Die dreiste Markt-Strategie des Iman Rezai oder: Folter ist kein Mittel der Kunst!

Wäre Schweigen in diesem Fall eigentlich Gold? Warum dem Törichten eine öffentliche Plattform bieten?

Die Zeiten, in denen der Kritik das Wahre der Kunst von anderen Waren zu unterscheiden als Kernpflicht oblag, sind längst vorbei. Das System hat neben dem scheinbar reinigenden Meinungsgeblähe der Medien seinen eigenen Filter, um Qualität von, na sagen wir Scharlatanerie zu scheiden. Dennoch, wider den Stachel zu löcken ist im vorliegenden Fall einer unangenehmen Aktion von Iman Rezai angebracht, und zwar bewusst bildlos und linkfrei. Sie macht deutlich, dass eine neue Generation von Biografie-Designern am Werk ist, denen es vor allem um eins geht: PR. Und damit um Kohle. Hierbei sind die eingesetzten Mittel offensichtlich vollkommen zu Werkzeugen dieses Vermarktungssystems verkommen.

Das ist keine Kunst, das ist schlicht degoutant. Iman Rezai, 1981 im iranischen Schiraz geboren, im vergangenen Jahr Abschlusskandidat der Berliner Universität der Künste, tritt mit scheinbar provokanten Aktionen an die Öffentlichkeit. Neuester „Coup“: Er bietet – sofern es nicht ein Fake ist – dem geneigten Probanden zwischen dem 29.11. und 6.12. ein waschechtes Waterboarding an. Also diejenige Foltermethode, mit der das Opfer nicht getötet, sondern durch gewaltsames Untertauchen gequält und zermürbt wird. Diese menschenverachtende Perfidie kam während der Präsidentschaft George W. Bushs durch CIA und andere US-amerikanische Regierungsbehörden bei der Vernehmung von Terrorverdächtigen zum Einsatz und damit breiten Kreisen weltweit zu Bewusstsein.

Betroffenheitsklauseln aus der Hobbykiste

Man kann sich den ganzen hobbytheoretischen Begründungssermon hinter Rezais Pseudo-Polit-Anliegen sehr gut vorstellen. Denn seine PR-Maschine läuft wie geschmiert. In etwa so? „Der Berliner Künstler Iman Rezai kreiert Ausnahmesituationen, in denen Kunstbesucher mit einer Realität konfrontiert werden, die sie ansonsten nur aus den Medien zu kennen glauben…“ Noch ein paar Betroffenheitsklauseln in Fremdwort-Teig geknetet: Fertig ist die „große Kunst“. Besuche man nur die Webseite. Abstruse Sentenzen ummanteln in der Produktwerbung den eigentlichen Zweck mit billigen kulturhistorischen Behauptungen, um die Ausstellung – lasse man sich den verschwurbelten Titel auf der Zunge zergehen – „Die performative Postmoderne als Ausdruck moderner Austerität im Zeitalter der Prekarisierung Edition 1 – Illusion H2O“, in deren Kontext die Aktion stattfindet, zu bewerben. Neben Rezai bespielen zudem fünf weitere Nachwüchsler den Bereich eines Hotels am Checkpoint Charlie. Schaut man sich deren Werk an, wird die Lage auch nicht unbedingt interessanter.

Aktionen für den Boulevard

Wie unendlich differenzierter hat es 2006 Santiago Sierra mit „245 Kubikmeter“ in der von ihm mit Abgasen von sechs Pkw gefluteten Synagoge Stommeln vorgemacht, dass man – schockierend – Kunstbetrachter auf freiwilliger Basis in Extremsituationen bringen kann. Aber hier liegt der Fall anders, weil sinntragend und historisch kontextualisiert und auf die Gegebenheiten hin lokalisiert. Iman Rezai hingegen setzt ausschließlich auf Boulevard. Hinter ihm steht eine Agentur mit Namen „The Coup“, die sich selbst mit den Sätzen „Wir verstehen weder Fashion, Lifestyle noch Kunst als Charitybranchen. Im Fokus steht der Mehrwert und folglich der Profit des Kunden“ anpreist. Und wenn das kein Witz ist, heißt es: Wir verhökern jeden Dreck auf dreckige Weise, wenn’s nur Profit einbringt. Es geht also ausschließlich um Publicity und ums Kasse machen. Wie anders erklären sich die zwei törichten Vorläuferaktionen, mit denen Rezai sich ins Gespräch gebracht hat.

Zwischenruf: Sollen wir uns allen Ernstes an den Zustand gewöhnen, dass Modefotografen als Künstler proklamiert und von ein und derselben Agentur wie Rezai im gleichen sprachlichen Duktus vertreten werden? Der Künstler und die Kunst als gelabelte Luxushandtaschen. Und wie verkommen sind eigentlich diese „Nachwuchskünstler“, dass sie auf jene unverschämte Weise mit gestylter Dummheit in den Markt drängen und sich von PR-Schleudern wie „The Coup“ ein Image und Sprachgewand verpassen lassen?

Fingierte Guillotinen-Abstimmung

Doch zurück zur Sache: Das erste Mal fingierte Rezai im Internet eine Abstimmung über das Guillotinieren eines Schafs. Über 2,5 Millionen Klicks soll das eingebracht haben. Das Mordwerkzeug hat ein Sammler angeblich für 2,3 Millionen Dollar erworben. Anfang November verschickte er im Namen der der Neuen Nationalgalerie E-Mails, die behaupteten, Rezai habe den Server des Instituts unter Kontrolle gebracht. Täuschung wohin man schaut. Die Erregungsmaschinerie fand ihr Futter und der Schaumschläger seine billige Propaganda. Selbst gestandene Nachrichtenagenturen fielen auf den Blödsinn herein. Und nun dieses Wasserspielchen mit dem Publikum. Nein, das ist nichts. Das tut nur so, als ob es Kunst sei, dieses Deckmäntelchen niederer Interessen. Es ist ein albernes Spektakel für eine profitgeile Aufmerksamkeitsindustrie, das die niederen Instinkte einer ennuyierten Gesellschaft bedient, in der die Anliegen der künstlerischen Kritik und Aufklärung in Form rhetorischer Vehikel zum Rauschmittel des Glamours verkommen sind. Das einzig Kunsthafte an der Sache ist höchstens noch die Dreistigkeit, mit der Iman Rezai in den orchestrierenden Medien seine dürftige Karriere fingiert.




Die Puppe des Monsieur Leblonde

Mustertafel mit "Mannequins" für den Künstlerbedarf, französisch, um 1868

Mustertafel mit „Mannequins“ für den Künstlerbedarf (Detail), französisch, um 1868, Sammlung Dietmar Siegert. Foto: Matthias Kampmann

Monsieur Leblonde kann man sich vorstellen als jemanden, der von Atelier zu Atelier zog und ein interessantes Produkt anpries: eine Puppe aus Kautschuk. An sich nichts Besonderes, aber zu der Zeit, es ist das 19. Jahrhundert, ein herrliches Utensil für halsstarrige Akademisten, die sich von der Fotografie nicht den Schneid abkaufen lassen wollten und natürlicher als die Natur zu malen gedachten.

Diese Puppe ist aus heutiger Sicht mehr als nur ein Symptom für die Geschäftstüchtigkeit eines Bildhauers mit Nebeneinkünften. Sie ist Symbol einer Zeit, in der Golems, Homunkuli und Roboterfantasien geträumt wurden. Das Doppel des Menschen. Hier in Form eines Lehrmittels. Leblonde führte nun nicht das vielfach ausgezeichnete Modell mit sich. Vielmehr besaß er einen Klappkoffer aus zwei Holzrahmen. In voller Ausbreitung mannshoch, zeigt es herrlich posierend diese Erfindung zur Erkundung der menschlichen Anatomie in zahlreichen Fotografien, und man muss schon zweimal hinschauen, um zu erkennen, dass es sich um einen künstlichen Körper handelt.

Vielleicht ist es das überraschendste Exponat in der Ausstellung „Tagträume – Nachtgedanken. Phantasie und Phantastik in Graphik und Photographie“, die Yasmin Doosry, Direktorin der Graphischen Sammlung des Germanischen Nationalmuseums, Nürnberg, zusammen getragen hat. Wieder einmal geht es um die Phantasmen, wieder einmal um die Relation der Surrealisten zu kunsthistorischen Vorläufern seit der Dürerzeit.

Nur Papier. Die trockene Feststellung ist keine Geringschätzung. Doosry beschreibt, dass gerade die Grafik Ideenschmiede der Künstler war. Rund 130 Fotografien, Zeichnungen, Druckgrafiken und Künstlerbücher sind in der Ausstellung zu sehen, die in Kooperation mit der Fundación Juan March, Madrid, entstand. Davon stammen 80 Prozent aus dem Bestand des Nürnberger Instituts. „Gut, dass unser Museum ein solches Depot hat. Sonst wären solche Ausstellungen nicht möglich“, meint Ulrich Großmann, Generaldirektor des Hauses.

Und in der Tat. Man sieht, hier wird aus dem Vollen geschöpft, und die Qualität der heimischen Arbeiten ergänzen prominente Leihgebern wie das Pariser Centre Pompidou. Es ist einfach wunderbar. Frisch wie am ersten Tag der Totentanz von Michael Wolgemut aus dem Jahr 1493 oder die „Majuskeln des lateinischen Alphabets“ von Matthias Zündt nach Hans Lencker von 1567, ein koloriertes und mit Gold gehöhtes Titelblatt von Lenckers „Perspectiva Literaria“.

Die Ausstellung, typisch für Grafikabteilungen, liegt im Halbdämmer. Das kommt nicht nur der Physis der empfindlichen Arbeiten wie den geradezu hingehauchten „Geschlossenen Augen“ eines Odilon Redon, eine Lithografie von 1890, zugute, sondern steigert auch die Einstimmung aufs Thema. Elf Kapitel beleuchten das Unheimliche, Fantastische, Träumerische in der Kunst seit der deutschen Renaissance. In den Vitrinen haben die Ausstellungsdesigner stumpfe Spiegel – gespenstisch – simuliert.

Der Besucher betritt jedoch keine mit Spinnweben vergarnte Rumpelkammer, sondern eine wohl sortierte und geordnete Melange aus kühler Geometrie mit ein bisschen Schreckenskabinett, Suchbildern und desorientierender Verwirrmaschine. Das Menschliche wird durch seltsame Konstrukte aus Torsi und Konfrontationen mit allerlei Fremdkörpern übersteigert. Fühlbar und sichtbar ist Entfremdung durch Verfremdung. Physikalisch simpel kommen noch die Anamorphosen daher, die seit dem 16. Jahrhundert entstehen und mehr oder weniger andeuten, dass das Sehen immer ein vermitteltes ist.

Es braucht den täuschenden Rundspiegel, damit das Bild von Diana und Cupido, die den schlafenden Endymion aufsuchen, unverzerrt gesehen werden kann. Christian Heinrich Weng kreierte das Rundblatt um 1770. Motivisch organisiert Doosry André Steiners „Anamorphose III“ (1933) aus der höchst qualitätsvollen Sammlung von Dietmar Siegert, der fast alle Fotografien beisteuerte, hinzu. Das Gummiband im Bild mit der schrägen Perspektive soll der Ariadnefaden sein, doch der Blick bietet keine Übersicht, das Auge dreht Schleifen zwischen Vordergrund und dem Spiegelbild im Hintergrund. Oder ist es umgekehrt?

Christian Heinrich Weng: Diana und Cupido suchen den schlafenden Endymion auf, ca. 1770. Foto: Matthias Kampmann

Christian Heinrich Weng: Diana und Cupido suchen den schlafenden Endymion auf, ca. 1770. Foto: Matthias Kampmann

Es gibt in der Schau Exponate, die einfach Freude bereiten, selbst wenn ihr künstlerischer Wert weniger bedeutend ist. So bietet sich hier für viele Menschen vielleicht das erste Mal die Gelegenheit, einen originalen „Cadavre exquis“ zu betrachten. Dieser hier stammt aus dem Jahr 1935. Mitgewirkt haben Óscar Domínguez, Hans Bellmer, Georges Hugnet und Marcel Jean. Mit Blei- und Farbstiften zeichneten sie auf das einen halben Meter lange und 32,8 Zentimeter breite Papier. Jeder beackerte einen Teil des Blatts, den die anderen jedoch nicht sehen konnten. Dann falteten sie den Streifen, und der nächste war dran. Wer dabei was gezeichnet hat, lässt sich nur mutmaßen. Auseinandergefaltet ergibt sich das verrückte Erzeugnis.

Das Erstellen des Cadavre ist eine Form gemeinschaftlicher Kreativität, die immer zu überraschenden Ergebnissen führt. Hier stoßen Schriftwolken mit den Künstlernamen auf Formen, die wie Organe anmuten, und die ganze absurde Zeichnung wächst aus einem Vulkan, der sich aus einer ovalen Blase speist. Erotische Konnotationen erwünscht. Aber das ist ja so üblich bei den Surrealisten. Schließlich atmeten ihre Helden Siegmund Freud und entließen ihre Einfälle durch die „Steigrohre des Unbewussten“.

Es ist definitiv nichts Neues, den Surrealismus in eine verwandtschaftliche Beziehung mit früheren Künstlern zu setzen. Kuratorin Doosry bezieht sich hier ganz bewusst auf die 1937 im New Yorker Museum of Modern Art gezeigte Surrealisten-Schau, in der der legendäre Gründer Alfred Barr eine solche Kombination erstmals realisierte. Der Blick auf die Fantastik durch die Brille des Surrealismus ist ja so naheliegend, dass derzeit auch eine Ausstellung des Frankfurter Städelmuseums mit „Schwarze Romantik“ einen ähnlichen Fokus setzt. Allerdings ist es in Nürnberg ausschließlich Grafik in Kombination mit der Fotografie, die zu motivischen und inhaltlichen Vergleichen anregt.

Das Nürnberger Vorhaben bleibt bei der Kunst und begeht nicht den Fehler, der in den 90er Jahren Methode war, Kunstgeschichte als psychoanalytisch motivierte Theorie-Illustration zu betreiben. Hier bleibt man auf dem Teppich. Abheben sollen andere. Sehr schön ist etwa die Kombination der Rötelzeichnung „Eine Art zu fliegen“ von Francisco de Goya mit der gleichnamigen Radierung, veröffentlicht nach dem Tod 1864 als eine der 18 „Torheiten“, damals unter dem Titel „Sprichwörter“. Was dieser seltsame Otto Lilienthal und seine Mitflieger in Vogelflug imitierenden Apparaten da machen, entzieht sich zum Glück der finalen Deutung – wie das meiste in dieser Ausstellung.

Es öffnen sich zudem andere, ungedachte Fenster, die leider in der Schau keine Berücksichtigung finden. Yasmin Doosry erzählt, dass „Aqua“, eine Arcimboldo nachempfundene Kompositfigur aus Meerestieren von 1580 aus dem Nachlass von Vincent Van Gogh stammt. Von dem sicher das eine oder andere Fantastische hätte gezeigt werden können. An sich ist es eine durchaus attraktive Vorstellung von einer vielleicht fantastischen Ausstellung. Und dass ein Museum seine eigenen Grenzen überschreitet und wie im Fall des Germanischen Nationalmuseums ausnahmsweise nicht nur Kunst aus dem deutschsprachigen Raum zeigt, ist angesichts des Themas notwendig.

Doch natürlich trifft man in der Hauptsache die üblichen Verdächtigen. Salvadore Dalí, Max Ernst, Paul Klee, Pablo Picasso, Man Ray, Yves Tanguy, bei den Älteren dann Giovanni Battista Piranesi, Goya, und natürlich kann eine solche Ausstellung an diesem Ort „nicht ganz Dürer-frei“ bleiben, wie Generaldirektor Ulrich Großmann trocken feststellt. Vom übermächtigen Altmeister ist einmal mehr die „Melancolia I“, der unglaublich berühmte wie rätselhafte Kupferstich aus dem Jahr 1514 zu sehen. In jedem Fall bekommen die Besucher eine Menge zu tun, eine weite Übersicht und viele motivische Bezüge vom Auftakt mit dem Blick des inneren Auges über die weiteren zehn Stationen. Wer wollte sich dem widersetzen.

Die Ausstellung ist vom 25. Oktober bis 3. Februar 2013 zu sehen. Öffnungszeiten: Di, Do, So 10 bis 18 Uhr, Mi 10 bis 21 Uhr. Der Katalog kostet 28,50 Euro im Museumsshop, im Buchhandel 38 Euro. Ein besonderes Highlight im Beiprogramm ist die Kooperation mit dem Filmhaus Nürnberg. Es werden dort unheimliche und fantastische Filme aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, etwa „Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens“ (1922) von Friedrich Wilhelm Murnau, gezeigt (25.11., 19.15 Uhr).




Vandalismus unter der Gürtellinie

Ikonoklasmus, Bildersturm: eine der absurdesten Artikulationen unserer Zeit. Passive Kulturgüter, ob aus politischer oder persönlicher Aversion, mit Gewaltakten zu zerstören, ist in aufgeklärt-demokratischen Gesellschaften schlichtweg daneben. Was jedoch heutzutage besonders bemerkenswert erscheint: das avisierte Körperteil.

Hans-Peter Feldmann: "David"

Hans-Peter Feldmann: "David" © Lehmbruck Museum

Michelangelo, dessen Statue des „Auferstandenen Christus“ in der römischen Kirche Santa Maria sopra Minerva bis heute einen pietätsgerechten Lendenschurz zu tragen hat, war gestern. Aber immerhin, diese große Bildhauerei ist ja noch vollendet, wenn auch mit Fremdslip. Unterhalb der Gürtellinie trifft’s derzeit die zeitgenössischen männlichen Figuren brutal. Schlimm steht es jetzt um eine Plastik von Hans-Peter Feldmann im Kantpark in Duisburg. Sein „David“, eine neun Meter hohe, quietschrosa Replik des Michelangelo-Originals, wurde um ihr bestes Stück gebracht. Lehmbruck-Direktor Raimund Stecker konnte noch schmunzeln, als seinem Schutzbefohlenen neulich, gleich dem klerikalen Kollegen aus Rom, ein genitaler Sichtschutz verpasst wurde.

Nun ist da nichts mehr, und das Entmannen ist beileibe kein Einzelfall: Im Mai erwischte es eine metallene Figur von Antony Gormley und Vicky Parsons aus der 100-teiligen Serie „Horizon Fields“ im Vorarlberger Lechquellengebirge, Österreich. Kastration mit dem Winkelschleifer hier, Hammerschläge dort. Nein, wir leben gerade nicht in Zeiten gesetzmäßiger oder klerikaler Schamverordnungen. Am längst ad acta gelegten Nacktheitsverbot kann es nicht liegen, dass die Vandalen unter die Gürtellinie bolzen. Hier offenbart sich die erbärmliche Spießigkeit unserer bigotten Schenkelklopfergesellschaft.




Der herrliche Kosmos des Abkupferns

Kunsthalle Karlsruhe: “Déjà-vu? Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube”

Kaum ein Thema spaltet derzeit die Intelligenzija hierzulande nachhaltiger, als die Frage nach dem Wesen und Unwesen der Kopie und des Kopierens von Kulturerzeugnissen in Zeiten des Internets. Unversöhnlich scheinen sich diejenigen gegenüberzustehen, die einerseits Angst um den Ertrag aus ihrer Musik oder ihren Texte haben, andererseits diejenigen, die für weit reichende Freiheiten des Kopierens stehen. Angefeuert nicht zuletzt durch die Erfolge der Piratenpartei.

Man hört von Filmern, Literaten und Musikern, die sich in groß angelegten Kampagnen gegen Diebstähle an geistigem Gut richten, als ob der Untergang des globalen Dorfs kurz bevor stünde. Bildende Künstler sind in dieser verzerrenden Schein-Schlacht allerdings eher in der Unterzahl. Indes spiegelt sich gerade in der Geschichte von Malerei, Plastik, Grafik etc. geradezu beispielhaft, wie die Kopie unsere visuelle Kultur von Beginn an geprägt und bereichert hat.

Es ist das Verdienst einer hervorragend strukturierten und aufbereiteten Ausstellung in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, den aktuell etwas einseitigen Blick zu korrigieren. Eingängig und aufregend, historisch fundiert bietet die Schau Gelegenheit, den Horizont mit Blick auf das anregende Erbe künstlerischen Kopierens anhand von 120 Werken aus dem Spätmittelalter bis heute zu erweitern. “Déjà-vu. Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube” grenzt hierbei schöpferische Aneignungsverfahren vom vermeintlichen Verbrechertum der bösen “Raubkopierer” ab.

Johann Geminger: Ritter, Tod und Teufel (nach Dürer, um 1600), (c) Kunsthalle Karlsruhe

Johann Geminger: Ritter, Tod und Teufel (nach Dürer, um 1600), Öl/Holz, (c) Kunsthalle Karlsruhe

Die Ausstellung hebt an mit einer wunderbar sinnigen Fotoarbeit von Claudia Angelmaier. Das zwei Meter breite Tableau “Das große Rasenstück, 2004/2008″ zeigt Albrecht Dürers ikonenhaftes Aquarell auf ganz besondere Weise. Die 1972 geborene Künstlerin hat sich ein Dutzend Kunstbücher, in denen das legendäre Blatt abgedruckt ist, vorgeknöpft und diese zu einer kleinen Schausammlung in zwei Reihen zu sechs Buchdoppelseiten arrangiert und abgelichtet. Die Bücher überlappen einander derart, dass die Abbildungen, recht nahe beieinander liegend, zum Vergleich anregen. Mit dem Ergebnis deutlich sichtbarer Unterschiede nicht nur im Format, sondern vor allem hinsichtlich der Druckfarben. Das mahnt die Unmöglichkeit eines Ersatzes von Originalen mit Reproduktionen an und verweist gleichfalls auf den aktuellen Schwachsinnsstreit, den sich GEMA und YouTube liefern: Die kleinen Flash-Filmchen sind Surrogate fürs Kino beispielsweise – und nicht mehr. Ihre Qualität ist relativ und gibt den Eindruck des Originals kaum hinreichend wieder.

Albrecht Dürer: Ritter, Tod und Teufel, Kupferstich, 1513, (c) Kunsthalle Karlsruhe

Das Original: Albrecht Dürer: Ritter, Tod und Teufel, Kupferstich, 1513, (c) Kunsthalle Karlsruhe

 

A propos Dürer. Das Werk des fränkischen Superstars der deutschen Renaissance durchzieht beinahe die gesamte Ausstellung. Nicht ohne Grund, denn er markiert die neuzeitliche Auffassung eines Originalitätsbegriffs, der merkantile Faktoren und die Genese des Künstlersubjekts als Schöpfer impliziert und zum Vorschein bringt. Im Mittelalter sah das ganz anders aus. Kopien firmierten zu dieser Zeit als Garanten für stimmige Ikonografien. Außerdem tradierten Musterbücher gelungene Werke und gewährleisteten auf diese Weise ästhetische Orientierung. Die Kopie war demgemäß nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Sie diente eben nicht der monetären Bereicherung. Sie fungierte als Medium der Überlieferung von Qualität und Ehrerbietung gleichermaßen.

Das ändert sich in Dürers Zeit. Er selbst, dessen vor allem druckgrafisches Werk in der Ausstellung mit wunderbaren Beispielen von Medientransfers Auskunft über je unterschiedliche Formen der ästhetischen Wertschätzung gibt, lobte das Kopieren als Mittel zur Erkenntnis von Güte. Andererseits verwehrte er sich dem Ideenklau. 1511 beschimpfte er Kopisten als Diebe und Betrüger. Der Nürnberger Rat ging 1512 gegen das unerlaubte Verwenden seines Monogramms vor. In der zweiten Abteilung hängen zwei Ölgemälde eines bekannten Motivs: “Ritter, Tod und Teufel”, ein Kupferstich aus dem Jahr 1513. Übertragen hat es einerseits ein anonymer Meister, andererseits ein Johann Geminger. Beide Bilder entstanden um 1600 und sind letztlich Interpretationen. Geminger vergrößerte die Darstellung ins Tafelbildformat. Und es bereitet schlicht Freude, die drei Bilder auch hinsichtlich der verschiedenen Wirkungen von Grafik und Malerei miteinander zu vergleichen.

Dürers Papierarbeiten als Schnitzwerk, Glasmalerei oder schlicht in der druckgrafischen Reproduktion mehrerer Stecher im direkten Vergleich beobachten zu können, mag nach übertriebener Pädagogik klingen. Jedoch ist die Argumentation der Ausstellung und die historische Aufarbeitung des Begriffswandels zwingend und den Werken direkt anzusehen. Endlich einmal eine Schau, die nicht nur plausibel und deutlich ihre Inhalte in den Ausstellungsräumen organisiert und mit knappen wie pointierten Saaltexten das Verstehen der je verschiedenen Konnotationen von Kopie in den Zeitläuften erlaubt, sondern überdies noch eine, die einen umfassenden Beitrag zur bislang nur partiell geschriebenen Kunstgeschichte des Kopierens offeriert.

Diesen entbergenden und Augen öffnenden Kosmos an Werken durchhaucht der Geist der Etymologie, denn das lateinische “copia” meint “Fülle”, “Mittel”, “Wohlstand”, “Vermögen”, “Fähigkeit”, “Möglichkeit”, “Gelegenheit” oder “Vorrat” und nicht etwa “Verbrechen” oder “Diebstahl”. Nachvollziehbar wird jene Auffassung im Werkstattbild. Pieter Breugel d. J. kopierte mehrfach das Gemälde “Anbetung der Könige im Schnee”, das aus der Hand seines Vaters stammte. Drei seiner Repliken sind in Karlsruhe zu sehen. Mal fehlt der Schnee, dann sieht man beispielsweise die unbeholfene Umsetzung des Eislochs im Kanal. Das alles sind Einladungen zum vergleichenden Sehen. Und es wird erkennbar, dass bestimmte Motive einfach Hits zu ihrer jeweiligen Zeit waren und gerade in den sehr spezifizierten bürgerlichen Märkten der Niederlande ganz unbedarfterweise kommerziellen Erfolg garantierten.

Von Rubens, der das Kopieren streng überwachte und auch Reproduktionsstiche nur an ausgewählte Grafiker übertrug, weiß man, dass eine eigenhändige Kopie ein Drittel bis maximal 50 Prozent des Originalbildes erbrachte. Und nicht jeder, der eine wollte, bekam eine. Erst der Adel, dann der Rest. Selbst im Falle einer abgekupferten Komposition.

In der großen Zeit der Akademien, ging es darum, dem Original so nahe zu kommen, dass man als Schüler die Meisterschaft eines kanonisierten Juwels quasi durch die eigenen Hände nachvollziehen lernte. Amüsante Petitessen bietet die Ausstellung ferner auf. Beispielsweise einen Teil des “Prehnschen Kabinetts” von 1780 bis 1824, ein Holzkasten mit 24 Miniaturen. Diese Minimuseen zeigen zumeist keine direkten Kopien von originalen Meisterwerken, sondern entstanden oft nach Druckgrafiken. Außerdem interpretierten die beteiligten Maler stilistische Eindrücke auf dieses puppenstubenhafte Medium hin. Der gesamte Umfang beträgt 32 Kästen mit 800 Miniaturen, die Themen und Motive aus verschiedenen Jahrhunderten und Geografien wiedergeben: Eine einzigartige Kunstliebhaberei bringt sich zum Ausdruck.

In Bildern nach Frans Hals sieht man die Entwicklung der schmackhaften Pinselführung Lovis Corinths. Hier und auch bei Max Beckmann mutiert die Kopie zum Beschleuniger und Medium der künstlerischen Innovation. Bis dann im späten 20. Jahrhundert die Kopie als künstlerisches Prinzip zu einer oft verwendeten Ausdrucksform wurde. In den Jahren der Appropriation Art, die konzeptuell die Kopie zur Schleifung der Bastion namens Genie einsetzte, entwickelten Künstler die Entgrenzung des Bildes bei Entwertung materieller Faktoren wie Leinwand, Farbe oder Form. Elaine Sturtevant, die beispielhaft für diesen Modus der Aneignung gelten kann, sagte einmal über ihre Arbeit: “Es ist eine Kunst, welche die Verführung der Oberfläche wiederholt und im Prozess der Wiederholung auflöst, um dem wirklich Wichtigen Platz zu machen, dem Denken.” Sturtevants Interpretation von Andy Warhols “Flowers” (1969/70) ist demgemäß in Karlsruhe präsent. Und es ist erstaunlich, dass Mr. All is Pretty die Wiederverwendung seiner Originalsiebe durch die 1930 geborene Künstlerin gestattete. Ob das heute noch denkbar wäre?

Aber auch diese Weise der Erweiterung des künstlerischen Potenzials der Kopie stellt nicht das Ende dar. Erstaunlich ist die Vielfalt, die heutzutage möglich ist. Klaus Mosettigs Bleistiftzeichnungen des Action-Paintings “Lavender Mist” von Jackson Pollock sind mehr als nur akribische Nachahmungen. Sie verlagern den Blick auf Prozessualität und Zeit. Dass auf YouTube oder Flickr künstlerische Laien etwa Cindy Sherman imitieren, rückt nach der Faszination an der Geschichte der Kopie wieder den Alltag von heute in den Blick.

Zum jetzigen Zeitpunkt ist es für viele Bürger schließlich schwer nachzuvollziehen, was erlaubt und was verboten ist. Die Gesellschaft steht vielleicht vor einem Paradigmenwechsel. Bei der Einschätzung dessen, was als Kopie verstanden werden soll, bereichert die Karlsruher Schau den Diskurs erheblich. Sicher ist nicht das massenhafte, illegale Brennen von CDs, Software oder Hollywood-Streifen gemeint, ein Verfahren, auf das bestverdienende Unterhaltungskünstler wie Mario Adorf, Sven Regener oder Charlotte Roche das Spektrum der Kopie verengen wollen. Interessanterweise kaprizieren sich die halbwegs intelligenten Aneignungen von Laien auf recht komplexe Arbeiten. Siehe Cindy Sherman und ihre “Untitled Film Stills”. Das schärft auch den Blick auf tatsächliche intellektuelle Güte und entlarvt so manchen, der sich als “Künstler” gegen das Kopieren verwehrt, lediglich als Schacherer. Diesen Kandidaten kann man nur die Ausstellung ans Herz legen, damit sich vielleicht ein kontrollierterer Sprachgebrauch in Sachen Kopie durchsetzt.

Begleitet wird das Projekt, das in Kooperation mit der Hochschule für Gestaltung entstand, von einem exzellenten Katalog, der neben einer eingängigen Einführung von Ariane Mensger (S. 30-45) auch mit den derzeit rechtlichen Fragestellungen (Thomas Dreier: Original und Kopie im rechtlichen Bildregime, S. 146-155)) auseinander setzt. Außerdem kann sich der Interessent umfangreich in der Ausstellung “Hirschfaktor – Die Kunst des Zitierens” im Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM, bis 10.2.2013) über die vielfältigen künstlerischen Verwendungsweisen von Zitat und Kopie informieren. Übrigens gibt es aufgrund der Zusammenarbeit beider Häuser bis zum 5.8. jeweils einen ermäßigten Eintritt bei Erwerb eines Kombitickets.

Kunsthalle Karlsruhe: “Déjà-vu? Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube”, bis 5. August 2012, Eintritt 8 Euro, 6 Euro erm., 2 Euro Schüler, 16 Euro Familien, Di-Fr 10 – 17 Uhr, Sa, So, feiertags 10 – 18 Uhr, www.kunsthalle-karlsruhe.de, Hans-Thoma-Straße 2-6, 76133 Karlsruhe