Rundfunk-Premiere: Hörer sollen Themen selbst kommentieren – Idee aus dem WDR-Studio Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Hörer als Kommentatoren vor dem Rundfunkmikrophon – diese im WDR-Studio Dortmund aufgekommene Idee wird jetzt heiß diskutiert.

Bei Vorüberlegungen zum neuen Konzept der Sendung „Echo West“ (1. WDR-Hörfunk- Programm), die ab 1. Oktober im Rahmen der Regionalisierung um täglich eine Stunde verlängert wird, keimte der Gedanke: Warum, so fragten sich die Rundfunkleute, soll nicht einmal ein Stahlarbeiter zur Lage in der Stahlindustrie Stellung beziehen, warum soll nicht eine Hausfrau die Lebensmittelpreise aufs Korn nehmen oder ein Landwirt die unzuverlässigen Wettervorhersagen geißeln? Sollte die Idee verwirklicht werden, so wäre der WDR der erste Sender in der Bundesrepublzk, der die Zeitläufte von „Normalverbrauchern“ kommentieren läßt.

Claus-Werner Koch, Leiter von „Echo West“, wendet sich schon jetzt gegen Bevormundung durch die Funk-Profis: „Wenn s nach mir geht, können die Leute drei bis vier Minuten lang frei von der Leber weg reden“. Koch zum Ablauf: „Wenn zum Beispiel Stahlarbeiter demonstrieren, könnten wir hingehen und fragen: Wer hat Lust

zu sagen, wo der Schuh drückt? Ob der Kommentar dann auf der Straße oder im Studio gesprochen wird, ist Nebensache.“ Koch hält das alles „eigentlich nicht für eine große Sensation, sondern für selbstverständlich. Der Stahlarbeiter weiß doch in seinem Metier Bescheid“. Also könne er auch eine fundierte Meinung äußern.

Überhaupt solle „EchoWest“ (durchschnittliche Hörerzahl pro Tag derzeit bei einer halben Million) attraktiver, nämlich „hörernah“ gestaltet werden. Koch: „Wir bosseln noch daran“. Jedenfalls werde man das Team ab 1. Oktober öfter als bisher mit dem Mikrophon vor Ort antreffen, es solle mehr Aktionen geben, an denen sich die Hörer beteiligen können und jedes „Echo West“ solle einem Schwerpunkt-Thema gewidmet sein.




Bilderreise durch die Sowjetunion

Von Bernd Berke

Dortmund. Die Auslandskulturtage der Stadt Dortmund mit der Sowjetunion sind ab heute auch im Ostwall-Museum präsent, und zwar gleich mit einer Doppelausstellung über sowjetische Landschaftsmalerei der letzten Jahre sowie mit sowjetischen Plakaten aus der Zeit zwischen 1918 und 1982.

103 Landschaftsbilder von 78 Künstlern sind in der ersten Abteilung zu sehen. Schnell wird dem Betrachter deutlich, daß es hier weniger um künstlerische Genietaten oder zukunftsweisende Gestaltungen geht. Man kann aber anhand der Bilder in der Phantasie eine „Reise durch die Sowjetunion“ nachvollziehen.

Ganz bewußt wurden Werke aus allen 15 Sowjetrepubliken zusammengestellt, die lediglich gemeinsam haben, daß sie Landschaften zeigen. Fast sämtliche Stilrichtungen der Malerei sind vertreten: Impressionistische Bilder hängen neben expressionistisehen, eher kunstgewerblich anmutende Idyllen neben Beispielen abstrakter Formgebung oder solchen, die an westlichen Foto-Realismus erinnern.

Die Unterschiedlichkeit der Landschaften prägt sich auch den Bildern ein: Während Werke aus Georgien farben- und lebensfroh wirken, stellen Künstler aus Estland oder Moskau zuweilen auch schon mal Überdruß an der modernen Zivilisation und zerstörter Landschaft dar. Die meisten Werke haben eher trocken-akademischen oder Plagiatcharakter, vermitteln jedoch indirekt einiges über den Sowjet-Alltag.

Im oberen Stockwerk hängen 151 sowjetische Plakate, hauptsächlich Ankündigungen für Kino- und Theaterveranstaltungen. Während die Plakatkunst aus der Zeit kurz nach 1918 noch revolutionären Optimismus und Bewegung ausdrückt, erstarren auch hier die Formen mit der Zeit zu einem eher langweilig-einheitlichen Schulstil. Dennoch gibt es interessante Entdeckungen zu machen, so etwa das Originalplakat zum berühmten Eisenstein-Film „Panzerkreuzer Potemkin“ oder sowjetische Darstellungen zu westlichen Filmen (z.B. „Wir Wunderkinder“). Beide Ausstellungen sind bis zum 3. Juli geöffnet.




6000 eingewanderte Wörter – Paderborner Professor Broder Carstensen sammelt Belege für Anglizismen-Wälzer

Von Bernd Berke

Paderborn. Surfen bleibt Surfen. Der Versuch, die englische Sportbenennung mit dem Monsterwort „Brettsegeln“ einzudeutschen, darf als gescheitert gelten. Gescheitert sind auch die meisten anderen Versuche, die Flut von Anglizismen (Wortübernahmen und Entlehnungen aus dem Englischen) einzudämmen.

Bei vielen Worten merkt man inzwischen gar nicht mehr, daß sie von der britischen Insel oder aus den USA stammen. Der Paderborner Anglistik-Professor ler Carstensen (56), seit 20 Jahren eifriger Sammler von Angliszismen, arbeitet derzeit an einem Wörterbuch, mit dem er 6000 „eingewanderte“ Wörter anhand von 80 000 Beispielen (vor allem Belege aus Zeitungen) dokumentieren will.

Dem Wälzer, der in drei Jahren in einem Berliner Verlag herauskommen soll, wird man unter anderem entnehmen können, daß das Wort „Streß“ von einem kanadischem Arzt im Umlauf gesetzt wurde oder daß der Ausdruck „understatement“ (etwa: „Untertreibung“) seit 1956 im Schriftdeutsch gebräuchlich ist.

Das bislang jüngste englische Wort, das Eingang ins Deutsche fand, ist wieder ein sportlicher Begriff, nämlich „Aerobic“. Prof. Carstensen zur WR: „Für schnelle Verbreitung hat das ,Sportstudio‘ gesorgt, als Sydne Rome ihre ,Aerobic“-Kostprobe gab“. „Aerobic“ habe damit die Bezeichnung für den Spukgeist in der fränkischen Zahnarztpraxis, „Chopper“, als aktuellste Neuprägung abgelöst.

Doch nicht nur im Tagesgeschehen recherchierte der Paderborner Professor, sondern auch in der Geschichte: „Die ersten Wörter wurden schon im 13. Jahrhundert aus dem Englischen ins Deutsche übernommen.“ Durch Handelskontakte kamen vor allem via Lübeck und Hamburg Worte aus dem Seefahrtsbereich aufs Festland, zunächst „Boot“, dann „Lotse“, „Kutter“, „Schoner“ und andere, denen man heute die Herkunft kaum anhört.

Eine weitere Welle britischer Wendungen bereicherte das Deutsche zur Zeit der Shakespeare-Übersetzungen. So ist etwa der Ausdruck „Morgenluft wittern“ aus der direkten Übersetzung einer Shakespeare-Zeile hervor gegangen. Vollends öffneten sich die Sprachschleusen mit der britischen und amerikanischen Besatzung nach dem Zweiten Weltkrieg. Selbst so „deutsch“ klingende technische Fachtermini wie „Halbleiter“ oder „Flüssigkeitskristall“ erweisen sich als Lehnübersetzungen aus dem Englischen.

Während in der Schweiz und in Österreich der Gebrauch englischer Wörter weitgehend mit dem in der Bundesrepublik übereinstimmt, sind die Unterschiede zur DDR groß. Aus naheliegenden Gründen überwiegen dort russische Fremdwörter. Seltsamerweise gibt es dort aber eine englische Bezeichnung für „Brathähnchen“, die bei uns unbekannt ist. nämlich „broiler“. Das Hacksteak-Brötchen „Hamburger“, das sich auch im zweiten deutschen Staat „kulinarisch“ wie sprachlich einbürgerte, versuchte man – wohl auf halbamtlichen Wege – durch „Grilletta“ zu ersetzen.

Befragt, ob denn die deutsche Sprache ang6sichts der vielen Anglizismen allmählich verschwinden werde, antwortet Broder Carstensen lakonisch: „Ach, I wo!“




Bühnen-Effekte aus der Trickkiste – Wuppertaler Premiere „Alice im Wunderland“

Von Bernd Berke

Wuppertal. Im Wunderland der Theater-Effekte glaubte man sich zeitweise zu befinden, und das war gar nicht verwunderlich: Auf dem Programm der Wuppertaler Bühnen stand schließlich die Premiere von „Alice im Wunderland“.

John V. Baer und Götz Burger zeichneten für Dramatisierung und Inszenierung der Geschichte verantwortlich. Lewis Carrolls 1864 für ein Kind geschriebene Erzählung ist – wie so vieles, was Kindern in Buchform angedient wird – eigentlich eine hochintellektuelle Spielerei. Da geht es zum Beispiel um Überlappungen von Traum und Wirklichkeit. Mathematik- und Logik-Dozent Carroll konnte sein Metier kaum verleugnen. Sein Welterfolg behandelt – im Gewand des Märchens – Probleme der Wahrnehmung, der Identität und der Erkenntnis, die bisweilen zu aberwitzigem Nonsens vorangetrieben werden.

Sehr zweifelhaft, ob die etwa fünf- bis achtjährigen Kinder, die einen Großteil des Wuppertaler Premierenpublikums ausmachten, sich an solchem philosophischen und psychologischen Stoff laben können. Sie wurden aber durch optische „Zaubereien“, zuweilen an Effekthascherei grenzende Licht- und Kulissenspiele und sehr phantasievolle Kostüme entschädigt. Gerd Rohde (Bühnenbild) und Gralf-Edzard Habben (Kostüme) griffen ganz tief in ihre Trickkiste. Zwisehen stroboskop-zerhackten, unwirklichen Szenen und üppigen Blumenarrangements konnte man sich so richtig sattsehen. Mit der Ausstattung der Szenen hielt man sich eng an die in der Taschenbuchausgabe abgedruckten Illustrationen von John Tenniel.

Die zehnjährige Kirsten Bartholmai in der Titelrolle (sie wird sich im Lauf der Zeit mit Nadine Kettler abwechseln) verband kindliche Spontanität mit erstaunlicher Textsicherheit. Aus dem Ensemble jemanden besonders hervorheben, wäre ungerecht, da die Gruppenszenen mit grotesken Tierfiguren eben auf gemeinsamer Leistung basieren.

Immerhin fiel Michael Wittenborn auf, der als Frosch-Lakai bzw. als Hutmacher sein Talent zur slapstickreifen Darstellung entfaltete. Meist gerieten die Gruppenszenen recht lebendig. Allzu lebendig für manche. Bei einer Tanzeinlage rief ein Junge aus dem Publikum: „Ich dachte, wir wär’n im Theater und nicht in der Disco“.

Lediglich zwei Szenen (die mit dem „ewigen Fünf-UhrTee“ und die mit der „falschen Suppenschildkröte“) zogen sich zäh dahin. Viele Kinder begannen hier unruhig auf ihren Stühlen zu rutschen, manche murrten auch. Die Gesamtspieldauer von zwei Stunden verlangte ihnen eh viel Geduld ab.

Bemerkung am Rande: Das Programmplakat bringt nur reichlich hochgestochene Texte für Erwachsene – vom Essay Christian Enzensbergers bis hin zum Zitat des Surrealisten Breton. Was sollen Kinder, für die diese Aufführung doch gedacht ist, damit anfangen?




Polizist debütiert als Romanautor – Reinhard Bottländer erzählt die Geschichte einer Flucht

Von Bernd Berke

Im Revier. Als „Kind des Ruhrgebiets“ bezeichnet er sich, als einen, der „aus ganz einfachen Verhältnissen kommt“. Sein Vater war Bergmann in Bochum, Reinhard Bottländer selbst ist Polizist geworden – und Schriftsteller.

In diesen Tagen erscheint im Recklinghäuser Georg Bitter Verlag sein erster Roman: „Konrad oder die lange Flucht“. Für die Geschichte eines 15jährigen, der aus dem Erziehungsheim flieht und der auch „draußen“ nur mit den Randgruppen der Gesellschaft Kontakt bekommt, konnte der 34jährige Autor manche der Erfahrungen verwenden, die er in der Fahndungsabteilung der Bochumer Kripo machte.

Bottländer, der seit kurzem in Dortmund wohnt und hier für den höheren Polizeidienst büffelt, debütierte 1979 mit einer Sammlung von Kurzgeschichten aus dem Polizeialltag. Hans Sigismund von Buch, Lektor des Bitter-Verlags, griff damals sofort zu, obwohl der Autor noch völlig unbekannt war. Von Buch: „Über die Polizei wird sonst fast nur Kritisches veröffentlicht. Hier schilderte endlich mal einer die Sache von der anderen Seite aus.“ Bottländer über die Reaktion seiner Kollegen: „Manche waren neidisch, aber die meisten fanden es gut, daß einer von uns die Wirklichkeit darstellt. Sonst kennt man ja nur superkluge und erbarmungslose Fahnder vom Schlage eines Jerry Cotton.“

Dennoch: Reinhard Bottländer möchte auf Dauer weg vom Image des „schreibenden Polizisten“. Deshalb habe er sich bei seinem neuen Buch auch sehr mit einschlägigen Szenen zurückgehalten: „Da fährt praktisch nur einmal ein Streifenwagen vorbei.“ Stattdessen habe er versucht, die menschlich-psychologische Seite eines gescheiterten Lebens zu schildern. Bottländer: „Ich will keinen Täter entschuldigen, aber hinter jedem Verbrechen steht eine Geschichte, die nicht einfach mit einer Festnahme erledigt ist.“

Kann sich der Vater zweier Kinder vorstellen, einmal die Uniform an den Nagel zu hängen und nur noch zu schreiben? Bottländer: „Das Risiko will ich meiner Familie noch nicht zumuten. Vielleicht, wenn ich 52 Jahre alt bin und Anspruch auf eine höhere Pension habe.“




Von der Heydt-Preis fällt Sparkurs zum Opfer – Initiative will Auszeichnung retten

Von Bernd Berke

Wuppertal. Großes Entsetzen in der Wuppertaler Kulturszene: Der seit 1950 jährlich verliehene Von der Heydt-Preis (bisherige Preisträger u.a.: Heinrich Böll und die Choreographin Pina Bausch) soll diesmal nicht vergeben werden – aus Sparsamkeitsgründen.

Empfahl die Stadtverwaltung noch ein maßvolles Vorgehen, nämlich eine Reduzierung der Preissummen (bisher 10 000 DM für den Haupt-, 5000 DM für den Förderpreis), so ging die Sparkommission des Rates ans „Eingemachte“ und beschloß, den Preis in diesem Jahr ganz zu streichen. Wuppertals Kulturamtsleiter Hans-Hermann Schauerte verteidigt den harten Schnitt: „Schließlich hatten wir ein 22-Millionen-Loch im Etat.“

Ganz anderer Meinung sind die Gründer der „Initiative Kulturpreis“, die sich jetzt gebildet hat. Gründungsmitglied Peter Schmitz, selbst Künstler: „Das ist typisch. Wenn gespart werden muß, wird immer zuerst im Theater die Heizung abgedreht.“ Nach Auskunft von Schmitz zieht die Stadt Wuppertal aus dem Vermächtnis des steinreichen Ehrenbürgers Eduard von der Heydt Jahr für Jahr 400 000 DM. Schmitz findet es daher peinlich, daß der vergleichsweise geringe Betrag für den Preis angeblich nicht mehr aufgebracht werden kann, und poltert: „Man hätte die Repräsentationskosten senken sollen, die bei der Preisverleihung entstehen. Da macht die Stadt mit kaltem Buffet und Mozart-Musik doch vorwiegend Eigenreklame.“

Die „Initiative Kulturpreis“ sann auf Abhilfe und will nun eine eigene Auszeichnung vergeben. Um die zu finanzieren, hat man eine Spendenaktion gestartet. Die großzügigen Spender sollen ein Mitspracherecht erhalten, wenn der Preisträger gekürt wird. Kulturamtsleiter Schauerte ist gar nicht böse: „Ich begrüße diese private Aktion; sie nimmt uns eine Sorge ab.“ Freilich: Wenn die Idee allzu gut einschlagen sollte, könnten sich einige Sparapostel bemüßigt sehen, den Preis auch im nächsten Jahr unter den Tisch fallen zu lassen. Motto: „Die Initiative wird’s schon richten“.

Inzwischen „bröckelt“ das Kuratorium zur Verleihung des Von der Heydt-Preises. Aus Protest gegen die Sparpraxis trat der in Wuppertal bekannte Ex-Chefarzt und Kunstsammler Prof. Dr. O. E. Riecker aus, um sich sogleich der „Initiative Kulturpreis“ anzuschließen.

Vielleicht beruhigen sich aber schon im nächsten Jahr die Gemüter: Wie aus dem Kulturamt zu erfahren war, ist im Haushaltsansatz für das Jahr 1982 ein Posten für den Von der Heydt-Preis vorgesehen, wenn auch noch nicht „abgesegnet“. So hoch wie ehedem werden die Preise allerdings 1982 auf keinen Fall dotiert sein.




„Freie Schule“: Kinder ergreifen erstaunlich schnell die Initiative – Unterricht hat trotz Ablehnung des Kultusministeriums begonnen

Von Bernd Berke

Bochum. Die ersten Unterrichtsstunden in der „Freien Schule“ Bochum-Dahlhausen sind vorüber. Wie berichtet, begann dort am Montag – einer Ablehnung des Düsseldorfer Kultusministeriums zum Trotz – der „Schulbetrieb“. Was tat sich ini den ersten Tagen?

Die Startphase ist mit derjenigen einer Regelschule kaum vergleichbar: Die neun Jungen und Mädchen im Alter von zehn bis dreizehn Jahren bekommen in ersten Woche Gelegenheit, einander auf ungezwungene, spontane Weise kennenzulernen. Bisher an strenge Schulrituale gewöhnt, nutzten die Kinder diese Chance besonders am ersten Tag weidlich aus. Sie ergriffen sogleich Besitz von der schönen alten Villa. Gitarren und Bongotrommeln wurden ausgiebig traktiert. Wasserspritzflaschen aus dem Chemiezimmer blieben auch nicht unbeachtet.

Chaotisch ging es aber nicht zu. Bereits am zweiten Tag, am Dienstag, hatten sich die Kinder „ausgetobt“. Schon kamen erste Vorschläge von ihrer Seite. Daraus entstand das erste Projekt, eine Fahrradwerkstatt, in der die Kinder schrottreife Drahtesel wieder fahrtüchtig machen. Andere Aktivitäten: Modellieren in Ton, geminsames Kochen und Einkaufen sowie „Büroarbeiten“. Was andernorts das Schulsekretariat macht, erledigten gestern auf eigenen Wunsch zwei der Kinder: Sie legten eine Adressenkartei an.

Auch Führungen durch das in harter Eigenarbeit renovierte Haus übernehmen nicht etwa die Erwachsenen. Beim Rundgang durch die Räume meint die kleine Silke:„Mir gefällt es hier ganz gut. Nur langsam müßten wir auch mal etwas tun, etwas fürs Leben lernen. Mathematik, Englisch und so…“

Anfangs übernahmen die Mädchen das Kochen…

Die drei Mädchen, die sich gegen eine „Übermacht“ von neun Jungen behaupten müssen (worauf die Lehrer großen Wert legen), haben den ersten, erfolgreich bestandenen Konflikt schon hinter sich. Anfangs übernahmen sie, ihrer bisherigen Erziehung entsprechend, freiwillig das Kochen. Den Jungen war offenbar ganz wohl dabei, denn als es an den Abwasch ging, forderten sie, daß der auch von den Mädchen gemacht werden solle. Die aber wehrten sich energisch. Michaela sprach ihnen aus dem Herzen: „Ich tu keinen Handschlag mehr!“ Inzwischen schwingen auch die Jungen den Kochlöffel.

Henning Kese, der den Kindem demnächst Schwimm- und anderen Sportuntemcht geben wird, freut sich darüber, daß die Kinder schon erstaunlich viel Eigeninitiative entwickeln. Ein Junge wolle in Kürze sogar einen Fotokurs in eigener Regie anbieten. Trotz der vom Kultusministerium verweigerten Unterstützung seien die finanziellen Grundlagen der „Freien Schule“ für mindestens ein Jahr gesichert.

Spenden und Darlehen gingen reichlich ein, auch die alternative Berliner Organisation „Netzwerk“ beteilige sich. Dennoch werde man in der nächsten Woche Klage gegen den abschlägigen Bescheid aus Düsseldorf einreichen – beim Verwaltungsgericht Gelsenkirchen.

Henning Kese: „Da das Ministerium die Erlaubnis nicht erteilt hat, müssen die Eltern der verbleibenden zwölf Kinder mit Bußgeldbescheiden rechnen. Bevor die bezahlt werden, schöpfen wir aber alle juristischen Mittel aus.“ Grund für die Bußgelddrohung: Nach ministerieller Leseart genügen die Bochumer Kinder der Schulpflicht nicht. Durch solche Komplikationen waren die Eltern von 15 Schülern so verunsichert. daß sie ihre Sprößlinge vorsichtshalber doch auf eine Regelschule schickten.

Dennoch gibt man in Bochum nicht auf. Pläne für die nächste Zeit sind schon geschmiedet. In der kommenden Woche gibt’s eim gemeinsamen Schulausflug auf einen Bauernhof bei Göttingen. Außerdem hat man Kontakt zu Ausländerorganisationen auf genommen, weil man auch an der Aufnahme türkischer Kinder interessiert ist. Im Arbeitervorort Dahlhausen leben viele türkische Familien.

Außerdem suchen die zwei Ganztagslehrer, die mit etwa zwei Dritteln des üblichen Lehrergehalts auskommen müssen, und die sieben ehrenamtlichen Helfer noch eine Schwester-Schule in Großbritannien, damit der Englischunterricht durch Besuche auf der Insel ergänzt werden kann.