Es war ein Sommer ohne Festivals – aber Innsbruck trotzt dem Virus mit einer römischen Prachtoper

Die Menschen baumeln an den Schicksalsfäden. Szene aus „L’Empio punito“ bei den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik. Foto: Birgit Gufler

Ein öder Sommer verblasst über der Landschaft der Festivals. Von Schleswig-Holstein bis Macerata, vom Rheingau bis nach Griechenland – alles abgesagt. Leer lag das Nest in Bayreuths prangendem Saal, allzu früh schwand die Triennale an der Ruhr und still lag das Wildbader Tal im Schwarzwald, wo sonst Rossinis liebliche Melodiegirlanden in den Himmel der Musik flattern.

Seit den hungerschlotternden Nachkriegsjahren nach 1945 hat es keinen solchen tonlosen Sommer mehr gegeben. Die Folgen für die Künstler und die Veranstaltungsbranche sind fatal, von den Millionenverlusten für Reise- und Gastro-Gewerbe ganz zu schweigen.

Wie hoch der künstlerische Verlust ausfällt, lässt sich wohl nur schwer einschätzen. Sicher fehlt kaum etwas, wenn das „Traumpaar“ Netrebko – Eyvazov nicht ein weiteres Mal vor beseligten 400-Euro-Karten-Besitzenden altbekannte Opernschlager schmettert. Doch dass Salzburg sein 100jähriges Bestehen geschrumpft und glamourarm begehen musste, war ein herber Schlag, den das Festival mit Mut und Zähigkeit – und einem künstlerisch beachtlichen Ergebnis – abzufedern wusste.

Zu bewundern ist, wie sich im gebeutelten Italien Festivals dagegen gewehrt haben, einfach von der Landkarte zu verschwinden: Pesaro mit einem ehrgeizigen Rossini-Rumpfprogramm. Torre del Lago, wo der Dirigent Enrico Calesso eine hochgelobte „Madama Butterfly“ musikalisch erblühen ließ. Oder Verona, wo sich Intendantin Cecilia Gasdia und ihr Team nicht kleinkriegen lassen wollten und das steinerne Riesenrund wenigstens mit Puccinis hintersinniger Komödie „Gianni Schicchi“ mit Leben füllten. Doch was schmerzlich fehlt, sind die vielen sommerlichen Aktivitäten, die Kultur in die Fläche bringen, die sich originellen Programmen und Entdeckungen widmen wie das Festival „Raritäten der Klaviermusik“ in Husum, die jungen Künstlern die Chance eines Auftritts oder die Gunst gemeinsamen Arbeitens und Lernens gewähren.

Neustart an Ruhr und Inn

Der Mut eines verzweifelten „Dennoch“ nützt leider nichts gegen ein Virus, das unbeeindruckt an Körperzellen andockt, sein Erbgut einschleust und sein Zerstörungswerk weiterträgt. Aber dieses „Dennoch“ gibt es, abgesichert durch peinlich genau erarbeitete Hygienekonzepte, viel logistischen Aufwand und strikte Disziplin im Publikum. Das Ruhrgebiet spielte dabei eine international beachtete Vorreiterrolle, als das Klavier-Festival Ruhr bereits im Juni wieder mit Konzerten begann.

Aber auch Musiktheater sollte möglich sein und die Menschen wieder erreichen: Davon waren die Festwochen Alter Musik in Innsbruck überzeugt. „Euphorisch“ kündigte Intendant und Dirigent Alessandro de Marchi die 44. Festwochen an: Beide geplanten Opern konnten – wenn auch in adaptierter Form – aufgeführt werden, darunter nach einer neuen kritischen Ausgabe Ferdinando Paërs „Leonora“ von 1804 mit dem Libretto von Jean Nicolas Bouilly, das Beethoven ein Jahr später für seinen „Fidelio“ heranzog. Das Werk sollte neben den Opern von Johann Simon Mayr und Pierre Gaveaux auf den gleichen Stoff beim Beethoven-Fest in Bonn gezeigt werden – im vorläufigen Programm 2021 sind sie leider nicht mehr enthalten.

Das neue Innsbrucker Haus der Musik. Foto: Werner Häußner

Der zweite Opernabend, aus dem Innenhof der Theologischen Fakultät verlegt ins neue „Haus der Musik“, kleidete Alessandro Melanis „L’Empio punito“ („Der bestrafte Frevler“) in eine vollgültige szenische Aufführung mit zehn Darstellern auf der Bühne und einem Elf-Musiker-Orchester vor dem Podium. Die Oper, auf der Basis eines Autographs aus der Vatikanischen Bibliothek von Musikwissenschaftler Luca della Libera kritisch ediert, gilt als früheste musikalische Adaption des 1630 im Druck erschienenen Don-Juan-Dramas von Tirso de Molina.

Von Spanien nach Makedonien

Melanis Werk ist ein Dokument für die kulturellen Verflechtungen im Europa der Mitte des 17. Jahrhunderts. Der Komponist stammt aus einer musikalischen Sippe in Pistoia, zu der sein komponierender Bruder Jacopo und der Kastratensänger (und Spion) Atto Melani gehörten. Aus Pistoia stammt auch Papst Clemens IX., der Melani kurz nach seiner Wahl 1667 zum Kapellmeister der römischen Basilika S. Maria Maggiore berief. Auch als Opernkomponist glänzte Melani; Aufführungen seiner Werke sind aus Bologna, Siena, Florenz und Reggio Emilia dokumentiert. Zwei Jahre später eröffnete eine der einflussreichen römischen Familien, die Colonna, ihr neues Theater mit Melanis „L’Empio punito“. Das aufwändige Werk, in Innsbruck von mehr als vier auf zweidreiviertel Stunden gekürzt, bot ein rauschendes Fest: 67 Statisten und 16 Bühnenbilder sorgten für Pracht und Prunk.

Auch wenn die Nähe zu Tirso de Molinas Don Juan in vielen Details deutlich wird: Melani und sein Librettist Filippo Accaiuoli passten den Stoff geschickt an die Bedürfnisse ihres Publikums an. Bei der Verlegung des Schauplatzes aus Sevilla in ein sagenhaftes Makedonien war wohl weniger die Zensur bestimmend. Eher die Erwartung der für griechische Mythologie aufgeschlossenen „Arkadier“, die zudem spanischer Literatur schlechten Geschmack attestierten. Accaiuoli war später einer der ersten Mitglieder der „Accademia dell’Arcadia“ die auf Literatur und Dichtung in Europa einen erheblichen Einfluss ausüben sollte – nicht zuletzt durch den Patriarchen aller Librettisten, Metastasio, auch auf die Oper.

Arkadische Gelehrsamkeit und derbes Volkstheater

Fingierte Vergiftung: Atamira (Theodora Rafti) mit ihrem untreuen Ehemann Acrimante (Anna Hybiner). Foto: Birgit Gufler)

So wird also aus Don Juan ein „Acrimante“ und aus dessen Diener Catalinon (bei Mozart: Leporello) ein „Bibi“, eine herrlich pralle Komödienfigur. Der „Wüstling“ bei Melani verführt keine Frauen am laufenden Band, sondern verguckt sich nach einem Schiffbruch sofort in Ipomene, die Schwester des Königs Atrace von Makedonien, die dummerweise aber bereits mit seinem besten Freund Cloridoro verbandelt ist. Seiner Ehegattin Atamira dagegen gibt Acrimante einen brutalen Korb nach dem andern, aber dieser Schatten der späteren Mozart’schen Donna Elvira bleibt ihm verbunden bis hin zu einem fingierten Giftmord. Sie wird so zum spannendsten Charakter der Stücks, das auf der anderen Seite mit Bibi und der Amme Delfa ins derbe Volkstheater greift, dem auch obszöne Anspielungen nicht fremd sind – von wegen Zensur also.

Das Ende kennt den steinernen Gast und den Höllensturz Acrimantes, nicht aber Tirso de Molinas moralische Schlussfolgerung: Der spanische Dramatiker aus dem Orden der Mercedarier macht seinen Zuschauern unmissverständlich klar, dass sie wie der Spötter Don Juan „des Staubes Kleid“ tragen, ihre Lebensfrist unkalkulierbar und das Gericht Gottes jederzeit zu erwarten ist. Dort bleibt dann „keine Schuld unbezahlt“. In Melanis Oper fährt Acrimante in die Unterwelt, weil er seine Seele dem Gott der Toten, Pluto, versprochen hat, der ihm vorher in einer Traumszene den Orkus als einen Ort neuer Liebesfreuden vorgegaukelt hat – wer denkt nicht an Wagners Venus, wenn er die Göttin Proserpina rufen hört: „Zum Vergnügen, zu den Freuden“? Unser Proto-Don-Giovanni darf dann noch mit Charons Nachen die Wellen des Styx zum Hafen des Acheron kreuzen, bis er endlich in den Tartarus gelangt. Ein Finale, in dem die dramaturgische Folgerichtigkeit immer brüchiger wird.

Heitere Oberfläche ohne Kratzer

Anna Hybiner singt die Rolle des bestraften Frevlers Acrimante. Foto: Franziska Schrödinger

Daher ist es auch schwierig, aus Melanis „Empio punito“ einen roten Faden herauszulösen. Eher drängt sich der Eindruck auf, es gehe um eine geistvolle, gelehrte Unterhaltung, die gleichermaßen die Lust am schlüpfrigen Witz, das Interesse an antiker Mythologie und einen Hauch katholischer Bestrafungstheologie miteinander verbindet. Die Innsbrucker Inszenierung von Silvia Paoli hält diese inhaltlichen Elemente leichtfüßig in der Schwebe: Drei graue Wände genügen in Andrea Bellis Bühne, um die verspielten Kostüme von Valeria Donata Bettella wirken zu lassen: eine fröhliche Mixtur aus spanischen und barocken Schnitten, Trachten à la tyrolienne und Commedia dell’arte-Anklängen; Acrimante und Atamira in noblem Schwarz, das Personal schon mal in Lederhose.

Die vier Stallknechte, die frappierend ähnlich zu Lorenzo da Pontes Eröffnungsszene für Mozarts „Don Giovanni“ über die Plage des Arbeitens murren, sind beflügelte Amoretten in kurzen Höschen. Sie ziehen die Fäden des Geschicks, lassen die Figuren an roten Schnüren baumeln, werfen sich manchmal von den handelnden Personen unbemerkt ins Geschehen, steuern sie als Puppenspieler von oben. Was ist Schicksal, was Verhängnis, was eigene Entscheidung? Die Frage bleibt offen, wird im lebendigen Spiel auch nicht weiter thematisiert. Die heitere Oberfläche bekommt keine Kratzer. Nur die bezaubernden Lamenti, die Melani seinen Sängern schrieb, bringen den Hauch von Wehmut mit, der die Marionetten zu Menschen wandelt.

In solchen Momenten, etwa der bewegenden Arie der Atamira „Piangete occhi“, zeigt Melani, dass er den Kontakt zur „alten“ Musik eines Claudio Monteverdi nicht verloren hat und sich mit seinen berühmten Zeitgenossen wie dem Innsbrucker Hofkapellmeister Antonio Cesti oder dem jüngeren Alessandro Scarlatti messen kann. Im turbulenten Spiel korrespondiert seine Musik mit der raschen Folge der Szenen, passt sich in Kurzarien, freien Ariosi und treffsicheren Rezitativen dem dramatischen Fluss an. Sein vielgestaltiger, pointierter Umgang mit dem Rhythmus hebt ihn aus seinen Zeitgenossen heraus.

Spielfreude bei den jungen Sängern

Die jungen Sänger, allesamt Teilnehmer des Innsbrucker Cesti-Gesangswettbewerbs, erfüllen mit ihrer modisch harten, gelegentlich zu flachem Ansatz neigenden Tonbildung Melanis vokale Anforderungen in Rhythmus und Phrasierung recht geschickt. In der flexiblen Färbung des Klangs kommen sie an Grenzen – so etwa Theodora Raftis in den Arien der Atamira, aber auch Dioklea Hoxha als Ipomene. Die Titelfigur Acrimante wirkt weder gierig noch zynisch (wie später Molières Don Juan), sondern bleibt ein lüsterner Galan, wie ihn manch andere Opern dieser Zeit kennt. In der Uraufführung von einem Kastraten gesungen, wird er in Innsbruck dem Mezzo Anna Hybiner anvertraut. Die Sängerin, derzeit am Nationaltheater Mannheim in der Uraufführung von Hans Thomallas „Dark Spring“ zu erleben, setzt das Unbekümmerte ins stimmliche Licht, aber auch die bittere Erkenntnis, im Vergnügen wie im Leiden stets allein gewesen zu sein.

Der Berater des Königs, Tidemo (Juho Punkeri, links) wird ermordet und kommt als steinerne Statue wieder. Andrew Munn ist der König Atrace, der am Ende die von ihrem untreuen Gatten befreite Atamira heiratet. Foto; Birgit Gufler

Allein schon wegen ihrer unbändig spielfreudigen Partien werden Lorenzo Barbieri als Bibi mit allzu losem Mundwerk und der Tenor Joel Williams als mit allen Wassern gewaschene Amme Delfa in Erinnerung bleiben. Nataliia Kukhar zeigt mit ihrem in der Emission nicht ganz kontrolliertem Mezzo bewegende Gestaltungskunst in der Klage des Cloridoro „Uccidetemi, sospiri“. Der Bass Andrew Munn verfügt nicht über den Kern in der Stimme, um die königliche Autorität seiner Partie des Atrace zu vermitteln.

Als Dirigentin des Barockorchester:Jung fördert Mariangiola Martello einen geschmeidig weichen, manchmal allzu kantenlosen Klang, hebt aber den variationsreichen Rhythmus Melanis hervor und verzahnt vor allem die breiten melodischen Arienteile sensibel mit den Sängern. Dass die Wut der Sturmmusik ebenso wie die komisch überzogenen Tremoli zu Bibis Höllenangst wirkungsvoll platziert sind, dafür sorgen Florian Brandstetter und Tabea Seibert mit den Blockflöten sowie Bálint Kovács mit dem Fagott. Melani hat über dem Basso continuo zwei Melodiestimmen ausgeschrieben, die gewagt gesetzte Harmonien zulassen, und notiert Hinweise auf eine Instrumentierung. Die Harfen im Continuo hatte man sich in Innsbruck gespart; alles andere aber klang sehr stilsicher und ausgefeilt – auch wenn sich Melanis Musik dramatischer, flammender denken lässt. Eine Bühnenproduktion in Deutschland wäre nach der Erstaufführung 2003 beim Bachfest Leipzig mal wieder fällig; vielleicht gibt Innsbruck einen Anstoß dazu.




In diesen Zeiten muss man sich Gehör verschaffen: Gesammelte Aussagen zu „Corona und Kultur in Dortmund“

Dortmunds Kulturdezernent Jörg Stüdemann bei der heutigen Pressekonferenz. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Auch wenn die Aussagen noch nicht allzu konkret sein konnten: Es war schon einmal gut, dass diese Pressekonferenz überhaupt stattgefunden hat. Denn „die Kultur“ muss sich gerade in diesen Zeiten Gehör verschaffen. Unter dem Titel „Corona und die Kultur in Dortmund“ gab es heute im Rathaus der Stadt vor allem Statements auf der Chefebene der großen Kultureinrichtungen, aber auch aus der freien Szene. Ich habe den Termin via Live-Stream verfolgt.

Stadtdirektor und Kulturdezernent Jörg Stüdemann skizzierte eingangs die Lage und erkannte – bei allen Problemen – auch eine „positive Novität“: Im Gegensatz zu mancher früheren Debatte, in der Kultur als „erste Spardose“ gegolten habe, seien die kulturellen Einrichtungen diesmal von Anfang an in Überlegungen und Beratungen mit einbezogen worden.

Insgesamt aber müsse man von „gravierenden Erschütterungen“ sprechen, „wie wir sie bisher nicht kannten“. Das Thema habe etliche Perspektiven und Aspekte. Es gehe um die Situation der Institute, um die der ausübenden Künstlerinnen und Künstler und nicht zuletzt um das Publikum. Bleibe es durch die Krise hindurch loyal und stehe es treu zum Theater, zum Konzerthaus, zu den Museen und anderen Kulturstätten? Bislang, so Stüdemann, habe das Publikum eine erstaunliche Solidarität bewiesen, für die er herzlich danken wolle. Beispiel: Viele vorab bezahlte Tickets für abgesagte Vorstellungen würden nicht zurückgegeben.

Stüdemann mahnte dreierlei dringenden Bedarf an:

1.) Die inzwischen ausgelaufenen, weil hoch „überzeichneten“ Soforthilfe-Programme für Kulturschaffende müssten sehr bald verlängert werden. Als Beispiel nannte er Baden-Württemberg, wo es neuerdings eine Grundsicherung für Künstler(innen) von rund 1100 Euro im Monat gebe, die von anderen Bundesländern gut kopiert werden könne. Ein Appell ans Land NRW also.

2.) Die Einrichtungen der freien Szene bräuchten Infrastruktur-Programme, damit sie auch nach der Krise noch existieren könnten.

3.) Man müsse sehr zeitig „Exit-Strategien“ vorbereiten und einleiten, denn Betriebe wie Theater oder Konzerthaus könnten nicht einfach von heute auf morgen wieder die Bühnen bespielen, sondern bestenfalls nach einem Vorlauf von 6 bis 10 Wochen. In die entsprechenden Planungen sollten unbedingt die Fachleute aus den Kulturhäusern eingebunden werden.

Stefan Mühlhofer, Leiter der Kulturbetriebe Dortmund. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Stefan Mühlhofer, Direktor der Dortmunder Kulturbetriebe, sieht es als sicher an, dass man bei Wiederaufnahme des Spielbetriebs und anderer kultureller Angebote nicht einfach „den Schalter umlegen kann“. Es werde zunächst vieles anders sein als vor Corona. Man habe inzwischen einige Aktivitäten (Volkshochschule, Musikschule) auf digitale Verbreitung umgestellt, was auch recht gut funktioniere. Dennoch könne dies auf Dauer kein Ersatz für Präsenz-Veranstaltungen sein. Ein Originalbild im Museum sei eben etwas ganz anderes als eine Abbildung im Buch oder ein Video. Apropos: Wahrscheinlich bis Mitte dieser Woche solle ein Papier zur möglichen Öffnung der städtischen Museen vorliegen – mit einer Perspektive für Anfang oder Mitte Mai. Auch hier gilt freilich: Die Stadt allein kann nichts bewirken. Das Land NRW muss es zulassen. Übrigens: In Berlin dürfen die Museen schon wieder öffnen.

Hendrikje Spengler, Leiterin des Kulturbüros Dortmund. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Hendrikje Spengler, Leiterin des Kulturbüros Dortmund, berichtete, man habe sich in den letzten Wochen durch einen wahren Wust an Informationen, Erlässen und Verordnungen kämpfen müssen. Es sei aber gelungen, das alles zu strukturieren – vor allem im Sinne der Kulturschaffenden, denen häufig alle Verdienstmöglichkeiten weggebrochen seien. In der Kulturszene herrsche derweil keine Larmoyanz, im Gegenteil: Geradezu kraftvoll seien ständig neue Ideen entwickelt worden, um trotz Corona (digital) wahrgenommen zu werden.

Claudia Schenk, Sprecherin der freien Szene. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Claudia Schenk aus dem Leitungsgremium des „Depots“ trat als Sprecherin der freien Kulturszene an. Diverse Zentren der freien Szene wären ohne die bislang geleistete Landeshilfe vielleicht schon für immer geschlossen worden, befand sie. Streaming sei zwar gut, um im Gespräch zu bleiben, es generiere aber keine Einnahmen. Sie verwies auch auf Fälle wie etwa jene freiberuflichen Bühnentechniker, die auf einmal vor dem Nichts stünden. Man warte auf konkrete Handlungsanweisungen für einen Exit, also für die Wiederaufnahme des Betriebs unter veränderten Bedingungen. Frau Schenk stellte zudem mit Blick auf die nächsten Jahre die bange Frage, ob es im Kulturbereich wohl Streichungen und Kürzungen geben werde. Schließlich zähle Kultur leider immer noch zu den freiwilligen Leistungen der Kommunen und nicht zu den Pflichtaufgaben.

Sprach fürs Theater: Tobias Ehinger. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Tobias Ehinger, geschäftsführender Direktor des Theaters, erinnerte sich an die letzten Monate vor der Krise, als das Dortmunder Theater ein Hoch erlebt und neue Besucherrekorde angepeilt habe. Dann wurde man jäh ausgebremst. Sehr schnell habe man dann umgedacht, beispielweise habe die Theaterwerkstatt Mundschutzmasken hergestellt. In der Krise habe sich überhaupt gezeigt, wie wichtig der soziale Aspekt und die Verankerung in der Gesellschaft fürs Theater seien. Streaming könne kein wirkliches Bühnenerlebnis ersetzen, auch seien die digitalen Möglichkeiten schnell ausgereizt. Als eine beispielhafte Aktion nannte Ehinger den Musik-Truck, der vor Altenheimen vorfahre und – draußen vor den Türen – z. B. mit Gesangs-Darbietungen den Senioren ein wenig zwischenmenschliche Wärme vermittle. Ehinger ist überzeugt, dass man ab Anfang September wieder spielen werde – allerdings völlig anders, mit eigens zugeschnittenen Inszenierungen und vor deutlich weniger Zuschauern. Im Hinblick auf den 1. September sei ein Planungsvorlauf von etwa 10 Wochen nötig. Das würde bedeuten: Bereits Mitte Juni müsste man in die Vorbereitungen einsteigen. Insgesamt gelte es, die gesellschaftlichen Errungenschaften durch die Krise zu erhalten. Dabei sei Kultur unbedingt „systemrelevant“.

Konzerthaus-Chef Raphael von Hoensbroech. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Raphael von Hoensbroech, Intendant des Konzerthauses Dortmund, betonte den Gedanken der Systemrelevanz noch stärker. Kultur solle nicht nur am Tisch Platz nehmen, an dem die Relevanz verhandelt werde. Vielmehr sei sie – einem Ausspruch des Cellisten Yo-Yo Ma zufolge – sozusagen selbst dieser Tisch, also die Grundlage der Gesellschaft. Das Konzerthaus mit seinem sehr großen Saal sowie ausgeklügelter Be- und Entlüftung sei bei reduziertem Publikum kein riskanter Ort. Er halte ansonsten nicht viel von pauschalen Obergrenzen, es komme stets aufs Einzelereignis an. Voluminöse Auftritte mit großen Chören und Orchestern seien jedoch vorerst auszuschließen. Die Stadt Dortmund habe sich zu den Perspektiven des Konzerthauses beherzt und klar positioniert. Was jedoch aus Regierungskreisen in Berlin und vom Städtetag komme, sei wenig hilfreich.

Jörg Stüdemann blieb das vorläufige Fazit vorbehalten. Als studierter Germanist quasi von Haus aus kulturaffin und biographisch auch als Mitarbeiter eines Kulturzentrums (schon länger ist’s her: Zeche Carl in Essen) mit der Szene vertraut, kann die Interessenlage von Kulturschaffenden wohl recht gut nachempfinden und in vernünftige politische Bahnen lenken. Allerdings vermag er – obwohl zugleich Stadtkämmerer – natürlich nicht beliebig viele Kulturmittel aus dem städtischen Etat zur Verfügung zu stellen. Für die nächste Zeit mahnte Stüdemann ethische und „wertsetzende Handlungsweisen“ in der Kulturpolitik an, die sich einer bloßen Einspar-Mentalität widersetzen und keinesfalls „autoritativ oder autoritär“ vorgehen solle. Wie sich gezeigt habe, müssten nun vor allem zwei Anforderungen vorrangig erfüllt werden: „Wir müssen mehr in die Digitalisierung investieren, auch in Qualifizierung und technische Ausrüstung.“ Und: In jeder Hinsicht müsse jetzt über „Gestaltungs-Alternativen“ nachgedacht werden. Wohlan denn!

Viel guter Wille also, aber noch unklare Perspektiven. Die Kultur, so ahnt man, wird (ebenso wie andere Bereiche) „nach Corona“ nicht mehr dieselbe sein können wie zuvor.




Kultur geht notgedrungen weiter ins Netz: Viele Programme online / Ständige Updates: Weitere Projekte (und Absagen)

Das waren noch andere Zeiten: Blick in den Zuschauerraum des Dortmunder Opernhauses – vor Beginn einer Vorstellung. (Foto: Bernd Berke)

Hier mal wieder ein paar Nachrichten aus dem derzeit stark eingeschränkten (Dortmunder) Kulturleben, kompakt zusammengestellt auf Basis von Pressemitteilungen der jeweiligen Einrichtungen.

Die Mitteilungen werden – im unteren Teil dieses Beitrags – von Tag zu Tag gelegentlich ergänzt und/oder aktualisiert, auch gibt es dort Neuigkeiten aus anderen Revierstädten, vor allem über weitere Absagen, aber auch zu Online-Aktivitäten.

Theater Dortmund: Keine Vorstellungen bis 28. Juni

Das Theater Dortmund bietet auf seinen sämtliche Bühnen (Oper, Schauspiel, Kinder- und Jugendtheater) bis einschließlich 28. Juni 2020 keine Vorstellungen an. Wie es danach weitergehen wird, weiß noch niemand.

Die Regelung schließt die Konzerte der Dortmunder Philharmoniker im Konzerthaus Dortmund ein. Der Betrieb im Theater läuft jedoch bis zur Sommerpause weiter. Neue mobile Vorstellungsformate sollen ab Mai 2020 bis zum Ende der Spielzeit 2019/20 aufgenommen werden.

Dazu Tobias Ehinger, der Geschäftsführende Direktor des Theater Dortmund: „So sehr wir diesen Schritt bedauern, steht die Gesundheit unseres Publikums sowie unserer Kolleginnen und Kollegen im Mittelpunkt. Jedoch dürfen wir auch in der jetzigen Zeit, unser Leben nicht nur auf Funktionalität begrenzen. Gerade in Krisenzeiten zeigt sich die hohe Bedeutung von Kultur. Kultur ist nicht hübsches Beiwerk oder Luxus, sondern elementar für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Wir fordern die Entscheidungsträger in Bund und Land auf, Maßnahmen und Konzepte zur schrittweisen Öffnung unserer Theater und Konzertsäle zu beschließen und die Gesellschaft nicht durch ein zu kurz gegriffenes Verständnis der Systemrelevanz zu trennen.“

___________________________________________________

Unterdessen werden Spielpläne für die nächste Saison online per Video-Präsentation angekündigt:

Philharmoniker, Oper und Ballet

So wird sich – wie die Theater-Pressestelle mitteilt – in der Spielzeit 2020/21 bei den Konzerten der Dortmunder Philharmoniker alles um das Verhältnis zwischen Mann und Frau drehen.

Das Motto der Spielzeit lautet „Im Rausch der Gefühle“. Ergänzend heißt es, die berühmtesten Paare der Weltliteratur, wie Romeo und Julia, Othello und Desdemona, Orpheus und Eurydike sowie Tristan und Isolde, hätten die Komponisten zu großartigen Orchesterwerken inspiriert.

Da die weitere Entwicklung der Corona-Krise noch nicht prognostizierbar sei, könne es ggf. noch zu „Anpassungen“ kommen.

Textversion des Spielplans unter: www.tdo.li/tdo2021

Generalmusikdirektor Gabriel Feltz erläutert den Spielplan 2020/21, hier ist der Link, der auch zur Präsentation des Opern-Spielplans (durch Opernchef Heribert Germeshausen) und des Balletts (durch Ballettchef Xin Peng Wang) führt: https://www.theaterdo.de/medien/videos/spielzeit-2021/

Kinder- und Jugendtheater

Das Kinder- und Jugendtheater (KJT) Dortmund startet mit neun Neuproduktionen und neun Wiederaufnahmen in die neue Spielzeit 2020/21. Als Motto hat sich KJT-Direktor Andreas Gruhn mit seinem Team den „Freien Fall“ gesetzt. In einer Welt, in der politische Systeme ins Wanken geraten und die Natur zunehmend aus dem Gleichgewicht gerät, scheint sich die Abwärtsspirale immer schneller zu drehen. Aus dem Unglück des Fallens können aber auch ungeahnte Möglichkeiten wachsen.

Auch beim KJT heißt es: „Da die weitere Entwicklung der Corona-Krise noch nicht prognostizierbar ist, kann es ggf. zu Anpassungen kommen.“

Printversion des Spielplans unter www.tdo.li/tdo2021
Video mit Andreas Gruhn unter www.theaterdo.de/publikationen/videos

_________________________________________

Auch das Konzerthaus Dortmund präsentiert das Programm der nächsten Saison auf digitalem Weg:

In einem Video erläutert Intendant Raphael von Hoensbroech, welche hörenswerten Künstler und Konzerte ab September in der Spielzeit 2020/21 zu erwarten sind. Hoensbroech lädt daher zu einem virtuellen kleinen Ausflug ins Konzerthaus.

______________________________________________

Dortmunds neues Literaturstipendium um drei Monate verschoben:

Dortmunds erste „Stadtbeschreiberin“, Judith Kuckart, wird aufgrund der Corona-Krise erst ab August 2020 für sechs Monate nach Dortmund kommen. Ursprünglich hatte sie ihr Stipendium im Mai antreten wollen. Ihre für den 15. Mai geplante Auftaktlesung im Literaturhaus soll trotzdem stattfinden – allerdings ohne Live-Publikum: Das Literaturhaus am Neuen Graben zeigt die Lesung aus dem aktuellen Roman „Kein Sturm, nur Wetter“ online am 15. Mai 2020 ab 19.30 Uhr (weitere Infos unter www.literaturhaus-dortmund.de).

Neues Konzertformat „Musik auf Rädern“

Am Dienstag, 5. Mai 2020, startet das Theater Dortmund das der Corona-Pandemie angepasste Konzertformat „Musik auf Rädern“. An verschiedenen Standorten in Dortmund werden die Oper Dortmund und die Dortmunder Philharmoniker jeweils um 16 Uhr kleine Live-Konzerte von ca. 20 Minuten Dauer geben. Die Abstandsregelungen werden dabei eingehalten. Mit dem Programm kommt das Theater Dortmund vor allem zu den Menschen, die aufgrund ihrer Identifizierung als „Risikogruppe“ besonders in ihrem Bewegungsfreiraum eingeschränkt sind. Der erste Auftritt findet mit der Sopranistin Irina Simmes vor dem Seniorenwohnsitz „Kreuzviertel“ 44139 Dortmund-Kreuzviertel, Kreuzstraße 68 / Ecke Lindemannstraße statt.

_________________________________________

Eröffnungsfest im Naturmuseum fällt aus

Die für den 7. Juni geplante große Wiedereröffnung des Naturmuseums nach Jahren des Umbaus fällt aus. Die neue Dauerausstellung soll voraussichtlich im September eröffnen.

„Robin Hood“-Schau bis 20. September

Das derzeit noch geschlossene Museum für Kunst und Kulturgeschichte an der Hansastraße verlängert seine ursprünglich bis Mitte April geplante Familienausstellung „Robin Hood“ bis zum 20. September.

„Studio 54″ vorerst nicht in Dortmund

Das „Dortmunder U“ kann die ab 14. August geplante Ausstellung „Studio 54″ (Übernahme aus dem Brooklyn Museum) über den legendären New Yorker Nachtclub in diesem Jahr nicht mehr zeigen.

Diesmal kein Micro!Festival

Das Micro!Festival, das sonst immer am letzten Wochenende der Sommerferien stattfand, fällt in diesem Jahr komplett aus.

_________________________________________

Blicke in die anderen Städte des Ruhrgebiets:

2020 keine Ruhrtriennale

Die Ruhrtriennale wird 2020 nicht stattfinden. Der Aufsichtsrat der Kultur Ruhr GmbH hat diesen Beschluss einstimmig gefasst. Das Festival hätte vom 14. August bis zum 20. September stattfinden sollen. Rund 700 Künstlerinnen und Künstler aus 40 Ländern wären an den 33 Produktionen und Projekten beteiligt gewesen. Sowohl die Intendantin Stefanie Carp als auch Ko-Intendant Christoph Marthaler haben Unverständnis über diese Entscheidung geäußert.

ExtraSchicht fällt ebenfalls aus

Auch die ExtraSchicht muss wegen Corona ausfallen. Die Nacht der Industriekultur hätte am 27. Juni zum 20. Mal die Metropole Ruhr bespielen sollen.
Die Ruhr Tourismus GmbH (RTG) hatte bis zum letzten Moment an Alternativkonzepten gearbeitet. Die Durchführung einer Veranstaltung Ende Juni mit über 250.000 Besuchern sei aber derzeit nicht verantwortbar, so die RTG. Eine Verschiebung auf einen späteren Zeitpunkt in diesem Jahr sei wegen des großen organisatorischen Aufwandes nicht möglich. Das Geld für bereits erworbene Tickets wird zurückerstattet. Mehr Infos unter www.extraschicht.de.

„Mord am Hellweg“ auf Herbst 2021 verschoben

Die zehnte Ausgabe des Krimi-Festivals „Mord am Hellweg“ (Zentrale in Unna) wird um ein Jahr verschoben. Die für diesen Herbst geplante Jubiläumsausgabe wird auf die Zeit vom 18. September bis 13. November 2021 verlegt. Weitere Infos unter www.mordamhellweg.de

Moers Festival diesmal rein digital

Auch das renommierte Moers Festival (29. Mai bis 1. Juni) geht diesmal als digitales Festival über die Bühne. Die Konzerte werden als Livestream auf der Website, bei Facebook und bei Arte concert gezeigt. WDR 3 wird wie gewohnt übertragen.
Infos: www.moers-festival.de

Wittener Tage für Neue Kammermusik nur im Radio

Die Wittener Tage für Neue Kammermusik (24. bis 26. April 2020) haben sich ebenfalls umgestellt: In diesem Jahr kamen die Konzerte ausschließlich übers Radio. WDR 3 richtete das Festival als exklusives Hörfunk-Ereignis aus.
Infos unter www.wdr3.de und www.kulturforum-witten.de

Klangkunst in Marl als virtuelle Führung

Das Skulpturenmuseum Glaskasten Marl zeigt seine Klangkunst-Ausstellung diesmal per Video: „sound + space“ von Johannes S. Sistermanns und Pierre-Laurent Cassère ist online zu sehen. Im Mittelpunkt der virtuellen Führung steht ein Gespräch des Museumsdirektors Georg Elben mit dem Klangkünstler Sistermanns. Das Video ist auf der städtischen Internetseite unter www.marl.de und demnächst mit weiteren Informationen auch unter www.skulpturenmuseum-glaskasten-marl.de zu sehen.

Impulse Theater-Festival fällt aus

Das Theater-Festival „Impulse“, das vom 4. bis 14. Juni hätte stattfinden sollen, ist abgesagt worden – besonders schmerzlich, weil zum 30-jährigen Bestehen des Festivals einige besondere Programme geplant waren. Bestimmte Teile sollen als digitale Formate im ursprünglich geplanten Festival-Zeitraum online gezeigt werden. Details dazu demnächst unter: www.impulsefestival.de

Theater Oberhausen: „Die Pest“ als Miniserie im Netz

Das Oberhausener Theater zeigt eine Bühnenbearbeitung nach Albert Camus‘ Roman „Die Pest“ als Miniserie in fünf Episoden. Gezeigt wird die Serie im Internet ab Samstag, 2. Mai, dann weiter wöchentlich, jeweils ab 19.30 Uhr. Weitere Infos: www.die-pest.de

3Sat zeigt Bochumer „Hamlet“ – jetzt via Mediathek

Im Rahmen seiner Reihe „Starke Stücke“ zeigt der TV-Sender 3Sat am Samstag, 2. Mai., um 20.15 Uhr eine Aufzeichnung von Johan Simons‘ Bochumer „Hamlet“-Inszenierung. Bis zum 30. Juli 2020 bleibt die Inszenierung in der Mediathek von 3Sat greifbar.

Auch hierhin würden Theaterfans im Revier gern wieder pilgern: Schauspielhaus Bochum. (Foto: Bernd Berke)




Corona-Update: Alles dicht! – Dortmunder Kultur-Absagen und tägliche Ergänzungen aus dem Revier

Ein Blick in den Zuschauerraum des Dortmunder Konzerthauses, das 1500 Plätze hat und  selbstverständlich auch von Absagen betroffen ist. (Foto: Bernd Berke)

Hier am Anfang zunächst der Stand vom 11. März, ständige Aktualisierungen weiter hinten:

Ausnahmsweise werden hier zwei ausführliche Pressemitteilungen aus den Dortmunder Kulturbetrieben wörtlich und unkommentiert wiedergegeben – weil es hier vor allem auf die sachlichen Details ankommt und nicht auf diese oder jene Meinungen.

Im Anhang folgen weitere Informationen, auch aus anderen Revier-Städten. 

Zuerst eine ausführliche Übersicht zu städtischen Kulturveranstaltungen, die in den nächsten Wochen ausfallen werden, übermittelt von Stadt-Pressesprecherin Katrin Pinetzki.

Danach eine gleichfalls längere Aufstellung aus dem Dortmunder Mehrsparten-Theater, auch das Konzerthaus betreffend, übermittelt von Theater-Pressesprecher Alexander Kalouti.

Wir zitieren:

„Öffentliche Kulturveranstaltungen fallen bis Mitte April aus – Museen, Bibliotheken und U bleiben geöffnet – Unterrichtsbetrieb in VHS- und Musikschule läuft weiter

Die Kulturbetriebe der Stadt Dortmund, das Theater Dortmund und das Konzerthaus Dortmund sagen alle ihre öffentlichen Veranstaltungen bis Mitte April ab. Die Regelung gilt ab morgen (12. März) und ist unabhängig von der Zahl der erwarteten Besucherinnen und Besucher. Damit hofft die Stadt, Infektionsketten zu unterbrechen und die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen.

Es fallen aus:

  • Vorstellungen und Veranstaltungen im Konzerthaus Dortmund,
  • Vorstellungen und Veranstaltungen im Theater Dortmund: Oper, Ballett, Schauspiel, Kinder- und Jugendtheater, Konzerte, Akademie für Theater und Digitalität,
  • Veranstaltungen, Ausstellungseröffnungen und Führungen in den Städtischen Museen: Museum Ostwall im Dortmunder U, Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Westfälisches Schulmuseum, Kindermuseum Adlerturm, Hoesch-Museum, Brauerei-Museum, schauraum: comic + cartoon,
  • städtische Veranstaltungen im Dortmunder U (z.B. auf der UZWEI, in der Bibliothek „Weitwinkel“, Veranstaltungen in der Reihe „Kleiner Freitag“),
  • Veranstaltungen und Festivals im Dietrich-Keuning-Haus (der Kinder- und Jugendbereich hat geöffnet!),
  • Lesungen und andere Veranstaltungen in den Bibliotheken und im Studio B,
  • Konzerte und Veranstaltungen der Musikschule (der Unterricht findet statt!),
  • Vorträge und andere Veranstaltungen der VHS (die Kurse und Workshops finden statt!),
  • Vorträge, Lesungen und andere Veranstaltungen in Stadtarchiv und in der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache,
  • Konzerte und andere Veranstaltungen im Institut für Vokalmusik,
  • Spaziergänge und Fahrradtouren zur Kunst im öffentlichen Raum,
  • Veranstaltungen des Kulturbüros (Ausstellungseröffnungen im Torhaus Rombergpark, Gitarrenkonzerte in der Rotunde).

(…)

Der Kartenverkauf für Konzerte und Aufführungen in Theater und Konzerthaus für Vorstellungen nach Ostern läuft weiter.

Alle Theater- und Konzerthauskunden, die von den Vorstellungsausfällen betroffen sind, werden kontaktiert. Wenn möglich, werden ausfallende Vorstellungen nachgeholt. Die Kunden werden über mögliche neue Termine sowie die Rückgabe von Tickets benachrichtigt.“

Weitere Informationen gibt es auf den Webseiten von Konzerthaus und Theater und auf www.dortmund.de

___________________________________________________________

Blick aufs Dortmunder Schauspielhaus. (Foto: Bernd Berke)

Wichtige Informationen zu den Vorstellungen des Theaters Dortmund und des Konzerthauses Dortmund:

„Alle Vorstellungen bis einschließlich 15. April 2020 finden nicht statt.

Aufgrund des Erlasses der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen finden im Konzerthaus Dortmund und im Theater Dortmund bis einschließlich 15. April 2020 keine öffentlichen Veranstaltungen statt. Konzerthaus-Intendant Dr. Raphael von Hoensbroech und der Geschäftsführende Direktor des Theater Dortmund Tobias Ehinger unterstützen diese Vorgabe und bedauern zugleich, dass so viele erstklassige Konzerte und Vorstellungen abgesagt werden müssen.

Alle Kunden, die von den Vorstellungsausfällen betroffen sind, werden informiert. In den kommenden 14 Tagen arbeiten wir intensiv daran, für die ausgefallenen Vorstellungen Ersatztermine zu finden. Die Ticketingstellen beider Häuser haben weiterhin geöffnet und der Kartenverkauf für Veranstaltungen nach Ostern läuft weiter. Das Restaurant Stravinski und die Klavier & Flügel Galerie Maiwald am Konzerthaus Dortmund bleiben ebenfalls bis auf weiteres geöffnet.

Das Konzerthaus Dortmund bietet für seine Eigenveranstaltungen folgende Regelungen: Für Ersatztermine behalten Tickets ihre Gültigkeit. Sollten Kunden an dem neuen Termin verhindert sein, wenden sie sich bitte telefonisch an das Konzerthaus-Ticketing unter T 0231 – 22 696 200. Sollte kein Ersatztermin gefunden werden, sendet das Konzerthaus an die Kunden einen Gutschein über die Höhe des gezahlten Kartenpreises, der für alle kommenden Veranstaltungen im Konzerthaus Dortmund einlösbar ist. Bei weiteren Fragen zur Rückerstattung steht das Ticketing ebenfalls gerne zur Verfügung. Für Partnerveranstaltungen können abweichende Regelungen gelten.

Das Theater Dortmund bietet folgende Regelungen: Bei Nichtwahrnehmung des Ersatztermins können die Karten vor dem jeweiligen Ersatztermin umgetauscht werden. Darüber hinaus bietet das Theater Dortmund folgende Kulanzregelungen für die Kartenrücknahme an: Kunden können die für diesen Zeitraum im Vorverkauf bereits erworbenen Karten bis Ende der Spielzeit 2019/20 im Kundencenter unter Vorlage der Originalkarten in spätere Alternativvorstellungen eintauschen oder in Wertgutscheine umwandeln. Bei Abonnentinnen und Abonnenten können die Karten in Abo-Gutscheine innerhalb der jeweiligen Sparte umgewandelt werden, die aus Kulanz auch für die nächste Spielzeit einlösbar sind. Karten, die bei externen Vorverkaufsstellen erworben wurden, können nur an diesen zurückgegeben werden. Für Rückfragen steht das Ticketing des Theater Dortmund unter der Telefonnummer 0231 – 50 27 222 gerne zur Verfügung.

Wir stehen weiterhin in engem Kontakt mit den zuständigen Behörden und informieren auf unseren Websites über alle weiteren aktuellen Entwicklungen, die den Spielbetrieb unserer Häuser betreffen.“

_________________________________________

Ausgewählte Ergänzungen (ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit)

12. März:

Die Dortmunder Arbeitswelt-Ausstellung DASA hat die für 28./29. März geplante „Maker Faire Ruhr“ abgesagt, ein Erfinder- und Mitmach-Festival, das im Vorjahr einige Tausend Besucher(innen) mobilisiert hat. Nachtrag am 16. März: Die DASA schließt jetzt bis auf Weiteres ganz.

Die in Dortmund ansässige Auslandsgesellschaft streicht bis zum 15. April alle öffentlichen Veranstaltungen.

Das Szenetheater „Fletch Bizzel“ folgt dem Beispiel der städtischen Kultureinrichtungen und sagt alle Veranstaltungen bis Mitte April ab.

Auch im Fritz-Henßler-Haus gibt es bis Mitte April keine öffentlichen Auftritte.

Im Dortmunder Literaturhaus ist ebenfalls bis 15. April Veranstaltungs-Pause.

Die Messe „Creativa“ in den Dortmunder Westfalenhallen ist gleichfalls abgesagt und auf Ende August verschoben worden.

13. März:

Theater Dortmund: Alle Sparten haben ihre Spielpläne für diese und die kommende Saison gründlich umgeschichtet.

Schauspielhaus Bochum: Keine Veranstaltungen mehr (auch nicht mit weniger als 100 Personen). Sämtliche Aufführungen fallen aus – vorerst bis 19. April. Ähnliches gilt fürs Theater an der Ruhr in Mülheim, fürs Theater Oberhausen und das Westfälische Landestheater (WLT) in Castrop-Rauxel.

Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) streicht alle öffentlichen Veranstaltungen in seinen Einrichtungen und schließt ab morgen (14. März) seine insgesamt 18 Museen, darunter das LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster, das Westfälische Industriemuseum mit seiner Zentrale in Dortmund (Zeche Zollern) und das LWL-Museum für Archäologie in Herne.

Das Duisburger Lehmbruck-Museum bleibt ab Samstag (14. März) zunächst bis zum 19. April geschlossen.

Das Museum Folkwang in Essen und das Emil Schumacher Museum in Hagen setzen alle Veranstaltungen bis auf Weiteres aus.

Die Kunstmesse Art Cologne (geplant für April) ist abgesagt worden.

14. März:

Das „Dortmunder U“ und das Museum Ostwall (im „U“) haben alle Veranstaltungen gestrichen. (Inzwischen ist das Haus geschlossen).

Dortmund: Keinerlei öffentliche Veranstaltungen mehr

15. März:

In einer Sondersitzung hat der Verwaltungsvorstand der Stadt Dortmund gestern beschlossen, dass ab heute (Sonntag, 15. März) bis auf Weiteres keinerlei öffentliche Veranstaltungen mehr stattfinden dürfen. Gaststätten und Restaurants dürfen vorerst geöffnet bleiben.

Museen, Bibliotheken und Sportstätten geschlossen

Der Krisenstab der Stadt Dortmund hat heute (Sonntag, 15. März) getagt und angeordnet, Kultur- und Freizeiteinrichtungen zu schließen. In diesem Sinne werden bis auf Weiteres die städtischen Museen, die VHS, die Bibliotheken und die Musikschule sowie die städtischen Hallenbäder, Sporthallen und Sportplätze geschlossen.

Siehe dazu auch: www.dortmund.de

16. März

Auch anderorts bleiben ab sofort die Museen geschlossen, so z. B. in Essen (Folkwang), Bochum (Kunstmuseum) und Wuppertal (Von der Heydt).

Das Frauenfilmfestival Dortmund/Köln fällt aus.

_______________________________

Aber machen wir’s kurz:

Jetzt sind alle Museen geschlossen. Und alle Kinos auch. Und alle Bühnen.

________________________________

Weitere Nachträge/Aktualisierungen

24. März

Das Dortmunder Festival Klangvokal (geplant ab 17. Mai) musste ebenfalls abgesagt werden. Möglichkeiten für Nachholtermine (September 2020 bis Juni 2021) werden derzeit geprüft. Das zugehörige Fest der Chöre soll vom 13. Juni auf den 12. September verschoben werden. Einzelheiten: www.klangvokal-dortmund.de

25. März

Die Ruhrfestspiele, die vom 1. Mai bis zum 13. Juni in Recklinghausen hätten stattfinden sollen, sind gleichfalls abgesagt. Teile des geplanten Programms sollen nach Möglichkeit im Herbst nachgeholt werden.

Das Klavierfestival Ruhr, ursprünglich ab 21. April geplant, soll nun erst am 18. Mai starten. Die vom 21. April bis 17. Mai geplanten 23 Konzerte sollen nach den Sommerferien und im Herbst nachgeholt werden.

Die Mülheimer Stücketage (geplant 16. Mai bis 6. Juni) sind abgesagt worden.

27. März

Neuester Stand beim Klavierfestival Ruhr: Sämtliche bis Ende Mai geplanten Konzerte werden auf die Zeit nach den Sommerferien bzw. in den Herbst 2020 verlegt. Der Spielbetriebwird voraussichtlich erst Anfang Juni (Woche nach Pfingsten) beginnen. Näheres unter www.klavierfestival.de/nachholtermine

________________________________

Nähere Infos auf den jeweiligen Homepages

 




Das Motto „Macht und Mitgefühl“ passt immer: Ruhrfestspiele 2020 holen bewährte Produktionen nach Recklinghausen

Szene aus Anne Teresa De Keersmaekers Choreographie „Rain (live)“. (Foto: Anne Van Aerschot / Ruhrfestspiele)

„Macht und Mitgefühl“ lautet das Motto der diesjährigen Ruhrfestspiele, und das kann einfach nicht falsch sein. Egal, was folgt, die Überschrift paßt immer. Doch da Festival-Chef Olaf Kröck nun sein Programm präsentierte, wissen wir es genau. In summa sind es 90 Produktionen, die in 220 Veranstaltungen vorgeführt werden, in 13 Abteilungen von Schauspiel bis Kabarett. Vieles ist naturgemäß recht klein (die Kleinkunst zum Beispiel), und deshalb richten wir den Blick weitaus lieber auf das Große im Programm, traditionell also das Theater.

Lars Eidinger als Peer Gynt (Foto: Christiane Rakebrand / Ruhrfestspiele)

Einiges aus Berlin

Fünf hochwertige Produktionen hat man allein in Berlin eingekauft: Yasmina Rezas „Drei Mal Leben“ und Peter Handkes „Selbstbezichtigung“ beim Berliner Ensemble, René Polleschs „Number Four“ und Cervantes’ „Don Quijote“ beim Deutschen Theater, Ibsens „Peer Gynt“ (oder das, was davon noch übrig blieb) bei der Schaubühne. Jenen Peer Gynt, um kurz dabei zu bleiben, gibt der Bühnen-Exzentriker Lars Eidinger in einem Einpersonen-Projekt des ebenfalls recht exzentrischen Künstlers John Bock. Das wird lustig. Und „Don Quijote“ geht in einer Fassung von Jakob Nolte als Zweipersonenstück mit Ulrich Matthes und Wolfram Koch über die Bühne.

Szene aus „Tao of Glass“ von Philip Glass und Phelim Mc Dermott. (Foto: Tristram Kenton / Ruhrfestspiele)

Philip Glass

„Deutschlandpremiere“ immerhin darf unter zwei Produktionen stehen: „Tao of Glass“ entsteht als Koproduktion mit dem Manchester International Festival und befaßt sich irgendwie mit Kreativität; Phelim McDermott und Philip Glass werden als Väter dieser Produktion genannt, und da Letzterer ein weltberühmter Schöpfer von Minimalmusik ist, sehen wir der Sache mit Interesse entgegen.

Peter Brook

Außerdem ist Peter Brook wieder mit von der Partie. Zusammen mit Marie-Hélène Estienne hat der 95-Jährige, wie im Vorjahr auch, für das Théâtre des Bouffes du Nord in Paris ein Stück verfaßt. „Why?“ heißt es, fragt nach Sinn und Grund für das Theater und wird, so viel ist sicher, von der großen Peter-Brook-Fangemeinde hymnisch gepriesen werden. Premiere schließlich, das paßt jetzt ganz gut hier hin, hat ein „Zerbrochener Krug“ vom Schauspiel Hannover. Man sieht: Das Motto „Macht und Mitgefühl“ trifft es immer.

So oder so ähnlich soll es in der Recklinghäuser Kunsthalle demnächst aussehen: „Womb Tomb (Thema Active), 2015″ von Mariechen Danz. (Foto: Paula Winkler / Courtesy: Mariechen Danz und Wentrup Galerie / Ruhrfestspiele)

Mariechen Danz

Beim Tanz fällt die Choreographie „Rain (live)“ von Anne Teresa De Keersmaeker ins Auge, die seit einiger Zeit schon in der Hamburger Kampnagel-Fabrik gesehen werden kann.

Genderneutral

Drei Produktionen des Festivals, eine davon vom Rapper Robozee, variieren Strawinskys „Le sacre du printemps“, und die Bildende Kunst in der Recklinghäuser Kunsthalle kommt von Mariechen Danz, die sehr ansprechend Körper und Räume in Beziehung setzt. Übrigens glaube ich fest, daß der Name der Künstlerin ein Künstlername ist, der sich vom karnevalistischen (und politisch ganz bestimmt höchst unkorrekten) Befehl „Marieche, danz“ (hochdeutsch: (Funken-) Mariechen, tanz!) ableitet. Ist bestimmt ironisch gemeint, sonst hätten Kröck und die Seinen diese Künstlerin nicht einladen dürfen, war ihre Programmvorstellung doch bis weit über die Grenzen der Peinlichkeit hinaus von dem Bestreben geprägt, „genderneutrale“ Sprache mit besonderer Berücksichtigung der weiblichen Wortformen zu pflegen.

Mehr Unverwechselbarkeit wäre schön

„Kinder- und Jugendtheater“, „#Jungeszene“ (mit Hashtag), „Neuer Zirkus“, „Figurentheater“ und mit Einschränkungen „Für alle“ – viele Abteilungen wenden sich dezidiert an ein junges Publikum, was für sich genommen nicht zu kritisieren ist.  Weitere künstlerische Ansprüche des Festivals sind allerdings kaum auszumachen. Hier wurde zusammengekauft, was gut und teuer, meistens aber auch nicht ganz taufrisch ist.

Eigenproduktionen gibt es nicht, die Kooperationen sind eher finanzielle Beteiligungen. Etwas mehr Unverwechselbarkeit würde den Ruhrfestspielen nicht schaden. Immerhin aber bleibt der Trost, daß man demnächst nicht immer nach Berlin (oder nach Bochum) fahren muß, um gutes Theater zu sehen.

www.ruhrfestspiele.de




Amor reist auf Französisch: Rarität von Joseph Bodin de Boismortier bei den Tagen Alter Musik in Herne

Das Ensemble der Aufführung von Joseph Bodin de Boismortiers "Wege der Liebe" in Herne: das Orfeo Orchestra, der Purcell Choir, Solisten und Dirigent György Vashegyi. Foto: WDR/Thomas Kost

Das Ensemble der Aufführung von Joseph Bodin de Boismortiers „Wege der Liebe“ in Herne: das Orfeo Orchestra, der Purcell Choir, Solisten und Dirigent György Vashegyi. Foto: WDR/Thomas Kost

Joseph Bodin de Boismortier hat sich kaum mit dem Musiktheater beschäftigt. Anders als sein Zeitgenosse, der geniale Harmoniker Jean-Philippe Rameau, hat er gerade einmal fünf einschlägige Werke hinterlassen; immerhin wurden drei davon am bedeutendsten musikalischen Institut der Zeit, der Pariser Académie royale, aufgeführt. Seinen Nachruhm hat sich der aus dem lothringischen Thionville stammende Komponist vor allem mit seinem Œuvre für Traversflöte gesichert.

Musik war im Uraufführungsjahr 1736 seines als „ballet“ bezeichneten Bühnenwerks „Les Voyages de l’Amour“ („Wege der Liebe“) eine durchaus kommerzielle Angelegenheit, die dem offenbar geschäftstüchtigen Boismortier zu erheblichem Wohlstand verhalf. Eingängig und abwechslungsreich musste ein solcher Vierakter (plus Prolog) sein, das Publikum bei Laune halten, mit Überraschungen und Effekten nicht geizen. Dafür ist die Reise des Liebesgottes Amor genau der richtige Stoff: Er, der andere glücklich macht, selbst aber unglücklich ist, reist auf Anraten des Frühlingsboten Zéphyre durch die Welt, um ein treues Herz für einen ewigen Bund zu finden. Allein, es kommt, wie es kommen muss: Stadt und Hof haben beständige Liebe nicht zu bieten. Nur auf dem Dorfe, unter den einfachen Schäfern, findet sich bei der schlichten Daphné die ehrliche Treue.

Stadt und Hof kennen keine treue Liebe

In launigen zweieinhalb Stunden reiht das Libretto des damals erst 21jährigen Charles-Antoine le Clerc de la Bruère die unterschiedlichen Emotionen aneinander, verbindet Hoffnung und Enttäuschung, Übermut und Wehmut, eitle Beschränkung und überhebliche Gefühlskälte, um den rücksichtslosen Aufstiegswillen der neuen städtisch-bürgerlichen Kreise und die intrigante Gesellschaft in diesem Fall sogar am Hof des römischen Augustus gemessen aber deutlich zu kritisieren. Die „Tage Alter Musik“ in Herne fanden mit diesem seit langem ungespielten Werk einen würdigen musikalischen Abschluss.

Dass sich der Abend vor allem im ersten Teil in die Länge zog, lag nicht an der quirlig abwechslungsreichen Musik von Joseph Bodin de Boismortier, auch nicht an der vorzüglichen Leistung des warmtönig, flexibel, stilgerecht, aber ohne trocken-harsche historische Informiertheit aufspielenden ungarischen Orfeo Orchestra. Die gefühlte Zähigkeit ergibt sich einfach aus dem Fehlen der Szene, die man sich dem Geschmack der Zeit entsprechend nicht bunt, üppig und originell genug vorstellen kann.

Für die Traversflöte schrieb Boismortier zahlreiche Werke und schuf sich damit Nachruhm als Komponist. Drei der damals hochmodernen Instrumente setzt er auch in seiner Oper ein. Foto: WDR/Thomas Kost.

Für die Traversflöte schrieb Boismortier zahlreiche Werke und schuf sich damit Nachruhm als Komponist. Drei der damals hochmodernen Instrumente setzt er auch in seiner Oper ein. Foto: WDR/Thomas Kost.

Die Zuhörer waren also zurückverwiesen auf die Farben, die sich Boismortier in seiner Instrumentierung einfallen ließ. Eine höchst angenehme Entschädigung freilich, denn das Orchester ist nicht nur umfangreich besetzt, sondern Boismortier setzt die Instrumente auch sehr gekonnt und gezielt ein: Das Solo-Fagott (Dóra Király) hat fulminante Auftritte, die drei Flöten kommen zu wohlklingendem Recht, eine Viola da gamba, drei Celli und zwei Kontrabässe sorgen für ein sattes und federnd agiles Bassfundament. Und Kapolcs Kovács zaubert mit seiner Musette de cour, einer im 18. Jahrhundert modischen Sackpfeife, einen lärmend-exotischen Beitrag ins Klangbild, damit die Schäfer-Idylle auch den entsprechend ländlichen Ausdruck gewinnen möge.

György Vashegyi leitet die Ensembles – der Purcell Choir tritt immer wieder klangvoll hinzu – mit unspektakulärer Umsicht und versierter Übersicht. Vashegyi macht auch deutlich, wie Boismortier den Rhythmus als Bedeutungsträger einsetzt – eine Kunst, die ein Jahrhundert später Compositeurs wie Daniel François Esprit Auber zu unterhaltsamer Perfektion gebracht haben.

Vom „Singen mit den Augen“

Im Ensemble der Solisten sind die Sitten und Unsitten der Art zu erleben, wie man heute „historisch informiert“ zu singen pflegt. Nett gebildet, intonatorisch lupenrein, beweglich, aber flach, zuweilen spitz in der Tongebung und kaum zu vokalen Farben fähig, präsentieren sich Sängerinnen wie Adriána Kalafszky mit niedlichem, kopfbetontem, nicht selten aber anämischem Klang. Judith van Wanroij gelingt es bis auf das Duett im Finale, den klein und eng gezwungen wirkenden Ton, der in der Szene lange Mode war, zu meiden. Sie singt mit begrenztem, aber klar fokussiertem und abgerundetem Sopran, der seinen Klang ohne Druck in den Raum projiziert. Auch Eszter Balogh kann, da ihre Stimme natürlich und unforciert wirkt, ausgezeichnet artikulieren.

Bei Katia Velletaz trifft das Bonmot eines alten italienischen Gesangslehrers zu, der einmal bemerkte, man „singe mit den Augen“. Wie sie strahlt und leidet, Schalk und Hoffnung ausdrückt, überspielt gekonnt, wo ihr Töne trocken oder zu vibratoreich entschlüpfen. Der einzige männlich Sänger, Lóránt Najbauer, darf seinen klar umrissenen Bariton in virtuose Schlachten mit einem unglaublich fingerfertigen Kontrabass schicken und sich im zweiten Akt als Wahrsager in einer erregten Gewitterszene bewähren.

Brillanz und dunkelsamtiges Timbre

In der Partie von "L'Amour": Chantal Santon-Jeffery. Foto: WDR/Thomas Kost.

In der Partie von „L’Amour“: Chantal Santon-Jeffery. Foto: WDR/Thomas Kost.

Den Titelhelden hat in der Uraufführung ein Haute-Contre gesungen, ein Tenor mit hoher Tessitura und der Fähigkeit, dank technisch raffinierter Mischung von Brust- und Kopfstimme bis zum zweigestrichenen „d“ zu kommen, ohne dass es – im Idealfall – eng oder quäkend geklungen hat. Heute versucht man, diese Technik mit wechselndem Erfolg wiederzuentdecken; Boismortier selbst hat wohl (auch) eine Besetzung mit einem dunkel timbrierten Sopran mit guter Tiefe vorgesehen, wie es in Herne der Fall war: Chantal Santon-Jeffery brilliert mit ihren Registern und einem dunkelsamtigem Timbre. Sie gestaltet die Worte sorgsam und setzt auf farbiges Ausdeuten des Textes mit stimmlichen Mitteln.

Vor allem im ersten Teil des Abends setzt sie aber auf Druck: Der Ton wirkt dann unfrei und unter Spannung gesetzt statt locker fließend und rund, was sich im lyrischen Legato deutlich bemerkbar macht. Im Endeffekt überwindet der Charme ihres Singens die limitierte Technik und die allegorische Figur des Amor wird zu einem liebeslustigen Operngeschöpf aus Fleisch und Blut. Schlussendlich triumphieren die „zärtlichsten Begierden“ und der Liebesgott Hymen hebt zum Fluge an.

Das Publikum feiert eine Aufführung, mit der die „Tage Alter Musik“ wieder einmal Profil und Entdeckerfreude bewiesen haben.

Die Aufführung ist noch einen Monat im WDR Konzertplayer nachhörbar: https://konzertplayer.wdr3.de/klassische-musik/konzert/tage-alter-musik-in-herne-les-voyages-de-lamour/

 

 




Vortrag statt Drama: Debussys „Pelléas et Mélisande“ bei den „Tagen Alter Musik“ in Herne

Opern-Uraufführungen haben mitunter eine lange Vorgeschichte: Komponisten besprechen die ersten Entwürfe mit Freunden, führen Teile im privaten Kreis auf, stellen Auszüge der Öffentlichkeit vor. Manche Werke, wie etwa die „Tage“ von Karlheinz Stockhausens „Licht“-Zyklus, wurden überhaupt abschnittweise uraufgeführt.

Roger Padullés (Pelléas), Lore Binon (Mélisande) und Pierre-Yves Pruvot (Golaud) bei der Aufführung von Claude Debussys Oper in der Fassung von Marius Constant in Herne. Foto: WDR/Thomas Kost

Roger Padullés (Pelléas), Lore Binon (Mélisande) und Pierre-Yves Pruvot (Golaud) bei der Aufführung von Claude Debussys Oper in der Fassung von Marius Constant in Herne. Foto: WDR/Thomas Kost

Bei Claude Debussys „Pelléas et Mélisande“ wissen wir, dass in den beinahe zehn Jahren, in denen der Komponist um die musikalische Form des Stoffes von Maurice Maeterlinck rang, immer wieder Teile im privaten Kreis erklangen. Die „Tage Alter Musik“ in Herne versuchten, diese intime Form für das Heute einzuholen: Das Festival öffnete mit den 1992 entstandenen „Pelléas-Impressionen“ des Debussy-Kenners Marius Constant einen experimentellen Blick auf die Musik, die gerade durch den Eindruck des „Unfertigen“ – statt des Orchesters tragen nur zwei Klaviere die Aufführung – in die Tiefe der Absichten Debussys hineinreichen möchte.

Denn entgegen landläufiger Meinungen war der Klang des Orchesters für Debussy nicht der entscheidende Parameter, sondern die Form: eine bestimmte rhythmische Figur (Golaud), eine Tonfolge (Mélisande) oder eine zunächst unauffällige Wendung (Pelléas). Die festgelegten Formen der klassischen Durchführungstechnik, aber auch Wagners dramaturgisch gebundene Musik interessierten ihn nicht; er war auf der Suche nach etwas, was er in einer Notiz für die Opéra-comique, der Stätte der Uraufführung, beschrieb als eine Freiheit, „welche auf den geheimnisvollen Entsprechungen zwischen Natur und Phantasie“ beruhen sollte. Die Instrumentierung, die uns heute gerne als entscheidend für die suggestive Wirkung der symbolistischen Handlung erscheint, wurde dagegen vor der Uraufführung 1902 in ziemlicher Hast erstellt. Selbst während die erste Serie der Vorstellungen schon lief, veränderte Debussy noch die Instrumentierung und die Zwischenspiele.

Claude Debussy. Porträtfotografie eines unbekannten Autors. Foto: Edvard Grieg Archives, Bergen Public Library

Claude Debussy. Porträtfotografie eines unbekannten Autors. Foto: Edvard Grieg Archives, Bergen Public Library

Die auf 95 Minuten konzentrierte Version Constants reduziert die Musik auf ihr tragendes Skelett. Ein Experiment, das zum Vorschein bringt, dass die Raffinesse von Debussys Musik nicht im Klang zu suchen ist. Aber auch mit einer gewissen Gnadenlosigkeit offenbart, dass sich Debussy trotz allen Sträubens nicht aus dem Bann Wagners lösen konnte. Vom Orchester entblößt, erscheinen ganze Strecken in der Musik anämisch ausgetrocknet, beschränkt sich der Reiz des Harmonischen immer wieder auf punktuelle Impulse, muss sich auch die Deklamation der Sänger ohne den Schmelz des klanglichen Flusses behaupten.

Eindruck des Unvollendeten

Obwohl sich das Klavierduo Yin-Yang (Jan Michiels, Inge Spinette) an zwei historischen Blüthner-Flügeln mit aller Intensität darum bemüht, Anschlag, Phrasierung, Metrum, Akzentuierung so belebt und subtil wie möglich zu gestalten – und es gelingen berückende Momente bis zu den unendlich geheimnisvollen Glockenschlägen am Ende –, bleibt doch der Eindruck des Unvollendeten: Eine Salon-Aufführung ist eben vorläufig, die volle Gestalt des Werkes enthüllt sich erst auf der Bühne.

Von den Personen Debussys ist Golaud am wenigsten in die psychische Alltagserfahrung transzendierende Sphäre des Symbolischen enthoben. Er ist ein Mann der Tat, der klaren Vorstellungen, der definierten Gefühle, aber auch eine tragische Figur des Nichtverstehens, der mit den uneindeutigen seelischen Schlieren einer Mélisande nichts anfangen kann: Die „Wahrheit“ will er bis zum Schluss erfahren, ohne zu erfassen, dass diese nicht eindeutig, vielleicht nicht einmal aussprechbar sein kann. Pierre-Yves Pruvot singt die inneren Zerreißproben, die brennende Eifersucht und die verzweifelte Aggressivität mit seinem substanzvollen, dramatisch auffahrenden, manchmal gezwungen groben Bariton, ohne Blühen der Bögen und innere Freiheit des Tones, aber mit dem Druck einer in sich ratlos gefangenen Seele.

Nur zufällig in diese Welt verirrt

Lore Binon singt eine fragile, aber auch entschieden sich selbst treue Mélisande. In ihrem Ton entäußert sich eine Seele, die wie ein verwehendes Gespinst ungreifbar ist, als habe sie sich nur zufällig in eine materiell-körperliche Manifestation in dieser Welt verirrt. Sie ist, wie die anderen Sänger auch, genötigt, noch genauer als mit einem stützenden Orchester zu phrasieren und den Ton zu bilden, was ihr in sanfter Expression gelingt. Roger Padullés als Pelléas wirkt eher wie Mélisandes entrückter Bruder; sein manchmal leicht gaumig gefärbter Tenor kennt kaum jugendlich-energische Töne, sein Klang entspricht eher der morbiden Blässe eines Lichtes im Nebel. Einspringer Thomas Dear als Arkel ist zu sehr mit dem Vortrag seiner Noten beschäftigt; die ausgedünnte Stütze vor allem in der Höhe verhindert, dass sein Ton Farbe und Ausdruck gewinnt.

Camille Bauer erfasst als Yniold das anfangs unberührte Zutrauen des Kindes, aber die wachsende Panik, die verständnislose Verzweiflung über die Ausbrüche und Attacken des eifersüchtigen Golaud bleiben zu verhalten. Die Rolle der Geneviève ist auf zwei Briefszenen eingedampft; Julie Bailly erfüllt sie mit wohltönender Würde. Bei allen Gesangssolisten ist das Fehlen der Aktion auf der Bühne zu spüren. Ohne die Magie des Raumes, ohne die szenische Annäherung an das Nicht-Sagbare rutscht die Aufführung immer wieder zum musikalischen Vortrag ab, gehalten vor teilnahmslosen Notenpulten. Da helfen auch die Texte, in „kinetischer Typographie“ (Klaas Verpoest) an die schwarzen Wände geworfen, nicht weiter.

Die Aufführung wurde vom WDR live übertragen und ist 30 Tage lang im WDR Konzertplayer nachzuhören: https://konzertplayer.wdr3.de/klassische-musik/




Leuchtfeuer für die Moderne: Die Essener Philharmoniker und Tomáš Netopil mit Schönbergs monumentalen „Gurreliedern“

Mit einem Feuerwerk neuer Musik endete an diesem Wochenende das Festival NOW!, das sich in den letzten neun Jahren zu einem Hotspot der Erkundung aktueller Wege des Komponierens entwickelt hat. Eröffnet haben es die Essener Philharmoniker allerdings mit einem „Klassiker“ der Moderne, mit Arnold Schönbergs monumentalen „Gurreliedern“.

Tomás Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: Hamza Saad

Tomás Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: Hamza Saad

Das Werk ist eines der seltenen Beispiele dafür, wie sich Vergangenheit und Zukunft der musikalischen Entwicklung in einem Moment treffen und einen Funken schlagen, der sich zum Leuchtfeuer für eine ganze Generation entwickelt. Schönberg fasst in dem knapp zweistündigen Zyklus die Gattungen Lied, Musikdrama, Oratorium und Symphonie zusammen, führt mit seinem Riesenorchester (im Original 80 Streicher, 50 Holz- und Blechbläser, 6 Pauken, 4 Harfen, üppiges Schlagwerk und Celesta) die Klangwelt Richard Wagners weiter, orientiert sich im Prinzip der „entwickelnden Variation“ an Johannes Brahms, arbeitet wie Engelbert Humperdinck mit dem Melodram und zeigt mit spätromantischer Klangpracht und dem Hinausrücken aus Tonalitätsgrenzen, wohin er sich auf seinem eigenen Weg vielleicht auch von Richard Strauss hat begleiten lassen.

Genießerisch ausgebreitete Klang-Raffinesse

Doch mehr noch als die wegen des Aufwands seltenen Aufführungen haben nach der umjubelten Uraufführung 1913 in Wien die Gurrelieder wohl die beteiligten, später bedeutenden Komponisten beeinflusst: Anton Webern wirkte 1910 bei der ersten Teil-Uraufführung als Pianist mit; Alban Berg hat schon vor der Uraufführung eine ausführliche Analyse vorgelegt. Und wie Franz Schreker, der Dirigent der Uraufführung, oder Alexander von Zemlinsky mit ihren raffinierten Klangerfindungen mit Schönberg zusammenhängen, lässt sich im Vorspiel des Oratoriums nachvollziehen – zumal, wenn die Raffinesse des Klangs so genießerisch ausgebreitet wird wie von den Essener Philharmonikern unter ihrem Chef Tomáš Netopil.

Der österreichische Komponist, Verlagsmitarbeiter und Schönberg-Schüler Erwin Stein hat mit einer aufführungspraktischen Reduktion viel dazu beigetragen, die Gurrelieder zu verbreiten. Die erste in Deutschland entstandene Gesamtaufnahme – und erst die dritte überhaupt – ist erst 1965 mit Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Rafael Kubelik erschienen. Heute haben jeder Rundfunkchor und selbst mittelgroße Orchester den Ehrgeiz, Schönbergs wegweisendes Werk aufzuführen.

Tomáš Netopil und das Orchester lassen sich im ersten Teil mit größter Sorgfalt auf die Delikatesse des Klangs, auf die Magie der entrückten harmonischen Erfindung und auf die allmähliche dynamische Entwicklung hin zum pulsierenden, verliebten Schwärmen von Waldemar und Tove ein. Auch der Bruch der Atmosphäre – wenn Waldemar in „Es ist Mitternachtszeit“ den Tod vorausahnt – teilt sich in exquisiten Färbungen im Orchester mit. Die Sänger allerdings stoßen an ihre Grenzen: Burkhard Fritz – am zweiten Abend für Torsten Kerl eingesprungen – hält seinen kraftvoll-trockenen Tenor auf gleicher, bleicher Tonlage.

Urgewaltig gesteigerte Klang-Eruptionen

Und Julia Borchert bleibt so vornehm lyrisch, dass man nicht glauben möchte, von ihr demnächst in Hildesheim eine Isolde hören zu können. Das Zentrum des Soprans bleibt matt, der hymnische Aufschwung in ihrem letzten Lied, die verklärende Todesnähe des „Tristan“ – „So laß uns die goldene Schale leeren ihm, dem mächtig verschönenden Tod“ – wollen sich nicht mitteilen. An der Position der Sängerin im Raum kann es wohl nicht liegen, denn Deirdre Angenent setzt sich als Waldtaube mühelos durch.

Der zweite Teil fiel dann erheblich ab: Die wild verzweifelte Anklage Gottes formuliert Burkard Fritz zwar mit durchsetzungsstarker Energie, und Netopil steigert die Ausfahrt der Toten zur „wilden Jagd“ mit orchestraler Verve und satter Klanglichkeit. Doch für die ergreifende Klage, die wehmütige Erinnerung und den Schmerz des Verlustes fehlen dem Tenor die Farben der Stimme. Und das Orchester peitscht Netopil so insistierend auf, das die kunstvolle Polyphonie, die unheimlich-verhaltenen Töne des Geisterspuks, auch die extremen Klangfarben, die Schönberg in bester Mahler-Manier zum Einsatz bringt, in der Urgewalt einer entfesselten – und dann auch undifferenzierten – Klangeruption überwältigt werden.

Die Sänger aus dem Essener Opernensemble halten wacker dagegen: Heiko Trinsinger gestaltet einen stumpf-abergläubischen Bauern, Albrecht Kludszuweit kleidet Klaus Narr in unerbittlich grelle, schneidend artikulierte, ironisch-bissige Mahler-Klänge. Marie-Helen Joël dürfte als Sprecherin dankbar für das Mikro gewesen sein, ansonsten hätte sich ihr rhythmisch präziser, im Puls der Musik schwingender Vortrag wohl kaum gegen das Orchester durchgesetzt.

Selbst den Höhepunkt des grandios geladenen Chorfinales lädt Netopil mit einer orchestralen Massierung auf, die dem WDR Rundfunkchor, dem Rhein-Main-Kammer- und Opernchor, dem Opernchor des Aalto-Theaters und dem Philharmonischen Chor Essen die Dominanz streitig machen. Über dem strahlenden Sonnenaufgang schlagen die Wellen des Orchesters unerbittlich zusammen.




Von der Kunst der Übergänge: Festival NOW! in Essen mit 15 Uraufführungen und einem faszinierenden Analog-Synthesizer

„Dieses Werk ist der Schlüssel zu meiner ganzen Entwicklung … Es erklärt, wie alles später so kommen musste“, schreibt Arnold Schönberg über seine „Gurre-Lieder“, die am 24. und 25. Oktober in der Philharmonie Essen erklingen.

Foto: Projektpartner des Festivals NOW! (von links): Hein Mulders (Intendant der Philharmonie Essen), Dr. Thomas Kempf (Vorstand Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung), Marie Babette Nierenz (Künstlerische Leitung Philharmonie Essen), Prof. Günter Steinke (Folkwang Universität der Künste), Christof Wolf (Stiftung Zollverein), Prof Dirk Reith (Folkwang Universität der Künste), Ann-Charlotte Günzel (PACT Zollverein), Prof. Thomas Neuhaus (Folkwang Universität der Künste). Foto: TuP

Foto: Projektpartner des Festivals NOW! (von links): Hein Mulders (Intendant der Philharmonie Essen), Dr. Thomas Kempf (Vorstand Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung), Marie Babette Nierenz (Künstlerische Leitung Philharmonie Essen), Prof. Günter Steinke (Folkwang Universität der Künste), Christof Wolf (Stiftung Zollverein), Prof Dirk Reith (Folkwang Universität der Künste), Ann-Charlotte Günzel (PACT Zollverein), Prof. Thomas Neuhaus (Folkwang Universität der Künste). Foto: TuP

Entstanden zwischen 1900 und 1911, ist in dem riesigen Werk der Übergang vom spätromantischen zur modernen Stil in Schönbergs Komponieren zu verfolgen. Ein passender Auftakt also für das Festival NOW! für neue Musik, das am Donnerstag mit Schönbergs epochalem Werk eröffnet wird. Bis 3. November geht das Festival in 25 Veranstaltungen unter dem Motto „Transit“ den vielfältigen Formen des Übergangs in der Musik nach.

Torsten Kerl singt in den Gurre-Liedern in der Philharmonie Essen. Foto: Bettina Stoess.

Torsten Kerl singt in den Gurre-Liedern in der Philharmonie Essen. Foto: Bettina Stoess.

Die Gurre-Lieder erklingen in den beiden Symphoniekonzerten mit den Essener Philharmonikern unter Leitung von Tomáš Netopil. Der WDR Rundfunkchor, der Opernchor des Aalto-Theaters und der Philharmonische Chor Essen stellen die Sängerinnen und Sänger für den kolossalen Klangapparat aus drei vierstimmigen Männerchören und einem achtstimmigen gemischten Chor. Unter den fünf Solisten ist der Tenor Torsten Kerl, der in Gelsenkirchen geboren ist und dort seine internationale Karriere begonnen hat.

Das mittlerweile neunte Festival NOW! hat sich zu einem Schwerpunkt für zeitgenössische Musik in Nordrhein-Westfalen entwickelt und vereint als Projekt inzwischen die Philharmonie Essen mit Partnern wie der Stiftung Zollverein, PACT Zollverein, den Landesmusikrat NRW und vor allem die Folkwang Universität der Künste. Diese bringt sich mit ungewöhnlichen Veranstaltungen ein und zeigt zum Beispiel, wie sich Komponieren – und damit die Musik – auch durch die zur Verfügung stehenden technischen Mittel verändert. So ist der Transit von der Analog- zur Digitaltechnik ein Thema, das an einem „Synthesizer-Wochenende“ auf PACT Zollverein vom 25. bis 27. Oktober in Live-Aufführungen, einem Gesprächskonzert und einem Workshop sinnlich erfahrbar wird.

So sieht ein Star aus: Einer der größten noch funktionierenden Analog-Synthesizer der Welt kommt beim Festival NOW! zum Einsatz. Foto: TuP Essen/privat

So sieht ein Star aus: Einer der größten noch funktionierenden Analog-Synthesizer der Welt kommt beim Festival NOW! zum Einsatz. Foto: TuP Essen/privat

Eine Rolle spielt dabei auch der legendäre analoge Groß-Synthesizer Synlab, der in den siebziger Jahren in Kooperation mit Dirk Reith von der Folkwang Hochschule entwickelt wurde. Die Anlage, eine der größten noch funktionierenden analogen Synthesizer der Welt, wird extra in aufwändiger Arbeit auf der Bühne von PACT Zollverein aufgestellt. Dort beginnt das NOW!-Programm am Freitag, 25. Oktober, 20 Uhr mit der Uraufführung mehrerer Stücke von Dirk Reith, Florian Zwißler und Oxana Omelchuk. Zu erleben ist „Funktion Blau“ von Gottfried Michael Koenig, dem 1926 geborenen „Großvater der elektronischen Musik“, der zehn Jahre lang am Studio für Elektronische Musik des NWDR u. a. mit Karlheinz Stockhausen gearbeitet hat. Von dem 1966 in Essen geborenen Achim Bornhöft, Leiter des Studios für Elektronische Musik am Mozarteum Salzburg, gibt es ein 1991 entstandenes Stück, das dem Konzert den Titel gibt: „Artificial Clichés“.

Die Professoren Dirk Reith und Thomas Neuhaus (rechts) mit einem Bauelement des Synthesizers Synlab. Foto: Werner Häußner

Die Professoren Dirk Reith und Thomas Neuhaus (rechts) mit einem Bauelement des Synthesizers Synlab. Foto: Werner Häußner

Eine andere Art von Transit wird im RWE Pavillon der Philharmonie demonstriert: Eine Installation mit vier selbstspielenden MIDI-Klavieren lässt neue Werke von Günter Steinke, Michael Edwards, Thomas Neuhaus und Dirk Reith erklingen. Hier spielt der Mensch nicht mehr ein Instrument, sondern das „Medium“ verselbständigt sich: Algorithmen generieren musikalische Sätze und zeigen, wo der Computer bereits in den Bereich der Kreativität vorgedrungen ist, die nur noch weit im Hintergrund des Menschen bedarf. Die Installation ist bereits am Mittwoch, 23. Oktober, 18 Uhr, zu erleben; weitere Termine sind am 24. und 25. Oktober, jeweils 19 Uhr, und am Sonntag, 27. Oktober, 19 Uhr.

Zeitgenössische Musik, die ganz „analog“ mit klassischen Instrumenten aufgeführt wird, kommt nicht zu kurz: Am Samstag, 26. Oktober, 19 Uhr, spielt das Ensemble folkwang modern im RWE Pavillon Musik von Karlheinz Stockhausen, Mark Andre und – als Uraufführungen – zwei Auftragswerke der Philharmonie Essen von Michael Edwards und Tamon Yashima. Das JACK Quartet stellt am Sonntag, 27. Oktober, 11 Uhr, im RWE Pavillon Streichquartette von Helmut Lachenmann, Iannis Xenakis und Luca Francesconi vor. Und am Abend um 19.30 Uhr bringt das WDR Sinfonieorchester unter Sylvain Cambreling Bruno Madernas „Aura“ und Gérard Griseys „L’icône paradoxale – Hommage à Piero della Francesca“ in den Großen Saal der Philharmonie. Im Zentrum des Abends steht das Flötenkonzert von Francesco Filidei, einem 1973 geborenen Italiener und Schüler von Salvatore Sciarrino, von dem erst im September an der Pariser Opéra comique die erste Oper „L’Inondation“ aufgeführt wurde.

Am Dienstag, 29. Oktober, 20 Uhr, wird dann in einem Konzert mit der Pianistin Susanne Achilles die Orgel des Alfried Krupp Saales erstmals computergesteuert erklingen – in drei neuen Interludien von Roman Pfeifer, Florian Zwißler und Jagyeong Ryu. Der Bogen des Programms spannt sich von „Studies for Player Piano“ von Conlon Nancarrow, der Ende des 19. Jahrhunderts an den Anfängen der selbstspielenden Klaviere steht, bis hin zu einem neuen Werk für vier selbstspielende MIDI-Klaviere von Ludger Brümmer.

Das Abschluss-Wochenende gestaltet unter anderem das erstmals am NOW!-Festival beteiligte Folkwang Kammerorchester auf Zeche Zollverein mit der Uraufführung eines Konzerts für Violine und Streichorchester mit Akkordeon von Karin Haußmann, gespielt von Liza Ferschtman, am Freitag, 1. November. Am Samstag, 2. November, bringt das SWR Symphonieorchester zwei brandneue Stücke in die Philharmonie Essen mit, die es im Abschlusskonzert der Donaueschinger Musiktage am 20. Oktober uraufgeführt hatte: „Melancholie“ für chromatische Mundharmonika und Orchester von Saed Haddad und „Elementar Realities“ von Jürg Frey. Am Sonntag, 3. November, spielt dann das Ensemble Modern unter Enno Poppe Musik von Morton Feldman („Coptic Light“), Anton Webern (Variationen für Orchester op. 30) und Matthias Spahlinger („passage/paysage“ für Orchester).

Für die Veranstaltungen des Festivals NOW! gibt es Karten unter Tel.: (0201) 81 22 200 oder www.philharmonie-essen.de. Mit einem Festivalpass zu 55 Euro können alle Veranstaltungen besucht werden. Tickets für Veranstaltungen an der Folkwang Universität der Künste unter Tel.: (0201) 49 03 231.

 




Verstehen und Verwirren: Die Tage Alter Musik in Herne erschließen musikalische Kommunikation

Das Ensemble La Reverdie. (c) Fabio Fuser

Das Ensemble La Reverdie. © Fabio Fuser

Was sagt uns Musik? Sind die Töne tatsächlich, wie E.T.A. Hoffmann behauptet, das Reich des Ahnungsvollen, Unsagbaren? Ist Musik ein präzises Zeichensystem, eine quasi mathematische Sprache? Hat sie eine Botschaft, die sich wie eine Verlautbarung wiedergeben lässt? Oder entzieht ihr Kunstcharakter sie nicht von vorneherein jeder Festlegung?

Was das „Wesen“ der Musik sei, darüber lässt sich nicht nur trefflich streiten. Dieser Frage nähern sich auch alle Epochen auf jeweils andere Weise.

Für ein so hochkomplexes Thema haben die diesjährigen „Tage Alter Musik“ in Herne einen wunderbar erschließenden Zugang gefunden: Vom 14. bis 17. November dreht sich das konzentrierte, feine Festival um musikalische Kommunikation zwischen „Verstehen“ und „Verwirren“, also um bewusste Klarheit, absichtsvolle Verunklarung, offene Stellen in einem scheinbar ausreichend definierten System von erklärbaren Zeichen.

Die blass scheinende Theorie treibt dabei ihre Blüten am grünen Baum musikalischer Praxis: Ensembles aus ganz Europa – darunter eine Reihe von Festival-Debütanten – richten den Blick in zehn durchweg originellen Programmen auf Musik vom Spätmittelalter bis in die Zeit Claude Debussys. WDR 3 Kulturradio wird in vier Live-Übertragungen und einer Reihe von späteren Ausstrahlungen über die Region hinaus ein internationales Publikum ansprechen.

The Tallis Scholars kommen nach Herne. Das angesehene englische Ensemble tritt am 15. November in der Kreuzkirche auf. © Nick Rutter

The Tallis Scholars kommen nach Herne. Das angesehene englische Ensemble tritt am 15. November in der Kreuzkirche auf. © Nick Rutter

Vokalmusik steht im Zentrum der vier Tage: Zu Beginn erklingen am Donnerstag, 14. November, 20 Uhr, in der Kreuzkirche in Herne Gesänge des blinden Florentiner Komponisten Francesco Landini. Die Mittelalter-Formation „La Reverdie“ stellt Ballate und Madrigale vor, von denen mehr als 150 erhalten sind. Landini war ein universal gebildeter Intellektueller an der Schwelle zur Renaissance, der dank einer zeitgenössischen Biografie auch als Person greifbar ist. Seine Musik spricht von einer reichen inneren Gefühlswelt.

Gefühle nach außen kehren und nachvollziehbar machen: Davon lebt die Oper. Zum Abschluss der „Tage Alter Musik“ findet eine respektable Trouvaille den Weg auf die Bühne des Kulturzentrums Herne: Joseph Bodin de Boismortier schrieb 1736 eine Oper über die Wege der Liebe („Les Voyages de l’Amour“), eine unterhaltsame Bühnenstudie über die Kraft dieses Urtriebs menschlicher Existenz. In Zusammenarbeit mit dem Centre de Musique Baroque de Versailles erlebt dieses Juwel des Musiktheaters am Sonntag, 17. November, 19 Uhr, nach 283 Jahren seine erste Wiederaufführung. Zuvor um 16 Uhr gibt es in der Kreuzkirche repräsentative geistliche Musik: Das Requiem Es-Dur schrieb der Stuttgarter Hofkapellmeister Niccolò Jomelli 1756 aus Anlass des Todes von Maria Augusta, der Mutter Herzog Carl Eugens von Württemberg. Das Werk verbreitete sich damals in ganz Europa.

Die Oper ist es auch, die den „Tagen Alter Musik“ einen Ausflug in die Moderne ermöglicht: Am Freitag, 15. November, 20 Uhr, ist im Kulturzentrum Claude Debussys „Pelléas et Mélisande“ in einer ungewöhnlichen Form zu erleben: Der auch von Debussy gepflegten Gewohnheit, Werke – oder Teile davon – in Aufführungen in Salons zu präsentieren, folgt eine Bearbeitung der Oper für Singstimmen und zwei Klaviere des Neue-Musik-Repräsentanten Marius Constant. Gespielt von Jan Michiels und Inge Spinette an zwei Blüthner-Flügeln führt die Fassung zurück zu den intimen Konzerten, in denen Debussy seinen Freunden seine neuen Kompositionen vorstellte.

Kaum mehr bekannte Bläsermusik spielt das Schwanthaler Trompetenconsort. (c) Reinhard Winkler

Kaum mehr bekannte Bläsermusik spielt das Schwanthaler Trompetenconsort. © Reinhard Winkler

All diese Musik folgt bestimmten Vorgaben oder reagiert auf Anlässe. Am deutlichsten ihrem Zweck verhaftet ist die Musik, die am 17. November, 11 Uhr, im Kulturzentrum vorgestellt wird: Das österreichische Schwanthaler Trompetenconsort spielt vergessene Musik von nicht immer zweifelsfreiem Kunstcharakter: Kriegssignale und virtuos-repräsentative Fanfaren kombinieren die Spezialisten für diverse Blasinstrumente mit unterhaltsam konzertanter Musik, wie sie etwa von Militärkapellen bei Platzkonzerten, im Tanzsaal oder bei offiziellen Feiern gespielt wurde. Komponisten wie der Würzburger Militärmusiker und Arrangeur Joseph Küffner waren zu ihrer Zeit sehr populär, sind aber heute völlig unbekannt.

Am anderen Pol musikalischen Schaffens angesiedelt ist die Musik, die das Ensemble Vintage Köln am Samstag, 16. November, 20 Uhr, im Kulturzentrum vorstellt: Von der „Kunst der Fuge“ Johann Sebastian Bachs über Kontrapunkt-Studien etwa von Henry Purcell oder William Byrd bis hin zu aktuellen Kompositionen des Bratschers des Ensembles, Sebastian Gottschick, bringt es die Kombinationskunst zum Klingen, in der die Musik unbeeinflusst von Wort oder Gefühl, Anlass oder Zweck ganz bei sich bleibt. – Ergänzt wird das Programm von der Ausstellung im Foyer des Kulturzentrums, die sich Blas- und Saiteninstrumenten widmet und einen Überblick über den technischen und künstlerischen Stand des Nachbaus historischer Musikinstrumente geben will.

Infos auf den Webseiten der Stadt Herne und des Westdeutschen Rundfunks. Dort gibt es auch Hinweise zum Kartenvorverkauf bei ProTicket Vorverkaufsstellen, online oder telefonisch unter (0231) 917 22 90.




Herausforderung glänzend bestanden: Essener Philharmoniker gastierten in Prag und Dresden mit einem Dvořák-Programm

Leichter Regen besprüht die monumentale Fassade des Rudolphinums am Ufer der Moldau. Nobel gekleidete Damen und Herren streben die Stufen empor, Fahnen wehen, die Portale sind geschmückt. Drinnen legen Musikerinnen und Musiker ihre Konzertkleidung an, Notenpulte und Stühle auf dem Podium werden zurechtgerückt. Üblicher Betrieb in einem Konzerthaus – und doch ist die Stimmung anders, festlicher, gespannter.

Das Rudolphinum, Prags historischer Konzertsaal und Auftrittsort der Essener Philharmoniker. Foto: Werner Häußner

Das Rudolphinum, Prags historischer Konzertsaal und Auftrittsort der Essener Philharmoniker. Foto: Werner Häußner

Es ist Festivalzeit in Prag, und ein Orchester wartet auf seinen Auftritt, das nicht zu den üblichen Verdächtigen bei den internationalen Aufmärschen bekannter Klassikstars in Europa gehört: Die Essener Philharmoniker gastieren beim Internationalen Festival Dvořákova Praha, das seit seiner Gründung 2008 eine ganze Reihe Orchester aus der ersten Reihe nach Prag geholt hat: die beiden großen Londoner Orchester, das Orchestre Nationale de France, das City of Birmingham, das Israel Philharmonic – und eben jetzt, zum zweiten Mal nach 2017, die Essener Philharmoniker.

Schlüsselfigur: Chefdirigent Tomáš Netopil

Die sind nun nicht gerade ein zweitrangiges Orchester: Zwei Mal „Orchester des Jahres“, haben sich die Musiker unter Stefan Soltesz eine Spitzenstellung als Opernorchester unter den nicht wenigen Ensembles in Nordrhein-Westfalen errungen, gestalten in der 2004 wiedereröffneten Philharmonie Essen in erstklassiger Konzertsaal-Akustik begehrte Sinfoniekonzerte, haben beachtliche CD-Aufnahmen vorgelegt. Seit 2013 besetzt Tomáš Netopil den Posten des Chefdirigenten. Der Generalmusikdirektor konnte an die Arbeit von Soltesz anknüpfen und die Qualität des Orchesters systematisch weiter ausbauen. Er brachte viel – und nicht nur gängiges – tschechisches Repertoire in Konzerte und Oper ein und will diese Linie auch bis 2023 beibehalten. So lange steht er in Essen unter Vertrag, obwohl oder trotz er an großen Häusern, so auch an der Wiener Staatsoper und der Dresdner Semperoper, regelmäßig gastiert.

Tomas Netopil dirigiert die Essener Philharmoniker in der Frauenkirche in Dresden. Foto: Hamza Saad

Tomas Netopil dirigiert die Essener Philharmoniker in der Frauenkirche in Dresden. Foto: Hamza Saad

Netopil ist auch der Mann, der das erste Prager Gastspiel eingefädelt hat. An der Moldau ist der ehemalige Musikdirektor des Nationaltheaters (bis 2012) beliebt und ein häufiger Gast auch beim renommiertesten Klangkörper, der Tschechischen Philharmonie. Das erste Konzert der Essener Philharmoniker 2017 schlug derart erfolgreich ein, dass sie samt ihrem Chef gleich für 2019 wieder unter Vertrag genommen wurden. Und für dieses Konzert ging Netopil aufs Ganze: Ein tschechischer Dirigent spielt mit einem deutschen Orchester Antonín Dvořák, jenen unter den tschechischen Komponisten, der anno 1896 im Rudolphinum das erste Konzert der Tschechischen Philharmonie dirigiert hatte und dessen Namen der gut 1000 Plätze fassende Saal heute trägt.

Der Umgang mit dem „böhmischen“ Klang

Auch vor dem Hintergrund der Geschichte, von der kulturellen Benachteiligung der Tschechen in der Habsburger Zeit bis hin zu den Barbareien der deutschen Besatzer in den dunklen sieben Jahren, darf ein solches Konzert also eine gewisse Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Außerdem: Wie würden die Essener Philharmoniker mit der Herausforderung des Klangs umgehen, mit jenem „böhmischen“ Ideal, das mit weicher, leuchtender Streicherintonation und schmeichelnden Bläsern identifiziert wird? Netopil hat, wie er im Gespräch verrät, in den Proben auf diesen Klang hingearbeitet, ohne ihn den Musikern überstülpen zu wollen: keine Imitation, aber eine Annäherung.

Probe im Rudolphinum in Prag. Foto: Werner Häußner

Probe im Rudolphinum in Prag. Foto: Werner Häußner

Dieses Konzept verträgt sich besonders mit dem sinfonischen Hauptwerk, der Siebten von Dvořák. In diesem für London geschriebenen Werk zeigt sich Dvořák eben nicht als „böhmischer Musikant“, verwendet keine Folklore-Anklänge, sondern demonstriert, dass er sinfonische Musik auf europäischem Niveau komponiert, die jedem Vergleich standhält. Die Eigenprägung der vier Sätze, drei davon in Moll, ihre formale Balance ist ebenso auf höchstem Niveau wie die dichte Satzarbeit besonders im Finale, und verbindet sich mit formaler Klarheit und einem leidenschaftlichen, energischen Puls.

Klarheit und Blick in die Tiefe

Genau so, mit Passion und Blick in die Tiefe, gehen die Essener Philharmoniker das Werk an. Die düster-unwirschen tiefen Streicher, der erste Ausbruch in den Trompeten, die ein lichtes Tongewölbe aufspannende Oboe, der markante Rhythmus, der unverkrampfte Fluss von Motiven und Themen: das Orchester spielt nachdrücklich und energisch. Die Bläser-Einleitung des zweiten Satzes gelingt gelöst und schwingend, im dritten Satz lebt der Rhythmus markant und locker zugleich. Netopil fordert Saft in den Tönen und zupackende Kraft, nimmt aber das Orchester auch zurück, wenn es den hohen, aber relativ kurz gebauten Saal zu überfordern droht. Keine leichte Aufgabe für die Musiker, die sonst in der offenen, freien Akustik der Essener Philharmonie spielen.

Die Essener Philharmoniker in der Frauenkirche Dresden. Foto: Hamza Saad

Die Essener Philharmoniker in der Frauenkirche Dresden. Foto: Hamza Saad

Im beliebten H-Dur-Nocturne op. 40 zu Beginn lässt der Saal den verhaltenen Klang der Geigen wärmer leuchten als in Essen; die trefflich aufeinander hörenden Musiker sichern die Balance, der Schluss schwebt leicht und leuchtend. Bei den beiden Sinfoniekonzerten in Essen und bei dem auf Prag folgenden Konzert in der Frauenkirche in Dresden stand das g-Moll-Violinkonzert von Max Bruch mit Arabella Steinbacher in der Mitte des klassischen Konzertprogramms. Was in Essen noch zögerlich im Zugriff und matt im Ton erklang, hatte in der Dresdner Frauenkirche spürbar Freiheit und Frische gewonnen.

Unterschätztes Klavierkonzert

In Prag spielte Ivo Kahánek das Dvořák’sche Klavierkonzert g-Moll. Die rhythmisch bewusst gestaltete, temperamentvolle Darbietung Kaháneks in geglückter Interaktion mit dem Orchester erweist dieses Konzert als unterschätzt. Dvořák schreibt auch hier Musik, die jenseits „nationaler“ Zuneigung oder Vorliebe auf internationalen Podien bestehen kann. Die enge Verknüpfung des solistischen und des orchestralen Materials, die poetische Schwermut des langsamen Satzes und der hinreißende rhythmische Bravour des Finales lohnen es, sich dieses Konzert genauer anzusehen.

Die Essener konnten mit den beiden Konzerten in Prag und Dresden einen erheblichen Erfolg für sich verbuchen. Die Kritiken in Prag waren ausgezeichnet, lobten die Tonqualität, die intensiven Farben, die flexible, kammermusikalische Begleitung des Pianisten. Die Planungen für weitere auswärtige Gastspiele der Philharmoniker laufen – für die Stadt Essen ist das Orchester zweifellos ein Kulturbotschafter erster Güte.

 




Wenn ungeheure Wassermassen aus den Wänden brechen – „Evolution“ als grandiose Vision bei der Ruhrtriennnale

Probenbild der Produktion „Evolution" (Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker)

Probenbild der Produktion „Evolution“ (Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker)

Eine Produktion der Ruhrtriennale in Kooperation mit dem Proton Theater Budapest ist der Höhepunkt des diesjährigen Festivals, wenn nicht gar ein Glanzlicht des seit 2003 stattfindenden Festes in ehemaligen Räumen der Industrie überhaupt. „Evolution“ ist auch ein positives Beispiel für die nicht austauschbare Nutzung der Jahrhunderthalle in Bochum.

Die Inszenierung wurde von Kornél Mundruczó auf der Grundlage von György Ligetis „Requiem“ für Sopran solo, Mezzosopran solo, gemischten Chor und Orchester (Uraufführung: 1963/65) erarbeitet und ist wahrlich ein visionärer Geniestreich. Mundruczó, Jahrgang 1975, gehörte seit Anfang der 2000er zur freien Szene Budapests. Ich sah seine ersten Inszenierungen in Leerständen und anderen Behelfsbühnen. Nach seinen Erfolgen beim Filmfestival in Cannes wurde er quasi über Nacht berühmt und inszenierte dann u.a. Hamburg und Hannover. Seit 2009 arbeitet er immer mit der von ihm gegründeten, unabhängigen Theaterkompanie Proton Theater aus Budapest zusammen, die auch diesen Abend darstellerisch prägt.

„Evolution“ ist dreigeteilt. Teil 1 („Éva“) zeigt, wie drei Männer mit Eimern einen Raum betreten, eine verlassene Gaskammer. Ihre Aufgabe ist es, diesen Raum zu reinigen, von Vergangenem zu befreien. Es misslingt. Stattdessen ziehen sie aus allen Ritzen und Ausgüssen Abflussschnodder heraus, der aussieht wie lange Haarsträhnen, manchmal gar wie Perücken.  Im Hintergrund verstärkt die Musik Ligetis die Szene. Unter der Leitung von Steven Sloane wird auf hohem Niveau musiziert. Der mächtige imposante Chorgesang ertönt vom Staatschor Latvija (Lettland) unter der Leitung von Maris Sirmais. Allein das Umschlagen der Notenseiten hat etwas Unheimliches. Das Requiem ist in dieser Form, in diesem Zusammenhang mit Mundruczós Inszenierung zu einer Einheit geworden.

Ein Baby schreit. Die drei Männer finden es unter einem Gitter. Aus allen Untergründen sprudelt Wasser. Durch die Bögen schreiten die drei mit dem Baby „Éva“ in die Zukunft.

Weitere Impression aus der Inszenierung. (Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker)

Weiteres Szenenbild der Inszenierung. (Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker)

Es folgt eine von Kata Wéber für die Inszenierung geschriebene Theaterszene. Anderer Stil – andere Ästhetik. „Léna“ ist der Titel von Teil 2. Spielort ist eine Küchenwohnung. Dort wohnt sie, die in einem Konzentrationslager (Auschwitz) geboren wurde, das Baby aus Teil 1. Links und rechts sieht man Kamera-Close-Ups aus dem Zimmer. Es erscheint ihre Tochter. Die beiden (großartig gespielt von Lili Monori und Annamária Láng) wollten eigentlich zu einer Preisverleihung gehen, bei der die alte Frau geehrt werden soll. Éva will nicht, sie scheint bereits ein wenig tüdelig. Es kommt es zu einer Aussprache zwischen Mutter und Tochter, die realistisch gespielt zeigt, wie sich Wunden über Generationen wiederholen. Es gibt keinen Ausweg. Leben steckt in einer Wiederholungsschleife. Am Ende brechen auch hier ungeheure Wassermassen aus den Wänden, der Decke und den Schränken hervor, ein Bild, das man von Bill Violas Video „Electronic Renaissance“ kennt. Ungeheuerlich.

Es folgt Teil 3 – „Jonas“. Am Bühnenrand schaut ein Junge auf sein Smartphone. Die Leinwand zeigt Chats mit allem, was „so läuft“. Die Wand zur Zukunft öffnet sich. Nun sehen wir 13 Kinder an der Rampe und im Hintergrund tut sich ein Bild auf, dass unvergesslich ist. Mit Hilfe von Lasertechnik betreten wir virtuellen Raum. Von fern treten zwei Frauen näher, dann der Chor, unendliche Weite und Tiefe. Kurz bevor sie auf die Gegenwart treffen, driften die Menschen ab, verschwinden im Vielleicht der Zukunft.

Weitere Aufführungen vom 12. bis 14. September (20.30 Uhr) in der Jahrhunderthalle Bochum. www.ruhrtriennale.de




Opernsommer in Italien: Verdis „Aida“ als Spektakel mit hohem Schauwert in der Arena di Verona

Der Sieger: Carlo Ventre als Radamès am 25. August in der Arena von Verona. ©Foto: Ennevi/Fondazione Arena di Verona.

Der Sieger: Carlo Ventre als Radamès am 25. August in der Arena von Verona. ©Foto: Ennevi/Fondazione Arena di Verona.

Ein privates Leben ohne politische Karriere kann sich Radamès nicht vorstellen: Den Sieg im Krieg setzt er in seiner Fantasie voraus, um mit Aida glücklich zu werden: Rückkehr mit Lorbeerkranz und dann einen Thron nahe an der Sonne. Das ist er, der ägyptische Ehrgeizling, der seine Flucht in die Wüste nicht durchzieht, der für sein politisches Versagen aber konsequent einsteht: Die Ehre ist gerettet um den Preis des Lebens.

Dass beiden sich dann im Grab ein jenseitiger Himmel der Liebe erschließt, ist Aidas Verdienst. Die andere starke Frau dieser Geschichte, Amneris, bleibt einsam zurück, ist das eigentliche Opfer der verderblichen Konstellation. Ihr bleiben die Trauer und der Blick auf den Tod: Frieden erbittet sie – und ihr letztes Wort „pace“ schwebt über dem Pianissimo-Schluss der Oper.

Giuseppe Verdi hat in „Aida“ das Erbe Meyerbeers und seiner früheren Opern „I Vespri Siciliani“ und „Don Carlo“ weitergeführt: Der Kontrast intimer, kammerspielartiger privater Szenen und der gewaltigen Tableaus verschränkt das Politische und das Private szenisch und musikalisch. Für die Regie eine schwer zu lösende Aufgabe, die zu ungewöhnlichen Lösungen geführt hat, beginnend mit Hans Neuenfels‘ Aufsehen erregender Frankfurt Inszenierung in der Ära Michael Gielen vor fast 40 Jahren.

Seit 1913 über 700 Vorstellungen von „Aida“

Vor der Vorstellung: Arena-Besucher stärken sich in der Bars und Restaurants der Piazza Brá. Foto: Häußner

Für die Arena di Verona gehört Verdis Meisterwerk zum Gründungsmythos: 1913 war „Aida“ die erste dort inszenierte Oper mit inzwischen über 700 Vorstellungen. Ein Grund dafür ist der Schauwert vor allem des Tempel- und des Triumphbildes im ersten und zweiten Akts mit ihrer riesigen Chor- und Statistenparade. Seit 1980 gab es nur eine einzige Saison ohne dieses Zugpferd. In diesem Jahr zeigt man wieder die Rekonstruktion der ersten „Aida“ des Jahres 1913 – ein Höhepunkt des kulinarisch orientierten Historismus, eine ungebrochen der Bewunderung preisgegebene bunte Ägypten-Welt der Belle Èpoque.

Hier schreiten die Scharen des Pharaos über die riesige Bühne, flankiert von den monumentalen bemalten Säulen, die an Abu Simbel oder Luxor erinnern. Aida ist nicht die mit dem Putzeimer bewehrte Dienstbotin im vornehmen Großbürgerhaushalt wie weiland bei Neuenfels, sondern steckt im ägyptisierenden Modellkleid. Auf dem Höhepunkt ziehen weiße Pferde ein und Radamès, der Sieger, rollt auf einem voluminösen Thron heran. Selbst die äthiopischen Gefangenen sind sauber und ästhetisch gewandet; ihr unerkannter König Amonasro trägt ein farbenfrohes Kostüm, wie man es damals einem „Neger“-Fürsten für angemessen hielt.

Nur als das Ballett im attraktiven Kontrast von Gold und Schokoladenfarbe über die Bühne hüpft, regt sich leichte Heiterkeit im Publikum, wiewohl Susanna Egri in ihrer Choreografie wohl nicht die Absicht hatte, die Naivität von 1913 ironisch zu brechen. Und als aufklärungswilliger Mitteleuropäer von heute fragt man sich, wann wohl die erste Dekolonialisierungsgruppe ein Verbot dieser fröhlich-unbekümmerten Reprise vergangener Zeiten fordert.

Die Sänger müssen die Szenen mit Spannung erfüllen

Soia Hernández (Aida) und Batral Chuluunbaatar (Amonasro) am 25. August in der Arena di Verona. Foto: Ennevi/Fondazione Arena di Verona.

Soia Hernández (Aida) und Mario Cassi (Amonasro) am 25. August in der Arena di Verona. Foto: Ennevi/Fondazione Arena di Verona.

Da sich Gianfranco de Bosio in seiner Regie auf erhabenes Schreiten, Zeitlupenbewegungen der Körper und das – gekonnte – Arrangement der Chor- und Statistenmassen beschränkt, liegt es an den Sängern, die Szenen mit Spannung zu erfüllen. Punktuell gelingt das, etwa wenn sich im dritten Akt Aida und ihr Vater Amonasro treffen und der König seine Tochter zur Spionage einsetzen will. In diesem Moment bricht bei Saioa Hernández die seelische Erregung und der ausweglose innere Konflikt in der Interaktion durch, und der hervorragend disponierte Mario Cassi – ein Sänger, dessen Namen man sich merken sollte – weckt den ambivalenten Charakter seiner Rolle aus den Schemata der Arena-Gestik auf zu unmittelbarem, packenden Leben.

Cassi war der eindrucksvollste stimmliche Gestalter in der Solistentruppe dieses nur mäßig besuchten Arena-Abends: ein klarer, unverkrampft timbrierter Bariton, dramatisch ohne tour der force oder heftiges Vibrato, fähig zu dynamisch beweglichem Agieren und zu sorgfältig abschattierten Farben. Einen günstigen Eindruck hinterließ auch Carlo Ventre als Radamès, der noch in seiner Einstandsarie schwerfällig artikulierte und das fette Forte kaum verließ: Hauptsache, das b am Schluss sitzt und strahlt. Im Lauf des Abends jedoch sang er zunehmend flexibel und glänzte im Finale mit einem leuchtenden Mezzoforte, das die visionäre Entrückung der Musik im Klang der Stimme einholt. Seine Partnerin Saioa Hernández tat es ihm gleich und brillierte mit schimmernd lasiertem Sopran, nachdem sie sich in „Ritorna vincitor“ noch allein auf eine sicher positionierte, bisweilen stark vibratogesättigte und somit intonationsunscharfe Stimme gestützt hatte. Auch in „Qui Radamès verrà … O patria mia …“ vermisste man einen locker geführten Ton; die Höhe erreicht Hernández jedoch ohne spürbare Mühe.

Seelenzustände in flammenden Tönen

Judit Kutasi, die viel an der Deutschen Oper in Berlin singt, hatte als Amneris nach unerfreulichem Beginn ihren Höhepunkt im vierten Akt, als die verwöhnte Pharaonentochter erkennen muss, dass sie dem Entschluss von Radamès, den sicheren Tod in Kauf zu nehmen, aber auch der finster starren Macht der Priester ohnmächtig gegenübersteht. In diesen Momenten explosiver Wut und glühender Verzweiflung überwindet die Sängerin den eindimensional auf Größe und Wucht getrimmten, heftig vibrierenden, psychologisch kaum gestaltungsfähigen Ton ihrer ersten Auftritte und drückt den Seelenzustand ihrer Figur in frischen, flammenden Farben aus.

Die monumentale Szenerie, der Bühne von 1913 nachgebaut, entspricht dem Bild des antiken Ägypten in der Belle Èpoque. ©Foto Ennevi/Fondazione Arena di Verona.

Die monumentale Szenerie, der Bühne von 1913 nachgebaut, entspricht dem Bild des antiken Ägypten in der Belle Èpoque. ©Foto Ennevi/Fondazione Arena di Verona.

Bemerkenswert markant und sicher ist Carlo Bosi in den wenigen Sätzen des Boten. Gianluca Breda setzt als Ramfis auf einen bronzen dröhnenden Klang, Krzysztof Bączyk gibt einen noblen König. Der Chor Vito Lombardis bewältigt die Probleme, die sich aus den Distanzen der Bühne ergeben, mit gewohnter Selbstsicherheit; in der zweiten Szene des ersten Akts, im Tempel, gelingen dem Herrenchor leuchtende Pianissimi, berückender als alle Chorgewalt der Tableaus.

Francesco Ivan Ciampa will das Orchester davor bewahren, vordergründig und plakativ zu spielen, was an den meisten Stellen gelingt, an denen statt des Geschmetters des Triumphbildes die Finessen in der Balance und der Bildung des Klangs entscheidend sind. Hin und wieder setzt die schiere Größe der Arena solchem Streben Grenzen: Die Einleitung zum Nilakt mit ihren zarten Streichern verweht, die tiefen Streicher haben im Duett Aida-Amonasro zu wenig Gewicht; auch die Holzbläser haben es bisweilen schwer, sich durchzusetzen. Ciampa sollte auf einen „sonoren“ Ton auch im Piano achten.

Das 98. Festival beginnt am 13. Juni 2020 und bringt nach 14 Jahren wieder einmal die beiden unverwüstlichen Zwillinge „Cavalleria rusticana“ und „I Pagliacci“ auf die Arena-Bühne, dazu Puccinis „Turandot“ sowie die Verdi-Klassiker „Aida“, „Nabucco“ und „La Traviata“.

 




„Everything that happened and would happen“ – bei der Triennale zeigt Heiner Goebbels ein Theater der Versatzstücke

Licht und Schatten, hell und dunkel. Szene aus Heiner Goebbels‘ neuer Produktion. Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker/Ruhrtriennale

Heiner Goebbels gibt sich generös. Er wolle es gar nicht erst versuchen, mit seiner neuen Arbeit eine Botschaft zu vermitteln. Vielmehr habe er einen Raum mit Bildern, Worten und Geräuschen geschaffen, der das Publikum zu freier Imagination und Reflektion einladen soll. Doch das hehre Ansinnen erzeugt nur Ratlosigkeit: Goebbels’ Gesamtkunstwerk namens „Everything that happened and would happen“ entpuppt sich als kryptische theatralische Installation, als ein ziemlich beziehungsloses Konglomerat aus Musik, Licht, Performance, Sprache, Objekten und Filmen.

Die Produktion wurde 2018 in Manchester erstmals herausgebracht, nun hat die Ruhrtriennale das Werk als Deutsche Erstaufführung ins Programm genommen. Goebbels gibt in Bochums Jahrhunderthalle erneut den Sucher nach ungewöhnlichen Formen des Theatralischen, sieht die leere Spielfläche als Experimentallabor, wie er es schon während seiner Triennale-Intendanz (2012-2014) oft getan hat. Herausgekommen ist diesmal eine arge Zumutung fürs Publikum, eine Aufführung, die vor allem die große Verstörung in sich trägt.

Schon der Titel allein, ins Deutsche übersetzt „Alles was geschehen ist und geschehen würde“, scheint erschaffen aus dem Nebel des Unkonkreten. Etwas Kontur gewinnt diese Sentenz erst mit dem Blick auf die Textquelle, die Goebbels zum Ausgangspunkt seiner Produktion macht, Patrik Ouredniks Roman „Europeana – Eine kurze Geschichte Europas im 20. Jahrhundert“. Darin vermeidet der tschechische Autor allerdings jegliche Ansätze der linearen Geschichtsschreibung, setzt vielmehr Fakten neben Anekdoten, springt von der Pariser Weltausstellung (1900) zum Leben der Soldaten in den Schützengräben, listet Meinungen zum Berliner Holocaust-Mahnmal auf, oder beschreibt wie in einem Ritual, dass jemand zu irgendeinem Thema gerade irgendetwas sagt.

Tanz der Requisiten. Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker/Ruhrtriennale

Es ist ein wild zusammengewürfelter, überkomplexer Text, aus dem Goebbels verschiedene Passagen lesen lässt, das Ganze mit rätselhaften Bildern kombiniert. Angereichert wird diese Flut optischer Reize bisweilen mit „No comment“-Einspielungen des Senders Euronews. Kommentarlos flimmern aktuelle Szenen aus allen Winkeln der Welt vor unseren Augen, Szenen von Menschen in der Masse, die demonstriert, die versunken ist in religiösen oder volkstümlichen Ritualen. Auf der Spielfläche werden unterdessen diverse Kisten, Kästen, Säulen, Rohre oder riesige, meist zerfetzte Tücher in undurchschaubarer Choreographie bewegt. Derweil diverse Musiker, mit ihrem Instrumentarium im Raum verteilt auf kleine Inseln der Klangerzeugung, eine hochdifferenzierte Geräusch-Kulisse auffächern.

Am Ende nur Nebel, Rauch und Zerstörung. Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker/Ruhrtriennale

So entfaltet sich vor uns ein Theater ohne Schauspieler oder Sänger, in einer Atmosphäre, die die Bühne als Werkstätte begreift, wo Arbeiter Requisiten zu immer neuen, üppigen Tableaus formen. Heiner Goebbels mag dem Publikum jegliche Assoziationsfreiheit gestatten, doch liegt der Gedanke an eine Dystopie wohl nicht ganz fern. Schon weil sich die Musik am Ende in einen schier unerträglich lauten Klangflächenschrei hineinsteigert. Und weil das Schlussbild einer verwüsteten Fläche gleichkommt, nichts von friedvoller Idylle hat.

Goebbels’ Generosität, formuliert im Programmheft zu dieser Produktion,  ist ein Trick. Sein Theater der Versatzstücke stiftet vor allem Verwirrung. Und während wir noch rätseln, ist alles bereitet fürs große Katastrophenszenario. Kein Wunder, dass manche dies mit kräftigen Buhrufen quittieren. Im Theater, so scheint’s, ist die Hoffnung und das Gute und Schöne endgültig ausgesperrt.

Weitere Aufführung am heutigen 26. August, 21 Uhr (ausverkauft)




„Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend“ – Christoph Marthaler mahnt auf die stille und behutsame Art

Szenenbild aus „Nach den letzten Tagen..." (Foto: Matthias Horn)

Szenenbild aus „Nach den letzten Tagen…“ (Foto: Matthias Horn)

Wieder gibt es Gott sei Dank eine neue Inszenierung des Meisters des Abwartens, Christoph Marthaler, der Chefregisseur sozusagen der Ruhrtriennale unter Stefanie Carp. Er wird uns hoffentlich auch danach mit Schöpfungen beschenken.

„Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend“ ist die wohl trübsinnigste Kreation von Marthaler. Sie „spielt“ im Auditorium Maximum der Universität Bochum (die per Navi zu finden geradezu ins Leere führt).

Die Zuschauertribünen auf einer Seite ist der Ort des Geschehens, eine Art Abgeordneten-Plenarsaal, in dem sich 11 Damen und Herren einsam oder mal als Gruppe äußern. Sicht- und spürbare Leere ringsum. Seitlich befindet sich – fast versteckt – das kleine Orchester, das dann den Abend prägt.

Originaltexte von Rechtsgerichteten

Die exzellenten Darsteller sprechen leise und bedrohlich unterkühlt die Texte, die zumeist aus Originalreden von rechts-gerichteten Abgeordneten und sonstigen Menschen stammen, die meinten und oft immer noch meinen, alles Unglück käme von den Juden. Nach einer ausführlichen Abhandlung inklusive eigener Erfahrungen mit dem Begriff „Neger“, folgt als Antwort ein Jodelsolo am Rednerpult.

Klar ist, dass dies ein behutsamer Abend ist. Aktionsverwöhnte werden eher in ein Fragezeichenkoma versetzt. Auch sind die Texte nun vielen nicht ganz unbekannt und sicherlich ist diese direkte Art, uns zu sagen: „Achtung! Wehret den Anfängen!“ ein bisschen platt. Wenn es nicht so still wäre, könnte man sagen: Agitprop. Aber sicher erschrickt der eine oder andere und erwischt sich dabei, manche Idee, manchen Satz mit einem gedachten „Ja genau!“ zu begleiten. „Ach herrje, was denke ich denn da?“

Weiteres Szenenbild (Foto: Matthias Horn)

Verantwortlich zeichnen Christoph Marthaler, Uli Fussenegger, Stefanie Carp, Duri Bischoff, Sarah Schittek, Phoenix (Andreas Hofer) gemeinsam. Das Ganze ist wieder mal ein Gesamt-Kunstwerk, gewidmet den Komponisten Pavel Haas, Viktor Ullmann, Alexandre Tansman, Józef Koffler, Erwin Schulhoff, Szymon Laks und Fritz Kreisler. Sie wurden deportiert, ermordet oder gingen in die Emigration.

Weitere Aufführungen: 29.8. bis 1.9.2019 im Auditorium Maximum der Ruhr-Universität Bochum.
Informationen hier




„All the good“: Das Lebensbild von Jan Lauwers als theatrale Kopfreise bei der Ruhrtriennale

Foto: Maarten Vanden Abeele

Szene aus „All the good“ (Foto: Maarten Vanden Abeele)

„,All the good‘ ist eine Chronik von Verlust und Hoffnung“, so sagt es die Ankündigung dieses Ruhrtriennale-Abends in der Maschinenhalle in Gladbeck-Zweckel, einem abgelegenen und dadurch anziehenden Ort für große Bühnenversuche.

Wir sehen das Resümee des Theaterkünstlers Jan Lauwers, der seine Needcompany samt Familie auf die Reise schickt, das bilderreiche Leben auf Teufel komm raus abzubilden und in eine theatrale Form zu bringen. Hier wird mit der Kunst gerungen.

„All the good“ ist eine internationale Koproduktion, an der sich u.a. das Zürcher Theater Spektakel, das Teatro Central de Sevilla, das Kaaitheater in Brüssel, das Toneelhuis Antwerpen und zahlreiche andere beteiligt haben.

Draußen zeugt schon der imposante Tieflader der Needcompany von Größe und Wichtigkeit. Jan Lauwers war und ist einer der Stars des „Freien Theaters“ seit Jahrzehnten, ein eigenwilliger Kreateur, der macht, was ihm in den Sinn kommt – und das ist in diesem Fall ziemlich viel. Manches erinnert an die Hochzeit des belgischen Theaters in Europa und weltweit, Ende der 90er, Anfang der 2000er.

Das Ensemble vereinigt Künstler verschiedener Genres. Die Musik spielt eine große Rolle und ist herausragend zu nennen. Der Cellist Simon Lenski ist maßgeblich verantwortlich. Die Musik insgesamt stammt von Maarten Seghers, der ebenso – wie alle anderen – als Performer in dieser „Familientragödie“ zur Geltung kommt.

Jan Lauwers (Foto: Maarten Vanden Abeele)

Jan Lauwers (Foto: Maarten Vanden Abeele)

Das Auge hat in den zwei Stunden viel zu tun. Versatzstücke werden verschoben und unterschiedlich eingesetzt. Im Mittelpunkt steht eine Skulptur aus Glasbeuteln, die (und hier wieder die Kunstproblematik „Ist das Kunst oder kann das weg?“) auch wie ein umgekippter Weihnachtsbaum anmutet. Darüber verzweifelt der Künstler Benoît Gob, der hier den Künstler Jan Lauwers spielt.

Allein Gobs Stimme ist den Besuch dieser Aufführung wert, die an manchen Stellen drastisch auf die nackte Pauke haut, indem eine gespielte Vergewaltigung gespielt wird, die Vagina per Minikamera untersucht wird und so dem einen oder anderen Zuschauer übel aufgestoßen ist. Einige verließen den Saal, ungeübte Zuschauer, denn diese Etüden des freien Theaters sind aufgewärmt. Aber man verweist eben auch auf Marina Abramovic, sowie es auch sonst allerlei Verweise gibt.

Besondere Szenen sind die, wo die Musik in eine gemeinsame Choreografie hineinführt, die der Tänzer Elik Niv prägt, der ebenfalls mit großen Namen bereits kooperierte wie Susanne Linke, Sascha Waltz oder Constanza Macras. Seine Biografie erstaunlich und ist auch Jan Lauwers einen Mittelpunkt seiner Inszenierung wert. Er war israelischer Elitesoldat und Kriegsveteran, bevor er eine Karriere als Tänzer startete.

Es ist eine zwiespältige Produktion, die manche ratlos macht, andere über die kreative Kraft der Macher zum Staunen bringt. Aber so ist das im freien Spiel der freien Kräfte, die dann aber doch etwas zu eitel daherkommen.

Weitere Aufführungen am 6. Und 7. September in der Maschinenhalle in Gladbeck-Zweckel. Infos hier




Blickrichtung rückwärts – Ruhrtriennale 2019 mit groß angelegter Multimedia-Produktion von Heiner Goebbels

Szene aus Christoph Marthalers Audimax-Inszenierung „Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend“ (Foto: Matthias Horn/Ruhrtriennale)

Bestimmt ist das völlig ungerecht, aber Assoziationen machen ja, was sie wollen: Wenn Stefanie Carp die Produktion „Everything That Happened and Would Happen“ von Heiner Goebbels erläutert, wandern die Gedanken zu Thomas Bernhard und seinem „Theatermacher“, der in Utzbach, wo man tot nicht überm Zaun hängen möchte, sein Stück „Das Rad der Geschichte“ herausbringen will.

Intendantin Stefanie Carp bei der Auftakt-Pressekonferenz der Ruhrtriennale 2019 (Foto: Daniel Sadrowski/Ruhrtriennale)

Anders als er jedoch beginnt Heiner Goebbels, der auch Ruhrtriennale-Intendant der Jahre 2012 bis 2014 war, mit dem 1. Weltkrieg und nicht schon irgendwo in der Antike. Aber dann werden Mittel nicht und Wege gescheut, das Elend der letzten 100 Jahre in einer „neuen, großformatigen Arbeit“ auf die Bühne zu stellen, „in der Musik, Licht, Performance, Sprache, Objekte und Filme zu einer multimedialen Installation vereint sind“. Als die drei wesentlichen „Inspirationsquellen“ werden erstens der Text „Europeana“ des tschechischen Autors Patrik Ourednik genannt, zum Zweiten das Bühnenbild aus Goebbels’ Inszenierung von John Cages „Anti-Oper“ „Europeras 1 & 2“ (Ruhrfestspiele 2012) und zum Dritten unkommentierte, tagesaktuelle Nachrichtenbilder des Fernsehsenders Euronews.

Projekt macht neugierig

Schließlich erwähnt seien 17 Bühnenkünstler beiderlei Geschlechts, und mit einer solchen Mannschaft ist Goebbels dem Theatermacher Bruscon natürlich haushoch überlegen. Doch Scherz beiseite: Wenn Goebbels auch nicht so gefeiert wurde wie seine Vorgänger Flimm, Mortier und, mit Abstrichen, Decker, so hat er doch als Triennale-Intendant etliche sehr bemerkenswerte Produktionen zur Aufführung gebracht, aus eigener, wenn man so sagen darf, wie auch aus fremder Feder. Man muß gespannt sein, was zwischen dem 23. und dem 26. August in der Bochumer Jahrhunderthalle abgeht. Anders gesagt: Das Goebbels-Projekt macht neugierig, anders als viele andere Produktionen der diesjährigen Triennale.

Von Jan Lauwers stammt das Stück „All the Good“ (Foto: Phile Deprez/Ruhrtriennale)

Musik bis zuletzt

Gewiß, bei Christoph Marthaler wird es wieder sehr schön werden, elegisch, stimmig und traurig, auch wenn sein Spielort diesmal das Audimax der Bochumer Universität ist. Hier werden Kompositionen von aus Prag und Wien von den Nazis vertriebenen Komponisten zu hören sein, die emigrieren mußten, ermordet wurden, im Konzentrationslager Theresienstadt landeten. Hier, in Theresienstadt, fand eine schauerliche Musikproduktion statt, verzweifelt wurde musiziert und komponiert bis zum letzten Moment, der für viele der Abtransport nach Auschwitz war. Vieles blieb Fragment, in den Kapellen spielte zusammen, was nach der klassischen Lehre nicht zusammengehörte. Und doch entstand – auch – Schönheit.

Das Weltparlament schaut zu

In Marthalers Einrichtung ist das Audimax ein imaginiertes Weltparlament, das Rückblick hält auf die Zerstörungen des vergangenen Jahrhunderts. So lesen wir es in den Ankündigungen, so erfahren wir es von Stefanie Carp im Pressetermin, und sogar ohne Videoeinspieler haben wir eine Vorstellung davon, wie es wohl werden wird „Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend“ (Titel der Produktion).

Auf einen schönen Abend darf sich freuen, wer Karten für György Ligetis Requiem  hat, das zwischen dem 5. und dem 14. September sechsmal zu hören sein wird; Steven Sloane dirigiert die Bochumer Symphoniker, die freie Theatergruppe Proton Theater und der Staatschor Latvija wirken überdies in „Evolution“ mit.

Manchmal auch bunt. Ebony Bones macht genreübergreifende Musik (Foto: Antonello Trio_1984 Recordings Ltd./Ruhrtriennale)

Autobiographisches Erzählen

„All the Good“ heißt das Stück von Jan Lauwers und der Needcompany, das das „autobiographische Erzählen“ pflegt und dessen Protagonist der ehemalige israelische Elitesoldat Elik Niv ist, der Tänzer wurde. Eine Chronik von Verlust und Hoffnung wird angekündigt, grundiert vom Terror in der Welt und der Kraft des Alltäglichen.

Es gibt, wie immer, Tanz, Schauspiel und Musiktheater, Angebote für Jugendliche, Installationen. 164 Veranstaltungen sind angesetzt, 35 Produktionen und Projekte, davon 16 Eigen- und Koproduktionen. Mehr als 800 Künstler und Künstlerinnen aus 35 Ländern wirken mit.

Enger Themenkanon

Alle würden sie wohl für sich in Anspruch nehmen, mit ihrer Kunst an den radikalen Rändern unterwegs zu sein, sie gar zwangsläufig oder absichtsvoll zu überschreiten. Doch drängt sich auch ein etwas lähmender Eindruck von Gleichförmigkeit auf, oder sagen wir lieber, falls es das Wort denn gäbe: Ähnlichförmigkeit. Gewalt, Emanzipation, Solidarität sind Schlüsselbegriffe des Themenkanons, ebenso Sexismus, Rassismus, Diskriminierung aller Art. Im Vergleich zu den Ruhrfestspielen, wenn der  einmal gestattet sei, wirkt die Blickrichtung stärker rückwärtsgewandt und etwas allgemeiner.

Das ungeliebte Festival

Verkauft sind derzeit, ist zu erfahren, mehr als 50 Prozent der Karten. Damit sei man „zufrieden“, doch Begeisterung sieht anders aus. Allerdings hat die Ruhrtriennale auch mit der völlig absurden Situation zu kämpfen, daß sie als Landesfestival von der Landesregierung ignoriert wird. Stefanie Carp hatte, wie bekannt, in ihrem ersten Jahr eine israelkritische Künstlergruppe engagiert, die sich bei BDS („Boycott, Divestment and Sanctions“) engagierte. Es folgten, kurz gesagt, einige wenig souveräne Diskussionen, und seitdem herrscht Funkstille. Keine gute Situation.

Der Gigantenfries erklingt

Doch enden wir mit einer Installation, auf die man besonders gespannt sein kann: In der Bochumer Turbinenhalle baut Cevdet Erek „Bergama Stereo“ auf, was nichts weniger ist als, stilisiert, der in Berlin befindliche Pergamon-Altar im Maßstab 1:2. Den berühmten Gigantenfries dieses Monuments hat er durch eine Klanginstallation ersetzt, 34 Lautsprecher machen das Relief zu einem Klangerlebnis. Im kultigen Berliner Club „Berghain“ soll es Vergleichbares geben. Zweimal trommelt der Chef selbst, sonst machen andere Programm. Übrigens ist Bergama das türkische Wort für Pergamon, und gleich im Anschluß an die Bochumer Präsentation wird „Bergama Stereo“ im Hamburger Bahnhof in Berlin aufgebaut.




Erlösung ist möglich: Tobias Kratzer lässt in seinem erfrischenden Bayreuther „Tannhäuser“ Raum für die Hoffnung

Dieses Foto von Enrico Nawrath prägt sich ins Gedächtnis ein und könnte einmal repräsentativ für Tobias Kratzers Bayreuther Neuinszenierung des "Tannhäuser" stehen: Stephen Gould als Tannhäuser und Elena Zhidkova als Venus. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Dieses Foto von Enrico Nawrath prägt sich ins Gedächtnis ein und könnte einmal repräsentativ für Tobias Kratzers Bayreuther Neuinszenierung des „Tannhäuser“ stehen: Stephen Gould als Tannhäuser und Elena Zhidkova als Venus. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Muss Erlösung scheitern? In Richard Wagners „Tannhäuser“ in der erfrischend neuen und schlüssigen Inszenierung von Tobias Kratzer in Bayreuth bleibt die Frage weniger offen als andernorts.

Während Tannhäuser und Wolfram von Eschenbach die blutbefleckte Leiche Elisabeths in ihren Armen bergen, öffnet sich auf einer zweiten Ebene ein neuer Horizont. Zu den Erlösungsgesängen des Fernchores ist ein Video zu sehen, das in seiner Ambivalenz zwischen Kitsch und Pathos eine Alternative, eine Utopie oder zumindest eine Hoffnung zulässt. Happy End ist möglich, „Erlösung ward der Welt zuteil“ nicht ausgeschlossen.

Regisseur Tobias Kratzer. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele 2019

Regisseur Tobias Kratzer. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele 2019

Damit unterscheidet sich Tobias Kratzers so sinnlich einnehmende wie gedanklich durchdrungene Arbeit von vielen Inszenierungen, deren Regisseure mit Wagners Erlösungsthema wenig anzufangen wissen. Kratzer sieht das Reich der Venus auch nicht wie üblich als Totalentgrenzung des Sexuellen. Das Thema hält er zu Recht für abgearbeitet. Sondern er definiert es viel entschiedener gesellschaftlich: Tannhäuser ist mit einer Gruppe von Außenseitern unterwegs, die körperlich, sexuell, in ihrer Lebensform und im künstlerischen Selbstausdruck „anders“ sind: Ein Kleinwüchsiger und eine schwarze Drag Queen gehören dazu.

Verbunden durch Lebenslust und Lebensgier scheitern die modernen Nomaden schon in der Ouvertüre, als es einen Toten gibt: Bei Benzinklau und Zechprellerei erwischt, überfährt Venus mit ihrem alten Citroën-Kastenwagen – eine Anspielung auf die Performance-Künstlerin Marina Abramović – einen Polizisten.

Das traurige Gesicht des Clowns

Das ist für Tannhäuser „zu viel, zu viel“. Der Sänger im Narrengewand wendet sich von der Truppe ab: Die Tränen im traurigen Gesicht des Clowns, in Großaufnahme auf die Projektionswand der Bühne geworfen, ist unvergesslich – der erste von vielen ergreifenden Momenten. Hinter ihm erscheint eine Ikone der Kunst, die „Venus“ von Sandro Botticelli: die Göttin – ein bloß projiziertes Ideal. Mit einer ähnlichen Bildmetapher brechen Kratzer und sein Bühnengestalter Rainer Sellmaier auch die Begriffe von Romantik und Erlösung auf: Das Zitat von Caspar David Friedrichs „Das Kreuz im Gebirge“ rechnet mit dem Ideal der Romantik ab, rückt christliche Erlösungshoffnung gleichzeitig nahe und in weite Ferne.

In der Premiere ausgebuht, später gefeiert: Le Gateau Chocolat. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

In der Premiere ausgebuht, später gefeiert: Le Gateau Chocolat. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Das bis dahin so humorvolle, leichtgängige, schwerelose Roadmovie endet auf einem Parkplatz mit Märchenland-Plunder: Ein niedliches Wetterhäuschen, aus dem Frau Holle ihr Bett ausschüttelt und vor dem der Kleinwüchsige, der das Aussehen der Protestfigur Oskar Matzerath aus Günter Grass‘ „Blechtrommel“ angenommen hat, mit der kitschigen Herabwürdigung durch Gartenzwerge konfrontiert wird. Der Versuch, Tannhäuser zurückzuhalten, scheitert trotz eines märchenhaft glitzernden Lichtgespinstes, mit dem Le Gateau Chocolat – der schwarze Travestiekünstler ist in dieser Inszenierung er/sie selbst – beeindrucken will. Die mythische Fahrt endet vor dem Festspielhaus, zu dem vornehm gekleidete Besucher hetzen; eine Weihestätte der Kunstreligion.

Wagner als Mythenstifter und Revolutionär

Kratzer positioniert den Autor des „Tannhäuser“ mit solchen Bildern als Mythenstifter und als Revolutionär: Das Programmheft zitiert Texte aus der Zeit, in der Wagner in Dresden mit Bakunin sympathisierte und ethisch beflügelte Worte voll zerstörerischer Wut gegen die herrschenden Verhältnisse schleuderte. Ein Zitat daraus bringt Venus am zentralen Balkon des Festspielhauses an; es wird vorher schon von ihrer reisenden Truppe als Plakat im Märchenland geklebt: „Frei im Wollen, frei im Thun, frei im Genießen“, lautet der Wagner-Spruch von 1849, und er wirkt wie ein Motto: Venus beileibe nicht als blonde Göttin der Liebe, sondern in ihrem schillernd grüngeschuppten Kostüm eine Kreuzung aus anarchischer Schlange, subversiver Artistin und lockendem Weibchen.

Die Performance am Teich unterhalb des Festspielhauses in der ersten Pause des "Tannhäuser". Was wie ein Gag daherkommt, hat im Ganzen der Inszenierung einen präzisen Sinn. Foto: Werner Häußner

Die Performance am Teich unterhalb des Festspielhauses in der ersten Pause des „Tannhäuser“. Was wie ein Gag daherkommt, hat im Ganzen der Inszenierung einen präzisen Sinn. Foto: Werner Häußner

Der Drang zum Anderssein lebt sich zunächst in der ersten Pause in einer Performance am Teich unterhalb des Festspielhauses aus. Le Gateau Chocolat singt mit rauchig-schrägem Bass „Dich teure Halle grüß‘ ich wieder“, während Manni Laudenbach mit Wagner-Barrett in einem Boot rudert und aus vollem Halse revolutionäre Sprüche des späteren „Meisters“ kräht. Venus umschleicht das Setting, malt ihr Plakat und erkundet das hohe Haus mit dem Feldstecher, während die schräge schwarze Performancerin in einer rosa Wolke und mit einem Kitsch-Kostüm á la „Arielle die Meerjungfrau“ tanzt und plärrt.

Was wie ein grotesker Gag serviert wird, hat im Ganzen der Inszenierung einen präzisen Sinn: Erst im Video im zweiten Akt, in dem in herrlich witziger Weise die „Eroberung“ der Wartburghalle – sprich, des Festspielhauses – geschildert wird, wird klar, dass Venus ihren Überfall vorbereitet und ihre Vasallen die bevorstehende Kunst-Religions-Feier mit ihrem lustvollen Gegenprogramm konfrontieren. Noch feiert sich das „Anderssein“ in vollen Zügen. Im dritten Akt wird es damit vorbei sein: Der Citroën, mit ausgeschlachteter Motorhaube seiner Bewegungsfähigkeit beraubt, ist nur noch eine Ruine; der Zwerg reißt verächtlich von einem der so optimistisch bedruckten Plakate Papierstreifen ab und verschwindet in eindeutiger Absicht hinter dem Fahrzeug. Die Rom-Pilger sind eine Herde aufgescheuchter Menschen, und Tannhäuser kehrt langhaarig, abgewetzt und mit ein paar Plastiktüten zurück – ob aus Rom oder wer weiß woher, wird nicht mehr klar.

Hinreißende und präzise Bilder

Was in der Bayreuther Neuproduktion des Jahres 2019 also scheitert, sind Konzepte, die sich im Aussteigen wie im Beharren manifestieren. Kratzer, Sellmaier und der Videokünstler Manuel Braun zeigen das in hinreißenden, beziehungsvollen, auch ironischen Bildern, die gleichwohl nicht im Vergnügen am bloß assoziativen Zitieren, in der sinnlichen Überwältigung oder in der Visualisierung von Privatmythologien aufgehen, wie das in Frank Castorfs und Aleksandar Denićs „Ring“ die Gefahr war.

Von der ironisch getönten Dekonstruktion bleiben auch die „teure Halle“ und die wackeren Sänger nicht verschont. Sellmaier baut einen düsteren, stilisierten Wartburg-Festsaal nach, hoch an der Wand wieder ein Verweis auf das Ideal des Sängers in Form einer halb an Naumburger Stifterfiguren, halb an nazarenische Altarskulptur erinnernden Sängerplastik. Auch die Kostüme zitieren historische Vorbilder: In dieser Gesellschaft soll alles so bleiben, wie es ist; umso nachhaltiger wird sie vom Einbruch des Sinnlichkeit preisenden Tannhäusers und der Venustruppe erschüttert.

Die "teure Halle" im zweiten Akt des Bayreuther "Tannhäuser", ein vermeintlicher Hort der Beständigkeit und unveränderlicher Traditionen. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Die „teure Halle“ im zweiten Akt des Bayreuther „Tannhäuser“, ein vermeintlicher Hort der Beständigkeit und unveränderlicher Traditionen. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Gerade in solchen Momenten, in denen es aufs Detail so sehr wie auf die übergreifende Konzeption ankommt, zeigt sich die handwerkliche Stärke des 1980 geborenen Regisseurs, wie sie in anderen seiner Inszenierungen (Nürnberg: Meyerbeers „Les Huguenots“; Karlsruhe: Meyerbeers „Le Prophète“ und Wagners „Meistersinger“; Frankfurt: Meyerbeers „L’Africaine“; Berlin: Zemlinskys „Der Zwerg“) zu außerordentlichen Ergebnissen geführt hat. Das unterscheidet die diesjährige Neuinszenierung am Grünen Hügel vom „Lohengrin“ Yuval Sharons im letzten Jahr. Trifft eine versierte Regiehandschrift auf eine tragende, so komplex wie eingängig das Stück durchziehende Idee, ist das Ergebnis, wie es in Bayreuth 2019 zu bewundern ist: festspielwürdig.

Ein Fest des Vibrato

Jetzt wäre es befriedigend, die musikalische Seite in ähnlichen Worten bewundern zu können. Sicher: Das „Handwerk“ war weitgehend perfekt, das Orchester wie stets ohne Fehl und Tadel, der Chor Eberhard Friedrichs nur in zwei, drei Millisekunden nicht so traumsicher wie sonst, auch klanglich im dritten Akt nicht so geschlossen, wie es bei einer sängerfreundlicheren Aufstellung möglich wäre. Die Solisten boten weithin ein Fest des Vibrato. Elena Zhidkova als körperlich geschmeidige, umwerfend komische wie verstörende Darstellerin hielt die Amplitude ihrer Töne immer weniger unter Kontrolle, konnte im dritten Akt kaum mehr verständlich artikulieren und ersetzte durch undifferenzierte Lautstärke, was für Venus an vokaler Biegsamkeit und Färbung nötig wäre.

Stephen Gould, der in diesem Jahr am Hügel auch seine Paraderolle, den Tristan singt, lässt das Vibrato allzu breit schwingen, hat Probleme mit einer konzentrierten Fokussierung von Legato, wirkt auch in der Phrasierung und dem fiebrigen Brio von Tannhäusers Bekenntnis-Strophen im zweiten Akt holprig. Dafür bewältigt er die gefürchteten „Erbarm dich mein!“-Rufe mehr als achtbar und hat seinen gestalterischen Höhepunkt in der wortbewussten Rom-Erzählung im dritten Akt, in der er die ganze Resignation, Gebrochenheit und grelle Verzweiflung des unversühnten Erdenpilgers herausbrechen lässt.

Glänzt in der kurzen Rolle des Hirten: Katharina Konradi. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele 2019

Glänzt in der kurzen Rolle des Hirten: Katharina Konradi. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele 2019

Markus Eiche kann als Wolfram von Eschenbach für sich einnehmen. Er ist nicht der salbungsvoll entsagende Anbeter des Liebesbronnens: Die beobachtende Videokamera verfolgt seine verzweifelten Ausbrüche hinter den Kulissen, als die alte Liebe zwischen Tannhäuser und Elisabeth im Duett des zweiten Akts wieder aufkeimt. Im dritten Akt verlässt er – berechnend oder überzeugt – die gesellschaftliche Konvention der Wartburg, zieht das Narrengewand und die Perücke Tannhäusers über und erringt so, wenn vielleicht auch nicht die Seele, so wenigstens den Körper Elisabeths. Eiche singt passend zur Inszenierung seinen Wolfram nicht lyrisch verschattet, sondern präsent und viril, mit klarem Timbre und präziser Diktion. Stephen Milling prunkt als Landgraf mit einem stets abgesicherten Bass. Sehr überzeugend war Katharina Konradi in der kleinen Rolle des Hirten.

Fragen zur Jahrhundertstimme

Schon jetzt als Jahrhundertstimme gehandelt wird die Elisabeth Lise Davidsen. Rechtzeitig zum Debüt am Hügel erschien ihr erstes Doppelalbum mit Wagner- und Strauss-Aufnahmen. Die Elisabeth hatte die junge Norwegerin bereits 2019 in Zürich ausprobiert. Ein gut kalkuliertes Debüt also. In der Tat sind ihr sattfarbiges Timbre, ihre Flexibilität im Piano, ihre gewinnende Innigkeit in der zweiten und ihre strahlende Präsenz in der Hallen-Arie bemerkenswert. Aber auch sie kommt nicht ohne erhebliches Vibrato aus; außerdem scheint es, als verliere sie beim Übergang vom Piano ins Forte die Souveränität über den Atem – es klingt, als müsse sie auf die Stimme Druck ausüben. Bei aller Bewunderung für dieses Debüt sei vor allzu schnellem Hochstilisieren gewarnt.

Die Verpflichtung des internationalen Jet-Set-Dirigenten Valery Gergiev lässt sich nur als Fehlgriff qualifizieren: Selten noch spielte das Festspiel-Orchester eine so marginalisierte Rolle, selten noch brachte ein Dirigent so wenig persönliche Note ein. Sicher gab es bezaubernde lyrische Momente, öfter aber irritierend flaue Konturen. Es fehlt Tiefenschärfe, Entschiedenheit im Zugriff und spannungsvolle Steigerungen. Gergiev hat – so ist bei seinem Terminkalender zu vermuten – die Proben weitgehend seinen Assistenten überlassen. Keine Rede von der früheren „Werkstatt“ Bayreuth, in der auch ein Dirigent „seine“ Produktion von Anfang bis Ende betreute und über die erste Spielzeit hinaus am Ausdruck feilte.

Nächstes Jahr bereits wird der Düsseldorfer GMD Axel Kober den „Tannhäuser“ übernehmen; Gergiev hat das Festspielhaus in der Liste seiner berühmten Auftrittsorte abgehakt – Schluss. Dies zu beklagen, ist keine Nostalgie; bei Wolfgang Wagner hätte es das nicht gegeben. Auch deshalb mag es gut sein, dass mit dem „Ring“ 2020 ein unverbrauchter und vielleicht engagiert für und in Bayreuth arbeitender junger Dirigent, Pietari Inkinen, betraut wird. In der Premiere gab es verständliche Buhs für Gergiev und weniger verständliche für Le Gateau Chocolat; in der zweiten Vorstellung beklatschte ein enthusiastisches Publikum alle Künstler gleich begeistert.




Ernst, streng und abgeklärt: Evgeny Kissin mit reinem Beethoven-Programm beim Klavier-Festival Ruhr

Konzentration und abgeklärter Zugriff: Evgeny Kissin interpretiert Beethoven. Foto: Sven Lorenz

Evgeny Kissin galt als Wunderkind. Er selbst hat diese Bezeichnung freilich abgelehnt. Sie roch ihm zu sehr nach Drill, vordergründiger Brillanz. Und doch: Wenn ein 12Jähriger beide Chopin-Klavierkonzerte hintereinander öffentlich aufführt, wenn er damit nicht nur, ja, brilliert, sondern zugleich Zeugnis beseelter Musikalität ablegt, wenn ihm dazu technisch fast alles gelingt, kann die Bezeichnung Wunderkind nicht ganz abwegig sein.

Allerdings ist schon mancher junge Stern am Pianistenhimmel schneller als gedacht verglüht. Nicht aber Kissin: Der Russe ging seinen Weg so kontrolliert wie konzentriert, behutsam erarbeitete er sich zunächst das romantische Repertoire, gewann Schritt für Schritt an Ausdruckskraft und technischer Souveränität. Die Entwicklung mündete schließlich in der meisterhaften Beherrschung der Klangwelten eines Konzertflügels.

So fand er schnell sein Publikum in den berühmten Sälen der Welt, eroberte sich geradezu eine Fangemeinde zumeist russischsprachiger Natur. Kissin bezauberte, überwältigte, riss die Menschen schon nach den ersten Stücken von den Sitzen. Legendär sind seine Zugabenblöcke, ausufernd, kaum enden wollend, getragen von wahren Anfeuerungen aus dem Auditorium. Nun, bei aller Seriosität, ein bisschen Zirkus durfte es bei Kissin schon sein.

Ernster Blick, seriöse Aura: Kissin am Klavier. Foto: Sven Lorenz

All dies Beschriebene ist ein Blick zurück. Tritt der Pianist heute auf, umgibt ihn eine Aura von unbedingter Ernsthaftigkeit, künstlerischer Reife bis hin zur Abgeklärtheit, nicht zuletzt von Strenge. Der nunmehr 47Jährige hat alles Jungenhafte hinter sich gelassen, verlangt vom Publikum mehr als nur berauschten Taumel, verknappt die Zugaben. Entsprechend mag sich das alte Kissin-Feeling auch während seines diesjährigen Klavierfestival-Auftritts nicht mehr einstellen. Dabei spielt  freilich die Programmauswahl eine Rolle: Der Russe konzentriert sich allein auf Sonaten und Variationen Ludwig van Beethovens.

Lange hat Kissin gebraucht für die Annäherung an den Komponisten. „Beethoven fand ich viele Jahre sehr schwer“, bekannte der Pianist in einem Interview. Kein Wunder, dass er nun, in Essens Philharmonie, mit gehörigem Respekt vor dem Klassiktitanen ans Werk geht, Überzeichnungen ebenso meidet wie die große Geste. Gleichwohl wird es ein spannungsreicher Abend, bereichert durch traumschön poetische Momente. Im Wechselspiel von Klang und Motorik stößt Kissin eine Tür auf,  die den Blick freigibt auf die musikalische Romantik und Moderne.

Seien es die gravitätisch schreitenden Einleitungsakkorde der „Pathétique“ oder die sanften Arpeggien, die am Beginn der „Sturm“-Sonate aufleuchten – die Verdichtung der Klänge erinnert an nahezu impressionistische Farbspiele. Abrupte Stimmungswechsel, ausgelöst durch dynamische Eruptionen oder motorisches Hämmern, reißen uns jedoch schnell los von allem Schwelgen. Beethovens Werk ist eben geprägt von drangvoller Nervosität, nicht selten auch von energiegeladener Wucht.

Am Ende gibt’s Blumen für den Solisten und drei Zugaben fürs Publikum. Foto: Sven Lorenz

Gefordert ist ein ebenso sensibler wie kraftvoller Interpret. Der zudem das Virtuose beherrscht, ohne damit sinnfrei glänzen zu wollen. Dafür ist Kissin die richtige Adresse. Wie er die sich immer mehr verquirlenden Eroica-Variationen meistert, wie er manch improvisatorische Passage auskostet und die finale Fuge (Beethovens Verneigung vor Bach) ausdrucksvoll gestaltet, zeugt von großer Klasse.

Dabei entpuppt sich der Pianist als ökonomischer Gestalter, der auch in den teuflisch schweren Momenten der Waldstein-Sonate nie den Überblick verliert. Sauber und klar konturiert erklingen die pochenden Staccati zu Beginn, ohne Hast perlen die Figurationen. Das Adagio bekommt eine nahezu grüblerische Note, die sich auflöst im poetischen Thema des Finales. Und so sehr Kissin all die Sprünge, Trillerketten oder wuchtigen Ausbrüche dieses Rondos beherrscht, so geschmeidig, ja fast elegant formt er die Sonate als Ganzes.

Ein ungewöhnliches Hörerlebnis in einem außerordentlichen Konzert. Und am Ende gibt es dann doch den großen Jubel im ausverkauften Saal. Freilich ohne die sonst schon ritualisierte frenetische Ausgelassenheit. Kissin wiederum belässt es bei drei Zugaben. Die Abende mit ihm haben sich gewandelt. Sie sind toll, vor allem aber anspruchsvoll. Auf der Stuhlkante haben wir einst jedenfalls öfter gesessen.




Zwischen Mineralwasser-Imperium und Hambacher Forst: Jacques Offenbachs „Großherzogin von Gerolstein“ in Köln

Im Lager der gerolsteinischen Armee, die in Köln zu Besetzern des „Hambi“ mutiert sind (von links): Miljenko Turk (Baron Puck), Jennifer Larmore (Die Großherzogin), Vincent Le Texier (General Boum), umrundet von Tanzensemble und Chor der Oper Köln. Foto: Bernd Uhlig

Mit „Piff-Paff-Puff“ stellt sich der Herr vor. Es ist der Sound von Platzpatronen, aber zur Vorsicht geht man doch erst einmal in Deckung. Der Mann ist kommandierender General der großherzoglich gerolsteinischen Armee, die sich in akuten Kriegsvorbereitungen befindet. Sein Name, General Boum, ist Programm: Ein „boum“ ist nicht nur der Knall einer Kanone, sondern auch die Bezeichnung für eine nicht immer von Schlüpfrigkeiten freie Fete.

Was um alles in der Welt den französischen Regisseur Renaud Doucet geritten hat, diese ambivalente Offenbach-Figur als einen Art Öko-Turnvater-Jahn in den gelbgrünen Dress eines Senioren-Marathons zu stecken und in einem Hambi-Besetzerlager umhertappen zu lassen, ist die erste von zahlreichen Fragen, die sich mit der Neuinszenierung von Jacques Offenbachs genialer Operette „La Grande-Duchesse de Gérolstein“ in Köln verbindet. Klar: Wir sind nicht mehr in der Zeit von 1867, der militärische Zauber der Montur ist ebenso verblasst wie die unkritische gesellschaftliche Begeisterung für uniformierte Hierarchen. Auch die von der Zentralstaat-Metropole Paris aus belächelte deutsche Kleinstaaterei mit ihren wichtigtuerischen Fürsten – die sich damals gerade rund um die Weltausstellung an der Seine amüsierten – ist passé.

Aber was dann die Operettenarmee des fiktiven Eifelstaates mit der Hambi-Bewegung und dem Widerstand ökologisch beflügelter Aktivisten gegen den Braunkohleabbau zu tun haben soll, worin der Mehrwert einer Verwandlung der Großherzogin zur Herrscherin eines Mineralwasser-Imperiums bestehen soll, das bleiben uns die Herren Doucet (Regie) und Barbe (Bühne und Kostüme) schuldig. Denn der „gesellschaftskritische“ Ansatz versickert im Dekorativen, die sowieso nur mit knirschender Gewalt aufgesetzte „Aktualisierung“ zerfließt spätestens im zweiten Akt vor der goldenen Monumentalstatue eines Frosches in Belanglosigkeit. Wenig Piff-Paff und ein großes „Puff“.

Einer der besten Momente der Kölner Offenbach-Inszenierung: das Reiterballett des dritten Akts. Foto: Bernd Uhlig

Einer der besten Momente der Kölner Offenbach-Inszenierung: das Reiterballett des dritten Akts. Foto: Bernd Uhlig

Aber wer Renaud Doucet und André Barbe verpflichtet, bekommt den Stil des Teams auch. Und der zeigt in der Kölner „Großherzogin“ zum 200. Geburtstag von Jacques Offenbach genau die Schwächen, die auch bei anderen Inszenierungen der beiden auffallen: Da sind zwar Cécile Chaduteaus Choreographien flott und auf den Punkt gearbeitet – das Reiterballett im dritten Akt ist herzerwärmend putzig –, aber sie bleiben Dekor im geschickten Aufbau von Bewegungsbildern. Da wird ein Transfer in die Gegenwart versucht, bleibt aber halbherzig, weil die Begriffe unscharf sind: Am Ende landen wir mit einem schräg gestellten, üppigen Bild in Plastik-Barock und einem hübsch ausstaffierten Bett eben doch in der „guten“ alten Operettenwelt.

Unverbrüchliche Liebe unter einfachen Menschen: Soldat Fritz (Dino Lüthy) hält seinem Bauernmädchen Wanda (Emily Hindrichs) die Treue, auch als Aufstieg, Macht und aristokratische Zuneigung locken. Foto: Bernd Uhlig

Unverbrüchliche Liebe unter einfachen Menschen: Soldat Fritz (Dino Lüthy) hält seinem Bauernmädchen Wanda (Emily Hindrichs) die Treue, auch als Aufstieg, Macht und aristokratische Zuneigung locken. Foto: Bernd Uhlig

Dorthin weisen auch die Figuren, selbst wenn sie zwischen fantasievoll-opulenten Kostümen auch mal den mittlerweile üblichen blauen Banker- oder Trump-Anzug tragen wie der durchtriebene Baron Puck, bei Miljenko Turk ein eher harmloser Vertreter politischer Ibiza-Fraktionen. Dass diese Offenbach’schen Verschwörer komisch und gefährlich sind, wird nicht berücksichtigt. Stattdessen macht der orgelnd tremolierende Vincent Le Texier aus General Boum einen chargierenden Trottel, dessen Auftreten sich aus dem Repertoire überzogener Komödien-Affektiertheit bedient, ohne hintergründig, witzig oder wenigstens lustig zu sein.

Und bei allem Respekt vor der Lebensleistung von Jennifer Larmore: Die altersmilde Generosität ihrer Großherzogin holt weder die unbekümmerte Naivität der von sich selbst überzeugten Potentatin ein, noch ihre pralle erotische Energie. Doch als die Gerolsteinische First Lady dem mit ökologisch korrektem Naturhaar ausgiebig bepelzten Ex-Gefreiten Fritz – dem tenorblassen Dino Lüthy – ihre Sehnsucht nach authentischer Beziehung offenbart, gelingt der Sängerin ein berührender Moment. Offenbach, der Satiriker, der Spötter, der über den Blumen des Frivolen flatternde Schmetterling, kannte das zarte Sentiment: Er war eben auch ein Familienmensch, der den Wert von Zuneigung, Liebe und Treue zu schätzen wusste.

François-Xavier Roth lässt das Gürzenich-Orchester Köln durchaus mit der leichten Phrasierung und den pointierten Noten spielen, die der Musik ihren unverwechselbaren Esprit geben. Er überzieht auch die Tempi nicht in Richtung hastiger Eile. Es dürfte der Saal im Staatenhaus sein, dessen Akustik Transparenz, deutliche Konturen in den Bläsern und trennscharfe Bässe behindert. Für die Momente der Parodie, für das aufgeblasene Pathos der Szene mit dem „Säbel vom Papa“, für die lustvoll schaurige Verschwörungsszene bringt Roth die Lust an der sanften, aber wirksamen Übertreibung nicht mit. Die Musik klingt, als sei sie ernst gemeint.

Ein umfangreiches Festival zum 200. Geburtstag des Kölner Komponisten

Jacques Offenbach um 1870, Reproduktion Rheinisches Bildarchiv Köln

Jacques Offenbach um 1870, Reproduktion Rheinisches Bildarchiv Köln

„Piff-Paff-Puff“: Das Couplet des Generals gibt auch den Events in Köln rund um den 200. Geburtstag von Jacques Offenbach am 20. Juni das Motto. Das Jubiläum stürzt derzeit nicht nur seine Geburtsstadt in einen ausgiebigen Offenbach-Taumel. Von Argentinien bis China würdigen Opernhäuser den Jubilar mit Aufführungen – meist allerdings nur seiner bekannten Werke wie „Les Contes d’Hoffmann“ oder „Orphée aux Enfers“.

Doch der Schwerpunkt der Offenbach-Feiern liegt in Frankreich und im deutschsprachigen Raum. In Köln sind derzeit in der Volksbühne am Rudolfplatz die beiden durchgeknallten Einakter „Herr Blumenkohl gibt sich die Ehre“ und „Die Insel Tulipatan“ zu sehen – letztere eine unverständlicherweise lange Zeit unbeachtet gebliebene Parodie auf vorschnelle Zuordnung von Geschlechtern, ein passendes Thema also zur Gender-Debatte.

Ein Symposion in Köln und Paris widmet sich ab 19. Juni den Forschungsfragen rund um Offenbachs Biografie und das längst nicht erschöpfend entdeckte und bearbeitete Œuvre des „Mozart der Champs-Elysées“. Bis 27. Juni hat die Kölner Offenbach-Gesellschaft ein vielfältiges Programm auf die Beine gestellt. Die Oper Köln zeigt zwischen 22. Juni und 9. Juli unter dem Titel „Je suis Jacques“ eine Jubiläums-Offenbachiade von Christian von Götz auf der Baustelle des Opernhauses.

Über das ganze Jahr werden sich die Veranstaltungen hinziehen, unter anderem mit der Kölner Erstaufführung der satirischen komischen Oper „Barkouf“, in der ein Hund an die Macht kommt. Der Abschluss wird romantisch: Das Theater Hagen setzt ihn mit einer Neuinszenierung von „Hoffmanns Erzählungen“ ab 30. November.

Die nächsten Vorstellungen von „La Grande-Duchesse de Gérolstein“ am 20., 23. und 26. Juni. Nähere Infos hier.




Eisiges Kammerspiel mit einem Hauch Poesie – Roberto Ciullis „Othello“ bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen

Desdemona (Dagmar Geppert) liebt Othello (Jubril Sulaimon). Der jedoch hegt Zweifel ob ihrer Treue. Foto: Franziska Götzen

Nein, ganz ohne Verdi geht es dann doch nicht. In Roberto Ciullis „Othello“-Inszenierung, die das Shakespeare-Drama zu einem hoch verdichteten, eisigen Kammerspiel einer besseren Gesellschaft stilisiert, sorgt wenigstens Desdemonas „Ave Maria“ aus Verdis gleichnamiger Oper für Wärme und Trost, für bebendes Leidenskolorit und innigen Erlösungston.

Zu sehen war die Produktion jetzt noch einmal, nach ihrer Premiere am Mülheimer Theater an der Ruhr (September 2018), bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen. Zu Ehren eines großen Bühnenmagiers, dessen Deutungen oft voller Poesie sind, sich aber mit Gesellschaftskritik nicht zurückhalten.

Ciulli lässt am Beginn des Dramas Desdemonas Vater auftreten. Ein feiner älterer Herr mit Fliege, der polternd sein Kind verstößt, weil es Othello, einen Schwarzen, heiratete, im Bann von dessen Hexenmeister-Künsten. Klaus Herzog spielt diesen kaltherzigen Papa, als hochnäsigen Vertreter einer gehobenen Mittelschicht, die allerdings geradezu mafiose Züge trägt. Zu ihm gesellt sich ein aalglatter Cassio, in weißem Anzug, ständig rauchend und von Fabio Menéndez in übler Machomanier gezeichnet.

Der fieseste Schmierlappen aber ist ohne Zweifel Jago, ein Intrigant im Nadelstreif, der mit einer Floskel wie „Ich sehe schwarz“ dem Alltagsrassismus dicht auf den Fersen ist, der zum anderen eine virtuose Perfidie an den Tag legt, die bei seinen Abtritten stets in einem dahingeheuchelten „Ich empfehle mich“ gipfelt. Steffen Reuber mag in dieser Rolle nicht die große, gottabgewandte Dämonie umhüllen, doch sein sorgsam eingefädelter Plan, Othello das Monster der Eifersucht einzupflanzen, lässt das Publikum allemal frösteln.

Jagos Gattin, trotz kleidender Eleganz schon etwas abgewrackt wirkend, darf Petra von der Beek vor allem als willfährige Gehilfin spielen, eiskalt bis in die hochtoupierten Haarspitzen. Bevor sie am Ende die große Intrige aufdecken kann, wird ihr Mann sie erwürgen. Eine Tat, nicht zuletzt begangen aus einer lang gepflegten Hassliebe heraus.

Bring mir Beweise! Othello und der fiese Intrigant Jago (Steffen Reuber). Foto: Franziska Götzen

Für Othello aber hat von diesen zwielichtigen Gestalten keiner etwas übrig. Die Anfeindungen sind von gewaltiger Wirkmacht, denn die Hauptrolle ist mit einem Schwarzen besetzt. Jubril Sulaimon, vor Nigerias Militärdiktatur Anfang der 1990er Jahre nach Deutschland geflohen, in der Tasche ein Schauspielexamen seiner Heimat, fand 1992 ein erstes Engagement in Essen, wirkte an mehreren Bühnen des Ruhrgebiets, und tritt nun also als Othello im Mülheimer Theater auf. Hier gibt er nicht den strahlenden Helden, vielmehr einen Menschen, der zumeist defensiv reagiert, in seinem Eifersuchtsschmerz jedoch zu großen Ausbrüchen fähig ist. Dann entfalten seine Worte vom bevorstehenden Urchaos, von einer Rache, die alle verschlingen werde, eine ungeheure Macht. Mitunter fällt er ins muttersprachliche Idiom, wenn er dem Zorn noch mehr Gewicht verleihen will.

Und Desdemona? Sie mag Othello wirklich lieben, in aller Unschuld, und in Cassio nicht mehr als einen Freund sehen. Doch Dagmar Geppert staffiert ihre Rolle mit beinahe gelangweilter Distanz aus, mit wenig Empathie. Tiefe Empfindung erwächst allein in Verbindung mit eben jener Verdi-Musik, die diesem Drama im Konversationston eine ganz eigene Färbung verleiht. Allerdings kann sie die gekünstelte Lounge-Atmosphäre von Ciullis Inszenierung nicht wirksam aufbrechen.

Die Poesie des Todes: Am Ende wird Othello mit diesem Tuch Desdemona erdrosseln. Foto: Franziska Götzen

Zum kunstvoll Kalten gehört ein rotes Sofa, das vorn den sonst ziemlich leeren Raum dominiert, den Gralf Edzard Habben gestaltet hat. Hinten befindet sich ein Punchingsack, starkes Symbol aus dem Boxermilieu, in dem es Mann gegen Mann geht, und nicht intrigant hintenherum. Erst zuletzt, mit Desdemonas und Emilias Tod, findet Ciulli einen bildgewaltigen Hauch von Poesie. Ein riesiges weißes Tuch bahnt sich, vom Gebläse getrieben, den Weg. Othello wird es, ebenso wie seine einst geliebte Frau, um sich schlingen – und sie damit erdrosseln.

Der fahle Beifall am Schluss, sich allmählich steigernd, er mag vielleicht großer Betroffenheit geschuldet sein.

„Othello“ ist am Mülheimer Theater an der Ruhr noch einmal zu sehen, am 15. Juni (19.30 Uhr).




Lebende Legenden und Aufsteiger: Das Klavier-Festival Ruhr startet am 7. Mai in Bochum den Reigen seiner Konzerte

Eröffnet am 7. Mai das Klavier-Festival Ruhr in Bochum: Daniel Barenboim, hier bei einem Konzert des Festivals im Jahr 2014. Foto: Mark Wohlrab

Eröffnet am 7. Mai das Klavier-Festival Ruhr in Bochum: Daniel Barenboim, hier bei einem Konzert des Festivals im Jahr 2014. (Foto: Mark Wohlrab)

Gastautor Robert Unger über das bevorstehende Klavier-Festival Ruhr:

Drei Komponenten machen einen Star im klassischen Sinne aus: Erfolg, Kontinuität und Image. Kommen diese Elemente zusammen und reift eine Persönlichkeit mit einem lang andauernden Erfolg, spricht man von einer Legende. Solche will das Klavier-Festival Ruhr vorstellen, das am 7. Mai unter dem wenig spezifischen Motto „Living Legends“ und „Rising Stars“ startet.

Klassik und Jazz, Recitals, Liederabende, Kammer- und Orchesterkonzerte finden sich im außerordentlich vielfältigen Konzertangebot des Festivals, das vom Initiativkreis Ruhr gefördert wird. Das Klavier-Festival Ruhr 2019 rückt diesmal kein Land und keinen Komponisten in den Fokus, sondern richtet den Blick auf die Biografien seiner Künstler. So stellt es die Verbindungen zwischen den Generationen und zwischen Menschen verschiedener Herkunft her und schaut auch auf ein Weltbürgertum, das in der Musik wie im Leben seine Wurzeln kennt, aber seine Entfaltung jenseits zwischenstaatlicher Grenzen findet.

Das ausverkaufte Eröffnungskonzert am kommenden Dienstag, 7. Mai (im Anneliese Brost Musikforum Ruhr, Bochum), steht ungewollt exemplarisch für diese Verbindung. Ursprünglich sollte Menahem Pressler, einer der großen Pianisten unserer Zeit, das Festival eröffnen. Doch seine gegenwärtige gesundheitliche Verfassung lässt dies leider nicht zu. Daniel Barenboim übernimmt das Eröffnungskonzert und lässt es in Verbundenheit zu dem legendären Gründer des Beaux Arts Trios zu einer Hommage für seinen anwesenden Freund werden. Die Freundschaft geht zurück bis ins Jahr 1954, als der damals 31-jährige Menahem Pressler in Tel Aviv mit dem 12-jährigen Daniel Barenboim einen Duo-Abend gab.

Zum Glück noch keine Legende, sondern vitale Gegenwart: Krystian Zimerman kommt am 10. Mai in die Philharmonie Essen. Foto: Bartek Barczyk

Zum Glück noch keine Legende, sondern vitale Gegenwart: Krystian Zimerman kommt am 10. Mai in die Philharmonie Essen. (Foto: Bartek Barczyk)

Gleich in den ersten Tagen, am 10. Mai, spielt Krystian Zimerman eines seiner raren Konzerte in der Philharmonie Essen mit einem Brahms-Chopin-Programm. Mit Emanuel Ax im Anneliese Brost Musikforum Ruhr ist am 14. Mai eine weitere Klavier-Legende zu erleben. „Poetische Stimmungsbilder“ kreiert die Preisträgerin des Klavier-Festivals Ruhr 2018, Elena Bashkirova, mit Mozart, Dvořák und Bartok im Gustav-Lübcke-Museum Hamm am 19. Mai.

Im Konzerthaus Dortmund ist am 24. Mai mit Hélène Grimaud eine weitere angesehene Pianistin zu erleben. Nicht weniger aufregend werden wohl die Konzerte mit Größen wie Marc-André Hamelin am 5. Juni in Mülheim, Jean-Yves Thibaudet am 6. Juni in Wuppertal mit der deutschen Erstaufführung eines Orchesterwerks von Richard Dubugnon und dem Grandseigneur des Tastenspiels Grigory Sokolov in der Historische Stadthalle Wuppertal am 14. Juni. Evgeny Kissins Auftritt mit Beethoven-Sonaten am 3. Juli in der Essener Philharmonie ist so gut wie ausverkauft; auch die Konzerte von „Living Legends“ wie András Schiff am 2. Juli in Düsseldorf und Martha Argerich – mit dem Cellisten Mischa Maisky am 16. Juli in Essen – dürften das Publikum locken.

Till Hoffmann steht am Beginn seiner Karriere. Foto: Matthias Matthai

Till Hoffmann steht am Beginn seiner Karriere. (Foto: Matthias Matthai)

Die Nachwuchspianisten dieser Festival-Saison als Ausdruck des Mottos „Rising Stars“ zeigen die Vielfalt an Talenten und zugleich wohl den größeren Mut für ein breiteres Repertoire. So spielt der gebürtige Sizilianer Giuseppe Guarrera, der zugleich Stipendiat des Klavier-Festivals Ruhr 2018 ist, am 17. Juli im LEO Theater im Ibach-Haus in Schwelm selten aufgeführte Sonaten von Domenico Scarlatti sowie Werke von Ferruccio Busoni und Franz Liszt.

In den beiden Abo-Konzerten der Reihe „Die Besten der Besten“ stellen sich am 20. und 21. Juni im Haus Fuhr in Essen-Werden die Preisträger bedeutender internationaler Wettbewerbe, Changyong Shin und Nicolas Namoradze, mit ausgewählten Programmen vor. Sein Debüt beim Klavier-Festival Ruhr gibt auch der erst 23jährige Till Hoffmann am 15. Juni in Bottrop mit einem Programm, das über fünf Jahrhunderte reicht: von Bachs Englischer Suite Nr. 6 über Rachmaninow bis hin zu den so unterschiedlichen Variationszyklen von Brahms, Webern und dem jungen Jakob Raab, der in Karlsruhe bei Wolfgang Rihm Komposition studiert.

Das Festival vergibt auch regelmäßig Kompositionsaufträge. Rund 100 neue Werke wurden so in den letzten Jahren ur- und erstaufgeführt. Dieses Jahr steuert der Preisträger des Klavier-Festivals Ruhr 2017, Philip Glass, ein neues Werk bei: Am 4. Juli erklingt im Salzlager des Zollvereins Essen die erste Klaviersonate des mittlerweile 82jährigen Amerikaners, gespielt von der mit der Musik Glass‘ seit Jahren vertrauten Pianistin Maki Namekawa.

In der Reihe der „Rising Stars“ finden sich auch Grenzgänger, die in den letzten Jahren immer wieder große Erfolge gefeiert haben, die aber ihren kontinuierlichen Willen zur Weiterentwicklung und ihre Beständigkeit noch unter Beweis stellen müssen. 2009 war Khatia Buniatishvili nur den Insidern der Klavierszene ein Begriff. Doch dann sprang sie für die erkrankte Kollegin Hélène Grimaud beim Klavier-Festival Ruhr ein und gab damit ihr Deutschland-Debüt. Es sollte der Startschuss für eine rasche Karriere sein. Heute – zehn Jahre später und bei ihrem 12. Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr am 4. Juni in der Philharmonie – gehört die Georgierin zu den aufregendsten Pianistinnen der Gegenwart. Im Konzert spielt sie ihren Paradekomponisten Franz Liszt.

Auch die Karriere von Joseph Moog ist schon lange mit dem Festival verbunden. Er ist bereits regelmäßiger Gast in großen Konzerthäusern etwa in Amsterdam, London und New York. Beim Klavier-Festival Ruhr ist der 31-Jährige bereits zum achten Mal zu erleben – in ununterbrochener Folge seit 2013. Seitdem hat er sich vom „Rising Star“ zu einem anerkannten Pianisten der jungen Generation entwickelt. Deshalb spielt er in diesem Jahr erstmals das Abschlusskonzert am 19. Juli in der Stadthalle Müllheim, für das er ein facettenreiches Programm zusammengestellt hat: mit Werken von Schubert, Brahms, Chopin und Ravel.

Eine frische Farbe in der JazzLine: Der 24jährige Tausendsassa Jacob Collier kommt nach Gelsenkirchen. Foto: Morgan Hill-Murphy

Eine frische Farbe in der JazzLine: Der 24jährige Jacob Collier kommt nach Gelsenkirchen. (Foto: Morgan Hill-Murphy)

Ebenso prominent besetzt ist die schon lange etablierte Jazz-Line. Till Brönner tritt mit seinen Partnern Jacob Karlzon und Dieter Ilg im Konzerthaus Dortmund am 5. Juli auf. Jacob Collier, der 24jährige Pianist, Sänger, Arrangeur und Komponist, den der englische Guardian einmal „Jazz’s new messiah“ nannte, hat in den letzten Jahren eine atemberaubende Karriere hingelegt. Sie begann 2011 mit selbstproduzierten YouTube-Clips, in denen er sämtliche Instrumente selbst spielte und sich per Multitrackingverfahren sogar in einen ganzen Chor verwandelte. Nun zeigt er sein Können am 8. Juli im Musiktheater im Revier.

Was wäre ein Klavier-Festival ohne die großen Klavierkonzerte? Der 1. Preisträger des Chopin-Wettbewerbes, Rafał Blechacz, präsentiert gemeinsam mit dem WDR Sinfonieorchester Köln unter der Leitung des renommierten Dirigenten Christoph Eschenbach das Konzert für Klavier und Orchester Nr. 24 von Wolfgang Amadeus Mozart. Das letzte Klavierkonzert von Mozart in B-Dur (KV 595) ist der Hauptprotagonist im Konzert mit Lars Vogt und der Neuen Philharmonie Westfalen in der Erich-Göpfert-Stadthalle in Unna am 9. Juli.

Leider fehlt in diesem Jahr eine gewisse Würze aus thematischen Bezügen. So hätte es einem Klavier-Festival gut angestanden, den 200. Geburtstag der Komponistin und damals legendären Klavierspielerin Clara Schumann nicht zu ignorieren.

Tickets sind telefonisch unter der Hotline (0221) 280 220 erhältlich oder können im Internet gebucht werden: www.klavierfestival.de

 




Dortmund im Juni: Kunst, Kultur und Kabarett beim Evangelischen Kirchentag

Wiederkehr zum Kirchentag: Pop Oratorium „Luther", hier eine Szene der Uraufführung in der Dortmunder Westfalenhalle am 31. Oktober 2015 – mit Frank Winkels (Mitte) in der Titelrolle. des Reformators.

Zum Kirchentag wieder zu erleben: das aufwendige Pop-Oratorium „Luther“ – hier eine Szene der Uraufführung in der Dortmunder Westfalenhalle am 31. Oktober 2015, mit Frank Winkels (vorn Mitte) in der Titelrolle des Reformators. (© Stiftung Creative Kirche, Witten)

Vier Bundespräsidenten, neben dem amtierenden drei seiner Vorgänger, die Bundeskanzlerin, der NRW-Ministerpräsident, zahlreiche Bundes- und Landesminister, sie alle haben zwischen dem 19. und 23. Juni Termine in Dortmund. Während der fünf Tage ist die Stadt Gastgeber des 37. Deutschen Evangelischen Kirchentags, der mit geballter Polit-Prominenz aufwartet.

Bundespräsident Frank Walter Steinmeier hält einen der Hauptvorträge und befasst sich mit „Zukunftsvertrauen in der digitalen Moderne“, Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht über die Frage „Vertrauen als Grundlage internationaler Politik?“ NRW-Ministerpräsident Armin Laschet findet sich zur Bibelarbeit ein, Bundesaußenminister Maas diskutiert mit Friedensnobelpreisträger Denis Mukwege, wie es sich mit der Verantwortung Deutschlands zum Schutz von Frauen und Kindern verhält – und Arbeitsminister Hubertus Heil erörtert mit Verdi-Chef Frank Bsirske, wie es um den Wert der Arbeit bestellt ist.

Insgesamt 2500 Veranstaltungen

Die Auftritte der Politiker sind Teil eines Programms mit rund 2.500 Veranstaltungen. Täglich werden rund 100.000 Besucher erwartet. Neben Debatten und Podiumsgesprächen gehören Gottesdienste, Workshops und Konzerte ebenso dazu wie Ausstellungen und Installationen. Kulturelle Angebote machen mit rund 600 Veranstaltungen fast ein Viertel des Programms aus. Mit dabei sind z. B. die Schauspielerin und Sängerin Anna Loos, der Musiker und Songwriter Adel Tawil, die Band Culcha Candela und das Bundesjugendjazzorchester. Konzertbühnen werden auf dem Hansa- und Friedensplatz sowie dem Alten Markt stehen.

Das „Depot“ an der Immermannstraße soll zu einer „Kulturkirche“ werden. Die Schwerpunktthemen sind hier Heimat und Kunstfreiheit. Die Schriftstellerin Thea Dorn, der Programmchef des Deutschland Radio Kultur, Hans-Dieter Heimendahl, der Intendant der Ruhrfestspiele, Olaf Kröck, und Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD), sind zu Gesprächsrunden eingeladen. Das Programmkino des Depots zeigt eine Reihe von aktuellen Filmen, unter anderem „The Cleaners – Im Schatten der Netzwelt“. Die Dokumentation berichtet über die Arbeit Zehntausender von Menschen, die im Auftrag von Internetkonzernen belastende Fotos und Videos auf den Portalen von Facebook, Twitter etc. löschen. Darüber hinaus wird der Regisseur Züli Aladag über seinen Film „Die Opfer – Vergesst mich nicht!“ sprechen, der sich mit den NSU-Morden befasst.

Vertrauen auch als literarisches Thema

Im Freizeitzentrum West (FZW) an der Ritterstraße gibt‘s Kabarett aus der und über die Kirche, die Gruppe Klangwerk aus Bayreuth bringt Deutschpop zu Gehör, der Dortmunder Liedermacher Fred Ape ist zu Gast und zudem wird die Veranstaltungsstätte Ort für einen Techno-Gottesdienst sein, Thema: „Menschenrechte – Gottes Wort!?“ Eine bunte Musikvielfalt bieten zahlreiche Songwriter im „domicil“ an der Hansastraße, in dem auch abends um 22.30 Uhr ein kabarettistischer Tagesrückblick gehalten wird. In den Westfalenhallen wird sich der Kabarettist Serdar Somuncu an einer Runde zur #MeToo-Debatte beteiligen. Eckhardt von Hirschhausen diskutiert mit Jugendlichen über Klima und Umwelt.

Im Industriemuseum Zeche Zollern (Stadtteil Bövinghausen) setzt sich unter dem Leitgedanken „Erinnern, Begegnen, Bedenken“ eine Ausstellung mit der Geschichte des Reviers auseinander. Darüber hinaus sind Aufführungen vorgesehen, die weltweite historische Ereignisse eingehen. Das Hoesch-Museum zeigt eine Ausstellung, die dem Thema „Migration und Religion im Ruhrgebiet“ gewidmet ist.

Da der Kirchentag das Motto „Was für ein Vertrauen“ trägt, steht auch das Literaturfest der Großveranstaltung unter dieser Losung. Zahlreiche Autoren aus der Region lesen aus ihren aktuellen Büchern passende Passagen. Nachmittags ab 15 Uhr sind Kinder eingeladen, sich zu einem Mitmachprogramm einzufinden, Zeit für Erwachsene nehmen sich Frank Goosen, Sarah Meyer-Dietrich, Ralf Thenior und weitere Autoren ab 19 Uhr.

Gewaltiges Pop-Oratorium über Luther

Freunde elektronischer Musik können sich auf die Uraufführung der Kammeroper „Nova – Imperfection Perfection“ des zeitgenössischen Komponisten Franz Danksagmüller freuen. Das Pop-Oratorium „Luther“ mit 2.000 Mitwirkenden erlebt eine weitere Aufführung am 20. Juni in den Westfalenhallen.

Während der gesamten Dauer des Kirchentages ist am Fredenbaumplatz eine Installation aus Klang und Licht zu sehen, die die evangelische Jugend aus dem Osten Berlins geschaffen hat. Die Klanginstallation Kuckucksuhrenorgel des Künstlers Erwin Stache, wird am Donnerstag von 10 bis 22 Uhr zwei Mal pro Stunde an St. Nicolai (Lindemannstraße) zu hören sein. Südkoreanische Künstler stellen ein Projekt vor, das das Thema Frieden in den Fokus rückt. Darüber hinaus öffnen Museen ihre Türen. Im Dortmunder U ist eine interaktive Ausstellung zur Skate-Kultur zu sehen.

Mit drei Gottesdiensten (am Ostentor, auf dem Hansa- und dem Friedensplatz) wird der Kirchentag am 19. Juni eröffnet, gefolgt vom Willkommensfest, das die Stadt und die Evangelische Landeskirche von Westfalen ausrichten. Der Abschluss erfolgt im Westfalenpark und im Westfalenstadion („Signal Iduna-Park“).

Infos unter https://www.kirchentag.de/




Wir-Gefühl durch die Musik? Dortmunder Festival „Klangvokal“ will sich am gesellschaftlichen Diskurs beteiligen

Titelmotiv des Klangvokal-Programmbuchs (©Sandra Spitzner_gerasimov174_shutterstock_1019676943)

Titelmotiv des „Klangvokal“-Programmbuchs (© Sandra Spitzner_gerasimov174_shutterstock_1019676943)

Ohne Motto geht es nicht mehr. Ein solches signalisiert Gedankentiefe, höhere Zusammenhänge, dramaturgische Kompetenz. Das Festival „Klangvokal“ in Dortmund mag da nicht zurückstehen: „Wir!“ steht in diesem Jahr über der elften Ausgabe vom 16. Mai bis 16. Juni.

Wo allerdings die Bedeutung dieses selbst bei wohlwollender Betrachtung ziemlich lapidaren Leitthemas liegen soll, wird nicht klar. Man wolle sich am aktuellen gesellschaftlichen Diskurs über Gemeinschaft und Solidarität beteiligen, heißt es. Nun denn! Die innere Spannung zwischen Ich und Wir, zwischen Uns und Euch, steckt in so ziemlich jeder Musik, von der virtuosen Bravourarie bis hin zum üppigen Klangfeld, in dem Einzelnes nicht mehr wahrnehmbar ist.

Entsprechend bunt gemischt sind auch die knapp zwei Dutzend Veranstaltungen. Wer der Oper den ersten Rang einräumt, wird sich auf Georges Bizets „Les Pêcheurs de Perles“ am 31. Mai im Konzerthaus freuen – eine Oper, die derzeit noch am Musiktheater im Revier in einer ambitionierten szenischen und musikalischen Realisation zu sehen ist.

Ekaterina Bakanova singt in George Bizets "Perlenfischern". Foto: Georg List

Ekaterina Bakanova singt in George Bizets „Perlenfischern“. (Foto: Georg List)

Ob die „internationale Topbesetzung“ mit der Russin Ekaterina Bakanova (Sopran), dem Italiener Francesco Demuro (Tenor) und dem US-Amerikaner Lucas Meachem (Bariton) der Musik Bizets stilistisch gewachsen ist, wird man hören.

Auftakt am 16. Mai gehört der Oper

Auch der Auftakt des Festivals gehört der Oper. Am 16. Mai singen Anna Pirozzi (Sopran), in Deutschland selten zu erleben, dafür im Sommer in der Arena di Verona und im Herbst als Lady Macbeth an der Met, und Teodor Ilincai (Tenor), zuletzt in „Madama Butterfly“ an der Wiener Staatsoper, „unsterbliche“ Arien und Duette – und man darf davon ausgehen, dass die üblichen Reißer das Publikum im Konzerthaus in Raserei versetzen.

Weniger populär, dafür mit subtileren Noten, verspricht die konzertante Aufführung von Georg Friedrich Händels früher Oper „Agrippina“ am 8. Juni im Orchesterzentrum NRW ein Genuss für Liebhaber zu werden: Christophe Rousset bringt das exzellente Ensemble Les Talens Lyriques mit; in der Titelrolle debütiert die spanische Mezzosopranistin Maite Beaumont.

Noch zwei Mal Händel hat das „Klangvokal“-Festival im Programm: Die Mezzosopranistin Vivica Genaux – 2017 mit dem Händel-Preis ausgezeichnet – präsentiert am 30. Mai mit der Lautten Compagney Berlin und Countertenor Lawrence Zazzo im Orchesterzentrum NRW ein Programm mit dem zeitgeistigen Titel „Gender Stories“: Das 18. Jahrhundert hatte die „künstliche“ Gestaltung von Geschlecht und Rolle zum Prinzip erhoben und so ergeben sich erstaunliche Parallelen zu den „konstruierten“ Geschlechtern von heute und den mit ihnen verbundenen Rollen. Händel und seine Zeitgenossen setzten Kastrat, Frau und Mann nach Konventionen ein, die am natürlichen Geschlecht der Darsteller kein Interesse hatten.

Chormusik vom Feinsten

Den Abschluss der Händel-Trilogie bildet eine „Barockfeier de luxe“ mit illustren Gästen aus Großbritannien: Das britische Topensemble „The King’s Consort“ und die Sopranistin Carolyn Sampson lassen am 14. Juni in der Maschinenhalle der Zeche Zollern Händels Heroinen lebendig werden.

Der Lettische Rundfunkchor. Foto: Bülent Kirschbaum

Der Lettische Rundfunkchor. (Foto: Bülent Kirschbaum)

Auch wer die Chormusik – geistlich oder weltlich – liebt, wird beim „Klangvokal“ auf seine Kosten kommen: Das Konzert mit dem Chor des Lettischen Rundfunks in der St. Reinoldikirche verspricht am 16. Juni Gesangskultur vom Feinsten. Davor schon singt am 26. Mai das Vocalconsort Berlin in der Marienkirche unter dem Titel „Psalmen Davids“ die entsprechenden Vertonungen des flämischen Renaissance-Meisters Orlando di Lasso.

Mit geistlicher Musik aus Europa präsentiert sich am 1. Juni in der Propsteikirche der Jugendkonzertchor der Chorakademie Dortmund unter Felix Heitmann. Am 9. Juni ist in der St. Nicolaikirche mit dem von Hans-Christoph Rademann gegründeten und geleiteten Dresdner Kammerchor ein Spitzenensemble mit A-cappella-Chorwerken von Johannes Brahms über Gustav Mahler bis John Cage zu Gast.

Am Samstag, 15. Juni, zeigen mehr als 150 Chöre und Vokalensembles aus Dortmund und Umgebung zum elften Mal auf Open-Air-Bühnen, an Singhaltestellen, in Kirchen, in der U-Bahn und in Geschäften zwischen der St. Reinoldikirche und der St. Petrikirche ein breites Spektrum vokaler Ausdruckformen vom klassischem Volkslied und Chorsatz bis zu Schlager, Shanty, Jazz- und Popsong. Das 11. „Fest der Chöre“ ist nach Auskunft der Veranstalter Deutschlands größtes städtisches Chorfest.

Daneben offeriert das Festival von Jazz- bis Weltmusik ein breites Spektrum an Musikveranstaltungen für jeden Geschmack: Ob Jordi Savall mit seiner „Hommage an Syrien“, einem „Klangdialog zwischen Juden, Christen und Muslimen“ am 19. Mai im Konzerthaus, ob alte und neue Gospels mit der afro-amerikanischen Sängerin Michelle David und ihrer Gruppe „The Gospel Sessions“ am 24. Mai in der Pauluskirche, ob Soul aus den Niederlanden mit der Sängerin Kovacs am 6. Juni im Freizeitzentrum West in der Ritterstraße am Dortmunder U oder arabisch-andalusischer Jazz aus Valencia mit dem Trio NES im Jazzclub Domicil am 7. Juni.

Vorverkauf über das Internet-Portal www.klangvokal.de, telefonisch unter 01806/57 00 70, bei allen bekannten VVK-Stellen und bei Dortmund-Tourismus, Kampstr. 80, 44137 Dortmund.




Es geht noch viel: TuP-Festtage in Essen mit Aribert Reimanns „Medea“ und einer spartenübergreifenden Uraufführung

Freuen sich auf die TUP-Festtage 2019: Schauspielintendant Christian Tombeil, TUP-Geschäftsführer Berger Bergmann, der stellvertretende Ballettintendant und Ballettmanager Marek Tuma, Musiktheater- und Philharmonieintendant Hein Mulders sowie Oliver Bohnenkamp, Vorstandsmitglied der Sparkasse Essen. Foto: TuP

Freuen sich auf die TUP-Festtage 2019 (v. li.): Schauspielintendant Christian Tombeil, TUP-Geschäftsführer Berger Bergmann, der stellvertretende Ballettintendant Marek Tuma, Musiktheater- und Philharmonieintendant Hein Mulders sowie Oliver Bohnenkamp, Vorstandsmitglied der Sparkasse Essen. Foto: TuP

Rien ne va plus – das ist ein aus dem Casino geläufiger Satz, wenn im laufenden Spiel nichts mehr geht. Ein etwas gekünstelter Titel für die TuP-Festtage Kunst in Essen. Denn zum Glück geht in der Zeit vom 22. bis 31. März eine Menge: Premiere der Reimann-Oper „Medea“ am Aalto, drei beliebte Ballettproduktionen, die deutsche Erstaufführung von Robert Menasses Europa-Stück „Die Hauptstadt“ im Grillo-Theater. Und erstmals ein spartenübergreifendes Projekt.

Musiktheater, Ballett und Schauspiel realisieren in der Casa im Grillo eine gemeinsam erarbeitete Inszenierung: „Schließ deine Augen – Rien ne va plus“ heißt das Stück, in dem Tänzer, Sänger und Schauspieler gemeinsam agieren und ihre Spartengrenzen ein wenig überschreiten. Für die Uraufführung am Mittwoch, 27. März, 19 Uhr, dürfte es ratsam sein, sich rasch Karten zu sichern: Die Casa hat ein begrenztes Platzangebot. Weitere Vorstellungen: 30. März und 5. Mai.

Fünf Sparten sind am Programm beteiligt

Verdis "Luisa Miller" wird zum letzten Mal wiederaufgenommen: Szene aus der Inszenierung Dietrich Hilsdorfs. Foto: Matthias Jung

Verdis „Luisa Miller“ wird zum letzten Mal wiederaufgenommen: Szene aus der Inszenierung Dietrich Hilsdorfs. Foto: Matthias Jung

Für alle anderen Vorstellungen sind noch ausreichend Tickets zu bekommen. Bei manchen heißt es nach den TuP-Festtagen tatsächlich „rien ne va plus“: Dietrich Hilsdorfs Inszenierung der Verdi-Oper „Luisa Miller“ (Wiederaufnahme am 30. März) verabschiedet sich nach dieser letzten Vorstellungsserie aus dem Repertoire des Aalto-Theaters; dafür kündigt Intendant Hein Mulders die Rückkehr des einstigen Essener Stamm-Regisseurs in der Spielzeit 2019/20 an. Abschied nehmen müssen die Ballett-Fans auch von Stijn Celis‘ Choreografie von „Cinderella“. Sie steht am 31.März letztmals auf dem Spielplan des Aalto-Theaters.

Mit Spannung erwarten dürften Opern-Liebhaber die Neuinszenierung von Aribert Reimanns „Medea“, uraufgeführt 2010 an der Wiener Staatsoper und dort – wie bei der Übernahme in Frankfurt und bei einer zweiten Inszenierung an der Komischen Oper Berlin, geleitet vom Bochumer GMD Steven Sloane – vom Publikum gefeiert.

Aribert Reimann. Foto: Schott Promotion, Peter Andersen

Der 83jährige Komponist hat sein Kommen angekündigt. Premiere ist am Samstag, 23. März, 19 Uhr. Am Tag zuvor, 22. März, eröffnen um 16.30 Uhr die Intendanten der fünf TuP-Sparten die Festtage; anschließend gibt es eine „Teatime“ im Aalto-Foyer mit einer Einführung in die auf Franz Grillparzers „Das goldene Vlies“ fußende Oper Reimanns.

Zerstörte Existenzen, Schicksal und Schuld als Themenkomplexe

Zerstörte Existenzen, Schicksal und Schuld, aber auch glückliche Fügungen: Um diese Themenkomplexe kreisen die Vorstellungen der TuP-Festtage. In der Uraufführung „Schließ deine Augen – Rien ne va plus“ nehmen die Regisseure Marijke Malitius und Sascha Krohn gemeinsam mit dem ehemaligen Aalto-Tänzer und Choreografen Igor Volkovskyy die Frage auf, wie es wohl wäre, ewig Kind zu bleiben, die Träume der Kindheit zu leben und die von Macht strukturierte Welt der Erwachsenen zu meiden. Die Sicht der Kinder Medeas, die Weigerung, erwachsen zu werden in „Peter Pan“ und die geheimnisvolle Marionettenwelt in Maurice Maeterlincks „Der Tod des Tintagiles“ sind die stofflichen Kreise, um die sich die von Gesa Gröning ausgestattete Produktion drehen soll.

Star-Sopran Maria Agresta singt Verdi. Foto: Alessandro Moggi.

Star-Sopran Maria Agresta singt Verdi. Foto: Alessandro Moggi.

Musikalisch bietet die Philharmonie Essen ein Jugendkonzert mit Filmmusik am 22. März mit der Neuen Philharmonie Westfalen unter Rasmus Baumann, am 23. März eine „Hommage á Bach“ mit dem Organisten Christian Schmitt und am 24. März, 11 Uhr, das Debüt der Geigerin und Stipendiatin von Anne-Sophie Mutter, Noa Wildschut. Die 18jährige Niederländerin bringt als Klavierpartnerin Elisabeth Brauß mit, ein Klaviertalent der jungen Generation. Am Abend ist eine Geigerin mit internationaler Karriere zu erleben: Isabelle Faust spielt das Brahms-Violinkonzert, am Pult agiert Philippe Herreweghe.

Geballte Musik-Highlights gibt es auch am Sonntag, 31. März: Um 11 Uhr spielt der Trompeter Gábor Boldoczki mit der Philharmonia Prag reizvolle Konzerte aus dem böhmischen Raum, u. a. von Johann Baptist Georg Neruda, Johann Nepomuk Hummel und Johann Baptist Vanhal. Und am Abend ab 19 Uhr verzaubern Star-Sopran Maria Agresta und die Essener Philharmoniker mit Ouvertüren und Arien von Giuseppe Verdi, darunter nicht nur die üblichen Schlager, sondern etwa die Ballettmusik aus „Macbeth“ und einer Szene aus Verdis erster Oper „Oberto, Conte di San Bonifacio“.

Karten: (0201) 81 22 200, www.theater-essen.de

 




Geld, Produktionen und Zeit – von allem etwas weniger: Intendant Olaf Kröck stellt Programm der Ruhrfestspiele vor

Am 4. Mai wird in Recklinghausen ein Laufsteg für die Bürger aufgebaut. „What is the City but the People?“ heißt die Aktion. Vorbild ist der Laufsteg, den Regisseur Richard Gregory am 29. Juni 2017 für das MIF Manchester International Festival schuf. Dort entstand auch das Foto. (Bild: John Super/Ruhrfestspiele)

Jetzt wissen wir, was gespielt wird – bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen unter neuer Intendanz. Olaf Kröck, so heißt der Neue, hat sein Programm vorgestellt, es steht auch schon im Internet. Erster Eindruck: Halbwegs solide, aber auch etwas dünn.

Kröck muß mit deutlich weniger Geld auskommen als Amtsvorgänger Frank Hoffmann. Die Grundstruktur hat er nicht verändert, der Schwerpunkt liegt eindeutig im Bereich Schauspiel. Und das soll auch so sein, unterstreicht der neue Intendant. Die Ruhrfestspiele seien eben ein Theaterfestival, in deutlicher Unterscheidung zu anderen Festivals im Land.

Virginia Woolf

Die attraktivste Produktion auf dem Spielplan dürfte wohl „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ sein, inszeniert von Karin Beier am Deutschen Schauspielhaus Hamburg mit Maria Schrader und Devid Striesow und von der überregionalen Kritik heftig, wenn auch nicht gefeiert, so doch wahrgenommen.

Weitere Glanzpunkte sind „Hochdeutschland“ nach dem Roman von Alexander Schimmelbusch, von Regisseur Christopher Rüpling auf die Bühne der Münchner Kammerspiele gestellt und bei den Ruhrfestspielen nun als „Gastspiel der Uraufführung“ angekündigt. Es geht im Stück um Victor, einen frustrierten Investmentbanker, der (stark verkürzt) kaum vierzigjährig und millionenschwer in deutschem Populismus macht. Bei diesem Stück ahnt man ein Streben nach Aktualität, was sich bei „Virginia Woolf“ kaum erkennen läßt.

Max und Moritz

Ebenfalls aus der ersten Liga der deutschen Schauspielhäuser kommen Max und Moritz nach Recklinghausen. „Eine Bösebubengeschichte für Erwachsene“ wird als Koproduktion mit dem Berliner Ensemble angekündigt, ist eine Regiearbeit des Spaniers Antú Romero Nunes. Lustig wird es werden und irgendwie auch gesellschaftskritisch, weil die Inszenierung auf die braven Bürger im Lausbubenumfeld fokussiert.

Szene aus der Tanztheaterproduktion „Grand Finale“ (Bild: Rahi Rezvani/Ruhrfestspiele)

Alte Bekannte

Vieles aber, was auf dem Programmzettel steht, weiß keineswegs in gleicher Weise zu begeistern. Da gelangt unter dem Titel „Istanbul“ eine Produktion zur Aufführung, die wesentlich von Liedern der türkischen Sängerin Sezen Aksu getragen wird und die das Licht der Bühnenwelt vor nicht all zu langer Zeit im Bochumer Schauspielhaus erblickte, als der dortige Interims-Intendant Olaf Kröck hieß.

Roberto Ciulli, seit ewigen Zeiten Mülheimer Theaterdirektor mit unbestreitbaren Verdiensten, ehrt man in einer „Werkschau“ mit der Aufführung von gleich drei Regiearbeiten: „Immer noch Sturm“, „Clowns 2 ½“, „Othello“. Das alles konnte und könnte man auch in Mülheim sehen, vielleicht auch auf dem NRW-Theatertreffen. Aber für die Ruhrfestspiele, die (jedenfalls früher) so viel Wert auf ihre Internationalität legen, ist dieser Programmschwerpunkt doch arg regional.

Szene aus „Ein wenig Leben“ (Bild: Jan Versweyveld/Ruhrfestspiele)

Müller und Wuttke

Vom Berliner Ensemble kommt als „Heiner Müllers letzte Regiearbeit“ Brechts „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“. Premiere war 1995, aber immerhin spielt Martin Wuttke die Titelrolle.

Zwei Einpersonenstücke hat man ins Schauspielprogramm gehoben: Zum einen Patrick Süskinds „Der Kontrabaß“ mit dem Schauspieler Roland Riebeling, den man als bürokratischen Sidekick Jütte aus dem Kölner „Tatort“ kennt, zum anderen eine Hofmannsthal-Adaption mit dem Titel „Jedermann Reloaded“, die Philipp Hochmair ganz alleine spielt, unterstützt allerdings von einer Kapelle mit dem Namen „Die Elektrohand Gottes“.

Szene aus „The Prisoner“ (Bild: Simon Annand/Ruhrfestspiele)

Peter Brook, unverwüstlich

Als „Koproduktion mit dem International Theater Amsterdam“ ist „Ein wenig Leben“ nach dem Roman von Hanya Yanagihara zu sehen. Ivo van Hove inszenierte die Viermännerromanze in Niederländisch, was die Befürchtung nährt, daß dieser „Deutschlandpremiere“ nicht sehr viele Aufführungen hierzulande folgen werden.

Peter Brook schließlich, 94jährige und immer noch sehr lebendige internationale Theaterikone, bringt ein Stück mit dem Titel „The Prisoner“ zur Aufführung, das er selbst auch, zusammen mit Marie-Hélène Estienne, geschrieben hat. Es geht um einen Gefangenen, der nicht ins Gefängnis darf und nun vor dessen Toren leidet, es spielt das Théâtre des Bouffes du Nord Paris, in Englisch. Ahnt man hier Migrantisches, so ist es in Jean Raspails „Das Heerlager der Heiligen“ handfest vorhanden. Schon in seinem 1973 veröffentlichten Roman ging Raspail der Frage nach, was es mit einer Gesellschaft macht, wenn plötzlich viele tausend Elendsflüchtlinge mit ihren Booten anlanden. Hermann Schmidt-Rahmer, den man als Gastregisseur von etlichen NRW-Bühnen gut kennt, hat den Stoff am Schauspiel Frankfurt dramatisiert. In Recklinghausen ist jetzt Uraufführung.

Ein Laufsteg für Recklinghäuser Bürger

Nicht zu vergessen: Auch das Eröffnungsspektakel am 4. Mai ist unter Schauspiel einsortiert. An diesem Tag sollen 100 handverlesene Recklinghäuser über einen Laufsteg in der Stadtmitte schreiten, quasi ein Querschnitt der Stadtgesellschaft. „What is the City but the People?“ heißt die Aktion, mit „Wer ist die Stadt, wenn es nicht die Menschen sind?“ könnte man das Motto übersetzen. Regisseur Richard Gregory hatte seinen Laufsteg erstmalig auf dem Manchester International Festival aufgebaut, und es soll eine sehr vergnügliche Angelegenheit gewesen sein. Also sind wir gespannt.

Tanztheater, wie von Rembrandt gemalt. Szene aus „The Great Tamer“ (Bild: Julian Mommert/Ruhrfestspiele)

Kulturgeschichte

Fünf Tanzproduktionen sind angekündigt, von denen zwei besonders ins Auge stechen. Zum einen „Grand Finale“ der Hofesh Shechter Company aus London, ein Stück, das die endzeitliche Menschengemeinschaft in der Krise thematisiert, zum anderen „The Great Tamer“ von Dimitris Papaiannou, wo nichts weniger als 2000 Jahre Kulturgeschichte zur Aufführung gelangen. Ein bildmächtiges, manchmal akrobatisches, manchmal komisches Programm wird angekündigt, und das Foto im Programmheft, das die Compagnie wie in einem Rembrandt-Bild mit großen Dunkelzonen zeigt, läßt Unterhaltsames erhoffen. Choreograph Papaiannou war in jüngster Zeit auch im Wuppertaler Tanztheater Pina Bausch aktiv, wo er seine überwiegend nicht gelobte Tanztheater-Produktion „Seit Sie“ inszenierte. Um die 13 Festivals (die nicht konstante Interpunktion macht das genaue Zählen schwierig) und Institutionen listet das Programmheft als Produzenten auf, erster in der Liste ist das Onassis Cultural Centre, Athen. Wörtlich übersetzt heißt die Produktion übrigens „Der große Zähmer“, was sich zumindest nicht spontan erschließt.

Die Zukunft der Arbeit

Musik, Kabarett, Literatur, Diskussionen, Kindertheater und Bildende Kunst gibt es nach wie vor im Programm, auch „Fringe“ hat – abgespeckt – überlebt und heißt jetzt „Neuer Zirkus“. Aber alles ist etwas weniger geworden, eine Woche weniger, ein Zelt weniger, und vom Programm war ja schon die Rede. Hinzugekommen jedoch ist unter dem fetzigen Titel „#jungeszene“ ein Projekt in Recklinghausen und Windhoek, Namibia, in dem unter künstlerischer Leitung von „Kaleni Kollectiv“ die „Zukunft unserer Arbeit“ untersucht werden soll. Was genau dabei herauskommt weiß man natürlich noch nicht, zur Vorführung jedoch gelangt es Mitte Mai in Recklinghausen und Anfang Juni in Windhoek. Den Deutschen Gewerkschaftsbund als Gesellschafter der Ruhrfestspiele wird es freuen.

 




Zorn und Geiz, Hochmut und Wollust: Bei den Tagen Alter Musik stand Herne vier Tage im Zeichen der sieben Todsünden

43.Tage Alter Musik in Herne: Der Dirigent und Stradella-Experte Andrea De Carlo. Foto: WDR/Thomas Kost

43. Tage Alter Musik in Herne: der Dirigent und Stradella-Experte Andrea De Carlo. Foto: WDR/Thomas Kost

Die Sünde war in der Geistes- und Glaubensgeschichte der christlichen Welt stets ein Thema, auch als ihr Begriff – nicht erst im Zuge der Aufklärung – präzisiert wurde und sich der Blick bisweilen auf den sexuellen Bereich verengt hat. Heute ist von „Sünde“ in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft eher anekdotisch die Rede: Das Bewusstsein, der Mensch müsse sich vor einer höheren Macht verantworten, ist geschwunden; die Reichweite von Verantwortung ist angesichts ernsthafter humanwissenschaftlicher Erkenntnisse, aber auch in einem neuen, sich naturwissenschaftlich avanciert gebenden Determinismus nicht mehr so eindeutig bestimmbar wie einst.

Dennoch bleibt es sinnvoll, sich mit der Sünde zu beschäftigen, selbst wenn man nicht an einen gerechten und ausgleichenden oder gar strafenden und rächenden Gott glaubt: Denn Sünde ist keine magisch-mythische Verfehlung gegen etwas Numinoses, das der aufgeklärte Mensch aufs Abstellgleis der Geistesentwicklung schieben könnte. Zumindest im christlichen Sinn sind „Sünden“ der Vernunft und ihrem Urteil zugänglich, haben also eine Bedeutung, die mit dem Menschen selbst und seinen Bezügen zur Gesellschaft und seiner Umwelt zu tun hat.

Der Versuch, grundlegende Bedrohungen zu analysieren und zu benennen, hat im Falle der „Todsünden“ zu Begriffen geführt, die im Christentum nicht allein eine prinzipielle Störung im Verhältnis des Menschen zu Gott bestimmen. Sie betreffen auch die Entwicklung des einzelnen Menschen, gehen aber über individuelles Verhalten hinaus und entfalten ihre verderbliche Wirkung in zwischenmenschlichen Bezügen und dem Gefüge der Gesellschaft. Stets gehen dabei Augenmaß und Balance verloren, stets dominiert ein bestimmender Impuls: Bei der Habgier etwa ufert die vernünftige materielle Daseinsvorsorge aus zu einem Besitzstreben, das alles andere aus dem Blick verliert. Und der Unterschied zwischen einem gesunden Selbstbewusstsein und einer alles niederwalzenden Egozentrik lässt den altertümlichen Begriff des „Hochmuts“ oder der „Hoffart“ in bestürzend aktuellem Licht erscheinen.

Die Todsünden im Spiegel der Musik

Den „Tagen Alter Musik“ in Herne ging es an vier Tagen darum, „herauszufinden, wie sich das, was der kirchliche Todsünden-Kanon im Sinn hatte, in der Musik vergangener Zeiten widerspiegelt“, so Richard Lorber, der Künstlerische Leiter des von der Stadt Herne und dem WDR veranstalteten Festivals. In neun Konzerten und zwei konzertanten Opern richteten renommierte Solisten und Ensembles den musikalischen Blick in die Abgründe der menschlichen Seele, auf das Misslingen menschlicher Beziehungen, aber auch auf das vergiftete Verhältnis zu Gott.

Dem „Zorn“ war das Eröffnungskonzert in der Kreuzkirche in Herne gewidmet: Die acht Sängerinnen und Sänger des „Ensembles Polyharmonique“ und das 2012 in Katowice gegründete [OH!] Orkiestra Historyczna krönten die zwei Teile des Konzerts mit je einer „Dies Irae“-Vertonung des Venezianers Giovanni Legrenzi und des vor bald 400 Jahren geborenen, aus dem Vogtland stammenden Wahl-Venezianer Johann Rosenmüller. Wie in den dargebotenen Psalm-Vertonungen geht es um den Zorn Gottes, der am Tag des Jüngsten Gerichts hereinbricht.

Direkter auf menschliches Fehlverhalten und seine destruktiven Folgen verweisen die mittelalterlichen Texte aus den „Carmina Burana“ und den „Augsburger Cantiones“: Die Ensemble „Candens Lilium“ und „Les Haulz et les Bas“ haben sich unter Leitung von Norbert Rodenkirchen intensiv mit den beiden im 13. Jahrhundert entstandenen Quellen befasst, mit großer Sorgfalt Melodien rekonstruiert und vor allem Texte ausgewählt, die gegen den Geiz des Klerus und die Korruption der Mächtigen aufbegehren.

Glanzvolle Musik für einen brutalen Egomanen

Das Vocalconsort Berlin unter James Wood in der Kreuzkirche Herne. Foto: WDR/Thomas Kost

Das Vocalconsort Berlin unter James Wood in der Kreuzkirche Herne. Foto: WDR/Thomas Kost

Für den „Hochmut“ steht im Programm der englische König Heinrich VIII., der sich von Rom lossagte und im Lauf seiner Regentschaft vom allseits geliebten, universal gebildeten jungen Mann zu einem „brutalen Egomanen“ entwickelt hat. Aus einer Handschrift, die 1516 für Heinrichs erste Ehefrau, Katharina von Aragon, als Geschenk erstellt wurde, sang das Vocalconsort Berlin geistliche Kompositionen, beginnend mit dem „Magnificat regale“, einem frühen Werk von Robert Fayrfax, dem zur Zeit Heinrichs VIII. prominentesten Mitglied der Chapel Royal. Dieses Werk – das Gegenbild des Hochmuts – ist geprägt vom Wechsel gregorianisch schlicht vertonter Verse mit blühend mehrstimmigen Abschnitten. Der Dirigent James Wood sorgte mit Positionswechseln der Sänger für eine jeweils angemessene, optimale akustische Balance. Nur Notbehelf kann der Einsatz von Frauen- statt Knabenstimmen sein: Wenn sie die Höhe nur mit Kraft und entsprechend laut erreichen, gefährden sie die Ausgewogenheit des Klangs.

In wechselnden Besetzungen – mit und ohne die beiden Frauenstimmen – erklangen Motetten von John Taverner, Richard Sampson und Philippe Verdelot. Die untadelige Intonation des Ensembles präsentiert die süßen Harmonien, aber auch die Reibungen der Durchgänge und die kühn dissonanten Akkorde etwa in der Sampson zugeschriebenen Motette „Salve Radix“ strahlend rein. Der diskrete Wechsel der führenden Stimmen belebt eine Komposition wie „Quam pulcra es“, für die Sampson, damals Dekan der Chapel Royal, einen bekannten Abschnitt aus dem Hohelied der Liebe als Grundlage wählte. Die abschließende Motette „See Lord and behold“ verbindet die üppige Harmonik von Thomas Tallis mit einem Text der letzten Gattin Heinrichs, Catherine Parr – eine Entdeckung, die erst vor einem Jahr gelungen ist.

Der Wollust gehört die Oper

Welche Sünde ließe sich in der Oper besser beschreiben als die „Wollust“, wo es doch stets um Liebe und Beziehungen geht? Die „Tage Alter Musik“ in Herne haben gleich zwei konzertante Produktionen gezeigt. Antonio Vivaldis 1734 im venezianischen Karneval uraufgeführte „L’Olimpiade“ präsentierte das Barockorchester La Cetra aus Basel mit Andrea Marcon am Pult und dem Countertenor Carlos Mena als zügellosem Licida, der bei den Olympischen Spielen seinen sportlichen Freund unter seinem Namen in den Wettkampf schickt und damit unabsehbare Verwicklungen hervorruft. Tempelfrevel und ein Attentat, inzestuöse Liebe und verdeckte Homoerotik: Pietro Metastasio hat das elegante Libretto mit den krudesten Verbrechen gefüllt – und Vivaldi schreibt dazu eine Musik, die empfindsam und sensibel die seelischen Qualen der Figuren ausdeutet.

Die bedeutendere Entdeckung jedoch war eine bis dato völlig unbekannte Oper, die erst vor kurzem nach akribischer Forschungsarbeit in der Biblioteca Vaticana wiederentdeckt und Alessandro Stradella zugeschrieben werden konnte: „Amare e fingere“ – also „Lieben und Heucheln“ ist der Titel der 1676 in Siena uraufgeführten und seither vergessenen Oper.

Vier Menschen königlichen Geblüts treffen „in den ländlichen Gefilden Arabiens“ aufeinander. Eine Königin und zwei Prinzen leben inkognito als Hirten in diesem exotischen Arkadien. Unerkannt liebt der Bruder die Schwester und wird so unwissentlich zum Konkurrenten seines eigenen Freundes. Gegenseitig heuchelt man sich Liebe oder Ablehnung, verbirgt echte Gefühle, unterdrückt mühevoll Leidenschaft. Vermeintliche Standesunterschiede quälen die Liebenden noch, als sie sich endlich ihre Zuneigung eingestanden haben. Gewalt, Streit, Entführung, ein altes Orakel, rätselhafte Medaillons und Briefe: Die Intrige schürzt sich, bis sich die heillose Verwirrung auflöst und die richtigen Paare zueinander finden. Die Moral der Geschicht‘ heißt: „Nichts versteht von der Liebe, wer nicht zu heucheln weiß“.

Innovative Musik eines exzentrischen Komponisten

Stradella selbst hätte es wohl nicht besser sagen können: Der 1639 in Nepi nördlich von Rom geborene Komponist war beruflich wie biografisch ein exzentrischer Typ. Jacques Bonnet hat 1715 die wundersame Geschichte des ausschweifenden Musikers erzählt, der mit der Geliebten eines venezianischen Patriziers durchbrennt. Der gehörnte Liebhaber lässt ihn von gedungenen Mördern durch Italien hetzen, die ihn schließlich beim dritten Anschlag töten können. Bekannt wurde die Geschichte nicht zuletzt durch die romantische opéra comique „Alessandro Stradella“ Friedrich von Flotows von 1844, der auch das Motiv der zauberhaften Musik Stradellas aufgreift: Ihre sinnliche Macht rührt selbst die Häscher, so dass sie beim ersten Mal nicht in der Lage sind, ihr Opfer zu meucheln.

Tatsächlich ist über das offenbar turbulente, von Liebesaffären und Spielschulden durchwebte Leben Stradellas kaum etwas bekannt – außer, dass er 1682 in Genua an den Folgen einer gewaltsamen Attacke auf der Straße starb. Aber er hat unvergleichliche Musik hinterlassen: Opern und Oratorien für die römische Aristokratie, Symphonien und Serenaden. Andrea De Carlo, der gemeinsam mit Arnaldo Morelli „Amare e fingere“ gefunden und identifiziert hat, verglich ihn einmal mit Caravaggio: So wild, so grell, so revolutionär und so spirituell wie der römische Maler soll auch Stradella gewesen sein.

Das Ensemble Mare Nostrum und die Solisten der modernen Erstaufführung von "Amare e fingere" von Alessandro Stradella in Herne. Foto: WDR/Thomas Kost

Das Ensemble Mare Nostrum und die Solisten der modernen Erstaufführung von „Amare e fingere“ von Alessandro Stradella in Herne. Foto: WDR/Thomas Kost

Zumindest die Spiritualität und das Revolutionäre sind bei der Aufführung im Kulturzentrum der Ruhrgebietsstadt deutlich zu vernehmen. De Carlo dirigiert sein 2005 gegründetes Ensemble „Mare nostrum“ und verpasst den hinterlassenen Noten Stradellas eine streicherbetonte Instrumentierung plus Cembalo, Theorbe, Arciliuto (Erzlaute), Harfe und, wohl nicht so ganz historisch, aber klanglich passend, Orgel.

De Carlo, Gründer eines Stradella-Festivals in Nepi – seit 2017 in Viterbo – hat sich den Ruf eines Spezialisten erworben: Er hat dort die Oper „Doriclea“ aufgeführt und eine Reihe von Aufnahmen eingespielt. Sein Orchester entspricht den Formationen, wie sie von zeitgenössischen Stradella-Aufführungen überliefert sind; dass man hin und wieder den Bläserklang vermisst, ist wohl modernen Ohren geschuldet. Die Musiker des Ensembles jedenfalls agieren mit fein abgestuften Nuancen und einer variablen Balance, die vielfältige Charakterisierungen zulässt.

Feurige Kraft der Kontraste

Das verhindert nicht, dass die Fülle der Rezitative trotz aller sängerischen Finesse vor allem im ersten Teil ermüdet – so tief und differenziert manche von ihnen gestaltet sind. Aber auf der anderen Seite hört man, wie frei Stradella mit Harmonien umgeht, wie packend emotional er die Gesangslinien führt. Die Arien wirken ungewöhnlich, weil sie einen modernen Begriff von Emotionalität vermitteln. In der Tat: Diese Subjektivität hat etwas von der feurigen Kraft der Kontraste, wie sie auch Caravaggios Gemälde auszeichnen.

Stradella überrumpelt den Zuhörer geradezu und wirft ihn mitten hinein ins Geschehen: Ohne Ouvertüre beginnt die Oper mit einem erregten Wortwechsel zwischen Fileno und seiner von ihm begehrten Clori, die seine unerkannte Schwester ist. Mauro Borgioni zeigt hier wie in seiner folgenden Arie und dem ausgedehnten Rezitativ, dass er stilistisch souverän einen klaren Bariton einsetzen kann, der aber wenig italienischen Schmelz mitbringt und in der Höhe anfangs leicht unsicher wirkt. Clori muss einen weiten Ambitus von Emotionen durchschreiten, von Sehnsucht und glühendem Glück bis hin zu impulsivem Ärger, edlem Schmerz und tiefer Resignation. Paola Valentina Molinari gefällt mit einem schlanken, sicher geführten Sopran, aber die Töne sind nicht immer klanglich gefüllt und technische Raffinessen wie die messa di voce geraten zu zaghaft und flach.

Luca Cervoni als Rosalbo setzt einen klaren, gut fokussierten Tenor ein und hat mit seinen Arien und einem Duett in der zweiten Szene des ersten Aktes großartige Möglichkeiten, Ausdruck und kunstvollen Gesang zu zeigen. Josè Maria lo Monaco legt als Celía Farbe und Leidenschaft in ihren Mezzo, wenn die getarnte Königin Arabiens bekundet, dass ihr Herz „Freiheit“ singe: „Libertá, libertá canta’l mio core …“. Chiara Brunello füllt mit feurigem Alt als Darstellerin in der zweiten Reihe die wichtige Rolle des Silvano aus; als Erinda darf sich Silvia Frigato in einigen frechen Kommentaren, zwei originellen Arien und einem wundervollen Rezitativ am Ende der Oper als schlagfertige Gestalterin erweisen.

Die Konzerte bei den „Tagen Alter Musik“ wurden aufgezeichnet und werden teilweise noch auf WDR 3 ausgestrahlt: am 22. und 29. November, 6. und 13. Dezember, jeweils um 20.04 Uhr. Info: www1.wdr.de/radio/wdr3/musik/tagealtermusikherne/tage-alter-musik-herne-174.html




Zorn, Hochmut, Wollust und mehr: Die sieben Todsünden stehen im Mittelpunkt der „Tage Alter Musik“ in Herne

Das Ensemble Mare Nostrum kommt mit einer bisher unbekannten Oper von Alessandro Stradella nach Herne. (c) Antonio Scordo

Das Ensemble Mare Nostrum kommt mit einer bisher unbekannten Oper von Alessandro Stradella nach Herne. (Foto: © Antonio Scordo)

Herne ist unter den Ruhrgebietsstädten nicht gerade als ausgeprägte Kulturmetropole bekannt. Einmal im Jahr rückt die Stadt mit ihren 156.000 Einwohnern aber ins überregionale Interesse, wenn mit kräftiger Unterstützung von WDR 3 die „Tage Alter Musik“ veranstaltet werden. In diesem Jahr widmen sich die Konzerte und Opern dem Thema der Todsünden in der Musik vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert.

Mit den Sünden ist das so eine Sache: Moraltheologisch sind sie genau definiert; doch in Alltagssprache und gesellschaftlichem Umgang verschwimmt der Begriff. Sünden und ihre Vermeidung waren in der Geschichte des Christentums häufig ein die Menschen bedrängendes Thema.

Die Sorge um das ewige Heil trieb die Gläubigen immer wieder an zu heute absonderlich anmutenden Praktiken der Buße, der Läuterung und der Bestrafung. Das Höllenfeuer als Mittel der Drohung und der Disziplinierung verlor im Zuge der Aufklärung seine seelensengende Hitze. Eine moderne Theologie kommt ohne dieses Druckmittel aus – zum Leidwesen mancher konservativer Kreise, die sich die Botschaft von der ewigen Verdammnis wieder präsenter in der kirchlichen Lehre wünschten.

Der „Zorn“ eröffnet das Festival

Völlerei oder Depression? Gioachino Rossini wird gerne als unersättlicher Gourmet dargestellt. Stefan Irmer (Foto: WDR) präsentiert am 11. November, 11 Uhr, ein pianistisches Menü aus den »Péchés de vieillesse« von Rossini, dessen 150. Todestag am 13. November begangen wird.

Völlerei oder Depression? Gioachino Rossini wird gerne als unersättlicher Gourmet dargestellt. Stefan Irmer (Foto: © WDR) präsentiert am 11. November, 11 Uhr, ein pianistisches Menü aus den »Péchés de vieillesse« von Rossini, dessen 150. Todestag am 13. November begangen wird.

Die „Tage Alter Musik“ in Herne arbeiten von Donnerstag, 8. bis Sonntag, 11. November den klassischen Siebener-Katalog ab: Zorn, Hochmut, Wollust, Neid, Völlerei, Trägheit und Geiz werden in elf Veranstaltungen musikalisch thematisiert. Nur schade, dass die hochkarätigen Konzerte nicht durch eine Veranstaltung ergänzt werden, bei der das Thema der „Sünde“ auch geistesgeschichtlich und theologisch aufgearbeitet wird. Denn was die Todsünden konkret sind, die den Menschen von Gott und seiner Liebe trennen, ist so einfach heute nicht zu beantworten. Der Begriff bedürfte der inhaltlichen Konkretisierung, statt in assoziativem Ungefähr lediglich als Stichwort oder Überschrift zu dienen.

Eröffnet wird das Festival am Donnerstag, 8. November, um 20 Uhr in der Kreuzkirche in Herne. Zum Thema „Zorn“ präsentieren das Vokal-Ensemble Polyharmonique und das [OH!] Orkiestra Historyczna Geistliche Musik des 17. Jahrhunderts von Francesco Cavalli bis Johann Rosenmüller.

Die „Wollust“ als Thema von zwei Opern

Ein Höhepunkt im Festivalprogramm ist die moderne Erstaufführung der 1676 in Siena uraufgeführten Oper „Amare e fingere“ („Lieben und Heucheln“) von Alessandro Stradella am Freitag, 9. November, 19 Uhr im Kulturzentrum Herne. Unter Andrea del Carlo widmen sich das Ensemble „Mare nostrum“ und sechs Solisten dem lange verschollenen Werk, das erst vor kurzem in der Bibliotheca Vaticana wiedergefunden wurde. Es widmet sich der Begierde und ihrer Beherrschung und spielt in seinem Titel auf die ehrenhafte Form der Heuchelei an, die vor der erdrückenden Stärke der Mächtige schützt.

Der Dirigent Andrea Marcon. Foto: Marco Borggreve

Der Dirigent Andrea Marcon. (Foto: © Marco Borggreve)

Der Komponist selbst ist eine der farbigsten Figuren der Musikgeschichte. Er wurde wohl wegen einer Liebesaffäre mit der jungen Geliebten eines venezianischen Patriziers in Genua ermordet. Kein Wunder, dass die Aufführung unter dem Motto „Wollust“ firmiert. Stradella – der sogar Titelfigur einer romantischen Oper von Friedrich von Flotow wurde – schrieb eine Musik, die sich durch eine weit in die Zukunft vorausweisende emotionale Impulsivität auszeichnet.

Die zweite Oper – ebenfalls mit der „Wollust“ als Thema – schließt am Sonntag, 11. November, 19 Uhr im Kulturzentrum die „Tage Alter Musik“ ab. Das renommierte Barockorchester „La Cetra“ aus Basel unter Andrea Marcon und sechs Solisten führen Antonio Vivaldis „L‘ Olimpiade“ auf. Geschrieben für eines der acht venezianischen Opernhäuser und im Karneval 1734 uraufgeführt, schildert das Libretto des wohl berühmtesten Operndichters des 18. Jahrhunderts, Metastasio, eine turbulente Mischung aus Betrug, Blasphemie, Mord und Selbstmord, Homoerotik und inzestuöser Liebe. „Feinste musikalische Wollust“, die auch heutige Ohren zu entzücken weiß.

_______________________________________

Über die Veranstaltungen informiert die Webseite https://www1.wdr.de/radio/wdr3/musik/tagealtermusikherne/index.html.

Tickets für die Konzerte gibt es bei der ProTicket-Hotline, Tel.: (0231) 917 22 90, www.proticket.de.

Das Kulturradio WDR 3 sendet die Konzerte am Freitag, Samstag und Sonntag (9., 10. und 11. November) jeweils um 20 Uhr sowie am Sonntag, 11. November um 16 Uhr live. Parallel zum Festival Herne veranstaltet die Stadt vom 9. bis 11. November eine internationale Musikinstrumenten-Messe mit Tasteninstrumenten der Alten Musik sowie ein Werkstattkonzert am 10. November.

Die Sendetermine und weitere Informationen gibt es im Internet unter www.tage-alter-musik.de und am WDR-Hörertelefon unter
(0221) 56 789 333.

 




Pikante Pirouetten, Pandas und Teufelsbrigaden – Ruhrtriennale präsentiert ein schräges Security-Ballett in Gladbeck

Szene aus „No President..." (Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker / Ruhrtriennale)

Szene aus „No President…“ (Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker / Ruhrtriennale)

Es kommt nicht häufig vor, dass Off-off-Theaterproduktion bei großen Festivals gezeigt werden. Die RuhrTriennale präsentiert jetzt das Natural Theatre of Oklahoma, bekannt für seine diversen theatralen Ausflüge in neue Welten und verstörende Ideen.

Die Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck („in the middle of nowhere“) bietet der amerikanischen Compagnie, die hier in Europa hin und wieder auf großen Festivals zu sehen war, Gelegenheit, eine Erzählung mit Balletteusen in Turnhosen, Tutus und anderen komischen Kostümierungen zu zeigen.

140 Minuten konfrontieren sie uns mit einer abstrusen Geschichte (Titel: „No President. A story ballet of enlightenment in two immoral acts“) um einen Sicherheitsservice, der sich aus ehemaligen Schauspielern und Tänzern zusammensetzt, um einen Vorhang zu bewachen.

Die Übertitelung in Deutsch ist hilfreich, denn es geht schnell und turbulent zu. Slapstick und Stummfilm-Anmutungen, manchmal ironisch angelehnt an zeitgenössischen Tanz, begleitet von der Nussknacker-Musik, bebildern den Text des Sprechers, der einen unglaublichen Job macht.

Im Nebel der Ungewissheit

Auf der Suche nach aktuellen Bezügen zum Weltgeschehen, habe ich nach einger Zeit aufgegeben, zu wild und schräg sind die Ideen, die hier inszeniert wurden. Das Ensemble besteht aus amerikanischen Performern und Mitgliedern des Düsseldorfer Schauspielhauses, das diese Produktion koproduziert hat. Es geht u.a. um das „gefährliche Lebensmittel“ Cheeto, eine Art Chipssorte, um russo-chinesiche Oligarchen, um Prä-Aufführungsrituale, um flüchtige, desorientierte Pandas, Ballettbanditen, pikante Pirouetten, private Teufelsbrigaden, Masturbationszubehör.

„Das Regieren ist eine Form der darstellenden Kunst“, heißt es einmal. Es geht um Macht, Liebe und Wahnsinn. Schön und lustig; dennoch fehlt hier der Moment des Innehaltens. Wenn am Ende doch die Vorhänge – es sind drei – aufgehen, dann bewegen sich die beiden Hauptakteure, Georgie und Mikey, im Nebel der Ungewissheit. So geht es auch mir. Es bleibt ein Eindruck von Tohuwabohu.

Weitere Aufführung am 20. September. Nähere Infos hier




Leise Lieder von Abschied und Vergehen – Marthalers „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ bei der Ruhrtriennale

Ein leerer Raum mit schrägen Oberlichtern, im Hintergrund ein Personenaufzug und eine hohe Flügeltür: Das könnte ein Museum sein oder eine leergezogene Fabrikhalle, auf jeden Fall ein uneingeschränkt funktionaler Ort. Hier wirkt der Mann im grauen Hausmeisterkittel, schiebt Rollwagen herein mit undefinierbarer folienverhüllter Fracht.

Was wird das werden? Mit der Antwort kann es dauern, wie stets in den Stücken Christoph Marthalers, denen viel Gemächlichkeit eigen ist. Dieses heißt „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ und war jetzt im Gelsenkirchener Musiktheater im Revier (MiR) als funkelndes kleines Programmglanzlicht der Ruhrtriennale zu sehen.

Letzte Arbeit für die Berliner Volksbühne

„Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ war Marthalers letzte Arbeit an der Berliner Volksbühne. Mit dem Ausscheiden des Intendanten Frank Castorf endete auch die lange währende Kooperation, die 1993 mit „Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab!“ ihren seinerzeit stark beachteten Anfang hatte. „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ ist deshalb ein Stück der Rückschau geworden, die einen natürlich schwermütig stimmen kann, auf der Bühne wie im Zuschauerraum.

Doch sie leben noch

Doch die gut verpackten Figuren leben noch, wenn man sie nur lässt! Und nichts anderes tut der Mann im grauen Kittel, als sie in des Wortes wörtlichem Sinn aus Folie und Holzkiste auszupacken und auf die Bühne zu stellen.

Dann bewegen sie sich, dann singen sie, dann spielen sie gar auf Klavier und Cembalo. Und unerwartet sportlich sind einige von ihnen, Damen zumal, und keineswegs ohne erotischen Reiz. Wenn das ganze kulminiert, formieren sich die Weggepackten gar zu einer Art erotisch-lüsterner Laokoon-Gruppe auf dem Rollwägelchen, und jeder möchte dabei sein. Dem Kittelmann wird das zu viel, er packt ein, rollt hinaus, die Erinnerungen kommen zurück ins Magazin. Doch die Personen kehren wieder.

Alles schon einmal gebraucht

Für Bühne und Kostüme griff Marthalers großartige Ausstatterin Anna Viebrock auf den Fundus zurück, verwendete also nur Dinge, die in seinen früheren Produktionen schon einmal eingesetzt waren. Und vielleicht sind auch alle Lieder dort schon einmal gesungen worden, die im weiteren Verlauf des Abends zu hören sind, wer will das so genau wissen? Händel, Satie, Mahler und Schubert nennt der blaue Programmzettel, der in Orange noch ungleich mehr, mit Bach beginnend und mit Wagner endend.

Eher gehaucht als gesungen

Musik – und da vor allem Gesang – findet in Marthalers Theater aber nicht als schmetternde Nummernrevue statt, sondern ist fein und leise in den Gang des scheinbar Bedeutungslosen hineingesetzt, das „Handlung“ zu nennen einem manchmal widerstrebt.

Leise, sehr leise erklingen viele Lieder, und viele werden auch nie lauter. Der feine Ton macht sie nur noch eindrücklicher, und manchmal erzählt er geradezu Geschichte – etwa, wenn „Brüder zur Sonne, zur Freiheit“ kaum wahrnehmbar, eher gehaucht als gesungen, erklingt. Ja, die donnernde Revolution ist ausgeblieben, an der Volksbühne und anderswo, und vielleicht ist es sogar gut so.

Wenn dieser vorwiegend a cappella vorgetragene Gesang in der zweiten Stückhälfte nicht so schön wäre, so filigran und sanft, dann könnte man schon trübsinnig werden ob der Inhalte, mitleiden etwa mit dem jungen Mann, dessen Freundin „In einem kühlen Grunde“ (Text von Eichendorff) die Beziehung beendet hat und der nun am liebsten tot wäre. Oder, im Kirchenlied, verzweifeln an der Aussichtslosigkeit der eigenen gottlosen Existenz.

Düsternis und Heiterkeit

Die Musikauswahl, man kann es nicht anders sagen, kreist sehr um Trennung, Verlust, Abschied, Niedergang, was nach einem Vierteljahrhundert kreativer Arbeit an der Berliner Volksbühne nicht verwundern kann. Auch das Schlussbild ist kein Trost. Alle, die auf der Bühne sind, müssen ihre Schuhe abgeben, Symbole für Leben, Beweglichkeit, Erdung, ein düsterer finaler Akt.

Heiterkeit wiederum erregten manche Personenzeichnungen – alte Männer im clownesken Altmänner-Outfit mit Hosenträgern und Pantoffeln, füllige Damen in neckischer Pose; Marthaler weiß souverän mit der Spannung zwischen ernst und lustig zu spielen, um das Bühnengeschehen dramatisch zu überhöhen. Bei ihm ist gemächlich nicht das Gegenteil von kurzweilig, eher im Gegenteil.

In der großen Halle

Wenige Tage zuvor konnten Triennale-Besucher in der Bochumer Jahrhunderthalle, ebenfalls von Marthaler inszeniert, das symphonische Fragment „Universe, Incomplete“ von Charles Ives erleben, eine theatralische Materialschlacht (siehe dazu auch Martin Schrahns ausführliche Rezension in den Revierpassagen). Der Schweizer Theatermacher kann beides, große Halle wie kleine Theaterbühne. Aber dem typischen Schaffen dieses feinnervigen Musikerzählers begegnet man sicherlich eher in Produktionen wie, eben, „Bekannte Gefühle…“.

Was wird aus der Intendantin?

Wo werden wir zukünftig dieses in seiner Art einmalige Gesangstheater erleben können? Der Stuhl von Stefanie Carp, die seit vielen Jahren Marthalers kongeniale Dramaturgin und außerdem derzeit Triennale-Intendantin ist, wackelt. Sollte sie gehen, geht Marthaler – vermutlich – auch. „Froh schlägt das Herz im Reisekittel, vorausgesetzt, man hat die Mittel“, zitiert ein Mitspieler in einer der heitereren Passagen des Stücks Wilhelm Busch. Angesichts der politischen Entwicklung ist das ein geradezu seherischer Aphorismus.

Keine weiteren Vorstellungen in Gelsenkirchen

www.ruhrtriennale.de




Ein kurzer Brief an die lit.RUHR 2018 oder: „Über die allmähliche Abfertigung der Gedanken bei Grußworten“

Aus der beliebten Reihe „Visualisierung comme il faut": Es ist schon ein Kreuz mit der Sprache... (Foto: Bernd Berke)

Aus der beliebten Reihe „Visualisierung comme il faut“: Es ist manchmal schon ein KREUZ mit der Sprache… (Foto: Bernd Berke)

Liebe lit.RUHR,

ich lese gerade Dein brandneues Programmheft – und staune zunächst einmal, was alles für eine halbe Million Euro Sponsorenzuspruch plus Eintrittsgelder inhaltlich n-i-c-h-t geht.

Dabei, liebes „Team der lit.RUHR“, fiel es mir bereits bei Deinem Grußwort schwer, überhaupt weiterzulesen. Nicht allein das übliche Marketinggesums, all die Klischees, die Ranschmeiße ans Publikum und der schleimige Dank an die Sponsoren missfallen. Leider scheint im Umfeld Eures Literaturfestivals auch allerhand Sprachvermögen abhandengekommen zu sein.

Ihr schreibt da z.B.: „… eine Ära geht zu Ende, der Pulsschlag einer Region verstummt“. Bleischwerer und letaler geht’s nicht? „Puls“ kommt aus dem Lateinischen („pulsus“) und heißt eigentlich schon „Stoß“ oder „Schlag“, deshalb reichte es völlig aus zu sagen, dass der Puls einer Region ruhiger wird. Im Revier pulsiert’s ja weiter oder willst Du, liebes Team der lit.RUHR, uns alle hier nach dem Ende des Bergbaus für tot erklären? Nekropole Ruhr? Ja, dahin können Phrasen führen.

Vielen Dank also, dass Ihr Kölner Festivalmacher auch „Abende mit Platz für Tränen, winkende Taschentücher“ versprecht. Aber wie winken Taschentücher – und mit wem? Eher wird doch wohl mit Taschentüchern selbst gewinkt, oder?

Und der letzte Absatz, au Backe! Mit der dreimaligen Wiederholung von „wollen“ bringt der Bandwurm-Satz nun wirklich Grollen ins Gedärm. Außerdem muss es selbstverständlich „des Räubers Hotzenplotz“ heißen und nicht „des Räuber Hotzenplotz“.

Ist denn in der halben Mio. Förderasche kein Sümmchen für Sprachberatung drin? Ne? Echt? Okay, ich leg´ `nen Zehner drauf.




Was soll uns der Saurier? Christoph Marthaler wagt sich bei der Ruhrtriennale an das Universum von Charles Ives

Berührende Momente und Rätselhaftes: Plötzlich schwebt ein Dino ein. Foto: Walter Mair/Ruhrtriennale

Berührende Momente und Rätselhaftes: Plötzlich schwebt ein Dino ein. Foto: Walter Mair/Ruhrtriennale

Am Beginn steht die Erschaffung der Welt. Es klingt ein Klopfen, Zischeln und Hämmern im vielfach geteilten, polyrhythmisch arbeitenden Schlagzeug, als befänden wir uns in einem Maschinenraum. Das an- und abschwellende Werkeln stammt aus Charles Ives’ unvollendeter „Universe Symphony“, die nicht weniger als die Schöpfungsgeschichte, des Menschen Erdendasein und sein Streben nach Erlösung und Erleuchtung umfasst.

Für Christoph Marthaler, den Regisseur der Langsamkeit und Verstörung, sowie für die Ausstatterin Anna Viebrock, die Schöpferin muffiger, verblichener, seelische Leere spiegelnder Interieurs, war Ives’ monumentaler Ansatz reichlich Inspiration, das musikalische Fragment zu einem Gesamtkunstwerk auszuweiten. Entstanden ist eine in ihrer riesenhaften Dimension teils faszinierende, verrätselte, teils langatmige, dramaturgisch äußerst gespreizte Triennale-„Kreation“.

Marthalers Personal rennt und tänzelt, schreit oder schaut stumm. Foto: Walter Mair/Ruhrtriennale

Sie ist in Bochums Jahrhunderthalle zu erleben, gewissermaßen in einem Maschinenraum vergangener Zeiten. Dort kommt das perkussive Tüfteln langsam zum Ende, aus der Ferne zeichnet ein Orchester feine Ornamente, bis plötzlich eine lärmende Marschkappelle alle Kontemplation ruppig zerstört. Und das elfköpfige Marthaler-Personal, das von einem Zollbeamten nach und nach in die Arena eingelassen wird, quittiert die Klangüberwältigung mit einem säuerlichen „Naja“.

Marthalers Menschen, die diese Welt bevölkern, die musikalisch angereichert ist mit Ives’ Kosmos aus Märschen, Songs, Hymnen und geschichteten polytonalen Orchestereruptionen, wirken wie verlorene Gestalten. Die Utopie des amerikanischen Komponisten von einer seligmachenden Transzendenz wird hier zur Dystopie, in der die Erdenbewohner rennen und kriechen, schreien und flüstern, sich balgen.

Dieses Bewegungsvokabular ist hinreichend bekannt, auch die Langsamkeit und Wiederholungszwänge oder die teils rührenden Versuche, etwas Schönes zu bewerkstelligen. Wenn sich etwa Tanzpaare zu trostvollen Streichquartettklängen finden, aber außer Verrenkungen und Erstarrung nichts zustande bringen.

Einzug der Marsch-Kapelle. Foto: Walter Mair/Ruhrtriennale

Allenthalben Verstörung, aber auch Faszination: Erstmals wird die Jahrhunderthalle in ihrer vollen Länge und gehörigen Tiefe genutzt und scheint so geradezu prädestiniert für Ives’ (teils verborgene) Klanginseln. Die Akustik jedenfalls wirkt ausgezeichnet, entfaltet sehr präsent die Schichtungen der Musik oder wunderbar knallig die Wucht der Märsche.

Schwieriger wird’s bei der Ausstattung. Die Halle selbst, mit ihren wuchtigen Verstrebungen und der industriellen Patina, ist ja Bühne genug. Da erscheinen Anna Viebrocks riesenlange Festtafel, die ollen Kirchenbänke oder eine kitschverdächtige Brücke doch arg verloren. Besser wirken die Kostüme des Ensembles (auch von Viebrock), irgendwie auf amerikanisch getrimmt, teils wie aus dem Second-Hand-Laden, garantiert völlig unmodern.

Christoph Marthaler, Regisseur der Langsamkeit und der Verstörung. Foto: Edi Szekely

Hier das Offensichtliche, dort manches Rätsel. Was soll uns bloß der Dinosaurier mitten im Spiel? Oder der Mann mit der Tuba, der immer zu spät kommt und nicht mal weiß, zu welchem Orchester er gehört? Dazu viel Gebrabbel und manche Agitation. Das angestrebte Gesamtkunstwerk entpuppt sich als Pasticcio, zerfällt in zähe Inseln.

Am Ende sanfte Streicherharmonie, ein fragendes Fünftonmotiv der Trompete und schnatternde Antwortversuche einiger Holzbläser. Zu Ives’ „The Unanswered Question“ legt Marthalers Personal, das sich zuvor die Seele aus dem Leib gespielt hat, den Kopf auf die Schulter und blickt – ins Nichts.

Der Applaus für die famosen Bochumer Symphoniker unter Titus Engel, für die trefflichen Schlagwerkformationen aus NRW-Musikhochschulen, für Mimen und das Regieteam ist herzlich. Enthusiasmus aber hört sich anders an.

https://www.ruhrtriennale.de

(Der Artikel ist in ähnlicher Form zuerst in der WAZ erschienen).

 

 




Neuproduktion ohne Ecken und Kanten: Neo Rauch und Rosa Loy tauchen „Lohengrin“ in Bayreuth in vieldeutiges Blau

Blau ist die bestimmende Farbe der Bühne von Neo Rauch und Rosa Loy. Foto: Enrico Nawrath

Blau ist die bestimmende Farbe der Bühne von Neo Rauch und Rosa Loy. Foto: Enrico Nawrath

Blau – die Farbe des Himmels, die Farbe Gottes und der Harmonie. Blau – eine kalte Farbe und nach Leonardo da Vinci die metaphysische Mischung des Sonnenlichts mit der Schwärze der Weltfinsternis. Blau – die Farbe der Nacht, der Ruhe, der romantischen Sehnsucht. Blau aber auch die Farbe, die niederländische Künstler für ihre Keramikkacheln verwendeten, die sich ab dem 16. Jahrhundert in ganz Europa verbreiteten.

Von diesem Delfter Blau hat Neo Rauch – so macht er selbst glauben – seine Inspiration für den neuen Bayreuther „Lohengrin“ empfangen. Diese Farbe bleibt so deutungsoffen wie die Bühne, die Rauch gemeinsam mit seiner Frau Rosa Loy für die diesjährige Premiere der Festspiele entwickelt hat. Ein traditioneller Rundhorizont mit schweren Wolken und durchbrechenden Lichtstrahlen, im Zentrum ein merkwürdiges Gebäude, eine Mischung aus Transformatorenhaus und Erinnerung an einen romanischen Architekturblock mit Rundbogenfries und Rosette, mit Isolatoren auf dem Dach und Leitungen zu einem angejahrten Strommast. Davor wimmelt die Menge des brabantischen Volkes in der Tracht, wie sie uns niederländische Maler auf ihren Genrebildern vertraut gemacht haben: Wämser, Häubchen, Schürzen, Schnürmieder. Es ist kein Land vor dem Hunnensturm, sondern das Land der Reformation, des Zeitalters der Glaubenszweifel.

Zwischen Whales‘ „Frankenstein“ und Böcklins „Toteninsel“

Zu dem anachronistischen Prozess, der da vor den König kommt, wird eine an zwei Seilen gefesselte Frau geführt. Elsa, in Blau, mit viel zu kleinen Flügelchen wie eine putzige Engelsfigur aus einer Kitschporzellansammlung, an einen Isolator gefesselt, erträumt ihren Retter. Lohengrin erscheint unter blitzenden Entladungen. Die Lichtbögen erinnern an James Whales „Frankenstein“-Film: Lohengrin als der „neue Prometheus“, der Lichtbringer für die Menschen? Seine graublaue Montur eröffnet breite Deutungsmöglichkeiten zwischen Luftschiffer, Elektriker oder dem einst die Sowjetunion „elektrifizierenden“ Lenin. Jubel vor dem Trafo und zwischen den Schatten hoher Zypressen, die wie aus Arnold Böcklins „Toteninsel“ drohen. Im Kampf verliert Telramund einen seiner Insektenflügel und kriecht nur noch am Boden: Motten lösen die Neuenfels’schen Ratten ab. Schon ein bekannter deutscher Satiriker wusste: Tiere auf der Bühne machen sich immer gut.

Lohengrin, zweiter Akt: Die Harmonie zwischen Lohengrin (Mitte: Piotr Beczala) und Elsa (rechts: Anja Harteros) scheint gefestigt, aber mit Ortrud (Hintergrund: Waltraud Meier) droht der Zweifel. Foto: Enrico Nawrath

Lohengrin, zweiter Akt: Die Harmonie zwischen Lohengrin (Mitte: Piotr Beczala) und Elsa (rechts: Anja Harteros) scheint gefestigt, aber mit Ortrud (Hintergrund: Waltraud Meier) droht der Zweifel. Foto: Enrico Nawrath

Neo Rauch behindert auch im zweiten und dritten Akt den Freiflug des assoziativen Bild-Symbol-Denkens nicht: Eine hohe Wolkenszenerie, auf den Tüllvorhang projiziert, versetzt die Szene zwischen Ortrud und Elsa in eine unwirkliche Landschaft. Die Figuren bewegen sich in einer dunklen Zone wie in einem Schilfgürtel, herausgeschält nur durch die Lichtspots Reinhard Traubs. Bleiben wir im Brabant der Reformation, sind Ortrud und Telramund durch ihre Kostüme als Vertreter einer älteren Ordnung gekennzeichnet: Er im gegen neue Waffen wirkungslos gewordenen Harnisch alter Rittersleut‘, sie im voluminösen Medici-Kragen und einem Rock, der an steife spanische Hofmode erinnert. Nun ja: Die beiden stehen für Radbods alten Fürstenstamm.

Schon im zweiten Akt tritt eine neue Farbe hinzu, die durch Rot ins Orange gebrochene Komplementärfarbe zu Blau: Gelb, die schwefelfarbige mittelalterliche Chiffre für den Außenseiter und das Böse. Der Turm, in dem Elsa und Lohengrin ihre Hochzeitsnacht feiern sollte, ist intensiv orange ausgeleuchtet; Elsa selbst schon – im Futter ihrer Robe – von blassem Orange infiziert. Die Farbe des Zweifels?

„Hervorstülpungen“ des Inneren

Wie eigentlich stets bei Neo Rauch, sind diese „Hervorstülpungen“ seines Inneren, entwickelt in sechs Jahren stetiger Umrahmung seiner Atelierarbeit durch Wagners Musik (so Rauch in einem Interview) ambivalent, auch nicht auf ein tradiertes Repertoire von Symbol-Bedeutungen oder Bild-Chiffren festzulegen. Aber, wie das sonst recht regietheaterverliebte deutsche Feuilleton in seltsamem Erstaunen mehrfach notiert hat: Sie sind einfach schön, und in ihrer geheimnisvollen Gegenständlichkeit reizvoll rätselhaft zu betrachten.

Sie kehrt nach 18 Jahren noch einmal auf den Hügel zurück, um ein letztes Mal Ortrud zu singen: Waltraud Meier (Mitte) mit Tomasz Konieczny als Telramund. Foto: Enrico Nawrath

Sie kehrt nach 18 Jahren noch einmal auf den Hügel zurück, um ein letztes Mal Ortrud zu singen: Waltraud Meier (Mitte) mit Tomasz Konieczny als Telramund. Foto: Enrico Nawrath

Nun ist Form ohne Inhalt, Schönheit ohne Begriff eine hohle und schnell ermüdende Angelegenheit. Der Erfolg der Leipziger Schule, soll er nicht bloß Schall und Rauch sein, sollte sich nicht auf puren Ästhetizismus, auf von ach so viel Abstraktion und Gedankenkunst ermüdete Augen stützen. Im Falle des Theaters sitzen wir nicht in einer riesigen Gemäldegalerie, sondern einem Raum, der durch Aktion, Darstellung und im Fall der Oper durch Musik mehrdimensional gedacht ist.

Bewegte Körper sind „willkommen“

Hier kommt nun die Inszenierung ins Spiel. Eigentlich, so Neo Rauch in einem Interview mit der „Zeit“, brauchen seiner Bilder die Bewegung des Körpers im Raum, die Kostüme und die Musik, gar nicht. Man könne auch aus der reinen Betrachtung des statischen Materials Genuss ziehen, bewegte Körper seien aber „willkommen“. Dafür zeichnet in Bayreuth Yuval Sharon verantwortlich, der in seiner Heimat, den USA, mit experimentellen Opern-Projekten auf sich aufmerksam gemacht hat und 2014 mit John Adams‘ problematischem Musiktheater „Doctor Atomic“ quasi aus dem Nichts heraus in Karlsruhe in der deutschen Regielandschaft eingeschlagen hat. Im Dezember 2016 hat Sharon eine „Walküre“ in Karlsruhe inszeniert und kurz darauf anstelle des von der offenen deutschen Flüchtlingspolitik vergrätzten lettischen Regisseurs Alvis Hermanis den Bayreuther „Lohengrin“ übernommen. Eine von Anfang an harmonische Zusammenarbeit, wie Rauch, Loy und Dirigent Christian Thielemann übereinstimmend bestätigen.

Trotzdem: Viel eingefallen ist Sharon zum Thema „Lohengrin“ in den eineinhalb Jahren nicht. Weder vertieft er die Figuren psychologisch, noch macht er deutlich, was an Wagners Konzept aktuell sein könnte. Die Ansätze sind da: Lohengrin als Prometheus, Lohengrin als präfaschistische Führerfigur ohne Geschichte und ohne politischen Rechtfertigungsdruck. Oder Lohengrin als „Berührung einer übersinnlichen Erscheinung mit der menschlichen Natur“, wie Wagner schrieb – die Oper also als Transzendenzproblem. Dergleichen ist höchstens in Ansätzen zu beobachten, wenn etwa, als Lohengrin zum „Gral“ zurückkehrt, die kraftvoll gemalten Lichtstrahlen von oben intensiv aufleuchten. Im Zusammenhang einer betulichen Personenregie, die in der Kirchenszene des zweiten Aktes wie aus einem früheren Reclam-Libretto wirkt, gewinnen solche Details kein Gewicht.

Christian Thielemanns intensive Steigerungskurven

Sowohl das Emanzipationsthema (Elsa, die starke Frau) als auch die Umwertung Ortruds, die den letztlich notwendigen Zweifel sät, sind schon szenisch überzeugender erzählt worden. Stattdessen wiegen sich die Köpfe der brav aufgestellten Chöre wacker hin und her, wenn im dritten Akt Elsa in knalligem Orange trotzig die Erklärung des Gralsritters entgegennehmen muss. Mag sein, dass die Reminiszenzen an alte Wolfgang-Wagner-Arrangements akustisch günstig sind. Genutzt haben sie wenig; der Chor Eberhard Friedrichs lag – „Steh ab vom Kampf!“ – mehr als einmal in ungewohntem Clinch mit der Präzision und erntete am Ende ein paar böse Buhs.

An Christian Thielemann konnte das nicht liegen: Der Festspiel-Musikdirektor dirigierte mit „Lohengrin“ die letzte der zehn Opern aus dem an sich unsinnigen Kanon der festspielwürdigen Wagner-Werke. Und da waren sie wieder, die Momente, in denen Thielemann den Streicherklang magisch samtig ausbreitet. Die Stellen, in denen Bläser und Streicher in luftig strahlender Transparenz ineinander verwoben zu schweben scheinen. Die intensiven Steigerungskurven im Finale des zweiten Aktes, die Thielemann ganz typisch mit einem kaum merklichen Rubato noch verstärkt. Aber da war auch der fehlende Biss im Vorspiel zum dritten Akt, das Fehlen einer belebenden rhythmischen Kantigkeit. Und im schimmernden Vorspiel wurden die Bläserstimmen keineswegs aus dem Nichts in das Flirren der geteilten Violinen hineingeboren, sondern setzten beinahe analytisch deutlich ein.

Gefeierte Waltraud Meier

Mit Piotr Beczała setzte Bayreuth endlich wieder einmal Lohengrin-Maßstäbe. Der polnische Tenor sang anstelle von Roberto Alagna, der vor ein paar Wochen plötzlich bemerkte, dass er keine Zeit zum Lernen der Rolle habe, mit viel Fortüne. Die italienische Fülle des Klangs stützte eine ausgezeichnete Artikulation, aber die nicht anstrengungsfreie Höhe zeigte auch, dass der „Lohengrin“ für Beczała eine Grenzpartie ist. Eine solche Grenze gilt auch für Anja Harteros als Elsa: So flexibel und innig ist „Einsam in trüben Tagen“ nicht eben häufig zu hören; in den dramatischen Momenten der Auseinandersetzung mit Ortrud hat die Stimme glanzvolles Volumen und entschiedene Attacke; im Duett des dritten Akts zeigt das zunehmend flackernde Vibrato, dass ihr die Ausdauer fehlt, die Phrasen konsequent durchzustützen.

Gefeiert wurde Waltraud Meier. Nach 18 Jahren kam die Sängerin, die in so vielen Partien Maßstäbe gesetzt hat, für ihre letzte Ortrud noch einmal nach Bayreuth zurück. Man spürt ihre Erfahrung in jeder stimmlichen Geste, aber auch in jedem Moment ihrer Bühnen-Aktion. Ihre Ortrud ist keine grelle Hexe, keine sich wild gebärende Furie, sondern eine lauernd-verhalten singende, überlegende und überlegene Regisseurin eines Masterplans, der ihr am Ende dann doch aus den Händen gleitet. Waltraud Meier kann durch Erfahrung gestalten, wo sich junge Stimmen mit Frische und Energie ihren Weg bahnen; ihre „Entweihten Götter“ strahlen immer noch eine gleißende Gefährlichkeit aus, die heute noch subtiler gefärbt wirkt als im Ungestüm früherer Jahre.

Nach der Ära des Regietheaters

Bei Georg Zeppenfeld gibt es das Problem, dass er stets so souverän gestaltet, so zuverlässig rund und makellos den Ton formt, dass die Gewöhnung das Außerordentliche einer solchen Leistung beinahe als selbstverständlich sehen will – was es keinesfalls ist, wie Tomasz Konieczny als Telramund mit teils forciert verfärbten Vokalen, teils gewaltsamer Tonbildung und Emission demonstriert. Egils Silins ergänzt die Solistenriege als zuverlässig standfester Heerrufer, den die Regie weitgehend unauffällig zur Nebenfigur verurteilt. Der Beifall war gewaltig, bei Konieczny und dem Chor mit einigen markigen Buhs durchsetzt. In die Inszenierungsgeschichte des „Lohengrin“ am Grünen Hügel könnte der Abend als musikalisch glücklich gelungenes Beispiel eines aneckungsfreien Nach-Regietheater-Ära eingehen.




Mehr als Filet und Trüffel: Die Musikwelt begeht das 150. Todesjahr Gioachino Rossinis – Festivals in Bad Wildbad und Pesaro würdigen sein Werk

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Er ist unbestritten einer der großen Komponisten des 19. Jahrhunderts und hat mit „Il Barbiere di Siviglia“ ein Meisterwerk geschaffen, das seit seiner Premiere 1816 nicht mehr von den Bühnen der Welt wegzudenken ist. Aber die öffentliche Wahrnehmung Gioachino Rossinis weist merkwürdige Brüche und Lücken auf. Von seinen rund 40 Bühnenwerken wird neben dem unsterblichen spanischen Barbier nur eine Handvoll im Repertoire der Opernhäuser zur Kenntnis genommen – zumindest in Deutschland.

Die in den siebziger Jahren entstandenen, ausgezeichneten Einspielungen unter Claudio Abbado haben „La Cenerentola“ und „L’Italiana in Algeri“ wieder weithin bekannt gemacht. Den „Turco in Italia“ hatte zuvor schon Maria Callas in einer – wenn auch arg verstümmelten – Aufnahme wieder ins Bewusstsein geholt. Anerkannt, wenn auch über Jahrzehnte nicht häufig gespielt, war stets Rossinis letztes Werk für die Bühne, der 1829 in Paris uraufgeführte „Guillaume Tell“ – ein Markstein in der Geschichte der Oper.

Brillanter Witz gegen deutschen Tiefsinn

Über die Gründe, die zum Verschwinden großer Teile des Rossini’schen Schaffens geführt haben, ist mittlerweile viel geschrieben worden. Sie reichen vom Geschmackswandel des Publikums nach 1850 über die früher verheerende Quellenlage bis hin zur politisch und nationalistisch motivierten Polemik. Gegen den deutschen Tiefsinn von Beethoven bis Wagner hatte die flatterhafte italienische Muse keine Chance. Gegen Rossinis brillanten Witz und sarkastische Schärfe standen das so gesehene „echte“ Gefühl und die „wahre“ Liebe. Solche Denkschablonen verhindern bis heute eine adäquate Beschäftigung mit Rossinis Gesamtwerk, zumal mit den ernsten Opern, die nach wie vor vom Glanz seiner buffonesken Paradestücke in den Schatten gedrängt werden.

Merkwürdig auch, wie Rossini als Person wahrgenommen wird. Karikiert wird er gerne als heiterer Jupiter im Reich der Musik, der aber eher von Tournedos Rossini und getrüffeltem Truthahn umgeben ist: Rossini, der Schöpfer unsterblicher Anekdoten und elektrisierender Melodien; Rossini, der witzige, aber auch faule Gourmet; Rossini, der Wagner nicht verstand und die neue Zeit ablehnte.

So wird das Bild verzerrt, in dem von Rossini, dem kritisch-aufklärerischen Geist, dem illusionslosen Analytiker, dem musikalischen Innovator und Experimentator, aber auch von Rossini, dem kranken Mann und depressiven Leidenden, kaum Konturen zu erkennen sind. Auch über seine meist sorgsam getarnte Religiosität ist kaum etwas zu erfahren.

Dass solche Stereotypen bis heute weitergetragen werden, zeigt die neueste Publikation „Rossini – die hellen und die dunklen Jahre“ von Joachim Campe, dem Rezensenten klägliches Scheitern attestieren. Zum Glück gibt es die schon älteren Biographien von Volker Scherliess und Richard Osborne sowie das Buch „Gioachino Rossini und seine Zeit“ des in Köln lehrenden Musikwissenschaftlers Arnold Jacobshagen, das zuverlässig und auf dem aktuellen Stand der Forschung ein neues Bild des Komponisten zeichnet.

Der Trend weist in seine Richtung

Inzwischen scheint sich auch auf den Bühnen der Welt ein Trend in Richtung Rossini abzuzeichnen. Wer auf www.operabase.com eine Statistik der Opern-Aufführungen der letzten fünf Spielzeiten abruft, findet Rossini mit 5237 gezählten Vorstellungen auf Platz vier unter den weltweit meistgespielten Komponisten – hinter Verdi, Mozart und Puccini, aber vor Wagner (Platz 6), Bizet oder Richard Strauss. Sicher ist das dem „Barbier von Sevilla“ zu verdanken, der im Ranking der Opern Rossinis einsam an der Spitze steht.

Die Breite der Rezeption auch kaum bekannter Werke Rossinis ist bemerkenswert. Doch im deutschsprachigen Raum prägt sich dieser Trend eher zögerlich aus. In den letzten Jahren traten neben eine Reihe von Neuinszenierungen von „Guillaume Tell“ und einem lebhaften Interesse an der erst 1984 in ihrer originalen Gestalt wiederentdeckten „Reise nach Reims“ nur wenige (Wieder-)entdeckungen: So etwa die monumentale Vertonung des biblischen Exodus-Stoffes „Mosé in Egitto“ in Bregenz und jüngst in Köln, „Semiramide“ in München und bei den Tiroler Festspielen Erl, „Die diebische Elster“ in Würzburg und Frankfurt, „Ermione“ und „Maometto Secondo“ in Rostock, „Tancredi“ in Mannheim oder „Elisabetta, Regina d’Inghilterra“ im Theater an der Wien.

Auch die kommende Spielzeit 2018/19 weist trotz des 150. Todesjahres Rossinis – er starb am 13. November 1868 – bisher nicht darauf hin, dass Rossini über den üblichen Rahmen hinaus zur Kenntnis genommen würde. Lediglich die Tiroler Festspiele Erl setzen ihren Einsatz für Rossini mit dem kühnen, mit Formen experimentierenden „Ermione“ fort (6. und 13. Juli). das Theater an der Wien kündigt ab 13. Oktober einen neuen „Guillaume Tell“ an. Ansonsten seift der Sevillaner Barbier seine Widersacher landauf landab in alten und neuen Inszenierungen ein.

Festivals leisten wichtige Entdeckerarbeit

Frisch renoviert: Das Wildbader Kurtheater. Foto: Marcel Menz

Umso wichtiger ist die Arbeit der beiden Rossini gewidmeten Festivals in Europa. Dem Rossini Festival im italienischen Pesaro und dem zum 30. Mal stattfindenden Festival Rossini in Wildbad ist zu verdanken, dass die neuen kritischen Editionen der Opern in lebendiger Musik und aktuellen Inszenierungen ihren Wert für die Gegenwart beweisen können. An der Adria und im Schwarzwald wandeln sich Noten in Klang, die zum Teil seit ihrer Entstehungszeit in Archiven schlummern. Scheinbar bekannte Werke werden neu gehört.

Gerade das Festival in Wildbad leistet mit geringen Mitteln, was von solide finanzierten deutschen Opernhäusern mit ihrem Apparat und ihren dramaturgischen Kompetenzzentren bis heute nicht zu erwarten ist: Nie gehörte Werke Rossinis werden auf ihre Relevanz befragt, eine junge Generation stilistisch gewandter und technisch anspruchsvoll ausgebildeter Sänger zeigt, wie Rossini heute zu singen ist.

Im Sommer 2018 setzt Bad Wildbad unter dem seit 1991 amtierenden, unermüdlichen Intendanten Jochen Schönleber seine Serie verdienstvoller Aufführungen fort. Sie sind inzwischen längst international anerkannt und ziehen Publikum aus allen Teilen der Welt an. Auf dem Programm des Jubiläumsjahres stehen vom 13. bis 29. Juli vier Opern: „L’Equivoco stravagante“ („Die verrückte Verwechslung“), eine grotesk-zweideutige Liebesgeschichte, die erste abendfüllende komische Oper Rossinis von 1811. Als deutsche Erstaufführung erklingt Rossinis letzter Erfolg vor seinem Abschied aus Neapel, das dramma per musica „Zelmira“, dirigiert von Gianluigi Gelmetti und mit der in den Vorjahren umjubelten Silvia Dalla Benetta in der Titelrolle.

In einer eigens erstellten vervollständigten Ausgabe zeigt das Festival am Nordrand des Schwarzwaldes Rossinis monumentaler Choroper „Moïse“, die den Auszug der unterdrückten Israeliten unter Führung von Moses aus dem Land der Pharaonen und die Vernichtung der ägyptischen Truppen beim Zug durch das Rote Meer schildert. Fabrizio Maria Carminati dirigiert, der russische Bass Alexej Birkus vom Staatstheater Nürnberg verkörpert die Gestalt des alttestamentlichen Patriarchen.

Die vierte Oper im Programm ist „La Cambiale di Matrimonio“ („Der Heiratswechsel“), der erste in Venedig aufgeführte komische Einakter des erst 18jährigen Rossini. Ergänzt wird das Programm durch Konzerte mit Rossini-Raritäten wie den „Trois choeurs religieux“ für Frauenchor, der Klavierkantate „Aurora“ oder der berühmten Solokantate „Giovanna d’Arco“. Als Festkonzert zum Jubiläum erklingt die Kantate „Le Nozze di Teti e di Peleo“. Am 15. und 24. Juli singen Solisten des Festivals in Rossinis „Petite Messe Solennelle“, seinem letzten großen, dem lieben Gott gewidmeten Werk.

Drei neue Inszenierungen beim Festival in Pesaro

Das Teatro Rossini in Pesaro, Spielort des Festivals, bei dem sich alles um den berühmten Sohn der Stadt an der Adria dreht. Foto: Werner Häußner

Das Teatro Rossini in Pesaro, Spielort des Festivals, bei dem sich alles um den berühmten Sohn der Stadt an der Adria dreht. Foto: Werner Häußner

Das italienische Pesaro feiert das 150. Todesjahr Rossinis vom 11. bis 23. August 2018 mit drei Neuproduktionen: Regie-Altmeister Pier Luigi Pizzi wird ab 13. August sicher für eine opulente und dekorative Aufführung des „Barbier von Sevilla“ sorgen. Zum dritten Mal in Pesaro ist „Adina“ zu sehen, deren Zusatztitel „Der Kalif von Bagdad“ schon darauf hinweist, dass es sich wie bei Mozarts „Entführung aus dem Serail“ um einen „exotischen“ Türken-Stoff handelt. Das Auftragswerk, das nach seiner Uraufführung in Lissabon 1826 kaum mehr gespielt wurde, trägt eher melancholische Züge; Rossini schrieb nur vier originale Nummern für den Einakter.

Die wichtigste Neuinszenierung in Pesaro gilt der Kreuzfahrer-Oper „Ricciardo e Zoraide“, wie „Adina“ 1818 geschrieben und in Neapel mit Rossinis Frau Isabella Colbran uraufgeführt. Ein Werk, das Mitte des 18. Jahrhunderts nach einer recht erfolgreichen Karriere von der Bühne verschwand und erst 1990 in Pesaro und 2013 in Bad Wildbad wieder entdeckt wurde.

Das Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI leitet Giacomo Sagripanti, der in Essen u. a. Rossinis „Barbier“, Bellinis „Norma“ und zuletzt Verdis „Troubadour“ geleitet hat und der inzwischen an der Wiener Staatsoper, in Berlin, Paris und Moskau dirigiert. Zur prominenten Sängerriege gehören Juan Diego Flórez und Pretty Yende. Wie stets in den letzten Jahren zähken zwei Aufführungen von „Il Viaggio a Reims“ zum Festival, besetzt mit jungen Sängerinnen und Sängern der Accademia Rossiniana „Alberto Zedda“. Auch in Pesaro spielt man zum Abschluss des Festivals am 23. August die „Petite Messe solennelle“, hier aber in der Version für Orchester.

Aufführungen in Nordrhein-Westfalen

Die Opernhäuser der Region setzen – wenn sie Rossini denn zur Kenntnis nehmen – auf Bewährtes: In Dortmund fällt dem neuen Operndirektor Heribert Germeshausen auch nur der „Barbiere di Siviglia“ ein, inszeniert vom Jungregisseur Martin G. Berger, ehemals Assistent in Gelsenkirchen und Dortmund, der zuletzt in Augsburg mit Paul Abrahams „Roxy und ihr Wunderteam“ einen sensiblen Zugang zu melancholischer Komik gefunden und dafür einen Preis gewonnen hat (Premiere am 7. Oktober 2018).

Düsseldorf wärmt Jean-Pierre Ponnelles „La Cenerentola“ wieder auf (3. November), Hagen hat immerhin den nicht häufig gespielten „Türken in Italien“ aufs Programm gesetzt (2. Februar 2019). Wer etwas weiter fährt, nach Liège, kann immerhin ab 21. Dezember Rossinis später Farce „Le Comte Ory“ erleben. Für ernste Rossini-Opern heißt es dann, weiter zu reisen, etwa für „Semiramide“ nach Bilbao oder Venedig oder für „Tancredi“ nach Bari in Süditalien.

Informationen und Karten für die Festivals finden sich auf den Webseiten www.rossinioperafestival.it (in Italienisch und Englisch) und www.bad-wildbad.de/rossini/




Drogenland ist überall – ein Theaterprojekt zwischen verstörender Realität und künstlerischer Formung

Man geht ins Theater. Dort spielen Schauspieler Rollen, hin und wieder auch Drogenabhängige. So wär’s „normal“. Im Falle von „Drugland“ sind wir – das Publikum – mit der Wirklichkeit konfrontiert. Hier versammelt sich ein Ensemble aus SchauspielerInnen, einem Tänzer und so genannten „Experten des Alltags“ aus den jeweiligen Interessensgruppen.

Szenenbild aus DRUGLAND (Foto: Meyer Originals – www.meyeroriginals.com / Sommerblut-Festival)

In der 17. Ausgabe des Sommerblut-Festivals für multipolare Kultur drehte sich alles um den Schwerpunkt KÖRPER. Das Thema wurde in allen Formen der Kunst aufgegriffen. „Ob groß oder klein, jung oder alt, schön oder hässlich, perfekt oder unvollständig – in Tanz- und Theateraufführungen, Ausstellungen und Musik zeigte „Sommerblut“ den Körper als Quelle von Lust und Frust.“

Zu Gast im Dortmunder „Depot“

Die Sommerblut-Eigenproduktion DRUGLAND zeigte gesellschaftskritisches Theater, zu Gast auch im Dortmunder Theater im Depot. Ursprünglich wurde für die Gegend um den Kölner Neumarkt produziert. Fürs Depot musste eine Version für Innenräume eingerichtet werden. Es nimmt der Sache etwas den allgegenwärtigen Alltagsblick auf die Szene.

Zu Beginn wird (meist chorisch) die Situation der verständigen und gegnerischen Nachbarschaften dargebracht – Verständnis für die Drogenabhängigen und Ablehnung. Das kennt man. Das ist in allen Großstädten so. „Die Stadt gehört allen.“ Für die Sozialarbeiter ist es immer wieder ein Kampf gegen Windmühlen. „Eine drogenfreie Gesellschaft ist Utopie.“ So weit, so gut. Diskussionstheater.

Sieben „sprechende Interventionen“

Doch nach dem Vorspiel wird das Publikum eingeladen, sich Stories von den „Drogenexperten“ anzuhören. Da beginnt das mulmige Gefühl. Ein Typ erzählt aus seinem Leben. Im Hintergrund – und das sind wir wieder beim gespielten Theater – agiert ein professioneller Tänzer (die Akteure werden im Programm nicht namentlich genannt) als „voll auf Droge“.

Ein paar Meter weiter in der Schiebebühne des Depots lauschen wir der Erzählung einer Frau über einen kleinen Hund, abgeschlossen durch ein romantisches russisches Lied, bei dem sie sich auf der Gitarre begleitet. Es folgt der künstlerische Höhepunkt, einem Duett des Tänzers mit einer abhängigen MS-Kranken. Das ist kunstvoll anrührend.

Zurück im Theater, bekommen wir Gelegenheit, sieben „sprechenden Interventionen“ beizuwohnen. Es sind reale Versatzstücke des Alltags. Man erfährt von einzelnen Menschen und deren Schicksal aus der Drogenszene. Da erzählt uns ein Mann, der sich als Maler und Schriftsteller präsentiert, von seinen Träumen, die chinesische Mauer anzumalen und von seinem Selbstmordversuch „aus niederen Beweggründen“.

Das Echte kann wohl nicht gespielt werden

Die meist leise und vorsichtig gesprochenen Episoden sind Beispiele. Nachfragen sind erlaubt. Das sind Lebenslinien, die den meisten von uns Zuschauern fremd sind. Was macht das mit uns? Wir haben es hier mit Menschen zu tun, nicht mit exotischen Schaustücken aus einem Kabinett der Dunkelszene.

Diese Geschichten sind von Schauspielern wohl nicht spielbar. Das Echte irritiert uns, die Schicksale sind plötzlich nah. Doch wir sind im Theater. Und da wird uns am Ende doch noch etwas Fröhlichkeit vermittelt. In einer Bewegungsreise zum live gespielten „Rehab“ nach Amy Winehouse. Das Publikum darf mittanzen.




Bühnenarbeit mit Häftlingen im Gefängnis Köln-Ossendorf: Die Produktion „Antikörper“ spielt irritierend mit Klischees

Es gibt Orte, über die man ungern redet, geschweige denn, dass man diese gern betritt. Dazu gehören Krankenhäuser, Altenheime, Schlachthöfe und sicher auch das Gefängnis. Dieses kann man auch nicht einfach so betreten, sondern es bedarf eines Sicherheitsvorlaufes. Hier in der JVA Köln-Ossendorf ist dies ein mühsames Kontrollprozedere. Man endet in einem Saal mit Bühne.

An den Wänden befinden sich zahlreiche Plakate von vorherigen Veranstaltungen. Hier wird also für Sonderabwechslung gesorgt, meist dargeboten durch Comedians oder Live-Musiker. Das Kölner Festival der Multipolarkultur, „Sommerblut“, veranstaltet an diesem Ort zum zweiten Mal eine Festivalproduktion, eine Bühnenarbeit mit Häftlingen. In der 17. Ausgabe des Kulturfestivals dreht sich alles um den Schwerpunkt KÖRPER. Das Festival greift das Thema in allen Formen der Kunst auf.

Zu Beginn wird aus dem Grundgesetz zitiert

Und es sind eben die Körper, die wir zuvorderst zu sehen bekommen. Die Innenansichten stammen von den 20 Häftlingen, Frauen und Männern, die sich hier erfolgreich der Theaterarbeit gestellt haben, inklusive eines Beamten, der zu Beginn Artikel 1 des Grundgesetzes zitiert: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Am Ende führt er die Gefangenen wieder zurück in ihre Zellen, bevor das Publikum den Raum verlassen darf.

Eine projizierte Schrift leitet das performative Bühnengeschehen ein: „Die Bestrafung wird zum verborgensten Teil der Rechtssache. Sie verlässt den Bereich der alltäglichen Wahrnehmung und tritt in den des abstrakten Bewusstseins ein. Ihre Wirksamkeit erwartet man von ihrer Unausweichlichkeit, nicht von ihrer sichtbaren Intensität.“ (Michel Foucault „Überwachen und Strafen“).

Was mögen die wohl verbrochen haben?

Beauftragt mit der komplizierten Arbeit in einem „Knast“ wurde die Kölner Regisseurin Elisabeth Pleß. Man braucht Enthusiasmus und viel Einfühlungsvermögen für solch ein Unterfangen und das bewies sie mit ihrer Einrichtung von „Antikörper“, choreografisch unterstützt von Andre Jolles. Vor „ausverkauftem Haus“ zeigen die Männer und Frauen ihre Körper in gestylten Kostümen. Die Text stammen von ihnen selbst, zusammengestellt aus Gesprächen und Lebensläufen. Hier wird nicht auf die Mitleids- oder Verständnistube gedrückt. Sie sind, wie sie sind – und das irritiert das Publikum. Ist es doch hier umgekehrt: Im Theater macht sich wohl kaum jemand Gedanken über die Person des Schauspielers. Hier entscheidet die Rolle. Im Fall von „Antikörper“ erwischt man sich bei der Frage: Was mögen die wohl verbrochen haben? Man bemüht Klischees, um der Sache näher zu kommen. Es gelingt nicht. Es wird auch nicht gesagt.

„Ich bin jetzt Kunst, gezeichnet vom Leben“

Eine Zuschauerin meinte: „Die sehen doch alle zu gut aus. Ganz normal, eher attraktiv.“ Es ist ein Spiel mit Klischees und gleichzeitig sitzt man temporär in einem Gebäude, in dem Körper und Seelen eingesperrt sind und teilweise noch lange bleiben. Natürlich spielen Tattoos eine Rolle. Da kommt man offensichtlich nicht drumherum. Hier erfahren wir die Gründe für die Einmarkungen auf der Haut. Ihre Texte bestehen aus Träumen und Versprechen. Was sonst? Man hört: „Hallo Vergangenheit, hallo Selbstmitleid.“ Und: „Ich werde das Selbstmitleid aus meinem Leben verdammen. Die Zuschauer sind hier, um etwas Gutes zu sehen. Wir bieten Vorurteile, Neugier und Ängste. Die „Hauptsprecherin“: „Ich bin jetzt Kunst, gezeichnet vom Leben.“ Wer sind diese Menschen, was sind ihre Berufe? Das wird nicht beantwortet und führt zu einer besonderen Beziehung zwischen Darstellern und Publikum.

Hoffnung auf die kreativen Kräfte

Es ist ein vor allem gut choreografierter Abend, der 20 Menschen bewegt, um zu bewegen. Einmal ruft jemand: „Ich bin ein Star. Holt mich hier raus!“ Wunderbar – diesen Dschungelsatz zu einem anderen Lacher zu machen. Es gibt jedoch auch einen Teil, der eher trivial daherkommt. Man erzählt von glücklichen Momenten, wozu meist die Geburt der Kinder gehört. Okay. Es darf auch ein Rap nicht fehlen, der aber anständig rübergebracht wurde, gefolgt von einem kroatischen Lied, begleitet auf der Gitarre – so still und so eindringlich und natürlich authentisch, so weit es in diesen Gemäuern geht. „Ich lebe mit verschlossenen Augen in meiner Festung, in meiner Zelle.“

Enthusiastischer Applaus am Ende. Wir können wieder raus. Den einen oder die andere hätte man gern näher kennengelernt. Mutmaßlich war dies eine einmalige Begegnung und man wünscht allen, nach der Haft sich der Kreativität zu besinnen und diese unkriminell einzusetzen.




Großes Theater und peinliches Scheitern – das zweite Wochenende bei den Ruhrfestspielen fiel durchwachsen aus

Warum er das getan hat, ist restlos nicht klar geworden. Ewald Palmetshofer, österreichischer Dramatiker der jüngeren Generation, hat sich Gerhart Hauptmanns Stück „Vor Sonnenaufgang“ vorgenommen und mit Aktualitäten angereichert. Kann man machen, ist auch nicht mißlungen, bringt aber auch keinen nennenswerten Erkenntnis-Zugewinn.

Szene aus „Barbarische Nächte“ (Foto: Nathalie_Sternalski / Ruhrfestspiele)

Thematisch geklammert wird der Gang der Handlung durch eine Schwangerschaft, die im Stück entlarvend wirkt und (natürlich, ist man fast geneigt zu sagen) mit einer Fehlgeburt endet, linke und rechte Positionen geraten gegeneinander, der Arzt bringt eine existentielle Dimension ins Spiel, zulässige und weniger zulässige Liebesbeziehungen entstehen, und auch die Klagen über die vertanen Chancen fehlen nicht. Dies kurz in Stichworten.

Begeisterndes Theater wie seit Jahren nicht

Die „deutsche Erstaufführung“ nach jenen in Basel (Uraufführung) und Österreich fand nun bei den Ruhrfestspielen statt, eine Koproduktion mit dem Deutschen Theater Berlin, Regie: Jette Steckel. Und diese Produktion, warum lange drumherumreden, ist grandios!

Zweieinhalb Stunden fesselndes Schauspielertheater mit minimalen inszenatorischen Zutaten, sieht man einmal von der (auf der Bühne stehenden, nicht in ihr, wie sonst üblich, versenkten) Drehbühne ab, die sich während der gesamten zweieinhalb Stunden ohne Unterlaß langsam dreht (Bühne: Florian Lösche). Vorwiegend auf ihr (manchmal am Rand neben ihr) agieren die Darsteller, moderat, von der Regie gut geführt. Die permanenten Positionsveränderungen durch die sich drehende Bühne sind sinnhaft, ein paar Stühle reichen als Requisiten aus. Manchmal ein bißchen Musik, so viel Licht wie nötig, ansonsten aber, im besten Sinne: Schauspiel. Ein so begeisterndes Theater hat man seit Jahren nicht mehr gesehen.

Übrigens war die Baseler Inszenierung jetzt beim Mülheimer „Stücke“-Wettbewerb zu sehen. Völlig zu Recht fragt der geschätzte Kollege P. in der WAZ, mit welcher Berechtigung dies eigentlich geschah, ist doch die Substanz von „Vor Sonnenaufgang“ ganz unbestreitbar 100 Jahre alter Gerhart Hauptmann.

Wurzeln im Breakdance

Abgesehen vom Sonnenaufgang war das zweite Wochenende bei den Ruhrfestspielen allerdings eher durchwachsen. Die Compagnie Hervé Koubi, die im Marler Theater ihr Stück „Barbarische Nächte oder der erste Morgen der Welt“ (Les nuits barbares) zur Aufführung brachte, überzeugte athletisch weitaus mehr als mit der recht einfallslosen Choreographie. Tolle Sprünge, Heber, Kopfstände; die Ursprünge im Breakdance erkennt man noch, doch haben die jungen Männer auf der Bühne diese Anfänge schon weit hinter sich gelassen.

Bunt bemalte Witzfiguren

Absoluter Tiefpunkt dieses Wochenendes aber war „Die Präsidentin“, eine Produktion des Theaters Magdeburg mit Corinna Harfouch in der Titelrolle. Das Stück spielt mit der Vorstellung, die Kandidatin des Front National wäre französische Präsidentin geworden. Ein französisches Comic-Buch habe als Vorlage gedient. Was also folgt? Scharfe Analysen, emotionslos-kühles Weiterdenken nach Art des Herrn Houellebecq?

Was man tatsächlich zu sehen bekommt, ist das trashige Herumgemache bunt bemalter Witzfiguren, die sich um Posten streiten, Ausländer hassen, den Staatsbankrott herbeiführen und was nicht sonst noch alles. Einfallslos ist diese Darbietung bis über die Schmerzgrenze hinaus, ironiefrei und dumpf. Kindertheater, hätte man früher vielleicht gesagt, aber Kinder würden sich so etwas nicht bieten lassen, jedenfalls nicht zweieinhalb Stunden lang. Nur der Vollständigkeit halber sei es erwähnt: natürlich wird ausgiebig mit der Videokamera gefilmt, werden die Szenen mit den unerquicklich bunt angemalten Mimen überlebensgroß auf eine Leinwand über der Bühne oder auch auf die Bühne selbst projiziert – Theater mit ganz, ganz langem Castorf-Bart.

Corinna Harfouch als Präsidentin mit Krone und Entourage (Foto: Marcel Keller / Ruhrfestspiele)

Wie konnte die Harfouch nur!

Bald schon, hallo Königsdrama, ist auch die Präsidentin dran und wird abgelöst, doch das Stück ist dann noch lange nicht am Ende. Identitäre und Reichsbürger kommen nun (thematisch) zum Zuge, Antifeminismus und, wenn ich jetzt nicht irre, auch noch das eine oder andere Umweltthema und irgend etwas mit Finanzmärkten. Außerdem Putin und seine 5. Kolonne und die hohen Reproduktionsraten der Nordafrikaner, die die Angst vor „Umvolkung“ schüren.

In ihrer Besessenheit, nun aber auch wirklich jedes Bedrohungsthema noch unterzubringen, gehen dieser Produktion (Regie: Cornelia Crombholz) zum Ende hin auch die Positionen verloren, klingen manche Sätze wie der AfD-Werbung entlehnt, was aber sicherlich eher Ausdruck inszenatorischer Inkompetenz ist.

„Die Präsidentin“ – ein Ärgernis. Unverständlich bleibt, warum Corinna Harfouch, die längst bewiesen hat, daß sie eine grandiose Schauspielerin ist, sich für so etwas hergibt. Unvergeßlich ist sie mir noch immer als Martha in „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ am Deutschen Theater. Und jetzt das.

Im Uhrzeigersinn von oben links: Nils, Till, Maja und Lina Beckmann – „die Spielkinder“ (Foto: Die Spielkinder / Ruhrfestspiele)

Die erfrischenden Beckmanns

Für einen versöhnlichen Ausgang dieser kleinen Wochenendbetrachtung sorgten schließlich „Die Spielkinder“, die vier Geschwister Beckmann auf der Sonntagsmatinee im ausverkauften großen Haus. Die Mädels Maja und Lina, sind wohl etwas fernseh- und bühnenbekannter als die Jungs Nils und Till, alle vier haben mit dem Theater zu tun. Als Gäste waren Charly Hübner, Jennifer Ewert und Sebastian Maier mit dabei.

In der gekonnt unperfekt dargebotenen szenischen Lesung kamen neben ein paar Albernheiten Texte von Ralf Rothmann zum Vortrag, Schule, Ohrfeigen, Pubertät, Schlaghosen – aber auch intensive Passagen über Sterben und Tod der Mutter. Erstaunlicherweise paßten sie in diese Veranstaltung recht gut hinein; das muß etwas mit dem familiären Zusammenhalt zu tun haben, mit jener Vertrautheit, die auch den Tod nicht ausblendet.

Wenn man ziemlich genau so alt ist wie Rothmann, ist es übrigens gleichsam ein V-Effekt, daß die Stories, die die Beckmannkinder vortragen und vorspielen, einem in der Grundierung bekannt vorkommen, die jungen Leute das aber auf keinen Fall erlebt haben können. Wenn sie sich die Geschichten trotzdem zu eigen machen und auf ihre Art erzählen, kann man sicher sein, keiner Nostalgieveranstaltung beizuwohnen. Bei den Beckmanns entsteht da Neues, das ist überaus vergnüglich.

So. Nächste große Produktion im Großen Haus ist „König Lear“ in der Regie von Claus Peymann.

www.ruhrfestspiele.de




„Der Besuch der alten Dame“ von Friedrich Dürrenmatt – große Schauspielkunst bei den Ruhrfestspielen

Die 50er und 60er Jahre waren, wenn auch nicht unbedingt eine bleierne, so doch eine recht behäbige Zeit. Schnell hatte man es sich in Deutschland-West in einer funktionstüchtigen Demokratie bequem gemacht, erlebte ein Wirtschaftswunder, und die Parole „Dreigeteilt? Niemals!“ war allemal populärer als „Nie wieder!“ Nie wieder, nämlich: nie wieder Nazis, nie wieder Krieg – übersetzte sich im Alltag oft mit „Schwamm drüber“, was eben auch bedeutete: Die Hitlerei war ein Ausrutscher, der Krieg ein Fehler, soll nicht wieder vorkommen, wir sind jetzt Rechtsstaat.

Burghart Klaußner, Maria Happel (Foto: Reinhard Werner / Ruhrfestspiele)

Zivilgesellschaft

Einem unverstellten Beobachter und Denker wie Friedrich Dürrenmatt muß dieser bequeme Konsens mißfallen haben. Vielleicht ärgerte er sich zudem über die Selbstgerechtigkeit seiner Schweizer Landsleute nach dem Motto „Wir sind ja nicht dabeigewesen“. Im „Besuch der alten Dame“ (Uraufführung 1956 in Zürich) hat der Dichter (deshalb?) einmal durchgespielt, wie weit die Kraft der Zivilgesellschaft reicht. Und er hat recht plausibel vorgeführt, daß es damit nicht so weit her ist, wenn auf der anderen Seite Vorteile locken. So, meine ich, haben wir das Stück in meiner Schulzeit gelesen, mit einem eindeutigen Schwerpunkt bei der Korrumpierbarkeit der Menschen und beim moralischen Appell.

In diesem Jahr stehen die Ruhrfestspiele unter dem Motto „Heimat“. Eröffnungspremiere war Dürrenmatts Klassiker in einer Inszenierung des Intendanten Frank Hoffmann. Hoffmann hat das Stück nicht gewalttätig auf das Festspielmotto hin umgepolt, trotzdem stellt man als Zuschauer mit einer gewissen Verwunderung fest, daß die Fragen nach der Heimat bzw. dem Verlust derselben ihm eine unerwartete Aktualität verleihen.

Von links: Dietmar König (Lehrer), Michael Abendroth (Pfarrer/Helmesberger), Marcus Kiepe (Arzt/Hofbauer), Daniel Jesch (Polizist), Petra Morzé (Frau Ill), Roland Koch (Bürgermeister), Burghart Klaußner (Alfred Ill) (Foto: Reinhard Werner / Ruhrfestspiele)

Koproduktion mit Burgtheater

Die Koproduktion mit dem Wiener Burgtheater bringt eine Reihe hervorragender Schauspielkünstler auf die Bühne, allen voran Maria Happel als Claire Zachanassian und Burghart Klaußner als ihren einstigen Liebhaber Alfred III, der sie, schwanger von ihm, damals ins Elend stürzte. Claire hat ihre Heimat vor Jahrzehnten schon verloren, Alfred verliert sie lange vor seinem physischen Tod, wenn die selbstverständliche Sicherheit im vertrauten Güllener Milieu wegbricht.

Der Konflikt, ein weiterer Aspekt, brauchte seinerseits eine Heimat, oder doch wenigstens eine Verortung. Was also, mag man sich fragen, ist Heimat dann eigentlich? Ist sie ein Ort der Sehnsucht, der Selbstvergewisserung, der Sicherheit oder, in dem Dramatiker Thomas Bernhard zugeschriebenen Worten, „dort, wo man sich aufhängt“?

Eine tragische Liebesgeschichte

Bei der Wiederbegegnung mit dem Stück im Recklinghäuser Festspielhaus wird überdies erkennbar, wie sehr „Der Besuch der alten Dame“ auch eine große, tragische Liebesgeschichte ist. Im brillanten Spiel von Happel und Klaußner wird klar, daß die Beziehung zwischen Claire und Alfred einmal eine Tiefe hatte, die Menschen, wenn überhaupt, nur einmal im Leben vergönnt ist. Es hat nicht sollen sein, und das ist tragisch.

Eigentlich wären die sentimentalen Erinnerungen der beiden also ein Grund zur Trauer, und man könnte fragen, warum Claire Zachanassian trotzdem so unerbittlich Rache fordert. Nun gut – um aus dem ganzen eine moralische Parabel zu machen, braucht es natürlich diese Härte, sonst könnten die Güllener ja was kungeln und das Stück würde nicht mehr funktionieren. Trotzdem wirkt der Dichter Dürrenmatt in seiner helvetischen Gemessenheit ein wenig auch wie ein literarisches Schlitzohr, das Freude am unterschwellig Absurden hat; Absurdes hatte in jenen Jahren, als die alte Dame erschien, bekanntlich Konjunktur. Aber da er ja auch ein literarischer Olympier ist, sind solche Unterstellungen natürlich ungehörig.

Von links: Marcus Kiepe (Arzt/Hofbauer), Michael Abendroth (Pfarrer/Helmesberger), Roland Koch (Bürgermeister), Dietmar König (Lehrer), Daniel Jesch (Polizist) (Foto: Reinhard Werner / Ruhrfestspiele)

Das Monströse bleibt monströs

Blendung, Kastration, Mord, Geld, Rache; Hoffmanns Inszenierung, die nicht zuletzt von etlichen starken Bühnenbildern lebt (Bühne: Ben Willikens, Kostüme: Susann Bieling) läßt das Monströse monströs und zeigt erfreulich wenig Interesse daran, aktuelle Bezüge gleichsam mit der Brechstange zu erschaffen – sieht man einmal davon ab, daß einige Ortsmarken des nördlichen Ruhrgebietes in den Text eingewoben wurden, was man sich hätte schenken können. So wie die Geschichte hier in zwei Stunden ohne Pause erzählt wird, ist sie rund und auch recht spannend. Und hoch moralisch natürlich überdies.

Verschwurbelte Endlosreden

Selten wirkte ein besseres Ensemble auf der Bühne der Ruhrfestspiele. Roland Koch sorgt als Bürgermeister, der so gern verschwurbelte Endlosreden hält, für Heiterkeit, Daniel Jesch ist ein Ortspolizist von bemerkenswerter Sportlichkeit, der auf Wunsch auch Liegestütz mit einem Arm vorführen kann. Hinreißend wirkt auf der Bühne eine Riege älterer Herren (Rolf Mautz in mehreren Gattenrollen, Hans Dieter Knebel als Butler, Michael Abendroth als Pfarrer), die getragene Burgschauspielerwürde atmen. Harald Retschitzegger, Franz Schöffthaler und Peter Nitsche sind die „falschen Zeugen“, Marcus Kiepe als Arzt und Petra Morzé als Alfreds Gattin Mathilde III schließlich komplettieren das vorzügliche Bühnenpersonal.

Es gab viel Applaus für das Stück und für Frank Hoffmanns Regiearbeit, die fraglos eine seiner besseren ist.

Hoffmanns  letztes Festival

Die Ruhrfestspiele 2018 sind die letzten des Luxemburger Theatermannes, der überdies seit vielen Jahren Direktor des dortigen Nationaltheaters ist. Wie berichtet, übergibt er den Stab an Olaf Kröck. 14 Jahre hat Hoffmann das Festival geleitet, das nach der einjährigen Intendanz Frank Castorfs wirtschaftlich mächtig ins Trudeln geraten war. Hoffmann war und ist ein exzellenter Kulturmanager, der mit seinen Programmen, das kann man sicherlich so sagen, den Geschmack des Ruhrfestspielepublikums recht gut traf und von Anfang an schwarze Zahlen schrieb. Aber noch ist es für eine Verabschiedung zu früh; das geschieht erst auf einer feierlichen Gala Mitte Juli.

  • Keine weiteren Termine in Recklinghausen
  • Premiere im Wiener Burgtheater am 26. Mai 2018



Ruhrtriennale in „Zwischenzeiten“ – die neue Intendantin Stefanie Carp präsentiert ihr Programm

Zu den Eigentümlichkeiten der Ruhrtriennale gehört der radikale Stabwechsel, also der alle drei Jahre fällige Übergang von einer Intendanz zur nächsten. Da sitzen dann plötzlich vier fünf, neue Gestalten auf dem Podium, die alten sind weg und finden auch keinerlei Erwähnung mehr. Außerdem ändert sich das Graphik-Design alle drei Jahre so grundlegend, daß man glatt glauben könnte, einer Stunde Null beizuwohnen.

Die Intendantin und ihr Künstler: Stefanie Carp und Christoph Marthaler (Foto: Edi Szekely/Ruhrtriennale)

Beigeordneter Künstler Marthaler

Nun also saßen Stefanie Carp und Christoph Marthaler auf der Bank. Stefanie Carp, wir berichteten, ist die neue Intendantin, Christoph Marthaler „Artiste associé“, also sozusagen der beigeordnete Künstler. Im wirklichen Leben war es meistens umgekehrt, war Frau Carp Dramaturgin bei Marthaler, doch nun ist es an ihr, wichtige Worte zu sprechen. Von rasend schnell sich verändernden Lebensumständen raunt sie, von Verteilungskriegen und unvorstellbarer Grausamkeit, welche Gesellschaften und Kulturen zerstöre. Und weil das nicht lange gutgehen kann und die Forderungen der Geknechteten nach Beteiligung, Gleichheit und Freiheit eine Frage des zivilisierten Lebens seien und deshalb nicht mehr lange überhört werden könnten, befänden wir uns, bis es so weit ist, in einer „Zwischenzeit“.

Zwischenzeit? Klingt eindrucksvoll, stimmt irgendwie immer – war der Frau Intendantin dann aber wohl doch zu wuchtig, als daß sie es in Leuchtbuchstaben über ihr Festival geschrieben hätte. Aus der Zwischenzeit wurden lediglich einige Zwischenzeilen im Programmheft, was dem konkreten Angebot wohl auch eher entspricht.

Choreographin Sasha Waltz (Foto: André Rival/Ruhrtriennale)

Unvollständiges Universum

Der erste Eindruck vom neuen Programm ist, sagen wir mal, guter Durchschnitt. Namen, die nicht nur der Fachwelt ein Begriff sind, finden sich kaum. Aber immerhin gibt es zwei Produktionen von Marthaler zu hören und zu sehen, und erstmalig, man glaubt es kaum, ist die in der Tat berühmte Berliner Choreographin Sasha Waltz bei der Ruhrtriennale zu Gast.

Marthaler, um mit ihm zu beginnen, hat aus der unvollendeten „Universe Symphony“ des amerikanischen Komponisten Charles Ives (1875-1954) die auf jeden Fall durch schieren Aufwand beeindruckende Musiktheater-Kreation „Universe, Incomplete“ geschaffen. Ab 17. August wird sie das Publikum in der Bochumer Jahrhunderthalle dazu einladen, „aus einer entfernten Zukunft auf unser jetziges Leben zurückzublicken“ (O-Ton Programmankündigung). Anna Viebrock sorgt für das Bühnenbild, Titus Engel dirigiert die Bochumer Symphoniker, und fraglos wird dies die gewichtigste Veranstaltung der Triennale 2018 sein.

Warum Schauspiel?

Außerdem gibt es von Christoph Marthaler „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ zu sehen, sein Abgesang auf die Berliner Volksbühne, wo er lange zur künstlerischen Community Frank Castorfs zählte. „Bekannte Gefühle…“ ist ein wunderschöner, lyrischer, leiser, präziser Marthaler, ein Stück, in dem gesungen wird und Choreographie eine große Rolle spielt und das einen berührt, ohne daß man sagen könnte, worum genau es eigentlich geht. Stichworte wie Abschied, Abschied von der Volksbühne, Abschied von den Idealen der Revolution, Selbstvergewisserung und so fort geben da nur Hinweise.

Kelly Cooper und Pavol Liska vom Nature Theater of Oklahoma (Foto: Ditz Fejer/Ruhrtriennale)

Stadt im Dschungel

Erstaunlicherweise läuft dieser zweite, überaus hybride Marthaler in der Abteilung „Schauspiel“, was nur deshalb geht (systematisch betrachtet), weil es „richtiges“ Schauspiel bei dieser Triennale gar nicht gibt. „Diamante. Die Geschichte einer Free Private City“ des Argentiniers Mariano Pensotti etwa wird als sechsstündiges Theaterereignis angekündigt, für das der Regisseur einen Teil der Privatstadt Diamante nachgebaut hat, welche vor 100 Jahren von einem anthroposophisch orientierten deutschen Industriellen mitten im argentinischen Dschungel errichtet wurde. Die Zuschauer sollen den Ort selbst erkunden und selbst herausfinden, warum diese sozial-kapitalistische Utopie scheiterte.

Off-off-off-Broadway

Ganz tief im Westen, in der Gladbecker Maschinenhalle Zweckel, darf möglicherweise gelacht werden. Hier hat sich nämlich die Off-off-off-Broadwaygruppe „Nature Theater of Oklahoma“ aus New York mit ihrem Stück „No President. A Story Ballet of Enlightment in Two Immoral Acts“ angekündigt. Inhalt: Zwei Sicherheitsfirmen haben arbeitslose Schauspieler bzw. Ballett-Tänzer als Mitarbeiter rekrutiert, die nun zu den Klängen von Tschaikowskis „Nußknacker“ ihrer Arbeit nachgehen. Was das genau werden wird, ist nicht ganz klar; jedenfalls werden derzeit noch Tänzerinnen und Tänzer im Ruhrgebiet gecastet. Und das ganze läuft, wie gesagt, als Theater.

Schorsch Kamerun gentrifiziert die Dortmunder Nordstadt (Foto: Michel-Bo-Michel/Ruhrtriennale)

Nordstadt gentrifiziert

Jetzt kommt Dortmund ins Spiel, der problematische Norden, genauer gesagt, dem der Künstler Schorsch Kamerun die Entwicklung zum Trendquartier andichtet. Resultat seiner Bemühungen ist ein begehbares Filmset mitten in der Nordstadt – „mit Live-Soundtrack, echten Anwohner*innen und gefakten Kulissen“. Jede Aufführung endet mit einem Konzert im hippen „Club Kohleausstieg“. Klingt gut.

Am ehesten noch Schauspiel, doch, doch, wir sind immer noch in dieser Fachabteilung, mag wohl „The Factory“ von und mit den beiden Syrern Mohammad Al Attar und Omar Abussada sein. In dem Stück geht es um die profitable französische Zementfabrik Lafarge in Syrien, die während des Krieges ungehindert weiterarbeitete, weil Schmiergeld an den IS floß.

Wanderungsbewegungen

Größere Produktionen des Musiktheaters, die bisher unerwähnt blieben, sind „The Head and the Load“ von William Kentridge in der Kraftzentrale Duisburg und „Das Floß der Medusa“ von Hans Werner Henze in der Jahrhunderthalle. Erstgenannte Produktion befaßt sich mit der Rolle Afrikas im Ersten Weltkrieg, mit rund zwei Millionen Afrikanern, die in Europa kämpfen mußten. Ganz ähnlich gilt Henzes Oratorium als Metapher für die Unterdrückung der „Dritten Welt“, und als es 1968 (!) uraufgeführt werden sollte, kam es zu Tumulten. Die werden wohl ausbleiben, wenn jetzt Steven Sloane die Bochumer Symphoniker dirigiert und Chorwerk Ruhr, Zürcher Sing-Akademie und Knabenchor der Chorakademie Dortmund die Stimmen erheben.

Szene aus „The Head And The Load“ (Foto: Stella Olivier/Ruhrtriennale)

Zwischenformen

Ein paar Namen noch aus der Musikabteilung: Laurie Anderson wird in der Lichtburg Essen auftreten, das Ensemble Modern der britischen Komponistin Rebecca Saunders mit einem Konzert im Salzlager auf Zollverein huldigen. In der Turbinenhalle Bochum wird der amerikanische Multiinstrumentalist Elliott Sharp unter dem Titel „Filiseti Mekidesi (In Search of Sanctuary)“ „eine raumgreifende Zwischenform aus Oper und Installation, die eine Brücke zum visionären Fragment der ,universalen Symphonie’ von Charles Ives schlägt“ realisieren.

Choreographie ohne Begrenzung

Ach ja, Sasha Waltz. Die Produktion in der Bochumer Jahrhunderthalle heißt „Exodos“. Das Wort, entnehmen wir der Programminformation, bedeutet im Griechischen sowohl Flucht als auch Nacht- und Partyleben, und auf den Theater heißt es Verlassen der Bühne. Mit dieser Bedeutungsvielfalt will die Berliner Choreographin die gewaltigen Bochumer Räumlichkeiten beseelen, von einer „Choreographie ohne Bühnenabgrenzung“ ist zu lesen. Und ein bißchen hat das alles auch mit „Wanderungsbewegungen“ zu tun, wie die meisten anderen Stücke in der Abteilung Choreographie. Weitere, weniger bekannte Tanzkompagnien kommen aus Burkina Faso, Kapstadt und von den Kapverden.

Zum Schluß Mauricio Kagel

Es gibt eine junge Triennale und einige Installationen, von denen das im Bau befindliche Flugzeug vor der Jahrhunderthalle wohl am beeindruckendsten sein wird. Am Schluß dann noch einmal Chorwerk Ruhr. Der Klangkörper will Mauricio Kagels (1931-2008) „Chorbuch“ zu Gehör bringen, was nicht einfach sein soll. Singen mit geschlossenem Mund oder mit „Babystimmen“ so ist zu hören, zählten da noch zu den einfacheren Aufgaben.

Viel zu hören, viel zu sehen- und im Programm steht noch einiges mehr als das, was hier Erwähnung finden konnte. Viel gute Kunst, gar keine Frage; doch will auch das Gefühl nicht weichen, nur mehr vom immer Ähnlichen serviert zu bekommen. Gewiß ist es noch zu früh für finale Wertungen. Halten wir es also mit Franz Beckenbauer und schauen wir mal.




Festival Klangvokal in Dortmund: Musikalische Schätze und Raritäten aus acht Jahrhunderten für die menschliche Stimme

Bei so manchem Festival wird das Blaue vom Himmel versprochen – und der Horizont bleibt dann doch grau. Beim Dortmunder „Klangvokal“, seit der Gründung geleitet von Torsten Mosgraber, ist das anders: Die zehnte Ausgabe mit dem Thema „Auf Schatzsuche“ löst tatsächlich den Anspruch ein, aus dem reichen Spektrum der Musik für eine, mehrere oder viele menschliche Stimmen ein paar ungewöhnliche Farben nach vorne zu spielen. Vom 11. Mai bis 10. Juni 2018 lässt sich bei 23 Veranstaltungen die Vokalmusik der letzten 800 Jahre durchstreifen. Dabei kommen nicht nur Klassik-, sondern auch Crossover- und Weltmusik-Fans auf ihre Kosten.

Dirigent, Komponist und Organist: Wayne Marshall. © Wayne Marshall

Dirigent, Komponist und Organist: Wayne Marshall. © Wayne Marshall

Die Eröffnung am Freitag, 11. Mai steht im Zeichen des 100. Geburtstags von Leonard Bernstein. Wayne Marshall, Komponist, Dirigent und Organist, steht am Pult seines WDR Funkhausorchesters und bringt die „Chichester Pslams“ und Bernsteins Erste Sinfonie „Jeremiah“ mit. Der Kammerchor der TU Dortmund und der Philharmonische Chor Essen übernehmen die Partien der Vokalensembles auch in Francis Poulencs „Gloria“ und „The Fruit of Silence“ des lettischen Komponisten Peteris Vasks, geschrieben 2013 auf einen Text von Mutter Teresa.

Monteverdi-Oper rekonstruiert

Eine Rarität erklingt am Freitag, 18. Mai in der Reinoldikirche: Der Philharmonische Chor des Dortmunder Musikvereins und die Dortmunder Philharmoniker führen – gemeinsam mit den renommierten Solisten Eleonore Marguerre (Sopran), Thomas Laske (Bariton) und Uwe Stickert (Tenor) – Jules Massenets Oratorium „Ève“ auf. Am Freitag, 1. Juni mischen sich Alt und Neu auf eine Weise, die so ungewöhnlich wie umstritten ist: Zum ersten Mal erklingt in einer öffentlichen Aufführung im Orchesterzentrum NRW eine rekonstruierende Neukomposition von Claudio Monteverdis Oper „L’Arianna“.

Claudio Monteverdi auf einem Stich aus dem 19. Jahrhundert. Alle Abbildungen des Komponisten sind dem einzigen überlieferten Porträt von Bernardo Strozzi nachempfunden, das im Tiroler Landesmusem Innsbruck hängt.

Claudio Monteverdi auf einem Stich aus dem 19. Jahrhundert. Alle Abbildungen des Komponisten sind dem einzigen überlieferten Porträt von Bernardo Strozzi nachempfunden, das im Tiroler Landesmusem Innsbruck hängt.

Claudio Cavina, italienischer Countertenor und Experte für Alte Musik, wollte nicht warten, bis vielleicht eines Tages die Originalpartitur Monteverdis in einer verschlossenen Bibliothek oder einem vernachlässigten Archiv auftauchen könnte, und hat sich auf der Basis eines tiefgründigen Wissens um Kompositionsweise und Aufführungspraxis des 17. Jahrhunderts an eine musikalische Ausformung gemacht, die er selbst allerdings nur ungern als „Komposition“ bezeichnet.

Ausgehend von Ottavio Rinuccinis Libretto, dem erhaltenen berühmten „Lamento“ aus der Oper und Kompositionen wie dem „Ballo delle Ingrate“ hat er selbst Musik im Geiste Monteverdis geschrieben. Die Aufführung mit Cavinas Ensemble La Venexiana, die „L’Arianna“ bereits 2015 in Venedig erstmals gespielt haben, umfasst in etwa 100 Minuten die acht Szenen plus einen Prolog der ursprünglichen Oper. Davide Pozzi leitet das Ensemble und elf Solisten.

Geschichte der Büßerin Maria Magdalena

„Echten“ Barock gibt es dann am Sonntag, 10. Juni in St. Reinoldi zu hören: Das Ensemble Le Banquet Céleste gastiert unter Damien Guillon mit einem der mindestens 43 Oratorien des in Wien gestorbenen Venezianers Antonio Caldara. „La Maddalena ai piedi di Cristo“, wohl um 1700 für Rom geschrieben, thematisiert in einem allegorischen Spiel um die irdische und himmlische Liebe die Geschichte der Büßerin Maria Magdalena auf der Basis des Lukas-Evangeliums.

Auf dem Weg zum Weltstar: Marina Rebeka singt in Dortmund in Verdis "Giovanna d'Arco". ©Janis Deinats

Auf dem Weg zum Weltstar: Marina Rebeka singt in Dortmund in Verdis „Giovanna d’Arco“. ©Janis Deinats

Auch die Oper kommt wieder zu ihrem Recht: Mit der Sopranistin Marina Rebeka, in New York als „Norma“ und Mathilde in Rossinis „Guillaume Tell“ gefeiert, und dem aufstrebenden Bariton Baurzhan Anderzhanov aus Essen erklingt am Sonntag, 27. Mai im Konzerthaus „Giovanna d’Arco“, ein früher verschmähtes Werk aus Giuseppe Verdis mittlerer Schaffensperiode, das in den letzten Jahren etwa durch Aufführungen in Salzburg (mit Anna Netrebko), aber auch durch szenische Produktionen in Bonn und Bielefeld neu entdeckt wurde. Daniele Callegari dirigiert das WDR Funkhausorchester Köln, es singt der LandesJugendChor Nordrhein-Westfalen.

„Gänsehaut-Musik“ aus Belgien

Die Vielfalt der Chormusik durch die Jahrhunderte setzen Ensembles aus Großbritannien, Estland und Tschechien präsent. Oder aus Belgien: Dem 2004 von Lionel Meunier gegründeten Ensemble Vox Luminis wird etwa von Bayerischen Rundfunk bescheinigt, „Gänsehaut-Musik“ zu machen. Am Samstag, 12. Mai singt der Chor in der Marienkirche Motetten der Bach-Familie aus dem 17./18. Jahrhundert, darunter unbekannte „Bäche“ wie Johann Christoph oder Johann Ludwig, dem Vetter Johann Sebastians, der in Meiningen als Kapellmeister wirkte.

Der Estnische Philharmonische Kammerchor singt am Sonntag, 20. Mai in der St. Nicolaikirche A-cappella-Chormusik von Arvo Pärt, Cyrillus Kreek und Veljo Tormis. Mit einem so raren wie erlesenen Programm kommen das Ensemble Clematis und der Choeur de Chambre aus Namur am Samstag, 26. Mai in die Maschinenhalle von Zeche Zollern. Unter Leonardo García Alarcón öffnet der Chor die Welt der barocken geistlichen Musik der iberischen Halbinsel und greift auch in die „Neue Welt“ aus, wo Komponisten an Kathedralen oder in Jesuitenreduktionen tätig waren. Tomás Luis de Victoria ist noch der bekannteste von ihnen, aber von Juan de Araujo, der in Lima (Peru) und an anderen lateinamerikanischen Bischofskirchen wirkte, von Matheo Romero, Kaplan mehrerer gekrönter Häupter, oder von Mateu Fletxa et Vell, dem Musiklehrer der Töchter Kaiser Karls V., haben selbst Spezialisten noch kaum etwas gehört.

Rund 150 Chöre beim Fest in der Innenstadt

Zu den ältesten Wurzeln geistlicher Musik dringt am Dienstag, 29. Mai in der Marienkirche das Ensemble Tiburtina mit Musik von Hildegard von Bingen vor. Aus England und Spanien kommt die Musik, die The Tallis Scholars am Samstag, 9. Juni in der Propsteikirche singen. Und nicht zu vergessen ist das 10. Fest der Chöre am Samstag, 2. Juni, bei dem zwischen 10 und 22 Uhr rund 150 Chöre in der Dortmunder Innenstadt ihr Können dem Publikum präsentieren.

Freunde der Weltmusik können sich auf die Argentinierin Lily Dahab (Sonntag, 13. Mai), das Ensemble Saz’Iso aus Albanien (Samstag, 19. Mai), auf portugiesischen Fado mit Gisela João am Freitag, 25. Mai und auf Yorkstone Thorne Khan am Donnerstag, 7. Juni freuen, die britischen Folk und indische Musik miteinander verbinden.

Infos und Karten: www.klangvokal-dortmund.de