„Fliegender Holländer“ in Dortmund: Der aus der Kälte kam

Treu bis in den Tod? Senta (Christiane Kohl) und der Holländer (Andreas Macco). Foto: Stage Picture

Keine massigen Schiffe, deren Körper sich drohend auf die Bühne schieben. Keine blutroten Segel, die von furchterregenden Untoten zeugen. Auch eine das Grauen erregende Düsternis fehlt, eher regieren fahle Töne das Geschehen. So bleich, wie das Gesicht des „Holländers“, so blass, wie Sentas Hauttönung.

Das Spukhafte, generell gesagt, die Nachtseite der Romantik, weicht hier, in der Dortmunder Oper, einer graumelierten Kälte. Sie geht aus von dem verfluchten Seemann, und sie trifft auf eine kleinbürgerliche Welt frostiger Disziplin. Farbtupfer sind Attribute des Hässlichen, in den ihnen zugewiesenen Räumen wirken sie lediglich peinlich altmodisch.

Da ist es nur konsequent, dass am Ende der neue Dortmunder Opernintendant Jens-Daniel Herzog, in Personalunion mit dem Regisseur Herzog, die Bühne freiräumen lässt. Richard Wagners romantische Oper „Der fliegende Holländer“ findet ihr Finale in kalkiger Leere. Senta gibt sich die Kugel, der ewige Wandler über den Meeren verschwindet in schmutziger Gischt. Uns fröstelt.

Herzog bleibt diesem Ansatz, der Gemütszustände von Resignation und Leere zu illustrieren scheint, noch in der „Liebesszene“ zwischen dem Holländer und Senta treu. Da ist mehr kritisches Beäugen denn sehnsuchtsvolles Blicken. Da herrschen Zweifel, fehlt jede Seligkeit, regiert letzthin die blanke Furcht vor dem Scheitern.

Die Glut der Orchestersprache fängt Herzog andererseits durch große Aktion auf. In Dalands Schiffskontor herrscht buchhalterischer Gleichschritt, in der Spinnstube, eine Art Friseursalon, gebetsmühlenhaftes Summen und Singen, im Seemannsheim bierselige Stimmung harter Kerle, die von der stürmischen Wucht des „Holländer“-Chores indes an die Wand gedrückt werden. Mathis Neidhardt hat diese Räume gebaut, vor sich hingammelnde Orte des Alltags, eigentlich nur Staffage für ein kaltherziges Drama.

Sturm im Seemannsheim. Foto: Stage Picture

Wie ein Handlungsreisender, der den Tod sucht, tritt der Holländer auf. Groß, steif, nicht dämonisch. Andreas Macco gibt dieser Figur Würde mit starker Stimme, singt nuanciert, aber mit bescheidenen Klangfärbungen. Dem armen Steuermann (Lucian Krasznec, ein wundervoller lyrischer Tenor) rückt er jedoch bedrohlich zu Leibe.

Die Begegnung mit dem Geschäftsmann Daland wiederum wird zu einem distanzierten Prozess des Abschätzens und Kräftemessens. Wen Wei Zhang beweist dabei Statur, mit großer, felsenfester Stimme. Christiane Kohl als Dalands Tochter Senta ist eine Entdeckung. Glutvoll klingt ihre Ballade, dynamisch breit aufgefächert, mal mit herbem Unterton, dann mit leuchtender Süße. Doch alles wahnhafte Aufbrausen wird abgeschwächt von Zweifeln. Letzthin ist Erik (Mikhail Vekua, leider mit tenoraler Überzeichnung) der Einzige, dem man Gefühle wirklich abnimmt.

„Der fliegende Holländer“ in Dortmund: Kraftvoll die Chöre wie die Philharmoniker unter Jac van Steen – sie zeichnen ein wild musikalisches Drama nach, das die Regie mit Rauhreif überzieht. Romantik aus der Kühlkammer, mit einigen Hitze-Impulsen, gleichwohl mit gehöriger Suggestivkraft. Einhelliger Beifall.

(Der Text ist in ähnlicher Form in der WAZ erschienen).

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Informationen der Dortmunder Oper:
http://www.theaterdo.de/event.php?evt_id=1291&sid=289fbf944134efc6a6cf10b234de7551

 




Francesco Tristanos Gebrauchsmusik – Klangmixturen mit Klavier

Francesco Tristano. Foto: Matthew Stansfield

Crossover? Das war gestern. Als Waldo de los Rios 1970 den „Song of Joy“ herausbrachte, die seichte Variante des Schlusssatzes von Beethovens 9., mit der „Ode an die Freude“. Oder als drei Jahre später das Electric Light Orchestra einen alten Chuck-Berry-Hit, „Roll over Beethoven“ coverte, mit den Anfangstakten der schicksalsträchtigen 5. Sinfonie als Intro. Oder etwa als der japanische Synthesizer-Guru Tomita die „Bilder einer Ausstellung“ Mussorgskys in ganz andere Sphären hob (1975).

Alles längst vergangen. Heute steht Francesco Tristano in den Startlöchern. Der junge luxemburgische Pianist (der seinen Nachnamen Schlimé abgelegt hat), der sich als ein Techno-Nerd sieht und Crossover ablehnt. Einer, der sich in Klangtüftelei und rhythmischem Minimalismus auslebt. Dem der Sound das wichtigste ist, unabhängig davon, ob die dazugehörigen Noten barocken, klassischen oder modernen Ursprungs sind.

Was das bedeuten kann, hat Tristano nun während der Ruhrtriennale in zwei Konzerten – oder besser: Performances – klar gemacht. Zum einen bei einem Soloauftritt mit Klavier, Keyboard und elektronischer Zuspielung, andererseits in Kooperation mit Instrumentalisten der Duisburger Philharmoniker sowie den Club-Musik-Berühmtheiten Carl Craig und Moritz von Oswald.

Tristano solo: „… Towards Meditation“ will er sich begeben, gewissermaßen auf eine Klangstraße Richtung Erleuchtung – mit einer Mixtur aus dröhnendem Bass-Sound, schwebend hohen Keyboard-Klängen (als wär´s ein Stück von Jean Michel Jarre), darin eingeflochten Werke von Bach, Debussy oder John Cage. Der Weg ist das Ziel, und der 30jährige Pianist lässt keinen Zweifel daran, dass er auf dieser Strecke ein Suchender ist. Sonst wäre die teils holprige Bach-Rhetorik ebenso wenig zu erklären wie der bisweilen manieristisch verzärtelte Impressionismus Debussys.

Was schwerer wiegt, ist die Tatsache, dass Tristano nur dann frei aufspielt, ja sich in Trance musiziert, wenn er die Gefilde einer gleichförmigen Rhythmik erreicht hat. Darauf scheint alles hinauszulaufen, auf eine Meditation im Geiste des Maschinellen, letzthin des Stupenden. Wer da über eine Mischung von Hochkultur mit, ja was eigentlich (niedererer Kultur ?) schreibt, formuliert floskelhaft am Problem vorbei.

Das macht das zweite, großbesetzte „Konzert“, wie der Soloauftritt Tristanos erneut in Bochums Jahrhunderthalle erklingend, überaus deutlich. Da ist der teils sphärische Klang und der Beat, da ist zwischendrin ein wenig Klaviermelos, da bettet sich Streicher- oder Bläsersound ins rhythmische Geschehen ein. Die Duisburger Symphoniker, das klassische Orchester also, wird zur Staffage eines Events.

Der Eindruck will sich einstellen, dass hier jemand sehr wohl auf alte Crossover-Zeiten schielt, als Welthits der Rockmusik ein orchestrales Gewand bekamen. Das letztendlich aber alles in die Dominanz des Rhythmus mündet. Die Jahrhunderthalle wird zum Dancefloor. Wer stille sitzen bleibt, entbehrt des ästhetischen Zugewinns. Insofern sind Francesco Tristanos Mixturen nicht mehr als ein Stück Gebrauchsmusik. Wie etwa die seichten Salonstücke des 19. Jahrhunderts. Ist dies die große Versöhnung von „E“- und „U“-Musik?

 




Premierenfieber: Die Triennale vor einem „Tristan“-Wagnis

"Tristan"-Komponist Richard Wagner in Luzern 1868.

Willy Decker wirkt ein bisschen müde. Was er unumwunden zugibt. Die Doppelbelastung als Intendant der Ruhrtriennale, zugleich als Regisseur der Eröffnungspremiere, Wagners „Tristan und Isolde“, mache sich eben bemerkbar. Doch Decker hat noch Elan genug, während einer Pressekonferenz eben über diese Produktion zu sprechen, über ihre Verankerung im Gesamtprogramm und das Wagnis, das hier eingegangen werde.

Decker redet emphatisch, wenn er seine Künstler lobt, und wirkt nachdenklich, wenn er das ganze Unterfangen, Wagners „Tristan“ in der Bochumer Jahrhunderthalle zu realisieren, eben als Wagnis bezeichnet. Eine Inszenierung, die gegen den Mainstream gerichtet sei, ein Versuch zudem, sich als Regisseur selbst zu vergessen. Wer mag, kann hinter diesen Worten durchaus Zweifel heraushören.

Decker sagt aber auch: „Die Wahl des ,Tristan’ war ohne Alternative“. In dieses Werk habe der Komponist Richard Wagner buddhistisches Gedankengut transferiert. In diesem Sinne könne etwa Tristans Fieberwahn im 3. Akt als eine Art Nahtod-Erfahrung gedeutet werden. Wagner habe, ausgehend von der Schopenhauer-Lektüre, viel über den Buddhismus gelesen und sinniert.

Zur Erinnerung: Willy Deckers „Triennale“-Intendanz, die diesen Herbst zuende geht, hat sich über drei Jahre drei Weltreligionen zugewandt. Dem Judentum, Islam und nunmehr dem Buddhismus. Gedichte japanischer Zen-Meister werden gelesen, eine Ausstellung im Museum Bochum begibt sich mit zeitgenössischer asiatischer Kunst auf „Buddhas Spur“, es gibt Konzerte experimenteller Art und vieles mehr. In dieses Umfeld passe auch der „Tristan“ – in der Loslösung von Ort und Zeit.

Der Ort ist in diesem Fall die weiträumige Jahrhunderthalle. Decker lobt die Spielstätte als Alternative zum alten Guckkastenprinzip. Die Sopranistin Anja Kampe, die Isolde der Produktion, spricht von den tollen Möglichkeiten, die die Halle biete. Dirigent Kirill Petrenko aber relativiert. Er habe die Realisierung dieses klangsinnlichen Stücks als große Herausforderung angenommen. Man müsse sehr an der Dynamik feilen, schließlich sei dies nicht der Wiener Musikvereinssaal. Der Klang sei letzthin nicht festzuhalten. Ein Schelm, der auch in diesen Worten Zweifel erkennt? Kein Problem hatte Petrenko indes mit der Wahl des Orchesters. Die Duisburger Philharmoniker habe er sich als Partner gewünscht.

Kein Zweifel: Dieser „Tristan“ wird auch zur Herausforderung fürs Publikum. Schließlich gehöre zum Regieansatz, wie Sopranistin Anja Kampe es betont, dass nicht immer zum Auditorium hingesungen werde. Zudem wird es einige, wenn auch sparsam eingesetzte Video-Projektionen geben. Kurze Sequenzen, die den Lebenskreislauf zwischen Geburt und Tod illustrieren sollen.

 

Die Premiere von „Tristan und Isolde“ am 27.8. ist ausverkauft. Weitere Vorstellungen gibt es am 31. August sowie am 3., 9., 13., 17. und 20. September. www.ruhrtriennale.de

 




Stil und Geigenspiel – Ritual mit Robe

Stil und Musik - die Geigerin Anne-Sophie Mutter. Foto: Klavier-Festival Ruhr

Wenn Anne-Sophie Mutter die Bühne betritt, weht stets ein leises Raunen durchs Publikum. Die hochgewachsene, schlanke Geigerin mit dem aristokratischen Habitus ist eben nicht nur exzellente Musikerin, sondern auch Stilikone. Spätestens seit Beginn der 90er Jahre hat sie hehre Kunst und edle Mode nebeneinander gestellt. Die Robe wurde Bestandteil eines Rituals, das sich Konzert nennt.

Ihr jüngster Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr macht da keine Ausnahme. Gleichwohl behält der Satz „Hier gilt´s der Kunst“ seine Gültigkeit. Es gehört eben alles zusammen: die luxuriös anmutende Erscheinung und die Ernsthaftigkeit des Spiels, das kühl erstrahlende Lächeln und die bisweilen klanglich fahlen Interpretationen.

Das Wunderkind Anne-Sophie Mutter begann einst mit Mozart, als sie 1976 von Karajan entdeckt und gefördert wurde. Das junge Mädchen und der weltberühmte Dirigent – es klingt ein wenig nach Märchen, doch die rasche, unaufhaltsame Karriere der Geigerin spricht eine sehr reale Sprache. Mit dem wachsenden Erfolg ging zudem die Verbreiterung ihres Repertoires einher. Längst ist Mutter zur bedeutenden Interpretin der musikalischen Moderne geworden.

Beim Klavier-Festival indes, in Essens Philharmonie, wagt sie sich nur bis zur spätimpressionistischen Klangwelt Claude Debussys vor. Ausgesprochen spröde wirkt dessen Violinsonate, äußerst fragil und seltsam konturlos. Mutter pendelt zwischen zartem Nebelklang und deftigem Legato. Das Werk löst sich auf ins Nirgendwo – so reizvoll, so unbefriedigend.

Überhaupt fällt auf, das gilt hier vor allem für die Mozart-Sonate, dass die Solistin offenbar manch larmoyanten Ton abgestreift hat zugunsten einer herberen Ausdruckswelt. Die Musik gewinnt an Frische, mitunter auch an Witz. Sie wirkt andererseits, in Mendelssohns F-Dur-Sonate, in all ihrer Romantik entschlackt. Schön und gefühlvoll vorgetragen, ohne unangenehme Süße.

Natürlich gibt es auch Anne-Sophie Mutter, die Virtuosin. Obwohl sie das, im Bewusstsein des Vornehmen, niemals zur Schau stellt. Ihr Furor, mit dem sie sich Pablo des Sarasates „Carmen“-Fantasie nähert, ist ein Stück ernsthaft-konzentrierten Musizierens. Ein brillantes Zückerchen für Publikum, allemal seriös verpackt.

Die Künstlerin, die heuer ihr 35jähriges Bühnenjubiläum feiert, zählt den Pianisten Lambert Orkis zu den treuesten Begleitern ihrer Karriere. Hier in Essen agiert er sehr aufmerksam, pointiert und mit großer Klangsensibilität. Vieles steuert er dazu bei, den jeweiligen Werken eine stilkonforme Atmosphäre zu verleihen.

Das Publikum jubelt beseelt. Anne-Sophie Mutters Auftritt mag professionell durchkalkuliert sein, was durchaus zu spüren ist. Am Ende aber entpuppt sich die Stilikone als Herrin über die Musik, über Klänge, die uns nicht gleichgültig sind. Alle Inszenierung dient der Kunst. Das gibt es nicht alle Tage.




Akkurates Herantasten an Chopin

Der Pianist Ingolf Wunder. Foto: Klavier-Festival Ruhr

Der Pianist Ingolf Wunder hat seine nunmehr dritte CD vorgelegt. Mit Musik von Frédéric Chopin. Die Veröffentlichung ist zugleich sein Debüt beim renommierten Label „Deutsche Grammophon“. Das Gelb-Etikett hat ihn nicht zuletzt deshalb für sich entdeckt, weil Wunder einen wundersamen Lebens-Meilenstein namens Chopin-Wettbewerb vorweisen kann.

Ja, da war doch was im vergangenen Jahr, beim berühmten, ein wenig sogar berüchtigten internationalen pianistischen Kräftemessen in Warschau: Der 25jährige Österreicher Wunder bekam den 2. Preis; und er hätte doch den Spitzenplatz verdient – sprach das Publikum, tobte ein Teil des Feuilletons. „Skandal“ riefen manche frei heraus.

Nun wissen wir schon seit den Zeiten, als wir uns noch für die skurrile Sportart namens Eis“kunst“lauf interessierten und über abstruse Begriffe wie „Doppelter Rittberger“ staunten, dass eine Jury fehlbar ist. Besonders wenn es um die Wertung ästhetischer Darstellung geht. Darüber lässt sich bekanntlich wunderbar streiten – oder eben auch nicht.

So also ist den Preisrichtern in Sachen Chopin-Deutung kein Vorwurf zu machen. Eher noch den Kollegen, die 1980 einen exzentrischen Jungen namens Ivo Pogorelich fallen ließen, sodass Martha Argerich wütend ihr Jury-Mandat zurück gab. Doch was lehrt uns dies: Ein schöner Skandal kann zum Erfolgsgeheimnis werden.

So sehr das, zumindest wenn man den PR-Strategen glaubt, bei Wunder funktioniert, so traurig ist es, dass die amtliche Siegerin des letztjährigen Chopin-Wettbewerbs, die junge Russin Yulianna Avdeeva, in der öffentlichen  Wahrnehmung nahezu untergegangen ist. Das hat sie nicht verdient. Denn was sie an poetischer Ausdruckskraft und an gestalterischer Vielfalt mitbringt, geht Wunder ab.

Zurück also zur CD. Der Pianist hat Chopins 3. Sonate eingespielt, dazu die Polonaise-Fantasie As-Dur, die 4. Ballade, sowie Andante spianato/Grande Polonaise brillante. Alles gediegen akkurat, oft aber etwas steif musiziert, alles wie kalkuliert abspulend. Es scheint, als traue sich Wunder weder zu, den Figurationen schwebende Leichtigkeit zu geben, noch, Emotionen zuzulassen.

Seine Sensibilität wirkt pauschal, dynamische Dramatisierungen klingen wie aufgesetzt, nicht einem natürlichen musikalischen Prozess entwachsend. Eleganz oder differenziertes Klangfarbenspiel wollen sich nicht einstellen. Vielleicht lag die Warschauer Jury ja doch nicht so ganz falsch.

Das CD-Cover zeigt, wie Wunder über sein Instrument läuft, ganz vorsichtig, balancierend. Welch Sinnbild: tastende Schritte in einer noch jungen Karriere. Das gilt für seine Chopin-Deutung in gleichem Maße.




Zur Romantik strebt doch alles

Der Pianist Leif Ove Andsnes. Foto: Felix Broede, EMI-Classics

Der Pianist Leif Ove Andsnes. Foto: Felix Broede, EMI-Classics

Wenn sich der norwegische Pianist Leif Ove Andsnes ans Klavier setzt, spielt er nicht um sein Leben, sondern um der Schönheit willen. Die Klänge, die er dem Instrument entlockt, schweben uns zu und scheinen ihn selbst zu umhüllen. Andsnes ist kein stolzer Virtuose, der alles wagt, sondern ein feinsinniger Gestalter, bisweilen ein Grübler, immer der romantischen Seele auf der Spur.

Sein Auftritt in Essens Philharmonie, als Gast des Klavier-Festivals Ruhr, lässt dabei keine Gefühlsausbrüche zu, kaum dramatische Zuspitzungen. Das mag in Beethovens Waldstein-Sonate sonderbar klingen, wenn unter des Künstlers Fingern noch die flinkesten Figurationen in edelstem Legato erklingen. Welches sich im virtuosen Geflecht des Finalsatzes hin zu einem gleichsam dekadenten Glissando steigert.

Doch in Beethovens endlosen, formsprengenden Weiten von op. 111 führt uns Andsnes´ Ansatz aufs Schönste in jene Zukunft, die da Romantik heißt. Des Komponisten Wunsch nach innigster Empfindung zollt er großen Respekt, und immer sind es Klangfarben, die verzaubern.

Das Romantische hat er zuvor in vier Brahms-Balladen weltverloren, mitunter düster vor uns ausgebreitet. Der Dichter spricht, der Künstler erzählt, der Fantasie alle Freiheit lassend. Nur manchmal kommen Zweifel, ob dem untergründig Brodelnden nicht doch zu sehr Fesseln angelegt sind.

Einmal träumend unterwegs jedoch, erreicht der Pianist einen scheinbar abseitigen Pfad, der da Moderne heißt. Aber Schönbergs frühe Klavierstücke, schon in den Bezeichnungen Schumann folgend, sind pointierte Aphorismen, in ihrer Aufsplitterung wie Balladen-Fragmente wirkend. Keine Spur von sperriger 12-Ton-Methodik, sondern Musik, deren Ausdruck geist- wie seelenvoll ist.

(Der Text ist in ähnlicher Form in der WAZ erschienen)




Wundersamer Wunderknabe

Er hat alles unter Kontrolle. Die paar Schritte über die Bühne zum Klavier, das Lächeln, die Verbeugung. Und sein Spiel natürlich, das sich über die Strukturen der zu interpretierenden Musik definiert. Ernst wie ein Erwachsener wirkt der 19jährige Kit Armstrong, dieser wundersame Wunderknabe, dem noch so viel Kindliches anhaftet.

Sein größter, überzeugtester, bedeutendster Fürsprecher und Mentor ist Alfred Brendel, der die außergewöhnliche Begabung des jungen Eleven in höchsten Tönen hervorgehoben hat. Das kommt nicht von ungefähr: Die manuellen Fähigkeiten Kit Armstrongs und sein fast instinktives Erkennen musikalischer Verläufe sind von bestechender Aussagekraft.

Nun, wer mit 16 bereits ein abgeschlossenes Musik- und Mathematikstudium vorweisen kann, wer selbst komponiert, wenn auch in arg harmonischen Bahnen, dem dürften Gewissenhaftigkeit, ja die Logik des Interpretierens kaum fremd sein. Armstrong beweist dies beim Klavier-Festival Ruhr zu Ehren des nunmehr 80jährigen Alfred Brendel. Kristallin fließen dem Jungen dabei Bachsche Figurationen aus den Fingern, keine Wendung im polyphonen Geflecht bleibt unbeachtet – nehmen wir nur vier von ihm ausgewählte Präludien und Fugen.

Wer indes an diesem Abend in Mülheims Stadthalle von Kit Armstrong, der zwischen Bach und Liszt pendelt, bilderstürmerisches Aufbegehren eines wunderkindlichen Bühnentiers erwartet, wird enttäuscht. Der Interpret steht über der Musik, beobachtet, analysiert. Er ist nicht in der Musik, geht keine Risiken ein, um etwa der Lisztschen Ausdrucks-Opulenz, in der rauschenden Nr. 10 des großen Etüden-Zyklus, Gewicht zu geben. Mitunter wirkt es, als wolle der Pianist sich selbst Note für Note noch einmal bestätigen, was er doch längst im Kopfe abgespeichert hat.

Armstrong verströmt Disziplin, die in Perfektion münden soll. Er wirkt dabei wie ein Asket des Gefühls. Manche finden das spröde. Doch er macht uns staunen – so oder so.

(Der Text ist in kürzerer Form in der WAZ erschienen)




Zwischen Mozart und Moderne

Mojca Erdmann ist eine Sopranistin der besonderen Art. Wer im Bundeswettbewerb Gesang einen Preis für die Interpretation zeitgenössischer Musik gewinnt, wer in Salzburg mit Mozarts „Zaide“ debütiert (2006) und drei Jahre später in Schwetzingen die Uraufführung von Wolfgang Rihms „Proserpina“ stemmt, verfügt über ein ungewöhnlich kontrastreiches Repertoire. Nicht viele Stimmen halten diesem stilistischen Spagat zwischen Klassik und Moderne stand.

Zwischen Mozart und Rihm hat sie u.a. Strauss, Mahler und Puccini gesungen. Wir hörten sie als Suor Genovieffa, die Vertraute der Suor Angelica in Puccinis gleichnamiger Verismo-Oper. Mit leichter, dennoch ausdrucksstarker Stimme formte sie einen sanft heiteren Charakter. Und in Mahlers 4. Sinfonie, in deren letztem Satz Erdmann von den himmlischen Freuden ganz irden erzählte, ließ sie es geschickt offen, ob des Komponisten Erlösungsmusik nicht doch Zeichen von Resignation in sich birgt.

Nun aber hat Erdmann ihre erste CD vorgelegt und sich dabei vor allem auf Mozart-Arien kapriziert. Daneben erklingt die Musik einiger Klassik-Kleinmeister, denen sich die Sopranistin ebenso ambitioniert widmet. Ja, sie versenkt sich in ihre Rollen, klagt inbrünstig, zürnt herausfordernd, spöttelt sanft. Das also fällt zuerst auf: ihre Identifikationskraft, ihr Sinn für dynamische und gestalterische Nuancen.

Dabei ist die Stimme nur bedingt schön, weil nicht stets balsamisch gülden strömend, in blitzblanker Höhe jubilierend oder in der Mezzolage satt grundiert. Doch hier geht es nicht um zur Schau gestellte Perfektion, auch nicht um jungmädchenhafte Reinheit, sondern ums Modellieren unverwechselbarer Charaktere.

Der vor Zorn bebenden Zaide also möchten wir nicht im Dunklen begegnen. Der zutiefst einsamen Pamina wiederum (aus Mozarts Zauberflöte) gilt unser ganzes Mitleid. Oder Zerlinas milde Versöhnungsgeste gegenüber ihrem Liebsten Masetto (Don Giovanni) – schlicht und erhaben.

Mojca Erdmanns Stimme ist nicht von strahlendem, sondern metallenem Glanz, das mag der Hinwendung zum modernen Repertoire geschuldet sein. Sie ist bisweilen herb und ungenau fokussiert. Doch immer siegt ihre suggestive Kraft. Bestens unterstützt vom Ensemble „La Cetra“ unter Andrea Marcon, das in historisch informierter Aufführungspraxis pointiert musiziert – mit teils geschärften Akzenten, manchmal harsch, dann wieder in samtenem Wohllaut spielend.

 

Die CD wurde von der Deutschen Grammophon veröffentlicht.

 

(Der Text erschien in kürzerer Form in der WAZ).




Lisztiana III – Konzertantes Gipfeltreffen

Manchmal kann er dem Reiz kaum widerstehen. Dann will sich der Pianist Daniel Barenboim der Staatskapelle Berlin zuwenden, die doch sein Orchester ist, und dem Dirigenten Daniel Barenboim zu seinem Recht verhelfen. Doch am Pult steht kein geringerer als Pierre Boulez. Und deshalb muss sich der Mann am Klavier bescheiden. Er hat auch so alle Hände voll zu tun.

Denn wenn es darum geht, beide Klavierkonzerte Franz Liszts an einem Abend zu spielen, sollte die Aufmerksamkeit allein aufs Soloinstrument gerichtet sein. Barenboim weiß dies nur zu gut. Von ihm wird nicht weniger verlangt als kernige Virtuosität, Sinn für lyrische Verläufe sowie der Blick aufs große Ganze dieser beiden einsätzigen Konzerte.

Gleichwohl leitet sich die Spannung des Abends in der Essener Philharmonie maßgeblich von diesem Gipfeltreffen ab. Boulez, von Haus aus Komponist, ein Meister des analytischen Denkens, nun klar konturiert dirigierend, trifft auf Barenboim, dessen pianistischer Glanz ein wenig verblasst scheinen mag. Und dessen Stern als gefühlvoller Dirigent umso heller erstrahlt.

So sehen wir also, vom prima disponierten Orchester her betrachtet, oft Liszt, den Modernen. Dann lässt Boulez Klänge schroff hervortreten oder klare dynamische Akzente setzten. Barenboim aber präsentiert uns Liszt als zutiefst empfindsamen Romantiker, dem Akkordgedonner oder Passagenwerk eher lästige Pflicht ist. Dann setzt der Pianist ganz auf Klang, brillant schillernde Figurationen, feine Verästelungen.

Viele Liszt-Bilder hat das Klavier-Festival Ruhr bereits evoziert, bei diesem Konzert stellen zwei berühmte, eigenwillige Interpreten ihre konträren Vorstellungen in aller Bescheidenheit nebeneinander. Barenboim, im virtuosen Geläuf verbissen auf Präzision achtend, sucht lieber die Nähe zum von Liszt hoch verehrten Chopin, das Filigrane nahezu zelebrierend.

Boulez wiederum mag´s eher dramatisch, zupackend, auch zügig, führt die Holzbläser andererseits zu schönsten Kantilenen. Dafür ist indes ein Preis zu zahlen: Solist und Orchester verhaken sich mitunter in ungleichmäßigen Tempi. Manches klingt schematisch. Doch immerhin: Falschem Pomp und triefendem Sentiment sind alle klug entgangen.

Das Kompliment gilt umso mehr Pierre Boulez und der Staatskapelle im Umgang mit Richard Wagners „Faust Ouvertüre“ und dessen „Siegfried-Idyll“. Die kurzen Stücke, den jeweiligen Liszt-Konzerten vorangestellt, geben dem Orchester einerseits Gelegenheit, ihren weichen, runden, nie aufdringlichen, aber suggestiv vielfarbigen Klang aufs Schönste in den Raum zu stellen.

Zum anderen, dafür sorgt das auf Struktur und Binnenspannung fokussierte Dirigat Boulez´, rückt das „Idyll“ niemals in die Nähe einer verkitschten Naturpostkarte. Und die Faust-Ouvertüre, Schumanns Romantik so wenig verleugnend wie etwa den „Lohengrin“, besticht bei allem Klangvolumen durch stete Transparenz.

Am Ende zwei Zugaben: Daniel Barenboim spielt Liszts „Consolations“ und einen der Valses oubliées. Da ist er ganz bei sich, ein emotionaler Feinzeichner. Barenboim, den Dirigenten, völlig vergessend.

 

Weitere Blicke auf Franz Liszt wagt das Klavier-Festival Ruhr mit einer vierteiligen Hommage zum 80. Geburtstag des großen Liszt-Deuters Alfred Brendel. Till Fellner, Francesco Piemontesi und Kit Armstrong zählen zu den Solisten. Brendel selbst wird über „Liszt – vom Überschwang zur Askese“ sprechen. Alles zu erleben in der Stadthalle Mülheim (14. bis 19. Juni). Weitere Informationen: http://www.klavierfestival.de

 

(Der Text ist in ähnlicher Form im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Kunst mit Trauerflor

Theatermacher tragen gerne schwarz. Wie Hohepriester im Dienste der Ästhetik. Manchmal wie Trauernde, weil das Haus oder eine Sparte kurz vor der Beerdigung steht. Wenn nun aber eine Bühne frohen Mutes den Blick auf die neue Spielzeit richtet, ein frisch inthronisierter Opernintendant Aufschwung, also in Zukunft einen vollen Saal verspricht, wo bisher oft erschreckend die Leere gähnte, sollten wir dann nicht ein buntes, Vorfreude weckendes Programmbuch erwarten dürfen?

In Dortmund ist mal wieder alles anders. Viel Schwarz, viel Weiß im 186 Seiten starken Konvolut der Premieren und Wiederaufnahmen. Purismus in sperriger Schrift, als ginge es um die Bilanz eines Buchhalters, nicht um farbige kulturelle Vielfalt. Porträtfotos des Leitungsteams, jedes für sich mau grau, mit Unschärfe spielend. Diese Macher wirken wie fahle Gestalten, die so neutral wie irgend möglich in die Kamera schauen.

Nichts gegen schwarz-weiße Optik. Manche Szenenfotos oder die Stillleben aus dem Organismus namens Orchester, im Innern des Buches, lassen geradezu aufatmen ob ihrer Lebendigkeit. Die Verwirrung aber bleibt. Was soll uns Trauerflor, wenn es um Kunst geht? Ist das, was mancher abschätzig als Hochkultur bezeichnet, am Ende?

Ach ja. Orange-Rot unterlegt sind die Namen der Sponsoren. Die Ritter (und Retter?) der vornehmen Gestalt im leuchtenden Spendiermantel – ein winziger Lichtblick im Reiche grafischer Tristesse. Geschaffen von xhoch4 design, München. So morbid veranlagt hätten wir uns die Bajuwaren gar nicht vorgestellt.

 




Klangmagie im Dämmerlicht

Der Mann am Klavier hüllt sich in sanftes Dämmerlicht. Voller Geheimnis scheint seine Aura, wie er dasitzt, immer ein wenig gebeugt, mit dem Instrument beinahe verschmolzen. So entlockt er ihm in hehrer Anschlagskunst samtene Klänge oder kristalline Figurationen. So zelebriert Grigory Sokolov die Musik Bachs, lässt die tönende Romantik Schumanns aufblühen.

Zum 15. Mal ist der etwas introvertiert wirkende Russe Gast des Klavier-Festivals Ruhr, und erneut versteht er es, das Publikum zu verzaubern, zu elektrisieren. Mit Bachs „Italienischem Konzert“ etwa: In unglaublicher Perfektion schnurren die Läufe dahin, dynamische Abstufungen und Schattierungen sind subtil gesetzt. Der Mittelsatz klingt wie eine narrative Meditation, im Finale scheint der alte Cembalo-Klang durchzuschimmern.

Sokolov lässt in Essens Philharmonie keine Phrase stiefväterlich unbeachtet. In der „Ouvertüre nach französischer Art“ scheint ihm die barocke Rhetorik wie anverwandt, so nuanciert spricht er. Das führt indes im langsamen Eingangssatz zu unbotmäßigen Zerklüftungen – die Musik findet fast keinen Halt.

Schumanns Humoreske aber, pendelnd zwischen kindlich gelöstem Frohsinn und nachdrücklichem Ernst, umwölkt von melancholischer Reflexion, führt Sokolov zu wundersamer Einheit. Er streichelt die Tasten und es ertönt ein feines, leises Legato. Er entfesselt mit federndem Anschlag ein duftiges Staccato. Und nichts will uns an diesem Abend heiterer erscheinen, als das letzte von Schumanns vier Stücken op. 32: die „Fughette“, ein Tanz dahingetupfter Töne. Grigory Sokolov erweist sich erneut als Meister magischer Klänge. Ovationen, sechs Zugaben.

Der Russe spielt am 24. Juni in der Kölner Philharmonie: http://www.koelner-philharmonie.de

(Der Artikel ist in ähnlicher Form in der WAZ erschienen).

 




Sturm und Drang – Vilde Frang

Irgendwo weit draußen muss es eine Quelle geben, der von Zeit zu Zeit aparte Fräuleinwunder entspringen, die eine Geige in die Hand nehmen und die Welt mit Musik verzaubern. Sie sind von klein auf im Reich der Töne zuhause, vollbringen Außerordentliches auf ihrem Instrument. Voila, hier also ist Vilde Frang.

Die Norwegerin, zarte 24 Jahre jung, studierte bei Kolja Blacher, und die Namen ihrer Mentoren flößen Ehrfurcht ein: Gidon Kremer, Martha Argerich, Anne-Sophie Mutter. Ein Glückskind betritt die Szene, und hat uns nun zwei CD’s geschenkt. Zeigt keine Angst, sondern greift sich zunächst nahezu grimmig entschlossen große Virtuosen-Brocken: die Violinkonzerte von Sibelius und Prokofiev (Nr.1).

Wie schnell fliegen da die Finger, wie präzise, wie zwingend ist ihre Gestaltungskraft. Süchtig aber macht ihr Ton, der fahl verhangen schimmert oder strahlend glänzt. Der schneidend-attackierend oder uns ganz schroff ans Ohr kommt. Gerade richtig für die kühne, wilde, satt-lyrische Musik eines Sibelius. Und dann erst die Fratzenhaftigkeit in Prokofievs Scherzo: Ein Spuk ist das, eine böse, garstige Narretei. Vilde Frang liebt kernige Akzente, zuckt aber (noch) zurück vor Schwebendem, etwa vor der finalen Entrückung des letzten Satzes. Eine junge Frau agiert im Geiste des Sturm und Drang. Schade nur, dass das WDR Sinfonieorchester Köln unter Thomas Søndergård teils brav und klanglich wenig präsent dieses Bild trübt.

Grieg, Bartók, Strauss – es ist nicht gerade die gängige Violinsonaten-Literatur, die sich die junge norwegische Geigerin Vilde Frang für ihre Kammermusik-CD ausgesucht hat. Doch ihres Mottos getreu, im unerschöpflichen Fundus klassischer Musik stets neues zu entdecken, bleibt uns das gängige Repertoire eines Beethoven, Schumann oder Franck verwehrt. Macht aber nichts: Das Hineinhören ins Frangsche Raritätenkabinett öffnet Horizonte – was gleichermaßen für drei außergewöhnliche Werke wie auch für das Spiel der Künstlerin gilt, ihren kongenialen Partner und Mitgestalter am Klavier, Michail Lifits, selbstredend eingeschlossen.

Griegs 1. Violinsonate mag in ihrem romantischen Gestus an Schubert erinnern, doch der bisweilen fahle, schneidig folkloristische, auch melancholische Ton kann das Nordische nicht verleugnen. Faszinierend wiederum zu hören, wie Vilde Frang zwischen verhangenem und strahlend jubilierendem Klang zu wechseln weiß. Saubere Technik und kristalline Intonation tun ein übriges. Weit mehr aber berührt, ja erschüttert ihre Deutung der Bartókschen Solosonate, ein Jahr vor seinem Tod komponiert. Schroff, brüchig, zerklüftet kommt die Musik daher – technisch höchst komplex. Frang schafft es mit ihrem analytischen Zugriff, diesen Schwanengesang in höchster Expressivität zu vermitteln. Zwischen Melancholie, Schmerz und Raserei irrlichtern Figurationen und Klänge, wie unter Atemnot herausgepresst.

Richard Strauss‘ jugendliche, frische Sonate ist herber, verwirrender Kontrast. Wunderbar hell funkelt die Geige, zudem in allerlei Schattierungen kann das Instrument klingen. Und das Aufblitzen eines kecken Konversationstons im Finale zeigt, wie auch Michail Lifits aller technischen Raffinesse gewachsen ist.

Die beiden CD’s sind bei EMI Music erschienen.

 

Der Text war in veränderter Form auch in der WAZ zu lesen.

 




Lisztiana II – Wunderkind wider Willen

Die Musikwelt feiert heuer den 200. Geburtstag Franz Liszts. Das Bild über ihn scheint klar: der Frauenheld, der Tastenlöwe, zuletzt der gottesfürchtige Abbé. Doch wer war dieser Künstler wirklich? Michael Stegemann, Professor für Historische Musikwissenschaft an der TU Dortmund, weiß zu differenzieren. Hier ein Gespräch mit ihm – über Liszt den Neuerer, den Eitlen und Verzweifelten.

Franz Liszt, der Verführer und Virtuose – ist das alles, Professor Stegemann?

Natürlich nicht. Viele haben leider ein Bild über den Komponisten, das sich auf die Zeit zwischen 1830 und 1845 beschränkt und nur etwa zwei Dutzend Werke berücksichtigt. Dabei hat er mehr als 800 geschrieben.

Warum ist das so?

Liszt wurde bereits zu Lebzeiten demontiert, etwa von den publizistischen Gegnern seiner „Zukunftsmusik“. Das Publikum wiederum hat ihm nie verziehen, dass er seine Virtuosenkarriere im Alter von 36 Jahren aufgab. Und schließlich: Seine Tochter Cosima hat ihn kaltgestellt. Sie wollte ihn gegenüber Wagner bewusst klein halten. Man muss sich das vorstellen: Als Liszt in Bayreuth beerdigt wurde, erklang keine einzige Note seiner Musik, sondern nur die Richard Wagners.

Wie war Liszt eigentlich?

Er wollte nie Pianist werden. Sein Vater hat ihn in die Wunderkind-Karriere gedrängt. Natürlich hat Liszt sich später die Huldigungen gefallen lassen; er war durchaus eitel. Doch es gibt Briefstellen, in denen er sich angeekelt darüber zeigt, gewissermaßen als dressierter Affe pianistische Kunststückchen abliefern zu müssen.

Später flüchtete er in die Religion?

Nein, mit religiösen Fragen hat sich Liszt Zeit seines Lebens beschäftigt. Er war Franziskaner. Das Erlangen der niederen Weihen – seither durfte er sich Abbé nennen – war Endpunkt einer langen Entwicklung.

Was ist das Neue an Liszt, dem Zukunftsmusiker?

Er hat die klassischen Formmodelle radikal aufgehoben. Das Dur-moll-System hat er schon in seinem Frühwerk, etwa der Dante-Sonate, ausgehebelt. In seiner Programmmusik hat er poetische und musikalische Ideen verknüpft, nicht jedoch irgendwelche Bilder platt übertragen. Schließlich: Liszt hat sich mit fernöstlichen, fremden Harmonien beschäftigt. Sein Klavierwerk, das nach 1880 entstanden ist, war pures Experimentieren, für Aufführungen nicht gedacht.

Das Klavier-Festival Ruhr wird uns Liszt als Liedkomponisten vorstellen…

Ja, Gott sei Dank. Die etwa 100 Lieder, in sieben Sprachen komponiert, sind heute fast völlig vergessen. Dabei hat Liszt Texte vertont, die auch Brahms oder Schumann angeregt haben. Allein die Beschäftigung mit den Liedern reicht aus, um ein völlig anderes Bild von Franz Liszt zu bekommen.

Infos zum Klavier-Festival gibt es unter http://www.klavierfestival.de

(Der Text ist in ähnlicher Form in der WAZ erschienen).




Lisztiana I – Faustisches Ringen

Khatia BuniatishviliSie ist eine Pianistin, die keine Kompromisse kennt. Die genau weiß, was sie will. Sich hineingräbt ins Klavier, um sich mit allen gespielten Linien, Läufen oder Akkorden zu umhüllen. Wer sie auf der Bühne erlebt hat, weiß um ihre Präsenz, Kraft und Hingabe. Khatia Buniatishvili scheint introvertiert, doch die aufrauschenden oder zärtlich innigen Klänge, die sie hervorzaubert, lassen Distanz nicht zu.

Nun hat die junge Georgierin, gerade mit üppigstem Beifall bedacht zur Eröffnung des Klavier-Festivals Ruhr 2011, ihre erste Solo-CD (Sony) eingespielt. Mit Werken einzig von Liszt. Das mag den Anschein haben, die Solistin wolle stürmischen Schrittes den Gipfel des Virtuosentums erklimmen. Nichts jedoch ist falscher als das. Alles Flirren und Flittern um seiner selbst willen liegt ihr fern. Hier geht´s um die Kunst, nicht um schönen Schein.

„Das Klavier ist das schwärzeste Instrument, ein Symbol musikalischer Einsamkeit“, hat Buniatishvili einmal gesagt, und beim Hören dieser CD erweist sich der Satz als allzu wahr. Wie sich aus dunklem Fluss in größter Ruhe das Thema des 3. Lisztschen Liebestraums entfaltet, wie sich das expressive Thema zur Ekstase steigert bis zum Schmerz und am Ende alles erstarrt: Das hat viel von Leere, Melancholie.

Dahinter steckt zugleich faustisches Ringen. Die Pianistin versteht Liszt als Künstler, der nach Wahrheit strebte, in sich zerrissen war, die Liebe suchte, die er letzthin nur im Glauben finden konnte. Eindrucksvoll dokumentiert Buniatishvili dies im Booklet. Ihre Deutung etwa des 1. Mephisto-Walzers oder der weitgespannten h-moll-Sonate ist die Konsequenz dieses Denkens.

Dass sie mit großer Umsicht und unglaublicher technischer Reife zu Werke geht, sei nur am Rande bemerkt. Doch wie die Georgierin der Motorik die Sporen gibt, wie sie im Diskant messerscharf artikuliert, wie sie Phrasen, die vielleicht von Liebe zeugen, ins Leere laufen lässt, hat Seltenheitswert. Es ist, als spiele sie um ihr Leben, um uns Liszts Dasein als tragisches zu illustrieren.

Dieses Debüt ergreift, rüttelt auf, zwingt zum Nachdenken. Ein beachtlicher Einstand.

Das Programm des Klavier-Festivals, das sich ausführlich den Kompositionen Franz Liszts widmet, findet sich unter www.klavierfestival.de

(Der Text ist in ähnlicher Form in der WAZ erschienen).




Das pralle Leben: Dortmunder Konzerthaus-Saison 2011/12

Die Farbe des neuen Programmbuchs des Dortmunder Konzerthauses ist rot. Doch keine knallig monochrome Fläche leuchtet uns entgegen, vielmehr bilden sich in feinster Farbabstimmung Gebilde wie Blutkörperchen. Auch auf den Innenseiten sind sie immer wieder zu sehen. Zwischen all den berühmten Dirigenten, Geigerinnen oder Sängern, die sich in der Saison 2011/12 die Ehre geben werden. Die Botschaft: Das Haus lebt.

Intendant Benedikt Stampa drückt das so aus: „Wir wollen uns mehr und mehr in der Stadt verankern und ein Musik-Milieu schaffen.“ Bewusst habe man noch einmal an der Programmschraube gedreht, um nicht nur Gewohntes und Beliebtes zu präsentieren, sondern auch Außergewöhnliches, besondere Werke sowie bemerkenswerte Interpreten.

Neu ist Stampas Ziel, der Urbanität ein starkes künstlerisches Flair beizumengen und dem Publikum gewissermaßen ein Identifikations-Angebot zu machen, natürlich nicht. Schon über Jahre propagierte etwa Kulturdezernent Jörg Stüdemann die Musikstadt Dortmund. Auf dem Weg dorthin waren der Bau des Konzerthauses und später des Orchesterzentrums wichtige Ereignisse. Inzwischen aber hat Stampa es vermocht, das Profil seiner Wirkungsstätte deutlich zu schärfen.

Quantitative und qualitative Vergleiche mit den Philharmonien in Köln und Essen, mit der Düsseldorfer Tonhalle, mögen in diesem Zusammenhang müßig sein. Das exklusive Pop-Abo allerdings, die Konzeption der Reihe „Junge Wilde“ oder die Zeitinseln sprechen in Dortmund eine ganz eigene Sprache.

Der eigentliche Coup aber ist die Verpflichtung des vielseitigen, experimentierfreudigen Dirigenten und Komponisten Esa-Pekka Salonen als Exklusivkünstler. Im September 2010 hatte diese Residenz, die sich über drei Jahre erstreckt, u.a. mit einer von Video-Installationen begleiteten „Tristan“-Aufführung begonnen. Dieser Linie, Musik zu visualisieren, wird er auch in der kommenden Konzerthaus-Spielzeit treu bleiben. Seine Multimedia-Installation „re-rite“, bezogen auf Strawinskys Ballettmusik „Le sacre du printemps“, zieht für vier Wochen ins Dortmunder U. Halbszenisch ist unter Salonens Stabführung Bartóks Oper „Herzog Blaubarts Burg“ zu sehen. Und nicht zuletzt wird das Publikum mit mehreren Werken des finnischen Dirigenten  Bekanntschaft schließen dürfen.

„Wir sind breit aufgestellt“, sagt Benedikt Stampa und verweist auf einen Werkkanon, der von mittelalterlicher Marienmusik bis zu „Lichtes Spiel“ des Zeitgenossen Wolfgang Rihm reicht. Dahinter verbirgt sich zumindest eine kleine Sensation: Denn keine Geringere als Anne-Sophie Mutter wird dieses „Sommerstück“ für Violine und Kammerorchester in deutscher Erstaufführung präsentieren. Mutter und die Moderne – das ist ein spannendes Kapitel, das uns bisher vorenthalten blieb.

Alle näheren Informationen zur Konzerthaus-Saison 2011/12 gibt es unter www.konzerthaus-dortmund.de




Wenn die Zeit still steht – Opernheld Hamlet in Dortmund

Dortmund. Hamlet. Ein Monolith in William Shakespeares dramatischem Schaffen, der Schuld und Sühne, Wahn und Realität verhandelt. Der sich an die letzten Dinge wagt. „Sein oder nicht sein“ – die Wucht eines Satzes als Zentrum von Seelenzuständen. Das jedoch hat Christian Jost nicht abgehalten, oder vielleicht geradewegs angespornt, 2009 seinen „Hamlet“ in die musikalische Welt zu werfen. Er hat nichts weniger geschaffen als ein machtvolles Opern-Lamentoso.

Die Musik ergießt sich in breitem Strome, teils heftig aufzuckend in facettenreicher Rhythmisierung, teil dunkel geheimnisvoll raunend. Das Werk, nun in Dortmund zur Premiere gelangte, ist vor allem eine klangliche Nachzeichnung von seelischer Not. Der Komponist selbst spricht von zwölf musikdramatischen Tableaux. Jede dieser szenischen Stationen scheint die Zeit aufhalten zu wollen. Reflexion ist das Gebot der Stunde.

Im Graben sitzen zwei Orchester, ähnlich besetzt, durch einen kleinen Chor voneinander getrennt. Sie lassen raumfüllende Klangflächen aufschimmern, durchzogen von Glissandi, verquickt mit unruhigen, knalligen Blech- oder Schlagwerkattacken. Jost verzichtet in der Instrumentierung auf Oboen und Trompeten. Alles Bukolische und strahlend Helle wird verbannt – herbe Kost für einen bedeutungsschweren Stoff.

Gleichzeitig enthält sich der Komponist dynamischer Extreme. Stets steht der lyrische, teils auch sprechende, bisweilen abenteuerlich figurative Gesang im Vordergrund. Mitunter erinnert das an den Konversationsstil Alban Bergs. Den Solisten wird dabei einiges abverlangt. Wie auch den Chören, die mal geisterhaft polyrhythmisch flüstern, mal als innere Stimmen säuseln, als Landsknechte auftrumpfen oder als Trauergemeinde leiden.

Dieser „Hamlet“, der so viel Sinn sucht und so viel Tod bringt, leidet und klagt an unter brüchig klassizistischen Säulen (Bühne: Sebastian Hannak). Regisseur Peter te Nuyl hat allerdings diesem Purismus der Emotionen mit einem Spiel im Spiel einen Teil seiner Kraft genommen. Die Mimen geben „Hamlet“, sagen teilweise die Tableaux an – das schafft Brüche, die der Musik nicht entsprechen.Andererseits: Wie te Nuyl die Personen sich körperlich verklammern lässt, wie er den Fokus von Hamlet löst, um ihn auf die Gewissensqualen des Brudermörders Claudius zu fixieren, ist von großer Wirkung. Dass die Figuren schließlich elisabethanisches Mobiliar aus Regalen räumen zur Schaffung von Grabstätten, besitzt ganz eigene Symbolkraft. Doch Jost hatte gewiss nicht im Sinn, Shakespeare zu demontieren. Diese „Hamlet“-Oper ist vielmehr spannende Annäherung.

Dortmunds Chefdirigent Jac van Steen hat sich beherzt für die Aufführung des „Hamlet“ eingesetzt. Unter seiner Leitung wachsen Orchester, Chöre und Solisten über sich hinaus. Mit Konzentration und Hingabe wird musiziert und gesungen. Maria Hilmes in der Titelrolle, Bart Driessen (Claudius) oder Fausto Reinhart als Laertes zeichnen vielschichtige Charaktere – flexibel in der Stimmführung, spielfreudig, ja ergreifend.

Weitere Aufführungen: 13. und 25. Mai, 3. und 12. Juni

www.theaterdo.de

(Der Artikel ist am 3. Mai in der WAZ erschienen).




Oper Dortmund: Zauber des Neuanfangs

Nach dem eiligen Weggang der bisherigen Dortmunder Opernchefin Christine Mielitz will der designierte Nachfolger, Jens-Daniel Herzog, den Blick des Publikums zu neuen Ufern lenken, weil doch die alten Gestade kaum noch jemanden hinter dem Ofen hervorlocken.

Denn dass das Musiktheater, von den tüchtigen Erfolgen des Balletts einmal abgesehen, oft nur noch zur Hälfte gefüllt ist, gehört längst zum kulturpolitischen Allgemeinwissen. Mielitz, mit großen Erwartungen nach Dortmund geholt, hat darauf allerdings nicht das alleinige Recht. Wer weiter zurückblickt, mag sich an John Dew erinnern, der das Publikum auch nicht gerade in Scharen anlocken konnte – um es vorsichtig auszudrücken.

Jens-Daniel Herzog will sich also der Aufgabe stellen, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen, die Menschen wieder ans Haus zu binden. Dabei will er klotzen: Zehn Premieren gibt´s in der kommenden Saison auf der Opernbühne. Zehn Werke, die allesamt Bezug nehmen auf den Verlauf der Gattungsgeschichte, angefangen vom Barock bis hin zum Beginn der Moderne. Das klingt für sich gesehen nach bunter Beliebigkeit – Herzog selbst sagt „Oper für alle“. Aber der neue Mann denkt auf fünf Jahre voraus (so lange währt zunächst einmal sein Vertrag).

Konkret: Richard Wagners „Der fliegende Holländer“ zum Beginn der Spielzeit ist zugleich Auftakt für eine Wagner-Reihe, über die Jahre gesehen. Francesco Cavallis „L’Eliogabalo“ eröffnet eine barocke Serie, in historischer Aufführungspraxis. Bellinis „Norma“ steht für Belcanto, Mozarts „Cosi fan tutte“ für die weitere Beschäftigung mit dem Genius, Operette und Musical dürfen nicht fehlen, Berthold Goldschmidts Rarität „Beatrice Cenci“ läutet den Moderne-Reigen ein usw.

Das neue Profil der Oper Dortmund muss sich also nicht erst finden, es ist schon da. Die Historie gibt den Weg vor. Spannend bleibt indes, wie sich alles mit Leben füllt, wie sich ein beinahe komplett neuformiertes, etwa 25 Köpfe starkes Ensemble, den Aufgaben stellen wird.

Interessant ist aber auch, dass Herzog in Zukunft solch ein üppiges Premieren-Konvolut beibehalten will. Das funktioniert indes nur, weil annähernd jede Produktion privat gesponsert wird. Zudem will man sie, nach einer gewissen Laufzeit, möglichst an andere Häuser verkaufen – sei es gegen Bares oder im Austausch. Absprachen mit Mannheim, Erfurt oder Kassel gibt es da bereits, selbst eine Kooperation mit den Schwetzinger Festspielen hat Herzog auf den Weg gebracht.

Wichtig aber ist, was dabei herauskommt. Wird man das Publikum, über die Phase der Neugier hinaus, halten können (Christine Mielitz ist nicht zuletzt daran gescheitert)? Vieles dürfte an Herzogs Außenwirkung hängen. Immerhin: Mit seinem Verweis auf die Wagner-Tradition des Hauses, in Verbindung mit dem Namen Horst Fechner, dem bis heute verehrten ehemaligen General-Intendanten, hat Herzog geschickt den Blick auf bessere Theaterzeiten gelenkt. Und wer während der Programmvorstellung genau hingehört hat, wie die anderen Spartenleiter schon jetzt Herzogs integrative Fähigkeiten lobten, mag tatsächlich an Aufbruchstimmung glauben. Hoffentlich wirkt der Zauber des Anfangs auch noch in ein paar Monaten.

Das genaue Programm findet sich auf der Homepage des Theaters unter www.theaterdo.de




Essener Philharmonie: Hoffnung auf Glücksgefühle

Als im Juni 2004 der alte Essener Saalbau, entkernt und als Philharmonie zu neuem Glanz gekommen, seine Pforten wieder öffnete, versprach Gründungsintendant Michael Kaufmann “reihenweise Glücksgefühle”. Da sollte der Zauber des Anfangs möglichst lange halten, doch der forsche, selbstbewusste, für die Musik brennende Kaufmann musste schon 2008 seinen Hut nehmen. Wegen Überziehung des Etats, wie es offiziell hieß.

Seitdem ist Johannes Bultmann der Chef des Hauses, in seiner Ruhe gediegen, wie ein emotionsloser Verwalter eines Kunstbetriebes wirkend. Gleichwohl verbirgt sich hinter dieser Zurücknahme unbedingtes Engagement. Mit Bultmann mag eine Art neue Sachlichkeit in die Philharmonie eingezogen sein, doch das Ziel, einem breiten Publikum vielfältige Klangwelten zu erschließen, ist ihm gewichtiges Anliegen.

Jetzt hat Bultmann das Programm der Saison 2011/12 vorgestellt – dabei mit den Worten Sensation oder Star äußerst sparsam umgehend. Überhaupt leitet er Konkretes vom Allgemeinen ab, spricht zunächst von der Motivation des Philharmonie-Teams, von einigen Grundprinzipien, was die Auswahl der Künstler angeht. Sätze wie “Wir legen Wert auf Qualität”, oder “Wir wollen Interpretation statt mechanisches Abspulen von Musik” klingen ein wenig nach Allgemeinplatz. Doch dann wendet sich der Analytiker unter den Intendanten dem Publikum zu, redet über Kommunikation, Dialog und Partizipation.

Hehre Worte, die indes in Verbindung mit konkreten Beispielen greifbare Bedeutung gewinnen. Da sei etwa die Residenz von Sol Gabetta genannt: Die argentinische Cellistin wird nicht nur vier Konzerte geben, sondern auch zwei Meisterklassen an der Essener Folkwang Universität. Oder nehmen wir den Neue-Musik-Schwerpunkt “Now!”, der die amerikanischen Minimalisten Steve Reich und John Adams, den Aleatoriker John Cage sowie Frank Zappa vorstellt. Hier soll das Publikum an einem Abend selbst zum Komponisten werden.

Bultmanns Anliegen ist, mit neuen Formaten den starren Konzertbetrieb ebenso aufzubrechen wie unsere Hörgewohnheiten. So wollen sich das Kuss Quartett und das Stadler Quartett auf einen Dialog einlassen, indem sie beide dieselben Werke (von Mozart und Beethoven) spielen und über ihre musikalischen Vorstellungen sprechen – ein Interpretationsvergleich auf offener Bühne.

Bald wird klar: Bultmann meint längst nicht mehr ausschließlich Kinder und Jugendliche, wenn er zum Thema Education spricht. Natürlich werde weiterhin mit Schülern gearbeitet. Doch ebenso gebe es eine Kooperation mit der Universität Duisburg/Essen. Und genauso intensiv will der Intendant den Blick auf die Erwachsenen richten. Mit Werkeinführungen, die die Interpreten selbst im großen Saal der Philharmonie anbieten, oder mit Künstlerbegegnungen.

Das summiert sich über die Saison auf etwa 110 Konzerte. Themenreihen widmen sich den Komponisten Franz Schubert und Gustav Mahler, dem Lied, der Alten Musik, dem hoffnungsvollen Interpreten-Nachwuchs. Den Knaller aber, um es ein wenig salopp auszudrücken, präsentiert Bultmann beinahe zuletzt: Zur Saison-Eröffnung am 6. September wird Christian Thielemann mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden Anton Bruckners monumentale 8. Sinfonie aufführen.

Der Dirigent ist nur ein Beispiel im Reigen bedeutender, ja berühmter Interpreten, deren Aufzählung hier Seiten füllen würde. Wir dürfen sie mit Spannung erwarten und hoffen, dass sich beim Hören auch das eine oder andere Glücksgefühl einstellt.

Detaillierte Einblicke ins neue Programm gibt es unter www.philharmonie-essen.de