Die Sache mit den zwei roten Kühlschränken

Steht der da einfach so auf der Straße herum….

Hin und wieder macht sich der Mensch Gedanken über den Zufall, fühle er sich nun vom selbigen begünstigt oder nicht. Mir ist gestern etwas „zugefallen“, was in der Wahrscheinlichkeitsrechnung wohl einem ordentlichen Lotterie-Gewinn gleichkäme.

Der Reihe nach: Nach etlichen Jahren musste ein neuer Kühlschrank her. Das alte Gerät (Retro-Look, kirschrot) wurde bei der Lieferung des neuen zur fachgerechten Entsorgung mitgenommen. Über Nacht stand es abholbereit und aufgetaut in der Küche, anderntags habe ich es noch einmal schnell fotografiert. Man hat ja so manchen Einkauf und manche Mahlzeit miteinander zugebracht. Kein Wunder, dass einst Axel Hacke eine veritable Beziehung zu seinem Kühlschrank namens Bosch gepflegt hat.

…und erinnert einen an den eigenen, der Stunden zuvor geholt wurde. (Fotos: Bernd Berke)

So weit, so alltäglich. Nachmittags hatte ich einen Termin in der Innenstadt. Auf dem Fußweg zur S-Bahn stand vor einer Haustür ein abholbereiter Kühlschrank – und siehe da: ebenso im Nostalgie-Design und ebenso kirschrot, allerdings ein anderes Fabrikat. Und Türanschlag rechts statt links. Aber das sind nur Petitessen.

Welch ein unwahrscheinlicher Zufall! Nie zuvor im Leben habe ich einen roten Vintage-Kühlschrank vor einem Haus stehen sehen, ich schwör‘. Nur jetzt, am Tage, da wir selbst einen solchen abholen ließen. Da steht der andere auf einmal (einige Kilometer entfernt) da wie ein Mahnmal des Zufalls. Was will er mir wohl bedeuten?

Oder sollte es sich etwa so verhalten, dass ich vormals nie auf derlei Kühlschränke geachtet habe, die im Laufe der Jahre dutzendweise herumgestanden hätten? Dass es nur eine Frage der anders gelenkten Aufmerksamkeit war? Wechselst Du selbst einen Kühlschrank, nimmst du eher andere Kühlschränke wahr. Das mag ja sein. Aber Retro und von derselben Farbe? Nein, nein, kommt mir bloß nicht pragmatisch und prosaisch!

Schade eigentlich, dass es – aus unerfindlichen Gründen – kein Kühlschrank-Lotto gibt. Unter notarieller Aufsicht, versteht sich. Ich würde jetzt zu den Hauptgewinnern gehören.* Zahlbar per sofort ohne Abzug.

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*Würde, würde Fahrradkette




Zum Tod von Claus Peymann – ein paar Worte von „damals“

Claus Peymann, seinerzeit Intendant des Berliner Ensembles, im Mai 2013 bei der Berliner Konferenz „Theater und Netz“ der Heinrich-Böll-Stiftung. (Wikimedia Commons, Foto Stephan Röhl) – Link zur Lizenz:
https://www.creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Mit Claus Peymann (geb. 7. Juni 1937 in Bremen, gest. 16. Juli 2025 in Berlin-Köpenick) ist einer der wirkmächtigsten deutschsprachigen Theatermacher der letzten 60 Jahre gestorben. Hier noch einmal eine kurze Würdigung zu seinem 60. Geburtstag, erschienen in der Westfälischen Rundschau und eben auch schon 28 Jahre her. Um jetzt spontan einen Nachruf zu schreiben, wenn nichts von langer Hand Vorbereitetes in der Schublade (sprich: Festplatte) schlummert, ist „man“ denn doch zu bewegt. Auch darum dieser Rückgriff:

Von Bernd Berke

Es war die „Publikumsbeschimpfung“, mit der Claus Peymann erstmals weithin Aufsehen erregte. Doch der Regisseur, der 1966 Peter Handkes Stück im Frankfurter Theater am Turm uraufführte, hat sich eigentlich nie mit den Zuschauern, sondern viel lieber mit Politikern angelegt. Morgen wird Peymann, noch Intendant der Wiener „Burg“, ab 1999 dann Chef des Berliner Ensembles, 60 Jahre alt.

Theaterkundige Revierbewohner trauern natürlich besonders Peymanns Bochumer Ära (1979 bis 1986) nach. Als er nach Wien wechselte, gab es sogar Leute, die für seine Premieren bis an die Donau pilgerten – ganz ähnlich, wie ihm Anhänger aus Stuttgart (wo er von 1974 bis 1979 als Schauspieldirektor arbeitete) nach Bochum nachgereist waren.

Peymann hat vermeintlich staubtrockenen Klassikern wie Goethes „Iphigenie“ frisches Leben eingehaucht. Stücke, die man für gar nicht mehr spielbar hielt, etwa Kleists „Hermannsschlacht“, gerieten unter seiner Ägide zu aufregenden Abenteuern. Doch das Theater verdankt Peymann auch wegweisende Uraufführungen, zumal der Stücke von Thomas Bernhard („Vor dem Ruhestand“, „Minetti“ , „Ritter, Dene, Voss“) und Peter Handke („Der Ritt über den Bodensee“, „Zurüstungen für die Unsterblichkeit“).

Trunken vor lauter Spielfreude

Ohne grandiose Schauspieler wie Gert Voss, Kirsten Dene, Traugott Buhre oder Martin Schwab, wäre Peymann wohl nicht erklärter Favorit der Feuilletons geworden. Doch eine seiner größten Leistungen besteht ja just darin, hochkarätige Ensembles zusammengeführt, inspiriert und lange beieinander gehalten zu haben. Peymanns oft herrlich spieltrunkener Inszenierungsstil war nie „Regietheater“ in dem Sinne, daß die Darsteller durch starre Konzepte an den Rand gedrängt worden wären.

Feinde hat er sich auch gemacht. Als er in Stuttgart Spenden für die zahnärztliche Behandlung der inhaftierten RAF-Terroristin Gudrun Ensslin sammelte, kam es zum politischen Eklat. Mißtrauisch empfing man ihn später auch in Wien. Österreichs Kulturkonservative fürchteten, der „Piefke“ Peymann (Sohn eines Bremer Studienrats) werde die Traditionen am Burgtheater gefährden.

Wie er auch das Burgtheater eroberte

Immerhin: Er hob die Preise für bessere Plätze drastisch an und verbilligte die anderen. Das galt besonders der giftigen Wiener Presse schon als sozialistische Untat. Doch als Peymann das Publikum mit grandiosen Inszenierungen wie „Richard III.“ von Shakespeare auf seine Seite zog, konnte man ihm nicht mehr so viel anhaben. Nun wagte er es auch, im November 1988 (zum 100jährigen Bestehen des Burgtheaters) Thomas Bernhards „Heldenplatz“ auf die Bühne zu bringen, jenes Stück, in dem die NS-lastige Historie des Hauses bohrend zur Sprache kam.

Im „Heldenplatz“-Umfeld kam es gar zu einer Art Regierungskrise in Wien. So etwas gibt es eben nur in Österreich, wo Theater und Oper eine geradezu staatsbildende Rolle spielen wie sonst wohl nirgendwo auf der Welt. Vielleicht wird Peymann einen Hauch dieser Atmosphäre im nüchternen Berlin vermissen.




Wenn alles verloren geht – Marlene Streeruwitz‘ Roman „Auflösungen“

Marlene Streeruwitz ist eine der politisch profiliertesten Autorinnen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Ihr neuer Roman heißt „Auflösungen“.  Denn alles löst sich auf: gesellschaftliche Zusammenhänge, soziale Strukturen, politische Gewissheiten, kulturelle Übereinkünfte, familiäre Beziehungen.

Der Soziologe Andreas Reckwitz hat kürzlich den „Verlust“ als „Grundproblem der Moderne“ beschrieben. Der Roman von Marlene Streeruwitz ist der Versuch, das Gefühl des Verlusts literarisch einzufangen und zu demonstrieren, wie ein Individuum komplett aus der Bahn geworfen wird, zu einem modernen weiblichen Odysseus mutiert und nirgendwo mehr Halt und Heimat findet.

In den Ruinen ihres Lebens

Nina Wagner lebt als Lyrikerin in Wien und steht vor den Ruinen ihres Lebens. Ihre Ehe ist geschieden, ihre Tochter will kaum noch etwas von ihr wissen. Ihre Versuche, sich als bisexuelle Freu mit erotisch wechselnden Interessen wieder frisch zu verlieben, scheitern kläglich. Die Marotten und Moden der Kunst-Schickeria gehen ihr genauso auf die Nerven wie der Sumpf aus Korruption und Vetternwirtschaft in der Politik. Sie will einen Neuanfang, nimmt im März 2024 einen Lehrauftrag an der Uni in New York an, hofft, ihrem Leben eine Wendung zum Positiven geben zu können. Doch sie kommt vom Regen in die Traufe: Denn auch Amerika ist längst in Auflösung begriffen und reißt sie in einen aberwitzigen Strudel aus Verlust und Angst, bringt sie in einen Zustand wahnhafter Verwirrung, der ihre Gedanken untergräbt und auch ihre Sprache regelrecht auflöst.

Irrfahrt durchs höllische Labyrinth

Die Suche nach ihrem Apartment gleicht einer Irrfahrt durch ein höllisches Labyrinth. An der Uni herrscht seit dem Massaker der Hamas und dem Krieg in Gaza ein Klima der Angst und Überwachung. Durch ihren Kopf flackern Erinnerungen an ihre schwierige Kindheit und ihre kaputte Ehe, sie vermischen sich mit sexuellen Träumen und erotischen Obsessionen, werden übermalt von den aktuellen Erlebnissen. Freunde haben sich ins Private zurück gezogen, ihre Studenten fürchten sich, offen ihre Meinung zu sagen.

Wochenlang versucht Nina, ihrem neuen Alltag einen festen Rahmen zu verleihen. Dann stürzt sie abrupt ins absolute Chaos und gerät, nachdem sie auf der Straße überfallen wurde, in einen bizarren Höllentrip, auf dem ihr kuriose Typen begegnen und sie vor Schmerzen kaum denken kann.

Sturzflut aus Gedanken und Gefühlen

Die Erzählerin ist immer ganz nah bei Nina, scheint in ihrem Kopf zu leben. Die Sprache ist so abgehackt und brüchig wie alles, was gerade ungefiltert durch Ninas Gedankenwelt und Gefühlschaos rauscht. Die Sätze bestehen manchmal aus nur einem einzigen Wort. Oft haben sie keine Verben und keine Richtung. Dann muss der Leser der Sturzflut aus krausen Gedanken und ambivalenten Gefühlen einen Sinn abringen. Eine mühsame, aber lohnende Lektüre, spürt man doch, dass die Autorin uns sprachlich fragil und intellektuell ungeschützt mit den Grundproblemen der Moderne konfrontieren will. Man braucht starke Nerven und großes Durchhaltevermögen.

Marlene Streeruwitz: „Auflösungen“. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2025, 417 Seiten, 28 Euro.




Zukunft noch im Nebel: Die Revierpassagen wünschen alles Gute für 2025!

Dortmund Hauptfriedhof, 27. Dezember 2024, zur Mittagszeit. (Foto: Bernd Berke)

Noch liegt im Nebel, was das neue Jahr bringen wird. Aber bald wird sich der Dunst ein wenig lichten – und wir werden schon sehen (hoffentlich auch einige Verheißungen).

Eins steht jetzt schon fest: Wir sind auf dem besten Wege, das erste Viertel des 21. Jahrhunderts hinter uns zu bringen. So oder so.




Die Revierpassagen wünschen frohe Festtage




Auf Augenhöhe: Lydia Steier stellt sich mit „Aida“ der legendären Regie von Hans Neuenfels

„Aida“ in Frankfurt: vorne in der Bildmitte Nicholas Brownlee (Amonasro) und Guanqun Yu (die Aida der Premiere), dahinter Claudia Mahnke (Amneris; in rotem Kleid), umgeben vom Ensemble. (Foto: Barbara Alumüller)

Eben noch besang die ägyptische Gesellschaft Ruhm und Ehre, da wird das Opernhaus dunkel und durch die Schwärze dröhnen Explosionen, Granateneinschläge, Geschützfeuer und tuckernde Panzermotoren.

Lydia Steier lässt in ihrer Frankfurter Neuinszenierung von Giuseppe Verdis „Aida“ den Krieg nicht zum beschaulichen Kostümfest verniedlichen. Sie beschwört ihn mit Geräuschen im Finstern. Beklemmend, unheimlich, und für manchen Zuschauer unbehaglich nahe rückend.

Radikal ist die Inszenierung der amerikanischen Regisseurin auch, wenn es um die (Über-)Zeichnung einer verkommenen, gealtert erstarrten Gesellschaft geht. Da marschieren keine knackigen Soldaten auf, wenn Radamès zum Feldherrn gekürt wird. Da versammelt sich eine Horde seniler Ordensträger, teilweise in den Rollstuhl gebannt, teilweise nur noch vom Sauerstoffgerät inspiriert, um mit „gloria“ und „onore“ den Krieg zu verklären und in eine zittrige Ekstase gereckter Greisenfäuste zu geraten.

Den Krieg muss Hausmeister Radamès erledigen, eher ein Zufallswahl, weil er gerade mit einem Wagen in den Raum fährt, um Fußbodenpaneele zu verlegen. Denn wir befinden uns nicht zwischen Palmen und Pyramiden, sondern in einem abgeranzten Saal (Bühne: Katharina Schlipf), wie er in einem Kolonialgebäude in Kairo vorfindbar sein könnte: Art-Deco-Lampen, die nicht mehr funktionieren, eine eingebrochene Decke mit einer Galerie, von der später der König und seine Entourage herabschaut, siffige Fliesen mit Schimmelrändern.

Erinnerung an „Putzeimer-Aida“ von 1981

Guanqun Yu (die Aida der Premiere) und Stefano La Colla (Radamès) in der Finalszene der Oper. (Foto: Barbara Alumüller)

Die vergreiste Gesellschaft hält sich Jugend nur in uniformierter Form: Junge Männer sind da nicht präsent, aber ein Kind: Mehrfach taucht ein kleiner Junge in der Uniform von Radamès auf – eine Metapher für die Seele des Heerführers oder (mehr noch) ein Sinnbild einer Jugend, die gemeuchelt und als Opfer davongetragen wird? In solchen Momenten ist Steiers detailverliebte Inszenierung in Gefahr, den Fokus zu verlieren und sich erläuternd auf Nebenkriegsschauplätzen zu verzetteln.

Präsent sind Kohorten junger Frauen, alle in adretten rosa Dienstmädchen-Kostümen und einheitlichen lackschwarzen Frisuren, die an brave japanische Manga-Schulmädchen erinnern. Am Anfang schrubben zwei von ihnen den Boden – eine ironische Anspielung auf die „Putzeimer“-Aida von Hans Neuenfels, die 1981 an der Frankfurter Oper Furore machte und zu einer Ikone des Regietheaters wurde? In Steiers Setting gelten Unterordnung und Disziplin alles, das macht Amneris brutal deutlich: Ein Fehler beim Frisieren entfacht ihre Wut, der Schuldigen bohrt sie die Augen aus. Eine andere Dienstbotin, die ihr beim sadistischen Metzeln in den Arm fällt, wird eiskalt abgestochen.

Man glaubt es kaum, dass eine solche enthemmte Gewalttäterin später ihre andere Facette, die der verzweifelt liebenden Frau zeigen wird. Eine harte Szene, auf die im Zuschauerraum ein massiver Buhruf reagiert. In der Tat: Steier flüchtet nie in malerische Opern-Harmlosigkeiten; sie nimmt die Zumutungen, die im Libretto Antonio Ghislanzonis stehen, radikal ernst. Das hat sie bereits 2011 in Heidelberg getan: Die Frankfurter Version darf als überarbeitete Neuauflage der damals heftig diskutierten Inszenierung gelten.

Der aufgewertete Ramfis

Eines ihrer Kennzeichen ist die erheblich erweiterte und aufgewertete Figur des Ramfis, eine Paraderolle für Andreas Bauer Kanabas. Ein soignierter Herr in schwarzem Anzug, äußerlich gelassen mit der Zigarette zwischen den Lippen. Aber ein Mensch, der offenbar unter seinem inneren Zwiespalt leidet und mit der ideologischen Weltsicht seiner Klasse nicht einverstanden ist. Die Fernchöre der Tempelszene im ersten Akt erklingen eher im Kopf von Ramfis: Er windet sich, presst die Hände an die Schläfen, klagt, wimmert, greint vor innerem Schmerz. Wenn am Ende der Oper Amneris entkräftet nach „Frieden“ ruft, wirft er sich auf eine Bank, eine Pistole in der Hand. Ob er damit einen Alptraum beendet, bleibt offen.

Amneris wird in Steiers Version zur Hauptperson der Oper. Ihr Auftritt ist der eines Mannweibs, der graue Anzug mit roter Krawatte ist eine perfekte Mimikry, um in einer maskulin korsettierten Gesellschaft eine Rolle zu spielen. Nur die weißblonden Haare markieren den Rest einer auf ein sexuelles Signal reduzierten Weiblichkeit. Als es darum geht, Radamès für sich einzunehmen, wechselt sie auf eine andere Kleidungschiffre: Mit rotem Abendkleid und neuer Frisur wird sie zur femme fatale; später, in der Szene des Triumphs, tritt sie mit kunstvollen weißen Haaren auf wie eine der ältlichen Sponsorinnen der Met aus der amerikanischen Society. Siegfried Zoller hat einfach tolle Kostüme erdacht.

Mit der Mimikry ist es erst vorbei, als sie im vierten Akt um das Leben von Radamès kämpfen muss: Da wälzt sie sich im Unterrock in der schmutzigen Brühe, die im dritten Akt als Nil-Reminiszenz schwappt und in der die Leiche des von Radamès erschossenen Amonasro liegt. Der erhebt sich mit mahnendem Arm wie der tote Siegfried in der „Götterdämmerung“. Amneris küsst ihn, schließt ihn in die Arme – eine der sinistren, verstörenden Szenen, mit denen Steier ihre Inszenierung verrätselt. Ramfis „erlöst“ Amneris mit einer Drogenspritze. Im Triumphmarsch erhielt auch Radamès seinen Cocktail in den Nacken gespritzt: Er, der traumatisierte Kriegsheimkehrer, hat keine so rechte Lust zu feiern; nach der Injektion stimmt er begeistert willenlos in den kollektiven Jubel ein.

Bei Claudia Mahnke sitzt jedes Detail

Frankfurt hat das Glück, mit Claudia Mahnke eine Darstellerin für die Amneris zu haben, die in imponierender Detailschärfe die Entwicklung dieses Charakters auszuspielen weiß. Da sitzt jede Nuance zwischen höhnischem Lächeln, die Gesichtszüge verzerrender Wut, namenloser Verzweiflung, trostlosem Leid. Jeder Schritt, jede Bewegung der Arme und Hände, jedes Drehen des Kopfes hat seine Bedeutung, macht die Figur sprechend und lebendig.

Nur die Stimme Mahnkes will nicht so recht zur Vollblut-Italianità einer Amneris passen. Das Legato wird durch ein grießeliges Flackern aufgeraut, in der Attacke fehlt der strahlend-präsente Ton. Mahnke kann den Wechsel zum tiefen Register nicht gut verblenden, versucht, die sonore Contralto-Lage allzu brustig und ordinär einzuholen. Dazwischen gibt es, wenn es um entspanntes Singen geht, Momente cremiger Tonfülle und subtil ausgeleuchteter Passion.

Aida ist die Ukrainerin Ekaterina Sannikova, ein typischer Sopran aus dem Osten mit ausgeprägtem Vibrato und fleischiger, manchmal ins Gaumige rutschender Tongebung. Solche Stimmen werden heute – vielleicht auch mangels Alternativen – für „Verdi-Sängerinnen“ gehalten, haben aber weder die Finesse des Stils noch die Flexibilität in der Bildung des Tons. Am passendsten gelingen Sannikova „Numi pietà“ und „O patria mia“ im Dritten Akt, aber es fällt auch auf, dass sie die Phrasen nicht auf dem Atem blühen lassen kann und immer wieder zurücknimmt, wo sie den Ton befreit strömen lassen müsste.

Auch Stefano La Colla operiert an den Grenzen seiner stimmlichen Mittel. Er bemüht sich um Piano-Schattierungen. Aber an ein „b“ im Piano oder Diminuendo am Ende der Auftrittsarie des Radamès glaubt man eh nicht mehr. Dort, wo er Kraft einsetzt, sind das Ergebnis eher enge Trompetenstöße. Der ätherische Schluss der Oper wird auf diese Weise zu einem bemühten Vorwärtshangeln von Phrase zu Phrase, bei der die technische Bewältigung volle Aufmerksamkeit fordert – an schimmernde, zu verhaltenem lyrischem Leuchten gesteigerte Bögen darf man nicht denken.

Dynamische Strapazen

Nicholas Brownlee ist in Wagners „Meistersingern“ als Hans Sachs und in Giordanos „Fedora“ als klug gestaltender Sänger aufgefallen; dass er den Amonasro vor allem als Chance auffasst, voluminöse Stimmgewalt aufzufahren, enttäuscht. In den kürzeren Rollen: Kihwan Sim (König), Kudaibergen Abildin als eindrucksstarker Bote und Monika Buczkowska als Priesterin. Das am besuchten Abend arg lärmig aufspielende Opern- und Museumsorchester blieb unter seinem Niveau, das auch durch Dirigent Erik Nielsen nicht zu heben war: Neben gekonnt formulierte Details treten zu viele klanglich undifferenzierte und dynamisch strapazierte Stellen.

Das Triumphbild, in dem der Chor von Tilman Michael seinen großen Moment hat, gefällt sich in massiertem Gedröhn, das man vielleicht der martialischen Stimmung für angemessen halten mag, das aber Verdis gezieltes Arbeiten mit „banaler“ Musik eher im Getöse erstickt als offenbar macht. Mit Lydia Steiers „Aida“ hat die Frankfurter Oper wieder ein Repertoirestück, das in seiner entschiedenen Art, den Themen auf den Grund zu gehen, auf Augenhöhe mit Neuenfels‘ legendärer Inszenierung steht.

Weitere Vorstellungen: 17., 21., 26., 29. Dezember; 1., 13., 20. Januar 2024, Info: https://oper-frankfurt.de/de/spielplan/aida/

 




Das „Opernhaus des Jahres“ Frankfurt zeigt „Le Nozze di Figaro“ als schwerelose Komödie

Danylo Matviienko (Graf Almaviva) und Elena Villalón (Susanna) in der Frankfurter Neuinszenierung von Mozarts „Hochzeit des Figaro“. Foto: Barbara Aumüller

Im Frankfurter Opernhaus atmet alles Leichtigkeit. Thomas Guggeis, neuer GMD als Nachfolger von Sebastian Weigle dirigiert zum Einstand Wolfgang Amadeus Mozarts so leichtfüßiges wie gewichtiges Meisterwerk „Le Nozze di Figaro“.

Sein blonder Schopf hebt sich über die Brüstung des Grabens. Rötlich schimmern die Haare, rucken im Rhythmus eines Körpers, der dem Orchester Signale setzt. Eine Hand erscheint, dreht sich, winkt, zeigt, kommandiert, schlängelt sich um ein scheinbar ohne Widerstand bewegliches Gelenk. Das diskret alle Nuancen ausspielende Orchester zieht so federnd und flexibel mit, als würde Rossini den Musikern Bögen, Tasten, Klappen, Ventile und Schlägel führen.

Und Tilmann Köhlers Regie kleidet Beaumarchais‘ und da Pontes untergründig aufgeladene Komödie entsprechend in gewichtslose Beweglichkeit, bei der die jungen Darsteller mit Freude und Witz dabei sind. Bedeutung wird nicht vorgezeigt, nicht aufgesetzt, sondern ergibt sich wie von selbst aus der Bewegung eines Augenblicks, einem betonten Gang, einer kräftiger nuancierten Geste. Nichts wirkt schwer, wir blicken auf keine Atlanten, die das Gewölbe einer Deutung zu tragen hätten. Sogar das Finale lässt einen „glücklichen“ Ausgang offen: Der fast schon genetische Pessimismus heutigen Post-Regietheaters ist lustvoll mit leichter Hand gebannt. Das tut, gerade bei Mozarts quirliger, nervöser, manchmal hyperaktiver Musik richtig gut!

Schmerz in luftigem Gewand

Die sich beißenden Farben der Kostüme zeigen: keine Harmonie zwischen Graf und Gräfin (Adriana González). Foto: Barbara Aumüller

Das heißt nun nicht, dass Köhler die verschattete Seite der Medaille gnadenlos trivial wegleuchtet. Die kindlich-feine Verzweiflung der – reizend gesungenen – Barbarina Karolina Bengtssons lässt ahnen, wie sich Schmerz in luftiges Gewand hüllen kann. Und wenn die Gräfin in sattem Rot ihrer Robe auftritt, weht Melancholie durch den Saal. Thomas Guggeis wandelt dann die musikalischen Haltung hin zu einem träumerischen Impressionismus, den Adriana González auch vokal verströmt, wenn sie ihre Piano-Phrasen korrekt auf den Atem legt und sich nicht, wie manches Mal im Ensemble, auf zweifelhaft gelagerte Töne verlässt.

Aber auch dieser Hauch der anderen, der seelenmörderischen Welt strömt schwerelos: Die Qual enttäuschter Liebe trägt ja für die Außenwelt oft komische Züge; das Weh der bitteren Erkenntnis einer verdorbenen Lebenschance muss nicht zwangsläufig Betroffenheit oder Empathie auslösen. Das ordnet die Figur der Gräfin Rosina in die Komödie ein, macht aber ganz behutsam auch ihre endlose Einsamkeit spürbar. Wenn sich solche feinsten Charakter-Schattierungen vermitteln, ist Regie – auch ohne spektakulären Zugriff – gelungen.

Auch Thomas Guggeis kann im Graben getrost auf Spektakel verzichten. Er versteht die endlosen Achtelketten Mozarts als den dynamischen Triebimpuls der Musik, die vorwärts strebt, keine Pause einlegen will. Das passt zum Tempo der Musik, die ja „presto“ drängt und drängt und selbst im Innehalten den nächsten Impuls zum Lospreschen kaum zurückhalten kann. Guggeis macht aber auch deutlich, wo dieser hurtige Fluss auf Klippen stößt und scharfe Kanten umspülen muss: Die Bläser grätschen scharf dazwischen, wenn sich Figaro und Susanna in die Wolle kriegen, und die Dissonanzen im Umgang der Personen hallen nicht nur in Kostümen von Susanne Uhl, sondern auch im Orchester deutlich wider.

Ungeduldige Energie hat ihren Preis

Bei all der luftigen Präzision, dem ziselierten Tempo, das die Streicher des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters vorlegen, den lichtvollen Bläserakkorden und den sanft, aber mit Kontur getupften Staccati ist es kein Wunder, dass Guggeis nach dreieinhalb Stunden herzlich gefeiert wird. Aber man hört auch, dass der jugendliche Überschwang und die ungeduldige Energie einen Preis haben: Die Ouvertüre gerät überraschend flach, das Wechselspiel von Flöten und Klarinetten auf der einen aufsteigenden, Oboe und Horn auf der anderen absteigenden Seite bleibt beiläufig, die Doppelachtel der Bläser in Takt 16 und 17 sind nicht deutlich artikuliert, so wie zuvor die Violinen ihre Mini-Verzierungen nicht ausformen können.

„Presto“ ist, das ist den Mozart-Tempolimitgegnern á la Currentzis immer wieder vorzuhalten, eben eine Musizierhaltung, und keine Anweisung, sich das „Blaue Band“ der Orchesterrennen zu holen. Ein organischer Atem lässt selbst bei raschestem Puls Zeit, Melodie zu formen und Details zu modellieren. Schnappatmung verbreitet nur Hektik. Und das ist keine Frage der Virtuosität des Orchesters, dessen Mitglieder wohl in allen Taktschnellen den Kopf über Wasser halten können. Guggeis vergibt sich so manche Chance, den Klang plastisch zu gestalten, die Haltung zu wechseln, mit der Varietät des Tempos Ausdruck zu gestalten. Aber so, wie er dirigiert, wie er dann wieder den Sinn von Ensembles, von ariosen Momenten, von Rhythmus-Coups Mozarts erfasst, mag man getrost sagen: Kommt noch!

Was Guggeis als glückliche Wahl für die Oper Frankfurt qualifiziert, ist seine Expertise im Umgang mit den Sängern. Es ist ein Vergnügen zu beobachten, wie klar er durch komplexe Ensembles führt, wie er den Menschen auf der Bühne hilft, wie er dadurch Präzision und souveräne Leichtigkeit erreicht, auch, wie er selbst am Flügel die Rezitative mit witzigen Erinnerungsmotiven verziert. So kann Kihwan Sim seinen klangvollen Bassbariton frei entfalten und seinem Konkurrenten, dem Grafen von Danylo Matviienko Paroli bieten. „Non piu andrai“, von ausnehmend aparten Bläsern veredelt, vertrüge deutlicher ironische Farben in der Stimme. Matviienko hebt dagegen mit seiner stimmlichen Eleganz hervor, dass er das Spiel der Geschlechter durchaus als solches verstehen will, manchmal vordergründig gefasst, aber nie harmlos.

Vollendete Studie eines Zwischenwesens

Ganz zeitgenössisch, auch im Kostüm: Kelsey Lauritano (links) mit der Gräfin (Adriana González) als Cherubino – ein Wesen ohne festgelegte Geschlechtssignale. Foto: Barbara Aumüller

Kelsey Lauritanos Cherubino ist eine vollendete Studie eines Zwischenwesens, das sich im Labyrinth der Geschlechter erst orientieren muss. Die Sängerin gestaltet eher hell und brillant als mit sanften Mezzorundungen; ihr „Non so piu cosa son …“ huscht wie ein Irrwisch vorbei, ein rastloser Spuk ohne die Chance, auf differenzierte Artikulation. Auch „Voi che sapete“ könnte Lauritano sicher bewusster ausformen, würde ihr der Dirigent eine Spur mehr Zeit geben. Elena Villalón brilliert als Susanna in den Ensembles mit einer fabelhaften Sprach-Musik-Sensibilität. Zwischendurch will es ihr nicht gelingen, die Stimme im Körper zu halten – die Töne werden spitz und kopfig. Aber ihre Arie im vierten Akt ist ein Musterbeispiel bewussten, makellosen Singens.

Dass Frankfurt nicht umsonst zum wiederholten Mal den Titel „Opernhaus des Jahres“ eingeheimst hat, ist nicht nur der exquisiten Spielplanpolitik von Intendant Bernd Loebe zu verdanken, sondern auch seiner Ensemblepflege. Die zeigt sich in diesem „Figaro“ von ihrer besten Seite: Die kleineren, dennoch wichtigen Rollen sind mit der leuchtenden Cecilia Hall als Marcellina, dem wunderbar diskret polternden Donato di Stefano als Bartolo, dem fast zu schönstimmigen jungen Tenor Magnus Dietrich als Basilio und dem bewährten Franz Mayer als Antonio durchweg vorzüglich besetzt. Sie alle nutzen die Chance des neutralen Bühnenkastens von Karoly Risz, der sich mit raumhohen Drehlamellen durchlässig oder verschlossen geben kann: Hier triumphieren nicht die Szenerie, nicht die Atmosphäre, sondern die Darsteller.

Weitere Vorstellungen: 12., 14., 21. Oktober; 28., 30. Dezember 2023; 5., 7., 18., 21. Januar 2024. Info: https://oper-frankfurt.de/de/spielplan/le-nozze-di-figaro_3/




Rudi Stephans einzige Oper „Die ersten Menschen“ in Frankfurt: Tobias Kratzer entdeckt ein aktuelles Endzeitstück

BegBegehren am Ende der Zeit: Ambur Braid (Chawa) und Ian Koziara (Chabel)ehren am Ende der Zeit: Ambur Braid (Chawa) und Ian Koziara (Chabel). Foto: Matthias Baus.

Begehren am Ende der Zeit: Ambur Braid (Chawa) und Ian Koziara (Chabel). (Foto: Matthias Baus)

Die Frau steht am Fenster und schaut hinaus auf sanft geschwungene Hügel, grüne Hecken, blühende Rapsfelder unter blauem Himmel. Im Raum waltet werkelnd ein Mann, pflegt ein Beet unter einer UV-Lampe. Ein Stromaggregat ist zu erkennen, neben der Wohnküche eine Kammer mit Dosen und Einmachgläsern. Bis zu 200.000 Prepper bereiten sich Schätzungen zufolge in Deutschland auf einen Zivilisationskollaps vor; auf der Bühne der Oper Frankfurt blicken wir in Rudi Stephans Oper „Die ersten Menschen“ auf eine Familie, die in ihrem Bunker eine solche Katastrophe überlebt hat.

Nach draußen geht der Weg über einen Schacht, der nur mit Schutzmaske erklettert wird. Die Naturidylle in den Fenstern erlischt bei einem Stromausfall und erweist sich als bloße Projektion auf LED-Screens. Frau, Mann, zwei erwachsene Söhne: die letzten Menschen stehen vor uns.

Tobias Kratzer, ab 2025 Intendant der Hamburgischen Staatsoper und ein gesuchter Regisseur („Tannhäuser“ in Bayreuth), hat das Thema der Oper virtuos umgedeutet, ohne dem Sujet Gewalt anzutun. Denn eigentlich geht es um Adam und Eva, Kain und Abel – das ist das Personal von Rudi Stephans Oper aus dem Jahr 1914. Der höchst begabte Komponist blieb 1915 in der heutigen Ukraine auf einem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs, eines von Millionen sinnlosen Opfern; einer, dessen Genius elend ausgelöscht wurde.

Passionierte, drängende Musik

Die Sehnsucht nach dem "wilden süßen Weib":

Die Sehnsucht nach dem „wilden süßen Weib“ führt zu einem ersten Gewaltausbruch: Iain MacNeil (Kajin) und Andreas Bauer Kanabas (Adahm). (Foto: Matthias Baus)

Welches Potenzial in dem 28-Jährigen am Erwachen war, eröffnet Sebastian Weigle dem Ohr mit dem sinnlich-üppig aufblühenden Frankfurter Opern- und Museumsorchester – die letzte von 38 Premieren mit ihm in 15 Jahren als Generalmusikdirektor in Frankfurt. Eine würdige Wahl: Die Epoche der in die Moderne hinüberklingenden Spätromantik liegt dem Dirigenten besonders nahe, das hat er mit Richard Strauss oder Franz Schreker bewiesen. Und der junge Rudi Stephan zeigt in jedem Moment seiner passionierten, drängenden Musik, dass er alle Mittel seiner Zeit verlegenheitslos beherrscht. Es gibt keine Durchhänger in den zweieinhalb Stunden.

Schon in der ersten Szene deckt Kratzer auf, welche psychischen Konstellationen die Beziehungen bestimmen. Auch dass die Figuren der Bühne mehr repräsentieren als ein individuelles Schicksal. Es geht um Lebenstriebkräfte, die den Zugang eines Menschen zu seiner Welt bestimmen: Sehnsucht nach Nähe und Zuwendung (Eva), Arbeit und Weltgestaltung (Adam), sexuelles Begehren (Kain) und Erfahrung des Transzendenten, die sich im Begriff „Gott“ verdichtet (Abel). Das Libretto verwendet die hebräischen Namens-Umschriften Adahm, Chawa, Kajin und Chabel mit einem dialektischen Sinn: Die Personen werden näher an die jüdische Heilige Schrift gerückt, gleichzeitig markieren die Bezeichnungen eine Distanz zur christlich-lateinischen Überlieferung und zur biblischen Thematik des Sündenfalls und der gestörten Gottesbeziehung.

In diesem Setting entwickelt sich eine Familienkonstellation, die eher an Ibsen, Strindberg und Freud denken lässt als an die Bibel. Adahm ist der unermüdliche Gestalter, der auch nach der Katastrophe aus seinem Geiste die Welt „neu pflanzen“ will. Seine Emotionen sind „im Brunnen in der Brust“ tief verschüttet. Chawa formuliert nach einem an Wagners „Tristan“ erinnernden Englischhorn-Solo in großen erotisch geladenen Bögen ihre Sehnsucht nach Nähe, unverständlich für ihren Mann, der den Sinn des Lebens in Arbeit sucht, ein „höheres Eden“ schaffen will: Das „neue Kleid“ für seine Frau ist eine praktische Schürze. Explizit und von explosiver Musik drastisch unterstützt, formuliert das Libretto das Erwachen von Kajins jugendlich ungestümer Sexualität: Aus unbestimmtem Drängen – er „fühlt nicht, was es ist, und fühlt doch, es ist da“ – kristallisiert sich das Begehren, das sich auf die einzige Frau dieser hermetischen Welt, seine Mutter Chawa richtet.

Präziser Sprach-Expressionismus

Der heute völlig unbekannte Dramatiker Otto Borngräber (1874-1916) hat diese Entwicklung in der überspannt expressionistischen Sprache des Librettos ohne blumige Umschreibung ausgedrückt – so explizit, dass die Uraufführung seines Schauspiels 1912 in München zum Skandal geriet und das Stück verboten wurde. Bei aller möglichen Kritik am Pathos der Worte: Borngräber erfasst die menschlichen Triebkräfte ungeniert direkt, anders als etwa Hugo von Hofmannsthal im raunenden Ungefähr seiner allegorischen und symbolischen Verschlingungen.

Ambur Braid (Chawa) und Iain MacNeil (Kajin). Foto: Matthias Baus.

Wenn sich Kajins aggressive Suche nach der Erfüllung seines sexuellen Begehrens zuspitzt, wechselt der Schauplatz auf Rainer Sellmaiers Bühne. Im düsteren Licht (Joachim Klein) wird eine zerstörte Welt sichtbar. Baumstümpfe, ein hoch gemauerter Kamin, ein aschgrau ausgebranntes Auto. Die Gestelle von Kinderschaukeln und ein wunderhaft farbenfroh gebliebenes Aufblas-Schwimmbecken signalisieren: Hier könnte einst ein Garten Eden gewesen sein, ein Zauberland verlorener Kindheit, bevor die Schlange dem Menschen das Wissen um „Gut“ und „Böse“, die Distanz zu sich selbst und zu seiner Umwelt eröffnet hat. Hier legen Chabel und Chawa ihre Masken ab, hier kommt es in einer Mischung aus religiöser Ergriffenheit und zitterndem Begehren zum Sex. Kajin, der zu kurz gekommene Bruder, oft begleitet vom „schmutzigen“ Instrument Saxophon, erschlägt Chabel in einem urgewaltigen Ausbruch purer Verzweiflung, ohnmächtig seiner ausbrechenden Gewalt ausgeliefert. In solchen Momenten zeigt sich, wie genau Kratzer die Personen führen kann, wie gekonnt er die inneren Kräfte und Konflikte der Charaktere freilegt.

Das Ende umreißt noch einmal den ganzen Horizont des Geschehens – und Stephans Oper bezieht in ihre Dramatik Eckpunkte der Religionskritik ein, die bis heute gültige Fragen stellen. Es geht um den Begriff des Existenz Gottes: Ist „Gott“ eine grenzenlose Lüge, schaffen wir ihn uns selbst, um unserer durchs All taumelnden Welt einen Sinn zu geben? Hat alles Geschehen seinen Grund, aber der ist ein Fluch (Adahm)? Was bringt es dem Leben, wenn ich einen Begriff von Gott habe (Chawa)? Und vor allem: Ist Gott gerecht, sieht er das „blutenden Herz“ (Kajin)? Was in Borngräbers Text formuliert ist, macht Kratzer auf der Bühne erlebbar: Theaterkunst von ungeahnter Tiefe und hohem Können. Wenn am Schluss für den sich selbst kastrierenden Kajin und das Elternpaar ein „neuer Tag“ anbricht, kriechen lemurenhaft graue Gestalten aus den Trümmern der alten Welt. Einer Welt, deren Bedürftigkeit nach Erlösung aus jeder ihrer düsteren Klüfte klagt.

Entdeckungen beanspruchen Aktualität

Die Frankfurter Produktion der „ersten Menschen“ bestätigt die Erfahrung mit anderen Werken abseits des Repertoires: Eine früher gar nicht einmal erfolglose Oper, länger vergessen, erweist sich als aktuell in ihrer Korrespondenz mit drängenden Themen unserer Gegenwart. Dafür hat es in den vergangenen Spielzeiten einige überraschende Beispiele gegeben: Karol Rathaus‘ „Fremde Erde“ in Osnabrück, Rolf Liebermanns „Leonore 40/45“ in Bonn, Walter Braunfels‘ „Die Vögel“ in Köln, Ernst Kreneks „Leben des Orest“ in Münster, Peter Tschaikowskys „Zauberin“ in Frankfurt, Gioachino Rossinis „Le Siege de Corinthe“ in Erfurt, Benjamin Godards „Dante“ in Braunschweig. Nicht zu vergessen eindrucksvolle Uraufführungen, von „Dog Days“ von David T. Little ebenfalls in Braunschweig über „Blühen“ von Vito Žuraj in Frankfurt bis „Dogville“ von Gordon Kampe in Essen. Keine Rede davon, dass die Kunstgattung Oper an ihr Ende gelange, was im Zusammenhang mit der eingebrochenen Kartennachfrage bei den Bayreuther Festspielen wieder herbeigeraunt wird.

Doch Frankfurt macht auch auf Rudi Stephans „eigene, neuartige Tonsprache“ – so der Kritiker Paul Bekker – aufmerksam, die sich zwischen Wagner-Erbe, Strauss-Innovation und Schreker-Sensualismus ihren Weg erkämpft. Sebastian Weigle schreitet den musikalischen Horizont ab, von Stephans Spektrum grell dissonanter Akzente bis zu smarten Akkordfolgen, wie sie zwanzig Jahre später Paul Abraham in seinen Operetten verwendet hat, von einer Klangfarbenpalette auf der Höhe der Zeit bis zu ausladenden melodischen Konstrukten für die Solisten.

Das Personenquartett ist szenisch gefordert und muss sich musikalisch im Wagner-Format bewähren. Ambur Braid als Chawa zeigt gestützte Präsenz, lässt aber auch die Anstrengung der großen Bögen in der Höhe merken. Andreas Bauer-Kanabas gibt den leidenschaftslosen Adahm präzis deklamierend, aber auch mit einer trockenen Verzweiflung, die sich hinter Pragmatismus verkriecht. Iain MacNeil hat als Kajin die komplexeste Figur zu verkörpern und realisiert sein wildes Aufbegehren, seinen verzweifelten Zynismus, aber auch das drängende Pathos der Figur mit einem in Farben und Klang imponierenden Bariton. Ian Koziara sichert die visionären Leuchtetöne des Chabel im Timbre seines Zentrums ab, die Passaggio-Übergänge und die Höhen wirken angefochten.

Die Oper Frankfurt hat mit Rudi Stephans singulärem Werk wieder einmal längst fällige Entdeckerarbeit geleistet und sich als wichtiges Kraftzentrum der Oper in Europa bewiesen. In der kommenden Spielzeit mit ihren elf Premieren setzt Intendant Bernd Loebe diese Linie fort. Während sich der Nachfolger von Sebastian Weigle als GMD, Thomas Guggeis, am 1.Oktober mit Mozarts „Le Nozze di Figaro“ vorstellt, verspricht der Spielplan mit „Le Grand Macabre“ des vor 100 Jahren geborenen György Ligeti, Mozarts Frühwerk „Ascanio in Alba“, Alexander Zemlinskys „Der Traumgörge“ und Wolfgang Fortners „In seinem Garten liebt Don Perlimplin Belisa“ wieder erstrangige Befragungen jenseits des Mainstreams.

 




Christoph Hein findet „Unterm Staub der Zeit“ Absurdes aus dem Kalten Krieg

Als Sohn eines Pfarrers wird dem vierzehnjährigen Daniel in der DDR Oberschule und Abitur verweigert. Wie schon sein älterer Bruder David, so wird 1958 auch Daniel von seinem Vater nach Westberlin geschleust, um dort in einem Schülerheim zu wohnen und das Gymnasium zu besuchen. Die Grenze zwischen Ost und West wird zwar bewacht, die Kontrollen sind lästig, aber noch ist es möglich, mit kleinem Gepäck und kleinen Lügen zwischen den politischen Blöcken hin und her zu pendeln.

Daniel wird sich schnell einleben in der ihm zunächst fremd erscheinenden Welt des kapitalistischen Westens. Mit seinen Mitschülern, die alle aus der DDR stammen und nur gelegentlich ihre Eltern im Osten besuchen können, erkundet er die Stadt, verdient sich als Zeitungsverkäufer ein Zubrot und gönnt sich in einer Billig-Kneipe am Kurfürstendamm auch mal eine Erbsensuppe und ein fades Bier. Wenn der amerikanisch Prediger Billy Graham die Massen verzückt, hört er aufmerksam zu, wenn Rock-Ikone Bill Haley den Sportpalast zum Kochen bringt, tanzt er mit.

Für den pubertierenden Jungen, der wenig von den Frauen und nichts von Sex, aber viel von Kunst und Literatur versteht, vergehen die Tage wie im Flug. Gern taucht er ab in die Welt seiner Romanhelden, manchmal feilt er auch an eigenen Theatertexten und schleicht sich in die Proben in der „Vagantenbühne“, ist fasziniert von den existenzialistischen Stücken, die man dort spielt, und ganz verzaubert von einer jungen Schauspielerin, die ihn mit auf ihr Zimmer nimmt und in die Kunst der Liebe einführt. Die große Politik scheint fern. Doch die Idylle ist brüchig. Als er gerade die Sommerferien bei seinen Eltern im Osten verbringt, wird Berlin abgeriegelt und die Mauer hochgezogen. Was tun? Schnell noch ein letztes Schlupfloch in den Westen suchen oder bleiben und ein neues, anderes Leben beginnen?

 „Unterm Staub der Zeit“ findet Christoph Hein manch bizarre Erinnerung an eine Jugend in Zeiten des Kaltes Krieges. Wer Leben und Werk des Autors kennt, merkt schnell, dass der neue Roman in weiten Teilen autobiografisch grundiert ist. Denn Hein, der 1944 im schlesischen Heinzendorf geboren wurde und nach Kriegsende in Bad Düben bei Leipzig aufwuchs, blickt auf einen ähnlichen Werdegang wie seine Roman-Figur Daniel zurück. Auch Hein wurde als Sohn eines Pfarrers in der DDR eine höhere Schulbildung verwehrt, er besuchte ein Gymnasium in Westberlin, wurde vom Bau der Mauer kalt erwischt, entschied sich, wie Daniel, für die DDR und begann, wie Daniel, eine Ausbildung als Buchhändler. Dass er später zum Schriftsteller avancierte und eine Zeitlang als Autor und Dramaturg an der Ostberliner Volksbühne tätig war, davon erzählt Hein in seinem autofiktionalen Roman (noch) nicht. Vielleicht beim nächsten Mal?

Die zwischen privaten Erlebnissen und politischen Erfahrungen klug balancierende Stofffülle ist auch genug für ein Buch und muss, um nicht auszuufern, verdichtet werden. Ohne in einen erklärenden oder belehrenden, larmoyanten oder zynischen Ton zu verfallen, erzählt Hein feinfühlig genau und oft mit feinem Humor, welche absurden Folgen die deutsch-deutsche Teilung für den Alltag der Menschen hatte. Aber auch, dass es immer irgendwie weitergeht; dass man als Lehrling in einer Buchhandlung überwintern kann, bis der richtige Moment kommt, um endlich Schriftsteller zu werden und eine ganz andere Geschichte anzufangen.

Christoph Hein: „Unterm Staub der Zeit“. Roman. Suhrkamp, Berlin. 224 Seiten, 24 Euro.




Begegnung musikalischer Kulturen: Das Essener Festival „NOW!“ öffnet neue Horizonte

Alexej Gerassimez, in Essen-Werden geboren, war Solist in Tan Duns „The Tears of Nature“ in der Philharmonie Essen. (Foto: Alexej Lund)

15 Ur- und deutsche Erstaufführungen, ein weiter Blick auf außereuropäische Musik von Indien über Afrika bis Indonesien, ein Schwerpunkt auf Korea und spannende Experimente, die europäische klassische Instrumente mit solchen aus anderen Kulturen kombinieren: Die 12. Ausgabe des Essener Festivals „NOW!“ kann eine respektheischende Bilanz vorlegen.

Die „Neuen Horizonte“, die das Motto versprach, wurden tatsächlich erreicht. Eigentlich wäre jede einzelne der so sorgsam kuratierten 17 Veranstaltungen wert, ausführlich betrachtet zu werden. Das Herauspicken von „Highlights“ ist nicht gerecht, denn wenn das eine Konzert mit Opulenz und Aufwand aufwartet, punktet das andere mit konzentrierter Intimität oder außergewöhnlichem Programm. Und so spektakulär etwa „The Tears of Nature“ auftrumpfen konnte mit den üppig besetzten Duisburger Philharmonikern, allein fünf Schlagzeugern im Orchester – plus Alexej Gerassimez als Solisten – und Komponistennamen wie Tan Dun oder dem persönlich anwesenden Toshio Hosokawa: Die jungen koreanischen Studenten, zwischen 26 und 40 Jahre alt, die sich im Eröffnungskonzert präsentierten, verdienten genauso Aufmerksamkeit.

Younghi Pagh-Paan, Grande Dame unter den koreanischen Komponistinnen. Nach ihr ist ein Wettbewerb benannt, dessen Sieger in Essen vorgestellt wurden. (Foto: Si-Chan Park)

Sie haben den seit 2015 bestehenden Kompositionswettbewerb gewonnen, der nach der Grande Dame der koreanischen Komponisten, Younghi Pagh-Paan benannt ist. Vier der fünf sind Frauen: Yonghee Kim kreuzt in ihrem Stück „Croquis in the Air“ das koreanische zitherähnliche Instrument Geomungo mit europäischen Streichern. Gitbi Kwon lässt ein koreanisches Gayageum mit der aparten Kombination von Gitarre, Flöten, Violine und Cello auftreten. Laewang Jang untersucht in seinem „Isomere“, wie sich europäische und fernöstliche Instrumente unterscheiden, aber auch in ihren Klangfarben annähern und ergänzen. Hongjoo Jung verbindet Ätherisches und Tänzerisches, und Yeoul Choi – die unter anderem in Essen studiert hat – fächert in ihrem Trio „Passenger 1“ den Tonraum in zunehmender Zerstreuung auf.

Vielfältiges Spektrum heutigen Komponierens

Wie vielfältig das Spektrum heutigen Komponierens auch unter dem Einfluss eines internationalen Austauschs geworden ist, war in den Konzerten zwischen 27. Oktober und 6. November sinnfällig erfahrbar. Deutlich wurde auch, wie weit hergeholt manche Theorien einer „kulturellen Aneignung“ bei einem Festival wirken, das auf gegenseitigen Austausch auf Augenhöhe, auf den staunenden Blick auf Fremdes und Eigenes, auf Durchdringen, aber auch Schärfen von Identitäten setzt.

Exemplarisch mag dafür das jahrelang vorbereitete Projekt des Italieners Riccardo Nova stehen, eines Experten für indische Musik, der in Austausch mit zahllosen Musikern in Südindien steht. „Hier entsteht wirklich Neues“ resümiert der Essener Komponist Günter Steinke, von dem eine Uraufführung im Abschlusskonzert erklang. Denn Nova arbeitet in seinem „Mahābhārata“, der Instrumentalsuite aus einem großen Opernprojekt, mit indischen Instrumenten und Musikern, Schlagwerk und Elektronik. Mit Varijashree Venugopal holte er eine führende indische Sängerin in die Essener Philharmonie.

Lukas Ligeti (Foto: Markus Sepperer)

Das nicht einfache Vorhaben, Musik aus einem Kontinent, der „klassische“ Musik im westlichen Sinn nicht kennt, zum Festival „NOW!“ zu bringen, löste Lukas Ligeti, Sohn von György Ligeti, mit den Musikern von „Burkina Electric“ aus Burkina Faso und dem Ensemble BRuCH. Eine faszinierende Begegnung: Rhythmen und Klänge traditioneller westafrikanischer Musik, verbunden mit Dance Grooves aus dem 21. Jahrhundert, treffen auf ein Kammermusik-Ensemble aus Sopran (Maria Heeschen), Flöte, Cello und Klavier.

In den pazifischen Teil der Welt führte „GAME-land“, ein Konzert mit dem indonesischen Gamelan-Ensemble Kyai Fatahillah und dem Perkussionisten Max Riefer. Er hat lange Zeit in Indonesien gelebt und spielte in einer Uraufführung des Komponisten Dieter Mack, einem weltweit renommierten Spezialisten für Gamelan-Musik. Ungewöhnlich an den Werken des Leiters des Gamelan-Ensembles, Iwan Gunawan ist, dass sie in europäischer Weise notiert sind: Kyai Fatahillah ist das einzige indonesische Ensemble, das Noten liest und nach Aufgeschriebenem musiziert. Gunawan und Mack wurden ergänzt von Werken des Niederländers Klaus Kuiper und des in Indonesien geborenen Roderik de Man.

Triumph des Rhythmus bei Tan Dun

Natürlich ermöglichte „NOW!“ wieder die Begegnung mit Werken der „großen Namen“ der Neuen Musik, etwa Georges Aperghis, Luciano Berio, Brian Ferneyhough, Iannis Xenakis, Isang Yun oder Bernd Alois Zimmermann. „The Tears of Nature“, das bekannte Schlagzeugkonzert Tan Duns, erklang im Konzert der Duisburger Philharmoniker unter der souveränen Leitung von Jonathan Stockhammer mit dem in Essen-Werden geborenen Alexej Gerassimez als Solisten. Hier triumphiert tatsächlich der Rhythmus, und die Perkussion ist nicht eine solistische Beigabe, sondern der Herzmotor der gesamten Komposition – ob er sich am Anfang in der robusten Harfe und dem trockenen Knall von aufeinander schlagenden Kieselsteinen äußert oder im weichen Sound des Marimbaphons.

Malika Kishino (Foto: TuP Essen)

Mit einer einsamen rhythmischen Figur zweier Holzklötzchen beginnt auch die Uraufführung des Percussion-Konzerts der in Köln lebenden Malika Kishino, die selbst erzählte, wie sie mit den zeremoniellen Instrumenten in einem buddhistischen Tempel in Kyoto aufgewachsen ist und jetzt japanische Claves, Becken und Metallplättchen für ihr neues Konzert nutzt. Das beginnt Gerassimez mit nuanciertem Spiel u.a. auf verschieden intonierten Holzblöcken, begleitet von einem rhythmisch-geräuschhaften Orchester. Einen signifikanten Wechsel der Klangfarben bringt dann der Übergang auf diverse Metallstäbe und –platten. Die fünf Schlagzeuger im Orchester sorgen für eine veritable Orgie an perkussivem Kolorit – dabei schreibt Kishino aber über weite Strecken kammermusikalisch fein, verzichtet auf fette Tutti und massierte Volumina. Das zyklisch angelegte Konzert endet fast, wie es begonnen hat, aber der Zuhörer, der mit dem musikalischen Material einen Prozess durchlebt hat, hört das hölzerne Ticken dann mit anderen, vielleicht weiseren Ohren.

Dass sich diese Klangwelten öffnen können, ist einer beispielhaften Kooperation vieler Unterstützer mit der Philharmonie Essen zu verdanken: der Folkwang Universität der Künste mit dem unermüdlichen Günter Steinke als Inspirator, der Stiftung Zollverein – mit einem eigenen Konzert mit dem Gitarristen Fred Frith & Friends –, der Kunststiftung NRW, dem Kultur- und Wissenschaftsministerium des Landes und der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach Stiftung, ohne die mancher künstlerische Höhepunkt und die vielen Aktionen für Kinder und Jugendliche nicht möglich wären.

In Zeiten, in denen schon wieder versucht wird, vorzutäuschen, durch Kürzungen in der Kultur könnten finanzielle Probleme gelöst werden, sind solche manifesten Bekenntnisse zum aktuellen und produktiven Musikleben mehr als nur Gold wert.




Auf Entdeckungstour: Die Oper Frankfurt präsentiert in Rossinis „Bianca e Falliero“ erlesenste Gesangskultur

Gefühle brechen Mauern – oder nicht? Karoly Riszs Bühne für Rossinis „Bianca e Falliero“ in Frankfurt, hier mit Heather Phillips (Bianca) und Beth Taylor (Falliero). Foto: Barbara Aumüller

Ein gewaltiger Kontinent liegt vor uns. Einige seiner zentralen Orte sind wohlbekannt und häufig frequentiert. Andere liegen abseits, kaum jemand weiß ihre Namen.

Zwar gibt es immer wieder – und immer häufiger – Expeditionen an solche entlegenen Stellen, denen aber kaum Neugierige folgen, obwohl ihre Schönheiten gerühmt werden. So bleiben diese Orte unbekannt, das Leben braust an ihnen vorüber.

Der Kontinent, es ist ein musikalischer, heißt Gioacchino Rossini. Außerhalb seiner Metropole namens „Il Barbiere di Siviglia“ wird der Verkehr schnell weniger. Es gibt ein paar beschaulichere Vororte, aber in die vielen weißen Flecken seiner Landkarte verirren sich nur Enthusiasten und Connaisseurs. Die Oper Frankfurt hat sich als eines der großen Repertoiretheater weltweit in den letzten Jahren des kaum erforschten Geländes angenommen und in mittlerweile vier Erkundungsgängen Werke vorgestellt, die sonst vornehmlich bei spezialisierten Festivals begegnen: Nach „La gazza ladra“ 2014 kam fünf Jahre später „Otello“ und kurz vor Ausbruch und als Opfer der Pandemie 2020 „La gazzetta“ – sämtliche in ambitionierten Inszenierungen, kundig dirigiert und fast durchweg auf der Höhe heutigen Rossini-Gesangs besetzt. Jetzt folgt die (vorläufig?) letzte Trouvaille dieser Serie, das 1819 für Mailand geschriebene Melodramma „Bianca e Falliero“.

Und wie im „Otello“ – vor kurzem auch am Musiktheater im Revier zu erleben – versetzt die Musik des „ernsten“ Rossini in Staunen. Da ist nichts zu hören von der angeblich so heiter-apollinischen Tändelei eines Genießers, der ansonsten als Verfasser (sämtlich verlorener) Gourmet-Rezepte in die Geschichte eingehen sollte. Da sucht man auch vergeblich die in polemischer älterer Literatur so angeprangerten Selbstzitate und leeren Wiederholungen. Nur das Schlussrondo der Sopranistin ist aus der zwei Monate vorher in Neapel uraufgeführten und in Mailand noch unbekannten „La Donna del Lago“ übertragen, und eine kurze Bläsersequenz erinnert an die Ouvertüre zu Rossinis letzter italienischer Oper „Semiramide“. Dafür hört man aber ausgefeilte Ensembleszenen, ein von Zeitgenossen und Nachfahren vielgerühmtes Quartett und einen dramatisch verdichteten virtuosen Koloraturgesang, dem man höchsten technischen Anspruch vorwerfen könnte, nicht aber sinnleeres Gezwitscher.

Beste Traditionen des Belcanto

Frankfurt hat für die vier tragenden Rollen dieses kammerspielartigen Dramas um familiäre Gewalt, gesellschaftliches Ansehen, starre Ehrbegriffe, erschreckende Übergriffigkeit und verstörende Lieblosigkeit eine Besetzung gefunden, die man sich passender kaum vorstellen kann. Die Europa-Debütantin Heather Phillips (Bianca) und die junge Schottin Beth Taylor (Falliero) knüpfen mit glanzvollem Material und unverkrampftem Timbre an die besten Traditionen des Belcanto der Rossini-Zeit an, verbinden den Stil des Ziergesangs mit modern gedachter Expressivität, ohne die Tugenden einer ausgeglichenen Tonbildung, einer durchweg auf dem Atem getragenen Emission, eines in allen Registern gleichmäßigen Klangs und einer stupenden, unforcierten Geläufigkeit zu missachten. Sicher: Diese Art zu singen setzt nicht auf rhetorische Überwältigung, auch nicht auf kräftig aufgetragene Farben. Aber in der Finesse, im Chiaroscuro der Dynamik, in der Bedeutung des gesungenen Wortes, in der flüssigen, im richtigen Moment akzentuierten Phrasierung eröffnet sie einen Ausdruckskosmos, der sich weit über den bloßen Wohllaut erhebt. Schlicht begeisternd.

Von links: Theo Lebow (Contareno), Heather Phillips (Bianca; kniend), Beth Taylor (Falliero) und Kihwan Sim (Capellio). Foto: Barbara Aumüller

Die beiden männlichen Stimmen stehen dem kaum nach. Vor allem Theo Lebow, in seinem übersteigerten Patriarchalismus eine seelisch verkrümmte, autoritäre Vaterfigur, kann mit seinem agilen, an die Herrscherfiguren der älteren Oper erinnernden Tenor den technischen und expressiven Anforderungen Rossinis gerecht werden. Contareno, der Vater, versucht mit allen Mitteln, eine Zweckheirat seiner Tochter mit dem venezianischen Patrizier Capellio durchzusetzen und greift dabei zu allen Mitteln psychischer Gewalt, die sich in einem Feuerwerk gesanglicher Raffinessen entäußern. Lebow erfüllt sie nicht nur bravourös, sondern gibt ihnen auch das nötige expressive Gewicht und macht damit die unbändige innere Wut seines Charakters greifbar.

Capellio lässt sich auf diesen Ehe-Deal ein. Kihwan Sim gibt der Rolle ohne Solonummer ein sattes, aber nicht zu breit geführtes Bass-Fundament mit und zeigt seine Tugenden als Ensemblesänger. Sim hat den wohl schwierigsten Charakter der Oper zu gestalten, obwohl Librettist Felice Romani über die Konfliktschablone von persönlicher Neigung und übergeordneter Pflicht hinaus alle vier Protagonisten differenziert zu charakterisieren weiß. Denn Capellio ist über beide Ohren verliebt, besinnt sich aber im entscheidenden Moment der Gerichtsverhandlung gegen seinen Rivalen Falliero auf die Ehre als Richter, der übergeordnetes Recht über persönliche Gefühle zu stellen hat.

Befreit aus patriarchalen Zwängen

Contareno, der Vater, will mit der Hochzeit den alten Glanz seines Namens wieder herstellen und verfolgt dieses Ziel mit einer verbissenen Wut, die seine inneren Zwänge und Nöte ahnen lassen. Im Finale des ersten Aktes, das unverkennbar an die Konstellationen in Donizettis „Lucia di Lammermoor“ erinnert, richtet sich die Aggression gegen den heimlichen Geliebten seiner Tochter Bianca, der bei der Unterzeichnung des Ehevertrags hereinplatzt. Dieser Falliero ist zwar als Kriegsführer erfolgreich, aber mittellos und daher keine angemessene Partie.

Heather Phillips als Bianca. Foto: Barbara Aumüller

Und Bianca, die Tochter? Heather Phillips gibt ihr nicht nur leuchtend freie Sopranklänge mit, sondern zeichnet auch ihre innere Zerrissenheit nach. Denn anders als heute sind gesellschaftliche Verantwortung und familiäre Bindung noch gewichtige Argumente, wenn es um die Frage nach einem selbstbestimmten Lebensweg geht. Tilmann Köhler baut darauf seine Regie-Idee auf: Er zeigt zunächst ein behütet-verspieltes Mädchen, das Susanne Uhl in rosa Chiffon und silberne Stiefeletten kleidet. Aber die Figur verharrt nicht in der Opferhaltung einer Lucia di Lammermoor, sondern wehrt sich, auch wenn sie die Gesellschaft der Männer ins konventionelle Brautkleid nebst Schleier und grauem Blazer steckt.

Am Ende tritt Bianca als Kämpferin von heute ins Rampenlicht. Die Erkenntnis, dass es nie um sie und ihre Liebe ging, sondern immer nur um die Befriedigung des männlichen Begehrens (Falliero/Capellio) und das gesellschaftlich-materielle Nutzbarmachen (Contareno) treibt Bianca in eine trotzige Selbständigkeit, die freilich auch Isolation bedeutet. Karoly Risz hat auf die Drehbühne eine Konstruktion aus vier Viertelkreis-Segmenten gestellt, die an Jean-Paul Sartres (im Programmheft zitierte) Beschreibung Venedigs als „Labyrinth aus Schnecken“ erinnert.

Die Teile lassen sich zu Halbkeisen verbinden, die sich ineinander drehen lassen und so eine abweisende, riesige Mauer, Durchgänge oder offene Räume für Szenen mit dem distanziert kommentierenden Chor bilden können: neutrale Schauplätze, die für alle möglichen Sujets geeignet wären, und auf die Bibi Abel ziemlich überflüssige Videos von Händen, Gesichtern und Hautlandschaften projiziert, wenn die Musik den Fluss der Zeit anhält und die Personen in sich selbst einkehren. Unter Giuliano Carella pflegt das Frankfurter Orchester eher einen warmen, sanft geschmeidigen als den „typisch“ spritzig-trockenen Rossini-Klang, dem lediglich hin und wieder Attacke und rhythmische Zuspitzung gut getan hätte.

Und wieder einmal ist aus dieser beeindruckenden Rossini-Exploration der Wunsch abzuleiten, es mögen doch auch andere Opernhäuser in die unbekannten Regionen des Schaffens Rossinis vordringen. Frankfurt rüstet sich derweil für eine andere Epochen-Entdeckung: Ab 3. April steht Umberto Giordanos Verismo-Thriller „Fedora“ in einer Inszenierung von Christof Loy im Spielplan.

Weitere Vorstellungen von Rossinis „Bianca e Falliero“ am 11., 17., 19. und 26. März 2022. Info: https://oper-frankfurt.de/de/spielplan/bianca-e-falliero_2/?id_datum=2825




Neuer Blick auf verschwundene Werke: Mit dem Projekt „Fokus ´33“ fragt die Oper Bonn nach Mechanismen des Vergessens

Auch „Arabella“ von Richard Strauss gehört in die Reihe „Fokus ´33″ an der Oper Bonn. (Foto: Thilo Beu)

Ist das Bessere ein Feind des Guten? Das mag sein, aber was ist „das Bessere“?

Sicher ist etwa Mozarts Meisterschaft unbestreitbar und ein Werk wie „Don Giovanni“ unerreicht. Aber ist, weil Mozart auf dem Feld der Komposition in seiner Zeit unschlagbar war, Antonio Salieris beißende politische Satire – etwa in dem in Würzburg vor fast 25 Jahren leider folgenlos entdeckten „Cublai, Gran Khan dei Tartari“ – auf ihre Art nicht auch unübertreffbar? Oder Salieris nachtschwarz-depressive Sicht auf Macht in „Axur, Re d’Ormus“? Gerade unter der multiperspektivischen Betrachtungsweise geistesgeschichtlicher Zusammenhänge im 21. Jahrhundert relativiert sich die Frage nach dem „Guten“ und dem „Besseren“ schnell.

Die Oper Bonn hat ein Projekt ins Leben gerufen, das sich dieser Frage für das erste Drittel des 20. Jahrhunderts stellt, und zwar unter der Perspektive des Verschwindens, Vergessens und Verbleibens. Die Zeit zwischen dem Fin de Siècle und dem kulturellen Bruch durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten ist für die Oper ein seither wohl nicht mehr erreichter kreativer Höhepunkt. Zwischen Vollendung spätromantischer Raffinesse und Beharren im Wagnerismus (Erich Wolfgang Korngold, Eugen d’Albert, Cyrill Kistler), Verschmelzung von Tradition und behutsamen Aufbrüchen (Engelbert Humperdinck, Siegfried Wagner), Streben nach unerhörten Gestaden von Klang und Harmonik (Franz Schreker, Ferruccio Busoni) und radikalen neuen Konzepten (Arnold Schönberg, Alban Berg, Kurt Weill) öffnet sich ein beispielloses Spektrum formaler Experimente, musikalischer Ausdrucksweisen und theatraler Innovationen.

Dass davon im Repertoire der Nachkriegszeit lange nur der Monolith Richard Strauss überlebt hat, ist auf viele Ursachen zurückzuführen; die Ausschließlichkeit, mit der andere Komponisten daraus verbannt blieben, kann aber durch Qualität allein nicht erklärt werden. Das zeigte sich in den letzten 50 Jahren immer dann, wenn gelungene Produktionen ein vergessenes Werk dieser Epoche zur Diskussion stellten – von John Dews in Bielefeld begonnenem Einsatz für Franz Schreker über Peter P. Pachls hingebungsvolle Befassung mit Siegfried Wagner bis hin zur Wiederentdeckung Manfred Gurlitts in Trier oder Hans Gáls in Osnabrück.

Pioniertaten ohne Echo

Warum aber blieben solche Pioniertaten meist ohne Echo? Wie funktionieren die Mechanismen des Vergessens und Bewahrens? Mit der Reihe „Fokus ´33“ will die Oper Bonn dieser Frage nicht nur wissenschaftlichen nachgehen – das gab es schon öfter –, sondern das Rechercheprojekt ins lebendige Theater holen: Szenische Aufführungen von Werken, die nach 1933 oder ab 1945 aus den Spielplänen verschwanden oder in diesem Zeitraum entstanden und erst danach überhaupt zur Uraufführung gelangten, sind in den Spielzeiten 2021/22, 22/23 und auch darüber hinaus geplant. Gefördert wird das Projekt mit rund 1,2 Millionen Euro durch das Land NRW und das Förderprogramm „Neue Wege“.

Das ehrgeizige Unterfangen kann sich in Bonn auf eine länger anhaltende Tradition stützen, aus der zum Beispiel Aufführungen von Eugen d’Alberts „Der Golem“ (2009/10), Franz Schrekers „Irrelohe“ (2010/11), Paul Hindemiths Einakter-Triptychon (2012/13), Emil Nikolaus von Rezniceks „Holofernes“ (2015/16) oder Hermann von Waltershausens „Oberst Chabert“ (2017/18) zu nennen sind. Bei allen Werken konnte die behauptete Aktualität eingelöst werden – und wäre es einmal nicht gelungen, hätte sich auch aus dem Anachronismus, der geistigen Ferne zu unserer Gegenwart, dem Widerstand gegen den Zeitgeist ein Erkenntnisgewinn oder eine Kontrasterfahrung gewinnen lassen.

Eine Szene aus Rolf Liebermanns „Leonore 40/45″ an der Oper Bonn in der Inszenierung von Jürgen R. Weber und der Ausstattung von Hank Irwin Kittel. (Foto: Thilo Beu)

Die „Fokus ´33“-Reihe begann im Herbst 2021 mit zwei gegensätzlichen Produktionen, Richard Strauss‘ „Arabella“ von 1933 mit einem immer wieder in Kitschverdacht geratenen Stoff aus der Feder Hugo von Hofmannsthals, den man getrost als Beispiel für Verdrängung betrachten kann. Und mit Rolf Liebermanns „Leonore 40/45“, einem Skandalstück der fünfziger Jahre, das in einer bildmächtigen Regie von Jürgen R. Weber und in der mit Symbolen und Chiffren spielenden Ausstattung von Hank Irwin Kittel eine frappierende Aktualität an den Tag legte.

Weber gestaltete das „Fraternisierungsdrama“ zwischen einem deutschen Wehrmachtssoldaten und einer jungen Französin als einen Zirkus nationaler Symbole, als schräge Revue voll ironischer Anspielungen, von Beethoven und Dürer bis zur Marianne und dem gallischen Hahn. Und Dirigent Daniel Johannes Mayr gewann dem Zwölftöner Liebermann überraschend sinnliche Seiten ab. Ein treffendes Beispiel, wie aus der Ablage der Operngeschichte eine Akte hervorgeholt wird, die sich als aufschlussreich für die Gegenwart erweist.

Fränkischer Freiherr und chinesischer Dichter: Li-Tai-Pe

Ab 22. Mai 2022 wird die „Fokus“-Reihe fortgesetzt mit dem 1920 in Hamburg uraufgeführten Dreiakter „Li-Tai-Pe“ des im fränkischen Wiesentheid geborenen Freiherrn Clemens von und zu Franckenstein, einem Schüler Ludwig Thuilles, Generalintendant der Münchner Hofoper und ab 1924 bis 1934 der Bayerischen Staatsoper. Das Werk über den chinesischen Lyriker des 8. Jahrhunderts genoss bis zur Schließung der Theater 1944 ungebrochene Beliebtheit, verschwand danach jedoch völlig hinter dem Horizont der Geschichte. Regisseurin Adriana Altaras und Hermes Helfricht als Dirigent werden die Frage beantworten müssen, warum sich der Blick auf ein so nachhaltig vergessenes Werk jenseits der puren Entdeckerfreude heute wieder lohnen kann.

Zuvor schweift die Oper Bonn fast ein Jahrhundert weiter zurück: 1843 schrieb der damalige preußische Generalmusikdirektor Giacomo Meyerbeer ein deutschsprachiges Singspiel mit Szenen aus dem Leben Friedrichs II. „Ein Feldlager in Schlesien“ war in seiner originalen Fassung bisher so gut wie nicht bekannt. Die kritische Edition des Stuttgarter Mathematikers und Opernspezialisten Volker Tosta bietet nun die Grundlage, mit dem ungewöhnlichen Singspiel einen Meyerbeer jenseits seiner „grand opéra“ kennenzulernen. Die wohl erste Aufführung seit 130 Jahren ist dem Regisseur Jakob Peters-Messer anvertraut, am Pult steht Generalmusikdirektor Dirk Kaftan. Premiere ist am 13. März.

Franchetti und Schreker in der Saison 22/23

In der kommenden Spielzeit wird die „Fokus“-Reihe fortgesetzt. Eine veritable Wiederentdeckung ist die seit 1945 nicht mehr gespielte erste Oper von Alberto Franchetti, „Asrael“. Als Jude war der Sohn eines wohlhabenden Turiner Bankiers im faschistischen Italien am Ende seines Lebens gefährdet; die Nachkriegszeit verbannte ihn in die Vergessenheit. Ein Schattendasein fristet in der „Schreker-Renaissance“ der letzten Jahrzehnte – die freilich oft nur ein punktuelles Wiederaufflackern des Interesses bedeutet – die Oper „Der singende Teufel“. Nach einer aufsehenerregenden, aktualisierenden Bearbeitung von John Dew in Bielefeld ist die Originalgestalt des 1928 in Berlin uraufgeführten Werks bis heute kaum oder gar nicht mehr gespielt worden.

Doch auch jenseits dieser Reihe macht die Oper Bonn unter ihrem Generalintendanten Bernhard Helmich mit spannenden Produktionen jenseits des gängigen Repertoires auf sich aufmerksam. So mit der Uraufführung der Familienoper „Iwein Löwenritter“ von Moritz Eggert auf einen Stoff von Hartmann von Aue, von Felicitas Hoppe für ein heutiges Publikum erzählt. Und ab 10. April steht als Fortsetzung des vor acht Jahren begonnenen Zyklus‘ von Giuseppe Verdis frühen Opern der in Deutschland kaum gespielte „Ernani“ nach Victor Hugo auf dem Spielplan. Will Humburg dirigiert, die Regie führt Roland Schwab, der soeben in Essen mit Puccinis „Il Trittico“ eine so sinnlich überzeugende wie reflektiere Arbeit auf die Bühne des Aalto-Theaters gestellt hat. Es lohnt sich also, nach Bonn zu fahren!




Trotz alledem: Die Revierpassagen wünschen frohe Weihnachten und einen guten Jahreswechsel

Weihnachtliche Szenerie im Dortmunder Rombergpark. (Foto: Bernd Berke)

…auf dass – nach nahezu zwei Jahren – bald endlich wieder leichtere Zeiten anbrechen mögen. Nicht nur, aber auch für „die Kultur“, sprich: die Kulturschaffenden und ihr Publikum.




Von der Kunst der Übergänge: Festival NOW! in Essen mit 15 Uraufführungen und einem faszinierenden Analog-Synthesizer

„Dieses Werk ist der Schlüssel zu meiner ganzen Entwicklung … Es erklärt, wie alles später so kommen musste“, schreibt Arnold Schönberg über seine „Gurre-Lieder“, die am 24. und 25. Oktober in der Philharmonie Essen erklingen.

Foto: Projektpartner des Festivals NOW! (von links): Hein Mulders (Intendant der Philharmonie Essen), Dr. Thomas Kempf (Vorstand Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung), Marie Babette Nierenz (Künstlerische Leitung Philharmonie Essen), Prof. Günter Steinke (Folkwang Universität der Künste), Christof Wolf (Stiftung Zollverein), Prof Dirk Reith (Folkwang Universität der Künste), Ann-Charlotte Günzel (PACT Zollverein), Prof. Thomas Neuhaus (Folkwang Universität der Künste). Foto: TuP

Foto: Projektpartner des Festivals NOW! (von links): Hein Mulders (Intendant der Philharmonie Essen), Dr. Thomas Kempf (Vorstand Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung), Marie Babette Nierenz (Künstlerische Leitung Philharmonie Essen), Prof. Günter Steinke (Folkwang Universität der Künste), Christof Wolf (Stiftung Zollverein), Prof Dirk Reith (Folkwang Universität der Künste), Ann-Charlotte Günzel (PACT Zollverein), Prof. Thomas Neuhaus (Folkwang Universität der Künste). Foto: TuP

Entstanden zwischen 1900 und 1911, ist in dem riesigen Werk der Übergang vom spätromantischen zur modernen Stil in Schönbergs Komponieren zu verfolgen. Ein passender Auftakt also für das Festival NOW! für neue Musik, das am Donnerstag mit Schönbergs epochalem Werk eröffnet wird. Bis 3. November geht das Festival in 25 Veranstaltungen unter dem Motto „Transit“ den vielfältigen Formen des Übergangs in der Musik nach.

Torsten Kerl singt in den Gurre-Liedern in der Philharmonie Essen. Foto: Bettina Stoess.

Torsten Kerl singt in den Gurre-Liedern in der Philharmonie Essen. Foto: Bettina Stoess.

Die Gurre-Lieder erklingen in den beiden Symphoniekonzerten mit den Essener Philharmonikern unter Leitung von Tomáš Netopil. Der WDR Rundfunkchor, der Opernchor des Aalto-Theaters und der Philharmonische Chor Essen stellen die Sängerinnen und Sänger für den kolossalen Klangapparat aus drei vierstimmigen Männerchören und einem achtstimmigen gemischten Chor. Unter den fünf Solisten ist der Tenor Torsten Kerl, der in Gelsenkirchen geboren ist und dort seine internationale Karriere begonnen hat.

Das mittlerweile neunte Festival NOW! hat sich zu einem Schwerpunkt für zeitgenössische Musik in Nordrhein-Westfalen entwickelt und vereint als Projekt inzwischen die Philharmonie Essen mit Partnern wie der Stiftung Zollverein, PACT Zollverein, den Landesmusikrat NRW und vor allem die Folkwang Universität der Künste. Diese bringt sich mit ungewöhnlichen Veranstaltungen ein und zeigt zum Beispiel, wie sich Komponieren – und damit die Musik – auch durch die zur Verfügung stehenden technischen Mittel verändert. So ist der Transit von der Analog- zur Digitaltechnik ein Thema, das an einem „Synthesizer-Wochenende“ auf PACT Zollverein vom 25. bis 27. Oktober in Live-Aufführungen, einem Gesprächskonzert und einem Workshop sinnlich erfahrbar wird.

So sieht ein Star aus: Einer der größten noch funktionierenden Analog-Synthesizer der Welt kommt beim Festival NOW! zum Einsatz. Foto: TuP Essen/privat

So sieht ein Star aus: Einer der größten noch funktionierenden Analog-Synthesizer der Welt kommt beim Festival NOW! zum Einsatz. Foto: TuP Essen/privat

Eine Rolle spielt dabei auch der legendäre analoge Groß-Synthesizer Synlab, der in den siebziger Jahren in Kooperation mit Dirk Reith von der Folkwang Hochschule entwickelt wurde. Die Anlage, eine der größten noch funktionierenden analogen Synthesizer der Welt, wird extra in aufwändiger Arbeit auf der Bühne von PACT Zollverein aufgestellt. Dort beginnt das NOW!-Programm am Freitag, 25. Oktober, 20 Uhr mit der Uraufführung mehrerer Stücke von Dirk Reith, Florian Zwißler und Oxana Omelchuk. Zu erleben ist „Funktion Blau“ von Gottfried Michael Koenig, dem 1926 geborenen „Großvater der elektronischen Musik“, der zehn Jahre lang am Studio für Elektronische Musik des NWDR u. a. mit Karlheinz Stockhausen gearbeitet hat. Von dem 1966 in Essen geborenen Achim Bornhöft, Leiter des Studios für Elektronische Musik am Mozarteum Salzburg, gibt es ein 1991 entstandenes Stück, das dem Konzert den Titel gibt: „Artificial Clichés“.

Die Professoren Dirk Reith und Thomas Neuhaus (rechts) mit einem Bauelement des Synthesizers Synlab. Foto: Werner Häußner

Die Professoren Dirk Reith und Thomas Neuhaus (rechts) mit einem Bauelement des Synthesizers Synlab. Foto: Werner Häußner

Eine andere Art von Transit wird im RWE Pavillon der Philharmonie demonstriert: Eine Installation mit vier selbstspielenden MIDI-Klavieren lässt neue Werke von Günter Steinke, Michael Edwards, Thomas Neuhaus und Dirk Reith erklingen. Hier spielt der Mensch nicht mehr ein Instrument, sondern das „Medium“ verselbständigt sich: Algorithmen generieren musikalische Sätze und zeigen, wo der Computer bereits in den Bereich der Kreativität vorgedrungen ist, die nur noch weit im Hintergrund des Menschen bedarf. Die Installation ist bereits am Mittwoch, 23. Oktober, 18 Uhr, zu erleben; weitere Termine sind am 24. und 25. Oktober, jeweils 19 Uhr, und am Sonntag, 27. Oktober, 19 Uhr.

Zeitgenössische Musik, die ganz „analog“ mit klassischen Instrumenten aufgeführt wird, kommt nicht zu kurz: Am Samstag, 26. Oktober, 19 Uhr, spielt das Ensemble folkwang modern im RWE Pavillon Musik von Karlheinz Stockhausen, Mark Andre und – als Uraufführungen – zwei Auftragswerke der Philharmonie Essen von Michael Edwards und Tamon Yashima. Das JACK Quartet stellt am Sonntag, 27. Oktober, 11 Uhr, im RWE Pavillon Streichquartette von Helmut Lachenmann, Iannis Xenakis und Luca Francesconi vor. Und am Abend um 19.30 Uhr bringt das WDR Sinfonieorchester unter Sylvain Cambreling Bruno Madernas „Aura“ und Gérard Griseys „L’icône paradoxale – Hommage à Piero della Francesca“ in den Großen Saal der Philharmonie. Im Zentrum des Abends steht das Flötenkonzert von Francesco Filidei, einem 1973 geborenen Italiener und Schüler von Salvatore Sciarrino, von dem erst im September an der Pariser Opéra comique die erste Oper „L’Inondation“ aufgeführt wurde.

Am Dienstag, 29. Oktober, 20 Uhr, wird dann in einem Konzert mit der Pianistin Susanne Achilles die Orgel des Alfried Krupp Saales erstmals computergesteuert erklingen – in drei neuen Interludien von Roman Pfeifer, Florian Zwißler und Jagyeong Ryu. Der Bogen des Programms spannt sich von „Studies for Player Piano“ von Conlon Nancarrow, der Ende des 19. Jahrhunderts an den Anfängen der selbstspielenden Klaviere steht, bis hin zu einem neuen Werk für vier selbstspielende MIDI-Klaviere von Ludger Brümmer.

Das Abschluss-Wochenende gestaltet unter anderem das erstmals am NOW!-Festival beteiligte Folkwang Kammerorchester auf Zeche Zollverein mit der Uraufführung eines Konzerts für Violine und Streichorchester mit Akkordeon von Karin Haußmann, gespielt von Liza Ferschtman, am Freitag, 1. November. Am Samstag, 2. November, bringt das SWR Symphonieorchester zwei brandneue Stücke in die Philharmonie Essen mit, die es im Abschlusskonzert der Donaueschinger Musiktage am 20. Oktober uraufgeführt hatte: „Melancholie“ für chromatische Mundharmonika und Orchester von Saed Haddad und „Elementar Realities“ von Jürg Frey. Am Sonntag, 3. November, spielt dann das Ensemble Modern unter Enno Poppe Musik von Morton Feldman („Coptic Light“), Anton Webern (Variationen für Orchester op. 30) und Matthias Spahlinger („passage/paysage“ für Orchester).

Für die Veranstaltungen des Festivals NOW! gibt es Karten unter Tel.: (0201) 81 22 200 oder www.philharmonie-essen.de. Mit einem Festivalpass zu 55 Euro können alle Veranstaltungen besucht werden. Tickets für Veranstaltungen an der Folkwang Universität der Künste unter Tel.: (0201) 49 03 231.

 




Heine Glas vom VfL Kamen gestorben – eine Fußball-Legende aus den unteren Klassen

Ein kurzer Nachruf von unserem Gastautor Heinrich Peuckmann:

Alle reden von Mats Hummels und andern Fußballgrößen. Aber in niedrigen Klassen gibt es große Fußballer, auf ihre Weise ebenfalls Stars. Der Fußballheld meiner Kindheit, Heine Glas vom VfL Kamen, ist nun gestorben.

Heine war ein großartiger Techniker, ein Halbstürmer, der die Angriffe des VfL aus dem Mittelfeld heraus aufbaute und der dabei immer torgefährlich war.

Hans Tilkowski, damals als blutjunger Mann Torwart bei SUS Kaiserau und später neben dem Russen Lew Jaschin der beste Torhüter der Welt, erinnert bis heute gerne an ihn. „Wer hat die besten Elfmeter geschossen?“, fragt er manchmal und wer bei der Antwort an den Weltmeister Bobby Charlton oder an Franz Beckenbauer denkt, der irrt. Von Heine Glas hat er nie einen Elfer gehalten, wobei Heine sein Silberblick zugute kam. Heine konnte in Ruhe die Ecke anpeilen, in die er den Elfer setzen wollte, ohne dass der Torwart auch nur ahnte, wohin Heine gerade schaute.

Hans Tilkowski und Horst Szymaniak schätzten ihn

Heute würde er, normal gefördert, sicherlich im Profibereich Fuß fassen können, zu seiner Zeit aber wurde so manches Talent übersehen. So profitierte der VfL Kamen, damals eine Spitzenmannschaft in der Landesliga, von seinem Können. Noch als er schon Mitte dreißig war, hat er niemand anderen als Horst Szymaniak, einen der besten Fußballer seiner Zeit, von seinem Können überzeugt.

Szymaniak trainierte den SV Steinheim, der hochklassig spielte und Interesse an einem jungen Außenstürmer des VfL Kamen hatte. Um ihn beim Probetraining richtig einzusetzen, fuhr Heine Glas mit, und hörte nach dem Training ein völlig überraschendes Urteil von Szymaniak. Der junge Mann interessiere ihn nicht, hat Szymaniak geurteilt, aber den Alten wolle er haben. So hat Heine noch für ein oder zwei Jahre höherklassig bei einem anderen Verein gespielt.

Vor einigen Jahren ist ein Bruder Berni, ein bekannter Fußballtorwart gestorben, nun ist Heine ihm gefolgt. In Hamburg, war zu hören, hat er sich nie so wohl gefühlt wie in Kamen, in der Nähe seines VfL.




Aus dem Schatten Mozarts befreit: Antonio Salieris „Schule der Eifersüchtigen“ an der Oper Köln

Schwer lastet der Schatten Wolfgang Amadeus Mozarts über der Erinnerung an Antonio Salieri. Der langjährige Wiener Hofkapellmeister und Komponist war eine maßgebliche Institution schon vor der Ankunft Mozarts in Wien und lange nach dessen frühem Tod bis hinein in die Zeit Franz Schuberts: Komponist von gut drei Dutzend Opern, Organisator und Inspirator des hauptstädtischen Musiklebens, gesuchter Gesangspädagoge und Lehrer einer ganzen Komponistengeneration, Beethoven und Schubert eingeschlossen.

"La Scuola de' Gelosi" in Köln: Hinten: Kathrin Zukowski (Gräfin Bandiera), Anton Kuzenok (Leutnant), vorne v.l.n.r.: Matteo Loi (Blasio), Alina Wunderlin (Ernestina), William Goforth (Graf Bandiera), Arnheiður Eríksdóttir (Carlotta). Foto: Hans Jörg Michel.

„La Scuola de‘ Gelosi“ in Köln: Hinten: Kathrin Zukowski (Gräfin Bandiera), Anton Kuzenok (Leutnant), vorne v.l.n.r.: Matteo Loi (Blasio), Alina Wunderlin (Ernestina), William Goforth (Graf Bandiera), Arnheiður Eríksdóttir (Carlotta). Foto: Hans Jörg Michel.

Überlebt hat sein Name bis in die jüngere Zeit hinein lediglich durch ein Gerücht: Salieri, so die rufmörderische und längst widerlegte Behauptung, habe Mozart vergiftet. Peter Shaffer hat in seinem Schauspiel „Amadeus“ daraus eine Parabel über Gottes Gerechtigkeit, Genie und Mittelmaß gestrickt, die Miloš Forman 1984 durch seinen Film international verbreitet hat.

Möglichkeiten, hinter den Schatten zu blicken, haben sich erst mit Aufführungen und Tonaufnahmen in den letzten Jahrzehnten eröffnet. Opern von Salieri, obwohl zu ihrer Zeit unglaublich erfolgreich, sind Raritäten: Das betrifft nicht nur die Menge seiner komischen Opern, unter denen sich höchst Gelungenes neben routiniertem Durchschnitt findet. Sondern leider auch die an Gluck orientierten französischen Tragödien wie „Les Danaïdes“ oder „Tarare“. Nicht zuletzt zeigt sich Salieri im Verbund mit dem Librettisten Giovanni Battista Casti als genialer Satiriker – eine Eigenschaft, die er seinem Kollegen und gelegentlichen Konkurrenten Mozart voraushat. Polit-Satiren wie „Cublai, gran Khan dei Tartari“ oder „Catilina“ sind überhaupt erst in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts uraufgeführt worden, und das nicht in Wien, sondern in Würzburg und Darmstadt.

Vor zwei Jahren hat sich das entdeckerfreudige Theater an der Wien wieder einmal an eine Salieri-Oper gemacht und „La Scuola de‘ Gelosi“ wiederbelebt. Die Buffa hatte dem aus Legnago, einem venezianischen Städtchen südöstlich von Verona stammenden Komponisten 1778 nicht nur in Wien, sondern in der ganzen damaligen Opernwelt einen grandiosen Erfolg beschert. Die Oper Köln, die im Mozart-Jahr 2006 mit Salieris „La Cifra“ schon einmal Repertoirepolitik gegen den Strich gemacht hat, übernahm nun diese Produktion als Kölner Erstaufführung ins Staatenhaus.

Das Libretto von Caterino Mazzolá, damals noch ein Anfänger, ist in der bewährten Manier des italienischen „dramma giocoso“ konstruiert. Drei Paare – ein adliges, ein bürgerlich kaufmännisches, eins aus dem Stand der Dienstboten – gehen durch eine von einem Leutnant als Drahtzieher inszenierte „Schule der Eifersucht“. Zweidreiviertel Stunden komischer, grotesker, verblendeter und rührender Lektionen münden in die Erkenntnis, dass die Eifersucht genau das zerstört, was sie zu bewahren vorgibt, die eheliche Treue. Nur das Dienerpaar zeigt sich weitgehend immun: Geliebte ja – Ehefrau nein ist das Fazit, dass der Kammerdiener des Grafen aus seinen Beobachtungen zieht: Das Beispiel der adligen Herrschaften zeige, dass die Ehe zu vermeiden sei.

Die Inszenierung Jean Renshaws sorgt immer wieder für temperamentvolle Szenen, hier mit Alina Wunderlin (Ernestina), William Goforth (Graf Bandiera), Arnheiður Eríksdóttir (Carlotta), Matthias Hoffmann (Lumaca). Foto: Hans Jörg Michel.

Für das turbulente Hin und Her hat sich Christof Cremer an die vom Boulevard bekannte Türen-Klapp-Szenerie erinnert und eine Wand mit drei Durchgängen gestaltet, die sich – wie ihre beiden Rahmen – beliebig drehen lässt. So ist die Bühne auch ohne Maschinerie rasch und abwechslungsreich zu verwandeln; ein stummer Tänzer, der „carosello dubbio“ Martin Dvořák zerrt und schiebt die Teile ineinander und gegeneinander, wenn er nicht damit beschäftigt ist, zum Plot zu tanzen und zu akrobatisieren. Die Schraube dreht sich, nicht unheimlich wie in Brittens „Turn of the Screw“, sondern eher mit dem Hang zum Grotesken.

Die Inszenierung der Choreographin und einstigen Tänzerin Jean Renshaw betont diesen Aspekt in unermüdlichen, bewusst übertreibenden Bewegungen, die aber nicht auf platten Slapstick zurückgreifen. Sie lehnen sich eng an die Handlung an, tendieren aber immer wieder zur choreographischen Abstraktion. Der Musik Salieris kommt diese Methode entgegen, denn auch sie schmiegt sich an das Geschehen, will es aber selten empathisch vertiefen, sondern eher wie im Vorgriff auf Rossini in eine Sphäre quirliger Künstlichkeit heben.

So sind sie aufeinander losgelassen, die Figuren des Dramas, und der Zuschauer von heute erkennt, wie sich Mozart und Salieri gleichermaßen in der italienischen „commedia“ bedient haben: Der Graf Bandiera – mit frischem, aber technisch nicht geschliffenem Tenor: William Goforth – erinnert an „Nozze di Figaro“, weil er seiner Gattin überdrüssig ist, und bekennt ähnlich wie Don Giovanni, nicht so sehr die Schönheit als die „leichte Eroberung“ der Damen zu schätzen. Die Gräfin indes leidet und hat eine entsprechende große Arie mit einem ausdrucksvollen Rezitativ, die nicht die melodische Inspiration und romantisch anmutende Empfindungstiefe der Mozart-Gräfin hat, aber in ihrem Kontrast von bohrender Erregung und zärtlicher Erinnerung kein musikalisches Leichtgewicht ist. Kathrin Zukowski singt Wehmut wie Wut in eleganter Linie, zupackender Attacke, aber verbesserungswürdiger Artikulation.

Korngroßhändler Blasio erhitzt sich an der Eifersucht wie im deutschen Fach der misstrauische Herr Fluth in Otto Nicolais „lustigen Weibern von Windsor“. An der musikalischen Faktur seiner Rolle zeigt sich die satirische Ader Salieris, etwa wenn Matteo Loi in Anklängen an altertümliche Madrigale seine Lebensart erläutert oder eine gleichbleibende, sich beschleunigende Flötenfigur die rasch ansteigende Temperatur seines Furors illustriert.

Die gräfin Bandiera (Kathrin Zukowski) leidet. Foto: Hans Jörg Michel.

Seine Frau Ernestina, die erst aus Trotz gegen ihren überdrehten Gatten beginnt, das Werben des Grafen zu beachten, hat in Alina Wunderlin eine koloraturgewandte, auch im Lyrischen ansprechende Gestalterin – erst ratlos und betrübt, dann mit diebischem Vergnügen an dem vom Leutnant (mit hellem, glitzerndem Tenor: Anton Kuzenok) eingefädelten Komplott, das dieser Vorläufer Don Alfonsos („Cosí fan tutte“) erst kurz vor einer drohenden Tragödie auflöst. Die Diener Lumaca (Matthias Hoffmann) und Carlotta (Arnheiður Eiríksdóttir) hangeln sich pragmatisch durch die Intrigen und zeigen sich unbeeindruckt von den erotischen und emotionalen Verwicklungen ihrer Umgebung. Ihre Kostüme tragen dieselben Rautenmuster wie die Wandbespannung – sie gehören zum „Inventar“. Die Rauten tauchen auch in der Kleidung des bürgerlichen Paares auf, während die Gräfin mit groß geschwungenen floralen Mustern über das Klein-Karierte erhaben ist: Eine sinnige Bild-Idee von Ausstatter Christof Cremer.

Schreiben Salieri und Mazzolá also einen harmlos-unterhaltenden Buffa-Stoff ohne tiefere Gedanken? Oder ein Stück, das im Gewand des Buffonesken vorführt, wie sich Einstellungen und moralische Positionen überdreht verselbständigen und dann Menschen, Gefühle, Beziehungen in einem sich rasend drehenden Strudel verschlingen können? Die Groteskerie des Finales von Akt eins ließe eine gleichnishafte Deutung zu: Es spielt an einem jedem Wiener wohlbekannten Ort, dem „Narrenhaus“.

Letztlich entscheidet die Musik, was aus einer solchen Oper wird. Salieri will mit seinen fröhlich aus den Instrumenten purzelnden Noten nicht tiefer schürfen als es die Komödie braucht. Die Töne gruppieren sich wendig und fröhlich, selten einprägsam zu geschwind gestrichelten, schnell wieder verflatternden Linien. Die Melodien sind längst nicht so originell und individuell wie die Mozarts, aber stets unterhaltsam zur Stelle, wenn es darum geht, dem Ohr zu schmeicheln. Die Musik beleuchtet Situationen und Charaktere gerade so, dass es Spaß macht zuzuhören, ohne viel nachdenken zu müssen. Das ist Gebrauchsmusik in gediegener Qualität, die sich gar nicht individuell gebärden will. Arnaud Arber und das klein besetzte Gürzenich Orchester folgen ihr reaktionsschnell, mit kräftigen Akzenten und farbig charakterisierend. Das fegt mit nur manchmal eingetrübter, glitzernder Brillanz dahin, ohne dass Arber die Tempi übertreibt. Ob der Abend ausreicht, auch andere Theater zu animieren, einmal Salieri statt x Mal Mozart zu spielen, muss leider, wie so oft, dahingestellt bleiben.

Aufführungen noch am 18., 21., 23. April 2019. Info: https://www.oper.koeln/de/programm/la-scuola-de-gelosi/4049




Es könnte ruhig ein wenig mehr sein – Museum Folkwang zeigt Werke Lyonel Feiningers aus eigenem Bestand

Lyonel Feininger: „Leuchtbake I“, um 1913 (Bild: Museum Folkwang, Essen © VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Einer Ritterburg gleich trutzt der Leuchtturm über feindseligen Felsenmassen, eine von Menschen gefügte Stahlkonstruktion übertrumpft die unwirtliche Natur. Ihr Licht erhellt diffus das aufgewühlte und vom Stein durch die Farbe kaum zu unterscheidende blaue Meer, die Strahlen wirken prismatisch zerlegt, verweigern sich bei ihrer Ausbreitung physikalischen Prinzipien.

Hier trifft Kraft auf Kraft, Meer und Fels und Turm und Himmel, fast wähnt man sich in einem Kampfgeschehen, und unklar ist wer siegt. Auch mag man sich fragen, ob der Kampf der Elemente die Landschaft dergestalt zerklüftet hat, wie Lyonel Feininger sie 1913 malte. Oder ob er gleich einem Muskelspiel lediglich die Kräfte zeigen und gleichsam überhöhen wollte, die der rauhen Natur unter glatter Oberfläche innewohnen. Der Konstruktivist – und Lyonel Feiniger gilt als einer ihrer herausragenden Vertreter – ist zwangsläufig eben immer auch ein Dekonstruktivist, besonders dann, wenn Machart und Thema so wunderbar zusammenpassen wie in diesem Bild, das übrigens sehr nüchtern „Leuchtbake I“ heißt und sein Vorbild einst in Swinemünde fand.

Lyonel Feininger: „Gelmeroda IX“, 1926 (Bild: Museum Folkwang, Essen © VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Bezug zur Romantik

Fast einen Quadratmeter groß und mit düsteren Ölfarben gemalt zeigt die „Leuchtbake“ viel Nähe zum Expressionismus; in Holz geschnitten und gedruckt ist beim selben Motiv der Grad der Abstraktion größer, und Bezüge zur magischen Romantikwelt eines Caspar David sind beiden Bildern eigen. Jetzt hängen sie beide im Essener Folkwang-Museum nahe beieinander und ermöglichen Vergleiche.

„Bauhaus am Folkwang“ heißt die kleine Ausstellungsreihe anläßlich des 100. Geburtstags des Bauhauses, die mit Lyonel Feininger ihren Anfang macht, um im weiteren Jahresverlauf „Bühnenwelten“ und den Fotografen Lázló Moholy Nagy zu präsentieren.

Feininger wurde 1919 von Walter Gropius als erster Meister an das Weimarer Bauhaus berufen – im selben Jahr übrigens, als das Museum Folkwang, damals noch in Hagen, dem Achtundvierzigjährigen eine erste große Ausstellung ausrichtete.

Überragender Handwerker

Alle drei Folkwang-Ausstellungen speisen sich ausschließlich aus eigenem Bestand, was die Sache leider recht übersichtlich macht. 34 Feininger-Arbeiten sind jetzt ausgestellt, darunter ganze vier Gemälde. Druckgraphik – vor allem Holzschnitt – überwiegt. Angesichts der ungewöhnlich hell gehaltenen Holzschnitte immerhin wird sofort deutlich, daß Feininger auch ein überragender Handwerker war.

Wee Willie Winkie’s World

Nun ist es durchaus beachtlich, wenn ein Museum vier Gemälde Lyonel Feiningers besitzt, aber für eine Ausstellung ist es eher wenig. Nicht viele Kunstinteressierte werden eigens für diese „Kabinettausstellung“ nach Essen reisen. Einmal mehr wäre Kooperation zwischen Museen einzufordern, die Bilder dieses Künstlers besitzen, um eine größere, angemessenere und attraktivere Werkschau auf die Beine zu stellen. Dann könnte man vielleicht auch mal etwas mehr erfahren über den Comic-Zeichner Lyonel Feininger, der ab 1906 für die Chicago Sunday Tribune „Wee Willie Winkie’s World“ und „The Kin-der Kids“ (wirklich mit Bindestrich) zeichnete. In Essen ist nichts davon.

Doch immerhin können sie hier „Gelmeroda IX“ (1926) zeigen, eine Kirche aus Konturen, Helligkeitswerten und prismatisch aufgebrochenen Farben in wechselseitiger Durchdringung, imposantes Ölbild in der meisterlichen Vervollkommnung des Spätwerks. 1948 war das Aquarell „Gelmeroda“ (nicht verwechseln) übrigens der erste Feininger-Ankauf des Folkwang-Museums nach dem Krieg, nachdem die Nazis den alten Feininger-Bestand 1937 als „entartet“ ausgeräumt hatten. Weitere Gemälde sind „Dorf Alt-Salenthin“ (um 1912) und der Kirchturm von Mellingen (1912).

Lyonel Feininger: „Die Eisenbahn-Brücke“, 1919 (Bild: Museum Folkwang, Essen © VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Gut konzipiert

Die Ausstellung selbst ist ganz untadelig von Kuratorin Nadine Engel konzipiert worden. Absolut lesenswert sind die Wandtexte in den beiden Ausstellungsräumen, die Lyonel Feininger kompetent in die Kunst- und Künstlerwelt seiner Zeit einsortieren. Große Namen reihen sich, Osthaus, Matisse, Delaunay, Gropius und nicht zuletzt der des Galeristen Herwarth Walden, dessen Berliner Galerie „Der Sturm“ vor dem ersten Weltkrieg ein Kulminationspunkt der modernen Kunst war.

Ein konstruktivistisches „Who is who“, wenn man so sagen darf, war 1924 dann sicherlich die von der Malerin Galka Scheyer vorangetriebene Gründung der Gruppe „Die Blaue Vier“: Paul Klee, Wassily Kandinsky, Alexej von Jawlensky und Lyonel Feininger. Respektlos gesprochen war dies allerdings ein Zusammenschluß von Frührentnern, Klee war mit 45 Jahren der mit Abstand jüngste, Jawlensky mit 59 der älteste, gefolgt von Kandinsky (58) und Feininger (53). Der Name war – auch – eine sprachliche Verbeugung vor der Gruppe „Der blaue Reiter“, und es ging den Herren wohl nicht mehr so sehr um künstlerische Selbstfindung. Sie sahen sich, damals in Weimar, eher als Ausstellungsgemeinschaft. Wie hätten sie wohl das Folkwang-Museum bespielt? Zugegeben, eine rein rhetorische Frage.

Der Spaßvogel

Schließen wir beschaulich mit Feininger, dem Spaßvogel, der neben Bergen, Meeren und Kirchen gerne auch Tore in Holz schnitt. Einem solchen Bild hat er unten links eine stadtbekannte Prostituierte hinzugefügt und es mit „Lein-öl-Ein-Finger“ signiert. Einen direkten Zusammenhang zwischen diesen beiden Feststellungen soll es aber nicht geben.

  • „Bauhaus am Folkwang – Lyonel Feininger“
  • Museum Folkwang, Essen, Museumsplatz 1
  • Bis 14. April 2019.
  • Geöffnet Di, Mi, Sa, So und Feiertage 10 – 18 Uhr, Do, Fr 10 – 20 Uhr
  • Der Eintritt ist frei
  • In der Bauhaus-Reihe folgen die Ausstellungen
  • „Bühnenwelten“ (28.4. – 8.9.2019)
  • László Moholy-Nagy (20.9. – Dezember 2019)

 




Ausweglos im Diesseits gefangen: In Katharina Wagners „Tristan und Isolde“ bleibt der Akkord des Daseins unaufgelöst

Trügerische Idylle im Liebesduett des zweiten Aufzugs im Bayreuther "Tristan": Stephen Gould und Petra Lang. Foto: Enrico Nawrath

Trügerische Idylle im Liebesduett des zweiten Aufzugs im Bayreuther „Tristan“: Stephen Gould und Petra Lang. Foto: Enrico Nawrath

Wenn man dem Musiktheater die Fähigkeit zugesteht, den Zeitgeist auszudrücken, dann lässt sich Katharina Wagners Inszenierung von „Tristan und Isolde“ in Bayreuth als ein außergewöhnlich gelungenes Beispiel anführen. In dieser Version von „Tristan und Isolde“ findet kein Sehnen, kein Wähnen Ruhe, der Akkord des Daseins bleibt ewig unaufgelöst.

Auf Frank Philipp Schlößmanns und Matthias Lipperts Bühne mit ihren Treppen, Stegen und Brücken irren zwei Menschen im Blau der Romantik aufeinander zu, lassen ihre Arme einen Kreis bilden, verlieren sich im zweiten Aufzug zwischen der scharfkantigen Helle von Suchscheinwerfern und dem tintigen Schwarz der Schatten zwischen gellendem Licht. Sie suchen Geborgenheit unter eine Plane, stecken künstlich matt leuchtende Sternchen auf, wie zwei Teenies, die in ihr selbst gebasteltes kleines Paradies flüchten.

Der Dunst, in dem unbehauste Männer zu Beginn des Dritten Aufzugs um eine Leiche kauern, ist undurchdringlicher, tödlicher Nebel. Tristans Lösung aus dem Kreis des Todes ist nurmehr eine Vision. In magischen Licht-Dreiecken erscheinen ihm Isolden – bloße Chimären, die bei Berührung zu Staub und Lumpen zerfallen oder ins Dunkel stürzen, Ausgeburten einer Fantasie, die fiebrig nach einem Halt in der Grundlosigkeit der Existenz sucht. Wenn dann Marke im aufdringlich-schmutzigen Gelb erscheint, ist das nicht einmal mehr der Einbruch der Realität in ein Reich des Träumens, des Hoffens und des Sehnens. Sondern nur noch eine böse, banale Bestätigung, dass es da nichts gibt, vielleicht nie etwas gegeben hat, was dem ersehnten Reich der Nacht entspräche. Erschütternd real ist allerdings das Ende: Isolde darf ihren „Liebestod“ verkünden, dann packt sie Marke am Arm und zieht die Widerstrebende nach hinten ins Dunkel.

Illusionsloses Dunkel des Daseins

Katharina Wagner negiert Metaphysisches und Transzendentales, wirft in den Chiffren der Bühne alles, was hinaus weisen möchte, zurück in den unerbittlichen Raum einer Gefangenschaft, die über die Dreiecksmauern eines Marke-Gefängnisses hinaus zu einem universalen Todesraum wird, gegen den es sinnlos ist, verzweifelt anzukämpfen. Was Ernst Bloch in „Geist der Utopie“ schreibt und was im Programmheft zitiert wird: „Zwei Menschen schreiten hier in die Nacht, sie gehen von einer Welt in die andere über, sonst begibt sich nichts …“ – das ist den Protagonisten bei Katharina Wagner nicht vergönnt. Das Begehren nach der Wahrheit universaler Liebe erstickt in der endgültigen Gewissheit vom illusionslosen Dunkel eines Daseins, für das Wagners sehnsuchtsfiebernde Musik nur noch ein verzweifeltes Echo eines längst verwehten Daseins-Sinns darstellt. Wo sich im Zeichen dieser Musik eine Transzendierung ereignen könnte? Die Szene zeigt es uns nicht.

So bleibt es der Musik, die Gegenwelten aufzureißen – ein dualistisches Konzept, das schmerzt. Mag sein, dass die Buh-Rufe auch darauf zurückzuführen sind. Aber „Tristan und Isolde“ ist eben kein Wohlfühl-Theater. Der Schmerz über das, was Menschen erleben in auswegloser Distanz zu dem, was sie ersehnen, ist dem Stück eingeschrieben. Christian Thielemann, der schon 1993 als junger Generalmusikdirektor in Nürnberg einen fantastischen „Tristan“ dirigiert hatte, hält die Musik völlig frei von angespanntem Schwitzen, achtet auf die Farbvaleurs und die Beleuchtungswechsel, hat einen schier unermesslichen Atem, wenn er die tragenden Bögen in die Struktur der Musik einzieht.

Stringente Konzeption ohne Pathos bei Christian Thielemann

Der Klang ist dezent, leicht und ohne die dunkle Glut und die satte Dramatik, wie sie auf früheren Aufnahmen zu erleben ist. Auch das mag nicht jedem einleuchten oder gefallen, aber Thielemann zeigt, dass er ein Konzept hat, das durch den Abend trägt und die Musik erschließt. Ohne ein paar Manierismen geht es freilich nicht ab: Ob einzelne Holzbläserstellen wirklich so auffällig ausgestellt werden müssen? Und der „Liebestod“ – darin mit der Bühne im Einverständnis – bleibt seltsam stumpf, ohne Passion, ohne den sich steigernden Sog und das fiebrige Beben.

Kein Ertrinken im Weltatem, sondern erzwungenes Verharren im Diesseits-Dunkel: Die Schlussszene des "Tristan" in der Sicht Katharina Wagners. Foto: Enrico Nawrath

Kein Ertrinken im Weltatem, sondern erzwungenes Verharren im Diesseits-Dunkel: Die Schlussszene des „Tristan“ in der Sicht Katharina Wagners. Foto: Enrico Nawrath

Hierin gibt es eine Kongruenz mit Petra Lang, die matt und resigniert Isoldes Worte aneinanderreiht. Im ersten Akt singt sie ökonomischer als die schrill sich verausgabende Evelyn Herlitzius in der Premierenserie 2015, setzt damit der illusionslosen Depression des stählernen Gefängnisses eher Resignation als Rebellion entgegen. Auf strömendes, klangerfülltes Singen wartet man im zweiten Aufzug vergeblich: Petra Lang befreit sich nicht aus dem beengten Gefängnis einer Tonbildung, die entspannt und frei sich des Körpers versichern würde.

Dafür steht mit Stephen Gould wohl einer der ausdauerndsten und stimmschönsten Tristan-Sänger der Gegenwart auf der Bayreuther Bühne. Mag auch seiner Stimme hier und da die charakteristische Farbe fehlen, macht er alles wett, wenn er die großen Ausbrüche gestaltet, ohne an seine Grenzen zu stoßen, wenn er die Verzweiflung Tristans mühelos singt, nicht mühevoll deklamiert, wenn er die Ekstase der Begegnung leuchten lässt, wenn er in „So starben wir, um ungetrennt …“ den Klang mit innerer Passion füllt und wenn er in „Wohin nun Tristan scheidet“ ein edles, gestütztes Piano und einen fahlen, fast ätherischen Ton anschlägt.

Auch für den König Marke lässt sich derzeit vielleicht ein ähnlich bewusster, aber kaum stimmschönerer Sänger finden als René Pape. Die in der Regie ausgebaute Ambivalenz der Figur spiegelt er im Singen wieder: als düsterer Boss eines Clans hat er dunkel-harte, als zweifelnder Mensch balsamisch-flexible Klänge. Raimund Nolte als sein Gefolgsmann Melot bleibt rollengerecht bei einem schneidenden Ton; auf Tristans Seite klingt der treue Kurwenal Iain Patersons manches Mal allzu körperlos. Christa Mayer gibt eine Brangäne mit Kraft und Substanz, aber ohne Feinschliff, die in der Inszenierung eine Figur am Rande bleibt.




Einsatz für die Menschenwürde: Vor 100 Jahren wurde Erzbischof Oscar Romero geboren

Wandbild von Oscar Romero vor der „Casa de la Juventud“, einem Adveniat-Projekt für Jugendliche in einem Vorort von San Salvador. Foto: Pohl/Adveniat

Wandbild von Oscar Romero vor der „Casa de la Juventud“, einem Adveniat-Projekt für Jugendliche in einem Vorort von San Salvador. Foto: Pohl/Adveniat

Der Mann war ein Profi, sein Schuss saß perfekt: Oscar Romero hatte sich gerade am Altar umgewandt, um mit der Bereitung von Brot und Wein für die Heilige Messe zu beginnen, da traf ihn das Geschoss in die Brust. Nur kurze Zeit später erlag Romero am Montag, 24. März 1980, seinen inneren Blutungen. Der Killer entkam unerkannt; bis heute ist niemand in El Salvador wegen dieses Mordes vor Gericht gestellt worden.

Als sicher gilt, dass der Mord von dem Geheimdienstler und Politiker Roberto d’Aubuisson in Auftrag gegeben wurde, der jedoch bis zu seinem Tod 1992 nie angeklagt wurde. Oscar Arnulfo Romero, seit 2015 selig gesprochen, war der Militärdiktatur und den Reichen in El Salvador ein Dorn im Auge, eine ständige Provokation. Schon 1977, in seinem ersten Jahr als Erzbischof von San Salvador, erreichten ihn anonyme Drohbriefe. Romero fürchtete um sein Leben; seinen Einsatz für die Armen, Entrechteten und Gewaltopfer seines Landes aber führte er unbeirrbar weiter. Dabei schlug er sich nicht einfach politisch auf die eine oder andere Seite seines tief zerrissenen Landes. Er versuchte zu versöhnen, auf der Basis der Gerechtigkeit Lösungen zu vermitteln.

Zwei Tage vor seinem Tod noch kritisierte er „die falschen Visionen … die den Menschen zu einem Instrument herabwürdigen, das man ausbeuten kann, oder auch jene Weltsicht der marxistischen Ideologien, die im Menschen nichts weiter als eine Spielfigur in einer Verkettung sehen.“ Was die Militärjunta in El Salvador gegen Romero aufbrachte, war vor allem seine Kritik an der „Nationalen Sicherheit“, mit der Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen gerechtfertigt wurden. Diese Ideologie – so sagte er – mache „aus dem Menschen einen Diener des Staates, so als ob der Staat der Herr und der Mensch der Sklave wäre, während doch im Gegenteil nicht der Mensch für den Staat, sondern der Staat für den Menschen da ist.“ Der Mensch stehe über jeder Organisation. „Das ist die Basis unserer Sicht von der Gesellschaft. Wir haben sie von Christus in seinem Evangelium gelernt.“

Lehre und Praxis bilden untrennbare Einheit

Oscar Romero. Foto: Adveniat/Tutela legal

Oscar Romero. Foto: Adveniat/Tutela legal

Oscar Romero gilt heute als einer der wichtigsten Träger der Befreiungstheologie, nicht zuletzt, weil bei ihm Lehre und Praxis eine untrennbare Einheit bilden. Was er in Schriften und Predigten verkündete, setzte er konsequent in die gesellschaftliche und politische Wirklichkeit um. Damit machte er sich Feinde auch in seiner eigenen Kirche. Vor allem zwei der Bischöfe in El Salvador griffen Romero öffentlich an, diskreditierten ihn auch auf der Lateinamerikanischen Konferenz der Bischöfe in Puebla, weil er die Verbrechen der salvadorianischen Militärjunta anprangerte. Im Vatikan gab es starke Kreise, die Oscar Romeros Einsatz für die Armen und Unterdrückten missbilligten oder ihn zumindest nicht unterstützten.

Dabei war der vor 100 Jahren, am 15. August 1917, in bescheidenen Familienverhältnissen geborene Romero zunächst alles andere als ein befreiungstheologisch orientierter Priester. Er studierte in San Salvador und an der Gregoriana in Rom Theologie und kehrte 1942 als Pfarrer nach El Salvador zurück. Bald beförderte man den jungen Theologen zum Sekretär der Bischofskonferenz. 1970 ernannte ihn Papst Paul VI. zum Weihbischof von San Salvador. 1974 wurde er Bischof von Santiago de María, 1977 Erzbischof von San Salvador. In dieser Zeit war sein theologisches Denken durch und durch römisch geprägt. Der Befreiungstheologie stand er misstrauisch gegenüber; bei seiner Ernennung zum Erzbischof hielt man ihn für einen Vertreter der konservativen Richtung, der mit der Politik der herrschenden Oligarchen kein Problem haben würde.

Der Geist weht, wo er will

Aber der Lebensweg Romeros zeigt, wie „Bekehrung“ wirkt. Die brutale Gewalt in El Salvador wurde für ihn zum Anstoß, sein Denken und seine politische Haltung zu revidieren: Er sah nicht nur die soziale Not in seinem Land als Herausforderung an. Ein Schlüsselerlebnis war das Massaker durch Sicherheitskräfte im Februar 1977 auf der „Plaza Libertad“ in San Salvador. Sie schossen in die Menge, die gegen Betrug bei den Präsidentschaftswahlen protestierte. Kurz darauf, am 12. März 1977, ließen die Militärs einen von Romeros Freunden, den befreiungstheologisch orientierten Jesuiten Rutilio Grande erschießen.

Romero nahm hinfort an keinen offiziellen Anlässen mehr teil. Konsequent trat er nun für eine Kirche der Armen und Entrechteten ein, verschrieb sich dem Einsatz für die Menschenrechte und begann auch theologisch neu zu denken. Die Erklärungen der lateinamerikanischen Bischöfe aus den Konferenzen von Medellín und Puebla las er nun im Licht der Erfahrungen von Unterdrückung und Gewalt in seinem Land. In einem seiner Hirtenbriefe stellte er ein „erwachendes Selbstverständnis des Volkes als Glaubens- und Lebensgemeinschaft“ fest. Diese Gemeinschaft sei „dazu aufgerufen, ihre eigene Geschichte in einem Prozess der Erlösung zu akzeptieren, der mit ihrer eigenen Befreiung beginnen soll.“

Verbindungen nach Essen

Bei der Seligsprechungsfeier für Erzbischof Romero wird ein überlebensgroßen Bild enthüllt. Foto: Adveniat

Bei der Seligsprechungsfeier für Erzbischof Romero wird ein überlebensgroßen Bild enthüllt. Foto: Adveniat

Nach seinem Tod, der einen Bürgerkrieg mit geschätzt 75.000 Toten auslöste, wurde Oscar Romero bald als Märtyrer im Volk verehrt. Nicht so in Rom: Der 1994 begonnene Seligsprechungsprozess wurde immer wieder verzögert. Das Argument war, der Mord an Romero sei politisch motiviert gewesen, der Erzbischof sei nicht seines Glaubens wegen gestorben. Erst unter Papst Franziskus erfolgte 2015 die lang erhoffte Seligsprechung. Heute ist festzuhalten, dass Oscar Romero gerade wegen seines befreiungstheologischen Begriffs vom Glauben gestorben und damit einer der wegweisenden Märtyrer der Christenheit des ausgehenden 20. Jahrhunderts geworden ist.

Romero war auch mit Essen verbunden. Hier hat er die Geschäftsstelle von Adveniat, des Lateinamerika-Hilfswerks der Katholischen Kirche in Deutschland besucht. Mit Romero als Partner hat Adveniat seit 1970 zwölf Projekte durchgeführt. Auf den Webseiten von Adveniat ist zu erfahren, dass auch am 100. Geburtstag Romeros der Großteil der 6,4 Millionen Menschen in El Salvador in Armut lebt. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist groß: „Der Reichtum der Reichen steht im krassen Gegensatz zur bitteren Armut, die im Land herrscht“, sagt Inés Klissenbauer, Mittelamerika-Referentin bei Adveniat. Es fehle am Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und menschenwürdigem Wohnraum. Die Gewaltsituation sei aber das alles beherrschende Thema im Land. „Deshalb fördert Adveniat in El Salvador gezielt Projekte in der Friedensarbeit, die sich an die Bewohner der Armenviertel richten.“ Seit 1961 hat Adveniat nach eigenen Angaben über 4.000 Projekte in Romeros Heimatland unterstützt. Im Jahr 2016 waren es 40 basis- und armutsorientierte Projekte mit einer Fördersumme von rund einer Million Euro.




Hier gilt’s nicht nur der Kunst: In Bayreuth präsentiert Barrie Kosky mit den „Meistersingern“ souveränes Deutungs-Theater

Die Meistersinger in Wahnfried. Szene aus dem ersten Aufzug der Neuinszenierung von Barrie Kosky. Foto: Enrico Nawrath

Die Meistersinger in Wahnfried. Szene aus dem ersten Aufzug der Neuinszenierung von Barrie Kosky. Foto: Enrico Nawrath

Hier gilt’s der Kunst allein: Was Siegfried Wagner nach den nationalbegeisterten Kundgebungen bei der Premiere der „Meistersinger von Nürnberg“ 1924 an die Türen des Bayreuther Festspielhauses schreiben ließ, was Wieland und Wolfgang Wagner 1951 zum Aushang brachten, um in „Neu-Bayreuth“ politische Diskussionen zu unterbinden, das könnte auch über dem letzten Bild von Barrie Koskys Bayreuther Neuinszenierung der „Meistersinger“ stehen.

Soeben hatte noch Hans Sachs – allein und dem Publikum zugewandt – die deutsche, echte, wahre Kunst gepriesen, die auch den politischen Zerfall überstehen würde. Da öffnet sich die Bühne nach hinten, ein Orchester fährt herein und Sachs dirigiert im Samtjackett und Barett Richard Wagners mit ausladenden Bewegungen den emphatischen Schluss.

Gilt’s also nur der Kunst? Ein verzweifelt affirmatives Plädoyer nach sechs Stunden lustvoll ausgespielten Beziehungs-Theaters, in dem es, ja sicher, um die Musik, doch mindestens ebenso um Biografisches, Politisches, Geschichtliches ging? Mag sein, dass die großartige Musik Richard Wagners alles heil macht, Dass sie über 155 Jahre Rezeptionsgeschichte triumphiert, die von frühen (jüdischen) Protesten gegen die Beckmesser-Figur über den Missbrauch als Festoper im Dritten Reich bis hin zur radikalen Zuspitzung zum Diskurs über die Kunst durch Katharina Wagner in Bayreuth 2007 reicht. Kosky lässt den Chor in schwarzem Orchesterdress die Instrumente bearbeiten – und lesen kann man daraus ein Bekenntnis oder eine Parodie.

Von Wahnfried bis zum Nürnberger Prozess

Die frisch renovierte Fassade des Festspielhauses. Foto: Werner Häußner

Die frisch renovierte Fassade des Festspielhauses. Foto: Werner Häußner

Von wegen Kunst allein also. Was schon im zweiten Akt der „Meistersinger“ aus dem Munde Eva Pogners nicht so recht zutrifft, stimmt ebenso wenig 1924 oder 1951 oder 2017. Ähnlich wie Stefan Herheim in seinem genialen Bayreuther „Parsifal“ zieht Kosky das Panorama weit, bezieht die Wirkung mit ein: Die Ouvertüre richtet den Blick in den von Rebecca Ringst detailreich nachempfundenen Salon der Villa Wahnfried, Ort einer der berüchtigten privaten Performances eigener Werke, die Richard Wagner so liebte. Er selbst ist gleich mehrfach anwesend, als Stolzing, Sachs, David. Schwarz und streng schreitet Cosima, migränebewehrt, durch die Reihen, nimmt am Kaffeetisch Platz. Schwiegervater Franz Liszts weiße Haare wehen nicht lange am Flügel: Der zappelig-quirlige Wagner, der zuvor Seidenwäsche und Schuhe ausgepackt hat, schubst ihn weg, greift selbst in die Tasten, demonstriert dem Dirigenten Hermann Levi, wie er seine Musik gespielt haben will. Selbst die Neufundländer Wagners haben ihren Platz: Zu Beginn führt er die schwarzen Hunde Gassi.

Doch die witzige, mit virtuoser Hand inszenierte Geschichte bekommt den ersten schalen Riss, als der deutsche Choral „Da zu dir der Heiland kam“ einsetzt. Hermann Levi, der jüdische Münchner Generalmusikdirektor und Uraufführungs-Dirigent des „Parsifal“, in die Rolle des Beckmesser gedrängt, wird zum Niederknien genötigt: Beginn einer Demontage, für die Kosky im Lauf des Abends bedrängende, irritierende, auch plakative Bilder finden wird.

Zunächst aber bevölkern die Meister in den prächtigen Renaissancekostümen Klaus Bruns‘ den Wahnfried-Salon. Die Merkerei wird aus Portraitbildern des jungen Wagner und Cosimas gebaut, die souverän gestalteten personenreichen Szenen sind komödiantisch überzogen und stets auf dem Punkt – Barrie Koskys operettengeschulte Hand versteht es, Pointen treffsicher zu setzen. Überraschend rückt der Tumult am Ende des ersten Akts in die Ferne: Wahnfried fährt nach hinten, der Raum schließt sich, und Hans Sachs, alias Richard Wagner, steht im Zeugenstand eines Gerichtssaals. Im letzten Licht – Franck Evin ist ein Meister der bedeutungsvollen Beleuchtung – erkennen wir: Es ist der Saal der Nürnberger Prozesse, an der Wand die Fahnen der vier Siegermächte.

Die Vertäfelung rahmt auch im zweiten Aufzug die Spielfläche. Gras sprießt überall – eine sinnreiche Anspielung – und die efeubewachsene Zeugenschranke wird zur Liebeslaube Stolzings und Evas. Die Wagner-Entourage picknickt, die Gewandungen mutieren ins Volkstümliche, Handwerkliche, Altdeutsche. Den Fliedermonolog und das Gespräch mit David setzt Kosky mit sensiblem Blick auf die menschlich berührenden Tiefen in Szene, aber der spannungsvolle Dialog zwischen Hans Sachs und Eva will mit seinen hintergründigen Anspielungen nicht so recht in die Gänge kommen: Koskys Interesse gilt nicht der werkimmanenten Psychologie der Personen.

Beckmesser (Johannes Martin Kränzle) in der Prügelszene am Ende des zweiten Aufzugs. Foto: Enrico Nawrath

Beckmesser (Johannes Martin Kränzle) in der Prügelszene am Ende des zweiten Aufzugs. Foto: Enrico Nawrath

Die Prügelszene rückt er in deutliche Nähe eines Pogroms – nicht naturalistisch durchgestaltet, sondern hochsymbolisch aufgeladen: Beckmesser wird ein gewaltiger Kopf aufgesetzt, der an die verzerrten Juden-Darstellungen antisemitischer Zeichnungen erinnert; parallel dazu bläht sich riesig und geisterhaft eine „Stürmer“-Judenkarikatur bühnenhoch auf. Sie richtet den giftigen Blick ins Publikum, bis sie zu den letzten Versen des Nachtwächters in sich zusammensinkt und nur noch die Kippa mit dem Davidsstern sichtbar bleibt.

Ein plakatives Bild – aber auch ein Hinweis darauf, was aus dem Antisemitismus Wagners erwachsen ist. Koskys Regie stellt jedoch, gegen den ersten Eindruck solcher starker Bühnen-Signale, keine vordergründigen Bezüge her. Er gibt sich auch nicht, wie derzeit der Castorf-Ring in Bayreuth, der frei schweifenden Assoziation hin. Er hat den „Meistersingern“ nichts übergestülpt, sondern entwickelt jeden Zug seiner Deutung aus dem Stück, aus Wagners Gedankenwelt und aus dem ideologischen Umfeld, das vom unkritisch bewundernden Wagnerianismus eben bis hin zur Wagner-Rezeption Hitlers und des Dritten Reiches führt.

Wagners verquere Theorien in der Konkretion einer Bühnenfigur

Inwieweit Beckmesser als Juden-Karikatur aufgefasst werden kann, ist ein bis heute umstrittenes Thema. Wer Wagners Hetzschrift „Das Judenthum in der Musik“ liest, kommt jedoch nicht umhin, in Beckmesser Wagners verquere Theorien in der Konkretion einer Bühnenfigur wiederzuentdecken: „Der Jude“, der „an sich unfähig ist … sich uns künstlerisch kundzugeben“, der in Musik redet, ohne etwas Wirkliches zu sagen, der nur wie Papageien nachplappert „ohne Ausdruck und wirkliche Empfindung“ – ist das nicht Beckmesser, der sich eines Lieds von Hans Sachs bemächtigt, es entstellt und verständnislos vorträgt? Hitler sagt es unverblümt und in offenbar direktem Bezug auf Wagner: „Was (das Judentum) auf dem Gebiete der Kunst leistet, ist entweder Verbalhornisierung oder geistiger Diebstahl.“

Alles, was Wagner diffamiert hat, findet sich bei Beckmesser wieder – und insofern ist Kosky, wenn er den demontierten Merker bis in die karikierend zappelnden Bewegungen des letzten Akts hinein als erniedrigte Person kennzeichnet, jenseits aller philologischen Debatten auf der Spur des authentischen Wagner. Wenn er im dritten Akt das Renaissancevolk über die Bänke des Nürnberger Schwurgerichtssaals fegen und die Fahnen schwingen lässt, hebt er freilich die plakative Eindeutigkeit auf: Er schlägt den Bogen aus dem historischen spätmittelalterlichen Nürnberg, das seine Judengemeinde ausgerottet hat, über das idealisierte Alt-Nürnberg Wagners in die Villa Wahnfried als Chiffre für einen Ort, an dem sich Glanz und Elend des 19. Jahrhunderts verdichten. Und er markiert mit dem szenisch-räumlichen Bezug zu den Nürnberger Prozessen den Horizont, in dem die Geschichte zu lesen ist.

Michael Volle als Hans Sachs im Dritten Akt. Foto: Enrico Nawrath

Michael Volle als Hans Sachs im Dritten Akt. Foto: Enrico Nawrath

Gälte es nur der Kunst, wie es noch Wolfgang Wagner in seinen letzten, unübertrefflich biederen Bayreuther „Meistersingern“ nahegelegt hat, wäre Richard Wagner verharmlost, die Geschichte negiert und die Bedeutung von Musik um einen wesentlichen Aspekt beschnitten. Barrie Kosky hat mit Bewusstsein um die Probleme, mit virtuosem Regie-Handwerk und nicht zuletzt mit einem Seitenblick auf die ursprüngliche Intention der „Meistersinger“ als einer „komischen Oper“ ein Beispiel souverän konzipierten Deutungs-Theaters geschaffen, das allen Brüchen und Fragen zum Trotz in sich konsistent eine sinnlich erfassbare Position zu den „Meistersingern von Nürnberg“ entwickelt, die dem Anspruch des Stücks und dem Anspruch Bayreuths, wie mit Wagners Werk umzugehen sei, Genüge tut.

Kein Blech-Pathos aus dem Orchestergraben

Wenn Oper als Gesamtkunstwerk und als Beitrag zu einem philosophischen Diskurs aufgefasst wird, steht die Musik oft in Gefahr, in der Kritik an die zweite Stelle abzurücken. Dem muss ausdrücklich widersprochen werden – und die Bayreuther Neuproduktion dieses Jahres macht es einem leicht. Mit Philippe Jordan, dessen Berufung zum Musikdirektor der Wiener Staatsoper ab 2020 zur zweiten „Meistersinger“-Vorstellung bekannt gegeben wurde, gab es auch aus dem Orchestergraben einen neuen Ton: Das Blech-Pathos war ausgetrieben, der dicke Saft der Streicher ausgepresst. Die Ouvertüre hat darob nichts an Auftritts-Majestät verloren, aber Jordan entwickelt den Ton mit lichter Leichtigkeit, lässt die Phrasen elegant schweben, achtet vielleicht ein wenig zu unentschieden darauf, die verästelte Kontrapunktik darzustellen, trifft aber die sprühend lebendige Beweglichkeit zumal des ersten Aktes mit Bravour.

Präzise ausgehörte Finali, leise lyrische Nachdenklichkeit in den Monologen des Sachs, ein mit Wehmut in eingedunkelte Farben getauchtes Vorspiel zum dritten Akt sprechen für die Bewusstheit, mit der Jordan sich der großen inneren Linie der Musik widmet, wie wenig er sich von der nötigen und erfolgreichen Detailarbeit ablenken lässt, den großen Entwicklungsbogen und die Kongruenz zum szenischen Geschehen im Blick zu halten. Noch selten hat man einen Chor wie den Festspielchor Eberhard Friedrichs so spielfreudig erlebt und dabei so präzis, so schattierungsreich, so sorgfältig im Wort-Musik-Verhältnis zu hören bekommen. Die Festwiese war, weggerückt vom Schaustück mit Pracht und „Wach‘ auf“-Prunk, ein leicht genommenes, von Witz durchtränktes Kabinettstück. Szenisch den Bezug zum ersten Aufzug nicht verhehlend, vollbrachte der Chor auch eine Meisterleistung differenziert ausgedeuteter Sprache, von unbeschwert jubelnd bis bösartig zischend.

Nicht häufig in den letzten Dekaden war ein so gleichmäßig niveauvolles Ensemble zu erleben: Allen voran Michael Volle als nicht brüchefreier, aber in jedem Moment wort- und klangsouveräner Sachs und Johannes Martin Kränzle als Beckmesser, der zwischen komödiantischer Übertreibung und tiefster Erniedrigung stets szenisch wie stimmlich glaubwürdig bleibt und ein zutiefst bewegendes Menschenportrait gestaltet. Luxuriös besetzt sind der Veit Pogner mit dem in diesem Fach inzwischen führenden Bass Günther Groissböck und der Nachtwächter mit dem herrlich sonoren Karl-Heinz Lehner.

Daniel Behle kehrt mit leuchtendem, nur an wenigen Stellen verunsichertem Tenor die oft peinliche ausgestellte Naivität des Lehrbuben David um in jugendliche Nachdenklichkeit. Mit Klaus Florian Vogt steht in Bayreuth der derzeit wohl beste Stolzing auf der Bühne – auch wenn der zaghafte Umgang mit der Stütze gerade in den schwärmerischen Legati seiner Partie die gleichmäßige Tonbildung beeinträchtigt. Mit dem Tonansatz hat auch Anne Schwanewilms als Eva ihre liebe Not; der dritte Akt gelingt ihr besser als die verengten Dialoge im zweiten. Auf eine jugendlich-frische Eva mit frei strömender Stimme wird man wohl noch warten müssen. Wiebke Lehmkuhl setzt ihren üppigen Mezzo als Magdalena mit viel Lust an spielerischer Nuancierung ein. Bayreuths Festspiel-Premiere bietet allerbestes Theater, geistig durchdrungen und anregend, szenisch wie musikalisch auf einem Niveau, das den Begriff der „Festspiele“ überragend mit Leben füllt.




Achtung! Hier keine Spekulationen zum Anschlag auf den BVB-Mannschaftsbus – Nur noch dies: „You’ll Never Walk Alone“




Was ich eigentlich gerne schreiben wollte, dann aber doch nicht geschrieben habe…

Das Nicht-Getane, hier wird’s Ereignis. Wenn ich mir so überlege, worüber ich in den letzten Tagen habe schreiben wollen! Ui-ui-ui. Doch wo anfangs ein Wille gewesen sein mag, ist er dann doch nicht auf den Weg geraten.

Beispielsweise hätte ich ausführlichst von jenem misslichen kleinen Vorfall berichten können: Vergoss ich doch tatsächlich eine Tasse (schwarzen) Kaffee in meine vormalige Mac-Tastatur. Sie hat’s nicht überlebt. „R.I.P.“, wie es bei betroffenen Facebookianern öfter mal heißt.

Hätte, hätte, Fahrradkette... (@ Lupo / www.pixelio.de)

Hätte, hätte, Fahrradkette… (© Lupo / www.pixelio.de)

Anschließend habe ich mich mit einem so genannten „Migrations-Assistenten“ geplagt, der einem hilft, Programme, Dateien und Einstellungen von einem Computer auf den anderen zu schaufeln. Man lasse sich das Wort auf der Zunge zergehen: „Migrations-Assistent“.

Nebenbei gesagt: Ich mag’s ja sehr, wenn Technik funktioniert. Was ich aber überhaupt nicht mag, ist das forciert witzigseinwollende Wort „funktionuckelt“.

Zwischendurch habe ich noch eine allerletzte Buchbesprechung mit der Jahressignatur 2016 ins System hacken und ins Blog heben wollen, aber auch dafür war ich zu faul. Der Autor des betreffenden Bandes wird’s mir vielleicht danken. Doch es ist nur ein Aufschub. Und vielleicht habe ich dann schlechtere Laune.

Vorher wäre auch noch eine Zwischenbilanz zur winterpausierenden Bundesliga denkbar gewesen. Schließlich fühlen wir uns hier auch der Fußball-Kultur verpflichtet. Doch ach! Plötzlich gab es Ereignisse, neben denen jedes Gekicke verblasste.

Überhaupt: Jahresbilanzen, rauf und runter. Schwerstens kritisch und politisch. Hätte man schreiben können. Macht ja sonst keiner. Aber man kann nicht überall sein.

Persönliche Bekenntnisse? Gewiss. Auch das wäre möglich gewesen. Aber so weit möchte man dann doch nicht ausholen.

Irgendwer fühlt sich eh immer beleidigt.

Und was sagt man in derlei Möchtegern-Fällen?

Jede Wette, jede Wette:
„Hätte, hätte, Fahrradkette.“

Oder auch, ungleich avancierter mit Karl Valentin: „Mögen hätt ich schon wollen, aber dürfen hab ich mich nicht getraut!“

Auf einer Glatze Locken zu drehen, sei das Geschäft der Feuilletonisten, hieß es einst. Und siehe da, schon hat der gewiefte Zeilenschinder wieder ein paar Zeilen geschunden; allemal genug für einen kurzen, so richtig nichtigen Beitrag. Nichtig ist allerdings auch mal wichtig.

In diesem oder einem völlig anderen Sinne: Prosit Neujahr!




Weltexklusiv: Nichts über die Hitzewelle, nichts über Griechenland

Auch über schicke Fahrzeuge bringen wir nichts. (Foto: BB)

Auch über schicke Fahrzeuge bringen wir nichts. (Foto: BB)

Wir wissen eben, was wir unseren Leser(inne)n schuldig sind. Daher hier keine einzige Zeile über etwaige Hitzerekorde und keine Spekulationen über Griechenland. Nun erwarten wir demütig Dankschreiben aus aller Welt.




Guten Rutsch…

Alles Gute zum neuen Jahr

wünscht das Team der Revierpassagen

(Foto: Bernd Berke)

(Foto: Bernd Berke)




Nichts als Text im Tanzzentrum – „El triunfo de la libertad“ bei der Ruhrtriennale

laribote

Was zu lesen: „El triunfo de la libertad“ von La Ribot im Essener Tanzzentrum „pact“. Foto: Ruhrtriennale

Das Publikum wartet auf die Tänzer – doch die Tänzer kommen nicht. Stattdessen sind auf elektronischen Schriftbändern Sätze in Deutsch und Englisch zu lesen, die eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte, die das Intro zu einem Tanz sein könnte.

„El triunfo de la libertad“ heißt dieser eigenwillige Abend im Essener Tanzzentrum „pact“, für den die Choreographin La Ribot verantwortlich zeichnet. Anscheinend ist mit dem Titel die „Libertad“ (Freiheit) der Künstlerin gemeint, zu machen, wozu sie eben Lust hat.

Da die Kunst (fast) alles darf, ist La Ribote ihre fünfzigminütige Laufschriftvorführung bei schleichend sich wandelnder Bühnenhelligkeit nicht einmal vorzuwerfen. Eher schon dem Veranstalter Ruhrtriennale, der „El triunfo de la libertad“ unter „Theater/Performance“ ins Programmheft geschrieben hat und das unwissende Publikum in seiner Vorankündigung über das zu erwartende Geschehen völlig im Unklaren läßt. Wir lesen etwas von „Deutschlandpremiere“, „zeitgenössischem Tanz“ und einer „Frage nach den ,Extras’ der Komparsen…“, lesen die Namen Juan Dominguez und Juan Loriente, die das Konzept miterarbeiteten und die man, da man sie nicht näher kennt, als Tänzer auf der Bühne erwartete. Aber von Laufschrift lesen wir nichts. Und deshalb darf man das ganze getrost als Betrug am Publikum bezeichnen, als Flunkerei und Machtmißbrauch einer Intendanz, die der künstlerischen Überzeugungskraft der von ihr eingekauften Produktionen selbst nicht traut. Der Volksmund kennt für diesen Sachverhalt weitaus deftigere Formulierungen, die zu verwenden der Anstand verwehrt.

Zugegeben: Hätte man vorher gewußt, daß es sich hier lediglich um eine Textvorführung handelt, wäre man vermutlich nicht hingegangen. Wäre das ganze allerdings als „Installation“ (fraglos der treffendste Gattungsbegriff) aufgebaut worden, hätte man den Text sicherlich nicht von vorne bis hinten gelesen. Im Theatersaal kommt man jedoch nicht daran vorbei, ihn in Gänze wahrzunehmen. Und deshalb kennt man jetzt die Geschichte von Pablo und Egueda aus dem Dorf Alcorcón nahe Madrid, das seine Flitterwochen in der Karibik verbringt. Hier sieht es die Show von „Nelson, dem Skandinavier“ (25), der es schafft, Wallnüsse mit seinem Penis zu zertrümmern. Wow!

50 Jahre später – Goldene Hochzeit – reisen Pablo und Egueda wieder in die Karibik. Das selbe Hotel, die selbe Bühnenshow. Nur zertrümmert Nelson (75) jetzt Kokosnüsse, und sie fragen ihn, warum. „Die Augen werden schlechter“, sagt Nelson. Brüllwitz.

Zusätzlich zu dieser Geschichte, die detailreich und ausladend erzählt wird, gibt es im Wechsel einige kulturell höherstehende Passagen wie den Tagebucheintrag Ludwig des Vierzehnten, der am Tag der Erstürmung der Bastille „keine Ereignisse“ notierte. Oder die Sätze eines Pariser „Anonymus“ aus dem Jahr 1777, der alles Elend der Welt gesehen zu haben meint und dies wortreich ausbreitet. Weiterhin fallen Zitate von Fernando Pessoa und einem Rapper aus dem Gazastreifen, werden mit fiktiven Temperaturangaben aus der Zukunft (immer 17 Grad, was kein Zufall sein kann) und einigen durchnumerierten halluzinatorischen Gedanken angereichert, und ob das ganze inhaltliche Kohärenz und Struktur hat (was letztlich wahrscheinlicher ist) oder die Elemente in radikaler Gleichrangigkeit darbietet, mag das Publikum selbst entscheiden.

Die Künstlerin jedenfalls nimmt sich die Freiheit der (zumindest relativ) freien Assoziation; und wenn sie ihre Ideen nicht tanzen läßt, sondern sie zur Laufschrift macht, ist das doch wenigstens ein Konzept. Wenngleich ein vergleichsweise freudloses.

Wie zu erwarten: kaum Applaus. Es kam auch niemand auf die Bühne, um ihn sich abzuholen. Keine weiteren Vorstellungen.




Eröffnung der Konzertsaison in Krefeld: Mit Jac van Steen nach Russland

Wieder ein russisches Programm, wieder eine Geigerin: Die Brücke zur vergangenen Spielzeit wird offensichtlich geschlagen. Brachte Generalmusikdirektor Mihkel Kütson im vorletzten  der Serie der Abo-Konzerte der Niederrheinischen Sinfoniker Schostakowitsch und Mussorgsky, startete Gastdirigent Jac van Steen in Krefeld mit Tschaikowsky, Prokofjew und den souverän entfalteten Sinfonischen Tänzen Sergej Rachmaninows.

Viviane Hagner, die in Berlin lebende und unterrichtende Münchnerin, ist die Solistin des Zweiten Violinkonzerts Prokofjews. Keine der Geigerinnen, die auf der Glamourwelle mitschwappen. Ganz konzentriert auf den musikalischen Auftritt, wenn sie mutterseelenalleine das Konzert eröffnet. Ohne Sentiment, aber auch ohne die dunklen Verschattungen der Melancholie. Hagner bezieht Position: Die emotionale Geste, die demonstrative Emphase scheint ihre Sache nicht zu sein.

Das bestätigt sich spätestens im zweiten Satz. Der erste ändert ja seine Haltung rasch, fordert von der Solistin locker-virtuose und energisch-nachdrückliche Passagen. Der zweite flankiert ein pointiert kurznotiges Allegretto mit kantablen Teilen, die sich durchaus zum hymnischen Gesang steigern ließen. Nicht so von Viviane Hagner: Sie bleibt in der leidenschaftlichen Lyrik Prokofjews bei ihrem schlank-energischen, aber wenig eingefärbten Ton – als habe sie sich das Etikett der „Sachlichkeit“ tatsächlich auf die Fahnen gepappt.

Auch der letzte Satz, „ben marcato“, verlässt diese Linie nicht: Hagner markiert Rhythmus und Artikulation in der Tat ausgeprägt. Sie gibt sich keine Blöße in der Sorgfalt, mit der sie selbst kleinste Details modelliert. Aber gefangen nimmt sie mit ihrer Lesart nicht: Die Distanz, das gemiedene Risiko im Ausdruck, sind zu offen hörbar. Auch die Bach-Zugabe Hagners scheint zu bestätigen: Hier ist ein kühler Kopf zugange.

Jac van Steen (Foto: Dortmunder Philharmoniker)

Jac van Steen (Foto: Dortmunder Philharmoniker)

Den kühlen Kopf musste auch Jac van Steen bewahren: In der fragwürdigen Akustik des Krefelder Seidenweberhauses wollten sich die Klänge in Tschaikowskys „Romeo und Julia“ nicht verbinden. Das Orchester fand nicht zu geschmeidigem Klang, die Holzbläser schienen ihre Töne direkt und massiv über die Rampe zu wuchten. Auf einem anderen Platz dürfte das wohl anders geklungen haben – die Tücke des Saals ist mir noch unberechenbar. Dafür war deutlich zu hören, wie sauber die Streicher ihre Skalen formen, wie energisch rhythmische Akzente auf den Punkt gesetzt werden und wie bereitwillig die Sinfoniker die leidenschaftliche Phrasierung, die Vorstellung eines breiten, intensiven Klangs umsetzen.

Der Dirigent ist in der Region kein Unbekannter. 2011 hat die Stadt Dortmund seinen Vertrag nicht verlängert – und dies mit dem neuen Profil des Musiktheaters unter Jens-Daniel Herzog begründet. Die Profilierung ist freilich in den Anfängen steckengeblieben, aber Steen hat die Freiräume genutzt und steht inzwischen an Pulten wie dem des Philharmonia Orchestra London. Das Ulster Orchestra hat ihn zu seinem Ersten Gastdirigenten ernannt; an der Opera North In Leeds dirigiert er im Februar 2015 Puccinis „Gianni Schicchi“ und de Fallas „La Vida breve“.

Die brillante Instrumentierung der Rachmaninow-Tänze war der Saal-Akustik dann offenbar gelegener: Jetzt passten Balance und Klangfarben zueinander, fand sich die richtige Mischung von schmelzendem und scharf konturiertem Klang. Zum Beispiel im ersten Satz, der trotz des „non“ in der Bezeichnung ein Allegro ist. In den ans Groteske rührenden Klavierstellen. Oder in der Korrespondenz des Altsaxofons – Martin Hilner spielt es berührend – mit den Bläserkollegen. Oder auch in den herben koloristischen Reibungen und Kontrasten zwischen den Solisten. Oder in den schlank-klaren Trompeten des letzten Satzes. Oder den dunkel-sämigen Klängen der Violine von Konzertmeisterin Chisato Yamamoto.

Überzeugend auch die Momente episch anmutender Lyrik, die sich im Kopf mit den schwermütigen Bildern aus den Weiten Russlands verbindet. Steen bringt nach solchen Ruhepunkten die Musik wunderbar wieder in Bewegung, achtet auf geschmeidige Rhythmen, steigert organisch. Die Sinfoniker beweisen ein beachtliches Format, eine Kultur des Zusammenspiels, die für die kommende Saison schöne Hoffnungen weckt.

Auf die Musiker warten noch ein paar sinfonische Herausforderungen: Leonard Bernsteins „Jeremia“-Sinfonie etwa, Jean Sibelius‘ Erste Sinfonie oder Arthur Honeggers selten gespielte Vierte Sinfonie „Deliciae Basiliensis“. Sympathisch, das Mihkel Kütson immer wieder solche Trouvaillen in seine Programme einstreut. So etwa ein Konzert für Tuba und Orchester (2006) des 1971 geborenen Schweden Fredrik Högberg, oder ein Cellokonzert des einst bedeutenden, aus Seesen am Harz stammenden Cellisten und Komponisten Wilhelm Fitzenhagen (1848-1890), der Tschaikowskys Rokoko-Variationen kritisch begleitet und uraufgeführt hat. Der Cellist Alban Gerhardt wird als Solist in beiden Werken zu hören sein.

Wiederholung des Ersten Sinfoniekonzerts am 4. September in der Kaiser-Friedrich-Halle Mönchengladbach und am 5. September im Seidenweberhaus Krefeld. Info: www.theater-kr-mg.de/karten




Festspiel-Passagen VIII: Die Phrasen des Bösen – „Die letzten Tage der Menschheit“ in Salzburg

Dörte Lyssewksi in Karl Kraus' "Die letzten Tage der Menschheit" in Salzburg. Foto: Georg Soulek

Dörte Lyssewksi in Karl Kraus‘ „Die letzten Tage der Menschheit“ in Salzburg. Foto: Georg Soulek

Servus, Erster Weltkrieg. Bist‘ auch angekommen in der Jetztzeit des Theaters. Zeigst dein Fratzerl von den Brettern herunter. Und wir sitzen im blassen Glanz des k.u.k. Neubarock im Salzburger Landestheater, ein Festspielpublikum, das dich, du Krieg, erlebt wie damals die feinen Herrschaften auf der Wiener Ringstrass’n.

Nicht in Dreck und Blut, zerfetzten Leibern und wahnsinnig gewordenen Augen. Sondern im prickelnden Schauder der Bilder des Grauens, der Feuilletons von Schlacht und Tod. In Schicksalen, zurechtgemacht für das Format der Nachrichten, hingeschnitten auf die Reportage-Schnipsel raschbildriger Magazine, passend für’s Twitter-Format.

Vor 100 Jahren gab’s das auch. Nicht Facebook-Einträge und bunt sprühende Raketeneinschlagsvideos. Die medialen Mittel waren anders, aber nicht weniger verschleiernd. Nur gibt’s heute keinen Sprach-Wüterich wie Karl Kraus, der ingrimmig und inbrünstig die verlogene Wahrheit des „Unmittelbaren“ aufkratzt. Der aus all den mephistophelischen Phrasen montiert, was Sprache als Wahrheit entlarven kann. Der die tarnvernetzten Sprachregelungen zerfetzt und darunter die nackte, schmutzige Lüge hervorzerrt. Das mag auch der Zeit geschuldet sein: Sprache hat gegen die wahnwitzige Macht der Bilder keine Chance mehr.

Georg Schmiedleitner, den Regisseur der „Letzten Tage der Menschheit“ bei den Salzburger Festspielen, interessiert das Mediale. Und die Funktion der Sprache. Schmiedleitner hat eine schier unlösbare Aufgabe übernommen, als er kurzfristig für den geschassten Burgtheaterchef Matthias Hartmann eingesprungen ist. Kraus‘ monströses Drama, das gar kein Bühnenstück sein will, sperrt sich gegen die „Inszenierung“.

Schon der Autor sträubte sich, erteilte so gewieften Theatermännern wie Max Reinhardt eine Absage. Einem „Marstheater“ habe er es zugedacht, schreibt Kraus im Vorwort; Theatergänger dieser Welt vermöchten ihm nicht standzuhalten. Dass er später selbst eine Bühnenfassung erstellt hat, steht auf einem anderen Blatt.

Szene aus "Die letzten Tage der Menschheit" in der Regie von Georg Schmiedleitner. Im Vordergrund der großartige Darsteller Christoph Krutzler. Foto: Georg Soulek

Szene aus „Die letzten Tage der Menschheit“ in der Regie von Georg Schmiedleitner. Im Vordergrund der großartige Darsteller Christoph Krutzler. Foto: Georg Soulek

Schmiedleitner wählt gut 50 der 220 Szenen aus, die jede für sich stehen, und versucht sie mit den Auftritten des „Nörglers“ – einer Figur, die Karl Kraus selbst spiegelt – und des „Optimisten“ zu gliedern: Ritornell und Variation. Struktur gewinnt der über vierstündige Abend damit nicht, weil ihm dazu innere Dynamik fehlt.

Im zweiten Teil steigert sich zwar der Einsatz der Technik auf der kahlen Bühne Volker Hintermeiers (bis 2005 am Bochumer Schauspielhaus), aber Gegenlicht-Scheinwerfer, Stahlgerüste, Nebelmaschine und Showtreppe intensivieren das, was sich ereignet, nicht. Das ist Peter Eschberg 1995 in Frankfurt besser gelungen, der die Offizierstreffen an der Sirk-Ecke (zu Beginn der Akte) als „Ankerpunkte“ der Handlung und als Wegmarken in den Abgrund nutzte.

So bleiben vor allem die Szenen in Erinnerung, in denen die dreizehn Schauspieler ihr Können zeigen: Elisabeth Orth etwa, die als vertrockneter Lehrkörper, mit dem Rohrstock die „Disziplin“ einfuchtelnd, vor der nicht mehr vorhandenen Klasse einen grotesken Dialog über Gerüchte und Fremdenverkehr zum halbirren Monolog deformiert. Oder Stefanie Dvorak, die als Oberstleutnant Demmer von Drahtverhau das schrille Gekreisch früherer Szenen hinter sich lässt und in einem Lazarett voll Sterbender die „Direktive, Ehrenbezeigungen betreffend“ verliest wie eine Kabarettnummer. Oder Peter Matić, der als Kaiser Franz Joseph noch als Untoter in einem Couplet mit dünner Greisenstimme sein Geschick beklagt wie das gespenstische Zerrbild einer Nestroy-Figur. Oder auch der junge Laurence Rupp, der zwar, wie heute üblich, nachlässig artikuliert, aber wenigstens entspannt sprechen kann.

Dazwischen: Vier Stunden erhellendes Phrasendreschen. Montage von Sätzen, die so abgründig banal sind, dass man sie für schlechte Erfindung halten könnte, hätte nicht Kraus eine furchtbar reale Sprache montiert: „Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen. … Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate. Sätze, deren Wahnwitz unverlierbar dem Ohr eingeschrieben ist, wachsen zur Lebensmusik“, schreibt er im Vorwort.

Missratene Karikaturen, der Wirklichkeit abgelauscht

Typen treten uns entgegen, die man für missratene Karikaturen halten könnte, wären sie nicht so zwingend der Wirklichkeit abgelauscht: Der zynisch-kriecherische Hofrat Nepalleck, der die telefonischen Bücklinge en gros abliefert; der Dichter Ludwig Ganghofer, der Kaiser Wilhelm mit seinem Feuilleton umschleimt. Vor allem der Viktualienhändler Vinzenz Chramosta, der als dämonischer Wiener Prolet zu geifernder Monstrosität anschwillt: der großartige Darsteller Christoph Krutzler erinnert mit diesen Gestalten an die Darsteller-Legenden des abgründigen Volkstheaters. Oder das Trio der Journalisten, die sich aus dem Wortmaterial der Schauspielerin Elfriede Ritter (in dieser Szene überzeugend, in anderen zu überdreht: Alexandra Henkel) ihre Wahrheit basteln: Thomas Reisinger und Laurence Rupp sind zusammen mit Krutzler ein infernalisches Trio, zuständig für die Vivisektion der Sprache. Bestürzender könnte man auch heute einen Journalismus, der Lesernähe behauptend das filtert, was „die Leut‘“ lesen wollen, nicht beschreiben.

Nahe am Leser: Kriegsberichterstatteri Alice Schalek (Dörte Lyssewski) verwandelt die Traumata der Front (Soldat: Sven Dolinski) in Infotainment für Wiener Ringstraßen-Großbürger. Foto: Georg Soulek

Nahe am Leser: Kriegsberichterstatteri Alice Schalek (Dörte Lyssewski) verwandelt die Traumata der Front (Soldat: Sven Dolinski) in Infotainment für Wiener Ringstraßen-Großbürger. Foto: Georg Soulek

Krieg als mediales Ereignis, Berichterstattung als personality show, Reportage als performance und urban journalism. Alles schon mal dagewesen: Schmiedleitner rückt nicht umsonst die Figur der Kriegsberichterstatterin Alice Schalek in den Vordergrund. Für Karl Kraus war die „Kriegsverherrlichung“ dieser einzigen Frau im k.u.k. Kriegspressequartier im Ersten Weltkrieg ein rotes Tuch; für Schmiedleitner ist sie eine Studie über die ungeheuerliche Funktion der Sprache im Vernebelungsprozess von Wirklichkeit.

Dörte Lyssewski windet sich in die Szene wie ein Model auf dem Laufsteg: eine Schlange in feldgrauem Rock. Sie konkurriert mit riesigem, haarigen Kopfbesatz mit den Rosshaarpracht des kaiserlich-wilhelminischen Helms (die Kostümbildnerin Tina Kloempken aus Mülheim kennen viele noch von ihren Bochumer Arbeiten). Lyssewksi setzt die Sprache mal bajonettspitz, mal sammetweich an. Sie schwärmt vom „Stahlbad“ und sät mit der floskelhaften Frage der stets quietschvergnügten Interview-Blondinen aus dem Privatfernsehen den Verdacht aus, der Journalismus habe in hundert Jahren nichts gelernt: „Wie fühlen sie sich?“ Und wenn der idealisierte „gemeine Mann“ nicht die passende Antwort gibt, schreitet die Schalek weiter die Isonzo-Front ab, bis „in der Stellung“ eine Flasche Extra-Champagner und Speisen in „dampfenden Schüsseln“ auf Damast serviert werden.

Optimist und Nörgler: Georg Bloéb (links) und Dietmar König. Foto: Georg Soulek

Optimist und Nörgler: Georg Bloéb (links) und Dietmar König. Foto: Georg Soulek

Vom schaurigschönen Bericht von den Helden an der Front für den Wiener Salon zu den schönschaurigen Sensationsbildern des Infotainments ist der Schritt nicht groß. Die zwerchfellkitzelnden Donnerschläge, die Schmiedleitner in die Szenen einschlagen lässt, sind akustische Deutesignale ganz in diesem Sinne: Keinen unangebrachten theatralischen Realismus hat er da im Sinn. Das Dröhnen kommt eher aus „Star Wars“ oder aus den Ego-Shooter-Derivat-Filmen Hollywoods. Krieg als großes Kino. Die krachend aufmarschierende Postmusik Salzburg unter Franz Milacher stellt als Kontrast die Brücke dar zum verlogenen Operetten-„Zauber der Montur“ der guten alten Zeit.

Diese Zuspitzung des Kraus’schen Universaldramas bezahlt Schmiedleitner mit nicht unerheblichem Tribut: Eine Reihe von Szenen driften ab in die Sphäre kabaretthafter Eindeutigkeit, andere – wie die Familie Wahnschaffe – büßen in schriller Übertreibung ihre bösartige Selbstverständlichkeit ein. Der dürre, kahlköpfige Nörgler Dietmar König spuckt dem jovialen Optimisten Gregor Bloéb seine galligen Einwände in so viel Bedeutung eingepresst entgegen, dass gerade diese Dreh- und Angelpunkte der Dramaturgie ihr Gewicht verlieren.

In einer Welt, in der Jesus Christus auf Feldpredigerfomat verkleinert ist und das Universum vielleicht noch als Wirtschaftsraum durchgeht, gehört das letzte Wort nicht Gott. Der Optimist nimmt es sich, und es geht noch einmal unter die Haut: Er schlüpft in die Uniform des Hauptmanns Prasch, vielleicht die verstörendste der entmenschlichten Figuren des Dramas. Mit dem lakonischen Grinsen von jemandem, den das alles nichts angeht, lässt er Mord, Marter und Vergewaltigung Revue passieren: „Man darf den Mut nicht sinken lassen. Kopf hoch!“

Wiederaufnahme am Wiener Burgtheater am 5. September. Eine weitere Inszenierung der „letzten Tage in Menschheit“ kündigt das Pfalztheater in Kaiserslautern an (Premiere 31.01.2015).




Festspiel-Passagen VII: Spaß am Ungehörten – Francesco Morlacchi in Wildbad wiederentdeckt

Beifall für Morlacchis Oper "Tebaldo e Isolina" in Wildbad. Foto: Elias Glatzle

Beifall für Morlacchis Oper „Tebaldo e Isolina“ in Wildbad. Foto: Elias Glatzle

Der gemeinhinnige Kulturbetrieb setzt auf die Freude am Wiedererkennen: Spielen wir Beethoven, dann kommen die Leut‘. Die Schwergewichte unter den Musikfestivals setzen schon aus Überlebens- und Konkurrenzgründen auf dieses probate Mittel, bemäntelt mir mehr oder weniger geschickten programmatischen Schlagworten oder mit ein paar Nischenkonzerten, in denen man Aufgeschlossenheit demonstriert. Und um Zeitgenossenschaft zu dokumentierten, empfiehlt es sich, Wolfgang Rihm einzuladen, der mit seiner stets freundlichen Ausstrahlung des genießenden Intellektuellen mit schwer genießbarer Musik versöhnt.

Es gibt aber auch ein paar Festivals, die sich diesem probaten Rezept entziehen. Rossini in Wildbad zum Beispiel. Da halten in einem Tal im nördlichen Schwarzwald eine Handvoll idealistischer Freaks um den Intendanten Jochen Schönleber und dem intellektuellen Überbau-Manager Reto Müller einen Komponisten hoch, den der Betrieb sonst meist nur mit komischen Figuren aus Gewerben duldet, die längst ausgestorben sind: Barbiere zum Beispiel – heute auf den Friseur reduziert – oder Küchenhilfen am aschigen Herd.

Frisch renoviert: Das Wildbader Kurtheater. Foto: Marcel Menz

Frisch renoviert: Das Wildbader Kurtheater. Foto: Marcel Menz

Auch „Rossini in Wildbad“ hat seine zeitgenössische Komponente: Adriana Hölszky hatte man eingeladen, und die in Stuttgart lebende Komponistin brachte gleich zwei Uraufführungen mit, gespielt im hübschen, mühe- und kostenträchtig renovierten Kurtheater, einer frisch herausgeputzten Perle gründerzeitlicher Unterhaltungs-Architektur. Aber ansonsten gab es etwa eine „Hommage“ an jemanden, den heute nur noch Eingeweihte kennen: Adolphe Nourrit, führender Tenor der Pariser Oper zur Rossini-Zeit, zwischen 1826 und 1836 der König des hohen „D“.

Zum Profil des Festivals im einstigen königlichen Bad in Württemberg gehört auch, sich vergessenen Komponisten der Rossini-Zeit anzunehmen. In diesem Jahr rückte der Dresdner Hofkapellmeister Francesco Morlacchi ins Blickfeld. Für den 1784 in Perugia geborenen Komponisten kannte die ältere – und bis heute nachwirkende – Musikgeschichte nur verächtliche Urteile: Außerordentlich dürftiger Satz, flache Brillanz, dürftige Homophonie der Instrumentation, lärmende Verwendung der Blechbläser – so ist etwa in „Musik in Geschichte und Gegenwart“, einem wissenschaftlichen Standard-Lexikon, aus dem Jahr 1961 zu lesen.

Morlacchi, lange nur als Dresdner Rivale Carl Maria von Webers rezipiert, ein Fall für’s Archiv? Die Wildbader Aufführung lässt an solchem Urteil zweifeln. „Tebaldo e Isolina“, 1822 für den Star-Kastraten Giovanni Battista Velluti entstanden, im Teatro La Fenice in Venedig uraufgeführt, für eine Dresdner Aufführung 1825 gründlich überarbeitet und für Mezzosopran umgeschrieben, beweist eindrucksvoll, dass Morlacchi sich unter den „Tonsetzern“ seiner Epoche sehr wohl behaupten kann.

„Tebaldo e Isolina“ variiert einen Romeo-und-Julia-Stoff mit einem glücklichen Ende: Zwei Adelsgeschlechter werden durch einen heimtückischen Mord zu erbitterten Feinden, versöhnen sich aber, als die beiden ursprünglich einander versprochenen Kinder in einem dramatischen Finale um Einsicht, Menschlichkeit und Vergebung flehen. Falsche Identitäten, ein unbekannter Ritter, ein wiedergefundener Sohn und ein zurückkehrender Rächer garantieren Spannung und überraschende Wendungen. Und Schauplätze wie ein alter Friedhof mit einer Kirchenruine und einem schwarzen Ritter könnten einem der Romane Sir Walter Scotts entnommen sein. In diesem italienischen „Melodramma romantico“ sind Donizettis „Lucia di Lammermoor“, aber auch Heinrich Marschners „Der Templer und die Jüdin“ nicht mehr weit.

Der Berliner Musikwissenschaftler Michael Wittmann vermutet in seinem informativen Beitrag im Programmheft, die Harmonien in der Musik könne nur jemand erdacht haben, der den „Freischütz“ kannte. Tatsächlich weckt die farbenreich instrumentierte Musik Morlacchis den Eindruck des „Romantischen“: Schon die Holzbläser der Ouvertüre, die Klarinette in der Einleitung der Cavatina der Isolina, aber auch die Soli des Cello zu Beginn des zweiten Akts und die Hörner in der Einleitung zu Scena und Romanze des Tebaldo lassen auf den ersten Eindruck an Weber denken. Doch in der formalen Anlage seiner Musik nähert sich Morlacchi seinem Dresdner Konkurrenten nicht – und die instrumentale Raffinesse lässt sich mit einem Blick auf die Opern eines Simon Mayr und vor allem eines Gioacchino Rossini schlüssig erklären.

Verknüpfungen zwischen deutscher und
italienischer Opern-Entwicklung

Abwegig ist Wittmanns These dennoch nicht, Morlacchi habe einen späten Versuch unternommen, die auseinander driftenden Entwicklungen in der italienischen und der deutschen Oper noch einmal zusammenzuführen. Manches in „Tebaldo e Isolina“ klingt nach frühem Heinrich Marschner; der Komponist war ab 1824 die italienische Oper in Dresden angestellt und hat den Klavierauszug zu Morlacchis Werk erstellt. So könnten sich durch das Werk überraschende Einsichten in Tradition und Entwicklung der deutschen Oper ergeben. Als Ergebnis bleibt: Die dunklen Schatten der „Titanen“ dieser Epoche – Beethoven, Rossini, Weber – aufzuhellen, bringt Musik zutage, die nicht nur handwerklich oder musikhistorisch aufschlussreich ist. „Tebaldo e Isolina“ befriedigt keineswegs nur Archivare.

Mit der Aufführung in Bad Wildbad hat das Rossini-Festival seine Nische erfolgreich besetzt und ist aus dem Schatten „großer“ Festivals herausgetreten, denen – wie Salzburg in diesem Jahr – etwa zum Strauss-Jubiläum nichts anderes einfällt als ein „Rosenkavalier“. Der musikalische Leiter von „Rossini in Wildbad“, Antonino Fogliani, hat das Händchen für die federnde Rhythmik der Rossini-Anleihen, aber auch die Phrasierungslust und das Gefühl für den atmenden Bogen, die für die Kantilenen und die romantisierenden Harmoniefolgen nötig sind. Dass die Virtuosi Brunenses, das Orchester des Festivals, nicht mehr auf der Höhe der Konzentration waren, ist nach den anstrengenden Aufführungen der Vortage nicht verwunderlich: die Intonation ließ zu wünschen übrig, auch Präzision der Einsätze und Formung des Tons waren schon zuverlässiger.

Zweifelhalftes aus Italien

Deutlich zeichnet sich im diesjährigen Festival ab: Intendant Jochen Schönlebers Weg, sich auf junge, italienisch ausgebildete Sänger zu stützen, geht nur zum Teil auf. Die Gesangsschulen jenseits der Alpen können nicht mehr an die großen Traditionen anknüpfen, die bis in die sechziger Jahre hinein für erstklassigen Sängernachwuchs sorgten.

In Wildbad war zu hören, wie sich technisch unzureichend gebildete, harte und vibratogesättigte Stimmen an anspruchsvollen Aufgaben abarbeiten. Laura Polverelli, kein unbekannter Name in der italienischen Opernszene, tremoliert sich durch die Partie des Tebaldo. Ihr schneidend-metallischer Ton wird im piano flach, für die Kantilenen fehlt ein gleichmäßig gebildeter Klang. Sandra Pastrana, in Spanien ausgebildet, hat mit Geläufigkeit und lyrischer Noblesse keine Probleme, wohl aber auch mit einer harten Tonbildung und angestrengt herausgeschleuderten, dabei überflüssigen hohen Finaltönen.

Anicio Zorzi Giustiniani als Boemondo d‘Altemburgo zählt unter die positiven Eindrücke der Wildbader Aufführungen: ein Tenor mit einer gelösten, abgerundeten Tonbildung, der nur das kehlige Timbre und die zu weit hinten sitzenden Vokale „e“ und „i“ entwickeln müsste. Als Geroldo erfüllt Gheorghe Vlad seine Rolle als Bruder Isolinas in einem kurzen Auftritt zuverlässig; mit Raúl Baglietta als Ermanno di Tromberga – Vater Isolinas und Gegenspieler der Familie d’Altemburgo – wurde man nicht glücklich: Ein flach positionierter Bass mit mühevoll gedrückten Höhen.

Wieder einmal hat „Rossini in Wildbad“ wertvolle Erkundungsarbeit in einem Repertoire geleistet, das nur über solche einfallsreiche Initiativen eine Chance hat, auf aktuelle Relevanz geprüft zu werden. Im Falle von Morlacchis Oper wäre eine szenische Realisierung nur zu begrüßen.




Markus Becker beim Klavier-Festival in Essen: Für links geht nicht „mit links“

Der Pianist Markus Becker. Foto: KFR/Roland Schmidt

Der Pianist Markus Becker. Foto: KFR/Roland Schmidt

Verlässt das Klavier-Festival Ruhr die breite Straße, um sich auf verschlungenen Wegen in abgelegene Regionen der Klaviermusik zu begeben, eröffnen sich oft reizvolle Ausblicke. So im Konzert mit Markus Becker und den Bochumer Symphonikern unter Steven Sloane. Becker spielte zwei kaum gehörte Werke für die linke Hand.

Das eine hat Alexandre Tansman für den berühmten einarmigen Pianisten Paul Wittgenstein 1943 skizziert, aber nicht vollendet. In Polen geboren, im Paris der Zwischenkriegszeit sozialisiert, als Emigrant in den USA geschätzt, nach dem Krieg bis ins hohe Alter in Paris aktiv, gehört Tansman zu den erfolgreichen, heute weitgehend vergessenen Komponisten des wechselvollen 20. Jahrhunderts. Die „Pièce concertante“ für die linke Hand und Orchester hat – wie in vielen anderen Fällen – der einarmige Pianist Paul Wittgenstein bestellt. Ausgeführt wurde das einsätzige Werk jedoch nicht. Es lag lange im Nachlass Tansmans, bis es sein polnischer Landsmann Piotr Moss 2008 vollendete.

Die Bochumer Symphoniker unter ihrem Chef Steven Sloane stellten sich brillant der farbenprächtigen Instrumentation von Moss: Strawinsky-Anklänge und Tanzrhythmen, üppige Filmmusik und virtuose Einwürfe fordern ihren Klangsinn; Schellen, Glöckchen und allerlei anderes unterhaltsames Schlagwerk zünden Mini-Eruptionen.

Der Rhythmus klingt manchmal nach Jazzband, manchmal nach gezähmtem Schostakowitsch. Becker nimmt Skalen, Figuren und Sprünge als sportliche Herausforderung für seine Treffsicherheit. Eine schräge Fuge mit drei Blasinstrumenten, Klavier und Xylophon wirkt wie ein ironischer Kommentar auf deutsche Gelehrsamkeit – oder auf das Wiederentdecken alter musikalischer Formen, das damals von Ravel bis Respighi sehr en vogue war.

Auch das andere Werk für links lässt sich nicht „mit links“ nehmen: Franz Schmidt – im Klassik-Betrieb ebenso ungerecht wie Tansman an den Rand gedrängt – hat mehr als den glühenden Zwischenspiel-Hit aus seiner Oper „Notre Dame“ geschrieben. Seine Variationen über ein Thema von Beethoven verorten sich in bester Spätromantik: süffige Harmonik, Bruckner’sches Leuchten und die Eleganz Korngold’scher Klanglust.

Für Becker sind die wasserfallartigen Kaskaden, groß bemessenen Arpeggien und die gestochene Präzision der Finger ebenso wenig ein Problem wie die apart rhythmisierten Tanzmusik-Variationen. Wenn ihm da die Holzbläser der Bochumer folgen, zeigen sie die nötige Präzision und den Sinn für die Balance im Klang, die das Orchester an anderen Stellen recht burschikos rüberkommen lässt.

Schmidts süße Harmonien und der leuchtende, an Antonín Dvořák erinnernde Klangschmelz bleiben streckenweise unerfüllt. Vor allem die Hörner fanden sich diesmal im Klang nicht zusammen; auch das Blech intonierte eher schrill als pastos-samtig.

Was Steven Sloane getrieben hat, die „Eroica“ in zwei Teile zu reißen und je zwei Sätze an den Beginn und das Ende des Konzerts zu stellen, weiß wohl niemand außer ihm. Der Sinn erschließt sich nicht; eher wirkt Beethovens Musik nach der Präsentation spätromantischer Üppigkeit karg. Wenn dann noch die Konzentrationslücken der Symphoniker dazukommen, wirkt Beethovens Dritte umso deutlicher fehlplatziert. Zumal sich Steven Sloane im gestaltenden Zugriff zurückhält, unentschlossen wirkt und im letzten Satz das Tempo schleppt. Zeit wird’s, dass die Ferien kommen …




Festspiel-Passagen II: Händels „Giove in Argo“ in Bad Lauchstädt mit Sinn fürs Komische

Jupiter, das wissen wir aus der antiken Mythologie und von Jacques Offenbach, war nicht zimperlich, wenn es um seine Amouren ging: Europa näherte er sich als Stier, Leda als Schwan, Danae als Goldregen und, naja, Eurydike sogar als dicke goldene Fliege. Zu Georg Friedrich Händels Zeiten waren die erotischen Histörchen um den Göttervater noch wohlbekannt, und so konnten sich die Besucher seiner Oper „Giove in Argo“ schon denken, was Jupiter im Nordosten der Peloponnes zu suchen hatte …

2014 herrscht in Griechenland allerdings Depression, und so verlegt Kay Link in seiner Inszenierung von „Giove in Argo“ für die Händel-Festspiele Halle die göttlichen Eskapaden in einen verödeten Flughafen. Im angegammelten Ambiente des Terminals, das Olga von Wahl auf die Bühne des historischen Goethe-Theaters in Bad Lauchstädt gebaut hat, treffen sich die an den Abfertigungsschaltern des Schicksals Gestrandeten: Iside, Tochter eines ermordeten Königs und dürstend nach Rache. Osiris, ägyptischer König, ihr Verlobter, getarnt als biederer Tourist Erasto. Calisto, Tochter eines Mörders und Tyrannen, ein blondes Girl aus einem teuren College. Und Licaone, der den König von Argos ermordet und damit alle Unbill entfesselt hat, ebenfalls auf der Flucht: mit silbernem Geldkoffer durch den Zuschauerraum und über die Bühne. Die Flüge sind alle gecancelt: Aus dem Terminal entkommt die nächsten drei Akte keiner.

Flughäfen sind heute, was Bahnhöfe für das letzte Jahrhundert waren: Schauplätze des Abschieds, der Flucht, der Heimatlosigkeit, zufälliger Begegnungen und unaufhaltsamer Abläufe. Eine passende Metapher also, um das komplizierte Netzwerk der Handlung, aufgespannt von einem Libretto, das ursprünglich von Antonio Lotti für Dresden vertont wurde, zu verorten. Händel hat es benutzt, um 1739 in London in Windeseile eine Oper aus der Feder zu schütteln. Mit ihr wollte er zwei neue Sängerinnen präsentieren und der Konkurrenz in Covent Garden die Stirn bieten.

Für das Komponieren neuer Musik blieb wenig Zeit: „Giove in Argo“ ist ein „Pasticcio“. Die Arien entnahm Händel aus neun eigenen und einer fremden Oper, zwei Serenaden und einem Oratorium. Immerhin sechs Arien sind neu, ebenso einer der acht Chöre, zwei Ariosi und die Secco-Rezitative. Letztere sind allerdings nur für den ersten Akt erhalten; die der beiden anderen schrieb der Rekonstrukteur des Werkes, John H. Roberts, neu.

Lange hielt man die Oper für nicht mehr aufführbar, bis Roberts 2001 die fehlenden Arien entdeckte: Sie stammen von Francesco Araia, Kapellmeister der italienischen Oper am Hof in St. Petersburg, und sind an Qualität und Wirkung den Händel’schen Arien gleichwertig. „Giove in Argo“ blieb dennoch selten gespielt: Die Inszenierung anlässlich der Händel-Festspiele in Halle ist – laut der Datenbank des Händel-Hauses – erst die zweite nach der modernen Erstaufführung in Bayreuth 2006.

Die Flughafen-Metapher macht es dem Regisseur dank der Kostüme Olga von Wahls möglich, die Machtverhältnisse zu verdeutlichen. Die Götter treten als Flugpersonal auf – ohne das der Passagier an die Erde gefesselt bleibt: Jupiter in Pilotengala in Weiß und Gold, Diana und ihr Damen-Gefolge in adrettem Fliegerblau mit engen Röcken und Schiffchen im Haar. Als Jupiter sein erstes Opfer Iside umgurrt, rückt das Stück aus dem Schema der „opera seria“ in die Nähe einer Offenbachiade des 18. Jahrhunderts: Der gefährliche Unernst der Avancen des Gottes entspricht der rührend pubertären, schockierend radikalen Entschlossenheit der Iside: Für ihre Rache ist sie sogar zum Sex mit einem Mann bereit, der ihr sonst von Herzen gleichgültig wäre.

Beim zweiten Opfer, der höheren Tochter Callisto in knallrotem Dress, kommt der Göttervater seiner Tochter Diana ins Gehege: Die hat mit ihren militärisch gedrillten Jungfrauen im Sinn, das Oberschicht-Mädel für Abstand von den Männern und „Keuschheit“ zu gewinnen – aus welchen durchsichtigen Gründen, zeigt der unverhohlene Annäherungsversuch der Göttin. Wenn nach dem Hin und Her der drei Akte nach gut drei Stunden die Lösung naht, hat das Finale etwas von der ironisch-abrupten Art Offenbachs: Jupiter bestimmt einfach, wie es zu laufen hat, macht aber die Rechnung ohne seine düpierte Tochter Diana: Die ersticht den Mörder Licaone durch die Kulisse und lässt den obersten Gott durch ihre Damen in der Versenkung verschwinden, als fahre Don Juan in die Hölle. Frauen-Power trägt den Sieg davon.

Da Händel die Arien mit Bedacht auswählte, haben wir in „Giove in Argo“ eine Hitliste bezaubernder Musik von „Alcina“ bis „Teseo“. Und die Musik Francesco Araias in seinem großen Accompagnato „Iside, dove sei“ und der Arie „Ombra che pallida“ bewegt sich auf Augenhöhe mit Händel: Dessen Accompagnato des zweiten Akts eröffnet eine expressive Wahnsinns-Szene, mit der jede Sängerin brillieren kann, und die Händel mit grellen Dissonanzen selbst für Ohren des 21. Jahrhunderts musikalisch bezwingend aufrüstet.

Nun ist die Iside der Bad Lauchstädter Aufführung, Roberta Mameli, zwar eine höchst präsente Darstellerin, kann aber mit ihren gesanglichen Mitteln nicht überzeugen. Ihre Expressivität ergibt sich aus einer zweifelhaften Methode deklamierenden Sing-Sprechens, das aufs erste Hören wirkungsvoll ist, aber im Lauf des Abends eher verärgert als erfreut: Das beginnt bei einem mal kopfigen, mal in die Nase getriebenen Klang, führt sich fort über unklare Artikulation und endet bei dünnen, sentimentalen Piani. Von einer gleichmäßigen Bildung der Töne, einer stetigen Führung des Atems oder einer kontrollierten Emission – alles Grundforderungen des „Belcanto“ des 18. Jahrhunderts – kann keine Rede sein. Verwunderlich, dass „historisch informierte“ Dirigenten, die sich sonst um jede Darmsaite kümmern, mit einem solchen Gesangsstil zufrieden sind. Er hätte in der Tat eher seinen Platz in den Offenbach’schen Bouffes-Parisiens als im Theater Georg Friedrich Händels.

Erfolgreicher zeigt Natalia Rubiś als Einspringerin in der Partie der Callisto, wie solide Technik dem Ausdruck des Singens zuträglich ist: Mit ihrem hell timbrierten, schlanken Sopran lässt sie Staccati, punktierte Noten und elegante Figuren keck abspringen; erfüllt ihre Klagearie im dritten Akt mit feiner Wärme. Barbara Emilia Schedels harter, präziser Sopran, technisch fragwürdig, passt zur Figur der Diana als energischer Lesbe. Unter den Männern positioniert sich Krystian Adam als Jupiter – unter dem Decknamen Arete – vorteilhaft: Er lockert die anfangs angespannte Stimme, singt zunehmend geschmeidig, kann auch mit nuancierten Farben gestalten. Thilo Dahlmann (Erasto) artikuliert nicht sehr elegant, aber deutlich; Johan Rydh (Licaone) bietet festgefahrene, auf dem Atem gestoßene Töne.

Mit Werner Ehrhardt am Pult seines 2004 gegründeten Orchesters „l’arte del mondo“ stellen sich erlesenere Händel-Freuden ein. Ehrhardt pflegt einen gelasseneren, metrisch unangestrengten, freier schwingenden Klang als etwa Laurence Cummings in Göttingen. Lockere Tempi, ein nuanciertes Spiel der Streicher, entspannte Phrasierungen und angenehm saubere Bläser kennzeichnen das Ensemble. Ehrhardt entlockt seinen Musikern für jede Arie eine eigene, charakterisierende Färbung, schaut genau auf den Rhythmus, lässt auch Effekte nicht aus – etwa die düsteren Forte-Akzente der tiefen Streicher oder die dissonanten Blitze des zweiten Akts. Und auch der Chor, das mit vibratolos „weißen“ Stimmen singende Vokalensemble „l’arte del mondo“, findet einen locker schwingenden, rhythmisch aparten oder verdichtet dramatischen Klang.

Die Händel-Festspiele Halle haben mit „Giove in Argo“ wieder verdienstvolle Ausgrabungs-Arbeit geleistet. Die Regie Kay Links bricht mit Gespür für komische Nuancen das böse Spiel um Macht und Begehren auf, ohne ihm seine Brisanz zu nehmen. So gesehen könnte dieses Pasticcio das Händel-Repertoire durch eine ungewöhnliche Farbe ergänzen.




Mystisches Erlösungsdrama: Wuppertal spielt noch zwei Mal Respighis „Die Ägyptische Maria“

Auf diesem Foto gut sichtbar: die Videos von Christian Hampe für Respighis "Die ägyptische Maria", die im Juni noch zwei Mal in Wuppertaler Kirchen gespielt wird. Foto: Uwe Stratmann

Auf diesem Foto gut sichtbar: die Videos von Christian Hampe für Respighis „Die ägyptische Maria“, die im Juni noch zwei Mal in Wuppertaler Kirchen gespielt wird. Foto: Uwe Stratmann

Die Dame ging einem Gewerbe nach, das erst die Frauenbewegung des ausgehenden 20. Jahrhundert zu einem Beruf wie jeden anderen zu erklären versucht: Sie war, was man heute „Sexarbeiterin“ nennt. Im ägyptischen Alexandria der Völkerwanderungszeit war „frau“ da auf der Verliererseite; das Einkommen reichte nicht für eine Kreuzfahrt nach Jerusalem. Doch Maria, so der Name der Passagierin, zahlte die Seeleute mit dem, was ihr zu Gebote stand: ihrem Körper.

Christliche Legenden können drastisch sein. Und erzählen bisweilen von Menschen, denen ein gefestigt christliches Bürgertum nie und nimmer zugestanden hätte, einmal heilig zu werden. Im Falle der ägyptischen Maria führte dieser Weg über Erkenntnis, Reue und Buße: Das jähe Bewusstsein, ein sinnloses und ödes Dasein zu fristen; die unvermittelte Sehnsucht nach einem neuen Leben, die von einem Engel unterstützte Reue an der Schwelle des Heiligtums zu Jerusalem; ein ganz auf Gott konzentrierter Rückzug in die Wüste, einem Ort, an dem die üblichen Kriterien eines scheinbar sinnerfüllten, gelingenden, guten Lebens außer Kraft gesetzt sind.

In der frühen, rudimentären Lebensbeschreibung der ägyptischen Maria – in der Kunstgeschichte als völlig von Haaren bedeckte nackte Frau ein beliebtes Motiv – spiegelt sich die Radikalität der altchristlichen Einsiedler ebenso wie die Wüste als symbolgeladener Ort existenziellen Ausgesetztseins. Für den italienischen Komponisten Ottorino Respighi war der christliche Kern dieser Bekehrungsgeschichte ein Anlass, den Stoff für eine Oper über die ägyptische Maria zu wählen. Doch sie kam auch dem Mystizismus der Zeit entgegen, ebenso dem heroischen Idealismus im Gefolge eines Gabriele d’Annunzio, dessen Spuren sich im Libretto Claudio Guastallas finden, ohne dass Respighi und sein Librettist sich näher auf den egomanischen Atheismus des italienischen Nationalheroen des beginnenden 20. Jahrhunderts eingelassen hätten.

Symbolismus, Archaik, Rückkehr zu den Quellen

Das Opernprojekt kam aber auch Respighis Neigung zum Archaischen entgegen: Er konzipierte „Maria Egiziaca“ als Triptychon: drei Szenen, verbunden durch zwei Zwischenspiele, einem dreiflügeligen Altarbild ähnlich. Eine Idee, die Respighi auch in anderen Werken verfolgte, etwa in seinem „Trittico botticelliano“, in dem er bekannte Werke des Florentiner Malers musikalisch reflektiert. Respighi sah die Zukunft der italienischen Musik seiner Zeit – in Gegnerschaft zu Verdi und Puccini – im Rückgriff auf das Erbe des 16. und 17. Jahrhunderts. Er gab Werke von Monteverdi heraus und bearbeitete sie, er forschte von Cavalli bis Vivaldi in der Alten Musik. Für seine eigene Musik machte er nicht nur die formalen Experimente eines Richard Strauss und die farbenreiche Orchestrationskunst eines Nikolai Rimski-Korsakows fruchtbar. Sondern er griff auch auf archaisierend auf alten Techniken zurück – bis hin zur Gregorianik, auf die ihn seine Frau Elsa aufmerksam gemacht haben soll.

Ein guter Griff also, dass die Wuppertaler Bühnen auf die lange nicht mehr gespielte „Maria Egiziaca“ zurückgriffen, als es darum ging, eine in Wuppertaler Kirchen spielbare Opernproduktion zu entwickeln. Der oratorische Charakter des Erlösungsdramas der ägyptischen Maria kommt dieser Wahl entgegen. Statt eines Bühnenbilds gestaltete Christian Hampe Videoprojektionen, die von jungen Menschen im Rahmen des Medienprojekts Wuppertal unter Norbert Weinrowsky entwickelt wurden. Die Bilder, assoziative Formen und Szenen, arrangiert von Regisseur Johannes Blum, bilden einen visuellen Rahmen, der je nach Architektur der Aufführungskirche überzeugender oder überflüssiger wirkt. Im Saal der Thomaskirche etwa kamen sie nicht zur Geltung.

Thomas Laske und Dorothea Brandt in Respighis "Die Ägyptische Maria" in Wuppertal. Foto: Uwe Stratmann

Thomas Laske und Dorothea Brandt in Respighis „Die Ägyptische Maria“ in Wuppertal. Foto: Uwe Stratmann

So liegt das Gewicht der Aufführung vor allem beim Orchester, dem Chor und den Solisten. Das Sinfonieorchester Wuppertal hatte sich unter Florian Frannek auf zehn höchst unterschiedliche Kirchen akustisch einzustellen – keine günstige Voraussetzung für ein Werk, das den archaisierenden Kirchenton ebenso kennt wie das üppige Aufblühen. Bei der Aufführung in der Thomaskirche hatte Frannek die Balance und die Dynamik gut im Griff; die Musiker ließen die Farben leuchten, die wie die Lasuren eines Gemäldes übereinander liegen. Etwas angeraut klang der Chor – aber das dürfte weder Jens Bingert noch seinen Sängern zuzuschreiben sein: Der Klang im Raum war zu direkt, um sich optimal mit dem Orchester zu mischen.

Unter den Solisten traf Thomas Laske mit markantem Bariton den Charakter des zornigen Mahners, der Maria am Tor des Heiligtums den Eintritt verweht, und die Wandlung zum Einsiedler, der sich von Marias weltentrücktem Wüstenwandel tief beeindruckt zeigt. Für Dorothea Brandt ist die Titelrolle eine Herausforderung. Konzipiert für und gesungen von großen Verismo-Heroinen wie Gina Cigna, Maria Caniglia oder Gilda dalla Rizza, fordert sie eine satte Mittellage und eine flammende Höhe. Die Wuppertaler Sängerin gehört nicht in diese Riege, hat auch hörbar Mühe mit der Stetigkeit des Tons und einer flüssigen Emission, macht das aber wett durch überlegte Gestaltung und kluges Maß im Einsatz ihrer begrenzten Mittel.Christian Sturm, Annika Boos und Joslyn Rechter bewähren sich in den flankierenden Partien.

Die Wuppertaler Hommage an Respighi entdeckt nicht nur eine klangopulente Partitur. Sie weist auch auf ein Werk hin, das in einer Zeit, die ihre eigene Mitte nicht mehr spürt: Fanal einer Erlösungshoffnung, die uns in der anachronistischen Gestalt von Respighis musikalischem Mysterienspiel überraschend näherrückt. Mit dem neuen Leitungsteam der drastisch zurückgekürzten Wuppertaler Oper werden solche experimentellen Erfahrungen vorerst nicht mehr möglich sein. Unter Toshiyuki Kamioka und seinem alerten Stellvertreter Joachim Arnold dominiert in der nächsten Spielzeit einfallsloses Mainstream-Repertoire.

Von der „Ägyptischen Maria“ gibt es im Juni in Wuppertaler Kirchen noch zwei Aufführungen: am 16. Juni in der Emmauskirche Cronenberg und am 17. Juni in der Christuskirche Steinbeck. Beginn ist jeweils um 21 Uhr.

Ab 14. Juni verabschiedet sich das bisherige Wuppertaler Opernensemble mit seiner letzten ehrgeizigen Produktion: Florian Frannek leitet Karol Szymanowskis „König Roger“ in einer Inszenierung von Jakob Peters-Messer. In den Hauptrollen stehen noch einmal Kay Stiefermann und Banu Böke auf der Bühne. Bis 28. Juni gibt es fünf Vorstellungen – dann ist Schluss.




Die Kriegsbegeisterung war schnell dahin

In den letzten Tagen wurden wir mit Bildern überschüttet, die der alliierten Landung in der Normandie vor 70 Jahren und damit unserer Befreiung von der NS-Diktatur galten. Darüber ist wieder ein wenig das Gedenken an den 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs in den Hintergrund getreten.

Mit Begeisterung waren auch in Deutschland die jungen Männer nach der Mobilmachung Anfang August 1914 in ihre Kasernen eingerückt. Weihnachten wollte man siegreich wieder zu Hause sein.

„Auf zur Visite beim Väterchen Franz in Paris“ malten in Ennepetal junge Soldaten auf ein Schild und stellten sich lächelnd dahinter für den Fotografen auf, doch schon nach wenigen Wochen kamen die ersten Todesnachrichten in der Heimat an, und es wurden immer mehr. Millionen starben schließlich in diesem dreckigen und sinnlosen Krieg, und die weltpolitischen Folgen wirken heute noch nach – sei es auf dem Balkan oder in der Türkei, in Griechenland oder in der Ukraine.




Familienfreuden auf Reisen: Der Engel im Clownskostüm

 

Die Versuchung ist groß - der Wille auch. (Bild: Albach)

Die Versuchung ist groß – der Wille auch. (Bild: Albach)

Sommer, Sonne, Strand – diesmal kein Klischee, sondern Realität: Wir sind auf Menorca! Und Fi gewöhnt sich langsam an die hiesige Lebensart.

Wir waren bewaffnet. Für den Flieger meine ich. Gefühlte 20 Pixi-Bücher, Handpuppen, Fruchtriegel, Windeln, Feuchttücher. Für jede Eventualiät gerüstet. Und was geschah? Fi ließ fröhlich die Beine in ihrem Sitz baumeln, kaute ihr Sandwich, lugte durch die Sitze zu dem Jungen vor ihr und schlief sogar irgendwann ein. Kind, wer hat Dich erfunden?

Vielleicht hat Fi geahnt, dass ein kleines Paradies auf sie warten würde. Der Eingang dazu entpuppte sich als Strandbar mit selbst hergestelltem Eis. Auch mit der Sorte SchokoLADE im Sortiment. Kleine Hände können eine Eiswaffel sehr fest umklammern. Und jeder der Strandspaziergänger, denen wir anschließend begegneten, musste grinsen angesichts dieses schokobärtigen Kindes, das aussah, als sei es kopfüber in flüssige Schokolade gefallen. Mal anders ausgedrückt: Der elterliche Wille, das Kind gesund und vielseitig zu ernähren und nicht mit Konsum zu überschütten, wird arg angekratzt, wenn einem nonstop andere Nachwüchse über den Weg laufen, die Eis schlecken, Pommes essen oder sonstwie von der Fast food Industrie als Werbeträger angeheuert wurden.

Auch der Gang in den Pool wird zur Abwehrschlacht: Wir haben einen Schwimmring und einen Eimer dabei. Fi sieht: Schwimmende Fische, Krokodile, Boote. Und lernt das Wort „kaufen“! „Auch Boot kaufen, auch Fisch kaufen“, lautet der Sirenengesang, dem man sich kaum entziehen kann. Hart bleiben kommt einem plötzlich grausam und so spielverderberisch puritanisch vor.

Fi jedenfalls passt sich schnell an die Umgebung an. Die spanischen Damen begrüßt sie schon mit „Hola“! Und erntete dass aufgeregte Gekreische und wilde Geküsse der Kellnerinnen anfangs noch einen entsetzten Gesichtsausdruck und einen Fluchtimpuls in den elterlichen Arm, streckt Fi jetzt bereits ihre Wange hin und verteilt selbst schmatzende Luftküsse.

Das größte aber ist eine Einrichtung, die wir wahrscheinlich sträflich missachtet hätten, wären unsere Nachbarn mit Tochter im gleichen Alter nicht so freundlich gewesen, uns darauf aufmerksam zu machen: die Mini-Disco! Menschen ohne Kinder dürften sich eher mit Grausen abwenden, wenn das kleine Animatoren-Team mit seinem Lautsprecher anrückt, die grellen Töne erklingen und die Kinder loshüpfen.Für Fi ist es der Himmel. Und der Engel darin ist in Form einer ansehnlichen Dame auf die Erde gekommen, die sich allabendlich in ein neues Clownskostüm wirft, die Lippen rot schminkt und einen Glitzerhut aufsetzt. Fiona kann den Blick nicht von ihr lassen, während ihre kleinen Beinchen auf und ab hüpfen. Und die Eltern? Die klatschen verzückt mit, das Eis für später in der Hand, das Gummiboot im Supermarkt nebenan in Gedanken schon gekauft.

Glück hat eben viele Gesichter.

 

Mehr über Nadine Albach unter www.medienwiese.tv




Ein Ort kultureller Öffentlichkeit: Die Philharmonie Essen feierte Zehnjähriges

99 gold'ne Luftballons? Es waren sicher mehr, die Eingangsbereich und Foyer der Philharmonie schmückten. Foto: Werner Häußner

99 gold’ne Luftballons? Es waren sicher mehr, die Eingangsbereich und Foyer der Philharmonie schmückten. Foto: Werner Häußner

Vor 110 Jahren hat Richard Strauss höchstpersönlich den alten Essener Saalbau eröffnet. Mit einem neuen Stück, seiner „Sinfonia domestica“ als europäischer Erstaufführung. Vor zehn Jahren, am 5. Juni 2004, erklang das erste Konzert im neuen Saalbau unter Leitung von Stefan Soltesz. Auch jetzt spielte das heimische Orchester, dirigierte Tomáš Netopil die Strauss’sche Tondichtung. Und davor sein „Festliches Präludium für Orgel und großes Orchester“ aus dem Jahr 1913, als die Welt des alten Europa noch in Ordnung schien.

Beziehungsreicher hätte das Programm des Festkonzerts zum Zehnjährigen der Philharmonie Essen nicht zusammengestellt sein können. Es rückt den Saalbau und die Institution in den Blick, die ihn mit musikalischem Leben füllt. Es würdigt mit Richard Strauss einen der wichtigen Musik-Jubilare des Jahres 2014. Und es verweigert sich nicht der Zeitgenossenschaft. Dem selbstgewissen Dauerlärm von Richard Strauss` bombastischer Ouvertüre widersetzt sich ein sensibles, leises, suchendes Stück: Wolfgang Rihms „Verwandlung 6“. Geschrieben hat es der wohl bekannteste unter den deutschen Komponisten der Gegenwart im Auftrag der Philharmonie Essen. Und finanziert hat diese „Musik für Orchester“ die Ernst von Siemens Musikstiftung.

Festredner Claus Leggewie. Foto: Volker Wiciok

Festredner Claus Leggewie. Foto: Volker Wiciok

Das muss erwähnt werden. Denn bei aller Festlaune im Saalbau: Das finanzielle Korsett sitzt knapp. Ohne die Stiftung als Sponsor hätte es wohl keinen Rihm zum Jubiläum gegeben. Claus Leggewie, Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen, bediente in seiner Rede nicht nur den berechtigten Stolz und die Zufriedenheit über das Erreichte. Sein Plädoyer für Einrichtungen wie die Philharmonie als Orte kultureller Öffentlichkeit verband er mit dem „Ausdruck echter Sorge“: Auch an einem Feiertag sei es unmöglich, von Bedrohungen kultureller Autonomie nicht zu sprechen.

Leggewie erhofft sich „eine Debatte über den Wert öffentlicher Kultur und kultureller Öffentlichkeit“. In Häusern der Kultur – Theatern, Philharmonien, Opernhäusern, Museen, Lichtspielhäusern – kommen Menschen ins Gespräch und reden sich bisweilen die Köpfe heiß. Es sind Orte, an denen sich gesellschaftliche Erfahrung verdichtet. An denen sich, wie im Theater im alten Griechenland, die Bürger ihrer selbst bewusst werden. Originalton Leggewie: „Glücklich ist das Land, das solche Ressourcen ererbt hat, pflegt und auf den neuesten Stand bringt, das Kultur nicht als Luxus oder Spektakel abtut, sondern als moralische Bildung ernst nimmt, Kinder und Jugendliche sehr früh einbezieht und sich bewusst ist, dass eine Gesellschaft ohne diese sinnstiftende, oft auch verstörende und aufrüttelnde Grundlage arm dran ist.“

Die Philharmonie im Saalbau zu Essen sei ein herausragendes Beispiel für einen solchen Ort bürgerlichen Gemeinsinns, der kulturelle Höhepunkte, soziale Geselligkeit und demokratischen Diskurs verbindet. „Der Saalbau hat Essen das urbane Flair einer Großstadt gegeben.“ Hannelore Kraft hat es gehört – die Ministerpräsidentin saß in der ersten Reihe –, OB Reinhard Paß auch.

Uraufführung zum Jubiläum "10 Jahre Philharmonie Essen". Komponist Wolfgang Rihm und Dirigent Tomás Netopil freuen sich über den Beifall. Foto: Volker Wiciok

Uraufführung zum Jubiläum „10 Jahre Philharmonie Essen“. Komponist Wolfgang Rihm und Dirigent Tomás Netopil freuen sich über den Beifall. Foto: Volker Wiciok

Noch weiter vorne, auf dem Podium, gaben die Essener Philharmoniker ihr Bestes, um dem eröffnenden Strauss-Schinken mehr als „kolossalen“ Festesglanz abzugewinnen. Das Gebräu, angesetzt durch Roland Maria Stangier mit bedeutungsschweren Orgelakkorden, verkocht zum Glück, bevor es gänzlich ungenießbar wird.

Anders die „Sinfonia domestica“, mit der vor 110 Jahren Richard Strauss persönlich den alten Saalbau eröffnet hatte. Das ungenierte Selbstporträt seiner Familie zeigt Strauss als Perfektionisten der Farben, als Zauberer einer kaum zu bremsenden Orchester-Virtuosität. Der ausgiebige Einsatz aller Instrumente gibt den Philharmonikern Raum, sich zu entfalten. Dazu feuert sie ihr Chef Tomáš Netopil mit Elan an. Trillernde Fanfaren des Blechs stürmen die heitere Ruhe der Familienidylle wie eine Horde tobender Kinder; Hörner und Trompeten spielen sich Echos zu; Flöte und Klarinette tanzen miteinander wie in einem Ländler. In solchen Momenten spiegelt die häusliche Sinfonie etwas von der geordneten, behaglichen Ruhe, auf die Strauss so bedacht war. Aber auch die burleske Bewegungsfreude kommt zum Zug, wie wir sie zum Beispiel aus „Till Eulenspiegel“ kennen. Fugen spielen Fangen; Holzbläser in hoher Lage erinnern an Gustav Mahlers verzerrten Volkslied-Ton. Und die Uhr, die auch im „Rosenkavalier“ schlägt, erinnert behutsam an den unerbittlichen Gang der Zeit.

Ort der kulturellen Öffentichkeit: Der Alfried Krupp Saal der Philharmonie Essen. Foto: Volker Wiciok

Ort der kulturellen Öffentichkeit: Der Alfried Krupp Saal der Philharmonie Essen. Foto: Volker Wiciok

Wolfgang Rihm fordert das Orchester anders, weil das feine Gespinst seiner Klänge höchste Konzentration verlangt. „Verwandlung“ hat mit Stillstand und Fortgang von Zeit zu tun, wenn eine Rassel den ersten Rhythmus anklingen lässt, der sich bis zum Einsatz von vier Schlagzeugern steigert. Dazwischen tasten sich schüchtern-gebrochene melodische Motive durch die Stille, verbinden sich vorsichtig, wachsen zusammen und stützen sich gegenseitig. Wie Rihm das kreisförmige Schema des Stücks klangsinnlich neu füllt, hat nichts mit dem strotzend selbstsicheren Souveränität des Bayern zu tun: Der badische Meister aus Karlsruhe äußert sich nicht weniger selbstbewusst, aber er zeigt, wie er sich auch der Brüchigkeit seiner Welt stellt.

Die Feier in der Philharmonie hat viele Menschen aus der Essener Bürgerschaft versammelt, die sich des Wertes der Musik, der Bedeutung der Kultur für ein Gemeinwesen bewusst sind. Es wird sich zeigen, wie weit die Entschlossenheit reicht, wenn sich der finanzielle Horizont wieder verdüstert. Auch Hans Schippmann, scheidender Aufsichtsratsvorsitzender der Theater und Philharmonie Essen, scheint da seine Zweifel zu haben, wenn er den Entscheidungsträgern mit geradezu flehenden Worten ans Herz legt, die Zukunft der TuP zu sichern. Essen wäre gut beraten, die Philharmonie als Zeichen kultureller Bewusstheit und gelingenden Strukturwandels auch künftig leuchten zu lassen.




Zwischen historischem Spektakel und modischer Revue: Händel-Festspiele und Premieren auf deutschen Bühnen

Georg Friedrich Händel. Stich von William Bromley nach einem Gemälde von Thomas Hudson.

Georg Friedrich Händel. Stich von William Bromley nach einem Gemälde von Thomas Hudson.

Intriganten und Tyrannen, Liebende und Leidende, Herrscher und Heroen: Georg Friedrich Händels Opern bringen ein Personal auf die Bühne, das denkbar weit von unseren Alltagserfahrungen entfernt ist. Ihre hochfahrenden Affekte, ihre extremen Leidenschaften wirken in einem Zeitalter, das sich – zumindest vordergründig – leidenschaftslosem Pragmatismus verschreibt, seltsam überspannt, die Beziehungen und Verflechtungen zwischen den Personen schematisch und vorhersehbar. Händel hat 42 Opern und 14 Pasticci, Bearbeitungen und fragmentarische Bühnenwerke hinterlassen: Nach seinem Tode wurden sie nicht mehr aufgeführt. Heute ist das anders.

2014 werden – so listet es die Website www.operabase.com auf – weltweit in 38 Städten 48 Händel-Produktionen in 201 Aufführungen gezeigt. Damit rangiert Händel zwar hinter Musiktheater-Giganten wie Verdi, Wagner oder Puccini, steht aber nahe vor dem Anschluss an die statistische Spitzengruppe der weltweiten Opernaufführungen.

Spätestens seit den Feiern zu Händels 300. Geburtstag 1985 gibt es ein neues Interesse an den Opern und für die Szene geeigneten Oratorien der musikalischen Leitfigur aus Halle an der Saale. Sicher, Händel-Opern wurden seit Ende des 19. Jahrhunderts hin und wieder ausgegraben, ehrfürchtig bewundert von den Zeitgenossen wie wiederentdeckte Artefakte aus längst vergangener Zeit: kunstfertig, aber fern und fremd. Und es gab auch die Händel-Festspiele in Göttingen seit 1920 und Halle seit 1922. Aber sie waren der Initiative einzelner Enthusiasten entsprungen und begannen erst allmählich auf die Theaterlandschaft auszustrahlen.

Händel-Renaissancen gab es einige: Nationalsozialistische Kulturpolitiker wollten in ihm einen deutsch-nationalen Komponisten erkennen, die DDR entdeckte in ihm den Aufklärer und Erzieher – nachzulesen in den Ergebnissen einer Forschungsgruppe, die sich seit 2010 in Halle mit der „Händel-Rezeption in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts“ beschäftigt hat. Doch als fester Bestandteil des Repertoires abseits spezialisierter Festivals oder individueller Interessen sind Händel-Opern erst seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts anzusprechen.

Woran liegt das? Entdeckt eine Zeit, in der postmoderne Beliebigkeit, kühle Kalkulation und pragmatische Selbstoptimierung den einsamen, leistungsorientierten Alltag bestimmen, die maßlosen Emotionen der Händel’schen Opernhelden wieder? Haben wir ein Gespür für die Grenzen der menschlichen Selbstbestimmung zurückgewonnen – sichtbar etwa in der Debatte um Willensfreiheit versus genetische oder biochemische Determination? Erkennen wir in den Personen auf der Bühne, die im Netz ihrer Affekte und Passionen verstrickt ihre Freiheit einbüßen, die an den unsichtbaren Fäden eines undurchschaubaren Schicksals hängen, unsere eigene Existenz wieder: ausgeliefert an anonyme Großstrukturen, eingebunden in unbeherrschbare Systeme, kontrolliert von dunklen Netzwerken, unterworfen modernen Götzen, getrieben von Beautywahn und Bankenkrise?

Das neue Interesse für Händel hat wohl nicht nur mit musikalischer Entdeckerfreude rund um die historisch informierte Aufführungspraxis, sondern auch mit unserer Befindlichkeit zu tun – wie unscharf solche Kategorien auch sein mögen. Die postmoderne Spaßgesellschaft ließ sich in den neunziger Jahren in München ihren Händel genießerisch und lasziv-ironisch zurichten. Das ist vorbei. Die Suche nach überzeugenden szenischen Lösungen führt über den Rückgriff auf barocke Affektdarstellung in Gestik und Bewegung über existenzielle Zuspitzung durch das Hässliche, das Fragmentarische, die Collage von Raum und Virtualität, etwa durch Video und Licht, bis hin zur beziehungsreichen, ironisch aufgebrochenen Revue, wie sie Stefan Herheim mit „Serse“ („Xerxes“) in Berlin und Düsseldorf überaus erfolgreich vorgeführt hat.

Das Karlsruher Staatstheater. Foto: Häußner

Das Karlsruher Staatstheater. Foto: Häußner

Das historische Ausdrucksrepertoire für eine zeitgenössische Expressivität fruchtbar zu machen, ist ein Ziel der Opernpremiere bei den Karlsruhe Händel-Festspielen 2014: Regisseur Benjamin Lazar will die Sprache der Barockbühne ins Jetzt transferieren. Er strebt keine Imitation an, sondern schöpft aus alten Wurzeln, aber mit dem Blick des 21. Jahrhunderts. Adeline Caron und Alain Blancot schaffen ihm dafür Bühne und Kostüme für „Riccardo Primo“. Händels erste Oper mit einem englischen Helden – König Richard Löwenherz – wird ab 21. Februar als deutsche Erstaufführung im Rahmen der Hallischen Händel-Ausgabe im Staatstheater Karlsruhe erklingen – in einem Raum, der wie vor 300 Jahren von Hunderten von Kerzen erleuchtet wird. Der international beachtete Countertenor Franco Fagioli übernimmt die Titelrolle, die bei der Uraufführung 1727 der legendäre Altkastrat Senesino gesungen hat.

Ab 1. März bringen die – seit 1978 bestehenden – Karlsruher Händel-Festspiele ein Gastspiel des Mailänder Marionettentheaters Carlo Colla & Figli: „Rinaldo“ ist wie „Riccardo“ ein Sujet aus der Kreuzritterzeit und enthält einige der populärsten Arien, die Händel je geschrieben hat. Leider ist es den Karlsruher Festspielen nicht möglich, mit Wiederaufnahmen ein Festspiel-Repertoire aufzubauen oder gar die Opernproduktion ins Repertoire des Staatstheaters aufzunehmen. Grund sind finanzielle Kürzungen, die schon einige Jahre zurückliegen – und deren Revision dem Land Baden-Württemberg, immerhin eines der reichsten Bundesländer – gut anstünde.

Laurence Cummings, Künstlerischer Leiter der Göttinger Händel Festspiele. Foto: Händel Festspiele Göttingen

Laurence Cummings, Künstlerischer Leiter der Göttinger Händel Festspiele. Foto: Händel Festspiele Göttingen

Unter dem Thema „Herrschaftszeiten!“ widmen sich die Göttinger Händel Festspiele 2014 dem 300-jährigen Jubiläum der Personalunion zwischen Großbritannien und „Kurhannover“: Georg Ludwig bestieg als George I. 1714 den britischen Thron. Im Zentrum der Festspiele in Göttingen steht die kaum gespielte Oper „Faramondo“ über den legendären Stammvater der Merowinger Faramund, die in Deutschland zuletzt 1976 in Halle zu sehen war. Göttingen bringt das Werk in einer Inszenierung von Paul Curran; am Pult steht der Künstlerische Leiter der Festspiele, Laurence Cummings. Der Premiere am 31. Mai folgen bis 10.Juni fünf weitere Vorstellungen.

Zum Jubiläum präsentieren die Händel-Festspiele Halle und Göttingen einen gemeinsamen Zyklus von Kompositionen für die britischen Monarchen aus dem Haus Hannover. Gleichzeitig werden damit auch die populären Krönungshymnen Georg Friedrich Händels in einen musikalischen Kontext gesetzt, das Spektrum der Musik reicht von Psalmenvertonungen Henry Purcells bis zu einer konzertanten Sinfonie von Johann Christian Bach. So erklingen am 30. Mai in der Jacobikirche Göttingen die Musik zur Krönung Georges I. und am 7. Juni in der Stadthalle die Coronation Anthems für George II.

Für den Abend des Pfingstmontag, 9. Juni, kündigen die Festspiele eine Uraufführung an: Das „Oratorium auf das Absterben des Königs von Großbritannien Georg I.“ des Händel-Zeitgenossen Johann Mattheson steht im Mittelpunkt eines Gastkonzertes des Händelfestspielorchesters Halle. Das Werk blieb zu Matthesons Lebzeiten auf Wunsch der königlichen Familie unaufgeführt. Mit dem Werk eröffnet Halle bereits am 5. Juni in der Marktkirche seine Händel-Festspiele. In Halle steht ab 6. Juni die Oper „Arminio“ – als Erstaufführung nach der Hallischen Händel-Ausgabe – auf dem Programm. Nigel Lowery inszeniert, Bernhard Forck dirigiert.

Das Opernhaus in Halle. Foto:  Häußner

Das Opernhaus in Halle. Foto: Häußner

In Bad Lauchstädt, dem reizvollen Goethe-Theater vor den Toren Halles, lässt sich die Karlsruher Version von „Riccardo Primo“ mit einer Inszenierung in einem kleinen, den Opern Händels akustisch entgegenkommenden Raum vergleichen: Elmar Fulda setzt die Oper in Szene, die LauttenCompagney Berlin spielt unter Wolfgang Katschner. Es singen Teilnehmer des Weimarer Meisterkurses für Barockoper 2014 der Musikhochschule Franz Liszt, Weimar. Auch die Oper „Almira“. Händels Erstling, wird wieder aufgenommen: Als Höhepunkt der Festspiele 2013 gedacht, die aufgrund des Hochwassers abgesagt wurden, hatte sie im Herbst ihr Premiere am Opernhaus Halle. Dort erklingt sie am 11. Juni unter Leitung von Andreas Spering.

Und ein unterhaltsames Pasticcio aus Händels Feder – eine Zusammenstellung vorhandener Musikstücke zu einem neuen Inhalt – gibt es drei Mal in Bad Lauchstädt zu sehen: „Giove in Argo“ behandelt die amourösen Abenteuer des Göttervaters Jupiter. Das Barockensemble l’arte del mondo unter Leitung von Werner Ehrhardt bringt diese Rarität am 13., 14. und 15. Juni zu Gehör; die Inszenierung besorgt Kay Link.

Einige Schlaglichter auf das Händel-Repertoire der Opernhäuser zeigen, dass der Opernfreund inzwischen aus einer reichen Auswahl schöpfen  kann: beginnend in Aachen, wo am 6. April der Klassiker „Alcina“ Premiere hat, über Essen, wo ab 19. April in „Ariodante“ der Belcanto triumphiert, bis Hamburg, wo ab 25. Mai „Almira“ unter Alessandro de Marchi an den Ort ihrer Uraufführung (1705) zurückkehrt. In Magdeburg inszeniert am 15. März Arila Siegert eine Oper mit Lokalbezug: „Ottone“. Ihr Titelheld ist der mittelalterliche deutsche Kaiser Otto II., bearbeitet hat das Werk kein Geringerer als Georg Philipp Telemann. Und in Ulm hat am 8. Mai ein anderer Händel-Klassiker Premiere: „Serse“. 1924 in Göttingen wiederentdeckt, ist sie eine der meistgespielten Bühnenwerke Händels – nicht zuletzt wegen des Arioso „Ombra mai fú“, das als „Largo“ fernab seiner musikdramatischen Funktion ein Eigenleben als Wunschkonzert-Stück entwickelt hat.




Etüden und Entlegenes: Klavier-Festival Ruhr 2014 mit überzeugenden Programmlinien

Klavier-Festival Ruhr, Leitmotiv 2014 (c) Norbert Hüttermann

Klavier-Festival Ruhr, Leitmotiv 2014 (c) Norbert Hüttermann

Der arme Karl Czerny. Er hat das Beste gewollt und sich für immer auf einen undankbaren Platz in der Musikgeschichte gebannt: Seine Etüden gelten als Schreckgespenst für jeden Klavierschüler, seine seriösen Kompositionen stehen im Schatten des bieder Bemühten. So gibt das Klavier-Festival Ruhr 2014 zwar der Etüde als Gattung einen besonderen Platz im Programm, aber der Etüden-Protagonist aus Wien kommt im Programm nicht vor.

Die ursprünglich als technische Übungsstücke gedachte Form der Klavierkomposition bildet nicht umsonst eine der fünf Programmlinien der Tastenfestspiele 2014. Sie hat sich – siehe Frédéric Chopin – im Lauf der Geschichte zu einer wichtigen Ausdrucksform gemausert. Und so dürfen sich die Besucher einiger der 64 Konzerte des Festivals auf Etüden des 20. Jahrhunderts freuen: Von Bartók über Liszt bis Szymanowski reicht die Liste.

Intensiv widmen sich Pierre-Laurent Aimard und Tamara Stefanovich dieser Gattung in ihren Konzerten: Aimard stellt am 2. Juni in Haus Fuhr in Werden Bartók, Chopin, Debussy und Skrjabin den Etüden von György Ligeti gegenüber. Und Stefanovich hat dort bei einem interdisziplinären Abend am 18. Juni unter anderem noch Liszt, Rachmaninow und den nicht häufig zu hörenden, in der Sowjetunion verfemten Nikolaj Roslawez im Programm. An diesem Abend klärt der Neurowissenschaftler Eckart Altenmüller darüber auf, was das Üben von Etüden so schwer macht, aber auch, welche Prozesse sie im Gehirn auslösen.

Sorgt für markante Programmlinien: Festival-Intendant Franz Xaver Ohnesorg. Foto: Peter Wieler

Sorgt für markante Programmlinien: Festival-Intendant Franz Xaver Ohnesorg. Foto: Peter Wieler

Die Programmlinien werden für Festivals immer wichtiger: Sie sichern individuelles Profil im Angebot von High-Class-Events, sie garantieren im günstigen Fall ein Alleinstellungsmerkmal. Auch das Klavier-Festival Ruhr – als eines von zwei großen weltweit – will darauf nicht verzichten.

Akzent auf Richard Strauss

Der Akzent auf den 150. Geburtstag von Richard Strauss wirkt auf den ersten Blick ungewöhnlich, denn diese prägende Gestalt des 20. Jahrhunderts ging nicht als Klavier-Komponist in die Geschichte ein. Dennoch: Strauss hat ein paar spannende Werke für Klavier geschrieben. Gerhard Oppitz widmet seinem bayerischen Landsmann am 14. Mai einen ganzen Abend in Düsseldorf, bei dem fünf Lieder, bearbeitet für Klavier solo, die frühe h-Moll-Sonate op.5 und das Melodram „Enoch Arden“ op.38 erklingen. Und Marc-André Hamelin stellt sich am 11. Juni in der Philharmonie Essen einer weiteren Strauss-Rarität: der Burleske für Klavier und Orchester.

Den Ausbruch des ersten Weltkriegs vor 100 Jahren hat Intendant Franz-Xaver Ohnesorg zum Anlass genommen, einen Schwerpunkt auf Werken für die linke Hand ins Programm zu nehmen. Jedem Kenner fällt dazu der Pianist Paul Wittgenstein ein, der in einem Gefecht seinen rechten Arm einbüßte, sich aber nicht geschlagen gab. Er hatte die Mittel, bei führenden Komponisten Werke für die linke Hand zu bestellen. Das bekannteste ist dasjenige von Maurice Ravel, zu hören beim Eröffnungskonzert in der Jahrhunderthalle Bochum am 9. Mai, gespielt von Nicholas Angelich. Er ist Meisterschüler von Leon Fleisher – und dieser Nestor der Pianisten ist mit Sergej Prokofjews viertem Klavierkonzert – ebenfalls für die linke Hand – mit von der Partie. Auch Fleisher war wegen einer neurologischen Erkrankung jahrelang auf das Spiel mit der linken Hand beschränkt. Am 10 Mai wird Fleisher in einem Gesprächskonzert in Essen von dieser Herausforderung berichten.

Eines der jungen Talente: Charlie Albright. Foto: KFR

Eines der jungen Talente: Charlie Albright. Foto: KFR

Vieles, was „mit links“ genommen werden muss, ist heute vergessen. So führt der Schwerpunkt des Klavier-Festivals auch dazu, entlegenes Repertoire wiederzuentdecken, etwa eine Suite für zwei Violinen, Cello und Klavier von Erich Wolfgang Korngold, und Solo-Werke von Skrjabin, Godowksy, Kapustin, Rosenthal oder Paul Wittgenstein, der Klavierwerke bearbeitete, um sie für sich spielbar zu machen. Der junge Pianist Charlie Albright, Stipendiat des Klavier-Festivals 2013, wagt sich am 4. Juli im Ibach-Haus in Schwelm an eigene Improvisationen für die linke Hand – und setzt so einen spannenden zeitgenössischen Akzent zu dem Thema.

„Beethoven-Gipfel“

Konventioneller wirkt dagegen der „Beethoven-Gipfel“: Die drei letzten Sonaten des Wiener „Titanen“, die stets mit der besonderen Aura eines quasi überzeitlichen Erbes umkleidet wurden, lassen sich in drei Konzerten in der Interpretation von drei führenden Pianisten vergleichen: am 3. Juni in der Stadthalle Wuppertal aus der Hand des Preisträgers des Klavier-Festivals Ruhr 2014, Krystian Zimerman, am 16. Juni in Düsseldorf, wo András Schiff auf einem Bechstein-Flügel aus dem Jahr 1921 spielt, den schon der große Wilhelm Backhaus genutzt hatte. Und am 30. Juni präsentiert in Mülheim ein Aufsteiger der letzten Jahre, Igor Levit, seine Sicht auf die Sonaten-Trias.

In der JazzLine: Till Brönner. Foto: Andreas H. Bitesnich

In der JazzLine: Till Brönner. Foto: Andreas H. Bitesnich

Manchmal vergessen wird die „JazzLine“ des Festivals, die auch das Programmbuch auf Seite 80 eher versteckt zusammenfasst: Acht Konzerte bieten die neun Festwochen des Klaviers, beginnend am 13. Mai in der Philharmonie Essen mit Chilly Gonzalez, der mit höchst individuell wohl nur unzureichend beschrieben ist, und endend am 12. Juli am gleichen Ort mit einem Jazz-„Klassiker“: Till Brönner, der „his piano friends“ Jacob Karlzon und Antonio Faraó mitbringt. Erstmals mit Jazz bespielt wird am 28. Juni die Henrichshütte in Hattingen. Die „JazzLine“ ist auch als Abo zu buchen: für alle Fans des Genres ein attraktives Angebot.

Selbstverständlich ermöglicht das Klavier-Festival wie in jedem Jahr wieder die Begegnung mit berühmten Pianisten und einmal berühmt sein wollendem Nachwuchs. Daniel Barenboim, Evgeny Kissin, Grigory Sokolov und Martha Argerich gehören zu den Publikumsmagneten. Aber auch Elisabeth Leonskaja, Maria João Pires, Herbert Schuch, Rafał Blechacz und Marc-André Hamelin sind Künstler, deren Kommen viele Fans – und nicht nur die – begrüßen dürften.

Kommt am 11. Mai nach Essen: Anne-Sophie Mutter. Foto: Harald Hoffmann

Kommt am 11. Mai nach Essen: Anne-Sophie Mutter. Foto: Harald Hoffmann

Anne-Sophie Mutter, deren Absage vor zwei Jahren einigen Wirbel verursacht hat, kommt am 11. Mai nach Essen und bringt gleich zwei deutsche Erstaufführungen mit: die Solo-Sonate „La Follia“ von Krzysztof Penderecki und die Sonate Nr. 2 für Klavier und Violine von André Previn. Dass der verdienstvolle Pianist Graham Johnson die Sparte des Liedes gepachtet hat – und seit Jahren eher mittelmäßige Sänger mitbringt – ist schade. In diesem Jahr vergoldet er die Schar seiner Schützlinge in Schloss Herten mit Dame Felicity Lott, einer der renommierten Strauss-Sängerinnen der jüngeren Zeit. Auf Schloss Herten bindet sie am 29. und 30. Mai ein „Strauss-Bouquet“. Dennoch: Lied und Liedbegleitung sind ein Aspekt, den das Festival einmal eingehender beleuchten könnte.

Eine der verdienstvollsten Traditionen des Ruhr-Tastenzaubers sind die Debüts junger Klavierkünstler und Preisträger. In diesem Jahr darf sich ein kundiges Publikum, das sich nicht von „großen“ Namen blenden lässt, etwa auf Hye Jin Kim freuen. Die Preisträgerin bei mehreren Wettbewerben debütiert am 17. Mai in Haus Witten. Im Bottrop gastiert am 19. Mai Benjamin Grosvenor mit einem ungewöhnlichen Programm, etwa mit Werken von Mompou und Medtner, das sich eher auf poetischen Gehalt als auf extrovertierte Virtuosität stützt.

Einer der "Neuen": Cristian Budu. Foto: KFR

Einer der „Neuen“: Cristian Budu. Foto: KFR

In Moers präsentieren sich zwei junge Aufsteiger, Nuron Mukumi (25. Mai) und Aaron Pilsan (18. Juni). Und die „Besten der Besten“ stehen zum Teil noch gar nicht fest. Von 20. bis 22. Juni spielen Wettbewerbs-Preisträger in Dortmund und Schloss Horst in Gelsenkirchen, etwa der Gewinner des Clara-Haskil-Wettbewerbs 2013, Cristian Budu.

„Ein Jahr mit Ligeti“

Nicht zuletzt sind es neben den ausgefeilten Programmen auch die mit Liebe, Hingabe und Sachkenntnis realisierten Education-Programme des Klavier-Festivals, die seine Leuchtturm-Funktion über die Region hinaus begründen: Dass ein international renommierter Pianist wie Pierre-Laurent Aimard bei einem altersübergreifenden Projekt für Schüler, Studenten und Erwachsene mitwirkt, ist schon eine Auszeichnung. Dass die Aktivitäten unter dem Thema „Ein Jahr mit Ligeti“ stehen, zeugt von Mut. Ein schöner Beweis, dass die jahrelange, hingebungsvolle Arbeit des Education-Teams um Tobias Bleek reiche Früchte trägt. Bei Karl Czerny jedenfalls muss keiner der Glücklichen stehenbleiben, die in den Genuss der Programme kommen!

Info/Tickets: www.klavierfestival.de




„Andy Warhol Pop Artist“ im Schloss Oberhausen

Andy Warhol 1981. Foto: Thomas Hoepker/Magnum Photos

Andy Warhol 1981. Foto: Thomas Hoepker/Magnum Photos

Campbell’s Suppendosen, Mao in Fehlfarben und die unvermeidliche Marilyn Monroe: Was wissen wir eigentlich noch nicht über Andy Warhol, den bekanntesten Pop-Künstler des 20. Jahrhunderts? Eine klug konzipierte Ausstellung in der Ludwiggalerie im Schloss Oberhausen „Andy Warhol Pop Artist“ zeigt neue Facetten aus Leben und Werk des Multitasking-Genies.

Dass Warhol zunächst als Grafiker begann und für die Werbung arbeitete, ist den Kunstfreunden geläufig. Doch dass die Stilikone mit der Silberlocke, die mit ihrer New Yorker Factory Kunst als Kollektiv-Leistung in serieller Produktion auf den Markt warf, in allen Phasen des Schaffens immer wieder angewandte Gebrauchsgrafik auf Auftrag schuf, gerät in Oberhausen sehr augenfällig in den Blick: Im Obergeschoss ist beispielsweise eine umfangreiche Sammlung von Plattencovern zu bestaunen. Das erste stammt von 1949 und illustriert im Stil der Zeit Prokofievs „Alexander Nevsky“. Das Highlight ist hier selbstverständlich die berühmte Banane auf dem Cover von „The Velvet Underground & Nico“ 1967, witzigerweise ist sie hier auch in geschälter Version ganz nackt und rosa zu sehen. Denn die berühmte Frucht war als Abziehbild konzipiert, der Fan konnte den Aufkleber entfernen und die Banane „entkleiden“.

Um den Raum zu bestücken, hat die Ludwiggalerie extra einen Aufruf an Fans gestartet, dem Museum ihre Warhol-Cover zu schicken. „Die Resonanz war riesig“, erklärt Kuratorin Meike Allekotte. „Die geschälte Banane beispielsweise stammt von einem Plattenladen in Essen. Den Besitzern war zunächst gar nicht bewusst, welch seltenes Exponat sie damit beisteuern können.“

Als Volontärin hat Allekotte in Oberhausen die Chance bekommen, die Warhol-Schau eigenständig zu betreuen – im Kunstbetrieb wohl eher eine Ausnahme. Doch das Vertrauen von Direktorin Dr. Christine Vogt hat sich absolut gelohnt; in Zeiten eines entfesselten Kunstmarktes steuert die Lugwiggalerie mit der Reflexion auf den Künstler und Marketing-Strategen Warhol eine kunsthistorische Betrachtung auf den Beginn dieser Entwicklung in den 60er Jahren bei.

Andy Warhol war nicht zuletzt ein großer Plagiator, Rechtsstreitigkeiten in Urheberfragen gab es zuhauf. Seine berühmten „Flowers“ entlehnte er einer Werbefotografie für Kodak. Die Fotografin bekam dann lange Zeit Tantiemen. Auch aus der Klassik klaute er hemmungslos: Die Venus kupferte er von Botticelli ab, aber sich selbst kopierte er ebenso gerne. In der Ausstellung hängt sein Beuys-Porträt neben einer Negativ-Version mit Diamant-Staub – als Neuauflage für reiche Sammler gedacht.

Auf der Trash-Promotion-Tour, Foto: Edition Leo Weisse/Galerie Krätz, 2012

Auf der Trash-Promotion-Tour, Foto: Edition Leo Weisse/Galerie Krätz, 2012

Andy Warhol beinahe privat kann man auf der zweiten Etage kennenlernen. 1971 auf Promotiontour für seinen Film „Trash“ reist Andy mit der Crew durch Deutschland. Ernsthaft, blass, fast schüchtern sieht er auf den Fotos von Leo Weisse aus, wie er vor Schloss Neuschwanstein im Schnee steht. Auf einem Bild trägt der Künstler eine Plastik-Duschhaube, um die Silberlocke vor den Flocken zu schützen.

Selbstverständlich darf auch Marilyn nicht fehlen: Im Erdgeschoss bilden die bunten Drucke der Filmikone das Entrée in den Raum mit der sogenannten Todes-Serie, denn sie entstanden kurz nach dem Tod der Diva. Hier hängen auch der „Elektrische Stuhl“ und die Künstlermappe zur Ermordung John F. Kennedys, die Warhol anhand von Pressefotos und Agenturmeldungen gestaltet hat.

Ja, und die Suppendosen gibt es auch zu sehen, gleich am Eingang, neben einem poppigen Goethe-Porträt. „Wenn man darüber nachdenkt, ist ein Kaufhaus eine Art Museum“, hat Andy Warhol gesagt. Die Ware als Fetisch – Andy wusste, wie das funktioniert.

19. Januar-18. Mai 2014, www.ludwiggalerie.de




Heiterkeit und Melancholie: Donizettis „Don Pasquale“ am Theater Hagen

Der Bruch der Zeiten ist überdeutlich: Norina und Ernesto, das sind zwei junge Leute von heute, Jeans, Jacket, hübsches Top. Don Pasquale lebt in einer anderen Welt, im „Damals“: Kniehosen, bestickte Weste, reich ornamentierter Hausmantel. Er sitzt in einem altertümlichen Rollstuhl und starrt in seinen herrschaftlichen Salon, in dem die Möbel mit weißen Tüchern verhängt sind. Ein gelebtes Leben.

Wer so jemanden auf seine alten Tage noch heiraten will, muss sich anpassen. Und so schlüpft Norina am Theater Hagen in eine ausladende Robe: Krinoline drunter, Stoffschichten zwischen bonbonrosa und veilchenlila drüber, Rüschen, Reffungen und Schleifchen. Kurz, eine Fassade, die dem heiratslüsternen Alten signalisieren soll: Hier kommt eine Frau, die in deiner Welt aufgehen wird, die genau in die Ausstattung deines Haushalts passt.

Schein und Wirklichkeit: Norina (Maria Klier) stellt sich Don Pasquale (Rainer Zaun) als schüchterne Klosterschülerin vor. Foto: Stefan Kühle

Schein und Wirklichkeit: Norina (Maria Klier) stellt sich Don Pasquale (Rainer Zaun) als schüchterne Klosterschülerin vor. Foto: Stefan Kühle

Kostümbildnerin Lena Brexendorff – auch für die Bühne zuständig – hat in ihren Kostümen eine der Kernfragen von Donizettis letzter komischen Oper „Don Pasquale“ sichtbar gemacht: die Frage nach Wirklichkeit und Täuschung, aber auch die Selbsttäuschung, die erst möglich macht, dass sich Don Pasquale von der Intrige seines zweifelhaften Freundes Malatesta – der Name meint einen „bösen Kopf“ – irreführen lässt. Und Annette Wolf deutet in ihrer Inszenierung an, dass die sexuellen Gelüste des Titelhelden – von Malatesta mit den bekannten, blauen Pillen angeheizt – nicht unbedingt das erste Motiv seines Treibens sind: Die Einsamkeit des Eröffnungsbildes verweist deutlich tiefer in die Psyche.

Es gab Regisseure, die „Don Pasquale“ konsequent der buffonesken Einkleidung entledigt und das Drama des einsamen, alten, grausam getäuschten Mannes herausgeschält haben. So weit wollten Wolf und Brexendorff nicht gehen: Die Tannenzapfen-Gewichte einer Kuckucksuhr hängen riesig vom Schnürboden herab in die Bühne und erinnern sachte daran, dass Donizettis Oper ihre Wurzeln in der alten „Commedia“ mit ihren mechanisch-schematisch agierenden Figuren hat. Oder eben auch an die verzopfte Puppenstuben-Welt, in der Pasquale nach dem Leben schmachtet – das mit dem Einzug der vermeintlichen, schüchternen Klosterschülerin „Sofronia“ auch einkehrt: Ein prachtvoller Hirsch wird ausgepackt und der Hausherr verlässt mit Schwung den Rollstuhl.

Doch das Verstellungsspiel funktioniert nur teilweise: Die Begegnung zwischen der getarnten Norina und dem leichtgläubigen Don Pasquale gleitet in witzig gemeinten, aber abgestandenen Klamauk ab, statt psychologisch glaubwürdig ausgeformt zu werden. Rainer Zaun ist ein Komödiant alter Schule, der sich auf die abgelebten Tricks des Genres verlässt. Maria Klier als Norina agiert heftig und kann das Blümchen, das hinter klerikalen Mauern aufgewachsen sein soll, nicht recht glaubwürdig machen. Im Publikum lacht kaum jemand: Die ollen Kamellen kommen nicht mehr an.

Nach der Pause: Das Drama spitzt sich zu

Nach der Pause spitzt Annette Wolf das Drama dann doch noch zu: Norina gibt im Leoparden-Outfit das hässliche Selbstbewusstsein einer verzogenen Wohlstandsgöre zu erkennen. Neffe Ernesto hat vorher schon den Eindruck erweckt, das „Hotel Onkel“ ziemlich bequem auszunutzen. Keija Xiong schlurft erst im Morgenmantel herein und zeigt – entsprechend seiner Rolle als schmachtender, aber wenig aktiver Liebhaber – später auch nicht viel mehr Initiative.

Die treibende Rolle besetzt Oleksandr Prytolyuk (ein stimmgewaltig dröhnender Gast aus Darmstadt für den erkrankten Raymond Ayers): ein durchtriebener Geselle, der im bürgerlichen Gewande an Mozarts Don Alfonso aus „Cosí fan tutte“ erinnert. Einer derjenigen, bei denen die Aufklärung alle Werte wegerklärt und an ihrer Stelle nur den handfesten Geldwert hinterlassen hat? Den Eindruck, an der Erfüllung einer wahren Liebe zwischen zwei jungen Menschen interessiert zu sein, weckt er nicht.

"Liebe" in Zeiten der Spielkonsole: Maria Klier (Norina) und Kejia Xiong (Ernesto). Foto: Stefan Kühle

„Liebe“ in Zeiten der Spielkonsole: Maria Klier (Norina) und Kejia Xiong (Ernesto). Foto: Stefan Kühle

Norinas durchtriebenes Spiel mit Pasquales blutleeren Alltagsidealen gipfelt in einem unerhörten Übergriff: Die Ohrfeige, die sie dem Alten verpasst, bricht das Stück endgültig ins Melancholische – eindeutig zu hören in Donizettis sensibler Musik. Für das Ende hat sich Wolf eine Überraschung ausgedacht: Das bezaubernde Liebesduett „Tornami a dir che m’ami“ verbringt das Paar mit gleichgeschalteten Bewegungen jeder für sich mit der Spielekonsole. Am Ende büchst Norina mit Don Pasquale aus: Beide verlassen ihre Lebenswelt, in der eine authentische Beziehung jenseits von Rollen- und Lebensmustern nicht möglich war. So bricht Wolf die Komödie auf, ohne Donizettis Oper ins Tragische zu ziehen: eine originelle Idee.

Auch musikalisch liegen in Hagen Heiterkeit und Melancholie nahe beieinander: Auf David Marlows Dirigat reagiert das Orchester mit wendigen Tempi und transparentem Klang, aber auch mit kantig phrasierten Melodiebögen und gepfefferter Lautstärke. Patzer und Schludrigkeiten folgen auf sensibel aufgebaute Momente in der Balance und der dynamischen Nuancierung: Theateralltag eben. Die souveräne Bühnenerfahrung gibt dem Pasquale Rainer Zauns Autorität; stimmlich zeigt er sich flexibel, wird allerdings vom Orchester immer wieder zugedeckt.

Maria Klier hat die kecken Koloraturen der Norina auf Abruf, der klanglich erfüllte Ton ist ihre Sache weniger. Keija Xiong hat ein ernstes Problem mit der Stütze seiner an sich wohltimbrierten Stimme, was vor allem in der Höhe schmerzlich bewusst wird: sie bleibt dünn und klanglos. Wolfgang Müller-Salow hat den Hagener Chor auf eleganten Klang studiert. Wozu die Choristen den berühmten Dienerchor in einer überflüssigen Großküchen-Szene singen, während sie mit Endlos-Nudeln hantieren, bleibt schleierhaft. Und das Licht ist schlichtweg Pfusch: Der Zuschauer im Parkett muss sich jedes Mal, wenn sich bestimmte Türen öffnen, vor einer grellen Scheinwerfer-Batterie schützen. Auf diese Weise blendend hat Annette Wolf ihr Konzept sicher nicht gemeint.

Die nächsten Vorstellungen: 19. und 28. Dezember 2013; weitere Termine bis März 2014 unter www.theaterhagen.de




Zwischen Avantgarde und Neo-Romantik: Krzysztof Penderecki ist 80 Jahre alt

Krzysztof Penderecki. Foto: Marek Beblot

Krzysztof Penderecki. Foto: Marek Beblot

Seine Musik kennen auch Menschen, die mit zeitgenössischer klassischer Musik nichts anfangen können, und seine Anfänge als weltweit renommierter Komponist sind eng mit Nordrhein-Westfalen verbunden: Heute, am 23. November, feiert Krzysztof Penderecki seinen 80. Geburtstag. Vergleichbar ist seine Popularität vielleicht noch mit Philip Glass oder Arvo Pärt – aber sonst gibt es nur wenige „klassische“ Komponisten, die seine Breitenwirkung erreichen.

Das Geheimnis hinter der ungewöhnlichen Akzeptanz liegt nicht allein in Pendereckis jüngsten Crossover-Konzerten oder in seiner Filmmusik. Der Pole hat die Frage, wie Komponieren heute geht, für sich klar beantwortet: „Ich glaube an eine Musik, die Wurzeln hat“, sagte er 2003 in einem Interview. Und aus diesen Wurzeln der europäischen Musik, die man „nicht vergessen darf“, schöpft Penderecki mit ungeheuerer Energie einen Teil seiner Inspiration.

Seine kreative Rückwendung, oft als Neo-Romantik kategorisiert, hat ihm nicht nur Freunde eingebracht. Kritiker und Komponisten-Kollegen stoßen sich an einem Stillstand, den Penderecki unverblümt zugibt: Seit vielen Jahren habe sich sein Musikstil nicht mehr geändert. Helmut Lachenmann wird mit dem spöttischen Wort zitiert, Penderecki sei der „die tonalen Paarhufer anführende Herr Penderadetzky“.

Das war nicht immer so: Mit seinen ersten Erfolgen wurde er unter die Avantgarde Europas eingereiht: „Aus den Psalmen Davids“ erregte 1958 Interesse; da hatte er gerade sein Studium am Krakauer Konservatorium beendet. 1959 gewann er bei einem polnischen Wettbewerb gleich drei Preise: Er hatte seine Stücke unter verschiedenen Namen eingereicht. Am 16. Oktober 1960 führte Hans Rosbaud bei den Donaueschinger Musiktagen „Anaklasis“ auf. Das Stück für Streicher und Schlagzeug katapultierte den 27-jährigen Polen in die Sphäre der Berühmtheit. Sein „Threnos“ für die Opfer von Hiroshima (1961) war jahrelang das meistgespielte zeitgenössische Werk.

„Die Avantgarde ist gestorben“

Doch längst legt Penderecki keinen Wert mehr darauf, zur Avantgarde zu gehören. Er habe sehr früh in seinem Leben Entdeckungen gemacht, sagte er im Interview. „Und dann habe ich festgestellt, dass ich nicht mein ganzes Leben lang Cluster schreiben will. Oder wieder etwas Neues erfinden, damit man in der ersten Reihe der Avantgarde steht. Die Avantgarde ist gestorben, das hat zehn Jahre gedauert, ca. von 1950 bis 1960, danach war es vorbei. Diejenigen, die das nicht verstanden haben, machen weiter, aber das ist sehr epigonal.“

Die „Wende“ kam recht früh in Pendereckis Biografie. Die „Flourescences für Orchester“ waren 1962 noch im damaligen Mainstream der Moderne eingeordnete Erforschungen klanglicher Möglichkeiten. Penderecki nannte es ein dekadentes Stück, das das klassische Orchester zerstört. Danach sei ihm klar gewesen, dass es für ihn so nicht weitergehe. Er schrieb ein „Stabat Mater“, ein Stück für Chor a cappella, das 1966 in die „Lukas-Passion“ aufgenommen wurde.

Kunstpreis NRW und Folkwang-Lehrauftrag

Dieses groß angelegte Oratorium war ein Auftragswerk des Westdeutschen Rundfunks anlässlich des 700jährigen Weihejubiläums des St. Paulus-Doms in Münster und wurde 1966 dort uraufgeführt. Der junge Komponist, damals 30 Jahre alt, hatte zum ersten Mal die erträumte große Form realisiert. Seine Studien des Kontrapunkts des 16. Jahrhunderts, die Entdeckung Bruckners als post-romantischen Symphoniker, die Referenzen auf Schostakowitsch, aber auch die Erfahrungen mit der Avantgarde, mit moderner Klangerzeugung und mit der menschlichen Stimme flossen in diesem Werk zusammen.

Der Erfolg war überwältigend: Mit Aufführungen in Warschau und Krakau durfte er zum ersten Mal im kommunistischen Polen geistliche Musik im Konzertsaal darbieten. Die Folkwang Hochschule in Essen bot ihm eine Dozentur. Von 1966 bis 1968 lehrte und lebte Penderecki mitten im Ruhrgebiet.

Die „Lukas-Passion“ brachte Penderecki mit dem Großen Kunstpreis des Landes Nordrhein-Westfalen die zweite bedeutende internationale Auszeichnung ein. Unter seinen zahllosen Preisen und Titeln zeigen einige weitere, dass er mit der Rhein-Ruhr-Region dauerhaft verbunden war – so der Musikpreis der Stadt Duisburg 1999 und der Staatspreis des Landes 2002. Außerdem ist er Ehrendoktor der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster.

Mit seinen Werken erwarb er sich in den folgenden Jahrzehnten die Zustimmung des Publikums. Die Ablehnung von Teilen der Musikkritik und der komponierenden Kollegen blieb. Seine erste Oper, „Die Teufel von Loudun“ (1969) erhielt bissige Kritiken. Dem Werk, das Rolf Liebermann für die Hamburgisch Staatsoper in Auftrag gegeben hatte, warf etwa Joachim Kaiser in der „Zeit“ die „banale Bilderfülle“ des Textbuchs vor, notierte einen „Eindruck der Trostlosigkeit und Uninspiriertheit“. Der Großkritiker ätzte, die Musik zu den „Teufeln von Loudun“ klinge oft deprimierend simpel und monoton.

Ironische Kritik an Pendereckis Werken für Musiktheater

Auch „Paradise Lost“ (1978) kam nicht besser weg: Heinz Josef Herbort kommentierte die Musik zu der „sacra rappresentazione“ nach Milton mit hintersinniger Ironie: Penderecki beherrsche seine seit zwanzig Jahren bekannten Techniken so gut, dass er von ihnen nicht mehr loskomme. „Paradise Lost“ war 2001 in Münster wieder einmal zu sehen: Der Eindruck, Penderecki habe nur seine erprobten, längst bekannten Mittel eingesetzt, ist nicht von der Hand zu weisen.

Auch als Dirigent eigener und fremder Werke genießt Penderecki einen exzellenten Ruf. Seine Beethoven-Dirigate etwa werfen stets ein erhellendes Licht auf den Komponisten-Kollegen aus der Vergangenheit. Foto: Ludwig van Beethoven Association, Bartosz Koziak

Auch als Dirigent eigener und fremder Werke genießt Penderecki einen exzellenten Ruf. Seine Beethoven-Dirigate etwa werfen stets ein erhellendes Licht auf den Komponisten-Kollegen aus der Vergangenheit. Foto: Ludwig van Beethoven Association, Bartosz Koziak

Trotz allem: Der Erfolg blieb und bleibt Penderecki treu. Sein Werkverzeichnis ist immens. Seit 1972 sind die Sinfonien Nummer eins bis fünf, sieben und acht entstanden; die noch fehlende Sechste will der Komponist demnächst vollenden. Seine Gerhart-Hauptmann-Oper „Die schwarze Maske“ traf ebenso wie seine komische Oper „Ubu Rex“ auf weltweite – leider nicht anhaltende – Aufmerksamkeit.

Mit „Dies Irae“, einem Oratorium zum Gedächtnis der Opfer von Auschwitz (1967) begann eine Reihe großer Werke für Chor, Solisten und Orchester: „Kosmogonia“ (1970) zum 25-jährigen Bestehen der UNO; ein „Te Deum“ (1980), das er nach eigenen Worten spontan nach der Wahl Karol Woityłas zum Papst geschrieben hat; schließlich das „Polnische Requiem“ von 1984 und ein „Credo“ 1998. In diesem Jahr wurde seine Messe für den Thomanerchor uraufgeführt – ein Beitrag zum 700jährigen Bestehen dieser Leipziger Institution von Weltgeltung.

Ein Publikum, das klassische Konzerte, noch dazu mit Musik von heute, kaum je einmal live erlebt, kennt Penderecki dennoch – vielleicht sogar, ohne es zu wissen: Die Soundtracks von Filmen wie „Shining“ von Stanley Kubrick, „Shutter Island“ von Martin Scorsese oder David Lynchs „Wild At Heart“ stammen von ihm. Bei seinen Festival-Auftritten mit dem Radiohead-Gitarristen Jonny Greenwood in Polen und in England wurde er von 50 000 Besuchern wie ein Pop-Star gefeiert.

Seit etwa 1998 konzentriert sich Penderecki auf Solokonzerte und Kammermusik. Viele Werke schrieb er für berühmte Interpreten, etwa ein Cello-Capriccio für Siegfried Palm oder das Zweite Violinkonzert („Metamorphosen“) für Anne-Sophie Mutter. Im Dezember führt die Geigerin in New York sein neues Werk auf, die Sonate „La Follia“ für Violine solo. Und der Komponist bekennt, er habe im Kopf noch Stoff für zwanzig Jahre Arbeit – unter anderem an einer Oper „Fedra“ als Auftragswerk der Wiener Staatsoper.

Das MDR Fernsehen zeigt heute, 23. November, 23.30 Uhr, einen Film von Anna Schmidt über Krzysztof Penderecki: „Wege durchs Labyrinth„.

In Münster steht ab 18. Januar 2014 das Tanztheater „Das Schloss“ nach Franz Kafka auf dem Programm des Stadttheaters. Zur Choreografie von Hans Henning Paar erklingt der vierte Satz von Pendereckis 3. Sinfonie.




Wagner-Jahr 2013: Die Jugendoper „Das Liebesverbot“ in Leipzig

Wagner in Leipzig: Das neue Wagner-Denkmal von Stephan Balkenhol. Foto: Werner Häußner

Wagner in Leipzig: Das neue Wagner-Denkmal von Stephan Balkenhol. Foto: Werner Häußner

Wagners Verdikt scheint eindeutig: „Ich irrte einst und möcht‘ es nun verbüßen. Wie mach‘ ich mich der Jugendsünde frei?“. Die Widmung an König Ludwig II. von Bayern galt dem heiter-sinnlichen „Liebesverbot“. Geniusworte werden gemeinhin nicht kritisch hinterfragt. So wurde Wagners opéra comique „Das Liebesverbot“ nach seinem Tode erst 1914 wieder aufgeführt und blieb seitdem ein nur gelegentlich beachteter Sonderling.

Kein Wunder: Wagner selbst hat sich nach der katastrophal misslungenen einzigen Aufführung 1836 in Magdeburg vom Konzept der opéra comique, wie es ihm im Theateralltag in den Werken Daniel François Esprit Aubers formvollendet entgegentrat, gelöst und andere Wege beschritten, die ihn letztlich zurück zur romantischen Sphäre der „Feen“ geführt haben. Und die spätere Wagnerianer-Literatur konnte mit dem „Liebesverbot“ überhaupt nichts anfangen: Die Überwindung des Dualismus von sinnlicher Lust und asketischer Geistigkeit durch eine kontrollierte Balance beider Kräfte war nicht das Thema einer Zeit, die manichäisch in den Kategorien von „schmutzig“ und „rein“ dachte. So galt das „Liebesverbot“ als die Jugendsünde schlechthin – ein Kapitel Wagner, das man am besten verdrängte und vergaß.

Der Bedeutung des Werks für Wagners Œuvre wird man so freilich nicht gerecht: Das Thema selbst taucht, romantisch kategorisiert, im „Tannhäuser“ wieder auf – und die Reflexe der „Liebesverbot“-Musik in der großen romantischen Oper sind zu deutlich, um bloßer Zufall zu sein. Inhaltlich befasste sich Wagner bis kurz vor seinem Tod mit dem „Weibe“, sprich, der Problematik von Sinnlichkeit, Erotik und Liebe, von Verdrängung, Überhöhung und Integration des Sexuell-Körperlichen.

Der junge Richard Wagner. Zeitgenössischer Stich

Der junge Richard Wagner. Zeitgenössischer Stich

Musikalisch ist die an Auber geschulte rhythmische Verve in den Folgewerken verschwunden. Aber die schwärmerische Bellini-Melodik begegnet uns ab dem „Fliegenden Holländer“ in allerlei Facetten wieder, und die ausgefeilte Ensemblekunst – von Auber und Rossini geprägt – war wegweisend für das spätere Musikdrama. Wer also das „Liebesverbot“ aus dem sowieso fragwürdigen „Kanon“ von Wagners Meister-Werken eliminiert, wird der Entwicklung des Komponisten nicht gerecht. Und Wagner „Genie“ zeigt sich eben auch in der Adaption von Vorbildern: So, wie der Zwanzigjährige in den „Feen“ ein Finale schreibt, das in der Oper von 1833 seinesgleichen sucht, so gekonnt lässt es sich ein Jahr später auf den zündenden Überschwang französischen Vorbilder ein. Wer Aubers Opern aus dieser Zeit kennt, kann ermessen, mit welcher Souveränität Wagner mit dem Meister des Genres gleich zieht.

Wagner artikuliert revolutionär-demokratische Ideen

Die wenigen Inszenierungen der letzten Jahre haben erwiesen, dass sich das „Liebesverbot“ durchaus jenseits einer bloß „museal“ verstandenen Jubiläums-Würdigung auf der Bühne behaupten kann. Die aus Shakespeares „Maß für Maß“ entlehnte Story hat Wagner für seine Zwecke geschärft: Ein bigotter Statthalter – heute würde man ihm Kontrollzwang diagnostizieren – verbietet jede sinnliche Lust bei Todesstrafe und stolpert durch die List einer Nonne (!) und den fröhlich-selbstbewussten Widerstand des Volkes über seine eigenen Regeln. Jenseits der Kritik am moralischen Rigorismus artikuliert Wagner aber auch eine revolutionär-demokratische Idee, die ihn noch 1849 in die Nähe der Dresdner Barrikaden führte: Das Volk ist der eigentliche Souverän des Geschehens.

Tuomas Pursio als Statthalter Friedrich im Leipziger "Liebesverbot". Foto: Kirsten Nijhof

Tuomas Pursio als Statthalter Friedrich im Leipziger „Liebesverbot“. Foto: Kirsten Nijhof

In Leipzig – und wo sonst wäre Wagners Frühwerk angebrachter – hatte nun das „Liebesverbot“ in der Regie von Aron Stiehl Premiere; jene Version, die im Sommer anlässlich des Wagner-Geburtstags in Bayreuth zu sehen war. Jürgen Kirner bot in seinem Bühnenbild den technisch beschränkten Möglichkeiten der Oberfrankenhalle Paroli: Stellwände und beleuchtete, rasch verschiebbare bühnenhohe Kästen ermöglichen schnelle Szenenwechsel und schaffen atmosphärische Räume: ein Dschungel mit wuchernden Pflanzen für das Reich der Sinne und der Triebe; ein weiß leuchtendes Kreuz für den Raum des Klosters. Statthalter Friedrich residiert zwischen riesigen, nummerierten Schubkästen, Chiffren des Ordnungszwangs und Kategorisierungswahns.

Sven Bindseils Kostüme schärfen mit leichter Ironie den Gegensatz von Geistigem und Triebhaften, den Regisseur Aron Stihl herausarbeitet: Das „Volk“ – der Chor Alessandro Zuppardos leistet auch szenisch ganze Arbeit – trägt die Flecken und Streifen wilder Tiere in einer Art von Steinzeit-Fetzen-Look; Friedrich dagegen tritt im schwarzen Rock des bürgerlich-klerikalen 19. Jahrhunderts auf, sein alles andere als überzeugter Gefolgsmann Brighella in einer pompösen Amtsdiener-Robe. Die Regie setzt auf Bewegung und lebhafte Aktion: Stiehl versteht es, Personen unspektakulär, aber konsequent zu führen. Wenn im Finale die Beine geschwungen werden, ist das ein durchaus beabsichtigtes Zitat: Der Triumph der lustvollen Ausgelassenheit führt direkt zur Sensation des Offenbach’schen Can-Can.

Bis an die Grenzen geforderte Sänger

Musikalisch wird man in Leipzigs Opernhaus leider wieder einmal nicht glücklich: In der Ouvertüre schon bringen die vehementen Staccati und das rhythmisch Ungestüm Wagners die Musiker aus dem Tritt; lustlos nivelliert das Orchester die Kontraste der Musik. Später lässt Dirigent Matthias Foremny arg massive Lautstärke zu. Geformte Phrasen, ausgearbeitete Details? Oft Fehlanzeige. Da haben es die Sänger schwer, die Wagner ohnehin ständig an die Grenzen führt. Christiane Libor muss als Isabella mal hochdramatisch auftrumpfen, mal lockeren Singspielton anschlagen oder sich durch Ketten kurzer Noten hangeln – was ihr mit beachtlicher stimmlicher Reserve auch gelingt.

Olena Tokar hat es als Mariana einfacher: die Partie der verlassenen Ehefrau des Statthalters ist in Leipzig kurz. Und die dritte der Frauen auf der Suche nach der ehrlichen Liebe, Dorella, wird von Magdalena Hinterdobler verkörpert: In bester, sexistisch anmutender Boulevard-Manier von einem Presseorgan als einzig sehenswertes Formenwunder auf der Leipziger Bühne angepriesen, quält sie sich ohne zuverlässigen Stimmsitz und ohne tragende Resonanz durch Wagners Noten.

Bis an ihre Grenzen gefordert sind Mark Adler (Luzio) und David Danholt (Claudio): beide haben mit Wagners hybriden Anforderungen hörbar zu kämpfen. Reinhard Dorn orgelt den Brighella nicht als verschlagenen Sbirren, sondern als gemütliche Charge. Der Pontio Pilato Martin Petzolds lässt sich stimmlich nichts zuschulden kommen, bleibt aber als Figur von der Regie merkwürdig unerklärt. Tuomas Pursio hat die stocksteife Figur für den in seinen politischen wie psychischen Zwängen eingeklemmten Friedrich, ist als herrischer Bürokrat glaubwürdig, stimmlich aber oft verhärtet und trocken: Die belcantistischen Aspekte seiner Rolle kommen nicht zum Tragen.

Am Ende reißt der entlarvte Statthalter einen Blumenstrauß an sich und zieht dem zurückkehrenden König entgegen, während sich in der bunten Truppe der Karnevalisten die Feiernden wie Domino-Steine der Reihe nach zu Fall bringen: ein angedeuteter Zweifel an der finalen Versöhnung, der nicht so recht überzeugen will, weil er szenisch zu unbestimmt bleibt. Eine verdienstvolle Inszenierung: Wer den „ganzen“ Wagner verstehen will, wer um die Wurzeln des Musikdramas wissen will, kommt am „Liebesverbot“ nicht vorbei.