eine Hauptrolle im Programm spielt. Wie bei der Ruhrtriennale, deren Leitung Heiner Goebbels für die nächsten drei Jahre übernommen hat. Die Vorstellung seiner ersten Spielzeit hat nun beredtes Zeugnis davon gegeben. Oper, Konzert und Tanz stehen im Mittelpunkt. Und selbst die Theaterproduktionen entbehren kaum des Tönenden.

Goebbels ist im Ruhrgebiet kein Unbekannter, vielmehr – indirekt zumindest – ein Pionier all dessen, was sich die Triennale auf die Fahnen geschrieben hat. Denn seine Musik wurde von den Bochumer Symphonikern schon in der Jahrhunderthalle, also einer einst industriell genutzten Spielstätte, aufgeführt, als noch niemand an ein Festival mit ungewöhnlichen Aufführungsorten und Programmen jenseits des Mainstreams dachte.

Inzwischen hat sich die Triennale etabliert, wechselt alle drei Jahre der Intendant, und mit ihm ändern sich die Schwerpunkte. Goebbels sagt: „Uns geht es um die radikale Erneuerung des Musiktheaters. Dem Publikum wird Unerhörtes geboten, nicht das Repertoire der regionalen Bühnen. Wir wollen eine Kultur von allen für alle. Deshalb werden viele Mitwirkende aus dem Ruhrgebiet kommen.“

Begonnen wird mit einem Revolutionär unter den Komponisten, John Cage. Dessen „Europeras I/II“ sind in Goebbels Regie zu sehen. Ein musikalisches Konglomerat aus 64 Arien der europäischen Operngeschichte, geordnet nach dem Zufallsprinzip. Die Inszenierung in Bochums Jahrhunderthalle arbeitet mit 32 verschiedenen Bühnenbildern.

Carl Orffs „Prometheus“ folgt, in der Duisburger Kraftzentrale; ebenfalls ein Werk, das man auf gängigen Spielplänen vergeblich sucht. Ein „Sprach-Musik-Drama“ nennt Goebbels die Oper, deren Archaik sich schon durch die Besetzung mit einem 20köpfigen Schlagwerkensemble erschließt. Ähnlich perkussiv dürfte es auf der Halde Haniel in Bottrop zugehen – einer neuen Spielstätte –, wenn dort die japanische Gruppe Boredoms, verstärkt um Drummer aus der Region, Klangekstasen in die Nachtluft senden.

Der Blick auf den Tanz führt etwa zur Produktion „enfant“ für drei Maschinen, neun Tänzer und eine Gruppe Kinder in der Jahrhunderthalle oder zur Uraufführung der Performance „Le Sacre du Printemps“ des Choreographen Laurent Chétouane (Spielort PACT Zollverein).

Die Veranstaltungen, die unter der Rubrik Theater subsumiert sind, lassen nur selten die Musik außen vor. So ist „Life and Times – Episode 2“ eigentlich eine Musicalperformance des „Nature Theater of Oklahoma“ (PACT Zollverein). Romeo Castelluccis „Folk“ wiederum, zwischenmenschliche Formen wie Gemeinschaft, Trennung und Isolation diskutierend, arbeitet mit Bewegungsritualen und will die Grenzen zwischen Akteuren und Publikum aushebeln. Doch auch hier geht es nicht ohne Musik (von Scott Gibbons; zu sehen in der Gebläsehalle Duisburg).

Hinzu kommen klassische (Kammer)-Konzerte, Publikumsgespräche und Symposien. Das Thema „No education“ bezieht Kinder auf witzig-verspielte Art ins Programm ein. Sie werden sich alle Produktionen ansehen und am Schluss Preise vergeben – in selbst gewählten Kategorien. Tatkräftige Hilfe erhalten sie von der kanadischen Forschungsgruppe „Mammalian Diving Reflex“.

Dem Urteil der Jury dürfen wir ebenso gespannt entgegensehen wie dem Gesamtprogramm. Intendant Heiner Goebbels hat zwar auf ein übergeordnetes Thema verzichtet, doch trifft der Titel eines Opernlibrettos des 18. Jahrhunderts wohl den Kern: „Prima la Musica, poi le parole“. Zuerst die Musik also. Goebbels, darauf angesprochen, denkt nach und verweist auf den russischen Regisseurs Wsewolod Meyerhold.  Dessen Credo war: „Das Wichtigste … wofür ich kämpfe, ist die Untermauerung des Schauspiels mit einem musikalischen Fundament“.

 

Alle Einzelheiten zum Programm finden sich unter http://www.ruhrtriennale.de




Künstlerisches Muskelspiel zum Abschied

Die Sopranistin Anna Prohaska gastiert in Essen. Foto: Patrick Walter/DG

„Nirgends … wird Welt sein, als innen“: Das Zitat aus Rainer Maria Rilkes siebenter Duineser Elegie könnte gemünzt sein auf den Dirigenten und Pianisten Christoph Eschenbach, der sich zur kommenden Spielzeit als Residenz-Künstler der Essener Philharmonie präsentiert. Doch wir wagen es nun, diese Sentenz dem analytisch präzise, in steter Zurückhaltung arbeitenden Intendanten Johannes Bultmann zuzueignen. Weil er wahrscheinlich, nach jener für ihn letzten Saison (2012/13), seine Wirkungsstätte ohne große Geste verlassen wird. Weil er sich vorstellen kann, soviel gab er preis, während eines Sabbatjahres jenseits aller künstlerischen Betriebsamkeit zu leben. 

Noch aber, gewissermaßen zur finalen Essener Saison, lässt Bultmann die Muskeln spielen. In Form jener hochkarätigen Dirigenten, Sängerinnen oder Orchester, die für Qualität und grenzübergreifenden Ruhm stehen. Da spielen zum Auftakt im September 2012 die Münchner Philharmoniker unter Altmeister Lorin Maazel, da will die junge Sopranistin Anna Prohaska mit barocken Arien bezaubern, der hochgelobte israelische Dirigentenfeuerkopf Omer Meir Wellber romantische Glut entfachen, oder eben Christoph Eschenbach in fünf Konzerten und bei einem Lyrik-Talk seine künstlerische Visitenkarte abgeben.

Dirigent Omer Meir Wellber. Foto: Philharmonie Essen

Die Reihen Lied, Alte Musik bei Kerzenschein, Stimmen, Jazz und Jugendstil werden fortgeführt wie eben auch die für Bultmann ungemein wichtige Konzertfolge namens „Now!“. Essens Philharmonie-Intendant, seit jeher engagierter Anwalt der Neuen Musik, fragt in elf Veranstaltungen nach dem Fortschritt im avantgardistischen Komponieren. Dem voraus geht der Programmschwerpunkt „Tristan-Akkord“, jenes tönende Gebilde, das als Schlüssel gilt zur Überwindung der Tonalitätsgrenzen.

Damit verbunden ist natürlich die Würdigung Richard Wagners zum 200. Geburtstag. Höhepunkt soll die konzertante Aufführung des „Parsifal“ werden, mit Balthasar-Neumann-Chor und Ensemble unter Thomas Hengelbrock. Spannend dabei ist die Verwendung historischen Instrumentariums. Wiederum neu daran ist die Kooperation mit dem Dortmunder Konzerthaus.

Insgesamt bietet die nächste Philharmonie-Saison um die 100 Eigenveranstaltungen. Eine Zahl, auf die sich das konzertante Geschehen inzwischen eingependelt hat. Bultmann ist indes wichtiger, dass man hinsichtlich der Qualität in der oberen Liga mitspielen kann. Und dass stets neue Ideen ihr Recht auf Verwirklichung bekommen, all dies verbunden mit finanzieller Planungssicherheit.

Zum Herbst 2013 aber wird Hein Mulders seine Doppelintendanz für Philharmonie und Oper antreten. Es dürfte spannend werden, wie neu die Karten dann gemischt werden.

 

 




Emotionen im Blick – Fotos als Seelenspiegel

Aino Kannisto: White Stones

Da steht sie nun, mit leeren Händen: eine junge Frau, rothaarig, schwarzweißes Kleid und kalkige Finger, inmitten einer grau-weißen Steinwüste. Sie blickt – ins Leere? Oder doch mit ängstlichen, erstaunten Augen in die Kamera? Das Bild, nein, diese Frau, die finnische Fotografin Aino Kannisto, ist uns ein Rätsel. Sie hat sich selbst abgelichtet, wieder und wieder. Doch es sind keine Porträts, die uns die Bochumer Galerie m hier zeigt, sondern sorgfältig vorbereitete, klar strukturierte Inszenierungen. Und der Titel der Schau, „She and She“, führt zu einer weiteren Erkenntnis: Kannisto schlüpft in Rollen, als wollte sie sagen „Ich bin eine andere“.

Was den jeweiligen Ort betrifft, scheint er vieles auszudrücken, nur nicht eins, die reale Welt. Die Frau im Bade: Ein Foto in unwirklichem Weiß, gebrochen nur durch Terrakotta-Kacheln und den von Patina durchsetzten Armaturen der Wanne. Ihr Blick scheint die Frage „Was soll ich hier“ auszudrücken. Die Frau im Garten sitzend: Sie mag Héléne heißen, so sagt es jedenfalls die Tasse, die vor ihr steht. Sie piekt mit der  Gabel wie lustlos in ihrem Kuchen herum. Doch was bedeuten die drei anderen Tortenstücke? Ist da jemand nicht gekommen?

Schließlich, die Frau neben einer rostrot bepinselten Holzwand. Eine wunderbare Licht-Schatten-Komposition. Sie trägt das Haar offen, ein schwarzes Kleid, die sommersprossigen Arme sind frei. Das einzige Bild von 20 Exponaten, in dem uns ein leicht herausfordernder Blick anschaut. Doch eigentlich, auch hier die große, irritierende Melancholie.

Aino Kannisto: Woman sitting in the garden

Kannistos Fotos wirken bisweilen wie Filmstills.  Standbilder inmitten einer Geschichte, die der Fantasie des Betrachters entspringen darf. Doch gleichzeitig bedeutet dieses Auf-den-Punkt-Bringen ein Verharren in der Lautlosigkeit, ja Einsamkeit. Kein Lächeln – eine Künstlerin stellt sich ins Zentrum von Inszenierungen, die vor allem eins suggerieren: Ich habe viel Bekümmernis.

Dieser Kummer nimmt seinen Lauf in teils unwirtlicher Umgebung. Die Frau unter einem weißen Tuch auf einer abgenutzten Steinbank liegend – ein Bild wie aus der Pathologie. Oder sitzend in einem schäbigen Zimmer, widerwillig in einer geknackten Walnuss pulend. Anderswo in einem heruntergekommenen Treppenhaus stehend, die braune Tür neben sich, selbst wie dramatisch gealtert wirkend. Ein düsteres Foto, wären da nicht die hellen Hautpartien, die sehr plastisch für die Ausgewogenheit der Lichtverhältnisse sorgen.

Viele sagen, Porträtfotographie ist dann gelungen, wenn es gelingt, in die Seele der Person zu blicken, die sich vor der Kamera befindet. Streng genommen hat Kannisto nicht sich selbst porträtiert, aber in die Seele schauen kann der Betrachter dieser Frau/diesen Frauen schon.

Ganz offensichtlich und von beiden auch so verstanden, handelt es sich indes bei den Fotos von Nevin Toy-Unkel und Dirk Vogel, zu sehen im Jüdischen Museum Dorsten, um Porträts. Um Bilder von Menschen, die eine Vergangenheit mehr oder weniger mit sich herumschleppen, die recht oder schlecht in der Gegenwart verankert sind und skeptisch bis hoffnungsfroh in die Zukunft schauen.

Ayse Simon, Anästhesistin aus Herne. Foto: Nevin Toy-Unkel

Sie alle leben in Deutschland, sie alle kamen aus der Fremde. Jüdische Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, denen sich der Dortmunder Dirk Vogel mit Behutsamkeit und sensiblem Gespür für den rechten Moment, den Auslöser zu drücken, nähert. Andererseits Migranten aus der Türkei, oder Deutsch-Türken der jüngeren Generation, die Nevin Toy-Unkel, in Marl lebend, überwiegend als freundlich dreinblickende Menschen fotografiert hat.

Wie etwa das smarte Unternehmer-Paar, das gleichsam für sich wirbt oder die Anästhesistin, die lächelnd und stolz in die Kamera schaut. Alle abgelichtet in ihrer jeweiligen Lebenssituation, in vertrauter Umgebung also, die im übrigen  wichtiger Bestandteil des Bildaufbaus ist.

Valeria Geruhmanova im geblümten Kleid. Foto: Dirk Vogel

Dirk Vogel wiederum ist seinen „Modellen“ an deren Lieblingsplätze gefolgt. Er fokussiert mehr auf die Gesichter, pflegt gleichzeitig die Liebe zu Details, die auf den jüdischen Glauben der Porträtierten verweisen. Da ist etwa die Dame im blütenbunten Kleid, die melancholisch in die Ferne schaut, im Hintergrund ein siebenarmiger Kandelaber. Oder die junge Frau mit Hut und schmalem Gesicht, die an den Film „Yentl“ mit Barbra Streisand erinnert.

Große Texttafeln sagen uns etwas über den Lebenslauf dieser Menschen, ihr Befinden und ihre Wünsche. Doch auch ohne das Geschriebene lassen die Bilder von Vogel und Toy-Unkel Deutungen zu. Das ist beeindruckend.

www.jmw-dorsten.de

www.m-bochum.de

 




Ringen um die Wittener Tage für neue Kammermusik nur vorerst beendet

Auch das "Calefax reed quintet" gastiert in Witten. Foto: WDR

Die „Wittener Tage für neue Kammermusik“ sind gesichert. Das liest sich eigentlich als gute Nachricht. Doch dahinter verbirgt sich leider die Tatsache, dass eines der traditionsreichsten, renommiertesten Festivals in Deutschland auf der Kippe stand. Und dass es an der Finanzierung hing – aber das ist ja für Kulturschaffende ein täglich elend Brot.

Die Kammermusik-Tage, seit 1969 gemeinsam vom WDR und der Stadt Witten veranstaltet, reichen bis ins Jahr 1936 zurück, damals von dem Komponisten Robert Ruthenfranz ins Leben gerufen. Sie entwickelten sich für die tonschöpfende Avantgarde zum wichtigen Uraufführungsforum. Und nicht zuletzt: Die Erfüllung von Kompositionsaufträgen brachte Geld.

Seit langer Zeit also gibt es Konzerte, Klanginstallationen (teils in freier Natur) sowie Gespräche, bisweilen auch Filme. Längst genießen die „Tage“ internationalen Ruf. Und die Porträtkonzerte, seit 1978 im Programm, widmeten sich zunächst vor allem dem Werk, das hinter dem Eisernen Vorhang entstand.

Witten war zudem stets Podium für junge Spezialensembles, aber auch für berühmte Formationen wie etwa das Arditti String Quartet. Schon bald stand das Festival im Ruf, das Donaueschingen des Ruhrgebiets zu sein, anspielend auf das Nachkriegsmekka der Neuen Musik. Selbst das Goethe-Institut brach einst eine Lanze für dieses wichtige Stück deutschen Kulturguts: ohne die „Tage“ sei manche Entwicklung zeitgenössischen Komponierens, etwa die Renaissance des Streichquartetts, kaum möglich gewesen.

Dies alles kostet selbstredend Geld. Der WDR übernahm dabei den größten Batzen, zuletzt etwa 200 000 Euro. Die Stadt Witten und das Land gaben zusammen (Stand 2010) gut 75 000 Euro – deren Anteil sollte in diesem Jahr etwas niedriger sein. Doch die hochverschuldete Kommune hat bisher keinen genehmigten Sparhaushalt, darf also ihren Betrag nicht zur Verfügung stellen. Dies wiederum, eine Auswirkung des sogenannten Stärkungspaktes, lässt die Geldbörse des Landes zugeschweißt. Die Frage, beklommen gestellt, sei erlaubt, inwieweit statt von Stärkung besser von Erpressung die Rede sein sollte. Nun, der Trend, die Kultur den einen oder anderen Kopf kürzer zu machen, hat ja im Moment Konjunktur. So widerlich und kurzsichtig dies auch ist.

Deshalb blieb nach langen Verhandlungen dem WDR nichts anderes übrig, als annähernd die gesamten Kosten für die Kammermusiktage zu übernehmen. Witten selbst muss nur noch die Räumlichkeiten und das Personal zur Verfügung stellen. Ein Scheitern dieser Gespräche wäre einer Katastrophe gleichgekommen. Nicht nur wegen der Ausfallhonorare für Komponisten und Interpreten, sondern vor allem wegen der (internationalen) Blamage.

Die Not ist indes nur für dieses Jahr beseitigt. Und so wird das Festival vom 27. bis 29. April wie geplant stattfinden. Mit 23 Uraufführungen und dem Porträt des dänischen Komponisten Hans Abrahamsen. Danach sollen alle Beteiligten über die Zukunft der „Tage“ beraten. Dass es soweit kommen musste, ist schlimm genug.




Was den designierten Chefdirigenten Gabriel Feltz in Dortmund erwartet

Der Berliner Gabriel Feltz soll neuer Chefdirigent der Dortmunder Philharmoniker werden. Foto: Stadt Dortmund

Nun also Gabriel Feltz. Er soll 2013 die Nachfolge Jac van Steens als Generalmusikdirektor (GMD) der Stadt Dortmund antreten. So hat es die Findungskommission einstimmig beschlossen. Nun hat der Rat das Wort, dieses Votum zu bestätigen. Es ist wohl davon auszugehen, dass die Politiker dem folgen. Alles andere wäre eine Sensation, die einem kleinen Eklat gleichkäme.

Dem neuen Mann am Pult der Dortmunder Philharmoniker ist Glück zu wünschen. Denn Fortune wird er brauchen in einer Stadt, deren Kulturdezernent (und Kämmerer) Jörg Stüdemann beim überfallartigen Rauswurf van Steens verkündete, die meisten Dirigenten der Stadt seien nach fünfjähriger Amtszeit ausgewechselt worden. Das mag richtig sein, für die künstlerische Entwicklung eines Orchesters indes ist diese Hire-and-fire-Mentalität eine Katastrophe. Bochum, Essen oder Duisburg haben ohnehin längst bewiesen, dass Kontinuität zum Erfolg führt.

Feltz ist Berliner, 1971 geboren, Absolvent der Hanns-Eisler-Musikhochschule und gegenwärtig Leiter der Stuttgarter Philharmoniker sowie erster Gastdirigent des Theaters Basel. Feste Engagements neben Dortmund wird er sich aber wohl verkneifen müssen. Sein Anstellungsvertrag soll entsprechend streng formuliert sein, ist zu hören. Damit reagiert die Stadt offenbar auf die Causa van Steen, dem sie mangelnde Präsenz vorwarf.

Feltz wird sich zudem wappnen müssen gegen ein höchst kritisches Publikum. Die Musik des 20. oder gar 21. Jahrhunderts hat in dieser Stadt keine ernstzunehmende Lobby. Und viele werden sich daran erinnern, dass Jac van Steen als sympathischer Menschenfischer im Dienste der Tonkunst sehr geschickt zu Werke ging und geht. Feltz, so heißt es, sei eher der analytische, weniger der emotionale Typ.

Damit nicht genug: Jüngst erst hat sich eine Initiative „PPP – Publikum Pro Philharmoniker Dortmund“ gegründet. Das klingt nach Unterstützung des Orchesters, ist aber in Wahrheit eine Bürger-Gruppierung, die sich gezielt gegen den Rauswurf van Steens wendet. Bei Bekanntgabe des Votums der Findungskommission pro Feltz wurde eilends ein Flugblatt gedruckt, das eben jene Entscheidung in Frage stellt und die Ratsmitglieder zumindest indirekt auffordert, den Gang der Ereignisse möglicherweise noch aufzuhalten. Die Initiative sieht vor allem die vertragliche Fesselung des neuen GMD als Problem. Dies würde zu einer künstlerischen Verarmung der Stadt führen, heißt es. Und weiter: „Lokale Fixierung führt schnell zur Degradierung. Wir sehen die Gefahr, dass die Philharmonie, die sich derzeit im Aufwind befindet, auf diese Weise auf das Niveau eines ,Provinzorchesters’ absinken könnte.“

Solcherart Pessimismus mag übertrieben sein, wie es auch seltsam anmutet, dass „PPP“ relativ spät (zu spät?) ans Licht der Öffentlichkeit drängt. Doch andererseits legt sie äußerst gezielt den Finger in eine gefährliche Wunde: Gabriel Feltz ist nicht Wunschkandidat des Orchesters. Eine Tatsache, die übrigens auch der Findungskommission bekannt war. Ulrike Märkel (Grüne), Mitglied der Kommission, wird jedenfalls mit den Worten zitiert, Nicholas Milton (zuletzt GMD in Jena) sei der Favorit der Dortmunder Philharmoniker gewesen. Die Musiker hätten sich indes auch positiv über Feltz geäußert.

Wer das Orchester kennt, weiß, dass dieses Positive sich schnell als Giftpfeil entpuppen kann. Aus dem jubilierenden „Habemus GMD“ wird dann bald ein „Kreuzigt ihn“. Erst den Neuen feiern, dann beginnt die Nörgelei. Ein Insider hat dies mit Blick auf van Steens Rauswurf so umschrieben: Der Dirigent sei an Intrigen, ernsten Problemen und Irrationalität gescheitert.

Deshalb steht am Ende dieser Betrachtung ein (wohlfeiles) Wortspiel: Der neue Chef der Dortmunder Philharmoniker, so er es denn wird, muss sich als „Feltz“ in der Brandung erweisen.




Charisma und Interpretationslust – der Bratscher Antoine Tamestit

Nachdenklich: Antoine Tamestit mit Bratsche. Foto: Eric Larrayadieu

„Ich bin froh, ein junger Wilder zu sein“, sagt Antoine Tamestit. Dahinter steckt natürlich eine gehörige Portion Selbstironie, schließlich ist der französische Bratscher längst zum arrivierten, ausdrucksstarken Künstler gereift, mit Auftritten in aller Welt. Doch das Gastspiel im Dortmunder Konzerthaus, sein letztes in eben jener Reihe „Junge Wilde“, gibt er voller Dankbarkeit, im Bewusstsein, dieses außergewöhnliche Format bereichern zu dürfen.

Die Idee dazu hatten Konzerthaus-Intendant Benedikt Stampa und sein Team vor sechs Jahren: Junge Künstler für drei Spielzeiten ans Haus zu binden, die nicht nur Standardkonzerte geben, sondern außergewöhnliche Programme mitbringen. Die bereit sind, sich dem Publikum zu öffnen: morgens in einer Schulklasse, abends beim offenen Gespräch mit den Zuhörern. Was zaghaft begann, ist inzwischen, kurz vor Ende der 2. Staffel, eine überaus erfolgreiche Veranstaltungsreihe.

Auch Antoine Tamestit, Jahrgang 1979, steht für den Typus junger, unkonventioneller, experimentierfreudiger Solist. Der Bratscher indes war von Beginn an weit mehr als nur ein begnadetes Talent – seine Bühnenpräsenz, gepaart mit einem von der Musik beseelten Bewegungsvokabular, ist Ausdruck intensiver Interpretationslust. Wir sehen ohne Zweifel einen Künstler mit Charisma, keinen virtuosen Blender.

So erfahren wir ihn nun in Dortmund, diesmal als Botschafter seines weitgefächerten Repertoires. Mit dem langjährigen Klavierpartner Markus Hadulla spielt Tamestit Werke von Bach, Brahms und Schostakowitsch. Es ist ein Abend im Geiste der Romantik. Bachs Sonate für Viola da Gamba und Cembalo klingt mit modernem Instrumentarium erheblich verdichtet, Brahms’ Transkription der 1. Klarinettensonate steht für das Wechselspiel seelischer Befindlichkeiten. Und Schostakowitschs Beitrag zu Gattung, kurz vor seinem Tod (1975) komponiert, fällt aus dieser Moderne heraus: Der Russe zieht in schroffer, ätherischer, gespenstisch grotesker Manier die Bilanz seines Lebens. Er bleibt sich und seiner Sprache treu, weitab entfernt von den seriellen Gepflogenheiten der Avantgarde.

Tamestit ist der große Gestalter und Klangfarbengeber. Das mag bei Bach etwas gekünstelt wirken, erweist sich aber in der aufgewühlten, grüblerischen, teils auch verhangen expressiven Brahms-Musik als Glücksfall. Es ist nur schade, dass der Bratscher dem Pianisten dabei immer eine Nasenlänge voraus ist. Erst Schostakowitschs tönender Endzeit verschafft Markus Hadulla wirkmächtige Kontur. Und wenn zum Schluss, offenbar ein wenig mit Material der „Mondscheinsonate“ spielend, die Musik langsam dahinstirbt, noch einmal aufzuckt in einem wehmütigen Bratschensolo, um letzthin im dynamischen Nichts zu entschweben, dann ist das große Kunst.




Dynamik und Ästhetik – preisgekrönte Pressefotos in Dortmund

Die Afghanin Bibi Aisha. Foto: Jodi Bieber

Das Bild ist um die Welt gegangen: Bibi Aisha, Afghanin, 18 Jahre alt, gewaltsam entstellt, ohne Nase. Bestraft, weil sie aus dem Haus des Ehemannes geflohen war. Der südafrikanischen Fotografin Jodi Bieber wurde mit diesem Porträt der Preis „World Press Photo of the Year“ (2011) zuerkannt. Wohl auch deshalb, weil trotz aller innewohnenden Grausamkeit das Bild eine Ästhetik ausstrahlt, die der jungen Frau ihre Würde lässt.

Im Dortmunder Depot sind nun (bis zum 8. März) alle prämierten Fotos zu sehen, 160 an der Zahl, preisgekrönte Werke in neun verschiedenen Kategorien, sowohl Einzelaufnahmen als auch Bilderserien. Sie sind überwiegend an Brennpunkten dieser Welt entstanden, dokumentieren auf teils erschreckende Weise des Menschen Kriege, sein Unglück, sein Leid. Aber auch Skurriles ist zu sehen, neben einigen schönen Naturfotos.

So kann es wohl zum eingangs erwähnten Bild der jungen Afghanin keinen größeren Kontrast geben als das Porträt der beiden schrulligen alten Damen, die auf einem irischen Jahrmarkt in die Linse des Fotografen Kenneth O’Halloran schauen. Die eine mit kauzig-grimmiger Miene, die andere mit einem sanften Lächeln, das etwas Fürsorgliches hat. Beide haben sich, in ihrer Art, schick gemacht – das Bild lebt nicht zuletzt von den sich beißenden Farben.

Wieder ein Kontrast: Der Blick fällt auf zwei Menschen, die in großer Distanz voneinander entfernt sitzen. Es sind nicht irgendwelche Personen, sondern ranghöchste Politiker Nordkoreas: Staatschef Kim Jong-il, der nach links auf seinen Sohn und designierten Nachfolger Kim Jong-un schaut. Ein skeptischer Vater blickt in Richtung seines Sohnes, dessen bulliges Gesicht wie versteinert wirkt. Fast wollen wir glauben, es menschelt zwischen den beiden.

Zwei Damen auf einem irischen Jahrmarkt. Foto: Kenneth O'Halloran

Viele Fotos, blickt man nur genau hin, sind trotz aller Schrecknisse von einem Funken Hoffnung erleuchtet. Ein junger Mann, der in der Westsahara für die Unabhängigkeit der Saharauis streitet, blickt gedankenverloren in den hellen Sternenhimmel. Oder betrachten wir nur die Schwarze, die in einer von Wellblech umzäunten Parzelle Cello übt, als Mitglied des Kinshasa Symphony Orchestra, das inzwischen weltweit Beachtung findet.

Erwähnt werden soll aber auch der deutsche Fotograf Uwe Weber, Preisträger für ein Dokument über die Duisburger Love Parade. Menschen dicht an dicht, nackte Angst in vielen Gesichtern. Es scheint, als würde sich die Masse im Bild bewegen. Ein Beispiel für viele Aufnahmen, die eine ungeheure Dynamik entfalten. Nicht zuletzt durch die Brillanz der Farben.

Ein Tölpel im Landeanflug auf eine Brutkolonie. Foto: Thomas P. Peschak

Schließlich wollen wir aber die Schönheit dieser Welt preisen. Thomas P. Peschak gelang das beste Foto in der Kategorie Natur. Ein Tölpel im Landeanflug auf eine Brutkolonie. Die Gesichtszeichnung des Tieres ist von größter Plastizität. Peschak, in Deutschland geboren und in Südafrika lebend, macht uns staunen.

www.depotdortmund.de




Getanztes Leben zwischen Abstraktion und praller Illustration

Tanz der Spitzhüte in Christian Spucks "Sleepers Chamber". Foto: Bettina Stöß/Stage Picture

Bilder, die sich gar nicht gleichen. Zu Beginn schneit es dunkle Erde im graugetünchten Raum, in dem riesenhafte Heuschrecken ihr Dasein fristen. Menschen, teils am Boden dahingekrümmt, lösen sich langsam aus einer Art Schockstarre, versuchen in zackigen, wie geometrisch wirkenden Bewegungen ihren Gliedern Leben einzuhauchen. Wir sehen „Sleepers Chamber“, also tänzerisches Erwachen in einer Schlafkammer – der erste Teil des neuen Doppelabends mit der Dortmunder Ballett-Compagnie.

Danach – welch völlig anderes Bild – die leere Bühne, durch Licht- und Farbspiele ein wenig aufgepeppt. Podium für überbordende Lebensfreude, die sich aus Bewegungsformen entwickelt, die Wut bis hin zur Gewalt, Enttäuschung und Einsamkeit illustrieren wollen. „Cantata“ ist der schlichte Titel dieser Choreographie, in der sich südländisches Temperament im Arte-Povera-Ambiente ausdrückt, garniert mit einer kleinen Commedia-dell’Arte-Episode.

So prallt das symbolträchtige Tanztheater Christian Spucks (Sleepers) auf wirkmächtiges Dolce-vita-Empfinden bei Mauro Bigonzetti (Cantata). Was dieser als überwiegend pralle, bodenständige Lebensszenerie auflegt, zeigt jener als geheimnisvolle, verwunschene, gleichwohl klare Parabel vom irdischen Werden und Vergehen.

Spucks menschliches Erwachen ist orientiert am Verhalten von Insekten, die mitunter erst nach monatelangem Schlaf aus der Erde krabbeln. Riesige Spitzhüte lassen Zauberstimmung assoziieren, manchmal aber wirken sie auf den Köpfen der roboterhaft agierenden Tänzer geradezu bizarr. Es ist ein Aufrappeln, Leben und Dahinsinken in hoch disziplinierter Aktion, immer eng am Puls der zugespielten, klangfarbenreichen elektronischen Musik Martin Donners.

Die Töne wiederum, die in der „Cantata“ ans Ohr gelangen, sind süditalienischem Brauchtum entnommen, tänzeln auf dem schmalen Grat zwischen originärer Volksmusik und publikumskompatibler Folklore. Eingespielt vom vierköpfigen Frauengesangsquartett „Gruppo musicale assurd“, das mit Kastagnetten, Tambourin und Akkordeon musiziert, sind diese Töne so melancholisch wie berstend vital.

Tanz als pralles Leben bei Mauro Bigonzetti. Foto: Bettina Stöß/Stage Picture

Doch Bigonzetti kann mit seiner Choreographie kaum einlösen, was als „Handlung“ vorgegeben ist. Wenn die Frauen aus dem Häuschen sind, Tarantella tanzen, entlädt sich dies in berauschten, lustvollen, heidnischen „Frühlingopfer“-Bewegungsformen. Doch die Zeichnung der italienischen Form des Machismo kommt oft unklar daher, wird belächelt. Das Stück, zyklisch gedacht als Folge von Ruhe in der Enge – Leben in der Weite – Ruhe wird konterkariert mit einem lauten Finale, das sich als klatschmarschträchtig entpuppt.

So ist dieser zweiteilige Ballettabend, der den etwas rätselhaften Titel „Träumer.Tanzen.Lieder“ trägt, stark am Beginn, schwach am Schluss. Alles indes getanzt auf hohem Niveau.

 




Wachstum möglich: Dortmunder „Klangvokal“-Fest erstmals auf sicherem Grund

Die israelische Sängerin Yasmin Levy zählt zu den "Klangvokal"-Gästen in Dortmund. Foto: Klangvokal

Wer die Pressemappe aufschlägt, sieht ein Tütchen „Gelbe Riesen“ vor sich. Sonnenblumen-Saatgut ist drin, wohl als sinnfälliges Symbol für Wachstum, letzthin fürs strahlend-duftige Sommergefühl. Ganz so wie das Bild auf dem Flyer des Dortmunder „Klangvokal“-Festivals. Blauer Himmel, ein gelbes Blütenmeer, eine Dame in Weiß: Das Programmheftchen, das den musikalischen Veranstaltungsreigen für 2012 unter dem Titel „Begegnungen“ auflistet, mag also für Optimismus im Dienste der Kunst stehen.

Dazu besteht derweil wieder Anlass. „Klangvokal“, die Verbeugung vor dem Facettenreichtum der menschlichen Stimme in Oper, Oratorium, Weltmusik und Jazz, prägt seit 2009 das Kulturleben der westfälischen Metropole. Anfangs war das Festival finanziell einigermaßen üppig ausgestattet, doch setzte die Stadt sehr schnell die Sparschraube an. Am Ende des Kulturhauptstadtjahrs (2010) war nicht sicher, ob das Festival weiter existieren kann. Quasi in letzter Minute schuf der Rat eine tragfähige Finanzgrundlage.

Nun aber haben sich die Politiker dazu entschlossen, den städtischen Zuschuss für 2012 bis 2014 zu garantieren. Das sind in diesem Jahr 330 000 Euro, in den nächsten beiden Jahren indes jeweils 10 Prozent weniger. Und dennoch: „Klangvokal“-Intendant Torsten Mosgraber ist froh, endlich Planungssicherheit zu haben. „Viele berühmte Künstler kann man nur weit im Voraus verpflichten“, weiß er um die Bedingungen des internationalen Konzertlebens.

Zum städtischen Zuschuss kommen weitere Mittel, die der Freundeskreis gibt, lokale Sponsoren beisteuern und die sich inclusive des Kartenverkaufs-Erlöses auf 270 000 Euro summieren sollen. Mosgraber sieht auch hier optimistisch nach vorn: Der Zuschauer-Zuspruch habe sich inzwischen bei gut 70 000 eingependelt. Auf jeden Fall können die Besucher in diesem Jahr (vom 16. Mai bis zum 3. Juni) 26 Konzerte an elf Spielstätten genießen. Mit im Boot sind etwa der Jazzclub Domicil, Theater und Konzerthaus Dortmund sowie diverse Kirchen.

Die hohe Publikumszahl erklärt sich vor allem daraus, dass der Kern des Festivals das (nunmehr vierte) Fest der Chöre ist. Dann ist jeder eingeladen, die Dortmunder Innenstadt singend zu beleben. Hinzu kommt in diesem Jahr der 6. Internationale Gospelkirchentag, mit einer gewissermaßen aufgefächerten Großveranstaltung auf 35 verschiedenen Podien. Und das Galakonzert mit der a-cappella-Formation „Wise Guys“ in der großen Westfalenhalle dürfte ebenfalls Zulauf finden.

Den Reiz des Festivals machen aber jenseits allen Gesangsspektakels außergewöhnliche Weltmusik- oder Jazzabende aus. Und eben jene Begegnungen, die in ihren Kontrasten für Spannung sorgen sollen. Etwa das Eröffnungskonzert, in dem Händels „Israel in Ägypten“ auf Musik des vorderen Orients trifft – mit dem Barockensemble „L’arte del mondo“ und irakisch-jüdischen Musikern.

Für den Jazz mögen hier der Amerikaner Kurt Elling und die Dänin Caroline Henderson stehen, für die Weltmusik die Sängerin Angelique Kidjo aus Benin oder der südafrikanische a-cappella-Chor „Ladysmith Black Mambazo“. Das Abschlusskonzert wiederum mit Vivaldis Oper „Juditha Triumphans“ gestalten neben dem Sinfonischen Chor der Chorakademie Dortmund die Accademia Bizantinia unter Leitung von Ottavio Dantone. Die Titelrolle singt die berühmte amerikanische Mezzosopranistin Vivica Genaux.

„Klangvokal“, inzwischen offenbar von Politik und Verwaltung anerkannt als wichtiger Beitrag zur oft propagierten Musikstadt Dortmund, hat also alle Chancen auf Fortbestehen. Daraus muss ja nicht gleich ein Riese erwachsen.

Karten gibt unter Tel.: 01805/570005

http://www.klangvokal-dortmund.de




„Gottschalk live“: Onkel Thommy plaudert brav und voller Selbstmitleid

Gottschalk in seinem Element, vor Publikum 2005 zur Eröffnung einer Haribo-Ausstellung in Koblenz. Foto: Weinandt

Einer muss es ja schließlich tun. Sich todesmutig hinabstürzen ins öffentlich-rechtliche Vorabendprogramm. Die Courage besitzen, einem Giganten der Fernsehunterhaltung etwa 25 Minuten lang Aug’ und Ohr zu leihen. Also tapfer sein und Thomas Gottschalk gucken. Kritiker, Du gehst einen schweren Gang. Muss es sein? Es muss sein!

Und ach: So groß ist die Hemmschwelle nun wieder nicht. Wir sitzen im Wohnzimmer, der Entertainer auch. Ein lieber Onkel, der da zu uns spricht. Er gibt sich familiär und artig, redet in moderatem Tonfall. Nun liebe Kinder (und Erwachsene), gebt fein acht… Was er uns kredenzt, ist indes der Beachtung wenig wert: schale Gags, selbstmitleidige Reminiszenzen an seinen größten Erfolg namens „Wetten, dass..?“ und nach wie vor das unterschwellige, gleichwohl subtile Betteln um Zuschauer.

„Gottschalk live“ heißt dieses neue ARD-Format. Es kommt nicht an, die Einschaltquoten purzeln ins gefühlte Nirvana. Vielleicht, weil sich der Moderator selbst im Weg steht. Steif wirkt er, wie ein sedierter Harald Schmidt. Gut, ihn begleitet weder eine Live-Band noch kann er sich vor Studiopublikum austoben. Zugegeben, im Verhältnis zu „Wetten, dass..?“, hat er nur eine Minute Zeit. Aber warum dann nicht in Würde aufhören, statt sich ins Korsett der kurzen Dauer zu zwingen?

An diesem Montag ist Helge Schneider zu Gast. Der sieht seltsam zivilisiert aus, richtet sich in Gottschalks behaglicher Stube brav ein. Man plaudert, und dann darf Schneider, der vorzügliche Jazzpianist, dem Flügel im Hintergrund sanfte Klänge entlocken. Währenddessen erzählt Katherine Heigl, amerikanische Schauspielerin deutsch-irischer Abstammung (bekannt durch die Krankenhaus-Serie „Grace Anatomy“), wie sie sich auf die Spuren ihres Großvaters in Esslingen gemacht hat. Dass Gottschalk dabei der Simultanübersetzerin allzuoft ins Wort fällt, ist ein ärgerlicher Schönheitsfehler.

So plätschert der Vorabend dahin. Die Lider werden schwer. War noch was? Ach ja, ein Berliner Würstchenverkäufer, der seinen Grill am Fahrradlenker befestigt hat, bringt „Würstchen für die Würstchen“ (Originalton Gottschalk, haha) ins Studio. Und ganz zu Beginn der Sendung stimmt uns eine Haribo-Reklame ein – nur froh werden wir nicht. Dirty Harry, übernehmen Sie!




„Acht Brücken“: Köln blickt auf den musikalischen Tüftler John Cage

John Cage machte die Stille hörbar. Szenenfoto zur Performance "Listen to the Silence". Foto: Acht Brücken

Claude Debussy und Maurice Ravel, Philip Glass und John Cage: Es gibt 2012 einige Jubilare zu feiern, sei es deren runder Geburts- oder Todestag. Die vier Genannten haben zumindest gemeinsam, dass sie, jeder auf seine Art, nicht weniger als eine musikalische Revolution ausgelöst haben. John Cage ist unter diesen Komponisten vielleicht der Innovativste, Experimentierfreudigste gewesen. Auf jeden Fall gilt es heuer, ihn (neu) zu entdecken. Das Kölner Festival „Acht Brücken“ lädt dazu ein (29.4.-6.5.2012). Mehr als 40 Konzerte versprechen die plastische Darstellung eines überaus facettenreichen Bildes.

John Cage wurde vor 100 Jahren in Los Angeles geboren, er starb 1992 in New York. Mehr als 250 Werke hat er geschrieben, hinzu kommen musiktheoretische Texte. Kurzzeitig studierte er in Europa (Paris) und bei Arnold Schönberg in dessen amerikanischem Exil, mithin bei einem der wichtigsten Vertreter der europäischen Avantgarde. Insofern findet sich auch Cage in einer Tradition, die bis weit ins 19. Jahrhundert zurückreicht: (Mittel)-Europa war für Komponisten der Neuen Welt wichtigster Anknüpfungspunkt.

Einerseits setzte Cage dieser Historie ein skurriles, witziges, aufregendes, ironisches Denkmal: mit den Europeras I-V, ganz eigene Reminiszenzen an die Operngeschichte. Zum anderen aber lotete er mit seinem wohl berühmtesten Stück, 4’33’’, die Stille des musikalischen Raumes aus. Oder begab sich mit den Kompositionen für präpariertes Klavier auf neue Klangspuren, die sich teils, auf verblüffende Weise, fernöstlichen Farben annähern. Oft führte ihm der Zufall die kompositorische Hand, stellte er in „Zeitklammern“ den Interpreten frei, wann die jeweiligen Töne gespielt werden müssen.

Entsprechend weit gefächert ist das Werkangebot von „Acht Brücken“.  Die Sonatas and Interludes für präpariertes Klavier erklingen ebenso wie die Suite for Toy Piano (Spielzeugklavier) oder Cages Song Books. Gespannt sein darf man auf die bereits erwähnten Europeras, deren Nummern III bis V vorgestellt werden. Keine einzige Note stammt von Cage selbst. Vielmehr zelebriert er eine Collagetechnik, die etwa 36 Arien von Gluck bis Puccini zusammenschweißt, von sechs Sängerinnen und Sängern nach Belieben ausgewählt. Oder 140 Fragmente aus Lizstschen Opernfantasien, von zwei Pianisten in die Flügel gehämmert. Wie sagte Cage: „200 Jahre lang haben uns die Europäer ihre Opern geschickt, nun senden wir sie ihnen zurück.“

Natürlich beschäftigt sich „Acht Brücken“ nicht mit Cage allein, sondern leuchtet auch das amerikanische Umfeld aus – mit Werken etwa von Charles Ives und George Gershwin, Samuel Barber und Philip Glass. Berühmte Interpreten geben sich die Ehre: so der Bariton Thomas Hampson, die Geigerin Patricia Kopatchinskaja, der Schlagzeuger Martin Grubinger, das Ensemble musikFabrik oder die Münchner Philharmoniker. Begleitend zum Konzertprogramm gibt es das Förderschulprojekt „Visionen“, Vorträge, Filme und Performances.

Kurzum: Köln schaut mit europäischem Blick auf das Amerika des John Cage.

www.achtbruecken.de




Der grüne Bademantel – über Probleme, die Dortmunder in die Oper zu locken

Stein des Anstoßes: Der grüne Bademantel der Norma (Miriam Clark). Foto: Stage Picture

Es ist schon verrückt: Da kann ein grüner Bademantel über das Wohl und Wehe einer Operninszenierung entscheiden. Es mag noch so exquisit gesungen werden, das Orchester noch so beherzt aufspielen, das Stück selbst melodienselig dahinfließen: Wenn die Optik einem Großteil des Publikums nicht gefällt, gibt’s Mecker und Verweigerung. 

So geschehen in Dortmund: Vincenzo Bellinis Belcanto-Hit „Norma“, zur Premiere gut besucht, wurde in den Folgevorstellungen abgestraft – leere Ränge allenthalben. Weil Normas Outfit nicht dem Geschmack entsprach: Knallige Farben, eine Corsage, die angeblich einer Dame des liegenden Gewerbes zur Ehre gereicht hätte: zuviel für manchen Zuschauer.

Nun, der Vorgang liegt schon eine Weile zurück, doch Jens-Daniel Herzog, neuer Opernintendant in Dortmund, musste sich der Debatte erneut stellen. Er hatte zur Halbzeitbilanz seiner ersten Saison eingeladen, zu einem Publikumsgespräch über Stärken und Schwächen der bisherigen Produktionen, das der Musikjournalist Holger Noltze moderierte.

So entzündete sich eine Debatte an einem kostümbildnerischen Detail, die sich schnell Grundsätzlichem zuwandte. Wieviel darf das Theater von seinem Publikum verlangen. Sollten die Zuschauer mehr mitbringen als den Wunsch nach Unterhaltung? Wieviel Aktualität verträgt ein Stück, das sich etwa vor dem historischen Hintergrund des 18. Jahrhunderts bewegt?

Norma - eine Priesterin in Unterwäsche. Foto: Stage Picture

Herzog, der nicht gerade zu den Regieberserkern oder Stückezertrümmerern zählt, hält gleichwohl die Freiheit der Kunst für unantastbar. Mit Freude zitierte er aus dem Mailwechsel mit einer Zuschauerin, die sich eben über die Kleidung der Norma echauffierte. Bei aller gegensätzlichen Auffassung sei es zu einem intensiven Dialog gekommen, der für das Theater ungemein wichtig sei.

Publikums Stimme forderte geradezu diesen Dialog: „Wie wollen die Absichten des Regisseurs verstehen, sie muss uns erklärt werden“, rief eine leidenschaftliche Opernbesucherin. Und Herzog wiederum gab zu: „Wir müssen dahin kommen, dass Sie die Augen öffnen, nicht vor einer vermeintlich unbequemen Ästhetik verschließen. Wenn aber die Zeichen auf der Bühne, die für eine bestimmte Interpretation stehen, nicht erkannt werden, ist das jämmerlich“.

So alt diese Diskussion eigentlich ist, so gewichtig ist die aktuelle Situation, in der die Debatte geführt wird.  Denn nach den Intendanzen von John Dew und Christine Mielitz hat Jens-Daniel Herzog ein Haus übernommen, dem viele Zuschauer längst den Rücken gekehrt hatten. Wiederaufbau ist also angesagt. „Wir brauchen gegenseitiges Vertrauen“, wies Chefdramaturg Georg Holzer einen Weg. Das Theater müsse zeigen, dass ihm ernsthafte Arbeit und Qualität am Herzen lägen. Das Publikum wiederum solle die Bereitschaft signalisieren, sich mit neuen Ideen auseinanderzusetzen.

Und so schlecht sieht es in Dortmund angeblich nicht aus. Der Abwärtstrend sei gestoppt, das Betriebsklima verbessert, so Herzog. Natürlich weiß er, dass noch ein weiter Weg vor ihm liegt, doch seine Programmlinien will er konsequent durchziehen. Also jede Saison etwa eine Wagner-, Mozart-, oder Belcanto-Oper bieten, ein Musical, eine Operette, zudem Musiktheater des 20. Jahrhunderts, das sich aus der Spätromantik ableite. „Norma“ mag nicht gelaufen sein, die „Lustige Witwe“ etwa oder „Cosi fan tutte“ aber sind gefragt.

„Eigentlich gibt es hier für jedes Genre ein eigenes Publikum. Wir müssen daraus ein Opernpublikum schaffen“, ist Georg Holzers Überzeugung. Im übrigen sehe man sich vor, in den kommenden Inszenierungen wieder soetwas wie einen „grünen Bademantel“ zu präsentieren. Derart gewichtige Symbolik klingt nach einem Alleinstellungsmerkmal – so schräg ist nur Dortmund.




Nicht pompös, sondern für alle da – bewährte Programmvielfalt beim Klavier-Festival Ruhr

Auch Yuja Wang ist Gast des Klavier-Festivals Ruhr 2012. Foto: Wohlrab

Das Klavier-Festival Ruhr 2012 beginnt um neun. Früh morgens, versteht sich – als taufrische Ouvertüre zum gut zwei Monate dauernden Pianistentreffen (5. Mai bis 14. Juli). Im WDR3-Klassikforum, moderiert von Hans Winking, sollen Künstler, Sponsoren und Intendant Franz Xaver Ohnesorg zu Wort kommen, Musik inklusive, direkt aus der Essener Philharmonie.

Ohnesorg dürfte sich freuen über diese öffentlichkeitswirksame Neuerung – wie auch über die Tatsache, dass die noch junge Stiftung Klavier-Festival es erstmals geschafft hat, Rücklagen zu bilden. Gleichwohl weiß er, dass ein langer Atem erforderlich ist: „Es wird mehr als 15 Jahre dauern, um von den Zinsen des Stiftungskapitals das Festival hauptsächlich zu finanzieren“, sagt Ohnesorg.

Bei der Vorstellung des Programms in der Essener Philharmonie demonstriert er allerdings auch Bescheidenheit. „Wir sind kein pompöses Festival, wir grenzen niemanden aus“, betont der Intendant. Mit dem Hinweis auf günstige Tickets für alle Konzerte, auf Preisermäßigungen für Jugendliche wendet er sich so gegen eine Debatte, die (privat geförderte) Kultur und Soziales gegeneinander ausspielen will. Mit Nachdruck erwähnt er zudem das Education-Programm: 600 Kinder würden angesprochen, an verschiedenen Projekten teilzunehmen.

Doch dem Intendanten ist natürlich klar, dass auch die Kunst nach Brot geht. Und so verbucht es Ohnesorg, der sich im Kreis der Förderer, Sponsoren und jetzt sieben Partnerstiftungen „wohl aufgehoben“ fühlt, als Erfolg, dass nunmehr gut 40 Prozent des Festival-Etats Sponsorenmittel sind. „Dabei liefert der Initiativkreis Ruhrgebiet immer noch den größten Beitrag.“

Für Ohnesorg ist das stete Umwerben weiterer Geldgeber auch Anlass, neue Spielstätten zu erschließen. So begibt sich das Festival im Rahmen von 65 Konzerten (2011 waren es 61) wiederum teils ins Westfalenland. In Schwelm, im Ibach-Haus, tritt David Kadouch auf (22.5.), debütiert die junge französische Pianistin Lise de la Salle (11.7.). Das Schloss Rheda ist Auftrittsort für Christine Schornsheim (2.6.), das Wasserschloss Gartrop in Hünxe für den Essener Folkwang-Professor Boris Bloch (9.7.). „Wir wollen dahin gehen, wo unser Publikum zuhause ist“, lautet des Intendanten Credo.

Die französische Pianistin Lise de la Salle gibt ihr Debüt beim Festival. Foto: Lynn Goldsmith

Insgesamt setzt das Festival auf die bewährte Mischung aus vielversprechenden jungen Solisten und Berühmtheiten des Fachs. 2012-Jubilare wie John Cage (100. Geburtstag) oder Claude Debussy (150. Geburtstag) sind Anlass für einen französisch-amerikanischen Schwerpunkt.

Dessen konzertanten Beginn – nach dem frühmorgendlichen Auftakt – bestreiten in Essens Philharmonie die Bochumer Symphoniker unter Steven Sloane und der Pianist Jean-Yves Thibaudet mit Werken von Ravel, Gershwin und Bernstein. Für den jazzigen Kehraus sorgen wiederum Till Brönner und Freunde in Duisburgs Mercatorhalle.

Dazwischen lotet Steffen Schleiermacher die präparierte Klavierwelt von John Cage aus (29. 5., Essen), lädt Alfred Brendel zum pianistischen Meisterkurs (2. – 4. 7., Essen), begibt sich András Schiff erstmals am Hammerklavier auf Schuberts Spuren (13. 7., Mülheim).

Schuberts Musik ist gewissermaßen ein heimlicher Schwerpunkt des Festivals, der seinen Ausdruck etwa im Hertener Liedwochenende findet (17.-18. Mai). Sechs Konzerte wiederum wenden sich dem Jazz zu. Dabei soll die Begegnung von Chick Corea und Bobby McFerrin besondere künstlerische Überraschungen liefern (25. 6., Essen).

Den Preis des Klavier-Festivals Ruhr bekommt der rumänische Pianist Radu Lupu während seines Konzerts in Mülheim (21.5.). Er interpretiert Werke von César Franck, Schubert und Debussy.

Die letzte Information, die Ohnesorg bei dieser Programmvorstellung liefert, lädt uns ein zu lustvoller Spekulation. „Im kommenden Jahr feiern wir 25 Jahre Klavier-Festival Ruhr. Dann gibt es ein neues Format.“

 

Karten gibt es unter Tel. 01805 500 80 3 oder im Internet: www.klavierfestival.de

 

(Der Text ist in ähnlicher Form in der WAZ erschienen)

 

 




Lisztiana V – Akkurate Analysen am Klavier

Nino Gvetadze

Nino Gvetadze stammt aus Georgien. 1981 in Tiflis geboren, gab die Pianistin schon mit sechs Jahren ihr erstes öffentliches Konzert. Das Studium absolvierte sie am Konservatorium ihrer Heimatstadt, bevor sie in die Niederlande ging. Dort begann sie eine Karriere, die inzwischen eine internationale ist.

Ein „normaler“ Werdegang einer aufstrebenden Virtuosin also. Doch den ganz großen Namen hat sich die Künstlerin noch nicht gemacht. Vielleicht liegt es an ihrem eleganten, ein wenig scheu wirkenden Habitus, der sich deutlich abhebt vom lauten Geschäft, das die Klassik ja auch ist. Hier jedenfalls, mit ihrer nunmehr dritten CD (Orchid Classics/Naxos), erscheint uns Gvetadze auffallend zurückhaltend.

Und dies bei einer Platte, die sich ausschließlich dem Werk Franz Liszts widmet. Da gilt der Pianistin Augenmerk der schroffen, sperrigen 10. Ungarischen Rhapsodie und dem dramatischen Erzählgestus der h-moll-Ballade. Da setzt die Künstlerin zwei sanfte Lied-Transkriptionen („Widmung“ von Schumann und Schuberts „Gretchen am Spinnrad“) vor die große, bedeutungsschwere, virtuose h-moll-Sonate.

Man muss inzwischen nicht mehr viele Worte darüber verlieren, dass der Nachwuchs am Klavier über genügend technisches Können verfügt, ein solch gewichtiges Programm mindestens zu bewältigen. Doch bei Nino Gvetadze ist auffällig, dass sie ihre virtuosen Fähigkeiten geradezu exerziert. „Hört her, ich kann’s“ scheint die Devise zu lauten, und so zelebriert sie noch die kühnsten Figurationen, schafft mithin Interpretationen, die von der ersten bis zur letzten Note genauestens durchdacht sind.

Wo soviel Ordnung in der Formgestaltung herrscht, zerfällt die Rhapsodie in Einzelepisoden. Wo das Grollen der Ballade durch Noblesse gewissermaßen unterwandert wird, sich die Pianistin einer gestrengen technischen Sorgfalt verpflichtet sieht, gleitet alle Dramatik ins Banale ab. Manchmal versöhnt uns Gvetadze mit Klangfarben, die auf Debussy verweisen, doch das Unbehagen bleibt.

Über Liszts h-moll-Sonate hat sich Béla Bartók so differenziert wie kritisch geäußert. Sah Dunkles, Großes, Infernalisches neben Banalem, Süßlichem, sprach von leerem Pomp. Die Interpretation der jungen Georgierin lässt uns dies gut nachvollziehen, was indes bedeutet, dass sie den großen musikalischen Bogen des Werks nicht erfahrbar macht. Knallige oder sentimentale Effekte, bisweilen ein Klang, der im Hall zu ertrinken droht: Der Hörer fühlt sich unangenehm berührt. Gvetadzes akkurat analytischer Zugriff macht aus Liszts faustischem Ringen ein Stück absoluter Musik.




„Verträgen halte Treu'“ – Kann Castorf den „Ring“?

Er macht’s. Er, das ist Frank Castorf, Intendant der Berliner Volksbühne, Regie-Berserker und Stückezerfledderer. Er wagt sich ans Größte, Hehrste des musikalischen Theaters – also an Richard Wagners gewaltige, episch breite Trilogie „Der Ring des Nibelungen“. Kann er’s? Vor allem: Schafft er’s ausgerechnet am würdevollen Weihetempel namens Bayreuth? Die da das Sagen haben, Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier, rufen ein klares „Ja“.

So steht es also fest: 2013, im Jahr des 200. Geburtstags von Richard Wagner, inszeniert ein Beinahe-Grünschnabel in Sachen Opernregie den mächtigen Vierteiler des Genius. Was nicht unbedingt ein Problem sein muss: Christoph Marthaler, Christoph Schlingensief oder Werner Herzog waren auch nicht unbedingt die geborenen Opern-Deuter – auf dem Grünen Hügel lieferten sie Achtbares. Andererseits: Die Filmemacher Lars van Trier (Melancholia) und Wim Wenders (Der Himmel über Berlin) hatten vor dem „Ring“ bereits kapituliert, einen entsprechenden Bayreuther Auftrag dankend zurückgegeben.

Nun also Frank Castorf. Er ist im Revier kein Unbekannter. 2004 hatte der DGB den Einjahresintendanten ganz unsolidarisch vom Ruhrfestspielhof Recklinghausen gejagt. Weil das Publikum weggeblieben war. Niemand wollte sehenden Auges in eine Image-Katastrophe schlittern. Ein Regisseur aus (Ost)-Berlin, der gerne suburbanes Elend auf die Bühne wuchtete, war zuviel des Üblen.

Richard-Wagner-Büste im Garten auf Bayreuths Grünem Hügel, in grimmiger Erwartung.

An Opern wiederum hat sich Castorf bisher zweimal versucht. Giuseppe Verdis Eifersuchtsdrama „Otello“ brachte er 1998 in Basel heraus. Er geruhte, die Konventionen und Illusionen des Musiktheaters zu zerstören. Alles lief beiläufig ab, nichts berührte. 2006 folgten in Berlin „Die Meistersinger von Nürnberg“. Jedenfalls ein bisschen davon – mit Schauspielern und einem „Chor der werktätigen Volksbühne“, mit Textbrocken aus Ernst Tollers Revolutionsdrama „Masse – Mensch“.

Kann Castorf also den Ring in Bayreuth? Er wird sich an jede Note, jede Silbe halten müssen, sonst wird ihn der „Wagnerianer“  ins ewige Walküren-Feuer verbannen. Doch er hat einen Vorteil: Er ist, nach Wenders‘ Absage, der Retter in der Not. Ohnehin ist die Zeit knapp, einen anständigen Ring aus dem Boden zu stampfen. Im übrigen: Nach dem „Tannhäuser“, den Sebastian Baumgarten heuer in der Biogasanlage verortete, kann’s kaum schlimmer kommen.

Den wohl größten Skandal auf dem Grünen Hügel hat sowieso Patrice Chéreau zu verantworten. Dessen „Jahrhundertring“-Deutung (1976) datierte in Zeiten der Frühindustrialisierung – mit entsprechend antikapitalistischem Einschlag. Störungen im Festspielhaus und Debatten nach den Aufführungen, die bisweilen in Prügeleien kulminierten, waren das Ergebnis. So gesehen, soll Castorf ruhig kommen. Bayreuth ist bereit.

 

 




Lisztiana IV – Und wie hält er’s mit der Religion?

Franz Liszt, Fotografie um 1860.

Franz Liszt, Fotografie um 1860.

Die Musikwelt feiert heuer den 200. Geburtstag von Franz Liszt. Das Urteil über ihn scheint klar: der Frauenheld, der Tastenlöwe. Dass er 1865 die niederen Weihen erlangte, sich fortan Abbé nennen durfte – bestenfalls eine Laune. Oder eine Flucht in die Religion? Michael Stegemann, Professor für Historische Musikwissenschaft an der TU Dortmund, weiß zu differenzieren. Gerade hat er das Buch „Franz Liszt – Genie im Abseits“ veröffentlicht. Martin Schrahn sprach mit ihm über den tiefreligiösen, janusköpfigen Komponisten und über dessen kirchenmusikalisches Werk.

Es heißt, Liszt habe schon als Knabe den Wunsch geäußert, Priester zu werden. Ist das glaubwürdig, Herr Stegemann?

Michael Stegemann: Ich denke schon. Der Musikfeuilletonist Joseph d’Ortigue hat dies 1835 in der „Gazette musicale de Paris“ so dokumentiert und beruft sich auf Tagebücher von Liszts Vater.

Die allerdings verschollen sind.

Ja. Doch Liszt selbst hat diese Äußerung auch später noch bestätigt, gegenüber seiner Biographin Lina Ramann.

Was trieb ihn zu diesem Wunsch?

Er suchte Geborgenheit. Schutz im Schoß der Mutter Kirche, wenn Sie so wollen. Denn der Wunderknabe am Klavier, vom Vater durch die Salons gehetzt, war von seiner Mutter getrennt. Wir müssen dies aber auch vor dem Hintergrund sehen, dass Liszt in ein tief katholisches Haus hineingeboren wurde. Ganz bewusst wurde er auf den Namen Franciscus getauft.

Als der Vater plötzlich starb, 1827 in Boulogne-sur-Mer, hätte Franz seinem Leben die erwünschte Richtung geben können.

Theoretisch schon. Doch er musste sich um die Mutter kümmern, die ihm nach Paris nachgereist war. Auffällig aber ist, dass er noch vor dem Tod des Vaters ein Tagebuch begann – das nichts anderes war als eine Sammlung moralisch-religiöser Zitate und Maxime. Er las außerdem „Paradise Lost“, das epische Gedicht des Engländers John Milton.

Dann traf der Komponist in den 1830er Jahren den Abbé Félicité de Lamennais…

Und der Abbé und seine vom sogenannten Saint-Simonismus geprägten Schriften hatten enorme Bedeutung für die spirituelle und künstlerische Entwicklung des Komponisten. Saint-Simon vertrat die Meinung, Kunst und Religion sollten gleichermaßen den Menschen dienen. Er sprach quasi aus dem Geist der Juli-Revolution von 1830.

Und der Abbé?

War verantwortlich dafür, dass Liszt sich dem ernsthaften Komponieren zuwandte. Der Künstler habe die christliche Aufgabe, dem Menschen zu einem besseren Leben zu verhelfen, schrieb Lamennais. Der Komponist selbst wollte fortan zwei Maximen folgen: „Génie oblige“ und „Caritas!“. Das Genie ist verpflichtet, sich für die Kunst einzusetzen wie auch für die Menschen, die Hilfe brauchen.

Alles schön und gut. Aber gleichzeitig begann er die Affäre mit Marie d’Agoult, einer verheirateten Frau. Selbst nach deren Scheidung lebten sie quasi in wilder Ehe, hatten drei Kinder miteinander. Spricht das nicht gegen seine tief verwurzelte Religiosität?

Der Liszt-Forscher Michael Stegemann. Foto: Klavier-Festival Ruhr

In diesem Fall schließt das eine das andere nicht aus. Aus Briefen geht hervor, dass beide durchaus ein gemeinsames Bild von Religiosität hatten. Doch dazu gehörte eben auch Lebensfreude. Liszt hatte allerdings wohl nie die Absicht, Marie zu heiraten, das Verhältnis also zu legalisieren.

Doch später bei Caroline von Sayn-Wittgenstein waren die Hochzeitspläne keine Spielerei?

Nein, sie haben wirklich ernsthaft und über Jahre darauf hingewirkt. Und sie hätten es sich einfach machen können, nach Carolines Scheidung von ihrem Mann, dem Fürsten Nikolai von Sayn-Wittgenstein, Spross eines alten, aber verarmten litauischen Adelsgeschlechts, zum Protestantismus zu konvertieren. Doch sie wollten den Dispens des Papstes, also katholisch heiraten.

Was in letzter Sekunde vereitelt wurde. Warum?

Weil die Familie des Fürsten Hohenlohe – dem Mann von Carolines Tochter aus erster Ehe, Marie – ein übles Intrigenspiel anzettelte. Es ging um Geld und Besitz, Marie hätte nichts geerbt. Und das Sayn-Wittgensteinsche Vermögen in Form von Landbesitz, das Caroline von ihrem Vater geerbt hatte, war unermesslich groß.

Sie hat sich nach dieser Niederlage von der Kirche abgewandt, veröffentlichte sogar eine mehrbändige Abrechnung mit dem Vatikan. Wieso aber hat sich Liszt arrangiert?

Die Kirche war für ihn noch immer ein Schutzraum. Zeitweise lebte er in Rom sogar in einem Kloster. Bei aller Berühmtheit war er doch lieber für sich. Denn Liszt sah sich selbst als Gescheiterten. Sein Werk erfuhr Missachtung, die Beziehung zu Caroline verblasste nach und nach. Schon 1858 war er in Pest in den Franziskanerorden eingetreten.

Lassen Sie uns zur Kirchenmusik des Komponisten kommen. Warum taten sich die Zeitgenossen auch damit schwer?

Zunächst einmal: Liszts Werke auf diesem Gebiet zählen zum Wichtigsten des 19. Jahrhunderts. Seine Reform, die er auch theoretisch untermauert hatte, lief in Richtung einer musikalischen Ökumene. „Via Crucis“ etwa, eine Darstellung der Kreuzwegstationen Jesu, verknüpft gregorianische mit lutherischen Chorälen. Dieses späte Opus ist übrigens bestes Beispiel für den spröden, aber ungemein faszinierenden Altersstil Liszts. Es blieb, mit seinen Klängen, die weit in die Harmonik des 20. Jahrhunderts weisen,  unverstanden. „Via Crucis“ wurde überhaupt erst 1929 uraufgeführt.

Immerhin konnte er mit der „Legende von der Heiligen Elisabeth“ Erfolge feiern. Woran lag das?

Das Werk war eher volkstümlich religiös und protestantisch geprägt, orientiert an der deutschen Oratorientradition, etwa mit Blick auf Mendelssohns „Elias“.

Liszt, der Unverstandene, der Gescheiterte. Es heißt, er habe Selbstmordgedanken geäußert. Wie viel Wahrheit ist daran?

Wir müssen diese Äußerungen sehr ernst nehmen. Er schreibt dies etwa in einem Brief an Olga von Meyendorff, die er 1863 in Weimar kennengelernt hatte. Auch seine Biographin Lina Ramann bestätigte seine Lebensunlust. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass Liszt seit 1842 regelmäßig trank, schließlich zum Alkoholiker wurde. Ich wage zu behaupten, dass er im klinischen Sinne depressiv war.

Er genoss das Weltliche und flüchtete sich letzthin in die Religion?

Nein, diese Ebenen existieren gewissermaßen übereinander.  Das oft vorgetragene Bild, Liszt habe erst mit seiner Weihe zum Abbé zur Religion gefunden, ist falsch.

Auch das Komponieren von Kirchenmusik hat ja nicht mit dem Weihejahr begonnen.

Genau. Sein „Psaume instrumental“ (De Profundis) für Klavier und Orchester entstand schon 1834. Der 1833 begonnene, 20 Jahre später veröffentlichte Klavier-Zyklus  „Harmonies poétiques et religieuses“ ist tief religiös geprägt. Darauf folgten die großen kirchenmusikalischen Werke: die Graner Messe, Missa solemnis, das Oratorium „Christus“.

Blicken wir auf das Jubiläum. Warum wird des Meisters Kirchenmusik so gut wie gar nicht aufgeführt?

Insgesamt ist zunächst festzuhalten, dass überhaupt nur der geringste Teil von Liszts 800 Werken in Konzerten zu hören ist. Außerdem gilt: Kirchenmusik ist nicht cool. Der Hype des Virtuosen hingegen ist nahezu ungebrochen. Das Publikum jubelt, wenn sich junge Tastenzauberer etwa in die Ungarischen Rhapsodien stürzen.

Ist das der einzige Grund?

Nein, ein Problem ist natürlich auch, dass das kirchenmusikalische Werk wenig erschlossen ist. Es gibt keine kritische Notenausgabe. Und letzthin: Das gängige Liszt-Bild, das eines Superstars, ist doch bequem. Es gibt wenig Interesse, es zu korrigieren.

Kann das Jubiläumsjahr mit all seinen Publikationen und Sonderkonzerten nicht Abhilfe schaffen?

Vielleicht punktuell. Doch ich fürchte, dass nach dem Liszt-Jahr alles schnell vergessen sein wird.

 

(Das Gespräch wurde in ähnlicher Form in der „Tagespost“, Würzburg, veröffentlicht)

 

 




Café zur Sehnsucht – Dortmund zeigt Francesco Cavallis Oper „L’Eliogabalo“

Eliogabalo (Christoph Strehl, M.) lässt sich von den Intriganten Zotico (Hannes Brock) und Lenia (Elzbieta Ardam) beraten. Foto: Jauk

Es war kein Geringerer als Claudio Monteverdi, der den 14jährigen Francesco Cavalli 1616 als Sänger an den Markusdom von Venedig holte. Und dieser junge Eleve wurde im Laufe des Jahrhunderts zum wohl berühmtesten venezianischen Opernkomponisten. „La Calisto“ oder „La Didone“ entpuppten sich als Glanzlichter der Spätrenaissance, mit Wirkung weit über Italien hinaus.

Cavalli hatte indes auch das Glück des Tüchtigen. Denn sein Aufstieg in Venedig ging einher mit einem Boom an Theatergründungen. 1637 eröffnete das Teatro San Cassiano, bald gab es bis zu sieben Spielstätten. Die Gattung Oper, ganz jung noch, gewann an Statur. Und Cavalli war einer ihrer wichtigsten Baumeister. Sein spätes Bühnenwerk allerdings, „L’Eliogabalo“, 1667 entstanden, sollte nicht mehr gefallen. Der Geschmack des Publikums wechselte schnell, das Werk geriet in Vergessenheit.

Es ist den Streitern für die „Historische Aufführungspraxis“ zu danken, dass uns Cavallis Opern erneut ins Bewusstsein gerückt sind. „L’Eliogabalo“ etwa brachte René Jacobs 2004 in Innsbruck heraus. Und nun hat sich das Theater Dortmund des Dreiakters um den dekadenten, lüsternen römischen Imperator Marcus Aurelius Antoninus (Heliogabal) angenommen. Frisch musiziert, in einer wunderbar unaufgeregten, bisweilen komödiantischen Inszenierung.

Die Geschichte über diesen Kaiser, der sich als Jugendlicher noch an die Macht putschte und mit 18 schon seine Mörder fand, hat Cavalli nicht als blutrünstiges Drama vertont, sondern als sorgsam gestaltete Abfolge von Gefühlsschwankungen und seelischen Nöten. Die Personen und Paare, die um den Sonnengleichen tanzen wie Gestirne, schwanken zwischen Liebe und Eifersucht, Loyalität und Abscheu.

Mit der Einführung eines Intrigantenpaars, eines buffonesken darstellerischen Elements also, begründete der Komponist zudem eine Tradition, die sich noch in Richard Strauss’ „Rosenkavalier“ wiederfindet. Als Buffo-Charakter mit philosophischen Anwandlungen ist darüber hinaus die Figur des Dieners Nerbulone zu sehen (den der Bassist Christian Sist herzerfrischend spielt und nuancenreich singt) – ein Typus, der seine Hoch-Zeit vor allem in den Opern Rossinis fand.

Gleichwohl hat Cavalli die kleinen Dramen der Hauptpersonen in den Vordergrund gestellt, die Regisseurin Katharina Thoma eindringlich nachzeichnet. Moderne Kostüme (Irina Bartels) symbolisieren dabei, dass die im Stück verhandelten Themen allgemeingültig sind. Und wenn auf der eigentlich spärlich möblierten Bühne, mit vielen hohen Portalen höfische Größe darstellend, eine Drehtür in eine kärglich bestuhlte Gaststätte führt (Ausstattung: Stefan Hageneier), dann entsteht vor unseren Augen das Café zur großen Sehnsucht.

Liebe und Lamento: Giuliano (Ileana Mateescu, l.) und Eritea (Tamara Weimerich). Foto: Jauk

Es ist in dieser leisen, dennoch berührenden Inszenierung wohl nur konsequent, dass Eliogabalo (markant gesungen von Christoph Strehl) sich nicht wie ein Tier, sondern eher in Don-Giovanni-Manier den Frauen (bisweilen auch den jungen Knaben) zuwendet. Beraten von den Intriganten Lenia/Zotico (Elzbieta Ardam und Hannes Brock als Urkomödianten) setzt er auf List und Tücke. Ein bisschen kläglich wirkt er dabei, alles andere als souverän.

Die Frauen, Eritea (Tamara Weimerich) zunächst, dann auch Flavia Gemmira (Eleonore Marguerre), wanken dennoch zwischen Hingabe an den Herrscher (mit der Aussicht, Kaiserin zu werden) und Treue zu ihren Liebsten. In der Mischung von rezitativischen Ausbrüchen, zweifelndem Lamentoso sowie inniger Liebeserklärung singen beide betörend schön und differenziert, wie auch ihre Partner John Zuckerman (des Kaisers Cousin Alessandro, Flavias Verlobter) und Ileana Mateescu (des Herrschers 1. Prätorianer, mit Eritea verlobt).

Dass selbst eine relativ kleine Rolle wie die der Atilia (unglücklich verliebt in Alessandro) mit Anke Briegel vorzüglich besetzt ist, gibt dem Dortmunder Intendanten, Jens-Daniel Herzog, in einem Punkt schon jetzt recht: Das beinahe durchweg neu verpflichtete Ensemble hat erhebliche Qualität. Die Dortmunder Philharmoniker wiederum, in kammermusikalischer Besetzung, um Cembalo/Organum (Andreas Küppers) und Theorbe/Barockguitarre (Johannes Vogt) klangfarblich bereichert, liefern unter der Leitung des Alte-Musik-Experten Fausto Nardi ein großartiges Beispiel feiner Gestaltung und rhythmischer Frische.

Eine durchweg gelungene Produktion also, deren Premiere aber leider vor halbvollem Haus stattfindet. Schon jetzt dürfte dem neuen Intendanten klar sein, wie viel es zur Publikumsbindung noch bedarf.

Infos zur Aufführung/Termine/Karten:

http://www.theaterdo.de/event.php?evt_id=1314&sid=4c1beb1c05cfcb34a811d02f849ce3de

 

 

 




„Merlin“ – Isaac Albéniz‘ wirrer Opernschinken in Gelsenkirchen

König Arthur (Lars-Oliver Rühl) hält das Schwert des Mächtigen. Foto:MiR/Beu

Endlich mal keine „Carmen“, „Traviata“ oder „Zauberflöte“ – allesamt Opernhits, die landauf, landab heruntergenudelt werden. Dafür bekommen wir „Merlin“. Das ist der Zauberer aus der Artus-Sage. Das ist hehrer Stoff, große Oper, ja großes Kino. Da hat sich schon Richard Wagner prächtig bedient, haben sich unzählige Literaten, später Filmemacher inspirieren lassen.

„Merlin“ also. Das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier (MiR) lädt zur Deutschen Erstaufführung einer Oper, die indes schon über 100 Jahre alt ist. Sie stammt von dem Spanier Isaac Albéniz. Geschrieben auf das Libretto eines reichen Briten namens Francis Burdett Money Coutts. Ein exzentrischer Kauz und glühender Wagnerianer, der sich im wahnhaften Wetteifern mit dem Bayreuther Meister an einer Artus-Trilogie abarbeitete.

Albéniz wiederum, als meisterlicher Pianist in Europa eine Größe, als Komponist vor allem mit Klavierwerken glänzend, wollte in den 1890er Jahren die Oper für sich entdecken. Vielleicht war auch da ein wenig Geltungsbedürfnis im Spiel, der unbedingte Wille, als Spanier im Konzert des mitteleuropäischen Musikdramas mitzumischen. In London jedenfalls fanden Albéniz  und der „Literat“ zusammen. Leider: Denn dieser Begegnung bedurfte es in der Musikgeschichte nun wirklich nicht.

Das Ergebnis nämlich war „Merlin“: schrecklich unbeholfen im dramaturgischen Verlauf, unsäglich das Libretto, krude und wüst in der musikalischen Gestaltung. Albéniz serviert uns Wagner light in Verbindung mit übersteigertem Verismo. Eine Melange, die oft in pur Plakativem mündet. Offenbar hatte der Komponist wenig Gespür dafür, die Szenerie klanglich differenziert zu zeichnen. „Merlin“ ist ein wirrer „Schinken“, der an Richard Strauss’ wenig später erschienene „Salome“ nicht mal kratzen kann.

Trotz allem hat sich das MiR an die Ausgrabung gewagt, acht Jahre nach der Uraufführung in Madrid. Hat das Werk mutig eingekürzt auf drei konzentriert gefasste Akte. Und hat sich an diesem „Schatz“ gehörig verhoben. Regisseur Roland Schwab präsentiert Archetypen, keine Charaktere. Ausstatter Frank Fellmann zeigt im wabernden Nebel oder mystischen Blau eine Straße ins Nirgendwo, einen gestrandeten Wagen. Merke: Die Sehnsucht nach dem Sagenhaften ist auch der Moderne nicht fremd.

Blonder Racheengel: Nivian (Petra Schmidt) tötet Merlin (Björn Waag). Foto: MiR/Beu

Die Ritter kommen hingegen ritterlich daher (Kostüme: Renée Listerdal), wenn Artus, wie ein tumber Siegfried, das Schwert aus dem Stein zieht und König wird. Nach dem Krieg mit den Anhängern der grundbösen, verräterischen Morgan sehen wir aufgespießte Köpfe. Im Schlussakt plötzlich Merlins Ende, blutig gerichtet von seiner Sklavin Nivian.

Wahn, überall Wahn. Die Regie hat den Figuren vor allem aufgesetzte, exaltierte Posen verordnet. Bjørn Waag (Merlin), Lars-Oliver Rühl (Arthur) und Majken Bjerno (Morgan) singen überwiegend am oberen Ende der Ausdrucksskala, was den Stimmen nicht bekommt.  Einzig Petra Schmidt (Nivian) verströmt bisweilen lyrische Wärme in differenzierter Dynamik. Dirigent Heiko Mathias Förster wiederum führt Chor und Neue Philharmonie Westfalen einigermaßen unfallfrei durch die wüste Partitur.

Am Ende haben wir gegen zehn Uhr die Oper verlassen und wähnen uns um die Mitternacht. Wir hören „Iberia“ – wunderbarer Albéniz.

 




Murray Perahia: Pianist an Schumanns poetischer Seite

Der Pianist Murray Perahia. Foto: Sony/Klavier-Festival Ruhr

Robert Schumann, Meister musikalischer Poesie, hat in seinen Melodien oft eine rührende Unschuld zum Ausdruck gebracht. Geradezu exemplarisch zeigt sich dies in den 13 Charakterstücken des Klavierzyklus „Kinderszenen“ – romantischer Rückblick auf die ersten, für den Komponisten die schönsten Jahre eines Menschen.

Wenn Murray Perahia in der Philharmonie Essen nun die „Kinderszenen“ spielt, in sanfter Klarheit, die darin enthaltene „Träumerei“ mit Gefühl, aber ohne Süße, dann stellt sich der amerikanische Pianist ganz in den Dienst der Romantik, an die Seite Schumanns. Was auch bedeutet, dass der Interpret die geforderte Virtuosität allein als Mittel zum Zwecke des größten Ausdrucks anwendet.

Perahia, dem die Liebe zur Melodik eigen ist, der Linearität höher stellt als Struktur, entpuppt sich so im Gesamtprogramm dieses Konzerts als leidenschaftlicher, an seinen Grundsätzen nie rüttelnder Romantiker. Wenn er also in Bachs 5. Französischer Suite die Dynamik zurückfährt, erklingt ein poetischer Unterton. Nie würde er sich bei dem barocken Altmeister in Detailarbeit verlieren, hat er er einmal in einem Interview erklärt.

In den empfindsamen Teilen der Beethoven-Sonate op. 90 wiederum schimmern Idylle und Pastorales durch. Natürlich verfügt Perahia auch über ein drängendes Espressivo, doch kaum dürfte er den Klassiker als brachialen Revoluzzer präsentieren. Aber Perahias Ansatz geht nicht überall auf. Brahms’ Klavierstücken op. 119 fehlt das Grüblerische und manches gleitet ins Sentiment. Ein bodenständiger Ernst geht hier von diesem  Spätwerk aus, etwas schwerfällig artikuliert. Man erlebt des Pianisten Ringen mit der Materie, und vielleicht hat dies ja doch etwas mit seiner Geschichte zu tun: Eine Verwachsung des rechten Daumenknochens musste operativ korrigiert werden, was Perahia in den 90er Jahren zu Pausen beim Konzertieren zwang.

So hoch also seine Musikalität einzuschätzen ist, so sensibel er sich den Stücken nähert, so verwuselt er sich doch bisweilen im dichten Klaviersatz. Das führt etwa dazu, dass Chopins Musik manchmal die Eleganz und reflektierende Tiefe fehlt. Herb und spröde tönt es herauf. Perahia also scheint sich in Essen als Romantiker zu präsentieren, dem Schumann wesentlicher Fixstern ist. In den lieblichen „Kinderszenen“ gelingt dem Pianisten die Balance zwischen struktureller Klarheit und lyrischer Empfindung so optimal wie sonst nirgends. Der Komponist sah im Natürlichen der kindlichen Welt (im Sinne einer naturgegebenen Unschuld) die Quelle jeder Poesie. Perahia kommt ihr auf die Spur.