Ein riesiger Teddy als Lockmittel – „Sommer bei Nacht“, Jan Costin Wagners Krimi um Kindesentführungen

Die Mutter hat ihren fünfjährigen Sohn auf dem Flohmarkt in einer Grundschule nur für ein paar Minuten aus den Augen gelassen, da ist er schon spurlos verschwunden.

Zeugen wollen gesehen haben, dass er einen großen Teddy in den Armen hielt und mit einem Mann weggegangen ist. Aber mehr bringen weder die Mutter, die voller Angst mit der Suche beginnt, als auch die gleich eingeschaltete Polizei zunächst nicht in Erfahrung.

Der Leser ist da den Mitwirkenden schon ein Stück voraus, lernt er den Kindesentführer doch schon gleich am Anfang des Buches kennen. Jan Costin Wagner erzählt die Tat nämlich zunächst aus der Perspektive des Kidnappers. Der Spannung tut das keinen Abbruch. Im Gegenteil. Denn was dieser Mann nun wirklich mit seinem Opfer vorhat und um welchen Typ von Täter es sich hier handelt, das sind Fragen, auf die es erst nach und nach Antworten gibt.

Geschickt schafft es Autor, den Eindruck zu erwecken, dass es nicht lange brauchen werde, um den Täter hinter Schloss und Riegel zu bringen. Denn beispielsweise stößt die Polizei recht bald auf zwei ähnlich gelagerte Fälle. Das eine Mal verschwand ein Flüchtlingsjunge aus Eritrea, das andere Mal blieb es zum Glück nur beim Versuch, ein Kind zum Mitgehen zu überreden. Als Lockmittel diente stets ein riesiger Teddy, sodass die Polizei hofft, über die Verkäufer solcher außergewöhnlichen Stofftiere weiterzukommen.

Spannung durch ständige Perspektivenwechsel

Doch ein schneller Fahndungserfolg bleibt aus. Stattdessen leiden die Familien der Opfer nicht nur unter dem Verlust ihrer Kinder, was schon schlimm genug ist, sie haben auch das Gefühl, versagt zu haben. Darüber kommt es in der Ehe der Eltern von Jannis, des Entführungsopfers auf dem Flohmarkt, fast zum Zerwürfnis.

Das Bild, das der Autor von den beiden ermittelnden Kommissaren Ben Neven und Christian Sandner zeichnet, ist sehr kontrastreich. So sehr sie auch mit großer Akribie recherchieren und um Aufklärung bemüht sind, ebenso stark scheinen sie auch mit privaten Problemen behaftet zu sein, die ihren Blick auf die Ereignisse auch trüben könnten. Mit Szenen aus dem Intimleben von Neven nährt der Verfasser zudem einen Verdacht, der, wenn er sich bewahrheiten sollte, der gesamten Handlung noch eine ganze neue Wendung geben könnte.

Überraschende Momente sind es ohnehin, die den Verlauf des Krimis prägen. Ohne zu viel zu verraten, lässt sich festhalten, dass der Kidnapper, den man als Hauptverantwortlichen ansieht, später noch einmal in einem anderen Licht erscheint. Zudem setzt der Autor sehr wirkungsvoll Spannungselemente ein, um die Leser im Unklaren zu lassen, ob die Eltern ihre Kinder je lebend wiedersehen werden.

Weil Jan Costin Wagner das Geschehen nicht an einem Stück erzählt, sondern immer wieder die Perspektive wechselt und aus Sicht der einzelnen Charaktere schreibt, bleibt die Frage nach dem Ausgang offen – bis zum Schluss.

Jan Costin Wagner: „Sommer bei Nacht“. Galiani Berlin, 320 Seiten, 20 Euro.




„Im Grunde blieb kein Stein auf dem anderen“: Neu aufbereitete Interviews mit Christa Wolf zur Wendezeit

Jubelnde Menschen in Ost und West: Diese Bilder prägten 2019 die Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag des Mauerfalls. Ein ungleich facettenreicheres Porträt der Wendezeit bieten indes die Interviews, die der Filmemacher und Publizist Thomas Grimm mit der Schriftstellerin Christa Wolf im Beisein ihres Mannes Gerhard Wolf vor elf Jahren geführt hat.

Jetzt hat Grimm die Gespräche gemeinsam mit dem Ehemann der 2011 verstorbenen Autorin aufbereitet und um Reden sowie weitere Dokumente erweitert – womit man sich mitten im Geschehen jener Jahre befindet.

„Für unser Land“ heißt ein denkwürdiger Aufruf, den Wolf und eine Reihe von Weggefährten aus Kultur, Kirche und Wissenschaft in den Novembertagen 1989 verfasst haben, wollten sie doch die DDR von der Basis her reformieren. Eine deutsche Einheit, die gern in einem Atemzug mit der Grenzöffnung genannt wird, war für sie nicht das vorrangige Ziel, wie es auch in Christa Wolfs Rede auf dem Alexanderplatz deutlich wird. Vielmehr hatten zahlreiche Intellektuelle vor Augen, „eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik“ zu schaffen – ohne Honecker & Genossen.

„In völlig andere Strukturen hinübergehoben““ 

Bekanntlich kam es anders, Kanzler Kohl habe schlau und geschickt agiert, resümiert die Schriftstellerin. Sehr feinfühlig, oftmals mit dem Neuen hadernd, gibt sie wieder, welche Entwicklung fortan ihren Lauf nahm. Man sei im Kulturbereich in völlig „andere Strukturen hinübergehoben worden“, heißt es an einer Stelle, an einer anderen beschreibt Christa Wolf die Veränderung an den Universitäten: „Über Nacht übernahmen die westdeutschen Gesandten die Gremien, und selbst hoch angesehene DDR-Wissenschaftler mussten sich von zweitklassigen Professoren aus dem Westen evaluieren lassen. Im Grunde blieb kein Stein auf dem anderen.“

Sozialistisch klingt es, wenn sie erklärt, dass mit der Einheit „das Privateigentum an den Produktionsverhältnissen“ wiedereingerichtet worden sei. So sehr sie das vereinte Deutschland mit vielen Bedenken betrachtet, so kritisch sieht sie aber auch das DDR-System, das die Menschen vereinnahmt, entmündigt und in ihrer Würde verletzt habe. Schließlich wirbt sie dafür, den einstigen DDR-Bürgern Verständnis entgegenzubringen, die es eben nicht gelernt hätten, ihre Meinung zu sagen und sich in demokratischen Spielregeln einzuüben.

Als ein Umbruch noch unwahrscheinlich zu sein schien

Dass sich in dem „Arbeiter- und Bauernstaat“ überhaupt ein Umbruch anbahnen könne, das schien der Schriftstellerin auch noch in den letzten Monaten vor dem Mauerfall unwahrscheinlich zu sein. Die Hoffnung, die DDR-Führung würde sozusagen von oben einen Wandel einleiten, haben nach Aussagen von Wolf wohl viele Bürger spätestens nach einem Interview mit Funktionär Kurt Hager im Jahr 1987 begraben. Auf die Frage, ob nicht Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion Vorbild für die DDR sein könne, stellte er sinngemäß die Gegenfrage, ob man, wenn der Nachbar die Wohnung neu tapeziere, das denn auch machen müsse.

Den Anfang vom Ende des Systems verortet Christa Wolf allerdings weniger in den Reformprozessen, die Gorbatschow einleitete, vielmehr habe der Zerfall bereits mit der Ausweisung des Liedermachers Wolf Biermanns 1976 begonnen. En passant erwähnt Wolf, dass die Entscheidung Honecker ganz allein getroffen habe, selbst seine Ehefrau sei aus Angst um die Folgen dagegen gewesen. Nun sei zwar Biermann nicht besonders bekannt gewesen in der DDR, dass aber überhaupt jemand ausgebürgert wird und dann noch jemand, dessen jüdischer Vater im KZ umgebracht wurde, hat nach Wolfs Darstellung den Protest katalysiert.

Offene Worte über die Kontakte zur Stasi

Der Zusammenbruch 1989 geht, wie Christa Wolf anschaulich beschreibt, auf mehrere Ereignisse zurück, wozu Aktionen der Friedens- und Bürgerrechtsbewegung ebenso gehören wie die öffentlichen Berichte zu den Manipulationen bei den Kommunalwahlen im Mai 1989 und schließlich die Übergriffe der Staatsmacht bei den Demos im folgenden Oktober. Wie schwierig die Aufarbeitung solcher Vergehen sich gestalten kann, darauf geht Christa Wolf ein, als sie über ihre Mitarbeit in der Untersuchungskommission berichtet, die beispielsweise einen Erich Mielke interviewen musste. Sehr offen spricht sie über ihre Kontakte zur Stasi, berichtet davon, wie überrascht sie bei Sichtung der eigenen Akten gewesen sei, als IM geführt worden zu sein. Ihre kritische Haltung zu Partei und Staat, so mutmaßt Wolf, habe wohl dazu beigetragen, dass man an ihr als Informantin dann doch wohl kein Interesse hatte. Selbst hätte sie es sowieso nicht gewollt.

Wenn man heute ein solches Buch liest, das vertiefende Einblicke in Strukturen und Zusammenhänge der DDR bietet, kommt unweigerlich die Frage auf, ob sich irgendwo Erklärungsmuster für das Erstarken von Populismus und Rechtsextremismus finden. Einen Hinweis gibt Christa Wolf direkt selbst. Der Aderlass an jungen Menschen gleich mit Öffnung der Mauer hat nach ihrer Ansicht die ostdeutsche Gesellschaft anfälliger für solches Gedankengut gemacht. Zudem hebt Wolf darauf ab, wie sehr doch eine ablehnende Haltung gegenüber dem Staat während in der DDR ausgeprägt war, woraus sich die Frage ergibt, welche Folgen das für eine spätere Gesellschaft haben kann. Und schließlich spricht sie davon, dass – wenn auch eher auf alternative Lebensformen bezogen – sich Menschen in Zirkeln und Vereinigungen Nischen suchen, um der Globalisierung zu entkommen.

Christa Wolf: „Umbrüche und Wendezeiten“, hg. von Thomas Grimm unter Mitarbeit von Gerhard Wolf, Suhrkamp, 141 Seiten, 12 Euro.




„Mir brennen die Schläfen“: Sound und Lebensgefühl der 70er und 80er Jahre – von Zappa bis zur ZDF-Hitparade

Alle, die sich mal einen Trip in die 70er und 80er Jahre gönnen möchten, nimmt Ulli Engelbrecht mit auf eine Tour durch Zeiten, als angesagte Bands und Musiker beispielsweise noch Golden Earring oder Frank Zappa hießen.

Schon der Titel des Buches spricht Bände: „Mir brennen die Schläfen“. Dieses Gefühl kommt bei dem in Bochum geborenen Autor aber wohl vor allem auf, wenn er mit Kumpel Benny in der eigenen, ansehnlichen Sammlung von Langspielplatten stöbert. Bei rund 2000 Stück mangelt es wohl kaum an Auswahl.

Dass mit Engelbrecht ein profunder Kenner der Rock- und Popszene am Werk ist, zeigen die vielen Geschichten, die ihm bei Songs und Interpreten in den Sinn kommen; seien es nun Pete Townshend von „The Who“ oder Alice Cooper, Titel wie „Born to be wild“ und „Bicycle Race“: Der Autor erzählt locker-flockig und süffisant aus seinen wilden Jahren und darüber, welche Musik bei der damals jungen Generation (er selbst ist Jahrgang 1957) Konjunktur hatte. Auf unzählige Namen kommt er zu sprechen. Die Geschmäcker waren unterschiedlich. Bisweilen blickt Engelbrecht auf musikalische Seitenwege. Wem beispielsweise Krautrock kein Begriff mehr ist, der erhält mit dem Buch eine kleine Gedankenstütze.

Auch Gitte und Vicky gehörten irgendwie dazu

Da dem Autor daran gelegen ist, möglichst umfassend das Lebensgefühl jener Jahre zu schildern, geht er auch auf Liedermacher wie Franz-Josef Degenhardt und Dieter Süverkrüp ein, die vor allem Fans unter jungen Leuten hatten. Das dürfte sich vom deutschen Schlager eher nicht behaupten lassen, auf den Engelbrecht in amüsanter Weise zu sprechen kommt. Gitte, Vicky Leandros und Udo Jürgens sind da nur drei aus einer Schar an Interpreten, die zu der Zeit unbedingt dazugehörten. Zudem geht es um Jahre, in der eine ZDF-Hitparade mit Dieter Thomas Heck ein echter Straßenfeger war.

Apropos TV: Mit einem Klassiker des damaligen Programms steigt der gebürtige Bochumer in die erste Episode seines Buches ein und gibt genüsslich wieder, wie ein Dialog aus der Serie „Der Kommissar“ ablief. Ein derart monotones Format könnte man wohl heute den Zuschauern nicht mehr zumuten, resümiert er. Der Beliebtheit hat’s keinen Abbruch getan. Denkt Engelbrecht an die Zeit zurück, dann ist bei ihm nach wie vor Begeisterung für Filme wie Flipper und „Percy Stuart“ groß. Ansonsten zieht er das Fernsehangebot jener Tage auf charmante Art durch den Kakao.

Als mitgebrachte LPs in der Bochumer Kneipe liefen

Da wendet sich der „multifunktionale Öffentlichkeitsarbeiter“ (Engelbrecht über Engelbrecht) doch lieber seinen LPs zu. Sortiert habe er sie alle, mit Ordnungssinn sei er nun mal aufgewachsen. Wenn er früher die eigenen Platten nicht in seinem Zimmer hören wollte, nahm er sie mit in eine Kneipe in der Nähe. Das Bochumer Lokal bot seinen Gästen an, mitgebrachte LPs abzuspielen. Es machte, wie der Autor schildert, wahrlich einen Unterschied, ob der Sound aus gleich mehreren Boxen zu hören oder man auf den Schallplattenspieler daheim angewiesen war. So entstand ein gefragter Treffpunkt für Jugendliche, der sich von anderen Kneipen ums Eck deutlich abhob.

Das Lokal habe sich zu einem idealen Ort entwickelt, um junge Männer und Frauen zusammenzubringen, erzählt der Autor. Er erinnert zugleich daran, dass unter Frauen ein anderes Rollenverständnis aufkam, Stichwort lila Latzhose, mit Folgen für den Plattenteller. Auf einmal waren Sänger wie Klaus Hoffmann und Konstantin Wecker gefragt. Denn sie galten als Frauenversteher.

Zum Schluss stellt der Autor insgesamt 99 Platten vor und unterzieht sie einem kurzen und knackigen Musikcheck. Top oder Flop ist hier die Frage. In seinem Fundus ist Engelbrecht dabei auch auf Scheiben gestoßen, die eine echte Rarität sein dürften. Beispielsweise sind die Norddeutschen Witthüser & Westrupp oder der Este Peeter Vähi wohl eher nicht in ein kollektives Musikgedächtnis eingegangen.

Ulli Engelbrecht: „Mir brennen die Schläfen. Rockstorys & Popgeschichten“. BoD (Books on Demand), 180 Seiten, 9,80 Euro.




„Der vergessliche Riese“: David Wagner schildert das Leben mit einem demenzkranken Vater

Dieses Buch hat viele berührende Momente, wobei man sich als Leser hin- und hergerissen fühlt zwischen Lachen, Schmunzeln und Nachdenklichkeit. In „Der vergessliche Riese“ erzählt der preisgekrönte Autor David Wagner – autobiografisch gefärbt – über (s)einen demenzkranken Vater.

Wer allein schon bei dem Thema meint, das Buch besser nicht anrühren zu wollen, weil er ohnehin nur ein Horrorszenario geboten bekomme, sollte bedenken, dass dem Verfasser ein durchaus schwieriger Spagat gelingt. Er beschreibt zwar äußerst anschaulich, wie die Krankheit die Persönlichkeit eines Menschen verändert, kommt aber ohne grauselige Szenen aus. Und auch das gesamte Umfeld betrachtet den Mann keineswegs nur als eine reine Belastung.

Vielmehr wirken manche Situationen eher skurril. Beispiel: Auf der mehrstündigen Fahrt zur Beisetzung einer verstorbenen Tante erwähnt der Vater zwar dauernd die nahe Verwandte, aber der Sohn muss ihn immer wieder darin erinnern, dass sie nicht mehr lebt. Nun findet die Beerdigung in Bayreuth statt, das weckt bei dem Senior, einem großen Klassikfan, noch ganz andere Assoziationen

„…im Alter aber werden sie alle blöd“

Wann das Gedächtnis funktioniert und wann nicht, das ruft oft Erstaunen hervor. Plötzlich kennt der Vater bei dem Besuch eines Schnellimbisses McNuggets, von seinen beiden verstorbenen Frauen weiß er hingegen nichts mehr. Spricht man ihn darauf an, kommen ihm die Ehen blitzartig wieder in den Sinn, aber zwei Sekunden später hat er sie schon wieder vergessen. Fast schon wie eine Dauerschleife folgt ein sarkastischer Spruch über seine Familie: „Die Dublanys sind sehr intelligent, im Alter aber werden sie alle blöd“. Nachgeschoben wird dann meist angesichts des Todes der zwei Ehefrauen: „Ich muss ja schwer auszuhalten sein“.

Zu seinem Sohn hatte er lange Jahre ein sehr abgekühltes Verhältnis. Dass der Leser erst nach und nach erfährt, worin die Ursachen lagen, lässt durchaus einen gewissen Spannungsbogen entstehen. Zum einen hatte das etwas mit der zweiten Frau zu tun, zum anderen mit seiner Selbstständigkeit als Unternehmer. Man kann es nur erahnen, auch seine umtriebige Geschäftstätigkeit ist aus den Erinnerungen verschwunden.

Große Gelassenheit – und Gewissensbisse

Mitunter wirkt der Sohn aber auch erschüttert darüber, was sein Vater unwiderruflich vergessen zu haben scheint. Manchmal sind es familiäre Ereignisse, insbesondere trifft es aber den Beruf. Dass sein Vater ihn nicht bei dem Vornamen nennt, sondern andauernd mit „Freund“ anspricht, nimmt er ganz gelassen hin, wobei die Anrede befremdlich und zugleich vertraut klingt.

David Wagner beschreibt eine Familie, die sehr liebevoll mit dem Demenzkranken umgeht. Die gesamte Atmosphäre zeichnet eine große Gelassenheit aus. Da wird dann auch dem Vater zum x-ten Mal erklärt, welche Wohnungen und Autos er hatte. Wenig nimmt der Leser allerdings von den Befindlichkeiten des Sohnes wahr, der einen doch herausfordernden Prozess durchlebt. Dass sein Vater längst nicht mehr „der Riese“ ist, wie er ihn als Kind gesehen hat, versteht sich selbstredend, aber nun hat er es mit einen vollkommen vergesslichen 73-jährigen Mann zu tun.

Während zu Beginn des Buches der Senior in seinem eigenen Haus leben kann (zwei Betreuerinnen kümmern sich abwechselnd um ihn), wird dann doch der Wechsel in ein Pflegeheim unausweichlich. Darüber nicht richtig reden zu können oder zu wollen, hinterlässt bei dem Sohn Gewissensbisse.

David Wagner: „Der vergessliche Riese“. Roman. Rowohlt Verlag, 272 Seiten, 22 Euro.




Charakterstärke und sonstige Vorzüge: „Vorbilderbuch“ mit anregenden Texten aus dem Ruhrgebiet

Ist es nicht angesichts von so vielen YouTube-Stars, Influencern und Promis ein bisschen antiquiert, ein Buch über Vorbilder auf den Markt zu bringen? Der Verlag Henselowsky Boschmann hat genau das getan. Und er hat gut daran getan.

Herausgekommen ist eine lesenswerte, anregende und angenehme Lektüre. Über 30 Autoren schreiben sehr persönlich über ihre Vorbilder und darüber, wo vielleicht auch Trennlinien zu ziehen sind. So nimmt für die Pädagogin Margret Martin ihr Ausbildungslehrer im Referendariat wegen seiner Offenheit und sozialen Einstellung einen besonderen Stellenwert ein. Vieles habe sie für den eigenen Unterricht übernommen, schreibt sie, doch am Ende müsse man selbst seinen eigenen Weg suchen.

Es gibt sie auch nebenan

Die Geschichte steht aber noch für ein weiteres Merkmal dieses Bandes: Vorbilder müssen nicht z. B. Nelson Mandela oder Mutter Teresa heißen, es gibt sie auch nebenan. Ludger Claßen erzählt von einer Tante, Kosename Tanmaria, die immer half, wenn es erforderlich war. Ihre Gelassenheit, aber ebenso die Skepsis gegenüber manchen Neuheiten haben den Autor nachhaltig beeindruckt. Den Beat-Club im Fernsehen, den durfte er damals dennoch bei ihr – und nur bei ihr – sehen, der Vater lehnte die Sendung ab.

Apropos Musik: Pete Townshend von den Who ist für Zepp Oberpichler einer, zu dem er bis heute aufschaut. Dessen Shows und Songs sind für ihn unübertroffen. Ähnlich denkt René Schiering über Christoph Schlingensief, wenn er sich dessen Wirken vor Augen führt. „Was er jetzt wohl tun würde?“, fragt sich der Autor und spielt dabei insbesondere auf das gesellschaftskritische Bewusstsein des 2010 verstorbenen Künstlers sowie dessen Selbstreflexion an.

Fair und frei von Skandalen

Wie man mit Charakterstärke überzeugen kann, dafür sind in dem Band zahlreiche Beispiele zu finden. Hans Tilkowski und Norbert Nigbur gehören dazu. Der eine, der einst für den BVB und 1966 beim WM-Endspiel in Wembley für Deutschland im Tor stand, imponiert den Autor bis heute durch Fairness und gesellschaftliches Engagement, der andere, früherer Torhüter auf Schalke, beeindruckte seinerzeit nicht zuletzt, weil er am Bundesligaskandal 1971 n i c h t beteiligt war.

An Menschen, die sich aus ihrem Selbstverständnis heraus für Andere engagieren, erinnern eine Reihe von Verfassern. Da gab es den Missionar, der soziale Projekte voranbrachte, den Altkommunisten in Bottrop, der als Anwalt des „kleinen Mannes“ erst spät im Leben Anerkennung fand, und den Dortmunder Pfarrer, der sich auf die Seite von Kirchenbesetzern geschlagen hat. Beeindruckend ist auch die Geschichte über die Unternehmerin, die als Kind jüdischer Eltern von diesen 1939 nach England geschickt wurde, schon früh eine Technologiefirma aufbaute und sich bis heute dafür stark macht, dass Autisten in der IT-Branche unterkommen.

Saboteur des Alltags

Wie schwierig, aber vor allem wie bereichernd der Umgang mit Autisten sein kann, davon berichtet Gerd Herholz, der vor Jahren eine Zeitlang einen Jugendlichen betreut hat. Er ist ihm bis heute ein „flackerndes Vorbild“ geblieben, hat er ihn doch als „professionellen Dulder und Alltagssaboteur“ erlebt. Dass destruktives Verhalten auch ein „Vorbild“ im negativen Sinn sein kann, davon erzählt Margit Kruse. Der Junge aus ihrer Nachbarschaft hatte ob seiner Diebstähle einen zweifelhaften Ruhm, als er ins Gefängnis kam, war dann wohl die abschreckende Wirkung vollendet.

Wenn die Autoren auf ihre Vorbilder eingehen, vermitteln sie nicht nur Biografisches, sondern erzählen auch immer ein Stück Zeitgeschichte. Da es sich häufig um das Ruhrgebiet als Schauplatz handelt, lädt der Band auch zu einer regionalen Zeitreise ein. Denjenigen, die sich gern etwas grundsätzlicher mit dem Thema Vorbilder auseinandersetzen wollen, bietet das Buch auch genügend Stoff, beispielsweise durch Zitate namhafter Literaten wie Erich Kästner.

Die Geschichte, die wohl am meisten berührt, findet sich gegen Ende des Buches: Ein Vater beschreibt den Menschen, der ihm einen ganz anderen Blick auf das Leben geöffnet hat: Es war sein Sohn, der mit 17 Jahren an einer unheilbaren Krankheit starb.

„Vorbilderbuch – Kleine Galerie der Menschlichkeit“. Verlag Henselowsky Boschmann, Bottrop. 240 Seiten, 9,90 Euro.




Dortmund im Juni: Kunst, Kultur und Kabarett beim Evangelischen Kirchentag

Wiederkehr zum Kirchentag: Pop Oratorium „Luther", hier eine Szene der Uraufführung in der Dortmunder Westfalenhalle am 31. Oktober 2015 – mit Frank Winkels (Mitte) in der Titelrolle. des Reformators.

Zum Kirchentag wieder zu erleben: das aufwendige Pop-Oratorium „Luther“ – hier eine Szene der Uraufführung in der Dortmunder Westfalenhalle am 31. Oktober 2015, mit Frank Winkels (vorn Mitte) in der Titelrolle des Reformators. (© Stiftung Creative Kirche, Witten)

Vier Bundespräsidenten, neben dem amtierenden drei seiner Vorgänger, die Bundeskanzlerin, der NRW-Ministerpräsident, zahlreiche Bundes- und Landesminister, sie alle haben zwischen dem 19. und 23. Juni Termine in Dortmund. Während der fünf Tage ist die Stadt Gastgeber des 37. Deutschen Evangelischen Kirchentags, der mit geballter Polit-Prominenz aufwartet.

Bundespräsident Frank Walter Steinmeier hält einen der Hauptvorträge und befasst sich mit „Zukunftsvertrauen in der digitalen Moderne“, Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht über die Frage „Vertrauen als Grundlage internationaler Politik?“ NRW-Ministerpräsident Armin Laschet findet sich zur Bibelarbeit ein, Bundesaußenminister Maas diskutiert mit Friedensnobelpreisträger Denis Mukwege, wie es sich mit der Verantwortung Deutschlands zum Schutz von Frauen und Kindern verhält – und Arbeitsminister Hubertus Heil erörtert mit Verdi-Chef Frank Bsirske, wie es um den Wert der Arbeit bestellt ist.

Insgesamt 2500 Veranstaltungen

Die Auftritte der Politiker sind Teil eines Programms mit rund 2.500 Veranstaltungen. Täglich werden rund 100.000 Besucher erwartet. Neben Debatten und Podiumsgesprächen gehören Gottesdienste, Workshops und Konzerte ebenso dazu wie Ausstellungen und Installationen. Kulturelle Angebote machen mit rund 600 Veranstaltungen fast ein Viertel des Programms aus. Mit dabei sind z. B. die Schauspielerin und Sängerin Anna Loos, der Musiker und Songwriter Adel Tawil, die Band Culcha Candela und das Bundesjugendjazzorchester. Konzertbühnen werden auf dem Hansa- und Friedensplatz sowie dem Alten Markt stehen.

Das „Depot“ an der Immermannstraße soll zu einer „Kulturkirche“ werden. Die Schwerpunktthemen sind hier Heimat und Kunstfreiheit. Die Schriftstellerin Thea Dorn, der Programmchef des Deutschland Radio Kultur, Hans-Dieter Heimendahl, der Intendant der Ruhrfestspiele, Olaf Kröck, und Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD), sind zu Gesprächsrunden eingeladen. Das Programmkino des Depots zeigt eine Reihe von aktuellen Filmen, unter anderem „The Cleaners – Im Schatten der Netzwelt“. Die Dokumentation berichtet über die Arbeit Zehntausender von Menschen, die im Auftrag von Internetkonzernen belastende Fotos und Videos auf den Portalen von Facebook, Twitter etc. löschen. Darüber hinaus wird der Regisseur Züli Aladag über seinen Film „Die Opfer – Vergesst mich nicht!“ sprechen, der sich mit den NSU-Morden befasst.

Vertrauen auch als literarisches Thema

Im Freizeitzentrum West (FZW) an der Ritterstraße gibt‘s Kabarett aus der und über die Kirche, die Gruppe Klangwerk aus Bayreuth bringt Deutschpop zu Gehör, der Dortmunder Liedermacher Fred Ape ist zu Gast und zudem wird die Veranstaltungsstätte Ort für einen Techno-Gottesdienst sein, Thema: „Menschenrechte – Gottes Wort!?“ Eine bunte Musikvielfalt bieten zahlreiche Songwriter im „domicil“ an der Hansastraße, in dem auch abends um 22.30 Uhr ein kabarettistischer Tagesrückblick gehalten wird. In den Westfalenhallen wird sich der Kabarettist Serdar Somuncu an einer Runde zur #MeToo-Debatte beteiligen. Eckhardt von Hirschhausen diskutiert mit Jugendlichen über Klima und Umwelt.

Im Industriemuseum Zeche Zollern (Stadtteil Bövinghausen) setzt sich unter dem Leitgedanken „Erinnern, Begegnen, Bedenken“ eine Ausstellung mit der Geschichte des Reviers auseinander. Darüber hinaus sind Aufführungen vorgesehen, die weltweite historische Ereignisse eingehen. Das Hoesch-Museum zeigt eine Ausstellung, die dem Thema „Migration und Religion im Ruhrgebiet“ gewidmet ist.

Da der Kirchentag das Motto „Was für ein Vertrauen“ trägt, steht auch das Literaturfest der Großveranstaltung unter dieser Losung. Zahlreiche Autoren aus der Region lesen aus ihren aktuellen Büchern passende Passagen. Nachmittags ab 15 Uhr sind Kinder eingeladen, sich zu einem Mitmachprogramm einzufinden, Zeit für Erwachsene nehmen sich Frank Goosen, Sarah Meyer-Dietrich, Ralf Thenior und weitere Autoren ab 19 Uhr.

Gewaltiges Pop-Oratorium über Luther

Freunde elektronischer Musik können sich auf die Uraufführung der Kammeroper „Nova – Imperfection Perfection“ des zeitgenössischen Komponisten Franz Danksagmüller freuen. Das Pop-Oratorium „Luther“ mit 2.000 Mitwirkenden erlebt eine weitere Aufführung am 20. Juni in den Westfalenhallen.

Während der gesamten Dauer des Kirchentages ist am Fredenbaumplatz eine Installation aus Klang und Licht zu sehen, die die evangelische Jugend aus dem Osten Berlins geschaffen hat. Die Klanginstallation Kuckucksuhrenorgel des Künstlers Erwin Stache, wird am Donnerstag von 10 bis 22 Uhr zwei Mal pro Stunde an St. Nicolai (Lindemannstraße) zu hören sein. Südkoreanische Künstler stellen ein Projekt vor, das das Thema Frieden in den Fokus rückt. Darüber hinaus öffnen Museen ihre Türen. Im Dortmunder U ist eine interaktive Ausstellung zur Skate-Kultur zu sehen.

Mit drei Gottesdiensten (am Ostentor, auf dem Hansa- und dem Friedensplatz) wird der Kirchentag am 19. Juni eröffnet, gefolgt vom Willkommensfest, das die Stadt und die Evangelische Landeskirche von Westfalen ausrichten. Der Abschluss erfolgt im Westfalenpark und im Westfalenstadion („Signal Iduna-Park“).

Infos unter https://www.kirchentag.de/




Investigativ-Reporter Hans Leyendecker: „Wir hatten noch nie einen so guten Journalismus“

Als Gast beim Presseverein Ruhr in Dortmund: der prominente Journalist und aktuelle Kirchentagspräsident Hans Leyendecker. (Foto: Pal Delia)

Als Gast beim Presseverein Ruhr in Dortmund: der prominente Journalist und aktuelle Kirchentagspräsident Hans Leyendecker. (Foto: Pal Delia)

Dortmund. Es war quasi ein Heimspiel für Hans Leyendecker, als er bei der Jahreshauptversammlung des Pressevereins Ruhr zu Gast war. Denn der langjährige Redakteur der Süddeutschen Zeitung ist nicht nur seit Kindheitstagen bekennender BVB-Fan (mit Dauerkarte), er hat jetzt auch das Amt des Präsidenten des Deutschen Evangelischen Kirchentags inne, der vom 19. bis 23. Juni in Dortmund stattfindet.

Die ersten Begegnungen mit der Westfalenmetropole liegen aber schon über vier Jahrzehnte zurück, als er Redakteur der Westfälischen Rundschau (WR) war. Damals, so erinnerte er sich, sei es gelungen, den Mitbewerbern auf dem Medienmarkt Paroli zu bieten. Die WR habe seinerzeit publizistische Chancen genutzt und Akzente gesetzt. Lang ist’s her…

„Panama-Papers“ als Sternstunde des Berufslebens

Schon ein wenig nach Demut klang es, als Leyendecker schilderte, dass er 1979 eine Stelle beim Spiegel bekam. 1997 schied er im Streit. Mehrfach nannte Leyendecker den Namen Stefan Aust, lautstark müssen die Auseinandersetzungen gewesen sein. Sein Glück habe er dann bei der Süddeutschen Zeitung gefunden, bekannte der Journalist.

Die Recherchen und Veröffentlichungen zu den Panama-Papers waren für ihn eines der „größten Ereignisse seines Berufslebens, eine Sternstunde“. Dabei schwang auch ein bisschen Stolz mit, schließlich hatte das Investigativ-Ressort der SZ, das er lange Jahre leitete, „die Geschichte ausgegraben“.

Beeindruckend fand es Leyendecker vor allem, dass Journalisten aus 76 Ländern mitgearbeitet haben. Das Projekt gehört zu den Belegen für eine überraschende Einschätzung: „Wir haben noch nie einen so guten Journalismus gehabt“. Den Boom, den gerade der investigative Journalismus erlebe, den wiederum habe insbesondere Donald Trump bewirkt. Journalisten verfolgen, so Leyendecker, sehr genau, was denn der Mann im Weißen Haus jeden Tag treibe und twittere. In der Zeit seit dem Amtsantritt steigen die Auflagen einiger US-amerikanischer Zeitungen (u.a. New Yorker, New York, Washington Post).

Manche Verlage entwickeln sich zu „Bad Banks“

Dass in vielen anderen Zeitungshäusern die Realität durch gegensätzliche Entwicklungen geprägt ist, dürfe man nicht verkennen, meinte Leyendecker. „Die Auflagen sinken ins Bodenlose, das Anzeigengeschäft ist kaputt und das Digitale fängt das alles nicht auf“. Manchmal könne er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich Verlage zu „Bad Banks“ entwickelt hätten.

Wie sehr die Branche in Aufruhr sei, zeige der Fall Neven Du Mont. Der Verlag will Medienberichten zufolge seine Titel („Kölner Stadtanzeiger“, „Express“) zum Verkauf anbieten. Um sich für die Zukunft zu wappnen, sollten Zeitungen Print und Digital verknüpfen, meinte Leyendecker. Das werde „uns Journalisten“ schon gelingen.

Schwarzmalerei hält er – selbst angesichts der gefälschten Reportagen des ehemaligen Spiegel-Redakteurs Claas Relotius – für unangebracht. Bemerkenswert ist aus Leyendeckers Sicht vielmehr, wie es „ein begnadeter Schreiber“ und „Trophäenjäger“ geschafft habe, genau die Geschichten zu erzählen, die das Publikum auch genau so lesen wollte.

Mit Leidenschaft für die Menschenwürde

Leyendecker wünscht sich im Journalismus „mehr Zurückhaltung, weniger Zuspitzung und mehr leise und weniger laute Stimmen“. Und wenn man schon über „Basics“ spricht, dann passt es auch, auf die Bedeutung der Grundwerte und des Grundgesetzes, das die Pressefreiheit garantiert, hinzuweisen. Eindringlich forderte Leyendecker, dass sich Journalisten mit Leidenschaft für die Menschenwürde einsetzen sollten.

Er selbst bezeichnete sich als „gläubigen Menschen“ mit Gottvertrauen. Damit schlug er die Brücke zum Kirchentag, der das Motto trägt „Was für ein Vertrauen“. Vier Bundespräsidenten, der aktuelle und drei frühere Amtsinhaber, sind in Dortmund mit dabei. „Aber kein Obama wie 2017“.




Schweden-Krimi um Mordserie an Bettlern

Stockholm ist in Aufruhr: Eine Mordserie erschüttert die schwedische Hauptstadt. Bei allen Opfern handelt es sich um Bettler, von denen die meisten aus Südosteuropa stammen und auf ein besseres Leben in Skandinavien gehofft hatten.

Wer hinter den Taten steckt, wissen die Leser von Sofie Sarenbrants Thriller „Die Tote und der Polizist“ schon von Anfang an. Der Polizeichef und zwei Komplizen aus der Behörde, alle drei rechtsextrem gesinnt, haben die Morde zu verantworten.

Es schöpft eigentlich niemand Verdacht, dass höchste Polizeikreise die Drahtzieher sein könnten – mit einer Ausnahme. Die Kriminalkommissarin Emma Sköld ermittelt auf eigene Faust und hat bald keine Zweifel mehr, dass ihr Boss zu den Hauptschuldigen gehört. Allerdings ist sie ihm bei den Recherchen so gefährlich nahegekommen, dass besagter Gunnar Olausson nur noch einen Ausweg sieht, um nicht aufzufliegen. Den Mordversuch übersteht die Kollegin allerdings, sie taucht unter, hat sich aber zum Ziel gesetzt, ihrem Peiniger endgültig das Handwerk zu legen.

Die schwedische Autorin entwickelt eine temporeiche und dynamische Geschichte, in der die Gefahr weiterer Übergriffe auf Bettler längst nicht gebannt ist. Der Polizeichef und seine Kumpanen sind derweil darauf bedacht, sich gut zu tarnen. Sie verstehen es, bei ihrem Vorgehen unerkannt zu bleiben, auch wenn beispielsweise Überwachungskameras ganz nah an den Tatorten angebracht sind.

Die einzelnen Charaktere zeichnet Sarenbrant mit sehr klaren Konturen. Die Kommissarin, die vorher schon in zwei Büchern ermittelt hat, erscheint als eine junge, sympathische, mitten im Lebende stehende Persönlichkeit. Der Polizeichef hat zwar mit Beziehungsproblemen zu kämpfen, doch diese Schwierigkeiten sind nicht der Mittelpunkt seines Lebens, diesen Platz hat der Polizeiberuf erobert.

Die Handlung steuert jedenfalls auf ein Finale zu, bei dem sich Perspektiven noch einmal kräftig verschieben. Mehr wird nicht verraten.

Sofie Sarenbrant: „Die Tote und der Polizist“ (übersetzt von Hanna Granz). Aufbau-Verlag, 352 Seiten, 16,99 Euro.




Finstere Festung Europa: Jan Zweyers Krimi „Starkstrom“

Die Zukunftsvision, die Jan Zweyer in seinem Krimi „Starkstrom“ zeichnet, mutet gespenstisch an. In einem großen Teil europäischer Staaten sind Rechtspopulisten an der Macht. Der Kontinent hat sich regelrecht abgeschottet und gleicht einer Festung. Die Grenzanlagen lassen Erinnerungen an die Zeiten des Eisernen Vorhangs aufkommen.

Gleichwohl gelten die zweifachen, meterhohen Elektrozäune als human. Wenn Menschen sie überwinden wollen, müssen sie nicht gleich den Tod fürchten, sondern mit Strom geladene Drähte machen die „Durchbrecher“, wie man Flüchtlinge jetzt nennt, bewusstlos. Anschließend bringt man sie in als Transitzentren bezeichnete Auffanglager, die Abschiebung ist dann nur noch Formsache.

Der erste Tote im Buch kein Migrant, der jenseits der Grenze auf ein besseres Leben hofft, sondern der Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma. Er kommt unter mysteriösen Umständen bei Wartungsarbeiten ums Leben, zudem findet man bei ihm noch einen verkohlten Schweinekadaver. Der Tod des Mannes lässt sich nicht verheimlichen, auch wenn Behörden das vielleicht gerne möchten. Sie müssen stattdessen miterleben, wie das ganze Geschehen hohe Wellen schlägt, denn trotz der rechtsgerichteten Systeme haben die Medien ihre kritische Rolle noch nicht ganz verloren. Zudem beginnen Ermittler damit, die Hintergründe des grausamen Vorfalls genauer zu untersuchen.

Die Machenschaften der Schlepperbanden

Der aus Frankfurt stammende Schriftsteller Jan Zweyer entwickelt einen temporeichen Plot, der seine Dynamik gleich in mehreren Handlungssträngen entfalten kann. Die Sicherheitsfirma, wie könnte es anders sein, steht in enger Verbindung mit der Politik und staatlichen Instanzen. Eine Polizistin und ihr Kollege stoßen bei ihren Recherchen auf allerlei Ungereimtheiten. Und schließlich gibt es da noch eine Journalistin, die den Auftrag für eine große Reportage bekommen hat. Sie soll nicht nur in Westafrika auf Spurensuche nach den Ursachen der Flucht von Abertausenden Menschen gehen, sondern auch den Blick auf die Fluchtwege richten.

Wenn Zweyer den Leser teilhaben lässt an den Nachforschungen der Reporterin, die für ein angesehenes Magazin in Deutschland tätig ist, beschreibt er die wirtschaftliche und soziale Not, mit der der überwiegende Teil der afrikanischen Bevölkerung zu kämpfen hat. Das Buch erscheint aber nicht nur an solchen Stellen aktueller denn je. Der Autor rückt auch die kriminellen Machenschaften von Schlepperbanden in den Blickpunkt, die mit ihren Verlockungen Menschen überhaupt erst dazu bringen, ihre Heimat zu verlassen. Welche Todesgefahren ihnen drohen, merken sie meistens erst, wenn sie schon auf dem Flüchtlingsboot im Mittelmeer befinden.

Indem Zweyer das Schicksal einzelner Menschen herausgreift, die alles aufs Spiel setzen, um nach Europa zu gelangen, gewinnt seinn Krimi eine spezielle Dramaturgie. Wie es sich für einen spannenden Krimi gehört, läuft alles auf ein ungeahntes Finale hinaus.

Jan Zweyer: „Starkstrom“. Krimi. Grafit-Verlag, 282 Seiten, 12 Euro




„Ruhrgebietchen“: 36 Ansichten des Reviers

Laut Wikipedia ist das Ruhrgebiet mit 5,1 Millionen Einwohnern der größte Ballungsraum Deutschlands und der fünftgrößte Europas. Nun kommen gleich 36 Autoren daher, durchmessen mit ihren Beiträgen das Revier oder zumindest Teile von ihm. Ihr gemeinsamer Band, der im Verlag Henselowsky Boschmann erschienen ist, trägt den geradezu verniedlichenden Titel „Ruhrgebietchen“…

Da könnte man natürlich fragen, ob die Verfasser vielleicht doch die falsche Messlatte angelegt haben. Aber ihnen geht es weniger um Zahlen und Statistiken, sie erzählen vom Leben und Alltag der Menschen, von ihren Werten und Charakteren.

Überwiegend Sympathie für die Region

Mit dem Titel kommt wohl eher die Sympathie zum Ausdruck, die ein jeder, der an dem Buch mitgewirkt hat, für die Region empfindet, zumindest irgendwie. Und da man es nun mal mit dem Ruhrgebiet zu tun hat, kann ein solches Wohlwollen kaum davon abhalten, auch die Schattenseiten beim Namen zu nennen.

Denn offen und geradeheraus zu sein, gehörte lange Zeit zu den Merkmalen der Leute im Revier, wie es beispielsweise Einhard Schmidt-Kallert am Beispiel eines Bochumer Studenten herausstellt. Als besagter Erich sich 1968 (vollgesogen mit Rudi Dutschkes revolutionären Ideen) in die nächste Eckkneipe begab, wusste ihn einer der Stammgäste nach wenigen Sätzen zu erden.

In der Fremde vermisst man dann doch etwas

Dass es am und im Revier doch so manches zu bemängeln gibt und gab, daran lassen viele Autoren keinen Zweifel. Beispielsweise schreibt Heinrich Peuckmann über die Umweltschäden, die Kohle und Stahl zur Folge hatten. Die Emscher färbte sich lila, angesichts „des Zeugs“, das da hineingekippt wurde, und die Luft hing voller Rußpartikel. So schildert er Erinnerungen an seine Kindheit, in der solche Begleiterscheinungen aber wie selbstverständlich zum Leben dazugehörten. Wenn er heute schon mal mit seiner Heimat hadern sollte, dann sind es meist Situationen, in denen es allzu grobschlächtig oder prolohaft zugehe, so der Autor. Nimmt er Reißaus, merkt er jedoch andernorts schon sehr schnell, was ihm fehlt: beispielsweise die Treuherzigkeit der Menschen, die Solidarität untereinander oder die Fähigkeit zu Ironie und Selbstironie.

Immer noch Image-Defizite in Sachen Kultur 

Darüber hinaus hebt Peuckmann ein Charakteristikum des Reviers hervor, das, wie auch weitere Verfasser anmerken, in den Köpfen vieler Menschen kaum verhaftet ist: Die Region ist eine ausgeprägte Kulturlandschaft. Welche Vielfalt allein bei den Theatern im Ruhrgebiet besteht, hat Joachim Wittkowski, Gymnasiallehrer in Selm und Lehrbeauftragter am Germanistischen Institut der Uni Bochum, brillant zusammengefasst. Überraschen mag an dem Aufsatz auch, dass viele Bühnen auf eine lange Geschichte zurückblicken. Das über Jahrzehnte vorhandene Bild vom Revier, in dem nur Malocher und Kulturbanausen leben, mag da überhaupt nicht mehr verfangen. Der Autor fordert dazu auf, Imagearbeit zu betreiben, damit die Stärken der Region deutlich werden. Die Chancen, die sich im Jahr 2010 geboten haben, als das Revier Kulturhauptstadt Europas war, seien nicht genutzt worden.

Love Parade, Schimanski und Zaimoglu

Mit der Tragödie der Love Parade, die Teil des Kulturhauptstadt-Programms war, setzt sich Gerd Herholz (ebenso wie Heinrich Peuckmann gelegentlich auch Autor der Revierpassagen) auseinander und bindet sie ein in die Geschichte der Stadt Duisburg und das Bild, das auch ein Kommissar Schimanski zu prägen wusste. Wie lobenswert sei es doch da, meint Herholz, dass der Schriftsteller Feridun Zaimoglu einen Roman in Duisburg spielen lässt und dazu vorher intensiv recherchierte, wie es dort denn eigentlich und wirklich zugeht.

Trinkhallen oder Buden gehören allerorten zum Ruhrgebiet. Margret Martin trägt eine Geschichte bei, die erst so gar ins Bild passen will. Die Hauptfigur, so viel sei verraten, lebt in direkter Nachbarschaft zu einer Bude und mag den Lärm nicht mehr ertragen, doch die Verfasserin bietet dem Leser eine Auflösung des Problems, die schmunzeln lässt.

Ernüchterung für Schalker und Borussen

Wer im Übrigen Schalke-Fan sein sollte und eine Antwort sucht, warum es 2001 nicht geklappt hat und auch sonst die Schale einfach nicht in die Arena will, der wird nach der Lektüre des Buches klüger sein. Herr Luca, so der Name des Autors, hat den Fußballgott befragt – persönlich. Aufmunterung oder Hoffnung für die königsblauen Fans sehen aber anders aus. Im Gegenzug wird sich auch mancher Borusse seine Gedanken machen, wenn er Udo Feists Anmerkungen zur BVB-Familie liest. Ernüchternd fällt seine Bilanz aus, zu sehr regierten Geld und Geschäft, als dass von echtem Glanz gesprochen werden könne.

Man musste schnell und billig bauen

Warum es in manchen Städten des Ruhrgebiets eher trist aussieht und oftmals auch schlichte Bauten das Bild bestimmen, erörtert Gerd Puls in seinem Aufsatz „Hammer und Schlegel, Spaten und Axt“. Arbeitssuchende aus der ganzen Republik landeten in den 50er und 60er Jahren im Revier, denn hier gab es Jobs. Die Leute unterzubringen, war eine Mammutaufgabe, die schnell, einfach und preiswert gelöst werden musste. Von allzu seligen Wirtschaftswunderjahren kann nach den Ausführungen des Autors kaum die Rede sein, gehörten doch Prügeleien und Schlägereien auch und gerade in Familien zum Alltag. Als Ursache vermutet er, dass die Männer die schrecklichen Erlebnisse auf den Schlachtfeldern nicht verarbeitet hatten.

„Urgesteine“ in den Kommunen

Zur Geschichte und Politik der Region liefern unter anderem Werner Boschmann und Thomas Rother wichtige Beiträge, indem sie so genannte „Urgesteine“ des kommunalen Geschehens portraitieren, die meist über Jahrzehnte in einer Stadt das Sagen hatten.

Klischees über das Ruhrgebiet werden Leser in dem Buch vergeblich suchen, und auch Pia Lüddeckes Geschichte über einen Taubenvater (oder Taubenvatta, um im Jargon zu bleiben) nimmt ein eher skurriles Ende.

Zusammenhalt ja, Metropole nein

Einige Autoren erzählen, wie sie, endlich flügge, das Revier verlassen haben und feststellen mussten, dass sie doch mit der neuen Heimat fremdelten und ihrem Herkunftsort verbunden blieben.

Mehr Zusammenhalt der Städte im Ruhrgebiet, das wünscht sich Sigi Domke, aber auch nicht zu viel: Städtehaufen ja, Metropole nein, eben doch ein Ruhrgebietchen.

„Ruhrgebietchen – was deine Kinder an dir lieben und was nicht“. Verlag Henselowsky Boschmann, 224 Seiten, 9,90 Euro.




Aufbruch zu einer Landpartie führt in die Schrecken des Ersten Weltkrieges – Jean Cocteaus Roman „Thomas der Schwindler“

Wenn eine Reisegruppe Kekse, Orangen und Likör einpackt, dann wird es sich wohl um Proviant für eine Landpartie handeln, möchte man meinen. Doch die edel gekleideten Frauen und Männer, die da im Paris des Jahres 1914 die Kisten entsprechend gefüllt haben und sich auf den Weg machen, verfolgen ganz andere Absichten.

Ihr Ziel ist die Stadt Reims oder anders gesagt: die französische Front. Sie wollen den verwundeten Soldaten helfen und (wenn möglich) die Kämpfe aus nächster Nähe verfolgen. In den Lazaretten angekommen, treffen sie aber auf eine Welt, mit der sie nun überhaupt nicht gerechnet haben und die ihr Vorstellungsvermögen übersteigt. Verstörende Szenen wie diese prägen den Roman „Thomas der Schwindler“, den der Regisseur, Maler und Schriftsteller Jean Cocteau (1889-1963) im Jahr 1923 verfasst hat.

Der Manesse-Verlag hat das Werk in einer ansprechenden Edition als Neuübersetzung herausgegeben und bietet mit einem Nachwort von Iris Radisch, einem Anmerkungsapparat und einer editorischen Notiz einige Verständnishilfen. Das Buch weist eine ganze Reihe biographischer Züge des Autors auf. Für Iris Radisch war Cocteau ein Dichter, der in der Zeit des noch jungen 20. Jahrhunderts dem „Typ des Künstler-Dandy zu neuem Glanz“ verholfen habe.

Cocteaus Roman beruht auf realen Begebenheiten. Historisch belegt sind seine Besuche zusammen mit weiteren Mitgliedern der feinen Gesellschaft an der Front. Er verarbeitet seine eigenen Erlebnisse mit dem Krieg, wobei er selbst überhaupt kein Soldat war, sondern für untauglich befunden wurde. Er hatte sich freiwillig zum Dienst gemeldet.

Und so erzählt Cocteau von einem jungen Mann, der schon bei der Angabe seines Alters und seiner Herkunft schwindelt, um besser dazustehen. Als Neffe eines bekannten Generals gibt er sich aus. Denn nur so, davon ist er überzeugt, wird es ihm gelingen, zur Front und zu den Verletzten durchzukommen.

Aber spätestens, als der junge Thomas die Schützengräben besuchen darf, werden ihm die Schrecken des Krieges überdeutlich vor Augen geführt. Dem jungen Mann erscheint es ähnlich zu ergehen wie seinem literarischen Vater, der zu Beginn des Krieges zunächst einen Waffengang ungleich spannender fand als Langeweile und Tristesse des Alltags. Daran konnten auch die Aussichten auf amouröse Abenteuer und Liebeleien, die der Kontakt zu adeligen Frauen versprach, nicht wirklich etwas ändern.

Jean Cocteau, der unter anderem mit Pablo Picasso, Charlie Chaplin, Edith Piaf und Marcel Proust befreundet war, führt mit dem Buch keine laute Klage gegen den Krieg, allein die Beschreibungen der Realität reichen aus, um die Unmenschlichkeit und die Brutalität zum Ausdruck zu bringen. Denn was Krieg eigentlich bedeutet, das wusste die kleine Reisegruppe wahrlich nicht, als sie meinte, mit einigen Lebensmitteln die Not lindern zu können.

Jean Cocteau: „Thomas der Schwindler“. Roman. Aus dem Französischen neu übersetzt von Claudia Kalscheuer. Manesse Verlag, 192 Seiten, 20 Euro.




Aufruhr in der Provinz: Das Jahr 1968 in Westfalen

„1968 in Westfalen“: Der Buchtitel lässt aufhorchen, stehen doch Sauer- und Münsterländer ebenso wie Bewohner von Bergmannssiedlungen im Revier nicht gerade in dem Ruf, Rebellionen anzuzetteln. Folglich müsste es doch eigentlich vor 50 Jahren ganz ruhig geblieben sein, als in Frankfurt, Hamburg, München und Berlin Studenten in Scharen mit der Parole „Unter den Talaren Muff aus 1000 Jahren“ auf die Straße gingen.

Der Historiker Thomas Großbölting von der Uni Münster betreibt in dem Band nun eine Spurensuche. Er will rekonstruieren, was das Jahr 68 im Westfalenland nun wirklich ausgemacht hat. Herausgekommen ist dabei weit mehr als eine simple Chronik von Ereignissen, sondern die prägnante und zugleich einordnende Darstellung eines Umbruchjahres mit seinen Folgewirkungen für die Provinz. Großbölting ist übrigens der Ansicht, dass Dortmund oder Münster seinerzeit eher Mittel- als Großstädte gewesen seien.

Vom kurzen und vom langen ’68

Auch in Westfalen riefen die Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg und des charismatischen Bürgerrechtlers Martin Luther King, das Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke sowie die Massaker der US-amerikanischen Soldaten in Vietnam massive Reaktionen hervor. Die Menschen versammelten sich in großer Zahl zu Gedenk- oder auch Gebetsstunden, auch kam es zu offenen Protesten gegen Rassismus, Diskriminierung und das militärische Vorgehen der USA in Indochina.

Nachdem Großbölting gleich zu Beginn seines Buches erklärt hat, 1968 könne nicht rein als Jahreszahl verstanden werden, sondern sei vielmehr Chiffre für Widerstand, Proteste und Revolte, geht er auf die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge und Entwicklungen jener Zeit ein. Dabei kommt er zu einer aufschlussreichen Unterscheidung. Der Wissenschaftler spricht von dem „kurzen“ und dem „langen“ 1968.

Er meint damit einerseits die eher ereignisorientierte Ebene. Die beginnt für ihn bereits am 2. Juni 1967 mit dem Tod von Benno Ohnesorg, den während der Demonstration gegen den Besuch des persischen Schahs der Polizist Karl-Heinz Kurras erschoss. Diese Phase endet mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze Ende Mai 1968 im Bundestag – gegen alle Widerstände in der Bevölkerung.

Nachhaltige Veränderung der Gesellschaft

Andererseits – und das ist dann die Langversion – hat 1968 zu nachhaltigen gesellschaftlichen Veränderungen geführt. Nach Darstellung des Historikers sind „ökologisches Bewusstsein, Gleichstellung von Mann und Frau, die Akzeptanz verschiedener Formen von Sexualität, Friedensorientierung, Emanzipation und Partizipation“ heute nicht nur Teil des Mainstreams, sondern man definiere damit auch die „Loyalität zum System“.

An diesen Umwälzungen und speziell an dem „kurzen“ 1968 haben traditionelle Unistädte wie Münster mit den Studierenden ihren Anteil, aber ebenso die dazu im Vergleich noch sehr jungen Hochschulen in Ruhrgebiet. Dass es überhaupt zur Gründung der Unis in Dortmund, Bochum oder Bielefeld kam, steht im engen Zusammenhang mit dem Bildungsnotstand, der nicht nur in Deutschland, sondern in der damaligen westlichen Welt in Folge des Sputnik-Schocks ausgemacht wurde. Sputnik hieß der erste Satellit, den die Sowjetunion ins Weltall geschickt und damit im Westen Bedrohungsängste ausgelöst hatte. Mit der Forcierung von Bildung wollten nun die Industriestaaten im Wettlauf mit den Russen deutlich punkten.

Bildungsnotstand als Keim der Kritik

Bildungsnotstand und Kritik am Bildungssystem sollten allerdings auch zum Thema der Studierenden werden. Ihr Aufbegehren in Westfalen entsprang aber vor allem universitären Anlässen, wie beispielsweise in Bochum als Protest gegen eine geplante Univerfassung. Oftmals ging es allerdings auch um politischen Ereignissen, unter anderem bei der wohl größten Aktion in Münster mit über 2000 Beteiligten, die den damaligen Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger bei einem Besuch der Stadt mit Sprechchören ob dessen Nazi-Vergangenheit empfingen.

Nun ist das Buch aber nicht nur lesenswert, weil es aufzeigt, dass auch Studierende in Westfalen es verstanden, auf die Straße zu gehen, sondern es beschreibt auch das gesamte Ausmaß von Aufruhr in Westfalen und darüber hinaus. Wenn man so will, blieb kaum eine gesellschaftliche Gruppe verschont, auch die Kirchen nicht. Beim Katholikentag in Essen gab‘s Debatten am laufenden Band und eine bis dahin kaum gekannte Heftigkeit der Kritik an den Kirchenoberen. Schüler und Lehrlinge machten Front gegen zu hohe Busfahrpreise, Jugendliche forderten mehr Jugendzentren. In Bochum oder auch in Münster machten Aktivistinnen von sich reden, die die traditionelle Rolle von Mann und Frau in Frage stellten und damit die Emanzipationsbewegungen nach vorne brachten.

Als Rudi Dutschke mit Johannes Rau diskutierte

Dass es in diesen stürmischen Zeiten auch Momente gab, die von Sachlichkeit geprägt waren, macht der Autor am Beispiel einer Debatte in der Wattenscheider Stadthalle deutlich. Im Februar 1968 diskutierte dort der damalige Fraktionschef der NRW-SPD (und spätere Bundespräsident) Johannes Rau mit Rudi Dutschke, der sich nach Meinung von Beobachtern nicht als radikaler Studentenführer präsentierte, sondern eher als „parteipolitischer Konkurrent der SPD“.

Wer nun wissen möchte, wo denn eigentlich der Protest seinen Ausgang nahm, den nimmt Großbölting mit auf einen Besuch in den USA Mitte der 60er Jahre, als Studierende sich für Redefreiheit auf dem Campus einsetzten, Woodstock zur Legende wurde, Schwule und Lesben, Native Americans sowie Vietnamkriegsgegner Demonstrationen organisierten. Apropos USA: Großbölting nutzt die letzten Zeilen des Buches, um eindringlich darauf hinzuweisen, dass die heutige Liberalität, die zweifellos 68 zuzuschreiben ist, keineswegs eine Selbstverständlichkeit darstellt.

Thomas Großbölting: „1968 in Westfalen. Akteure, Formen und Nachwirkungen einer Protestbewegung“. Ardey Verlag, Münster. 172 Seiten, 13,90 €.




„Gefährliches Spiel“ – Heinrich Peuckmanns wahre Geschichten über Fußball mit schrecklichen Folgen

Ein Fußballspiel auf dem Roten Platz in Moskau? Es klingt wie eine skurrile PR-Idee für die bevorstehende WM in Russland. In Wahrheit traten dort wirklich einmal zwei Mannschaften gegeneinander an – mit brutalen Folgen.

Es kämpften damals, 1936, Dynamo Moskau und Spartak Moskau um den Sieg. Diktator Stalin sollte mal ein Fußballspiel zu sehen bekommen, deshalb ein Ort in unmittelbarer Nähe zum Kreml. Dass vier Spieler, die bekannten Brüder Starostin, wegen des Erfolgs von Spartak Jahre später in einen Gulag deportiert wurden, hat Stalins Geheimdienstchef Berija entschieden. Der war ein entschiedener Gegner der Siegerelf.

An diese Begegnung erinnert Heinrich Peuckmann in seinem Buch „Gefährliches Spiel“, das unter dem Gattungsbegriff Novelle erschienen ist.

Wie fatal das Zusammenspiel von Fußball und Politik sein kann, zeigt der in Kamen lebende Schriftsteller auch in der zweiten Novelle. Peuckmann beschreibt eine fiktive Begegnung des einstigen HSV-Stürmers und Kapitäns der deutschen Fußballnationalmannschaft in den 20er Jahren, Tull Harder, mit seinem ehemaligen Mannschaftskollegen Björn Halvorsen.

Täter und Opfer aus den Reihen des Hamburger SV

Es ist ein Treffen von Täter und Opfer, ließ sich doch Harder von der SS anheuern, wurde Kommandant in mehreren Konzentrationslagern und war damit auch für das KZ Neuengamme zuständig, in das die Nazis Halvorsen deportiert hatten. Der Norweger, der mit dem HSV mehrere Titel holte, war mit der Machtergreifung der Nazis in seine Heimat zurückgekehrt und hatte sich nach der Besetzung Norwegens durch NS-Deutschland dem Widerstand angeschlossen.

Der Autor zeichnet in Rückblenden nach, wie der beliebte Stürmer („Wenn er spielt, der Harder Tull, steht es bald drei zu Null“) sich von der SS ködern ließ, die ihn zum Helden stilisierte, als seine Karriere schon Geschichte war. Gern sang man auch gemeinsam deutschnationale Lieder, die ganz nach dem Geschmack des Spielers waren.

Auch wenn die Darstellung in dem Buch den Eindruck erweckt, als habe sich Harder eher überwältigt als freiwillig den Nazi-Schergen angeschlossen, wird er zu deren willfährigem Lakai. Halvorsen wiederum kam in Haft, zunächst in ein KZ in Norwegen. Nach der Deportation in ein deutsches Konzentrationslager erkrankte er an Typhus und litt auch nach Ende des Krieges bis zu seinem frühen Tod 1955 unter den Spätfolgen von Krankheit und Unterernährung.

Tull Harder wollte von seiner SS-Zeit nicht mehr hören

Das Aufeinandertreffen der einstigen Mannschaftskameraden vor der Kulisse des WM-Qualifikationsspieles Deutschland-Norwegen im Jahr 1953 geht unter die Haut. Die drängende Frage von Halvorsen, ob sein Teamkollege ihn denn nicht gesehen habe, damals im KZ Neuengamme, quittiert Harder mit dem Verweis, nichts mehr hören zu wollen von alledem. Das sei doch alles lange her.

Überhaupt betreibt der frühere HSV-Stürmer – Peuckmann zufolge – eine Geschichtsklitterung, die ihresgleichen sucht und kann sich darin auch bestätigt fühlen. Nachdem er von einem britischen Militärgericht als Kriegsverbrecher zu 15 Jahren Haft verurteilt wird und bereits nach fünf Jahren freikommt, wird ihm überall Lob und Ehre zuteil.

Peuckmann geht in dem Buch noch auf ein Begebenheit viele Jahre nach dem Tod von Harder ein, die auch zeigt, welch schwieriges Erbe der Umgang mit seiner Person darstellt: Als 1974 zur WM der HSV eine Broschüre drucken ließ, in der Harder als Vorbild für die Jugend präsentiert wurde (neben Uwe Seeler und Jupp Posipal, dem Weltmeister von 1954) hat der „halbe Vorstand“ des Vereins noch in letzter Minute vor der Veröffentlichung die Seite über den früheren Erfolgsstürmer herausgerissen.

Karlsruher Stürmer ins Exil getrieben

Im dritten Kapitel schildert Peuckmann das Schicksal von Gottfried Fuchs, der ein für die deutsche Nationalelf einen immer noch gültigen Rekord aufstellte, gelang es ihm doch, 1912 gegen Russland zehn Tore (Endstand: 16:0) zu erzielen. Auch darüber hinaus hatte Fuchs eine sehr ansehnliche Torbilanz. Der Stürmer des Karlsruher FV war jüdischer Abstammung, die er selbst gern mit gewisser Ironie betrachtete. Er sah sich dann aber mit dem Aufstieg der Nazis zur Flucht gezwungen und fand in Kanada eine neue Heimat.

Sepp Herberger, erster Bundestrainer im Nachkriegsdeutschland, wollte 1972 Fuchs zur Einweihung des Münchner Olympiastadions und zum Spiel Deutschland-Sowjetunion auf Kosten des DFB einladen. Doch die Spitze des Verbandes lehnte mit dem Hinweis ab, man würde einen Präzedenzfall schaffen und das sei angesichts der Finanzlage problematisch. Godfrey Fochs, wie er später hieß, erhielt diese Nachricht nicht mehr, er war kurz vorher gestorben. Herberger hatte sich damals übrigens an den DFB-Vize Hermann Neuberger gewandt, der als Verbandschef im Jahr 1978 über den Juntachef von Argentinien, das vor 40 Jahren WM-Gastgeber war, meinte: „Ich halte ihn für eine Taube. So wird er ja auch allgemein, glaube ich, gesehen.“ (Quelle: Süddeutsche Zeitung)

Peuckmanns Geschichten geben mancherlei Anlass, über die Rolle des Fußballs und seiner Akteure nachzudenken – übrigens auch mit Blick auf den aktuellen WM-Gastgeber Russland.

Heinrich Peuckmann: „Gefährliches Spiel. Fußball um Leben und Tod“. Kulturmaschinen-Verlag. 122 Seiten, 10,80 Euro.

Infos zum Verlag: https://kultur-und-politik.de




Eine Welt ohne Internet als skurrile Zukunftsvision – Josefine Rieks‘ Roman „Serverland“

Es ist schon eine kuriose Szenerie, die Josefine Rieks in ihrem Roman „Serverland“ entwirft. Die Autorin nimmt den Leser mit in eine Zukunft ohne Internet, denn das weltweite Netz hat man abgeschaltet.

In einer solchen Zeit besinnt sich der Mensch auf Bewährtes, wie zum Beispiel das gute, alte Telefonbuch, wenn er Kontakt zu seinen Artgenossen sucht. Dieselautos sind wieder unterwegs, der ganze Schnickschnack um selbst fahrende Wagen hat ganz offensichtlich ein Ende gefunden. Dienstpläne und Arbeitsaufträge lädt sich der Beschäftigte auch nicht aus irgendwelchen Apps herunter, sondern schreibt sie mit Hilfe eines Stifts auf ein Blatt Papier.

Genauso handhabt Reiner seinen Berufsalltag. Er ist bei der Deutschen Post beschäftigt und hat ein für diese Welt ganz ungewöhnliches Hobby. Der Mittzwanziger sammelt alte Laptops und ist die Hauptfigur der Geschichte. Als Tüftler gelingt ihm dann das, was er wohl selbst kaum noch für möglich gehalten hätte, nämlich eine Verbindung zu alten Servern und riesigen Datenspeichern herzustellen. Eine Autobatterie (!) macht’s möglich.

Wenn niemand mehr Facebook und YouTube kennt

An seinem Wohnort in Berlin hat er schon Hallen mit reichlich technischem Equipment entdeckt, doch noch viel mehr bietet eine Industriebrache irgendwo an der holländischen Küste. Ein Kollege macht ihn auf das Gelände aufmerksam und der Computer-Freak trifft dort auf eine Gruppe von Jugendlichen, die sich hier ihr Leben eingerichtet haben. Vielleicht liegt es daran, dass gerade „68“ einen Lauf hat, weil die Ereignisse 50 Jahre zurückliegen, aber die Mädchen und Jungen ähneln ein wenig den alternativ Gesonnenen von damals. Für sie tut sich nun eine ganz andere Welt auf. Sie lernen dank Reiner Facebook, YouTube oder all die anderen Kanäle kennen. Kommt die Rede auf Steve Jobs und Bill Gates, dann haben die Jugendlichen die Namen schon irgendwann mal gehört, aber so recht einordnen können sie die Personen kaum.

Fasziniert von verstörenden Videos

Schaut sich die Gruppe alte Videos an, erlebt der Leser manche verstörende Reaktion. Denn Reiner zeigt neben bunten Unterhaltungsstreifen, auf die er bei seiner Internetrecherche stößt, auch Filme aus Konzentrationslagern und findet Aufnahmen von 11. September. Von Empörung oder Entsetzen unter den Zuschauern, die diese Bilder zu Gesicht bekommen, kann aber keine Rede sein. Eine eigenartige Faszination geht indes von einem Strip aus, bei dem sich der Mann schließlich sogar die Haut über den Kopf zieht. Das Video sei ein Beleg, wie stark der Feminismus das Internet geprägt habe, erhalten die Jugendlichen als Erläuterung.

Unterwegs zu einer neuen Vernetzung

Die Autorin belässt es in ihrer Fiktion aber nicht dabei, die Akteure ein paar YouTube-Filmchen betrachten zu lassen. Die Neu-Entdeckung des Internets bringt die jungen Leute nämlich auf den Gedanken, ob man nicht einen neuen oder ähnlichen Versuch von Vernetzung starten könnte. Reiner selbst steht dabei an der Spitze der Bewegung, verschickt Videos an irgendwelche Leute, um sie damit gleichzeitig zu einem Besuch der Serverhallen einzuladen. Eine interessante, analoge Version von YouTube. Mit dem Ausgang dieses Unterfangens scheint Josefine Rieks der virtuellen Welt von heute und vor allem auch ihren Protagonisten den Spiegel vorhalten zu wollen, wirft sie doch die Frage auf, ob man sich bei den Treffen in den Serverhallen eigentlich auch an vereinbarte Regeln hält.

Der gesamte Roman ist locker und an vielen Stellen ganz süffisant geschrieben. Die Vorstellung, dass man bei einem Trödelsammler für kleines Geld Notebooks von heute führenden Herstellern kaufen kann, ist schon aberwitzig. Trotzdem hat das Buch ein paar Schwachstellen. Manche Charaktere bleiben recht unkonkret, und man fragt sich zudem, weshalb es eigentlich kein Internet mehr gibt. Vielleicht bietet die Frage Stoff für einen weiteren Roman.

Josefine Rieks: „Serverland“. Roman. Hanser Verlag. 176 Seiten, 18 Euro.




„Firewall einer freien Gesellschaft“: Wie fördert und bewahrt man künftig hochwertigen Journalismus?

Demokratie braucht qualifizierten Journalismus: Darin sind sich alle Autoren des Bandes „Medien und Journalismus 2030 – Perspektiven für NRW“ einig, und suchen nach Wegen, ihn zukunftssicher zu machen.

Die Medienlandschaft erlebt nun mal, das ist wahrlich keine neue Nachricht, umwälzende Veränderungen. Folgende Kennzahlen dazu: Die Gesamtauflage der Zeitungen in Deutschland hat sich von 2002 bis 2016 um rund ein Drittel reduziert, die Anzahl der Radiosender von 297 auf 415 erhöht und in jeder Minute werden auf YouTube mehr als 400 Stunden Videomaterial hochgeladen.

Soziale Medien sind bisher kein Ersatz

Journalisten, Medienexperten, Verleger und führende Kräfte aus Verlagshäusern betrachten ihn diesem rund 160 Seiten starken Band die aktuellen Gegebenheiten und beschreiben die Herausforderungen, die es in den nächsten Jahren zu bewältigen gilt. Dabei stellt Christian DuMont Schütte beispielsweise heraus, dass die sozialen Medien eine (große) Hoffnung nicht erfüllt haben: Einen professionellen Journalismus haben sie nicht ersetzt. Dabei, das unterstreicht, Klaus Schrotthofer, von 2004 bis 2007 Chefredakteur der Westfälischen Rundschau und heute Geschäftsführer der Mediengruppe „Neue Westfälische“, brauche man guten Journalismus, sei er doch die „Firewall einer freien Gesellschaft“.

In seiner Analyse beschreibt Schrotthofer, dass allerdings Verlagshäuser immer weiter Stellen abbauen und zentralisieren. Um Kosten zu sparen, schlägt er einen alternativen Weg vor: Verlage sollten regional und projektbezogen mehr kooperieren dürfen. Dazu sollten dann auch per Reform des Kartellrechts die Wege geebnet werden. Kritisch merkt Schrotthofer überdies an, dass sich die Tarifbindung von Verlagen „zusehends zum Wettbewerbsnachteil“ entwickele und somit auch die Attraktivität der Medienbranche als Arbeitgeberin insgesamt leide.

Allenthalben der leidige Kostendruck

Kostendruck herrscht aber, wenn auch nicht so eklatant wie bei den Zeitungen, auch im Rundfunk, wobei hier sowohl der private wie auch der öffentlich-rechtliche gemeint ist. WDR-Intendant Tom Buhrow beschreibt die angespannte Lage im eigenen Haus, spricht von 500 Stellen, die man habe streichen müssen, um einem finanziellen Offenbarungseid zuvorzukommen. Perspektivisch betrachtet sieht Buhrow durchaus eine Reihe von Problemen. Die finanzielle Sicherheit für den Sender ist dabei eine ganz entscheidende Frage. Der Intendant überlegt darüber hinaus auch, worin denn dauerhaft die Sender phoenix und tagesschau 24 unterscheidbar sein wollen und welches Publikum eigentlich den Sender One einschalten soll. Insgesamt sieht Buhrow die öffentlich-rechtlichen Sender gut aufgestellt, das attestiert Sascha Fobbe auch dem lokalen Privatfunk in NRW. Um aber dauerhaft wetterfest zu sein, brauche das gesamte System mehr Flexibilität, von denen die einzelnen Sender profitieren sollen.

Zwischen Stiftungen und Crowdfunding

Da an allen Ecken und Enden Geld fehlt, schlagen mehrere Verfasser ganz unterschiedliche Finanzmodelle vor, um Qualitätsjournalismus zu retten oder auch zu ermöglichen. Stiftungen könnten eine solche Lösung sein, Crowdfunding und gemeinnützige Vereine. Doch jeden einzelnen Vorschlag unterziehen Verfasser einer differenzierten Betrachtung. Wer steckt beispielsweise hinter einer bestimmten Stiftung, lautet eine kritische Rückfrage.

Zu Crowdfunding gibt es bereits konkrete Beispiele, aber der Autor und Journalist René Schneider gibt zu bedenken, dass eine solche Schwarmfinanzierung sich nicht für eine dauerhafte, sondern eher für eine projektbezogene Berichterstattung eigne. Die von Klaus Schrotthofer genannten Kooperationen sind zwar auch für die Kölner Kulturredakteurin Anne Burgmer eine große Chance, was sich nach ihren Worten an der Zusammenarbeit von NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung zeigt und hier wieder exemplarisch an den „Panama Papers“. Doch nach Burgmers Ansicht mangelt es an Transparenz, sodass man nicht genau wisse, wie viel Geld nun von welchem Medienhaus stamme.

Wenn der „Prosument“ die Szene betritt

Besonderer Anstrengungen aller Beteiligten bedarf es, die journalistische Ausbildung zu bewerkstelligen und Nachwuchs zu gewinnen. Eine weitere wichtige Aufgabe besteht nach Ansicht mehrerer Autoren darin, dass sowohl Print wie auch Rundfunk die Digitalisierung meistern. Im Internet habe man es inzwischen mit Prosumenten zu tun, also einer Mischung aus Produzent und Konsument, denn der User greife durch eigene Beiträge aktiv in den Journalismus ein, sei aber auch weiterhin Nutzer der Angebote.

Um lokale Informationen zu erhalten, heißt es in dem Band, würden noch immer im großen Umfang die Seiten der Tageszeitungen angeklickt. Blogs hätten noch längst nicht diesen Stellenwert bekommen. Mit der Stiftung „Vor Ort NRW“ der Landesanstalt für Medien sei eine Plattform geschaffen worden, die vor allem das lokale Angebot stärken wolle, heben die Medienfachjournalistin Ulrike Kaiser, zugleich Sprecherin der Initiative „Qualität im Journalismus“, und Simone Jost-Westendorf, Geschäftsführerin der Stiftung, hervor.

Das gesamte Bemühen um professionellen und qualitativ hochwertigen Journalismus sollte aber damit korrespondieren, dass vor allem Jugendliche, aber nicht nur sie, in Medienkompetenz geschult werden, fordern die Medienpolitiker Marc Jan Eumann und Alexander Vogt. Denn schließlich kann man, wie in dem Band dargestellt, in NRW auch einen Sender namens „Russia Today“ empfangen, den man durchaus skeptisch betrachten kann und sollte…

Marc Jan Eumann, Alexander Vogt (Hrsg.): „Medien und Journalismus 2030, Perspektiven für NRW“. Klartext Verlag, Essen. 166 Seiten, 17,95 €.




Mit Nacktbildern auf dem Handy beginnt eine tödliche Geschichte – Jan Mehlums Krimi „Kalte Wahrheit“

Es ist ein sehr aufgewecktes Mädchen, das da eines Tages in der Kanzlei von Rechtsanwalt Svend Foyn steht und eine recht ungewöhnliche Bitte an ihn heranträgt: Er solle doch herausfinden, wer denn eigentlich ihrer Schwester Elvira regelmäßig Nacktbilder auf deren Handy sendet.

Die junge Besucherin hat auch gleich einen Beweis mitgebracht und zeigt dem Juristen auf dem eigenen Smartphone eines dieser Fotos, die die Schwester weitergeleitet hat. Dem Wunsch des Mädchens nachkommen kann der Anwalt aber nicht, sie ist minderjährig und in dem Alter darf sie ihm keinen offiziellen Auftrag erteilen.

War es wirklich Selbstmord?

Als die Familie kurz danach Elvira tot in der Badewanne findet, ist Foyn erschüttert. Alles deutet darauf hin, dass sie sich selbst das Leben genommen hat. Doch an einen Freitod mag der Anwalt Jan Mehlums norwegischem Krimi „Kalte Wahrheit“ nicht glauben.

Der Jurist hegt den Verdacht, dass das Mädchen umgebracht wurde. Während er mit eigenen Erkundungen beginnt, gerät er selbst ins Visier der Kriminalpolizei. Elvira hat ein Tagebuch geführt und ihren Besuch in der Kanzlei erwähnt. Nun hat Svend Foyn zwar schon oft mit der Kripo zusammengearbeitet (der Roman ist der 15. mit ihm in der Hauptrolle), aber natürlich stellen sich die Ermittler die Frage, ob der Anwalt wirklich eine reine Weste hat.

Verdächtiger Freund der Familie

Dessen Interesse richtet sich auf Elviras Familie und die engsten Freunde. Da er gut vernetzt ist, gelingt es ihm sehr schnell, mehr über die Vergangenheit der Angehörigen und deren Bekannten herauszufinden. Vor allem wendet er seine Aufmerksamkeit einem Mann zu, der von Berufs wegen eigentlich über alle Zweifel erhaben sein sollte, arbeitet er doch als Katechet. Doch die dunklen Seiten dieses Freundes der Familie könnten eine Spur ergeben, hat er doch eine Vorliebe für sehr junge Mädchen.

Während Foyn auf eigene Faust seine Nachforschungen weitertreibt und dazu auch gern mal Recht und Gesetz für sich selbst außer Kraft setzt, um in fremde Häuser einzudringen, gewinnt die weitere Entwicklung an Dramatik. Denn plötzlich ist die Schwester des toten Mädchens verschwunden und lediglich eine Karte, die sie aus Dänemark schickt, ist noch ein Lebenszeichen – vorausgesetzt, sie hat die Karte auch selbst geschrieben und verschickt.

Der mehrfach preisgekrönte norwegische Autor knüpft immer wieder neue Handlungsstränge. Den Überblick kann man trotz verwobener Erzähllinien durchaus bewahren. Im Mittelteil weist der Krimi hier und da ein paar Längen auf. Doch die ungeahnten Wendungen gegen Ende sind wieder spannender Lesestoff.

Jan Mehlum: „Kalte Wahrheit“. Kriminalroman. Grafit-Verlag, Dortmund. 382 Seiten, 12 Euro.




Abscheu vor dem Krieg – Heinrich Bölls Front-Tagebücher

Wenn man den Titel liest „Kriegstagebücher von 1943 bis 1945“ und der Autor den Namen Heinrich Böll trägt, dann mag man als Leser ein Werk erwarten, in dem der Literaturnobelpreisträger, der am heutigen 21. Dezember 100 Jahre geworden wäre, den Widersinn und das Grauen des Krieges wortmächtig zur Sprache bringt.

Doch wer den Band, den jetzt sein Sohn René Böll herausgegeben hat, zur Hand nimmt, wird schon nach wenigen Seiten feststellen, dass es sich fast ausnahmslos um kurze Notizen und Bemerkungen handelt, mitunter ist es nur eine Zeile oder ein einziges Wort, das Heinrich Böll an einem Tag niedergeschrieben hat. Gleichwohl erlauben die Eintragungen einen Einblick in das Seelenleben eines Soldaten, der bei Kriegsbeginn 21 Jahre alt war.

Die drei von insgesamt sechs Kriegstagebüchern (die übrigen sind verschollen) hat der gebürtige Kölner dann ab den Zeiten geführt, als er erstmals in den Osten verlegt wurde. Bis dahin hatte ihn der Kriegsdienst über Osnabrück in die Niederlande und nach Frankreich geführt. In der Schreibstube, in Werkstätten und auf dem Kasernengelände war aber die Front weit entfernt. Das sollte sich im Herbst 1943 ändern, als er zunächst auf der Krim, später in Transnistrien und danach in Rumänien eingesetzt wurde.

Schon gleich zu Beginn bringt er in dem Tagebuch seine ihn bedrückenden Gefühle zum Ausdruck, schreibt er beispielsweise von „der absoluten Verlorenheit der Infanterie“. Aus anderen, ganz knappen Eintragungen wird das Elend deutlich, das ihn umgibt: „Blut Dreck, Schweiß und Elend: Das Gejammer der Verwundeten und Sterbenden, der Platz beim Essenholen.“

Wie schwierig und lebensgefährlich es war, überhaupt an Essen zu kommen, weil man auf dem Weg dorthin von einer Granate getroffen werden konnte, lässt sich aus Bölls Bemerkungen ganz deutlich herauslesen. Häufig spricht er von seinem eigenen Leiden, von Nächten, in denen er keinen Schlaf findet, beklagt sich über die Läuse, die ihn immer wieder heimsuchen. Manches erscheint auch wie ein Ausruf, wenn es heißt „diese entsetzlichen Stukas.“ Das Wort Arzt versieht Böll an einer Stelle mit Ausrufe- und Fragezeichen, denn der Schriftsteller wurde mehrfach während des Krieges schwer verletzt.

Ganz häufig taucht auch der Eintrag „Gott“ auf, den er um Hilfe bittet oder dessen Existenz er hervorhebt. Bekanntlich hatte Heinrich Böll ein sehr kritisches Verhältnis zur katholischen Kirche, verstand sich aber durchaus als ein gläubiger Mensch. Noch viel öfter aber schreibt er – in großen Lettern – den Namen seiner Frau Anne-Marie, die er auf einem Heimaturlaub 1942 heiratete. Sie ist, wie es Böll zum Ausdruck bringt, „sein Leben“ und dem kleinen Heft vertraut er auch an, wie sehnsüchtig er sie vermisst.

Die Gedanken an Anne-Marie geben ihm ganz offensichtlich Kraft, die Grausamkeit des Krieges zu ertragen, die Böll aber nicht nur auf der Krim erlebt. Auch später, als er nach Rumänien kommt, hält sein Entsetzen über das brutale Geschehen an, Worte wie „Jammer, Blut, Feuer, Not, Dreck und Elend“ sprechen für sich. Eine Gegenwelt scheinen ihm seine Träume zu bieten, die er ganz offenherzig schildert, vom Auswandern phantasiert oder gemeinsam mit seinem Bruder unterwegs ist und badende Mädchen trifft.

Die Qualen der Realität holen Böll schnell wieder ein, durch seine Verletzungen ist er gesundheitlich schwer angeschlagen. Er kann zwar zwischenzeitlich wieder nach Köln und zu seiner Frau zurückkehren, doch eben nur für wenige Wochen. Als er zu Ende des Krieges in Gefangenschaft gerät, muss er einmal mehr großes Leid ertragen: „Hitze, Elend, Kälte, Hunger“ notiert er in sein Tagebuch, das der einstige Germanistikstudent so lange führt, bis er am 15. September 1945 im Bonner Hofgarten aus der Gefangenschaft entlassen wird.

Sicherlich stellt sich die Frage, ob diese Tagebücher, die Heinrich Böll seiner Familie überlassen hat, neue Erkenntnisse über das Leben und das Werk des bedeutenden Schriftstellers erbringen. Eine eindeutige Antwort zu geben erscheint durchaus schwierig, aber eines lässt sich gewiss festhalten: Schon in jungen Jahren hat Heinrich Böll Abscheu gegenüber dem Krieg zum Ausdruck gebracht und durch seinen Einsatz an der Front wusste er, wovon er sprach.

Heinrich Böll: „Man möchte manchmal weinen wie ein Kind. Die Kriegstagebücher 1943 bis 1945“. Kiepenheuer & Witsch, Köln. 352 Seiten, 22,00 Euro.




Untiefen der Liebe – frank und frei dargeboten in Doris Knechts Roman „Alles über Beziehungen“

Ist dieser Viktor einfach sexsüchtig oder treibt er es nun mal gerne mit einer Vielzahl an Frauen, weil es seinem Naturell entspricht? Der Theatermann jedenfalls nimmt, wenn man so will, was ihm vor die Füße kommt und gelangt schließlich an einen Punkt, an dem er ein bisschen nachdenklich wird.

Auch wenn er den Gang zum Psychologen antritt, darf man sich die Hauptfigur in dem Buch „Alles über Beziehungen“ von Doris Knecht nicht als einen Typ vorstellen, der ständig an sich selbst zweifelt. Es sei denn, man versteht ein Leben, wie er es führt, als einen Ausdruck von der Suche nach dem eigenen Ich.

Zwei Ehen, fünf Kinder, etliche Liebschaften

Nun hat dieser Viktor, der kurz vor Vollendung seines 50. Lebensjahres steht, schon einiges geschafft. Dazu gehört nicht nur, dass er gerade Leiter eines Festivals wurde, dazu zählen auch zwei (gescheiterte) Ehen, eine aktuelle Beziehung mit Lebensgefährtin Magda und fünf Kinder, die aus der einen oder anderen Liaison hervorgegangen sind.

Eine stramme Leistung, mag man denken, wobei dem Nachwuchs in seinem Dasein wohl eher eine Nebenrolle zugedacht ist. Zumindest erfährt man weniger über die Sprösslinge, dafür aber mehr von ihm als Kunstschaffenden, der kaum eine Gelegenheit auslässt, sich mit einer Gespielin zu vergnügen.

Die in Wien lebende Autorin erzählt offen, gern auch frivol von den Frauengeschichten, die teils schon passé sind. Als im wahrsten Sinn umtriebiger Mensch ist die Hauptfigur ohnehin oft unterwegs, hat viele Termine, viele Kontakte. Da bleibt kaum noch Zeit für seine Partnerin Magda, die von all den amourösen Abenteuern Viktors nichts ahnt. Ab und an gönnt er sich allerdings auch Zeit mit ihr, doch Erfüllung scheint er nicht zu finden.

Was ist denn eigentlich Untreue?

Während die Autorin, die mit ihrer Erstveröffentlichung „Gruber geht“ (2011) für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde, frank und frei über das Liebesleben, durchaus auch mal à trois, erzählt, spricht sie ebenso offen über die Fährnisse der Liebe. Sie erhebt dabei keineswegs den moralischen Zeigefinger, sondern schildert, wie sich Menschen gegenüber denen verhalten, die ihnen doch so unheimlich viel bedeuten. Aber ist ein Viktor denn untreu, wenn er doch eigentlich Magda nie verlassen würde? Oder müssten etwa die Frauen, die sich auf ihn freiwillig einlassen, ein schlechtes Gewissen gegenüber ihren Lebensgefährten haben? Sie gönnen sich doch nur mal was…

Es ist ein weites Feld, das Viktor auch mit seinem Psychologen bereden will. Ob das nun wirklich ein Gespräch ist, das die zwei da führen, mag dahingestellt sein. Auf jeden Fall lässt es der Theatermann an Wortschwall nicht fehlen und ist schließlich mit sich im Reinen. Inwieweit die Therapie nun tatsächlich etwas bewirkt oder nicht – er hat es zumindest versucht…

Doris Knecht: „Alles über Beziehungen“. Roman. Rowohlt Verlag, 288 Seiten, 22,95 €




Wege zur Klassik – eigens für Kinder und Jugendliche

Wenn Kinder auf Klassik treffen, begegnen sich in aller Regel fremde Welten. Was sagen der jungen Generation schon Namen wie Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist oder Herder?

Einige ihrer Werke stehen zwar in den Schulen auf dem Stundenplan – meist auch erst, wenn aus den Kindern Jugendliche geworden sind – aber das heißt ja noch lange nicht, dass bei jungen Lesern auch Interesse geweckt wird.

Der Kamener Schriftsteller Heinrich Peuckmann, gelegentlich auch Gastautor der „Revierpassagen“, hat jetzt einen schmalen Band herausgebracht, der einen durchaus auffordernden Titel trägt: „Entdecke die Klassische Literatur“.

Verständliche Kernaussagen

Peuckmann beschreibt einerseits das Leben der namhaften Schriftsteller und bringt andererseits die Inhalte ihrer wichtigsten Werke auf den Punkt. Die Stärke seines Buches liegt darin, dass er die meist komplexen Zusammenhänge auf ihre Kernaussagen konzentriert und dazu noch leicht verständlich schreibt. Da zeigt er bei einem – für manche Oberstufenschüler doch recht sperrigen – Werk wie „Iphigenie auf Tauris“ die eigentliche Essenz dieses Stücks auf, und der Leser ist gleich mittendrin in der Frage, was eigentlich Humanismus bedeutet.

Ebenso anschaulich gerät die Beschreibung von Goethes „Faust“, laut Peuckmann „vielleicht das wichtigste Werk der deutschen Literatur überhaupt“. Auch hier führt er durch ein komplexes Werk, um am Ende die eigentliche Intention und die Urfrage der Menschen, was nämlich wohl die Welt zusammenzuhalten vermag, ganz klar und deutlich herauszustellen.

Biographische Skizzen

Aber keine Sorge: Peuckmann nimmt nun nicht ein klassisches Werk nach dem anderen aus dem Regal, um sie dann alle nach und nach vorzustellen. Er skizziert vielmehr auch die Biographien berühmter Dichter und Denker. Dass der Leser über Schiller und Goethe dabei deutlich mehr erfährt als über Hölderin oder Kleist, ist selbstredend. Goethe hat nun mal einer Epoche seinen Stempel aufgedrückt und führte ein umtriebiges Leben.

Daher ist es schon fast eine Pflicht, auch von Goethes Privatleben, seinen Liebschaften und seinen experimentellen Ausflügen in die Naturwissenschaften zu erzählen. Peuckmann räumt Goethes Italienreise einen hohen Stellenwert ein, zumal es dem Dichter im Süden offensichtlich gelungen ist, die ihn damals plagende innere Schreibblockade aufzubrechen.

Am Ende erinnert Peuckmann daran, dass nicht weit entfernt von Weimar, wo Goethe, Schiller und andere Größen gelebt haben, das KZ Buchenwald liegt. Dort, vor den Toren der Stadt, herrschte während der Nazi-Herrschaft eine kaum vorstellbare Barbarei – und das in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem Ort, der einst als Sammelpunkt für Schriftsteller galt, die das Ideal des Humanismus zum Ausdruck brachten.

Heinrich Peuckmann: „Entdecke die Klassische Literatur“. Autumnus-Verlag, 66 Seiten, 10,90 Euro.




Abwarten statt Arztbesuch: Autorenduo empfiehlt mehr Gelassenheit bei körperlichen Beschwerden

Da möchte der Patient so schnell wie möglich einen Arzt aufsuchen, doch er muss eine Wartezeit von mehreren Wochen in Kauf nehmen. Vorher ist kein Termin mehr frei. Frust macht sich breit, vielleicht auch Angst um die Gesundheit. Doch nach Lektüre des Buches „Fragen Sie weder Arzt noch Apotheker“ kommt man als Leser wohl unweigerlich zu dem Schluss, dass es vielleicht sogar besser ist, auf einen Arztbesuch ganz zu verzichten.

Drei mögliche Szenarien: 1. Die Beschwerden verschwinden schneller als gedacht. Dann wäre der Termin reine Zeitverschwendung. 2. Es erfolgt eine medizinische Behandlung, aber der Gesundheitszustand verbessert sich nicht. 3. Die Therapie, die der Arzt empfiehlt, schadet dem Patienten mehr als sie nützt, denn beispielsweise verträgt sich das verschriebene Medikament nicht mit einer anderen Arznei.

Auf der Basis umfangreicher Recherchen

Wer nun meint, solche Szenarien seien doch eher die Ausnahme als die Regel, den belehren die Medizinjournalisten Dr. med. Ragnhild Schweitzer und Jan Schweitzer eines Besseren, wobei das Autorenduo keineswegs mit erhobenem Zeigefinger daherkommt. Ihr Anliegen besteht schlichtweg darin, die Auswüchse des Gesundheitssystems zu hinterfragen, wobei sie ganz klar hervorheben, dass es „Leiden gibt, die unbedingt in die Hände eines Arztes gehören, der sie mit schulmedizinischen Methoden behandelt“.

Aber beide Ehepartner haben selbst in Krankenhäusern gearbeitet, beide haben umfangreiche Recherchen zu Untersuchungsmethoden, Krankheitsbildern sowie Behandlungserfolgen (und Misserfolgen) betrieben, um für eine „gewisse Gelassenheit und Zurückhaltung“ bei vielerlei Symptomen zu plädieren. Eine große Verantwortung sehen sie auf Seiten der Ärzte, die bei Kniebeschwerden nicht gleich eine Spiegelung veranlassen, bei Rückenbeschwerden auf sofortiges Röntgen verzichten und auch bei einem Leistenbruch nicht zwingend operieren sollten, um nur einige Beispiele zu nennen.

Oft mehr Schaden als Nutzen

Denn: Die Gefahr, dass das Knie beschädigt wird, ist unter Umständen nicht weniger groß als die Röntgenstrahlenbelastung, der der Patient trotz aller heutigen Sicherheiten ausgesetzt ist. Und auch beim Leistenbruch kommt man gegebenenfalls auch um eine OP herum, die dem Körper enorme Strapazen abverlangt. Mehr Vorsicht sollte auch im Umgang mit Antibiotika herrschen, so die Autoren. Bei Erkältungskrankheiten, die durch Viren ausgelöst werden, helfen sie nämlich nicht wirklich.

Nun könnte man meinen, dass akute Beschwerden und ernsthafte Erkrankungen vermeidbar sind, wenn sich der Patient frühzeitig Check-ups und Früherkennungen unterzieht. Aber auch da sind die Aussagen der Autoren ernüchternd: Der Patient kann von den Möglichkeiten Gebrauch machen, er muss es aber nicht, lautet die Quintessenz. Umfangreiche Auswertungen von Statistiken haben gezeigt, dass sich die Sterblichkeitsrate derer, die regelmäßig zur Kontrolle gehen, nicht von der jener Menschen unterscheidet, die auf solche Untersuchungen verzichten. Der einzige Unterschied: Die Check-ups fördern meist bestimmte Auffälligkeiten zu Tage, z.B. erhöhte Cholesterinwerte, die dann auch behandelt werden. Ob aber ein Zusammenhang mit der späteren Todesursache besteht, lässt sich statistisch kaum nachweisen.

Wenn die Untersuchung Probleme erst erzeugt

Ausführlich, detailliert und auch sehr persönlich geschrieben, setzen sich die Autoren mit dem Thema der Früherkennung von Krebs auseinander. Dabei wird ihr Verständnis für den Wunsch der Menschen deutlich, über eine Tod bringende Gefahr in ihrem Körper alles wissen zu wollen. Doch die Zahlen, die in dem Buch beispielsweise zum Mammographie-Screening genannt werden, lassen durchaus Zweifel aufkommen, ob die Reihenuntersuchung zum Aufspüren von Brustkrebs wirklich als Erfolg zu werten ist.

Nicht anders sieht es beim Prostatakrebs aus, der mit der PSA-Wert-Bestimmung frühzeitig erkannt werden soll. Auch hier äußern die Journalisten Bedenken, ob diese Methode wirklich den Männern hilft. Richtig kritisch wird es bei Früherkennungsuntersuchungen allerdings, wenn eine Überdiagnose eintritt. Es wird zwar ein Krebs festgestellt, er hätte aber wohl nie Probleme gemacht, wenn man nicht nach ihm gesucht hätte. Dazu liefern die Verfasser ein besonders krasses Beispiel aus Südkorea: Frauen und Männer haben sich, weil es empfohlen wurde und preislich günstig war, in großen Scharen auf Schilddrüsenkrebs untersuchen lassen.

Erklärungen ohne medizinisches Kauderwelsch

Es kam, wie es kommen musste: Bei vielen Patienten wurde ein Tumor entdeckt, die Schilddrüse wurde ganz oder teilweise entfernt. Doch die Probleme fingen jetzt erst an: Die Menschen mussten nun ständig ihren Hormonhaushalt kontrollieren lassen und bei vielen waren durch die OP die Stimmbänder dauerhaft beschädigt.

Eingehend befassen sich die Journalisten mit den „Individuellen Gesundheitsleistungen“, kurz IGeL, und geben dem Leser Hilfen an die Hand, Nützliches von Überflüssigem zu unterscheiden. Überhaupt ist das Buch an vielen Stellen ein (flott geschriebener) Ratgeber. Die Leserinnen und Leser werden nicht mit medizinischem Kauderwelsch konfrontiert, sondern die Autoren erklären allgemeinverständlich, dass beispielsweise die Funktionsweisen des menschlichen Organismus nicht – wie es manche Ärzte versuchen – mit einem Auto vergleichbar sind. Der Körper reagiert oft anders als man denkt. Übrigens: Zur Ehrenrettung der Ärzte sei gesagt, dass nachweislich ein mit Bedacht geführtes Gespräch schon die Hälfte des Behandlungserfolgs ausmacht.

Dr. med. Ragnhild Schweitzer, Jan Schweitzer: „Fragen Sie weder Arzt noch Apotheker – Warum Abwarten oft die beste Medizin ist“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017, 272 Seiten, 14,99 Euro.




Wesentlich von Anfang an: Alissa Walsers Erzählband „Eindeutiger Versuch einer Verführung“

Wer eine eher kürzere, sehr unterhaltsame Lektüre für die Ferienzeit sucht, die sich zudem locker im Handgepäck verstauen lässt, dem sei Alissa Walsers Band „Eindeutiger Versuch einer Verführung“ empfohlen.

Die Schriftstellerin, die u. a. mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde, erzählt skurrile, verstörende oder abwegige Geschichten aus dem Alltag. Obwohl es über 50 solcher Begebenheiten sind, die den Leser immer wieder an neue Orte führen und mit anderen Menschen zusammenbringen, braucht die Autorin dafür gerade mal 160 Seiten. Ihre besondere Stärke liegt vor allem darin, sehr prägnant zu erzählen und sich – von der ersten Zeile an – auf das Wesentliche zu beschränken.

Sie schreibt über Zufallsbekannschaften, wie man sie in der U-Bahn erleben kann, oder über Kontakte, die ganz gezielt zustande kommen, weil der Millionär eben Millionär ist, wenn auch mit einem leicht schrägen Charakter. Familien- und Paarbeziehungen betrachtet sie mit feiner, aber wohlwollender Ironie, indem sie beispielsweise den Wortwechsel in Unterhaltungen gleichsam seziert.

Da im Leben so mancher Familien ein Hund nicht mehr wegzudenken ist, kommt den Vierbeinern auch mehrmals eine Hauptrolle zu. Die Vorlieben und Marotten von Menschen sind ein weiteres Sujet, mit dem sich die Autorin auseinandersetzt, darunter durchaus recht urige Anwandlungen wie beispielsweise die, Spinnennetze auf keinen Fall zu zerstören.

Manchmal zeichnet Alissa Walser Charaktere, die auf der Schattenseite des Lebens stehen, aber gelernt haben, dieses Schicksal für sich zu akzeptieren. Mit kritischem Blick schaut sie auf die technologische Welt und gibt dem Leser zu verstehen, dass er durchaus selbst entscheiden kann, wie sehr er sich vereinnahmen lassen möchte. Dass man im eigenen Leben aber nicht immer die Richtung bestimmt, sondern auch von Zufällen abhängig ist, gehört ebenfalls zum Themenkreis des Buches.

Bleibt noch zu klären, was es eigentlich mit dem Buchtitel auf sich hat: Den findet der Leser auch als Titel einer der Kurzgeschichten wieder, in der Alissa Walser die Frage nach der passenden und dem Anlass gemäßen Kleidung recht amüsant verpackt.

Alissa Walser: „Eindeutiger Versuch einer Verführung“. Hanser-Verlag, 160 Seiten, 17 Euro.




Warum wird eine allseits beliebte Frau ermordet? – Neuer Bierstadt-Krimi „Grappa und die Venusfalle“

Sie opfert sich jeden Tag neu auf für ihre schwer kranke und pflegebedürftige Tochter, diese Martina Schrott, die in Bierstadt jeder kennt und schätzt. Denn auch in öffentlichen Auftritten macht sie sich stark für Menschen mit Handicap und solche, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen.

Doch eines Tages zieht man die Leiche dieser vielen als Vorbild geltenden Frau aus dem Phoenixsee. Nun könnte man meinen, sie sei durch einen Unfall ums Leben gekommen, doch es stellt sich heraus, dass ihre Lunge kein Seewasser, sondern eindeutig Wasser aus einem ihrer viele Hundesalons enthält. Denn mit eben diesem Unternehmen hat sie ihr Geld verdient und sich ein großes Ansehen in der Stadt erworben. Kunden sind mit Service und Qualität der Arbeit mehr als zufrieden, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kümmern sich rührend um die kleinen und großen Vierbeiner. Wer aber mag nun ein Motiv haben, eine solche Frau umzubringen?

Reporterin Maria Grappa hat auch in dem neuen Krimi von Gabriella Wollenhaupt den richtigen Spürsinn hat. Wie schon üblich, ist sie mit ihren Recherchen sehr häufig den polizeilichen Ermittlungen einen Schritt voraus. Der Krimi-Autorin gelingt es, einen Spannungsbogen aufzubauen, indem sie ihre Hauptfigur das Image der Wohltäterin in Frage stellen lässt. Dabei spielt der Journalistin Kommissar Zufall gern mal in die Hände, aber häufig sind es auch gezielte Vorgehensweisen, durch die die Reporterin der Wahrheit näherkommt.

Als bekannt wird, dass Martina Schrott noch eine weitere Tochter und einen Ehemann hat, die beiden in Amerika leben, erlebt die gesamte Geschichte eine überraschende wie plötzliche Wendung. Eigentlich meinte man nämlich in Bierstadt ihren Mann zu kennen, denn ein Jakobus Hiller war stets an ihrer Seite. Erstaunt ist man als Leser am Ende dann schon, was sich da im Leben der Familie Schrott alles abgespielt hat und in welchen Kreisen die Angehörigen unterwegs waren.

Aufgrund des lockeren Schreibstils und sehr klarer Handlungsstränge macht die Lektüre Freude, zumal man natürlich wissen möchte, warum denn nun das Opfer umgebracht wurde.

Amüsant sind die Passagen, die Gabriella Wollenhaupt dem Alltag in der Zeitungsredaktion widmet, für die Maria Grappa arbeitet. Die Neubesetzung zentraler Posten sorgt für eine gewisse Unruhe unter den Redakteuren, verbale Sticheleien und Geschacher untereinander sind an der Tagesordnung. Die Beteiligten scheinen damit allerdings gerne und gut zu leben.

Gabriella Wollenhaupt: „Grappa und die Venusfalle“. Grafit Verlag, Dortmund. 218 Seiten, 11 Euro.




Vom Alltag einer Arbeiterfamilie zwischen Ruhrgebiet und Sauerland – Martin Beckers Roman „Marschmusik“

Sowohl der Buchtitel „Marschmusik“ als auch das Sujet, nämlich die Geschichte einer Arbeiterfamilie, sind auf den ersten Blick wohl nicht zugkräftig genug, um Leser für einen Roman zu gewinnen.

Marschmusik von Martin Becker

Was hat schon der Alltag von Menschen zu bieten, die erst vom Bergbau und später von anderer Industrie lebten? Eine solche Frage ist zweifellos berechtigt, doch wer einmal mit dem Buch von Martin Becker begonnen hat, der legt es so schnell nicht wieder aus der Hand. Denn der Autor beherrscht die Kunst des Erzählens. Auch wenn er im klassischen Sinn keine Spannungsbögen aufbaut, sorgt er für echten Lesegenuss.

Beckers Hauptdarsteller sind die Mitglieder seiner fünfköpfigen Familie, wobei man in der wichtigsten Nebenrolle noch einen Mann namens Hartmann erwähnen sollte, einen im wahrsten Sinne „Kumpel“ des Vaters. Nachdem die beiden anfangs durch Dick und Dünn gegangen sind, treten aber dann doch die Eigenwilligkeiten Hartmanns immer stärker hervor und schließlich landet er auf der schiefen Bahn.

Doch damit ist das Kapitel dieser Männerfreundschaft noch lange nicht beendet, denn Hartmann findet wieder auf den rechten Weg zurück – zumindest so einigermaßen. Er meldet sich auch wieder bei der Familie des Erzählers. Begeisterung sieht allerdings anders aus.

Ohne nostalgische Verklärung

Dem Verfasser gelingt es nicht nur, ein sehr klares Profil von den Menschen zu zeichnen, die ihn seit der Kindheit umgeben haben, auch die Beschreibungen über die Schufterei in den Tiefen des Bergwerks sind anschaulich, präzise und lebendig. Dabei verfällt Becker keineswegs in Nostalgie und seine Texte sind auch weit davon entfernt, die Bergbau-Ära als die gute alte Zeit zu klassifizieren. Schon die Mühsal der Arbeit spricht dagegen. Dass die Jahre aber durchaus ihre Vorzüge hatten (wirtschaftliche Sicherheit, Zusammenhalt untereinander), schildert Becker ebenfalls.

Ob es nun der Vater schon früh vorhergesehen hat oder die Plackerei ihm doch zu viel war, jedenfalls zieht die Familie nach einigen Jahren in ein Städtchen, das sowohl am Rande des Sauerlands als auch des Ruhrgebiets liegt und einen sicheren Arbeitsplatz zu bieten hat. Hier kauft man sich schließlich auch ein Haus und schlägt Wurzeln, wobei der Erzähler ein vielschichtiges Portrait von seinem Vater vorlegt.

Der Vater ist, wie wohl viele Männer aus der Arbeiterschaft in den 70er und 80er Jahren, zwar ein knorriger und äußerst distanzierter Mensch, der tagein tagaus in einem Metallbetrieb schuftet und keine wirklichen Freunde hat. Doch es lassen sich auch andere Seiten erkennen. Dazu gehört beispielsweise die liebevolle Sorge um die Neugeborenen in der Familie oder ein lockerer Umgang mit dem Sohn, als dieser ins Jugendalter kommt.

Kleinbürgerliche Enge

Der in Plettenberg (Sauerland) aufgewachsene Autor selbst hatte sich derweil schon als Kind in den Kopf gesetzt, ein berühmter Musiker werden zu wollen. Er schließt sich einem Orchester an, das die Art von Musik spielt, die nun im Buchtitel steht. Mit feiner Ironie blickt der Verfasser auf sein eigenes Schaffen zurück und mit ebenso hintersinnigem Humor beschreibt er auch das Leben seiner Eltern und die kleinbürgerliche Enge, die ein Wohnort in dem kleinen Städtchen so mit sich bringt. Ein Einzelfall sei der Ort keineswegs betont der Autor, davon gebe es überall viele.

Martin Becker beobachtet sehr genau, was um ihn herum passiert, damals und heute. Mal schildert er die Fährnisse des Alltags, so wie sich in der Vergangenheit ereignet haben, dann wieder beschreibt er, wie es in heutiger Zeit bei Besuchen im Elternhaus zugeht und blickt dabei zurück in jene längst vergangenen Jahre. Mittlerweile ist der Vater verstorben, die Mutter lebt nun allein. Eines hat sie sich nie abgewöhnt oder auch nicht abgewöhnen wollen. Sie raucht – aus Leidenschaft.

Martin Becker: „Marschmusik“. Roman. Luchterhand, 288 Seiten, 18 Euro.




Haben Print-Medien Zukunft? Jubiläumsschrift des Dortmunder Instituts für Zeitungsforschung wägt Chancen und Risiken

„Die weitere technische Entwicklung zur drahtlos übermittelten Zeitung läßt vermuten, dass im Druckgewerbe in den nächsten Jahrzehnten mit revolutionären Entwicklungen zu rechnen ist.“ Der Satz stammt aus Zeiten, in denen wohl niemand an so etwas wie Internet und dessen Folgen für die Medienwelt dachte. Es war Kurt Koszyk, der bereits 1969 den Weitblick besaß und offensichtlich ahnte, dass den Print-Medien grundlegende Veränderungen bevorstehen.

Nachzulesen sind die Worte des Pressehistorikers nicht nur in seinem fast 50 Jahre alten Wörterbuch zur Publizistik, sondern auch in der kürzlich erschienenen Schrift „90 Jahre Institut für Zeitungsforschung“. Er selbst hat dieses Institut von 1957 bis 1977 geleitet.

Herausgegeben hat den Band die jetzige neue Leiterin Dr. Astrid Blome. Ihr Vorwort lässt durchaus erkennen, dass sie gewiss nicht nur einmal mit der Frage konfrontiert war, ob eine Stadt wie Dortmund ein solches Institut überhaupt benötigt. Das Heft liefert nun eine Reihe von Argumenten, weshalb die Stadt gut beraten ist, die Einrichtung auch weiterhin finanziell abzusichern. Doch das ist nicht alles, was die Veröffentlichung zu bieten hat. Die Autoren zeichnen ebenso die spannende Entstehungsgeschichte des Instituts nach, beschreiben Entwicklung und Besonderheiten und richten den Blick in die Zukunft.

Ein Glücksfall für die Stadt

Dass ausgerechnet Dortmund zur Heimat eines Instituts werden sollte, das für die Pressegeschichte immer noch eine Vorreiterrolle spielt, mag aus heutiger Perspektive überraschen, besaß die Stadt doch in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts weder eine Universität noch hatte sie sich in Wissenschaft und Forschung einen Namen erworben. Es war der damalige Leiter der Stadt- und (Landes)bibliothek, Dr. Erich Schulz, der – wie man heute sagen würde – gut vernetzt war, um Förderer für die Bücherei zu gewinnen, und der zudem die Trends der Zeit im Blick hatte.

Als Erich Schulz von dem angesehenen Lehrer Karl d‘Ester, der zudem in Germanistik promoviert hatte, den Hinweis erhielt, doch Zeitungen aus dem Westfälischen zu kaufen und in den Bestand aufzunehmen, weil sie „ein kommendes Thema sind“, war das die Initialzündung für ein ganz neues Arbeitsgebiet der Bibliothek. Dann nahmen die Dinge ihren Lauf: Immer mehr Fachleute und auch schließlich die Zeitungsverleger wurden auf die Dortmunder Sammlung aufmerksam und es dauerte bis zur Geburtsstunde des Instituts nicht mehr lang.

Verdienste des Rundschau-Verlags

Apropos Verleger: Wie dem Buch zu entnehmen ist, sollten sie nicht die Förderer der Dortmunder Einrichtung bleiben. Heute lebt das Institut im Wesentlichen von der Unterstützung der Stadt. Wenig rühmlich ist nach Recherchen von Koszyk auch die Rolle der deutschen Zeitungsverleger nach Hitlers Machtergreifung. Ihr Interesse habe vornehmlich der Besitzstandswahrung unter dem NS-Regime und weniger der Pressefreiheit gegolten. Mit seiner Position hat der Historiker erheblichen Widerspruch geerntet; wohl zu Unrecht, wie aus den Erläuterungen des Buches zu schließen ist.

Zurück zum Institut: Verdient gemacht hat sich für einen Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg insbesondere ein Verlag, nämlich der der Westfälischen Rundschau. Er sprang finanziell in die Bresche, um die „versprengten Bestände“ wieder unter einem Dach zu vereinen. Das Ringen um Geld und Stellen sollte fortan dem Institut als wichtige Aufgabe bleiben. Und wohl alle Leiter brauchten so etwas wie Erfindergeist, um Fördermittel heranzuschaffen, mit denen sie den Ausbau der Einrichtung vorantrieben, den Bekanntheitsgrad steigerten und vor allem auch Ausstellungen finanzierten.

Reichhaltige Bestände

Während manche anderen Institute nicht überlebten, konnte sich Dortmund behaupten und hat aktuell mit 116.000 Mikrofilmrollen, über 62.000 Zeitungs- und Zeitschriftenbänden, einer Fachbibliothek mit knapp 65.000 Bänden, sowie zahlreichen Plakaten und Karikaturen einen Bestand, der das Institut national und international zu einem „zentralen Spieler im Feld“ werden lässt, wie es im Grußwort heißt, zumal andere Sammlungen wie an der FU Berlin, in Münster oder Bremen entweder aufgelöst wurden oder bald verschwinden werden.

Zum Bestreben des Instituts gehörte es auch von Beginn an, eine wissenschaftliche Expertise vorweisen zu können, was allerdings auch immer vom Stellenplan abhängig ist und war. Alle Leiter, von Schulz über Koszyk, Hans Bohrmann, Gabriele Toepser-Ziegert bis hin zu Astrid Blome, um nur einige Namen zu nennen, haben durch ihr Engagement stets dazu beigetragen, das wissenschaftliche Renommee zu festigen.

Journalistik-Studenten als Nutzer

Zugleich war der Einrichtung aber auch stets daran gelegen, ein größtmögliches Interesse am Pressewesen zu wecken. Denn Zeitungen bieten bekanntlich nicht nur Lesestoff zu den aktuellen Ereignissen ihrer Zeit, sondern sind mit ihren Inseraten, Anzeigenseiten und Beilagen auch immer ein Spiegelbild der jeweiligen Gesellschaft.

Hans Bohrmann, Leiter von 1977 bis 2003, veranschaulicht im Interview, dass es einiger Anstrengungen bedurfte, um neue Benutzer zu werben. Es gelang schließlich, Familienforscher ebenso zu gewinnen wie Studenten unterschiedlichster Fachrichtungen. Dortmunder Journalistik-Studenten waren es nicht per se, denn abgesehen von der räumlichen Entfernung zur Uni, galt ihr Interesse auch nicht nur Printprodukten, sondern allen Medien. Gleichwohl besteht in heutiger Zeit ein großes Bemühen zur Kooperation von Institut und Studiengang.

Beide Einrichtungen setzen sich auch mit einer entscheidenden Frage auseinander: ob Zeitung eigentlich noch Zukunft hat oder ob auch die Einrichtung, die heute in Nähe des Hauptbahnhofes untergebracht ist, bald auf dem Abstellgleis landet.

Strategische Fehler der WAZ-Gruppe

Wie sehr das Zeitungssterben in Dortmund selbst zu spüren ist, darauf kommt Hans Bohrmann zu sprechen. Er wirft der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) bzw. der WAZ-Gruppe strategische Fehler vor, die zum Aus für die gesamte WR- und für die Dortmunder WAZ-Redaktion geführt habe. Und er wartet mit einer erstaunlichen Zahl auf: „Wenn ich höre, dass die ,Ruhr Nachrichten‘ eine Druckauflage von 60.000 haben, dann wäre das für eine 600.000-Einwohner-Stdt zu wenig“.

Astrid Blome sieht trotz alledem für die Tagespresse deshalb eine Chance, weil dieses Medium wie kaum ein anderes Informationen ordnen und strukturieren könne. Zeitungen selbst bleiben ein Forschungsobjekt und bieten angesichts einer über 400-jährigen Geschichte noch umfangreichen Stoff für weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung.

Astrid Blome (Hrsg.): „90 Jahre Institut für Zeitungsforschung – Rückblicke und Ausblick“. Klartext-Verlag, 104 Seiten, 9,95 Euro.




PEN-Vorsitzender Josef Haslinger in Dortmund: Lesung und mahnende Worte zu den Menschenrechten

Josef Haslinger (re.) und sein Schriftsteller-Kollege Heinrich Peuckmann. (Bild: TK)

Josef Haslinger (rechts) und sein Schriftsteller-Kollege Heinrich Peuckmann. (Bild: TK)

Josef Haslinger, prominenter Vorsitzender des PEN-Zentrums Deutschland, las jetzt in der Dortmunder Zeche Zollern (LWL-Industriemuseum) u. a. aus seinem Buch „Jáchymov“ (Fischer Taschenbuch Verlag), in dem er von der Tragödie der tschechoslowakischen Eishockeymannschaft zu Beginn der kommunistischen Herrschaft in dem osteuropäischen Land gegen Ende der 40er und in den 50er Jahren erzählt.

Das Buch ist jedoch keine Dokumentation, sondern es handelt sich um einen Roman, der auf Dokumenten, Fakten und Chroniken beruht. In den Auszügen, die Haslinger vortrug, kam die gesamte Dramatik der damaligen Ereignisse zum Ausdruck.

Protest kann die Lage verschärfen

Im anschließenden Gespräch mit dem Schriftsteller Heinrich Peuckmann (Dortmund/Kamen) ging der Österreicher Haslinger auf das Engagement des PEN-Zentrums für verfolgte und bedrohte Schriftsteller ein. Mit Beispielen aus Mexiko, Kolumbien und Kamerun verdeutliche Haslinger die gesellschaftspolitische Verantwortung der Schriftstellerorganisation. Zudem sprach er auch über die Situation von Deniz Yücel, Türkei-Korrespondenten der Zeitung „Die Welt“, der sich im Gewahrsam der türkischen Polizei befindet. Die momentane Lage sei sehr komplex, erläuterte der Schriftsteller. Man stehe vor der Frage, ob es gut und richtig ist, weiter zu protestieren oder ob sich dadurch die Situation für den in Deutschland geborenen Journalisten noch weiter verschärfe.

Orbán-Berater führt Ungarns PEN

Das PEN-Zentrum sei nicht parteipolitisch gebunden, unterstrich Haslinger, gleichwohl ergreife die Organisation beispielsweise Partei, wenn es um Menschenrechte geht. Unter anderem kritisierte Haslinger, dass Menschen, die Zuflucht in Deutschland suchen, wieder in ihr Heimatland zurückgeführt werden, das als „sicher“ erklärt wird, es aber in Wirklichkeit nicht ist.

Dass in einzelnen Ländern PEN-Organisationen durchaus vom Staat unterwandert werden können, zeigte Haslinger am Beispiel von Ungarn auf. Inzwischen sei ein Berater des Ministerpräsidenten Viktor Orbán dort der Vorsitzende.

Neuer Erzählband „Schichtwechsel“

Zum Abschluss las Josef Haslinger einen Auszug aus seinem Beitrag zum neuen Erzählband „Schichtwechsel“, den Heinrich Peuckmann und Gerd Puls herausgegeben haben. Insgesamt haben an dem Band, der Geschichten aus und über das Arbeitsleben beinhaltet, elf Autoren mitgewirkt. Erschienen ist das Buch im Oberhausener assoverlag.

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Vom 27. bis 30. April hat das PEN-Zentrum Deutschland seine Jahrestagung in Dortmund. Dazu werden rund 200 Schriftsteller erwartet. Das Motto der Tagung stammt vom gebürtigen Dortmunder Autor Peter Rühmkorf und lautet: „Bleib erschütterbar und widersteh“.




Wenn Bin Laden noch leben würde – Leon de Winters Roman „Geronimo“

Dieser Roman könnte Stoff für Verschwörungstheorien liefern: Demnach ist Osama bin Laden nicht am 2. Mai 2011 von Eliteeinheiten der CIA in seinem Unterschlupf im pakistanischen Abbottabad umgebracht worden, sondern bei dieser Geheimdienstoperation ist ein Doppelgänger gestorben.

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In Leon de Winters Roman „Geronimo“ (Codename für die Ergreifung von Bin Laden) lebt der Chef der Terrororganisation Al Kaida weiter, allerdings an einem von Militärs streng abgeschirmten Ort. Die USA und ihre Verbündeten möchten doch noch mehr über den Mann selbst, islamistische Gruppierungen sowie ihre Hintermänner in Erfahrung bringen. Es geht auch um einen geheimnisvollen USB-Stick. Der wiederum soll Informationen enthalten, dass der (scheidende) Präsident Obama in Wirklichkeit Muslim ist und nicht dem Christentum angehört.

Mal abgesehen von der Frage, wie geschickt es sich anlässt, gerade die religiöse Identität Obamas, die Rechtspopulisten immer wieder gern als Zielscheibe nutzen, in den Handlungsverlauf einzubeziehen, wirkt diese Episode auch sehr aufgesetzt und fügt den ohnehin schon zahlreichen und teils auch verwirrenden Handlungssträngen noch einen weiteren hinzu. Zudem lässt Leon de Winter auch vollkommen offen (wenn er denn schon bin Laden überleben lässt), wie es denn dann mit dem einst meistgesuchten Mann der Welt weitergegangen ist.

Der Autor bevorzugt es stattdessen, eine Geschichte zu erzählen, die den Terroristenchef als Menschenfreund erscheinen lässt. Durch Zufall trifft Osama eines Nachts, als er sein Versteckt verlässt und im Schutz der Dunkelheit Eis für seine Geliebten besorgen will, ein Mädchen namens Adana. Ihr haben Taliban (!) Ohren und Hände abgehackt, weil sie westliche Musik gehört hat, genauer gesagt Glenn Goulds Goldberg-Variationen. Die Kompositionen hat die aus Afghanistan stammende Jugendliche kennen und lieben gelernt, nachdem sie der US-Soldat Tom Johnson bei sich aufgenommen hatte. Ihre Eltern waren bei einem Angriff der islamistischen Milizen getötet worden. In die Hände der Terroristen gerät sie, weil die Taliban den US-Stützpunkt von Tom überfallen und sie mitnehmen. Adana schafft es aber, sich zu befreien und gelangt – wie es der Zufall will – nach Abbottabad. Die erste Begegnung mit Osama ist sehr spannungsgeladen, fragt er sich doch, ob er das Mädchen, das ihn trotz Verkleidung zweifellos erkannt hat, töten soll um seiner Sicherheit willen. Aber sie kann seine Sympathie gewinnen und er versteckt sie schließlich in einer Garage, versorgt sie mit Lebensmitteln.

Nachdem nun Bin Laden den Amerikanern ins Netz gegangen ist, beginnt für die junge Afghanin ein neuer und nicht weniger komplizierter Lebensabschnitt, mit dem der Autor die komplexen politischen und religiösen Gegebenheiten im mittleren Asien in den Blickpunkt rückt und zugleich auch auf internationale Verflechtungen eingeht.

Eine christliche Familie würde zwar gern Adana aufnehmen, fürchtet sich aber vor den Reaktionen einer überwiegend muslimischen Gesellschaft. Toms Bemühen, Adana außer Landes zu bringen, ist mit unüberwindbar scheinenden bürokratischen Hürden verbunden. Als er schließlich erfährt, dass sie nochmal Opfer eines Attentates geworden sein könnte, geraten alle Versuche, sein eigenes Lebensschicksal aufzuarbeiten, ins Wanken. Tom hat in Folge des Attentats von Madrid 2004 seine Tochter verloren. Und ihn plagen gegenüber Adana große Schuldgefühle, da er sie nicht ausreichend vor den Taliban hat schützen können.

Leon de Winters Buch lebt von Dynamik und Dramatik. Manchmal scheinen auch die Grenzen von Realität und Fiktion zu verschwimmen. Der Leser steht vor der Herausforderung, die Orientierung nicht zu verlieren.

Leon de Winter: „Geronimo“. Roman. Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. Diogenes Verlag, Zürich. 442 Seiten, 24 Euro.




Ein Finanzjongleur auf der Flucht – Martin Mosebachs eleganter Roman „Mogador“

978-3-498-04290-5Er ist offensichtlich ganz tief in schmutzige Finanzgeschäfte verstrickt und wurde gerade von der Polizei verhört. Da entscheidet sich der Düsseldorfer Banker Patrick Elff von einem Moment auf den anderen zu einer durchaus filmreifen Flucht.

Der junge Mann, einer der Hauptfiguren in Martin Mosebachs neuem Roman „Mogador“, springt direkt nach seinem Termin auf dem Polizeipräsidium aus dem Fenster, macht sich auf dem Weg zum Flughafen und steigt in einen Flieger mit dem Ziel Marokko. In Mogador (portugiesischer Name der Hafenstadt Essaouira) hofft er, vor den Fahndern in Sicherheit zu sein.

Dass sich der Finanzjongleur ausgerechnet nach Marokko begibt, hat mit seinen weit verzweigten Kontakten zu tun, die angesichts solch heikler Situationen schon mal ganz hilfreich sein können. Die Ungewissheit soll ihn aber noch länger begleiten.

In der Geschichte, die der Autor nun entwickelt, spielen die schmutzigen Bankgeschäfte eher eine Nebenrolle. Spannender sind die Verhältnisse, in denen der getürmte Spitzenbanker nun Unterschlupf findet. Auch seine „Gastgeberin“ Khadija bessert unter anderem mit Geldverleih ihr Einkommen auf und nimmt es bei ihren Geschäften nicht immer ganz so genau. Doch sie allein auf das Finanzgebaren zu reduzieren, würde der Figur nicht gerecht.

Mosebach zeichnet das Bild einer Frau, die lange Jahre ein biederes Leben geführt hat, bis ihr schwere Schicksalsschläge widerfuhren. Zwei Ehemänner starben bei Unfällen, ihr Sohn ist geistig behindert. Doch von wirklichen Zweifeln an sich oder an ihrem Dasein scheint sie nicht geplagt zu sein. Ganz allmählich lässt sie ihr altes Leben hinter sich und ist vor allem darauf bedacht, die Kontrolle über sich und ihre Umgebung, Freunde, Bekannte, Geschäftspartner eingeschlossen, nicht zu verlieren.

Es ist beeindruckend, wie es dem Autor gelingt, den allmählichen Wandel dieser Khadija anschaulich und nachvollziehbar zu beschreiben. Ist sie anfangs noch ein Mensch, dem das Leben zu entgleiten droht, hat sie bald alles im Griff. Sie verdient zunächst ihr Geld als Hure, wird später zur Kupplerin und kümmert sich schließlich sogar um einen sehr eigentümlichen Imam, dem magische Kräfte nachgesagt werden. Sie ist von Eigeninteressen geleitet, denn sie gibt die Hoffnung nicht auf, dass ihr Sohn – durch welche Methoden auch immer – geheilt werden könnte.

Patrick Elff tritt in ihr Leben, weil sie ihm eine Wohnung zur Verfügung stellen kann. Dort hofft er, vor seinen Häschern in Sicherheit zu sein. Doch Mosebach charakterisiert den Banker keineswegs als einen Mann, der ständig in Angst lebt oder mit dem Leben hadert. Vielmehr malt sich der Geflüchtete aus, wie Kollegen in der Bank und vor allem seine Lebensgefährtin Pinar wohl versuchen, ihn irgendwie zu erreichen. Dass man in Sorge um ihn sein könnte, scheint Patrick Elff eher unbedeutend zu sein. Dieser Finanzmensch ist wohl jemand, der – ähnlich wie Khadija – sehr rational den Fährnissen des Lebens begegnet. Doch manche seiner Gedanken an Pinar legen aber die Vermutung nahe, dass es ihm nicht immer gelingt, Herr über seine Emotionen zu sein.

Das Ende der Geschichte ist schließlich sehr überraschend und lässt auch durchaus manche Fragen offen. Lesenswert ist das Buch insbesondere auch deshalb, weil hier spannende Biografien auf sehr ungewöhnliche Art miteinander verwoben werden. Mosebachs Sprache kommt dabei äußerst elegant daher, wirkt allerdings stellenweise auch schon mal antiquiert oder verschnörkelt.

Und übrigens: Dass in diesen Zeiten eine Flucht von Deutschland nach Afrika führt, das hat schon eine besondere Note.

Martin Mosebach: „Mogador“. Roman. Rowohlt Verlag, 367 Seiten, 22,95 Euro.




Wie Borussia Dortmund bei der Integration helfen kann – Migranten aus aller Welt erzählen

Reshat Toshi stammt aus dem Kosovo, floh 1997 nach Deutschland und fand damals dank eines BVB-Fanclub-Vorsitzenden eine langersehnte Wohnung. Daraus entwickelte sich – wie könnte es anders sein – Begeisterung für die Borussia, die bis heute Bestand hat. Das ist eine von vielen Geschichten, die man in dem Buch „Schwarzgelbe Freunde überall auf der Welt“ nachlesen kann.

Zahlreiche Migranten und Flüchtlinge erzählen in dem 160 Seiten starken Band ihre Geschichte, in der der BVB oder einer seiner Fanclubs maßgeblich zur Integration beigetragen haben.

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Das Buch erscheine passend zu einer Zeit, in der Migration und Integration beherrschende Themen seien, sagte BVB-Präsident Dr. Reinhard Rauball, als ihn Moderator Levent Aktoprak bei der der Präsentation im Borusseum nach dem Stellenwert des Buches fragte. Man wolle ein deutliches Zeichen setzen, dass sich Fußball und speziell der BVB als eine große Familie verstehen und dies über alle Religionen, Hautfarben, Sprachen und Kulturen hinweg. Apropos: Moderator Aktoprak, in Ankara geboren, hat an der Publikation auch selbst mitgewirkt und erzählt, wie er als Journalist sich mehr und mehr für den BVB begeisterte, bis er später Vorsitzender eines kulturell und sozial engagierten Fanclubs wurde.

In einer anderen Geschichte berichtet der gebürtige Tunesier Faouzi Bibani, wie er bereits in Afrika sein Herz für den BVB entdeckte hat. Vor inzwischen 23 Jahren kam er in die Bundesrepublik und lernte schnell über einen Fanclub in Werl viele Menschen kennen. Dank dieser großen Zahl an Kontakten habe er sich in Deutschland schnell sehr wohl gefühlt. Die Unterstützung, auf die er bauen konnte, gibt der 43-Jährige heute gerne weiter und hilft Flüchtlingen beim Ausfüllen von Formularen oder erklärt ihnen, was sie über Deutschland wissen sollten.

Mit dem Taxiunternehmer Mustafa Güner kommt ein Mann zu Wort, der sich durch einen besonderen Ortswechsel der Schar der BVB-Fans anschloss. Er zog Ende der 70er Jahre zum Borsigplatz, wodurch sich dann „der Bezug zum BVB entwickelte“. Sein soziales Engagement in heutiger Zeit, das vor allem auch den Kindern gilt, steht in enger Verbindung mit Menschen, die er dank der Borussia kennen gelernt hat.

Viele Nationen, viele Kulturen prägen aber nicht nur das Bild rund um den Borsigplatz, gern auch als Wiege des BVB bezeichnet. Lars Ricken, der von 2003 bis 2007 für den BVB insgesamt 301 Bundesligaspiele absolvierte (mit 41 Toren), schreibt ganz locker und selbstverständlich: „Schon zu meiner aktiven Zeit waren wir eine Multi-Kulti-Truppe“. Es sei vollkommen egal gewesen, ob Europäer, Amerikaner, Asiat, Afrikaner oder Australier: Das Ziel habe stets gelautet, den Sieg für den BVB zu holen.

Down under übrigens ist bislang der einzige Kontinent, auf dem noch kein BVB-Fanclub existiert. Natürlich gibt es die meisten der 750 Clubs in Deutschland. Aber auch in anderen Staaten Europas oder auch in Afrika, Asien oder Amerika haben sich Fans zusammengetan.

Ein früherer Soldat der einstigen britischen Armee im Ruhrgebiet berichtet, dass er „seiner“ Borussia auch der heutigen skandinavischen Heimat die Treue hält. Kinder- und Jugendbuchautor Hermann Schulz, der viel auf Reisen ist, berichtet über die Begeisterung, die er gerade bei jungen Afrikanern angetroffen hat. Solche und andere Passagen werfen allerdings die Frage auf, ob es in dem Buch doch nur um reine PR für den BVB geht.

Für Reinhard Rauball ist indes die Veröffentlichung bestens geeignet, den Wert der Fankultur hervorzuheben. Wenn gerade jetzt wieder, vor Saisonbeginn, über die Millionensummen der bei den Fußballertransfers diskutiert werde, dürfe man nicht vergessen, worauf es im Fußball auch besonders ankomme: „Wir-Gefühl“ und Miteinander.

Uwe Schedlbauer & Andreas Goldberg: „Schwarzgelbe Freunde überall auf der Welt“. Verlag Die Werkstatt, 160 S., 16,90 Euro




Als Balzac im Zug saß – Heinrich Peuckmann auf den Spuren des ruhmreichen Romanciers

Er war ein Lebemann, ein Draufgänger und zugleich hat er der Nachwelt ein beeindruckendes literarisches Erbe hinterlassen. Die Rede ist von Honoré de Balzac.

Dem französischen Schriftsteller (1799-1850) hat Heinrich Peuckmann sein neues Buch gewidmet. Er greift dazu eine Episode aus der Biographie des bereits zu Lebzeiten populären Romantikers heraus und legt ein pointiertes Portrait des Literaten vor.

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1847 begab sich Balzac auf eine lange Zugfahrt von Paris nach Wierzchowia in der heutigen Ukraine, um dort seine Geliebte, die reiche Großgrundbesitzerin Evelina Hanska, zu besuchen. Sie hatte schon Jahre vorher den Kontakt zu Balzac aufgenommen, doch seine Hoffnung, sie würde ihn nach dem Tod ihres Gatten heiraten, hatten sich (zunächst) nicht erfüllt. Umso mehr hoffte Balzac nun, dass der bevorstehende Aufenthalt endlich zum Ziel führen wurde.

Seine Heimat Paris hatte er aber nicht nur der Liebe wegen Hals über Kopf verlassen, einmal mehr waren seine Geldgeber dem chronisch verschuldeten Balzac auf den Fersen. Sich in damaliger Zeit auf eine Zugreise zu begeben, war für jeden Gast strapaziös, erst recht für einen Mann wie Balzac, den man heute wohl als Workaholic bezeichnen würde. Tag und Nacht arbeitete er an seiner Romanreihe „Menschliche Komödie“ und ruinierte sich nicht zuletzt durch seinen massenhaften Kaffeegenuss die Gesundheit. So litt er unter häufigen Hustenanfällen, die ihn auch auf der mehrwöchigen Reise plagten, wie es Heinrich Peuckmann eindrucksvoll schildert.

Balzacs Gedanken kreisen während der Fahrt aber nicht nur um das eigene literarische Schaffen, er ruft sich auch die Begegnungen mit seiner geliebten Evelina in Erinnerung und denkt zudem gern an die vielen anderen Frauengeschichten, die ihn schon als jungen Erwachsenen in die höchsten Adelskreise führten. Die Eindrücke und Erlebnisse in dieser gesellschaftlichen Umgebung hat er in zahlreichen Werken verarbeitet und dabei den Menschen gern mal den Spiegel vorgehalten. Trotzdem oder auch gerade deshalb erreichte er bereits zu Lebzeiten eine hohe Popularität, wie es auch auf der Zugreise deutlich wird. In Peuckmanns Buch trifft Balzac zahlreiche Zeitgenossen, die ihn schätzen und auch ihre Bewunderung zum Ausdruck bringen.

Das Verhältnis zu Dichtern und Denkern seiner Zeit beschäftigt Balzac stets auf Neue. Das belegen die Zwiegespräche mit Victor Hugo oder Heinrich Heine. Nicht immer sind es die großen philosophischen Diskurse über die Zukunft der Welt, manchmal auch ganz praktische Überlegungen. Heine empfiehlt Balzac, doch mehr Theaterstücke zu schreiben. Mit schnell verdientem Geld könne er sich doch von seinen Schuldnern loseisen.

Wenn Balzac sich in Kindheit und Jugend versetzt, kommt er nicht um das schwierige Verhältnis zu seiner Mutter herum, die ihn nicht leiden konnte und ihn zu einer Amme gab. Mit dieser Entscheidung haderte Balzac wohl bis zum Tod.

Dass Heinrich Peuckmann intensiv für das Buch recherchiert hat, zeigt sich nicht nur an den vielen Details aus dem Leben Balzacs, sondern auch bei der Beschreibung der Zugfahrt in der Pionierzeit der Eisenbahnen. In Köln mussten die Fahrgäste zu Fuß eine Rheinbrücke passieren, um danach ihre Fahrt mit einem anderen Zug fortzusetzen. In Madgeburg stand zur Überquerung der Elbe eine Fähre für die Bahn parat.

Zu Ehren kommt auch ein Begriff, der heute längst in Vergessenheit geraten ist. Der Name Perron für Bahnsteig/Treppe war seinerzeit in aller Munde. Manche Selbstverständlichkeiten in jener Zeit geben zum Schmunzeln Anlass, unter anderem, wenn es Balzac es ertragen muss, dass eine Frau Hühner und Ziege mittransportiert.

Dieses Mal ist es zwar kein Krimi, den Peuckmann vorlegt, dennoch hat das Buch einen Spannungsbogen. Ob Evelina schließlich zur Heirat bereit ist, diese Frage lässt der Autor nicht unbeantwortet.

Heinrich Peuckmann: „Die lange Reise des Herrn Balzac“. Lychatz Verlag, 124 Seiten, 19,95 Euro




Roman von Michael Köhlmeier: „Das Mädchen mit dem Fingerhut“ kämpft ums Überleben

Es ist ein faszinierender und zugleich verstörender Roman, den der Österreicher Michael Köhlmeier geschrieben hat. Er erzählt die Geschichte eines kleinen Mädchens, von dem man annehmen kann, dass es sich um ein Flüchtlingskind handelt.

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Doch es wäre viel zu kurz gegriffen, den recht schmalen Band (140 Seiten) nur als eine Sozialparabel zu verstehen. Anklänge daran sind sicherlich vorhanden, wenn „Das Mädchen mit dem Fingerhut“, vollkommen auf sich allein gestellt, irgendwo auf einem Marktplatz in Westeuropa auftaucht.

Der Onkel, der sich um sie gekümmert hat, scheint verschwunden zu sein oder die Kleine findet ihn nicht mehr. Woran es auch immer liegen mag, dass die beiden nicht mehr zusammenkommen, wird mehr und mehr zur Nebensache. Jedenfalls muss sich das Kind nun selbst durchschlagen, es übernachtet im Müllcontainer, wird schließlich von der Polizei aufgegriffen und kommt in ein Heim.

Während das Mädchen anfangs noch namenlos bleibt, ändert sich das, als es sich mit zwei Jungen anfreundet und einen Namen für sich erfindet. Die drei sind fortan ein festes Trio, das durch die Wälder streift, gern auch mal unter freiem Himmel schläft und sich seine Gedanken macht, wie es den Menschen in beheizten Häusern ergehen mag.

Köhlmeier beschreibt solche Erlebnisse in einer Art, die an Abenteuergeschichten wie „Die drei ???“ oder an Bücher von Enid Blyton erinnern. Diese Vergleiche haben wiederum auch nicht allzu lange Bestand. Spätestens, wenn Arian, Schamhan und Yiza sich entschließen, auf Diebestour zu gehen, erfährt der Roman eine deutliche Wendung.

Bevor allerdings die Geschichte mit einer folgenschweren Tat ihren traurigen Tiefpunkt erreicht, scheint es das Leben doch plötzlich mit dem Mädchen gut zu meinen. Eine Frau nimmt sie bei sich auf, worauf sich aber schon bald zeigt, dass scheinbar wohlwollende Helfer auch ihre hässlichen Seiten zeigen können. Yizas Flucht aus dem Hause ihrer vermeintlichen Gönnerin gerät allerdings zu einer dramatischen Aktion, die das Trio noch mehr aneinander schweißt und vor allem Yizas Bindung an Arian verfestigt.

Köhlmeiers wählt eine einfache Sprache mit kurzen Sätzen und oft knappen Dialogen. Bei den Figuren des Romans bleibt manches eher schemenhaft, wie beispielsweise die eigentliche Herkunft des Mädchens und der beiden Jungen. Dafür schreibt der Verfasser eher aus der Perspektive der Kinder. Eine kindliche Sicht ist das aber nicht.

Michael Köhlmeier: „Das Mädchen mit dem Fingerhut“. Hanser Verlag, München. 140 Seiten, 18,90 Euro.




Heinz Strunks Roman über Fritz Honka – die schreckliche „Normalität“ eines Serienmörders

Schon der Name Fritz Honka erzeugt Grusel, zumindest bei allen, die schon etwas älter sind und die 70er Jahre bewusst miterlebt haben. Über den Mann, der mindestens vier Frauen ermordete und die Leichen zerstückelte, hat der Autor Heinz Strunk ein aussagekräftiges Buch geschrieben.

Der mit etwas über 250 Seiten eher schmale Band nähert sich literarisch einer Person, die aus den untersten Gesellschaftsschichten stammte und im Laufe des Lebens immer mehr verrohte. Doch der Schriftsteller Strunk scheint eigentlich weniger erklären als vielmehr erzählen und die Geschichte eines Mannes nachzeichnen zu wollen, dessen Taten die Boulevardpresse auch in allen Einzelheiten ausbreitete.

HonkaStrunk geht indes weniger chronologisch vor, sondern arbeitet meist mit Versatzstücken, die sich am Ende aber zu einem Bild zusammenfügen lassen. Sexbesessen, pervers, gewalttätig, versoffen sind alles treffende Begriffe, mit denen man diesen 1935 in Leipzig geborenen Serienmörder beschreiben könnte. Doch es gab da auch einen Fritz Honka, der sich nichts sehnlicher wünschte, als ein ganz normales Leben zu führen, mit einer Frau, mit einer Familie, mit Kindern.

Ganz nah dran, den Dingen eine Wendung zu geben, scheint er zu sein, als man ihm das Unternehmen Shell als Nachtwächter einstellt. Er erhält endlich eine Uniform, der Alltag bekommt eine feste Struktur. Der Hamburger Kiez-Kneipe „Der Goldene Handschuh“ versucht er zu entfliehen. Hier ist er Dauergast und dort wird er später seine Opfer abschleppen, samt und sonders (Gelegenheits)-Prostituierte aus dem Trinkermilieu. Doch noch ist es nicht soweit. Vielmehr versucht er ein bürgerliches Dasein zu beginnen, er besucht die touristischen Attraktionen der Hansestadt.

Recherchen in der Kiez-Kneipe

Wenn Strunk die Welt in der Wahrnehmung von Honka beschreibt, scheint dieser schrecklich normal zu sein. Doch seine Alkoholsucht in Kombination mit den seelischen und körperlichen Verletzungen, die er seit frühester Kindheit erlitten hat, bieten offensichtlich keine Chance, ganz von vorn zu beginnen. Versuche, so schimmert es durch, hat es wohl auch vorher gegeben, allerdings ebenfalls erfolglose.

Den Taten selbst widmet der Verfasser nicht allzu viel Raum, wobei er allerdings den Leser keineswegs schont, sondern durchaus die brutalen und verstörenden Details der Morde darstellt. Ohnehin sollte sich der Leser auf eine Sprache gefasst machen, die schockieren kann. Sie wirkt herb und schroff, nicht anders als die Menschen, denen man hier begegnet. Manchmal scheinen auch Sätze zunächst unverständlich zu sein. Doch man muss dann eben noch einmal ansetzen, es ist halt der Umgangston, der in diesem Milieu herrscht.

Strunk hat für sein Buch den „Goldenen Handschuh“ nach eigenem Bekunden rund 150 Mal besucht, um den Leuten von heute, aber auch speziell diesem Fritz Honka von damals nahe zu kommen. Der Serientäter unterscheidet sich dabei keineswegs von all den anderen Besuchern, die nicht in der Lage sind, dem Suff zu entrinnen. Ab und an erscheint auch der einzige Bruder, der offenbar nicht ganz so tief gesunken ist. Den Fiete (Strunk bezeichnet die Hauptfigur fortwährend mit diesem doch Vertrauen erweckenden Kosenamen) kann aber offensichtlich niemand aus der Gosse herausholen.

Dass die Kneipe nicht nur zum Ziel der gesellschaftlich total Abgestürzten geworden ist, sondern dass hier gern auch Bessergestellte auftauchen, ist ein Erzählfaden, der zweierlei verdeutlicht: Die Trinksüchtigen versinken keineswegs in einer Parallelwelt, sondern sind Teil des Alltags. Zudem zeigt sich einmal mehr, dass der Besitz von Geld keineswegs auch bedeutet, das Glück gepachtet zu haben.

Mit seinem Buch, für das der Autor umfangreiches Studium der Prozessakten betrieben hat, ruft Heinz Strunk zwar die gesellschaftlichen Debatten der damaligen Zeit in Erinnerung. Gleichzeitig konzentriert sich der Verfasser aber auch auf die juristische Aufarbeitung. Von „Persönlichkeitsabbau“ ist in dem Urteil des Hamburger Landgerichts die Rede, der sich in dem Umstand verdeutlichte, dass der Angeklagte mit den verwesten Leichen in einem Raum zusammengelebt habe.

Heinz Strunk: „Der goldene Handschuh“. Rowohlt Verlag, 255 Seiten, 19,95 Euro.




Lesebuch erinnert an den Autor Willy Kramp

Bald jährt sich zum 30. Mal der Todestag des bekannten Schwerter Schriftstellers Willy Kramp (18.6.1909-19.8.1986). Ein Lesebuch, das der Autor Heinrich Peuckmann zusammengestellt hat, erinnert an den Mann, der für einige Jahre Leiter des Evangelischen Studienwerkes in Villigst war.

Während des Zweiten Weltkrieges kam Willy Kramp mit dem Widerstand gegen Hitler in Kontakt. Seine Erlebnisse hat Kramp in dem Werk „Brüder und Knechte“ verarbeitet, aus dem Peuckmann einige Abschnitte für das jetzt erschienene Lesebuch ausgewählt hat. In diesen Passagen schildert Kramp, wie er während der letzten Jahres des Zweiten Weltkrieges mit dem Offizier Roland von Hößlin ins Gespräch kommt und sich schon sehr schnell abzeichnet, dass sie beide Hitler nicht nur ablehnen, sondern auch alles daran setzen würden, ihn loszuwerden. Gleichwohl spiegeln sich in den Unterhaltungen auch die Bedenken von Soldaten wider, die einen Eid auf Hitler geschworen haben und sich zur Treue verpflichtet fühlen.

Kramp

Als das Attentat vom 20. Juli 1944 misslingt, stirbt Kramps Hoffnung auf ein Ende des Tötens „Millionen unschuldiger Menschen“. Er wäre wahrscheinlich wie Hößlin, der im Oktober 44 hingerichtet wurde, in die Fänge der Nazis geraten, aber der Offizier hatte die Unterlagen vernichtet, in denen der Name des späteren Schriftstellers auftauchte.

Auf das Ende des NS-Regimes folgt, wie es Willy Kramp eindrucksvoll schildert, das böse Erwachen bei den meisten Deutschen, die jetzt erst das gesamte Ausmaß des Terrors begreifen.

Der gebürtige Elsässer gerät selbst in sowjetische Gefangenschaft, in der er viele Grausamkeiten sehen und erleben muss, wie er es in einer Erzählung schildert. Kramp gibt jedoch zu bedenken, wie sehr sowjetische Soldaten in deutscher Gefangenschaft zu leiden hatten.

Mit seinem Buch „Brüder und Knechte“ hat Kramp auch posthum Aufsehen erregt. Eine Neuauflage im Jahr 2000 stand mehrere Wochen auf der „Spiegel“-Bestsellerliste.

Mit dem Lesebuch gelingt es Peuckmann, die wesentlichen Charakteristika des Autors hervorzuheben. Meist sind es die existenziellen Fragen des Lebens, denen sich die Figuren in den Erzählungen stellen müssen: In einer Fischerfamilie schaffen es Mutter und Sohn nur mühsam, den Tod engster Angehöriger zu verarbeiten, die bei einem tragischen Unglücksfall gestorben sind. Ein Patient glaubt, nach einem Herzinfarkt bald wieder ein normales Leben führen zu können, bis man bei ihm Metastasen findet. Ein Jugendlicher setzt alles daran, das Schaf, mit dem er zusammen aufgewachsen ist, vor dem Schlachter zu retten.

Dem Schriftsteller, der 1967 den Droste-Hülshoff-Preis erhielt, gelingt es stets, tiefgründige Fragen durch Geschichten aus dem Alltag anschaulich zu beschreiben. In der Erzählung über ein Wespennest, das er als Hauseigentümer entfernen musste, zeigt sich Kramps Sinn für die feine Ironie. In fiktiven Zwiegesprächen versucht die Wespenkönigin, ihm ein schlechtes Gewissen einzureden, sollte er versuchen, ihr Volk umzubringen.

Lesebuch Willy Kramp, zusammengestellt von Heinrich Peuckmann. Nylands Kleine Westfälische Bibliothek (54), herausgegeben von Walter Gödden. Aisthesis Verlag. 132 Seiten, 8,50 €.




„Der totale Rausch“: Erhellendes Buch über Drogenkonsum in der NS-Zeit

Es ist ganz offensichtlich ein blinder Flecken in der wissenschaftlichen Forschung über das NS-Regime, dem sich der Schriftsteller Norman Ohler in seinem Buch „Der totale Rausch“ zuwendet. Der Absolvent der Hamburger Journalistenschule ist bei Recherchen in diversen Archiven (u.a. Militärarchiv Freiburg, Bundesarchiv in Koblenz) auf bislang unbeachtete oder unbekannte Dokumente aus der Nazi-Zeit gestoßen, die Rückschlüsse auf enormen Drogenkonsum zulassen.

Rauschgifte waren nicht nur unter NS-Größen verbreitet, sondern auch beim Volk und den Soldaten. Sie alle kamen ganz legal an Mittel, die heute unter Bezeichnungen wie Crystal Meth existieren. Damals hieß der Stoff Pervitin. Die methamphetaminhaltigen Substanzen wirkten leistungssteigernd, hellten die Stimmung auf, verringerten das Schlafbedürfnis drastisch und förderten schließlich auch die Libido.

ohlerJanusköpfige Haltung

Wer nicht so sehr auf Pillen stand, der konnte auch Pralinen kaufen, in denen Süßes mit sinnestäuschenden Mitteln vermengt war. Die damaligen Temmler-Werke in Berlin brachten das Mittel auf den Markt und das neue Produkt fand reißenden Absatz.

Dass das Regime den Konsum nicht nur duldete, sondern sogar noch forcierte, steht jedoch, wie der Autor hervorhebt, im vollkommenen Gegensatz zum NS-System. Drogen waren (eigentlich) verboten, 1936 führten die Nazis eine reichsweite Drogenpolizei ein und Süchtige selbst wurden inhaftiert, viele von ihnen ermordet.

Zu den Erklärungsversuchen des Verfassers für diese janusköpfigen Umgang mit Rauschmitteln gehört der Hinweis auf die Olympischen Spiele 1936 in Berlin, bei denen zahlreiche Sportler durch die Einnahme von Amphetamin Erfolge feierten. Bewusstseinserweiternde Medikamente passen ferner zu einer Zeit und einer Ideologie, die Aufbruchstimmung erzeugen will und sowohl Leistung als auch Stärke propagiert.

Pervitin für Volk und Soldaten

Doch nicht nur das Volk sollte sich mit Pervitin betäuben können, noch wichtiger war den Nazis offenbar, dass schon gleich zu Beginn des Krieges für die Soldaten die Pillen in ausreichenden Mengen vorhanden waren. Das lässt sich aus zahlreichen Belegen und Quellen erschließen. Millionen von Packungen wurden für die Truppen bestellt, wobei das Regime wenige Wochen vor dem Überfall auf die Sowjetunion den Hersteller in die Pflicht nahm. In einem Dokument der Reichsstelle Chemie heißt es, dass die Temmler-Werke für die Sicherung der Fertigung verantwortlich sind – verbunden mit der Notiz, dass das Mittel Pervitin „kriegsentscheidend“ ist.

Norman Ohler führt zahlreiche Situationen an, in denen die Soldaten durch die Einnahme des Mittels ihre Müdigkeit überwanden, auf Schlaf verzichten konnten oder ihre Niedergeschlagenheit überwanden. Es gab beim Heer sogar Erhebungen über die Wirkung des „Schlafbeseitigungsmittels Pervitin“. Dass sich die einfachen Soldaten, aber auch die Führungseliten auf diese Weise aufputschen konnten, stellt Norman Ohler in Beziehung zu den militärischen Erfolgen des Blitzkriegs im Westen. Dass der Feldzug gegen die Sowjetunion zur Niederlage von Stalingrad führen sollte, ließ sich allerdings auch durch noch so sehr gedopte Soldaten nicht verhindern. Vielmehr führten die Allmachtsvorstellungen Hitlers und die daraus resultierenden falschen strategischen Entscheidungen zum Untergang, stellt Ohler heraus.

Auch Hitler war nicht abstinent

Hitler selbst war keineswegs „abstinent“, sein Leibarzt Theodor Morell hatte schon Ende der 30er Jahre damit begonnen, den Patienten A, wie er den Diktator in seinen Aufzeichnungen nennt, mit Pervitin zu versorgen. Doch es blieb nicht nur bei diesem einen Mittel. Vitaminschocker waren da noch eher harmlosere Varianten, denn je länger der Krieg dauerte und je deutlicher klar wurde, dass Deutschland den Krieg verlieren wird, um so stärker wurden auch die Dosierungen weiterer Substanzen wie Kokain oder das Schmerzmittel Eukodal.

Sehr anschaulich beschreibt der Autor, wie sich Hitler immer mehr abkapselt und entsprechend mehr Stimmungsaufheller benötigt. Hitlers Leibarzt charakterisiert der Autor als einen nach Ansehen lechzenden Menschen, dem es gelungen ist, Hitlers Vertrauen zu gewinnen. So stolz er auch darauf ist, so tief erschüttert ist Morell, als ihn der „Führer“ (wenige Tage vor seinem Selbstmord) entlässt. Morell geriet übrigens nach dem Krieg in amerikanische Gefangenschaft und starb 1948.

Neben Hitler kommt auch Reichsfeldmarschall Göring nicht ohne Drogen aus. Als die Alliierten ihn festnehmen, hat er 24000 Tabletten bei sich.

Dass alle diese Substanzen Körper und Geist der Konsumenten schädigen war den Nazis sehr wohl bekannt und es gab in den Reihen von damaligen Wissenschaftlern durchaus kritische Stimmen, die vor ständigem Gebrauch warnten. Norman Ohler ist auf einen Anweisungszettel für die Soldaten gestoßen, wie sie umsichtig mit Pervitin umgehen sollen. Der Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll dürfte von solchen Ratschlägen kaum etwas gewusst haben, denn er ist, wie Ohler schreibt, als Soldat abhängig geworden.

Um herauszubekommen, welche Wirkung Drogen bei mehrmaliger Einnahme direkt nacheinander haben, gab es in mehreren KZs Menschenversuche. Zum Teil haben die Gefangenen vier Tage lang kein Auge zugetan, sie wurden künstlich wach gehalten.

Norman Ohler stellt klar, dass die gewonnen Erkenntnisse über den Drogenkonsum in der NS-Zeit keineswegs Sensationszwecken dienen, noch die Verbrechen erklären oder gar entschuldigen sollen. Der Autor sieht in den Rauschgiften ein „künstliches Mobilisierungspotenzial“, um das Volk und seine Soldaten bei Laune zu halten. Für den (im November 2015 verstorbenen) Historiker Hans Mommsen, der als Professor vor allem in Bochum lehrte und fürs vorliegende Buch ein Nachwort schrieb, besteht der Erkenntnisgewinn Ohlers unter anderem darin, dass die von den Nazis propagierte idealistische Motivation stark relativiert werde.

Norman Ohler: „Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich“. Mit einem Nachwort von Hans Mommsen. Kiepenheuer & Witsch. 364 Seiten, 19,99 Euro.




Flucht vor dem Drogenkartell – in die gar nicht so idyllische Provinz

Das seit Jahren vermisste Mädchen Gesa war für die meisten Bürger in dem beschaulichen Bad Iburg längst in Vergessenheit geraten, als Andreas Atlas plötzlich wieder in dem Städtchen mitten im Teutoburger Wald auftaucht. Er hatte sich einst kurz nach dem Verschwinden der damals 18-jährigen aus dem Staub gemacht. Als er nun in seine alte Heimat zurückkehrt, holt ihn die Vergangenheit wieder ein, aber nicht nur ihn, sondern auch Bekannte und Kollegen aus früheren Zeiten.

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Andreas Atlas ist die Hauptfigur in Martin Calsows neuem Krimi, der von sehr unterschiedlichen Handlungssträngen lebt und recht eigenartige Persönlichkeiten aufzubieten hat. Das fängt schon bei Atlas selbst an. Er ist ein Mann des Bundeskriminalamtes, war als verdeckter Ermittler auf das mexikanische Drogenkartell angesetzt. Ihm gelingt zwar dort der Aufstieg, aber als er auffliegt, muss der Deutsche fliehen.

Dabei möchte er sich eigentlich mit einem unterschlagenen Millionenvermögen in Südamerika ein schönes Leben machen. Doch aus Todesangst vor seinen Verfolgern sucht er lieber den Schutz der ländlichen Idylle. Dort kann indes von Wiedersehensfreude keine Rede sein, die eigene Familie fühlt sich von ihm verprellt, da er es nicht einmal für nötig befand, zur Beerdigung des Vaters zu erscheinen. Das hat auch auf seinen Ruf im Ort abgefärbt, zudem glauben die meisten Leute ohnehin, er habe sich nur rumgetrieben und sei ein Scharlatan.

Doch eine Freundin aus alten Zeiten hält zu ihm. Mit ihr gemeinsam rekonstruiert er die letzten Tage und Stunden vor Gesas Verschwinden. Dass da plötzlich noch intime Fotos auftauchen und Menschen in den Fokus geraten, die sich bis dahin als streng religiöse Gläubige ausgewiesen haben, trägt ganz erheblich zur Steigerung des Spannungsbogens bei. Calsow versteht es nicht nur, dem Krimi eine dramatische Wende zu verleihen, es gelingt ihm auch, die Charaktere mit ihren Widersprüchlichkeiten und prägenden Lebensschicksalen prägnant zu beschreiben.

So aufwühlend die Ereignisse von damals und heute auch immer sein mögen, Atlas verliert nie seine prekäre Lage aus den Augen. Was aus seinen ursprünglichen Zukunftsplänen wird, sei hier noch nicht verraten. Wohl aber soviel: Wie es mit ihm weitergeht, wird ganz wesentlich von einem autistischen Kind bestimmt.

Martin Calsow: „Atlas. Alles auf Anfang“. Grafit Verlag, 253 Seiten, 10,99 Euro.




Endloses Trauma nach der Loveparade – Heinrich Peuckmanns Roman „Leere Tage“

Über fünf Jahre sind inzwischen seit der Loveparade-Katastrophe (24. Juli 2010) vergangen, doch vergessen kann Sven dieses Unglück nicht. Seine Freundin Klara ist bei dem Massengedränge auf dem Weg zur Technoparty gestorben, sie war eines der 21 Todesopfer.

Sven bemüht sich, wieder zurück in ein halbwegs normales Leben zu finden, doch der Weg ist steinig und kurvenreich, wie es Heinrich Peuckmann in seinem Roman „Leere Tage“ erzählt.

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Zu allem Überfluss gerät Sven auch noch in Hader mit seinem Arbeitskollegen Alex, den er in seine Wohnung aufgenommen hat. Dieser Alex verkehrt nicht gerade in den besten Kreisen und hat Schulden beim Boss einer Gang, der vor Gewalt nicht zurückschreckt. Als der Kumpel nun Schutz sucht, will sich Sven nicht verschließen, zumal er sich in seinen vier Wänden ohnehin mutterseelenallein fühlt und er auch mit seinem Studium der Sozialarbeit ins Hintertreffen zu geraten scheint.

Doch die Hoffnung, dass sich seine Stimmung heben würde, erfüllt sich für Sven nicht. Ob Alex nicht zu Sven passt oder ob Sven in seiner Sinnkrise mit sich selbst viel zu sehr beschäftigt ist, das lässt der Roman offen. Am Ende will Sven seinen Mitbewohner nur noch loswerden und wählt dazu einen recht ungewöhnlichen Weg, der aber erkennen lässt.

Wie andere Romane von Heinrich Peuckmann, so spielt auch dieser im Ruhrgebiet, vornehmlich in Dortmund mit dem Nebenschauplatz Duisburg. Die Erzählung ist zwar nicht darauf ausgelegt, Anklage gegen die Verantwortlichen für die Loveparade-Katastrophe zu erheben, wohl aber kommt zum deutlich Ausdruck, welche Folgen ein solches Unglück bei Angehörigen und Freunden der Opfer hinterlässt.

Zugleich zeigt Peuckmann schwierige soziale Wirklichkeiten auf, wenn er beispielsweise über die zerrüttete Familie von Klara schreibt. Man mag vortrefflich darüber diskutieren, ob der Autor damit nur Stereotypen verfestigt oder aber eindringlich daran erinnert, dass solche Lebensverhältnisse zum Alltag gehören – im Ruhrgebiet und anderswo.

Heinrich Peuckmann: „Leere Tage“, Assoverlag, Oberhausen. 175 Seiten. 9,90 Euro.

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Im Sinne der Transparenz sei angemerkt, dass Heinrich Peuckmann gelegentlich auch als Gastautor für die Revierpassagen schreibt.
(d. Red.)




Frühe Salinger-Stories erstmals auf Deutsch – ein schmales Buch von begrenztem Nutzen

Das Sujet seiner Kurzgeschichten in dem schmalen Band „Die jungen Leute“ scheint zunächst einmal wenig auffällig zu sein, handelt es sich doch um kleine Ereignisse und Begegnungen aus dem Alltag. Doch durch seine Erzählkunst gelingt es Jerome David Salinger, den Texten eine besondere Note zu geben.

Zum einen zeichnet sie ein gesellschaftskritischer Blick auf das Leben aus, zum anderen braucht der Autor keine langatmigen Passagen, um die einzelnen Charaktere zu beschreiben. Das erledigen sie selbst durch ihre Sätze, ihre Gesten und den Umgang miteinander. Ob es sich um einen Streit unter Geschwistern handelt oder um eine zufällige Partybekanntschaft, die Ereignisse weisen über sich hinaus und die Figuren lassen erkennen, wie fragwürdig für sie bestimmte Verhaltensformen und Gewohnheiten geworden sind. Das gilt auch für die Szene, in der sich ein Mann von seiner Frau verabschiedet, weil er in den Zweiten Weltkrieg zieht. Seine Bitte, sie möge sich doch ein wenig um die demente Tante kümmern, gerät zu einem grotesken Disput eines Paares, das nicht weiß, ob es sich je wiedersehen wird.

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Die Geschichten von J.D. Salinger stammen aus den 40er Jahren. Damals war der amerikanische Schriftsteller, der vor fünf Jahren starb, noch weit von einem Weltruhm entfernt, den er mit seinem 1951 erschienen Buch „Der Fänger im Roggen“ erlangen sollte. Mit den drei Arbeiten aus seiner frühen Schaffenszeit stellt Salinger aber schon nach Meinung vieler Kritiker sein schriftstellerisches Talent unter Beweis, das er dann in seinem Erfolgsroman formvollendet habe. Inhaltlich lassen sich ohnehin Parallelen ziehen, geht es doch immer um das Lebensgefühl junger Menschen.

In dem Nachwort zu den jetzt erstmals in deutscher Sprache veröffentlichen Arbeiten hebt der österreichische Schriftsteller Thomas Glavinic hervor, dass Salinger den Umbruch gesellschaftlicher Werte in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts widerspiegelt und genau darin auch der literarische Stellenwert des Autors zu sehen sei. Glavinic stellt den amerikanischen Autor in eine Reihe mit Tolstoi, Hamsun und Remarque, die in ihren Werken ebenfalls den jeweiligen gesellschaftlichen Wandel zum Ausdruck gebracht hätten. Mit ein paar Sätzen über das Liebesleben Salingers, einem Blick auf dessen Rückzug aus der Öffentlichkeit und einigen Lebensdaten fällt der biographische Teil aber dann doch sehr kurz aus.

Legt man das schmale Büchlein aus der Hand, bleibt man auf seltsame Weise unschlüssig zurück. Sollte das nun auf Vorgeschmack auf gute literarische Kost gewesen sein, dann fehlt der Hauptgang. Sollte Salingers Werk gewürdigt werden, wäre eine längere Biographie doch sicherlich angemessener gewesen als die wenigen Seiten – mit durchaus wohlmeinenden Worten – von Glavinic. So wirken beide Buchabschnitte unvollendet.

Offensichtlich verhindern, wie aus anderen Quellen als dem vorliegenden Buch hervorgeht, Urheberrechte, dass noch weitere Kurzgeschichten von Salinger erscheinen dürfen. Ein zarter Hinweis hätte sicherlich wertvolle Dienste geleistet, um das Zustandekommen des Buches besser einordnen zu können. Und wenn schon immer wieder auf „Der Fänger im Roggen“ verwiesen wird, hätte der Leser gewiss keine Einwände gehabt, wenn nicht nur die Intention des Buches hingehuscht worden wäre, sondern man auch den Inhalt kurz skizziert hätte. Schließlich schreibt Glavinic selbst, dass sich die Faszination von damals heute nicht mehr unbedingt erschließt.

J.D. Salinger: „Die jungen Leute“. Drei Stories. Piper Verlag, München. Aus dem amerikanischen Englisch von Eike Schönfeld. 80 Seiten. 14,99 Euro




„Die Abräumer“: Realistischer Krimi um den Tod einer Bankräuberin in Dortmund

Man muss sich schon ein bisschen bemühen, um bei Thomas Schweres‘ neuem Krimi „Die Abräumer“ den Überblick zu behalten.

Schon gleich zu Beginn tauchen eine Menge Personen auf, von denen man meinen könnte, sie hätten eigentlich nichts miteinander zu tun. Ein recht zwielichtiger wirkender TV-Journalist, ein Taxiunternehmer, mitunter reichlich eigenwillige Mitarbeiter des Geldinstituts „Sparbank“ und Beschäftigte der Dortmunder Stadtverwaltung…

Autor Thomas Schweres (Foto: privat)

Autor Thomas Schweres (Foto: privat)

Nach wenigen Seiten gibt es das erste Opfer. Eine Frau namens Michaela Schmidt, die gerade zuvor besagte Bank überfallen und mehrere Tausend Euro mitgenommen hat, wird auf der Flucht erschossen.

Kommissar Schüppe, der auch schon in Schweres erstem Krimi „Die Abtaucher“ ermittelt hat, merkt schon bald, dass es sich um einen komplexen Fall handelt. Die Bankräuberin ist nämlich nicht nur Täterin, sondern auch Opfer. Ihre Familie wurde bei einem Immobiliengeschäft ziemlich gelinkt. Aber viel mehr bringt Schüppe (Spitzname „Spaten“) auch nicht in Erfahrung, denn Mann und Kinder sind wie vom Erdboden verschluckt.

Doch der Kommissar verfügt über viele Kontakte und so gelingt es ihm, Mosaikstein für Mosaikstein zusammenzusetzen. Er findet auch heraus, was es mit der Immobilienfirma auf sich hat, die hinter den Betrügereien steckt, oder welche Vergangenheit eigentlich dieser TV-Journalist namens Tom Balzack mitbringt.

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Zudem zeigt sich schon bald, dass in der Stadtverwaltung Korruption zum Alltag gehörte. Damit knüpft der Autor an gewisse Vorfälle aus dem Dortmunder Rathaus an, doch es ist es nicht der einzige Bezug zur realen Welt. Auch die Art und Weise, wie eine Bank mit dem ihr anvertrauten Geld umgeht, erinnert doch sehr stark an wirkliche Ereignisse.

Es kommen immer mehr Machenschaften ans Tageslicht, die noch weitere Opfer fordern. Bei solchen sehr heiklen und schwierigen Nachforschungen müsste Kommissar Schüppe eigentlich auf Vertrauen zu seinen Mitarbeitern setzen können, doch bei einem neuen Kollegen hat er da so seine Zweifel.

Thomas Schweres, der seit langem als Boulevard-Journalist, Polizei- und Gerichtsreporter arbeitet, verwendet gern authentisch klingende Umgangssprache. Sein Krimi spielt hauptsächlich in Dortmund und Bochum, was durch genaue Ortsbeschreibungen beglaubigt wird.

So verzwickt, wie Geschichte beginnt, so findet sie auch ihr Ende. Man ist erstaunt, dass – so viel sei verraten – die Kripoleute mit heiler Haut davonkommen.

Thomas Schweres: „Die Abräumer“. Kriminalroman. Grafit Verlag, Dortmund. 254 Seiten, 9,99 Euro.




Im Zweifel für das Leben: Ian McEwans neuer Roman „Kindeswohl“

Für die Londoner Familienrichterin Fiona Maye gehören komplizierte juristische Fragen zum Alltag, doch der Fall des Adam Henry ist besonders bizarr. Sein Schicksal steht im Zentrum von Ian McEwans Roman „Kindeswohl“.

Der 17jährige Adam Henry ist an Leukämie erkrankt. Eine ihn rettende Bluttransfusion lehnen seine Eltern und auch er selbst aus religiösen Gründen kategorisch ab. Die Familie gehört zu den Zeugen Jehovas, die mit Verweis auf Worte der Bibel einen solchen medizinischen Eingriff untersagen. Die behandelnde Klinik kann und will sich mit der Verweigerungshaltung nicht zufrieden geben und stellt einen Eilantrag, die Blutübertragung durchführen zu dürfen. Aufgrund des gesundheitlichen Zustandes des jungen Patienten dulde die Entscheidung keinen Aufschub, betont das Hospital.

Auf den nun folgenden Seiten, 30 an der Zahl, breitet der Autor nun den Verlauf Gerichtsverhandlung aus, bei der rechtliche und ethische, religiöse wie auch psychologische Gesichtspunkte ausführlich erörtert werden. Dabei liegt der Gedanke nahe, dass es im Prinzip keinen Zweifel an der Haltung der Richterin geben dürfte. Es müsste doch ihre Pflicht sein, ohne Wenn und Aber für das Leben des Minderjährigen einzutreten.

Nun kennt das englische Recht allerdings die Besonderheit der Gillick-Kompetenz. Damit ist gemeint, dass junge Leute auch unter 16 Jahren intellektuell durchaus in der Lage sein können, zu entscheiden, ob sie sich bestimmten medizinischen Maßnahmen unterziehen wollen. Benannt ist diese Fragestellung nach Victoria Gillick. Die katholische Mutter von zehn Kindern startete in den 80er Jahre eine Initiative, die sich gegen eine Gesetzesänderung wandte, die vorsah, dass Mädchen unter 16 Jahren die Pille auch ohne das Wissen der Eltern verschrieben bekommen sollten. Daraus entstand eine juristische Auseinandersetzung, ob und wann Minderjährige die Reife haben, selbst über ihr Schicksal zu befinden.

Eindrucksvoll schildert der Autor, wie sich die Richterin nun selbst darum bemüht, Denken, Fühlen und Handeln des todkranken Jungen zu ergründen. Sie unterbricht die Verhandlung, um ihm am Krankenbett zu besuchen. So kühl und distanziert, wie der Leser sie bislang kennen gelernt hatte, ist die Juristin hier längst nicht mehr. In die Entscheidung, die die Richterin letztlich trifft, bezieht sie zwar ein, dass Adam über eine hohe moralische Kompetenz und einen scharfen Intellekt verfügt, sieht ihn aber eingezwängt in ein religiöses System, das ein freies Denken nicht wirklich zulässt. Dieses System, das ist ihr bewusst, ist für die Eltern mehr als nur eine Glaubensgemeinschaft. Insbesondere durch die schwierige Lebensgeschichte des Mannes ist die Gemeinde zu einem wichtigen Hort geworden, der Halt und Hoffnung bietet.

Doch mit dem Spruch der Richterin, die Klinik solle Adam wie beantragt behandeln, findet die Geschichte noch längst nicht ihr Ende. Das Leben danach, also nach der Transfusion, hält für alle Beteiligten noch schwierige Fragen parat. Wie gehen die Eltern nun mit ihrem Sohn um? Und was denkt der Sohn eigentlich wirklich über seine Eltern? Fiona Maye haben die Erlebnisse auch nicht unbeeindruckt gelassen und das auf eine Weise, mit der sie selbst wohl kaum gerechnet hätte. Sie kann nicht verhehlen, gewisse Gefühle für Adam entdeckt zu haben, was wiederum wie ein Treppenwitz in ihrer kinderlosen Ehe wirkt, hat ihr Mann Jack sie doch genau zu dem Zeitpunkt, als die Klinik sich an das Gericht wandte, gebeten, ihm eine außereheliche Beziehung zu gestatten.

Von beiden Partnern zeichnet Ian McEwan zunächst das Bild karrierebewusster Persönlichkeiten, die rational und wenig emotional ausgerichtet sind. Während Jack aber nun eher von innen heraus zu der Ansicht gelangt ist, dass ihm eine Affäre mal gut täte, sind bei seiner Frau eher äußere Einflüsse, die ihre bisherigen Vorstellungen ins Wanken bringen. Mit Adam verbindet sie zudem eine Liebe zur klassischen Musik. Im Zuge eines Konzerts erfährt sie schließlich, welche dramatische Wendung das Leben des jungen Mannes noch genommen hat.

McEwan versteht es brillant, nicht nur verschiedene ethische und juristische Ebenen miteinander zu verknüpfen, sondern die Vielschichtigkeit auch ansprechend darzustellen. Die Einbindung des Falls in einen Ehekonflikt mag zwar gewagt erscheinen, weil das eine mit dem anderen erst einmal nicht in Verbindung steht, doch es gelingt dem Autor, die Protagonisten mit ihren zum Teil widersprüchlichen Motiven sehr klar zu charakterisieren.

Ian McEwan: „Kindeswohl“. Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Diogenes Verlag, Zürich. 224 Seiten, 19,90 Euro




Hintersinn und Abgründe des Lebens – gesammelte Kurzerzählungen von Franz Hohler

Gesucht: eine Stadt mit X. Die Lösung Xanten wäre wohl zu leicht. Da dem Autor aber kein weiterer Name für sein Städte-Alphabet einfallen will, erzählt er einfach eine ganz andere Geschichte, die jedoch in einem Zusammenhang mit dem genannten Anfangsbuchstaben steht. Willkommen bei Franz Hohler, dessen Erzählungen in kein Schema passen.

Skurril, schräg, hintersinnig, abgründig: Die Geschichten des Schweizer Schriftstellers leben von der ungewöhnlichen Perspektive auf den Alltag, das Zeitgeschehen, den Zeitgeist oder das Miteinander. Dabei greift der Schriftsteller gern die kleinen Begebenheiten am Rande heraus, um auf das Große und Ganze zu kommen. Oft überlässt Hohler es auch dem Leser selbst, sich ein Urteil über Geschehnisse und Entwicklungen zu bilden, wenn er beispielsweise beschreibt, dass die Suche nach einem speziellen Buch per Internet ins Leere läuft, ein altgedienter Buchhändler mit einem Griff den Band jedoch sofort zur Hand hat.

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Franz Hohlers Buch, das jetzt im Luchterhand-Verlag erschienen ist, enthält sämtliche kurzen Erzählungen des Autors, Jahrgang 1943, und damit eine Zusammenfassung von acht Büchern, von denen das erste 1970 veröffentlicht wurde. Wenn die Geschichten sieben oder gar acht Seiten umfassen, dann sind sie schon lang, viele füllen gerade mal eine Seite. Hohler, der 2002 den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor erhielt, tritt sogar den Beweis an, dass gerade mal drei Zeilen für eine Handlung reichen. Andererseits: Manche Sätze geraten dem Autor aus gutem Grund etwas länger. Sie verhindern, dass der Leser über den Text oberflächlich hinweggeht.

Mit seinen Geschichten erweist sich Hohler als ein feinsinniger Beobachter, der ungewöhnliche Zusammenhänge herzustellen vermag und dabei einen ironischen Unterton mitschwingen lässt. So muss er zwangsläufig bei einem Werbeschreiben der Gesellschaft für bedrohte Völker weniger an Papua-Neuguinea denken als ein älteres Ehepaar, das seinen gewohnten Lebensrhythmus über Jahrzehnte beibehalten hat. Hohlers Erzählungen sind auch immer wieder für eine Überraschung gut, wenn er unter anderem Ereignisse in ein ganz anderes Umfeld transformiert. Wie lässt sich ein Autounfall, bei dem ein Mensch stirbt, beschreiben, wenn man ihn als Hinrichtung sieht?

Da der Autor viel in der Welt herumgekommen ist, handeln einige Geschichten von fernen Ländern und Kontinenten. Dass eine mongolische Hochzeit ganz anderen Gesetzmäßigkeiten unterliegt als hierzulande und es auch mal ein bisschen heftiger zur Sache gehen kann, ist eine lehrreiche Episode über andere Kulturkreise. In seinen Beschreibungen über Guatemala oder Paraguay lässt er das Groteske beiseite und das aus gutem Grund. Er will an dunkle Kapitel lateinamerikanischer Geschichte erinnern: Regime, die ihr Volk unterdrückt haben. Wortmächtig beschreibt er, welche Qualen Gefangene erleiden mussten. Die Opfer sollen nicht in Vergessenheit geraten.

Welche Pein Tiere zu ertragen haben, die man zur Schlachtbank führt oder zu Versuchszwecken (miss)braucht, kann man mitfühlen, wenn Franz Hohler sich in die Situation dieser Tiere hineinversetzt. Seine Empathie gegen den Krieg, in diesem Fall ist es der Waffengang im ehemaligen Jugoslawien, bringt er auf bemerkenswerte Weise zum Ausdruck, indem er einen Brief an Kain und Abel formuliert (die er irgendwo auf den Schlachtfeldern vermutet) und sie an ihre engen familiären Bande erinnert.

Mit seinen Vergleichen und seiner Bildersprache gelingt es dem Schriftsteller, Verwerfungen und Missstände anzusprechen, ohne gleich den moralischen Zeigefinger zu erheben. Da steht eines Tages der Frieden vor der Tür der Obdachlosenunterkunft oder eine blau gefärbte Amsel stößt bei ihren vermeintlichen Artgenossen auf Ablehnung, denn schwarz muss das Gefieder sein.

Zu den Themen, die Franz Hohler bewegen, gehören zweifellos auch religiöse und kirchliche Fragen. Wie das wohl mit der Schöpfung abgelaufen sein könnte, dazu findet man in dem Buch gleich zwei amüsante Versionen. In der Geschichte, die dem Buch den Namen gibt, kommt es zu einem eigenwilligen Aufbegehren gegen den Stellvertreter Christi auf Erden.

Franz Hohler: „Der Autostopper“. Die kurzen Erzählungen. Mit einem Nachwort von Beatrice von Matt. Luchterhand-Verlag, 764 Seiten, 19,99 €.




Der Hochstapler, der die Nazis hasste – Jan Zweyers Roman „Eine brillante Masche“

Er besaß zweifelsohne ein hohes Maß an krimineller Energie, trat wechselweise unter sieben verschiedenen Namen auf, vor Gericht versuchte er aber dann den Biedermann oder gar den Helfer in der Not zu geben. Die Rede ist von Johann Bos, dem der Journalist und Schriftsteller Jan Zweyer sein neues Buch widmet.

Zweyer erzählt – nach wahren Begebenheiten – die Geschichte eines ausgebufften Betrügers, der in den Wirren der ersten Nachkriegsjahre „Eine brillante Masche“ (So der Titel des Buches) fand, um sich zu bereichern. Bos hatte es auf die engsten Angehörigen von Nazi-Funktionären abgesehen, die noch in Haft saßen. Der größte Wunsch der Familien bestand natürlich darin, ihre Männer oder Väter wieder frei zu bekommen. Da klammerte man sich an jeden Strohhalm und fiel auf Leute wie Bos schnell herein, dem es immer wieder gelang, sich das Vertrauen der Verwandten zu erschleichen und sie um große Mengen an Schmuck zu erleichtern.

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Er gaukelte den Leuten vor, durch diese „Vorkasse“ bei Aufsehern oder Führungskräften von Gefängnissen die Freilassung erwirken zu können. Dazu erfand er glaubhafte Geschichten zu seiner eigenen Person, stellte sich als Kripobeamter oder einflussreicher Industrieller vor. Er  hatte sich zuvor im Umfeld der späteren Opfer umgehört.

Die Kripo war zwar hinter ihm her, aber es kam dem Gesuchten anfangs sicherlich zugute, dass es im Polizeisystem um den Austausch an Informationen – beispielsweise über seine Aufenthaltsorte – nicht zum allerbesten bestellt war. Aber selbst, wen man ihn verhaftet hatte, was mehrfach geschah, sollte es dem wendigen Bos gelingen, aus dem Knast zu türmen.

Doch im Januar 1948 war dann das Spiel endgültig vorbei, der Mann hatte es offensichtlich zu weit getrieben. Handel mit gefälschtem Schmuck war es unter anderem, der die Polizei auf die Fährte von Johann Bos brachte. In der Anklageschrift war die Rede von Diebstahl,  vollendetem Betrug in 45 und versuchtem Betrug in 20 Fällen. Auch Beamtenbestechung und Urkundenfälschung wurden ihm vorgeworfen.

Schon die Lebensgeschichte dieses Draufgängers, der neben seiner Frau noch zwei Verlobte hatte, ist fesselnd, spannend und unterhaltsam zugleich. Durch die Art und Weise, wie der Autor die Biographie des gebürtigen Osnabrückers aufbereitet hat, wird aus dem Buch ein Lesestoff, den man nicht mehr aus der Hand legen möchte. Zweyer hat nicht nur Gerichtsakten studiert, sondern vor allem auch die Presseberichte zu dem Prozess vor dem Arnsberger Landgericht im Jahr 1950 zur Hand genommen. Dadurch gelingt es ihm, das Bild eines äußerst zwiespältigen Menschen zu zeichnen: Während der Metzgerlehre bestiehlt er seinen Chef mehrfach, bis der ihn schließlich rauswirft, dagegen erweist er sich später als vertrauenswürdiger und liebevoller Vater.

Mit dem geklauten Geld hat er sich übrigens den ersten Besuch in einem Stripteaselokal finanziert. Als ihn während des NS-Regimes der Gestapo-Mann im KZ verschwinden lässt, den er beim Schäferstündchen mit seiner Frau erwischt hatte, bleibt seine Rolle im Konzentrationslager im Ungefähren. Dass er dort aber nicht zu den Tätern gewechselt ist, wie er später beteuert, mag man ihm schon glauben. Das Arnsberger Gericht versucht er auch davon zu überzeugen, dass er – bei allen seinen menschlichen Schwächen – doch eigentlich ein gutes Herz hatte. Nachprüfen ließ sich seine Beweisführung zum Zeitpunkt der Verhandlung nur nicht mehr, denn da waren die Lebensmittel, die er Mitmenschen gespendet oder an Kinderheime verteilt haben will, wohl schon längst verspeist gewesen sein.

Offen ließ es Bos, wo er sein ergaunertes Geld versteckt hatte, sofern überhaupt noch etwas vorhanden war. Für das Motiv seiner Taten legte er ein klares Bekenntnis ab: Er mochte die Nazis nicht leiden und „die meisten, die in den Internierungslagern sitzen, sind dort völlig zu Recht“.

Wenn der Leser am Ende des Buches erfährt, dass nicht alles, was er über Johann Bos erfahren hat, den Tatsachen entspricht, sondern vielmehr der Autor sich hier und da auch schriftstellerische Freiheiten gegönnt hat, ist das dem Band nicht abträglich. Im Gegenteil. So ist es wirklich spannend, sich mit einer solch schillernden Persönlichkeit zu befassen, wobei sich schon die Frage stellt, warum man so wenig über Johann Bos weiß, der auch in Städten wie Hagen und Herne sein Unwesen trieb.

Jan Zweyer: „Eine brillante Masche – Die fast wahre Geschichte eines Lügners“. Roman. Grafit Verlag, Dortmund, 221 Seiten, 9,99 Euro.