Was ist denn wohl ein Aminaschlupferle? – Neues Buch über „Wörter, die es nicht auf Hochdeutsch gibt“

Keine Frage: Dialekte und Mundarten bereichern die Hochsprache seit jeher. Ein schmales Buch versammelt nun rund fünfzig Ausdrücke, die im Hochdeutschen (angeblich) überhaupt keine direkte Entsprechung haben.

Die sammelfreudige Herausgeberin Sofia Blind berichtet im Vorwort von Hunderten von Wörtern, die auf ihren Vorschlagslisten gestanden haben. Da hieß es gründlich aussortieren: Schimpf- und Kraftworte (schon wegen der ungeheuern Vielzahl) schob sie gleich ganz beiseite; ebenfalls alle Wendungen, die hochsprachlich leidlich ersetzt werden können. Außerdem: Wenn etwas unentwegt vorkommt und sozusagen alles oder nichts bedeuten kann („Schmäh“ aus dem Wienerischen, „fei“ in Bayern, „Allmächd!“ im Fränkischen), so war es für ihre Zwecke auch nicht tauglich.

Nun überzeugt die schließlich getroffene Auswahl allerdings nicht rundweg. So fragt man sich, warum „boofen“ (Sächsisch für „unter freiem Himmel schlafen“ – vergleiche das allbekannnte „poofen“/„pofen“), hudeln, Leiberl oder Plörre aufgenommen wurden, die sich doch ebenso breit durchgesetzt haben wie Berliner Worte (Bammel, mittenmang, jottwede) – letztere kommen in diesem Buch überhaupt nicht vor, und zwar just just mit der Begründung, sie seien halt im gesamten deutschen Sprachraum vertraut. Außer der mitunter so großmäuligen Hauptstadt werden aber eigentlich alle deutschsprachigen Gegenden berücksichtigt. Mehr oder weniger.

Es gibt einige sehr schöne Fundstücke in dem Band, den man sich gerade deshalb etwas umfangreicher gewünscht hätte. So aber erreicht er gerade mal etwas mehr als ein mittelprächtiges Mitbringsel-Format.

Vollends überzeugt hat mich beispielsweise das Wort Aminaschlupferle, das auf der dritten Silbe betont wird, also Aminaschlupferle. Will heißen: „an mich heran“. Die Gesamtbedeutung meint ein kleines Kind, das sich gern bei jemandem ankuschelt. Gebräuchlich im Allgäu.

Eher im entspannten Plauderton und nicht belehrend oder gar wissenschaftlich werden auch alle weiteren Wörter kurz erläutert. Mir haben es einige Exemplare aus dem Schweizerischen angetan, beispielsweise „heimlifeiss“ aus dem Berner Dialekt. Es bedeutet, dass jemand seinen Wohlstand bewusst n i c h t zur Schau stellt, also nur „heimlich feist“ ist und somit im gewissen Gegensatz zum gefallsüchtigen hessischen „Gasseglänzer“ steht. Mal eben zurück nach Bern: Auch die „Hundsverlochete“, ein Hundebegräbnis, hat was für sich – als drastische Kennzeichnung einer „wenig lohnenden Veranstaltung“, wie es mit schönem Understatement heißt.

Gar hübsch auch das „Fluchtachterl“, das letzte Glaserl Wein vorm Aufbruch in Wien. Nebenher abgehandeltes Pendant in und um Hamburg: das „Auf und zu“, ein finales Bierchen, für das der Zapfhahn nur ganz kurz aufgedreht wird.

Als Dortmunder habe ich selbstverständlich nachgesehen, ob auch das Westfälische vertreten ist. Ist es. Mit „Dönekes“ und „fisseln“. Bedeutungen bitte im Buch nachschauen, falls nicht ohnehin bekannt. Wir wollen hier nämlich nicht den ganzen Inhalt verraten.

Doch halt! Eins noch: Gar nicht vergessen darf man die schönen Illustrationen von Nikolaus Heidelbach. Sie sind ein Vergnügen für sich, lassen so manches kostbare oder kuriose Wort so recht anschaulich hervortreten und machen sicherlich mindestens die Hälfte vom Reiz des Buches aus.

Sofia Blind/Nikolaus Heidelbach: „Wörter, die es nicht auf Hochdeutsch gibt“. Dumont, 112 Seiten, 18 Euro.

 




Charakterstärke und sonstige Vorzüge: „Vorbilderbuch“ mit anregenden Texten aus dem Ruhrgebiet

Ist es nicht angesichts von so vielen YouTube-Stars, Influencern und Promis ein bisschen antiquiert, ein Buch über Vorbilder auf den Markt zu bringen? Der Verlag Henselowsky Boschmann hat genau das getan. Und er hat gut daran getan.

Herausgekommen ist eine lesenswerte, anregende und angenehme Lektüre. Über 30 Autoren schreiben sehr persönlich über ihre Vorbilder und darüber, wo vielleicht auch Trennlinien zu ziehen sind. So nimmt für die Pädagogin Margret Martin ihr Ausbildungslehrer im Referendariat wegen seiner Offenheit und sozialen Einstellung einen besonderen Stellenwert ein. Vieles habe sie für den eigenen Unterricht übernommen, schreibt sie, doch am Ende müsse man selbst seinen eigenen Weg suchen.

Es gibt sie auch nebenan

Die Geschichte steht aber noch für ein weiteres Merkmal dieses Bandes: Vorbilder müssen nicht z. B. Nelson Mandela oder Mutter Teresa heißen, es gibt sie auch nebenan. Ludger Claßen erzählt von einer Tante, Kosename Tanmaria, die immer half, wenn es erforderlich war. Ihre Gelassenheit, aber ebenso die Skepsis gegenüber manchen Neuheiten haben den Autor nachhaltig beeindruckt. Den Beat-Club im Fernsehen, den durfte er damals dennoch bei ihr – und nur bei ihr – sehen, der Vater lehnte die Sendung ab.

Apropos Musik: Pete Townshend von den Who ist für Zepp Oberpichler einer, zu dem er bis heute aufschaut. Dessen Shows und Songs sind für ihn unübertroffen. Ähnlich denkt René Schiering über Christoph Schlingensief, wenn er sich dessen Wirken vor Augen führt. „Was er jetzt wohl tun würde?“, fragt sich der Autor und spielt dabei insbesondere auf das gesellschaftskritische Bewusstsein des 2010 verstorbenen Künstlers sowie dessen Selbstreflexion an.

Fair und frei von Skandalen

Wie man mit Charakterstärke überzeugen kann, dafür sind in dem Band zahlreiche Beispiele zu finden. Hans Tilkowski und Norbert Nigbur gehören dazu. Der eine, der einst für den BVB und 1966 beim WM-Endspiel in Wembley für Deutschland im Tor stand, imponiert den Autor bis heute durch Fairness und gesellschaftliches Engagement, der andere, früherer Torhüter auf Schalke, beeindruckte seinerzeit nicht zuletzt, weil er am Bundesligaskandal 1971 n i c h t beteiligt war.

An Menschen, die sich aus ihrem Selbstverständnis heraus für Andere engagieren, erinnern eine Reihe von Verfassern. Da gab es den Missionar, der soziale Projekte voranbrachte, den Altkommunisten in Bottrop, der als Anwalt des „kleinen Mannes“ erst spät im Leben Anerkennung fand, und den Dortmunder Pfarrer, der sich auf die Seite von Kirchenbesetzern geschlagen hat. Beeindruckend ist auch die Geschichte über die Unternehmerin, die als Kind jüdischer Eltern von diesen 1939 nach England geschickt wurde, schon früh eine Technologiefirma aufbaute und sich bis heute dafür stark macht, dass Autisten in der IT-Branche unterkommen.

Saboteur des Alltags

Wie schwierig, aber vor allem wie bereichernd der Umgang mit Autisten sein kann, davon berichtet Gerd Herholz, der vor Jahren eine Zeitlang einen Jugendlichen betreut hat. Er ist ihm bis heute ein „flackerndes Vorbild“ geblieben, hat er ihn doch als „professionellen Dulder und Alltagssaboteur“ erlebt. Dass destruktives Verhalten auch ein „Vorbild“ im negativen Sinn sein kann, davon erzählt Margit Kruse. Der Junge aus ihrer Nachbarschaft hatte ob seiner Diebstähle einen zweifelhaften Ruhm, als er ins Gefängnis kam, war dann wohl die abschreckende Wirkung vollendet.

Wenn die Autoren auf ihre Vorbilder eingehen, vermitteln sie nicht nur Biografisches, sondern erzählen auch immer ein Stück Zeitgeschichte. Da es sich häufig um das Ruhrgebiet als Schauplatz handelt, lädt der Band auch zu einer regionalen Zeitreise ein. Denjenigen, die sich gern etwas grundsätzlicher mit dem Thema Vorbilder auseinandersetzen wollen, bietet das Buch auch genügend Stoff, beispielsweise durch Zitate namhafter Literaten wie Erich Kästner.

Die Geschichte, die wohl am meisten berührt, findet sich gegen Ende des Buches: Ein Vater beschreibt den Menschen, der ihm einen ganz anderen Blick auf das Leben geöffnet hat: Es war sein Sohn, der mit 17 Jahren an einer unheilbaren Krankheit starb.

„Vorbilderbuch – Kleine Galerie der Menschlichkeit“. Verlag Henselowsky Boschmann, Bottrop. 240 Seiten, 9,90 Euro.




Israel-Boykotteurin sollte Nelly-Sachs-Preis erhalten – Nimmt Dortmunder Jury die fragwürdige Entscheidung zurück?

Die pakistanisch-britische Autorin Kamila Shamsie sollte den mit 15.000 Euro dotierten Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund erhalten. Doch nun sieht es so aus, als werde die Entscheidung rückgängig gemacht.

Die alle zwei Jahre verliehene Literatur-Auszeichnung ist der (bislang noch) renommierteste Kulturpreis, den die Stadt zu vergeben hat. Und was ist daran jetzt verkehrt?

Problematische Preisträgerin? Kamila Shamsie. (Foto: Mark Pringle)

Problematische Preisträgerin: Kamila Shamsie. (Foto: Mark Pringle)

Diesmal liegt man mit der Kandidatenkür leider völlig „daneben“. Wie diversen Quellen zu entnehmen ist, zuvörderst den Ruhrbaronen, beteiligt sich die Autorin Kamila Shamsie offenbar ganz bewusst und entschieden am Kulturboykott gegen Israel – im Kontext der so genannten BDS-Kampagne, um die es bereits bei der RuhrTriennale heftigen Streit gegeben hat. Triennale-Intendantin Stefanie Carp musste sich einen unglücklichen, chaotischen und sehr widersprüchlichen Umgang mit dem Thema vorhalten lassen.

Die naturgemäß apologetische Jury-Begründung für die jetzige Dortmunder Entscheidung zum Nelly-Sachs-Preis findet sich hier. Die etwas verschwurbelte Diktion deutet darauf hin, dass man sich von rein literarischen Erwägungen hat (ver)leiten lassen – ganz ohne Rücksicht auf politische Aspekte, was in diesem Falle wenigstens naiv ist. Oder waren da gewisse Zusammenhänge gar nicht bekannt? Dann wäre es fahrlässig zu nennen. Inzwischen hat die Stadt recht unmissverständlich Stellung bezogen (siehe unten).

Der jetzige Vorfall (oder wohl treffender: Skandal) ist mindestens so gravierend wie die erwähnten Vorgänge bei der RuhrTriennale, wurde doch mit der allerersten Preisträgerin und zugleich Namensgeberin Nelly Sachs (1891-1970) im Jahr 1961 in Dortmund eine herausragende Dichterin geehrt, die mit ihrem Werk auch und vor allem für jüdische Traditionen und Belange einsteht, jedoch niemals platt parteilich, sondern in höchst einfühlsamem Geiste.

Nelly Sachs als junge Frau im Jahr 1910. (Wikimedia Commons / gemeinfrei / Fotograf(in) nicht namentlich bekannt) - Link: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Nelly_Sachs_1910.jpg

Nelly Sachs als junge Frau im Jahr 1910. (Wikimedia Commons / gemeinfrei / Fotograf(in) nicht namentlich bekannt) – Link: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Nelly_Sachs_1910.jpg

Die in Berlin geborene Nelly Sachs war eine deutsch-schwedische Schriftstellerin jüdischer Herkunft. Sie war eine Angehörige des gebildeten jüdischen Bürgertums, das einst in Deutschland tief verwurzelt war und damals das gesamte Kulturleben nachhaltig geprägt hat – bis die Nazis die Macht an sich rissen. Vom NS-Regime wurde Nelly Sachs drangsaliert, so dass sie 1940 nach Schweden flüchtete; gerade noch rechtzeitig, um dem Abtransport in ein Lager zu entgehen.

Den Dortmunder Nelly-Sachs-Preis erhielt sie 1961, 1966 bekam sie den Literaturnobelpreis „für ihre hervorragenden lyrischen und dramatischen Werke, die das Schicksal Israels mit ergreifender Stärke interpretieren“.

Wie verhält sich zu all dem der Israel-Boykott der jetzigen Preisträgerin? Steht er nicht dem Geist und dem Sinn des Werkes von Nelly Sachs völlig fern oder gar diametral entgegen? Muss man die Preisvergabe nicht einen eklatanten Fehlgriff nennen?

Noch mehr Fragen: Ob es Proteste bei einer etwaigen Preisverleihung am 8. Dezember geben würde, zu der die Autorin nach Dortmund anreisen wollte? Ob aus den Reihen früherer Preisträger vielleicht gar jemand die Auszeichnung zurückgeben wird? Wüste Spekulation, sicherlich. Aber auch nicht auszuschließen.

Jedenfalls muss man sich schon darauf gefasst machen, dass Dortmund in den politisch hellhörigen Feuilletons zumindest bundesweit, wenn nicht international ins Zwielicht gerät. Man kann auch in diesem Sinne nur inständig hoffen, dass die Preis-Entscheidung schnellstens revidiert wird.

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Stellungnahme der Stadt Dortmund:

Preisvergabe überdenken

Inzwischen liegt eine Stellungnahme der Stadt Dortmund vor. Im Wortlaut:

„…Zum Zeitpunkt der Entscheidung war keinem der Jurorinnen und Juroren bekannt, dass Kamila Shamsie in der Vergangenheit die Kampagne BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) unterstützt hat. In der Vorbereitung der Jury ergaben sich keinerlei Hinweise auf Aussagen, die mit BDS in Verbindung stehen. BDS hat das Ziel, Israel wirtschaftlich, politisch und kulturell zu isolieren.

Die Autorin hat am Mittwoch, 11. September, persönlich Stellung bezogen und ihre Unterstützung für BDS bekräftigt.

Die neunköpfige Jury des Nelly-Sachs-Preises wird vor dem Hintergrund dieser veränderten Ausgangs- und Informationslage in den nächsten Tage zusammentreten, um ihre Entscheidung im Rahmen eines satzungsgemäßen Verfahrens (zu) überdenken. Über das Ergebnis werden wir schnellstmöglich informieren.

Der Rat der Stadt Dortmund hat sich im Februar 2019 klar positioniert und eine „Grundsatzerklärung des Netzwerkes zur Bekämpfung von Antisemitismus in Dortmund“ beschlossen. Darin heißt es u. a., dass „…Organisationen, Vereine(n) und Personen, die etwa (…) zu antijüdischen oder antiisraelischen Boykotten aufrufen, diese unterstützen oder entsprechende Propaganda verbreiten (z. B. die Kampagne ‘Boycott – Divestment – Sanctions (BDS)‘ keine Räumlichkeiten oder Flächen zur Verfügung gestellt werden.“




Regionale Erdung, weiter Horizont – Buch und Ausstellung zum Thema „Mensch & Tier im Revier“

Der Titel „Mensch & Tier im Revier“ wirkt anheimelnd. Doch dieses Buch kommt vor allem anfangs auch mit gewichtigem theoretischen Unterbau und gesellschaftskritischem Besteck daher. Anlässe gibt’s ja genug.

Und so erfahren wir eingangs, dass das menschengeprägte Erdzeitalter, das Anthropozän, sich in der bisherigen Form dem Ende zuneige und dass wir endlich in eine – Achtung, Neologismus! – „humanimale Sozietät“ eintreten sollen. Sprich: Mensch und Tier mögen gleichsam auf Augenhöhe existieren, dem Tier wird eine Art „Inklusion“ zuteil und es sieht seinen so ganz anderes gearteten Geist (jawohl: Geist) gleichberechtigt gewürdigt. Eine ferne Utopie? Oder eine dringliche Notwendigkeit? Jedenfalls eine Sichtweise, die sich mit herkömmlichen Zoos oder zirzensischen Attraktionen nicht mehr vereinbaren lässt.

Grubenpferd, „Taubenvatta“ und Bergmannskuh

In fünf Hauptkapiteln greift der hochinteressante Band (und die zugehörige Ausstellung im Essener Ruhr Museum mit über 100 Exponaten und mehr als 100 Fotografien) die Aspekte seines vielfältigen Themenkreises auf, der nach Möglichkeit mit prägnanten Belegstücken aus der Geschichte des Reviers illustriert wird. Und ja: Auch der früher so allgegenwärtige „Taubenvatta“ sowie die Ziege als „Bergmannskuh“ kommen natürlich ebenso vor wie Gruben- oder Brauereipferde.

Der Horizont des Buches wie der Schau reicht allerdings weit über die Region hinaus, er erstreckt sich zugleich ins Existenzielle und Universelle. Man darf getrost von einem Standardwerk zum Thema sprechen, wobei es in den Texten häufig deutlich ernster zur Sache geht als in den Illustrationen.

Die Kapitel-Überschriften lauten:

1.) Tiere töten
2.) Tiere nutzen
3.) Tiere lieben
4.) Tiere ordnen
5.) Tiere deuten

Der Mensch handelt, das Tier erduldet und erleidet

Da gibt es, allen Differenzen zum Trotz, Gemeinsamkeiten: Immerzu ist nämlich der Mensch der Handelnde, das Tier erduldet und erleidet zu allermeist die Aktionen und Emotionen des Homo sapiens. Das biblische „Macht euch die Erde untertan“ wirkt lange und vielfach schrecklich nach.

Ganz unverhüllt und explizit zeigt sich das Gewaltverhältnis zu Beginn: „Tiere töten“ handelt vornehmlich von Jagd und Schlachtung, aber auch von rabiater Insektenvernichtung oder massenhaft überfahrenen Tieren. In den Blick gerät selbst ein Bildschirmspiel wie „Moorhuhn“, bei dem die Comic-Tierchen halt bedenkenlos abgeknallt werden. Befinden wir uns hier im Grenzgelände zwischen berechtigter Mahnung und humorfreier Spaßbremsung?

Auch in der Abteilung „Tiere nutzen“ verhält es sich nicht gerade zu wie auf dem sprichwörtlich idyllischen Ponyhof: Da geht es etwa um barbarische Tierversuche, erbärmlich ausgebeutete Grubenpferde, Brieftauben im Militärdienst, rücksichtslose Elfenbein-, Pelz- und Leder-Gewinnung, wobei im Ruhrgebiet das vielzitierte „Arschleder“ der Bergleute nicht fehlen darf.

Objekte der sortierenden Wissenschaft

„Tiere lieben“ klingt demgegenüber harmlos und versöhnend, doch auch die oftmals übertriebene Vermenschlichung und Verniedlichung der Tiere wird deren Wesen keinesfalls gerecht. Die herablassende Haltung schließt etwa die Zurschaustellung in Varietés und Zirkuszelten mit ein. Auch der vermeintliche „Schutz“ von Tieren hat furchtbare Kehrseiten: So wurden in Kriegszeiten Pferde in die Schlachten geschickt, notfalls mit Gasmasken versehen. Das war natürlich alles andere als mitfühlend.

„Tiere ordnen“ bezieht sich auf die Systematik der wissenschaftlichen Betrachtung, die im Tier vor allem ein Objekt sieht. Ausgestopfte Exemplare in naturkundlichen Sammlungen sind nur ein Ausdruck dieses herrschaftlich sortierenden und zergliedernden Zugriffs auf die Schöpfung, zu dem sich die Menschen selbst ermächtigen. Überdies umfasst der „Ordnungs“-Gedanke auch die ideologische Indienstnahme der Tiernatur – bis hinab zur 1935 in Essen gezeigten Ausstellung „Mensch und Tier im deutschen Lebensraum“, die unterm überdimensionalen Hitlerbild und unter Schirmherrschaft des „Reichsjägermeisters“ Göring rund 350.000 Besucher anzog.

Mit Blattgold überzogener WM-Krake

Schließlich „Tiere deuten“. Hier erfährt man von mancherlei Zuschreibungen symbolischer oder religiöser Art, mit denen der Mensch sich das Tier gedanklich für seine emotionalen Bedürfnisse zurechtlegt. Das Spektrum reicht hier vom putzigen Zigaretten-Igel bis zum Amulett und Wappentier, vom Tierkreiszeichen bis zum prolligen Fuchsschwanz am Auto-Rückspiegel.

Sogar der Oberhausener Fußball-Krake Paul, der bei der EM 2008 und bei der WM 2010 so manches Match mit deutscher Beteiligung richtig „vorhersagte“ und posthum mit Blattgold überzogen wurde, wird in diesem Zusammenhang noch einmal dargeboten. Das Exponat stammt übrigens aus dem Deutschen Fußballmuseum in Dortmund und zeugt auf bizarre Weise von einem obsoleten Blick auf die Tierwelt.

Das Buch

Heinrich Theodor Grütter / Ulrike Stottrop (Hrsg.): „Mensch & Tier im Revier“. Klartext Verlag, Essen. 304 Seiten Katalogformat, fester Einband, über 230 Abbildungen. 29,95 Euro.

Die gleichnamige Ausstellung

„Mensch & Tier im Revier“. Bis zum 25. Februar 2020 im Ruhr Museum auf Zeche Zollverein, Essen. Mo bis So 10-18 Uhr. 24., 25. und 31.12 geschlossen. Eintritt 3 Euro, ermäßigt 2 Euro. Welterbe Zollverein, Areal A (Schacht XII), Kohlenwäsche (A 14), Gelsenkirchener Straße 181. www.ruhrmuseum.de 




„text & talk“, Gedicht und Gebäck – ein sonntäglicher Ausflug zur NRW-Messe der unabhängigen Buchverlage

Büchermarkt - Foto: Herholz

Büchermarkt am Kulturgut Haus Nottbeck – Foto: Herholz

Etwas Melancholie lag bereits über diesem Sonntag, bevor meine Frau und ich uns gestern aufmachten, um im münsterländischen Oelde das Kulturgut Haus Nottbeck zu besuchen. Diese traurige Nachdenklichkeit wollte sich auch kaum auflösen, als wir unter grau verhangenem Himmel mittags in Nottbeck ankamen.

Und das obwohl dieses Kulturgut ein rundum schöner Ort ist, Architektur und Kultur eingebettet in kleinhügelige Obstwiesenlandschaft. Obst, dem man zu dieser Jahreszeit hier nirgends entgehen kann: In Oelde dreht sich Anfang September alles um die markengeschützte Stromberger Pflaume, der Pflaumenmarkt lockt und die neue Pflaumenkönigin heißt Annika I. Asseburg.

Buchmessenzelt – Foto: Herholz

An diesem Sonntag ist auf Haus Nottbeck nicht nur das Kulturcafé dauerhaft geöffnet. Man kann auch draußen unter Sonnensegeln  resp. Regendächern  Gegrilltes erstehen oder eben Pflaumenkuchen, weitgehend wespenfrei.

Der Blick aufs Museum ist von den Sonnenschirmen des Büchermarktes leicht verstellt, vollkommen verdeckt ist das Gartenhaus durch eben jenes weiße Zelt, in dem die Buchmesse logiert. „Buchmesse“ – ein ziemlich groß geratenes Wort für eine Art Partyzelt, in dem 27 Verlage und einige wirklich große Kleinverleger Platz genommen haben. Aber warum soll nicht auch dies hier als „Buchmesse“ firmieren, wo doch heute jeder gewöhnliche Literaturabend gleich Event ist und Gala heißt?

Hier in der Diaspora

Dass hier auf dieser Messe in der Diaspora allerdings Lizenzgespräche stattfänden, Auslandsrechte verkauft, Übersetzungen eingestielt oder Filmrechte verscherbelt würden, dergleichen war nirgendwo zu hören oder zu sehen. Allein einige Autorinnen/Autoren auf Verlagssuche versuchten da und dort ihre Manuskripte loszuschlagen, und nur kurz ihrem eitlen Self-Marketing lauschend schlichen wir uns lieber davon – aus diesem wunderlichen Potemkinschen Zelt in herbstlicher Literaturlandschaft.

Frantz Wittkamp am Stand der Galerie Wittkamp – Foto: Herholz

Bewunderswert umso mehr die Verleger, Mitarbeiter und Freunde, die an ihren Tischen beharrlich auf verständige Leserinnen und Leser warten, vielleicht sogar auf Käufer der ausliegenden Druckerzeugnisse. An einem der belebteren Tische hatte ich Frantz Wittkamp erkannt, dessen Vierzeiler ich so mag:
„Ich möchte etwas Schönes schreiben.
Es müsste auch bedeutend sei.
Ich weiß, man soll nicht übertreiben.
Mir fällt auch Gott sei Dank nichts ein.“
(aus: frantz wittkamp: tage und gedichte. Coppenrath Verlag, Münster 2006)

An anderen Tischen die wackeren Verleger/Herausgeber der münsterschen Literaturzeitschrift „am erker“ oder der Grafiker und Lyriker H.D. Gölzenleuchter (Edition Wort und Bild), der eigene und fremde Texte mit seinen beeindruckenden Holzschnitten illustriert. So gäbe es noch viele zu nennen, die auf diesem heterogenen Marktplatz anwesend waren oder eben leider nicht (wie etwa der Bottroper Verlag Henselowsky Boschmann oder der Rigodon Verlag mit seinem solitären „Schreibheft“). Auch Verleger und Grafiker aus den Niederlanden waren zu Gast und anscheinend kurzerhand nach NRW eingemeindet wurden auch der Chemnitzer Eichenspinner Verlag sowie der Satyr Verlag Berlin.

Zu lesen beginnen

Das gemischte Kulturgut-Publikum aus Radlerpulks, Familienausflüglern, Flohmarktstöberern allerdings bevorzugte an diesem Sonntagmittag eher den Rundgang über den Büchermarkt in Innenhof und Saal, talkte (vulgo: plauderte) lieber ausgiebig an den Tischen vor dem Kulturcafé. Auch meine Frau und ich ließen uns schließlich zu Krakauer/Bratwurst/Pommes hinreißen und genossen den aufklarenden Himmel, die laue Wärme, das ruhige Treiben im Innenhof. Muße, Leute schauen, Kaffee trinken, zu lesen beginnen.

Verlagstisch – freundlich & hochroth – Foto: Herholz

Während meine Frau sich alsbald in Michael Klaus‘ Roman „Tage auf dem Balkon“ vertiefte (eben erst am Tischchen des Ardey Verlags erstanden), las ich mich fest in „Ein symphonischer Text“ von Leon Skottnik, erschienen im hochroth Verlag. Als europäisches Kollektiv und digitales wie reales Netz vertreibt hochroth mit Standorten u. a. in Bielefeld/München/Wien/Paris weitgehend unbekannte Lyrik aus Skandinavien, darunter auch „Minderheitenlyrik“ wie die der Sámi.

Meine aus dem Ruhrgebiet mitgeschleppte Melancholie allerdings wollte auch lesend nicht wirklich verfliegen, wurde aber immerhin gelindert und befeuert zugleich mit diesen Versen Skottniks:

„Du trinkst deinen Kaffee/ in einem kleinen Restaurant mit großen Fenstern/ Draußen hatte man Galgen aufgestellt/ und knüpfte/ knüpft/ wird die Verlierer aufknüpfen/ Du sitzt vor dem Fenster/ bis du endlich blind wirst/ und die Häuser und Kirchen/ mit einer Kraft zerschlägst/ die nur dir zu eigen ist/ Und mit einer Kraft/ die seinesgleichen sucht/ schleppst du Stein für Stein/ und alle Eidechsen, die darin wohnen/ auf den Felsen zum Brunnen/ eine Stadt errichtend/ In der Hoffnung/ dass Menschen kommen werden um hier zu leben“.
(aus dem Text „Durchführung“. In:  Leon Skottnik: Ein symphonischer Text. hochroth Bielefeld 2018)

 




Rundschauhaus und Krügerhaus – zwei Dortmunder Gebäude gaukeln Tradition vor

Das Dortmunder Rundschauhaus, in dem sich keine Rundschau mehr befindet. (Foto: Bernd Berke)

Sterile Anmutung: das Dortmunder Rundschauhaus, in dem sich keine Westfälische Rundschau mehr befindet… (Foto: Bernd Berke)

Dies fiel mir kürzlich bei einem Gang durch die Dortmunder Innenstadt auf:

Es gibt seit Anfang 2013 keine Westfälische Rundschau mehr, jedenfalls keine mehr mit eigener Redaktion. Es gibt auch keine Buchhandlung Krüger mehr. Es gibt aber immer noch ein Rundschauhaus (am Brüderweg) – und es gibt ein Krügerhaus (am Westenhellweg). So ganz kommen die Nachfolger ohne die lokalen Traditionen doch nicht aus. Einstweilen.

Während der Schriftzug des Krügerhauses noch einigermaßen authentisch anmutet, ist derjenige des Rundschauhauses nur noch eine vage Reminiszenz ans Original. Er wirkt steril und blutleer.

Diverse Branchen haben sich in den beiden anderweitig angestammten Bauten niedergelassen – von Anwaltskanzleien bis zum Modehändler. Im Sinne einer Wiedererkennbarkeit haben sie sich jedoch kollektiv für die althergebrachten Namen entschieden. Sie segeln also sozusagen unter fremder, wenn nicht gar unter falscher Flagge. Nun gut, von Markenpiraterie wollen wir lieber nicht reden, sonst wird’s am Ende noch justiziabel… Dass hier etwas vorgegaukelt wird, lässt sich freilich behaupten.

Übrigens hingen die Buchhandlung Krüger und die Westfälische Rundschau historisch zusammen, es gab zumindest einige Berührungspunkte. Aber das ist eine andere Geschichte, die hier nicht erzählt werden soll.

Das Dortmunder Krügerhaus, in dem sich keine Buchhandlung Krüger mehr befindet. (Foto: Bernd Berke)

…und das Dortmunder Krügerhaus mitsamt Passage, in der sich keine Buchhandlung Krüger mehr befindet. (Foto: Bernd Berke)




„Sei Teil unserer Bücherwelt!“ – Wie sich der Piper Verlag seine Rezensenten wünscht

Was Goethe wohl zu all dem gesagt hätte? Wahrscheinlich wieder sein berüchtigtes „Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent." (Foto: Bernd Berke)

Was Goethe wohl zu all dem gesagt hätte? Wahrscheinlich doch wieder sein berüchtigtes „Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent.“ (Foto: Bernd Berke)

Der Piper Verlag hat sicherlich seine langjährigen Verdienste. Doch jetzt, in Zeiten der Digitalisierung (*gähn*), bricht er offenbar zu neuen Ufern auf. Auch für Blogger(innen) zeigt sich das Münchner Haus neuerdings aufgeschlossen; allerdings nur unter gewissen Bedingungen, die auf der Piper-Homepage unter der nüchternen Zeile „Unsere Kriterien zur Zusammenarbeit“ dargelegt werden.

Zusammenarbeit also. Nicht etwa kritische Öffentlichkeit oder dergleichen Schmonzes von vorgestern. Und wohl auch kaum ein Gedanke an herkömmliche Rezensionen, die vielleicht mal weniger günstig ausfallen könnten. Gefragt ist allenfalls das, was manche neckisch „Rezis“ nennen – ganz so, als würden sie „Supi“ sagen.

Wohin die Reise bei Piper geht, lässt sich im weiteren Verlauf ahnen. Alle Zitate mit Hervorhebungen wie im Original:

  • „Dein Blog oder Youtube-Kanal existiert länger als ein Jahr und verfügt über ein gültiges Impressum.
  • Du schreibst und postest regelmäßig auf Deinen Kanälen.“

So weit sicherlich nachvollziehbar. Der Piper Verlag, seit März 2016 von der vormaligen FAZ-Literaturchefin Felicitas von Lovenberg geleitet, will sich halt nicht mit gar zu flüchtigen sozialmedialen Erscheinungen oder Phantomen plagen, die womöglich nur Rezensions-Exemplare einsacken wollen und dann ihre Portale löschen oder verwaisen lassen.

Am liebsten total virale Influencer?

Allerdings fällt hier schon auf, dass man es eben auch – und vielleicht ganz besonders? – auf YouTuber(innen) abgesehen hat. Wäre es denkbar, dass dem Hause Piper mittlerweile jene „Influencer“, die ein Buch ohne hochtrabendes Gelaber empfehlend in die Kamera halten, lieber sind als kritische Geister, die sich mit wirklichen Rezensionen abmühen? Hätten sie eventuell am allerliebsten hipstermäßige Leute mit der viralen Mega-Power eines Rezo, die ein Buch kurzerhand als „cool“ oder „geil“ bezeichnen?

Nun, ganz so hoch (bzw. eigentlich tief) liegt die Latte nicht. Wir lauschen weiter und erfahren etwas über die Mindestanforderungen:

  • „Dein Instagram Account hat mindestens 2.000 Follower, auf Facebook und Twitter folgen Dir mindestens 1.000 Fans und mindestens 5.000 Abonnenten schauen Deine Videos auf Youtube.“

Instagram, Facebook und Twitter scheinen also schon mal Pflicht zu sein, desgleichen YouTube. Aber das alles genügt noch nicht. Die jeweiligen Gefolgsleute müssen auch möglichst zahlreich und lebhaft reagieren, am besten trampeln und johlen, wenn das denn ginge:

  • „Damit wir sehen können, dass Deine Follower an Deinen Inhalten interessiert sind, ist uns auch eine gute Interaktionsrate wichtig.“

Damit wäre die intellektuelle Spreu vom kaufmännischen Weizen gesondert. Es würde einen schon interessieren, welche Verlags-Kontrollettis auf welche Weise die Interaktionsrate ermitteln und beurteilen. Überdies wäre es interessant zu erfahren, was nach ein oder zwei negativen Besprechungen geschähe. Dann wäre doch höchstwahrscheinlich Schluss mit lustig.

Aber selbst im Falle des Wohlverhaltens bleibt noch mehr zu tun, nämlich dies:

  • „Deine Besprechungen pflegst Du in die gängigen Online-Shops und Communities ein.“

Sprich: Die Empfehlungen soll man z. B. auch bei Amazon, Thalia usw. verbreiten – mit ganz, ganz vielen ***** Sternchen, versteht sich. Womit man dann endgültig ein verlängerter Arm oder besser ein nützliches Sprachrohr der Piper-Presse- und PR-Abteilung wäre. Wie lautet doch gleich die in eine rosarote Wolke gepackte, geradezu enthusiasmierende Überschrift auf der entsprechenden Web-Seite:

„Sei Teil unserer Bücherwelt!“

Nein, danke!




Von der Eiszeit bis zur Digitalisierung – eine umfangreiche Geschichte der Ostsee

Seltsame Wesen sollen einst an den Gestaden der heutigen Ostsee gelebt haben. Der römische Naturforscher und Universalgelehrte Gaius Plinius Secundus Maior (ca. 23-79 n. Chr) vermochte über mutmaßliche Menschen des hohen Nordens freilich nur vom Hörensagen zu schreiben: 

Man erzähle von Inseln, „auf denen Menschen mit Pferdefüßen geboren werden (…) und von anderen, auf denen die Bewohner ihre sonst nackten Körper durch ihre übergroßen Ohren völlig bedecken sollen.“

Klingt ein bisschen spekulativ, oder? Die Landstriche wurden von Süden her erst recht spät entdeckt. Dieser Umstand ließ viel Raum für Phantasien, die das gänzlich Unbekannte und Fremde zu imaginieren suchten. Erst 1539 fertigte der Schwede Olaus Magnus, Bischof von Uppsala und Kartograph, eine einigermaßen brauchbare Landkarte an, die den wirklichen Umrissen schon ähnelt.

Heute wissen wir’s etwas besser. Manche, wie der Kieler Historiker Prof. Martin Krieger (Spezialgebiet: Geschichte Nordeuropas), kennen sich so gut mit der Materie aus, dass sie ein Buch daraus machen, welches über weite Strecken als Standardwerk gelten darf und sich als vorbereitende oder begleitende Lektüre zum nächsten Ostsee-Urlaub empfiehlt: „Die Ostsee. Raum – Kultur – Geschichte“ ist eine umfassende Darstellung so gut wie aller Aspekte, die das relativ kleine Meer (es würde ungefähr zweimal in die Nordsee und rund 300 Mal in den Atlantik passen) betreffen. Manches kann freilich nicht tiefgreifend erläutert, sondern nur gestreift werden. Wie denn auch anders?

Lange unter einer Eisschicht verborgen

Zunächst die erdgeschichtliche Dimension: Als im heutigen Frankreich und Spanien schon die Höhlenmaler zugange waren, lastete auf dem späteren Ostsee-Areal noch eine dicke Eisschicht. Die nachfolgende Erderwärmung war dazumal eine günstige Entwicklung, sie ermöglichte Leben und später die dauerhafte Besiedlung des europäischen Nordostens. Die Ostsee-Anrainer hießen später Norddeutschland, Dänemark, Schweden, Polen und Baltikum sowie Finnland, auch gehörte ein Teil Russlands um St. Petersburg hinzu.

Im Vergleich zu südlichen Gefilden des Kontinents war der Nordosten stets mit ziemlicher Verspätung an der Reihe, auch die Christianisierung vollzog sich hier erst mit großer Verzögerung. Kehrseite: Die Gegenden rund um dieses oft stille, zuweilen aber auch tosend gefahrvolle Meer galten mitsamt den Bewohnern als urtümlich. Ein rätselhafter Ostsee-Fund, nämlich eine Buddha-Figur aus dem 6. Jhdt. n. Chr., scheint jedoch darauf hinzudeuten, dass es schon zu jener frühen Zeit keine völlige Isolation von aller Welt gegeben haben kann.

Als Schiffe in Heringsschwärmen steckenblieben

Und so entwirft der Kieler Professor ein historisches Ostsee-Panorama, das über die Stein-, Bronze- und Eisenzeit sowie die (auch nicht so leicht einzugrenzende) Wikingerzeit zunächst bis zur Hanse reicht. Hier halten wir kurz inne. Wir erfahren, dass es sich gar nicht um einen festgefügten Städtebund gehandelt habe, sondern eher um lose Verbindungen ohne Gründungsakt oder übergreifende Verträge. Deshalb könne man auch nicht exakt sagen, welche Stadt zu welcher Zeit dazugehört hat. Jedenfalls begann im 13. Jahrhundert der Aufstieg Lübecks, und die Hansekogge ersetzte alsbald zunehmend die alten Formen der Wikinger-Schiffe, denn in den bauchigen Koggen ließ sich erheblich mehr Ware transportieren, was den aufblühenden Handel begünstigte.

Eine vielleicht nur unwesentlich übertriebene zeitgenössische Darstellung des dänischen Geschichtsschreibers Saxo Grammaticus besagt, die Heringsschwärme seien damals so ungeheuer dicht gewesen, dass Schiffe sie kaum durchdringen konnten, manche seien buchstäblich im Fisch steckengeblieben…

Backsteingotik, Reformation und Aufklärung

Und weiter geht’s durch die Epochen: die Zeit des Deutschen Ordens (Besiedlung und Kolonisierung ostwärts), das Aufkommen der Backsteingotik, die auch im Norden furchtbar grassierende Pest, sodann die Reformation, der Dreißigjährige Krieg, der Fernhandel im Zeichen des Kolonialismus (in dem die Ostseeregion wegen der gar zum umständlichen Seewege nach Indien eher eine Nebenrolle spielte). Allerdings gab es auch dänische Sklavenhändler, die Waffen produzierten, für den Gegenwert in Afrika Sklaven kauften, die wiederum auf karibischen Inseln beim Zuckeranbau ausgebeutet wurden. Eine schreckliche Frühform der „Globalisierung“.

Großen Anteil an der Entwicklung eines Regionalbewusstseins (nicht nur rund um die Ostsee) hatte in der Aufklärung Johann Gottfried Herder, der jeder Region einen unvergleichlichen Eigenwert beimaß. Dass mit Immanuel Kant einer der größten Köpfe der Aufklärung just an der Ostsee, nämlich in Königsberg höchst sesshaft war, dürfte sich herumgesprochen haben.

1793 eröffnet mit Heiligendamm das erste Seebad

1793 beginnt eine bis heute reichende Entwicklung, die auch einen Ausgangspunkt des Buches bildet, nämlich die Entstehung der Urlaubsregion Ostsee. Im genannten Jahr eröffnete das Seebad Heiligendamm in Mecklenburg. Auch hierbei pflegte man sorgsam das Bild von der Ostsee als einer unverdorbenen und ursprünglichen Landschaft.

Allerdings ging auch die Industrialisierung nicht spurlos an der Ostsee vorbei. Kanäle und Eisenbahnbau durchschnitten die Landschaft, es wurden große Werften und andere Betriebe gegründet.

Relativ kurz abgehandelt werden die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts. Dazu heißt es, die Ostsee sei – mit wenigen Ausnahmen (Stichwort: Kieler Matrosenaufstand) – eher ein Nebenschauplatz gewesen. Wahrscheinlich ergibt es ja auch wenig Sinn, im Rahmen einer Gesamtschau näher auf grundstürzende Ereignisse einzugehen, für die man keine einzelnen Kapitel, sondern ganze Bücher braucht.

Weiterer Haltepunkt ist die „Wende“ um 1989, in deren Gefolge rund um die Ostsee alte, im Kalten Krieg abgeschnittene Handelswege wieder bedeutsam wurden. Man kann nur hoffen, dass das so bleibt.

Im Schlussteil, der „Bedrohungen und Chancen der Zukunft“ abwägt, geht Krieger seltsamerweise nicht auf den Klimawandel und einen womöglich ansteigenden Meeresspiegel ein, sondern – für sich schon bedrohlich genug – auf Vermüllung und Überfischung der Ostsee. Und die Chancen? Sieht Krieger vornehmlich darin, dass rund um Helsinki und Stockholm, aber auch in Dänemark und im Baltikum die Digitalisierung rasante Fortschritte mache. Deutschland wird dabei nicht eigens erwähnt…

Übrigens: Gerade angesichts der hervorragenden Druckqualität hätte man sich noch mehr prägnante Bebilderung gewünscht. Vielleicht in einer späteren Auflage?

Martin Krieger: „Die Ostsee. Raum – Kultur – Geschichte“. Reclam Verlag, 296 Seiten mit 7 Karten und 65 Abbildungen, Literaturverzeichnis und Register. Gebundene Ausgabe, Großformat (ca. 27 x 21 cm). 39 €.

 




Bevor der Tonfilm das Kino entzauberte – die poetischen Kritiken von Ernst Blass zwischen 1924 und 1933

Ernst Blass ist vor allem als Lyriker im Umfeld des Expressionismus in Erscheinung getreten. Dass er in den Jahren 1924–1933 für verschiedene Berliner Zeitungen als Theater- und Filmkritiker tätig war, dürfte nur einem kleinen Kreis von Eingeweihten bekannt sein. Das könnte sich durch die Auswahl seiner Essays und Kritiken im Berliner Elfenbein Verlag nun ändern.

Der schöne, von Angela Reinthal herausgegebene Hardcover-Band mit mehreren Abbildungen historischer Filmplakate und einem Anhang, der neben dem kenntnisreichen Nachwort der Herausgeberin auch ein Namensregister sowie eine Liste der im Band besprochenen Filmkunstwerke umfasst, schafft die besten Voraussetzungen, um die literarisch herausragenden Texte des „Lyrikers unter den Filmkritikern“ (so Michael Mendelssohn über Ernst Blass) erneut im alten Glanz erstrahlen zu lassen.

Der Band führe uns, wie Dieter Kosslick, der langjährige Leiter der Berlinale, in seinem Geleitwort schreibt, in (…] „die goldene Ära des ,Weimarer Kinos‘ zu einer poetisch-cineastischen Reise in ein instabiles Land, das sich nach dem Ersten Weltkrieg mit größtmöglicher Lust, Freiheit und Kreativität neu erfinden wollte.“

Vitale Kinolandschaft um den Ku‘damm

Im Umkreis der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche eröffneten immer neue Filmpaläste – das „Capitol“, der im Barockstil erbaute „Gloria-Palast“, der „Ufa-Palast am Zoo“ mit 2.165 Sitzplätzen, der Tauentzien-Palast“ oder das „U. T. Kurfürstendamm“. Wie aus einer Anmerkung zum Nachwort hervorgeht, gab es 1925 in Berlin 342 Kinos mit 147.126 Sitzplätzen; im Jahr 2018 war es noch 71 mit 48.595 Plätzen.

Ernst Blass, so brillant und professionell seine Kritiken geschrieben sind, teilt gern die Erwartungen des großen Publikums an gute Unterhaltung und beschreibt die „Ferienstimmung“, die sich einstellt, wenn der erwachsene Mensch die schnell vorbeifliegenden Bilder mit ihren lustigen Streichen genießen kann. So schreibt er im Berliner Tageblatt vom 05.07.1925 (Beiblatt Lichtspiel-Rundschau):

„Man sitzt im Dunkel und auf der Bildfläche wird es hell. Dort geschieht irgend etwas federleicht und ohne Verantwortung. Ein dicker Mann ist da mit seinem kleinen Bruder, ein Hutgeschäft soll in Gang gebracht werden. Der Kleine verbirgt sich irgendwo und wirft den Vorübergehenden die Hüte vom Kopf, sowie der Hut auf der Straße liegt, kommt der Dicke auf einer Dampfwalze angefahren und vernichtet den Hut. Der Mann kauft sich einen neuen, dieser fliegt wieder herunter, wieder kommt der Dicke mit der Dampfwalze, auch der neue Hut ist zermalmt. So jagt ein heiterer Scherz den anderen, aber der heiterste von ihnen ist vielleicht, daß man vor diesen Schuljungenphantasien selbst wieder zum Schuljungen wird. (…) In diesen schwachen Stunden haben wir eine dankbare Empfänglichkeit für alles, was wir mit unserem Schwamm leicht wieder auslöschen können. Von den Lichtspielereien haben wir eine Hingabefähigkeit, die vielleicht dem Universum gegenüber gleichfalls nicht unangebracht wäre.“ 

Große Zeit des Slapstick

Es war die Zeit der Slapstick Comedies, mit dem fabelhaften Chaplin, dem todernsten Buster Keaton oder dem tollkühnen Fassadenkletterer Harold Lloyd, der selbst bei riskantesten Aktionen ohne Stuntman auskam – die meisten kennen ihn, in schwindelerregender Höhe am Zeiger einer Uhr hängend. Ernst Blass bewundert Ernst Lubitsch, der ab 1916 in seinen Stummfilmkomödien regelmäßig die heute fast vergessene, damals vom großen Publikum geliebte Ossi Oswalda einsetzte – neben Henny Porten und Asta Nielsen einer der ersten großen weiblichen Stars des deutschen Films. Zu einem etwas späteren Film mit ihr (Niniche von Victor Janson) schreibt er: „Ossi Oswalda ist zwar zu schelmisch, aber doch graziös und niedlich. Man sieht sie gern, ohne sich Gedanken darüber zu machen, ob ihr Spiel und ihr Gehaben ästhetisches Niveau hat.“ (Berliner Tageblatt vom 15.2.1925)

Mauritz Stiller, der im August 1924 zur deutschen Premiere seines Films Gösta Berling (nach dem Roman von Selma Lagerlöf) nach Berlin kam, ist für Blass der „menschlich und künstlerisch ernsthafteste Filmregisseur Europas“. Die achtzehnjährige Greta Gustafsson tritt in dem schwedischen Film erstmals unter dem Namen Garbo auf. Mauritz Stiller und Greta Garbo gingen 1925 gemeinsam nach Hollywood; „die Göttliche“ Garbo machte Karriere bei Metro-Goldwyn-Mayer; ihr Entdecker und Mentor ging sang- und klanglos unter und starb mit nur fünfundvierzig Jahren. Ihm widmet Ernst Blass einen ausführlichen Nachruf.

All die späteren Klassiker des Stummfilms

Im vorliegenden Band sind viele der ersten Besprechungen jener großen Filme vertreten, die heute bekannte Klassiker sind. Robert Wienes Kabinett des Dr. Caligari und Paul Wegeners Golem-Filme sind für Blass „einige der besten deutschen Filmtaten und Erfolge“. Von Fritz Lang ist Blass‘ Favorit nicht Metropolis (1927) – für ihn „ein Koloss auf tönernen Füßen“, „… leider kein Ganzes“ – und auch nicht Frau im Mond (1929), dessen „gewalttätige Regie“ er rügt, sondern der frühe Film Der müde Tod (1921), den er auch nachträglich bei verschiedenen Gelegenheiten hervorhebt.

Zu Carl Theodor Dreyers Die Passion der Jungfrau von Orleans von 1928 notiert er begeistert: „Diese Antlitze, anwesend mit den fremdartigen Furchungen und absonderlichen Rundheiten einer ganz fernen Zeit, mit anderen Augen, Lidern, Blicken, Nasen – inmitten einer fernen und ewigen Tragödie. Ein Geheimnis. Das Geheimnis, um dessentwillen es sich lohnt, Kunst zu machen. Nicht ein Spiel nur, sondern eine bekennende Kontemplation. Solche also vermochte der (stumme) Film.“

Enthusiamus, aber auch gnadenlose Verrisse

Seine Begeisterungsfähigkeit lässt sich höchstens mit Sergei Eisensteins Revolutionsfilm Panzerkreuzer Potemkin steigern, dessen Premiere Blass am 29. April 1926 im „Apollo-Theater“ verfolgte. Am darauffolgenden Morgen steht im Berliner Tageblatt: „Nicht begreifbar ist, daß ein einzelner Mensch etwas derart Wunderbares zustandebringt. Es sind kaum Szenen darin, die nicht von einem machtvollen und menschlichen Genie stammen müssen. Welche Hingabe muß notwendig sein, um solche Darstellung nur zu ersinnen, und erst sie auszuführen! Eisenstein hat hier den gewaltigsten und kunstvollsten Film geschaffen, den die Welt sah.“

Wer so enthusiastisch lobpreisen kann wie Ernst Blass, der kann auch gnadenlos verreißen. Unter den Historienfilmen gab es auch viel Unhistorisches, Übertriebenes. Der ironische Titel des Auswahlbands bezieht sich auf eine Besprechung des Kolossalfilms Quo vadis? mit Emil Jannings als Nero, den die Unione Cinematografica Italiana 1924 in Rom hergestellt hat – die damals bereits dritte Verfilmung des gleichnamigen Romans von Henryk Sienkiewicz. „Das Rom Neros ist hier aufgebaut ungefähr im Stil unserer Nationalgalerie, und die auftretenden Römer machen den Eindruck außerordentlich später Römer. Sie könnten etwa sagen: in kino veritas!“

Über die Ausdruckskraft des Hundes „Rin Tin Tin“

Um Künstlichkeit oder übertriebenes Theaterspiel musste sich zumindest einer der Filmhelden aus der Stummfilmzeit keine Sorgen machen: der Schäferhund Rin Tin Tin. 1918 in Lothringen geboren,1932 in Los Angeles gestorben, wurde er mit 26 Schwarz-Weiß-Filmen in den 1920er Jahren zum Star und hat inzwischen einen Stern auf dem Hollywood Walk of Fame erhalten. Die spätere Fernseh-Kinderserie aus den 50er-Jahren kann keinen Eindruck von den spannenden Abenteuerfilmen aus den Zwanzigern vermitteln, mit dem Tier, das – so die Filmlegende – unter Wölfen aufwuchs und in der abgelegenen Natur Kanadas in einem gesellschaftlichen Außenseiter seinen Herrn findet.

„Der Hund aber drückt sich völlig aus. Es ist ein Wunder der Regie, daß bei all diesen gespielten Dingen der Hund wie ein unmittelbar Erlebender wirkt. Gar nicht dressiert und gar kein Schauspieler, sondern in allen Einzelheiten sieht er genau so aus, wie dieser (vorgestellte) Hund bei diesen Szenen aussehen müßte, wenn sie wirklich wären. Fast wie ein Wolf, dunkel und gefährlich, als er dem Mörder begegnet. In der Haltung und in der Miene. Oder der Ausdruck der Traurigkeit, als er, hungrig, einen abgenagten Knochen findet. Oder das Erstaunen, als sein Herr die Geliebte wiederfindet. Oder die Siegesfreude nach der ersten Rettung. Das ist alles sehr feinfühlig aufgefaßt und rätselhaft gut wiedergegeben. (…)

Die Wirklichkeit dieses Hundes inmitten gespielter Imagination, die völlig unzweideutige Teilnahme einer so seelenvollen Kreatur an einer nur vorgespiegelten Handlung – das ergibt eine Märchenwirkung von verwirrender und unergründlicher Tiefe; es ist ein schlechthin wunderbares Zwielichtspiel.“

Filme brachten die große weite Welt in die deutschen Kinos. Da gab es zum einen die Ufa-Naturfilme im Beiprogramm. Erfolgreich waren aber auch abenteuerliche Reiseberichte wie etwa die Kameraaufnahmen des Seglers und Flugpioniers Gunther Plüschow, der auf einem kleinen Segelboot den Atlantik überquerte und mit seinem Wasserflugzeug, einer Heinkel HD 24, als erster Flieger Patagonien und Feuerland aus der Luft erkundete.

„Der Tonfilm naht mit Brausen“

Technische Neuerungen fanden nicht nur im Flugwesen statt; für den Film ließ der Tonfilm Ende der Zwanzigerjahre ein neues Zeitalter anbrechen. „Der Tonfilm naht mit Brausen. Daß er nicht schon lange in unserer Mitte tönt und redet, das liegt an allgemeinen Verhältnissen. Immerhin: jüngst hat ein Kommerzienrat gesagt, der Tonfilm stehe vor den Toren wie eine Braut“, schreibt Ernst Blass am 31.5.1929 in der Literarischen Welt. Ein gutes Jahr später, im September 1930, resümiert er: „Der Tonfilm also brachte im ersten Jahr keine Vermenschlichung des Films, aber seine Entzauberung. (…) Eine Weiterentwicklung des stummen Films ist der Tonfilm nicht. Aber er ist etwas anderes. (…) Der Mensch hier nun spricht, – aber fast nur Schales und Klamottiges. (…) Höhere Werte, menschlichere, sind auch im Film denkbar. Aber sahen wir im Sprechfilm bereits Ansätze zu ihrer Verwirklichung? Nicht im geringsten.“

Seine Prognose: „Nun, der Apparat wird sich sehr verbessern, höchstwahrscheinlich auch die Form. Aber was werden die Menschen singen und sagen, das sich messen könnte mit dem Geheimnis und der Zauberkraft des Ungesprochenen? Wenn nicht neben den Schauspieler der Dichter tritt oder der echte Komponist oder doch zumindest ein Zauberer? Und da dies Ausnahmen und Glückszufälle sein werden, wird der Film durch den zugeordneten Ton im ganzen mehr verlieren als gewinnen.“

„in kino veritas“. Essays und Kritiken zum Film. Berlin 1924—1933. Ausgewählt, mit einem Nachwort versehen und herausgegeben von Angela Reinthal. Mit einem Geleitwort von Dieter Kosslick. Elfenbein Verlag, Berlin. 286 Seiten, 22 Euro.

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Aktuelle Stummfilm-Vorführungen:

Zu keiner Zeit war der Stummfilm stumm. Er war immer von Musik begleitet, mindestens von einem (manchmal automatischen) Piano, oft von einer Kinoorgel, wie es sie auch heute noch in einigen Kinos gibt, manchmal aber auch von großen Orchestern. Stummfilm-Vorführungen waren immer auch Konzerte.

An diesem Samstag, 29.6., zeigt das Filmmuseum in Düsseldorf in seinem Kino Black Box um 20:00 Uhr den deutschen Historienfilm Anna Boleyn (1920) von Ernst Lubitsch mit Henny Porten und Emil Jannings in den Hauptrollen. Daniel Kothenschulte (Köln) begleitet das Lichtgebilde am Klavier – und auf der Guillotine.

Nach der Sommerpause geht es im Filmmuseum weiter mit Klassikern der Stummfilmzeit; am 24.9. wird in der Reihe „Stationen der Filmgeschichte“ Germaine Dulacs Kurzstummfilm Die Muschel und der Kleriker gezeigt (Originaltitel: La Coquille et le Clergyman – 1927, nach einem Drehbuch von Antonin Artaud).

Am 28.9. folgt in der Reihe „Stummfilm + Musik“ von Friedrich Wilhelm Murnau Faust – eine deutsche Volkssage (1926; mit Gösta Ekman als Faust, Emil Jannings als Mephisto und Camilla Horn als Gretchen).

Am 26.10. ist zu sehen: Anders als die Andern, ein Spielfilm von Richard Oswald zum Thema Homosexualität aus dem Jahr 1919, der unter Mitwirkung von Magnus Hirschfeld entstand, und anschließend am selben Abend die Komödie Ich möchte kein Mann sein (1918) von Ernst Lubitsch mit Ossi Oswalda.

Weitere Termine: 30.11.: Das Grabmal einer großen Liebe / Shiraz (Regie: Franz Osten; 1928) und 21.12.: Carl Theodor Dreyer: 1928: Die Passion der Jungfrau von Orleans (La passion de Jeanne d’Arc).

Der Veranstaltungsort ist jeweils die Black Box im Filmmuseum Düsseldorf, Schulstraße 4, 40213 Düsseldorf.

 




Von der Primzahlenforschung bis zur Kanaldeckel-Kunde: Enzensbergers kurzweilige „Experten-Revue in 89 Nummern“

Erst durch die immer mehr verfeinerte Arbeitsteilung habe sich die Gattung Mensch zur Weltbeherrschung aufschwingen können. Diese Hypothese ist der Ausgangspunkt von Hans Magnus Enzensbergers „Experten-Revue in 89 Nummern“. Ob es im Verlauf dieser Entwicklung auch Verlierer gegeben hat? Das wäre ein anderes Thema. Insgesamt habe Arbeitsteilung die Menschheit stetig vorangebracht, befindet der Schriftsteller.

Schritt für Schritt erfahren wir hier, in welche Bereiche, Nischen, Höhen oder Abgründe sich menschliche Leidenschaften und Fähigkeiten verzweigt oder auch verstiegen haben. In diesem durchaus kurzweiligen, weil denkbar abwechslungsreichen Buch des inzwischen 89-jährigen (!) Enzensberger geht es nach und nach so ziemlich um alles. Um nur ein paar Beispiele fürs allfällige Spezialistentum zu nennen:

Da wird das „Wettrüsten“ zwischen Tresor-Produzenten und Panzerknackern geschildert. Sodann geht’s um die Erfindung des Fahrrad-Vorläufers durch Drais und um den erstaunlichen Hintergrund. Stichwortartig: Verdunkelung auch des europäischen Himmels durch indonesischen Vulkanausbruch, daher Mangel an Pferdefutter mit entsprechenden Folgen, deshalb neue Transport- und Fortbewegungsmittel nötig…

Wissenswertes über Taschendiebe und Henker

Ferner lässt Enzensberger – stets im angenehm unaufgeregten Duktus – den Blick z. B. über folgende Gebiete und die jeweiligen profunden Kenner der Materien schweifen: Pigment-Spezialisten, Schaben-Experten, mathematische Unendlichkeit(en), Geheimnisse der Primzahlenforschung und der Eulerschen Zahl (Enzensberger kann und mag sein Faible für Mathematik nicht leugnen). Außerdem spürt er dem Fachwissen der Wachszieher und Feuerwehrleute, der Vogel-Präparatoren und der Falkner nach, er berichtet von der immensen Vielfalt der Hobel, der Schrauben und der Mausoleen, der Parfüme, Äpfel (rund 1500 Sorten), Kaleidoskope, Helme, Matratzen, Fahnen und Flaggen.

Auch unternimmt der Autor kurze Streifzüge etwa durch die Lebenswelten der Taschendiebe, der Müßiggänger, der Hochstapler oder der Henker. Letztere brauchten – gleichsam ex negativo – gehörige medizinische Kenntnisse und mussten oftmals von den Hinterbliebenen der Hingerichteten entlohnt werden. Auf gewisse Weise ebenso bizarr: Wer hat schon mal von Dolologie gehört? Nun, das ist die von manchen Leuten mit flammendem Eifer betriebene Kanaldeckel-Kunde. Man glaubt ja nicht, was es da auf Erden so gibt!

Offenkundige Tatsache ist, dass jedes, aber auch wirklich jedes Fachgebiet nicht nur skurrile Formen annehmen kann, sondern vor allem auch weitaus komplizierter, vielfältiger und spannender ist, als es zunächst den Anschein hat. Überall haben sich besondere, hie und da bis ins Groteske reichende Fachvokabulare herausgebildet. Enzensberger dazu: „Mit den Worten der Spezialisten tut sich eine Welt auf, von deren Reichtum der Laie keine Ahnung hat.“

Der Mann, der unbedingt Busfahrer werden wollte

Überdies hält das Buch ungemein viel Erzählstoff bereit. Die meisten Kapitel handeln von besonderen Passionen, so etwa die Geschichte vom Hochbegabten, der alle Gymnasial-Empfehlungen in den Wind schlug und partout Busfahrer werden wollte. Als das nach vielen Berufsjahren nicht mehr so weiter ging, heuerte er bei einer Modellbaufirma an und entwarf originalgetreue Busse, mit denen er sich so gut auskannte wie sonst niemand. Man muss sich diesen Mann wohl als glücklichen Menschen vorstellen.

Ähnlich brannte auch der Rotwelsch-Spezialist Siegmund Andreas Wolf für sein Wissensgebiet. Niemals mit einem Professorentitel dekoriert, wusste er mehr über diese frühere Gaunersprache als wohl alle anderen. Mit ungeheurem Fleiß hat er Wörterbücher und Lexika zusammengestellt, die noch heute von Belang sind. Doch er starb ohne sonderliche akademische Weihen – übrigens abseits der Metropolen in Lünen, nördlich von Dortmund. Auch von dem Augsburger Feuerkopf Johann Most wird man bislang noch nicht viel gehört haben. Er verdingte sich als Journalist, sozialistischer Politiker und schließlich zusehends radikaler Anarchist mit Neigung zum Bombenbau samt praktischer Anwendung. Kein System, mit dem er sich nicht angelegt hätte. Enzensberger sieht in ihm einen Ahnherren des Terrorismus.

Von manchen genial wahnwitzigen Leuten, die hier vorkommen, würde man gern noch mehr erfahren, doch es ist Enzensberger just um die vielfältige Fülle zu tun. Das und nicht das Beharren auf wenigen Aspekten kommt seinem immer noch höchst beweglichen Geist entgegen.

Rückblick auf einen bewegenden Briefwechsel

Wer auf die Zeiten der literarischen Anfänge Enzensbergers zurückkommen möchte, sollte sich einen vor wenigen Monaten gemeinsam von den Verlagen Suhrkamp und Piper herausgebrachten Band besorgen, der den Briefwechsel mit der gewiss nicht minder einflussreichen Ingeborg Bachmann enthält. Es ist eines jener Bücher, in denen die Anmerkungen und Kommentierungen aus gutem Grund mehr Raum einnehmen als die Primärtexte, gilt es doch, Zusammenhänge zu erschließen, die längst nicht mehr zum Allgemeingut gehören.

Aber welch ein Gewinn ist das, wenn man tiefer eintaucht! Im Vergleich zur häufig grübelnden Bachmann erscheint einem Enzensberger in seinen Briefen geradezu jungenhaft unbekümmert, aber natürlich auch schon geistig fundiert und intellektuell so wendig, wie man ihn kennt und schätzt. Eben diese Mischung mag für Ingeborg Bachmann aufmunternd und tröstlich gewesen sein. Ihre Briefe lesend, bangt man geradezu nachträglich noch um sie; so wie man seinerzeit atemlos ihren Briefwechsel mit Paul Celan verfolgen konnte, sich unentwegt fragend, ob sie seiner ungeheuren Verletztheit und Verletzlichkeit hat gerecht werden können. Aber wer, wenn nicht eine wie sie? Und wer wiederum hätte sie zuweilen beruhigen können, wenn nicht jemand wie Enzensberger?

Solche Briefbände sind jedenfalls inzwischen Denkmäler, wenn nicht Monumente der letzten (oder meinetwegen vorletzten) Generation, die sich überhaupt noch dermaßen der Mühsal des Briefeschreibens unterzogen hat. Wir gedenken dieser Zeiten mit großem Respekt, ja mit Ehrfurcht und Sehnsucht.

Hans Magnus Enzensberger: „Eine Experten-Revue in 89 Nummern“. Suhrkamp-Verlag, 336 Seiten, 24 €.

Ingeborg Bachmann / Hans Magnus Enzensberger: „Schreib alles was wahr ist auf“. Briefe. Suhrkamp-Verlag/Piper Verlag, 480 Seiten, 44 €.

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P. S.: Zwei Korrekturen am Experten-Buch erlaube ich mir noch: Auf Seite 326 wird der Universalgelehrte „Anastasius“ Kircher genannt. Er heißt aber Athanasius. Das weiß ich auch deswegen, weil ich im selben Dörfchen geboren wurde wie der ruhmreiche Mann.

Auf derselben Seite ist dem Lektorat noch ein kleiner Lapsus durchgegangen. Die Zeile aus dem Beatles-Song „Lucy in the sky with diamonds“ ist geringfügig falsch zitiert. Ein „the“ ist überflüssig: „A girl with kaleidoscope eyes“ wäre richtig gewesen.




„Kein Wunder“ – ein enttäuschender Roman von Frank Goosen

Sommer 1989: Nichts ist mehr so, wie es mal war und doch hat sich (noch) nicht allzu viel verändert. Die Schulfreunde Förster und Brocki studieren vor sich hin, gehen altvertraute Wege, besuchen altvertraute Kneipen und wagen sich nur zaghaft an Neues. Weniger aus Angst vor dem Unbekannten als aus einem diffusen „Ist doch alles ganz nett so“-Gefühl heraus.

Ganz anders ihr alter Kumpel Fränge. Der hat immerhin einen kleinen Aufbruch gewagt. Nach Berlin hat er sich aufgemacht, angeblich vor der Einberufung „geflüchtet“. In Wahrheit wurde er ganz unprosaisch ausgemustert, aber auch sonst strickt er gerne an seiner eigenen Mär eines coolen und aufregenden Lebens. Fränge ernennt sich zum Weltenwanderer der Liebe, im Westen der geteilten Stadt unterhält er eine Beziehung zu Marta, im Osten zu Rosa.

Den ungleich größeren Aufbruch im Osten bekommt er dennoch lange nur am Rande mit. Erst als die Mauer durchlässig und seine Jonglage schwieriger wird, realisiert Fränge, dass er eigentlich mittendrin statt nur dabei war. Selbst die schwer auf sich konzentrierten Förster und Brocki bekommen bei ihrem Berlin-Besuch mehr von der Ost-Berliner Dissidenten-Szene mit.

Förster? Brocki? Fränge? War da nicht mal was? Die kennen wir doch? Richtig, die drei Spezialisten turnten schon mehr oder weniger unbedarft durch Goosens (nicht besten) Roman „Förster, mein Förster“. Da waren sie 30 Jahre älter, wenn auch nicht unbedingt weiser als in Frank Goosens neuem Roman „Kein Wunder“.

Praktisch für den Autor: keine Arbeit mit neuen Figuren

Praktisch für den Leser, da braucht er sich nicht schon wieder an neue Figuren zu gewöhnen. Noch praktischer für den Autor, braucht er doch keine neuen Figuren zu entwickeln. Noch praktischer für den Autor, in der Zeit zurückzugehen, hat man nicht soviel Arbeit mit der Weiterentwicklung von Charakteren. Führt unpraktischerweise nur leider beim Leser schnell zu Langeweile. Wieder von denselben Befindlichkeiten im einmal geschaffenen Mikrokosmos zu lesen, hat etwas zutiefst Ermüdendes. Vor allem, wenn man weiß, dass sie dreißig Jahre später immer noch nicht so viel weiter sind.

Die Werke des Bochumer Schriftstellers und Kabarettisten Frank Goosen werden gerne als eine Art Chronik des Ruhrgebiets u n d der Babyboomer-Generation verstanden. Möglicherweise fiel Goosen auf, dass in dieser Chronik die Zeit des Mauerfalls fehlte, möglicherweise war ihm die Zeit der Post-Pubertät mit seinem ersten Roman „liegen lernen“ noch nicht genügend abgearbeitet – was auch immer sein Motiv war, klar wird es nicht in „Kein Wunder“.

Sonst reicht es bei Goosen, wenn er wie sein Protagonist Förster agiert: „Zuschauen. Und sich alles merken. Und irgendwann aufschreiben“. Diesmal ganz und gar nicht. Es ist ohnehin selten eine gute Idee, wenn Menschen mittleren Alters sich am Coming of Age versuchen.

Wo ist die lockere Art von früher geblieben?

Goosen ist weit weg von seinem Mittzwanziger-Ich. Mehr als ein paar extrem bemühte Kratzer an der Oberfläche schafft das Buch nicht. Scheinbare Mühelosigkeit war sonst immer ein Markenzeichen des Autors. Ein Blick in das locker runtergeschriebene Nachwort reicht, um die Diskrepanz zwischen bisherigen Goosenschen Texten und der bemühten Krampfigkeit von „Kein Wunder“ zu erkennen.

Nicht einmal für einen nennenswerten Wiedererkennungswert reicht es. Beschreibt er einen reviertypischen Arbeiterhaushalt, sieht man sofort die Ekel-Alfred Kulisse vor sich, der frankophile Akademiker-Haushalt ist auch nicht mehr als eine platte Karikatur. Und die Befindlichkeiten der Freunde? Sorry, aber so oberflächlich waren die wenigsten in den 80ern. Dieses hingeschnodderte „Krupp/Thyssen – war da nicht mal was?“ – ein Armutszeugnis. Hat wirklich keiner in Bochum etwas von den Demos in Duisburg auf der Brücke der Solidarität mitbekommen?

Als die Ruhris nach Berlin aufbrachen

Genauso die Szenen aus der Nacht des Mauerfalls. Was will uns der Autor damit sagen? Neue Wege im Osten, neue Böden im Westen? Betroffenheit kommt erst auf, als Förster merkt, dass aus seinem Filmprojekt über den Niedergang des Ruhrgebiets nichts mehr wird. Die intellektuelle Avantgarde hat sich bereits vom Revieracker gemacht in Richtung Berlin.

Sollte es Goosen darum gegangen sein, die Chronik der Babyboomer um die Zeit des Mauerfalls zu vervollständigen, kann man nur sagen: das hat Sven Regener bereits deutlich berührender erledigt. Sollte es Goosen darum gegangen sein, den Stellenwert des Ruhrgebiets zu heben und den Hype um Berlin zu relativieren, dann sei ihm gesagt: Wissen wir schon. Ein alter Hut. Frag‘ er seine Omma: „Woanders ist eben auch Scheisse“.

So bleibt nach Lektüre der einzige Erkenntnisgewinn, dass die Aussage „reisen nach dem Ausland sind ….“ grammatikalisch falsch war. Prima, dass endlich einer darauf hinweist.

Frank Goosen: „Kein Wunder“. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln. 352 Seiten, €20,00




Meistens streng – auch zu sich selbst: Briefe von Elias Canetti

Man kann es im Register nachschlagen: Die hier versammelten, rund 600 Briefe von Elias Canetti („Die Blendung“, „Masse und Macht“) richten sich mitunter an illustre Adressaten. Gleich zu Beginn des voluminösen Briefbandes, der 1932 einsetzt und bis zu Canettis Todesjahr 1994 reicht, sind beispielsweise Schreiben an Thomas Mann, Alban Berg, Hermann Broch und Hermann Kesten zu lesen. Um nur wenige Namen anzuführen. Und dabei hat sich Canetti selbst einen schlechten Briefschreiber genannt.

Nun muss aber ein weiterer Teil der Wahrheit heraus: Elias Canetti hat zahllose Briefe offenbar vor allem dann geschrieben, wenn es um Nutz‘ und Frommen fürs eigene Werk ging. Nicht so sehr (literatur)theoretische Reflexionen hat er im Sinn, sondern häufig strategische oder taktische Winkelzüge, um sich Leute gewogen zu machen – Schmeicheleien inbegriffen. Der Titel des Buches („Ich erwarte von Ihnen viel“) bezeichnet hingegen eher die offensivere Variante.

Die Mühen der Ebenen

Schier endlos kommen einem etwa die Episteln an Lektoren und Zeitschriften-Herausgeber vor, die heute allenfalls noch Fachleuten namentlich bekannt sind. Gar vieles dreht sich zudem um die alltäglichen Mühen der Ebenen und dabei wiederum nicht selten um finanzielle Bedrängnisse.

Zunächst vor allem aus dem Londoner Exil (seit 1938), viel später dann vorwiegend aus Zürich kommen seine Briefe. Die jeweiligen Antworten der Briefpartner(innen) enthält der auch so schon sehr umfangreiche Band nicht, so dass das Ganze über weite, weite Strecken wie ein Monolog ohne Echo wirkt, wie ein ständiges, zuweilen fruchtloses Anschreiben gegen allerlei Widrigkeiten.

Canetti hat, zumal nach dem Zweiten Weltkrieg, ziemlich genaue und manchmal rigide Vorstellungen davon, wann, wie und wo seine Schriften herauskommen sollen. Das ist – auf Länge gesehen – eine Lektüre, die uns Heutigen nicht immer allzu spannend vorkommen mag, sofern man sich nicht auf Canetti spezialisiert hat.

Zorn auf Enzensberger und Reich-Ranicki

Natürlich zeigen sich, allerdings vielfach eher nebenher und gleichsam in gedämpfter Form, auch zeitgeschichtliche Zusammenhänge und Debatten früherer Tage. Allerdings scheint Canetti sich beispielsweise nicht allzu viel aus „1968 in Paris“ gemacht zu haben, obwohl er im legendären Mai/Juni dort gewesen ist. In den Briefen spiegelt es sich jedenfalls kaum wider. Gorbatschows „Glasnost“ weckte mit allen Folgeerscheinungen gegen Ende seines Lebens Canettis Hoffnung auf eine friedlichere Welt. Aber auch das handelt er eher en passant ab.

Ist man für Literaturbetriebs-Tratsch empfänglich, erhält man stellenweise Nahrung. Canetti regt sich geradezu königlich über negative Rezensionen auf, die ihn betreffen. Prominentes Beispiel, bezogen auf Kritiken über den 1963 erneut publizierten Canetti-Roman „Die Blendung“: „Enzensberger fand ich armselig, ich hab mich für ihn geschämt. Es ist offenkundig, dass er das Buch nicht wirklich gelesen hat, er hat nur, ein Schmetterling, da und dort genascht.“ Anno 1968 über den einflussreichen Großkritiker: „Über den Reich-Ranicki lohnt es kaum, ein Wort zu verlieren. Ich habe es nicht besser erwartet.“ Und in einem weiteren Brief desselben Jahres: „…denn das ist schon geistig ein schwer erträglicher Mensch, ein ahnungsloser Schulmeister…“

Gelegentlich scharfe, aber meist treffliche Urteile

Überdies erfährt man nach und nach etwas über Canettis Meinungen zu gleichaltrigen oder jüngeren Zeitgenossen wie z. B. Theodor W. Adorno, Jean Améry, Günter Grass, Uwe Johnson, Arno Schmidt, Thomas Bernhard (von dem er zusehends abrückte), Wolfgang Koeppen, Lars Gustafsson („der seltene Fall eines Dichters, der einen als Person nicht enttäuscht“) oder Paul Nizon. Nehmt alles nur in allem, so sind seine Urteile gelegentlich scharf, aber zu allermeist trefflich.

Und die großen Vorläufer? Man findet Lichtenberg, Büchner und Kafka gepriesen als Gipfel deutschsprachigen Schrifttums, als weitere Fixsterne werden Stifter, Hebbel, Robert Musil und Karl Kraus benannt. Und man findet immer wieder Sätze, die man sogleich unterschreiben möchte: „Ich kann von Svevo nie genug bekommen.“ Bedenkenswert auch diese Charakterisierung der Prosa Franz Kafkas: „Die deutsche Sprache, deren Reichtum und Überschwang man immer gekannt hat, ist hier von einer Enthaltsamkeit und Strenge, die man ihr kaum zugetraut hätte.“

Hofmannsthal hingegen ist nach Canettis Auffassung bei weitem überschätzt, und ein fremde Schöpfungen anzapfender Spaßvogel wie der heute weitgehend vergessene Parodist Robert Neumann findet erst recht keine Gnade.

„Das Recht, in Ruhe davonzugehen“

Ganz entschieden grenzt sich Canetti gegen die grassierende Bestselleritis ab. Also muss sein Verdikt über das in Dortmund erscheinende Branchen-Magazin „Buch-Report“ im Jahr 1977 auch besonders harsch ausfallen. Zitat aus einem Brief an Fritz Arnold (nach Herbert Göpfert neuer Lektor Canettis beim Hanser Verlag): „Ich kann nicht glauben, dass Sie von mir ernsthaft erwartet haben, dass ich für diese erbärmliche Bestseller-Retorte etwas schreibe. Das würde ich unter gar keinen Umständen tun.“

Was sein Lebenswerk angeht, legt Canetti bei sich selbst strengste Maßstäbe an. Er findet, dass man erst dann „in Ruhe davongehen“ (also in Frieden sterben) dürfe, wenn man das persönlich Zugedachte und Aufgetragene erfüllt habe. Er sieht sich 1971 noch lange nicht am Ziel: „Schon ich z. B. hätte nicht das Recht, in Ruhe davonzugehen, denn wie wenig habe ich geleistet, gemessen an dem, was ich leisten sollte. Es gibt kein Erbarmen für den, der sich sehr ernste Ziele gesteckt hat.“ Wohlgemerkt: Das schreibt einer, der kurz darauf den Büchnerpreis (1972) und später den Literaturnobelpreis (1981) erhalten hat.

Passagen über seine erste Frau Veza und seine zweite Frau Hera, die er beide durch frühen Tod verloren hat, sind in der vorliegenden Auswahl relativ spärlich und angenehm diskret gehalten. Anrührend sodann die spürbare Begeisterung des „späten Vaters“ Canetti (Jahrgang 1905) über das Aufwachsen seiner 1972 geborenen Tochter Johanna. Hier wird der oft zu sich und anderen so strenge Mann als sanftmütiger Mensch sichtbar, der er wahrlich auch gewesen sein muss.

Elias Canetti: „Ich erwarte von Ihnen viel. Briefe“. Carl Hanser Verlag, 864 Seiten, 42 €.

 

 

 




Thalia und die Mayersche wollen fusionieren – und stilisieren sich selbst als Bewahrer der Lesekultur

Es ist ein ziemlich gewichtiger Vorgang: Die größte deutsche Buchhandelskette Thalia (Hagen) und die Mayersche (Aachen), immerhin viertgrößter Anbieter auf dem deutschen Markt, wollen fusionieren.

Das Kartellamt muss noch zustimmen. Es sollte sich den Umfang und die Bedingungen des Zusammenschusses sehr genau ansehen. Denn hier entsteht doch wohl ein marktbeherrschendes Unternehmen; wenigstens, was den stationären Buchhandel angeht.

Speziell Thalia war zeitweise dafür bekannt und berüchtigt, mit kleineren Buchhandlungen sowie kleinen und mittleren Buchverlagen nicht gerade zimperlich umzuspringen und gelegentlich mit seiner (nun offenbar schwindenden) Marktmacht Druck auszuüben.

Inzwischen aber haben sich die Zeiten insofern geändert, als das einst so dominant auftretende Haus Thalia und die Mayersche sich ihrerseits vom Giganten Amazon bedroht sehen. Ihre geplante Fusion sei „ein Zeichen des Aufbruchs gegen die Marktmacht globaler Onlinehändler und für die innerstädtische Lesekultur“. Du meine Güte! Hätten wir doch nur früher bemerkt, dass die Globalisierungskritiker von Thalia den tapferen Kampf fürs Gute, Wahre und Schöne führen.

Das sattsam bekannte Amazon-Argument führen die beiden Ketten ebenso ins Feld wie den Umstand, dass es laut Statistik immer weniger Buchleser gibt. Vielleicht haben die zwei Unternehmen den Online-Buchhandel auch etwas verschlafen. Und wenn sie sagen, durch ihre Fusion entstehe „der bedeutendste familiengeführte Sortimentsbuchhändler in Europa“, so müssen uns angesichts der „Familie“ nicht Tränen der Rührung kommen.

Man schaue sich das Sortiment insbesondere von Thalia an, es ist einfach äußerst Bestseller-lastig und damit recht schmal, was die Anzahl der Titel angeht. Auch sind Bücher oft nur noch Nebensache. Längst hat man (auch bei der Mayerschen) den Eindruck, dass zahlreiche Chichis und Gimmicks einen gehörigen Anteil am Umsatz haben. Es ist schon recht seltsam, wenn solche Firmen sich nun als schützenswertes Kulturgut darstellen.




Finstere Festung Europa: Jan Zweyers Krimi „Starkstrom“

Die Zukunftsvision, die Jan Zweyer in seinem Krimi „Starkstrom“ zeichnet, mutet gespenstisch an. In einem großen Teil europäischer Staaten sind Rechtspopulisten an der Macht. Der Kontinent hat sich regelrecht abgeschottet und gleicht einer Festung. Die Grenzanlagen lassen Erinnerungen an die Zeiten des Eisernen Vorhangs aufkommen.

Gleichwohl gelten die zweifachen, meterhohen Elektrozäune als human. Wenn Menschen sie überwinden wollen, müssen sie nicht gleich den Tod fürchten, sondern mit Strom geladene Drähte machen die „Durchbrecher“, wie man Flüchtlinge jetzt nennt, bewusstlos. Anschließend bringt man sie in als Transitzentren bezeichnete Auffanglager, die Abschiebung ist dann nur noch Formsache.

Der erste Tote im Buch kein Migrant, der jenseits der Grenze auf ein besseres Leben hofft, sondern der Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma. Er kommt unter mysteriösen Umständen bei Wartungsarbeiten ums Leben, zudem findet man bei ihm noch einen verkohlten Schweinekadaver. Der Tod des Mannes lässt sich nicht verheimlichen, auch wenn Behörden das vielleicht gerne möchten. Sie müssen stattdessen miterleben, wie das ganze Geschehen hohe Wellen schlägt, denn trotz der rechtsgerichteten Systeme haben die Medien ihre kritische Rolle noch nicht ganz verloren. Zudem beginnen Ermittler damit, die Hintergründe des grausamen Vorfalls genauer zu untersuchen.

Die Machenschaften der Schlepperbanden

Der aus Frankfurt stammende Schriftsteller Jan Zweyer entwickelt einen temporeichen Plot, der seine Dynamik gleich in mehreren Handlungssträngen entfalten kann. Die Sicherheitsfirma, wie könnte es anders sein, steht in enger Verbindung mit der Politik und staatlichen Instanzen. Eine Polizistin und ihr Kollege stoßen bei ihren Recherchen auf allerlei Ungereimtheiten. Und schließlich gibt es da noch eine Journalistin, die den Auftrag für eine große Reportage bekommen hat. Sie soll nicht nur in Westafrika auf Spurensuche nach den Ursachen der Flucht von Abertausenden Menschen gehen, sondern auch den Blick auf die Fluchtwege richten.

Wenn Zweyer den Leser teilhaben lässt an den Nachforschungen der Reporterin, die für ein angesehenes Magazin in Deutschland tätig ist, beschreibt er die wirtschaftliche und soziale Not, mit der der überwiegende Teil der afrikanischen Bevölkerung zu kämpfen hat. Das Buch erscheint aber nicht nur an solchen Stellen aktueller denn je. Der Autor rückt auch die kriminellen Machenschaften von Schlepperbanden in den Blickpunkt, die mit ihren Verlockungen Menschen überhaupt erst dazu bringen, ihre Heimat zu verlassen. Welche Todesgefahren ihnen drohen, merken sie meistens erst, wenn sie schon auf dem Flüchtlingsboot im Mittelmeer befinden.

Indem Zweyer das Schicksal einzelner Menschen herausgreift, die alles aufs Spiel setzen, um nach Europa zu gelangen, gewinnt seinn Krimi eine spezielle Dramaturgie. Wie es sich für einen spannenden Krimi gehört, läuft alles auf ein ungeahntes Finale hinaus.

Jan Zweyer: „Starkstrom“. Krimi. Grafit-Verlag, 282 Seiten, 12 Euro




Jürgen Manthey, ein wahrer homme de lettres – Nachruf auf den einflussreichen Essener Hochschullehrer

Jürgen Manthey ist mit 86 Jahren in Lübeck gestorben. Unser Gastautor Frank Hirsch, heute als freiberuflicher Dozent für Integrationskurse (BAMF) tätig, erinnert sich an seine literaturwissenschaftliche Essener Studienzeit bei dem einflussreichen Hochschullehrer:

Jürgen Mantheys wegweisende Studie über das Sehen in LIteratur und Philosophie, 1991 im Hanser Verlag erschienen. (© Hanser Verlag)

Jürgen Mantheys wegweisende Studie über das Sehen in Literatur und Philosophie, 1991 im Hanser Verlag erschienen. (© Hanser Verlag)

Wer Ende der siebziger, dann in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts an der Essener Gesamthochschule Literaturwissenschaften resp. Germanistik studierte, traf dort im „Fachbereich 3“ (die Bezeichnung Fakultät gab’s damals nicht mehr oder noch nicht wieder) auf eine überaus kompetente und in wissenschaftlichen Kreisen angesehene Schar von Dozenten.

Unter diesen prägenden akademischen Lehrern wie vor allen anderen Erhard Schütz, Jochen Vogt, Horst Wenzel oder auch Horst Albert Glaser beeindruckte den jungen Studenten gleich in den ersten Semesterwochen besonders ein stets elegant gewandeter (Markenzeichen Schal) – durchaus gegen den habituellen Mainstream des geisteswissenschaftlichen juste milieus gekleidet – Dozent: Jürgen Manthey!

Mit weit geöffneten Augen und großen Ohren lauschte der Jungakademiker dem warm-sonoren Klang einer Stimme, die erst einmal mehr Freundlichkeit verströmte, als eine immense Ansammlung von Wissen, die sie späterhin verkünden sollte. Schnell merkte, wer es nur wollte, mit welch einer gebildeten Persönlichkeit man hier in einem Raum saß. Selten nur wurde Manthey ungeduldig ob der gelegentlichen Ignoranz oder vorsätzlichen Unbedarftheit der Studierenden, gleichwohl konnte sein feiner Sarkasmus ein untrügliches Urteil über bewiesene fachliche Inkompetenz abgeben.

Als Lektor Peter Rühmkorf und Elfriede Jelinek betreut

Jürgen Manthey war ein wundervoller Hochschullehrer, genauso wunderbar und mindestens ebenso einflussreich war er für den Literaturbetrieb der späten westlichen Bundesrepublik in den siebziger und achtziger Jahren. Beim Rowohlt Verlag war Manthey viele Jahre als Lektor tätig, dort betreute er die Werke zum Beispiel von Peter Rühmkorf, Peter Hauf oder Elfriede Jelinek.

Wer von uns Studenten auf sich hielt, las gierig jedes neu erschienene Buch aus der für die damalige Zeit wegweisenden Edition „das neue buch“ bei Rowohlt; eine Reihe, die im Gegensatz zu der damals schon ein wenig angestaubten „edition suhrkamp“ pfiffiger, avancierter und irgendwie auch links abgebogener daherkam; erinnert sei hier nur an die Bücher Rolf Dieter Brinkmanns oder an die voluminöse Flaubert-Biografie von Sartre. Manthey war zudem ein Kenner der zeitgenössischen amerikanischen Literatur, er machte unter anderen James Baldwin in Deutschland bekannt (heute wird dieser Autor zum X-ten Mal wiederentdeckt), wie auch den überaus komplexen Thomas Pynchon.

Beispielhafter Enzyklopädist und Kulturhistoriker

Was von Jürgen Manthey bleiben wird, neben den Erinnerungen seiner Studierenden, seiner Kollegen und der literarischen Welt, sind selbstverständlich seine Bücher! Natürlich beschaffte sich der Student via Bibliothek zunächst seine Fallada-Monografie bei Rowohlt. Manthey war freilich als Literaturwissenschaftler vor allem Enzyklopädist und Kulturhistoriker. Seine Hauptwerke über die Kulturgeschichte des Sehens („Wenn Blicke zeugen könnten“), vor allem aber zuletzt „Königsberg. Geschichte einer Weltbürgerrepublik“ sind von einem unfassbaren Impetus des Erklärens, des Verstehen-Wollens und des Aufweisens von kulturwissenschaftlichen Querschnitten bewegt, wie es das heute nur noch selten gibt. Und sie sind – bei aller wissenschaftlichen Stringenz – lesbar, bar jeden akademischen Jargons.

Literaturbetriebler, Literaturvermittler, Literaturliebhaber – Jürgen Manthey war ein wahrer homme de lettres!




Millionenfach geliebte Fantasiewelten: Vor 50 Jahren starb die erfolgreiche Kinderbuchautorin Enid Blyton

Ganze Generationen von Kindern wuchsen mit Enid Blytons Büchern auf. Die Cover wecken nostalgische Gefühle. Abbildung: Random House

Ganze Generationen von Kindern wuchsen mit Enid Blytons Büchern auf. Solche Cover wecken nostalgische Gefühle. (Abbildung: Ausgabe im Verlag cbj / Random House)

Eine idyllische Bucht mit Sandstrand und Klippen, ein heimeliges altes Haus, draußen im Meer eine geheimnisvolle Insel mit einer Ruine, im Land ein mysteriöses Moor: Das ist die Landschaft, in der Enid Blyton ihre „Famous Five“ Ferien-Abenteuer in England erleben lässt. Julius, Richard, Anne, Georg und der Hund Tim – so heißen die „Fünf Freunde“ in der deutschen Version – haben Generationen von Kindern beim Aufwachsen begleitet und für endlose Stunden spannender Leseerlebnisse gesorgt.

Vor gut 75 Jahren, mitten im Zweiten Weltkrieg, machten die „Famous Five“ in England erstmals Furore: „Fünf Freunde erforschen die Schatzinsel“ kam 1942 heraus. Als Enid Blyton vor 50 Jahren starb, hatte sie 21 Bände geschrieben, die zwischen 1953 und 1966 auch auf Deutsch erschienen. Bis heute ist sie nicht die beste, aber die vielleicht am innigsten geliebte Kinderbuch-Schriftstellerin weltweit. Zwischen 750 und 800 Bücher hat sie in ihrer vierzigjährigen Karriere geschrieben, dazu über 10.000 Kurzgeschichten, Gedichte und Erzählungen, aber nur ein einziges missglücktes Buch für Erwachsene.

Blyton war ungeheuer produktiv: 1951 etwa erschienen 37 Bücher; zeitweise brachte sie pro Tag rund 10.000 Wörter zu Papier. In ihrer Autobiografie begründete sie diese Massenproduktion: „Mein Wunsch, große und kleine Kinder anzusprechen zwingt mich dazu, so viele Bücher zu schreiben.“ Das sei ihr leichtgefallen, bekundete sie: Die Bilder entstanden in ihrem Kopf, dann begannen ihre Hände „über die Schreibmaschine zu fliegen“. Ihre Bücher wurden angeblich in 84 Sprachen übersetzt – mehr als die Werke Shakespeares – und begeistern Kinder von Russland bis Australien. Mit einer Gesamtauflage von mittlerweile über 500 Millionen ist sie neben Astrid Lindgren die am meisten verbreitete Kinderbuchautorin der Welt.

Kindliche Helden im verklärten alten England

Enid Blyton beschreibt ein verklärtes altes England, das sie mit den Augen ihrer kindlichen Helden sieht. Die „Fünf Freunde“ etwa sind zwischen zehn und dreizehn Jahre alt und leben in einer Ferienwelt, in der es vor allem um ihre kleine verschworene Gruppe geht. Haus, Strand, Insel, Moor, Höhlen, Wiesen und Klippen sind ihre Orte aus Kinderträumen. Die treusorgende Tante Fanny, der versponnene Onkel Quentin sind Randfiguren – so wie der eine oder andere gutmütige Fischer oder Polizist. Die Erwachsenen stören nur in dieser Welt, in der sich die Kinder frei und ungezwungen bewegen. Wenn sie als üble Gestalten einbrechen, sorgen sie als Schmuggler, Betrüger, Kidnapper oder böse Haushälterinnen für die Abenteuer, die Nacht für Nacht unter der Bettdecke gelesen werden und bei den Acht- bis Elfjährigen atemlose Spannung erzeugen.

Nebel, Meer, Insel: Enid Blyton beschrieb ein England, das als Klischee in den Köpfen lesender Kinder hängenbleibt. Foto: Werner Häußner

Nebel, Meer, Insel: Enid Blyton beschrieb ein England, das als Klischee in den Köpfen lesender Kinder hängenbleibt. (Foto: Werner Häußner)

Ob diese längst vergangene Welt, in der Telefon, Auto und Eisenbahn den Gipfel der Technik bilden, Handys, Computer und flotte Games aber unbekannt sind, heute noch Kinder anspricht, mag dahingestellt sein. Schon in den Fünfzigern wurde die Realitätsferne der Geschichten kritisiert – aber ihr bis heute anhaltender Erfolg legt nahe, dass Enid Blyton die inneren Fantasiewelten ihrer jungen Leserinnen und Leser einfühlsam getroffen hat. Auch die nostalgische Erinnerung an eigene Leseabenteuer mit Enid Blyton spricht dafür.

Coole Jungs, brave Mädchen, No Sex

Mit dem wachsenden Erfolg der Autorin formierte sich auch die Kritik: Zunächst nahm sie die einfache Sprache in den Blick, dann das starre Gut-Böse-Schema der Geschichten und die stereotype Charakterisierung der Personen. Später wurden die klischeehaften Geschlechterrollen ein Thema: ängstliche Mädchen, die Puppen und Haushalt bevorzugen, schauen zu coolen Jungs auf, die mutig Abenteuer bestehen und in der Gruppe der Gleichaltrigen „natürlich“ die Chefs sind. Auf der anderen Seite gibt es immer wieder starke, unabhängige, „männliche“ Mädchenfiguren. In der neuesten Phase der Kritik spiegelt sich die Gender-Diskussion wieder – und die Bücher werden auf ihr konservatives Gesellschaftsbild, ihren Patriotismus, Rassismus und Sexismus hin untersucht.

Modernisiertes Cover einer neueren Ausgabe der "Fünf Freunde"-Serie beim Verlag cbj. Abbildung: cbj/Random House

Modernisiertes Cover einer neueren Ausgabe der „Fünf Freunde“-Serie beim Verlag cbj. (Abbildung: cbj/Random House)

Dass den Heranwachsenden jede Spur von Sexualität fehlt, stößt heute ebenfalls sauer auf: „Keine der gefühlt permanent Dreizehnjährigen bei Enid Blyton unterhielt sich jemals mit ihren Freundinnen über ihre Tage“, beklagt sich eine Autorin, die Blytons Bücher dennoch liebt: „Sexy Experimente im Achtbett-Schlafsaal sucht man da ganz sicher vergebens.“ Aber ein Zug zum Transgender etwa an der Figur der Georgina – die viel lieber ein Junge wäre und nur auf das männliche „Georg“ hört – ist nicht in Abrede zu stellen.

Tatsächlich soll Enid Blyton selbst eine lesbische Affäre gehabt haben. In der burschikosen „Georg“ in den „Fünf Freunden“ soll sich die Schriftstellerin selbst porträtiert haben. Die Autorin muss überhaupt eine widersprüchliche Person gewesen sein: Ihre jüngere Tochter Imogen berichtete, dass die mütterlich-liebevollen Autorin im Privatleben kaltherzig und herrschsüchtig gewesen sei – was die ältere Tochter Gillian vehement abgestritten hat.

Erfolg nach 500 abgelehnten Manuskripten

Die 1897 in East Dulwich/South London geborene und in Beckenham/Kent (heute an der Grenze zu Greater London) aufgewachsene Schriftstellerin verarbeitet zahlreiche Details aus ihrem eigenen Leben in ihren Geschichten – von der vom Vater vermittelten Faszination für die Natur über das Internatsleben („St. Clair“ in den sechs Bänden der Serie „Hanni und Nanni“) und ihre Haustiere bis hin zu ihren Häusern „Old Thatch“ und „Green Hedges“. Selbst Personen wie eine Lehrerin oder eine zufällige Reisebekanntschaft tauchen in den Romanen wieder auf.

Blytons eigene Kindheit verlief alles andere als unbeschwert: Die Mutter betrachtete die frühe Schreiblust ihrer Tochter, die schon mit zehn Jahren erste Geschichten verfasste, als Zeitverschwendung. Der Verlust des verständnisvollen Vaters war für die 13-jährige Enid ein Trauma: Thomas Carey Blyton verließ die Familie wegen einer anderen Frau – und über diese „Schande“ durfte nicht gesprochen werden. Ihren von den Eltern gewünschten Weg zur Pianistin brach sie 1916 ebenso wie den Kontakt zur Mutter ab. Selbstbewusst wählte die junge Frau eine Ausbildung als Kindergärtnerin und Vorschullehrerin und unterrichtete bis zur ihrer Heirat 1924 in einer kleinen Schule und als Privatlehrerin.

Ab 1922 publizierte Blyton in der Lehrerzeitschrift „Teacher’s World“. Die Zeitschrift räumte ihr ab 1929 die wöchentliche Seite „Enid Blyton’s Children’s Corner“ ein, die sie bis in den Sommer 1945 gestaltete. Nach über 500 abgelehnten Manuskripten erzielte sie im Sommer 1922 mit der Gedichtsammlung „Child Whispers“ einen ersten Bucherfolg, der ihr ein Jahr später die Veröffentlichung von „Real Fairies“ ermöglichte. Ab 1926 brachte sie im Zwei-Wochen-Rhythmus mit „Sunny Stories for Little Folks“ eine eigene Kinderzeitschrift heraus.

1963 kam ihr letztes Buch heraus

Ab 1942 erschienen die Buchserien, die sie weltweit – und ab 1950 auch in Deutschland – bekannt gemacht haben: Neben den „Fünf Freunden“ („Famous Five“) entwickelte sie die Serie der „Geheimnis“-Bücher mit dem verschrobenen Wachtmeister Grimm und die „Rätsel“-Reihe („Mystery of …“), die „Schwarze Sieben“ („The secret Seven“) und „Hanni und Nanni“ („The Twins …“). In England sind die Titel um den kleinen Holzjungen „Noddy“ überaus beliebt, seit 1949 „Noddy goes to Toyland“ erschien; „Noddy and the Aeroplane“ war 1963 das letzte Buch Enid Blytons, bevor sie einen beginnende Alzheimer-Erkrankung zwang, ihre geliebte Tätigkeit aufzugeben.

Ein Schock war der Tod ihres zweiten Mannes, des Chirurgen Kenneth Darell Waters, der in den letzten Jahren ihre Geschäfte geführt hatte. Am 28. November 1968 starb Enid Blyton an den Folgen eines Herzinfarkts in einem Pflegeheim in Hampstead.




Dortmunder Grafit-Verlag geht an Kölner Konkurrenz

Die Dortmunder Verlagslandschaft war nie sonderlich imposant, doch gab es über viele Jahrzehnte hinweg immerhin zwei große Tageszeitungen, die ihre Zentralen in dieser Stadt hatten. Zudem war es 1989 ein kleines Hoffnungszeichen, als Rutger Booß hier den Grafit-Verlag gründete, der sich nach und nach zu einer beachtlichen Adresse namentlich für damals noch nicht allgegenwärtige Regionalkrimis entwickelte.

Zwei neuere Bücher mit dem Logo des Grafit-Verlages. (© Grafit)

Zwei neuere Bücher mit dem Logo des Grafit-Verlages. (© Grafit)

Mit der Zeit schrieben – um nur wenige zu nennen – beispielsweise Lucie Flebbe, Gabriella Wollenhaupt, Jürgen Kehrer („Wilsberg“), Reinhard Junge oder Thomas Schweres für Grafit. Ein Schwerpunkt waren Krimis aus dem Ruhrgebiet, doch auch in anderen Landschaften und gelegentlich auch jenseits der deutschen Grenzen ging’s grafitmäßig hinterhältig und blutig zu.

Rutger Booß erwies sich dabei zusehends als gewiefter, gewitzter und mit ziemlich vielen Wassern gewaschener Verleger. Die Zeiten sind indes noch härter geworden und Booß‘ Nachfolgerin Ulrike Rodi, seit 2010 am Ruder, fühlte sich nach eigenem Bekunden zuletzt immer weniger „motiviert“, gegen widrige Umstände des Buchmarktes anzukämpfen. Also endet zum Jahreswechsel die eigenständige Geschichte des immer noch verhältnismäßig kleinen Verlags. Der größere, ebenfalls mit Regionalkrimis befasste Emons-Verlag in Köln übernimmt das Dortmunder Programm und wird es (mutmaßlich unter der eingeführten Marke Grafit) weiterführen. Man wird sehen, ob und wie das funktioniert.

Nachdem schon die Dortmunder Presselandschaft im Vergleich zu früher furchtbar ausgedünnt ist und etwa auch der zeitweise recht agile örtliche Harenberg Verlag längst nicht mehr besteht, ist dies ein weiterer Verlust für die Stadt, was Printprodukte angeht. Eine betrübliche Nachricht am Vorabend der Frankfurter Buchmesse.

Grafit-Gründer Rutger Booß (Jahrgang 1944), der bereits seit neun Jahren nicht mehr auf die Dinge einwirken konnte, dürfte all dies mit etwas Wehmut, aber eben auch aus gewachsener Distanz mit Gelassenheit sehen. Längst ist er als Autor mit eigenen Buchprojekten beschäftigt. 2017 machte er sich in „Immer diese Senioren“ über ältere Mitbürger her, demnächst soll ein Buch über aberwitzigen Wunderglauben „seit der Steinzeit“ erscheinen. Aber selbst Wunder werden dem Grafit-Verlag wohl nicht mehr helfen.




Der schnelle Übergang vom Guten zum Bösen: Emmanuel Boves Kurzroman „Schuld“ und neun Erzählungen

Als der kurze Roman Schuld von Emmanuel Bove 2010 erstmals auf Deutsch erschien, war das Buch schnell vergriffen. Nun, acht Jahre später, veröffentlicht der Lilienfeld Verlag unter dem Titel Schuld und Gewissensbiss eine um neun Erzählungen erweiterte Ausgabe. Etwa die Hälfte des schönen Bands aus der Reihe der Lilienfeldiana nimmt der Roman Schuld ein.

Der Originaltitel Un Raskolnikoff, unter dem das Werk zuerst im Dezember 1931 in Frankreich erschienen ist, zeigt noch deutlicher als der deutsche Titel die Verbindung zum großen russischen Roman Schuld und Sühne.

Im Unterschied zu Dostojewskis Romanfigur Raskolnikow, der sich zum Mord berechtigt glaubt, geht es jedoch in Emmanuel Boves kürzerer Replik um eine allein vom Protagonisten Changarnier gefühlte, wenn nicht gar herbeigesehnte Schuld, für die der Lesende keinen Anlass erkennt. Er hat niemanden ermordet, auch nicht den etwa fünfzigjährigen kleinen Mann, der ihm und seiner Freundin bei ihrem Streunen durch die winterliche Stadt nicht von der Seite weicht.

Gleichwohl wird der verhaltensauffällige Changarnier von der Polizei festgenommen und auf der Wache verhört. Der – wie mehrere Antihelden bei Bove – gedanklich stets angespannte Selbstquäler ruft während der Vernehmung in einer grotesk theatralischen Geste den Allmächtigen als Zeugen herbei und hört, gleichsam als ein ihn enttäuschender Deus ex Machina, eine Stimme, die ihn auf die erste Lossagung des Menschen von Gott, den Sündenfall, verweist: Indem der Mensch alles wissen wollte, habe er sich von Gott getrennt und werde bis zu seinem letzten Tage allein bleiben. Der nach einer Gegenüberstellung mit einer Zeugin wieder auf freien Fuß gesetzte Changarnier dürfte auch in der Fortsetzung seines Weges nicht von Grübeleien erlöst sein.

Unvermuteter Grund für den Gewissensbiss

Haben wir es in Schuld mit einem grundlos erscheinenden schlechten Gewissen zu tun, gäbe es in der kurzen Erzählung Der Gewissensbiss mehr als nur einen Grund. Nach einem beachtlichen sozialen Aufstieg neigt Doktor Jacques Figue dazu, gegenüber der angeheirateten Familie sein Elternhaus zu verleugnen. Lediglich die monatliche Geldüberweisung dient dazu, sein Gewissen zu besänftigen. Während eines Urlaubs in Südfrankreich bittet er seine Frau um Verständnis, dass er nach sieben Jahren völliger Kontaktlosigkeit seine in der Nähe auf dem Land lebenden Eltern kurz besuchen möchte.

Die Ehefrau aus gutsituiertem Hause aber denkt nur daran, dass sie ungern zwei Stunden an einem kleinen Provinzbahnhof auf ihn warten möchte. Mit dem Versprechen, nicht lange fortzubleiben, läuft Doktor Figue in sein Heimatdorf. Die alte Mutter ist überglücklich, den Sohn noch einmal zu sehen. Der Vater jedoch sei an dem Tag nach Marseille gefahren. Doktor Jacques Figue will die Rückkehr des Vaters nicht abwarten. Um seine Frau nicht zu lang alleinzulassen, verabschiedet er sich bereits nach einer Stunde von der weinenden Mutter. Als er mit seiner Frau im Bahnhofscafé auf den Zug nach Marseille wartet, sieht er plötzlich, wie sich die gebeugte Mutter dem Bahnhofsvorplatz nähert. Um seiner Frau die Begegnung zu ersparen, entscheidet er kurz entschlossen, mit ihr im Taxi zurück nach Marseille zu fahren. Im letzten Absatz wechselt die Perspektive, und der titelgebende Gewissensbiss stellt sich als ein völlig anderer heraus, als die vorangegangen sechs Seiten vermuten ließen.

Ereignisse und Charaktere immer wieder neu bewerten

In Gotthold Ephraim Lessings Faust-Fragment dienen sich dem Geisterbeschwörer verschiedene Teufel an, die sich allesamt in behaupteter Schnelligkeit zu übertrumpfen versuchen. Faust entscheidet sich für den, der für sich beansprucht, so schnell „als der Übergang vom Guten zum Bösen“ zu sein. Etwas von jenem Teufel muss wohl auch in den kurzen Erzählungen Emmanuel Boves stecken.

Der Lesende ist manchmal gefordert, die Ereignisse und Charaktere auf fast jeder Seite neu zu bewerten. Die Protagonisten geraten immer wieder in moralische Zwickmühlen. Wie bei dem Mann, der nach dem Tod eines nahen Freundes bei der Witwe dessen Schulden eintreibt – was zu weiteren Verwicklungen führt („Die dreitausend Francs“). Man könnte sagen, die Sympathiesteuerung des Autors hinsichtlich seiner Figuren vollführe scharfe Wenden, gelänge es ihm nicht, auch für diejenigen, die in ihrem kleinbürgerlichen Ordnungssinn gefangen und zur Rechthaberei verdammt erscheinen, Verständnis zu wecken.

Großzügiger Förderer gerät ins soziale Abseits

Ein weiteres gutes Beispiel ist die acht Seiten umfassende Erzählung Das Testament. Ein angesehener Geschäftsmann aus Cherbourg fördert einen jüngeren, an seinen Wohnort Zugezogenen, mit allen Mitteln, gliedert ihn fast schon in seine Familie ein und verschafft ihm die für ein erfolgreiches Geschäftsleben nötigen Kontakte. Aufgrund einer bald nicht mehr nachvollziehbaren Kleinigkeit geraten beide in einen sich eskalierenden Streit. Da aber hat sich der Jüngere innerhalb der städtischen Gesellschaft bereits so viel Sympathie erworben, dass nun der einstige Förderer durch seinen sich steigernden Hass ins soziale Abseits gerät. Er vereinsamt, erkrankt und stirbt. Die Gerüchte über den Inhalt seines Testaments und die Reaktionen der Stadtgesellschaft beleuchten das Geschehen von einer anderen – von einer patriotischen – Seite, ohne den Eindruck des Zwielichtigen auszuräumen.

Die letzten Lebensjahre des Schriftstellers

„Er wünschte, auf dem Friedhof Montparnasse beerdigt zu werden, und hatte schon im Voraus ein dreißigjähriges Nutzungsrecht an einer einfachen Grabstätte erworben, die zufällig ein paar Meter von Emmanuel Boves Grab entfernt lag.“ – Michel Houellebecq über seinen gleichnamigen Protagonisten im Roman Karte und Gebiet (La carte et le territoire). Foto: Wolfgang Cziesla

„Er wünschte, auf dem Friedhof Montparnasse beerdigt zu werden, und hatte schon im Voraus ein dreißigjähriges Nutzungsrecht an einer einfachen Grabstätte erworben, die zufällig ein paar Meter von Emmanuel Boves Grab entfernt lag.“ – Michel Houellebecq über seinen gleichnamigen Protagonisten im Roman Karte und Gebiet (La carte et le territoire).
Foto: Wolfgang Cziesla

Das Testament ist eine von vier Erzählungen, die Bove im Spätsommer 1944 unter einem Pseudonym in der algerischen Wochenzeitung La Marseillaise veröffentlichte. Bove, der es ablehnte, im von deutschen Truppen besetzten Frankreich zu publizieren, lebte von November 1942 bis Oktober 1944 in einer Vorstadt von Algier. Seine politischen Hoffnungen setzte er auf General de Gaulle; das voraussehbare Kriegsende klingt in den Erzählungen an.

Welche Rolle Bove sich selbst im Nachkriegsfrankreich zudachte, kann nur vermutet werden. Er starb im Alter von nur 47 Jahren zwei Monate nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Sein Grab befindet sich in der Familiengruft seiner zweiten Ehefrau, Louise Ottensooser, auf dem Friedhof Montparnasse, in der Nähe der Cafés von Saint-Germain-des-Prés, in denen er mehrere seiner einzigartigen Romane schrieb.

Emmanuel Bove: Schuld und Gewissensbiss. Ein Roman und neun Erzählungen. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Thomas Laux. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf, Reihe Lilienfeldiana, Band 24. 176 Seiten, Halbleinen, Fadenheftung, Leseband, € 20




Ärgerlich: Der Wettbewerb um die „Vestische Literatur-Eule 2018“ als Symptom verfehlter Literaturförderung

„Nimm meinen brüderlichen Rat und gib ja den Vorsatz auf, vom Schreiben zu leben.“ Diesen Satz schrieb Gotthold Ephraim Lessing vor 250 Jahren am 26. April 1768 seinem Bruder Karl. Und ganz so viel hat sich über die Jahrhunderte nicht geändert. Laut Künstlersozialkasse liegt das durchschnittliche Jahreseinkommen von Künstlern um die 16.000 Euro, junge Autorinnen und Autoren liegen weit darunter.

Literatur verträgt keinen unnötigen Lärm. (Foto: © Jörg Briese)

Darüber könnte man jammern, letztlich aber bleibt die Entscheidung, eine selbständige künstlerische Existenz zu führen, mit viel Risiko behaftet und kein Künstler darf damit rechnen, dauerhaft staatlich alimentiert zu werden.

Wer es aber schafft, die Anerkennung der Kritiker, gar der „Influencer“ literarischer Blogs zu gewinnen oder aber den Markt zu bedienen, kann heutzutage immerhin ganz gut oder bestens vom Schreiben, von Preisen, Stipendien, Lesungen, Schreibkursen und Auftragsarbeiten leben. Nur schaffen dies nicht eben viele – und die ungezählten Anderen leben von Zweit- und Drittjobs, Ehepartnern oder vagabundieren als schlecht bezahlte Projektleiter kultureller Jugendbildung durch heruntergekommene Schulen.

„Spaß am Schreiben“ vorausgesetzt

Geradezu obszön wirken in diesem Zusammenhang vor allem aber sogenannte Literaturwettbewerbe, die sich großspurig an „Autorinnen und Autoren“ wenden, diesen aber rein gar nichts anzubieten haben. So zum Beispiel der zurzeit von der Neuen Literarischen Gesellschaft Recklinghausen (NLGR) ausgeschriebene Wettbewerb um die Vestische Literatur-Eule 2018.

Vier bis fünf Seiten „fehlerfreien Text“ sollen Autoren „aus dem gesamten Ruhrgebiet“ zum Thema „Grenzen“ bis zum 14. Oktober 2018 einsenden, wird da oberlehrerhaft gefordert. Im Gegenzug winken „ein künstlerisches Eulen-Unikat“ als Jurypreis sowie ein „Sachpreis als Publikumspreis“.

Sollte man es in die Endrunde schaffen, muss man bereit sein, seinen Text während einer „feierlichen Autorennacht“ am 10. November 2018 im Wettstreit mit anderen Autoren vorzutragen. Darüber hinaus billigt man die Veröffentlichung in einer Anthologie zum Wettbewerb und sollte „im nächsten Jahr in der Autorennacht als Jury-Mitglied (…) fungieren, falls Sie den Jurypreis gewinnen.“

Dass nicht nur das Konzept des Preises selbst wenig fehlerfrei ist, sondern auch der Ausschreibungstext, verrät sich in Passagen wie z. B. „Wir freuen uns auf Texte jeglicher Gattung und jedweden Genres (in deutscher Sprache) zu einem Thema Ihrer Wahl.“ Hatte es in der Ausschreibung zuvor nicht deutlich geheißen: „Die Themenvorgabe in diesem Jahr lautet ‚Grenzen‘“? Gemeint war also oben eher, dass das vorgegebene Thema „Grenzen“ literarisch/inhaltlich/formal al gusto bearbeitet werden dürfe?

Recklinghausen: Kunst ohne Kohle

Und die Gegenleistung der NLGR? Unterm Strich: Fehlanzeige. Wie wäre es zumindest fürs nächste Jahr mit beharrlichem Fundraising für einen angemessenen Geldpreis? Wie wäre es, die Ausschreibung sprachlich angemessener zu formulieren, eine unabhängige Jury auszuwählen und diese zumindest über Fahrgeld und ein kleines Honorar zu entlohnen. Und wie wäre es nicht zuletzt damit, den Beiträgern der geplanten Anthologie kleine Honorare zahlen?

Oder gilt die Ausschreibung zur Vestischen Literatur-Eule gar nicht den Hobbyschreibern, dem literarischen Nachwuchs und einigen Autoren, sondern allein dem Renommee einer Neuen Literarischen Gesellschaft, die mit geringstem finanziellen Aufwand relativ großes regionales Presseecho erzeugen möchte?

Das wäre dann doch auf provinziellem Niveau noch ärger als die grassierend-großkopferte Almosen-Heuchelei, die schon Thomas Bernhard anlässlich des 1967er-Anton-Wildgans-Preises in seiner wunderbaren Sammlung „Meine Preise“ abkanzelte:

„Tatsächlich hebt sich die millionen-, ja milliardenschwere Industriellenvereinigung mit der Vergabe eines schäbigen Geldpreises von fünfundzwanzigtausend Schilling in die Höhe eines ganz und gar außerordentlichen Kunst- und Kulturmäzens und wird dafür auch noch in allen Zeitungen gelobt, anstatt daß sie auf das rücksichtsloseste für ihre Gemeinheit angeprangert wird.“

Aber dies alles zu schreiben, heißt wohl, Eulen nach Recklinghausen zu tragen?




Ein Fenstersturz mit unabsehbaren Folgen: Vor 400 Jahren begann in Prag der Dreißigjährige Krieg

Die Szene wirkt wie aus einem schlechten Film: Am Morgen des 23. Mai 1618 dringt ein Trupp radikaler Protestanten unter Führung des Grafen Heinrich Matthias von Thurn auf der Prager Burg in den Tagungsraum der vom Kaiser und König von Böhmen ernannten Bevollmächtigten – der sogenannten Regenten – ein.

Das Werk von Herfried Münkler über den Dreißigjährigen Krieg. Coverabbildung: Rowohlt Verlag

Das Werk von Herfried Münkler über den Dreißigjährigen Krieg

Dort kommt es zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung, in deren Verlauf die beiden katholischen Regenten Jaroslav Borsita von Martinitz und Wilhelm Slavata samt dem Sekretär Philipp Fabricius aus dem Fenster in den 17 Meter tiefen Burggraben gestoßen werden – in der Absicht, sie zu ermorden.

Die Mode der Zeit verhindert den Tod der drei: Die schweren, weiten Mäntel bremsen den Sturz, die abgeschrägten Mauern der Burg lassen die Männer wohl eher hinabrutschen als im freien Fall auf den Boden schlagen. Dass die Opfer auf einem Misthaufen weich gelandet seien, ist jedoch eine Legende.

„Urkatastrophe der Deutschen“

Der „Prager Fenstersturz“ wird gemeinhin als Beginn einer 30jährigen Serie kriegerischer Auseinandersetzungen angesehen, die erst 1648 mit dem „Westfälischen Frieden“ endete. Bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs galt der Dreißigjährige Krieg als Urkatastrophe der Deutschen: Gewalt und Seuchen dezimierten die Bevölkerung von geschätzt 17 auf elf Millionen, die „kleine Eiszeit“ – es gab Jahre, da schneite es bis in den Juni – mit Missernten und Hungersnöten tat ein Übriges dazu.

Heerhaufen und umherziehende Marodeure verwüsteten die Felder, brannten Gehöfte und Dörfer nieder, brachten Epidemien ins Land, vergewaltigten und töteten. Der Historiker Herfried Münkler, Verfasser eines grundlegenden neuen Buchs über diese Zeit, sagt, der Krieg habe im Verhältnis „weit mehr Todesopfer gefordert als der Erste und der Zweite Weltkrieg zusammen“.

Münkler weist jedoch auch darauf hin, dass die Kriege, die zwischen 1618 und 1648 geführt wurden, nicht als Religions- oder Konfessionskriege gelten können: „Religion fungierte vor allem als Brandbeschleuniger für … politische Konflikte. Und diese Konflikte schafften wiederum die Möglichkeit, den religiösen Streit in äußerster Härte auszutragen“, sagt er in einem Interview. Die Besonderheit des Konflikts sei, so Münkler in der „Tagespost“, dass er sich „relativ früh und fast gleichzeitig mit der Konfessionsfrage verbindet“.

Der Aufstand in Böhmen war keine Volksbewegung

Der sogenannte böhmische Aufstand war keine breite Volksbewegung, sondern die Reaktion einer Minderheit Adliger auf die Politik der Habsburger: Der 1617 zum König von Böhmen gewählte Ferdinand versuchte, das Land zu rekatholisieren. Zwar hatte er die Privilegien der Protestanten bestätigt, die Politik vor Ort aber wurde als Schikane empfunden, gegen die sich immer mehr Widerstand formierte. Zudem hegte Ferdinand ein tiefes Misstrauen gegen die Stände. Die Schließung und der Abriss zweier evangelischer Kirchen 1617 führten zum Protest protestantischer Adliger, woraufhin der König weitere Versammlungen verbot.

Herfried Münkler. Foto: Rowohlt/Reiner Zensen

Der Autor Herfried Münkler (Foto: Rowohlt/Reiner Zensen)

Der Konflikt weitete sich aus, als die protestantische Opposition ein „Direktorium“ als Übergangs-Landesregierung wählte und begann, unter Führung des Grafen Thurn eine Armee aufzustellen. Die Habsburger reagierten zunächst planlos und ihre militärischen Kräfte unter Karl Bonaventura Bucquoy waren zu schwach, um sich durchzusetzen. Während Ferdinand in Frankfurt zum deutschen Kaiser gewählt wurde, schlossen sich die fünf böhmischen Kronländer (Böhmen, Mähren, Schlesien und die beiden Lausitzen) zu einer Konföderation zusammen, erklärten die Wahl Ferdinands zum König von Böhmen für widerrechtlich und wählten am 26. August 1619 den 23jährigen Friedrich V. von der Pfalz zum König.

Keine Unterstützung für den „Winterkönig“

Der Pfälzer hatte auf Unterstützung seines Schwagers, des Königs von England, und der protestantischen Union gerechnet, wurde aber bitter enttäuscht. Von seinen neuen Untertanen verstand er weder die Katholiken noch einen Teil der in zahlreiche Splittergruppen zerfallenden Protestanten. Seine streng reformierten Pfälzer Begleiter zogen sich den Unmut der Böhmen zu, als sie im Prager Veitsdom Kunstwerke zerstörten und Heiligengräber schändeten. Inzwischen beschlagnahmten die böhmischen Konföderierten katholische Besitztümer und erhöhten die Steuern erheblich, um ihre Militärausgaben zu finanzieren. Ein Vorstoß auf Wien im Winter 1619 scheiterte.

Jetzt sammelte der neu gewählte Kaiser Ferdinand seine Kräfte: Er sicherte sich die Unterstützung von Herzog Maximilian von Bayern. Im August 1620 nötigte Ferdinand den mit den Böhmen verbündeten österreichischen Ständen eine Kapitulation ab, dann marschierten die kaiserlichen Truppen unter Bucquoy und dem berüchtigten Johann T’Serclaes von Tilly in Böhmen ein. In der Schlacht am Weißen Berg am 8. November 1620, der ersten großen militärischen Auseinandersetzung des Dreißigjährigen Krieges, unterlagen Friedrich V. von der Pfalz und sein Heerführer Christian I. von Anhalt den Truppen der Katholischen Liga. Der Weg zur Entmachtung der Stände und zur Gegenreformation in Böhmen war damit frei. Friedrich V. verlor seine Erblande und die Kurwürde, die sich Maximilian von Bayern neben der Oberpfalz sicherte.

Geschürt von Extremisten auf beiden Seiten

Der Konflikt war freilich nicht zu Ende. Noch war ein „Dreißigjähriger Krieg“ nicht absehbar, aber die Kräfte des politischen Ausgleichs waren nicht in der Lage, die Eskalation zu stoppen. Der zunächst auf Böhmen und Teile Österreichs begrenzte Verfassungs- und Konfessionskonflikt wurde zum Krieg katholischer und protestantischer Mächte, geschürt von Extremisten auf beiden Seiten, Reformierten und Jesuiten. Er weitete sich aus zu einem europäischen Hegemonialkrieg, aus dem die Partei der Habsburger als der große Verlierer hervorgeht und sich europäische Groß- und Mittelmächte wie Frankreich, Schweden, aber auch Bayern und Sachsen stabilisieren und arrondieren.

Lektüre:

Herfried Münkler: „Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe,  deutsches Trauma 1618-1648“. 976 Seiten. Rowohlt-Verlag Berlin. Hardcover 39,95, E-Book 29,99 Euro.

Peter H. Wilson: „Der Dreißigjährige Krieg. Eine europäische Tragödie“. 1160 Seiten. Theiss Verlag. Hardcover 49,95, E-Book 39,99 Euro.




Entzifferung einer fremden Welt: Georg Kleins Roman „Miakro“

Miakro – der Romantitel lässt vermuten, dass es um eine Verschmelzung von Mikro und Makro gehen könnte, doch beim Lesen lassen die bestätigenden Indizien auf sich warten. Wie überhaupt die Ungewissheit, das Mutmaßen und Mitdenken zu den beglückenden Wesenheiten dieser Lektüre gehören.

Den Anfang bildet ein Tableau einer Arbeitswelt, das zugleich mehr zu sein verspricht. Im „Mittleren Büro“ stehen Männer wie die Musiker der Gruppe Kraftwerk an ihren Pulten, allerdings in hellblauen Overalls, die Hände in die obersten der fünf Schichten ihres Bildschirms eingetaucht, und interpretieren die von rechts nach links vorüberfließenden Bilder und Zeichen. Ihr gesamtes Weltwissen beziehen sie aus dem „weichen Glas“.

Büroarbeit als Höhlengleichnis

Es sind unscharfe, schemenhafte Bilder; und ähnlich wie die Gefangenen in Platons Höhlengleichnis die auf der Wand vorüberziehenden Schatten zu deuten versuchen, wollen auch die „höchstnützlichen Idioten“, wie sie genannt werden, sich einen Reim darauf machen, was die Welt ist. Worin ihre Nützlichkeit besteht, ob Karl Marx ihr Tun als Arbeit in einem produktiven Sinne definiert hätte, bleibt fraglich. Vermutlich würde eine Consulting-Firma ihre Arbeitsplätze wegrationalisieren. Aber sie deuten, die „Büroler“. Sie versuchen die Welt – die Außenwelt ebenso wie die eigene Binnenwelt – zu verstehen. Nicht zuletzt, weil ihr Überleben davon abhängt, wo das Glas ihnen den nächsten Nährflur aufzeigt.

Nährflure und Materialschächte

Gab es im Ritterroman Witiko von Adalbert Stifter die nahrungtragende Flur, ist es im Roman von Georg Klein der Nährflur. Gewöhnlich sondert die bleiche Wand „Dicksprossen“ ab, seltener Süßkartoffeln in unterschiedlichen Graden der Genießbarkeit. Aber auch nicht-essbare Dinge werden in ständig neuen sich öffnenden und schließenden Materialschächten „ausgewandet“, sozusagen von der organischen Wand geboren, seien es hellblaue Overalls oder die begehrten Sandalen, sei es eine Gabel, die später ein Eigenleben führen wird, oder ein Schockstock als Waffe, der im weiteren Verlauf der Handlung gegen eine Maus eingesetzt wird, mit möglicherweise fatalen Folgen, nicht nur für die Maus.

Die von silbernem Haardraht durchwucherte weiche Wand versorgt die sich in ihren Kojen erholenden Arbeiter über „Zapfstummel“, an denen sie jederzeit saugen können, mit Trinkwasser. Auch ihre Arbeitstische sind Organismen – zehn Tage benötigt solch ein Pult mit weichem Glas, bis die schrumpeligen Knospen auf Hüfthöhe herangewachsen sind, und je nach dem Bauchumfang ihrer Bediener, der aber nur bei einem von ihnen ausgeprägt ist, bildet sich eine Mulde im Display. Als ein totgeglaubter, auf einem früheren Streifzug zur Materialbeschaffung wie in einer Art rückgängiger Geburt von der Wand eingesogener Kollege über das „weiche Glas“ Lebenszeichen sendet, bricht aus dem Büro eine Vierergruppe zu einer Expedition an den Rand der „wilden Welt“ auf, um den Verschollenen zu suchen.

Aufbruch zur Heldenreise

Für den ehemaligen Büroleiter Nettler, den erfahrenen Guler, den kräftigen Axler und den schönen Schiller beginnt, sobald sie die Schleuse mit den blauen Blitzen hinter sich gelassen haben, eine ritterliche Quest, eine Âventiure oder Heldenreise, wobei sie sich mit schlafwandlerischer Sicherheit durch die fremde Welt bewegen, als müssten sie sich nur rückbesinnen. In jeder Situation wissen sie, was zu tun ist, ohne zu wissen, woher sie ihr Wissen beziehen. Allen voran ist es Guler, der sich an ein früheres Stadium, ein vorausgegangenes Leben vor dem Eintritt ins Mittlere Büro erinnert; konkret ist es das Schulungsjahr im „Hohen Büro“. Er, der versierte Materialkundler, ein guter Diagnostiker der Zustände, muss immerzu achtgeben, sich nicht durch vorlautes Bescheidwissen zu verraten.

Die „wilde Welt“ ist die Domäne der Beute jagenden „Volksfrauen“, aber auch der in langen Kutten gekleideten „Wandler“, eine Art Kaste von Heilern, hochspezialisierten Technikern oder Schamanen, die jedoch unfähig sind, das Mienenspiel ihres Gegenübers intuitiv zu erfassen. Einmal bringen sich die vier Ausreißer in den Genuss einer Flasche aus dunkelgrünem Glas, die sie einem schlafenden Wandler entwenden. Das Trinken des Inhalts ruft bei ihnen die verschiedensten Reaktionen hervor: Heiterkeitsausbrüche durch wortloses Verstehen, das Bedürfnis nachzudenken, Regression ins Krabbelalter, eine besondere Aufmerksamkeit für das blaue Licht und überhaupt veränderte Sinneswahrnehmungen, oder auch wie bei Guler Schwatzlust oder Neugier, „die das Maß des bürolich gewohnten Wissenwollens“ unangenehm überschreitet.

Über einen Aufzug gelangen sie in das dritte Stockwerk – wie leicht lässt sich im stumpfen Spiegel des Aufzugs das „E“ für Erdgeschoss, wohin sie eigentlich wollten, mit einer Drei verwechseln. Sie fahren jedenfalls nach oben, in eine Welt, wo ihnen die wirklichen Dinge begegnen, die sie bislang nur als unzureichende Abbilder von ihren Bildschirmen kannten. „Breitbeinig stehen sie da, genießen unübersehbar, dass alles, restlos alles um sie herum verheißt, auf eine andere Art präsent zu sein.“

Papiertaschentuch in der Ur-Jeans

Zunächst begegnet ihnen ein Stück Laminat, in der Außenwelt als Pseudoholz oder Falschholz bezeichnet. Von Nettler aber wird der ihm zuvor nur als unvollkommenes Abbild begegnete Gegenstand weihevoll wie ein Kultobjekt angesprochen. In einem Umkleideraum öffnen sie einen Spind, finden einen Pullover. „Dann greifen Nettlers Finger nach der Hose, die, ebenso ordentlich gefaltet wie dieser, unter dem Wollpullover gelegen hat. Ihr Stoff ähnelt dem ihrer Overalls, ist aber nicht ganz so glatt, ihr Blau ist ungleichmäßig dunkel, man könnte glauben, die Zeit, in der sie sich um die Hüften und Schenkel ihres Trägers spannte, hätte mit einem ihr eigenen Durst an gewissen Stellen einen Teil der Farbe wie eine Flüssigkeit herausgesogen.

Findet er dann in einer Tasche des bestaunenswerten Urbilds einer Blue Jeans – sozusagen der Jeans an sich – ein Papiertaschentuch, wird ihm wie durch platonische Anamnesis sogleich der Verwendungszweck klar, und er, der ebenso wenig wie seine Kollegen in der hermetischen Bürowelt auch nur den Anflug einer Krankheit kennengelernt hat, schnäuzt sich vor den Augen der ihn entgeistert angaffenden Kameraden. Manchmal verdankt es sich aber auch einem Unfall, wenn einem von ihnen „eine Rückschau in ihr Herkommen glückt“.

Ein eher unverbindliches Sterben

Im oberen Stockwerk stößt die Gruppe an die Grenze zur Außenwelt. Nun wechselt die Perspektive; eine mit militärischem Gerät ausgestattete Truppe observiert ein Objekt, ein quaderförmiges Industriegebäude, das von Riesenpilzen mit bläulichen Kappen durchwirkt ist – ein beängstigendes Wuchern, das mit einer ganzen Hundertschaft bekämpft werden muss. Frau Fachleutnant Xazy, die zugleich Naturkontrollagentin ist, erweist sich als eine toughe und kompetente Vorgesetzte, die vor dem Alleingang in das sich bedrohlich ausformende Objekt, das „Unding“, nicht zurückschreckt.

Zuvor hatte sich ein kleiner Stoßtrupp vorgewagt, der, auch was die Namen der Beteiligten betrifft, in einer verzerrten Spiegelung der anderen Gruppe ähnelt, die ihnen aus dem Inneren des organischen Baus entgegenkommt. Obwohl zahlreiche Todesopfer zu beklagen sind, kann nicht behauptet werden, hier würde ein Krieg mit allen seinen Gräueln geschildert. Gestorben, wenn überhaupt, wird eher unverbindlich wie in Computerspielen.

Der Roman ist jedoch keine rein gedankliche Versuchsanordnung. Neben allem erlösenden Lachen, das die abstruse Handlung, aber auch die vielen geglückten Formulierungen bei einer Vielzahl der Leserinnen und Lesern auslösen dürften, wird auch gefühlvoll eine subtile Erotik angedeutet – zwischen einigen der Männer, zwischen dem Bürovorsteher und einer der „Volksfrauen“; in der Region der äußeren Welt auch zwischen Frau Fachleutnant Xazy und dem ihr untergebenen Hauptmann Blank. Aber: „Das Geschlecht hat sich im Griff“ – wie sich Guler, alias Guhl, an einen der während seiner Schulung im Chor gebrüllten Merksätze erinnert. Vielleicht ließe sich auch die Liebe in Miakro als platonisch bezeichnen.

Langsames Lesen lohnt sich

Miakro lädt ein, ein fremdes System, das dem unseren womöglich nicht so unähnlich ist, schrittweise zu verstehen. Tauchen, verbunden mit einer „Flussverlangsamung“, einzelne Buchstaben im Bilderstrom des „weichen Glases“ auf, ist bei den Bürolern hohe Konzentration gefordert. Parallel dazu sind in der etwa ab der Mitte des Romans beschriebenen Außenwelt die Bibliotheken zwar mit einigen Büchern ausgestattet, aber das systematisch gepflegte Vorlesen der mit wenigen Wörtern und hilfreichen Bildern bedruckten Buchseiten geht nur mit Improvisationskunst vonstatten. Die fünfblättrige Kladde mit einem Einband aus dünnem Holz gilt bereits als Herausforderung.

Möglicherweise steht die Entzifferung der Welt, Wort für Wort – mühsames Buchstabieren ist kein neues Motiv in Georg Kleins Romanen; man denke an Die Sonne scheint uns – als Metapher einer Leseempfehlung auch für Miakro. Langsames Lesen lohnt sich, Zurückblättern fördert Erkenntnisse, die im schnellen Lesefluss unterzugehen drohen.

Dem reduzierten Wortschatz der „Büroler“ (bei Tieren etwa kennen sie allenfalls die Gruppen wie Vögel oder Fische, nicht aber Gattungen oder Arten) setzt der Autor einen immensen sprachlichen Erfindungsreichtum entgegen. Hinreißende Formulierungen laden ein, sie sich auf der Zunge zergehen zu lassen, wäre da nicht zugleich der starke Sog der Erzählung, der uns in die Handlung hineinzieht, tiefer in die Dekodierung des rhizomartigen Baus, des wuchernden Pilzes oder der Innenansicht eines Gehirns.

Avancierte Technik geht in dieser Welt mit Archaismen einher, beispielsweise bei den Längenmaßen, die sich am ungefähren Vergleich mit Körperteilen orientieren. Befehle spielen eine große Rolle, sowohl im Sinne von Programmierung als auch im Militärischen. Dabei herrscht eine Art höherer Gerechtigkeit.

Das Staunen über die ersten Dinge

Als Dystopie gelesen, würde der Roman wenig Schrecken bereithalten. Eher entsteht der Eindruck, es folgten alle Wesen und Dinge ihrem eigenen Programm, im Sinne – um einmal von Platon zu Aristoteles zu springen – einer Vorstellung von Entelechie, also der Eigenschaft von Individuen, ihr Ziel (Telos) in sich selbst zu tragen. Es ist das Staunen über die ersten Dinge, die Georg Klein die Leserinnen und Leser miterleben lässt. Wie es an einer Stelle, aus der Perspektive eines „Wandlers“ gesprochen heißt: „Vor allem ihrem Adjutanten, der so eindrucksvoll staunen konnte, hätten Xazy und wir, die das Selber-Staunen noch Schritt für Schritt erwerben müssen, ein Hiersein und damit eine weitere Innigkeit gegönnt.

Der Autor verschafft uns viele solcher Innigkeiten. Denn was dem Suchtrupp aus dem Mittleren Büro bei der Konfrontation mit der Außenwelt widerfährt, und umgekehrt der Außenwelt mit dem unheimlichen Wesen, dürften wir mehr oder weniger alle irgendwann zum ersten Mal erlebt haben oder noch erleben. Wie eine erkenntnisbegünstigende Substanz hilft Georg Kleins Roman der Wiedererinnerung auf die Sprünge. Wir, die wir verstehen wollen, deuten im besten Sinne verwundert, was der sanfte Meister uns zu sagen hat.

Georg Klein: „Miakro. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek. 336 S., 24 Euro.




Kann man in der Buchhandlung eigentlich noch Bücher kaufen?

Eine riesige Abteilung mit Spielzeug – von Kuscheltieren und Puppen bis zu „Star Wars“-Utensilien aller Art. Lego, Duplo und Playmobil. Kinderfiguren wie Prinzessin Lillifee und Conny. Schier tausend kleine Geschenke und Mitbringsel – vom Schlüsselanhänger bis zum neckischen Täschchen.

Die für Dortmunder Verhältnisse recht prachtvolle Krüger-Passage - hier hatte bis XXXX die größte Buchhandlung der Stadt ihren Sitz. (Foto: Bernd Berke)

Die für Dortmunder Verhältnisse recht prachtvolle Krüger-Passage – hier hatte früher die größte Buchhandlung der Stadt ihren Sitz. (Foto: Bernd Berke)

Und weiter: lustige Quietscheentchen vielerlei Art für die Badewanne. BVB-Devotionalien. Frühstücksbrettchen, Sets und Tassen mit witzig gemeinten Sprüchlein. Brett- und Kartenspiele… – Halt! Aufhören!

Preisfrage: In welcher Art von Geschäft befinden wir uns?

Leider in einer (immer noch so genannten) Buchhandlung, die einen im Erdgeschoss massiv mit aufgetürmter Mainstream-Ware aus den Bestsellerlisten und mit haufenweise preisreduziertem Ramsch empfängt. Alles muss ‚raus.

Gewiss, da findet man auch noch ein paar wirkliche und wahrhaftige Bücher. Zur Erinnerung: Das sind händisch blätterbare, bedruckte Papierseiten zwischen härteren oder weicheren Deckeln.

Was jedoch noch gar nichts über die Qualität der Inhalte besagt. Lebenshilfe jeder Sorte nimmt breiten Raum ein, beispielsweise ist ein raumgreifender Bereich nur der Fitness und dem Muskelaufbau gewidmet. Koch- und Reisebücher haben gehörig Platz, desgleichen breiten sich Psycho-, Beziehungs-, Esoterik- und Erotik-Ratgeber aus, alles vorzugsweise mit Promi-Faktor. Und wer Manga mag, kann sich in einer imposanten Regalwand bedienen. Übrigens haben sie neuerdings auch ihre DVD-Abteilung aufgelöst. Streaming hat auf ganzer Linie gesiegt. Und dabei bleibt der Buchhandel erst recht außen vor.

Große Teile des Ladens sind indes vollgestopft mit Merchandising-Schrott, „Gimmicks“ und sonstiger Marketing-Ware, die bestenfalls indirekt mit Lektüre zu tun haben. Das Ganze bewegt sich deutlich in Richtung werbeverseuchter Gemischtwarenhandlung mit Deko-Schwerpunkt.

Anspruchsvollere Literatur muss man derweil suchen, sie ist inzwischen offenbar eine Art Nischenprodukt. Die Beratung ist dementsprechend. Früher war mehr Fachkenntnis.

Und wir reden hier nicht von einer Klitsche. Es ist die mit Abstand größte Buchhandlung der Stadt, die selbstredend zu einer Kette gehört. In den letzten Jahren haben hier viele kleinere Mitbewerber schließen müssen. Selbst ein gar nicht so kleiner Konkurrent, den man früher überhaupt nicht wegdenken konnte und der repräsentativ in der elegantesten Passage der City residierte, ist ebenfalls vor Jahren verschwunden.

Das gesamte Buchhandels-Angebot ist (zumal für eine Stadt, die inzwischen wieder die 600.000-Einwohner-Grenze überschreitet) überhaupt sehr bescheiden, um nicht zu sagen beschämend; ähnlich wie die arg ausgedünnte Kinolandschaft. Besser scheint es um die Museen, das Theater und besonders ums Musikwesen bestellt zu sein.




Hochstapler und ehrbarer Kaufmann – spannungsreiche Gegenüberstellung im Verlag „Das kulturelle Gedächtnis“

Es sind die Porträts zweier gegensätzlicher Charaktere, die hier zwischen denselben zwei Buchdeckeln zusammengebracht werden: Erich Wulffens Psychologie des Hochstaplers von 1923 und Oswald Bauers klassisches Handbuch Der ehrbare Kaufmann und sein Ansehen, das zuerst 1906 erschienen ist.

Um diese beiden Wiederentdeckungen in dem Rahmen zu würdigen, in dem sie jetzt neu erscheinen, sei kurz auf den Verlag hingewiesen. Er heißt Das kulturelle Gedächtnis, und der Name ist Programm. Das Ziel der Kuratoren ist, wie es im ersten Verlagsprogramm heißt, „notwendige Bücher der Literatur- und Kulturgeschichte neu zu verlegen – um so schon gemachte Erfahrungen einzubringen, erreichte Standards des Denkens und Schreibens hochzuhalten.“

Dieses anspruchsvolle Programm verantworten vier Kenner, die im Literaturbetrieb langjährige Erfahrungen gesammelt haben: Thomas Böhm, Peter Graf, Carsten Pfeiffer und Tobias Roth. Im Frühjahr 2017 ist diese schöne Buchreihe zum ersten Mal in Erscheinung getreten, mit einer Neuveröffentlichung von Voltaires Tragödie Le Fanatisme ou Mahomet le prophète, die 1741 uraufgeführt wurde und 2017 in einer neuen Übersetzung von Tobias Roth unter dem Titel Der Fanatismus oder Mohammed erschienen ist.

Fake News von 1835, Flüchtlingsschicksal von 1754

Eine weitere historische Veröffentlichung im selben Verlagsprogramm, die an Aktualität nichts zu wünschen übrig lässt, liefert ein frühes Beispiel für Fake News: Die astronomische Entdeckung von Bewohnern des Mondes, heute eine allzu leicht zu durchschauende Lügengeschichte, die aber 1835 mit einem vorgeblich wissenschaftlichen Garanten die Auflage der New York Sun in die Höhe schnellen ließ.

Ein Flüchtlingsschicksal beschreibt ein drittes Buch aus dem Verlagsprogramm: Bereits der lange Weg zur Küste hat das aufgesparte Geld verzehrt; Gebühren, Bestechungsgelder für Schlepper, überteuerte Camps mit Massen an Ausreisewilligen. Einige ertrinken oder werden auf der Überfahrt verhungern, an Krankheiten und Auszehrung sterben – das Buch heißt Reise in ein neues Leben und handelt von dem Schwaben Gottlieb Mittelberger, der sich 1754 auf den Weg nach Amerika aufmachte.

Als Walt Whitman den Schmelztiegel New York pries

Mit dem zweiten Verlagsprogramm im Herbst 2017 folgte die deutsche Erstveröffentlichung eines Romans von Walt Whitman. Der Autor ist vor allem durch sein Hauptwerk Leaves of Grass (dt.: Grasblätter) bekannt. Sein 1852 anonym erschienener Roman Life and Adventures of Jack Engle jedoch konnte erst 165 Jahre nach seiner Veröffentlichung dem richtigen Autor zugeordnet werden und erschien 2017 unter Whitmans Namen erstmals auf Englisch und in deutscher Übersetzung durch Stefan Schöberlein unter dem Titel Das abenteuerliche Leben des Jack Engle. Walt Whitman lobpreist in der Romanhandlung die multikulturelle Metropole New York als einen Schmelztiegel, in dem Menschen aus allen Nationen zusammenhalten, um einen Schwachen gegen die Übermacht der Herrschenden zu verteidigen.

Ebenfalls im Herbst erschien neu Ernst Ottwalts Justizroman Denn sie wissen was sie tun, über dessen Protagonisten Kurt Tucholsky 1932 schrieb: Er „ist das Produkt von Erziehung, Kaste und System. Es ist gut gesehen, wie die Rädchen des großen Unrechtgetriebes ineinander greifen, Akte auf Akte, Paragraph auf Paragraph, (…) und zum Schluss ist es keiner gewesen.“ Ein Schelm, wer dabei an aktuelle Gerichtsverfahren denkt.

Gelassenheit, Widerborstigkeit, Liebe zur Buchkunst

Aber die Gruppe der vier Kuratoren belässt es in ihrem Verständnis vom kulturellen Gedächtnis nicht bei einem bequemen Alles-schon-mal-Dagewesen. Sie wollen die Erfahrungen der Vergangenheit für die Gegenwart nutzbar machen, und neben den sich aufdrängenden Parallelen zur Jetztzeit werden auch die historischen Unterschiede und Entwicklungen deutlich. „Dieses Ziel verfolgen wir mit heiterer Gelassenheit, Widerborstigkeit und mit Liebe zur Buchkunst.“

Gegensatz zwischen Diplomatie und Duell

Innerhalb der ohnehin nicht hoch genug zu lobenden Initiative dieser Verlagsgründung soll an dieser Stelle ein Buchformat besonders in den Fokus gerückt werden: die von Thomas Böhm konzipierte und kuratierte Reihe GEGENSCHUSS. Es geht darum, größte denkbare Gegensätze in einen Band zusammenzubringen, der sich von zwei Richtungen aus lesen lässt. Im Programm aus dem Frühjahr 2017 waren das ein Standardwerk der internationalen Diplomatie und eine Schrift über die Regeln des Duells.

Diplomatie oder Duell – gibt es in der Weltpolitik ebenso wie in jedermanns Alltag wichtigere Entscheidungsfragen? Jules Cambons Buch Der Diplomat, erstmals auf Deutsch 1925 erschienen, möchte man manchem Grobian und jedem Autokraten auf den Nachttisch legen. Und wo der Kampf unausweichlich erscheint, lädt Franz von Bolgárs Schrift von 1880 auf konzentrierten 60 Seiten immerhin dazu ein, Die Regeln des Duells – so der Buchtitel – zu beachten.

Was war nach den Diplomaten und Duellanten als nächstes brisantes Gegensatzpaar vorstellbar? Der Kurator hat sich für den Hochstapler und den ehrbaren Kaufmann entschieden.

Betrug mit theatralischen Qualitäten

Erich Wulffen, ein Kriminologe und Staatsanwalt, der schon früh seine Liebe zum Theater entdeckte und seinen Wunschberuf des Schriftstellers neben der vom Vater empfohlenen Juristenkarriere verwirklichen konnte, legte 1923 mit Psychologie des Hochstaplers eine erfahrungsgesättigte Charakterstudie jenes oftmals renommiersüchtigen, dabei jedoch andere Menschen für sich einnehmenden und sehr oft mit schauspielerischem Talent ausgestatteten Ganoventyps vor. Als Theaterliebhaber wusste Wulffen den dramaturgischen Aspekten der von ihm geführten Prozesse viel abzugewinnen. Vergleiche mit der Bühnenwelt durchziehen sein Hochstapler-Buch, in dem der „Hochstapelei und Literatur“ ein eigenes Kapitel gewidmet ist.

Die Elite der Gaunerwelt – wie ein anderes Buch mit Hochstapler-Geschichten heißt – verfügte immer schon über einen hohen Unterhaltungsfaktor. Felix Krulls Erben genießen weitgehende Sympathie, sind doch ihre Opfer ihnen oft gar nicht so unähnlich – Menschen mit Imponiergehabe oder solche, die sich von geringem Einsatz große Gewinne versprechen.

Hochstapelei basiert oft auf Hochbegabung

Es sind oftmals Hochbegabte, denen eine entsprechende Ausbildung verwehrt blieb, um in den Berufen arbeiten zu können, die auszuüben sie als Hochstapler vorgeben. Als ein aktuelleres Beispiel, das Wulffen in sein kriminologisches Pionierwerk freilich nicht einbeziehen konnte, erinnern wir uns an Gert Postel, einen ehemaligen Briefträger, dem es mit gefälschten Diplomen gelang, Oberarzt in einem Psychiatrischen Krankenhaus zu werden, in diesem Beruf hohes Ansehen bei den Kollegen – den Ärzten, nicht den Hochstaplern – genoss und der nach abgebüßter Haftstrafe als Bestsellerautor und als (nicht von allen) gern gesehener Gast in Talkshows reüssierte.

Zu Wulffens Zeitgenossen dagegen gehören unter anderem Ignatz Strassnoff, der 1926 seine auch später noch mehrfach aufgelegten Memoiren veröffentlichte, und Georges Manolescu, den – wie Stephan Porombka ihn nennt – „erste(n) Star der Branche“, mit dem Erich Wulffen lange Zeit eine briefliche Korrespondenz führte. Wulffen porträtiert die Personen, über die er als Staatsanwalt zu richten hatte, mit der Sympathie, die Roman- oder Theaterautoren für die von ihnen entwickelten Charaktere aufbringen, und geht bei der Hochstapelei von einem in allen Menschen angelegten Talent aus. Längere Abschnitte seiner Studie beschäftigen sich mit dem Hochstapler im Kind.

Warnung vor den Tücken der Handelswelt

Nach den abenteuerlichen Geschichten, die sich um die Psychologie des Hochstaplers gruppieren, könnte man vom ehrbaren Kaufmann ein weniger spannendes Leseerlebnis erwarten. Dem ist nicht so. Die Lektüre Oswald Bauers kann besonders dann aufregend werden, wenn sich beim Lesen des kaufmännischen Ehrenkodex‘ zahlreiche Negativbeispiele heutiger Marketing-Praktiken aufdrängen. Dass diese aber keine Erfindungen unserer Zeit sind, macht der historische Text von 1906 ebenso deutlich.

Bauer benennt die „Chikanen“, die von einzelnen Handelspartnern ausgehen können, und muss neben seinen Ausführungen zum guten Stil der kaufmännischen Korrespondenz mit Bedauern auch auf Beispiele eines impertinenten, auf Preisdrückerei angelegten Geschäftsgebarens zu sprechen kommen. Die Übergänge vom aggressiven Wettbewerb zum Betrug am Kunden sind fließend. Wem würden zu dem Thema keine Schlagzeilen aus den letzten Wochen und Monaten einfallen?

Nervöse Zeiten durch „das Telephon“

Es geht Oswald Bauer um das Ansehen des Kaufmannsstands, die Diskrepanz zwischen der äußeren Wahrnehmung und dem inneren Ehrbegriff, um Anstand, Redlichkeit, kurz, was man den Charakter nennen könnte. Kulanz ist ein Schlüsselbegriff, wenn die Überzeugung, im Recht zu sein, mit den als ungerechtfertigt empfundenen Forderungen des Vertragspartners kollidiert. Kulanz, um die Selbstachtung zu wahren, Stärke des Gewährens statt der Schwäche des Verlierens.

Für einen Kaufmann erstaunlich genug, warnt Bauer vor einer „Überschätzung materieller Glücksgüter sowohl, wie von Ehren, Rang und Würden.“ In der Geschäftigkeit sieht er Gefahren wie die allgemein zunehmende Nervosität, die er als die Krankheit der Gegenwart und als Krankheit der Zukunft erkennt. Leichte Erregbarkeit, Jähzorn, Müdigkeit und ein chronischer Mangel an Zeit, dem das letzte Kapitel gewidmet ist.

Über die Nervösen, Ausgebrannten, Depressiven schreibt Bauer: „Sie erfüllen die Anforderungen des Lebens, aber unter Kämpfen; ihre Intelligenz befähigt sie vielleicht zu großen Leistungen, aber ihre Organisation versagt ihnen Kraft und Zähigkeit; sie sehen, was andere sehen, aber wie durch ein gefärbtes Glas; sie gleichen ihrer Umgebung und sind doch fremd in ihr.“

Und er fügt eine ebenso zeitgenössische wie zeitgemäße Beobachtung hinzu: „En passant wollen wir eine nervös machende Errungenschaft der Neuzeit, das Telephon, nicht vergessen.“

Nachworte stehen in der Mitte

In einem „Zwischenspiel“ genannten Nachwort spannt Thomas Böhm einen zeitlich weiten, jedoch auf 7 Seiten komprimierten, Bogen von Plutarch über Beispiele aus dem Mittelalter, dem Humanismus bis zu modernen Standardwerken zur Volks- und Betriebswirtschaft, und hebt besonders ein Postulat aus Bauers Schrift hervor: „daß wir im weiteren Sinne zuerst Mensch und dann erst Mann des Geschäftes sein sollen.“

Die Nachworte zu beiden Büchern treffen sich in der Mitte des Bands, wo Thomas Böhm ihre Verbindung herstellt – nicht zuletzt durch einen Hinweis auf die Finanzmärkte, die sich von dem Kaufmannsideal, wie Oswald Bauer es beschreibt, komplett abgekoppelt haben und damit der Fiktion, der Hochstapelei, die Schleusentore öffnen.

Oswald Bauers Regelwerk des ehrbaren Kaufmanns von 1906 gehört ebenso zu den notwendigen Büchern wie Wulffens Charakterzeichnung des Hochstaplers. Beide behandeln auf unterschiedliche Weise entscheidende Fragen unserer Gegenwart. Wir dürfen gespannt sein auf das Programm des Frühjahrs 2018.

Erich Wulffen: „Der Hochstapler“ vs Oswald Bauer „Der ehrbare Kaufmann“ (Reihe: Gegenschuss, Band 2). Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, Berlin. 256 Seiten, 22 Euro.

Mehr Informationen zu den anderen genannten Büchern aus dem Verlag über: www.daskulturellegedaechtnis.de
Alle Abbildungen in diesem Beitrag: © Verlag „Das kulturelle Gedächtnis“

Zwei andere kursiv gesetzte Buchtitel beziehen sich auf:

Egon Larsen: Hochstapler. Die Elite der Gaunerwelt. Hamburg, 1984
Stephan Porombka: Felix Krulls Erben. Die Geschichte der Hochstapelei im 20. Jahrhundert. Berlin, 2001

In der Rezension erwähnt, aus Gründen der besseren Lesbarkeit jedoch nicht mit bibliographischen Daten im Text angegeben:

Gert Postel, Reiner Pfeiffer: Die Abenteuer des Dr. Dr. Bartholdy – Ein falscher Amtsarzt packt aus. Bremen, 1985
Gert Postel: Doktorspiele – Geständnisse eines Hochstaplers. Frankfurt am Main, 2001
Ignatz Strassnoff: Ich, der Hochstapler Ignatz Strassnoff. Berlin 1926




Fördertürme als prägende Bauten einer ganzen Region – Rolf Arno Spechts Fotoband „Kathedralen im Revier“

Wie schon hie und da gesagt: Im Revier wird heuer allerorten der Zechen-Vergangenheit gedacht, denn die hier so lange prägende Ära der Steinkohle endet im Dezember 2018 mit Schließung der allerletzten Schachtanlagen.

Der Zusammenschluss der RuhrKunstMuseen wird ebenso seinen Ausstellungs-Reigen beisteuern, wie beispielsweise das Ruhr Museum (Essen) und das Deutsche Bergbaumuseum (Bochum), die mit einer gemeinsamen Schau groß ins Geschehen einsteigen. Überdies gibt es einschlägige Film- und TV-Dokus, literarische Aufarbeitungen und Sachbücher zum Themenkreis. Womit wir sicherlich noch nicht alle Sparten genannt haben. Wird vielleicht auch irgendwo eine Zechenoper aufgeführt?

Im Essener Klartext Verlag, der seit einigen Jahren zur Funke Mediengruppe gehört, ist jetzt ein Bildband erschienen, der die Fördertürme in den Mittelpunkt stellt, sein nicht gar zu origineller, jedoch treffender Titel lautet „Kathedralen im Revier“. Tatsächlich ist der sakrale Bezug nicht so weit hergeholt, die imposanten Industrie-Ensembles können es an Wucht und Pathos mit so manchem Kirchenbau aufnehmen. Übrigens gibt es auch eine Art heimliches Pathos der Sachlichkeit.

Manche Motive zeigen sich so nur sehr selten

An Begleittexten wird bis zum Punkt der Kargheit gespart. Ein knappes Grußwort und ein ebenso kurzes Vorwort sowie ein paar Zwischenrufe müssen reichen. Die Bilder des 1969 in Marl geborenen Fotografen Rolf Arno Specht, im gesamten Ruhrgebiet zwischen Duisburg/Dinslaken im Westen und Hamm/Ahlen im Nordosten entstanden, sprechen ja auch weitgehend für sich. Der Mann muss sich wahrlich intensiv und extensiv mit seinem Thema befasst haben. Bestimmte Motive hat er nach eigenem Bekunden auf diese Weise bestenfalls einmal im Jahr aufnehmen können, als Wetter, Lichtverhältnisse und Perspektiven exakt seinen Vorstellungen entsprachen.

Für die relativ wenigen Untertage-Fotos hat Specht – wegen der Explosionsgefahr – keine womöglich Funken auslösende Digital-Ausrüstung verwenden können, auch Belichtungsmesser und Autofokus waren nicht erlaubt. Althergebrachte fotografische Tugenden und Fähigkeiten waren also unabdingbar.

Bauten im dichten Nebel und bei Sonnenuntergang

Der Band beginnt mit einer ganzen Reihe von Aufnahmen im ungemein dichten Nebel, welcher an den einst alltäglichen Smog gemahnt, der oft durchs ganze Ruhrgebiet waberte. Nur schemenhaft tauchen die imposanten Bauwerke zunächst auf; ganz so, als müssten sie erst noch einmal behutsam ans Tageslicht geholt werden und als müsse man der Erinnerung vorsichtig aufhelfen. Oder ist just schon das Gegenteil der Fall: Entschwinden die Gebäude etwa schon in die Gefilde des Vergessens? Doch hoffentlich nicht.

Des weiteren sieht man Bilder zur Einbettung der Zechengerüste in (Stadt)-Landschaften, aus denen sie gleichsam erwachsen und über die sie sich – zuweilen geradezu majestätisch – erheben.

Eine weitere Reihe zeigt Fördergerüste im Licht von Sonnenuntergängen bzw. Sonnenaufgängen, dabei kommt etwas beinahe Überirdisches oder Magisches ins Spiel. Schließlich folgen noch einige Luftbilder, die abermals die herausragenden Plätze der Fördertürme in den diversen Stadtlandschaften markieren. Tatsächlich sind es architektonische „Auftritte“, wie man sie sonst von Sakralbauten kennt.

Imposante Signaturen von Heimat und Identität

Man erfährt noch einmal ein- und nachdrücklich, wie sehr diese Bauten das Bild der ganzen Region bestimmt haben, so dass sie natürlich unbedingt denkmalwürdig sind; vielleicht nicht jedes einzelne Ensemble, aber doch etliche von ihnen. Und ja: Das alles hat mit Begriffen wie Heimat und Identität zu tun. Vieles andere ist im Revier ja mittlerweile so ähnlich wie in anderen Gegenden. Aber eine Zechenlandschaft haben sie in München, Berlin, Hamburg oder Frankfurt eben nicht, ja noch nicht einmal im nahen und mental doch so fernen Düsseldorf.

Der Erhalt der Gebäude und möglichst vielfältiges neues Leben an diesen einstigen Stätten härtester Arbeit sind wichtige Aufgaben der Revierstädte und der Ruhrkohle AG (RAG), die über ihre millionenschwere Stiftung ja auch mancherlei technische „Ewigkeitskosten“ zu tragen hat, damit das von Bergsenkungen durchzogene Revier nicht „absäuft“.

Einige Gerüste wanderten von Stadt zu Stadt

Das Buch schließt mit einer schnellen „Bestandsaufnahme“ über alle noch existierenden Fördertürme – insgesamt 125, wenn ich richtig mitgezählt habe. Diesen Überblick hätte man sich noch ein wenig ausführlicher gewünscht.

Doch auch so lernt man im Schlussteil, dass im Gefolge des Bergbau-„Wanderzirkus'“ dieses oder jenes Fördergerüst schließlich noch den Ort gewechselt hat. So stand etwa das Wahrzeichen des Deutschen Bergbaumuseums Bochum einst an der Dortmunder Zeche Germania, während wiederum die heute an der Dortmunder Zeche Zollern II/IV“ aufragenden Türme früher zu Schachtanlagen in Gelsenkirchen bzw. Herne gehört haben. Aus heutiger Sicht nicht zu fassen: Die gesamte Zollern-Anlage, heute Zentrale des Westfälischen Industriemuseums, sollte ursprünglich komplett abgerissen werden. Deshalb fehlen die Original-Fördergerüste, denn der Akt der Barbarei hatte schon begonnen.

Rolf Arno Specht: „Kathedralen im Revier. Zechenlandschaft Ruhrgebiet“. Klartext Verlag, Essen. 176 Seiten Bildbandformat, Hardcover, durchgehend farbig. 24,95 Euro.




„Manapouri“ – Marcel Schwobs Briefe von einer Reise nach Samoa am Beginn des 20. Jahrhunderts

In den Jahren 1901/1902 unternahm der französische Schriftsteller Marcel Schwob (1867–1905) auf den Spuren des von ihm verehrten Robert Louis Stevenson eine Reise in die Südsee. Die Briefe, die er von dieser Seereise an seine geliebte Frau, die erfolgreiche Schauspielerin Marguerite Moreno, schrieb, wurden nun erstmals in deutscher Übersetzung im Elfenbein Verlag veröffentlicht.

In den Pariser Schriftstellerzirkeln der 1890er-Jahre um Stéphane Mallarmé, André Gide, Paul Valéry, Alfred Jarry, Paul Claudel, Colette und Jules Renard galt Marcel Schwob wegen seiner außergewöhnlichen Sprachbegabung, stilistischen Brillanz und enormen Belesenheit als eine große Hoffnung der französischen Literatur.

In der kurzen Zeit zwischen 1891 und 1896 veröffentlichte Schwob jährlich mindestens einen Band mit Erzählungen, die meisten im Verlag Mercure de France; er übersetzte Shakespeare, Defoe, De Quincey und auch die Erzählung „Will o‘ the Mill“ von Robert Louis Stevenson. Seine Entdeckerfreude erstreckte sich ebenso auf englischsprachige Literatur wie auf ältere französische Dichtung. Mit seinem Korrespondenzpartner Robert Louis Stevenson verband ihn unter anderem ein starkes biographisches Interesse an François Villon. Ab 1896 aber wurde Schwob zunehmend zum Opfer einer nicht eindeutig diagnostizierten Krankheit, die ihn in die Abhängigkeit von Morphium brachte. Viele, vor allem wissenschaftliche, Arbeiten blieben Fragmente.

Auf den Spuren von Robert Louis Stevenson

Einer seiner Ärzte riet ihm zu einer längeren Seereise. Wie Stevenson, der eingangs seines 1896 posthum veröffentlichten Werks In der Südsee große Erwartungen an das der Gesundheit zuträgliche Klima der pazifischen Inselwelt formulierte, setzte auch Schwob alle Hoffnung in die Heilkraft einer längeren Südseereise.

Im Oktober 1901 schiffte er sich in Marseille ein; die Reise führte über Port Said durch den Sueskanal nach Dschibuti und weiter über Ceylon, wo Schwob bei einem vierzehntägigen Aufenthalt Gelegenheit hatte, die von Henry Cave beschriebenen Ruinenstädte zu besichtigen, nach Australien. Sein chinesischer Begleiter Ting durfte den Kontinent erst nach Zahlung einer sehr hohen Kaution betreten, die Schwob nur mit Mühe auftreiben konnte, wodurch die Weiterreise hier bereits zu scheitern drohte. Die Begegnung mit dem eigenwilligen Kapitän Crawshaw ermöglicht schließlich, dass er mit dessen Schiff „Manapouri“ die Insel Upolu erreicht, den letzten Wohnsitz des bereits 1894 gestorbenen Robert Louis Stevenson in Samoa.

Mit Worten malen

Schwobs Briefe legen Zeugnis ab, welch einen elaborierten Stil er auch in der privaten Form pflegte. Sie waren nicht zur Veröffentlichung vorgesehen, eventuell aber vom Autor als Vorarbeiten zu einem noch zu schreibenden Werk gedacht, das dann jedoch nicht mehr zustande kam.

Die sich bei einer langen Seefahrt wiederholenden Motive – Meer, Horizont, Wolken, gelegentlich die Silhouette eines entfernt gelegenen Landes oder einer Insel – beschreibt Schwob nuanciert und ohne sich zu wiederholen. Seine Sprachmalereien dürften auch beim Übersetzen ins Deutsche eine Herausforderung dargestellt, dem guten Ergebnis nach zu urteilen aber auch den besonderen Reiz einer solchen Aufgabe ausgemacht haben.

„Die fliegenden Fische um uns herum“

Ein Beispiel: „Das flüssige Himmelsufer aus düsterem Blau wird da und dort von Grisailleflächen unterbrochen, finsteren Dunstklippen, bei denen es sich um äquatorialen Regen handelt. Wo kein Wind weht, weint der Himmel lautlos auf die Erde. Die nördliche und die südliche Welt vermischen sich in der Trauer ihrer Sterne. Am Äquator ist das Meer auf ewig traurig und von Regen zerfurcht.“

Das Wenige, was abgesehen vom gesellschaftlichen Leben an Bord passiert, wird zum Ereignis: „Und dabei schwirren die fliegenden Fische um uns herum wie Schmetterlinge. Ein feuchter und silbriger Strich schnellt hoch, gleitet in einem langen Kuss knapp übers Wasser. Zehn, zwanzig, dreißig springen auf, stechen winzige Strudel ins glatte Meer. Arme kleine Fische mit so schweren Flügeln, die einem freudlosen Himmel entgegenstreben. Und der Regen prasselt; und das Meer erschauert von seinem unzählbaren Lachen hinter schweren Tränen.“

Verehrung und Krankheit

In Apia, der Hauptstadt Samoas, wird Schwob freundlich aufgenommen. Er beginnt, Samoanisch zu lernen, erhält eine Einladung des alten Königs Mataafa, der von Robert Louis Stevenson in Eine Fußnote zur Geschichte. Acht Jahre Unruhen aus Samoa (1892; deutsch: Achilla Presse, Hamburg, 2001) unter Samoas zerstrittenen Herrscherfamilien mit besonderer Sympathie bedacht worden war; eine Kava-Zeremonie wird ausführlich beschrieben.

Wie Stevenson erhielt auch Schwob von den Einheimischen den Namen Tusitala – der Geschichtenerzähler. Doch statt der erwarteten Genesung von seiner Krankheit verschlimmert sich sein Zustand. Eine Lungenentzündung überlebt er, in einer Hütte der hingebungsvollen Pflege durch einen jungen Einheimischen überlassen, nur knapp.

Sorgfältige Edition

Stevensons letztes Wohnhaus und sein Grab auf dem nahe der Hauptstadt Apia gelegenen Mont Veae konnte Marcel Schwob wohl nicht mehr besuchen. Erneut ist es Kapitän Crawshaw mit seiner „Manapouri“, der ihm weiterhilft und seine Rückreise ermöglicht. Im März 1902 erreicht Marcel Schwob Marseille, knapp drei Jahre später starb er im Alter von 37 Jahren.

Die eindrucksvolle Reisebeschreibung wird in der deutschen Ausgabe durch Schwobs 1894 erstmals erschienenen Essay zu Robert Louis Stevenson und durch vier Briefe Stevensons an Schwob aus den Jahren 1889–1894 bereichert. Der Übersetzer und profunde Schwob-Kenner Gernot Krämer, der zuvor im selben Verlag zwei andere Werke des Autors veröffentlicht hat (Das gespaltene Herz, 2005, und Der Kinderkreuzzug, 2012) steuerte wertvolle Anmerkungen und ein informatives Nachwort bei. Zahlreiche zeitgenössische Foto-Dokumente der beschriebenen Schauplätze illustrieren die Briefe anschaulich. Das sorgfältig gestaltete Buch ist ein wertvolles Dokument über die Brieffreundschaft und Geistesverwandtschaft zweier besonderer Schriftsteller und ein weiteres Zeugnis über die literarische Meisterschaft Marcel Schwobs.

Marcel Schwob: „Manapouri“. Reise nach Samoa 1901/1902. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Gernot Krämer. Elfenbein Verlag, Berlin. Gebunden, 216 Seiten, 22 €.




Wie sich die chinesische Lyrik nach und nach von Fesseln befreite und endlich den Alltag entdeckte

Unser Gastautor Heinrich Peuckmann über chinesische Gegenwartslyrik und eine Begegnung mit einigen ihrer Urheber:

Wenn in Chinas Schulen Lyrik besprochen wird, sind es meist traditionelle Gedichte aus der Tang- (618-907 n. Chr.) und der Song-Dynastie (960-1279 n. Chr.). Dabei hätte die chinesische Gegenwartslyrik durchaus Beachtung verdient, hat sie doch in den letzten Jahren einen deutlichen Aufschwung genommen.

Der stilbildende Lyriker Ai Qing im Jahr 1929. (Foto: unbekannt / gemeinfrei - Link mit Lizenzangaben:)

Der stilbildende Lyriker Ai Qing im Jahr 1929. (Foto: unbekannt / gemeinfrei / Wikimedia Commons – Link mit Lizenzangaben: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ai_Qing_1929.jpg)

So viel Lyrikbände und Anthologien wie selten zuvor sind im vergangenen Jahrzehnt veröffentlicht worden. Wer hier allerdings spektakuläre Zahlen angesichts eines 1,35-Milliarden-Volkes erwartet, sieht sich schnell enttäuscht.

Etwa 80 Prozent der Chinesen sind Bauern, die meisten wohnen weit weg von den boomenden Städten. Vom Wirtschaftsaufschwung, der spürbaren Öffnung und dem Bildungshunger bekommen allenfalls einige ihrer Kinder etwas mit. 1000 Lyrikanthologien mit jeweils ein paar tausend verkauften Exemplaren, das sind auch für China respektable Zahlen. Übrigens nicht nur für Lyrikbände.

Annäherung an die Umgangssprache

Das gewachsene Interesse an der Gegenwartslyrik rührt zum Teil daher, dass sie den Lesern weit entgegenkommt, hat sie sich doch von traditionellen Formen und Inhalten gelöst und den Alltag entdeckt, so dass sich die Leser in ihnen wiederfinden.

Chinas Lyrik der letzten Jahrzehnte kann man grob in drei Etappen einteilen. Bis zur „Neue-Literatur-Bewegung“, die sich im Mai 1919 formierte, war die chinesische Lyrik formal und inhaltlich streng festgeschrieben. Beispiel ist hier die chinesische Reimform „Ch`e“ (auch „Tz´i“). Sie besteht aus zwei vierversigen Strophen mit vorgeschriebenem Reimschema, je Vers sieben Silben (ersatzweise auch Wörter), mit Bruch jeweils nach der vierten Silbe. Geschrieben in hohem Tonfall und festgelegter Metaphorik (etwa der gelbe Fluss als Bild für die Mutter).

Danach begannen sich die chinesischen Lyriker der Umgangssprache zu nähern und suchten nach neuen Metaphern, die dem Alltag der Menschen entnommen und folglich zeitaktuell waren. Unter den ausländischen Autoren waren Whitman oder Tagore Vorbilder.

Die Mauer und der Flug der Vögel

Ein weiteres Fortschreiten in diese Richtung erfolgte dann in den 50er Jahren in der Phase der „patriotisch-politischen Lyrik“, wie manche Chinesen diese Richtung nennen. Dichterkreise wie „Juli“ oder „Neun Blätter“ spielten eine wichtige Rolle. Der Sprachrhythmus wurde noch fließender, so dass Emotionen stärker zum Ausdruck gebracht werden konnten.

Dichter wie Ai Qing, Zang Ke-Jia, He Qi-Fang oder Tian Jian traten nun hervor. Insbesondere Ai Qing (Jahrgang 1910) hat der Gegenwartslyrik viele ästhetische Impulse gegeben, er zählt zu den wichtigsten chinesischen Lyrikern. Bei einem Besuch in Deutschland 1979 schrieb er u.a. ein Gedicht über das Geburtshaus von Karl Marx und eines über die Mauer in Berlin, die Ai Qing in bewegenden Bildern kritisierte:

…wie könnte sie
die Flüge der Vögel und den Gesang der Nachtigall verhindern?

Wie könnte sie
das fließende Wasser und die Luft aufhalten?

Wie könnte sie
die Gedanken von Hunderttausenden
freier als der Wind
ihren Willen fester als das Land
ihre Wünsche dauerhafter als die Zeit verhindern?

Als „rechte Elemente“ verfolgt

Schon diese Dichter hatten mit Verfolgung zu kämpfen. Gong Liu (Jg. 1927) zum Beispiel, der ein wunderschönes Vater-Gedicht schrieb, seinen Vater und alle Väter meinend, ein Gedicht,  in dem er den unermüdlichen Fleiß der Väter beschreibt, die doch in der langen Geschichte Chinas stets um den Lohn ihrer Arbeit gebracht wurden, Gong Liu also wurde in den 50er Jahren als „rechtes Element“ verurteilt, in den 80er Jahren aber rehabilitiert und begann dann wieder zu schreiben.

Ähnlich erging es Liu Shahe (Jg. 1931) und Shao Yanxiang (Jg. 1933), die in ihren Anfangsjahren mutig einen subjektiv-ehrlichen Ton gegen die vorherrschende Lob- und Preislyrik der fünfziger und sechziger Jahre setzten, die dafür verfolgt wurden und erst nach ihrer Rehabilitierung (stets Anfang der achtziger Jahre) ihre literarische Arbeit wieder aufnehmen konnten. Sie zeigten Mut und Konsequenz, die Respekt abnötigen.

Monlonliteratur setzt auf Subjektivität

Insgesamt kann man den Trend der chinesischen Lyrik als Entwicklung zu immer mehr Subjektivität im Inhalt, zu immer stärkerer Anknüpfung an die Umgangssprache im Formalen bewerten. Die letzte der drei Etappen wird Monlonliteratur genannt. Monlon bedeutet „verschwommen“.  Es wird also bewusst auf das Vage, Nicht-Eindeutige, auf das Andeutende gesetzt, auf starke Subjektivität also. Sie ist ganz sicher eine Reaktion auf die zerstörerische Kulturrevolution, auf den politischen Druck und hatte ihren Ursprung in der  sogenannten „Schubladenliteratur“, die während der Kulturrevolution geschrieben, aber erst nach deren Ende und vor allem nach Maos Tod 1976 veröffentlicht werden durfte.

Der Lyriker Bei Dao im Jahr 2010 auf dem Freiheitsplatz in Tallinn/Estland. (Foto: Avjoska / Link zur Lizenz:

Auch bei uns bekannt: der Lyriker Bei Dao im Jahr 2010 – auf dem Freiheitsplatz in Tallinn/Estland. (Foto: Avjoska / Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/)

Mühsam mussten sich Chinas Schriftsteller danach den Anschluss an die Moderne erarbeiteten. Ganz, so urteilte der Bonner Sinologe Alfred Kubin in einem Vortrag vor einigen Jahren in Shanghai, sei ihr das bis heute nicht gelungen. Die chinesische Literatur sei immer noch sinozentristisch, urteilte er.

Chinas Schriftsteller, unter anderem der stellvertretende Vorsitzende des Schriftstellerverbands Chen Zhong Shi, dessen berühmten Roman „Bai Lu Yuan“, in dem er am Beispiel eines Dorfes Chinas jüngste Geschichte erzählt, jeder Chinese kennt, zeigten Betroffenheit. Kubin hatte etwas angesprochen, das auch Chen Zhong Shi sehr zu denken gab. Es ist eine Lücke, die teilweise den Autoren, zum großen Teil aber den politischen Umständen anzulasten ist.

Bei Dao (Jg. 1949), Gu Cheng (Jg. 1956), Shu Ting (Jg. 1952) und Jiang He (d.i. Yu Youze, Jg. 1949) sind wichtige Namen dieser Richtung. Diese Lyrik hat im heutigen China, das sich vergleichsweise weit geöffnet hat, auch offizielle Anerkennung gefunden. Gu Cheng und Shu Ting beispielsweise bekamen für ihre Lyrikbände Preise des Schriftstellerverbands.

Von allen ist in Deutschland vermutlich Bei Dao der bekannsteste. Von ihm daher der Auszug aus einem Gedicht:

Der Akkord

Der Wald und ich
umkreisen eng den kleinen See
Die Hand ins Wasser getaucht
stört der Möwe tief sinnende Augen
Der Wald einsam und allein
Das Meer weit entfernt

Ich gehe auf die Straße
Der Lärm wird zurückgehalten hinter dem Rot
Der Schatten breitet sich
fächerartig aus
Die Fußstapfen schief und schräg
Die Verkehrsinsel einsam und allein
Das Meer weit entfernt…

Chinesisch-deutsches Treffen in Xi’an

Zwischen bundesdeutschen Schriftstellern und jüngeren Vertretern der Monlonliteratur gab es 1993 in Xi´an eine hochinteressante Begegnung. Über den Hintereingang kamen die chinesischen Schriftsteller ins Hotel, es war ein kalter Wintertag, sie trugen zwei Hosen übereinander, wie es manche Chinesen damals im Winter machten, weil sie zu Hause nicht genügend heizen konnten.

Shen Qi, Lyriker und Hochschullehrer, Yi Sha, ein damals etwas dicklicher junger Mann, Chefredakteur einer Hochschulzeitung und als avantgardistischer Schriftsteller in der Provinz Shaanxi durchaus bekannt, dazu der junge Lyriker Jiang Tao suchten das Gespräch mit den deutschen Kollegen.

Ein Covergirl als Tarnung

Während Tee getrunken wurde, erzählten die chinesischen Lyriker, dass sie die Untergrundzeitung “Genesis“ herausgaben, die von Auslandschinesen finanziert wurde, aber nicht offiziell zu kaufen war, sondern an Abonnenten per Post verschickt wurde. Um ihre Zeitschrift weiter zu tarnen, setzten sie ein Covergirl auf das Umschlagbild, so dass man nicht gleich merken konnte, dass es sich um eine Zeitschrift mit zeitkritischen Monlon-Gedichten handelte.

Sie betonten all die oben beschriebenen Elemente, die die neue chinesische Lyrik auszeichneten, wie die Abkehr von formaler Strenge und die Annäherung an die Alltagssprache. Damals waren sie gerade dabei, die europäische Literatur des Absurden wie etwa Beckett für sich zu entdecken, und die bundesdeutschen Autoren spürten, wie weit sie von den herrschenden Strömungen entfernt waren.

Harndrang über dem Gelben Fluss

Die chinesischen Autoren selbst spürten das auch, baten um Verständnis und erzählten, dass sie, um die Lücken schneller aufarbeiten zu können, in Gruppen zusammenarbeiteten. Dort könnten sie durch Austausch schneller lernen. Gerne würden sie sich auch zu gemeinsamen Spaziergängen verabreden, weil sie dabei am ungestörtesten (gemeint war wohl auch: am sichersten) miteinander reden konnten. Sie legten weniger Wert darauf, gedruckt zu werden, sondern wollten über Lesungen ihre Literatur verbreiten, um so eine direkte Wirkung zu erzielen.

Zum Schluss las damals Yi Sha zwei seiner Gedichte vor, eines, bei dem er stotterte (eine krasse Anlehnung an die gesprochene Sprache), ein weiteres, in dem der Gelbe Fluss auftauchte, in der alten chinesischen Lyrik das Bild für die Mutter. Bei Yi Sha aber war das anders, denn er schilderte eine Zugfahrt und gerade in jenem Moment, als der Zug die Brücke über den Gelben Fluss befährt, muss das lyrische Ich zur Toilette und pinkeln. Drastischer konnte er sich nicht von der alten Metaphorik und ihrem Pathos absetzen. Inzwischen ist er längst ein bekannter Dichter in China. Unter seinem richtigen Namen Wu Wenjian arbeitet er als Professor an der Fremdsprachenuniversität Xisu in Xi´an.




Prägende Gestalt der Nachkriegs-Jahrzehnte: Vor 100 Jahren wurde der Schriftsteller Heinrich Böll geboren

 „Freiheit wird nie geschenkt, immer nur gewonnen“ (Heinrich Böll)

Heinrich Böll 1983 bei einer Pressekonferenz in Heerlen/Niederlande. (Foto: Marcel Antonisse / Anefo - Nationaal Archief, NL - Wikimedia Commons) Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Heinrich Böll 1983 bei einer Pressekonferenz in Heerlen/Niederlande. (Foto: Marcel Antonisse / Anefo – Nationaal Archief, NL – Wikimedia Commons) Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Seine Erzählungen und Romane prägten die Literatur der jungen Bundesrepublik, sein politisches Engagement ließ ihn zum Feindbild und Hoffnungsträger werden. Am 21. Dezember 1917 kam in Köln einer der bedeutendsten Schriftsteller deutscher Sprache zur Welt: Heinrich Böll.

Bölls 100. Geburtstag wurde in diesem Herbst mit Lesungen, Ausstellungen, Tagungen und Neuausgaben seiner Werke begangen. Beim Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen unter dem Titel „Man möchte manchmal wimmern wie ein Kind“ Bölls bisher unbekannte Kriegstagebücher aus den Jahren 1943 bis 1945. Knapp und stellenweise geradezu lyrisch notierte Böll darin, was ihn in den letzten Kriegsjahren quälte und am Leben hielt. Stichwortartig hielt er hier fest, was den einzelnen Tag innerhalb der grausamen Kriegsroutine an der Front zu etwas Besonderem machte. Aber man kann auch ahnen, wie die Erlebnisse in den Schützengräben der Front den jungen Heinrich Böll traumatisierten.

Kaum einen Schüler gibt es im Nachkriegsdeutschland, der nicht mit seinen Werken konfrontiert wurde, etwa mit der bissigen Groteske „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ oder mit „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“. Nach sieben Jahren Arbeitsdienst, Krieg und Gefangenschaft hatte Heinrich Böll einen illusionslosen, oft schmerzhaften Blick auf die deutsche Gesellschaft der Nachkriegszeit. Wie die Menschen den Aufbruch in eine neue Zeit erkauften, indem sie die Schrecken von Krieg und Nazi-Herrschaft verdrängten, ließ ihm keine Ruhe.

Gegen den Konformismus in der jungen Republik

Bölls Kriegstagebücher sind zum 100. Geburtstag erschienen. Cover: Kiepenheuer & Witsch

Bölls Kriegstagebücher sind zum 100. Geburtstag erschienen. (Cover: Kiepenheuer & Witsch)

Böll hatte viel Verständnis für die „kleinen Leute“, denen er literarisch und in zahllosen Vorträgen und Reden eine Stimme lieh. Aber ihre geistige Enge, Geschichtsvergessenheit und bigotte Moral lehnte er ebenso deutlich ab. In den Außenseiter-Figuren seiner Bücher, die vom Krieg geprägt waren und die schrecklichen Jahre nicht vergessen konnten, spiegelt sich der Autor selbst: Die Menschen, die sich eilfertig dem beginnenden Wirtschaftswunder anpassten, betrachtete er mit tiefer Skepsis.

Bölls Auftritt bei der „Gruppe 47“ verschaffte ihm einen Autorenvertrag, der ihn von seinen bisherigen Aushilfstätigkeiten unabhängig machte. In schneller Folge erschienen nun Werke wie „Wo warst du, Adam?“ (1951), „Und sagte kein einziges Wort“ (1953) bis hin zum in zahllosen Auflagen nachgedruckten Bestseller „Irisches Tagebuch“ (1957). Als sein wichtigster Roman gilt „Gruppenbild mit Dame“, in dem er 1971 ein Panorama der schicksalhaften Jahre von 1922 bis 1970 entwirft.

Böll, eher ein scheuer, zurückhaltender Mensch, geriet so in Opposition zu den herrschenden gesellschaftlichen Leitbildern, die ihm Schmähungen und Feindschaften einbrachte. 1972 griff er die Springer-Presse wegen ihrer Berichterstattung über die RAF-Terroristin Ulrike Meinhof scharf an. Daraufhin musste Böll eine Hausdurchsuchung über sich ergehen lassen und wurde als geistiger Sympathisant des Terrorismus verunglimpft. Kritik übte der bekennende Katholik Böll auch an seiner Kirche, die er 1976 demonstrativ verließ, ohne sich vom Glauben abzuwenden.

Literarisch verarbeitete Gegenwart

In den bedeutenden Werken der siebziger Jahre, „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ oder „Fürsorgliche Belagerung“, sind die turbulenten Jahre der deutschen Gegenwart von damals literarisch verarbeitet. „Einmischung ist die einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben“, ein bekanntes Zitat Bölls, prägte sein Leben.

Der moralisch-katholisch geprägte Denker fand sich in der politischen Opposition, die er mit einer aus tiefem Misstrauen gegen Obrigkeiten und Autoritäten gespeisten Leidenschaft unterstützte. Ob in Reisen in die Tschechoslowakei, wo er 1968 das Ende des Prager Frühlings erleben musste, ob bei Besuchen in der Sowjetunion oder in Lateinamerika oder bei Demos der Friedensbewegung: Böll mischte sich ein, wurde zu einem der bekanntesten Köpfe des linken Widerstands in der Bundesrepublik.

Cover: Kiepenheuer & Witsch

Neue Böll-Biographie (Cover: Kiepenheuer & Witsch)

Nach dem Tod Heinrich Bölls am 16. Juli 1985, vor allem aber in den letzten zwanzig Jahren, scheint es stiller geworden zu sein um sein literarisches Erbe. In den achtziger Jahren war sein moralischer, antiautoritärer Impetus – wie ihn der Literaturkritiker Helmut Böttiger beschreibt – gesellschaftlich nicht mehr gefragt.

Sein 100. Geburtstag könnte den Literaturnobelpreisträger von 1972 wieder in Erinnerung rufen und sein Schaffen auf aktuelle Bezüge hin befragen. Dazu zählen nicht nur die frühen, der „Trümmerliteratur“ zugeordneten Werke wie „Wanderer, kommst du nach Spa…“ von 1950 oder die Kriegserzählung „Der Zug war pünktlich“. Seine genauen Analysen der Gesellschaft der Nachkriegszeit würden wohl auch Mentalitäten und Denkmuster zutage fördern, denen wir heute (wieder) begegnen.

Aus Anlass von Heinrich Bölls 100. Geburtstag erschien bei Kiepenheuer & Witsch die Biografie des Böll-Spezialisten Ralf Schnell: „Heinrich Böll und die Deutschen“. Im Theiss Verlag publiziert Jochen Schubert, Mitarbeiter der Heinrich Böll Stiftung, eine Biografie, die sich auch auf unveröffentlichte Quellen und Fotos stützt. Der Deutsche Taschenbuch Verlag (dtv) legt fünf Schlüsselwerke in einheitlich gestaltetem Einband neu auf.




Abscheu vor dem Krieg – Heinrich Bölls Front-Tagebücher

Wenn man den Titel liest „Kriegstagebücher von 1943 bis 1945“ und der Autor den Namen Heinrich Böll trägt, dann mag man als Leser ein Werk erwarten, in dem der Literaturnobelpreisträger, der am heutigen 21. Dezember 100 Jahre geworden wäre, den Widersinn und das Grauen des Krieges wortmächtig zur Sprache bringt.

Doch wer den Band, den jetzt sein Sohn René Böll herausgegeben hat, zur Hand nimmt, wird schon nach wenigen Seiten feststellen, dass es sich fast ausnahmslos um kurze Notizen und Bemerkungen handelt, mitunter ist es nur eine Zeile oder ein einziges Wort, das Heinrich Böll an einem Tag niedergeschrieben hat. Gleichwohl erlauben die Eintragungen einen Einblick in das Seelenleben eines Soldaten, der bei Kriegsbeginn 21 Jahre alt war.

Die drei von insgesamt sechs Kriegstagebüchern (die übrigen sind verschollen) hat der gebürtige Kölner dann ab den Zeiten geführt, als er erstmals in den Osten verlegt wurde. Bis dahin hatte ihn der Kriegsdienst über Osnabrück in die Niederlande und nach Frankreich geführt. In der Schreibstube, in Werkstätten und auf dem Kasernengelände war aber die Front weit entfernt. Das sollte sich im Herbst 1943 ändern, als er zunächst auf der Krim, später in Transnistrien und danach in Rumänien eingesetzt wurde.

Schon gleich zu Beginn bringt er in dem Tagebuch seine ihn bedrückenden Gefühle zum Ausdruck, schreibt er beispielsweise von „der absoluten Verlorenheit der Infanterie“. Aus anderen, ganz knappen Eintragungen wird das Elend deutlich, das ihn umgibt: „Blut Dreck, Schweiß und Elend: Das Gejammer der Verwundeten und Sterbenden, der Platz beim Essenholen.“

Wie schwierig und lebensgefährlich es war, überhaupt an Essen zu kommen, weil man auf dem Weg dorthin von einer Granate getroffen werden konnte, lässt sich aus Bölls Bemerkungen ganz deutlich herauslesen. Häufig spricht er von seinem eigenen Leiden, von Nächten, in denen er keinen Schlaf findet, beklagt sich über die Läuse, die ihn immer wieder heimsuchen. Manches erscheint auch wie ein Ausruf, wenn es heißt „diese entsetzlichen Stukas.“ Das Wort Arzt versieht Böll an einer Stelle mit Ausrufe- und Fragezeichen, denn der Schriftsteller wurde mehrfach während des Krieges schwer verletzt.

Ganz häufig taucht auch der Eintrag „Gott“ auf, den er um Hilfe bittet oder dessen Existenz er hervorhebt. Bekanntlich hatte Heinrich Böll ein sehr kritisches Verhältnis zur katholischen Kirche, verstand sich aber durchaus als ein gläubiger Mensch. Noch viel öfter aber schreibt er – in großen Lettern – den Namen seiner Frau Anne-Marie, die er auf einem Heimaturlaub 1942 heiratete. Sie ist, wie es Böll zum Ausdruck bringt, „sein Leben“ und dem kleinen Heft vertraut er auch an, wie sehnsüchtig er sie vermisst.

Die Gedanken an Anne-Marie geben ihm ganz offensichtlich Kraft, die Grausamkeit des Krieges zu ertragen, die Böll aber nicht nur auf der Krim erlebt. Auch später, als er nach Rumänien kommt, hält sein Entsetzen über das brutale Geschehen an, Worte wie „Jammer, Blut, Feuer, Not, Dreck und Elend“ sprechen für sich. Eine Gegenwelt scheinen ihm seine Träume zu bieten, die er ganz offenherzig schildert, vom Auswandern phantasiert oder gemeinsam mit seinem Bruder unterwegs ist und badende Mädchen trifft.

Die Qualen der Realität holen Böll schnell wieder ein, durch seine Verletzungen ist er gesundheitlich schwer angeschlagen. Er kann zwar zwischenzeitlich wieder nach Köln und zu seiner Frau zurückkehren, doch eben nur für wenige Wochen. Als er zu Ende des Krieges in Gefangenschaft gerät, muss er einmal mehr großes Leid ertragen: „Hitze, Elend, Kälte, Hunger“ notiert er in sein Tagebuch, das der einstige Germanistikstudent so lange führt, bis er am 15. September 1945 im Bonner Hofgarten aus der Gefangenschaft entlassen wird.

Sicherlich stellt sich die Frage, ob diese Tagebücher, die Heinrich Böll seiner Familie überlassen hat, neue Erkenntnisse über das Leben und das Werk des bedeutenden Schriftstellers erbringen. Eine eindeutige Antwort zu geben erscheint durchaus schwierig, aber eines lässt sich gewiss festhalten: Schon in jungen Jahren hat Heinrich Böll Abscheu gegenüber dem Krieg zum Ausdruck gebracht und durch seinen Einsatz an der Front wusste er, wovon er sprach.

Heinrich Böll: „Man möchte manchmal weinen wie ein Kind. Die Kriegstagebücher 1943 bis 1945“. Kiepenheuer & Witsch, Köln. 352 Seiten, 22,00 Euro.




Irrwitz grinst aus jeder Zeile – Schelmische Kurztexte von Guido Rohm liegen „An und Pfirsich“ als Buch vor

Dies vorausgeschickt: Den Autor Guido Rohm aus Fulda kenne ich durch Facebook, ich bin dort virtuell mit ihm befreundet. Aha, dann ist dies also eine abgekartete Gefälligkeits-Besprechung?! Nicht ganz.

Guido Rohm ist einer, auf dessen schelmisches Schaffen in gewisser Weise Brechts Satz zutrifft: „In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen“. Bei ihm kann man eigentlich keine einzige Zeile für bare Münze nehmen, so unablässig beliebt er alles in vielen Windungen zu verdrehen und quasi zuschanden zu scherzen. Aber hallo!

Sinnzerstäubende Dramolette

Mit dem Band „An und Pfirsich“ (der Titel hätte ein originelleres Sprachspiel verdient) hat er jetzt „Texte für alle 117 Tage des Jahres“ vorlegt. Jaja, so isser. Selbst Vita oder Klappentext („Guido Rohm, der Erfinder des gleichnamigen Küchengeräts“) sind allemal lustig erstunken und erlogen.

Der satirisch gestählte „Eulenspiegel“-Mitarbeiter Rohm hat’s hier vor allem mit Dramoletten, also kurzen Dialogfolgen, bei denen kein Wort auf dem anderen bleibt und jeder landesübliche Sinn zerstäubt. In welcher Tradition er damit stehen könnte (vornehmlich Dada? Karl Valentin? Loriot? Gernhardt & Kumpanen? Monty Python?), wollen wir hier nicht weiter erörtern. Sucht euch was aus. Dies und das passt vielleicht. Doch manchmal ist Guido Rohm einfach nur albern. Auch gut.

Dialoge schrauben sich ins Leere

Da liest man abstruse Beziehungs- und Trennungs-„Gespräche“, falls man die stets ins Leere drehende Nicht-Kommunikation denn so nennen mag. Da gibt’s eine TV-Sendung, in der lediglich jemand begrüßt wird (nach dem „Guten Tag“ ist auch schon Schluss). Ganoven treffen irrwitzig unlogische Absprachen oder räumen lieber die Einbruchswohnung nach ihrem erlesenen Geschmack um, statt dort etwas zu klauen.

Ein unverschämter Schnorrer luchst den Leuten teure Fahrkarten ab, ein Schriftsteller verfasst nur Postkarten und braucht Tage für einen Satz. Überhaupt geht es auf dem Buchmarkt drunter und drüber, ein fiktiver Verlag druckt beispielsweise nur Vorschauen (rund 1700 an der Zahl) – und keine Bücher. Derweil sind Beerdigungen oftmals für hämisches Gelächter gut, über die Toten nur Fieses… Und was Kommissar Tourette (nomen est omen) so von sich gibt, wollen wir hier lieber nicht zitieren.

Abwärts mit Demotivationstrainerin Birgit

Manches ergibt sich, weil Sachverhalte allzu wörtlich genommen werden, so etwa, wenn jemand lauter Hamster kauft, in der Annahme, er habe damit die Hamsterkäufe erledigt, von denen alle sprechen. Oder: Das Restaurant „Napoli“ liefert den Tisch, den man „bestellt“ hat, schnurstracks nach Hause. Missverständnisse, wohin man auch blickt. Die thematischen Vorgaben hören sich vielleicht simpel an, aber auf die „verrückten“ Dialoge, die daraus erwachsen, muss man erst einmal kommen.

Tja, und dann wäre da noch die „Demotivationstrainerin Birgit“, eine herbe Antwort auf alle bodenlos optimistischen Coaches dieser Welt. Sie bringt einen gezielt ‚runter, predigt „pure Lebensunlust“ und hat auch sonst feste Prinzipien: „Sag dir jeden Tag: Ich schaffe das nicht.“ Oder: „Es wird alles noch viel schlimmer.“ Wer danach keine nachhaltig schlechte Laune hat, dem ist wirklich nicht zu helfen.

Die Lektüre klug dosieren

Kurz und gut: Alles, aber auch wirklich alles wird auf irrlichternde Weise ad absurdum geführt, jede Alltags-Situation verbal verzwirbelt. Bei Facebook, wo Guido Rohm seine sprühenden Einfälle tagtäglich ausprobiert, ist das in munteren Perspektivenwechseln immer wieder erheiternd und zuweilen erhellend. Auf Buchlänge kann es zwischendurch stellenweise schon mal genug sein. Wer will, mag den Band also nach und nach in wohldosierten Portionen lesen, um das Vergnügen nicht zu schmälern.

Ach so, ja: Gar hübsch wäre es übrigens gewesen, den einen oder anderen Text noch etwas sorgfältiger zu redigieren. (Rezensent geht mosernd, aber freundlich winkend ab).

Guido Rohm: „An und Pfirsich. Texte für alle 117 Tage des Jahres“. Taschenbuch im Schrägverlag, 86949 Windach. 200 Seiten, 11,77 Euro. (Vertrieb ohne ISBN über den Verlagsshop).




Große Autoren im kleinen Format, eine Fleißarbeit und ein Ärgernis – Buchvorstellungen, nicht nur für die Weihnachtszeit

Bitte um die geschätzte Aufmerksamkeit: Es folgen sechs kompakte Buchvorstellungen – vor allem für versierte Vielleser(innen) mit weiter reichenden Interessen und gehobenen Ansprüchen. Es sind übrigens nicht durchweg Neuerscheinungen, denn dieses saisonale Gehechel, bei dem nach einem halben Jahr die allermeisten Bücher schon aufgegeben und als Remittenden behandelt werden, nervt zusehends.

Zu Beginn ein kleines Bekenntnis in Sachen einer gar nicht so bedeutungslosen Äußerlichkeit: Schon immer habe ich das besondere Klassiker-Format des Zürcher Manesse-Verlages gemocht. Die Bände mit den kleinen Maßen 9,8 mal 15,5 Zentimeter liegen wunderbar in der Hand und sind stets solide bis liebevoll ausgestattet.

Von den Texten ganz zu schweigen. Nehmen wir nur die Neuerscheinung von Essays des unsterblichen Dichters Charles Baudelaire. Die von Melanie Walz aus dem Französischen übersetzte Auswahl enthält luzide Ausführungen etwas zur damals noch unerhörten und heftigst umstrittenen Musik Richard Wagners, zu Flauberts Roman „Madame Bovary“, aber auch ganz handfeste „Ratschläge für junge Literaten“ oder eine Abhandlung über Kinderspielzeug – und natürlich ebenso kluge wie sinnliche Gedanken über die Liebe. Das alles in einem funkelnden Stil, der sich auch noch in der deutschen Übertragung mitteilt.

Ein Gipfelglück des Buches ist jener sozusagen süffige Vergleich zwischen zwei Rauschmitteln,  der dem Band den verlockenden Titel gegeben hat: „Wein und Haschisch“. Wir wollen hier nicht verraten, welchem der beiden Mittel Baudelaire den Vorzug gibt. Man kann es sich freilich auch so denken. Und es ist auch beinahe zweitrangig, angesichts der kundigen und inspirierten Beschreibungen von Zuständen, in die einen Wein und Haschisch versetzen können. Baudelaire erweist sich abermals als erfahrene Fachkraft für Räusche aller Art. Auch Wagners Musik zählt ja für ihn gleichsam zu den berauschenden Substanzen.

Das Büchlein macht einen geradezu kostbaren Eindruck, als stamme es aus früheren Zeiten und leicht dekadenten Zusammenhängen, als hätte es gar zu Baudelaires Tagen auf dem oder jenem Tisch liegen können. Der Einband ist tatsächlich mit handschmeichlerischem Samt überzogen, wodurch er freilich auch ein bibliophiler Staub- und Flusenfänger von spezieller Güte ist. Irgend etwas ist halt immer.

Charles Baudelaire: „Wein und Haschisch“. Essays. Übersetzt von Melanie Walz. Nachwort von Tilman Krause. Manesse-Verlag, Zürich. 224 Seiten, 22,95 Euro.

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Weil ich mich bei der Baudelaire-Lektüre gerade wieder so schön ans Manesse-Format gewöhnt habe, reiche ich gleich noch einen Klassiker nach, der dort (schon vor einiger Zeit) ebenfalls erschienen ist: „Das Buch der Snobs“ von William Makepeace Thackeray, das selbstverständlich in England verfasste, unerreichte Standardwerk zu diesem Thema schlechthin.

Thackeray (1811-1863), bekanntlich auch Autor des einschlägigen Romans „Jahrmarkt der Eitelkeiten“ (und der legendären Satirezeitschrift „Punch“), war ein Meister der trefflich-süffisanten Gesellschafts-Beobachtungen. Und siehe da: So manches, was er den Snobs seiner Zeit abgelauscht hat, findet man – unter veränderten Vorzeichen – auch heute noch wieder. Manches gesellschaftliche Gehabe ist eben nicht nur zeitbedingt, sondern gehört ganz offenkundig zur menschlichen Grundausstattung; zumindest im bürgerlichen Kontext.

Trotzdem versteht sich natürlich längst nicht jede Bemerkung oder Anspielung Thackerays für uns Heutige von selbst. Der von Gisbert Haefs sehr geschmeidig übersetzte Band ist denn auch mit etlichen Anmerkungen versehen, die manchen höheren und tieferen Sinn erst so recht erschließen.

William Makepeace Thackeray: „Das Buch der Snobs“. Übersetzt von Gisbert Haefs. Manesse Verlag, Zürich. 464 Seiten, 22,95 Euro.

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Wenn wir schon mal in Zürich sind, können wir auch gleich „nebenan“ beim Diogenes-Verlag vorbeischauen, der zuweilen ebenfalls das kleine Buchformat pflegt – beispielsweise mit einem jetzt noch einmal in neu bearbeiteter Übersetzung vorgelegten Band von Voltaire. „Stürmischer als das Meer“ versammelt die Briefe des Franzosen aus dem erzwungenen englischen Exil.

Die insgesamt 25 philosophischen und politischen Briefe, in denen Voltaire eine kritische Außenansicht auf Frankreich wagt, wurden in Paris bei Erscheinen in Buchform sofort verboten und verbrannt.

Aus englischer Perspektive, wo die gesellschaftlichen Verhältnisse seinerzeit schon ungleich moderner waren  als im Ancien Régime, hat Voltaire mit machtvollen Worten an den Grundfesten der französischen Gesellschaft gerüttelt. Es waren nicht zuletzt diese Briefe, die die Französische Revolution geistig angestoßen haben.

Das thematische Spektrum zeugt von Voltaires regem Interesse an mancherlei Phänomenen. So handeln die Briefe vom Regieren, vom Parlamentarismus, von Wirtschaft und vom anglikanischen Glauben, sie befassen sich mit den Ideen von Locke, Descartes, Pascal und Newton, keineswegs nur in geistesgeschichtlicher, sondern auch in naturwissenschaftlicher Hinsicht. Tragödie und Komödie im Theater werden ebenso besehen wie die Zustände an den Akademien. Auch hat der umtriebige Denker Voltaire eine briefliche Abhandlung mit dem Titel „Vom Unendlichen und der Zeitrechnung“ verfasst.

Voltaire: „Stürmischer als das Meer“. Briefe aus England. Übersetzung und Nachwort Rudolf von Bitter. Diogenes-Verlag, Zürich. 224 Seiten, 14,99 Euro.

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Damit wären die buchhändlerischen Kleinformate aber nun abgetan? Nichts da! Auch im Kunstmann-Verlag erscheinen derlei griffige Editionen, zum Exempel Gedichte von F. W. Bernstein, der vor allem mit Robert Gernhardt und F.K. Waechter selig die legendäre „Neue Frankfurter Schule“ des parodistischen Humors bildete. Das grandiose Trio steigerte sich mit „WimS“ („Welt im Spiegel“, Beilage der Satirezeitschrift „Pardon“) in wunderbaren Nonsens hinein, den man bis dahin in Deutschland nicht kannte. Bernstein höchstpersönlich verdanken wir beispielsweise auch den unverwüstlichen Zweizeiler: „Die schärfsten Kritiker der Elche / waren früher selber welche.“

Als „Mein Programm“ stellt Bernstein (bürgerlich: Fritz Weigle) seiner Gedichtsammlung diese Zeilen voran: „Ihr sucht / Verse von schnatternder Wucht? / Ihr findet sie hier: / Alle von mir“.

Bei Bernstein kommt unter Garantie niemals auch nur die Spur von Pathos oder Weihe auf. Ein hoher Ton wird nicht geduldet. Kein Thema ist ihm zu gering. Vieles wird auf die elementaren Dinge des Alltags zurückgestutzt, gepflegter Nonsens liegt dabei stets auf der Lauer. Markantes Zitat: „Sinnverlust ist Lustgewinn“.

Unter dem Titel „So möcht ich dichten können“ heißt es über ein in diesem Sinne offenbar vorbildliches Oktett von Mendelssohn: „Das geht so froh über alle Zäune und umhuscht all / die üblen Möbel, die in der Lyrik herumstehen: / Tiefentisch, Bedeutungshocker, Sesselernst, / das Symbolbüffet, das Vertiko für Relevanzen“.

Kein Wunder, dass sich Bernstein gerade an Rilke reibt, der nicht einmal über Wurzelbürsten gedichtet habe. Auch Büstenhalter, Hosenträger und Wasserhähne habe kein Dichterfürst gebührend besungen. Rilke wird derweil so ernüchtert parodiert: „Wer jetzt kein Geld hat, der kriegt keines mehr.“ Rilke also ganz und gar nicht. Hingegen könnte man meinen, bei Bernstein zuweilen einen leisen Nachklang von Heinrich Heine zu vernehmen. Nein? Na, dann eben nicht.

Der Mann gibt sich jedenfalls so nonchalant, dass manche es stellenweise für Larifari halten mögen. Doch dahinter verbirgt sich bei näherem Hinsehen und Hinhören ungleich mehr, melancholisches Leiden am Zustand der Welt inbegriffen. Apropos: „Weltende“ klingt bei Bernstein so gar nicht gravitätisch: „Die Zeit ist um. Es ist so weit. / Wir sind schon in der Nachspielzeit. / Schlusspfiff! Jetzt wird auferstanden! / Skelette raus, soweit vorhanden; / auf die Bühne zum Finale! / Weltgericht!“

Doch er kann es auch zum Heulen schön und anrührend. Man lese sein bewusst schmuckloses „Nachruf“-Gedicht zum Tod von Robert Gernhardt – und schweige andächtig still.

F.W. Bernstein: „Frische Gedichte“. Verlag Antje Kunstmann, München. 208 Seiten, 18 Euro.

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Nun aber zu einem ganz anderen Format, das – rein physisch gesprochen – einiges mehr auf die Waage bringt: „Vagabunden“ von Beate Althammer ist mit eng bedruckten 716 Seiten eine (kultur)historische Fleißarbeit mit umfassendem wissenschaftlichem Anspruch. Dem etwas umständlichen Untertitel zufolge wird die „Geschichte von Armut, Bettel und Mobilität im Zeitalter der Industrialisierung (1815-1933)“ aufgearbeitet.

Von der Titelseite abgesehen, hat man (leider) auf historische Illustrationen verzichtet, nur ein paar wenige Tabellen lockern den Text unwesentlich auf. Man kann mit Fug von einer „Bleiwüste“ sprechen, die wohl eher ein eh schon fachkundiges Publikum ansprechen wird.

Mobilität gilt heute als eine Voraussetzung für beruflichen Erfolg und Karriere. Hier allerdings geht es um größtenteils erzwungene Mobilität als Armuts-Phänomen, das oftmals kriminalisiert und mit Repression bekämpft wurde.

Andererseits prägten gewisse Formen des Vagantentums auch antibürgerliche Freiheitsvorstellungen. Überdies erwies sich das wechselnde Terrain der Vagabunden als weites Feld für frühe sozialpolitische Versuche der Eingrenzung. Dass sich dieser Themenkreis auch heute noch längst nicht „erledigt“ hat, kann man Tag für Tag in unseren Städten sehen.

Beate Althammer ist ausgewiesene Spezialistin auf dem erwähnten Gebiet. Von ihr und Christina Gerstenmayer gemeinsam herausgegeben, liegt – ebenfalls im Klartext Verlag – seit 2013 die Quellenedition „Bettler und Vaganten in der Neuzeit“ (1500-1933) vor. Hier ist das Wort „Gründlichkeit“ wahrhaftig angebracht.

Beate Althammer: „Vagabunden.“ Klartext Verlag, Essen. 716 Seiten, Paperback, 34,95 Euro.

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So. Jetzt haben wir uns mit Klassikern und einer geschichtswissenschaftlichen Arbeit vorwiegend in der Vergangenheit bewegt. Wie wär’s denn mit noch einigen Prisen Gegenwart, die schon im Buchtitel verheißen werden?

Nun, auch diese Gegenwart ist nur bedingt heutig zu nennen, denn der oft so umstrittene französische Schriftsteller Michel Houellebecq begibt sich diesmal auf eine ziemlich sichere Seite, hat er sich doch mit dem deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer auseinandergesetzt oder richtiger: Er hat einige von dessen Gedanken nachvollzogen.

Da haben wir also wieder eine womöglich produktive geistige Annährung zwischen  beiden Ländern – weiter oben war von Baudelaire und Wagner die Rede, diesmal sind es eben Houellebecq und Schopenhauer.

Und jetzt wird geschimpft: In dem eh schon sehr schmalen Band stammt geschätzt beinahe die Hälfte des gesamten Textes von… Schopenhauer. Seite um Seite zitiert Houellebecq – kursiv gedruckt – aus dessen Werken und paraphrasiert sodann in vergleichbarer Länge, was der Meister gesagt und gemeint hat. Schön für ihn, wenn er sich auf diese Weise Schopenhauer gleichsam anverwandelt haben sollte. Aber muss er uns so umständlich daran teilhaben lassen? War es wirklich nötig, dass Schopenhauer posthum das Buch von Houellebecq quasi zu großen Teilen honorarfrei vollschreiben musste?

Via Schopenhauer lässt uns Houellebecq u. a. wissen, dass die wahre Kunstbetrachtung stets in interesseloser Kontemplation und Versenkung bestehe. Sicherlich finden sich da auch weitere an- und aufregende oder gar großartige Gedankengänge. Aber sie stammen eben weit überwiegend vom deutschen Philosophen.

Der Aufsatz hätte gut und gern in einer Essay-Sammlung oder dergleichen Platz finden können. Ein eigenes Buchprojekt ist er nicht unbedingt wert. Immerhin bringt einen der Band auf die gute Idee, Schopenhauer mal wieder im Original (ohne mitunter lästige Houellebecq-Unterbrechungen) zu lesen.

Michel Houellebecq: „In Schopenhauers Gegenwart“. Aus dem Französischen von Stephan Kleiner. Dumont Verlag, Köln. 76 Seiten, 18 Euro.

 




Eine Begegnung mit dem großen Journalisten Georg Stefan Troller (96) – und ein verdienstvoller Verleger aus Köln

Unser Gastautor Heinrich Peuckmann über eine Begegnung mit dem vorbildlichen Journalisten Georg Stefan Troller, der inzwischen 96 Jahre alt ist. Anlass war die Verleihung des Hermann-Kesten-Preises in Darmstadt:

Diesjähriger Träger des Hermann-Kesten-Preises, gestiftet von der Autorenvereinigung PEN und vom Land Hessen, ist der Kölner Verleger Thomas B. Schumann, der in seinem Verlag Edition Memoria ausschließlich Bücher verfolgter Schriftsteller herausbringt, die vor den Nazis fliehen mussten und die nach dem Ende der Nazizeit oftmals nicht mehr die Anerkennung fanden, die sie vorher gehabt hatten.

Von links: der legendäre Journalist Georg Stefan Troller, der Verleger Thomas B. Schumann und unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann. (Foto: Tanja Kinkel)

Von links: der legendäre Journalist Georg Stefan Troller, der Verleger und Kesten-Preisträger Thomas B. Schumann und unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann. (Foto: Tanja Kinkel)

Es ist eine höchst verdienstvolle Arbeit, die Schumann da für die deutsche Literaturgeschichte leistet und die ihn oft genug an finanzielle Grenzen gebracht hat. Die Laudatio bei der Preisverleihung in Darmstadt war etwas ganz Besonderes, denn sie hielt zur Freude der Veranstalter der Fernsehjournalist Georg Stefan Troller, der, inzwischen 96 Jahre alt, extra aus Paris angereist war.

Troller ist unter den Journalisten eine Institution, sein „Pariser Journal“ im Fernsehen ist unvergessen. Der Bezug zwischen Preisträger und Laudator ist schnell geklärt. Troller veröffentlicht noch jedes Jahr ein neues Buch, gerne in Schumanns Edition. Entsprechend persönlich fiel Trollers Rede aus, in die er das Schicksal einiger der verfolgten Schriftsteller einflocht. Eingeleitet hat er sie aber mit einem schönen Zitat. Nach viel Lob bei seiner Vorstellung zitierte er seinen Vater, einen jüdischen Pelzhändler, der mal zu ihm gesagt hat: „Also Georgie, dass aus dir noch was geworden ist, ich hätte es nicht gedacht.“

Für die US-Army gegen die Nazideutschland gekämpft

Troller ist als österreichischer Jude selbst ein Opfer der Nazis, musste über die Tschechoslowakei und Frankreich in die USA fliehen, wurde dort eingezogen und kämpfte in der US-Army gegen Nazideutschland. Nach dem Krieg blieb er in Europa, fand aber, wie viele Exilierte, keinen Anschluss mehr in seiner alten Heimat und blieb daher in Frankreich. Auch dies ist ein Faktum, dass es zur Kenntnis zu nehmen gilt, genau wie die Tatsache, dass hauptsächlich im Westen die Exilautoren wenig bis gar nicht beachtet wurden, in der DDR dagegen schon.

In der Reihe seines Pariser Journals, in dem er mit sonorer Stimme seine Kommentare vortrug, hat er großartige Sendungen produziert und dabei oft verfolgte Autoren vorgestellt. Dazu gehörte Georg K. Glaser, dessen großartiger Roman „Geheimnis und Gewalt“ etwa alle zwanzig Jahre wiederentdeckt wird. Seine kommunistische Jugend schildert Glaser darin in einer großartig-kraftvollen Sprache, die an Luther erinnert. Von den Nazis wurde er in Abwesenheit zum Tode verurteilt, floh nach Frankreich, kam als französischer Soldat in deutsche Gefangenschaft, aber die Nazis fanden nicht heraus, wer dieser vermeintliche Franzose in Wirklichkeit war. Später blieb auch er in Frankreich und betrieb bis zu seinem Tod 1995 eine Silberschmiede in der Nähe der „Place de la Concorde“.

An Glasers Roman ist die Schilderung seiner Abkehr vom Stalin-Kommunismus besonders interessant, die er beeindruckend schildert. Auch entlarvt er anhand von eindrucksvollen Erlebnissen diese Ideologie. Eines der wenigen Bilddokumente über diesen völlig unterschätzten Autor hat Troller produziert.

Gespräche mit Ezra Pound und William Somerset Maugham

Troller war es auch, dem der große Ezra Pound ein Interview gab, das einzige nach Pounds vielen Jahren in der Psychiatrie. Groß war Pound in zweifacher Hinsicht, in seiner Lyrik nämlich, den Pisaner Elegien – und in seinem schrecklichen Irrtum bei seinen Hetzreden im italienischen Rundfunk für Mussolini. Wie ein solcher Autor beides zusammen bringen konnte, diese großartigen Gedichte, dazu seine absolute Hilfsbereitschaft für andere Autoren und dann die rassistischen Nazireden, wird vielleicht nie ganz zu klären sein. Troller hat er gesagt, dass er nach seinem Irrtum schweige, das sei es, was ihm übrig geblieben sei. Aber er hätte das Schweigen nicht gesucht, es sei zu ihm gekommen. Nach der Preisverleihung hatte ich Gelegenheit, mit Troller darüber zu sprechen. Eine tiefere Erklärung für Pounds Handeln hat auch Troller bis jetzt nicht.

Die ehemaligen Autorenfreunde, die Pound vor der Nazizeit hatte, haben ihn übrigens alle fallen gelassen, Ausnahmen waren William C. Williams, obwohl Pound ihn in seinen Hetzreden auch noch verleumdet hatte – und Ernest Hemingway. Was dann doch für die Menschlichkeit dieser beiden Autoren spricht.

Somerset Maugham hat Troller ebenfalls ein Interview gegeben und dabei tiefe Einblicke in sein Seelenleben gegeben. Das war halt die Stärke von Troller, dass er den Nerv seiner Interviewpartner traf und sie ihm vertrauten. Maugham, der über 80 Bücher schrieb, die fast alle Bestseller wurden, vertraute Troller an, dass er selten in seinem Leben glücklich gewesen sei. An ihm nagten bis ins hohe Alter (auch er wurde über 90) die Demütigungen aus der Jugendzeit, denn Maugham war Stotterer. Der Spott, den er als Kind deswegen ertragen musste, hat ihn lebenslang verletzt.

Wenn das Gegenüber tiefes Vertrauen fasst

Das war es, was Trollers Reportagen so einzigartig macht, der tiefe Einblick in die porträtierten Menschen. Es war seine große Kunst, sein Gegenüber so gut zu verstehen, dass der Vertrauen zu ihm fasste.

Troller ist den damaligen Verantwortlichen in den Sendern dankbar, dass sie ihm die Chance gaben, bei ihnen mitzuarbeiten. Wenigstens hier hat der Exilautor wieder Tritt fassen können. Er hat es den verantwortlichen Redakteuren mit unvergesslichen Reportagen gedankt. Troller hat sich immer dem deutschen Sprachraum zugehörig gefühlt, nur hier wieder heimisch zu werden, das hat er nicht geschafft.

So bleibt ein geteilter Blick auf Troller. Einmal die Freude über seine journalistische Arbeit und der Respekt davor, dann die Wehmut, dass solche Sendungen heute fehlen. Einen zweiten Georg Stefan Troller müsste es geben, habe ich gedacht, als ich ihm in Darmstadt begegnete. Der Original allerdings, das konnten alle Zuhörer bei der Darmstädter Preisverleihung erleben, ist trotz des hohen Alters noch erstaunlich fit. Weitere Bücher in Schumanns Edition Memoria sind bestimmt noch zu erwarten.




Gewiss nicht immer geliebt, aber günstig gelesen: Seit 150 Jahren gibt es die Reclam-Heftchen

Natürlich dies und das von Goethe. Natürlich Schiller, Lessing und Kleist. Dazu Annette von Droste-Hülshoffs „Judenbuche“, Gottfried Kellers „Kleider machen Leute“ oder auch – heute weitaus weniger bekannt – Fred von Hoerschelmanns Hörspiel „Das Schiff Esperanza“. Und. Und. Und.

Reclam-Heftchen aus meinen Beständen: früher in (heute mehr oder weniger ausgebleichter) Sandfarbe, dann in entschiedenem Gelb. (Foto: Bernd Berke)

Reclam-Heftchen aus meinen heimischen Beständen: früher in (heute ziemlich ausgebleichter) Sandfarbe, dann in entschiedenem Kanari-Gelb. (Foto: Bernd Berke)

Es sind ein paar wenige Beispiele für damals oft als quälend lästig empfundene Schullektüre. Man weiß ja noch, wie sie manches angestellt haben, um einem die Klassiker zu vergällen. Wirklich für sich „entdecken“ durfte man sie erst später. Jetzt, da eine Filmserie „Fuck ju Göthe“ heißt, sind sie in den Schulen und selbst in germanistischen Seminaren längst nicht mehr so selbstverständlich wie damals.

In welcher Form hat man diese Lektüren absolviert? Mit diesen gelben Heftchen im Hosentaschenformat, die seinerzeit (bis 1970) freilich noch einen Farbton hatten wie später jene notorischen Rentner-Westen, also ein sandiges Beige. Nach und nach kamen u. a. noch Hefte in Rot (fremdsprachige Ausgaben), Orange (zweisprachig) und Grün (Interpretationen) hinzu. Doch das Markensignal ist das kräftige Kanariengelb.

Die älteste deutsche Buchreihe

Warum diese Erinnerung? Weil es diese Texte, unter dem etwas geschwollen klingenden Reihentitel „Reclams Universal-Bibliothek“, nunmehr seit 150 Jahren gibt. Bekannter sind die ausgesprochen schlicht ausgestatteten Bände unter dem eher zutreffenden Namen „Reclam-Heftchen“. Wenn ich nicht irre, höre einen kollektiven Seufzer. Das Jubiläumsmotto des (1828 in Leipzig gegründeten) Reclam-Verlages lautet denn heuer auch: „Gehasst, geliebt, gelesen“. Hauptsache Letzteres.

Die Reclam-Hefte sind die älteste noch bestehende deutsche Buchreihe. Also muss ja wohl etwas Handfestes dran sein am verlegerischen Konzept, vor allem wohl der unschlagbar günstige Preis für vielfach anspruchsvolle Dichtungen. Modernste Produktions- und Werbemethoden sorgten schon früh dafür, dass sich die Heftchen am Markt etablierten.

Es begann mit einem neuen Gesetz – und mit Goethes „Faust“

Dreimal darf man raten, was am 10. November 1867 zu allererst in der Reclam-Reihe erschienen ist. Klar doch, es waren Goethes „Faust I“ und „Faust II“, jeweils in einer Auflage von 5000 Exemplaren, was seinerzeit schon eine ordentliche Hausnummer gewesen ist. Trotzdem waren die Bändchen binnen weniger Wochen vergriffen, so dass 1868 noch einmal 10000 Exemplare gedruckt wurden. Und es kamen noch viele, viele hinterher.

Es war der Beginn einer langen Erfolgsgeschichte, die noch nicht vorüber ist. Am Anfang stand ein neues Gesetz des Norddeutschen Bundes, das just am Vortag der „Faust“-Publikation in Kraft trat, also am 9. November 1867. Danach waren alle literarischen Werke gemeinfrei, deren Verfasser mindestens seit 30 Jahren verstorben waren.

Als Klassiker noch Bestseller waren

Auch der 1832 gestorbene Goethe fiel also unter diese Regelung, so dass seine Werke honorarfrei nachgedruckt werden konnten, ohne Erben oder andere Verlage abfinden zu müssen. Auf diese Weise konnte Reclam den Preis auf 2 Silbergroschen je Band drücken und ihn sehr lange halten. Im Deutschen Reich waren 20 Pfennige der Standardpreis für ein Heft, Inflationsjahre ausgenommen. In anderen Kriegs- und Krisenzeiten wurde kurzerhand schlechteres Papier verwendet, um den Preis nicht erhöhen zu müssen. Heute haben umfangreichere Hefte allerdings längst die 10-Euro-Schwelle überschritten.

Im Stuttgarter Literaturhaus wurde zur Feier des Jubiläumstages am 11. November ein Gelber Teppich aus lauter Reclam-Bändchen ausgelegt. (Bild: Reclam-Verlag)

Im Stuttgarter Literaturhaus wurde zur Feier des Jubiläumstages am 11. November 2017 ein Gelber Teppich aus lauter Reclam-Bändchen ausgelegt. (Bild: Reclam-Verlag)

Bis in die frühen 60er Jahre waren Klassiker in Reclam-Heftchen wahre Bestseller, allen voran Schillers Drama „Wilhelm Tell“ mit einer unglaublichen Auflage von rund 5 Millionen Stück. Auch die Anzahl der Titel wuchs nahezu wahnwitzig: Bis zum Frühjahr 1898 waren bereits 3810 verschiedene Heftchen erschienen. Heute sind übrigens rund 3500 Titel lieferbar, jährlich kommen 72 neue dazu.

Finstere Kapitel der Verlagsgeschichte

In der Reclam-Geschichte gibt es auch finstere Kapitel. So wurden in der NS-Zeit alle jüdischen  und als „entartet“ verfemten Autoren aus der Reihe verbannt. Im Weltkrieg diente man sich den Soldaten mit der Reclam-Feldbibliothek an, einer – so wörtlich – „Auswahl guter Bücher für den Schützengraben“.

Das Erscheinungsbild der Hefte wurde zwar öfter mal behutsam modernisiert, doch die Anmutung blieb über viele Jahrzehnte hinweg grundsätzlich ähnlich. So einfach Gestaltung und Ausstattung auch sein mochten, so haben die Reclam-Heftchen doch gewiss große geistige Breitenwirkung entfaltet. Viele Menschen hätten große literarische Schöpfungen in teureren Ausgaben vermutlich gar nicht goutiert.

Zerfledderte Exemplare mit Schüler-Kritzeleien

Es war natürlich eine andere, eher unterschwellige Wirkung, als sie in den 1960er Jahren etwa die Edition Suhrkamp mit ihren schockbunten Bänden hatte, ohne die man sich die Revolte von 1968 kaum denken kann. Doch einst konnte man – auch dank der Reclam-Heftchen – ohne weiteres parodierend auf Klassiker Bezug nehmen, so etwa der Ruhrgebiets-Komiker Jürgen von Manger alias Adolf Tegtmeier, der den so weit verbreiteten „Wilhelm Tell“ verulkte.

Eine gediegene Bibliothek baut man eher nicht mit Reclam-Heftchen auf. Einstige Schullektüren sind denn auch hie und da zwangsläufig zerlesen und zerknittert, haben Eselsohren und sind angefüllt mit typischen Schüler-Kritzeleien. Mit diesen Heftchen durfte man das schon mal machen, insofern stehen sie auch für robust benutzbare Lektüre. Wehe, man wäre so mit dem heimischen Brockhaus oder sonstigen gebundenen Ausgaben verfahren! Apropos: Den einst so unerschütterlich imposanten Brockhaus haben die Heftchen ja nun auch überdauert.

Und so stehen oder liegen einige Exemplare auch bei mir noch immer in den fast schon ebenso legendären „Billy“-Regalen, sie nehmen ja nicht viel Platz weg. Mal eben schauen, was sich da noch findet. Oha! Da sehe ich schon was. Gleich mal wieder reinschauen. Bis dann, Leute!

 




Ex-Feuilletonchef der „Zeit“: Ulrich Greiner bekennt sich jetzt entschieden zum Konservatismus

Kulturbeflissene kennen Ulrich Greiner noch als Feuilletonchef der gediegenen Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“. Damals war der Mann eher linksliberal geprägt – wie wohl die überwiegende Mehrzahl der bundesdeutschen Kulturjournalisten. Nun aber legt er ein Buch mit dem unterschwellig pathetischen Titel „Heimatlos“ vor, in dem er sich entschieden zum Konservatismus bekennt, dem er sich nach und nach genähert habe.

Ulrich Greiner (Jahrgang 1945) konstatiert, was ihm offenbar selbst und zunächst beinahe unmerklich widerfahren ist, als Zeichen einer allgemeinen gesellschaftlichen Bewegung: Die seit Jahrzehnten gültige kulturelle Hegemonie der Linken sei im Schwinden begriffen, ihre Ideologie sei auf breiter Front gescheitert.

Namensliste, die Linke auf die Palme bringt

Als seine geistigen Bezugspunkte nennt er eine Reihe von Dichtern und Denkern, die gestandenen Linken die Haare zu Berge stehen lassen dürfte: Rüdiger Safranski, Sibylle Lewitscharoff, Martin Mosebach, Peter Sloterdijk und Botho Strauß, dessen Abkehr von einer „Totalherrschaft der Gegenwart“ beispielhaft sei.

Greiner redet enttäuscht von Fehlern in der Flüchtlingspolitik, von drohender und akuter Islamisierung, vom seiner Meinung nach unguten „Anpassungsmoralismus“ der tonangebenden Medien. Auch das Diktum von der „Lügenpresse“ sei nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Die Globalisierung ähnele eher einem Kampfplatz als einem Versprechen auf erstrebenswerte Zukunft.

Abendland, Christentum, traditionelle Familie

Auch nimmt Greiner insbesondere die katholische Kirche, sofern sie denn nicht liturgisch herabgedimmt und gar zu verweltlicht ist, ebenso gegen gehässige Angriffe in Schutz wie die traditionelle Familie.

Christentum und Abendland sind hier nicht – wie so oft üblich – Zielscheiben für verächtliche Attacken, sondern Anstöße zur erstrebenswerten „Tiefenerinnerung“. Greiner sucht denn auch das Deutsche, das „Eigene“, vom Fremdem abzuheben, insbesondere vom mitunter schwer integrierbaren Islam, dessen radikalisierten Positionen man nicht so bereitwillig nachgeben solle. Da schwingt der vielfach zerfetzte Begriff von der „Leitkultur“ mit.

Kritik am allfälligen Gleichheitsanspruch

Muss man noch eigens betonen, dass der Autor in der „Ehe für alle“ einen Verlust der natürlichen Genealogie sieht und überhaupt die Selbstermächtigung des Menschen durch Reproduktions-Medizin beklagt? Allüberall sieht er egoistische Selbstverwirklichung im Namen eines prinzipiell unerfüllbaren Gleichheitsanspruchs am Werk. Die Gesellschaft verliere sich in lauter Partikularinteressen. Hier fällt denn auch der uralt-konservative Begriff vom bedauerlichen „Verlust der Mitte“. Als Konservativer, so Greiner, fühle er sich jedenfalls in diesem Lande oft ziemlich heimatlos.

Bloß nicht in AfD-Nähe geraten

So sehr scheint sich Greiner zwischenzeitlich sogar in die Nähe von AfD-Positionen zu schreiben, dass er immer mal wieder (glaubhaft) betonen zu müssen glaubt, wie sehr er das Gebaren jener Partei verabscheue. Nicht ganz so vierschrötig-stiernackige Kreise der CSU könnten freilich den feinsinnigen Feuilletonisten durchaus zu perspektivischen und wahrscheinlich größtenteils einvernehmlichen Hintergrund-Gesprächen einladen.

Wäre Greiner nicht Kulturchef der liberalen „Zeit“ gewesen, hätte sein allmählicher Positionswechsel wohl nicht so sehr interessiert. So aber kündet sein Kompendium eines (Neu)-Konservativen womöglich von einem bedeutsamen Paradigmenwechsel, der weitere Felder der Gesellschaft betrifft. Auch Leute, die ganz anders über die Zeitläufte denken, sollten sich damit ernsthaft auseinandersetzen.

Ulrich Greiner: „Heimatlos. Bekenntnisse eines Konservativen“. Rowohlt Verlag, 160 Seiten, 19,95 Euro.

 




Hoch lebe die Nuss!

Pssst, jetzt weiß ich, wie ich demnächst schnell reich und prominent werde. Ich verfasse mal eben einen Ernährungsratgeber, der alle bisherigen Theorien über den Haufen wirft und neue Horizonte aufreißt. Auf diese Weise haben sich doch schon etliche Leute dumm und dämlich „verdient“.

Oh, so nussig... (Foto: BB)

Oh, so nussig… (Foto: BB)

Wir kennen das zur Genüge. Alle paar Monate wird eine weitere Sau durch die Küchen getrieben, natürlich nur redensartlich. Gestern galten Eier mitsamt Cholesterin als verwerflich, heute sind sie angeblich gar nicht mehr so schlimm. Ähnliches widerfuhr dem Salz, von dem zwischenzeitlich ernsthaft abgeraten wurde. Heuer darf man’s offenbar wieder nehmen. Oder habe ich die allerneueste Kehrtwende verpasst?

Kohlenhydrate auf der Achterbahn

Manche Nahrungsmittel haben achterbahnhafte Karrieren und Abstürze sondergleichen hinter sich, sie könnten einem geradezu leid tun. Ernährung mit Kohlenhydraten wird mal verteufelt, mal rehabilitiert oder gleich rundweg empfohlen. Fett wurde generell verworfen, jetzt ist es – um nochmals ein schiefes Sprachbild zu verwenden – „im Aufwind“. Ich verrate Euch was: Die viel zitierten „Experten“ wissen oft auch nicht richtig Bescheid.

Egal. Ich kenne mich da auch nicht so furchtbar gut aus. Zu allermeist esse ich nach Appetit, nach Lust und Laune. Damit fährt man wahrscheinlich nicht schlecht, sofern keine ernstlichen Erkrankungen vorliegen. Amen.

Was in den Supermärkten dümpelt…

Jetzt aber zu meinen Sachbuch-Ambitionen, von denen ich mir hübsche Sümmchen erhoffe. Es kommt sicherlich gut, ein Nahrungsmittel zu verdammen, das bisher unverdächtig zu sein schien. Oder umgekehrt: eines ans Licht zu ziehen, das – einem Mauerblümchen vergleichbar – in den Supermärkten unscheinbar vor sich hin dümpelte. Nein, diese Sprachbilder aber auch!

Aus dem "Studentenfutter" geklaubt... (Foto: BB)

Aus dem „Studentenfutter“ geklaubt… (Foto: BB)

Nehmen wir einfach mal aufs Geratewohl die Nuss. Wollen wir sie auf gut Glück als allein seligmachend preisen oder als quasi-giftig in den Orkus stoßen? Soll das Buch nun „Nie wieder Nüsse!“ oder „Alles heilt die Nuss“ heißen? Oder noch besser: „Nuss dich gesund!“

Ganz nach unserem Belieben

Nun, das steht ganz in unserem Belieben. Besser wär’s wohl, man ginge das Ganze positiv an. Dann kann auch die nussverarbeitende Industrie nicht vor Gericht ziehen (da gäb’s womöglich was auf die Nuss). Und sollten wissenschaftliche Studien existieren, so biegen wir sie zurecht, bis sie uns in den nussophilen Kram passen.

Jetzt haltet Euch fest: Übrigens ist auch die Erdbeere eine Nuss. Das glaubt ihr nicht? Ha! Ihr werdet schon sehen. In Kürze in Euren Buchhandlungen. In diversen Talk-Formaten. Und auf Euren Tellern. Hoch lebe die Nuss! Und das nicht nur zur Weihnachtszeit.

Bin mal eben weg. Neues Sonderkonto einrichten.

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P.S.: Verleger, bitte melden!

P.P.S.: Dieser Beitrag kann Spuren von Nüssen enthalten.




Abwarten statt Arztbesuch: Autorenduo empfiehlt mehr Gelassenheit bei körperlichen Beschwerden

Da möchte der Patient so schnell wie möglich einen Arzt aufsuchen, doch er muss eine Wartezeit von mehreren Wochen in Kauf nehmen. Vorher ist kein Termin mehr frei. Frust macht sich breit, vielleicht auch Angst um die Gesundheit. Doch nach Lektüre des Buches „Fragen Sie weder Arzt noch Apotheker“ kommt man als Leser wohl unweigerlich zu dem Schluss, dass es vielleicht sogar besser ist, auf einen Arztbesuch ganz zu verzichten.

Drei mögliche Szenarien: 1. Die Beschwerden verschwinden schneller als gedacht. Dann wäre der Termin reine Zeitverschwendung. 2. Es erfolgt eine medizinische Behandlung, aber der Gesundheitszustand verbessert sich nicht. 3. Die Therapie, die der Arzt empfiehlt, schadet dem Patienten mehr als sie nützt, denn beispielsweise verträgt sich das verschriebene Medikament nicht mit einer anderen Arznei.

Auf der Basis umfangreicher Recherchen

Wer nun meint, solche Szenarien seien doch eher die Ausnahme als die Regel, den belehren die Medizinjournalisten Dr. med. Ragnhild Schweitzer und Jan Schweitzer eines Besseren, wobei das Autorenduo keineswegs mit erhobenem Zeigefinger daherkommt. Ihr Anliegen besteht schlichtweg darin, die Auswüchse des Gesundheitssystems zu hinterfragen, wobei sie ganz klar hervorheben, dass es „Leiden gibt, die unbedingt in die Hände eines Arztes gehören, der sie mit schulmedizinischen Methoden behandelt“.

Aber beide Ehepartner haben selbst in Krankenhäusern gearbeitet, beide haben umfangreiche Recherchen zu Untersuchungsmethoden, Krankheitsbildern sowie Behandlungserfolgen (und Misserfolgen) betrieben, um für eine „gewisse Gelassenheit und Zurückhaltung“ bei vielerlei Symptomen zu plädieren. Eine große Verantwortung sehen sie auf Seiten der Ärzte, die bei Kniebeschwerden nicht gleich eine Spiegelung veranlassen, bei Rückenbeschwerden auf sofortiges Röntgen verzichten und auch bei einem Leistenbruch nicht zwingend operieren sollten, um nur einige Beispiele zu nennen.

Oft mehr Schaden als Nutzen

Denn: Die Gefahr, dass das Knie beschädigt wird, ist unter Umständen nicht weniger groß als die Röntgenstrahlenbelastung, der der Patient trotz aller heutigen Sicherheiten ausgesetzt ist. Und auch beim Leistenbruch kommt man gegebenenfalls auch um eine OP herum, die dem Körper enorme Strapazen abverlangt. Mehr Vorsicht sollte auch im Umgang mit Antibiotika herrschen, so die Autoren. Bei Erkältungskrankheiten, die durch Viren ausgelöst werden, helfen sie nämlich nicht wirklich.

Nun könnte man meinen, dass akute Beschwerden und ernsthafte Erkrankungen vermeidbar sind, wenn sich der Patient frühzeitig Check-ups und Früherkennungen unterzieht. Aber auch da sind die Aussagen der Autoren ernüchternd: Der Patient kann von den Möglichkeiten Gebrauch machen, er muss es aber nicht, lautet die Quintessenz. Umfangreiche Auswertungen von Statistiken haben gezeigt, dass sich die Sterblichkeitsrate derer, die regelmäßig zur Kontrolle gehen, nicht von der jener Menschen unterscheidet, die auf solche Untersuchungen verzichten. Der einzige Unterschied: Die Check-ups fördern meist bestimmte Auffälligkeiten zu Tage, z.B. erhöhte Cholesterinwerte, die dann auch behandelt werden. Ob aber ein Zusammenhang mit der späteren Todesursache besteht, lässt sich statistisch kaum nachweisen.

Wenn die Untersuchung Probleme erst erzeugt

Ausführlich, detailliert und auch sehr persönlich geschrieben, setzen sich die Autoren mit dem Thema der Früherkennung von Krebs auseinander. Dabei wird ihr Verständnis für den Wunsch der Menschen deutlich, über eine Tod bringende Gefahr in ihrem Körper alles wissen zu wollen. Doch die Zahlen, die in dem Buch beispielsweise zum Mammographie-Screening genannt werden, lassen durchaus Zweifel aufkommen, ob die Reihenuntersuchung zum Aufspüren von Brustkrebs wirklich als Erfolg zu werten ist.

Nicht anders sieht es beim Prostatakrebs aus, der mit der PSA-Wert-Bestimmung frühzeitig erkannt werden soll. Auch hier äußern die Journalisten Bedenken, ob diese Methode wirklich den Männern hilft. Richtig kritisch wird es bei Früherkennungsuntersuchungen allerdings, wenn eine Überdiagnose eintritt. Es wird zwar ein Krebs festgestellt, er hätte aber wohl nie Probleme gemacht, wenn man nicht nach ihm gesucht hätte. Dazu liefern die Verfasser ein besonders krasses Beispiel aus Südkorea: Frauen und Männer haben sich, weil es empfohlen wurde und preislich günstig war, in großen Scharen auf Schilddrüsenkrebs untersuchen lassen.

Erklärungen ohne medizinisches Kauderwelsch

Es kam, wie es kommen musste: Bei vielen Patienten wurde ein Tumor entdeckt, die Schilddrüse wurde ganz oder teilweise entfernt. Doch die Probleme fingen jetzt erst an: Die Menschen mussten nun ständig ihren Hormonhaushalt kontrollieren lassen und bei vielen waren durch die OP die Stimmbänder dauerhaft beschädigt.

Eingehend befassen sich die Journalisten mit den „Individuellen Gesundheitsleistungen“, kurz IGeL, und geben dem Leser Hilfen an die Hand, Nützliches von Überflüssigem zu unterscheiden. Überhaupt ist das Buch an vielen Stellen ein (flott geschriebener) Ratgeber. Die Leserinnen und Leser werden nicht mit medizinischem Kauderwelsch konfrontiert, sondern die Autoren erklären allgemeinverständlich, dass beispielsweise die Funktionsweisen des menschlichen Organismus nicht – wie es manche Ärzte versuchen – mit einem Auto vergleichbar sind. Der Körper reagiert oft anders als man denkt. Übrigens: Zur Ehrenrettung der Ärzte sei gesagt, dass nachweislich ein mit Bedacht geführtes Gespräch schon die Hälfte des Behandlungserfolgs ausmacht.

Dr. med. Ragnhild Schweitzer, Jan Schweitzer: „Fragen Sie weder Arzt noch Apotheker – Warum Abwarten oft die beste Medizin ist“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017, 272 Seiten, 14,99 Euro.




„Lost in Translation“: Das Wort für die Zeit, die man braucht, um eine Banane zu essen – und mancher treffliche Ausdruck mehr

Das ist doch mal eine nette Buchidee, unterhaltsam und durchaus mit geistreicher Substanz behaftet: Ella Frances Sanders hat für ihren Band mit dem kinobekannten Titel „Lost in Translation“ treffliche Worte aus aller Welt gesammelt, die als unübersetzbar gelten und nur mit länglichen Umschreibungen einigermaßen zu fassen sind.

In jedem dieser Worte sind – wunderbar vielfältig – kollektive Erfahrungen aufgehoben. Nicht alle sind gleichermaßen prägnant, doch bei vielen klingt (auch fürs deutsche Sprachempfinden) manches Bedeutsame an und nach, beileibe nicht nur Exotik. Erstaunlich genug, für welche speziellen Phänomene es in manchen Sprachen eigene Worte gibt.

Das Rentier als Maß der Dinge

Man muss Beispiele nennen – und möchte am liebsten gar nicht mehr damit aufhören: So bezeichnet das schwedische mångata die „Spiegelung des Mondes auf dem Wasser, die wie eine Straße aussieht.“ Das malaiische pisan zapra steht für die (ungefähre) Zeit, „die man braucht, um eine Banane zu essen.“ Den Finnen ist  hingegen ist die Entfernung wichtiger, die ein Rentier ohne Pause zurücklegen kann, sie heißt poronkusema.

Ein geradezu lachhaft schlechter Witz

Mit dem knappen Ausdruck tíma benennt man in Island die Weigerung, „Zeit oder Geld in etwas zu investieren, obwohl man es sich leisten könnte.“ Ganz ähnlich liest sich das Wort tiám aus der iranischen Sprache Farsi, es bedeutet „das Funkeln in den Augen, wenn man einen Menschen das erste Mal sieht“. Universell verwendbar ist auch der indonesische Ausdruck jayus, mit dem ein Witz gemeint ist, der so schlecht ist, dass man nur noch entwaffnet lachen kann.

Einige Worte muten so skurril an, dass man sie einfach mögen muss, so etwa das lettische kaapshljmurslis für das Gefühl, in einem öffentlichen Verkehrsmittel eingequetscht zu sein. Tatsächlich sieht schon die bloße Buchstabenfolge recht gepresst aus.

Das Kribbeln vor dem Whiskey-Schluck

Kaufen Sie öfter mal Bücher und legen sie dann gleich ungelesen weg? Das nennt man in Japan tsundoku. Kribbelt Ihre Oberlippe, bevor Sie einen Schluck Whiskey trinken? In Irland, wo man sich damit auskennt, sagt man auf Gälisch sgrìob dazu. Stecken Sie Ihr Hemd nicht in die Hose? Dann sind Sie (im karibischen Spanisch) ein cotisuelto.

Wie man sieht, gibt es für so ziemlich jede Lebenslage ein passendes Wort, man muss halt „nur“ den reichlichen Vorrat an Sprachen durchforsten. Jede dieser Sprachen öffnet einen anderen Horizont, eine andere (Klang)-Welt. Auch davon bekommt man mal wieder eine Ahnung, wenn man die Wörter in diesem Buch nachschmeckt.

Im Anhang des Buches, das sich übrigens bestens als Geschenk eignet, steuert auch das Deutsche ein paar kaum übertragbare Kostbarkeiten bei: Kummerspeck, Kabelsalat, Waldeinsamkeit…

Wir wollen ja nicht übermäßig drängeln, aber: Wann kommen endlich der zweite und der dritte Band heraus?

Ella Frances Sanders: „Lost in Translation. Unübersetzbare Wörter aus der ganzen Welt.“ Aus dem Englischen übertragen von Marion Herbert. 112 Seiten (ohne Paginierung). Durchgehend mit farbigen Zeichnungen der Autorin illustriert. DuMont Verlag, Köln. 18 €.




Gott, der Konsum, Kafka, das Kino und die Tiere – ein paar Buch-Hinweise, ganz en passant

Es muss nicht immer die ausufernde Einzel-Rezension sein. Hier ein paar knappe Buch-Hinweise, gleichsam en passant; damit die kostbare Zeit nicht beim Lesen der Kritik verrinnt, sondern dem Buch vorbehalten bleibt:

Götterdämmerung und Glaubenswille

Der wohl prominenteste Philosoph der Nation (wenn man von Jürgen Habermas absieht und Richard David Precht gar nicht in Erwägung zieht) heißt Peter Sloterdijk, er wurde zuerst mit seiner legendären „Kritik der zynischen Vernunft“ weithin bekannt und ist nun nicht nur bei Gott, sondern „Nach Gott“ angelangt.

Doch mit einem bloßen Abgesang auf Gott gibt er sich keineswegs zufrieden. Ein zentraler Gedankengang: Auch nach Nietzsches berühmtem Diktum, dass Gott tot sei, sei die Geschichte der Menschheit mit „ihm“ noch lange nicht ans Ende gekommen. Der verstorbene Weltenlenker schaue uns neidisch beim Sein zu, bedaure uns jedoch auch. Nanu, sollte er also doch irgendwie existieren?

Sloterdijk untersucht Gottesbilder diverser Epochen und Kulturen. Eindeutige Resultate sind dabei schwerlich zu haben. Sloterdijk fasst nicht zuletzt auch die Gegenbewegung zur Götterdämmerung und zur Säkularisation, nämlich den „Willen zum Glauben“, in den Blick.

Peter Sloterdijk: „Nach Gott“. Suhrkamp Verlag, 364 Seiten. 28 Euro.

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Wir haben Dinge, die Dinge haben uns

Dieses wuchtige Buch kündet von der „Herrschaft der Dinge“. Der heute in London wirkende Geschichtsprofessor Frank Trentmann (vormals Hamburg, Harvard, Princeton und Bielefeld) unternimmt nichts weniger, als die aufregende Geschichte des Konsums seit dem 15. Jahrhundert nachzuzeichnen.

Zwischen dem China der Ming-Zeit, italienischer Renaissance und Globalisierung habe die käufliche Dingwelt zunehmend alle Verhältnisse dominiert, so dass heute z.B. ein Deutscher im Schnitt zehntausend Gegenstände besitzt – fürwahr eine imposante bis bestürzende Zahl. Man könnte (mit Blick auf Sloterdijks oben vorgestelltes Buch) durchaus meinen, die Objekte hätten Gott ersetzt. Haben wir die Dinge, oder haben die Dinge uns?

Lang ist’s her, dass die „Achtundsechziger“ den „Konsumterror“ geißelten und verweigern wollten. Sie haben den Kampf wohl verloren – und ausgerechnet der Hedonismus mancher Leute aus ihren Reihen hat dafür den Boden bereitet. Heute wird rund um die Uhr geshoppt.

Anhand zahlloser Beispiele geht es in Trentmanns Wälzer ebenso um exzessiven, entgrenzten Konsum wie um allmähliche Geschmacks- und Genussbildung. Und natürlich spielen auch die Folgen des alles und jedes verbrauchenden Lebensstils für die Erde eine zentrale Rolle, wie denn überhaupt die Entwicklungslinien der Historie auch bedrohlich auf die Zukunft verweisen.

Ein weit ausgreifendes, voluminöses, ebenso detailfreudiges wie gedankenreiches Werk zur Alltags- und Wirtschaftsgeschichte, das beim Großthema Konsum einen Standard für künftige Debatten setzen dürfte.

Frank Trentmann: „Herrschaft der Dinge. Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute“. Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), 1104 Seiten, 40 Euro.

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Als Franz Kafka ins Kino ging

„Im Kino gewesen. Geweint.“ Wohl jeder halbwegs ambitionierte Kinogeher dürfte diesen berühmten Satz von Franz Kafka wenigstens einmal gehört oder gelesen haben. Viel intensiver hat man sich dann freilich nicht mit Kafka und dem Kino befasst. Ganz anders der Filmschauspieler, Regisseur und Essayist Hanns Zischler, der sich seit rund 40 Jahren wie kein anderer in den Themenkreis vertieft hat.

1996 ist Zischlers Buch „Kafka geht ins Kino“ erstmals herausgekommen. Schon damals hat es Maßstäbe gesetzt und das Kafka-Bild um eine vorher ungeahnte Dimension bereichert. Zischler hat sehr penibel rekonstruiert, wann Kafka welche Filme gesehen hat und wie er sich dazu geäußert hat. Und wer wollte bezweifeln, dass Kafkas recht häufige Kinobesuche auch sein Schreiben mitgeprägt haben?

Die jetzige, noch einmal wesentlich erweiterte und reichhaltig illustrierte Neuauflage, geht auf den seither grundlegend veränderten Stand der Kafka-Forschung ein. Überdies sind die Filme, die Kafka kannte, durch Restaurierung und Digitalisierung inzwischen ungleich besser verfügbar, so dass dem Band auch eine einschlägige DVD beigegeben werden konnte.

Manche Stummfilme, die 1996 als verschollen galten, wurden inzwischen ans Licht geholt und sind wieder greifbar. Auch Programme, Fotos und Plakate ergänzen die deutlich verbesserte Quellenlage. Doch auch nach all den neuen Funden sieht Zischler die Arbeit am Thema noch nicht als abgeschlossen an…

Hanns Zischler: „Kafka geht ins Kino“. Galiani, Berlin. 216 Seiten. Mit DVD. Zahlreiche Abbildungen. 39,90 Euro.

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Mit Tiermeldungen auf menschlichen Spuren

Die aus Wien stammende Schriftstellerin Eva Menasse sammelt seit vielen Jahren mehr oder weniger kuriose Tiermeldungen – beispielsweise über Raupen, die ihr eigenes Grab schaufeln oder über Bienen und Schmetterlinge, die gelegentlich die Tränen von Krokodilen trinken. Außerdem als Anreger für Erzählstoff tätig: Igel, Schafe, Opossum, Haie, Schlangen und Enten.

Frau Menasse sammelt freilich nicht einfach drauflos, sondern lässt sich durch derlei kurze Mitteilungen auf die Spur menschlichen Verhaltens in existentiellen Situationen bringen. Das ist nicht minder denkwürdig und zuweilen grotesk, traurig oder tragisch.

So scheint eine Gattung die andere zu spiegeln. Doch so leicht wie ehedem die lehrreichen Tierfabeln gehen die (Ver)gleichungen selbstverständlich nicht auf. Auch nähren sich die Geschichten nicht etwa von falscher Vermenschlichung und schon gar nicht von Verniedlichung der Tiere.

Schillernde Mehrdeutigkeiten eignen sich ja auch viel eher für Romane und Erzählungen. Und so haben wir hier eine anregende, durchaus mit erhellendem Witz gewürzte Lektüre – auch, aber nicht nur für Fortgeschrittene.

Eva Menasse: „Tiere für Fortgeschrittene“. Erzählungen. Kiepenheuer & Witsch. 320 Seiten. 20 Euro.




Bevor wir den Rochen kochen, müssen wir ihn erst einmal haben – meine kurze Affäre mit einem Kochbuch à la française

Franzosen, man weiß es, geben im Schnitt deutlich mehr fürs Essen aus, als der gemeine Deutsche. Das wird wohl auch so bleiben, trotz mancher Gourmet-Modewellen diesseits des Rheins.

Da schwimmt ja ein Rochen - aber leider in einem holländischen See-Aquarium. Den darf man natürlich nicht mitnehmen. (Foto: Bernd Berke)

Ah, da schwimmt ja ein Rochen – aber in einem holländischen See-Aquarium. Den darf man natürlich nicht mitnehmen. (Foto: Bernd Berke)

Überdies sind unsere Nachbarn immer wieder für exquisite und – nun ja – auch für etwas abgehobene Kochkünste zu haben, worin sie sich wiederum von den Italienern unterscheiden, die sich nicht halb so viel darauf einbilden, was in ihren Töpfen und Pfannen gedeiht – und die auch nicht so ein zuweilen blasiertes Getue darum machen.

Weltweit das „Einfachste“

Drum hätte ich eigentlich misstrauisch sein sollen, als ich jetzt das in der FAZ-Sonntagszeitung heiß empfohlene Kochbuch des französischen Maître Jean-François Mallet bestellt habe. Zwar nennt es sich vollmundig „Simplissime – Das einfachste Kochbuch der Welt“ und verheißt lauter Rezepte mit jeweils höchstens sechs Zutaten, doch diese haben es fürwahr an und in sich.

Um nur mal eben zwei Zutaten zu nennen, wie sie in diesem Buch typisch sind: Für ein angeblich simples Gericht benötigt man Seeteufelbäckchen, für ein anderes nichts Geringeres als Rochenflügel. Alors!

Immerhin: Rochen reimt sich im Deutschen auf Kochen, doch ansonsten geht’s weniger simpel zu. Nach meinem bescheidenen Verständnis handelt es sich bei den genannten Zutaten um nahezu museumswürdige Raritäten. Geht doch mal los und besorgt das im Supermarkt nebenan – oder auch etwas weiter entfernt. Sofern man nicht gerade mitten in einer (möglichst französischen) Metropole lebt und spezialisierte Markthändler kennt, dürfte es schwerfallen. Na gut, mit etwas Sucherei geht es in Hamburg wohl auch.

Fischbäckchen oder Fischstäbchen?

Dabei fängt das Buch im Vorspann so ermutigend an. Man brauche zum Nachkochen nur die folgenden Utensilien, heißt es: fließendes Wasser, Herd, Kühlschrank, Pfanne, Topf, scharfes Messer, Salz, Pfeffer und Olivenöl. Zugegeben, einen Schneebesen und zwei bis elf andere Sachen benötigt man wohl auch noch. Aber dann kann’s angeblich auch schon losgehen.

Doch die weit überwiegende Mehrzahl der Rezepte ist in unseren Breiten nicht alltagstauglich. Das wird schon beim flüchtigen Durchblättern klar. Also habe ich, was ich eigentlich ungern tue (nicht nur wg. der Ökobilanz), das Buch als Retoure auf den postalischen Rückweg gebracht. Vielleicht gar kein Zufall, dass „retour“ ein französisches Wort ist?

Mag ja sein, dass man sich bestimmte Fischbäckchen und dergleichen demnächst via Frischdienst „just in time“ liefern lassen kann (womit sich die Ökobilanz abermals verschlechtern würde), doch darauf möchte ich mich nicht einlassen. Wie bitte, dann sollte ich doch Fischstäbchen essen? Ich bin imstande und tu’s. Sapristi!




In der Fremde soll man sich ändern – Matthias Polityckis anregendes Buch über das Reisen

Auf der Rückseite des Umschlags steht es abermals: Matthias Politycki (Jahrgang 1955) wird gelegentlich als Abenteurer und Draufgänger der deutschen Gegenwartsliteratur bezeichnet. Das mag ja stimmen. Fest steht jedenfalls: Der Mann ist ungeheuer viel und zuweilen recht riskant gereist – bis in die letzten Weltwinkel. Davon legt er in seinem neuen Buch beredtes Zeugnis ab.

Der längliche Titel zieht schon entsprechend weite Horizonte auf: „Schrecklich schön und weit und wild. Warum wir reisen und was wir dabei denken“ heißt der Band, der wirklich auf ausgesprochen vielfältigen Reiseerfahrungen basiert. Auch die allermeisten Backpacker dürften auf vergleichsweise ausgetretenen Pfaden unterwegs sein. Von verwöhnten Individual- oder Pauschaltouristen ganz zu schweigen.

Wo ist nur die alte Freiheit geblieben?

Gleich eingangs benennt Politycki ein Grundproblem heutigen Reisens, das – von Ausnahmen abgesehen – bis vor einiger Zeit noch relativ ungebrochen als Synonym für Freiheit gegolten hat. Jetzt freilich, unter dem Eindruck von Krieg, Terror, Globalisierung und weltweiten Flüchtlingsströmen, habe sich ein tiefer Bedeutungswandel vollzogen. „Reisen hat seine Unschuld verloren“. Sagen wir mal: spätestens jetzt, vielleicht für alle restliche Zeit.

Die einst als „Exotik“ wahrgenommene Fremde könne nun bereits beginnen, wenn wir aus der heimischen Haustür gehen. Andererseits gebe es „da draußen“, also rund um den Erdball, oft nichts grundsätzlich „Anderes“ mehr zu entdecken. Da stellt sich die Frage, was denn eigentlich authentisch sei. Vielleicht gar nichts? Oder eben alles. Auf seine Weise. Doch trotz wachsender Bedenken treibt es Politycki immer wieder hinaus in die Ferne. Es ist eine unstillbare Sehnsucht.

Immer neue Bewährungsproben

Aber keine Angst. Politycki theoretisiert und reflektiert natürlich nicht nur, er wird sozusagen tausendfach konkret und schöpft freigebig aus dem reichen Reservoir seiner Erfahrungen. Dabei geht es vor allem um die Haltung des Reisenden, der sich in verschiedenen Weltgegenden jeweils ganz anders benehmen und bewähren müsse, nirgendwo jedoch unterwürfig.

Auf Reisen, so Politycki, treffe man vor allem Menschen aus der Unterschicht der jeweiligen Länder. Daher müsse man sich – zumal als Alleinreisender – handfest und selbstbewusst behaupten, notfalls gar hart auftrumpfen, um nicht unterzugehen und seine Würde zu wahren. Da man sich – auch mit Englisch – längst nicht überall verständlich machen könne, müsse man sich dafür auch eine angemessene Körpersprache zulegen.

Ist das ein Beispiel neudeutscher Überheblichkeit? Wohl kaum. In entlegenen Gebieten unterwegs, muss man sich schon so mancher Zudringlichkeit zu erwehren wissen, diese Einsicht vermittelt Politycki sehr glaubhaft. Ansonsten ist er jederzeit bereit, seine Urteile zu korrigieren, zu relativieren und neu zu fassen. Eben das sollte ja eine Frucht wirklichen Reisens sein.

Auch Müllberge und Slums nicht gemieden

Mit wohlmeinender politischer Korrektheit, so der Autor, komme man jedenfalls nicht weit. Und überhaupt: „Je weiter er in der Welt herumgekommen ist, desto schwerer wird es dem Reisenden fallen, zu übergreifenden Meinungen und Etikettierungen zu gelangen.“ Somit erweist sich intensives Reisen auch als permanente Verunsicherung.

Touristische Stätten erscheinen dem erfahrungshungrig Suchenden in aller Regel als Enttäuschungen, als hoffnungslos überfüllte Plätze, an denen „sich die Weltjugend zum Posen trifft“ und Millionen Selfies knipst. Der Autor hingegen scheut sich nicht, beispielsweise indische Müllberge zu besteigen, um auch diese abscheuliche Seite des ungeheuren Subkontinents am eigenen Leibe zu erfahren. Ebenso ist er (notgedrungen „kalten Blickes“) durch etliche Slums gezogen, um alle Stufen des Elends zu sehen und also vor der furchtbaren Wirklichkeit nicht die Augen zu verschließen. Es ist sicherlich kein zynischer Voyeurismus, der ihn treibt, sondern Erkenntnisdrang. Das darf man ihm glauben.

Wer so unbedingt reist, kommt zwangsläufig in extreme, manchmal auch gefährliche Situationen, in physische und psychische Grenzbereiche – ob nun in Nepal, Samarkand, Ruanda, Lateinamerika oder Japan, um nur ganz wenige Zielgebiete zu nennen.

Wo gibt es die besten Barbiere der Welt?

Politycki erzählt von all dem sehr anschaulich und keineswegs mit dem Gestus des Eroberers oder Triumphators. Er erwähnt auch manche Peinlichkeit, manche „Niederlage“ in der Fremde. Es sind buchstäblich Erfahrungen fürs Leben. In der Fremde ist man zuweilen rundum gefordert, kann und muss man ein Anderer werden, sich neu erproben. Das fängt schon mit äußerlichen, nur scheinbar „banalen“ Dingen wie dem indischen Straßenverkehr oder dem japanischen Straßensystem an.

Anregend sind auch einige Exkurse wie etwa der aufschlussreiche Vergleich von Barbier-Besuchen in verschiedenen Ländern. Der Autor greift nach und nach zahllose Aspekte des Reisens auf und zitiert dabei, um den Kreis nochmals zu erweitern, en passant nicht nur große Reiseschriftsteller wie etwa Bruce Chatwin, sondern auch ähnlich reisesüchtige Gefährten und Freunde.

Ein gewisser Überdruss gehört irgendwann dazu

Als Signale vom Gegenpol liest man in diesem Kontext Zeilen des Reise-Skeptikers Gottfried Benn: „Ach, vergeblich das Fahren! / Spät erst erfahren Sie sich: / bleiben und stille bewahren / das sich umgrenzende Ich.“ Nein, dieser Stubenhocker! Doch den Überdruss am Reisen, das Gefühl, alles schon (eindrucksvoller) gesehen zu haben, den kennt selbstverständlich auch Politycki.

Unterdessen fragt man sich, wann und wie Politycki neben den Reisen überhaupt noch die Zeit zum Bücherschreiben aufgebracht hat. Egal. Er hat’s ja mal wieder geschafft. Dieses mit Erfahrung gesättigte, durchlebte und durchdachte Buch kann die Einstellung zum Reisen und damit zum Dasein ändern. Es gehört ins Regal – oder besser noch: gleich ins Reisegepäck.

Matthias Politycki: „Schrecklich schön und weit und wild. Warum wir reisen und was wir dabei denken“. Hoffmann und Campe. 351 Seiten. 22 €.




Warum wird eine allseits beliebte Frau ermordet? – Neuer Bierstadt-Krimi „Grappa und die Venusfalle“

Sie opfert sich jeden Tag neu auf für ihre schwer kranke und pflegebedürftige Tochter, diese Martina Schrott, die in Bierstadt jeder kennt und schätzt. Denn auch in öffentlichen Auftritten macht sie sich stark für Menschen mit Handicap und solche, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen.

Doch eines Tages zieht man die Leiche dieser vielen als Vorbild geltenden Frau aus dem Phoenixsee. Nun könnte man meinen, sie sei durch einen Unfall ums Leben gekommen, doch es stellt sich heraus, dass ihre Lunge kein Seewasser, sondern eindeutig Wasser aus einem ihrer viele Hundesalons enthält. Denn mit eben diesem Unternehmen hat sie ihr Geld verdient und sich ein großes Ansehen in der Stadt erworben. Kunden sind mit Service und Qualität der Arbeit mehr als zufrieden, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kümmern sich rührend um die kleinen und großen Vierbeiner. Wer aber mag nun ein Motiv haben, eine solche Frau umzubringen?

Reporterin Maria Grappa hat auch in dem neuen Krimi von Gabriella Wollenhaupt den richtigen Spürsinn hat. Wie schon üblich, ist sie mit ihren Recherchen sehr häufig den polizeilichen Ermittlungen einen Schritt voraus. Der Krimi-Autorin gelingt es, einen Spannungsbogen aufzubauen, indem sie ihre Hauptfigur das Image der Wohltäterin in Frage stellen lässt. Dabei spielt der Journalistin Kommissar Zufall gern mal in die Hände, aber häufig sind es auch gezielte Vorgehensweisen, durch die die Reporterin der Wahrheit näherkommt.

Als bekannt wird, dass Martina Schrott noch eine weitere Tochter und einen Ehemann hat, die beiden in Amerika leben, erlebt die gesamte Geschichte eine überraschende wie plötzliche Wendung. Eigentlich meinte man nämlich in Bierstadt ihren Mann zu kennen, denn ein Jakobus Hiller war stets an ihrer Seite. Erstaunt ist man als Leser am Ende dann schon, was sich da im Leben der Familie Schrott alles abgespielt hat und in welchen Kreisen die Angehörigen unterwegs waren.

Aufgrund des lockeren Schreibstils und sehr klarer Handlungsstränge macht die Lektüre Freude, zumal man natürlich wissen möchte, warum denn nun das Opfer umgebracht wurde.

Amüsant sind die Passagen, die Gabriella Wollenhaupt dem Alltag in der Zeitungsredaktion widmet, für die Maria Grappa arbeitet. Die Neubesetzung zentraler Posten sorgt für eine gewisse Unruhe unter den Redakteuren, verbale Sticheleien und Geschacher untereinander sind an der Tagesordnung. Die Beteiligten scheinen damit allerdings gerne und gut zu leben.

Gabriella Wollenhaupt: „Grappa und die Venusfalle“. Grafit Verlag, Dortmund. 218 Seiten, 11 Euro.