Die Magie des Doppellebens – Jo Lendles Roman „Was wir Liebe nennen“

Was wir Liebe nennen von Jo LendleLambert kommt aus Osnabrück und ist ein Zauberkünstler. Die Kunst der Magie hat ihn schon als Kind fasziniert und er ist dabei geblieben, schon weil er nie dazu gekommen ist, etwas Anderes zu lernen. Er meint zu wissen, was er Liebe nennt, aber er gehört auch zu denen, die „immer genau wissen, was ihnen fehlt“. Aufbruch und Mut zur Veränderung sind seine Dinge nicht.

Erstmals begibt es sich, dass das alljährliche Magier-Treffen auf einem anderen Kontinent stattfindet und so besteigt der bekennende Provinzler ebenfalls erstmals ein Flugzeug. Bisher hat das Schicksal ihn immer wohlwollend behandelt, viel ist ihm in seinem Leben nicht geschehen. „Wäre er eine Adventskerze, er wäre die Vierte„. Der Flug, ein neuer Kontinent ist ihm schon Aufregung genug. Doch bevor er überhaupt an seinen Zielort Montreal gelangt, muss sein Flugzeug notlanden und beschert ihm eine eigenartige Nacht mit zufälligen Leidensgenossen. Nach Irrungen endlich in Kanada angekommen, sich völlig aus der Zeit geworfen fühlend, lernt er die junge Biologin Fe (Felicitas) kennen, die gerade dabei ist, fast ausgestorbenen Wildpferden die Freiheit wiederzugeben. Die ungestüme junge Frau fasziniert ihn ungemein.

Mit Fe traut er sich, Träume von Freiheit, Weite und Wildheit zu träumen. Doch so einfach ist das nicht: „Sein bisheriges Dasein hatte ihn auf so etwas nicht vorbereitet: Die Frau seines Lebens zu treffen, obwohl man die Frau seines Lebens bereits getroffen hatte.“ Die Liebe, die daheim auf ihn wartet, begann ebenfalls romantisch. Und es ist auch nicht so, dass er diese Frau nicht liebt. Allerdings stehen in dieser Liebe Entscheidungen an, wie man den Alltag künftig zu leben gedenkt. In Kanada erlebt er mit Fe magische, verzauberte Momente, ganz ohne Trickkiste. Doch auch hier fühlt er sich außerstande, eine wie auch immer geartete Entscheidung zu treffen.

Das Schicksal in Form eines überbuchten Fluges gibt ihm eine Chance. Die gemeinsame Zeit mit Fe ist verlängert, der Augenblick der Entscheidung verzögert. Vor die Wahl zwischen zwei Realitäten gestellt, flüchtet er sich in die Magie. Dieses Ich-mach-mir-die-Welt-wie-sie-mir-gefällt-Spiel beherrscht er gut. Passt ihm ein Glückskeks-Spruch nicht, knackt er solange Kekse, bis der rechte Spruch kommt. Es ist Zeit für den Zauberer, Zeit für den Autor in seine Trickkiste zu greifen und Lambert ein zweites Leben im Ersten zu geben. Lambert eins trifft auf Lambert zwei. Der eine bemüht die Vernunft, der andere die Sehnsucht. Die bis dahin recht ruhige Geschichte entwickelt sich zu einem rasanten surrealen Roadmovie durch die Wildnis Kanadas, an dessen Ende die Entscheidung steht, welcher der beiden Lamberts die Oberhand behält.

Mit dieser Geschichte einer Liebe und eines Aufbruchs hat Jo Lendle ein nicht alltägliches Buch vorgelegt. Zunächst mutet „Was wir Liebe nennen“ wie eine ganz einfache Geschichte an, doch so einfach ist es mit der Liebe und dem Leben nicht. Liegt eine mögliche Lösung in einem Doppelleben? Es drängt sich der Gedanke auf, dass Jo Lendle in diesem Buch Lösungsmöglichkeiten mit sich selber diskutiert. Schließlich führt auch Lendle so etwas wie ein Doppelleben. Nach langen Jahren verlegerischer Geschäftsführertätigkeit beim DuMont-Verlag wird er nach einem Sabbatical ab Januar den traditionsreichen Hanser Verlag führen. Daneben reüssiert er aber auch schon seit Jahren erfolgreich als Autor. „Was wir Liebe nennen“ ist sein vierter Roman. Sicher kein Zufall, dass er vor der großen Veränderung in seinem Leben einen Roman schreibt, in dem er als Autor leichten Herzens den Job des Zauberers übernehmen kann. In der Verlagswelt hilft kein Zauber und kein Trick, Lendle weiß das. Er ist bekannt dafür, sich den Veränderungen und Herausforderungen der Verlagswelt sehr bewusst zu sein.

Ob er auch beim Hanser Verlag für magische Momente sorgen kann, wird sich weisen. Doch mit seinem vierten Roman tut Lendle genau das. Er schenkt dem Leser Sätze von einfacher Klarheit und anrührender Poesie. Mal beschwört er eine leichtfüßige Stimmung, mal eine ungestüme, gelenkt von der Sehnsucht nach ungezähmter Wildheit. Gut zeigt sich seine enorme Stilsicherheit in der kleinen Nebengeschichte um Viola und Sascha, seine Gefährten beim Flugzeugabsturz. Auf nur wenigen Seiten transportiert er da wuchtige Emotionen. Das Buch liest sich, als wäre es dem Autor von seiner Eingebung diktiert worden, doch sicher ist es sorgfältig konstruiert und formuliert. Schließlich ist nichts schwerer, als etwas leicht erscheinen zu lassen. Das weiß der Zauberer, das weiß auch der Autor. Schaut man einem Zauberer zu, weiß man nie, wann genau der Moment der Magie stattfand. So ist es auch im Buch, die magischen Momente sind versteckt. Oft erkennt man sie erst im Nachhinein.

Mitten im Buch wechselt das Buch in eine Art surrealen Realismus und spielt auf mehreren Ebenen. Spielt mit der Zeit und den Protagonisten, welche Lendle durchgehend mit warmer Zuneigung beschreibt. Die zwei Seelen-in-meiner-Brust-Thematik ist nicht neu, neu ist der abrupte Wechsel, der nicht eines gewissen Reizes entbehrt, zumal die Handlung etwa in der Mitte dahinzuplätschern beginnt. Mit dem Stilwechsel nimmt sie aber schnell Fahrt auf. Den Kreis schließt er gekonnt, indem er Bilder aus dem ersten Teil wieder aufgreift und ihnen im Nachhinein Symbolik verleiht. Lambert bleibt der zaudernde Zauberer, letztlich entscheidet sein Unglaube an „die Folklore der Freiheit“. Eine ganz und gar nicht faustische Entscheidung, sondern eher eine, die zwischen Ironie und Resignation mäandert.

Ich finde es mutig, sich als bekannte Persönlichkeit des Literaturbetriebes an eine Liebesgeschichte, an Gefühlswelten zu wagen. In dieser bisweilen überintellektuellen Welt ist das ein schmaler Grat. Aber Lendle hält die Balance sehr gut, bis zur Grenze des Kitsches ist bequem viel Platz. Für den Leser ist es schön, sich auch einmal in eine märchenhafte Geschichte fallen lassen zu dürfen.

Damit ist Lendle und seinem Lambert ein Trick gut gelungen. Der Leser ist bezaubert und entführt in eine Welt voller Möglichkeiten, die an die Macht der Liebe, aber auch an die der Zufälle glauben lässt. Jeder wird die Frage nach dem, was wir Liebe nennen, auf seine eigene Weise beantworten. Auch wenn Lambert manchmal mit einem Augenzwinkern auf die Möglichkeit hinweist, die Antwort wäre ganz leicht auf chemische Reaktionen zu reduzieren, Lendle beantwortet sie mit diesem Buch für sich. Was er Liebe nennt, ist ganz sicher auch Liebe zu Geschichten, zur Phantasie, zur Sprache, zum Wort.

Jo Lendle: „Was wir Liebe nennen“. Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, 248 Seiten, €19,99




Der Mann mit den wuchtigen Meinungen – Zum Tode von Marcel Reich-Ranicki

Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki (Foto: Dirk Vogel / http://www.vogelgrafie.blogspot.de)

Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki (Foto: Dirk Vogel / http://www.vogelgrafie.blogspot.de)

Prägnante Szene bei einer schon länger zurückliegenden Frankfurter Buchmesse: Am Stand der Deutschen Verlagsanstalt (DVA) wird Marcel Reich-Ranicki von Bewunderern umlagert wie ein Popstar. Einer ruft ihm die (wahrhaft müßige) Frage zu, wer denn wohl der größte russische Autor aller Zeiten sei. Von ihm hat man eben literarische Urteile wie von einer höchstrichterlichen Instanz erwartet.

Jetzt wird diese Instanz für immer fehlen. Marcel Reich-Ranicki, der mit Abstand prominenteste Literaturkritiker deutscher Zunge, der sogar vielen Banausen ein flüchtiger Begriff war, ist heute im Alter von 93 Jahren gestorben.

Der „Großkritiker“ ließ sich damals in Frankfurt – wie üblich – nicht lange bitten, mochte sich freilich in jenem Falle nicht so recht festlegen: Tolstoi sei ein ganz Großer gewesen, aber auch Gogol, Puschkin und Dostojewski hätten „sehr gut geschrieben“. Aha! Aus derlei Frage- und Antwort-Spielchen hat er zuletzt in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung eine Rubrik bestritten, bei deren Lektüre man sich zuweilen an den Kopf fasste.

Entweder herrlich oder grrrrrrässlich

Bei Licht betrachtet, waren die Maßstäbe des höchst belesenen, im Literaturbetrieb ungemein beschlagenen Reich-Ranicki recht simpel: Entweder gefiel ihm ein Buch – oder es langweilte ihn „grrrrrässlich“; zuweilen schon dann, wenn es im „falschen“ Land spielte, zu umfangreich geraten oder zu unkonventionell erzählt war. Manchmal hat man sich schon gewundert, wie es jemand mit einem solchen Raster so weit hat bringen können. Doch natürlich war er auch in der Lage, differenzierte Rezensionen zu schreiben, an denen man seine helle Freude haben konnte; besonders dann, wenn er Autoren hoch schätzte, wie etwa den ewigen Leitstern Thomas Mann. Mit seinen Verrissen war Reich-Ranicki allerdings oftmals ungerecht schnell bei der Hand.

Marcel Reich-Ranicki hat seine stets glasklaren, selten von Selbstzweifeln angekränkelten Meinungen mit solcher Wucht und Verve vertreten, dass man schwerlich dagegen ankommen konnte. Er war bestens „vernetzt“ und verstand es wie kein Zweiter, die Klaviatur der literarischen Einflussnahme zu bedienen. Auch stillte er wohl eine gewisse Sehnsucht nach eindeutigen, leidenschaftlichen, zuweilen auch etwas groben Stellungnahmen. Welt und Literatur waren ansonsten unübersichtlich genug. Da sollte mal einer Schneisen schlagen – notfalls mit der Machete. Den Beinamen „Literaturpapst“ wurde er jedenfalls nicht mehr los, auch wenn er auf seine älteren Tage schon mal unumwunden zugegeben hat, nicht „unfehlbar“ zu sein.

Bewegende Biographie

Rund 1,2 Millionen Exemplare wurden von seiner bewegenden Autobiographie „Mein Leben“ verkauft. Eindringlich schilderte Reich-Ranicki seine Kinderheit in Polen und Berlin, sein unvorstellbar schwieriges Leben in der NS-Zeit, von dem er 2012 auch in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag Zeugnis abgelegt hat. Reich-Ranickis Eltern wurden im KZ umgebracht, er selbst musste sich vor den Nazi-Schergen versteckt halten. Wer wollte es ihm da ernsthaft verübeln, dass er später vorübergehend dem polnischen Geheimdienst angehörte und der KP beitrat? Bald aber wandte er sich ab und wurde wegen „ideologischer Fremdheit“ aus der Partei ausgeschlossen.

1958 kam er wieder nach Deutschland. Ab 1960 schrieb er für die „Zeit“, von 1973 bis 1988 war er Literaturchef der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Doch erst „Das Literarische Quartett“ (1988 bis 2001) im ZDF hat Reich-Ranickis Entertainer-Qualitäten vollends zur Entfaltung kommen lassen. Nach den Sendungen mussten die Bestsellerlisten immer flugs umgeschrieben werden. Man möchte lieber gar nicht wissen, was die Verlage angestellt haben, um dort besprochen zu werden. Jedenfalls musste ein Mann wie Reich-Ranicki einfachs ins Fernsehen, wo er so manche schwankende Seele für die Literatur gewonnen haben dürfte. Wie hat man sich seinerzeit amüsiert, als er seine öffentlich-rechtlichen Bücherstreits mit Hellmuth Karasek, Sigrid Löffler und Jürgen Busche ausfocht. Manchmal war’s herrliches Kasperltheater mit anderen Mitteln…

Grass und Walser haderten mit ihm

Deutschlands bekannteste Schriftsteller wendeten sich freilich vielfach mit Grausen – mit Ausnahme von Siegfried Lenz. Literaturnobelpreisträger Günter Grass war Reich-Ranicki gram, seit der den Roman „Ein weites Feld“ (1995) verrissen und auf dem legendären „Spiegel“-Titelbild regelrecht zerfetzt hatte. Als Reich-Ranicki die Hand zur Versöhnung reichen wollte, schlug Grass sie aus. Und damals wusste man noch nichts von Grass’ Waffen-SS-Vergangenheit in den finsteren Zeiten…

Auch Martin Walser (umstrittener Schlüsselroman: „Tod eines Kritikers“) gehörte beileibe nicht zu Reich-Ranickis Verehrern. Selbst mit dem langjährigen Freund Walter Jens war Reich-Ranicki zwischenzeitlich heillos zerstritten. Die Einsamkeit des Kritikers, allen Mitstreitern und Medienmächten zum Trotz.

Heimat Literatur, Zuflucht Teofila

In mehr als einer Hinsicht war dies tragisch, hat Reich-Ranicki doch bekannt, wie er sich seit den schrecklichen Erlebnissen im Warschauer Ghetto ohnehin stets als Außenseiter gefühlt hat – selbst in den Redaktionen von „Zeit“ und FAZ. Als wahre Heimat hat er hingegen immer die (deutschsprachige) Literatur begriffen.

Und es gab noch eine sehr dauerhafte Zuflucht: Über 70 Jahre lang lebte er mit (der 2011 verstorbenen) Teofila zusammen, die er unter schlimmsten Umständen im Ghetto kennen gelernt hatte. Auch wenn er gelegentlich damit kokettierte, auf erotische Nebenwege erpicht zu sein – nehmt alles nur in allem, so ist er wohl sicherlich treu gewesen. Und jetzt, wer weiß, kann sie vielleicht „dort droben“ seine harmlosen kleinen Eskapaden mit jenem weisen, wissenden Lächeln quittieren, das ihr zu eigen war.




Einen Autor mehr und mehr für sich entdecken: Bücher von Walter Kappacher

Nicht nur in (und am) Mattsee g e l e s e n habe ich unlängst die zwei neuesten Bücher des Büchnerpreisträgers von 2009, des seit Jahren in dem Mattsee benachbarten Ort Obertrum lebenden Walter Kappacher, sondern sehr wahrscheinlich habe ich ihn als Person dort sogar selber mehrmals g e s e h e n .

Mindestens viermal kam in der besonders heißen ersten Augustwoche ein seinem Bilde, dem möglicherweise heute nicht mehr ganz aktuellen Buchklappenseitenbilde, sehr ähnlicher Mann ins „See- und Strandbad Mattsee“. Jeweils vom frühen Morgen bis zum späten Vormittag blieb er da und setzte sich buchlesend an eine noch ruhige Stelle in den Schatten, auch – wie vereinbarungsgemäß – nicht gestört von seiner Frau, die ihn gelegentlich ins Bad begleitete und selber etwas las. Beide sah ich, als zufällig auch wir gerade gingen, um die Mittagszeit mit den Fahrrädernwieder wegfahren. Vermutlich kamen sie auch sonst jeweils mit dem Rad. Einmal sah ich ihn über ein Typoskript mit großen Zeilenabständen gebeugt, in das er gelegentlich sei’s Ergänzendes, sei’s Korrigierendes mit einem Stift hineinschrieb.

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Natürlich hätte ich sehr gerne gewusst, ob mein Gespür mich nicht trog und ob es sich bei diesem Mann wirklich um den Schriftsteller Kappacher handelte, aber ich bin in der Regel nicht aufdringlich oder gar zudringlich und wollte auch nicht weniger zurückhaltend und scheu sein, als er selber seinem eigenen Zeugnis nach es früher gegenüber Oskar Werner, Peter Handke oder Thomas Bernhard und anderen gegenüber gewesen ist. Und als ich mich nach einer Woche schließlich doch dazu entschlossen hatte, ihn höflich anzusprechen, zumal nach meiner frischen Buchlektüre, war er ausgerechnet von diesem Tage an nicht mehr zu sehen.

Halten wir uns also an seine Bücher.

Am 30. Juli kamen wir an unserem Urlaubsort Mattsee an, am 31. waren wir im nur 20 Kilometer entfernten Salzburg. In einer Buchhandlung dort fielen mir zwei Bücher auf, die ich sogleich kaufte.

Die Lust an der Lektüre hat nicht nachgelassen

Zunächst die Kindheitserinnerungen von Karl-Markus Gauß mit dem Titel „Das Erste, was ich sah“, ein Buch, das ich in den nächsten beiden Tagen las, und schließlich den auch äußerlich sehr handlich und geschmackvoll edierten Band „die amseln von parsch / und andere prosa“ von Walter Kappacher, den ich – wie gesagt – höchstwahrscheinlich als Person gleich am nächsten Tag im Strandbad sah. Vom 3. August an las ich im Wechsel mit anderer von zu Hause mitgebrachter Lektüre mehr und mehr diesen Kappacher-Band, wobei ich die Reihenfolge der (ohnehin gut auch isoliert, ohne Rücksicht auf die im Band vorgegebene Reihenfolge lesbaren) Texte selbst bestimmte. Aber gelesen habe ich sie dann alle. Die Lust an ihnen ließ nicht nach.

Begonnen habe ich mit den beiden letzten Beiträgen des Bandes, die mich auf Anhieb am meisten interessierten. Ich las nacheinander die beiden Textfolgen „Ich erinnere mich / Aus den autobiografischen Notizen“ (S. 157ff.) und „Eigenes und Angeeignetes“ (S. 185ff.). Wie unmittelbar vorher schon bei Gauß konnte ich nun auch bei Kappacher mit den jeweiligen Erinnerungen meine eigenen Salzburger Kindheitserinnerungen reflexionsfördernd vergleichen; nur: in dem ersten Fall war ich der 11 Jahre Ältere und in dem zweiten Fall der um fünf Jahre Jüngere; aber gerade das leicht Zeitversetzte war für mich interessant, umso verblüffender so manche dennoch vorhandene Übereinstimmung. Aber abgesehen davon, auch für Nicht-Salzburger dürften diese uneitel als Fragmentfolge konzipierten Erinnerungen Kappachers von großem Lektüreinteresse sein. Der Schriftsteller Walter Kappacher ist – wiewohl seine Herkunft nicht verleugnend – niemals und nirgends provinziell.

Der Schlusstext „Eigenes und Angeeignetes“ bietet in einer gemischten Folge sich zu eigen gemachte Zitate (oft Aphorismen) anderer Autoren und eigene Notate. Ich bin versucht, hier laufend und immer wieder zu zitieren, verzichte aber darauf und gebe lieber eine Stelle aus den vorgeordneten „autobiografischen Notizen“ wieder, die mich aufhorchen ließ. Auf Seite 173 ist nämlich zu lesen: „Wie ich Ende der sechziger Jahre auf das Bändchen „Stille“ der Edition Suhrkamp von Antonio Di Benedetto aufmerksam wurde. Die Stimme dieses Autors schien zu mir zu sprechen wie wenige. Wahrscheinlich war es diese Stimme, die mich wünschen machte, Schriftsteller zu werden.“

Hand aufs Herz. Wer kennt den Autor Antonio Di Benedetto durch eigene Lektüre? – Ich kenne ihn auch nur zufällig, weil ich mich seit etwa vier Jahrzehnten für lateinamerikanische Literatur interessiere und weil ich vor einiger Zeit eine Rezension über den 2009 bei Manesse neu herausgegebenen Roman „Zama wartet“ geschrieben habe. Nur dadurch bin ich auch selber auf das von Kappacher so stark hervorgehobene Bändchen „Stille“ gestoßen, das ich aber zu diesem Zeitpunkt (trotz des damaligen Argentinienschwerpunktes der Frankfurter Buchmesse) nur mehr noch antiquarisch erwerben konnte. Dass aber dieser von 1922 bis 1986 lebende, bei uns bis heute nicht allzu bekannte argentinische Autor für Kappacher einst so bedeutsam geworden ist, sollte für uns ein wichtiger Hinweis sein.

In anderen Essays seines Bandes eröffnet uns Kappacher persönliche Ausblicke auf ältere und jüngere Schriftstellerkollegen, denen er zu verschiedenen Zeiten ab und an begegnete. So schreibt er unter dem Titel „Der Außenseiter vom Mönchsberg“ etwas über seine Begegnungen mit Gerhard Amanshauser und ergänzt dies chinesisch verfremdet durch den Text „Zusammenkunft mit Meister Mu“. Der Essay „Woher sollte er mich kennen?“ rückt Peter Handke und seine Begegnungen mit Walter Kappacher in unseren Blick.

Sehr gerne gelesen habe ich auch Kappachers sehr lebendig geschriebene „Erinnerungen an Erwin Chargaff“: „Es wird kein Platz für uns sein“. Auch für die Lektüreanregungen, die ich darin fand, bin ich dankbar.

In seinen in sehr unterschiedlichen Textsorten gefassten weiteren Beiträgen befasst sich Kappacher unter anderem mit Thomas Bernhard („Der Maulwurf / Träume mit Thomas Bernhard“) und mit James Joyce und mit Jean Paul, mit Alexander von Villers und mit Jane Austen. Aber auch einem „rätselhaften Bild“, „Hans Burgkmair und seiner Frau Anna Allerlai“, widmet er sich in einem Essay in interessanter Weise. Recht Persönliches erfahren wir in seinem Vaterporträt „Mein Vater“ und im kurzen Text „Hochkönig“.

Lesenswerte, wenn auch nicht sehr herausragende Erzählungen eröffnen den Band. Die erste Erzählung „Abschied von Cerreto“ wird vor allem für jene interessant sein und an Bedeutsamkeit zulegen, die Kappachers Roman „Selina“ aus dem Jahre 2004 bereits gelesen haben und das damals gestrichene, hier nachträglich zugänglich gemachte Kapitel auf diese Weise zuordnen können.

Ein Roman, der durch mehrmaliges Lesen gewinnt

Insgesamt hat mir das sehr anregende Bändchen Kappachers recht gut gefallen, so gut, dass ich mir anderthalb Wochen später seinen schon im Jahr 2012 erschienen Roman „Land der roten Steine“ auch noch kaufte und in meiner Sommerfrische ebenfalls sofort las. Während der Lektüre des langen Mittelteils „De vita beata“ stellte ich mir Leser(innen) vor, die sich bei der ausführlichen Wiedergabe dieser viertägigen Reise ins „Land der roten Steine“ in den Südwesten der USA vielleicht etwas langweilen könnten, und mir wurde bewusst, dass es wesentlich darauf ankommt, dies alles in der besonderen, erst einzufangenden Perspektive der Hauptfigur, des inzwischen im Ruhestand befindlichen Bad Gasteiner Arztes Wessely, zu sehen. Wer indessen diesen Mittelteil mit langem Atem durchsteht, wird im weit kürzeren dritten Teil („La vita breve“) diese Perspektive überzeugend nachgeliefert bekommen und bemerken, dass er sie auf Grund behutsamer Andeutungen schon mit dem ersten Teil („Vita nuova“) hätte einnehmen können. Kurzum: Hat man den ganzen Roman mit Geduld gelesen, werden die Innenspannungen deutlicher, und man bekommt Lust, ihn insgesamt gleich noch einmal zu lesen.

Es handelt sich zweifellos um einen Roman, der durch mehrmaliges Lesen gewinnt. Er ist so womöglich gegen unsere Zeit geschrieben. Wobei der wache Blick auf das, wovon unsere Zeit gezeichnet ist, der in diesem Roman dennoch waltet, nicht übersehen werden kann.

Walter Kappacher: „Die Amseln von Parsch“. Verlag Müry Salzmann , Salzburg – Wien 2013. 216 Seiten / 19,00 €

Walter Kappacher: „Land der roten Steine“. Carl Hanser Verlag, München 2012. 160 Seiten / 17,90 €




Viel Porto fürs Schneckentempo: Wie die Deutsche Post Bücher befördert

Immer nur auf der Deutschen Bahn herumzuhacken, das ist doch öde. Zwischendurch muss man auch mal auf die Telekom oder auf die Deutsche Post einsticheln. Wohlan denn!

Da habe ich doch vorhin eine Büchersendung zum Postamt gebracht. Aufregend, nicht wahr? Was ich freilich bisher nicht gewusst habe: Wenn man auf die Büchersendung auch „Büchersendung“ draufschreibt (Voraussetzung: Sie muss dann mit einem schnellen Griff zu öffnen sein – Gibt’s da etwa Stichproben auf den Inhalt?) und redlich sein ermäßigtes Porto bezahlt, verwirkt man damit die Aussicht auf normale Beförderung.

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Vollends abstrus wird der Vorgang, weil – wie man mir am Schalter erläuterte – der Postbote am Zielort die Sachen herausfischt, die mit ermäßigtem Porto versehen sind, um sie für den nächsten oder übernächsten Tag beiseite zu legen.

Das heißt, der Zusteller macht sich eigens Sortierarbeit, um hernach etwas n i c h t gleich weiterzubefördern. Nach dem Verständnis der Post (offiziell ein Dax-Unternehmen, im Wesenskern noch immer eine Behörde) handelt es sich bei Büchersendungen quasi um unterbezahlte Fracht. Die wird nur dann einigermaßen zügig zugestellt, wenn im Bezirk sonst nicht viel anliegt.

Aus dem Tagebuch einer Schnecke: Während sich die Post seit Jahr und Tag viel auf ihre Formel „E plus 1“ (Sendung soll einen Tag nach Einlieferung am Bestimmungsort ausgehändigt werden) zugutehält, können solche Büchersendungen in Deutschland bis zu vier (!) Werktage unterwegs sein oder genauer gesagt: vor allem herumliegen.

So ist das also, wenn die Post einem die Gnade einer Ermäßigung gewährt. Dann signalisiert sie einem: Du verschickst ja nur Bücher. Ist doch zweitrangig, wann die ankommen.

Nachtrag am 27. August 2013 / Helvetische Episode

Als ich die vorherigen Absätze geschrieben habe, wusste ich noch gar nicht, was wirklich teuer und langwierig ist.

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Heute habe ich ein Buch in die Schweiz versendet. Die Adressatin hatte per Überweisung 10 Euro fürs Porto vorgelegt, was ich überreichlich fand. Bei der Post wurde ich eines Schlechteren belehrt. Dort wollte man mir für das knapp über 1 Kilogramm schwere Päckchen 15,90 Euro (!) abknöpfen. Nach langem Hin und Her schlugen sie in ihren Bestimmungen nach und boten an, eine internationale Büchersendung für 11 Euro auf den Weg zu bringen – allerdings wiederum mit der Maßgabe, dass dies ja eigentlich „unterbezahlt“ sei und daher eventuell langsamer ausgeliefert werde.

Und jetzt ratet, wie lange eine solche Sendung ins Nachbarland Schweiz unterwegs sein kann. 3 Tage? 5 Tage? 7 Tage? 10 Tage?

Alles falsch. Bis zu 14 Tage! Und dafür wollen sie 11 Euro haben.

Halten zu Gnaden, aber: Die spinnen, die Postler!




Der Avatar und die Toilette – Volker Königs Erzählung „Varn“

Was für eine Welt schaffen sich Menschen, denen die Möglichkeit gegeben ist, ein Leben nach ihren Wünschen und Vorstellungen einzurichten? Das Ergebnis – wie wir aus Volker Königs Erzählung „Varn“ erfahren – ähnelt nur allzu sehr unserer vertrauten Alltagswelt, es sieht nur ein bisschen perfekter aus. „Hatte ich nicht gehofft, eine Welt vorzufinden, die sich von der vor meinem Fenster in allem unterschied?“, fragt sich der Erzähler, der mit Hilfe seines Avatars namens Varn die Welt des „Second Life“ erkundet.

Bei seinen Gängen und Flügen durch die virtuelle Welt verfolgt Varn eine profane, zugleich verständliche Absicht: Er möchte die gut besuchte Internet-Plattform nutzen, um möglichst viele Bücher zu verkaufen, die sein Schöpfer in der ersten, nicht-virtuellen Welt geschrieben hat. Ob das funktioniert?

Cover. Volker König: VARNFoto: Latos-Verlag

Cover. Volker König: VARN
Foto: Latos-Verlag

Die Second-Life-Bewohner kann man sich größtenteils als Variationen der Barbiepuppe und ihres Freundes Ken vorstellen. Varn dagegen wurde vom Erzähler mit „Metzgerarmen und monströs fettem Bauch“ ausgestattet, „dazu einem fransig herabhängenden grau-weißen Haarkranz, einer dicken schwarzen Hornbrille vor einem einfältigen Gesicht mit großen Augen und Unterbiss“. Als Ausnahme unter den Avataren läuft, schwebt, fliegt, teleportiert er durch die Kunstwelt, soweit ihm die Mitspielenden Zutritt zu ihren aus Katalog-Versatzstücken zusammengesetzten Ressorts gewähren. Er beobachtet Avatare, wie sie Tütenmilch, Brot und Produkte aus der Kühltheke kaufen. Ihre Villen sind mit Betten, Stühlen, Küchen, ja Toiletten ausgestattet, was den Erzähler schmunzeln lässt.

In den humorvoll wiedergegebenen Details offenbart sich unaufdringlich der philosophische Tiefgang von Volker Königs Erzählung. Der alte Dualismus von Körper und Geist – was fängt ein Wesen, das aller körperlichen Bedürfnisse enthoben ist, mit dem langen Tag an? Jemand, der nicht einkaufen, kochen, essen, verdauen muss. Der weder Schlaf noch das schöne Auto benötigt, weil das Teleportieren schneller ist. Die Sinnfrage berührt den Kern des Spielens überhaupt. Manche der gelangweilten Second-Life-Bewohner sind Varn geradezu dankbar, dass er ein definiertes Ziel verfolgt – das Buch seines Schöpfers zu verkaufen.

Es bleibt nicht beim Anpreisen von Büchern. Varn findet mehr und mehr Geschmack an der Kunstwelt, als er mit der verführerischen Alida zu flirten beginnt. Alles Mögliche mag im Second Life schöner sein, das Wetter, das Eigenheim, die Fortbewegung… Aber der Sex? Der wird in seinem Suchtpotenzial nicht ganz nachvollziehbar beschrieben, als merkwürdige Bewegungen auf der Grundlage von Bällen.

Zur Anbahnung des erotischen Abenteuers ist Varn jedenfalls erleichtert, dass die Avatare dieser Parallelwelt in schriftlicher Form miteinander kommunizieren. Durch die Entschleunigung des Schreibens, meint er, ließen sich Fehler und Missverständnisse vermeiden. Bevor es allerdings zum Pixelsex kommen kann, muss der als voll bekleidetes Wesen erschaffene Varn beim Entkleiden mit Schrecken und Scham feststellen, dass er nicht mit dem zur Kopulation nützlichen Accessoire ausgestattet wurde (hatte Ken einen Penis?). Doch Alida kann ihm mit einem prächtigen Teil aushelfen.

Scheinbar spielerisch wirft Volker König die großen Fragen der Identität auf. Wie sich Menschen definieren, wenn sie die freie Wahl haben. Was die Persönlichkeit ihrer Ansicht nach ausmacht. Welche nicht nur kriminellen Möglichkeiten sich jemandem eröffnen, der sich anonym, hinter der Maske eines Avatars, durch die Welt bewegt. Welche Instanzen ein Interesse daran haben, dass jeder von uns sein Leben lang mit eindeutigen Identifikationsmerkmalen ausgestattet bleibt, mit einem Namen, den wir uns nicht aussuchen konnten, einem invariablen Geburtsdatum und einer Ausweisnummer. Und woran es liegen könnte, dass wir uns nicht auch im First Life öfter mal neu erfinden.

Mit der Frage der charakterlichen Konstituierung eng verbunden erscheint das Fragwürdige der sogenannten Realität; die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen der immer wieder auftauchenden „Welt vor meinem Fenster“ und der virtuellen Welt. Mit der Entwicklung der Handlung werden die Beziehungen zwischen Varn und Alida, Varns Schöpfer und dem Menschen, der sich Alida ausgedacht hat, zunehmend verwickelter. In der Vermischung beider Sphären könnte man sich an das Liebesgeständnis erinnert fühlen, das 2011 Barbies Toy-Boy Ken seiner Idealfrau in New York von Plakatwänden aus zugerufen hat: „Barbie, we may be plastic but our love is real.“

Volker König, der in Essen lebende gebürtige Dortmunder, legt mit „Varn“ seine vierte Buchveröffentlichung vor – bei der bereits aus früheren Werken gewohnten Vergnüglichkeit seine bislang ernsthafteste. Wir freuen uns auf „In Zukunft Chillingham“, das nächste Buch, das der Latos-Verlag noch für dieses Jahr ankündigt, und wünschen beiden im ersten wie im zweiten Leben hohe Verkaufszahlen.

Volker König: „Varn“. Latos-Verlag, Calbe/Saale, 2012 (ISBN 978-3-943308-10-5). 8,50 Euro




„Es wäre schön, kein Schriftsteller zu sein“ – Gerhard Amanshausers Tagebücher

Was bleibt mir von einem solchen, 400 Seiten starken Buch im Gedächtnis, das ich vor etwa 5 Monaten aufmerksam, mit großem Interesse und – entgegen dem sicher wohlmeinenden Rat des Vorwortschreibers Daniel Kehlmann – kontinuierlich von Anfang bis zum Ende gelesen habe? Vor allem das Gefühl, dass sich diese Lektüre Seite für Seite gelohnt hat.

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Das Ende 2012 im Residenz Verlag posthum herausgegebene Buch der diarischen Aufzeichnungen des inzwischen schon 7 Jahre toten, aber noch immer als „Geheimtipp“ gehandelten österreichischen Schriftstellers Gerhard Amanshauser bietet neben bestechender Wahrnehmungstreue die facettenreiche Innenansicht eines intellektuell redlichen Autors, bei dessen Ausführungen man nie das Gefühl hat, der Autor habe bei diesen Tagebuchaufzeichnungen in erster Linie auf ihre spätere Veröffentlichung hin geschielt.

Sind seine Werke noch greifbar?

Man prüfe doch bitte einmal nach, ob auch nur eines der Bücher des von 1928 bis 2006 vorwiegend in Salzburg lebenden Schriftstellers G. Amanshauser auch nur in einer der Buchhandlungen Essens, Oberhausens, Bottrops, Duisburgs, Dortmunds oder Bochums (vielleicht dort?) griffbereit vorrätig ist. Man prüfe ebenso nach, ob in den Stadtbüchereien des Ruhrgebiets irgendwelche von seinen Büchern sofort ausleihbar und somit noch zugänglich sind. Meine Stichproben in Essen und Bottrop jedenfalls verliefen ergebnislos. Auch das hier vorgestellte Buch wird und wurde in den einschlägigen deutschen Buchhandlungen nicht beworben, nicht hervorgehoben, von gelegentlichen Besprechungen in der Süddeutschen Zeitung oder jüngst im Deutschlandfunk mal abgesehen.

Verlockender Titel?

Zugegeben, der Titel des Buches ist – wenn auch aus dem Zusammenhang gerissen – ein wörtliches Zitat von Amanshauser selber. Man findet den Satz irgendwo unter den Aufzeichnungen dieses Bandes. Ich glaube, es war noch vor der erreichten Hälfte des Buches. Wenn man Amanshauser als Schriftsteller schon etwas kennt oder sich vielleicht dabei an Nietzsches Selbstaussage „Nur Narr, nur Dichter!“ erinnert, ist der Titel in Ordnung. Vermag er aber auch jene, die Amanshauser überhaupt noch nicht kennen, dazu anzuregen, irgendeines seiner lesenswerten Bücher – wie z. B. „Als Barbar im Prater / Autobiographie einer Jugend“, „Mansardenbuch“, „Terrassenbuch“ oder „Sondierungen und Resonanzen“ endlich einmal aufzuspüren und zu lesen? Ich fürchte: Nein.

Der eine oder andere könnte sich bei diesem gewählten Titel doch vielleicht fragen: Warum sollte ich etwas von einem Schriftsteller lesen, dessen ausdrücklicher Herzenswunsch es offenbar gewesen ist, „kein Schriftsteller zu sein“? Oder sollten wir uns wie von ungefähr an das seltsame Phänomen erinnern, dass es wohl auch Propheten gegeben hat (vgl. das AT), die sich vehement der Zumutung zu entziehen suchten, Propheten zu sein, und ihr dennoch auf Dauer nicht zu entgehen vermochten.

Undogmatisch und diagnostisch

Mit undogmatisch diagnostischem Blick auf die Gegenwart hat Amanshauser nun tatsächlich und ziemlich illusionlos Zukünftiges mit im Visier. Auch wenn er von sich selber her ein „Schriftsteller wider Willen“ genannt sein mag, ein beachtlicher, ernst zu nehmender Schriftsteller ist er trotz kritischer Selbsteinschätzung zweifellos. Es fällt allerdings auf, dass in all seinen Tagebuchaufzeichnungen, insbesondere wenn sie sich auf das Schriftstellermilieu oder auf ihn selber beziehen, es nicht einen einzigen zeitgenössischen deutschsprachigen Schriftsteller von Rang für Amanshauser gibt, den er für literarisch herausragend und wirklich über alle Maßen hervorhebenswert halten würde.

Einigermaßen gut kommen immerhin Ilse Aichinger, Walter Kappacher, Franz Fühmann, Nicolas Born, H. C. Artmann, Arno Schmidt, Sarah Kirsch und Gerhard Meier weg. Über Thomas Bernhard weiß er allerdings recht Bedenkliches, das haften bleibt, zu vermerken (vgl. insbesondere S. 271). Indessen: Mich hat, auf bildende Künstler bezogen (und den Tagebüchern ebenfalls zu entnehmen), z. B. sehr gefreut, dass Gerhard Amanshauser offenbar mit dem schätzenswerten Rudolf Hradil sehr gut bekannt, gar befreundet, gewesen ist und ihn und seine Bilder ebenfalls recht hoch geschätzt hat.

Botschaft des Umschlags

Im Übrigen: Ich gebe es ja gerne zu: Die Umschlagsbildbotschaft des Buches im Verein mit dem gelb herausgehobenen Autorennamen und dem vollen schwarz und weiß gefassten Titel ist bei näherem Hinsehen eine andere, eine erkennbar ironisch gebrochene. Die nur etwas erhöht aufgestellte Dichterkopfskulptur seines scheinbar schon bei Lebzeiten verbürgten Nachruhms begegnet dem noch lebenden Menschen Amanshauser, dem fragenden Aufblick seiner geschlossenen Augen wie dem stummen Halblächeln seiner geschlossenen Lippen. Blickt hier das Konterfei als Artefakt herab auf das Leben oder das Leben ironisch hinauf auf die Kunst?

Auf Buchseite 10 heißt es innerhalb eines längeren, den eigentlichen Tagebuchaufzeichnungen vorangestellten Amanshauser-Zitats: „Wichtig war, dass ich als Dichter völlig unbekannt war und kaum jemals etwas dem Druck übergab; denn später als der Ruf des Schriftstellers sich verbreitete, nahm meine Lebensfreude wieder ab, so dass ich zu der Überzeugung kam, das Ansehen als Dichter könne in unseren Tagen nur widrige und fatale Folgen haben.“

Nicht systematisierbar

Kosmischer Maßstab, Astronomie, Himmelsbeobachtungen, Wetterwahrnehmungen, jahreszeitliche Natureindrücke, Leben mit dem Garten, Sehnsucht nach dem Süden (insbes. Italien), periodischer Italienaufenthalt und seltene, andere Kurzreisen, das pauschal-symbolische Nördliche (das politisch und auch atmosphärisch und vom Lebensstil her Bedenkliche nördlich der Alpen), konsequente Religions- und Ideologiefixierungsverweigerung, entschiedene Distanz zu jeglicher geschichtsphilosophischen Spielart, die grundlegend antinazistische Haltung, das anziehend-abstoßende alljährliche Ritual verlagsgebundener Autorentreffen unter scharfer Beobachtung, Symptome unaufhaltsam scheinenden Kulturzerfalls und fortgesetzt andauernder Naturzerstörung, schonungslos klare Beobachtungen, treffende Formulierungen, Pessimismus gepaart mit Ironie und Humor, bis zuletzt: völliges Fehlen jeglicher Weinerlichkeit in Anbetracht der eigenen schweren Parkinson-Erkrankung; im Gegenteil, nahezu Aussparung des Reden davon…

(Zwischengedanke: Hatten Kierkegaard und Thomas Mann recht, wenn sie meinten, dass mit Bewusstsein Kranke bessere Voraussetzungen für Erkenntnis(se) böten als naiv Gesunde?)

Ein gewichtiges Thema ist auch der unselige Nazismus des eigenen biologischen Vaters und das Gegengewicht des einerseits geistigen Vaters und Mentors und andererseits als Lyriker (nicht als Essayist und Aphoristiker) von Amanshauser keineswegs unkritisch gesehenen Hermann Hakel.

Übrigens: Zahllose, en passant bei seinem freien diarischen Schreiben entstandene eigene Aphorismen Amanshausers, die er selber nicht nachträglich aus ihrem Zusammenhang gelöst und so als Aphorismen gekennzeichnet hat, ließen sich den für diesen Band chronologisch ausgewählten Tagebuchaufzeichnungen Amanshausers aus den Jahren 1964-1999 entnehmen und neu zusammenstellen.

Gerhard Amanshauser: „Es wäre schön, kein Schriftsteller zu sein“. Tagebücher. Residenz Verlag, St. Pölten/Salzburg/Wien, 2012, 400 Seiten. 26,90 €




Der Kinder- und Drehbuchautor Justus Pfaue wurde 70 – ein arg verspäteter Glückwunsch

Ich bin ja hier so einer, der sich gern mal bei Todestagen wirklich wichtiger Menschen in dieser Republik zu Wort meldet, der aber noch viel lieber aufzeigt, wenn solche Menschen Jahrestage haben, Geburtstage zum Beispiel. Da ist mir im vergangenen Jahr doch einer durchgegangen. 2012 wurde Justus Pfaue 70 Jahre alt.

Wie? Etwa vergessen? Das ist der kluge Mensch, aus dessen Feder so vieles stammt: „Timm Thaler“, „Patrik Pacard – Entscheidung im Fjord“, „Oliver Maass – Das Spiel mit der Zaubergeige“, „Bas-Boris Bode – Der Junge, den es zweimal gibt“, „Teufels Großmutter oder der Himmel auf Erden“, „Anna“ und noch vieles andere. Justus Pfaue hat viele Kinderbücher, sehr viele Drehbücher und aus diesem Fachbereich seiner rastlosen Arbeit das eine oder andere auch für sehr, sehr bekannte Filme geschrieben, er ist einer der bedeutendsten seiner Zunft in Europa, lebt wahlweise in München und Positano (Campagna, Italien), ein Ort, von dem John Steinbeck mal schrieb, dass er der einzig senkrechte auf der Welt sei. Und – Justus Pfaue kommt aus Unna.

Vor Jahrzehnten hatte ich mal das Glück und das Vergnügen, mit dem Mann, in dessen Geschichten bis heute gern die besten deutschen Schauspieler auftreten, zu telefonieren, obwohl der eine grundständige Abneigung gegen alles hegt, was mit Journalismus zu tun hat. Beinahe eine halbe Stunde dauerte das Gespräch, was gemessen daran, dass er ansonsten eher zweisilbig bis einsilbig daher kommt, geradezu inflationär anmutet. Ich gestehe, ich habe jede Sekunde genossen, weil ich um seine verschlossen-freundliche Art wusste.

Daher bewahre ich an dieser Stelle auch mein Herrschaftswissen über Justus Pfaues Geburtsnamen, den anscheinend nicht einmal das allwissende Wikipedia kennt. Nur ein paar Handverlesene in Unna wissen von ihm … und das ist auch gut so.

Er ist Jurist, forensischer Psychologe und gestochen scharf Beobachtender des menschlichen Alltags, woraus er sich bereits in Studienzeiten Material für seine späteren Produkte holte und für die „ZEIT“ und den Hörfunk Berichte oder glossierende Geschichten schrieb.

Brigitte Horney, Peter Pasetti, Gerd Baltus, Loni von Friedl, Eberhard Feik, Elfriede Kuzmany, in neuerer Zeit Jürgen Vogel – alles Namen, die in den Rängen der Großen deutscher Schauspielerei zu siedeln sind. Sie alle rissen sich darum, in einer Serie oder einem Fernsehfilm mitzuspielen, dessen Grundidee von Justus Pfaue entwickelt worden war.

Bevor er so begehrt und offensichtlich auch von Fachleuten zu Recht bewundert wurde, zog es ihn durch viele Bereiche Unnas und immer mal wieder mit seinen Freunden ins Café Jokisch (ungefähr da, wo heute ein überflüssiger Balkon die Unnaer Marktatmosphäre stört). Da half die „Kleine Jokisch“ gern mal dem Vater und bediente die Kundschaft. Der junge Justus und seine Freunde hatten es besonders gern, wenn gerade sie ihnen den Kaffee servierte, weil die „Kleine Jokisch“ ein sehr apartes Wesen war (und sie ist das auch heute noch).

Dann aber zog es ihn in Richtung des deutschen Südens und er wählte München zu seiner Hauptresidenz. Zu den Unnaer Freunden hat er nur vereinzelte Kontakt, und da er auf seine Privatsphäre damals wie heute empfindlich achtete, behalte ich auch in dieser Hinsicht mein Wissen für mich.

Nun kann ich ja auch nur noch nachträglich zum 80. gratulieren, worauf der Landsmann vom Hellweg, der richtig gebürtig eigentlich aus Ballenstedt (Sachsen-Anhalt) stammt, wohl aber keine nennenswerten Reaktionen zeigen wird. Ich tu’s trotzdem.




Ein Kaufhaus erfüllt nicht alle Wünsche – der neue Roman von Judith Kuckart

Silvester im Bungalow. Jazz-Produzent Karatsch lädt ein. Seine Frau Vera hat Geburtstag. Wie in jedem Jahr werden Mettbrötchen geschmiert und der Videorecorder wird programmiert. Wie in jedem Jahr werden sich die immer gleichen Gäste einfinden, um den immer gleichen Film anzuschauen.

Einen Film, in dem Hausherrin Vera als junges Mädchen gemeinsam mit Jugendfreund Friedrich die Hauptrolle spielte. Auch Friedrich wird wieder unter den Gästen sein. Friedrich, der den schönen Nachnamen Wünsche trägt, hat gemeinsam mit seiner exzentrischen Schwester Meret das gleichnamige Kaufhaus geerbt. Er will im neuen Jahr alles daransetzen, dass das Kaufhaus Wünsche seinem Namen wieder gerecht wird. Vera indes hat andere Wünsche. Wünsche, die sie sich nicht einfach in der Damenabteilung des Kaufhauses erfüllen kann. Es ist ihr Leben, das ihr nicht mehr passt, das ihr zu eng geworden ist.

Unter falschem Namen nach London

Einer Eingebung folgend geht sie an diesem Silvester ins örtliche Hallenbad, sie hat die vage Hoffnung, sich dort freischwimmen zu können. Sie hilft dem Zufall nach und „findet“ den Ausweis einer fremden Frau. Kurz entschlossen nimmt sie deren Identität an und kehrt nicht nach Hause zurück. In das Zuhause mit den Mettbrötchen, dem Film und dem Ehemann, der früher ihr Pflegevater war.

Wünsche, Judith Kuckart

Stattdessen nimmt sie den nächsten Flug nach London. Seit sie dort einmal mit Meret Wünsche war, ist London ihr Sehnsuchtsort. Doch so wie die Freundschaft mit Meret eher eine gelebte Rivalität war, ist auch London und der Versuch eines ganz anderen Lebens nur eine Illusion. Zunächst fällt sie in frühere schlechte Angewohnheiten zurück, wird zur Kurzzeit-Kleptomanin und betätigt sich schließlich als Hilfskrankenschwester. Zumindest die Dementen, die sie dort gepflegt hat, „werden sie für den Rest ihres Lebens nicht mehr vergessen“. Vera erhält selten Lob, auch dieses ist eher fragwürdig.

Aus dem bisherigen Leben aussteigen

Desillusioniert erkennt Vera schließlich ihre Lebenslüge: „Richtig Schauspielerin zu sein, hätte bedeutet, mich anstrengen zu müssen, eine ganz andere zu sein.“ Sie kehrt resigniert nach Hause zurück. Sie kann keine andere sein, sie „kann nur als die leben, die alle kennen“. Vielleicht war sie auch einfach nur zu lange zu vorsichtig mit ihren Wünschen.

Die Geschichte von Vera steht im Mittelpunkt des Romans „Wünsche“. Doch auch die Daheimgebliebenen suchen einen Neuanfang nach etlichen, vorher auf unterschiedlichste Art gescheiterten Versuchen. Friedrich Wünsche will aus seinem zwar erfolgreichen, aber ihn langweilenden Manager-Leben aussteigen. Er will das Kaufhaus wieder den Wünschen seiner Käufer und den Traditionen der Familie Wünsche zuführen. Sein bemühtes Credo: „Neue Zeiten brechen an, indem wir die Zeit zurückdrehen.“ Meret Wünsche ist die auffälligste Figur im Roman, Agent Provocateur unter den mutlosen und angepassten Bürgern der Stadt. In ihrem bisherigen Leben hat sie zwischen Dekadenz und Verwahrlosung geschwankt, noch immer weiß sie nicht, wo sie hin will. Allenfalls hat sie eine leise Ahnung, wie sie das ihr gegebene Talent nutzen könnte.

Zufrieden mit den Mettbrötchen

Veras Ehemann und Ex-Pflegevater Karatsch hingegen ist eigentlich ganz zufrieden mit den Mettbrötchen und dem Leben im Bungalow. Große Sorgen macht er sich nicht um seine verschwundene Ehefrau. Er ist sich sicher, dass sie noch lebt, aber er versteht sie nicht. Zufällig findet er ihre Spur und macht sich samt Sohn Jo und Friedrich auf nach London, just in dem Moment, als Vera schon fast wieder zuhause ist. Auf dem Rückweg erleidet er einen Schlaganfall. Anstatt wie geplant in Dünkirchen Muscheln zu kaufen, lernt der zu spät gekommene Suchtrupp die dortige Notaufnahme kennen. So ist ironischerweise derjenige, der am wenigsten Veränderung wünschte, am Schluss der, der die größte Veränderung hinnehmen muss.

Die Autorin Judith Kuckart ist in Schwelm geboren. Auch wenn der Schauplatz ihres neuen Romans nicht namentlich genannt wird, einige Hinweise deuten daraufhin, dass man ihn wie den Geburtsort der Autorin am Rande des Ruhrgebiets ansiedeln darf. Auf jeden Fall spielt die Enge einer Kleinstadt, in der jeder jeden schon seit der Kindheit kennt, eine entscheidende Rolle im Buch. Es geht zwar um die ganz großen Themen: die Sinnkrise auf halber Strecke des Lebens, den Unterschied zwischen Wunsch und Sehnsucht und die Frage nach Heimat. Doch die Protagonisten sind zu gefangen in der erlernten Provinzialität. Ihnen gelingt kein großer Befreiungsschlag, es sind eher halbherzige Versuche, der vorgezeichneten Tristesse zu entkommen.

All die verpassten Chancen

„Wünsche“ spiegelt das Leben als Summe der nicht ergriffenen Chancen, für die es jetzt zu spät ist. Das Kaufhaus Wünsche ist das auffälligste Sinnbild im Roman. Das Leben gleicht in der Regel keinem Warenhaus, so schnell findet man keinen Bon, der zum Umtausch berechtigt.

Zum Ende hin finden sich alle Figuren in der Provinz wieder, um einige Illusionen ärmer. Es bleibt offen, wie sehr die Geschehnisse in diesem Jahr die Protagonisten verändert haben und ob dies überhaupt der Fall ist. Nur der Weg derjenigen, die den größten Ausbruchsversuch gewagt hat, ist vorgezeichnet. Vera wird ihren Mann pflegen müssen. Das hat sie ja in London bereits geübt. So fesselt genau das, was sie in diesem Jahr versucht hat, sie noch enger an ihr altes Leben.

Judith Kuckart lebt heute in Zürich und Berlin. Von 1986 bis 1998 leitete sie das von ihr gegründete Tanztheater Skoronel, konzentriert sich aber heute erfolgreich auf ihre Arbeit als Regisseurin und Autorin. Ihre Sprache ist melodisch und rhythmisch, am Beginn des Romans wird der Leser sehr schnell in einen eigenartigen Sog gezogen, der sich leider irgendwann einfach verflüchtigt. Viel zu schnell kommt ein Moment, in dem die Geduld überstrapaziert wird. Es sind der Zufälle zu viele, die schicksalhaften Begegnungen im Roman sind zu konstruiert, als dass sie noch glaubwürdig erscheinen mögen. Auch die Tragik in den Nebenschauplätzen wird zuviel, zumal der Eindruck entsteht, sie würden nur als Stimmungswerte benutzt.

Metaphern wie aus dem Sonderangebot

Zu Beginn gefallen die Bilder, die Judith Kuckart erzeugt, aber schnell ist man ihrer überdrüssig. Man hat fast den Eindruck, Metaphern wie das flüsternde Universum oder die hörbar glitzernden Augen habe es im Sonderangebot gegeben. Dazu kommt, dass manche Sätze einfach wie die Ausformulierung bekannter Sinnsprüche anmuten. Ganz großen Wert legt Vera auf ihr Credo: „Wenn man glücklich ist, weiß man oft nicht, dass man glücklich ist. Aber hinterher weiß man es. Wenn man traurig ist, weiß man immer genau, wie traurig man ist.“ Richtiggehend stolz ist sie auf diese Erkenntnis. Dumm nur, dass dies schon lange vor ihr Colette etwas prägnanter formulierte: „Was für ein herrliches Leben hatte ich. Ich wünschte nur, ich hätte es früher bemerkt.“

Insofern gleicht die Erzählung durchaus einem Rundgang durch das Kaufhaus Wünsche. Nach dem Rundgang ist die Rechnung zu zahlen, dem Glücksrausch beim Kauf folgt die Ernüchterung. Am Anfang hat man noch eine gewisse Sympathie für Vera, doch am Ende findet man sie und ihre Manierismen einfach nur unsympathisch und wird ihrer überdrüssig. Als Leser wird man sich bis zum Schluß auch nicht klar darüber, ob man die handelnden Personen überhaupt mag. Zumindest in dem Punkt hat man sich dann ganz gut in den Roman eingefühlt, denn auch in der Erzählung wissen die miteinander auf Gedeih und Verderb verwobenen Protagonisten nicht recht, ob sie einander mögen. Es sind schon oft eher Verwünschungen als Glückwünsche, die sie miteinander verbinden – entgegen den hehren Absichten des Herrn Wünsche. Vielleicht sollten sie alle auf Epikur hören: „Wenn du einen Menschen glücklich machen willst, dann füge nichts seinem Reichtum hinzu, sondern nimm ihm einige von seinen Wünschen.“

Judith Kuckart: „Wünsche“. Roman. DuMont Buchverlag. 301 Seiten, €19,99




Kennedys frühe Deutschland-Reisen: Seine Berlin-Rede hatte eine lange Vorgeschichte

Der Besuch von US-Präsident Barack Obama ruft nicht nur Erinnerungen an den legendären Auftritt von John F. Kennedy wach, dessen Aufenthalt in Berlin sich in diesen Tagen zum 50. Mal jährt. Er bietet auch einmal mehr Anlass, die Rede des damaligen Hoffnungsträgers historisch einzuordnen und zu analysieren.

Dass die vier Worte „Ich bin ein Berliner“, mit denen Kennedy Geschichte schrieb, mehr waren als nur ein momentaner oder spontaner Ausdruck von Solidarität mit den Menschen in der geteilten Stadt, versucht Oliver Lubrich in seinem neuen Buch dem Leser nahezulegen. Es handelte sich, so betont der Professor für Neue deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik an der Uni Bern, wahrlich nicht um den ersten Besuch von JFK in Deutschland, sondern Kennedy hatte während seiner Reisen in den 30er und 40er Jahren eine ganze Reihe von Eindrücken gesammelt. Diese spiegeln sich in Briefen und Tagebüchern wider, die nach Aussage von Lubrich jetzt erstmals vollständig in deutscher Übersetzung veröffentlicht werden.

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Wer allerdings nun auf ausführliche und weitreichende Betrachtungen über Deutschland, den Krieg, Nazi-Regime und Wiederaufbau hofft, der wird den aufwändig gestalteten Band wohl eher enttäuscht zur Seite legen. Kennedy berichtet zwar über seine drei Reisen in den Jahren 1937, 1939 und 1945, doch insgesamt betrachtet, sind es nur wenige Passagen und die mitunter auch noch in knappen, kurzen Sätzen. Gleichwohl sollte Kennedy mit einigen Einschätzungen und Prognosen richtig liegen, wie es Herausgeber Lubrich in seinen ausführlichen Erläuterungen hervorhebt. Gleichwohl sind auch Aussagen zu finden, die irritierend wirken.

Kennedys erste Begegnung mit Deutschland, ein Jahr nach den Olympischen Spielen in Berlin, war Teil einer Europareise, die ihn unter anderem nach Oberammergau, München und Köln führte. Gemeinsam mit einem Studienfreund unternahm er wohl vor allem auf Geheiß des ehrgeizigen Vaters Joseph P. Kennedy die Tour durch Frankreich, Italien, Österreich und Deutschland. Tiefgreifende politische Betrachtungen sucht man hier vergebens, bis auf wenige und dann auch eher schwierige Passagen. Nachdem er seinen Herbergsbesitzer als „großen Hitler-Fan“ bezeichnet hat, schlussfolgert er: „Es besteht kein Zweifel, dass diese Diktatoren im eigenen Land aufgrund ihrer wirkungsvollen Propaganda beliebter sind als außerhalb“. Munter erzählt JFK von weiblichen Bekanntschaften und vom Besuch im Nachtclub. Doch zum Tagesablauf des Katholiken gehörten nicht nur amouröse Abenteuer, sondern auch ein klar strukturiertes Kulturprogramm. Beindruckt war er unter anderem vom Kölner Dom, „Glanzstück der gotischen Architektur“.

Als sich Kennedy zwei Jahre später erneut auf den Weg über den großen Teich macht, hat er zunächst einmal das Ziel, für seine Abschlussarbeit an der Harvard-Universität zu forschen. Das Münchner Abkommen von 1938 lieferte die Blaupause, will sich doch JFK, dessen Vater inzwischen zum amerikanischen Botschafter in Großbritannien ernannt worden ist, mit der Nachgiebigkeit der Demokratien befassen. Kurz vor Kriegsbeginn weilt er unter anderem in München, Berlin, Danzig und Warschau. Seine politischen Reflexionen sind inzwischen aber weit intensiver als noch beim Besuch 1937, wie aus einem Brief an den Freund, mit dem er die erste Deutschlandtour unternahm, hervorgeht. Kennedy gibt seiner Sorge Ausdruck, dass das NS-Regime Polen in die Rolle des Aggressors drängen könnte. Und tatsächlich: Beim Einmarsch am 1. September 1939 bezichtigt die NS-Propaganda den polnischen Staat unter anderem, den Sender Gleiwitz überfallen zu haben.

Beim dritten Besuch ist der Krieg vorbei, Kennedy arbeitet als Journalist für den Medienunternehmer Hearst und hat Gelegenheit, die Potsdamer Konferenz (17. Juli bis 2. August 1945) aus nächster Nähe zu erleben und Hitlers Berghof auf dem Obersalzberg zu besuchen. Er schreibt aber nicht nur seine politischen Einschätzungen nieder, wie etwa, dass die Russen wohl in Deutschland eine eigene Sowjetrepublik gründen wollen, er berichtet auch über die Eindrücke aus dem völlig zerstörten Berlin. „In manchen Straßen ist der Gestank der Leichen überwältigend- süßlich und ekelerregend“. Besonders geißelt Kennedy, dass russische Soldaten in großer Zahl deutsche Frauen vergewaltigen. Überhaupt sei der Umgang der Sowjetarmee mit der deutschen Bevölkerung so, „wie es die Propaganda vorhergesagt hatte“.

Verstörend wirken indes die Sätze Kennedys ganz am Ende seines Berichts, als er noch einmal auf Hitler zu sprechen kommt. „Sein grenzenloser Ehrgeiz für sein Land“ hätten ihn zwar zur Bedrohung für den Weltfrieden gemacht, aber „er hatte etwas Geheimnisvolles“. Es sei, so meint Kennedy, „der Stoff, aus dem Legenden sind.“ Der Herausgeber des Buches liefert für die Worte eine Erklärung, über die jeder Leser selbst urteilen sollte: Die Aufzeichnungen seien im Eindruck des Obersalzbergs entstanden und damit vor einer überwältigenden Naturkulisse…

Festhalten lässt sich gewiss, dass Kennedy schon bei seiner ersten Reise von der Schönheit deutscher Landschaften und Städte als auch von dem Leben der Menschen angetan war, wie es seine Aufzeichnungen bezeugen. Wahrscheinlich lässt sich mit dieser Begeisterung auch die kleine Episode erklären, mit der Kennedys Besuch 1963 in Deutschland endete. Im Gespräch mit dem damaligen Kanzler Konrad Adenauer kommt die Sprache auf die politische Großwetterlage und die schwierigen internationalen Bedingungen in Zeiten des Kalten Krieges. Kennedy erzählt nun das, was er am Vorabend bereits dem hessischen Ministerpräsident gesagt hatte. Seinem Nachfolger, also dem nächsten US-Präsidenten, werde er eine Mitteilung hinterlassen mit der Aufschrift „Bei Mutlosigkeit öffnen“. Darin stehen, so Kennedy, dann nur drei Worte: „Geh nach Deutschland“.

Oliver Lubrich (Hg.): „John F. Kennedy – Unter Deutschen“. Aus dem amerikanischen Englisch von Carina Tessari, mit einem Geleitwort von Egon Bahr. Aufbau-Verlag, 256 Seiten, 22,99 Euro.




Wer blättert denn noch im Brockhaus?

Wie gern sehen sich manche gedruckt! Es ist ihnen ein Antrieb des Schreibens, vielleicht sogar ein hauptsächlicher.

Auch mit dem Internet hat sich diese Form des Bleibenwollen nicht erledigt, sie hat sich allerdings gewandelt, ins Flüchtige gewendet. Wenngleich man uns sagt, dass im Netz nichts verloren gehe, so beschleicht einen hin und wieder das Gefühl, mit einem Wusch könne alles hinschwinden für immer. Doch auch im Virtuellen hinterlässt man gern seine mehr oder weniger kümmerlichen Spuren, wenn es auch nicht mehr den geringsten Anschein von Ewigkeit hat.

Neuere Techniken haben eine totalitäre Tendenz; dergestalt, dass sie alles Vorherige verdecken. Um mit einem Filmtitel von Alexander Kluge zu reden, so ist es „Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“. Man hat nur noch eine vage Vorstellung davon, was ehedem gewesen ist. Wie war das noch, die Typenhebel kraftvoll zu betätigen und Buchstaben mit der mechanischen Schreibmaschine aufs Papier sausen zu lassen? Wie war das noch, den eigenen Schrieb gar von bloßer Hand zu erzeugen? Wie war das mit dem Wort in den Zeiten vor Word?

Mit den Jahren geht die Übung verloren. Man beginnt staksig zu schreiben, die Hand fährt ungelenk und etwas unbeholfen dahin. Die allermeisten verfassen kaum noch handschriftliche Briefe, allenfalls roh hingeworfene Notizen, Ideenskizzen. Ansonsten wird einem die Handschrift ungewohnt, ja vielleicht schon ein wenig befremdlich.

Just vor zwei Tagen stand in den einstweilen verbliebenen Zeitungen, dass es künftig kein gedrucktes Brockhaus-Lexikon mehr geben wird. Was früher als eherner Bestand bürgerlichen Wissens gegolten hat, ist im Schwinden begriffen. Aber wer schaut denn auch noch ins lederne Lexikon, dessen Bände zusehends veralten? Wie gern hat man darin einst geblättert; nicht immer gezielt, sondern gern kreuz und quer, von diesem auf jenes kommend, das eine oder andere unverhofft hinzu lernend.

Da dies hier ein Kulturblog aus dem Revier ist, sei der guten Ordnung halber noch vermerkt, dass der Urvater des besagten Lexikons, Friedrich Arnold Brockhaus (1772-1823), in Dortmund geboren und aufgewachsen ist. Auch hat er hier erste Geschäfte (Wollhandel) betrieben. Seine Buchhandlung als Vorläuferin des Verlags F. A. Brockhaus hat er 1805 freilich in Amsterdam gegründet. Der Mann war nach eigenem Bekunden von einer „wahren Bücherwuth“ besessen. Doch dass wir hier seinen Namen mit Wikipedia verlinken, sagt denn auch einiges über die grundlegend gewandelte Lexikographie aus.




Ödnis im Zeichen der Löschblattwiege: Walter E. Richartz’ „Büroroman“ – wiedergelesen

„Zu jedem Schreibtisch gehört die Schreibgarnitur aus Bakelit. Sie besteht aus Schale, Notizzettelkästchen und Löschblattwiege.“

Das klingt ja allerliebst nostalgisch. Tatsächlich entstammt die knappe Schilderung dem „Büroroman“ von Walter E. Richartz (1927-1980), der 1976 herauskam und heute noch als Taschenbuch greifbar ist.

Welch ein zeitlicher Abstand! Damals wurden gerade die ersten Versuche mit EDV (Elektonische Datenverarbeitung) unternommen. Sie scheinen zunächst nur nebulös am Horizont dieses Romans auf. Doch gegen Schluss kosten sie die ersten Arbeitsplätze. Von Fax, Handys oder gar Internet ganz zu schweigen. Gerade deshalb ist es interessant, dieses Buch wieder einmal hervorzuholen. Welche Signaturen sind seither für immer verschwunden und was zählt womöglich zum Langzeitbestand des bundesdeutschen Bürolebens?

Richartz

Wir lernen vor allem Herrn Kuhlwein, Frau Klatt und Fräulein Mauler (so sagten manche damals noch) kennen, die sich in Frankfurt am Main ein Büro im zehnten Stockwerk teilen. Wir lernen sie genauer kennen, als uns lieb ist. In ihrer Kostenkontroll-Abteilung vollzieht sich höllisch das Immergleiche, ein monotones, erbärmlich reduziertes, quasi kästchenförmiges Leben, ein oft biestiges Schweigen zum Terror der kleinen Geräusche, allenfalls lau gewürzt von kleinen gegenseitigen Bosheiten.

Absoluter Stillstand um 15.10 Uhr

Durch einen mikroskopischen Blick auf die (kaum) verstreichende Zeit – um 15.10 Uhr ist absoluter Stillstand erreicht, der Feierabend scheint ferner denn je – lässt uns Richartz am ungemein zähflüssigen Alltag des Büros teilnehmen. Hin und wieder muss man grinsen, doch wohl ziemlich müde und gequält. Allein zu lesen, wie überaus penibel Herr Kuhlwein eine Orange schält, um sie hernach umständlich zu verzehren, könnte einen schier rasend machen. Wer jemals regelmäßig in einem Büro gearbeitet hat, kennt solche marternden Szenen wahrscheinlich zur Genüge.

Was in der Produktionsabteilungen des Unternehmens namens DRAMAG (soll der Name etwa auf Dramen hindeuten?) überhaupt hergestellt wird, wissen die Büro-Angestellten gar nicht so genau. Sie schmoren, teilweise seit Jahrzehnten, im eigenen Saft.

Willkommener Unglücksfall

Immerhin wird die Ödnis manchmal unterbrochen: Der freilich immergleiche Kantinengang sorgt für scheinbare Bewegung, Hitzewellen oder Regenfluten liefern kurzzeitig Gesprächsstoff, Rituale vor und nach dem Urlaub bringen sogar für Minuten einen Schuss Übermut ins ewiggleiche Getriebe.

Vor solchem Hintergrund wird bereits der Besuch einer Ex-Kollegin, die offenbar glücklich geheiratet hat (soll man’s ihr denn glauben und gönnen?), zum mittelgroßen Ereignis. Und als bei Sturm beinahe ein Fensterputzer von der Hochhausfassade abstürzt, erfasst die ganze Firma endlich ein Hauch von Dramatik, die gleichsam der seelischen Hygiene zugute kommt. Denn nach der kleinen Katastrophe herrscht für kurze Zeit eine ungeahnte Aufgeräumtheit.

In der Äbbelwoi-Hölle

Durch die erwähnte Frau Klatt kommt punktuell jene hessische Mundart ins Spiel, deren Äbbelwoi-Abgründe einen schon seit den Zeiten von „Babba Hesselbach“ oder dem „Blauen Bock“ schaudern lassen. Damals, auf einem ersten Gipfel der RAF-Terrorfahndungen, hörte sich das dann schon mal so an: „Dene geheert der Kopp ab, geheert dene.“

Kurzum: Bis hierhin haben wir einen Roman gelesen, der seine armseligen Gestalten vor allem mit parodistischen Mitteln kenntlich macht. Weder die dynamischen Chefs noch der Gewerkschafter auf der Betriebsversammlung entgehen dem satirisch überzeichnenden Zugriff.

Doch dann vollzieht sich mittendrin ein unerfindlicher Umschwung. Auf einmal wird besonders den drei Figuren im zehnten Stock Verständnis entgegen gebracht. Plötzlich werden sie nicht nur von außen, sondern von innen her betrachtet. Ihre Beweggründe werden nunmehr ernst genommen. Ihre kleinen Träume, ihre legitimen Sehnsüchte, ihre Verletzungen, ihre bestürzende Einsamkeit und ihre Tragik finden Beachtung.

Hatte es vorher den Anschein, als mache sich der Autor durchweg lustig, so werden nun die Lebensgeschichten sorgsam abgewogen und gewürdigt. Nun gut. Menschlicher ist das allemal. Aber wie verträgt es sich mit dem Duktus der ersten Hälfte des Romans? Gar nicht. Das Ganze wirkt leider ziemlich zwittrig.

Bis zur letzten Büroklammer

Den Schluss, der wiederum im nüchternen Gewande daherkommt, bildet eine „Inventur“, in deren Verlauf alle Gegenstände im Büro verzeichnet werden – bis hin zur letzten Büroklammer. Mit all den Dingen und ihren Tücken sind auch so manche Worte verschwunden. Die Akten von damals sind eh längst geschreddert worden. Die letzten Gedankenblitze erhellen auf schwer übertreffliche Art die Phänomenologie der Neonlampe.

Trotz gewisser Schwächen in der Konstruktion kann Richartz’ Roman als markanter Vorläufer gelten. Bis dahin war das Alltagsleben der Angestellten allenfalls ein Nebenthema der Literatur gewesen. Der wunderbare Kritiker Georg Hensel schrieb damals sehr richtig in der FAZ: „Kühn pflanzt Richartz die Fahne des Erstbesteigers in einem Büro-Hochhaus auf.“

Es war sicherlich kein Zufall, sondern ein Zeichen der Zeitreife, dass in den folgenden Jahren 1977, 1978 und 1979 Wilhelm Genazinos „Abschaffel“-Trilogie erschien, die das Dasein der Angestellten vollends zum Stoff erhob und in allen Facetten ausleuchtete. Genazino, der die Romanhandlung übrigens ebenfalls in Frankfurt ansiedelte, zählt heute zu den ganz Großen unserer Literatur. Ob er vielleicht anfangs die eine oder andere Anregung aus dem „Büroroman“ des leider so früh verstorbenen Richartz empfangen hat?

Walter E. Richartz: „Büroroman“. Diogenes Taschenbuch. 274 Seiten. 9,90 Euro.




Still und stoisch durch den Krieg gehen: „Neue Zeit“ von Hermann Lenz – wiedergelesen

Wie ist das im Zweiten Weltkrieg gewesen, Tag für Tag, bis zum bitteren Ende? Es gibt wahrlich zahllose Bücher über „Ereignisse“ jener Jahre, hin und wieder auch übers Alltägliche. Doch Hermann Lenz’ Roman „Neue Zeit“ ist und bleibt etwas Besonderes.

Erstmals 1975 erschienen, ist das Werk jetzt in einer neuen Ausgabe greifbar. Man kann es wieder und wieder lesen. Als Zeugnis des Nebenher, des Unscheinbaren, das wohl auch damals die meisten Geschehnisse grundiert hat. Als Dokument einer großen Hilflosigkeit angesichts der Zeitläufte. Als Studie darüber, wie man mitten im allergrößten Dreck ein Mindestmaß an Anstand wahren kann. Und dergleichen mehr.

Weder Helden noch Antihelden

Fernab von jeder Versuchung zum Spektakulären oder Heroischen, aber auch nicht mit vollmundiger Antikriegs-Rhetorik, ja überhaupt mit sehr zurückhaltender Wahl der Worte und Stilmittel, erzählt Lenz die Geschichte seines Alter ego Eugen Rapp, eines Studenten der Kunsthistorie, der wie in einer Art Trance durch die Wirren des Krieges geht; zunächst bei militärischen Übungen, dann als Soldat beim vergleichsweise unblutigen Einmarsch in Frankreich, sodann über Jahre hinweg an der Ostfront in Russland und schließlich in amerikanischer Gefangenschaft.

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Die stark autobiographisch geprägte Handlung setzt 1937/38 ein und reicht bis 1945. Zu Beginn trifft der Schwabe Eugen Rapp in München ein, um sich einen neuen Doktorvater für eine Arbeit über Dürer zu suchen, denn die jüdischen Professoren in Heidelberg sind von den Nazis entlassen worden. Rapp hat sich derweil zaghaft mit „Treutlein Hanni“ angefreundet, was sich als zunehmend riskant erweist, denn die junge Frau aus hochkultiviertem Hause, die Hermann Lenz 1946 heiraten wird, ist „Halbjüdin“ (welch eine verquere Begrifflichkeit von allem Anfang an).

Sehnsucht nach gestern

Vor der immer gewaltsamer auftrumpfenden „Neuen Zeit“ und ihren üblen Protagonisten will sich Rapp in andere Epochen fortdenken. Seine innige Sehnsucht richtet sich rückwarts, beispielsweise in die Ära der friedlich verschlafenen deutschen Kleinstaaterei, ins sonst so oft geschmähte oder belächelte Biedermeier zwischen Spitzweg und Mörike. Zustimmend zitiert er einen Professor: „Da nehme ich sogar das Muffige in Kauf…Dagegen das mächtige Deutschland Bismarcks: Sie sehen, was daraus geworden ist.“

Ein weiterer, mindestens ebenso wichtiger Fluchtpunkt ist das Wien früherer Jahrzehnte, die Welt von Schnitzler und Hofmannsthal. Es entwickelt sich also eine tiefe Abneigung gegen alles Gegenwärtige, ein heimwehkranker Hang zum Früheren.

Doch einfach aus dem Jetzt wegstehlen, so die bestürzende Erkenntnis, kann man sich nicht. Und so erlebt dieser Eugen Rapp Jahr um Jahr als überaus befremdliches Vor-sich-Gehen. Warum, so fragt er sich nahezu naiv, wird überhaupt Krieg geführt? „Du aber verstehst nicht, warum ein Russe dein Feind sein soll, wenn er dir nichts getan hat…“

„Zigaretten rauchen und allein sein“

Rapp gehört nirgendwo richtig dazu, er hält sich – so gut es irgend geht – aus dem Gröbsten heraus, macht aber letzten Endes doch zwangsläufig mit: „…dich abseits fühlen, ist dir angemessen“, hält er an einer Stelle fest. Am liebsten sieht er sich so: „Sitzen. Kritzeln. Zigaretten rauchen und allein sein.“ Andererseits: „Du bist jetzt hier hineingestellt; ausweichen kannst du nicht mehr.“ Ja, einmal heißt es sogar: „Laß alles laufen, wie es will. Nur im Krieg nichts ändern wollen…“ Und dann eine solch jähe Einsicht, die einem das Hirn zerreißen müsste: „Denn wozu machst du hier mit? Damit sie hinten ungestört Menschen zu Seife machen können und den Seifemachern nichts passiert…“

Innerlich distanziert bleiben, dennoch genau hinsehen und getreulich aufzeichnen – das kennzeichnet die stoische, zuweilen auch sture Haltung dieser Figur, die wundersam unversehrt, geradezu schlafwandlerisch durch die Hölle wankt.

Die Schilderung der Vorgesetzten und „Kameraden“ schwankt zwischen individuellen Skizzen und Typenkomödie. Fast allen, so wird es hier geschildert, ist die verlorene Sache frühzeitig klar, doch von oben kommen Durchhalteparolen. Die Hierarchien bleiben bestehen. Wer eh schon oben war, bleibt auch im Krieg oben; oft auch darüber hinaus.

Dieser feine und friedliche Ton

Die wahre Sensation dieses Buches ist der durchweg leise und feine Ton. Schon von daher ist der Roman sozusagen Zeile für Zeile ein fortwährender Einspruch gegen alles Kriegerische. Es ist wie die Erprobung einer Sprache, die wieder für kommende Friedenszeiten taugt. Das immer wieder eingestreute schwäbische Idiom steht bei all dem für regionale Verwurzelung im Herkömmlichen, der freilich im Krieg alles fraglos Beschützende abhanden gekommen ist. Einerseits ist die Mundart ein Reservoir des Friedfertigen, dann wieder klingt sie nur noch begütigend. Wenn es etwa heißt, der Krieg sei „kein Schleckhafen“, so mutet das allzu harmlos an. Doch vielleicht hat man ja damals daheim so empfunden. Wenn Rapp auf Fronturlaub nach Schwaben kommt, fängt er auch die dortige, seltsam unwirkliche Lage der Verhältnisse ein.

Mit moralisch sich erhaben dünkendem Halbwissen von heute darf man freilich nicht an diesen Roman herangehen. Natürlich kann man Rapps nur ansatzweise widerspenstige Denkungsart leichthändig verdammen. Ungleich schwerer wäre es schon, dies aus dem Bewusstsein der Zeit heraus zu tun. Und überhaupt: Wer von uns hätte in vergleichbarer Situation den offenen Widerstand gewagt?

Ein gewisses Unbehagen bleibt

Gewiss, an mancher Stelle beschleicht einen Unbehagen. Hat Lenz hier eine Apologie in eigener Sache verfasst? Hat er für Hanni festhalten wollen, dass er im größten Chaos stets an sie gedacht hat, auch in Phasen allgemeiner Auflösung keinen weiblichen Anfechtungen erlegen ist und dass er ihren Ring durch all die finstere Zeit gerettet hat? Ja, das mögen durchaus Antriebe des Schreibens gewesen sein. Und doch weist der Roman weit darüber hinaus. Abermals gepriesen sei das Gespür von Peter Handke, der Lenz einst nachdrücklich empfohlen und somit über eingeweihte Zirkel hinaus bekannt gemacht hat.

Dieser Neuauflage aus Anlass des 100. Geburtstages des Autors (1913-1998) sind einige erstmals publizierte Briefe von Hermann und Hanne Lenz aus der erzählten Zeit des Romans beigegeben. Es sind Auszüge aus einem umfangreicheren Schriftwechsel, dessen Edition noch bevorsteht. Darauf warten wir jetzt.

Hermann Lenz: „Neue Zeit“. Roman. – Mit einem Anhang: Briefe von Hermann und Hanne Lenz 1937-1945. Insel Verlag. 432 Seiten, 22,95 Euro.




Ein Künstler- und Lebensroman: Ralph Dutlis Debüt „Soutines letzte Fahrt“

Was haben Ralph Dutli und Theodor Fontane miteinander gemeinsam?
Sie haben beide mit 58 / 59 Jahren ihren ersten Roman veröffentlicht.

Bei Fontane wissen wir, dass auf seinen umfangreichen Erstling „Vor dem Sturm“ noch viele gute, meist kürzere Romane gefolgt sind, bis hin zu seinem späten, wieder etwas umfangreicheren Meisterwerk „Der Stechlin“; bei Dutli wissen wir vorerst nur, dass ihm sein Erstling wirklich gut gelungen ist und dass wir vielleicht noch auf weitere Roman-Überraschungen von ihm gefasst sein dürfen.

9783835312081l

Ralph Dutlis 272 Seiten umfassender Roman „Soutines letzte Fahrt“ scheint sich vom Thema her vorrangig in die gerade auch aus der deutschen Literaturgeschichte her bekannte Gattung „Künstlerroman“ einzureihen.

Denkt man kurz nach, fallen einem auch durchaus einige deutschsprachige Künstlerromane ein, in denen Maler, überhaupt bildende Künstler, mehr oder weniger zu Hauptfiguren bestimmter Romane auserkoren worden sind: „Franz Sternbalds Wanderungen“ (Ludwig Tieck), „Maler Nolten“ (Eduard Mörike), „Goya oder der arge Weg der Erkenntnis“ (Lion Feuchtwanger), „Der Judas des Leonardo“ (Leo Perutz), „Deutschstunde“ (Siegfried Lenz) usf.; auch Erzählungen wie „El Greco malt den Großinquisitor“ (Stefan Andres) und „Barlach in Güstrow“ (Franz Fühmann) sollten nicht unerwähnt bleiben.

Dennoch: Romane von Rang, in denen weltberühmte Maler porträtiert werden, sind ziemlich selten, und wenn es auch Romane über Rembrandt, van Gogh, Michelangelo, Grünewald u.s.w. durchaus gibt, wird man solche nur ganz selten unter den Hauptwerken der Literaturgeschichte finden. So mag es weise gewesen sein, dass Albrecht Dürer bei Tieck und Leonardo da Vinci bei Perutz nur am Rande oder im Hintergrund auftauchen oder aber auf bekannte, allzubekannte Namhaftigkeit auch außerhalb des Romans (vgl. „Maler Nolten“) gleich ganz verzichtet wird.

Ralph Dutli wählt sich für seinen biographisch fundierten Roman einen Maler aus wie Chaim Soutine, der im öffentlichen Bewusstsein vom Bekanntheitsgrad her bei weitem nicht so verankert ist wie etwa Pablo Picasso oder auch Marc Chagall, die übrigens in Dutlis Roman durchaus nicht unerwähnt bleiben und von denen Marc Chagall sogar gelegentlich als Kontrastfigur zu Chaim Soutine dient. Dass Ralph Dutli nun anders als im Falle Ossip Mandelstams keine Biographie schreibt, sondern gleich einen Roman, scheint mir im Fall von Chaim Soutine durchaus angebracht und vermag vor allem im Ergebnis voll zu überzeugen.

Wir begleiten Chaim Soutine für die Zeit vom 6. August 1943 bis zu seinem Tod am 9. August 1943 auf seiner letzten Fahrt von einem Krankenhaus in Chinon zu einem in Paris, zu dem er langwierig und vorsichtig auf Schleichwegen in einem Krankentransportgefährt, das sich als Leichenwagen tarnt, schließlich gebracht wird. Ob diese Fahrt nun genauso stattgefunden hat oder auch nicht, ist nicht sicher verbürgt (wodurch Raum für behutsam und einfühlsam Fiktives entsteht), wohl aber, dass dieser umständliche Transport von Chinon nach Paris mit dem baldigen Tod des Malers geendet hat, da die erhoffte Operation in Paris keine Lebensrettung mehr bringen konnte.

Im Roman nun begegnen wir, auf der Folie seiner von seiner Lebensgefährtin Marie-Berthe Aurenche begleiteten letzten Fahrt, Kapitel für Kapitel (auf so kunstvoll wie plausibel verschlungene Weise) bestimmten früheren Lebenssituationen des ursprünglich aus einem Schtetl bei Minsk herstammenden Malers. Dabei entsteht ein sehr dichtes Bild; ein lebendiges Porträt dieses Malers und seiner Eigenart und seiner Stellung unter den Menschen und ein Bild von der oft recht verworrenen, nicht nur für diesen jüdischen Maler gefährlichen Zeitsituation.

Das rege Interesse an dieser Lektüre ist bei mir nie erlahmt, aber erst mit dem äußerst feinfühligen, ein indirektes, zeitlich versetztes Zwiegespräch zweier einander auch unausgesprochen Liebender montierenden 14. Kapitel („Mademoiselle Garde und das nichtige Glück“, ein Kapitel, das man indes nicht isoliert, sondern im Zusammenhang des Ganzen lesen sollte) habe ich den Roman zu lieben begonnen.

Es steht zu hoffen, dass der Roman Ralph Dutlis den Blick auf die geretteten Bilder Chaim Soutines neu zu beleben vermag bzw. allererst eröffnet.

Ralph Dutli: „Soutines letzte Fahrt“. Roman, Wallstein Verlag Göttingen 2013, 272 Seiten, 19,90 Euro.




Querdenker in einem komischen Land – Harald Marteinsteins gesammelte Kolumnen

Martenstein.CoverWas bitte ist am „Bauhaus“ schön und warum wohnten die Architekten nicht selbst darin? Worin besteht der Unterschied zwischen Berliner, Hamburger und Münchner Star-Friseuren?

Und weiter: Ist der „Kleine Prinz“ nicht doch nur der kleinste gemeinsame Nenner für Diktatoren und Kirchen-Austrittswillige und kann man romantische Nächte wirklich nur noch im Zoo verbringen? Gemeinsam ist diesen Fragen die Antwort: Deutschland ist ein komisches Land. Zwischen Gerstengrund und Osnabrück wohnt nicht nur das Glück, sondern auch die Real-Satire.

Harald Martenstein, bekannter Journalist, Autor und Kolumnist, nimmt sich unbeirrt dieser Fragen an. 34 Betrachtungen und Geschichten aus den Jahren 1999-2012 hat er ausgewählt, überarbeitet und zu einer erstaunlich zeitlos aktuellen Betrachtung unseres Landes zusammengefasst. Alle Artikel aus seiner Sammlung „Romantische Nächte im Zoo“ waren bereits publiziert, einige davon (allen voran der über die Entzauberung des Suhrkamp Verlags) preisgekrönt.

Seine Themen sind breit gefächert und haben auf den ersten Blick nicht sehr viel miteinander zu tun. Da geht es um Milch und die Kuh als Leistungsträger, da werden Kirchentage genau wie die in den Städten um sich greifende Gentrifizierung seziert, Bildungspolitik als letztes Reservat für Ideologen entlarvt und die echten Freuden oder wirklichen Schrecken des deutschen Kleingärtners aufgedröselt.

Auf den zweiten Blick aber erkennt man die Gemeinsamkeit: Martensteins unverdrossenes Plädoyer für Meinungsfreiheit als grundlegendes Recht und für Toleranz – auch für diejenigen, die man nicht sympathisch findet.

Martenstein trifft den Nerv der Zeit und traut sich dafür auf ein sehr dünnes Drahtseil. Er scheut den Populismus nicht, ohne wirklich populistisch zu sein. In Summe und Buchform gelesen wird klar, warum er auf der einen Seite als einer der populärsten, anregendsten Kolumnisten des Landes gilt, auf der anderen Seite aber auch, warum er gleichzeitig auch einer der polarisierendsten Kolumnisten unserer Zeit ist. Kaum ein Kollege, der sich nicht an ihm abarbeitet. Die Lektüre der Beiträge anderer Blogger und Kolumnisten, die sich mit ihm beschäftigen, ist derzeit mindestens so unterhaltsam wie die der Martenstein-Kolumnen selber.

Mich wundert das nicht. Es hat ja auch etwas Frustrierendes, wenn man seine Kolumnen liest. Viele wirken zunächst wie charmant geplauderte Essays, doch in jeder kommt irgendwann der Punkt, an dem Martenstein zielsicher den Finger in die Wunde legt und ihn oft genug auch noch genüsslich umdreht. Was er nicht tut – er zeigt nicht auch noch mit dem Zeigefinder auf die, die er als Verursacher ausmacht. Da nimmt er sich zurück.

Ansonsten ist er unbestritten ein selbsternannter Besserwisser. Natürlich sind da Bescheidwisser aller Couleur genervt. Vor allem, weil man nach jeder Kolumne – gelegentlich zähneknirschend – zugeben muss, dass er recht hat. Und wenn auch manchmal nur mit dem Denkanstoss, den er gibt.

Lustvoll stellt Harald Martenstein gängige Verhaltensweisen und Meinungen auf den Prüfstand und in Frage. Auch wenn er dazu eine Position einnehmen muss, die eigentlich gar nicht die Seine ist – nur um zu sehen, wohin sie ihn führt. Das ist schon ein sehr spezieller Mut zum Vor- und Querdenken, der so manchem, der sich nicht einmal das Nachdenken traut, bitter aufstößt. Es erfüllt aber seinen Zweck. Der Denkanstoß, die Diskussionsgrundlage ist gegeben.

Martensteins erkennbare Allergie gegen Selbstzufriedenheit, Betroffenheitsgeseiere, sowie gegen ausufernden Kontroll-und Vorschriftswahn führt ihn immer wieder zum ganz normalen Surrealismus des Alltags. Man kann ihm natürlich ankreiden, dass es alles Luxusprobleme sind, die er behandelt, noch dazu aus der Sicht eines Menschen, der im weitestgehend katastrophenlosen Deutschland lebt. Man kann sich aber auch die Frage stellen, ob nicht auch der sich schleichend vollziehende bedenkliche gesellschaftliche Wandel unserer Zeit eine Katastrophe ist.

Die Texte der Sammlung sind nicht chronologisch und zeigen gerade dadurch, wie sehr Martenstein seinem Stil über die Jahre treu geblieben ist. Seine Schreibe hat sich nicht geändert, sie war schon vor zwölf Jahren so gezielt pointiert, manchmal provokant, manchmal zurückgenommen lakonisch. Auffällig ist, dass seine Sprache umso schnörkelloser wird, je mehr er sich aufregt.

So ist eine lesenswerte, gleichermaßen unterhaltsame wie kritische Biographie unseres Landes entstanden. „Ein Land, das sich schleichend radikal gewandelt hat.“ Die Quintessenz der Kolumnen findet sich in meiner Lieblingskolumne über die „Tugendrepublik Deutschland“. Eine Kolumne, in der Martenstein ersichtlich immer wütender gegen diese unsere Gesellschaft wettert. Eine Gesellschaft, die wie keine vor und neben ihr so sehr unter Kontrolle steht und trotzdem keine Diktatur ist. Eins weiß man nach der Lektüre auf jeden Fall: Nämlich, wo in Deutschland man auf gar keinen Fall tot überm Zaun hängen möchte.

Harald Martenstein: „Romantische Nächte im Zoo – Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land“. Aufbau Verlag, Berlin, 285 Seiten, € 18,99.




Rauchzeichen, später: Andreas Rossmann erkundet das Ruhrgebiet

Andreas Rossmann, Foto: Anna Wolfinger

Andreas Rossmann, Foto: Anna Wolfinger

Sein Revier beginnt hinter der Ruhrtalbrücke, von auswärts mit dem Auto kommend. Hier fährt der NRW-Feuilletonkorrespondent in einen wichtigen Sektor seines Berichtsgebiets ein. Kunst und Kultur dieser Region sind Gegenstand seiner Reportagen und Rezensionen, die er seit über 20 Jahren für die FAZ verfasst. Nun hat Andreas Rossmann eine Auswahl davon unter dem Titel „Der Rauch verbindet die Städte nicht mehr“ als Buch im Verlag der Buchhandlung Walther König herausgebracht.

Der „Reiseführer fürs Handschuhfach“ ist illustriert mit Schwarzweiß-Fotografien aus dem Archiv von Barbara Klemm, entstanden zwischen 1974 und 1999, die dem Paperback einen eigenwilligen Retro-Charme verleihen. Gegliedert ist der Band nach Städten von B wie Bochum bis W wie Waltrop. Selbst versierte Ruhrgebietsbewohner können beim Nachbarn noch Neues entdecken.

„Der Rauch verbindet die Städte“ schrieb Joseph Roth 1926, doch seit er sich zum großen Teil in frische Luft aufgelöst hat, wo ist da das verbindende Element dieser zerklüfteten, postindustriellen und mit zahlreichen Kulturinstitutionen besiedelten Region? Was macht sie aus und wo scheitert sie? Mit großer Sympathie für ihre rauen Seiten und einem Scharfblick, der sich nicht scheut, zwischen Qualität und Kitsch zu unterscheiden, beschreibt Rossmann auf seiner Expedition im Land der aufgegebenen Fördertürme und Industriebrachen die Auswirkungen des vielbemühten Strukturwandels auf die kulturelle Identität des Ruhrgebiets.

Wenn es sein muss, macht sich der Kritiker auch zu Fuß auf den Weg, um auf Halden zu klettern oder Landmarken abzuwandern: „Oben angekommen, sieht der Wanderer sich einem unbekannten Ort ausgesetzt. Doch erst im dialektischen Umschlag vollendet sich die Kunst der Landmarke: Sobald der Besucher dem Hochpunkt, den sie einnimmt, den Rücken kehrt, eröffnet sich ihm ein Panorama des Ruhrgebiets, das auf den nur von hier aus möglichen zweiten Blick seine Zerrissenheit und Unfertigkeit, sein Pathos und seine Grandeur offenbart: Seine ,andere‘ Schönheit“, schreibt Rossmann.

Die Textstelle zeigt, was das Buch ausmacht: Der intellektuell-literarische Blick auf eine Kunst, bei der sich der Ruhrgebietsmensch oft weigert, sie als seine eigene oder für ihn geschaffene wahrzunehmen. Die er mitunter misstrauisch beäugt wie beispielsweise Serge Spitzers Spirale auf dem Kennedyplatz in Essen, die viele Bürger „weg haben“ wollten, weil sie sie hässlich fanden. Nach dem Motto: Das alte Eisen, da haben wir früher mit malocht, das soll jetzt Kunst sein?

So führt denn auch Rossmanns Lesung im Lehmbruck-Museum in Duisburg unweigerlich zu einer Diskussion unter den Zuhörern um das Selbstverständnis des Reviers und seiner Bewohner. Ist es nicht Zeit, endlich mit dem Montanindustrie-Kitsch Schluss zu machen? Ein Zuhörer fragt: Warum werde nicht mal die Architektur der Ruhruniversität Bochum als einem der größten Arbeitgeber der Stadt gewürdigt statt immer Zeche Zollverein, die überall als mediales Wahrzeichen herhalten müsse? So regiere das Klischee, das auf die Vergangenheit verweise und Auseinandersetzung mit dem tatsächlichen Strukturwandel in der Gegenwart verhindere.

„Warum wohnen Sie eigentlich nicht im Ruhrgebiet, sondern in Köln?“, möchte eine andere Zuhörerin von Rossmann wissen. Sie selbst ist gebürtige Kölnerin, die es unfreiwillig ins Revier verschlagen hat. Der Autor begründet dies mit seinen Anfangszeiten als Kultur-Kritiker, als er sich strategisch günstig zum WDR positionieren wollte. Einer seiner ersten Ruhrgebietsbesuche führte ihn allerdings zu einem Bewerbungsgespräch als Dramaturg ans Theater Dortmund. „Die haben mich zum Glück aber nicht genommen“, gibt er selbstironisch zu.

Doch vielleicht ist ja gerade eine Fernbeziehung in diesem Fall nicht das schlechteste: Mit ein wenig Abstand liebt es sich neugieriger, man teilt nicht den langweiligen, zuweilen schäbigen und profanen Alltag. Die angebetete „Metropole“ bleibt interessant, ihre Veränderungen aufregend, ihre Kapriolen energiestiftend – vor allem, wenn man sich schon so lange kennt.

Andreas Rossmann: „Der Rauch verbindet die Städte nicht mehr. Ruhrgebiet: Orte, Bauten, Szenen. Mit Photographien von Barbara Klemm. Verlag der Buchhandlung Walther König, 260 Seiten, 14,80 Euro




Verspielte Chancen, kein Mitleid: Der Roman „Rechnung offen“ von Inger Maria Mahlke

RechnungoffenBerlin, Neukölln. Ein gewachsener Stadtteil, der teils noch als schwierig gilt, sich aber bereits anschickt, das nächste Szeneviertel für junge, erfolgreiche Menschen mit „urbanem Lifestyle“ und „hippen Kinderwagen“ zu werden.  

Ein Mietshaus in Neukölln. Ein Haus mit schönen, aber leicht heruntergekommenen Wohnungen. Begehrtes Sanierungsobjekt in einer Stadt, die offiziell arm und sexy ist, inoffiziell aber längst nicht mehr genug Platz und Raum für ihre Bewohner bietet. Die Mieter dort sind die Protagonisten in „Rechnung offen“, dem neuen Roman der Autorin Inger Maria Mahlke. Oder treffender ausgedrückt: Sie sind ihre Forschungsobjekte, denn wie unter dem Mikroskop beobachtet und seziert Mahlke die verschiedensten Lebensentwürfe. Jeder in sich gescheitert, jede Existenz bedroht. Wahlweise von der Krise, der Entmietung, der Globalisierung, zum allermeisten aber von eigener Unfähigkeit.

Die Menschen scheitern nebeneinander her

Die Menschen in diesem Haus leben und scheitern nebeneinander her, ihre Wege kreuzen sich kaum. Da gibt es die alte, einsame Elsa. Früher hat sie in einer Seidenblumenmanufaktur gearbeitet, daran erinnert sie sich noch genau. Eine Seidenblumenblüte kann sie en détail erklären, aber nicht, wie man mit einer Zitronenpresse umgeht. Beginnende Demenz liegt bereits wie ein dunkler Schatten auf ihr. So weiß sie zwar irgendwie, dass sie keinen Enkel hat, aber dem Hochstapler Nicolai, der sich als solcher ausgibt, öffnet sie gerne die Tür zu einem Stück Kuchen.

Eine andere Wohnung wird bewohnt von Manuela Schrader und ihrem Sohn Lucas. Manuela hat ihre Arbeit in einer Backstube gekündigt. Zur Abwechslung versucht sie sich als Domina, wenn sie nicht gerade ihre Zeit damit verbringt, die Ordnungsversuche ihres Sohnes zu zerstören. Lucas treibt sich gerne in der Spielwarenabteilung von Karstadt herum, zuhause sucht er Trost und Klärung in einer manischen Pedanterie. Zwanghaft ordnet er seine Spielsachen, immer und immer wieder, egal, wie oft die Mutter durch seine Spielzeugautos tobt.

Selbstmitleid und Weltschmerz

Das Haus gehört dem kaufsüchtigen Claas. Nachdem ihn seine Frau Theresa verlassen hat, besetzt er eine leerstehende, besonders vergammelte Wohnung in seinem Haus, welches schon der Zwangsversteigerung harrt. Anders kann er sich nicht mehr behelfen, er hat sich um seine Existenz gekauft und hat längst den Überblick über seine offenen Rechnungen verloren, nicht nur im übertragenen Sinn. Seine äußerst karge Übergangs-Möblierung leiht er sich von Theresas Tochter Ebba, der er eine Wohnung in diesem Haus überlassen hat. Ebba lässt sich gehen, hat ihr Studium geschmissen und verbringt ihre wenige wache Zeit mit Ausreden und Drogen.

So wie diese Menschen nebeneinander her leben, erzählt auch Inger Maria Mahlke von ihnen in ihrem Roman. Fragmentarisch, ungeordnet, nacheinander. Es gibt kaum Berührungspunkte, einen sich schließenden Kreis sucht man vergebens, findet dafür aber erbarmungslos beobachtete Charaktere. Gnadenlos beschreibt Mahlke, wie sich ihre Protagonisten in Selbstmitleid und Weltschmerz suhlen.

„Gib Dir doch ein wenig Mühe“ – immer wieder fleht Theresa ihre Tochter Ebba, die Hohepriesterin des Phlegmatismus, an. „Gib Dir doch ein bisschen Mühe“ – genau das ist es, was der Leser den Figuren zurufen möchte. Das ewige Gejammer, das ewige sich ins Schicksal Ergebende, es macht den Leser ungeduldig. Die Frage nach dem eigenen Verschulden spielt bei allen Mietern eine untergeordnete Rolle. Sie alle hatten ihre Chancen, sie alle haben sie verspielt. Trotzig und kindisch sind ihre Reaktionen, wenn man sie mit nicht beglichenen Rechnungen oder auch nicht eingetriebenen Außenständen konfrontiert. Offene Rechnungen treiben sie alle um – wenn auch auf unterschiedlichen Seiten des buchhalterischen T’s. Nur der kleine Lucas zahlt die Zeche für etwas, was er nicht selbst bestellt hat

Fragmentarisches Erzählen in sperriger Sprache

Inger Maria Mahlke findet eine mitleidlose, sehr eigene Sprache für ihre Erzählung über eine Mittelschicht vor dem schleichenden Untergang. Ihre Sprache ist schwer zu erschließen, sie ist unmelodisch, nicht geschmeidig und nicht gefällig. Oft ist sie abgehackt, dann wieder verstrickt sie sich in endlose Schachtelsätze. Schachtelsätze allerdings ohne jeden Schnörkel. Das alleine ist schon eine Kunst für sich. Ihre Sprache geht weit über gängige Melancholie hinaus, sie transportiert endgültige Hoffnungslosigkeit. Genau, wie die Umwelt gleichgültig bleibt ob der gescheiterten Existenzen, bleibt ihre Sprache gleichgültig. Sie gibt nichts, kein Mitleid, kein Verständnis.

Leider ist es auch dies, was den Zugang zum Roman, zu den Protagonisten schwer macht. Man bleibt eigentümlich außen vor, schon nach wenigen Seiten interessiert das Beschriebene kaum noch. Darin liegt der Zwiespalt des Romans. Denn indem es der Autorin gelingt, die Empfindungen der Leser in ihre Sprache aufzunehmen, stößt sie die Leser gleichermaßen von sich. Zu gut korrespondiert ihre Sprache mit den Empfindungen der Leser. Irgendwann ist genug gejammert, irgendwann weiß man, dass die Welt schlecht ist und immer die anderen schuld sind. Das Buch erzeugt keine Anteilnahme, kein Mitgefühl, der Leser stagniert bei der Kenntnisnahme der offenen Rechnungen. Mahlke zeigt keinen Ausweg, sie belässt es bei ihren gnadenlosen Beobachtungen. Mit dem erzeugten Gefühl von Hoffnungslosigkeit lässt sie ihre Leser alleine, selbst wenn einige Umschuldungen zum Schluß noch gelingen.

Die Autorin lebt in Berlin, ist studierte Rechtswissenschaftlerin und bekam für ihren ersten Roman „Silberfischchen“ mehrere Preise.

Inger Maria Mahlke: „Rechnung offen“. Roman. Berlin Verlag, 284 Seiten, €19,99.




Schönes Gefühl: Sämtliche Gedichte unseres Herrn von Goethe in zeitlicher Abfolge

Manchmal überkommt es mich, dann will mein Bildungsbürgerdasein ans Licht, und so habe ich mir in der Buchhandlung meines Vertrauens das Insel-Taschenbuch mit sämtlichen Gedichten des Herrn Goethe „in zeitlicher Folge“ zugelegt. Das ist natürlich ein interessantes Sammelsurium von wechselnder Qualität, aber immer Goethe.

Goethe

Was ist es doch für  ein schönes Gefühl, einen Dünndruckband mit dem feinen Papier in den Händen zu halten, vorsichtig zu blättern und bei bekannten und unbekannten Textstellen hängen zu bleiben, gar nicht zu vergleichen mit dem Wisch-Computer in der Hand. Neulich habe ich im Fernsehen gesehen, wie ein Kita-Bursche versuchte, mit der typischen Smartphone-Bewegung im gedruckten Bilderbuch die Zeichnung von Rotkäppchen zu vergrößern.

Also Goethe. In zeitlicher Folge heißt natürlich, dass nicht nur Meisterwerke, sondern auch die Schülerreime vertreten sind, ebenso seine anzüglichen Sachen und alle Gelegenheitsverse, die er zu Geburtstagen oder ähnlichen Gelegenheiten verfasst hat. Und immer wieder diese unendliche Weisheit, die alles erklärt, was zum Menschsein gehört. In einem Brief an die Gräfin Auguste zu Stolberg aus der frühen Weimarer Zeit findet Johann Wolfgang Worte, die mir schon je besonders gut gefallen haben und deshalb hier wiedergegeben werden:

„Alles geben die Götter, die unendlichen,

Ihren Lieblingen ganz.

Alle Freuden, die unendlichen,

Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.“




„Zügig ins Jenseits“: Kurzkrimis rund ums Bahnfahren

Zügig.CoverDer Dortmunder hat es bekanntermaßen gerne spannend – nicht nur beim Fußball. Der Spannung verschrieben hat sich folgerichtig der in der Stadt des Champions-League-Halbfinalisten ansässige Grafit Verlag, der jetzt mal wieder eine neue Sammlung von Krimi-Kurzgeschichten herausgegeben hat.

„Zügig ins Jenseits“ nimmt sich all jener an, die während des Schienenverkehrs auf die schiefe Bahn geraten sind. Ort der Geschehnisse ist im vorliegenden Band die Deutsche Bahn. Klar, denn das Unternehmen Zukunft Deutsche Bahn ist ja mehr als fahren. Und vom Wetter reden sie auch nicht. Manch einem mögen beim Anblick der bekannten Werbeslogans gelegentlich die Gesichtszüge entgleisen und mörderische Gedanken kommen.

Immer gut für einen Erregungstumult

Der Ärger über verspätete Züge, ausgefallene Klimaanlagen oder besonders uncharmante Zugbegleiter wächst sich hierzulande gerne zu bemerkenswerten Erregungstumulten aus. Fünfzehn in dem Thema bewanderte Krimiautoren sind nun auf diesen Zug aufgesprungen und quer durchs deutsche Schienennetz gereist. Mitgebracht haben sie abgefahrene Geschichten aus den Abgründen des Zugverkehrs. In dieser Anthologie bleibt keiner verschont: nicht die grölenden Fußballfans, nicht die lümmelnden Berufsjugendlichen, nicht die picknickenden Ehepaare. Auch geraten die Piccolöchen der Keglern öfter unter die Räder.

Der Autorin Nicola Förg reicht die schnarrende Stimme einer Zugbegleiterin, um die arme Frau schnellstens zur Endstation Jenseits zu expedieren. Edgar Franzmann bereitet der BO-Ru-SSI-AAA und einem Sheriff im Ruhestand einen großen Bahnhof, Ella Theiss entzündet in Hamburg eine bombige Fontäne und Stephan Hähnel liest im Beschwerdemanagement auch das Kleingedruckte.

Tempo zwischen Bummelzug und ICE

Manche Geschichten entfalten sich mit dem gemächlichen Thema eines Bummelzuges, wieder andere rasen mit dem mörderischen Tempo eines ICE auf ihr kriminelles Ende zu. Roger M. Fiedler stellt die Weichen für seinen „Zeigersprung“ auf gelungene Satire und ihm gelingt es, zu erklären, was wir immer schon wissen wollten: Theorien sind die Ursachen aller Pannen.

Auch ganz Aktuelles kommt nicht zu kurz, Welpenhändler aus Duisburg möchte man nach der Lektüre nicht unbedingt sein. Und dass die sich neu etablierende Gruppe der Samstagspendler, welche sich das Recht, am Samstag vier Mitfahrer auf ihr Monatsticket mitnehmen zu dürfen, regelmäßig versilbern lassen, nicht ungefährlich lebt, dürfte nach der Lektüre von Niklaus Schmidts Geschichte auch klar sein. Klar wird dem Leser auch so einiges Wissenswerte aus dem Streckennetz, denn als kleine Kulanz ist jeder Geschichte eine „Wussten sie schon, dass…“-Frage“ mit Antwort vorgeschaltet.

Noch eine Besonderheit: Nicht alle Geschichten sind verbrecherisch, eine erzählt von der Liebe. Für „Drück mich jetzt!“ erhielt Alexandra Trudslev den Förderpreis des Literaturpreises Ruhr, sowie sicherlich die Zustimmung vieler Leser, die sich gleich ihrer Heldin schon an störrischen Fahrkartenautomaten abgearbeitet haben.

Fazit: Ohne Zugzwang gut geeignet, sich die Zeit auf Reisen angenehm zu vertreiben und so dazu beizutragen, ein vielbeschworenes Versprechen der Deutschen Bahn einzulösen: Urlaub von Anfang an.

„Zügig ins Jenseits. Mörderische Geschichten für Bahnfahrer“. Grafit Verlag, Dortmund. 224 Seiten. 9,99 Euro.




Abenteuer des Adrian Tuppek im Ruhrgebiet – ein Glücksfund aus der E-Book-Szene

Glücksfall CoverKalt ist es in Dorsten, doch nicht nur deswegen schüttelt es den erfolglosen, aber ambitionierten Schriftsteller Adrian Tuppek.

Special Agent Jankowiak vom Finanzamt Marl sitzt ihm im Nacken und überhaupt – der Nebenjob als Testdieb hilft auch nur sehr bedingt über die Runden. Da liest er eine Bemerkung eines Erfolgsautors über die kurze Ent­stehungszeit seines Krimis und denkt bei sich, das kann er auch. Krimis gehen schließlich immer, das löst seine Finanzprobleme und wenn er sich selber unter Druck setzt, einen Krimi in sechs Tagen zu schreiben (unter Druck ist er immer am besten), dann schafft er das auch.

Eine Idee, ach was, zwei oder drei hat er bereits und probiert sie alle aus. Da braucht man ja nur in die Tageszeitung zu gucken, Diebstahl, Stalking, Börsenbetrug, Fälschung, Mord und Totschlag – alles frei Haus. Doch irgendwer will ihm Übel, irgendwer klaut ihm seine Ideen und ist gar so dreist, seine Geschichten als Hörer-Kommentar im Lokalfunk zu verbreiten, als Tuppek gerade zu Gast ist. Und woher kommt der Dachziegel, der plötzlich – ihn knapp verfehlend – auf dem Bürgerstieg landet?

Tuppek verdächtigt schließlich sein ganzes Umfeld, selbst seine ewige Jugendfreundin Lena ist vor Verdacht nicht gefeit. Und überhaupt – was hat Brad Pitt damit zu tun? Tuppek lässt sich nicht entmutigen, da ist er stur. Er hat schließlich seine Prinzipien – deswegen zieht er auch nicht weg aus dem Ruhrgebiet. Denn wenn er es hier nicht schafft, gute Geschichten zu schrei­ben, schafft er es woanders auch nicht.

Wie Tuppek lebt auch seine Schöpferin Doris Brockmann im nordöstlichen Ruhrgebiet (in Dorsten) und führt damit die Tradition erzählfreudiger Schriftstellerinnen aus dieser Stadt fort. Ihr Roman ist als Kindle-Version verfügbar und wird von ihr in Eigenregie vermarktet. So gesehen, war das Lesen dieses Romans durchaus ein Glücksfall. Denn genau das will man, wenn man sich  durch die Angebote der Indie-Autoren klickt. Eine kleine, feine Buch-Perle, sorgfältig recherchiert, klug beobachtend eine unterhaltsame Geschichte erzählend. Doris Brockmann ist dies gelungen. Behutsam ausformulierend, wohl auch ein wenig aus dem eigenen Erfahrungsschatz schöpfend, begibt sie sich auf die Ebene der Metafiction und begleitet ihren Adrian Tuppek mit viel Empathie, aber auch augenzwinkernd bei seinem Kampf mit dem inneren Schweinehund. Das Ganze garniert mit ruhrischem Lokalkolorit, der den Ortskundigen immer wieder zustimmend grinsen lässt.

Was zunächst irritiert, ist der abrupte Schluss. Man muss schon zweimal darüber nachdenken, bis man ihn akzeptiert und als folgerichtig und gelungen einordnen kann.

Mehr über Tuppek und über die Autorin erfährt man auf ihrer Internet-Seite walk-the-lines, aber auch auf der Nominierungsliste zum Leipzig Award für Indie-Autoren.

Doris Brockmann: „Das Schreiben dieses Romans war insofern ein Glücksfall“. E-Book, ASIN: B005YF0WG8, Dateigröße: 834 KB, Seitenzahl als Print-Ausgabe: 117 Seiten. 0,99 Euro.

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Auch ohne E-Reader kann man das Buch lesen, indem man sich eine kostenlose App herunterlädt. Das Verfahren wird hier beschrieben (bis zum Seitenende scrollen): http://www.walk-the-lines.de/buch/

 




Aus legendären Zeiten beim Suhrkamp-Verlag: Briefwechsel zwischen Handke und Unseld

Welch ein Autor! Welch ein Verleger! Welch ein schwieriges Wechselspiel.

Mit solchen Ausrufen, zuweilen auch Seufzern, könnte man diese umfängliche Lektüre begleiten und beschließen: Peter Handkes Briefwechsel mit dem einstigen Suhrkamp-Chef Siegfried Unseld hat zwar hin und wieder überraschend kleinliche, oft aber auch erhebende oder sogar monumentale Momente. Hier begegnen sich zwei Menschen, die einander bestärkt und die je auf ihre Weise Literaturgeschichte geschrieben haben.

Wer Handke nur für einen Bewohner des Elfenbeinturms hält, wird sich vielleicht wundern, wie penibel und argwöhnisch er – wenn es um seine Werke geht – Auflagenhöhen, Werbeaufwand und vor allem Honorare überwacht. Ohne Vorschüsse und Darlehen wäre es ja zu Beginn auch schwerlich gegangen. Doch hernach hat er den Ruhm des Verlages wahrlich gemehrt. Es war ein Nehmen und Geben. Und manchmal war es ein Fest.

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Unseld jedenfalls muss ihm häufig Rechenschaft ablegen und ihn von Zeit zu Zeit mit solchen Versicherungen beschwichtigen: „Für mich bist du der wichtigste Autor des Verlages.“ Nur gut, dass die Suhrkamp-Autoren in aller Regel nicht gewusst haben, was Unseld jeweils den anderen geschrieben hat. In Stunden der wunden Empfindung konnte Handke aber selbst auf Lob und Preis so trübselig antworten: „Und möchte nichts hören von ,großem Erfolg’ und ,wichtigstem Autor’. Das tut mir NUR WEH.“

Geistvoller Geschäftsmann mit Hang zu großzügigen Gesten

Diesen Siegfried Unseld muss man einfach bewundern. Es ist phänomenal, wie einlässlich und genau er sich mit Handkes Schriften befasst, auch wenn der Sensibilissimus manchmal meint, man behandle ihn lieblos und nachlässig. Wie Unseld trotz aller literarischen Begeisterungsfähigkeit und trotz aller Neigung zur großzügigen Gesten immer noch genug Geschäftsmann bleibt, um den Verlag in Schwung zu halten! Wie behutsam er lavieren muss, um einen schwierigen, oft divenhaft sich gebenden Charakter wie Handke nicht zu verprellen. Wenn man sich vorstellt, mit wie vielen ähnlich eigensinnigen Autoren er teilweise zur gleichen Zeit zu tun hatte (man denke allein an Martin Walser, Max Frisch, Uwe Johnson oder Thomas Bernhard), so ist des Staunens kein Ende. Er war ein Verleger-Genie. Und sein damals noch traditionell in Frankfurt angesiedelter Verlag war der beste im Lande und darüber hinaus. Das waren Zeiten.

Zwischendurch fragt man sich unwillkürlich, was Unseld wohl zur heutigen, durchaus misslichen Situation des Suhrkamp-Verlages (der bekanntlich im Streit zwischen den Eigentümern zerrieben zu werden droht) gesagt und vor allem, was er dagegen unternommen hätte. Doch derlei Gedanken sind müßig. Die Lebenden müssen es ausfechten, ohne dass alles zerbricht. In diesem Sinne kann man auch den beteiligten Juristen nur eine glückliche Hand wünschen.

Ein junger Dichter ohne Konto und Telefon

Zurück zum Buch. Der bis zum April 2002 reichende Briefwechsel Handke/Unseld setzt 1965 ein, als die später so innige und fruchtbringende Verlagsbeziehung angebahnt wird. Zu jener Zeit verfügt der junge Dichter weder über ein Konto noch über ein eigenes Telefon…

Alsbald entfaltet sich mit dem rasch wachsenden Oeuvre eine (manchmal gefährdet erscheinende) Freundschaft zwischen Autor und Verleger, Handke selbst spricht in der Rückschau lieber von Brüderlichkeit.

Peter Handke wird, so gut es eben geht, sehr früh auch an Details der Buchherstellung beteiligt. Er legt größten Wert auf minimale Änderungen in Textdarbietung oder Umschlaggestaltung und kann über Druckfehler äußerst zornig werden. Lektoren und andere Suhrkamp-Mitarbeiter hatten es gewiss nicht leicht („Es ist klar, dass die Korrektoren und Setzer da eine schmähliche Arbeit geleistet haben…“).

Diese kostspieligen Korrekturen

Handkes nachträgliche Korrekturen auch inhaltlicher Art sind mitunter so ausufernd und treffen zeitlich so knapp ein, dass ein kompletter Neusatz der Texte erforderlich wird und Produktionsabläufe ins Schlingern geraten. Da erinnert Unseld auch schon mal an die immensen Extrakosten solcher Maßnahmen – freilich mit Engelszungen. Verstimmt ist Unseld allerdings, wenn der Österreicher Handke einzelne Texte an den Salzburger Residenz Verlag gibt. Das wertet er als eine Art Treuebruch.

Die insgesamt 611 Briefe drehen sich über weite Strecken fast ausschließlich um Werkprozesse, Verlags- und Buchmarkt-Angelegenheiten. Sofern Handke für Theater und Film arbeitet, werden natürlich auch diese Bereiche berührt.

Politische Zeitläufte gleiten fast spurlos vorüber

Bereits am 27. Januar 1967 schreibt Peter Handke: „Die Zeit der engagierten Literatur ist vorbei, es kommt eine Zeit der Reflexion, hoffe ich…“ Zeitgeschichtliche Vorgänge (wie etwa 1968 und die Folgen oder die „bleierne Zeit“ der späten 1970er) gleiten denn auch in diesem Briefwechsel beinahe spurlos vorüber, auch sucht man später Äußerungen über die Fährnisse der deutschen Vereinigung vergebens. Handkes sehr eigenwillige Position zu Serbien und Jugoslawien spiegelt sich jedoch auch in einigen Briefen. Unseld nahm ihn hierbei vor Angriffen in Schutz und übte keinerlei Zensur, erlaubte sich allerdings, in der Sache wesentlich anderer Meinung zu sein.

Bei so manchen literarischen Gipfeltreffen, die am Rande vorkommen, hätte man liebend gern am Nebentisch gesessen: Was hat Handke in Paris im Beisein Unselds mit Samuel Beckett und Paul Celan beredet? Worüber hat er sich mit dem anfangs noch geschätzten Thomas Bernhard unterhalten, dessen Schöpfungen („Es ist so eine schamlose Schein-Literatur“) er später in Bausch und Bogen verworfen hat? Doch was soll die unsinnige Neugier? Was bleibt, sind ohnehin die Bücher, die quer durch die Zeiten miteinander sprechen.

Man erfährt hier einiges über die Höhenkämme des Literaturbetriebs. Liest man auch all die Anmerkungen und Auszüge aus Unselds Notizen mit, die manches erst richtig erschließen, so hat man einige Zeit gründlich mit dem Buch zu schaffen. Es ist schon interessant zu verfolgen, wer sich wann mit welchen Mitteln für oder gegen wen einsetzt und wie beispielsweise Preisträger gekürt werden.

Die Wut auf Rezensenten

Beinahe schon alttestamentarisch ist bisweilen Handkes Furor, vor allem, wenn er sich gegen Kritiker (speziell Marcel Reich-Ranicki) richtet. Einmal verlangt er, die Rezensenten gar nicht mehr vorab zu bemustern: „Und ich bitte noch einmal, zu beachten, daß es keine Besprechungsexemplare geben soll, für niemanden.“

Unmittelbar nach Abschluss seiner Manuskripte, in deren Wortgefüge er sich zutiefst hineinbegeben hat, ist Handke verständlicherweise ungemein empfindlich und reizbar. Einige Male trifft der Bannstrahl eben auch Unseld („Unsere Wege trennen sich hiermit, unwiderruflich“), der ein fertiges Opus nach Handkes Ansicht mal zu langsam liest oder mal zu beliebig und gleichgültig lobt. Doch letzten Endes ist Handke dann doch immer dankbar gewesen, einen so geist- und kraftvollen Tatmenschen neben sich zu wissen. Einen wie ihn wird es nicht mehr geben.

Peter Handke / Siegfried Unseld. Der Briefwechsel. Herausgegeben von Raimund Fellinger und Katharina Pektor. Suhrkamp Verlag. 798 Seiten mit Anhang, Registern sowie einigen Schwarzweiß-Fotos. 39,95 Euro.




Eine stolze Partei feiert ihren 150. Geburtstag – ein Geschichtsbuch gehört dazu

In diesem Jahr feiert die deutsche Sozialdemokratie ihren 150. Geburtstag. Stolz erklären ihre Anführer, die älteste demokratische Partei Europas zu sein, und die SPD sei nie – wie andere – gezwungen gewesen, ihren Namen ändern zu müssen. Am Gründungstag, dem 23. Mai, wird es in Leipzig einen pompösen Festakt geben. Möglicherweise beehrt ja sogar die Bundeskanzlerin ihre politischen Gegner mit ihrer Anwesenheit.

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Passend zu diesem Jubiläum ist im parteieigenen Vorwärts-Buchverlag ein neues Buch über die Geschichte der SPD erschienen: Peter Brandt, Sohn des ehemaligen Parteivorsitzenden und Bundeskanzlers Willy Brandt und Professor für Geschichte an der Fernuniversität Hagen, hat es zusammen mit Detlef Lehnert, Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, verfasst. „Mehr Demokratie wagen – Geschichte der Sozialdemokratie 1830-2010“ heißt das Werk mit dem wissenschaftlichen Anspruch, das aber dennoch leicht lesbar geworden ist.

Das Anfangsjahr mag irritieren, aber natürlich entstand die Partei der Arbeiterbewegung nicht im luftleeren Raum. Vom Frühsozialismus in den Auslandsvereinen der Handwerksgesellen schreiben die Autoren ebenso wie über den Verlauf und das Scheitern der Revolution 1848/49, bevor sie auf Ferdinand Lassalle und den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein kommen – die Keimzelle der späteren Partei SPD. Über die Bismarckjahre und die Kaiserzeit geht es weiter in die Weimarer Republik und zur Beschreibung der standhaften Weigerung der Sozialdemokraten, die Machtübergabe an Hitler und die Nationalsozialisten zu akzeptieren. Verfolgung und Exil waren das zwangsläufige Ergebnis.

Interessanterweise nennen die beiden Autoren ihr letztes Kapitel „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts oder neue Umbruchzeit 1980-2010?“ Vom „stufenweisen Machtverlust“ und der „Suche nach dem SPD-Milieu“ ist da die Rede. Ihr Fazit? „Die Zukunftsaussichten der SPD als einer Partei eigener Prägung hängen letztlich davon ab, ob die herrschende Variante des finanzmarktdominierten Kapitalismus sich immer weiter durchsetzen wird.“

Wissenschaftlich will diese Geschichtsschreibung sein, fast 600 Anmerkungen und eine ausführliche Literaturliste finden sich im Anhang, aber natürlich – das zeigt schon der herausgebende Verlag – werden die Sympathien für den Gegenstand der Untersuchung nicht verheimlicht. Von Willy Brandts Sohn hätte man wohl auch nichts Anderes erwartet.

Peter Brandt/Detlef Lehnert: „Mehr Demokratie wagen“. Geschichte der Sozialdemokratie 1830-2010. Vorwärts buch Verlag, Berlin. 296 Seiten. 20 Euro.




Formgerechtes Beamtenleben: Joris-Karl Huysmans‘ Erzählung „Monsieur Bougran in Pension“ endlich auf Deutsch

Wie lässt sich Dekadenz mit Fortschritt vereinbaren? Den Autoren rund um die von Anatole Baju herausgegebene Zeitschrift „Le Décadent“ (1886–1889) gelang es erstaunlich gut, mit Verfall und Auflösung zu liebäugeln und sich zugleich als Speerspitze einer der Avantgarden zu verstehen, die unter den Begriffen Ästhetizismus, Symbolismus, Fin de siècle oder eben Dekadenzdichtung auftraten. Gerade in Zeiten der Krise gewinnen solche Haltungen an Charme.

Ein Shooting Star der Bewegung war Joris-Karl Huysmans, der 1884 mit seinem Roman „À rebours“ (deutsch: „Gegen den Strich“) gleichsam ein Handbrevier der Dekadenz veröffentlichte. Kapitel für Kapitel werden darin Themen behandelt, die den kultivierten Décadent beschäftigen: Kunstbetrachtung (besonders die Gemälde Gustave Moreaus); eine literarische Ahnentafel, die vom spätrömischen Satiriker Titus Petronius über mittelalterliche Mystik, Schopenhauer, Poe, Baudelaire, Flaubert, Edmond de Goncourt bis zu den Zeitgenossen Mallarmé und Verlaine reicht; Orchideen; Parfüms; Liköre; Edelsteine; durch sexuelle Impotenz bedingte erotische Sonderwünsche an käufliche Frauen.

Ein Vorbild für den ebenso kunstliebenden wie misanthropischen Protagonisten, Jean Floressas Des Esseintes, war der auf Porträts etwas blasiert wirkende Robert de Montesquiou, der uns auch – in anderer literarischer Transformation – in Prousts „Recherche“ als Baron de Charlus begegnet. Doch geht es in „À rebours“ keineswegs allein um hedonistischen Luxusgenuss; das subversive Potential des Buchs ist beträchtlich. Freilich macht sich der Aristokrat nicht selbst die Finger schmutzig. Planvoll treibt er zum Beispiel einen geldlosen jungen Mann durch die Gewöhnung an eine Luxusprostituierte in die Beschaffungskriminalität – und versteht eine solche Verführung als individualanarchistischen Ansatz zur Schädigung der verhassten Gesellschaft. Doch seine distanzierte Haltung bewahrt den Adligen vor Fanatismus. Eine schillernde Figur, dieser Des Esseintes.

Monsieur Bougran Cover

Wohl in der Erwartung, es bei Huysmans mit einem ähnlichen Exzentriker zu tun zu haben wie bei dem Protagonisten seines Roman, bat der englische Kunstkritiker Harry Quilter den Autor um einen Beitrag für die von ihm gegründete und zum Teil von namhaften Künstlern illustrierte Zeitschrift „The Universal Review“. Er wurde enttäuscht. Huysmans entwickelte keinen zweiten Des Esseintes, lieferte auch keine französische Galanterie, sondern wählte für seine Erzählung eine Figur aus dem Umfeld seines eigenen bürgerlichen Brotberufs als Beamter im französischen Innenministerium.

Über diesen Monsieur Bougran, der als einfacher Schreiber in der Beamtenhierarchie mehrere Gehaltsgruppen unterhalb der von Huysmans angesiedelt ist, bekommt der Leser Einblicke in den Arbeitsalltag des Ministeriums, in die Flurgespräche der Kollegen über zu erwartende oder nicht zu erwartende Beförderungen, den mutmaßlichen Rentenanspruch und illusorische Gratifikationen. Auch Auflösung und Verfall spielen eine Rolle. Allerdings möchte sich Bougran nicht wie der Adlige Des Esseintes aus „À rebours“ lustvoll leidend dem unausweichlichen Niedergang überlassen. Als Bougran seine Schreiber-Laufbahn begann, wurde noch die Kunst eines variationsreichen, nuancierten Kanzleistils gepflegt, „die Varianten der Grußformeln an Briefenden gingen ins Unendliche, wurden sorgfältig dosiert, schöpften eine Skala aus, die den Büropianisten außergewöhnliche Fingerfertigkeit abverlangte.“

Aber heutzutage? „Welcher Angestellte wusste heute noch die heikle Klaviatur der Briefschlüsse zu gebrauchen oder sich jemandem auf eine oft schwer zu bestimmende Weise zu empfehlen […]? Ach, die Expedienten hatten keinen Sinn mehr für Formulierungen, beherrschten das Spiel des geschickten Tropfenzählens nicht mehr – wozu denn auch im Grunde, da alles seit Jahren dahinschwand und verfiel! Die Zeit der demokratischen Greuel war angebrochen […]“.

Von einem Tag auf den anderen wird der fünfzigjährige Monsieur Bougran wegen „moralischer Invalidität“ in den Ruhestand versetzt. „‘Das ist ein erniedrigendes System. Für verkalkt erklärt zu werden ist schon ein starkes Stück!‘ stöhnte Monsieur Bougran.“

Als Pensionär leidet er zunächst schrecklich unter Langeweile, bis ihm die Idee kommt, zu Hause seine alte Amtsstube detailgetreu nachzubauen und den gewohnten Tagesablauf fortzuführen. Das trotzige Aufbegehren gegen seine vorzeitige Pensionierung hat etwas ebenso Rührendes wie Absurdes. Letztlich verhält er sich in seiner Hinwendung zu Form und Ritual nicht weniger spleenig als Des Esseintes in seinem noblen Refugium. Hier wie dort der Rückzug vor der gemeinen Welt in ein formgerechtes Privatleben.

Bougrans Beamtenschicksal aber wollte der Herausgeber der „Universal Review“, für die der Text geschrieben war, nicht veröffentlichen und sandte dem Autor das Manuskript mit einem hochnäsig klingenden Begleitschreiben zurück. Mit anderen Werken beschäftigt, versäumte Huysmans es, „La Retraite des Monsieur Bougran“ weiteren Zeitschriften anzubieten. Erst siebenundfünfzig Jahre nach Huysmans Tod wurde die Erzählung in Frankreich publiziert. Nach einer italienischen Übersetzung aus den 80er-Jahren liegt uns das sprachliche Kunstwerk dank der subtilen Übertragung durch Gernot Krämer und des erlesenen Programms der Verlegerin Katharina Wagenbach-Wolff endlich auch in einer deutschen Fassung als schöner, fadengehefteter Druck der Friedenauer Presse vor. Das erhellende Nachwort von Daniel Grojnowski wurde aus der französischen Ausgabe von 2007 (Editions Flammarion) übernommen.

Huysmans, Joris-Karl: „Monsieur Bougran in Pension.“ Erzählung, Friedenauer Presse. Aus dem Französischen übersetzt von Gernot Krämer. Mit einem Nachwort von Daniel Grojnowski. Fadengeheftete Broschur. Umschlag-Entwurf: Horst Hussel. 32 Seiten, 9.50 €

Der Comte de Montesquiou auf dem Cover der dtv-klassik-Ausgabe von "Gegen den Strich" - Gemälde von G. Baldini

Der Comte de Montesquiou auf dem Cover der dtv-klassik-Ausgabe von „Gegen den Strich“ – Gemälde von G. Baldini




Albus und Debus lassen nicht locker: Das Ruhrgebiet muss endlich Hauptstadt werden !

Ein einflussreiches US-Magazin schmäht Berlin – und schon wird dort im vorauseilenden Gehorsam fieberhaft überlegt, ob man nicht eine neue Hauptstadt braucht. Zur Auswahl stehen München, Hamburg, Köln – und das Ruhrgebiet. Hossa!

Auf geht’s. Kanzlerin Merkel beauftragt den Berliner Sozialwissenschaftler John Fettersen mit der heiklen Angelegenheit. Dessen Gewährsfrau fürs Revier ist die zungenfertige (vulgo: geschwätzige) Mia Mittelkötter, mit je einem Bein im Sauerland und in Dortmund daheim. Fettersen muss die Dame brieflich intensiv nach etwaigen Vorzügen des Ruhrgebiets befragen.

Daraus entspinnt sich – wenn auch anders als jüngst bei Martin Walser („Das dreizehnte Kapitel“) – das Hin und Her eines Briefromans. Der heißt wortspielneckisch „In der Ruhr liegt die Kraft“ und ist eine gemeinsame Schöpfung der Kabarettistin Lioba Albus und des Journalisten Lutz Debus. Beide streuen auch ein paar autobiographisch inspirierte Prisen ins Geschehen ein.

Im Lauf der brieflichen Erörterungen werden jedenfalls Liebesbande geknüpft. Einmal entflammt, geht die mit einem Ex-Kartenkontrolleur frustig verheiratete Mia verbal dermaßen ran, dass selbst der erotisch heftig verklemmte Fettersen mählich auftaut. Ob sie sich wohl kriegen? Wir verraten nix. Allerdings wird der verkorkste Fettersen für seine Verhältnisse ziemlich gesprächig und flüstert Mia was von Jugendschwänken, beispielsweise mit Theodora und der Hure „Luna“, die er seinerzeit in Dortmund rund um Mallinckrodtstraße und Fredenbaumpark – nun ja. Je nun. War da was?

Ob das Ruhrgebiet wenigstens hier echte Chancen hat, neue deutsche Hauptstadt zu werden? Wenn’s nach Mia ginge, dann unbedingt. Hier, wo die Gefühle nur auf angenehmer Sparflamme köcheln („Ein Ruhri, der freut sich mehr so nach innen“), sind ohnehin alle Nationen beisammen, eine Mauer könnte man auch errichten, etwa rund um das Elendsmuseum Gelsenkirchen. Die regional ansässigen Bordellbetriebe bieten genug Entspannung für abgeordnete Biederleute aus CSU und anderen Fraktionen, die fern der Heimat kräftig was erleben wollen. Vom mitunter exquisiten Fußball und anderen dicken Pluspunkten gar nicht erst zu reden.

Kurzum: Warum sollte ein US-Präsident nicht eines Tages vor aller Welt ausrufen „Ich bin ein Dortmunder!“

Klingt unterhaltsam, nicht wahr? Ja. Da sind etliche Ansätze vorhanden. Auch gibt’s einige hübsche Portionen Lokalkolorit.

Aber: Auf einer nicht gerade geschickt layouteten 140-Seiten-Strecke, die einen schlankeren Satzspiegel verdient hätte, wirkt die eine oder andere Ausführung denn doch ein wenig umständlich.

Nicht alle Ideen und Gags sind vollends zur Güte gereift; zuweilen wird beherzt der nächstliegende Lachstoff versprüht, statt mehr aus dem Hinterhalt zu agieren.

Sieht ganz so aus, als hätte dieses allererste Buch im neuen Dortmunder FönNixe Verlag (Inhaber: just Albus und Debus) partout vor der Buchmesse fertig sein sollen. Hat ja auch geklappt. Ein gewisses regionales Interesse (wohl mit baldigem Verfallsdatum) dürfte dem Buch beschieden sein.

Nun gut. Die Geschichte, die gegen Schluss geheimdienstlich gefährlich zu werden droht, kulminiert (wo sonst?) im Dortmunder Stadion beim Match gegen Bayern München. Auch das erfreuliche Resultat auf dem Platz wird hier nicht verraten.

Lioba Albus/Lutz Debus: „In der Ruhr liegt die Kraft“. FönNixe Buchverlag, Dortmund. 140 Seiten. 11 Euro.

P.S.: Der Transparenz wegen sei’s gesagt, dass ich mit beiden Buchautoren via Facebook befreundet bin. Aber wie lange noch?




2011 im Rückspiegel: Schöner scheitern mit Patricia Görgs „Handbuch der Erfolglosen“

Cover Download Berlin Verlag War 2011 der Anfang vom Ende? Oder doch bloß der übliche Schlamassel? Diese Frage stellt der Berlin Verlag auf seiner Internetseite zum Handbuch der Erfolglosen. Eine provokante Frage, welche man angesichts der überbordenden Fülle der Ereignisse des Vorjahres berechtigt stellen kann. Die aufgespannten Rettungsschirme, der Tod von Osama bin Laden, der „Arabische Frühling“, der Lügenbaron, der Ausstieg aus der Atomkraft – dies nur wenige der Ereignisse, welche die Welt 2011 in Atem hielten.

Die Schriftstellerin Patricia Görg kam der Bitte nach, 2011 ein Tagebuch zu führen und nannte es „Handbuch der Erfolglosen“. Chronologisch greift sie darin zu jeder Kalenderwoche ein mediales Ereignis auf, beschreibt und verdichtet es. Die meisten Geschehnisse lässt sie unkommentiert auf den Leser wirken, nur wenige sind mit (gelungenen) sarkastischen Anmerkungen versehen. Erschrocken stellt man fest, wie viele Ereignisse man fast schon wieder vergessen hat, obwohl ihre Schatten bis heute Politik, Leben und Wirtschaft verdunkeln. Diesen Ereignissen stellt Patricia Görg Begebenheiten gegenüber, die sie selber erlebt oder beobachtet hat. Sie besuchte Ausstellungen, hörte Gesprächen zu, schaute sich Kinofilme an.

Die Reflektionen wirken zunächst nicht zusammenhängend, die Spiegelungen, die sie zeigen wollen, sind nicht immer klar ersichtlich. Eins jedoch eint sowohl die kalendarische Rückschau als auch die dagegengesetzten Fragmente. Es geht immer ums Scheitern. Gescheitert an Großmannssucht, an Gefallsucht, an Überschätzung, an mangelnder Kenntnis. Einige Gescheiterte werden gnadenlos auseinandergepflückt, andere wiederum dürfen sich über Verständnis und Mitgefühl freuen. Der einzige, der nicht in diese Schublade passt, ist Olli „Dittsche“ Dittrich, dem eine liebevolle Hommage an seine „kunstvolle Mentalakrobatik“ gewidmet ist. Klar ist nach der Lektüre: Scheitern gehört zum Leben, man darf scheitern, man sollte es sich aber auch eingestehen und daraus lernen.

Weniger klar bleibt dennoch bis zum Schluss die hinter diesem Buch stehende Intention. Es ist zwar nicht unspannend, das Jahr 2011 aus einer anderen Perspektive zu betrachten, dennoch erschließen sich bei weitem nicht alle Verknüpfungen und bleiben seltsam distanziert voneinander stehen. Mehr noch, manche irritieren arg. So die schon im Klappentext angekündigte Geschichte vom Großmann, der gerne die ganze Wirklichkeit für zwei Pfennige kaufen möchte. Was die Geschichte von Georg, Maria und ihrer Hütte in einem Handbuch zu 2011 zu suchen hat, hat sich mir nicht erschlossen. Natürlich kann man eins und eins zusammenzählen und natürlich hat Herr Großmann im letzten Jahr eine größere Rolle gespielt als weithin angenommen. Aber die Geschichte mit der Georgsmarienhütte, die in eine leicht zu durchschauende Parabel gepackt wird, ereignete sich 1997. Auch das unzusammenhängend auf Expo-Planeten hinweisende Geleitwort trägt nicht zur Erhellung bei.

Das Buch ist nicht ohne Reiz. Es ergibt sicher Sinn, ein Jahr auch in der Rückschau quer zu lesen und aus einem anderen Blickwinkel, in andere Zusammenhänge gestellt, zu betrachten. Diese Art von reflektierter Rückschau scheint gerade groß im Kommen zu sein. Im August erschienen die datierten Notizen von Peter Sloterdijk. Ein Vergleich damit drängt sich auf, diesen wird die Autorin aushalten müssen.

Patricia Görg: „Handbuch der Erfolglosen“. Berlin Verlag, 144 Seiten, €19,90




Mark Boogs „Mein letzter Mord“: Ein Polizist zieht Lebensbilanz

Cover Download, zur Verfügung gestellt von Dumont Buchverlag, Köln Es ist sein letzter Mord, die letzte Ermittlung, die ein alter niederländischer Polizist vor seiner Pensionierung noch durchführt. Einen ganz alten Fall hat man aus den Akten gekramt. Einen alten, ungelösten Fall, den der alte Polizist noch einmal neu aufrollen soll. Vielleicht ein letzter Versuch, diesen Fall noch zu klären, wahrscheinlicher aber der Versuch, den Polizisten auf seine letzten Tage vor dem Altenteil zu beschäftigen.

Der alte Polizist wählt einen ungewöhnlichen Weg, um den Fall zu lösen. Er versetzt sich in den Mörder hinein, geht dessen Wege gedanklich und real nach, besorgt sich eine Waffe, schläft mit dessen Witwe und schreibt darüber einen außergewöhnlich langen Ermittlungsbericht an seinen Vorgesetzten. Der Bericht ist nicht nur ein Bericht über die Ermittlungen, sondern vielmehr eine Lebensbilanz, die der Polizist zieht. Viel zu bilanzieren gibt es allerdings nicht, weder auf der Haben-, noch auf der Sollseite. Er war halt Polizist – „alles andere hat er vergessen zu tun“.

„Mein letzter Mord“ ist das erste auf Deutsch erschiene Buch des Niederländers Marc Boog, ein im Nachbarland erfolgreicher und anerkannter Schriftsteller. Das Buch ist eher ein Essay als ein Roman oder gar ein Thriller. Eine Studie über den Versuch einer späten Selbstbefreiung. Es geschieht wenig in diesem Buch, dafür wird viel resümiert, erkannt, geschlussfolgert. Im niederländischen Literaturbetrieb hat man für diese Art Roman ein eigenes Genre erdacht, den „literaire thriller“ und in der niederländischen Presse mutmaßt man nicht ganz zu Unrecht, dass es für dieses Genre schwer sein dürfte, über die Landesgrenzen hinaus Verständnis zu wecken. So verwundert es nicht, dass auch der niederländische Originaltitel den Leser schneller auf die richtige Fährte führt: „Ik begrijp de mordenaar“ (ich verstehe den Mörder). Dem Autor geht es nicht darum, einen Fall zu lösen, sondern er möchte einen Mörder verstehen und erkunden, ob sich ein gewöhnlicher, ja langweiliger Mensch in diesen hineinversetzen kann.

In der Tat fällt es schwer, einen Zugang zu diesem Buch zu finden. Ik begrijp de mordenaar – man ist versucht zu sagen: „schön für ihn“. Aber wer begreift den Schriftsteller und das, was er uns damit sagen will? Der Mörder bleibt nebulös, spät kann man ein Motiv erahnen, seine Gedankengänge hingegen kann wohl nur der halbherzig ermittelnde Detektiv nachvollziehen. Aber auch das weiß man nicht sicher. Zu sehr vermischt sich dessen Lebenssicht, seine Wut auf verschenkte Lebenszeit mit dem, was er herausfindet. Zu keiner Zeit kommt der Leser diesem Polizisten nahe. Mehr noch, dieser Polizist – er interessiert einfach nicht. Zuviel Gejammer. Wie auch die anderen maßgeblichen Protagonisten bleibt er ohne Namen. Namen- und konturlos blickt er zurück auf ein Leben voller verpasster Chancen und er ergreift auch diese letzte Gelegenheit, aus seinem eigenen Schatten herauszutreten, eher zögerlich.

Auch Marc Boogs Sprache bleibt fremd und ist schwer zugänglich. Er formuliert wunderschön, aber konstruiert. Man hat den Eindruck, er betrachtet jedes Wort, dreht es um, stellt es mal hierhin, dann dorthin, solange, bis er zufrieden ist. So entstehen zwar Sätze, die für sich genommen gefallen und sicher auch nachdenkenswerte Wahrheiten beinhalten, doch als wahrhaftiger empfindet man den Roman dadurch nicht.

Mark Boog: „Mein letzter Mord“. Du Mont, Köln. 157 Seiten, € 18,99




Recherchen in der Biosuppen-Firma – Krimi „Neben der Spur“ von Ella Theiss

Download Cover des Grafit Verlags, Dortmund  Die Fabrikantenfamilie Hepp bereitet sich auf die Feier eines ganz besonderen Geburtstages vor. Der Seniorchef wird sagenhafte hundert Jahre alt. Karo Rosenkranz, freiberufliche Journalistin, hat in der Redaktion die Niete gezogen und soll über den Geburtstagsempfang berichten. Widerwillig macht sie sich auf den Weg zur Firma, doch plötzlich wird es spannend.

In der Produktionshalle explodieren ganz unfeierlich zwei Sprengsätze. Zu Schaden kommt niemand, die herumfliegenden Kadaver gehören tiefgekühlten Hähnchen. Karo wittert Morgenluft und eine spannende Story. Umso mehr, als Biosuppenhersteller Hepp eigentlich streng vegetarisch produziert. Was also hatten dann die tiefgekühlten Flattermänner dort zu suchen? Und von welchem Krieg brabbelt der Hundertjährige dauernd? Die Zeit des dritten Reiches hat er doch angeblich gut abgeschirmt in einem Sanatorium verbracht. Und wo befindet sich der designierte Firmenerbe, Valentin? Ist er vielleicht der Drahtzieher des Anschlags und gar nicht – wie kolportiert – mal kurz weg auf dem Jakobsweg? Schließlich hat er sich bisher auch eher einen Namen als eifriger Tierschützer gemacht denn als begabter Firmenlenker. Fragen über Fragen. Karo beschließt, es sei Zeit für investigativen Journalismus und tritt mutig in die Fußstapfen Günter Wallraffs. Kurzerhand tritt sie die Stelle einer PR-Beraterin der Suppenköche an und fördert alsbald ein ziemliches Gebräu an übel schmeckenden Ungereimtheiten zu Tage. Ihre Recherchen führen sie bis weit zurück in die Zeit des Zweiten Weltkrieges – und sie selbst in tödliche Gefahr.

„Neben der Spur“, der erste zeitgenössische Roman der Autorin Ella Theiss ist ein mal pikant, mal deftig gewürzter Krimi. Dabei kommt sie ganz ohne Serienmörder, Psychopathen und blutiges Gemetzel aus und vermittelt dem Leser dabei das Gefühl, jederzeit selbst in eine solche Gemengelage hineinstolpern zu können. Sie kocht aus den verschiedensten Zutaten unterschiedlicher Zeiten und Genres ihr ganz eigenes Süppchen. Auch wenn ihre Karo Rosenkranz und erst recht die sich selten mit Ruhm bekleckernden Polizisten gelegentlich „neben der Spur“ liegen, Ella Theiss bleibt gekonnt auf Kurs und schafft es, auch unerwartete Wendungen einzufädeln. Die Grundlagen ihres Krimis – auf der einen Seite die Welt der nicht immer gut meinenden Bio-Produzenten, auf der anderen Seite die bis in die heutige Zeit hineinreichenden Folgen des Dritten Reiches – sind gut recherchiert, ihre Figuren lebensnah entworfen. Der Hintergrund ihres gut recherchierten Krimis ist durchaus ernst, dennoch wird der Ton nie zu bedeutungsschwer, versteht die Autorin es doch, ihr Werk mit einer ordentlichen Prise skurrilen Humors zu würzen.

Das Rezept für einen unterhaltsamen, spannenden Krimi auf einem ordentlichen Niveau hat Ella Theiss somit wohl auf jeden Fall gefunden.

Ella Theiss: „Neben der Spur“. Grafit Verlag, Dortmund. 253 Seiten, € 8,99




Benjamin Leberts Roman „Im Winter dein Herz“ – Deutschland im Kälteschlaf

Cover-Download von Hoffmann und Campe  Robert, ein junger Mann, der in seinem Leben schon manches schlucken musste und nun keinen Bissen mehr herunterbekommt, begibt sich für eine Zeit der Komtemplation in das Haus Waldesruh, eine Klinik für psychosomatische Erkrankungen. In die Zeit seines Aufenthaltes fällt der jährliche Winterschlaf, den die Menschen seit einigen Jahren den Tieren gleich halten. Eine jährlich wiederkehrende Zeit, in der „nichts, rein gar nichts zu tun war. Keine Grenzen zu passieren, keine Himmel abzusuchen“.

Früher empfand Robert diese Zeit als schön und wohltuend, doch in diesem Jahr ist alles anders. Es gibt Dinge, die zu tun, zu klären sind und die sich nicht aufschieben lassen. So verweigert er den Schlaf des Winters und begibt sich auf eine Reise quer durch ein schlafendes Deutschland. Gemeinsam mit seinem Mit-Patienten Kudowski, einem Mann von undefinierbarer Kraft und der jungen Kellnerin Annina, die Kudowski und er am Resopaltisch der nahegelegen Raststätte kennengelernt haben, werfen sie in einer befreienden Handlung die Tabletten der Winterschlaf-Medikation hinter sich, steigen in einen schwarzen Jeep namens Ritchie Blackmore und begeben sich auf eine Reise durch ein frostiges Land. Ein Land, in dem nur eine Minimalversorgung aufrechterhalten wird, welches ansonsten im Schlaf dahintaumelt und die wirklich wichtigen Fragen des Lebens aufschiebt. Mit dem I-Phone und der Winter-App verorten sie sich in der Zeit, ist diese Reise doch nicht nur eine zweckgebundene, sondern vor allem auch eine Reise zu sich selbst. Zu ihrer eigenen Persönlichkeit, die „sie dem Leben abringen müssen“, die sie wieder befähigt, „einem Montagmorgen ins Gesicht zu schauen“.

Ich hatte mir Unvoreingenommenheit vorgenommen, als ich mit „Im Winter Dein Herz“ begann. Was war nicht alles über Benjamin Lebert in den letzten 15 Jahren geschrieben worden. Nach seinem umjubelten Erstling „Crazy“ wurde er zum neuen Salinger hochgejazzt, zum Wunderkind des Literaturbetriebes. Schnell danach fanden Feuilletonisten oft harsche Worte für seine nachfolgenden Werke. Harsche Worte, die so schien es mir – ohne zugegebenermaßen die Bücher gelesen zu haben – aus überzogenen Erwartungen resultierten. Mir war der ganze Rummel suspekt, ich machte einen Bogen um Lebert, schob die Lektüre auf. Nun erreichte mich mitten im Hochsommer sein neues Buch über eine Reise im Winter. So objektiv wie möglich wollte ich sein. Objektiv und gerecht. Ging nicht. Vom ersten Moment an hatte ich eine subjektive, persönliche Meinung zu diesem Buch mit dem schönen Titel und ich änderte sie nicht mehr. Ich mochte das Buch vom ersten Satz an, ich fand es herzensklug, wahrhaftig, schmerzhaft ehrlich und bei aller beschriebenen Kälte wärmend.

Lebert ist kein Autor, der sich oder seine Leser schont. Bereitwillig teilt er seine Gedanken, seine Leiden, aber auch seine Erkenntnisse. „Im Winter Dein Herz“ ist ein Stück weit autobiographisch, es ist aus jeder Zeile ersichtlich, dass der Autor Eiseskälte selbst erfahren und durchlitten hat. In fünf Heften und zwischengeschalteten Momentaufnahmen, in denen die drei Protagoisten sich wärmend an Momente der Geborgenheit erinnern, fängt Lebert den Leser ein. Dieser kann die Kälte der Zeit und des Landes jederzeit mitempfinden, kühl ist der Roman dennoch an keiner Stelle. Lebert ist von Zärtlichkeit und Liebe für seine Protagonisten getragen. Sanft, aber eindringlich, melancholisch, doch nie resignierend geleitet er sie durch hastigen Schneefall und kaltes klares Licht.

Dieses Buch so geschrieben zu haben, war mutig. Es so geschrieben zu haben, dass es den Leser berührt, ihn hoffnungsvoll zurücklässt und ihm den funkelnden Sternen auf dem See gleich Bilder mitgibt, die tragen – das ist durchaus Kunst. Ich werde nun die Lektüre der vorhergehenden Werke nachholen. Objektiv und unvoreingenommen. Vielleicht. Falls ich die Idee mit dem Winterschlaf nicht aufgreife….

Benjamin Lebert: „Im Winter dein Herz“. Roman. Verlag Hoffmann und Campe, 160 Seiten, €19,50




„Kindheiten“ oder: Die untröstliche Heiterkeit des Jean-Jacques Sempé

Nein, eine schöne Kindheit hat er nicht gehabt: Vor den allzeit lautstarken Streits der Eltern flüchtete er, wenn er konnte, zum Radio und wob sich eine Phantasiewelt aus dem Gehörten. Wurden Mutter und Stiefvater zwischendurch auf ihn aufmerksam, dann hagelte es meistens Ohrfeigen. Mindestens.

Wir reden von Sempé. Jean-Jacques Sempé. Wer seine wunderbaren Zeichnungen kennt, weiß, dass wohl kaum jemand sich den Duft und Hauch der trotz allem unbeschwerten, stets zu Streichen aufgelegten Kindheitstage so bewahrt hat und wachzurufen weiß wie dieser aus Bordeaux stammende Mann, der morgen (17. August) 80 Jahre alt wird und immer noch als besessen arbeitsam gilt. Er selbst findet es verstörend, dass und wie er dermaßen der Kindheit verhaftet geblieben ist. Nebenbei bemerkt, war damals das Radio so kultiviert, dass man sich dort bestes Französisch aneignen konnte.

Es gibt jedenfalls genügend Anlass, mit spürbar liebevollem Aufwand einen Bildband wie „Kindheiten“ herauszubringen, der sich als thematisch gewichtete, veritable Werkschau erweist und dabei ohne seine wohl berühmteste Figur, den „Kleinen Nick“ (Petit Nicolas) auskommt, die Sempé einst gemeinsam mit René Goscinny schuf.

Angesichts seiner frühen Jahre, die das Buch in einem langen Sempé-Gespräch mit Marc Lecarpentier in Erinnerung ruft, ist die milde Heiterkeit des Oeuvres überaus erstaunlich. Sempé sagt es mit den Worten eines Schriftstellers, an dessen Namen er sich nicht erinnert: „Der Mensch ist ein Wesen von untröstlicher Heiterkeit.“ (Hausaufgabe: Wer findet den Urheber heraus?)

In diesem Band kann man beispielsweise verfolgen, wie die durchaus wohlgesetzen Worte zu den Zeichnungen nach und nach schwinden, wie also das rein Bildnerische überwiegt. Immer eigener, feingliedriger und feinsinniger wird die Linienführung, sie übermittelt in seismographischer Weise seelische Zustände. Da bedarf der Worte nicht mehr. Es scheinen ganze Existenzen und Charaktere in knappen, meisterlichen Skizzen auf. Oder auch dies: Dauer, Trägheit und Hitze eines Hochsommertags werden atmosphärisch greifbar. Manche Blätter wiederum erfassen haarfein, was Provinz ausmacht. Man schaue nur, wie die Dorfjugend einer Radfahrerin nachstarrt. Auch für Freud und Leid, Groteske und Grazie des Fußballs abseits der großen Stadien hat Sempé ein untrügliches Gespür. In all diesen Zeichnungen schwingt so vieles mit…

Auch wenn Sempé erwachsene Menschen zeichnet, sind sie oft unverkennbar von Kindheit geprägt. Mal sieht man sie in selten schönen Momenten des Leichtsinns, wenn sie sich unbeobachtet glauben und auf einmal wieder sind wie von klein auf. Andererseits sieht man aschfahl ergraute und erstarrte Herrschaften, in denen jegliche Kindheitsahnung erloschen ist. Zuweilen rücken die Lebensalter in komischen Kontrast: Der Schnitt durch ein Haus offenbart, wie die „Großen“ bei Regen ihre Zeit in Zimmern totschlagen, während oben auf der Dachterrasse eine Kinderschar tobend jeden Augenblick der Nässe mit Haut und Haaren genießt.

Schließlich gibt es in dieser vielfältigen Bildwelt auch jene stocksteif ungelenken, früh verzogenen Bürgersöhnchen oder jene Kinder, denen das Kindsein früh ausgetrieben werden soll, etwa mit strengem Klavier- oder Ballettunterricht. Doch siehe da, sie wehren sich mit Phantasie oder auch ganz handgreiflich: Selbst wenn sie mit Heiligenschein aus Pappe zur Weihnachtsaufführung eilen, knuffen und hauen sie sich unterwegs noch mit heißem Herzen. So kann Kalberei ein Hoffnungszeichen sein.

Sempé: „Kindheiten“. Bildband, Hardcover Leinen, 272 Seiten. Mit einem Gespräch zwischen Sempé und Marc Lecarpentier (übersetzt von Patrick Süskind). 39,90 Euro.




Michel Houellebecq: „Karte und Gebiet“ – Schauplatzbesichtigungen

Wird sich Michel Houellebecq auf seine alten Tage zu einem Autor von Frankreich-Reiseführern entwickeln? Unwahrscheinlich. Dennoch laden die detaillierten Ortsangaben in seinem zuletzt erschienenen Roman Karte und Gebiet zu Schauplatzbesichtigungen ein. Und mit dem Fotografen, Maler und zuletzt auch Videokünstler Jed Martin hat Houellebecq einen Protagonisten gewählt, der französische Städte, Dörfer und Landschaften mit distanzierter Neugier beobachtet – „dieses Land, das unbestreitbar das seine war.“

Jed Martin wohnt in einem Dachgeschoss-Atelier im 13. Arrondissement. Durch die Fenster sieht er hinter der Place des Alpes die „in den Siebzigern erbauten viereckigen Festungen, die in totalem Gegensatz zur Ästhetik der restlichen Pariser Landschaft standen und die Jed vom architektonischen Standpunkt aus allen anderen Gebäuden in Paris vorzog.“

Obwohl sozusagen intra muros gelegen, also innerhalb des Boulevard Périphérique und nicht in der berüchtigten Banlieue, würde ein durchschnittlicher Paris-Tourist diese mit „Sehenswürdigkeiten“ eher dünn bestückte Gegend nicht bei seinem ersten Besuch der Stadt ablaufen, und wenn es keinen besonderen Anlass gibt, auch noch nicht beim zwanzigsten. Jeds bevorzugtes Bistro, in dem er sich mehrfach mit seinem Galeristen Franz verabredet, liegt in der Rue du Château des Rentiers. Ein wohlklingender Name. Aber die Straße in unmittelbarer Nachbarschaft vieler Betonbauten ist nicht für ihre Restaurants berühmt. Ein Stadtbewohner mit konventionelleren ästhetischen Erwartungen an französische Gastronomie würde, von Jeds Atelierwohnung gleichweit entfernt, zum Beispiel die Butte-aux-cailles nahe der Avenue Tolbiac mit ihrer Kneipenvielfalt entdecken. Es ist, als lenke der Autor den Blick absichtlich auf die unspektakulären, „langweiligeren“ Straßenzüge neben den charmanteren. Als wolle er zu einer hellwachen Reise durch vermeintliche Belanglosigkeiten einladen.

Obwohl durch seine Kunst zu unverhofftem Reichtum gelangt, orientiert sich der Maler nicht am Guide Michelin, sondern holt sich seine Pringles-Chips (der Autor kennt keine Zurückhaltung bei Produktnamen) an der Shell-Tankstelle und schließt sich damit zu Hause ein.

Viereckige Festungen, die Jed vom architektonischen Standpunkt aus allen anderen Gebäuden in Paris vorzog

 

Eine Selbstpersiflage des Autors

Als nicht unwichtig für Jed Martins – nur mit der Irrationalität des Kunstmarkts erklärbaren – exorbitanten Geschäftserfolg erweist es sich, dass er auf Anregung seines Galeristen eine Romanfigur namens Michel Houellebecq, die unübersehbare Ähnlichkeiten mit dem Autor Michel Houellebecq aufweist, dafür gewinnt, ein Vorwort zum Ausstellungskatalog seiner „Serie einfacher Berufe“ zu verfassen. Diese Spiegelung als Figur in seinem Roman gibt dem Autor die Möglichkeit zur Selbstpersiflage als menschenscheuen Alkoholiker. Wintertage, an denen es um vier Uhr dunkel wird, sind dem zur Depressivität Neigenden weit erträglicher als die endlosen Sommertage. Die EDV-Experten der Polizei, die später Houellebecqs Festplatte untersuchen werden, stellen fest: „Selten jemanden gesehen, der ein so beschissenes Leben führte.“

Jeds Vater, als Architekt im Ruhestand, hat aus der Bibliothek seines Altenheims zwei Romane von Michel Houellebecq gelesen und zeigt sich informiert, als Jed ihm von dem beabsichtigten Vorwort berichtet: „Das ist ein guter Autor, wie mir scheint. Liest sich sehr angenehm, und er zeichnet ein ziemlich zutreffendes Bild unserer Gesellschaft.“ So liefert Houellebecq eine – gar nicht einmal beschönigende – Rezension seines Buchs gleich mit.

Den Kontakt zu dem cleveren Skandalautor vermittelt dem Maler Houellebecqs Schriftsteller-Freund Frédéric Beigbeder, der – ebenso wie die Flammarion-Verlegerin Teresa Cremisi – im Roman mehrere Cameo-Auftritte hat; zuerst während einer Literaturpreisverleihung, als Beigbeder lebhaftes Interesse an der Frage zeigt, welcher Mann die attraktive Olga für sich gewonnen hat. Beigbeders Ort ist das Café de Flore am Boulevard Saint-Germain, für das der wirkliche Frédéric Beigbeder den Literaturpreis Prix de Flore begründet hat, zu dessen Preisträgern Houellebecq gehörte.

Über die gutaussehende und erfolgreiche Russin Olga Sheremoyova – PR-Frau bei Michelin France, die zunächst berufsbedingt auf den jungen Künstler aufmerksam wird – bringt der Autor seine Leser mit einem anderen Paris, dem Paris der Partys und gesellschaftlichen Empfänge, der Sterne-Restaurants und „Romantikhotels“ in Kontakt. Olga bewohnt eine komfortable Zweizimmerwohnung mit Fenstern zum Jardin de Luxembourg.

Im Verlauf der Handlung kommt es zu drei persönlichen Begegnungen zwischen Jed Martin und Michel Houellebecq. Das erste Mal in Houellebecqs Haus in Irland, als Jed dem Schriftsteller Fotos seiner Gemälde zeigt. Das zweite Mal, ebenfalls in Irland, nachdem Jed sein Doppelporträt „Jeff Koons und Damien Hirst teilen den Kunstmarkt unter sich auf“ verworfen hat und stattdessen die Serie mit einem Bild „Michel Houellebecq, Schriftsteller“ abschließen möchte. Das Gemälde, das nach der Ausstellungseröffnung einen Marktwert von ca. 750.000 Euro erreicht, überbringt er dem Schriftsteller als Geschenk, der seinen Wohnort nach Souppes, ca. fünfundachtzig Kilometer südlich von Paris, verlegt hat. Von Freundschaft zu sprechen wäre bei den beiden egozentrischen Künstlernaturen verfehlt. Jed respektiert das Recht des zwanzig Jahre Älteren, in Frieden gelassen zu werden, doch seine Phantasie malt sich aus, wie sie beide, die eine Vorliebe für große Verbrauchermärkte teilen, durch das Warenangebot schlendern. „Wie schön wäre es doch gewesen, gemeinsam diesen frisch renovierten Casino-Supermarkt zu besuchen, sich gegenseitig mit dem Ellbogen anzustoßen, um den anderen auf das Auftauchen neuer Produktsegmente oder eine besonders ausführliche, klare Nährwertkennzeichnung auf einem Etikett hinzuweisen!“ Auch sonst sind sich die beiden Sonderlinge ziemlich ähnlich. Bei ihrer letzten Begegnungen sprechen sie über die Sozialutopisten des frühen und späteren 19. Jahrhunderts, Charles Fourier, Étienne Cabet, vor allem aber über William Morris, der ein wesentlicher Bezugspunkt für Jeds Vater gewesen war.

Heimlicher Protagonist

Jeds Vater, Jean-Pierre Martin, der im Umfeld der Bewegung Figuration Libre gegen die tonangebende Schule Mies van der Rohes und Le Corbusiers polemisierte und unter unorthodoxen Intellektuellen wie Gilles Deleuze Beachtung fand, ist vielleicht der heimliche Protagonist des Romans. Um seine Familie zu ernähren – in seiner erfolgreichsten Zeit beschäftigt sein Büro bis zu fünfzig Mitarbeiter – baut er jedoch gegen seine ästhetische Überzeugung vor allem „idiotische Strandhotels für blöde Touristen“. Für seine Familie und sich (Jeds Mutter begeht Selbstmord) hat er im damals noblen Vorort Le Raincy eine Villa gekauft, an der er trotz aller sozialen Veränderungen festhält. Zur Zeit des Romanbeginns ist Le Raincy bereits zu einer No-go-Area mutiert, für die kein Taxichauffeur einen Fahrauftrag annimmt. Nach dem Tod des an Darmkrebs leidenden Vaters, der sich in die Hände einer Züricher Sterbehilfeklinik begeben hat – ein „mustergültig banaler Betonklotz“ im Stil Le Corbusiers – entdeckt Jed dreißig Mappen mit minutiösen, teilweise utopisch anmutenden Architekturzeichnungen, die sein Vater angefertigt hat – „ohne jede Rücksicht auf Durchführbarkeit und Budget“.

„Die Karte ist interessanter als das Gebiet“ hieß Jeds erste, vom Reifen- und Kartenhersteller Michelin gesponserte Einzelausstellung – ein Gedanke, der in dem vielschichtigen Roman variiert wird und auch das phantastische Werk von Jeds Vater kommentiert. Grob vereinfacht und von dem kunstfertigen Autor so direkt nicht ausgesprochen, könnte eine Deutung des Ausstellungsmottos auch lauten: Die Literatur ist interessanter als die Wirklichkeit.

Die literarische Figur Michel Houellebecq – das sei verraten – ist im dritten Teil des Roman auf eine Weise geschlachtet worden, die selbst die sadistischsten Phantasien eines jeden Houellebecq-Hassers übertreffen würde. Die Köpfe des Schriftstellers und seines Hundes, jeweils sauber abgetrennt, liegen auf Sofa und Sessel einander gegenüber. Das Fleisch ist mit einem chirurgischen Präzisionsinstrument von den Knochen geschält worden, die abgeschabten Knochen im Kamin aufgehäuft. Während der Hauptkommissar der „schwer zu entziffernden Logik“ des methodisch ausgeführten Gemetzels nachgrübelt, erinnert das Arrangement aus Fleischbrocken, Hautfetzen und Blutflecken auf dem Wohnzimmerboden den zum Verbrechensschauplatz geführten Künstler Jed Martin spontan an Jackson Pollocks Action Painting, jedoch ohne dessen Leidenschaftlichkeit. Das gesamte grausame Ritual, wie nach Jeds wertvollem Hinweis gefolgert wird, hat der Mörder offenbar allein auf sich genommen, um von einem Kunstraub abzulenken. Das Houellebecq-Porträt, dessen Wert Jed der Polizei gegenüber zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf neunhunderttausend Euro schätzt, ist aus dem Haus gestohlen worden. Als es schließlich nach dreijähriger Suche wieder auftaucht und wegen einer testamentarischen Verfügung Houellebecqs in Jed Martins Besitz zurück gelangt, kann sein Galerist es an einen indischen Mobiltelefonanbieter für zwölf Millionen Euro verkaufen.

Die Figuren und ihre bevorzugten Orte

Mit dem Schauplatz des Mords, dem zwischen Nemours und Montargis gelegenen Provinzstädtchen Souppes, wird ein Ort beschrieben, dessen „strukturbedingte Leere“ Jed an den Zustand nach der intergalaktischen Explosion einer Neutronenbombe erinnert. Außerirdische Wesen könnten sich „an dessen gemäßigter Schönheit erfreuen“ und „rasch die Notwendigkeit der Instandhaltung begreifen.“ Mag sein. Sollte es sich bei den Aliens jedoch um Wesen mit der ästhetischen Intelligenz vieler Terraner handeln, fände ihre konservatorische Fürsorge zwischen Paris und der Creuse erhaltenswertere Ortschaften als das mit „gemäßigter Schönheit“ freundlich bewertete Souppes sur Loing.

„Strukturbedingte Leere“. In Souppes sur Loing wird die Romanfigur Michel Houellebecq auf grausamste Weise ermordet.

 

Die detaillierten, teils gut beobachteten, teils in die nahe Zukunft phantasierten Ortsdarstellungen wären für einen Literaturkritiker oder -wissenschaftler vernachlässigbar, dienten sie dem Autor nicht als ein Mittel, seine Romanfiguren auf eine vergleichbare Art zu porträtieren wie auch Jed Martin in seiner „Serie einfacher Berufe“ den Bildhintergrund jeweils sehr sorgsam arrangiert. Hier wie dort ist die Umgebung Bestandteil des jeweiligen Porträts.

Polizei-Hauptkommissar Jasselin, der den Mord an Houellebecq aufzuklären hat und aus dessen Perspektive mit dem Beginn des dritten Teils erzählt wird, ist ein anderer Typ als der Maler und der Schriftsteller. Er wohnt nicht weit von Jed entfernt, etwas näher an der Seine, im 5. Arrondissement, scheint aber in einer völlig anderen Welt zu verkehren. Sonntagsmorgens begleitet er seine Frau gern beim Einkauf über die Marktstraße Rue Mouffetard mit dem Platz vor der Saint-Médard-Kirche, eine Ecke, die ihn jedes Mal bezaubert. Manchmal schlendert er auf dem Weg zur Pariser Kriminaldirektion am Quai des Orfèvres den Fluss entlang und teilt vom Pont de l’Archevêché mit Paristouristen einen Blick auf Notre-Dame. Er wählt kein Restaurant zwischen zweckdienlichen Betonkästen, sondern eines an der Place Dauphine, einem Platz an der Spitze der Île de la Cité, auf dem Boule gespielt wird. Und doch gibt es, etwa in ihren handwerklichen Methoden, auch Gemeinsamkeiten zwischen dem Schriftsteller und dem Polizisten.

Hauptkommissar Jasselin liebt es, am Sonntagmorgen seine Frau beim Einkaufen in der Rue Mouffetard zu begleiten.

 

Die Entdeckung der Provinz

Karte und Gebiet breitet verschiedene Facetten von Paris und seiner Vororte aus. Die Besonderheit des alternden (pardon, er stellt sich selbst so dar) Houellebecq aber ist die Entdeckung der Provinz.

Die Romanhandlung – und auch Jed Martins Leben – endet in einem Gebiet, das als Karte schon früh Jeds künstlerische Laufbahn bestimmt hat. Als er damals mit seinem Vater zur Beerdigung der Großmutter ins Limousin fuhr, machte er an einer Raststätte auf der A 20 „eine große ästhetische Erfahrung“, die ihn beim Auseinanderfalten der Michelin-Département-Karte 325 zittern ließ. „Die grafische Darstellung war komplex und schön, von absoluter Klarheit, und verwendete nur eine begrenzte Palette von Farben. Aber in jedem Örtchen, jedem Dorf, das seiner Größe entsprechend dargestellt war, spürte man das Herzklopfen, den Ruf Dutzender Menschenleben, Dutzender, Hunderter Seelen.“

Einen von ihm fotografierten und mit technischen Mitteln veränderten Ausschnitt dieser Karte der Départements Creuse und Haute-Vienne präsentiert er als einziges vergrößertes Foto in einer von der Ricard-Stiftung gesponserten Sammelausstellung und beeindruckt damit unter anderem die schöne Olga, mit der ihn zeitweise eine Liebschaft verbindet und die als PR-Frau bei Michelin seine weitere künstlerische Karriere begleitet. Genauer gesagt, sie liebt ihn, während er nur für seine Kunst lebt.

Das Haus seiner Großmutter und die vom reich gewordenen Jed Martin aufgekauften angrenzenden Grundstücke dienen ihm in den letzten dreißig Jahren seines Lebens als Rückzugsort und als Material seiner späten künstlerischen Großprojekte.

Auch dieses Gebiet grenzt der Autor scheinbar überaus präzise ein: Das vordere Tor des 700 Hektar großen Geländes liegt an der D50; nur drei Kilometer sind es bis zur Auffahrt auf die A20 nach Limoges; in seinem rückwärtigen Teil geht das Grundstück in den Wald von Grandmont über. Das ist sowohl auf der Karte als auch im Gelände nachvollziehbar. Zugleich lokalisiert Houellebecq das Dorf Châtelus-le-Marcheix unmittelbar hinter der Rückfront des umzäunten Gebiets. Wo es aber in Wirklichkeit nicht liegt, sondern Luftlinie mindestens fünfzehn, über die kurvenreichen Straßen aber rund dreißig Kilometer weiter östlich. Eine Ungenauigkeit des sonst in allem so präzisen Autors? Oder aber Houellebecq möchte uns zeigen, dass die imaginären, künstlerisch geformten Landkarten der Literatur etwas noch anderes sind als die maßstabgetreue Umsetzung von Karte und Gebiet.

Denn auch Jed fotografierte nicht einfach nur die Michelin-Karten ab. „Er hatte eine stark geneigte optische Achse gewählt, einen Winkel von dreißig Grad zur Horizontalen, und die Filmstandarte für größtmögliche Tiefenschärfe maximal gekippt. Anschließend hatte er mit Hilfe von Photoshop-Filtern eine Entfernungsunschärfe und einen bläulichen Effekt am Horizont erzielt.“

Obwohl Houellebecq die Instrumente des Künstlers mit einem ähnlichen „enzyklopädischen Ehrgeiz“ beschreibt, mit dem Jed zu Beginn seiner Laufbahn „Gegenständen menschlicher Fertigung im industriellen Zeitalter“ fotografierte, klingen die Resultate der Kunst nie rein technisch und manchmal geradezu poetisch. Auf dem Foto führen gewundene Straßen „durch die Wälder, die wie eine unantastbare, feenhafte Traumlandschaft wirkten.“

Gehen wir davon aus, dass auch der Autor bei allem augenscheinlichen Realismus einen Unschärfefilter über gewisse Entfernungsangaben legt, ebenso wie er umgekehrt manche Details oder entfernt Gelegenes besonders scharf einstellt. Die „Creuse“ des Romans ist gewissermaßen die Anwendung der Scheimpflugschen Regel auf die Literatur. Auch in der zeitlichen Ausdehnung.

Der Maler Jed Martin kauft zwischen der D50 und Grandmont ein 700 ha großes Waldgebiet.

 

Selbst gewählte Isolation eines Sonderlings

Das verschlafene Châtelus-le-Marcheix wird im Roman zu einem Stückchen Science Fiction. Als Jed nach einem Jahrzehnt selbst gewählter Isolation das Dorf am Hinterausgang seines Grundstücks wieder betritt, findet er ein völlig verwandeltes Ambiente vor. Gleich drei Internet-Cafés auf hundert Metern, auf denen zuvor technologische und gastronomische Ödnis waltete. Die der Belle Époque nachempfundenen Bistro-Tischchen haben schmiedeeiserne Füße, und neben ihnen stehen Jugendstillampen, ihre Edelholzplatten sind aber allesamt mit Dockingstationen für Laptops, 21-Zoll-Bildschirmen und Steckdosen nach europäischer und amerikanischer Norm ausgerüstet. Die in Traditionen verwurzelte Landbevölkerung hat einer unternehmerischen, urbanen und weltoffenen Generation mit „bisweilen auch gemäßigten ökologischen Überzeugungen, die sich mitunter vermarkten ließen,“ Platz gemacht.

Châtelus-le-Marcheix – auf hundert Metern drei Internet-Cafés

Zu den letzten im Roman erzählten Ereignissen gehört der Tod von Frédéric Beigbeder, den Houellebecq im Alter von einundsiebzig sterben lässt. So kann man errechnen, dass sich die Handlung inzwischen im Jahr 2036 bewegt. Was Jed dreißig Jahre lang gemacht hat, erzählt er kurz vor seinem Tod einer eher unerfahrenen Journalistin der Art Press (zum Ärger des Kollegen von Le Monde). Er hat mit Video-Aufnahmen Verfallsprozesse dokumentiert. Jedoch nicht in automatisierter Zeitraffer-Einstellung. Vielmehr montiert er sorgsam ausgesuchte Einzelaufnahmen und überlagert sie in Mehrfachbelichtung mit anderen. Sein riesiges Grundstück lässt er verwildern, fährt jedoch fast täglich die einzige Straße entlang und – in der Absicht, „die pflanzliche Sichtweise der Welt wiederzugeben“ – nimmt er auf, wie die Vegetation jedes Menschenwerk überdeckt. Fotos der wenigen Personen, die zeitweise sein Leben begleitet haben, setzt er auf einer metallgerahmten Leinwand dem Sonnenlicht und der Witterung aus und filmt ihre Zersetzung. In Landschaften aus Tastaturen, Hauptplatinen und anderen elektronischen Bauteilen kopiert er kleine Spielzeugfiguren und hilft dem Verfall des Plastiks nach, indem er es mit verdünnter Schwefelsäure übergießt. Das Nachsinnen über das Ende des industriellen Zeitalters in Europa, heißt es gegen Ende des Romans, könne jedoch nicht das Unbehagen oder das Gefühl der Verzweiflung erklären, „das uns beim Betrachten dieser kleinen, ergreifenden Playmobilfiguren befällt, die sich inmitten einer riesigen futuristischen Stadt verlieren, einer Stadt, die ihrerseits zerfällt, sich auflöst und nach und nach in der pflanzlichen, sich bis ins Endlose hinziehenden Weite unterzugehen scheint.“

Das Ruhrgebiet als Quelle der Inspiration

Vor dem Beginn des rund dreißigjährigen Rückzugs und gewissermaßen als Quelle der Inspiration stand eine Reise ins Ruhrgebiet. „Von Duisburg bis Dortmund und von Bochum bis Gelsenkirchen waren die meisten ehemaligen Stahlwerke in Freizeitzentren verwandelt worden, in denen Ausstellungen, Theatervorführungen und Konzerte veranstaltet wurden.“ Unter anderem auch eine große Jed-Martin-Retrospektive. Aber nicht bei allen Anlagen ist es gelungen, sie in das Konzept eines industriellen Tourismus einzubeziehen. „Diese industriellen Kolosse, in denen sich früher der Großteil der deutschen Produktionskapazität konzentriert hatte, waren inzwischen verrostet oder halb eingestürzt, Pflanzen nahmen von den ehemaligen Werkstätten Besitz, überwucherten die Ruinen und verwandelten das Ganze nach und nach in einen undurchdringlichen Dschungel.“

Houellebecqs Prognosen über Frankreichs Zukunft

Als Jed nach jahrzehntelangem Rückzug in die Welt zurückkehrt, stellt er sich als Künstler die Frage, welches Bild aus seiner „Serie einfacher Berufe“ noch Gültigkeit haben mag. Der Beruf der Fernwartungstechnikerin existiert in Frankreich nicht mehr, diese Stellen wurden von Kolleginnen in Brasilien und Indonesien übernommen. Sein Porträt „Aimée, Escort Girl“ jedoch ist nach wie vor aktuell.

In den letzten Jahren waren wirtschaftliche Krisen fast unablässig aufeinander gefolgt. „Diese Krisen waren immer heftiger und derart unvorhersehbar geworden, dass es geradezu burlesk war – zumindest vom Standpunkt eines spöttischen Gottes, der sich wahrscheinlich hemmungslos über die finanziellen Zuckungen lustig gemacht hätte, die quasi über Nacht ganze Erdteile von der Größe Indonesiens, Russlands oder Brasiliens mit Reichtum überhäuften, ehe diese ebenso plötzlich von Hungersnöten heimgesucht wurden, was jeweils Bevölkerungen von Hunderten Millionen Menschen betraf.“

Frankreich hat alle globalen Höhenflüge und Tiefschläge fast unbeschadet überstanden. Seine Krisenfestigkeit verdankt es nicht den französischen Autos, nicht dem Airbus, nicht den Waffenexporten, sondern seinem nicht totzukriegenden Image, das Land der Lebenskunst zu sein. Es vermarktet einfach das Savoir-vivre mit Wein, Käseherstellung, „Romantikhotels“ und Parfüm. Wo immer sich das Kapital gerade befindet, in China, Russland, Dubai, Indonesien oder Brasilien – die Touristen kommen aus aller Welt und suchen die französischen Dörfer auf. Und erstmals seit dem frühen 19. Jahrhundert blüht in Frankreich auch wieder Sextourismus auf – ein Thema, zu welchem Houellebecq seine Expertise zuvor unter Beweis gestellt hat (Plattform, 2001).

Houellebecq prognostiziert für Frankreich einen Anstieg des Sextourismus.

Die meisten Franzosen aber können sich in naher Zukunft einen Urlaub in ihrem Heimatland nicht mehr leisten – was sich nach der Darstellung der Michelin-Insiderin Olga Sheremoyova bereits ab etwa 2010 abzeichnete. Also: Hin! Bevor Frankreichs gute Art zu leben für uns krisengeplagte Industrieländer unbezahlbar geworden sein wird.

Houellebecq, der in Karte und Gebiet mehrfach als „der Autor der Elementarteilchen“ auftaucht, könnte vielleicht mit mindestens gleicher Berechtigung als „Autor von Karte und Gebiet“ in die Literaturgeschichte eingehen. Wenn dabei solche Bücher entstehen, dürfen wir im eigenen Interesse dem Autor weiterhin ein beschissenes Leben wünschen.

Aktuell:

Der Autor und Theaterregisseur Falk Richter hat den 2010 in Frankreich und 2011 in der deutschen Übersetzung von Uli Wittmann erschienenen Roman Karte und Gebiet für die Bühne bearbeitet und führt in seiner sehr gelungenen Theaterfassung selbst Regie. Im Düsseldorfer Schauspielhaus (Kleines Haus) finden die nächsten Aufführungen am 30. September und am 6. Oktober 2012 statt.

Düsseldorfer Schauspielhaus:
Karte und Gebiet. Nach dem Roman von Michel Houellebecq. Aus dem Französischen von Uli Wittmann / Für die Bühne bearbeitet von Falk Richter. Repertoire, Deutschsprachige Erstaufführung, Dauer: 2 Stunden, 30 Minuten – 1 Pause.
Gustaf-Gründgens-Platz 1, 40211 Düsseldorf; Karten: Telefon 0211.36 99 11; Fax 0211.85 23 439, karten@duesseldorfer-schauspielhaus.de

Roman:
Michel Houellebecq: Karte und Gebiet. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. DuMont Buchverlag, Köln. 416 Seiten.
Gebundene Ausgabe, 2011: ISBN-13: 9783832196394, 22,99 Euro,
Broschierte Ausgabe, 2012, DuMont Taschenbücher Nr.6186: ISBN-13: 9783832161866, 9,99 Euro.




Gerhard Roth und die Gugginger Künstler: Tolle Bilder, empathisch einfühlsame Texte

Rechtzeitig vor dem Geburtstag Gerhard Roths, des bedeutenden österreichischen Schriftstellers, der am 24. Juni 70 Jahre alt wurde, erschien im Mai im Residenz Verlag ein opulenter Text– , Bild– und Foto–Band: Gerhard Roths „Im Irrgarten der Bilder / Die Gugginger Künstler“.

So wichtig Gerhard Roths Texte für diesen Bildband auch sind, sie legen allesamt Wert darauf, die individuelle Besonderheit der Gugginger Künstler vordringlich und in uns Leser…n nachhallend zur Geltung kommen zu lassen. Was in meinem Falle zweifellos gelungen ist.

Also: Legen Sie alle Vorurteile und Vorbehalte, die Sie trotz Hans Prinzhorns Buch von 1922 und trotz Leo Navratils Veröffentlichungen vielleicht immer noch gegen die „Bildnerei“ und Gestaltungskraft von Schizophrenen und „Geisteskranken“ haben, wenigstens versuchsweise ab und lassen Sie sich ein auf die beeindruckenden, individuellen Bilderwelten der Gugginger Maler, Zeichner und Poeten. Hier nämlich werden sie zugänglich; in gewahrter, bewahrter Fremdheit und mitunter überraschender Nähe und Klarheit.

Eines der Buchkapitel (überschrieben mit „Im Haus der schlafenden Vernunft“) spielt schon im Titel auf die Bildunterschrift der bekannten Goya-Radierung an: „Der Schlaf der Vernunft gebiert Träume und Ungeheuer.“ Mir selbst kam sogleich auch noch der folgende, ebenfalls generell gemeinte, mir seit langem ebenfalls wichtige Satz des Philosophen Schelling in den Sinn: „Der Verstand ist der geregelte Wahnsinn.“

Welchen Zugang zum Schöpferischen haben die Künstler unter jenen, die in besonderer Weise auch außerhalb der Träume der Nacht von den Regelungen des eigenen Verstandes, sei’s zeitweise, sei’s dauerhafter, entbunden sind? Solche und ähnliche die Künste und den Menschen betreffende Fragen haben mich in der letzten Woche interessiert, als ich in der selten kurzen Zeit entschieden großer Sommerhitze endlich zu einer genaueren und intensiveren Lektüre dieses Text- und Bildbandes gekommen bin. Da schon schrieb ich:

„Einen kleinen Tisch nehme ich mir, auf dessen obere Fläche das große tolle Buch auch aufgeschlagen gut passt, setze mich in den Schatten auf den Balkon und lese und schaue und lese mich fest.“ –

„Auffällig: die „Irren“ schreiben“ – ob handschriftlich, ob in Blockschrift – „ noch immer in einer Schönschrift, die auch ich in meiner Kindheit in Österreich ganz ähnlich gelernt habe.“ –

„Was denn noch schreiben über dieses im Buch selber schon Geschriebene hinaus? – Anregend ist es allemal. Und die einzelnen Bilder warten darauf, dass man über ihnen ins Sinnieren kommt und nun selber über sie schreibt und denkt, auf eigene Weise und ganz privat.“ –

„Gerhard Roth hatte jeweils Mut zu eigener Subjektivität im geduldigen Anschauen und Wahrnehmen; und fordert so wie von selbst unser Subjektives, Verwandtes Suchendes und auch Findendes, heraus.“ –

„Dieses Buch wird mich weiterbeschäftigen. Ende nicht absehbar.

„Um das Rätsel des Menschseins geht es auch hier: um das Rätsel des Menschseins, das (nur aus moderner Sicht?) unlösbare; in Kunstwerken aller Zeiten und Kunstrichtungen wäre es dann immer wieder in seiner Rätselhaftigkeit sichtbar gemacht und dargestellt worden; das Rätsel wäre so vielleicht zwar immer noch unlösbar, aber doch zugänglicher gemacht.“ –

„Durch diese Bilder und durch Gerhard Roths verfasste Einzelporträts fühle ich mich wieder offener für alte und neue Kunst und bin wohl auch wieder offener für andere Menschen geworden, lerne sie ggf. besser verstehen, schon von der neu gewonnenen Ausgangslage her.“ –

„Erst katalogartig lesend, mir erst nur die naheliegenden Fragen vorlegend: Was ist unter den Künstlern von Gugging zu verstehen? Wie heißen sie? Wie hat sich alles entwickelt?“ –

„Und auf alle diese Fragen im fortlaufenden Lesen ausführlich Antwort bekommend, ziehen mich die hier zusammengestellten Beiträge Gerhard Roths, seine Einzelporträts von Gugginger Malern und Poeten, mehr und mehr hinein
und wirken sich produktiv auf mich selber aus, mich nach meiner etwaigen Eigenproduktion fragend, mich darin ermutigend und bestärkend, mich auf meine ureigene Nuance verweisend.“

Gerhard Roth: „Im Irrgarten der Bilder / Die Gugginger Künstler“, Residenz Verlag, St. Pölten/Salzburg/Wien. 360 Seiten, € 39,90.




Höchstgebot für die Geheimnisse der Scheherazade

Welche Geheimnisse birgt Scheherazade und warum geraten ihretwegen so viele Menschen in Gefahr? Im neuen Krimi des deutsch/niederländischen Autoren-Duos Thomas Hoeps und Jac. Toes handelt es sich bei Scheherazade nicht um die geheimnisumwitterte Geschichtenerzählerin aus 1001 Nacht, sondern um ein bis dato der Öffentlichkeit unbekanntes Gemälde von Rene Magritte.

Dieses Bild befand sich jahrzehntelang im Familienbesitz der Aachener Industriellenfamilie Roeder, die das Bild nun aus unbekannten Gründen zur Versteigerung gibt. Die Scheherazade wird auf einer Kölner Auktion von einem unbekannten Bieter zu einem legendären Höchstgebot ersteigert. Kunstrestaurator Robert Patati hat das Bild auf Bitten seines Freundes Carsten Roeder für die Auktion aufbereitet und begleitet auch den Transport des geheimnisvollen Bildes auf seinem Weg zum neuen Besitzer, einer ebenfalls geheimnisvollen Firma im niederländischen Maastricht. Unterwegs wird der Transportwagen gekapert und bei einem spektakulär inszenierten Unfall an einem Bahnübergang lässt Patati beinahe sein Leben.

Zur gleichen Zeit geht das Aachener Labor des Familienbetriebes Roeder in Flammen auf, eine in alle Betriebsgeheimnisse eingeweihte Angestellte stirbt und schon bald verstricken sich die Mitglieder der Familie Roeder und ihre engsten Angestellten in Widersprüche. Zur Aufklärung der Vorkommnisse werden nicht nur grenzüberschreitende polizeiliche Ermittlungen anberaumt, auch die niederländische Profilerin und Ex-Polizistin Michy Spijker, die sich gerade erst als Detektivin selbstständig gemacht hat, wird involviert. Das Bild taucht relativ schnell wieder auf, Robert Patati erhält den Auftrag zur Restauratierung, unterstützt von Anouk, einer rätselhaften holländischen Kollegin. Schnell finden sie heraus, dass beide Geschehnisse zusammenhängen und vor allem die Scheherazade mehr als eine Geschichte zu erzählen hat. Doch bis diese Geschichten sich in allen Facetten zeigen, sind allerlei Abenteuer zu bestehen und Fäden zu entwirren.

„Höchstgebot“ ist das dritte gemeinsame Werk des deutschen Autors Thomas Hoefs und des Niederländers Jac.Toes. Ihre bisherigen Krimis erfuhren viel Lob und Anerkennung auf beiden Seiten der Grenze und auch „Höchstgebot“ erfüllt die Erwartungen. Der Krimi ist durchweg flott geschrieben und weiß zu unterhalten. Die Sprache ist auf einem guten Niveau, der Leser vermag nicht zu erkennen, welche Teile von welchem Autor in welcher Sprache ursprünglich geschrieben wurde. Die Beiden verstehen es, auch Zusammenhänge, die nicht unbedingt für die breite Masse interessant sind – so z.B. die kunsthistorischen Hintergründe – unterhaltsam zu gestalten und so ganz nebenbei Wissen zu vermitteln. Zum Ende hin wird es allerdings etwas langwierig, nun rächt sich, dass die Autoren ihre thematischen Kreise von zerstörerischer Geschwisterliebe über Primzahlen-Codierung bis hin zu Afghanistan etwas zu weit gezogen und nun Mühe haben, diese zu schließen. So richtig stört aber auch dies nicht, bietet es doch die Gelegenheit, das deutsch/niederländische Geplänkel über holländischen Geschäftssinn und deutsche Hierarchiegläubigkeit noch ein wenig länger zu genießen.

In „Höchstgebot“ begegnet der Leser mit Robert Patati und Micky Spijker alten Bekannten wieder und erfährt, wie sie sich in der Zwischenzeit weiterentwickelten. So haben die Beiden nicht nur ihre Liebesbeziehung, sondern auch ihr jeweiliges Arbeitsverhältnis beendet und sich auf ihren Sachgebieten selbstständig gemacht. Auch im Verlaufe dieses Romans wird sich einiges in ihrem Leben ändern und sie zu der Einsicht bringen, dass man für die Verwirklichung seiner Wünsche und Pläne nur dieses eine Leben hat. So endet der Roman mit dem Beweis für ein altes holländische Sprichwort: „Auch als ferner Freund würde er sich hervorragend machen“.

Der Leser lernt aber neben den in den Kriminalfall verwickelten Personen auch neue Figuren kennen, besonders gefallen hat mir die Figur der Anouk. Anouk ist wohl das, was gemeinhin als Borderlinerin bezeichnet wird, im Roman bezeichnet sie sich selbst aber als Surrealistin und trägt einen wesentlichen Teil dazu bei, dass auch diesmal eine schöne Scheherazade vor dem Tod bewahrt bleibt.

Fazit: „Höchstgebot“ ist ein willkommenes Angebot für Krimifreunde, die Unterhaltung und Spannung auf gutem Niveau suchen. In diesem Sinne: Veel plezier met het hoogste bod.

Die Autoren: Toes & Hoeps bilden ein internationales Schrifststeller-Team, welches sich 2007 bei einer Zusammenarbeit zwischen deutschen und niederländischen Museen bildete. Ihre gemeinsamen grenzüberschreitenden Werke entstehen u.a. in langen bilingualen Gesprächen, Hoeps auf deutsch, Toes auf holländisch. Unvorstellbar? An der deutsch/niederländischen Grenze aber so üblich und völlig normal, das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Mehr über die Arbeitsweise des Autorenduos auf der Webseite: hoeps.wordpress.com

Thomas Hoeps/Jac.Toes: „Höchstgebot“, Grafit Verlag, Dortmund. 347 Seiten, €9,99




Nützliches und Kurioses übers Ruhrgebiet

Das Cover gibt sich internetaffin: Die Buchkapitel werden durch bunte Icons angekündigt, als müsse man nur noch klicken. Überdies heißt das Ganze „Smartbook“. Wenn das kein Appell an jüngere Kundschaft ist…

Im kleiner gedruckten Untertitel wird dann ganz konventionell verraten, worum es geht: „Ruhrgebiet für Fortgeschrittene“ versammelt auf 192 Seiten Wissenswertes und vielfach auch Kurioses übers Revier. Da finden sich nicht nur Ausführungen über spektakuläre Aussichtspunkte oder einschlägige Rekorde der Region, sondern etwa auch die Rubriken „Dummes Zeug“, „Schräges“ oder „Unnützes Wissen“.

Da mag der Eindruck aufkommen, es sei nach dem Larifari-Prinzip munter drauflos gelistet und getextet worden. Irrtum! Gerade die schrilleren Mitteilungen erhellen oft den speziellen Charakter der Gegend. Das Buch taugt zwar in erster Linie zum schnellen Blättern, doch man kann sich hie und da auch mal festlesen.

Der Autor Wolfgang Berke hält mit – eigentlich immer nachvollziehbaren – Meinungen nicht zurück, sofern es denn angebracht ist. Nicht alle Fakten lassen sich eben „wertfrei“ aufzählen. Zu Tatsachen aus der Sozialgeschichte oder zu kommunal- und regionalpolitischem Schwachsinn (letzterer besonders in den Kapiteln „Flops“ sowie „Dichtung und Wahrheit“) muss man Stellung beziehen, die Dinge beim Namen nennen. Wem wäre heute schon noch bewusst, dass das heutige Unesco-Weltkulturerbe, die Essener Zeche Zollverein, nach 1986 von der Ruhrkohle AG mit Billigung der Lokalpolitiker beinahe abgerissen worden wäre?

Wolfgang Berke hat offenkundig auf ein gut sortiertes Archiv zurückgreifen können. Das ordentlich, wenn auch kleinteilig bebilderte Buch eignet sich also nicht nur für Zugezogene oder etwaige Touristen. Auch alteingesessene Bewohner erfahren noch Neues.

Ein "Geisterort" des Reviers: das so genannte "Horrorhaus" in der Dortmunder Kielstraße. (Foto: Bernd Berke)

Ein "Geisterort" des Reviers: das so genannte "Horrorhaus" in der Dortmunder Kielstraße. (Foto: Bernd Berke)

So lernt man nicht nur, dass Duisburg die bundesweit erste Parkuhr hatte und über 650 Brücken verfügt, sondern es werden z. B. auch die sonderbarsten Straßennamen erläutert. So gibt es in Essen eine Gasse namens Zornige Ameise und in Witten kann man „Auf der Marta“ wohnen.

Sangesgut mit Regionalkolorit (Steigerlied, Mond von Wanne-Eickel, Georg Kreislers Gelsenkirchen-Schmähung etc.) und „Geisterorte“ („Horrorhaus“ in Dortmund) werden ebenso aufgerufen wie bemerkenswerte Kunstwerke (Wolf Vostells auf dem Rücken liegende „Tortuga“-Lok in Marl usw.). Das Kunst-Kapitel bestätigt übrigens leider (ungewollt?) das Vorurteil vom Ruhrgebiet als Kulturprovinz mit vorwiegend dürftig realistischem Skulpturen-Bestand. Ein trauriger Abschnitt betrifft die größten Unglücke (von den vielen Zechenkatastrophen bis zur Duisburger Loveparade), die sich natürlich nicht in den ansonsten meist launigen, aber nie zu flapsigen Duktus des Buches fügen.

Am interessantesten sind häufig die Fundstücke zum angeblich „unnützen Wissen“: So gab es schon zwischen 1955 und 1967 entlang des Ruhrschnellwegs eine veritable Radautobahn, die hernach dem anschwellenden Autoverkehr zum Opfer fiel. Man sieht, das Rad und seine Infrastruktur müssen wirklich nicht neu erfunden werden.

Wolfgang Berke: Smartbook. Ruhrgebiet für Fortgeschrittene. Klartext Verlag, Essen. 192 Seiten, Broschur, zahlreiche farbige Abb. 14,95 Euro.

P.S. zwecks Transparenz: Autor Wolfgang Berke wird gelegentlich – wegen ähnlicher Berufsfelder – schon mal mit meiner Wenigkeit verwechselt, wir sind aber weder verwandt noch verschwägert und kennen uns nicht einmal persönlich.




Eine Marotte im Buchdesign

Bei Durchsicht der neuen Buchkataloge (Herbstprogramme 2012) ist mir eine Eigenart des Schriftdesigns aufgefallen.

Ich weiß nicht, ob das Kind in der Fachwelt einen Namen hat. Jedenfalls haben sich etliche Umschlaggestalter stillschweigend darauf geeinigt, Titelzeilen in mehr oder weniger willkürlich abgehackter Schreibweise zu präsentieren. Die einzelnen Buchstaben werden dabei gleichsam zu Hauptdarstellern, bildliche Elemente rücken in den Hintergrund oder fehlen ganz.

Da ich das Copyright an den aktuellen Entwürfen keineswegs verletzen möchte, stelle ich hier keine Originalcover ein, sondern habe zwei denkbar gewichtige Titel der Weltliteratur handschriftlich portioniert und das Ergebnis abgelichtet. Voilà!

Schriftdesign (Hihi) und Foto: Bernd Berke

Schriftdesign (Hihi) und Foto: Bernd Berke

Natürlich sind die wirklichen Buchumschläge typographisch und auch sonst ungleich gewiefter gestaltet, es gibt gar vereinzelt veritable „Hingucker“. Das Prinzip bleibt aber erhalten. Die Resultate sehen en masse mächtig gewollt aus, sie riechen sehr nach kurzlebigem Trend. Der kleine Überraschungseffekt verbraucht sich rasch; erst recht, wenn er dermaßen in Serie geht. In der nächsten Saison wird man das schon nicht mehr ernsthaft aufgreifen können.

Solange es aber noch währt, könnte man daran noch schnell ein paar Fragen knüpfen. Hat das etwas mit einst modischer, inzwischen aber etwas abgestandener Dekonstruktion zu schaffen? Oder wird gegen den Hang zur leichtgängigen Lektüre Einspruch erhoben? Fast überall sonst wird einem Lesestoff möglichst mundgerecht und übersichtlich dargeboten, selbst Romane werden mit Kurzkapiteln und zahllosen Zwischenüberschriften häufig häppchenweise verabreicht.

In diesem Umfeld bedeuten die zerhackten Titelzeilen vielleicht: Halt! Hier müsst ihr euch Mühe geben, hier gibt es keine schnellfertigen Verbrauchstexte, sondern wahre, lohnende Literatur, deren Sinn- oder Unsinnsgehalt man langsam umkreisen muss. Ach, wenn es tatsächlich so wäre, dann wollten wir ein paar Design-Marotten wohl gern ertragen.




Die schwebende Komik des Bernd Pfarr

Der leider so früh verstorbene Bernd Pfarr (1958-2004) war ein unvergleichlicher Cartoonist, Zeichner und Maler. Kaum auszudenken, welche Figuren und Szenen er noch hätte erschaffen können, wenn ihm mehr Jahre geblieben wären.

Seine Bilder führen in ungeahnte Vorstellungsräume, sie sind nicht einfach nur hochkomisch, sondern heben mit allem Inventar gleichsam sachte ab vom Boden der Verhältnisse, öffnen unversehens Türen in eine andere Wirklichkeit. Ach, es ist verteufelt schwer, diese wunderbar schrägen, immer auch geheimnisvoll schwebenden Bilder mit Worten zu erfassen. Pfarrs zutiefst merkwürdige Figur „Sondermann“ zählt jedenfalls zu den grotesken Legenden neuerer Zeitrechnung.

Wer, wenn nicht solche erhabenen Könner wie Pfarr, der überdies auch ein höchst feinsinniger Texter gewesen ist, gehörte in eine Buchreihe mit dem Obertitel „Meister der komischen Kunst“? Der Band über Bernd Pfarr erscheint hier neben ähnlich aufgemachten Einblicken ins Oeuvre von Robert Gernhardt, F. K. Waechter, Chlodwig Poth, Marie Marcks und anderen Großkalibern. Die Namen lassen es ahnen: Die „Neue Frankfurter Schule“ des parodistischen Humors, welche sich vornehmlich um die Zeitschriften „Pardon“ und „Titanic“ gruppierte, macht längst einen bildnerischen Kernbestand der Komik im deutschsprachigen Raum aus, der sicherlich auch den internationalen Vergleich nicht scheuen muss. Die „Frankfurter“ und ihr Umfeld prägen somit auch diese Reihe des Münchner Kunstmann-Verlags.

Das 2010 begonnene verlegerische Projekt (Herausgeber ist der Kunsthistoriker und Ausstellungsmacher WP Fahrenberg) hat durchaus verdienstvolle Ansätze, sucht es doch die Erinnerung an Künstler wachzuhalten, die sonst womöglich verblassen könnte. Auswahl und Präsentation sind jeweils ordentlich, wenn auch nicht berauschend. Denn viele Cartoons würden durch größere Formate erheblich gewinnen, ja, manche verlangen gar gebieterisch nach mehr Platz, als ihnen hier zugestanden wird.

Handelsübliche Cartoonbände sind nun mal nicht von ungefähr deutlich größer als die Titel dieser Reihe. Mit knapp über 100 Seiten lassen sich zudem manche Lebenswerke nur recht knapp skizzieren. Auch im Falle Bernd Pfarrs langt es – neben Kostproben aus dem Schaffen – nur für ein paar kleine Beigaben: einen kurzen, klugen Aufsatz von Patrick Bahners (der „Mäuerchen“ als zentrales Motiv in Pfarrs Werk benennt), ein paar biographische und bibliographische Daten sowie eine Handvoll Fotos aus Pfarrs Leben. Das weckt Appetit, stillt ihn aber nicht.

Es ist anzunehmen, dass man bei Kunstmann einigermaßen vorsichtig kalkulieren musste und sich eben nicht getraut hat, mit voluminösen Großformaten auf den Markt zu gehen. Man kann das nachvollziehen, es ist sicher vernünftig. Schade ist es trotzdem.

Meister der komischen Kunst: Bernd Pfarr. Kunstmann Verlag, München. 112 Seiten im Format 23,4 x 18 cm. 16 Euro.




Eine Herzmanovsky-Verführung

Kaum dass der vor kurzem im Residenz Verlag erschienene Bild- und Textband „Forscher im Zwischenreich / Der Zeichner Fritz von Herzmanovsky-Orlando“ uns in den Blick gerät, schon nehmen wir ihn in die Hand und ahnen sofort, welch schönes, welch interessantes Buch wir da in Händen halten.

Die Bildreproduktionen sind einladend, eröffnen einen Blick in eine ganz eigene, durch mangelnde große Bekanntheit noch recht unverbrauchte Welt. Druckbild, Farbgebung, etc. alles einwandfrei, ja hervorragend.

Es mag dabei ein beträchtlicher Vorteil sein, dass FHO (= Fritz von Herzmanovsky-Orlando) zum Beispiel in Deutschland noch nicht allzu bekannt ist, aber auch in Österreich dürfte der beeindruckende Zeichner FHO weit weniger bekannt sein als der Schriftsteller. Zwar kamen auch in Deutschland FHOs sämtliche schriftstellerischen Werke erst in der originären Ausgabe des Residenz Verlages heraus, dann vor allem jedoch (allerdings mit mir unbekanntem Erfolg) in der dreibändigen Lizenzausgabe bei Zweitausendundeins. Aber richtig bekannt ist der Schriftsteller in Deutschland nicht geworden, sicher am wenigsten noch nördlich des Mains, also auch nicht im Ruhrgebiet.

Gewiss: In der Reihe des Heyne-Verlags „Das besondere Taschenbuch“ erschien einst in den 80er-Jahren Herzmanovskys wegen seiner Skurrilität wohl berühmtester Roman „Der Gaulschreck im Rosennetz“ mit den vom Autor selber stammenden Illustrationen. In einer Kultsendung wie der vom Hessischen Rundfunk (HR2) ausgestrahlten Ratesendung Peter Härtlings, „Literatur im Kreuzverhör“, kamen mindestens zweimal schon Texte FHOs vor, bei denen nach anonymer Textverlesung der Autor erraten oder gewusst, jedenfalls gefunden werden musste und durch Telephonanrufer auch erraten wurde. Auf den Literaturreisen von „Begegnung mit Böhmen“, eines Reiseunternehmens aus Regensburg, lässt sich u. a. der literaturkundige Reiseleiter Arthur Schnabl wirkungsvoll vorlesbare Texte von FHO wie z. B. den „Wassertrompeter“ wohlweislich auch nicht entgehen.

Aber nach wie vor gilt: So richtig im Bewusstsein durchgesickert und bleibend angekommen ist Fritz von Herzmanovsky-Orlando als Schriftsteller und als Eigenillustrator, gar als eigenartiger und beeindruckend eigenständiger Zeichner zumindest in Deutschland noch nicht.

Das neue Buch des Residenz Verlages kann dem nun durchaus verführerisch Abhilfe schaffen, so es denn wahrgenommen wird. Und das darf man ihm vorbehaltlos wünschen. In diesem wunderbar ausgestatteten Band kann man den großartigen Zeichner FHO entdecken und sich zugleich indirekt einen Zugang zu seinem Werk als Schriftsteller verschaffen; oder umgekehrt, wenn man von FHO schon etwas gelesen hat, kann man in seinen Zeichnungen eine andere, womöglich die originäre Seite von ihm in unverklemmter Offenheit präsentiert bekommen. Und wirklich: Von der chronologischen Abfolge her scheint das reife zeichnerische Werk (das jedoch zeitlebens bei FHO, also auch in seiner stärker schriftstellerisch geprägten Lebensphase) nie ganz aufhört, dem schriftstellerischen voran- bzw. vorauszugehen. Im Haupttext des Buches, im vielgliedrigen Essay von Arnulf Meifert, wird jedenfalls u. a. aufgezeigt, wie sehr auch noch das schriftstellerische Werk FHOs von dem zeichnerischen her gespeist wird, ja sich geradezu aus ihm heraus entwickelt, mental, thematisch, figural.

Fürwahr, eine Herzmanovsky-Verführung ist dieser Band, eine gelungene Verführung zu ihm als Zeichner und von da her alsbald wohl auch zu ihm als Schriftsteller. Meine Anspielung auf Rolf Vollmanns im Dezember des letzten Jahres im Albrecht Knaus Verlag erschienenen Doppelband „DER DÜRER VERFÜHRER oder die Kunst, sich zu vertiefen“ ist dabei ganz bewusst. Zudem: eine klare Überschneidung gibt es auch.

Auf der Seite 31 des FHO-Bandes finden wir eine Wiedergabe von Albrecht Dürers Radierung „Der Spaziergang“ – ein auch bei Vollmann eingehend betrachtetes Bild (vgl. dort die Seiten 33 – 35 des 1. Bandes) – konfrontiert mit FHOs Dürer-Adaption in Form einer Zeichnung.

Gerade der direkte Vergleich verrät sehr viel von der Herzmanovskyschen Eigenart, die weder vor Verknappung und Leichtigkeit noch vor satirisch grotesker Zuspitzung bzw. ironisch-humorvoller Scheinverniedlichung (hier des Todes) zurückschreckt. Wie überhaupt der Bezug auf schon vorhandene Kunstwerke, an denen er sich bewusst schulte und abarbeitete, indem er sich bewusst dagegen abhob, Fritz von Herzmanovsky-Orlando zu seinem Eigenen mitverholfen haben mag.

Arnulf Meifert tut zusätzlich das Seine zur Verdeutlichung von FHOs Eigenständigkeit, indem er ihn wiederholt gezielt und durchaus abweichend von eingeschliffenen Mustern mit Alfred Kubin, vor allem aber mit Paul Klee zusammensieht, mit dem FHO u. a. den Begriff „Zwischenreich“ teilt, wiewohl ganz anders akzentuiert.

Das fast unbekannte, recht liebevoll und höchst ansprechend präsentierte Bildmaterial alleine schon lohnt die Anschaffung dieses Bandes: Freizügig und dezent tabulos sind diese Bilder – und faszinierend merkwürdig, wenn man in ihnen immer wieder eine Verschränkung von weiblich-feenhafter Dominanz mit bis zur Karikatur submissen männlichen Ungestalten wahrnimmt, eine Verschränkung eines paradiesähnlich gemeinten Zustandes also – mag man diesen nun als eine bildgewordene Utopie oder als konzentrierte Privatmythologie auffassen – mit einer das Männliche immer wieder herabstufenden realsatirischen Konkretion.

Der große Essay von Arnulf Meifert vor allem, aber auch die kleineren Beiträge von Peter Assmann, Franziska Meifert und Siegfried de Rachwitz nebst einer den Band abschließenden Übersicht der Werke im Museumsbesitz, vermitteln uns auf wichtig erhellende, durchaus ideologiekritische Weise Zusammenhänge und Hintergründe. Politisch Schlimmes, sehr Schlimmes und in künstlerischer Form weniger Schlimmes, da künstlerisch Gebanntes, so lernen wir, entstammen ein und denselben geistigen bzw. gelegentlich abstrusen Strömungen nach 1900, an denen insbesondere auch FHOs Frau Carmen, ihn stark beeinflussend und zugleich seiner sexuellen Veranlagung maßgeblich entgegenkommend, regsten Anteil nahm.

Es fällt auf, dass Arnulf Meinert Fritz von Herzmanovsky-Orlandos phantasievoller Zeichenkunst vordringlich eine gewisse „Bannbildfunktion“ (S.62) zuzuerkennen bereit ist, ihn im Übrigen gelegentlich auch als Vorwegnehmer der Surrealisten feiert.

Als besondere Bereicherung des Bandes habe ich empfunden, dass Arnulf Meifert an den Beginn eines jeden der sieben Kapitel seines Hauptessays je eine ganze Drittelseite sehr gut ausgesuchter thematischer Aphorismen gestellt hat. Diese (von sehr verschiedenartigen Autoren stammend) sind fast durchweg kaum bekannt, wiewohl von meist hoher bis sehr hoher Qualität.

Arnulf Meifert / Manfred Kopriva (Herausgeber): „Forscher im Zwischenreich. Der Zeichner Fritz von Herzmanovsky-Orlando“. Residenz Verlag. 256 Seiten, 36 €.




Ansichten eines Hörbuch-Junkies (1): Die Eberhofer-Krimis

Wenn Ihnen einmal im Regionalexpress zwischen Hagen und Unna oder umgekehrt ein strubbeliger Eisbär gegenüber sitzt, dessen Ohren mit ordentlichen Stöpseln befüllt sind und dem Tränen die stoppeligen Wangen hinunter rinnen, dann saßen Sie in der Regionalbahn mir gegenüber.

Keine Sorge, ich betrauere dann nicht das unerwartete Dahinscheiden eines geliebten Haustieres, auch nicht den Verlust eines Menschen, der sich ausnahmsweise mal ebenso viele Gedanken um Gegenwart und Zukunft gemacht hat wie ich – nein – ich lese. Ich bin seit ein paar Monaten ein ausgewachsener Hörbuch-Junkie, kriege die Ohren nicht voll, bitte meine Umgebung ständig um neue Tipps, was ich unbedingt noch hörlesen möge.

Alles begann damit, dass ich irgendwann einmal nach unzähligen Pendelfahrten zwischen Wohn- und Arbeitsstadt die landschaftlichen Reize an Ruhr und Haarstrang auswendig gelernt hatte und mit dem Radiohören begann. Was draußen vor der Tür noch recht zufriedenstellend gelang, mir im Zug allerdings das rosa Rauschen so nachhaltig durch meine eustachische Röhre blies, dass ich schwer Tinnitus gefährdet war. Also entschloss ich mich, nur bis zum jeweiligen Bahnhof WDR 5 zu hören, während der Fahrt jedoch den Stimmen von hauptberuflichen Vorlesern, was mich unter anderem heute einen Christof Maria Herbst mit ganz anderen Augen/Ohren sehen/hören lässt. Viel besser als sein Ruf, der Mann.

Inzwischen grüble ich darüber nach, was ich nun virtuoser finden soll, die Vorlesenden oder diejenigen, die Vorzulesendes zu Papier brachten. Ich rezensiere gern so vor mich hin, nee, nicht wirklich rezensierend, ich menge sozusagen den Transmissionsriemen nahtlos mit dem jeweiligen Stück Literatur und komme zu – mir zumindest – völlig neuen Einsichten, Ansichten, Absichten. Die Einsicht: Hörbücher werden nicht schlechter, wenn man sie häufiger hört. Ansichten: Es ist umwerfend, sich wieder darauf einzulassen, Geschichtenerzählern seine ansonsten wenig nutzbringend verbrachte Zeit zu schenken. Absichten: Ich benötige dringend ein Handy mit größerer Speicherkapazität, weil ich überall stöbere, was der deutsche Buchhandel mir noch an Hörbarem zu bieten hat.

Beispiel: Rita Falks „Eberhofer-Krimis“, das ist der schießwütige Kommissar aus Niederkaltenkirchen bei Landshut, der mit Oma und Papa, dem Richter Moratscheck und seinen Freuden Rudi, Flötzinger und Simmerl völlig abgedrehte Fälle löst, die sonst niemand als solche erkennt. Übrigens hat der Eberhofer inzwischen eine eigene Website http://www.franz-eberhofer.de, auf der auch die unvergleichlichen Kochrezepte der ebenso unvergleichlich separat-schwerhörigen Oma veröffentlicht sind.

„Winterkartoffelknödel“, „Dampfnudelblues“ und „Schweinsbraten al dente“ lauten die Titel, deren Geschichten ebenso bayerisch wie grundabsurd und unterhaltsam sind. Christian Tramitz grantelt seinen Franz Eberhofer derartig kongenial durch die Geschichte, dass er und seine herrlich ungeschlachte Stimme mit dem kauzigen Kommissar eins werden. Rita Falks herrliche Ideen, Tramitz‘ unglaubliche Vorlesekunst und die wunderbare Lust am Irrsinn, die dem Eberhofer Franz angedichtet ist, gehen eine unvergleichliche Zusammenarbeit ein.

Die Sache hat einen gewaltigen Nachteil: Rita Falk kann einfach nicht schnell genug schreiben, dass mein Spaß am Hören ihrer aberwitzigen Krimis schnell genug mit neuem Futter versorgt wird. Kommt aber bald was neues, wird mir versprochen. Bis dahin höre ich fremd und stelle fest – es gibt noch mehr wunderbare Geschichtenerzähler, Geschichtenschreiber, von denen ich auch noch berichten werde, falls Sie/Ihr mich nicht stoppt, weil ich mein Verhalten am Hörbuch nicht zufällig mit dem eines Junkies verglichen habe.




Ich bin dann mal weg: Heiner Goebbels‘ „Ästhetik der Abwesenheit“

Prof. Heiner Goebbels © Wonge Bergmann für die Ruhrtriennale

Prof. Heiner Goebbels © Wonge Bergmann für die Ruhrtriennale

Der Intendant als sein eigener Theoretiker: Im Gegensatz zu den meisten Künstlern, die die Deutung ihrer Werke gerne mit dem Hinweis verweigern, das Geschaffene solle für sich sprechen, liefert Heiner Goebbels die Dramentheorie zu seinen Musiktheaterinszenierungen gleich mit.

Mehr noch: Die ästhetische Theorie entwickelt sich scheinbar organisch aus seinen Kompositionen und aus der Art, wie er glaubt, sie in Szene setzen zu müssen. Das ist ebenso originell wie überzeugend. Doch Heiner Goebbels ist eben nicht nur Komponist, neuer Intendant der Ruhrtriennale und Musiktheaterregisseur, sondern auch Professor für angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Seit 2009 ist er außerdem Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Düsseldorf, wo er kürzlich in einem Vortrag seine „Ästhetik der Abwesenheit“ erläuterte.

Mal ehrlich: Wer stört bei einem Konzert am meisten? Tut eigentlich nichts und verstellt nur den Blick auf die Musiker? Genau: der Dirigent. So sieht man denn auch in der Aufführung „Eislermaterial“ mit dem Ensemble Modern (die am 13. Oktober nochmals in der Philharmonie Köln zu erleben ist) die Musiker im Karree um einen leeren Raum herumsitzen, in dem auf den zweiten Blick eine winzige Tonfigur auf einem Podest den Stab in die Höhe reckt – die Karikatur eines Dirigenten. Für Goebbels ist der Dirigent nicht nur verzichtbar, sondern er maßt sich sogar eine Führungsposition an, die Publikum und Musiker in ein bestimmtes Rezeptionsverhalten hineinzwängt und so die freie künstlerische Erfahrung verhindert.

Ausgeweitet auf das Drama bzw. die Oper bedeutet dieser Ansatz einen Verzicht auf Sänger bzw. Schauspieler, eigentlich auf alle, die durch ihre Präsenz auf der Bühne den Fokus des Publikums auf ihre Figur richten. Was radikal anmutet, ist tatsächlich Ergebnis einer ästhetischen Entwicklung, die Goebbels mithilfe von Videoeinspielungen erklärt. In „Eraritjaritjaka“ (2004) geht der Schauspieler nach einem langen Monolog von der Bühne und fährt, von der Videokamera begleitet, mit dem Auto nach Hause. Dort liest er Briefe, macht die Wäsche und brät sich ein Spiegelei währenddessen er Texte von Canetti rezitiert. Die Zuschauer erleben das auf der Leinwand mit und gerade durch die Abwesenheit entstehe eine ungeheure Spannung: Kommt der Schauspieler noch einmal wieder? Sollen wir auf ihn warten oder auch nach Hause gehen und uns selbst vielleicht ein Ei braten? Haben wir Hunger oder möchten wir lieber Musik hören?

In „Stifters Dinge“ von 2007, die bei der Ruhrtriennale wieder zu sehen sein werden, vollendet sich die „Ästhetik der Abwesenheit“ in einer Art fremdartiger Anwesenheit von klingender Materie. Ein Versuch, so Goebbels, komplett auf Darsteller zu verzichten und nur die Dinge sprechen zu lassen, die sich auf der Bühne befinden: Wasser, Eis, vom Wind bewegte Vorhänge, Licht. Dazu hört der Zuschauer eingespielte Aufnahmen von menschlichen Stimmen in fremden Sprachen. Kann das gelingen, kann man so das Publikum fesseln und eine ästhetische Erfahrung jenseits der üblichen Sehgewohnheiten ermöglichen? Für Heiner Goebbels ist das Experiment gelungen, die Abwesenheit mündet nicht in der Leere, sondern dialektisch gesprochen in der Anwesenheit von etwas ganz anderem, bisher noch nicht in den Blick geratenem, dem Fremden. Etwas, das sich Freiheit der Kunst nennt? Oder wie eine Zuschauerin es ausdrückte: „Endlich steht niemand mehr auf der Bühne, der mir sagt, was ich denken soll.“

Ende Juli erscheint Heiner Goebbels „Ästhetik der Abwesenheit – Texte zum Theater“ als Buch im Verlag Theater der Zeit.

 




Europa, die Krise und der Kick

Es ist mal wieder so weit: Ein großes Fußballturnier greift ab heute (mindestens) in die Freizeit vieler Menschen ein – bis hin zum persönlichen Ausnahmezustand.

Leute, die eigentlich gar keinen Schimmer haben, schwingen sich plötzlich zu erprobten Experten auf und nerven mit ihren Kurzschluss-Ansichten. Bald wird wieder alles beflaggt sein, was sich nicht wehren kann. Auch werden wieder grausige Maskottchen (siehe Schlumpf- und Schlumpfinchen-Bild) auf den Markt geworfen. Am innigsten stöhnt es sich freilich über jene, die mit dem niederziehenden Neutralitäts-Spruch „Der Bessere möge gewinnen“ aufwarten. Diese Lauen wird ausspeien der Fußballgott.

Schlumpf und Schlumpfinchen, erhältlich bei einer großen Lebensmittelkette (Foto Bernd Berke)

Schlumpf und Schlumpfinchen, erhältlich bei einer großen Lebensmittelkette (Foto Bernd Berke)

Mag auch Europa politisch und ökonomisch ein wacklig gewordenes Projekt sein, so wird doch ab heute immerhin noch ermittelt, wer den erfolgreichsten Kick des Kontinents liefert – leider auch in einem Staatsgebilde von höchst zweifelhafter Statur, womit natürlich die Ukraine gemeint ist. Die Krisenländer Griechenland und Spanien sind jedenfalls mittenmang, die Spanier gelten gar als Mitfavoriten. Ich bin nicht so tollkühn, hier einen Tipp abzugeben. Es heißt, die Deutschen seien endlich mal wieder reif für einen Titel. Neuerdings kann man diese Annahme wieder füglich bezweifeln. Aber bitteschön…

Nur noch dies, aus Sicht des östlichen Reviers: Jogi Löws Entscheidung, im Kern mit dem „Bayern-Block“ anzutreten, kann einem Dortmunder nicht gefallen. Mit seiner Äußerung, bei der EM gehe es mit Verlaub nicht gegen Nürnberg oder Hoffenheim, verkennt Löw völlig, dass Borussia Dortmund just fünf Mal in Folge Bayern München bezwungen hat. Ja, ich springe weit über meinen Dortmunder Schatten und behaupte keck, dass nicht nur der Dortmunder Hummels, sondern auch der Schalker Höwedes in die erste Mannschaft gehört hätte.

Je nun, da gewichtet man eben seine Sympathien ein wenig anders und drückt (auch) den Polen die Daumen, die gleich mit drei BVB-Stammspielern antreten. Also gut, den Deutschpolen Podolski und Klose, den Deutschtürken Özil und Gündogan und ihren Mitstreitern wollen wir auch einiges, wenn nicht gar alles Gute wünschen.

Zur Lektüre – nicht nur in den Halbzeitpausen – empfehlen wir noch rasch zwei neue Bücher: Der Romancier und Dramatiker Moritz Rinke, seines zweiten Zeichens Stürmer des Schriftsteller-Nationalteams, versammelt ebenso liebevolle wie leichtfüßige Kolumnen zum Thema Nummer eins unter dem fast nietzscheanisch klingenden Titel „Also sprach Metzelder zu Mertesacker…“ (KiWi-Paperback, 201 Seiten, 7,99 Euro).

Weitaus ernster geht es in Thomas Kistners Sachbuch „FIFA Mafia. Die schmutzigen Geschäfte mit dem Weltfußball“ (Droemer Verlag, 426 Seiten, 19,99 Euro) zu. Wenn auch nur ein Teil der Vorwürfe stimmt, so ist es schlimm genug bestellt. Nur gut, dass hier der Weltfußballverband am Pranger steht und nicht etwa die europäische Vereinigung UEFA, die ab heute wieder Reibach macht, aber selbstverständlich nur mit lauteren Mitteln, nech?




Labyrinth aus Liebe und Lügen – William Boyds Roman „Eine große Zeit“

Wien ist nicht nur die Hauptstadt des galanten Selbstmordes und der morbiden Friedhofskultur. Die österreichische Metropole ist auch der Geburtsort der Psychoanalyse. Wenn Anfang des vorigen Jahrhunderts ein an traumatischen Kindheitserlebnissen und erotischen Unpässlichkeiten leidender junger Engländer dorthin flüchtet, wo Sigmund Freud gerade über Traumdeutung, Totem und Tabu nachdenkt und die auf seiner Couch liegenden Patienten auf ihrer Reise ins verdrängte Innerste ihrer Seele begleitet, so ist das eine einleuchtende Idee.

Für William Boyd, den 60jährigen britischen Autor, der seine Leser mit einem fein ausgetüftelten psychoanalytischen Spionagethriller begeistern will, liegt die Idee jedenfalls auf der Hand. Sein Held wider Willen, der englische Jungschauspieler Lysander Rief, hält sich im Jahr 1913, also am Vorabend des Ersten Weltkrieges und des katastrophalen Zivilisationsbruchs, in Wien auf. Eigentlich will er in der (gleich bei Freud um die Ecke liegenden) psychoanalytischen Praxis von Dr. Bensimon nur seinen Macken und Marotten auf den Grund gehen. Doch dann steigt er nicht nur in die Abgründe seiner Ängste hinab, er verfällt auch den unergründlichen Augen und den erotischen Reizen einer sexbesessenen Frau. Hettie Bull, so heißt die rätselhafte Schöne, blendet, betört und heilt den kopflos Verliebten, aber sie verwickelt ihn auch in eine brisante politische Affäre und stößt ihn in einen Strudel aus Lug und Betrug, Geheimnis- und Landesverrat.

William Boyd, der hierzulande mit „Ruhelos“ und „Einfache Gewitter“ zwei veritable Erfolge hatte, liebt das literarische Spiel mit Erzählweisen und Perspektiven. Dichtung und Wahrheit liegen bei ihm oft ununterscheidbar beieinander. In der fiktiven Künstlerbiografie über den Maler „Nat Tate“ hat er das Verwirrspiel so weit getrieben, dass viele Leser und Künstler beschwören wollten, den erfundenen Nat Tate und seine Bilder gekannt zu haben. In seinem neuen Roman „Eine große Zeit“ erfindet er nicht nur eine abenteuerliche Spionagestory, er führt den Leser auch in eine von Mythen und Märchen, Lügen und Legenden bis zur Unkenntlichkeit durchdeklinierten Epoche des wissenschaftlichen Fortschritts und politischen Irrsinns. Es geht, wie immer bei Boyd, um Unruhe und Rastlosigkeit, Identitätssuche und Selbstbetrug – und um den schmalen Grat, der aus einem brillanten ein gescheitertes Leben machen kann.

Lysander Rief ist neugierig und intelligent, aber auch naiv und leicht zu beeinflussen: ein gefundenes Fressen und gefügiges Opfer für sexuelle und politische Manipulation. Nicht nur Hettie Bull treibt ihr Spiel mit dem jungen Schönling, auch der britische Geheimdienst weiß, wie man sich die Schauspieltalente Lysanders zu Nutzen machen kann. Kaum ist der Krieg ausgebrochen, wird man den Mimen zum Agenten umformen und ihn an die Spionagefront schicken. Das allein wäre vielleicht ein spannender, doch noch kein großer Roman. Aber Boyd weiß um seine literarischen Stärken und entwickelt, parallel zum immer komplizierter werdenden Labyrinth aus Liebe und Verrat, ein schillerndes Spiel mit Erzählweisen. Neben dem allwissenden Erzähler gibt es auch den Ich-Erzähler Lysander Rief. Auf Anregung seines Psychoanalytikers führt er ein Tagebuch seiner geheimsten Wünsche. Diese Tagebuchpassagen sind voller poetischer und zweifelnder Gedanken, manchmal erweitern, manchmal konterkarieren sie die vom allwissenden Erzähler vorangetriebene Handlung. Ist das, was geschieht, vielleicht nur ein literarisches Spiel des Autors oder eine Einbildung des psychisch lädierten Ich-Erzählers? Um dem Geheimnis dieses sich zwiebelartig häutenden Erzählwerkes auf den Grund zu kommen, braucht der Leser Geduld. Aber die Lösung ist eigentlich ganz einfach. Sie liegt offen zutage. Man muss nur den Mut haben und in der Lage sein, sie zu sehen und wahrzunehmen.

William Boyd: „Eine große Zeit“. Roman. Aus dem Englischen von Patricia Klobusiczky. Berlin Verlag, 446 Seiten, 22,90 Euro.




Klagelied eines Zimmermädchens: So schlimm sind die betuchten Hotelgäste

Wo gibt es hierzulande noch zackig steile Hierarchien wie vor 60 oder 90 Jahren? Wo kann eine Arbeitswoche 70 bis 100 Stunden dauern – und das für ein äußerst bescheidenes Entgelt?

Im Hotelfach. Zumindest „ganz unten“, auf der Zimmermädchen-Ebene, muss sich das Berufsleben elend anfühlen. Ein privates Dasein gibt es auf dieser Stufe ohnehin nicht mehr.

Mit etwas Einfühlungsvermögen hat man sich das vielleicht schon vorstellen können. Doch die junge Frau mit dem Decknamen „Anna K.“ gibt – mit Hilfe zweier Ghostwriter – in ihrem Buch „Total bedient“ etwas genauere Einblicke ins Gewerbe.

Ein preiswerteres Hotel - mit netteren Gästen? (Foto: Bernd Berke)

Ein preiswerteres Hotel - mit netteren Gästen? (Foto: Bernd Berke)

Nach dem Abitur hat diese Anna K. einige Praktika in Berliner Hotels und auf einem Kreuzfahrtschiff absolviert; mit dem Ziel, in die mittleren bis höheren Ränge des Metiers aufzusteigen. Ein Traum, der in immer weitere Ferne zu rücken schien. Flüchten schien höchst ratsam zu sein, anerzogenes Standhalten geradewegs in dauererschöpfte Verzweiflung zu führen. Gegen Ende ihres Leidenswegs kommt Anna K. auf die Idee, zunächst einmal eine Hotelfachschule zu besuchen, um danach womöglich in eine andere Branche zu wechseln. Nun ja.

Weite Teile des Buches geraten zur Gäste-Beschimpfung, zwischendurch wird das unmögliche Verhalten arroganter, neurotischer bzw. sadistischer Hotelchefs skizziert. Noch die letzte Gruppenleiterin (euphemistisch „Hausdame“ genannt) staucht Zimmermädchen nach Belieben zusammen.

Doch die teilweise bestürzend reichen Gäste sind, wenn man diesem Buch glauben darf, mindestens ebenso übel. Wer im Hotel mit vier bis fünf Sternen eincheckt oder gar auf VIP-Rabatt logiert, der „vergisst“ demnach auch die letzten Reste passablen Benehmens. Grußlos vorbei rauschende Wichtigtuer (Zimmermädchen sind für sie nicht einmal Luft) gehören fast noch zur harmlosesten Spezies.

Angeblich verlässt kaum jemand das Zimmer, wie er es vorzufinden wünscht. Der betuchte Hotelgast ist nach dieser Lesart in aller Regel unfreundlich, anmaßend, streitsüchtig, querulantisch, gierig, schamlos und schmutzig. Gibt es Erotik-Kanäle oder eine Minibar, so bedient er sich freihändig und leugnet das hartnäckig, wenn es ans Bezahlen gehen soll. Um keinen lautstarken Ärger zu bekommen, erlassen sie an der Rezeption meist den Betrag. Wer beim Empfang so eingeschätzt wird, dass er weniger Krach schlägt, der bekommt eventuell ein schlechteres Zimmer. So zahlt sich Unverschämtheit auch noch aus.

Bitte sehr, man hat ja nur darauf gewartet: Bestellen allein reisende Herren abends den Zimmerservice, verstehen sie darunter nicht selten auch erotische Dienstleistungen, zuweilen liegen sie schon nackt auf dem Bett, wenn angeklopft wird. Und wer das weibliche Personal nicht anmacht, der bestellt sich die eine oder andere Hure aufs Zimmer.

Hier noch, abschweifend wie manche Passagen im Buch (die Protagonistin berichtet etwas geschwätzig von ihrer Partnersuche), ein kleiner Info-Service für Reisende: Zeigt die Naht des Lampenschirms zur Wand, so deutet das auf umsichtigen Hotelservice hin, zeigt sie hingegen ins Zimmer hinein, so kündet das von Schlamperei.

Übrigens gibt es heimliche Standardstrafen („Rache der Zimmermädchen“) für gar zu schlimme Hotelgäste. Dann meldet sich – keineswegs Zufall – das TV-Gerät gegen 4 Uhr morgens mit der Weckfunktion, oder die Toilettenschüssel wird bei erster Gelegenheit mutwillig mit der Zahnbürste des Gastes traktiert.

Die geradezu genüsslich in Und-das-war-ja-noch-gar-nichts-Manier ausgebreiteten Verfehlungen der Gäste sind auf Dauer wiederholungsträchtig. Auch der galgenhumorige Grundton (mit sparsam eingeträufeltem Moralin) hilft nicht über alle Holprigkeiten hinweg. Immerhin gestaltet sich die Lektüre leidlich unterhaltsam, dem eigentlich betrüblichen Thema zum Trotz. Den nächsten Hotelaufenthalt wird man jedenfalls geschärften Blickes antreten.

Anna K.: „Total bedient. Ein Zimmermädchen erzählt“ (aufgeschrieben von Isabel Canet und Matthias Stolz). Verlag Hoffmann und Campe. 221 Seiten. 16,99 Euro.