Die 40. Tage Alter Musik: Frühe Kult-Oper „Camilla“ und mehr beim Festival in Herne

Das Ensemble "Vox Werdensis" bei seinem Konzert in der Kreuzkirche in Herne. Foto: Thomas Kost/WDR

Das Ensemble „Vox Werdensis“ bei seinem Konzert in der Kreuzkirche in Herne. Foto: Thomas Kost/WDR

Vor 40 Jahren war das schon ein bisschen irre: Als der damalige Kulturdezernent der Stadt Herne, Joachim Hengelhaupt, 1976 die Idee umsetzte, Instrumente für Alte Musik auszustellen und einige kleine, feine Konzerte zu veranstalten, konnte er noch nicht auf eine vielfältige „Szene“ in diesem Sektor bauen. Und der Westdeutsche Rundfunk, der sich mit Herne zusammentat, leistete echte Pionierarbeit in einem Feld, das heute „Kult“ ist: Festivals, Ensembles, aber auch Musikwissenschaft und Musizierpraxis haben sich seither rasant weiterentwickelt.

Die Festival-Macher seit 1976. Von links: Klaus L Neumann (ehemaliger künstlerischer Leiter), Joachim Hengelhaupt (Kulturdezernent a.D. und Festivalgründer), Richard Lorber (künstlerischer Leiter). Foto: Thomas Kost/WDR

Die Festival-Macher seit 1976. Von links: Klaus L Neumann (ehemaliger künstlerischer Leiter), Joachim Hengelhaupt (Kulturdezernent a.D. und Festivalgründer), Richard Lorber (künstlerischer Leiter). Foto: Thomas Kost/WDR

Zur Erinnerung: Die ersten Harnoncourt-Aufnahmen bei Telefunken waren damals gerade mal fünf Jahre alt und Ensembles wie der Concentus Musicus oder Gustav Leonhardts Leonhardt-Consort agierten am Rand des Konzertbetriebs für eine kleine Gemeinde Begeisterter. Historische Aufführungspraxis war für die meisten klassischen Musiker ein exotisches Hobby einiger Enthusiasten, eine Ausbildung an Hochschulen noch alles andere als üblich.

Aber immerhin hatte es in Nordrhein-Westfalen mit der Cappella Coloniensis das erste Orchester weltweit gegeben, das im Sinne der historischen Aufführungspraxis musizierte. Ihr Debüt am 18. September 1954 im Sendesaal des Funkhauses am Wallraffplatz in Köln erfuhr internationale Beachtung; einer ihrer Gründerväter, Eduard Gröninger, war Musikwissenschaftler beim damaligen NWDR.

Heute sieht das anders aus: Ensembles und Festivals sprossen aus dem sprichwörtlichen Boden, genährt von Wissbegier und Lust an neuen Klängen und vergessener Musik. Weit über Bach und Barock hinaus richtet sich der Blick zurück in älteste mittelalterliche Überlieferungen, aber auch auf die Musik anderer Zonen und Völker. Ein Konzert wie das der „Vox Werdensis“ unter Stefan Klöckner, der an der Folkwang Universität Essen das Institut für Gregorianik leitet, ist heute nichts Ungewöhnliches mehr.

Stefan Klöckner: Er rekonstruierte die liturgische Musik für den heiligen Ludgerus. Foto: Thomas Kost/WDR

Stefan Klöckner: Er rekonstruierte die liturgische Musik für den heiligen Ludgerus. Foto: Thomas Kost/WDR

Die männlich markanten, traumhaft intonationssicheren, auf Raum und Wort ausgerichteten Männerstimmen geleiteten in der Kreuzkirche in Herne durch einen idealtypischen liturgischen Tag zu Ehren des heiligen Liudger: hochmittelalterliche geistliche Musik aus der Abtei Werden, bei der ein Einfluss der heiligen Hildegard von Bingen nicht ausgeschlossen werden kann. Das Konzert zeigte, was auch in einem gut erforschten Bereich noch an Fortschritt möglich ist: Instrumente wie Glockenspiel, Drehleier, Traversflöte und die lautenähnliche Quinterne gehören – wie mittelalterliche Abbildungen nahelegen – zur Aufführung des einst rein vokal angenommenen Chorals.

Mit dem Abschlusshymnus („Confessor o dignissime“) stellte Klöckner das Experiment einer metrisch gebundenen Interpretation vor, wie er sie aus zeitgenössischen Quellen als wahrscheinlich erschlossen hat: Der zeitlos getragene Choralgesang gewinnt plötzlich rhythmischen Schwung und eine „weltliche“ Artikulation. So folgt die Musik vertieften Einblicken in die mittelalterliche Theologie, die so weltabgewandt und zeitenthoben, wie sie einst verklärt wurde, eben nicht gewesen ist.

Das Kulturzentrum in Herne - einer der Veranstaltungsorte der Tage Alter Musik. Foto: Werner Häußner

Das Kulturzentrum in Herne – einer der Veranstaltungsorte der Tage Alter Musik. Foto: Werner Häußner

„Kult“ war das Thema der 40. Tage Alter Musik in Herne, und der verantwortliche WDR-Redakteur Richard Lorber verengt den Begriff weder auf den gottesdienstlichen Kult noch auf den „Kult-Status“ der (alten) Musik. Sondern er entwickelt in einer inhaltlich ausgefeilten Dramaturgie das Spektrum dessen, was aus dem lateinischen „cultus“ im Lauf der Zeit erwachsen ist: Der Marienkult im gegenreformatorischen 17. Jahrhundert spielt da ebenso eine Rolle wie der an exotischer Entdeckung sich erfreuende Türken-„Kult“. Beides wurde in anspruchsvoll programmierten Konzerten musikalisch konkretisiert.

Auch früher gab es „Kult“-Musiker: Das Festival rückte Arcangelo Corelli und Niccolò Paganini als Beispiele ins Blickfeld. Dass dem Herrscherkult in der Zeit des französischen „Sonnenkönigs“ Ludwig XIV. und seinem komplexen Verhältnis zur geistlichen Musik der Zeit nicht „gehuldigt“ werden konnte, ist den aktuellen Ereignissen in Paris geschuldet: Die Musiker von Le Concert Spirituel und Hervé Niquet sahen sich außerstande, angesichts des furchtbaren Massakers Paris zu verlassen und nach Herne zu reisen.

Auch „Kult“-Stücke gab es vor 300 Jahren. Mit Giovanni Bononcinis Oper „Camilla“ erfüllte Herne eine der vornehmsten Aufgaben eines solchen Festivals, ins Licht der Gegenwart zu rücken, was uns auch nach so langer Zeit noch etwas zu bedeuten hat, das reiche Erbe europäischer Musik unseren Ohren zu erschließen. „Camilla“ stand am Beginn des Hypes der italienischen Oper im vergnügungssüchtigen London des beginnenden 18. Jahrhunderts. Die Oper wurde in London von 1706 bis 1728 in einer sagenhaften Aufführungsserie von 111 Abenden gespielt, wie Dramaturgin Sabine Radermacher in ihrem sorgfältig recherchierten Programmheftbeitrag vermerkt. Sie war ein Stück Nostalgie für eine ganze Generation.

Aber ihre Botschaft dürfte über das übliche Interesse an herrscherlichen Ränkespielen, entflammten Affekten und Leidenschaften und komischen Verwicklungen hinaus wahrgenommen worden sein. Das Libretto von Bononcinis begabtem Mitarbeiter Silvio Stampiglia mag in der listigen, entmachteten Königin Camilla aus dem sagenhaften vorrömischen Reich der Volsker die Engländer an die eigenen bedrängten Königinnen erinnert haben. Und die Botschaft, über die politischen Interessen und Zugehörigkeiten hinaus dem Frieden und der Liebe zu frönen, mag dem Zeitgeist entgegengekommen zu sein: Man hatte Hass und Blut nach zwei Generationen des politischen Hin und Hers wohl einfach satt.

Konzertante Aufführung der Oper "Camilla" bei den 40. Tagen Alter Musik in Herne 2015. Foto: Thomas Kost/WDR

Konzertante Aufführung der Oper „Camilla“ bei den 40. Tagen Alter Musik in Herne 2015. Foto: Thomas Kost/WDR

Heute kommt Bononcinis Camilla über das Gewirre der Barockopern-Kabale nicht mehr hinaus: Die Wechselbäder von Leid und Liebe, Triumph und Ohnmacht, Wahrheit und Verstellung sind zu krass konstruiert, um noch einen Rest Glaubwürdigkeit zu bewahren.

Was aber bleibt, haben schon die Zeitgenossen Bononcinis gerühmt: sein Talent für den pastoralen Stil, seine originellen Harmonien und seine graziösen und eleganten Melodien. Die konzertante Aufführung im Kulturzentrum Herne ließ vernehmlich werden: Bononcini komponiert feinsinnige Lyrik, versonnene Schwermut, in Schönheit leuchtenden Schmerz mit so viel Eleganz und emotionaler Wahrhaftigkeit, dass es verständlich wird, warum die Londoner auf ihn flogen.

Den Verdienst, die in der Gruft der Geschichte erblindeten Edelsteine neu aufzupolieren und in Glanz und Wonne auszustellen, gebührt in erster Linie dem Elbipolis Barockorchester aus Hamburg mit Jürgen Groß als Konzertmeister und Jörg Jacobi am Cembalo. In den gut zweieinhalb Stunden Musik war kein Nachlassen der Konzentration, der exakten Formulierung, der rhythmischen Präzision und metrischen Wachheit, der Phrasierungs-Eleganz und Intonationssicherheit festzustellen.

Aber mehr noch: Die transparente Abstimmung und Mischung der Instrumente und das detailbewusste Spiel der fünfzehn Musiker garantierte ausdrucksstarke Farben: eine edel ebenmäßige Blockflöte (Elisabeth Champollion), zwei durchsetzungsfähige, saubere Oboen (Luise Haugk, Markus Müller), ein mal trauerschweres, mal burleskes Fagott (Stephan von Hoff), ein filigran-virtuoses Cello (Hannah Freienstein) und die präsente, reizende Koloristik oder versonnene Soli beitragende Theorbe (Johannes Gontarski).

Ironie und humorvolle Distanz hätten gutgetan

Die gepflegte, ausgefeilte Wiedergabe von Bononcinis Musik hatte freilich auch einen Nachteil: Den Willen zum expressiven Risiko, zum theatralisch geschärften Ton, zur gestischen Prägnanz brachten die Hamburger nicht mit. Die Ausbrüche der Wut, der Hilflosigkeit, der Verzweiflung blieben distinguiert wie eine englische Nachmittags-Teegesellschaft. Und die drolligen Szenen zwischen Tullia und Linco – dem „niederen“ Paar – kamen so seriös daher wie das unfreiwillige parodistische Potenzial der „hohen“ Gestalten, das schon die Zeitgenossen erkannt hatten.

Ironie und humorvolle Distanz hätten dem Stück gutgetan, auch bei den Sängern, die sich von der Tendenz zu seelenvoller Larmoyanz nicht ganz fernhalten konnten. Wieder einmal zeigte sich, dass eine konzertante Wiedergabe einer Oper nur eine halbe Sache ist: Eine lebendige Bühnenaktion hätte vieles unterstreichen können, was an szenischem Potenzial in der Musik angelegt ist, aber nicht ausgespielt werden konnte.

Nur der gut gelagerte Bass von Simon Robinson mit seinem gestaltungsfähigen Kern und der rhetorisch talentierte Tenor Michael Connaire schärften an ihren Figuren, dem getäuschten Eroberer und verbohrten Vater Latinus und dem unter Verkleidung schmachtenden, aber auch aufbrausenden Liebhaber Turnus, lebendige Konturen. James Elliott als Prenesto demonstrierte exemplarisch, wie problematisch Gesangskultur des 18. Jahrhunderts auf die Gegenwart zu übertragen ist: Der angestrebte schlanke, feine, bewegliche Ton geht auf Kosten der unverzichtbaren Stütze der Stimme; die dünne, manchmal quetschige Formung des Klangs lässt nur wenig flexible Farben zu, und von technischer Brillanz bei den Verzierungen zu sprechen fällt schwer.

Ohne komödiantischen Anflug trugen Cécile Kempenaers und Konrad Jarnot das Dienerpaar Tullia und Linco vor: Der so großmäulige wie kleinlaute Diener verharrte mit dem versierten Liedsänger Jarnot im Bereich gepflegter Lyrik; die gewitzte junge Frau hat eine virtuose Arie mit Begleitung der Piccoloflöte im zweiten und zarte Kantilenen im dritten Akt, aber beide blieben lediglich fein ausgearbeitet, gewannen mit der schmalen Stimme keinen Esprit.

Auch den beiden Heroinen des Stücks, Julia Sophie Wagner (Camilla) und Marysol Schalit (Lavinia) mangelte es nicht an lyrischer Intensität und einem schlank-innerlichen Ton im Leid. Aber das entscheidende Quantum vokalen Exhibitionismus‘, das auffahrende Temperament oder die vitale Brillanz ließen beide mit ihrem zaghaften vokalen Zugriff auf ihre Figuren vermissen. Nun ja – wenigstens in der Aufnahme, die den Tonmeister vor einige Herausforderungen stellte, dürfte sich diese Keuschheit im Theatralischen vorteilhaft auswirken.

Im kommenden Jahr stehen die Tage der Alten Musik Herne unter dem Thema „Hommage“. Sie finden vom 11. bis 13. November 2016 statt.

Die Mitschnitte einzelner Konzerte des Festivals dieses Jahres sind an den Montagen 23. und 30.11., 14., 21. und 28.12. jeweils um 20.05 Uhr in WDR 3 Konzert zu hören, beginnend am 23. November mit dem Konzert der „Vox Werdensis“.

Das „Ludgerus-Offizium“, das im Konzert in Herne gesungen wurde, ist auch auf CD erhältlich. Die Aufbahme basiert auf einem der wichtigsten Bücher mit Gesängen zu Ehren des Heiligen Ludgerus (des „Heiligen des Ruhrgebiets“), das vor einiger Zeit in Kapstadt aufgetaucht ist. Der südafrikanische Musikwissenschaftler Morné Bezuidenhout hat die Gesänge übertragen und mit den wenigen in Deutschland überlieferten Handschriften verglichen. Hieraus hat Stefan Klöckner, Professor für Musikwissenschaft an der Folkwang Universität der Künste und Leiter des Ensembles Vox Werdensis, ein „Ludgerus-Offizium“ zusammengestellt. Die CD ist für 15 Euro beim Institut für Gregorianik der Folkwang Universität erhältlich. Kontakt: anke.westermann@folkwang-uni.de

 

 

 




Zwischen Talkshow und Happening – die Triennale auf musikhistorischer Lesereise

Blick auf die skandalträchtige Uraufführungschoreographie von Strawinskys "Sacre". Foto: Christoph Sebastian

Blick auf die skandalträchtige Uraufführungschoreographie des  „Sacre“. Foto: Christoph Sebastian

Ach Du lieber Gott! Da hopsen und tanzen seltsame Hutzelmännchen, mit Vollbart verziert und Bärenfell behangen, wie Indianer auf dem Kriegspfad umeinander, und das zu Igor Strawinskys archaischer, brutaler, rhythmusgesättigter „Sacre“-Musik.

Es sei gestattet, ein wenig zu lachen, auch wenn hier, als filmisches Dokument, die Rekonstruktion der Uraufführungschoreographie gezeigt wird (1913 in Paris, von Waslaw Nijinsky), die immerhin einen der größten Theaterskandale des beginnenden 20. Jahrhunderts ausgelöst hat. Sodass die Musik im tumultuösen Lärm des erhitzten Publikums beinahe unterging.

Nicht zuletzt auf Eklats dieser Art hat der amerikanische Musikkritiker Alex Ross wohl bei der Titelgebung seines Buches geblickt: „The Rest is Noise“ erzählt eine Geschichte von der tönenden Moderne, die nicht wenige Zeitgenossen als Lärm abtaten, von einer Moderne, die andererseits den Lärm der Welt durchaus spiegelte. Der Autor entwirft dabei ein großformatiges Gemälde, das die musikalische Entwicklung des vergangenen Jahrhunderts in Beziehung setzen will zu politischen, philosophischen, soziologischen Strömungen jener Epoche. Ein überquellendes Kompendium, nicht frei indes von steilen Thesen, „Vielleicht“- und Konjunktivsätzen, Halbwahrheiten.

Sei’s drum: Triennale-Intendant Johan Simons hat das Buch ins Herz geschlossen und schon als Chef der Münchner Kammerspiele szenische Lesungen erarbeitet. Die finden nun ihre sechsteilige Fortsetzung in Schauspielhäusern des Ruhrgebiets. Diese Kooperation mit Theatern des Reviers, anfangs vollmundig beschworen, vereinzelt realisiert, dann aber schmählich fallen gelassen, erfährt also nun eine gewisse Renaissance. Das ist nur recht und billig: dass die Triennale sich bei allen europäischen Leuchtturmprojekten noch der Leistungsfähigkeit der traditionsreichen städtischen Bühnen und ihrer Ensembles bewusst wird.

Stephanie Schönfeld in der Rolle des Buchautors Alex Ross. Foto: Christoph Sebastian

Stephanie Schönfeld in der Rolle des Buchautors Alex Ross. Foto: Christoph Sebastian

Johan Simons’ Musikvermittlung der besonderen Art startet im Essener Grillo-Theater und verhandelt zunächst die letzte Jahrhundertwende, das Fin de Siècle, mithin die Komponisten Mahler und Strauss, um sich dann im 2. Teil hauptsächlich eben des „Sacre“ anzunehmen.

Der eingangs erwähnte Videoschnipsel bleibt alleiniger Filmbeitrag, ansonsten wird fleißig rezitiert. Doch längst nicht alles, was wir in der Lesefassung von Julia Lochte und Tobias Staab zu hören bekommen, entstammt direkt dem Buch. Manche Zitate gehen weit darüber hinaus. Ross’ Werk wird zum Steinbruch, andere Quellen (zu erschließen aus den Anmerkungen des Buches?!) kommen hinzu. Das Schöne ist: Wenn in Simons’ Inszenierung die Figuren selbst sprechen, wenn also die Zeitzeugen etwa über den „Sacre“-Skandal in Form einer aufregenden Collage berichten, gewinnt die Geschichte weit mehr Authentizität als durch die Einlassungen von Alex Ross.

Da gibt Axel Holst einen fein formulierenden Harry Graf Kessler, Stefan Diekmann einen spitzzüngigen Jean Cocteau, und die resolute Ingrid Domann zitiert im Agitpropstil harsche Kritiken aus der zeitgenössischen Weltpresse. Der wunde Punkt von Strawinskys Musik ist schnell benannt: die Dissonanz. Sie ist im übrigen in Ross’ Buch das Element, das die Entwicklung der tönenden Moderne geprägt hat. Sie emanzipiert sich indes nicht erst, das sei nur am Rande angemerkt, seit den späten Stücken eines Franz Liszt. Es gibt Werke der Renaissance, die würde der arglose Hörer im 20. Jahrhundert verorten.

Gestatten: Richard Strauss, Alma und Gustav Mahler (Thomas Büchel, Janina Sachau, Jens Winterstein, v.l.n.r.). Foto: Christoph Sebastian

Gestatten: Richard Strauss, Alma und Gustav Mahler (Thomas Büchel, Janina Sachau, Jens Winterstein, v.l.n.r.). Foto: Christoph Sebastian

Vieles von Ross’ Text, der, wie erwähnt, mit Strauss und Mahler beginnt, wird von Stephanie Schönfeld gelesen. Sie sitzt auf der T-förmigen Bühne auf einem Drehstuhl, fungiert als Wegbereiterin für den Einsatz der jeweiligen „Zeitgenossen“. Thomas Büchel (Strauss) und Jens Winterstein (Mahler) wirken dabei eher verhalten, lümmeln sich auf ihren Plätzen, wollen hintersinnig witzig sein, verleihen dem Abend aber leichte Zähigkeit. In der hinteren Reihe weitere Akteure: etwa Axel Holst als nöliger Kaiser Wilhelm oder Jan Pröhl als teils bärbeißiger, teils gesetzter Debussy.

Das Ganze wirkt wie eine Mischung aus Talkshow und studentischem Happening. Es ist ein unterhaltsamer Abend mit Stärken und Schwächen. Musiker der Bochumer Symphoniker streuen hier und da klingende Beispiele ein, etwa zwei Sätze aus Debussys Streichquartett.

Über allem schwebt die Frage zur Rolle des Publikums, das einst etwa Strauss’ modernistische „Salome“ bejubelte, das „Sacre“ aber erst allmählich goutierte. Debussy und Schönberg wiederum hatten für ihre Zuhörer mitunter nur Verachtung übrig. Die Vorstellung im „Grillo“ indes wird einhellig beklatscht. Dennoch bleiben Zweifel inhaltlicher Art. Die amerikanische Sicht auf einen Teil der europäischen Musikgeschichte mutet nicht zuletzt etwas salopp an.

Die weiteren Stationen der Lesereise finden sich unter www.ruhrtriennale.de




Triennale-Nachlese: „Die stille Kraft“ des Niederländers Louis Couperus in Essen

Europa-Dämmerung: Kokerei Zollverein in Essen, Schauplatz der Triennale-Aufführung von Louis Couperus' "Die stille Kraft". Foto: Werner Häußner

Europa-Dämmerung: Kokerei Zollverein in Essen, Schauplatz der Triennale-Aufführung von Louis Couperus‘ „Die stille Kraft“. Foto: Werner Häußner

Das Wasser, dieses unheimliche Wasser, diese kraftvolle, unausweichliche Urgewalt: Zu Beginn der Aufführung ist die Grenze zwischen Trocken und Nass exakt über die Bühne gezogen; genau an der Trennlinie spielt jemand Klavier. Doch wenn das geregelte Leben zerbricht, stürmt das Wasser die Bühne, tobt sich in einem Gewitter aus, lässt die Planken aus Tropenholz dampfen, dünstet aus den Ritzen und hüllt die Welt in Nebel.

Ein Bild, das nicht die Atmosphäre des Monsunregens in Indonesien – dem Schauplatz von Louis Couperus‘ „Die stille Kraft“ – illustrieren will, sondern das als große Metapher die Bühnen-Einrichtung von Jan Versweyveld im Salzlager der Kokerei Zollverein in Essen dominiert. Das Wasser, ein naturhafter Akteur, der für das Unbewusste ebenso stehen kann wie für die unheimlichen, unaufhaltsamen Dynamiken, die in dem Schauspiel nach dem Roman des niederländischen Autors Krisis und Katastrophe hervorrufen.

„Die stille Kraft“ gehört zu den letzten Produktionen der ersten Triennale von Johan Simons. Ein vergessener Stoff, geschrieben im Jahr 1900 von einem damaligen Erfolgsautor, der wie Thomas Mann in Deutschland in großen Romanen den Zerfall der bürgerlichen Kultur und Familie in Augenschein nimmt.

„De stille Kracht“ spielt zwar in Indonesien, thematisiert aber ebenso die Brüchigkeit europäischer Lebenskonzepte wie eine Kolonialgeschichte oder den „Clash“ unvereinbarer Kulturen. Das Unbehagen an der ach so dauerhaft scheinenden, sich selbst so sicheren Gesellschaft Europas wird greifbar im Kontrast zu der geheimnisvollen, sich nicht rational aussprechenden asiatischen Welt.

Der Ruhrtriennale ist zu danken, auf diesen Autor aufmerksam gemacht zu haben, der in Deutschland ziemlich unbekannt ist. „Die stille Kraft“ ist 1993 einmal in deutscher Sprache erschienen, beim Aufbau-Verlag, aber längst nicht mehr erhältlich. Simons plant, auch 2016 und 2017 Bühnenadaptionen von Romanen Couperus‘ zu spielen und leistet damit, was eine vornehmes Ziel der Triennale ist: den Blick zu weiten für andere kulturelle Welten.

Es würde zu kurz greifen, die Geschichte auf einen vermeintlich unvermeidbaren Konflikt westlicher und östlicher Kulturen zu reduzieren, so reizvoll das unter aktuellen Vorzeichen auch wirken mag. Und Regisseur Ivo van Hove meidet folglich allzu explizite Anspielungen, deutet nur in Kostümen (An D’Huys) oder durch asiatisch geprägte Schauspieler den „exotischen“ Aspekt an. Denn tatsächlich geht es um das Scheitern eines europäischen Rationalismus, der heute zum ökonomisch-pragmatischen Utilitarismus degeneriert ist.

Der Unterschied wuchert in der Seele

Der Protagonist Otto von Oudijck, Kolonialverwalter der (erfundenen) Region Labuwangi auf Java, verbindet positivistisches Denken mit einer protestantischen Ethik, die das Wohl der Menschen will, es aber auf „vernünftige“ Aspekte reduziert: Als die Eingeborenen einen Brunnen mit einem Opferfest einweihen wollen, verweigert er die Zustimmung, weil er ein Ritual einige Wochen nach Inbetriebnahme für sinnlos erachtet.

Gijs Scholten van Aschat gibt diesem Mann, der sich im zufriedenen Mittelmaß eingerichtet hat, keine unsympathischen Züge, im Gegenteil: Er will das Beste für Land und Leute, aber er sieht und hört nicht, was sich außerhalb seines rational abgesteckten Horizonts zusammenbraut. Wir sehen ihn, wie er vor seinem Schreibstuhl kniet, wie er seine Akten aus dem Wasser zieht, wie er versucht, sich mit den Kladden gegen den Regen zu schützen. Noch am Ende, als er von der „stillen Kraft“ überwältigt, in einem einheimischen Dorf lebt, versucht er, das Wasser zu bändigen, zu ordnen: Er gießt es in Gefäße, die er in einer exakt geraden Linie voreinander setzt. Ein wunderbares Bild des Scheiterns – und des inneren Vorbehalts.

Louis Couperus‘ „Die stille Kraft“ – und das ist, zumindest in dieser klugen Einrichtung Peter van Kraaijs für die Bühne, ein Vorzug – verteilt keine Moralwerte, urteilt nicht, lässt seine Menschen in einer Ambivalenz, die auch tragische Züge ihres Unvermögens nicht verdeckt. Leonie van Oudijck etwa, die Frau des wackeren Kolonialbeamten, glüht in der wunderbaren Darstellung durch Halina Reijn vor sexueller Gier, lebt sie ungeniert und schrankenlos aus mit ihrem Stiefsohn Theo und dem dunkel-geheimnisvollen Halbindonesier Addy de Luce. Aber in dem Moment, in dem ihr Mann die javanische Prinzessin (formvollendet: Marieke Heebink) demütigt, weil er „dem Recht“ zum Sieg verhelfen, die „Ordnung“ bewahren will, appelliert sie voll Menschlichkeit und Anteilnahme an seine Barmherzigkeit – vergeblich.

Mag sein, dass Couperus nur einen Weg sah, den „in der Seele wuchernden Unterschied“ zwischen Europäern und Einheimischen zu überwinden – den einer intimen Begegnung. in den Kindern aus beiden Kulturen ließe sich so etwas wie Hoffnung festmachen. Aber sie werden verachtet und verleugnet: Auf den sinnlichen Addy (Mingus Dagelet) werden alle Vorurteile projiziert; der illegitime Sohn Oudijcks wird totgeschwiegen. Als der blonde, „reinblütige“ Theo von seinem Halbbruder erfährt, führt seine Rebellion zum finalen Umsturz: Er wirft den Stuhl um, an dem sein Vater sich festgehalten hat, das Instrument der Weltordnung und des Realitätsverlustes. Jip van den Dool spielt in dieser Szene bravourös die mühsam im Zaum gehaltene innere Wut des jungen Mannes, die sich nun endlich Bahn brechen kann.

Die Jugend macht die Heuchelei und die Verdrängungsspiele der Alten nicht mehr mit – auch das ein Krisensymptom. Ein anderes manifestiert sich in der Sekretärin von Oudijck, Eva Eldersma. Maria Kraakman verkörpert eine gebildete Frau, die den Abgrund spürt. Sie fühlt „die Kraft, die gegen die ganze Westlichkeit vorgeht“. Sie registriert, wie hohl die europäische Kultur an der Schwelle des Ersten Weltkriegs tönt: „Das Kunstgetue ist eine Seuche ….“. Dem Fremden, Unwirklichen, das mit Mücken, Termiten und Kakerlaken das westliche Gebäude unterminiert, hat sie nichts entgegenzusetzen.

Eine pessimistische Sicht, die sich im 20. Jahrhundert und bis heute bitter bewahrheiten sollte. Eva wird das Land verlassen, hin zu europäischen Zielen, die eher in Träumen und Visionen einer dynamischen Kultur eine Rolle spielen – wie Paris. Dass sie zum Abschied den „Feuerzauber“ aus Wagners „Walküre“ spielt, ist bezeichnend: Die „Götterdämmerung“ wird nicht auf sich warten lassen.

So wird Peter van Kraaijs Couperus-Adaption zu einer bitteren Bestandsaufnahme, die aber auch als Appell gelesen werden kann: Ein Appell zur europäischen Selbstbesinnung und für ein Reinforcement europäischen Selbstbewusstseins. Simons ist mit dieser Produktion der Toneelgroep Amsterdam, die noch bis Februar 2016 in Amsterdam und bei einem Gastspiel in Antwerpen zu sehen ist, eine wichtige Entdeckung gelungen. Ein gutes Zeichen für die beiden nächsten Jahre.




44.000 Tickets – Intendant Johan Simons zieht positive Bilanz seiner ersten Ruhrtriennale

Pressekonferenz anlässlich der Programmvorstellung der diesjährigen Ruhrtriennale durch die Kultur Ruhr GmbH Intendant Johan Simons Bild: Stephan Glagla | pottMEDIA

Triennale-Intendant Johan Simons hat Bilanz gezogen. (Foto: Stephan Glagla/pottMEDIA/Ruhrtriennale)

Die Ruhrtriennale nähert sich ihrem Ende. Deshalb zog Intendant Johan Simons jetzt eine erste Bilanz. Wie nicht anders zu erwarten, war das Festival sehr erfolgreich, alles in allem wurden 44.000 Eintrittskarten verkauft.

Es gibt der Zahlen etliche mehr; genannt sein sollen noch die Verkäufe für Simons’ großformatige eigene Regiearbeiten „Accattone“ (6500 Karten) und „Das Rheingold“ (6020 Karten). Bemerkenswert ist die kurzfristige Vermehrung der Zeit-„Slots“ bei „Orfeo“ in der Kokerei Zollverein von 400 auf 460. Zur Erläuterung: Pro Zeitslot wandern in Viertelstundenabstand acht Zuschauer durch eine fein installierte Alltagshölle, in welcher (Haus-) Frauen mit ausdruckslosen Gummimasken ein freudloses Dasein fristen. Der Durchgang dauert rund eine Stunde, an zentraler Stelle spielt ein Orchester ebenfalls mit Gummimasken Monteverdi-Musik, und diese Installation von Susanne Kennedy, Suzan Boogaerdt und Bianca van der Schoot ist für die einen banal und für die anderen ein geniales Kunstwerk. Auf jeden Fall ist es ein Kunstwerk mit arg begrenzter Kapazität.

Portale der Maschinenhalle nach der Restaurierung: Portal im Südgiebel

Spielt hier im nächsten Jahr die Ruhrtriennale? Portal der Jugendstil-Maschinenhalle auf Zeche Zollern. (Foto: Martin Holtappels/LWL)

Dortmund darf hoffen

Die nächste Triennale findet vom 12. August bis zum 25. September 2016 statt. Was Johan Simons schon in der Pipeline hat, verrät er natürlich nicht. Ein bißchen hat er aber doch gesagt, beispielsweise zu der Frage, ob es im nächsten Jahr neue Spielorte geben wird: „Ich hoffe, es wird Dortmund!“

An der Jugendstilhalle auf Zeche Zollern hatte die Triennale ja beizeiten Interesse gezeigt, letztlich wurde es 2015 aber nichts mit diesem Spielort. Jetzt scheint die Halle als markanter Dortmunder Ort wieder in der Diskussion zu sein, zusammen mit der Phoenix-Halle am Phoenixsee, die ihrer Bestimmung als Eventstandpunkt entgegendämmert.

Kein Dinslaken, kein Wagner

Zeche Lohberg in Dinslaken, das Hallenmonstrum, in dem „Accattone“ lief, hat 2016 Pause. Da derzeit aber wieder fraglich ist, was dauerhaft aus dem gigantischen Schuppen werden soll, will Simons für 2017 noch keine Prognosen wagen.

Und was macht der Triennale-Ring? Nach „Rheingold“ ließe sich doch trefflich weiter an im bosseln. Doch eine Wagner-Inszenierung sei für 2016 definitiv nicht auf dem Plan, so der Intendant.

Musikalische Lesereise durch die Theater des Ruhrgebiets

Bis zur nächsten Triennale ist jetzt bald Pause – aber doch nicht ganz. Mit einer kleinen Tournee durch die Theater des Reviers möchte Johan Simons dem Publikum in Erinnerung bleiben. Deshalb gibt es – die Termine stehen unten – musikgeschichtliche Lesungen aus dem dicken Sachbuch-Bestseller „The Rest is Noise“ des Musikkritikers Alex Ross. Lesen werden Mitglieder der jeweiligen Ensembles unter Simons’ Regie; zudem spielen Musiker der Bochumer Symphoniker unter Leitung von Carl Oesterhelt bei dieser „literarisch-musikalischen Etappenreise“. Ein Abend soll um die drei Stunden dauern, eine Pause haben und 15 Euro Eintritt kosten. Und entspannt soll es zugehen, sagt Simons, gerne mit Getränken und ein paar Tischchen im Zuschauerraum.

Wir sind gespannt. Und die Kontaktaufnahme zu den Theatern der Region, die in der Planung früherer Triennale-Intendanten schlichtweg nicht vorkamen und sich deshalb übergangen fühlten, ist eine ausgezeichnete Idee, aus der mehr werden könnte.

Hier noch die Termine von „The Rest is Noise“:

  • Schauspiel Essen 5.11.2015
  • Schloßtheater Moers 3.12.2015
  • Schauspiel Dortmund 21.01.2016
  • Theater Oberhausen 04.02.2016
  • Theater a.d. Ruhr Mülheim 17.03.2016
  • Schauspielhaus Bochum 07.04.2016

www.ruhrtriennale.de




Durch Nacht zum Licht: Die Triennale feiert Nonos „Prometeo“ in Form eines Kirchgangs

Auf diesigem Weg zum verheißungsvollen Ziel: Triennale-Besucher als Teil einer Inszenierung. Foto: Wonge Bergmann

Auf diesigem Weg zum verheißungsvollen Ziel: Triennale-Besucher als Teil der Inszenierung. Foto: Wonge Bergmann

Der Weg ist nicht immer das Ziel. Mitunter kann er mühselig sein, uns verunsichern, ja höchst irritieren. Umso schöner, wenn es dann erreicht ist, das hehre, glänzende Ziel, auf dass wir uns denn in Seligkeit hingeben. Wie jetzt bei der Triennale. Wo das Publikum gewissermaßen durch eine nebelnasse Nacht zum Licht geführt wird. Behutsam, in kleinen Gruppen. Und am Ende einer Schleuse wartet die ultimative Symbiose von Werk und Spielstätte: Luigi Nonos „Prometeo“ in der Duisburger Kraftzentrale.

Soviel Kirchgang war nie. Denn drinnen verschachteln sich harte Holzbänke, die an Gottesdienstaskese gemahnen, zum Sitzgruppenlabyrinth. Heizstrahler an den Füßen inklusive, die indes nach und nach ihren Dienst einstellen. Dünne Platzkissen sollen das Exerzitium, das satte 140 Minuten währen wird, ein bisschen angenehmer machen. Vorn dirigieren Ingo Metzmacher und Matilda Hofman aus Partituren groß wie Folianten, die auf Pulten breit wie Altäre liegen. Sie koordinieren die Einsätze der Vokal- und Instrumentalsolisten, des Chores (Schola Heidelberg), des Ensemble Modern Orchestra und der Live-Elektronik (Experimentalstudio des SWR).

Matilda Hofman an einem der beiden riesigen Dirigentenpulte. Foto: Wonge Bergmann

Matilda Hofman an einem der beiden riesigen Dirigentenpulte. Foto: Wonge Bergmann

Nono nennt sein Werk, entstanden Anfang der 1980er Jahre, tatsächlich in einer Kirche uraufgeführt, eine „Tragödie des Hörens“ Dabei bezieht sich die Tragödie durchaus auf den Prometheusstoff, die allerdings eben nur hörend erfahren werden kann. Denn Musiktheater bedeutete für den italienischen Komponisten keine Interaktion oder Szenerie im herkömmlichen Sinne. Das Publikum darf sich allein auf die Klänge konzentrieren, auf das gesprochene, gemurmelte, hervorgestoßene, auch gesungene Wort, auf die Verbreitung im Raum. Und weil diese Art der Rezeption ungemein schwierig ist, weil der Musik insgesamt ja die Linearität abgeht, heißt es immer wieder „Ascolta“! (Höre!).

Vorn musizieren Chor und Orchester, neben und hinter uns, auf kleinen Emporen, weitere Sänger sowie Streicher- und Bläsergruppen. Die Elektronik tut ein übriges, um das Wandern des Tönenden zu untermauern, arbeitet mit Hall-, Echo- und Geräuscheffekten. Solisten und Ensembles liefern Sprachfetzen, etwa aus dem „Prometheus“ des Aischylos, aus Texten von Hölderlin, Walter Benjamin oder Hesiod (Libretto von Massimo Cacciari). Zudem erklingen Melodiefragmente, rhythmische Ausbrüche, vor allem aber üppige Klangschichtungen. Und alles in gehöriger Langsamkeit, als sei das hier ein archaisches Ritual, eine Unterweisung im richtigen Hören.

Dirigent Ingo Metzmacher mit präzisen Einsätzen. Foto: Wonge Bergmann

Dirigent Ingo Metzmacher (r.) und Matilda Hofman mit präzisen Einsätzen. Foto: Wonge Bergmann

Nun, nach den ersten 20 Minuten tröpfelten manche dem Ausgang zu, einmal sogar eine größere Gruppe. Nonos radikaler Ansatz, so scheint’s, ist ohne weiteres kaum zu vermitteln, trägt nicht über die Zeit. Ob die intellektuell anspruchsvollen Aufsätze im Programmheftchen da weiterhelfen, bleibt eine diskutable Frage. Dass der Komponist die Mehrchörigkeit der alten Venezianer und franco-flämischen Schule genauestens studiert hatte und geschickt in die Moderne des seriellen Komponierens zu transformieren wusste, sei unbenommen. Dass zudem Chöre, Solisten und Orchester das Spiel der Klänge wirkmächtig umsetzen, sei herzlichst anerkannt. Doch Nonos Denken wirkt wie aus ferner Zeit. Sein Schüler Helmut Lachenmann jedenfalls hat mit dem Musiktheaterwerk „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“, das kompositorisch die Emanzipation des Geräuschs vorantreibt, einen weit interessanteren Vorstoß gewagt.

Die Triennale aber lässt Nono feiern wie einen Heiligen. In einer „Industriekathedrale“. Und wir, die wir aus dem Dunkeln ins Helle geführt werden wie Auserwählte, sollen uns berauschen lassen, uns gleichzeitig (bewundernd?) der industriellen Vergangenheit stellen – die Zusammenhänge lernt, wer’s Programm liest. Einst hieß es für die Kulturhauptstadt Ruhrgebiet: „Wandel durch Kultur“. Die Triennale weckt mit hehrer Kultur allerdings eher manch nostalgisch angehauchte Seele. Musiktheater für Sentimentale – ach, vielen Dank.

 

 




Das Unheil der Liebe – Auftakt zu Luc Percevals Zola-Trilogie bei der Ruhrtriennale

Foto: C.Smailovic

Szene aus „Liebe. Trilogie meiner Familie 1“ (Foto: Carmin Smailovic)

Luc Perceval, seit Jahren Garant für außergewöhnliche Inszenierungen, baut für die Ruhrtriennale eine Trilogie nach dem Romanzyklus von Emile Zola, „Les Rougon-Macquart“ (1893). Teil 1 – „Liebe. Trilogie meiner Familie 1“ wurde jetzt in der Gießhalle im Landschaftspark Duisburg-Nord aufgeführt.

Man sitzt im Halbfreien, zwar ein Dach über dem Kopf, aber der Wind fegt etwas Wirklichkeit in die unglückselige Szenerie. Es geht im ersten Teil um Liebe und die ist in diesem Fall ein reiner Unglücksfall. Oder ist das Unglück programmiert? Wird man in Situationen hineingeboren? Sind Herkunft und Stand von vorneherein Schicksal, dem kaum zu entkommen ist? Das Thema klingt heutig und es wird in der Bildungsstatistik täglich betont.

Auf der Bühne gibt es ein Oben und ein Unten, allerdings bewegen sich die Figuren auf dem oberen kleinen Hügel immer am Rande des Abrutschens. Unten ist mehr Ruhe, herrscht halbwegs vornehmes Unglück. Wie ein verbeultes Schiff, festgeklemmt in unruhiger See, im Auf und Ab – zeigt uns die Szenerie Versatzstücke von Beziehungen.

Gabriele Maria Schmeide gibt die Gervaise, eine Wäscherin. Wenige glückliche Momente werden vom Überlebenswillen überdeckt, der sich ums Brot dreht, also ums Auskommen mit dem Einkommen. Da liebt man, wen man braucht und sie ist auf der ewigen Suche nach Glück, das anhält. Ihre Männer sind kein Halt, ihre Kinder kommentieren das zerrüttete Familienbild. Allein sie zu erleben in dieser Rolle, ist ein Erlebnis.

Die besser gestellte Familie des Dr. Pascal ist auf dem absteigenden Ast. Stephan Bissmeier vergöttert seine Ziehtochter vergöttert und gibt sein Geld gedankenlos für Schönes aus. Auch hier Unheil – Verzicht, Verzweiflung, Verstoß. Der Ruf ist hin und somit auch die Liebe. Welch ein Sittenbild!

Die Inszenierung ist gutes Stadttheater mit ausgezeichneten SchauspielerInnen des Hamburger Thalia-Theaters. Die Aufführung in der Gießhalle gibt dem Ganzen einen atmosphärischen Mehrwert. Moderner Schnickschnack findet nicht statt. Es ist, wie es war oder vielleicht immer noch ist. Paare verlassen das Stück in engerer Nähe als vorher. Haltet Euch fest und genießt die glücklichen Momente!




Mozarts Requiem inmitten von Klangräumen – ein Triennale-Konzert der experimentellen Art

Chor, Orchester, Solisten und Dirigent im Einsatz für den Raumklang. Foto: Pedro Malinowski

Chor, Orchester, Solisten und Dirigent im Einsatz für den Raumklang. Foto: Pedro Malinowski

Die Triennale wäre nicht sie selbst, würde auf ihren Konzertprogrammen nur das stets Gehörte, das sattsam Bekannte stehen. Und so hat sich das Festival vor allem dem Neuen in der Musik verschrieben. Kompositionen des Repertoires finden oft nur insofern Beachtung, als sie in einen ungewöhnlichen Zusammenhang gestellt werden. Dann mag sich ein anderer Blickwinkel, besser gesagt, ein veränderter Höreindruck einfinden.

Dieses andere Hören soll nicht zuletzt auf der besonderen Akustik der Industriehallen fußen, die mancher in allerernstestem Verklärungseifer als Kathedralen apostrophiert. Nun, so gesehen, passt das jüngste Triennale-Konzert namens „Klangräume“ zur riesigen Gladbecker Maschinenhalle Zweckel, bekommen wir doch überwiegend Sakrales zu hören.

Alles Klingende kreist dabei um Mozarts Requiem, das sich selbst gewissermaßen nackt präsentiert. Denn das ChorWerk Ruhr, diesen Abend maßgeblich prägend, bringt uns nur des Komponisten Fragment zu Gehör, die unvollendete Totenmesse also, mit all ihren Brüchen oder Auslassungen in der Instrumentation.

Doch der radikale Blick aufs Original ist nur die eine Seite. Weil dieses unfertige Ganze nun kombiniert wird mit „Sieben Klangräume“ von Georg Friedrich Haas – moderne Musik, zwischen einzelne Requiem-Stücke platziert. Sodass nun ein seltsames Zwitterwesen zu hören ist, ein Homunkulus einerseits der scharfen Kontraste, aber auch, zum anderen, der sinnfälligen Verstärkung von Befindlichkeiten.

Erwähnt sei nur das „Lacrimosa“ (Tag der Tränen, Tag der Wehen), von dem Mozart acht Takte nur geschrieben hat, dem der Klangraum V, „Atmung“ folgt: Erst die stockende Musik, dann ein eher unregelmäßiges Atmen, verbunden lediglich mit ein paar Geräuschen. Haas lässt des Menschen Ende auf der Intensivstation suggerieren, so eindringlich beklemmend wie des Klassikers Tonfolgen.

Einen ähnlich starken Effekt bewirkt der Klangraum II, nach Mozarts „Tuba mirum“ (Laut wird die Posaune klingen), wenn Haas’ Musik mehr und mehr in allerschwärzeste Bassregionen hinabfließt. Hinzu kommt ein weiterer Kunstgriff: Der Chor zitiert aus einem sehr weltlichen Schreiben des Wiener Magistrats an Mozart – singend, brabbelnd, flüsternd, mal nur Satzfetzen hervorstoßend, mal auf nur einem Wort beharrend – sodass bisweilen der Eindruck entsteht, hier will sich das Diesseits ins Jenseitige hineinfressen.

Florian Helgath, ein Dirigent, der so exakt wie unaufgeregt zu Werke geht. Foto: Pedro Malinowski

Florian Helgath, ein Dirigent, der so exakt wie unaufgeregt zu Werke geht. Foto: Pedro Malinowski

Eigentlich gilt die Musik des Abends aber zuerst dem Sphärischen. Wie es die beiden Stücke des Ungarn György Ligeti sehr eindringlich beweisen. „Ramifications“ für 12 Soloinstrumente steht am Beginn, ein Werk der minimalen Veränderungen, der weiträumigen Verästelungen, sehr statisch, und doch voller Bewegung. Ähnliches gilt für den himmelwärtigen Ausklang, das „Lux aeterna“ für 16 Chorstimmen, die sich in einem mikrotonalen Raum voneinander wegbewegen und wieder zueinander finden. So erleben wir ein großes klingendes Fluidum, dessen Farbspektrum unendlich scheint.

Dies zelebriert das ChorWerk Ruhr in größter Präzision, wenn auch die Soprane bisweilen leicht übersteuern. Aber welches Ensemble verfügt schon über derart schwarze Bässe, die bei Bedarf noch mühelos im Falsett glänzen. Die Bochumer Symphoniker wiederum, alle übrigens unter Leitung von Florian Helgath, glänzen bei der Klanggestaltung. In Mozarts „Requiem“ indes, das der Dirigent schlank und straff musiziert sehen will, fehlt es dem Orchester mitunter an artikulatorischer Genauigkeit. Stilsicher hingegen die vier Solisten, an erster Stelle der markige Bass von Tareq Nazmi, neben Dominik Wortig (Tenor), Ingeborg Danz (Alt) und Sibylla Rubens (Sopran).

Viel Beifall für ein Konzert, dessen experimenteller Charakter verhindert, uns ganz dem Jenseitigen hinzugeben. Hinzu kommt: Akustisch ist die Halle Zweckel für die Sphärenklänge nicht das Nonplusultra. Einst hörten wir das „Lux aeterna“ mit dem ChorWerk im Dortmunder Konzerthaus. Dort wurde das Stück zur Offenbarung.

 

 




Aus Sicht der Drohne: Joseph Haydns Oratorium „Die Schöpfung“ bei der Triennale

René Jacobs dirigierte Haydns "Schöpfung". Rechts neben ihm die Sopranistin Sophie Karthäuser (Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale)

René Jacobs dirigierte in der Kraftzentrale des Duisburger Landschaftsparks Haydns Oratorium „Die Schöpfung“. (Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale)

Berittene Polizei musste für Ordnung sorgen, als es im Jahr 1798 zur halbprivaten Uraufführung von Joseph Haydns Oratorium „Die Schöpfung“ kam. Groß war der Zulauf auch bei den weiteren Wiener Aufführungen, von denen die meisten in drangvoller Enge stattgefunden haben.

Haydns Meisterwerk traf nicht nur den Nerv der Epoche: Seine weltfreudige Religiosität, sein vom christlichen Dogma emanzipiertes Menschenbild, der tönende Optimismus des aufklärerischen Denkens hat Musikfreunde über alle Zeiten hinweg begeistert. Geist, Licht und Vernunft sind Kernworte des Librettos von Gottfried van Swieten, das auf biblischen Texten und auf John Miltons Dichtung „Paradise Lost“ beruht.

Auch im Duisburger Norden entfaltete Haydns Oratorium jetzt seine Zugkraft. Die Ruhrtriennale präsentierte „Die Schöpfung“ dort mit einem begleitenden Film von Julian Rosefeldt, in edler Besetzung zudem. Denn für die singuläre Aufführung im Duisburger Landschaftspark hatten sich namhafte Interpreten gewinnen lassen: der belgische Dirigent und Barock-Spezialist René Jacobs, das Collegium Vocale Gent und das B’Rock Orchestra. Wie gut das verfing, war schon eine Stunde vor Vorstellungsbeginn am Andrang auf die Parkplätze zu spüren.

Wer sich in Oper und Konzert über manch überflüssige, ja sogar störende Video-Installation geärgert hat, sah sich bei dieser Aufführung höchst angenehm enttäuscht. Der in München lehrende und in Berlin arbeitende Filmkünstler Julian Rosefeldt hat einen genialen Kniff gefunden, um „Die Schöpfung“ filmisch zu begleiten. Er zeigt uns Wüstenlandschaften aus der Perspektive von Kameradrohnen, gleichsam aus kosmischer Sicht, in einem ruhigen Gleitflug mit wenigen Schnitten.

Mögen Spötter ruhig behaupten, da könne man ebenso gut mit Google Earth um die Welt surfen und dazu eine Haydn-CD auflegen. Sie haben die Rechnung ohne die Komparsen gemacht, die in Zeitlupe durch die Szenerie laufen. Diese tragen weiße Schutzanzüge und Masken, wirken winzig klein und der Erde vollkommen entfremdet. Es könnten Abgesandte einer Spezies sein, die längst auf den Mars ausgewandert ist und nur noch gelegentlich zum ruinierten Heimatplaneten zurückkehrt, um nach dem Stand der Dinge zu sehen.

Marokkanische Landschaften und die verlassenen Filmkulissen der Atlas-Studios spielen in der Umsetzung von Jürgen Rosefeldt eine wichtige Rolle (Foto: Wonge Bergmann/ Ruhrtriennale)

Marokkanische Landschaften und die verlassenen Filmkulissen der Atlas-Studios spielen in der Umsetzung von Jürgen Rosefeldt eine wichtige Rolle (Foto: Wonge Bergmann/ Ruhrtriennale)

Mit gleichsam hypnotischer Kraft werden diese Bilder zum Kommentar, stumm und vielsagend zugleich. Während Chor und Orchester unter der Leitung von René Jacobs ein vielstimmiges Lob der Schöpfung anstimmen und uns mit der Imitation von Naturlauten erfreuen, sehen wir halb verrottete Filmkulissen in der marokkanischen Ödnis. Zerstörte Tempel, versteppte Weiten, vertrocknete Flussläufe. Auch hiesige Mondlandschaften sind zu sehen, geschaffen vom Braunkohle-Abbau in Garzweiler oder von der Schwerindustrie, wie Aufnahmen aus Bottrop, Essen und Duisburg zeigen. Eine gründlichere Verwüstung lässt sich nicht denken.

Die musikalische Qualität der Aufführung ist erwartungsgemäß hervorragend. Das B’Rock Orchestra klingt transparent und sprühend; der Chor ist punktgenau bei der Sache und verkündet Gottes Lob mit großem vokalem Glanz. Sophie Karthäuser (Sopran), Maximilian Schmitt (Tenor) und Johannes Weisser (Bass) sind ein ausgewogenes Solisten-Trio. Ihre Stimmen sind durchweg schlank, fern opernhaft-dramatischer Durchschlagskraft, aber ungemein textverständlich und wendig in allen Verzierungen.

Auszüge aus der Arbeit von Julian Rosefeldt wird die Triennale bis 26. September weiter zeigen. Sie sind unter dem Titel „In the land of drought“ („Im Land der Dürre“) im Schalthaus Ost im Duisburger Landschaftspark-Nord zu sehen. Der Eintritt ist frei.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Informationen: www.ruhrtriennale.de/de/land-drought)




Aseptische Ereignislosigkeit: Die „Orfeo-Installation“ der Ruhrtriennale

Eurydike in der Unterwelt. Der Teppichboden hat einen sichtlich hohen Synthetik-Anteil. Von Orpheus keine Spur. (Foto: Julian Röder/Ruhrtriennale)

Eurydike in der Unterwelt. Der Teppichboden hat einen sichtlich hohen Synthetik-Anteil. Von Orpheus keine Spur. (Foto: Julian Röder/Ruhrtriennale)

Die arme Eurydike. Isoliert hockt sie in Zimmern herum, die wie eine Vorhölle aus Plastik anmuten, wie ein aseptischer Albtraum zwischen Disneyland und Reha-Klinik. Sprechen kann sie nicht, denn eine Gummimaske mit wulstigen Lippen nimmt ihr Gesicht und Alter.

Geklont wurde sie offenbar auch, denn wir, die Besucher der Ruhrtriennale, begegnen auf unserem Gang durch das Labyrinth neongrell erleuchteter Zellen rund einem Dutzend Eurydikes mit wasserstoffblonden Perücken, die hier ein ebenso rätselhaftes wie freudloses Dasein fristen.

Von Orpheus weit und breit keine Spur. Aber die Musik, die der Komponist Claudio Monteverdi dem sagenumwobenen Sänger der griechischen Mythologie auf den Leib schrieb, begleitet uns als Soundtrack auf dem Weg. Sein Meisterwerk „Orfeo“, das als erste Oper der Musikgeschichte gilt, hallt durch die Weiten der Mischanlage der Essener Zeche Zollverein, wenn auch nur auszugsweise und häufig von elektronischen Klängen überlagert. Gespielt vom 2006 in Berlin gegründeten Solistenensemble Kaleidoskop, lassen die himmlisch reinen Harmonien uns andere Sphären ahnen, gewissermaßen Luft von anderen Planeten, ohne die wir in der seelenlosen Banalität dieser Umgebung womöglich erstickten.

Für die 1977 geborene deutsche Regisseurin Susanne Kennedy, die für die jüngste Produktion der Ruhrtriennale erneut mit dem niederländischen Performance-Duo Suzan Boogaerdt und Bianca van der Schoot zusammen gearbeitet hat, bildet Monteverdis Meisterwerk die Folie für eine Installation, die gut und gerne auch für die Kasseler Documenta taugen könnte. Mit Monteverdi als Stichwortgeber schuf sie eine rund 80-minütige „Sterbeübung“, die von den Besuchern in Gruppen zu maximal acht Personen zu absolvieren ist. Bewusst lässt sie die Figur des Orpheus links liegen, um sich auf die vermeintlich vernachlässigte Eurydike zu konzentrieren und uns so zum Nachdenken über Leben und Tod zu bringen.

Ein bisschen geht es dabei zu wie im Yoga-Unterricht, denn vieles dreht sich um die Kunst des Loslassens, die Orpheus bekanntermaßen nicht beherrschte, trachtete dieser Tropf doch danach, die verstorbene Eurydike durch seinen Gesang der Unterwelt zu entreißen. Und schaute dann auch noch im falschen Moment zurück. Wir aber sollen es besser machen, sollen das Unvermeidliche akzeptieren, wenn unsere Zeit gekommen ist. Dazu fordern uns Texte auf, die mal über Kopfhörer zu hören sind, mal über Video-Leinwände flimmern oder auf handgekritzelten Zetteln an den Wänden haften.

Was hier wie ein Tänzchen aussieht, soll Ausdruck von Seelenqual sein: Eurydike kann nicht leben, aber auch nicht sterben (Foto: Julian Röter/Ruhrtriennale)

Was hier wie ein Tänzchen aussieht, soll Ausdruck von Seelenqual sein: Eurydike kann nicht leben, aber auch nicht sterben (Foto: Julian Röder/Ruhrtriennale)

Wer kein Englisch versteht, ist bei dieser „Orfeo“-Installation übrigens ähnlich arm dran wie Zuspätkommer und alle, die kein festes Schuhwerk tragen oder nicht gut zu Fuß sind. Weder bietet das Triennale-Team Übersetzungen an, noch gibt es bei der „Sterbeübung“ Sitzgelegenheiten: Sie muss buchstäblich durchgestanden werden. Eine komfortable oder gar angenehme Erfahrung soll dieser „Orfeo“ keineswegs sein. Diesen Anspruch hatte die Regisseurin im Vorfeld formuliert. Dass sie ihn einlöst, kann freilich auch als zweischneidiges Schwert betrachtet werden. Der Besucher muss sich dieser Produktion aussetzen, ihre Ereignislosigkeit ertragen, denn über weite Strecken kann er nichts weiter tun, als verlegen herumzustehen und den starren Blick der Zombie-Eurydikes zu erwidern.

Wenn wir endlich sitzen dürfen, sind wir in einem Wartezimmer wie beim Hausarzt. Wir warten auf unseren Aufruf, mit zunehmend mulmigen Gefühlen. Denn keiner derer, die von den stummen Eurydikes durch zwei symbolbehaftete Türen hinaus geführt werden, kehrt zurück. Sie verlassen das Spiel, nehmen den Ausgang. Was mag sich hinter den letzten beiden Türen verbergen? Was haben jene gesehen, die uns verlassen? Wo gehen sie hin? Es kann keine Antworten geben. Für heute scheiden wir mit der inständigen Hoffnung, dass der Tod, wenn er uns holt, im Gegensatz zu Eurydike wenigstens keine Söckchen mit Delfin-Aufdruck trägt.

Bis 6. September 2015. Ticket-Hotline: 0221/280 210, Informationen und Termine: www.ruhrtriennale.de/de/orfeo




Die Sinnlichkeit der Moderne – ein Konzert ehrt den Triennale-Begründer Gerard Mortier

Große Geste: Sylvain Cambreling dirigiert das Klangforum Wien. Foto: Marcus Simaitis/Triennale

Große Geste: Sylvain Cambreling dirigiert das Klangforum Wien. Foto: Marcus Simaitis/Triennale

Johan Simons, der neue Intendant der Triennale, weiß, wem er zu Dank verpflichtet ist. Dem „Freund und Vorbild“ Gerard Mortier, der, nicht zu vergessen, auch entscheidender Wegbereiter war.

Mortier, Gründungsintendant des Ruhrgebietsfestivals (2002 bis 2004), hat den Jüngeren von Beginn an ins Regieboot geholt, auch und gerade, wenn es um die Inszenierung der neu erdachten „Kreationen“ ging. 2014 starb Mortier; ihm hat Simons nun das erste Konzert der Triennale gewidmet, mit Werken der Moderne, für die sich der Geehrte zu Lebzeiten stets eingesetzt hatte.

Moderne heißt in diesem Fall Musik des 20. Jahrhunderts, der Bogen spannt sich von Ferruccio Busoni über die Zwölftöner Berg und Webern, hin zu Messiaen und Giacinto Scelsi. Überwiegend kammermusikalisch besetzt, erweist sich dabei das Klangforum Wien als Meister farbenprächtiger Vielseitigkeit. In der Duisburger Gebläsehalle tönt es schroff und geschmeidig, dramatisch und bisweilen auch ein wenig kühl. Denn das Orchester mag das Sinnliche hervorheben, kann indes den analytischen Zugang zu dieser Musik nicht überspielen.

Das liegt nicht zuletzt an den beiden Dirigenten, die im Wechsel am Pult stehen. Sylvain Cambreling und Emilio Pomàrico bringen Klarheit ins Notengeflecht, setzen exakte Akzente. Lineare Verläufe können atmen, rhythmische Passagen sind kraftvolle Kontrapunkte, Klangfelder öffnen sich in aller Transparenz.

Entsprechend gelingt es nur bedingt, sich dem klingenden Geschehen ganz und gar hinzugeben. Am liebsten noch lassen wir uns von den süffig morbiden „Altenberg Liedern“ Alban Bergs umspülen. Rausch und Exaltation, aber auch sanfte Elegie inbegriffen. Zumal die Sopranistin Sarah Wegener mit wunderbar warmer Stimme oder geheimnisvollem Flüsterton die Texte Peter Altenbergs interpretiert. Und wenn sie die höchsten Höhen erklimmt, wähnen wir uns ohnehin ins Sphärische katapultiert.

Nicht minder engagiert: Hier steht Emilio Pomàrico am Pult des Orchesters.  Foto: Marcus Simaitis/Triennale

Nicht minder engagiert: Hier steht Emilio Pomàrico am Pult des Orchesters. Foto: Marcus Simaitis/Triennale

Anderes wirkt bodenständiger, dafür mutet es fremd an. Was Wunder, wenn etwa Busoni in seiner Studie für Streicher, sechs Bläser und Pauke indianisches Melos einflicht. „Gesang vom Reigen der Geister“ nennt er dies, 1915 komponiert, eine Musik, die zwischen Exotismus, einem Rest Romantik und neuer Sachlichkeit pendelt. Indisches Couleur wiederum lässt Scelsi knapp 60 Jahre später in „Pranam I“ erklingen, in Form einer virtuosen Lautmalerei, die Natalia Pschenitschnikova gekonnt umsetzt, während ein Tonband percussive Akzente liefert, alles eingebettet in große Klangflächen.

Als Meister der Farbe aber erweist sich zum Schluss der große französische Mystiker Olivier Messiaen, dessen Werk Gerard Mortier immer wieder in den Mittelpunkt der Triennale stellte. In den „Couleurs de la Cité Céleste“ will der Komponist nichts weniger als die Farben des Himmels in Klang umsetzen. Mit Flöten, Trompeten, Posaunen und Tuba, mit Xylophonen und Gongs, Glocken und Klavier. Orchester und Dirigent Cambreling loten sorgsam das dynamische Spektrum aus, arbeiten rhythmisch genau. Die Musik mit ihren stilisierten Vogelgesängen und riesenhaften Spreizklängen ist überwältigend. Großer Beifall.




Klugheit und Kraft bei der RuhrTriennale

Dass der Gründungsintendant Gerard Mortier nicht vergessen wird, dafür sorgte endlich eine Hommage in der Gebläsehalle Duisburg. Der jetzige Intendant Johan Simons hat diesen Abend zu Ehren seines verstorbenen Freundes eingerichtet. Das Klangforum Wien musizierte Werke von Scelsi, Busoni, Berg, Webern und Messiaen, Lieblingskomponisten von Mortier. Es dirigierten Emilio Pomàrico und Sylvain Cambreling.

Simons betonte in seiner kurzen Einführungsrede die Klugheit des ersten Triennale-Intendanten, seine umfassenden Kenntnisse in der Musik, der Architektur, der Literatur und auf vielen anderen Gebieten. Er sei ihm immer ein Freund gewesen und einmal sogar Dramaturg bei der Umsetzung des Buches „Milch und Kohle“ von Ralf Rothmann, unterfüttert mit dreizehn Arien von Verdi. „Sentimenti“ ist bis heute in Erinnerung. Es war ein würdevoller Abend und man hatte das Gefühl, gleich käme Mortier, der Meister der Vermittlung, auf die Bühne, um sich bei Künstlern und Publikum zu bedanken.

Tanz-Kreationen im Salzlager

Am Samstagabend kam die Tanzproduktion „Model“ zur Premiere. Richard Siegal bereist die Welt und schöpft daraus. Er konfrontiert das Publikum mit seinen unterschiedlichen und kraftvollen Tanz-Kreationen, dieses Mal im Salzlager auf Zollverein in Essen. Partner ist das Bayrische Staatsballett. Ballett? Ja genau, hier bewegt sich der klassische Tanz in neuen Welten, abseits der Schwäne und ohne Dornröschen.

Model

Szene aus der Produktion „Model“ (Foto: Ursula Kaufmann/RuhrTriennale)

Es ist ein formaler Kraftakt, sieht nach Arbeit aus an einem Ort, der (wie fast alle der RuhrTriennale) dafür einmal vorgesehen war. Es war laut und grell und Schweiß wurde ohne Sonneneinstrahlung produziert.

Zehn Tänzerinnen und Tänzer, naturgemäß eine Verbindung von Grazie und Kraft, machen die Bühne zu einem Exerzierfeld für Bewegungen. Das Publikum ist im Zustand freudiger Erregung, von freudig erregter Zustimmung. Ich bin weniger enthusiasmiert.

Teil zwei warnt vor dem Einsatz von Stroboskop-Licht. Ohrstöpsel kann man sich zum Schutz gegen zu viel Lärm mitnehmen. Es ist aber kein Lärm, sondern eine Puls steigernde Musik, ein Sound, der an Krieg und Zerstörung, an Schwerindustrie und Herzschlag erinnert. Lichteinsätze fliegen durch den Raum und über die Gesichter des Publikums. Es geht zur Sache. Es werden LED-Texte eingeblendet: „For the rejected inferno and for the elected paradise.” Daneben sieht man das Angesicht eines Säuglings. Die Worte „nice“ und „easy“ werden kurz durch die Halle gejagt. Gnadenlos und zornreich geben die Tänzer alles.

Draußen regnet es wie Bindfäden. Die Nacht bricht herein. Das Leben geht weiter, sanft und hässlich, schön und böse – wie immer.

Erstmals ein Festivalzentrum

Zum ersten Mal hat die RuhrTriennale ein Festivalzentrum eingerichtet, das täglich Besucher empfängt. Die Großinstallation vor der Jahrhunderthalle wurde vom Atelier Van Lieshout aus Rotterdam konzipiert und eingerichtet. Verschiedene Skulpturen laden zur Besichtigung.

WCs im Festivalzentrum

WCs im Festivalzentrum (Foto: Rolf Dennemann)

Das Refektorium lädt zu Musik, Film und Performance. „The good, the bad and the ugly“ heißt diese komische und gleichzeitig ernste Installation im Kunstdorf. Sogar die Toiletten haben industrielles Flair. So schnell ist die Vergangenheit Vergangenheit – Schwerindustrie als Folie für modernes Design.




„Wir optimieren uns zu Tode“ – eine großartige Rede zur Eröffnung der RuhrTriennale

Hyung-Chul Han

Byung-Chul Han (© S. Fischer Verlag)

Neben mir sitzt ein älteres Ehepaar, das sich pausenlos scharf in Streit befindet. Vorn umarmt die Kunst die Ministerriege. Es wirkt befremdlich in dieser Umgebung eines Stadtteils, dem in letzter Zeit der Ruf zuteilwurde, ein Salafisten-Nest zu sein.

Der Koreaner Byung-Chul Han ist Autor und Essayist sowie Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin. Er hält die großartige Rede zur Eröffnung der diesjährigen RuhrTriennale in Dinslakens ehemaliger Zeche Lohberg, gefolgt von einer Live-Talk-Show unter der Leitung von Bettina Böttinger. Festivalchef Johan Simons weist zur Begrüßung darauf hin, dass die RuhrTriennale auch ein Festival der Debatten sein werde. Man mutmaßt also eine große Lust des Publikums auf Thesen und Diskussionen.

Die Fähigkeit zum Fest verloren

Byung-Chul Han setzt einen starken Beginn, indem er das „Fest“ in den Mittelpunkt seiner Betrachtung stellt. „Ohne Fest haben keinen Bezug mehr zum Glück“, sagt er und stellt fest, dass die RuhrTriennale kein Fest ist, sondern ein Event. „Ein Fest betritt man wie einen Raum. Man verweilt. Die Zeit des Festes ist die Zeit, die nicht vergeht.“  Die Fähigkeit, Feste zu begehen, quasi erfunden von den Griechen, sei verloren gegangen. Es folgt die Beschreibung der Gesellschaft aus seiner Sicht. Er bedauert die Entpolitisierung der Kunst und der Politiker und selbst der Studenten. Es entstehe die Infantilisierung durch Smart-Phones. Die totale Infantilisierung führe zur totalen Macht des Kapitals und die Politik werde von der Ökonomie beherrscht. Großer Applaus. Ein seltsames Gefühl, seiner eigenen Unzulänglichkeit zu applaudieren.

Der Mann neben mir kommentiert: „Es ist Quatsch, was der sagt. Wir leben im 21. Jahrhundert.“ – „Halt endlich mal die Klappe“, erwidert seine Frau.

Der wohltuende Rundumschlag des Philosophen hat etwas Reinigendes, wirkt wie ein gewürzter Wind, der durch die Wirklichkeit fegt.

„Wir optimieren uns zu Tode“, sagt Han. „In diesem Zustand ist keine Revolution mehr möglich. Es herrscht die Hysterie der Gesundheit. Das Gesunde ist wie ein Zombie.“ Ich höre mich laut „Ja!“ denken.

Es folgt auf dem Podium eine Talkshow, bestehend aus Statements und Meinungen, wie wir sie aus den Fernsehtalkshows kennen. Zu Gast war auch der Vizebürgermeister Eyüp Yildiz, der im Vorfeld die Platzierung der RuhrTriennale in Lohberg kritisch kommentierte. Ob man denn die Bevölkerung mitnähme und was die Lohberger von der Kunst hätten. Mittlerweile sind alle im Gespräch.

Existenzberechtigung der Kunst

Der gesellschaftliche Hintergrund spielt naturgemäß immer mit, ob man will oder nicht. Man ist da, wo man ist, umgeben von Menschen und Problemen und wieder muss die Kunst ihre Existenzberechtigung erarbeiten, muss klarstellen, wozu sie nutze sei. Kunst kann etwas verändern. Das mutmaßen alle. Rainer Einenkel, ehemaliger Betriebsratsvorsitzender von Opel-Bochum, bestätigte dies. Die Aktionen, die zusammen mit dem Schauspielhaus in Bochum organisiert wurden, haben zu Zusammenhalt und Wertschätzung geführt.

Intervention auf Zeche Loberg

Intervention auf Zeche Lohberg

Vielleicht wäre es provokanter, an solchen Orten, wo das „Sub-Proletariat“ (ein Begriff, der immer wieder verwendet wird) seinen Ort hat, einen Sektempfang für die Kulturmenschen einzurichten, in angemessener Kleidung und Schnittchen, einem lyrischen Tenor lauschend, selbstverständlich zu hohen Eintrittspreisen. Das würde Diskussionen und Proteste hervorrufen, vielleicht mehr als eine Inszenierung, die sich im weitesten Sinne dem Thema Arbeit widmet. Die Kunst soll heute alles regeln, ob in Schulen oder im öffentlichen Raum.

Am kommenden Mittwoch (19.8. um 19.00 Uhr) zeigt die Triennale im „Reflektorium“ an der Jahrhunderthalle in Bochum einen Dokumentarfilm zu Byung-Chul Han: Der essayistische Film umkreist das Phänomen der Müdigkeit im Zeitalter des Neoliberalismus und die damit verbundenen Symptome wie Selbstausbeutung und Burnout.

Aus einem Interview in der ZEIT: „Politiker sind nur noch gefällige Handlanger des Systems. Sie reparieren da, wo das System ausfällt, und zwar im schönen Schein der Alternativlosigkeit. Die Politik muss aber eine Alternative anbieten. Sonst unterscheidet sie sich nicht von der Diktatur. Heute leben wir in einer Diktatur des Neoliberalismus.“

Mögen sich viele Gedanken während des Kunstfestes RuhrTriennale durch Debatten und künstlerische Genüsse entwickeln und in Erkenntnisse umsetzen.




Von Wattestäbchen und anderen Tücken – Frank Goosen beim Festival Ruhrhochdeutsch

„Richtig erwachsen bisse erss, wenn de en ganzet Paket Wattestäbchen brauchss, um die Kotze Deiner Blagen aussem Kindersitz zu pulen“. Ein Freund klarer Ansagen und plastisch-drastischer Geschichten, die so krass wie wahr sind, sollte man schon sein, wenn man zum Festival Ruhrhochdeutsch geht. Seit Ende Juni steht wieder das schöne historische Spiegelzelt vor den Dortmunder Westfalenhallen.

IMG_20150808_184904Schon zum sechsten Mal bietet das Dortmunder Theater Fletch Bizzel dort einen umfassenden Querschnitt, vor allem durch die ruhrische Kabarettszene. Wiederkehrende Ensembleauftritte wechseln sich ab mit Gastauftritten lokaler Helden. Am vergangenen Wochenende philosophierte Frank Goosen über Durst und Heimweh, wobei der Durst wohl bei Temperaturen gefühlt wie kurz vorm dritten Aufguss überwogen hat. Für Goosen war es trotz fußballerischer Differenzen ein Heimspiel.

„Durst und Heimweh“ heißt sein neues Kabarett-Programm. Durst soll ja schlimmer sein als Heimweh, aber am schlimmsten ist für Goosen beides zusammen. Und zusammen kommt beides gerade für Ruhrgebietsmenschen meist, wenn man(n) sich auf Reisen begibt. Nun ist man ja gerade im Ruhrgebiet ständig unterwegs, Stillstand gibbet bekanntermaßen nur auffe 40. Müsste Herrn Goosen eigentlich sehr entgegen kommen, denn wie er gleich zu Beginn erklärte, fühlt er sich eh am wohlsten auf den Autobahnen des Reviers. „Flüsse und Berge trennen doch nur, Autobahnen verbinden“. Natur an sich ist ja eh völlig überbewertet, die ist ja nicht mal von Hand gemacht wie so eine ordentliche ruhrische Autobahn.

Zum Glück für den Zuschauer spielen Goosens Geschichten aber nicht nur auf der Autobahn. Aber vom Reisen erzählen sie. Seine Geschichten spielen überall und jederzeit, durch alle Lebensabschnitte. Los geht es mit den ersten Ferien, die bei Goosens vor allem mit „de Omma anne See“ führten. Nach Helgoland zum Beispiel, wo er die Grundregeln des Goosenschens Universums lernte: „Watt der Junge will, datt kriechta auch“. Logischerweise nicht ganz einfach für nachfolgende Reisebegleitungen. Bei den Klassenfahrten mit den üblichen weithin bekannten, über alle Generationen hinweg ähnlichen Nebenwirkungen ging es noch so halbwegs, aber der erste Urlaub mit Freunden und unterschiedlichen Vorstellungen war da schon schwieriger. Dies im übrigen ein Interrail-Urlaub, die nicht immer subtilen Erinnerungen teilt er wohl mit vielen seiner Generation.

Und dann der erste Beziehungsurlaub…. – nirgendwo zeigt sich mehr Konfliktpotential. Über all diese Stationen geht es im Programm zurück zu dem einzigen Urlaub, den man zweimal im Leben macht: dem Familienurlaub. In fortgeschrittenem Alter dann am anderen Ende der Befehlskette und vor der schwierigen Aufgabe stehend, einen Kompromiss zu finden zwischen Kinder-Bespaßung und Massentourismus-Allergie. Nicht nur Familie Goosen findet diesen Kompromiß zuverlässig im Staate Dänemark und deswegen war mir die Exkursion ins Dänenland, mitsamt den Tücken seiner ausgefeilten Mini- und Fußballgolfplätze auch eine ganz besondere Freude. Wirklich außerordentlich bedauerlich, dass wir nicht mehr in den Schulferien in den Urlaub müssen. Die Goosensche Performance im fliederfarbenen Strandstuhl des Grauens würde ich nur zu gerne einmal sehen.

Für uns traf es sich bei diesem Programm, dass wir an diesem Abend Urlaubsziel waren. Wir hatten Besuch von Freunden aus Bayern, die Herrn Goosen bisher „nur“ anhand seiner Bücher kannten und mehr als einverstanden damit waren, mit einem Live-Auftritt des Revier-Chronisten gleich mal die volle Dosis Ruhrpott verabreicht zu bekommen. Es passte gut, dass Frank Goosen zwischendurch immer wieder den „Jungen vonne Bochumer Alleestrasse“ durchschimmern ließ: „Da kommt mein wahres Niveau wieder durch“. Unsere Gäste waren begeistert, selbst an der Stelle, als es gegen bayrisches Klosterbräu-Bier ging, denn „Menschen, die keinen Geschlechtsverkehr haben, kann man ja prinzipiell nicht trauen.“ (Zugegeben, Herr Goosen hat es ein klein wenig weniger vornehm formuliert).

Dafür kann man den Programmen des Frank Goosen sicherlich immer trauen. Dem Buchautor sowieso, aber auch den Kabarettisten mit direktem Draht zum Publikum, den hat der gelernte Tresenleser einfach drauf. Für ihn braucht es nur ein wohlgesinntes Gegenüber, eine Bühne ohne störendes Gedöns und der Bochumer nimmt den ganzen Saal gestenreich, oft genug freihändig ausse Lameng realitätsnah erzählend mit, diesmal eben auf die Reisen seines Lebens.

Frank Goosens Termine und anderes auf seiner Homepage
Das Festival Ruhrhochdeutsch geht noch bis in den Oktober, weitere Infos auf Ruhrhochdeutsch.de

P.S. @ Herrn Goosen: Falls Sie den Gag mit dem Komasaufen doch nicht aufgeschrieben haben – ich glaub, ich krieg das noch hintereinander…




Einladung zur Neugier: Die RuhrTriennale will uns alle umarmen

Die RuhrTriennale öffnet ihren neuen Reigen und will umschlingen. „Seid umschlungen!“ ist das Motto und Festivalintendant Johann Simons öffnet seine Arme, besonders für die, die „eigentlich nicht ins Theater“ gehen. Ein schwieriges Unterfangen, aber ein notwendiger Ehrgeiz, der hier im Ruhrgebiet erfolgreich sein wird. Je weniger abgehoben die Kunst daherkommt, desto größer der Drang des Menschen, seiner Neugier freien Lauf zu lassen. „Das machen die also für mich“, wäre der richtige Ansatz und so soll es in der Saison 2015 sein.

R.Dennemann

Backstage.

Die Pressekonferenz fand in der Turbinenhalle auf dem Gelände der Jahrhunderthalle in Bochum statt, ein Ort, wo derzeit für „Rheingold“ geprobt wird. Intendant Simons hegt zu Wagner eine Hassliebe und lobt das revolutionäre Potential des Komponisten, der sicher von so einer Umgebung angetan wäre.

An den Wänden der Halle hängen Kleider, ein Bord mit Fotos der Darsteller wie in einem Filmbüro. Ich sitze am Regietisch, wo noch aufgeschlagene Notenbündel liegen – Arbeitsplatz also für die Vorbereitungen dieser RuhrTriennale. Über Geld wird nur am Rande gesprochen. Für Simon ist Sprache ein zentrales Thema und davon haben wir glücklicherweise in Europa viele. “Über Ökonomie reden führt nicht zu einer Einheit“, sagt er. Über Geld spricht nur die Vertreterin der Bundeskulturstiftung, die sich glücklich schätzt, die Eröffnungsinszenierung „Accattone“ mit 800.000 € fördern zu dürfen, die im neuen Spielort, der Kohlenmischanlage in Dinslaken, zur Premiere kommt, einer Halle, die für Simons wie eine Wüste wirkt.

R. Dennemann

Reflektorium

Der Musiker und Komponist, Gast der Triennale, ein Schubladenuntauglicher, spricht von der Wüste in ihm selbst bei seiner Suche nach Inspiration, die neue Klagräume hervorbringt. Er sagt den Satz „Zwischen den Stühlen zu sitzen ist der beste Zustand zu wachsen“. Das zeichnet immer wieder die Projekte der RuhrTriennale aus, dass sie eben nur selten Schubladen für Einordnungen öffnen.

Vor der Jahrhunderthalle entsteht derzeit ein Kunstort als Festivalzentrum, das „Reflektorium“. Bei freiem Eintritt gibt es ein umfangreiches Surround-Programm, an dem viele lokale und regionale Kräfte beteiligt sind.

Nachdem Johan Simons zur ersten Triennale 2003 mit „I Sentimenti“ einer der seitdem besten Inszenierungen geliefert hatte, kann jetzt wieder man auf Gefühle hoffen – eine Linie zum ersten Leiter Gerard Mortier, dem ein Konzert am 16. August in Duisburg gewidmet ist.

Freuen wir uns also auf die neue Saison mit Entdeckungen, viel Erbauung und Erkenntnisgewinn – dem ganzen kritisch und weltoffen zugeneigt, die Umschlingungen entgegennehmend.

Infos: https://www.ruhrtriennale.de/




Festspiel-Passagen III: Katharina Wagner beleuchtet „Tristan und Isolde“ im Geist der Zeit

An der Leiche Tristans (Stephen Gould): Isolde (Evelyn Herlitzius) und Brangäne (Christa Mayer). Foto: Enrico Nawrath

An der Leiche Tristans (Stephen Gould): Isolde (Evelyn Herlitzius) und Brangäne (Christa Mayer). Foto: Enrico Nawrath

Von wegen ertrinken und versinken in des Weltatems wehendem All. Katharina Wagner holt „Tristan und Isolde“ ihres Urgroßvaters aus Wellen und Wogen, Düften und Lüften der Metaphysik gnadenlos herunter in das desillusionierende Ergebnis einer Dreiecksgeschichte: König Marke, ein senffarben gekleideter Pate mit Hut und Pelzkragen, zerrt Isolde weg von der Leiche Tristans, stößt sie im Hintergrund aus dem Raum. Aus der Traum.

Die immer noch junge Wagnerin, demnächst wieder „Alleinherrscherin“ am Grünen Hügel, hat sich in ihrer mit Spannung erwarteten Regiearbeit – die erste seit dem Mainzer „Tiefland“ 2011 – konsequent allem verweigert, was die Geschichte in jene ahnungsvoll-kunstreligiösen Sphären driften ließe, die Wagnerianer so innig lieben. Passend zitiert das Programmheft aus Thomas Manns „Leiden und Größe Richard Wagners“: „Es gibt kein Christentum, das doch als historisch-atmosphärisch gegeben wäre. Es gibt überhaupt keine Religion. Es gibt keinen Gott, – niemand nennt ihn, ruft ihn an.“ Genau: Es gibt nur diese entsetzliche, unerbittliche, zehrend-sehrende, allgewaltige Liebe.

Man könnte nun, um die „Religion“ zu retten, mit wagnerischem und mit gut christlichem Hintergrund einwenden, dass eben genau diese unbedingte, anarchische Liebe, die den Anderen und nichts sonst im Blick hat, das Göttliche, Transzendente präsent setze. Ist der Gott Jesu Christi nicht der Gott, der von sich behauptet, die Liebe selbst zu sein? Lässt uns nicht die Liebe für den Moment der ekstatischen Vereinigung all-eins werden, untertauchend, verhauchend im wehenden All? Ist dann der Tod nicht alles andere als eine absolute Lebensgrenze, sondern eine transformierende Macht? Nein. Bei Katharina Wagner sind die Wege zur Liebe Labyrinthe, die nicht umsonst an Giovanni Battista Piranesis monströse „Carceri“ erinnern, ereignet sich die „Nacht der Liebe“ im grellen Punktlicht der Suchscheinwerfer auf Gefängnismauern, gebiert der Sehnsuchtsschrei der Liebe im dritten Aufzug nur Wahn und Trug im undurchdringlich grauschwarzen Nebel von Kareol.

Souverän geleuchtet: Reinhard Traub taucht den ersten Aufzug in ein beklemmendes Zwielicht. Foto: Enrico Nawrath

Souverän geleuchtet: Reinhard Traub taucht den ersten Aufzug in ein beklemmendes Zwielicht. Foto: Enrico Nawrath

Reinhard Traub hat diese hoffnungslosen Bilder souveränn ausgeleuchtet – vom schummrigen Chiaroscuro des ersten bis zum stickigen Dampf des dritten. Wenn das Zwielicht im ersten Aufzug mehr als Konturen freilegt, schweben vier Personen vor einer an M.C. Escher erinnernden Raumkonstruktion – nur ist deren absurde Logik in willkürlich wirkende Konstellationen von Treppen, Brücken, Gängen und Pfeilern aufgelöst. Isolde ist dem „Eigenholde“ wie eine wilde Megäre auf der Spur, aber Stege fahren weg und unterbrechen Gänge; Treppen, die bisher im Nichts endeten, haben plötzlich Anschluss in begehbaren Raum.

Als die beiden endlich zusammenkommen, ist sofort klar: Ein Liebestrank ist nicht vonnöten, hier herrscht die pur brennende Leidenschaft. Kreisförmig verbinden sich die Arme, das Elixier wird in die Tiefe gekippt. Isolde setzt sich den Brautschleier auf, der sie wie eine Zwangsjacke umschließt; wie von Sinnen zerreißen ihn die beiden dann: Tristans bedachtsam-bedrückte Zurückhaltung verwandelt sich, dem Puls der Musik folgend, in enthemmte Raserei.

Blau, die Farbe der Romantik, in den Kostümen Thomas Kaisers für Tristan (Stephen Gould) und Isolde (Evelyn Herlitzius). Der "Liebestrank" wird weggeschüttet. Foto: Enrico Nawrath

Blau, die Farbe der Romantik, in den Kostümen Thomas Kaisers für Tristan (Stephen Gould) und Isolde (Evelyn Herlitzius). Der „Liebestrank“ wird weggeschüttet. Foto: Enrico Nawrath

Für den zweiten Akt konkretisieren die Bühnenbildner Frank Philipp Schlößmann und Matthias Lippert die Dreiecksform: Tiefschwarze Mauern umgrenzen ein Gefängnis, auf ihrer Krone patrouillieren die gelben Gefolgsleute Markes. Sie richten ihre „Zünden“ auf das Paar, das unter eine Zeltplane in einer Ecke die Geborgenheit sucht. Eine „Nacht“, die nur im Wunschdenken existiert: Das Paar schmückt seine Zuflucht mit künstlich leuchtenden Sternchen wie zwei Teenies, die in ihr selbst gebasteltes kleines Paradies flüchten.

Der Ausweg, der sich öffnet, ist ein projizierter: Tristan und Isolde stehen Seit‘ an Seite und blicken auf ferne, schattenhafte Gestalten am Ende eines Tunnels. Die „Nacht der Liebe“ – eine bloße Vorstellung, ein schwarzes Irrlicht in der ausweglosen Gefangenschaft der Welt. Die Liebenden erkennen das: An den Metallgerippen, die sie wie eine stählerne Klammer zu umschließen beginnen, reißen sie sich die Arme blutig.

Aber der Tod kommt nicht – den spendet erst Melot mit einem Springmesser. Der Einbruch Markes ist ein Fanal der Brutalität. Von dem milden König mit der balsamischen Stimme ist nur letztere geblieben: Georg Zeppenfeld – er verbrachte seine ersten Bühnenjahre in Münster und Bonn – ist der stimmschönste Sänger des Abends. Sein Monolog ist eine Wohltat, nicht weil er mit Timbre und Stimmführung ästhetische Erwartungen erfüllt, sondern weil er mit den Mitteln des Gesangs seinen Charakter expressiv ausdeutet. Er lässt hinter dem schönen Ton die Heuchelei, die Abgründigkeit des Willens zur Gewalt erkennen.

Szene aus dem dritten Aufzug. Foto: Enrico Nawrath

Szene aus dem dritten Aufzug. Foto: Enrico Nawrath

Tot, alles tot: Die unbehausten Männer, die da zu Beginn des dritten Teils in undurchdringlichem Nebel um eine Leiche kauern, erinnern an die Gruppe der „fremden“ Holländer-Mannen in Katharina Wagners erster Inszenierung in Würzburg 2002. Sie haben Tristan schon mit roten Grablichtern umstellt; das Warten auf ein Schiff zieht sich quälerisch lange hin, die Englischhorn-Elegien klingen nicht mehr elegisch-bukolisch, sondern depressiv und trauernd.

Tristans Lösung aus dem Kreis des Todes ist nurmehr eine Vision. In magischen Licht-Dreiecken erscheinen ihm Isolden, aber sie sind nicht lebendig: Es sind geisterhafte Gestalten, die bei Berührung zu Staub und Lumpen zerfallen, ins Dunkel stürzen, den Kopf verlieren. Auch Markes Erscheinen trägt irreale Züge: Unvermittelt knallt grelles Licht auf ein gelbes Dreieck, gebildet aus seinen Leuten. Erschütternd real ist nur das Ende: Der „Liebestod“ dürfte für Isolde ein dauerhaftes Sterben in der giftigen Welt Markes werden, der „sein Weib“ an sich gerissen hat.

Katharina Wagner dekonstruiert radikal und konsequent, was Richard sich noch philosophisch zurechtgemacht hatte: die transzendierende Macht der Liebe, die lösende Macht des Todes. Bei ihr bleibt nicht einmal der Glaube einer säkularisierten Kunstreligion. Die Liebesnacht – ein Pubertätstraum; die Liebesverklärung – eine Elendsprojektion. Das ist Moderne in der Endphase: nicht illusions-, sondern visionslos. Aus der bedrückenden Brutalität herrschender Machtverhältnisse gibt es nicht einmal mehr den Tod als Ausweg. Eine glaubenslose Welt verhärtet in der nihilistischen Macht des Faktischen. Der „Holländer“ Harry Kupfers, vor dreißig Jahren an gleichem Ort, lässt grüßen.

Überragend als König Marke: Georg Zeppenfeld. Foto: Enrico Nawrath

Überragend als König Marke: Georg Zeppenfeld. Foto: Enrico Nawrath

Oblag es also Christian Thielemann wenigstens musikalisch an Traditionen anzuknüpfen, die Transzendentalität des „Tristan“ wenigstens musikalisch zu retten? Mitnichten. Zwar liegen Welten zwischen der analytischen Auffassung, die etwa sein zum Antipoden hochstilisierter Kollege Kirill Petrenko vertritt, und Thielemanns sinnlich-gelöst fließender, großbogiger Interpretation. Aber der neue „Musikdirektor“ Bayreuths spielt nicht einfach die Rolle des „deutschen Kapellmeisters“ nach. Die Jahrzehnte, die ihn von Furtwängler und Knappertsbusch trennen, sind vernehmbar: Das Bayreuther Festspielorchester klingt frei, schlank und strömend, selbst die großen Aufschwünge rauschen nicht bassdonnernd über die Sänger hinweg.

Thielemann arbeitet am Detail, sorgt für rhythmische Präzision und für genaue Phrasierungen – etwa bei den Bläsern des Beginns des zweiten Aufzugs. Aber er hat auch eine Tendenz zum Weichzeichnen: Die fiebrige Ekstase des dritten Aufzugs war im letzten Bayreuther „Tristan“ bei Peter Schneider entschiedener, schutzloser zu erleben.

Auch Thielemanns Hang zur schönen Stelle fordert wieder ihren Tribut, wenn er das Tempo verlangsamt, um einen Übergang, einen pastos sinnlichen Augenblick, ein harmonisches Raffinessement auszustellen. Sicher, damit markiert er musikalisch wichtige Momente – aber manchmal bedarf es schon Thielemann’schen Tiefblicks in die Partitur, um den Verdacht der Willkür zu entkräften. Die „Buhs“, die ihm am Premierenabend entgegenschallten, hatten wohl andere Gründe als die der Leistung des Dirigenten Thielemann. Vielleicht mag als Hinweis genügen, dass sein Parkplatz mit dem hübschen Schild „Reserviert für Musikdirektor C. Thielemann“ und dem berühmten Porsche drauf ein vor der Vorstellung viel fotografiertes Motiv war.

Immer wieder gern fotografiert: Der Parkplatz mit dem Schild "Reserviert für Musikdirektor C. Thielemann". Foto: Werner Häußner

Immer wieder gern fotografiert: Der Parkplatz mit dem Schild „Reserviert für Musikdirektor C. Thielemann“. Foto: Werner Häußner

Wagners Oper als eine Herausforderung zu bezeichnen, ist für die Sänger alles andere als ein Gemeinplatz: Vor der Uraufführung in München vor 150 Jahren, galt sie als unsingbar. Der plötzliche Tod des Tristan, Ludwig Schnorr von Carolsfeld, galt lange als Beleg für die „mörderische“ Rolle – der jene der Isolde nicht nachsteht. So ist das Publikum in der Regel gewillt, jede auch noch so unvollkommene Darbietung mit dankbarem Beifall zu bedenken. Anders ist etwa der Jubel für Evelyn Herlitzius wohl kaum zu erklären: Ihre Isolde macht im Temperament der Attacke, in der wuchtigen Entschlossenheit des Spielens, in der mörderischen, gellenden Anstrengung der Töne nur annähernd wett, was ihr an Schliff und Schmelz fehlt. Ihr Vibrato ist das einer dramatischen Stimme in der Endphase, wie schon ihre „Isolde“ am Aalto-Theater in Essen 2013 nahegelegt hatte. Ihre Artikulation lässt weite Teile des Textes in der Sinuskurve kaum fokussierter Töne verschwinden. Das Publikum raste: Was zählt, ist die Exaltation, das unmittelbar theatrale Ereignis, nicht mehr die Kunst des formvollendeten Singens. Der überragende Georg Zeppenfeld erhielt nicht annähernd so viel Beifall.

Christa Mayer hielt sich als Brangäne tapfer und mit großem Ton neben den Eruptionen der Herlitzius. Ihr Profil bleibt im Konzept Katharina Wagners randständig: Ihre gehemmte Zerknirschung im dritten und ihre verzweifelte Sorge im ersten Aufzug sind deutlich ausinszeniert, lassen sie dennoch nicht aus dem Schatten einer Nebenfigur heraustreten.

Stephen Goulds Tristan dürfte momentan schwer zu übertreffen sein. Die Ökonomie des Krafteinsatzes, die gelöst gesungenen Momente des Elegischen und des Innerlichen, die klug disponierten Ausbrüche des dritten Aufzugs sind eine Klasse für sich. Iain Patersons rustikaler Bassbariton passt zu einem Kurwenal, der salutierend sein Bekenntnis zu Tristan hinausruft.

Raimund Nolte als schlangenhaft-eleganter Melot, Tansel Akzeybek – der „Nemorino“ des Jahres 2014 am Aalto – überzeugt als sicherer Hirt und als Steuermann. Kay Stiefermann – der Wuppertaler „Holländer“ – als handfester Steuermann ergänzt das Ensemble mit markanter Stimme.

Als Hirt und Junger Seemann in Bayreuth: der "Nemorino" des Jahres 2014 am Aalto-Theater Essen, Tansel Akzeybek. Foto: Enrico Nawrath

Als Hirt und Junger Seemann in Bayreuth: der „Nemorino“ des Jahres 2014 am Aalto-Theater Essen, Tansel Akzeybek. Foto: Enrico Nawrath

Was in Bayreuth ausblieb, ist die Sensation. Kein Skandal, keine Empörung, keine revolutionärer Umsturz der Tristan-Rezeptionsgeschichte. Was sich einstellte, ist viel mehr: Katharina Wagner und ihr Team verbinden eine durchdachte, wirkungsvolle Bildsprache mit einem tragfähigen Konzept jenseits genialisch daherkommender Ausflüsse dekonstruktivistischer Ideologien, assoziativ arbeitenden Material-Fetischismus‘ oder privatmythologischer Verstiegenheit. Der „Tristan“ ist eben eine zeitlose Geschichte, die soeben in Bayreuth im Geist der Zeit beleuchtet wird.

Am Freitag, 7. August, wird die Inszenierung Katharina Wagners live aus dem Bayreuther Festspielhaus in viele Kinos in Deutschland, Österreich und der Schweiz live übertragen. Beginn ist um 16 Uhr, ab 15.45 Uhr gibt es ein Vorprogramm.

Info über die Kinos in der Region: http://www.wagner-im-kino.de/land/deutschland/de-NW

Der Bayerische Rundfunk bringt auf BR Klassik die Übertragung als Live-Stream am 7. August ab 16 Uhr. Aus rechtlichen Gründen ist dieses Angebot nur in Deutschland verfügbar. Der Videostream ist bis 31.12.2015 nachzuschauen.

Info: www.br.de/radio/br-klassik/themen/bayreuther-festspiele-br-sendungen100.html

Am Samstag, 8. August, 20.15 Uhr, wird „Tristan und Isolde“ in 3sat gezeigt.

Info: http://www.3sat.de/page/?source=/musik/182785/index.html




Festspiel-Passagen II (München): Die Gruberova zehrt nur noch vom früheren Glanz

Die Mechanismen der Macht lassen kein Erbarmen zu: In Donizettis "Roberto Devereux" ist Elisabetta (Edita Gruberova) eine Gefangene. Foto: Wilfried Hösl

Die Mechanismen der Macht lassen kein Erbarmen zu: In Donizettis „Roberto Devereux“ ist Elisabetta (Edita Gruberova) eine Gefangene. Foto: Wilfried Hösl

Eine der üblichen Dreiecksbeziehungen? Nicht ganz: In Gaetano Donizettis „Roberto Devereux“ muss eigentlich von einem „Viereck“ gesprochen werden, denn Sara, das eigentliche Opfer der unheilvollen Konstellation, wird von ihrem Mann Nottingham aufrichtig geliebt – und diese Liebe, verbunden mit gekränkter Ehre, ist für das nachtschwarze Ende dieser immer noch unterschätzten Oper entscheidend, die jetzt bei den Opernfestspielen in München mit Edita Gruberova als Königin Elisabeth I. von England im Spielplan stand.

Aber auch zwischen den anderen Personen geht es nicht um die schwärmerische, romantische Liebe: Die Königin, einsam den Zwängen der Macht und des Hofes ausgeliefert, sehnt sich nach jemandem, dem sie vertrauen, bei dem sie Mensch sein darf. Dem Grafen von Essex, Roberto Devereux, auch historisch eine schillernde Figur, wurde einst seine Liebe durch die Politik genommen. Er ist kein Zyniker der Macht, sondern eher ein charmanter Charismatiker, dem das Glück gewogen war – und den jetzt seine Fortune verlassen hat. Mit Elisabetta verbinden ihn eine zu hingabevoller Freundschaft abgekühlte erotische Anziehung, der Reiz der Macht und eine joviale Vertrautheit mit einer Spur zu wenig Respekt. Sage nochmal jemand, Belcanto-Oper habe nichts mit dem wirklichen Leben zu tun ….

Donizetti und sein Librettist Salvatore Cammarano destillieren das historische Sujet aus der Regierungszeit Elisabeths I. zu einer knapp und schlagkräftig gefassten fiktiven Geschichte über die heillose Geworfenheit von Menschen in eine Welt, in der das Kalkül der Macht selbst dem zaghaften Widerschein von Liebe eine kranke Farbe gibt.

Ein pessimistisches Nachtstück. Donizetti gibt ihm – manchmal möchte man meinen in ironischer Absicht – zum Teil den leichten, beweglichen Ton des Rossini’schen Idioms. Umso beklemmender schlagen die Momente aufs Gemüt, in denen Donizetti das expressive Spektrum einer emotional geladenen musikalischen Sprache einsetzt: Im Duett zwischen Sara und dem Herzog von Nottingham klingen schon die Racheschwüre von Verdis „Rigoletto“ auf.

Ein Vorhof der Hölle: Herbert Murauers Bühne - hier im Finale von "Roberto Devereux". Foto: WIlfried Hösl

Ein Vorhof der Hölle: Herbert Murauers Bühne – hier im Finale von „Roberto Devereux“. Foto: WIlfried Hösl

In seiner Münchner Inszenierung behaupten Christof Loy und sein Bühnen- und Kostümbildner Herbert Murauer die Gegenwärtigkeit des Werks. Das funktioniert in der Führung des Chores und der Personen nicht mehr so eindrucksvoll präzis wie bei der Premiere vor elf Jahren; auch die szenischen Chiffren sind nicht mehr so punktgenau gesetzt. Murauers unpersönlich gestaltete Lobby scheint noch dunkler und dunstiger geworden zu sein: ein unheimlicher Unort.

Aber immer noch bewegt sich der Star des Abends, Edita Gruberova, mit der ihr eigenen szenischen Präsenz in diesem Höllenvorhof. Ihr Selbstbewusstsein, gestützt von einem Margaret-Thatcher-Kostüm, kippt rasch: Im dritten Akt schleppt sie sich nur noch wie automatisch über die Bühne, selbst im Stürzen stößt ihr Flehen nach einer menschlichen Regung nur auf Gleichgültigkeit. Sara, die „Rivalin“, erreicht sie nicht einmal mehr kriechend für eine Geste der Versöhnung. Ein immer noch wirkmächtiges Bild existenzieller Verlorenheit.

„Roberto Devereux“ ist seit der Premiere der Pachterbhof der Gruberova, die 2004 die weibliche Hauptrolle mit fulminantem Feuer kreiert hatte. Das ist schade, denn es verstellt den Blick auf den Wert der Oper und rückt sie in die Nähe des „Primadonnen-Vehikels“. Und die Staatsoper tut implizit so, als gäbe es außer der Slowakin niemanden, der diese Partie auf adäquatem Niveau singen könnte. Dabei hat der umjubelte Abend während der Münchner Opernfestspiele erneut erbarmungslos offenbart, dass sich Edita Gruberova inzwischen heillos übernimmt. Die einstige Königin des Belcanto verrät den „schönen Gesang“ an die Reste einer Stimme, die ihren einstigen Glanz nur noch ahnen lässt.

Gutes Singen ist keine Geschmacksfrage

Warum tut sie sich das an? Warum wirft sie sich mit allen Mitteln, die ihr Technikreste und Erfahrungsschätze verfügbar machen, einem Publikum vor, das zu Recht ihre Lebensleistung bejubelt, das sich aber auch gierig auf den Star stürzt und sich am Mythos von einst sattfrisst? Es mag für diese Unfähigkeit, würdig Abschied zu nehmen, ganz prosaische Gründe geben; einer der poetischen wäre, dass Edita Gruberova einfach die Rampe braucht, den Glanz des Lichts, den Jubel ihrer Fans. Verständlich, aber auch traurig.

Und nein: Singen ist keine Geschmacksfrage und die technische Gestaltung einer Rolle kein Willkürakt. Wer das behauptet, verrät jede Tradition des Belcanto und diskreditiert alle die Sängerinnen und Sänger, die sich mit Hingabe und Beharrlichkeit bemüht haben und bemühen, Technik, Stil und Ausdrucksvermögen gleichgewichtig auszubilden.

Es wäre jetzt müßig, ein Buchhaltungsverfahren zu eröffnen über all die unscharf intonierten Töne der Gruberova, über ihre gezogenen Höhen oder ihre mühevoll platzierten Piani, über Tempo-Willkür oder unstete Tonbildung. Unstreitig ist: Sie hat eine intime Kenntnis der Rollen, die sie gestaltet. Sie schöpft aus einem immensen Vorrat an Erfahrungen, an Gestaltungswissen. Aber sie hat – Fluch der Zeitlichkeit des Menschen – nicht mehr die natürlichen und die technischen Voraussetzungen, um Partien wie die der Elisabetta zu erfüllen.

Der Bariton Franco Vassallo. Im Herbst singt er in München Amonasro ("Aida") und die Titelrolle in "Rigoletto". Foto: Bayerische Staatsoper München

Der Bariton Franco Vassallo. Im Herbst singt er in München Amonasro („Aida“) und die Titelrolle in „Rigoletto“. Foto: Bayerische Staatsoper München

Man mag das in Zeiten, in denen lyrische Mezzosoprane sich eine „Norma“ historisch informiert zurechtstutzen, für unerheblich halten. Man mag den Wandel in der Gesangskultur, der in allen Generationen stattgefunden hat, gleichgültig hinnehmen. Man mag unter dem Vorzeichen postmodernen Pluralismus‘ Gruberovas mühsames Abbilden einer Rolle für eine akzeptable Alternative halten. Anything goes. Aber all diese Wege müssen eines aushalten: Sie müssen sich der Kritik stellen. Und die kann im Falle Gruberovas bei allem Wohlwollen nur dann über die eklatanten Defizite weghören, wenn sie sich die Gegenwart im Glanz der Vergangenheit vergoldet.

Auch diese Kritik ist in die Primadonnen-Falle geraten, nur diesmal aus gutem Grund. Ungerecht ist das gegenüber denen, die in diesem „Roberto Devereux“ Beachtliches, ja sogar Hervorragendes geleistet haben. Der Bariton Franco Vassallo zum Beispiel, der als Herzog von Nottingham eine sorgfältig gebildete, schön timbrierte und zu expressiver Schattierung fähige Stimme zeigt. Sonia Ganassi, die ihre Sara zwar eher mit veristischer Wucht als mit stilistischem Schliff anlegt, aber die entsetzliche Hilflosigkeit ihrer aussichtlosen Lage berührend vermittelt. Alexey Dolgov, der seit seinem Auftritt in Rossinis „Tancredi“ in Berlin (2012) eine Karriere im Westen aufbaut und für Roberto einen kräftigen, manchmal etwas unsicher positionierten, eher robusten als feinsinnigen Tenor mitbringt.

Francesco Petrozzi (Lord Cecil), Goran Jurić (Sir Gualtiero), Andrea Borghini (Page) und Philipp Moschitz (Giacomo) ergänzten das Ensemble; der Chor der Bayerischen Staatsoper unter Stellario Fagione hatte mit den empfindlichen Piano-Momenten keine Probleme. Das routiniert aufspielende Orchester leitete Friedrich Haider, der seiner Dame auf der Bühne noch in jedem metrischen und rhythmischen Manierismus eine zuverlässige Stütze war.

Edita Gruberova wird in München im April 2016 dreimal, bei den Opernfestspielen einmal am 13. Juli 2016 die Titelrolle in Donizettis „Lucrezia Borgia“ singen. Info: www.staatsoper.de

 




„Klassische“ Musik als europäisches Phänomen: Zum Abschluss des Klavier-Festivals Ruhr

Riesenerfolg für den Pianisten Igor Levit beim Klavier-Festival Ruhr. Foto: Felix Broede

Riesenerfolg für den Pianisten Igor Levit beim Klavier-Festival Ruhr. Foto: Felix Broede

Das mit dem „nordischen Ton“ ist so eine Sache: Das Klavier-Festival Ruhr baute rund um die 150. Geburtstage von Jean Sibelius (mehr) und Carl Nielsen (weniger) ein Programm, um die großen Meister Skandinaviens zu ehren. Verdienstvolle Konzerte verwiesen auf die hierzulande kaum bekannte lebendige Musikszene im 18. und 19. Jahrhundert, zu der etwa Ture Rangström oder Wilhelm Stenhammer gehörten. Musiker aus dem Norden wie Olli Mustonen und Ketil Haugsand waren zu Gast.

Aber im Endeffekt zeigte sich, wie die Wege der Musik doch einem gemeinsamen Zentrum zustreben, sich nationalen Grenzen und „Stilen“ verweigern. „Klassische“ Musik ist ein europäisches Phänomen – eine Erkenntnis, die all den nationalen Aberrationen trotzt: Musik hat immer Brücken gebaut, selbst in Zeiten schlimmsten Nationalismus‘ und kulturellen Chauvinismus‘. Wagner hat eben nicht recht, sondern Meyerbeer: Nicht aus dem wie auch immer gearteten „Nationalen“ kommt der innerste Quell von Kreativität, Originalität und Inspiration, sondern aus der lebendigen Verbindung von Völkern, Sprachräumen und Nationen.

Dem widerspricht auch nicht, dass es musikalische Charakteristika und Ausdrucksformen gibt, die sich mit bestimmten Landstrichen verbinden. Ein Ländler ist keine Polka – aber beide sind international geworden. Und die „Volksmusik“, die etwa Jean Sibelius, der schwedische Finne mit dem französischen Vornamen und dem deutschen Studium benutzt, hat ein „Volks“-Idiom, das man möglicherweise auch in Galizien oder der Schweiz wiederfinden könnte.

Mit dieser Aufnahme der letzten Klaviersonaten Beethovens gewann Igor Levit den Jahrespreis der deutschen Schallplattenkritik. Die Verleihung fand statt im Rahmen des Abschlusskonzerts. Coverabbildung: Sony Classical

Mit dieser Aufnahme der letzten Klaviersonaten Beethovens gewann Igor Levit den Jahrespreis der deutschen Schallplattenkritik. Die Verleihung fand statt im Rahmen des Abschlusskonzerts. Coverabbildung: Sony Classical

Insofern hat das Abschlusskonzert des Klavier-Festivals in der Essener Philharmonie bestätigt, dass der „Nordische Ton“ in einen europäischen Kontext gebettet ist. Carl Nielsen schrieb die eröffnende „Helios“-Ouvertüre in Griechenland; ihr Thema ist nicht etwa die Mitternachtssonne, sondern der Lauf des Sonnenwagens, den die griechische Mythengestalt Helios über das Firmament lenkt. Und das Aufdämmern der tiefen Streicher aus dem Nichts, der kraftvolle Einsatz der Hörner, das langsame Crescendo im Wellenspiel der Streicher ruft Erinnerungen an Wagners „Lohengrin“ wach – oder an E.T.A. Hoffmanns Oper „Aurora“.

Das WDR Sinfonieorchester war trotz der Feldherrnpose seines Dirigenten, des Finnen Hannu Lintu, noch etwas befangen im Klang. Hörner und Violinen mussten sich locker spielen, fanden dann aber in Edvard Griegs Klavierkonzert zu schwingender Freiheit. Die breite Einleitung des Adagios strömte gelassen und klangschön dahin; die träumerische Atmosphäre, getragen von den gedämpften Streichern, wurde nicht durchbrochen. Anders in den rhythmisch geprägten beiden letzten Sätzen: Da setzte Lintu schon einmal auf den Effekt eines scharf und präzise geschnittenen Tutti und ließ die Klangwogen über dem Pianisten zusammenschwappen.

Der Pianist war Igor Levit: Noch keine dreißig Jahre alt, gehört er zu den jungen Leuten in der Szene, die seit Jahren die schönsten Erwartungen nähren – und immer wieder übertreffen. Für Edvard Grieg zieht er erst einmal das Jackett aus: Am heißesten Tag des Jahres soll die Etiquette nichts beeinträchtigen, was der Musik dient.

Levit ist keiner, der etwas „zeigen“ müsste; er kann es sich leisten, den markanten Solo-Einstieg nicht narzisstisch zu zelebrieren, sondern selbstbewusst hinzustellen, um dann den kleinen Formen nachzuspüren, eine Arabeske nachsinnend statt spielerisch zu formulieren, die Momente Liszt’schen Glanzes zu verinnerlichen, ohne dem riesigen Crescendo hin zu den markigen a-Moll-Akkorden des Satzschlusses seine Wirkung zu nehmen.

Levit ist auch in den folgenden Sätzen ein Mann der leisen Töne, der klanglichen Delikatesse, der klugen dialogischen Balance mit dem Orchester. Sympathisch seine Zugabe, die „Peter Grimes Fantasy on themes from the opera by Benjamin Britten“ aus dem Jahr 1971 als Hommage an den im März verstorbenen schottischen Komponisten Ronald Stevenson, dem sich Levit sehr verbunden fühlt.

Nochmal der nordische Ton, diesmal gefasst in Sibelius‘ Zweiter. Man fragt sich zunächst, warum es wieder einmal die populärste seiner sieben Sinfonien sein musste, hatte das Konzert doch schon mit Griegs Klavierkonzert den offenbar unverzichtbaren „Reißer“. Dann fragt man sich, warum Hannu Lintu trotz seines akkuraten Schlags manche Kanten weichzeichnet, während er die majestätischen Ausbrüche und die fahlen Holzbläser-Episoden richtig spektakulär ausspielen lässt. Die Frage nach der Folklore verweist auf die Orgelpunkte und Liegetöne, die man auch in anderen als den nordischen Traditionen findet.

Und wenn missgünstige, koboldige Bläser eine warme Dvořák-Idylle stören, könnte man sich auch in Böhmen wähnen. Dort, wo Gustav Mahler seine Wurzeln hat, dessen zerrissene Sinfonik die episodenhafte Materialverarbeitung und die Abbruchmomente bei Sibelius vorausahnen lassen. Das WDR Sinfonieorchester gibt sein Bestes, ob in den fantastisch ausgehörten Klangfarben der Holzbläser oder in den Momenten des Messingglanzes, ob in der Transparenz der Balance der Gruppen oder im Kontrast abrupter Brüche und kantabel entwickelter Bögen.

Jahrzehntelang verbunden: Martha Argerich und Misha Maisky

Tags zuvor entzückte wieder Martha Argerich ihre zahlreichen Fans in Essen, diesmal im Bunde mit dem Cellisten Misha Maisky und einem nicht-nordischen, erst kurz vor dem Konzert veröffentlichten Programm. Beethovens Variationen über „Bei Männern, welche Liebe fühlen“ aus Mozarts „Zauberflöte“ sind ein hübsches Einspiel-Stück’l. Die sieben Veränderungen des poetischen Themas zeugen davon, wie zwei Musiker im Lauf eines jahrzehntelangen Zusammenwirkens wie selbstverständlich aufeinander eingehen, sich in Nuancen abstimmen, aber auch einmal – wie ein altes Ehepaar – dem Anderen ins Wort fallen oder einfach über ihn weggehen.

Misha Maisky und Martha Argerich nehmen den Beifall entgegen. Foto: Peter Wieler / KFR

Misha Maisky und Martha Argerich nehmen den Beifall entgegen. Foto: Peter Wieler / KFR

Argerich zeigte ihre weichen Läufe, ihren diskret perlenden Ton, ihr elegisches Cantabile. Maisky räumte ihr chevaleresk elegante Vortritte ein, bemühte sich um einen noblen, zurückhaltenden Ton. Die folgende Schostakowitsch-Sonate d-Moll (op.40) wirkte manchmal ein wenig unbekümmert dahingespielt – und Martha Argerich erschrak auch mal neckisch, wenn sie sich vergriffen hat. Bei solchen Musikern wäre freilich selbst ein Spielen „prima vista“ aufregender als bei anderen wochenlang geübtes Kunsthandwerk. Da muss nichts mehr bewiesen werden: Der diskrete Klavierton in seinen expressiven Qualitäten nicht, der dicht-gesangliche Klang des Cello auch nicht.

Das zweite Allegro der Sonate beschwört in seinen wild-perkussiven Elementen auch einen „Volkston“, aber Schostakowitsch lässt Ironie mitschwingen – wie im vierten Satz, wo er eine Reihe von Final-Manierismen auf die Schippe nimmt. Die bedeutende Violinsonate César Francks – hier in einer Fassung für Cello – wollte trotz der Kontraste zwischen Lyrizismen und gesteigerten Erregungszuständen nicht recht für sich einnehmen: Maisky fand nicht zu einem gelösten, freien Ton; er verharrte in heiserer Anstrengung zumal in der Höhe. Argerich spielte wie auf einer Zauberharfe aus Glas und Elfenbein. Aber beides wollte sich nicht zu einem organischen Ganzen verbinden, das die Aufmerksamkeit hätte fesseln können. Jubel und drei Zugaben.

 

 




Niedliche Brutalität: Joep van Lieshouts Ruhrtriennale-Dorf in Bochum

Die »BarRectum« ist Teil der begehbaren Installation vor der Jahrhunderthalle. © Atelier Van Lieshout

Die »BarRectum« ist Teil der begehbaren Installation vor der Jahrhunderthalle. © Atelier Van Lieshout

Wer die Rotterdamer Crew um Joep van Lieshout engagiert, weiß nicht nur, was ihn erwartet. Er erwartet auch genau das. Das Atelier Van Lieshout inszeniert das Gelände vor der Bochumer Jahrhunderthalle – und bedient die Hoffnungen der Ruhrtriennale nach einem crazy-verstörenden Festivalzentrum.

Der Künstler bestückt das Areal mit seinen organisch-verrätselten Systemen: Auf die Besucher warten unter anderem ein überdimensionierter Darmausgang, eine Werkstatt für Waffen und Bomben und eine Guerilla-Farm. »The Good, the Bad and the Ugly«, so der Titel des Gesamtkunstwerks.

Riesiger Enddarm und Waffenwerkstatt

Wie muss man sich das vorstellen? So: eine Halle, 15 mal 18 Meter groß und sechs Meter hoch. Sie heißt »Refektorium« und ist Bühne und Bistro zugleich. Die Halle ist der Kern. Wie ein Zahnrad gruppieren sich verschiedene, ebenfalls begehbare Kunstwerke drum herum. Zum Beispiel die  »BarRectum« in Gestalt eines Enddarms, oder das »Farmhouse«, ein mobiler Bauernhof. Daran angegliedert: die »Werkstatt für Waffen und Bomben« sowie eine »Werkstatt für Medizin und Alkohol«.  Die Installation soll, so das Konzept, das Festivalzentrum zu einer potentiell autarken Gemeinschaft machen.

Auf dem Flachdach des Refektoriums in der Mitte thront der »Domestikator«: eine Skulptur, höher als das Gebäude, auf dem es steht. Auch sie ist begehbar und rätselhaft. Auf der Skizze erinnert sie an einen Roboter, der drohend vor einer Folterbank steht. »Für Proben, Aufführungen, religiöse Menschenopfer«, sagt der Künstler und grinst, »fast wie ein Tempel, um das Tabu zu feiern«.

Die Nutzung ist nicht festgelegt

Wie all die Kunstwerke vor der Jahrhunderthalle Bochum genau genutzt werden, ist nicht festgelegt – die Offenheit gehört zum Konzept. Für van Lieshout passt das exakt zum Ruhrtriennale-Motto »Seid umschlungen«: »Wer als Besucher kommt, weiß erst einmal nicht, ob das für Flüchtlinge ist, etwas Feierliches – oder doch bedrohlich.«

Ein Festival-Dorf wie aus einer Trash-Science-Fiction – wer denkt sich so etwas aus?

Atelier van Lieshout sei ein »interdisziplinär arbeitendes niederländisches Künstlerkollektiv«, ist in der Wikipedia zu lesen. »Wir sind kein Kollektiv, keine Hippie-Kommune«, stellt Sprecherin Rookje Meijerink dann gleich zu Beginn des Atelier-Rundgangs fest. Das hat man sich allerdings schon gedacht: Die Atelier Van Lieshout-Webseite ist eine Show des Namen gebenden Künstlers Joep van Lieshout; außer ihm ist von keinem anderen Künstler die Rede.

Besuch in Rotterdamer Atelier

Im Atelier selbst herrscht die Betriebsamkeit eines mittelständischen Handwerksbetriebs. Ein Mittag Mitte März mitten im Industriegebiet am Rotterdamer Hafen. Die etwa 15-köpfige Crew sitzt an einem langen Holztisch in der Atelier-Kantine, auf dem Tisch Schüsseln mit Salat, Fladenbrot, Kichererbsenbälle – es gibt Falafel. Einige Mitarbeiter sind mit Farbe bespritzt, andere tragen Overall.

Jeder hier ist auf ein anderes Handwerk spezialisiert, auf die Arbeit mit Holz, Metall, Fiberglas oder Stein. An der rechten Wand der Kantine ist eine der Arbeiten von Atelier van Lieshout ausgestellt: Das metergroße 3D-Modell eines erigierten Penis samt Hoden, versehen mit einer Art Pump-Apparatur. Wer ihn beim Essen nicht im Blick haben will, muss sich eben auf die rechte Seite setzen. Aber die Vermengung von Arbeit und Pause scheint nicht das Problem zu sein: Direkt nach dem Essen schaut man sich in der Kantine noch gemeinsam einen Film an, zur Inspiration.

Fiberglas als Zaubermaterial

Workshop for Weapons and Bombs 1998 © Atelier Van Lieshout

Workshop for Weapons and Bombs 1998 © Atelier Van Lieshout

Währenddessen ein schneller Rundgang durchs Atelier. Hier die Holz-, dort die Metallwerkstatt, hinten der Bereich, in dem mit Fiberglas gearbeitet wird, jenem Kunststoff, mit dem Joep van Lieshout in den 1980er Jahren rasend schnell bekannt wurde. Damals war das Material in der Kunst noch exotisch. Van Lieshout verliebte sich sofort: »Ein Zaubermaterial«, sagt er, »sehr stark und wetterfest. Alles wirkt nahtlos, wie aus einem Guss. Und alle Farben sind möglich – ich liebe Farbe!».

Was van Lieshout mit diesem und anderem Material macht, erschließt sich selten auf den ersten Blick. Seine Arbeiten changieren zwischen Kunst, Architektur und Design. Häufig wirken sie zunächst vertraut und gefällig, man nimmt die poppigen Farben wahr und das glatte, geschmeidige Material – bis man genauer hinsieht. Häufig sind es menschliche, tierische, organische Teile, oft verschmelzen Natur und Apparatur in einer Mischung aus Niedlichkeit und Brutalität. Viele der Arbeiten haben soziale Funktion, wie auch bei der Ruhrtriennale: Dort sollen van Lieshouts Werke aus einem unbelebten Vorplatz ein pulsierendes Festivalzentrum machen.

An den Grenzen des Machbaren

Körper sind Systeme für den 51-Jährigen. Wie sie und andere geschlossene Systeme funktionieren, das interessiert ihn. Er testet Grenzen aus, auch Grenzen des Machbaren. Da ist zum Beispiel »Blast Furnace«, eine riesige Arbeit zum Verschwinden der Industrie, die eine komplette Halle des Ateliers füllt. Sie besteht aus einem sorgfältig nach technischen Zeichnungen zusammengelöteten Hochofen. Anstatt zu verbrauchen und zu produzieren, wird der Hochofen in der Installation zur Wohnung umfunktioniert, erhält Küche, Wohn- und Schlafzimmer. Oder da ist der »Power Hammer« (Maschinenhammer), übermannshoch und gefertigt aus rosa Fiberglas – ein pastellfarbenes Denkmal für die Schwerindustrie, wie eine Versöhnung zwischen Mensch und Maschine.

Graues Kriegsgefühl im Ruhrgebiet

Auch das in Bochum geplante Festivalzentrum ist so ein System, ein Organismus, der erst im öffentlichen Raum zu leben beginnt. Drei Jahre lang wird die Installation während der Ruhrtriennale-Zeit zu sehen, zu begehen und zu bespielen sein. »Es werden Leute kommen, die das Theater lieben, aber auch Spaziergänger ohne Kunst-Hintergrund«, sagt van Lieshout, »das gefällt mir. Meine Arbeit bietet jedem etwas.«

Viele seiner Werke stehen im öffentlichen Raum, überall auf der Welt. Auch in Bochum hat Atelier van Lieshout bereits gearbeitet, im Kulturhauptstadtjahr 2010 installierte er das »Motel Bochum« im Niemandsland an der A 40. Er kennt die Region und mag sie, auch dank seiner Oma aus Moers. »Wegen ihr war ich öfters im Ruhrgebiet, und meine erste Erinnerung an Deutschland ist: überall Grau. Eine Art Kriegsgefühl.« Heute liebe er die Industriekultur und Urbanität, und dennoch: »Das graue Kriegsgefühl spüre ich noch immer.« Wo könnte »The Good, the Bad and the Ugly« besser hinpassen als in diese Stadt der Kontraste?




Die besondere Kraft des Körpertheaters – ein sommerliches Festival in Essen

Jos Houben

Die Kunst des Lachens: Jos Houben (Foto: Giovanni Cittadini Cesi)

In Großbritannien ist der Begriff „physical theatre“ eine feste Größe für alles, was sich bewegt, also weder reiner Tanz noch reines Schauspiel ist. Körpertheater – wenn man so will. Die Folkwang-Hochschule ist ein Beispiel für die Lehre dazu. Im Essener Maschinenhaus findet (erst) seit 2012 die „Internationale Plattform Physical Theatre“ statt.

Begründet wurden die Tage internationalen Ausdrucks von Fabian Sattler (Vorstand des Maschinenhauses) und Thomas Stick (Studiengang der Universität Folkwang). Unter dem Titel „Full Spin“ entstand eine Festivalatmosphäre, wie man sie sonst kaum noch kennt. Rund um den Ort der Veranstaltungen konnte man abhängen, KünstlerInnen treffen, mit anderen nach- oder vorbereiten. Alle eingeladenen Gruppen waren vor Ort und teilten ihre Erfahrungen mit dem Publikum, das überwiegend aus jungen Leuten bestand.

Vom 1. bis 5. Juli zeigten Gruppen aus ganz Europa, dass dieses „Genre zwischen den Stühlen“ inzwischen überall eine feste Größe ist. Interdisziplinär, multimedial – so nennen es die meisten Off-Theater noch in ihren Anträgen auf Förderung.

Ganz eigener „Stallgeruch“

Sie sind selten geworden, die Festivals mit einem eigenen „Stallgeruch“. Hier wird nicht der post-akademischen Versuchsanordnung gehuldigt, werden keine Forschungsansätze in Performances umgesetzt, sondern man erlebt pures Körpertheater, das es seit Jahrhunderten gibt und keinen Staub angesetzt hat. Im Gegenteil.

Physical Theatre in Essen

Pia Alena Wagner mit Ensemble (Foto: Mats Südhoff)

Das Gast gebende Institut ist naturgemäß auch vertreten. Nachwuchskünstler aus dem Studiengang Physical Theatre der Folkwang Universität der Künste zeigten zwei 35-Minuten-Stücke. Zum einen sah man einen Versuch, clowneskes Handwerk zu vermitteln, wobei sogar nicht vor der roten Nase zurückgeschreckt wird. Leider war dieses Spiel um einen Popcornautomaten in nostalgischem Kirmeswagenkitsch von einem technischen Fauxpas begleitet, der die agierende Akteurin in verzweifelte Improvisationen trieb. Eine gute Übung, kann an sagen, der Abend bleibt für sie unvergesslich. Am Ende brutschelten dann doch ein paar Maiskörnerchen.

Bewegungen mit Botschaft

Pia Alena Wagner zeigte im Anschluss ihr Stück „GUT“. Das war es auch. Vier Musiker in Bademänteln, auf Sessel flätzend, begleiten eine Text und Performance-Mischung mit der jungen Frau, die mit ihrem Bewegungsrepertoire immer wieder überraschte, die witzig und intelligent daher kam und es gar schaffte, eine Botschaft zu vermitteln: „Was ist gut? Was ist schlecht? Was ist mit der Menschheit los? Warum denke ich öfter darüber nach, ob ich gut aussehe, als darüber, was wohl mit Kindern in einer eingestürzten Textilfabrik geschieht? Aber was bringt es schon, sich zu zerfleischen? Zusammen sind wir stark! Oder geht es wieder nur um mich? Was zu tun ist? Keinen blassen Schimmer.“  Alles wirkte lässig – wie das gesamte Festival.

Was zum Lachen reizt

Ein Highlight war sicherlich die Soloperformance oder Lecture Demontration (oder wie immer man es nennen will) des Belgiers Jos Houben. Er bildet Schauspieler aus und berät Comedy- und Opernensembles, Zirkusschulen, Tanzakademien, Universitäten, Zauberer. Seit 2000 ist er Ausbilder an der »École Jacques Lecoq« Paris. Er zeigt in seiner Show Mittel, die zum Lachen führen, einfach, archaisch, allesamt nicht neu und dennoch verblüffend, als sähe man diese Slapstick oder Situationskomik zum ersten Mal. Erfrischend einfach und mit großer Wirksamkeit zeigt der schlaksige Mann, wie leicht es ist, die Lachmuskeln zu animieren, wenn man es kann, wenn man Menschen beobachtet und eine Bewegungstechnik hat, die die kleinen Unfälle des Lebens zu einer großen Story machen kann.




Die Pranke des wilden Bären: Denis Matsuev in der Philharmonie Essen

Aber holla: Wenn Denis Leonidovich Matsuev auftritt, gibt’s für den Steinway kein Pardon. Der in Irkutsk geborene und von seinem Vater unterrichtete Russe verkörpert Eigenschaften, die man gemeinhin mit der „russischen Schule“ verbindet: stählerne Energie, gewaltiger Ton, dräuende Romantik. Und dazu phänomenale Treffsicherheit in Skalen, Grifffolgen, Oktavparallelen und was derlei virtuoses Handwerk noch mehr ist.

Ein amerikanischer Kritiker schrieb über ein Matsuev-Konzert, er habe in seiner fast sechzigjährigen Laufbahn noch nie ein Klavier so laut gespielt erlebt. Nun denn: Matsuev schafft es auch, die Essener Philharmonie so zu erschüttern, dass man in der Stille zwischen den Orkanen besorgt auf mögliches Knirschen der Stahlträger lauscht.

Die Philharmonie in Essen. (Bild: Werner Häußner)

Die Philharmonie in Essen. (Bild: Werner Häußner)

Matsuev wollte sich zunächst nicht als Extrem-Pianist einführen: Mit Peter Iljitsch Tschaikowskys Zyklus „Die Jahreszeiten“ stellte er – passend zum in Deutschland kaum wahrgenommenen 175. Geburtstag des Komponisten – ein mindestens so viel Zartheit wie Zugriff forderndes Werk an den Anfang seines Auftritts beim Klavier-Festival Ruhr. Und enttäuschte alle, die sich von altrussischer Kraft bestätigt sehen wollten. Matsuev spielt mit durchaus kernigem Anschlag; Verzärtelungen sind seine Sache nicht. Aber er gestaltet nicht ohne Poesie: wenig Rubato, aber sorgsam gebildetes Mezzoforte; sanft formuliertes Selbstbewusstsein in den „Weißen Nächten“, poetisch-melodienselige Reminiszenzen an Tschaikowskys Tatjana aus „Eugen Onegin“ in der „Barkarole“.

Natürlich geht es auch zur Sache, wenn Matsuev das „Lied der Schnitter“ (alles andere als „moderato“) als frischfröhlich gedroschenes folkloristisches Intermezzo versteht. Oder wenn er die herbstliche Jagd im „September“ als effektsicheres Schaustück vorführt, bei dem sich das Martellato schon gefährlich nahe an Großvirtuosen wie Skrjabin oder Prokofjew heranhämmert. Im „November“ streift Matsuev gar eine versonnene Melancholie; den „Dezember“-Walzer stattet er mit schwingender Melodik und gekonnten Salon-Fermaten aus. Kein übler Eindruck also zu Beginn; das „Russische“ des Denis Leonidovich scheint durchaus gebändigt und reflektiert.

Auch die kurze cis-Moll-Sonate Alexander Skrjabins (op. 2/1) hätte gefallen können: Matsuev wählt einen entschiedenen, aber nicht dröhnenden Ton, nimmt sich zurück und führt das Auf und Ab der Achtelfigur immer wieder ins Mezzoforte. Das wäre recht schön und schlüssig gewesen, hätte man nicht Benjamin Mosers energetisch dosierte Gestaltung drei Tage vorher in Haus Fuhr in Werden erlebt. Da klangen doch differenziertere Farben mit, da war das Spektrum der Dynamik elaborierter – und so Skrjabins Anweisungen treffender umgesetzt. Aber gut: Matsuev wählt einen „heroischeren“ Ton, sieht in der Etüde eher die geschichteten Akkorde als einen melodischen Verlauf. Ein Beispiel, wie grundverschieden die Zugänge zu einem Stück sein können.

Dann die dis-Moll-Sonate (op. 8, Nr. 12) Skrjabins: Jetzt erfreut sich Matsuev an den Läufen, die er mit machtvollem Bassfundament stützt und rauschend durchzieht. Jetzt zeigt er, wie er „patetico“ liest: formidable Konsequenz in der Phrasierung, erfolgreiches Überwinden irrwitziger technischer Hürden, zustoßende Finger wie Maschinen in einer alten Ruhrpott-Fabrik. Das reißt mit; der Beifall war merklich animierter als nach den Tschaikowsky-Miniaturen. Poesie heizt eben nicht an.

Nach der Pause fielen alle Hemmungen. Jetzt kam der Virtuose alten Stils zum Durchbruch. Werbegazetten und Lobhudel-Kritiken auf der Suche nach „Ausnahme“-Pianisten hatten Matsuev ja schon zum neuen Horowitz gekürt, und er hat das Etikett noch bekräftigt durch eine 2005 erschienene CD mit dem Titel „Tribute to Horowitz“. Aber um an den Altmeister aller Virtuosen heranzukommen, fehlt dem Vierzigjährigen aus Sibirien die Subtilität, die grandseigneurhafte Individualität und die ironische Distanz des Alten. Robert Schumanns „Kreisleriana“ transformiert er vom zerrissenen romantischen Seelenbild zum Futter furioser Exaltationen.

„Äußerst bewegt“ bedeutet für Matsuev rasant und forsch; „sehr innig“ ist bei ihm heroisch geladen. Ein Schumann voller Saft und Kraft, aber ohne in sich gekehrtes Betrachten, ohne jenseitige Feierlichkeit, auch ohne bohrendes Grübeln. Wobei Matsuev den „Kreisleriana“ durchaus interessante Facetten abgewinnt, etwa, wenn er sich in den beiden langsamen Teilen mit Noblesse zurücknimmt, wenn er das „Lebhafte“ groß und frei, mit kraftvollen Bässen selbstbewusst, aber nicht verdonnert spielt.

Nach der fulminanten Geste des Beginns war dann klar, wohin Sergej Rachmaninows b-Moll-Sonate op. 36 getrieben wird: Jetzt endlich kann Matsuev den wilden Bären geben, jetzt kann er mit Liszt-Ekstase, mit Prokofjev’scher Brutalität dem Flügel zeigen, wo die Grenzen der Materie liegen. Ob die grollenden Bassgewitter, ob die aufzischenden Diskantblitze, ob der Tumult der rasenden Finger noch den Noten entsprachen, weiß in dem Toben entfesselter Elemente wohl nur noch der liebe Gott.

Trotzdem: Matsuev entdeckt auch in dieser Sonate Momente des Nachsinnens, im „Lento“ sogar etwas wie andächtige Versonnenheit. Würde er in dem Stück durch mehr Kontrolle einen inneren Zusammenhang herstellen, könnte er das Zurücknehmen aus dem Ruch sentimentaler Ruhepausen befreien.

Konzept hin, Konzept her – die Zuhörer schrien elektrisiert auf, als Matsuev seine letzten Kraftkaskaden in den Raum gepulvert hatte. Und sie erklatschten sich fünf Zugaben, darunter Anatoli Ljadows impressionistische Porzellanton-Miniatur „The Musicbox“ op. 32 und eine einem grollenden Bergsturz gleich kommende Bearbeitung von Edvard Griegs „In der Halle des Bergkönigs“ in eigenem Arrangement.




Super-Virtuoses, ironisch gebrochen: Marc-André Hamelin brilliert in Mülheim

Marc-André Hamelin bei seinem Mülheimer Konzert. Foto: Peter Wieler/KFR

Marc-André Hamelin bei seinem Mülheimer Konzert. Foto: Peter Wieler/KFR

Seit 1997 tritt Marc-André Hamelin immer wieder beim Klavier-Festival Ruhr auf; 2013 war er dessen Preisträger. Jetzt kam der kanadische Virtuose zurück und spielte in Mülheim ein atemberaubendes Programm ohne jeden Show-Effekt. Bei ihm steht die Musik im Zentrum, nichts anderes. Und wer käme einem genuinen Musiker mehr entgegen als Mozart?

Die D-Dur-Sonate KV 576, für andere vielleicht ein „Einspielstück“, wird von Anfang an in seriösem Ernst gefasst: Keine Koketterie im „Jagdthema“ des Beginns, klare Sicht auf die Struktur, abwechslungsreicher Anschlag zwischen dem trocken aufbegehrenden Staccato des aufwärts weisenden triolischen Motivs und der weichen Triller-Antwort, zwischen den leichtfüßig schweifenden gebundenen Sechzehnteln und den aus den Anfangsnoten gebildeten Verarbeitungen. Ein Forte-Piano-Echo als Übergang zur Reprise, klare Gliederung in den Verläufen statt süffiger Legato-Kulinarik, dabei ein genau ausgehörtes Spektrum kühler Klangfarben: Mit so viel Raffinesse adelt Hamelin diese Sonate, lässt erleben, was für ein Meisterwerk der ausgewogenen Form Mozart mit ihr geschaffen hat. Nachzuhören ist das übrigens auf seiner 2013 entstandenen Aufnahme, die Hamelin beim Label Hyperion vorgelegt hat.

Marc-André Hamelins Aufnahme von Mozart-Sonaten, erschienen bei Hyperion. Cover: Hyperion Records

Marc-André Hamelins Aufnahme von Mozart-Sonaten, erschienen bei Hyperion. Cover: Hyperion Records

Im langsamen Satz meint man, Schuberts Romantik am Horizont zu ahnen: Ganz in sich gekehrt formt Hamelin dieses Adagio aus, gliedert es durch sanfte Agogik, romantisiert es aber nicht mit dunklen Klängen oder bedeutungsschwangeren Akzenten. Mozart bleibt bei aller Entrücktheit licht: heitere Melancholie, elegische Gelöstheit – man versteht, warum Mozart früher gern mit dem Etikett des „apollinischen“ Genius versehen wurde. Ganz anders der Finalsatz. Da entdeckt Hamelin den Humor Mozarts: kecker Rhythmus, dialogischer Witz, aber stets klar durchformte Polyphonie. Über den trocken perlenden Anschlag hinaus, mit dem er die Noten genau definiert, gönnt er allenfalls dem Bass etwas Wärme.

Und wozu bekennt sich Hamelin bei Schubert? Hier ist die Romantik nicht mehr ein fernes Aufdämmern, sondern die Sphäre, in der sich die Musik ereignen will. Freilich nicht im Sinne der gefühlvollen Werbespot- und Wohlfühl-Romantik, in die der Begriff inzwischen abgesunken ist. Sondern als das Nachspüren des Einbruchs des „ganz anderen“ Unbekannten, Jenseitigen und Eigentlichen. Als die Sphäre, die alles Vorläufige zu sich kommen lässt, die aber so auch das Unheimliche und Unbehauste gebiert. Hamelin kommt dem Romantiker Schubert auf die Spur, ohne ihn zu romantisieren: Selten gibt es, selbst bei diesem Treffen der Großen der Klavierwelt, einen solchen Höhepunkt.

Schubert im Zeichen des Belcanto

Hamelin bedient sich der Stilmittel, die manch anderem als verpönt gälten. Er kleidet den berühmten und viel diskutierten Beginn der B-Dur-Sonate (D 960) in die sprechende Rhetorik des Belcanto: Eine bewegte Linie, ein zartes Rubato, wenn das d und das es erreicht werden, ein sorgsam gehaltenes Pianissimo und ein exquisites Legato. Also weder die fließende Eleganz Horowitz‘, noch die tastende Suche Svjatoslav Richters, auch nicht die einfach darstellende Exposition von Andras Schiff.

Das romantische Beben klingt nach in der folgenden, weit geschwungenen, von Sechzehntelgruppen unterlegten Melodiebildung, in den crescendierenden Repetitionen, im ersten Haltepunkt, in der ersten nachhaltigen harmonischen Irritation, in der zum ersten Mal Fortissimo erreicht wird. Hamelin exponiert hier eine innere Unruhe, eine Bewegtheit, die er folgerichtig auf die bruchstückhafte Poesie des Schubert’schen Ringens um die angemessene Form nach Beethoven anwendet. Das ist, immer in klare, präsente, unverdickte Töne gefasste wirklich große Kunst.

Der zweite Satz bezieht sich in seiner weltverlorenen Versunkenheit, aber auch in seiner klassischen Phrasierung zurück auf Mozart und weist gleichzeitig nach vorne mit seinen harmonischen Rückungen und seinen atmosphärischen Bezügen zu dem geheimnisvollen Basstriller des Kopfsatzes. Der dritte Satz lässt studieren, wie Hamelin zu einer völlig anderen Haltung „umschaltet“, wie er trocken geschlagene Bässe und perlenden Diskant miteinander verbindet und innerhalb der Phrasen unterschiedlich färbt. Der vierte Satz, nicht übertrieben extrovertiert, zeigt die irritierend heftigen Ausbrüche der Forte-Akzente, die Wucht der punktierten Akkorde, auch die Reminiszenzen an die kantable Leichtigkeit des ersten Satzes. Mit der Zugabe, dem Impromptus As-Dur (D 935), bestätigt Hamelin: Hier ist ein Schubert-Interpret am Werk, der es mit den großen Deutungen der Vergangenheit aufnehmen kann und der so leicht niemanden fürchten muss.

Mülheim: Die Stadthalle im Zeichen des Klavier-Festivals Ruhr. Foto: Häußner

Mülheim: Die Stadthalle im Zeichen des Klavier-Festivals Ruhr. Foto: Häußner

Weit weg von „sachlicher“ Darstellung und dennoch mit äußerster Präzision – so nähert sich Marc-André Hamelin Claude Debussys „Images II“ (Auch davon gibt es eine CD). Zögernd stellt er im ersten Stück die eröffnende Achtelfigur vor, als höre er ihrem sanften Pianissimo nach, diskret und zart tritt das triolische Auf und Ab der Sechzehntel ein; zart verfließende Mini-Arpeggien, mit der Leichtigkeit eines feinen Gespinstes ausgebreitet, aufquellend wie der Erguss klaren Wassers in einer heimlichen Waldquelle.

Mit dem Titel „Glocken, durch das Laub hallend“ provoziert Debussy ja geradezu die Synästhesie von Licht und Ton, von Hören und Schauen – und Hamelin setzt sie mit einer ihresgleichen suchenden Delikatesse um. Auch das Bild des Mondes, das sich „über die Tempel von einst“ senkt, schildert Hamelin mit einem fein nuancierten Spiel luftiger Akkorde und zaubrischer Arpeggien. Man meint, die Finger berührten in den zart-gläsernen Tönen kaum die Tasten. In „Poissons d’or“ lässt er die „Goldfische“ in grazilem Forte glitzern – auch die Fülle des Klangs bleibt licht, fast zerbrechlich. Und man fragt sich, was das für ein Publikum ist, das in den letzten, verhaltenen, verhallenden Ton ungeniert hineinklatscht.

Hamelin hat wieder – nach der Uraufführung seiner „Barcarolle“ 2013 beim Klavier-Festival – zwei eigene Werke mitgebracht: Die „Pavane variée“ von 2014 fußt auf dem Thema von „Belle qui tiens ma vie“ des französischen Priesters und Tanzmeisters Thoinot Arbeau (1519 – 1595) und zerlegt die eingängige Melodie in einer altertümlich wirkenden Kirchentonart in atemberaubende Skalen, Arpeggien und Arabesken, in jazzig leichte Rhythmen und eine dichte Polyphonie, wobei am Ende ein repetierter düsterer Glockenschlag im Bass an das Ende des Vergnügens mahnt.

Hamelins Paganini-Variationen von 2011 reizen das Element des Virtuosen dann vorbehaltlos aus, zerfetzen rhythmische und akkordische Trümmer, als reiße ein wildgewordenes Raubtier alles in Stücke, und ironisieren die Bestandteile traditionell-trivialer Finalakkorde so rasant, dass spontaner Beifall aufkommt. Irgendwann konkretisiert sich das bekannte Thema, bleibt ein paar hektische Takte stabil und zerstiebt in irrsinnigen Akkorden und rasenden Passagen. Mit diesem subtil gearbeiteten Blendwerk hebelt der Virtuose Hamelin die Virtuosität als seriöse Haltung durch noch mehr Virtuosität aus: Ein Super-Virtuose, der sich selbst ironisch gebrochen vorführen kann.




Dosierte Energie: Benjamin Moser beim Klavier-Festival Ruhr in Essen-Werden

Der Pianist Benjamin Moser. Foto KFR

Der Pianist Benjamin Moser. Foto KFR

Haus Fuhr in Essen-Werden ist mit seinem intimen Saal ein idealer Veranstaltungsort für das Klavier-Festival Ruhr. Allerdings hat der Raum seine Tücken; er bildet das Spiel des Solisten sehr genau ab, verstärkt aber die Lautstärke überproportional, sobald sie über ein verhaltenes Mezzoforte hinausgeht. Dazu steht auf der Bühne ein Steinway, erfreulich präsent im Klang, aber für diesen Raum wünschte man sich manchmal einen weicher intonierenden Flügel.

Benjamin Moser, nun schon zum vierten Mal beim Klavier-Festival zu Gast, hätte seine liebe Mühe gehabt, die ausufernden Klangfluten zu dämmen – wenn er es denn versucht hätte. Aber er konnte die Schleusen nicht geschlossen halten; nicht bei Alexandre Skrjabins Fantasie op. 28, nicht in Maurice Ravels „Gaspard de la nuit“. Wie auch: Skrjabin bläut dem Pianisten ständig „crescendo“ ein, um ihn dann beinahe unvermittelt auf „piano“ einzuschwören, sogleich aber wieder das Aufwachsen der Lautstärke einzufordern, Wer die Fantasie so steigern will, wie es in den Noten steht, landet eben beim Fortissimo „appassionato“. So geschehen auch unter den sorgfältig formulierenden Händen des Münchner Pianisten, der mit seinen 34 Jahren schon auf eine schöne Karriere blicken kann.

Ein intimer Veranstaltungsort: Haus Fuhr in Essen-Werden. Foto: Werner Häußner

Ein intimer Veranstaltungsort: Haus Fuhr in Essen-Werden. Foto: Werner Häußner

Der Anfang des Konzerts war explizit „lyrisch“: Sieben von Edvard Griegs Klavierminiaturen, beginnend mit dem differenzierten Arpeggienspiel und der schwärmerischen Agogik von „An den Frühling“, über den drollig anhebenden, sich ins Dämonische auswachsenden „Zug der Zwerge“ bis zu den Fanfaren und majestätischen Umspielungen des „Hochzeitstags auf Troldhaugen“. Dazwischen macht Moser in „Heimweh“ deutlich, wie subtil er Innenspannung aufbauen und halten kann, auch wenn die Noten „einfach“ scheinen.

Skrjabins cis-Moll-Etüde op.2/1 schließt mit ihrem versonnenen Auf und Ab einer charakteristischen Achtelfigur an Griegs elegische Lyrismen an. In dem kurzen Stück bewegt sich Skrjabin kaum über die Region des Mezzoforte hinaus; Moser versucht sich in Delikatesse und verhaltenem Gestus, aber der Steinway zeigt ihm, wo’s langgeht: Direkter Klang, stählerne Resonanz, später, in der Fantasie, dann auch (zu) vollmundiges Pedal.

Moser hat die Abfolge klug gewählt, denn in der Etüde lässt er die Energie ahnen, die sich in den machtvollen Arpeggien und Repetitionen der Fantasie Bahn bricht. Und der Pianist macht deutlich, dass er es versteht, den Feuerbrand der Töne allmählich, klug dosierend zu entfachen.

Nach der Hommage an den vor 100 Jahren aus nichtigem Anlass verstorbenen Komponisten (ein Pickel verursachte eine Blutvergiftung) folgte Musik der französischen Zeitgenossen Skrjabins, Claude Debussy und Maurice Ravel.

Debussys „Childrens Corner“ hat Licht und Schatten – und das nicht nur im durchaus gekonnten claire-obscure der licht wirbelnden Schneeflocken des vierten und der bassdüsteren Lesart des zweiten Stücks („Jimbo‘s Lullaby“). Sondern auch in Mosers Lesart, der in der Puppenserenade den Klang zu füllig, den Rhythmus zu geschmeidig gestaltet und im abschließenden Cakewalk einen Schuss Spontaneität vermissen lässt.

Entsprechungen zwischen Musik und Malerei: Hippolyte Petitjean hat die Prinzipien des Pointillismus in "Femmes au bain" exemplarisch verwirklicht. Foto: Wikimedia Commons

Entsprechungen zwischen Musik und Malerei: Hippolyte Petitjean hat die Prinzipien des Pointillismus in „Femmes au bain“ exemplarisch verwirklicht. Foto: Wikimedia Commons/public domain

Maurice Ravels „Gaspard de la nuit“ spielt Moser weit weniger entschieden als etwa Khatia Buniatishvili bei ihrem Mülheimer Klavier-Festival-Auftritt. Er achtet mehr auf Atmosphärisches, rückt die Musik vor allem in „Ondine“ in die Nähe eines Pointillismus, wie ihn Georges Seurat oder Hippolyte Petitjean in der Malerei etablierten.

Die flirrende Atmosphäre, die sich auf genau definierte Punkte zurückführen lässt, entspricht Mosers musikalische Auffassung: Flächen und Linien aus definiert gespielten Noten, die als Ganzes eine hundertfach in sich gebrochene Klangsphäre bilden. „Le Gibet“ fasst er eher als melancholisches Stimmungsbild auf als im Sinne einer Studie des Unheimlichen.

Aber in „Scarbo“ kommt das Abrupt-Spukhafte in scharf geschnittenen Akkorden, in der Grandezza des Zugriffs und in zugespitzter rhythmischer Energie zum Ausdruck. Wie Rauch durch das Schlüsselloch verschwindet der Nachtmahr, um herzlichem Beifall und zwei Zugaben – Debussys „clair de lune“ und einer weiteren Skrjabin-Etüde – Platz zu machen.




Fieberfrei in Dortmund: Skrjabin mit Joseph Moog und den Bochumer Symphonikern

Der Pianist Joseph Moog. Foto: Paul Marc Mitchell

Der Pianist Joseph Moog. Foto: Paul Marc Mitchell

Vor zehn Jahren, da war er gerade mal 17 Jahre alt, spielte Joseph Moog in einem Konzert Franz Liszts „Totentanz“ – und seine Zurückhaltung bekam Liszts abundanten Klangfantasien außerordentlich gut. Vor zwei Jahren debütierte er in Moers beim Klavier-Festival Ruhr – und überzeugte mit klug ausbalancierten Klavier-Versionen von Opernschlagern Verdis und Wagners. Nun kehrt Moog zum Tastenfeste zurück, stürzt sich im Konzerthaus Dortmund in Alexander Skrjabins mystisch-fantastisch-rauschhafte Musikwelten. Und lässt diesmal spüren, dass er an Grenzen stößt. Nicht an pianistische, aber an musikalische.

Sein Zugang zur Skrjabins fis-Moll-Klavierkonzert op. 20 ist zunächst durchaus logisch. Moog macht aus Skrjabins vermeintlich formvergessen schweifender, selbstversponnener Kunstmystik keine esoterische Meditation. Er formt seine Soli klar durch, gibt ihnen kühle Fasslichkeit, vernebelt nichts in dampfendem Klang. Auch im Andante-Satz träumt er nicht vor sich hin.

Moog vergisst nicht, dass Skrjabin einen Variationensatz und keine Fantasie konzipiert hat. In fein poliertem Porzellanton modelliert er die melodischen Motive, lyrisch gelöst reiht er Figurationen und absichtslos wirkendes Spielwerk. In der unterschiedlichen Gewichtung der Phrasen, in der Differenzierung des Anschlags macht er die Struktur des Satzes deutlich. Und die Bochumer Symphoniker lassen es unter ihrem Chef Steven Sloane nicht an Piano-Delikatesse, an lichten Streicherlinien, an einer aparten Klarinette fehlen.

Was zum glückhaften Gelingen fehlt, ist bei einem so bewussten und ästhetisch präsenten Pianisten wie Joseph Moog nicht einfach zu beschreiben. Vielleicht geht er zu ernst mit den emotionalen Schichten in Skrjabins Musik um. Vielleicht geht er in den Noten auf statt über den Noten zu fliegen. Vielleicht äußert sich eine Befangenheit, die den spontanen und durchaus einmal riskanten Zugriff hemmt.

Das dynamisch variable Spiel mit dem Orchester gelingt nicht durchgängig. Wo sich der Klavierpart mal wie eine zusätzliche Farbe in den Klang integriert, sind die Symphoniker zu dominant; wo er mal selbstbewusst und klangfroh aufleuchten soll, bleibt Moog zu diskret; wo das Piano in kostbar stillen Tönen singen sollte, lässt er die metrischen Fesseln nicht fahren.

Auch das Poème „Vers la flamme“, eines der letzten Werke Skrjabins aus dem Jahr 1914, hat zwar die Steigerungsdynamik, nicht aber das raffinierte Flair. Moog beginnt mit dem schattigen Pianissimo und intensiviert es bis zum „Forte crescendo“. Aber sein Ton bleibt kalt, das „éclatant, lumineux“ hat statt der Hitze einer Flamme die fröstelnde Grelle einer Leuchtstofflampe. Moog fast dieses Werk in den Ton der Moderne: nicht strahlend, sondern gleißend.

Das Farbenspiel, die züngelnden Nuancen einer Flamme liefern die Bochumer Symphoniker. Sloane exhibitioniert Skrjabins frei dem Rausch und dem erotisch geladenen Klang huldigende Werk von 1908 nicht; er lässt die Musik nicht schwitzen, den Klang nicht dampfen. Sondern er betont die Nähe zu den französischen Impressionisten und zu Claude Debussy. Der Duft der flirrenden Streicher, das feine Parfüm der Harfen, die sehnsuchtsvoll verklingenden Flöten: das ist eher die Ahnung „ekstatischer“ Ausbrüche als ihre klangprächtige Vergegenwärtigung. So hält Sloane die allzu direkte und schnell banal wirkende Effekt-Dramaturgie zurück. Und die Finesse ist bei den präsent und farbenfroh agierenden Philharmonikern in guten Händen. Nur in den finalen Entladungen trägt das Konzept nicht ganz: Lautstärke ist nicht Intensität, die entsteht durch Hingabe und Risiko – und da waren die Bochumer noch zu fest auf der Erde verankert.

Dass Sloanes zurückhaltender, ins Lyrische neigender Ansatz seine Probleme hat, wurde im „Tristan“-Vorspiel zu Beginn des Konzertes deutlich. Vermutlich wollte der Dirigent die Bezüge demonstrieren, die zwischen der vor 150 Jahren uraufgeführten Oper Wagners – einem Meilenstein in der historischen Entwicklung der europäischen Musik – und ihrem Echo im Werk des vor 100 Jahren gestorbenen russischen Komponisten feststellbar sind. Entsprechend legte er Wagners Musik nicht im Sinne des Drängens und Sehrens aus, das die wellenförmige Dynamik ihrer Entwicklung hin zur Ekstase der sich lösenden harmonischen Spannung bestimmt. Sondern er leuchtet die Statik der Klänge aus, lässt sie fast lyrisch verharren, nimmt ihr die innere Unruhe. Auch den „Tristan“ prägt das milde Licht Debussys statt der Fieberschübe Wagners.




Europäische Erstaufführung: Ruhrfestpiele mit Taboris Frühwerk „Flucht nach Ägypten“

Foto: Bohumil_Kostohryz

Gestrandet in Ägypten: Flüchtlingsfamilie Engel (Heikko Deutschmann, Tatjana Nekrasov, Yuri Schmitz). Foto: Bohumil_Kostohryz

Zum Abschluss der Ruhrfestspiele hat Intendant Frank Hoffmann noch ein Bonbon für Theaterfreunde: die europäische Erstaufführung eines Tabori-Stücks, das Erstlingswerk des großen Theatermannes.

Schon 2012 hatte Hoffmann sich als Theater-Archäologe ums Werk von George Tabori verdient gemacht und dessen „Abendschau“ in Recklinghausen uraufgeführt. Nun bringt er die „Flucht nach Ägypten“ auf eine deutsche Bühne – ein Stück, das Tabori in der Hoffnung auf eine spätere Verfilmung geschrieben hatte, das bei seiner Uraufführung 1952 in der Regie von Elia Kazan am Broadway aber durchgefallen war.

Es ist ein Flüchtlingsdrama aus der Nachkriegszeit: Tabori, der wegen seiner jüdischen Herkunft selbst aus Deutschland fliehen musste, lässt Familie Engel aus Wien in einem ägyptischen Hotel stranden. Man will von dort nach Amerika übersiedeln, unter erschwerten Bedingungen: Vater Franz Engel (TV-Schauspieler Heikko Deutschmann) kam unheilbar krank aus dem KZ zurück und macht sich Illusionen über seine Genesungsaussichten. Seine Frau Lilli (Tatjana Nekrasov) ist die Mutter Courage, die mit wachsender Verzweiflung versucht, angesichts längst leerer Konten Haltung zu bewahren und die Familie samt des neunjährigen Bubi (Yuri Schmitz) bis zum ersehnten Visum durchzubringen. Eigentlich will Lilli nicht auswandern – doch nach zwei Jahren Odyssee durch Europa hat sie sich längst in ihre Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft verrannt.

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Eine Frau am Rande des Zusammenbruchs: Lilli (Tatjana Nekrasov, mit Raoul Schlechter, Marco Lorenzini, Arash Marandi, v.li.). Foto: Bohumil_Kostohryz

Das Stück spielt an einem Tag, in dessen Verlauf sich die Schlinge für die mittellosen Flüchtlinge immer weiter zuzieht: Der korrupte Polizeichef (Raoul Schlechter) will Geld für die abgelaufene Aufenthaltsgenehmigung kassieren, der gnadenlose Hotelbesitzer (Marco Lorenzini) seine ausstehende Miete eintreiben, und der kranke Franz stöhnt nach Morphium, das der Arzt (Ulrich Kuhlmann herrlich diabolisch) nur gegen Sex herausrücken will.

Immer wieder blitzt Hoffnung auf, und immer wieder stößt Lilli auf eine Mauer aus Geldgier und Geilheit. Tabori setzte das ernste Thema um, indem er – wie auch häufig in seinen späteren Stücken – ein Panoptikum komischer (Stereo-)Typen schuf. Gut und Böse sind also klar verteilt, was die Handlung schnell vorhersehbar macht: Der kranke Franz erhält nach seinem verzweifelten, tragikomischen Auftritt vor dem Konsul kein Visum („Ein Krüppel wäre eine Belastung für unser Land“). Er überzeugt seine Frau daraufhin, ihn in Ägypten zurückzulassen und mit dem Sohn zurück nach Wien zu gehen.

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Der geile Arzt (Ulrich Kuhlmann, re.) hat die unheilbare Krankheit seines Patienten verschwiegen. Foto: Bohumil_Kostohryz

Hoffmann entschied sich dazu, das 130-minütige Stück ungekürzt und ganz in seiner Entstehungszeit verhaftet in großer Besetzung auf die Bühne zu bringen – verständlich für eine Erstaufführung. Zu den zeitgenössischen Kostümen (Jasna Bosnjak) passt die sparsam eingerichtete, offene und dunkle Drehbühne, auf der bewegliche Scheinwerfer-Spots Szenen und Figuren ausleuchten. Doch so wie die Drehbühne ächzt und rumpelt, so kommt auch das Stück zu langsam in Gang. Was als Filmstoff tatsächlich gut taugen könnte, bräuchte für die Bühne Straffung und Konzentration.

Hoffmanns theaterhistorisches Verdienst ist, ein Tabori-Frühwerk belebt zu haben, das erst seit 2014, zum 100. Geburtstag des 2007 verstorbenen Autors, überhaupt in deutscher Sprache vorliegt. Ein Bühnenerfolg wird die „Flucht aus Ägypten“ jedoch auch 63 Jahre später sicher nicht.

Stückseite mit Terminen




Recht viel beachtliches Theater – eine subjektive Bilanz zu den Ruhrfestspielen

Die Ruhrfestspiele neigen sich ihrem Ende entgegen. Isabella Rosselini und die Jungfrau von Orleans werden noch im Großen Haus auftreten, doch die bilanzierende Abschlußpressekonferenz ist bereits angesetzt. Dort wird in Zahlen dargelegt, wie erfolgreich auch in diesem Jahr wieder das Traditionsfestival war – nehmen wir jedenfalls an und behaupten auch nichts anderes. So gilt es nun, die Frage zu stellen: Wie war denn dieses „tête-à-tête“ so? War es überhaupt eins? „Ein dramatisches Rendezvous mit Frankreich“, wie der diesjährige Untertitel der Veranstaltung behauptete?

ICH ICH ICH von Eugène Marin Labiche Premiere am 3. Mai 2015 im Rahmen der Ruhrfestspiele Recklinghausen, Münchner Premiere am 21. Mai 2015 im Residenztheater Mit Markus Hering (Dutrécy), Johannes Zirner (Armand, sein Neffe), Nora Buzalka (Thérèse, seine Nichte), Thomas Gräßle (Aubin, sein Diener), Oliver Nägele (De la Porcheraie, ein Geschäftsfreund), Götz Schulte (Doktor Fourcinier, sein Arzt), Wolfram Rupperti (Fromental, ein Bankier), Thomas Lettow (Georges, Fromentals Sohn), Katharina Pichler (Madame de Verrières, Fromentals verwitwete Tochter) Regie Martin Kušej Bühne Annette Murschetz Kostüme Heide Kastler Musik Bert Wrede Licht Tobias Löffler Dramaturgie Angela Obst v.l.  Katharina Pichler (Madame de Verrières), Thomas Gräßle (Aubin), Nora Buzalka (Thérèse), Markus Hering (Dutrécy), Thomas Lettow (Georges), Wolfram Rupperti (Fromental), Johannes Zirner (Armand)

Türenkomödie vor weißen Stoffbahnen: „Ich ich ich“ von Eugène Marin Labiche mit (v.l.) Katharina Pichler (Madame de Verrières), Thomas Gräßle (Aubin), Nora Buzalka (Thérèse), Markus Hering (Dutrécy), Thomas Lettow (Georges), Wolfram Rupperti (Fromental) und Johannes Zirner (Armand) (Foto: Andreas Pohlmann/Ruhrfestspiele)

Containerbuntes Festspielhaus

Jedenfalls war an Französischem einiges auszumachen im recht opulenten Programm. Das begann schon mit der künstlerischen Ausgestaltung des Festspielhauses durch Daniel Buren, eine hübsche Symbiose aus formalem Minimalismus und Üppigkeit des gestalterischen Eingriffs. Wer weiß, was als nächstes an die Reihe kommt? Der Gasometer in Oberhausen, der Reichstag?

Man muß die Sachen ja nicht unbedingt à la Christo in Stoff packen, man könnte sie auch mit farbigen Flächen restrukturieren. Ist nur so ein Gedanke. Das bunte Festspielhaus war eine gute Idee, hatte bei geringem Betrachtungsabstand die Anmutung eines Containerfrachters, und viele Besucher sind der Ansicht, daß der transparente Glasvorbau des Festspielhauses auch ohne künstlerische Intervention sehr schön ist.

Betuliche Komödie

Mehr als bunte Fassadenkunst interessierte das Kulturvolk natürlich, was hier gespielt wurde. Und sah, beispielsweise, ein Stück von Eugène Labiche unter dem Titel „Ich ich ich“. 1864 war es als „Die Egoisten“ uraufgeführt worden, was auch kein schlechterer Titel gewesen wäre: Eine muntere Türenkomödie in der Regie von Martin Kusej, die weitestgehend ohne Türen auskommen mußte, da sie lange Zeit in einem Halbrund aus Stoff spielte, der sozusagen Türen und Wände ersetzte (Ausstattung: Annette Murschetz). Kann man (frau) machen, allerdings entstand mehrfach der Eindruck, dieses in der Form häufig eher kleine, in Dialogen kammerspielhaft erzählende Stück müsse gegen das große, kalte Bühnenbild anarbeiten und tue sich damit schwer.

Abgesehen davon, kam „Ich ich ich“ sehr brav und betulich daher, man schreit nicht unbedingt nach Fortsetzung. Andererseits jedoch wurde manierlich und humorvoll gespielt, eine nette Komödie, warum auch nicht.

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Gehen, gehen, gehen: Szene aus „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“ von Peter Handke (Foto: Ene-Liis Semper/Ruhrfestspiele)

Handke-Stück hinterließ starken Eindruck

Ohne Umschweife: Peter Handkes „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“, entstanden in einer Koproduktion mit dem Hamburger Thalia-Theater, war wohl die stärkste Arbeit der diesjährigen Ruhrfestspiele, kongenial in Szene gesetzt von Tiit Ojasoo und Ene-Liis Semper, choreographiert von Jüri Nael und von Lars Wittershagen mit einem anmutigen Sound- und Musikteppich unterlegt.

Das Stück aus den 90er Jahren kommt ohne Text aus, es erzählt durch die Menschen, die einen Raum, eine Piazza, einen (französischen?) Boulevard bevölkern, durcheilen, okkupieren. Es bringt Aspekte des Absurden und des Bedrohlichen ein – und ist in seiner genialen sprachlosen Erzählstruktur für manche Menschen offenbar unerträglich. Die Idioten (jawoll: Idioten!) im Publikum, die meinten, das Bühnengeschehen mit ihren dämlichen Kommentaren belegen zu müssen, sollten zu Hause bleiben und Casting-Shows gucken. Ihnen zum Trotz ein toller Theaterabend.

MADAME BOVARY von Albert Ostermaier nach dem Roman von Gustave Flaubert in der Übersetzung von Elisabeth Edl Uraufführung am 21. November 2014 im Marstall Mit Sophie von Kessel (Emma Bovary), René Dumont (Charles Bovary), Gabriele Dossi (Madame Bovary), Thomas Grässle (Monsieur Homais), Alfred Kleinheinz (L'abbé Bournisien), Thomas Lettow (Monsieur Léon Dupuis), Wolfram Rupperti (Monsieur Lheureux), Bijan Zamani (Rodolphe Boulanger) Regie Mateja Koležnik Bühne Henrik Ahr Kostüme Alan Hranitelj Musik Mitja Vrhovnik-Smrekar Licht Uwe Grünewald Choreographie Matija Ferlin Dramaturgie Götz Leineweber v.l. Thomas Lettow (Monsieur Léon Dupuis), Sophie von Kessel (Emma Bovary)

Sophie von Kessel ist die unglückliche Madame Bovary. Hinter ihr: Thomas Lettow als Monsieur Léon (Foto: Thomas Dashuber/Ruhrfestspiele)

Die Seele der Madame Bovary

Nina Hoss, in Yasmina Rezas neuem Stück „Bella Figura“ grandios aufspielend, war die eine; die andere große Blonde des deutschen Theaters, und das darf hier wörtlich genommen werden, ist Sophie von Kessel, die im Kleinen Haus als Madame Bovary den Weg auf die Theaterbühne findet.

Albert Ostermaier hat Gustave Flauberts dicken Gesellschaftsroman aus dem 19. Jahrhundert zu einer dramatischen Fassung verknappt, die viel Nebenhandlung, Zeitgeist und ländliches Lokalkolorit wegläßt und gleich mit dem finalen Bankrott der Frau einsteigt. Bankrott und Gifttod, wollen uns Stück wie Inszenierung (Mateja Koleznik) weismachen, sind so etwas wie der logische Schluß einer Kaskade von desaströsen Handlungen, die darauf gerichtet waren, den zwangsläufigen (Frei-) Tod ein ums andere Mal aufzuschieben. Denn tot ist man – eine Interpretation – zu Lebzeiten schon, wenn man existieren muß wie Madame Bovary.

Allerdings bleibt bei dieser Sicht auf die Dinge die Frage weitgehend unbearbeitet, warum die Bovary so ist, wie sie ist. Dem Roman gelang die Beschreibung dieser unbotmäßigen Figur grandios. Auf der Bühne jedoch ist die Gattin des braven Landarztes Bovary nicht mehr als ein Parasit. Nichts ist hier zu spüren vom Versuch, Verständnis und Empathie für die Seele der Unzufriedenen zu entwickeln, für eine Person, die unter Begrenztheit und Dumpfheit einer kleinbürgerlichen, unfreien Existenz leidet, die sich nach leidenschaftlicher Liebe sehnt, wie sie in diesem Milieu unvorstellbar ist.

Vergnügliche Nashörner, nachdenkliche Yasmina Reza

Über weitere Produktionen der Ruhrfestspiele war in den Revierpassagen schon zu lesen gewesen; über Frank Hoffmanns gleichermaßen gelungene wie vergnügliche Inszenierung von Eugène Ionescos „Nashörnern“ mit Wolfram Koch und Samuel Finzi ebenso wie über „Bella Figura“ von Jasmina Reza. So folgt nun der Versuch eines kleinen, subjektiven Fazits.

Wertschätzung für Texte und Darsteller

Mehr noch als in den Vorjahren waren die Ruhrfestspiele 2015 geprägt von konzentriertem Theaterspiel, von Wertschätzung für Texte und Darsteller. Der unbändige Selbstdarstellungsdrang mancher Regisseure (zumal aus dem Stuttgarter Raum) blieb dem Publikum erspart. Allerdings wirkte die eine oder andere Produktion auch etwas blutarm. Ansichtig der Labiche-Komödie zum Beispiel ertappte man sich schon bei dem Gedanken, wie das alles wohl in einer Inszenierung von Robert Wilson ausgesehen hätte. Wie dem auch sei – es bleibt die Gewißheit, in Recklinghausen in den vergangenen Wochen wieder eine Menge gutes Theater gesehen zu haben, wie man es im Ruhrgebiet in dieser Dichte sonst nicht geboten bekommt.




Als Winnetou bleibt er unsterblich: Abschied vom Schauspieler Pierre Brice

Pierre Louis Baron Le Bris ist im Alter von 86 Jahren gestorben. Hierzulande kannte man ihn nur als den perfekt en allemand parlierenden Pierre Brice mit dem netten „fransösischen“ Akzent. Noch besser kannten wir ihn als den ebenso perfekten Darsteller des Winnetou, der neben Lex Barker blutsbrüderlich durch die karstige Film-Landschaft Kroatiens ritt. Beide sind nun in den ewigen Jagdgründen, wie man so sagt.

Aber wie kaum ein anderer hinterlässt Pierre Brice bei seinen deutschen Fans den Eindruck solch einer vollkommenden Identifikation von Darsteller und Rolle. Niemand hätte in ihren Augen den edlen Helden nahezu jeder Kindheitslektüre spielen dürfen. Niemand hätte sich mit schwarzer Langhaar-Perücke so elegant in die unvermeidlichen Leggins zwängen können wie er. Keinem wäre es gelungen, so behend‘ den Pferderücken nach wildem Galopp zu verlassen und dabei die Silberbüchse wie ein Zepter den bösen Gegnern entgegen zu schwingen. Das konnte nur er, Pierre Brice – nicht zuletzt auch im Sauerland, beim Festival in Elspe, wo er ab 1976 für rund zehn Jahre mitwirkte.

Pierre Brice als Einnetou bei den Karl-May-Festspielen in Elspe (Sauerland), um 1978. (Foto: Elke Wetzig - Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de - Link zum Bild: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Piere_Brice_als_Winnetou,_Karl-May-Festspiele_Elspe_2.jpg)

Pierre Brice als Winnetou bei den Karl-May-Festspielen in Elspe (Sauerland), um 1978. (Foto: Elke Wetzig – Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de

„Nur wenige Leute wissen, wie ich vor und seit Winnetou gelebt habe und lebe. Winnetou war ein wichtiger Teil meines Lebens und ich habe ihm viel zu verdanken. Doch neben Winnetou haben noch viele andere Menschen und Situationen eine wichtige und prägende Rolle in meinem Leben gespielt.“ So schrieb er in seiner 2004 erschienen Autobiografie, der er – ohne eine Spur von Ironie – den Titel „Winnetou und Ich“ gab. So sehr er selbst diese Rolle, von deren Erfolg er völlig überrascht wurde, als die Seine wahrnahm, so viele andere Seiten an diesem Mann sind zu entdecken. Seiten, die den meisten seiner Bewunderer verborgen blieben.

Als Jugendlicher barg er in seiner Heimatstadt Brest (Bretagne) Verschüttete nach alliierten Bombardements aus den Trümmern. In dieser Zeit pirschte er als Bote für die Résistance durch deutsche Linien. Der glühende Patriot Pierre Brice meldete sich freiwillig, als sein Land glaubte, die Kolonien in Indochina verteidigen zu müssen. In Algerien mischte er als Fallschirmjäger mit. Der eher still wirkende Jüngling war damals so, wie sein Freund Alain Delon sich gern spielte. Der war im Übrigen mitverantwortlich, dass Pierre Brice daheim in Frankreich kaum Chancen hatte, übers Modeln und Tanzen hinaus zu kommen. Die zwei sahen sich zu ähnlich, so war sein Typ schon besetzt in einem Land, das jede Menge junger Stars zu bieten hatte.

Italien und Spanien waren seine frühen Bühnen als Schauspieler, B-Movies sein Genre, Sandalen- oder Mantel-und-Degen-Rollen seine üblichen Spielformen. Horst Wendtland war dann sein eigentlicher Entdecker. Sie lernten sich in Berlin kennen, wenig später bot der Produzent ihm die Winnetou-Rolle an. Pierre Brice schlug ein, obwohl ihm weder Autor Karl May noch die Figuren seiner Romane etwas sagten. Auch war ihm das Indianerbild nur aus amerikanischen Western bekannt, wo sie die ewigen Verlierer waren. Das war Pierre Brice unbehaglich.

Pierre Brice im November 2011 in Luxemburg (Foto: François Besch - Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/)

Pierre Brice im November 2011 in Luxemburg (Foto: François Besch – Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/)

Vielversprechend fand er seine Aufgabe also nicht. Große Erfolge wähnte er nicht auf sich zu kommen. Überraschung, das Gegenteil trat ein. Im Heimatland nahezu unbekannt, in Deutschland ein ruhmreicher Star, dessen Winnetou dem erfahrenen Westerndarsteller Lex Barker kaum Raum ließ. Karl May hob eben den edlen Apachen in ungeahnte Sympathiehöhen und mit ihm seine Idealverkörperung Pierre Brice.

Ich lernte ihn mal kennen, als er mit seiner Gattin Hella Krekel in Unnas WR/WAZ-Geschäftsstelle eine Massenhysterie auslöste, weil wir daselbst sein Erscheinen zur Autogrammstunde angekündigt hatten. Engelsgeduldig malte er seinen Schriftzug auf alles, was ihm als Untergrund angeboten wurde. Stets freundlich lächelnd, ein auch im wahren Leben grundsympathischer Mensch, dem Allüren offensichtlich so fremd waren, wie Charly Mays sächsische Heimat seinem Apachenfreund. Als die kleine Geschäftsstelle am Unnaer Markt an den Rand des Teilabbruchs gelangt war, ging dann auch die vorgesehene Stunde zu Ende. Wir tauschten einen warmen Handschlag aus, ich radebrechte artig mein Schulfranzösisch herunter und des lächelnden Stars warmer Bariton (17 Platten nahm er nebenher auf) antwortete auf Deutsch.

Pierre Louis Baron Le Bris durfte das Bundesverdienstkreuz im Revers tragen, er war Ritter der Ehrenlegion in Frankreich, wie Chris Howland würdigte man ihn mit dem „Scharli“, der für besondere Verdienste um das kulturhistorische Erbe von Karl May verliehen wird. Drei Starschnitte in der „Bravo“, 12 Ottos und fünf Bambis umkränzten seine bundesdeutsche Karriere. Er spielte mit Marcello Mastroianni, Sophia Loren und Catherine Deneuve.

Pierre Brice fühlte sich auf der Theaterbühne wohl, war im TV einer der Reisenden auf dem „Traumschiff“. Aber es konnte kommen, was wollte in seinem Darstellerleben. Immer, wenn er in der Republik zu sehen war, blieb er doch der ewige Winnetou.

Er hat dessen Filmtod (1965) lange überlebt, und er wird noch sehr lange in der Erinnerung vieler lebendig bleiben. Adieu, Pierre!




„Die Nashörner“ bei den Ruhrfestspielen: Spielstark und bedeutungsarm

Wolfram Koch, Samuel Finzi  Foto: (c) Birgit Hupfeld

Wolfram Koch, Samuel Finzi
Foto: (c) Birgit Hupfeld

Der Vorhang bleibt geschlossen, den ganzen ersten Akt lang. Stattdessen disputieren Behringer und Hans in Reihe 8, mitten im Publikum, was sie da gesehen haben: indische einhornige oder afrikanische zweihornige Nashörner.

Bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen hat sich Intendant Frank Hoffmann „Die Nashörner“ von Eugène Ionesco vorgenommen, das beliebteste Stück des rumänisch-französischen Dramatikers und ein Klassiker des absurden Theaters. Auf der Bühne bzw. mitten im Publikum: Wolfram Koch (neuer „Tatort“-Kommissar in Frankfurt) und Samuel Finzi, das Dreamteam der Berliner Volksbühne. Die perfekt aufeinander eingespielten Akteure so nah und intensiv zu erleben, ist das Geschenk Hoffmanns an sein Publikum – die Inszenierung ist es eher nicht.

Das Stück handelt in drei Akten von der allmählichen Verwandlung einer Stadt – der Gesellschaft – in Nashörner, sprich: in eine uni- und konforme Masse. Arbeiter und Akademiker, Männer und Frauen, Chefs und Angestellte lassen sich von der Aussicht auf Stärke und die Macht der Mehrheit korrumpieren. Übrig bleibt nur Behringer (Wolfram Koch) – der letzte Mensch und Aufrechte, eingesperrt in seinem Haus, das er am Ende nicht mehr zu verlassen wagt.

Das Stück ist hochkomisch schon beim Lesen. Das liegt am absurden Setting, aber auch an den Figuren und ihrer Sprache: Ionesco hat keine Charaktere geschaffen, sondern Typen, die beispiel- und klischeehaft für gesellschaftliche Gruppen stehen. Bevor sie sich selbst verlieren, verlieren sie den Bezug zur Sprache, die nicht mehr zur Verständigung taugt.

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Hans (Samuel Finzi, oben) bei der Nashorn-Werdung, Behringer (Wolfram Koch) schaut entsetzt zu. Foto: Birgit Hupfeld

 

Regisseur Hoffmann setzt noch einen drauf, lässt seine Akteure die überzeichneten Figuren und Situationen auskosten. Sekretärin Daisy (Jacqueline Macaulay) wackelt penetrant mit dem Popo, der verschwundene Herr Ochs wird umständlich unterm Tisch gesucht, Bürokollege Wisser (Steve Karier) kämmt und stutzt beim Redigieren der Gesetzestexte mit Hingabe einen Kaktus.

Handwerklich macht Hoffmann alles richtig. Er schafft starke Bilder, die Inszenierung läuft wie am Schnürchen, hat Tempo und Dynamik. Zu den stärksten Szenen gehört im ersten Akt die stark rhythmische, teils gesungene Nashorn-Sichtung im völlig dunklen Theater aus dem Publikum heraus.

Das Grundproblem der Inszenierung ist allerdings ihre fehlende Idee. Bei seiner Uraufführung 1959 in Düsseldorf waren die Nashörner ein Riesen-Erfolg – im Nachkriegsdeutschland erinnerte Ionesco schmerzhaft-wahr an die Verführung, die von der Kraft der Masse ausgeht.

Was kann das 2015 bedeuten? Das Programmheft, das an eine Lektürehilfe für Oberstufenschüler erinnert, enthält zwar einen zarten Hinweis auf die Informationsgesellschaft und die Dynamik der Digitalisierung. In der Inszenierung findet das jedoch keine Entsprechung. Stattdessen werden in Gestus und Intonierung dann und wann Anklänge an den Nationalsozialismus hör- und sichtbar. Ein Spielmannszug, der einmal lautstark spielend, einmal still das Musizieren andeutend, von links nach rechts durchs Bild läuft, verweist zaghaft auf fortgesetzte Traditionen und der Deutschen Liebe zum Militärischen. Naja…

Was verführt uns? Wer oder was sind die zeitgenössischen Nashörner? Bei Hoffmann sind die Tiere anderthalb Stunden lang nicht zu sehen – die Verwandelten verschwinden aus dem Sichtfeld und landen in der Publikumsmenge. Hoffmann setzt ganz auf die Publikumslieblinge Koch/Finzi, die schon im vergangenen Jahr in Recklinghausen als Wladimir und Estragon begeisterten. Zu sehen ist ein leicht angestaubter Klassiker, souverän gemacht und gespielt, aber letztlich bedeutungslos.

Hier gibt‘ s die nächsten Termine und Details




Großes Unbehagen: Jelineks „Schutzbefohlene“ bei den Mülheimer Stücketagen

Foto: Michael Kneffel/www.stuecke.de

Foto: Michael Kneffel/www.stuecke.de

Das Unbehagen ist groß, wir winden uns auf unseren Theatersesseln in der Mülheimer Stadthalle. Im Mittelmeer ertrinken die Menschen und wir laborieren an unseren Luxusproblemen. Dabei stehen „Die Schutzbefohlenen“, so der Titel des Stückes von Elfriede Jelinek, direkt vor uns auf der Bühne.

Sie kommen aus dem Iran, aus Eritrea, aus Syrien, aus Afghanistan und erzählen die Geschichte ihrer Herkunft und ihrer Flucht. Regisseur Nicolas Stemann hat sie in einem Projekt mit dem Hamburger Thalia Theater und dem Theater der Welt mit Schauspielern zusammengebracht. Gemeinsam arbeiten sie sich ab an dem Theatertext der Österreicherin Elfriede Jelinek. Die Inszenierung wurde in diesem Jahr zum Berliner Theatertreffen eingeladen und ging nun in den Wettbewerb der Mülheimer „Stücke“.

Im realen Leben suchten die „Schutzbefohlenen“ Asyl in einer Hamburger Kirche, hier auf der Bühne sind sie immer wieder hinter Stacheldrahtrollen verbannt, deren symbolisches Muster auf ihren T-Shirts wiederkehrt. Und sie stellen Forderungen: nach Gerechtigkeit und Freiheit für alle Menschen – und nicht nur für die Europäer; nach Chancengleichheit für alle, nicht nur für die, die innerhalb des europäischen Rechtssystems stehen; nach der Aufhebung der Unterscheidung zwischen legal und illegal. Im Hintergrund schwappt das Mittelmeer über die Videoleinwand.

Eine aktuellere Inszenierung gibt es wohl zurzeit kaum. Sie macht das Dilemma in aller Schärfe greifbar, zeigt Ursachen wie Kolonialismus, Krieg, Kapitalismus und Globalisierung auf und spricht nicht nur über die Betroffenen, sondern lässt sie für sich selbst sprechen. Und doch macht sie gleichzeitig schmerzlich bewusst, wie schwierig eine Lösung ist. Es wird auch hier keine gefunden. Vielleicht ist das von einer Theaterinszenierung aber auch zu viel verlangt: Wenn schon Politiker nicht recht wissen, was sie tun können oder wollen…

Wir, die wir hier schuldbewusst in unseren Theatersesseln sitzen, sind nicht so leicht bereit, unseren Wohlstand zu hinterfragen. Ihn zu teilen, ja darüber könnte man reden – doch wo ist hier die Grenze? Wo ist deine persönliche Grenze? Was bist du bereit zu geben, wo möchtest du helfen, wo schaust du lieber weg? „Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm“, hat Bertolt Brecht einst in der Dreigroschenoper geschrieben. Der Wunsch, sicher und gut zu leben, etwas aus sich und seinen Möglichkeiten zu machen, verbindet alle Menschen. „Doch die einen stehen im Dunkeln und die anderen stehn im Licht; und man sieht nur die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.“

Unser Reichtum ist ein Magnet, unser Rechtssystem mit allen seinen behördlichen Auswüchsen ist ein besserer Garant für Freiheit als viele andere Systeme. Deswegen sind wir ein Fluchtpunkt, ein Ziel. Das macht uns stolz, das macht uns Angst. Das weckt die hässlichen Seiten in uns: Den Wunsch, sich abzugrenzen, sich an seinen Besitz zu klammern. Wenn in Hamburg Pöseldorf Bürger skeptisch gegen ein Flüchtlingsheim sind und sagen: „Die Leute könnten hier ja nicht mal einen Kaffee trinken, das wäre für sie doch viel zu teuer“, dann zeigt Stemanns Inszenierung die zynischen Seiten des Phänomens.

Und Elfriede Jelineks Text? Manchmal wirkt er zu glatt, zu wortspielerisch, der existenziellen Schärfe des Themas nicht angemessen. Auf jeden Fall klingt dieser Abend noch lange nach, er geht über die bloße Kunst hinaus.

Die Mülheimer „Stücke“ laufen noch bis zum 4. Juni:
Karten und Termine:
www.stuecke.de




Wenn alle Fassaden einstürzen: Yasmina Rezas „Bella Figura“ bei den Ruhrfestspielen

Nina Hoss als labile Andrea. Foto: Arno Declair

Nina Hoss als labile Andrea. Foto: Arno Declair

Und wieder hat sie es geschafft, uns mit nur wenigen Sätzen mitten hinein zu werfen in das komische, traurige Drama der Bürgerlichkeit, in unser aller Drama: Yasmina Reza, die meistgespielte lebende Theater-Autorin („Kunst“, „Der Gott des Gemetzels“). Ihr jüngstes Stück „Bella Figura“ schrieb sie für die Berliner Schaubühne und für Regisseur Thomas Ostermeier, der es Mitte Mai am Lehniner Platz uraufführte. Nun folgte die Premiere bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen, in Star-Besetzung.

Yasmina Reza habe den mitleidlos-analytischen Blick einer Insektenforscherin, findet Ostermeier und lässt im Hintergrund wieder und wieder Krabbeltierchen projizieren, im Getümmel und in imposanter Nahaufnahme. Sie tun das Unvermeidliche, folgen ihrem Instinkt und machen sich keine Gedanken über Schein und Sein. Ganz anders das Personal auf der Bühne. Knapp zwei Stunden lang ringen sie darum, „Bella Figura“ zu machen, eine gute Figur – dabei greifen sie immer wieder ins Klo, und zwar nicht nur sprichwörtlich.

Eigentlich sollte es ein romantischer Abend in einem teuren Restaurant werden: Boris (Mark Waschke, der neue Berliner „Tatort“-Kommissar) hat seine langjährige Affäre Andrea (Nina Hoss) eingeladen. Doch der Streit beginnt schon auf dem Parkplatz im Auto, einem französischen Kleinwagen, der real auf Jan Pappelbaums Bühne steht: Andrea findet heraus, dass die Restaurant-Empfehlung von Boris‘ verreister Ehefrau stammt. Als das Paar dann auch noch auf Francoise und Eric trifft, die den Geburtstag seiner leicht dementen Mutter Yvonne feiern wollen, ist das Katastrophen-Setting komplett: Francoise (Stephanie Eidt) ist eine alte Freundin der betrogenen Gattin.

Auch die Männer sind im Clinch: Boris (Mark Waschke) und Eric (Renato Schuch). Foto: Arno Declair

Auch die Männer sind im Clinch: Boris (Mark Waschke) und Eric (Renato Schuch). Foto: Arno Declair

Anstatt sich schnell aus dem Staub zu machen, drängt die labile, tablettensüchtige Andrea aufs Bleiben. Mehrfach an diesem Abend gäbe es potentielle Wendepunkte, Notausgänge für alle Beteiligten. Aber nein: Unausweichlich steuern die vier auf  den Abgrund zu – Spielfiguren, die im Abwärtstaumel immer neue Schlenker nehmen, sich anziehen und abstoßen, neue Konstellationen bilden – und schließlich erschöpft ganz unten ankommen.

Man geht mit Fischmessern aufeinander los, hat Sex auf dem Klo, vergräbt Essen im Blumenkübel und versucht hilflos, sich die strapaziöse Außenwelt mit Mückenspray von Leib zu halten. Man hat gegenseitig in dunkle Abgründe geblickt und kann nicht viel mehr tun als: weitermachen.

Rezas Konversations-Pingpong funktioniert auch diesmal bestens. Wenige Worte legen Anschauungen bloß, die im Alltag tunlichst übertüncht werden. „Soll ich jetzt den modernen Mann geben und deine ekelhafte Emanzipation feiern?“, fragt Boris, als Andrea ihm von einer anderen Liebschaft berichtet. „Man kann deine Mutter nirgendwo mit hinnehmen, ohne dass es ein Drama gibt“, ätzt Francoise. „Bevor du dich in die Garonne stürzt, mein Schatz, könntest du an deinem letzten Abend Bella Figura machen“, wünscht sich Andrea von ihrem Hass-Liebhaber.

Die französische Erfolgsautorin Yasmina Reza.

Die französische Erfolgsautorin Yasmina Reza.

Reza hat mit Andrea eine Borderline-Figur geschaffen, die Nina Hoss bewundernswert meistert. Sie ist das Opfer, die auf Distanz und hingehaltene Affäre. Sie ist Verbal-Täterin, die ihren Lover (passiv-)aggressiv angeht. Sie ist liebende Mutter einer Neunjährigen, mit der sie im Laufe des Abends mehrfach telefoniert, und geduldige Ratgeberin der dementen Yvonne (grandios: Lore Stefanek). Sie ist erotisch, aufreizend, Halt suchend auf ihren 480-Euro-Pumps und den vielen Pillen in ihrer Handtasche, aber absolut zerstörerisch in ihrem Drang, schlafwandlerisch genau das Falsche zu tun. Oder ist es am Ende das einzig Richtige, alle Fassaden zum Einsturz zu bringen?

Das Publikum leidet mit und schämt sich fremd, amüsiert und erkennt sich, ist fasziniert und abgestoßen von dieser Figur, die von ihrer Autorin weder erklärt noch bewertet wird. Ein schillerndes Insekt, das am Ende Schein und Sein wunderbar zusammenfasst: „Man bildet sich ein, die Welt zu erobern, aber man verkümmert an Ort und Stelle.“

Weitere Vorstellungen: 29. Mai (20 Uhr), 30. Mai (17 Uhr), 31. Mai (15 und 20 Uhr). Infos: https://www.ruhrfestspiele.de/de/veranstaltungen/veranstaltung_detail.php?ver_id=529&ort=95

(Der Text erschien auch im Westfälischen Anzeiger, Hamm)




Ruhrfestspiele: Klatschen wie Bolle – Brambach liest Bukowski, die Zucchini-Sistaz swingen

Frankreich ist, wie bekannt, in diesem Jahr der kulturell-regionale Schwerpunkt der Ruhrfestspiele. Viel Französisches allerorten im Spielplan, aber doch nicht nur. In den Randbereichen des üppigen Programms blüht einiges, was mit dem Schwerpunkt auch beim besten Willen nichts zu tun hat.

Zwei Veranstaltungen, beide auf kleinerer Bühne, interessierten besonders. Wenn man nun wiederum zwischen ihnen etwas Gemeinsames suchte, so könnte man vielleicht sagen, daß sie beide in US-amerikanischer Kultur wurzeln. Aber das ist schon etwas gequält herbeigezaubert. Schauen wir also mal – erst auf Herrn Brambach nebst Gattin Christine Sommer, sodann auf die Zucchini-Sistaz.

„Roter Mercedes“ – Martin Brambach, Christine Sommer, Matthes Fechner (von links) Foto: Ruhrfestspiele/Peter Kallwitz

Brambach und Bukowski

Martin Brambach also, den man vom Fernsehen kennt und vielleicht auch aus früheren Zeiten vom Bochumer Schauspielhaus, ist ab und zu mit einem Bukowski-Abend unterwegs. Allzu oft aber wohl nicht, auch intensivste Internet-Recherchen förderten nicht mehr zu Tage als einen vorhergegangenen Auftritt 2014 in Dorsten. Jetzt war das Paar Brambach/Sommer in Begleitung des Gitarristen Matthes Fechner im FRinge-Zelt bei den Ruhrfestspielen zu erleben.

Die Veranstaltung hinterließ, sagen wir es zurückhaltend, einen uneinheitlichen Eindruck. Grandios waren die ausgesuchten Bukowski-Texte, gleichnishafte, auf den Punkt durchformulierte graue Alltagsgeschichten über Suff, Sex und Gewalt, durchlebt und durchlitten von alternden Losern beiderlei Geschlechts. Da eskaliert die Eifersuchtsnummer im abendlichen Ehebett zum mörderischen Finale mit der Zweiundzwanziger, da vergewaltigen und ermorden Einbrecher eine junge Frau, der sie zufällig im Haus begegnen, und mit dem prügelnden Ehemann, der aus den ehelichen Gewaltexzessen so etwas wie Selbstbewußtsein zieht, hat man fast Mitleid.

Ein bißchen wie in Hoppers Bildern

Doch obwohl die Brutalität vieler Szenen schwer erträglich ist und Bukowski auch in den schlimmsten Momenten nicht wegsieht, wohnt ihnen atmosphärisch so etwas wie ein unbeteiligtes Schweben inne, eine Globalsicht auf Männer und Frauen und die Einsamkeit und den Gang der Welt. Man fühlt sich an Hoppers trostlose Bilder erinnert, im Glauben an die Unveränderlichkeit der Verhältnisse sind Maler und Autor sich recht nah.

Auch Martin Brambach ist ganz nahe dran an den Elendsbildern aus der Bukowski-Welt. Meistens liest er den Text nur vor, doch immer wieder auch wechselt er – für einen einzelnen Ausruf oder auch für eine ganze dramatische Passage – ins Schauspielen. Dann gibt er nicht nur, nein, dann ist er der verspannte, gehemmte, gehetzte amerikanische Mittelstandsbürger, immer um Fassung bemüht und immer dazu verurteilt, in diesem Streben zu scheitern. Wenn er die Beherrschung verliert, schreit und um sich schlägt und sich im nächsten wieder einzufangen versucht, voll von schlechtem Gewissen über den selbstverschuldeten Kontrollverlust, dann ist das im Kleinen ganz großes Schauspieler-Theater.

Angeschrägter Charakter

Martin Brambach gehört zur kleinen Schar der etwas angeschrägten Charaktere, die in ihren Interpretationen meisterlich zwischen persönlichen Eigenheiten und dem Streben, äußerlicher Erwartung zu genügen, switchen können, ohne (scheinbar) beides in Einklang zu bringen. Ihr sperriger Charakter steht ihnen sozusagen immer im Weg, wenn sie eigentlich kühl, beherrscht und hundertprozentig auftreten wollen; Künstler wie Wolfgang Michael oder Michael Maertens sind Brambachs Brüderchen im Geiste.

Womit das Beste über diesen Abend allerdings auch gesagt wäre. Preisen wollen wir noch Christine Sommer, die nicht nur beim Lesen mit verteilten Rollen eine gute Figur macht, sondern auch als (mitunter männlicher) Dialogpartner.

Nicht preisen wollen wir den Gitarristen, dessen fingerpickendes Spiel zwar handwerklich untadelig ist, dessen Interpretationen gleichwohl sehr viel Gewolltheit innewohnt. Zur Schärfung der Authentizität rauht Matthes Fechner sich die Stimme, doch zum lebensgegerbten Blues-Barden wird er so noch lange nicht. Relativ kurze Textvorträge wechseln ab mit relativ langen „bluesigen“ Klassikern aus dem American Songbook, in Sonderheit der 60er- und 70er-Jahre.

Dem, der gekommen war, um Brambachs Kunst zu schauen, mißfiel die Menge der Musik und die Art ihres Vortrags, die ihren Tiefpunkt übrigens mit der Darbietung von Janis Joplins „Red Mercedes“ als Klatschmarsch erreichte. Oh Lord, – klatsch – won’t you buy me – klatsch – a Mercedes-Benz – klatsch. Mit dunklem Humor könnte man fragen, was wohl Herr Bukowski von einem solchen Liederabend gehalten hätte.

Mit Fahrrad und Münsteraner Hintergrund: die Zucchini Sistaz
(Foto:Ruhrfestspiele/Markus Hauschild)

Gute Musikerinnen

Die Zucchini-Sistaz nun, die mit Brambach/Bukowski, wie gesagt, nichts zu tun haben, sind Teil des kurzweilig-juvenilen „Fringe“-Programmes, treten aber in der Sparkasse Recklinghausen auf, wo das Publikum zu einem beachtlichen Teil der Generation Silberlocke, 50 plus X, entstammt. Das ist an sich auch nicht verwunderlich, wenn man ein Programm à la Andrew-Sisters erwartet, denn die hatten ihre großen Erfolge vor 70, 80 Jahren (Kinder, wie die Zeit vergeht!).

In Kürze: die Drei, die jetzt in Münster wohnen, sind erstaunlich gute Musikerinnen und haben, wenn man einmal so sagen darf, eine Menge Swing und Backbeat im Blut. Sinje Schnittker bläst ins Blech, Jule Balandat, übrigens aus Dortmund gebürtig, zupft am Kontrabaß und macht die Conference, Tina Werzinger weiß mit Banjo und Gitarre umzugehen, und singen können sie alle drei, auch dreistimmig. Und Andrew Sisters könnten sie auch, ganz bestimmt.

Deutsche Texte

Leider aber bevorzugen die drei Zucchini-Frauen in ihren zucchinigrünen Nostalgiekleidern deutsche Texte und Inhalte, die in Sonderheit die Westfalenmetropole Münster preisen. Die Texte sind nicht völlig schlecht, aber auch nicht wirklich gut. Es wird nicht ganz klar, warum gerade sie zum Vortrag gelangen, die schlüssigen Pointen fehlen.

Befremdlich ist weiterhin, daß das Publikum heftigen Mitmach-Appellen ausgesetzt ist, befremdlicher aber noch, daß es ihnen so freudig nachkommt. Begeistert rufen sie den Damen auf Nachfrage ihre Wohnorte zu, imitieren kaputte Autohupen und klatschen wie Bolle den Rhythmus mit.

Na gut, man will ja nicht den Miesepeter spielen. Wenn’s den Leuten gefällt… Trotzdem hätten die Sistaz doch auch ein paar Klassiker aus den Vierzigern singen können, „Rum & Coca Cola“ zum Beispiel, oder „Bei mir bis du schön“. Aber das ist zugegeben schon keine Kritik mehr, sondern nur noch Ausdruck persönlicher Enttäuschung, wozu die Damen nichts können. Jedenfalls: Wenn sie sich noch einmal künstlerisch umorientieren sollten – mehr Musik, weniger Ringelpiez – ginge ich gerne wieder hin.

So viel, für den Moment, vom munteren Rand der Ruhrfestspiele. Selbstverständlich gibt es hier noch viel mehr zu hören und zu sehen, man kann ja nicht überall sein. Bei nächsten Mal geht es wieder ins große Haus, zu Yasmina Reza und „Bella Figura“.




Tiefgründiges Durchleuchten der Musik: Kit Armstrong beim Klavier-Festival Ruhr

Kit Armstrong. Foto June Artists Management

Kit Armstrong. Foto June Artists Management

Kit Armstrong ist in einer schwierigen Phase. Er merkt es vielleicht nicht einmal, weil es ihn nicht interessieren dürfte.

Aber: Die „Wunderkind“-Zeit – auch die hat ihn nicht interessiert – ist vorüber, und der Pianisten-Boygroup entwächst der 23-jährige gerade, auch wenn er noch wie ein schüchterner, etwas linkischer Teenie wirkt. Jetzt kommt das Hineinwachsen in die „erwachsene“ Musikerwelt, ohne Kinder- und Jugendbonus.

Für viele junge Musiker war und ist das eine schwer zu nehmende Schwelle. Denn der Betrieb ist knallhart; sich zu behaupten heißt nicht selten, um Gidon Kremers besorgten „Brief an eine junge Pianistin“ zu zitieren, seine Seele mit zu verkaufen.

Man lese die Autobiografie der Geigerin Midori Goto („Einfach Midori“), um zu ermessen, was das bedeutet. Wie viele wunderbar begabte junge Menschen sind auf der Strecke geblieben – aus unterschiedlichsten Gründen? Um im Klavier-Business zu bleiben: Wer erinnert sich zum Beispiel noch an den Wunderknaben Dimitris Sgouros, einst vom alten Arthur Rubinstein bewundert?

Kit Armstrong hat einen anderen Mentor aus der Kaste der legendären Tastengrößen, Alfred Brendel. Der gab ihm nicht nur die Attribute des Wunderkinds und des Jahrhundertpianisten mit, sondern begleitete auch die Wege des hochbegabten Jugendlichen am Flügel und ins Leben. Einen „superlative guide to life“ hat ihn Armstrong in einem Interview genannt.

Heute wirkt Armstrong nicht mehr wie ein verschlossen weltabgewandtes Genie. Wenn er in akzentfreiem, mit Wörterbuch und Grammatik selbst erarbeitetem Deutsch seine Zugaben ansagt, hört man einen zurückhaltend, aber selbstbewusst wirkenden jungen Mann.

Beim Klavier-Festival Ruhr gehört Kit Armstrong seit 2009 zu den regelmäßigen Gästen. Am Ort seines Debüts, in Mülheim, präsentierte er nun einen Gang durch die barocke Kunst des Variierens und sorgte nebenbei für die Entdeckung eines staunenswerten Schatzes früher Kompositionen für Tasteninstrument.

Die dreißig Veränderungen über das Thema des englischen Volkslieds „As I went to Walsingham“ von John Bull sind nicht nur in der Zahl Bachs „Goldberg-Variationen“ gleich, denen Kit Armstrong den zweiten Teil seines Konzerts widmete. Sondern sie offenbaren eine Klugheit und Dichte in der kompositorischen Anlage, die den englischen Virginalisten und Lieblingsmusiker der „Virgin Queen“ Elisabeth I. problemlos an die Seite Bachs erheben. Armstrong demonstrierte noch einmal mit einer seiner vier Zugaben, „Bull’s Good Night“, welche Schätze es aus Fitzwilliams Virginal Book, der Quelle der Stücke, auch für die Spieler eines modernen Flügels zu entdecken gibt.

2013 erschien bei Sony das Debüt-Album von Kit Armstrong mit einer bezeichnend unkonventionellen Auswahl von Werken: Bach, Ligeti und einer eigenen Komposition des jungen Pianisten. Cover: Sony

2013 erschien bei Sony das Debüt-Album von Kit Armstrong mit einer bezeichnend unkonventionellen Auswahl von Werken: Bach, Ligeti und einer eigenen Komposition des jungen Pianisten. Cover: Sony

Wer einmal Grigory Sokolov mit seinen vergeistigten Byrd-Interpretationen erlebt hat, weiß, dass große Musik nicht von historisch möglichst korrekten Bedingungen ihrer Aufführung abhängt. Armstrong spielt Byrd, Bull, Bach und Sweelinck, als hätten die ehrwürdigen Alten nichts anderes als den Steinway im Kopf gehabt, als sie ihre Noten niederschrieben. Das liegt daran, dass Armstrong sein Spiel aus einem bewundernswerten Überblick über den Plan der Kompositionen entwickelt und den Klang des Flügels in den Dienst dieser Einsicht stellt.

William Byrds „Hugh Ashton’s Ground“ lässt er andächtig aus der Stille entstehen. Er forscht jedem Vorschlag, jedem Triller, jeder harmonischen Subtilität nach. Die linke und die rechte Hand sind klug aufeinander bezogen. Das Rallentando, mit dem er das Tempo sanft abbremst, die maßvolle Agogik, mit der er den Satz belebt, sind keine Zeichen für eine Romantisierung.

Es sind stilistische Elemente, die Armstrong logisch platziert, um die Struktur des Stücks zu erklären. Sein Byrd hat nichts, aber auch gar nichts von dem mechanischen Geschnatter, an dem sich Alte-Musik-Fans jahrzehntelang erfreuten. Vor dem inneren Gehör entwickelt sich ein wundersamer Bau. Armstrong, der 2011 ein Mathematikstudium abgeschlossen hat, schwärmte einmal von der Schönheit, die es in der Mathematik zu entdecken gibt. Voilà – hier lässt sie sich hören!

Souverän berechnet, das ist eines der Kennzeichen der Musik des alten Sebastian Bach. Mag sein, dass sich Kit Armstrong eben deshalb bei ihm so wohl fühlt, ihn neben Mozart zu den prägenden Komponisten seines Lebens zählt.

In den Goldberg-Variationen ist es eben auch die strenge Schönheit einer vollendet beherrschten musikalischen Mathematik, die uns ins Reich der Ideen entführt und verzaubert: den einen durch die Logik der Entwicklung, den anderen durch den Zauber des strukturierten Klangs. Denn Bachs dreißig Variationen über eine Arie loten nicht nur alle möglichen formalen Möglichkeiten aus.

Die Vortragsbezeichnungen gehen – ungeachtet aller quellenkundlichen Einschränkungen – über das lapidare Bezeichnen der Tempi hinaus. Schon die Aria will „espressivo“ vorgetragen sein – also mit emotionalem Ausdruck. Von hurtiger Lebendigkeit bis maßvoller Distinktion reicht die Spannweite der geforderten Haltungen.

In dieser Welt fühlt sich Armstrong hörbar zu Hause. Sein Spiel leistet nichts weniger als den Blick in die klare, harmonische, vollendet wirkende Struktur der Variationen zu öffnen, ihre Entwicklung zu erschließen. Dass der Pianist auch noch die Möglichkeiten des modernen Flügels nutzt, sie in wechselndes Licht zu tauchen, ist eine wunderbare Zugabe. Ein mildes Licht für den ersten Kanon, ein sprödes, klares auf die Fughetta, ein luftig-leuchtendes auf das „leggiero“ der elften Variation. Das Andantino der Nummer Dreizehn lässt Armstrong mit feinen Rubati singen. Über verinnerlichtes Reflektieren, Staccato-Entschiedenheit, den majestätisch punktiert aufmarschierenden Prunk der Ouvertüre bis hin zu atemloser Energie, die keinen Punkt und kein Komma kennt, entfaltet der junge Pianist den Zyklus. Nach allen Stürmen und Wechselbädern kommt die Aria wieder: einfach, ruhevoll, geläutert.

Immer ist es der Blick auf strukturelle Entwicklungen, den Armstrong konsequent festhält, ohne den Zuhörer mit einem trockenen Lehrwerk zu strapazieren. Davon profitieren auch John Bulls komplexe „Veränderungen“ und Jan Pieterszoon Sweelincks deutlich von der Orgel her gedachte Variationen über „Mein junges Leben hat ein End“. Die Logik der Bezüge zwischen Bass- und Oberstimme ist souverän und klar herausgearbeitet, die Betonungen und Phrasierungen schlüssig gesetzt, rasche Passagen konsequent durchmodelliert.

Die Finger setzt Armstrong unbestechlich präzis; ein paar halb erwischte Töne erinnern sympathisch daran, dass hier ein Mensch am Flügel sitzt. Armstrong geht auch mehr als früher aus sich heraus: der Rhythmus bekommt etwas Swingendes, perkussive Momente und markante Repetitionen haben Gewicht. Aber stets – und das macht das Faszinierende von Armstrongs Kunst aus – dienen solche pianistischen Mittel nicht einer flüchtig-vordergründigen Expression, sondern einem tiefen Durchleuchten der Musik. Wer so spielt, muss um die Zukunft nicht bange sein. Beglückend, erhellend.




„Nordischer“ Ton: Duo Tal & Groethuysen eröffnet in Duisburg das Klavier-Festival Ruhr

Eröffnung bei strahlendem Wetter im Landschaftspark Duisburg Nord: Das Klavier-Festival Ruhr versammelt wieder Pianisten aus aller Welt. Foto: Werner Häußner

Eröffnung bei strahlendem Wetter im Landschaftspark Duisburg Nord: Das Klavier-Festival Ruhr versammelt wieder Pianisten aus aller Welt. Foto: Werner Häußner

Der „nordische Ton“ klingt leicht, unbeschwert, spielerisch. Er hat nichts von dunklen Polarkreisnächten, eher etwas vom hellen finnischen Sommer, von der leuchtenden Frische schwedischer Frühlingstage. Er beschwört keine nebelverhangenen Wälder, sondern das flimmernde Grün des Schattenspiels in einem Mai-Garten. Yaara Tal und Andreas Groethuysen halten aus ihrem Programm alles Schwere, Lastende heraus. Sie eröffnen das Klavier-Festival Ruhr in Duisburg mit Mozart, Grieg und Strauss.

Mit dem „nordischen Ton“ als Leitlinie manövriert sich ein Festival in erhebliche Definitions-Schwierigkeiten. Da gibt es „nordische“ Komponisten, die eigentlich „international“ sein wollten, wie der ebenfalls zu Festival-Ehren kommende Jean Sibelius anlässlich seines 150. Geburtstags. Und da gibt es andere, die vielleicht auf die nationale Karte gesetzt haben, die aber heute keiner mehr kennt und von denen man kaum einen international renommierten Pianisten überzeugen kann. Wie wäre es zum Beispiel mit dem vor 200 Jahren geborenen Norweger Halfdan Kjerulf, der deutsche Romantik und norwegische Volksmusik in zahlreichen Klavierwerken verbunden hat? Das wäre ein „nordischer“ Ton – aber vermutlich würden sich Sponsorengattinnen für den schwergängigen Namen kaum begeistern lassen.

So bleibt es bei dem, was man so gemeinhin als „nordisch“ kennt, und mit dieser Dramaturgie kann auch das Duo Tal & Groethuysen gut leben. Immerhin: Die C-Dur-Sonate Mozarts (KV 545) und die c-Moll-Fantasie (KV 475) erklingen in der Gebläsehalle des Duisburger Landschaftsparks in einer Bearbeitung Edvard Griegs: Der Norweger hat eine Stimme hinzukomponiert und damit den Mozart-Ton entschieden romantisiert. Griegs Peer Gynt Suite (op. 46) in einem Arrangement für zwei Klaviere des britischen Spezialisten Richard Simm geht über gepflegte Hausmusik hinaus, wirft Blicke auf die Schichten unterhalb der weltberühmten Melodien. Yaara Tal gibt gemeinsam mit ihrem Ehemann und Klavierpartner Andreas Groethuysen dem lyrisch verhaltenen feinen Licht ebenso Raum wie der leisen Resignation von „Åses Tod“ und dem dunklen Marcato der „Halle des Bergkönigs“, das sich zu donnernden Tonketten im Bass steigert.

Seit 30 Jahren zusammen, seit 1997 regelmäßig zu Gast beim Klavier-Festival Ruhr: Das Duo Yaara Tal und Andreas Groethuysen. Foto: KFR/Frank Mohn

Seit 30 Jahren zusammen, seit 1997 regelmäßig zu Gast beim Klavier-Festival Ruhr: Das Duo Yaara Tal und Andreas Groethuysen. Foto: KFR/Frank Mohn

Richard Strauss‘ „Till Eulenspiegel“ lässt gemischte Gefühle zurück: Nicht, weil das Duo mit dem technisch anspruchsvollen Stück Probleme hätte – dreißig Jahre gemeinsamen Musizierens führen zu einer bewundernswerten Vertrautheit. Auch nicht, weil Bearbeitungen – diese stammt von Otto Singer junior – oft durch Reduktion strukturelle Einblicke gewähren, die sonst gerne mit dem üppigen Orchesterklang bemäntelt sind. Sondern eher, weil die Farben des Orchesters fehlen und Strauss eben nicht nur strukturell, sondern auch farbig-plastisch gedacht hat. Dennoch: Das Duo findet zu burleskem Charme und spritzigen Dialogphasen. „Nordisch“ freilich ist darin nichts.

Ein wenig enttäuschend blieb ausgerechnet Mozart, sonst ein Paradekomponist der beiden Virtuosen. In der „Sonata facile“ – die alles andere als „leicht“ ist – finden sie zu ausschwingenden melodischen Phrasierungen und zu einem apart zärtlichen Ton. Aber das Andante ist im Tempo nicht nur rasch, sondern auch angespannt; das Rondeau zu neutral in der Artikulation und damit weder spritzig noch beglückt mit dem sprühenden Witz Mozarts.

In der Fantasie (KV 475) entdecken Tal & Groethuysen nicht so sehr die auf Beethoven weisenden Kühnheiten in Chromatik und Modulation, sondern eher die klassische Gemessenheit, von Grieg lyrisch-romantisch eingedunkelt. Und Mozarts Sonate für zwei Klaviere (KV 448) demonstriert, wie traumwandlerisch sich die Beiden im lebendig flüssigen Tempo verstehen, lässt aber den Charme des „con spirito“ vermissen, will im zweiten Satz nur punktuell zur poetischer Tiefe und atmender Phrasierung vorstoßen und bleibt im dritten flach und rasch. „Heruntergehudlet“ schimpfte Mozart einmal in einem Brief über eine solche Demonstration fehlerfreier, aber auch seelenarmer Geschwindigkeit.

Der „nordische Ton“ bleibt im Programm präsent

Das Klavier-Festival wird in den kommenden rund 60 Konzerten in 20 Städten dem „nordischen Ton“ weiter nachspürenm aber auch dem 100. Todestag von Alexander Skrjabin Tribut zollen. So spielt Olli Mustonen am 27. April in Duisburg eine eigene Komposition – schlägt sozusagen den aktuellen „nordischen Ton“ an –, widmet sich aber auch Sibelius als Klavierkomponisten und stellt Griegs Ballade g-Moll op. 24 vor. Henri Sigfriedsson spielt am 10. Mai in Bottrop einen Sibelius-Abend. Skandinavisch geht es auch am 13. Mai in Schloss Herten zu, wenn Miah Persson, begleitet vom Klavierfestival-Urgestein Graham Johnson auch unbekanntere Lieder etwa von Ture Rangström und Wilhelm Stenhammar singt.

Jean Sibelius auf einem historischen Foto von 1913.

Jean Sibelius auf einem historischen Foto von 1913.

Am 19. Mai widmet sich dann in Essen in der Philharmonie Mikhail Pletnev den 23 Préludes op. 11 von Alexander Skrjabin. Und der junge Pavel Kolesnikov spielt am 31. Mai in Moers in einem der 25 bereits ausverkauften Konzerte die Fis-Dur-Sonate op.30 Skrjabins – die einen Tag später von Gabriela Montero in Düsseldorf wiederholt wird. Am 2. Juni bringt Rafał Blechacz mit „Pelimannit“ („Die Geiger“) das Opus 1 des 1928 geborenen Einojuhani Rautavaara, eines der wichtigen lebenden Komponisten Finnlands.

Am 5. Juni spielt in Dortmunds Harenberg Center der Sieger des Grieg-Wettbewerbs, der Norweger Joachim Carr, Stücke von Grieg und Nikolaj Medtner. Und am 6. Juni folgt ihm in der verdienstvollen Reihe „Die Besten der Besten“ der vielfache Wettbewerbssieger Andrey Gugnin mit Sibelius, Skrjabin und der Siebten Sonate von Sergej Prokofjew. Originell das Programm des norwegischen, in Köln unterrichtenden Cembalisten Ketil Haugsand. Er konfrontiert am 9. Juni in Schloss Hohenlimburg Bach und Buxtehude mit dem 1758 gestorbenen Johan Helmich Roman, dem „Vater der schwedischen Musik“ und mit dem in Memel geborenen und bis zu seinem Tod 1787 in Trondheim wirkenden Johan Daniel Berlin.

Am 15. Juni kehrt Joseph Moog zum Klavier-Festival zurück und widmet sich im Konzerthaus Dortmund mit den Bochumer Symphonikern unter Steven Sloane dem fis-Moll-Klavierkonzert Skrjabins. Und zum Abschluss des Klavier-Festivals am 4. Juli greift das WDR Sinfonieorchester unter dem Gastdirigenten Hannu Lintu noch einmal kraftvoll zum nordischen Repertoire und spielt Carl Nielsens „Helios“-Ouvertüre und Jean Sibelius‘ Zweite Symphonie. Igor Levit krönt das Programm mit Griegs Klavierkonzert.

Info: www.klavierfestival.de




Pionierin mit der Kamera: Frauenfilmfestival erinnert an die Dortmunderin Elisabeth Wilms

Als „filmende Bäckersfrau“ hat sich Elisabeth Wilms (1905-1981) lange Zeit selbst verstanden. Oft und penetrant wurde diese Formel später in journalistischen Titelzeilen aufgegriffen, bis sie vollends zum Klischee geronnen war.

Jetzt werden ausgewählte Arbeiten von Elisabeth Wilms in einem regionalen Schwerpunkt des Internationalen Frauenfilmfestivals in Dortmund gezeigt. In diesem Kontext ist es natürlich erst recht nicht ratsam, sie als Ehefrau vorzustellen, die lediglich ihrem Hobby gefrönt habe. Da klingt es doch weitaus besser, dass der Gatte Erich, als er nach Jahrzehnten der Plackerei 1964 die Bäckerei verpachtet hatte, von ihr fortan als Chauffeur und Stativträger beschäftigt wurde…

Kamera läuft: die Dortmunderin Elisabeth Wilms beim Dreh. (© Stadtarchiv Dortmund)

Kamera läuft: die Dortmunderin Elisabeth Wilms beim Dreh. (© Stadtarchiv Dortmund)

1932 hatte die gebürtige Münsterländerin just nach Dortmund eingeheiratet und Tag für Tag im Bäckereiladen des damals noch dörflich anmutenden Ortsteils Asseln gestanden, nebenher ihre Filmleidenschaft entdeckt und nach und nach ihr spürbar vorhandenes Talent staunenswert entwickelt. Unschätzbar wertvolles Zeitzeugnis: 1943 filmte sie das noch unzerstörte Alt-Dortmund. Welch ein Jammer, dass dies alles längst dahin ist.

Schnitt am Wohnzimmertisch

Elisabeth Wilms hatte ein Gespür fürs Wesentliche, das sie mit gekonnter Kameraführung umzusetzen verstand. Den Schnitt besorgte sie selbst am heimischen Wohnzimmertisch. Und als sie sich eine bessere Kamera leisten konnte, war das alsbald auch an der Qualität der Filme abzulesen.

Ihre ersten Streifen wie „Münsterland – Heimatland“ oder „Der Weihnachtsbäcker“ wurden 1944 von der Filmprüfstelle ausgezeichnet. Sie fügten sich – ob gewollt oder nicht – ins kritiklose Heimatbild der NS-Zeit. Was Betrachter_innen (so die Schreibregelung im Festivalheft) nicht ohne weiteres wissen können: Der Bäckermeister im Weihnachts-Film war nicht etwa Elisabeth Wilms’ Ehemann Erich. Der war damals als Soldat im Einsatz. Deshalb übernahm ein Kriegsgefangener seine Rolle. Und der Lehrling, der in dem anheimelnden Streifen vorkommt, ist kurz darauf gegen Ende des Krieges gefallen. Sprich: Der verborgene Hintergrund des Films ist ungleich bedeutsamer als das, was auf der Leinwand erscheint.

Trotz strenger Verbote machte Frau Wilms heimlich Aufnahmen während der Bombenangriffe auf Dortmund und Münster. Es war dies aber auch schon das Höchstmaß an Ungehorsam, das sie sich erlaubte.

Blanke Not in der Trümmerzeit

Weithin bekannt wurde Elisabeth Wilms mit Filmen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, die 1980/81 um ihre nachträglich aufgesprochenen Kommentare ergänzt wurden. „Alltag nach dem Krieg“ (1948) berichtet in bewegenden, höchst einprägsamen Bildern vom Elend der Dortmunder Bevölkerung in der Trümmerlandschaft.

Szene aus dem Wilms-Film "Alltag nach dem Krieg" (1948): Armenspeisung für Kinder. (© Elisabeth Wilms/KG Asseln)

Szene aus dem Wilms-Film „Alltag nach dem Krieg“ (1948): Armenspeisung für Kinder. (© Elisabeth Wilms/KG Asseln)

Mitten in den Ruinen hausten die Menschen unter heute unvorstellbar erbärmlichen, oft lebensgefährlichen Bedingungen. Es wird einem weh zumute, wenn man in all die ausgemergelten Gesichter schaut. Mit Szenen von Schwarzmarkt, Hamsterfahrt und notgedrungenem Kohlenklau erweist sich der Film als erstrangiges zeitgeschichtliches Dokument. Manch eine Einstellung wird man nicht so schnell vergessen – und das zeugt auch von der besonderen Begabung der Elisabeth Wilms, die mit diesem Film zu Spenden aufrufen wollte.

Wie die Westfalenhalle entstand

Mit teils riskanten Drehs hat Elisabeth Wilms 1951/52 den Bau der neuen Dortmunder Westfalenhalle filmisch begleitet. Es lässt sich so wenden, dass sie sich in dieser Männerwelt der Bauleute behauptet hat. Jedenfalls ist es ein interessanter Film, der auch als Lob der Arbeit und der vielen beteiligten Gewerke durchgeht.

Bei der Festival-Vorführung dürfte es freilich bestenfalls für nachsichtiges Lächeln sorgen, dass beim Eröffnungsprogramm der Halle „das schwache Geschlecht“ (O-Ton von damals) Gymnastik vorführen durfte. Für Unkundige sei’s gesagt: Damit waren Frauen gemeint.

Wirtschaftswunderbare Waschmaschine

Später drehte Elisabeth Wilms vielfach Auftragsarbeiten und Werbefilme – beispielsweise für eine Constructa-Waschmaschine, die der geplagten Hausfrau das Leben erleichtern sollte. Bevor der Ehemann sich gnädig zum Kauf herbeiließ, waren – mit gereimten Sprüchlein – rund 9 Minuten (!) einer zeittypischen Familiengeschichte zu absolvieren, in denen natürlich alles für die Waschmaschine sprach, die übrigens auch das Honorar für diesen putzigen Werbefilm darstellte. Den Chefs des unentwegt ins Bild gerückten örtlichen Stromversorgers VEW dürfte das Filmchen gleichfalls gefallen haben.

Fern von aller Renitenz

Elisabeth Wilms und ihre Filme können heute weder politisch noch feministisch vereinnahmt werden, dazu ist das in diesen Schöpfungen waltende Bewusstsein denn doch zu harmlos und kleinbürgerlich. Utopien oder Befreiungs-Sehnsüchte sind diesen Werken nicht eigen, von Rebellion ganz zu schweigen.

Gleichwohl war da eine begabte Pionierin am Werk, die zwar nicht anderen den Weg ebnete, aber recht konsequent ihren eigenen Weg beschritten hat; wobei sie es vergleichsweise leicht hatte: Ihr Film über eine Italienreise aus den 1950er Jahren zeigt gediegenen Wohlstand mit Opel Kapitän und imposantem Wohnananhänger. Daheim besorgte ihre Schwägerin den Haushalt. Auf solchen Komfort konnte damals wahrlich nicht jede Frau zurückgreifen.

Vermessung der „Komfortzonen“

Apropos Komfort. Das stilistisch und thematisch sehr weit gefächerte Dortmunder Frauenfilmfestival widmet sich diesmal dem äußerst dehnbaren Begriff „Komfort“ und schickt sich an, gleichsam rund um den Erdball in allerlei Formen „Komfortzonen“ (auch so ein Modewort) auszuloten bzw. deren Verlust zu ermessen. Der Ruhrgebiets-Schwerpunkt firmiert übrigens unter dem Leitbegriff „Arbeit“, der etwas bemüht mit „Komfort“ kurzgeschlossen wird: Ohne Arbeit gibt es meist keinen Komfort. Wohl wahr…

An diversen Orten der Stadt (Festivalzentrum im Dortmunder „U“, weitere Spielstätten im domicil, Schauburg und Cinestar) sind in den nächsten Tagen laut Broschüre „rund 40 Programme von der Quarkgebäck-Werbung bis zum iranischen Vampirfilm“ zu erleben. Selbstverständlich stehen vielfältige Bilder des Frauenlebens im Mittelpunkt – in aller Welt und zu verschiedenen Zeiten.

Der historische Reigen beginnt im frühen 20. Jahrhundert – mit 1917/18 gedrehten Stummfilmen von Rosa Porten, die seit der Entstehungszeit in Deutschland nicht mehr zu sehen waren. Da darf man von wohl einer kleinen Sensation sprechen.

Nähere Informationen zum Festival-Programm (14. bis 19. April):
www.frauenfilmfestival.eu




Festspiel-Passagen I: Der Sound der Zwanziger Jahre in der Bauhausstadt Dessau

Um ihn geht es bei dem Musikfestival in Dessau: Kurt Weill,  lässig und cool, 1935 in Salzburg aufgenommen. Foto: Kurt Weill Fest

Um ihn geht es bei dem Musikfestival in Dessau: Kurt Weill, lässig und cool, 1935 in Salzburg aufgenommen. Foto: Kurt Weill Fest

„In eins verschmolzen sind Wort und Töne“ singt die Gräfin in Richard Strauss‘ „Capriccio“: Für sie ist die Frage nach dem Vorrang von Text oder Musik in der Oper gelöst. „Zu einem Neuen verbunden“ sind sie. „Eine Kunst durch die andere erlöst.“ Wenn es denn so harmonisch wäre. In einer Zeit, in der Strauss und sogar der Wortfanatiker Wagner das Übertiteln ihrer Bühnenwerke erdulden müssen, weil es an artikuliertem Singen mangelt, stellt sie die Frage auf ganz andere Weise neu.

Das gilt auch für das Abschlusskonzert des Dessauer Kurt Weill Festes: Sara Hershkowitz produzierte die Töne des programmatischen Schlussmonologs aus „Capriccio“ mit einem wie Messing blitzenden Sopran, mit monochromen Vokalen, ohne sprachorientierte Flexibilität und vor allem meist wortunverständlich. Da erlöst keine Kunst die andere.

Das 23. Kurt Weill Fest in Dessau hat sich unter dem Motto „Vom Lied zum Song“ aufgemacht, der Sprache und ihrem Verhältnis zur Musik nachzuspüren. Intendant Michael Kaufmann – bis 2008 in gleicher Funktion an der Philharmonie Essen und auf unschöne Weise geschasst – hatte schon Recht, wenn er meinte, man müsse eigentlich von der Arie und vom Kunstlied ausgehen. Aber im „Lied“ konzentriert sich die angesprochene Problematik: Es ist – anders als eine auf gesangliche Virtuosität oder Expression angelegte Arie – ohne den Text tödlich amputiert.

HK Gruber dirigierte in Dessau die "Dreigroschenoper". Foto: Sebastian Gündel

HK Gruber dirigierte in Dessau die „Dreigroschenoper“. Foto: Sebastian Gündel

Die Verbindung von Sprache, Ton und Bild war für Weill in seinen Bühnenwerken eine faszinierende Herausforderung. Er hatte in seinen „Songs“ diesen Primat des Textes akzeptiert, ohne die Musik an ihn zu verraten: für das Duo Brecht/Weill eine Quelle des Konflikts, der sich in den Proben zur „Dreigroschenoper“ exemplarisch entzünden sollte. Beim diesjährigen Kurt Weill Fest ließ sich nicht nur in diesem Schlüsselwerk für die Moderne wie für das Brecht-Theater – aufgeführt von HK Gruber und dem Ensemble Modern – der Wort-Klang-Problematik nachspüren.

Als Weill gemeinsam mit Bertolt Brecht und dem Filmemacher Carl Koch 1927 eine Revue über das Ruhrgebiet plante, sollte schon dieses Werk ein „neues Ineinanderarbeiten von Wort, Bild und Musik“ begründen. Da das „Ruhrepos“ von rechten Kreisen in Essen torpediert wurde, erprobte der aufstrebende Komponist sein Konzept dann im gleichen Jahr in „Royal Palace“: In einer überflüssig halbszenischen Form mit ein paar Dias an der Rückwand war dieses frühe Bühnenwerk das Kernstück des Abschlusskonzerts im Anhaltischen Theater.

"Letzter Tango in Berlin": Ute Lemper war zu Gast beim Kurt Weill Fest in Dessau. Foto: Sebastian Gündel

„Letzter Tango in Berlin“: Ute Lemper war zu Gast beim Kurt Weill Fest in Dessau. Foto: Sebastian Gündel

Weill und sein Librettist Yvan Goll schufen mehr als ein Zeitstück: „Royal Palace“ ist ein Hotel, das – ähnlich wie in Vicki Baums 1929 erschienenen Roman „Menschen im Hotel“ – eine Metapher für die moderne Lebenswelt ist. Wie so oft bei Weill gibt es Momente des Melodrams und des Sozialstücks. Aber das Parabelhafte gewinnt die Oberhand: Die Offenbachiade einer Frau mit zwei Liebhabern – einem verflossenen und einem zukünftigen – neigt sich zur schwermütigen Schau auf verlorene Existenzen, von Goll noch durch einen geheimnisvoll-märchenhaften Zug verstärkt. Die letzten Worte lassen gar an Büchners „Woyzeck“ denken, die Parabel über das Scheitern des verlorenen Menschen der Moderne schlechthin.

Die unterschiedlichen Stile der Musik hat Weill dramaturgisch sehr präzis eingesetzt. Klavier und Glocken zu Beginn und am Schluss mögen an Transzendentes mahnen; der verhaltene ostinate Rhythmus erinnert schon an minimal music, aber auch an das „Grundrauschen“ einer ständig in hektischer Bewegung befangenen Welt. Ausgiebige rhythmische Bewegungsimpulse, der Reflex auf moderne Zeittänze und eine grotesk verzerrte Zirkusmusik spiegeln die Unruhe, das Getriebensein der Zeit.

Dazwischen müssen sich Menschen ihren echten, eingebildeten, vorgetäuschten Gefühlen stellen, einsam, haltlos, orientierungslos. Der Sopranpart der Dejanira fordert eine dramatische Sängerin mit dem Esprit einer Diseuse – und Sara Hershkowitz sucht beiden Polen gerecht zu werden. Rainer Trost, der „Liebhaber von morgen“, zeigt eine vortrefflich beherrschte Stimme; Markus Raabs rauer Bass passt zur Rolle des Ehemanns; Jens Müller, der „Liebhaber von Gestern“ lässt ebenso wie Andromahi Raptis als namenloses Sopransolo nicht vergessen, dass Weill die gestalterische Potenz seiner Darsteller heftig herausfordert. Verstehen kann man kaum etwas: Weills Sprach-Sorgfalt wird auf der Bühne schmählich verraten, ertrinkt auch immer wieder im Mega-Sound der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz.

Unter Ernst Theis‘ meist nur taktgebendem Stab kann das Orchester aus Ludwigshafen nur punktuell zeigen, was in ihm steckt. Die riesige Bühne des Dessauer Theaters erweist sich als akustische Falle: Undifferenzierte Lautstärke, breiige Tutti, Mangel an Detail-Finesse dürfte nicht nur den Musikern und dem Dirigenten in die Schuhe zu schieben sein. Dennoch sind in diskreten Stellen der Streicher und in massiven Einlassungen der Bläser Schwächen hörbar, die mit der Akustik nichts zu tun haben.

Cornelia Froboess, Artist-in-Residence des Kurt Weill Festes, bei ihrem Programm "Liederliches". Foto: Sebastian Gündel

Cornelia Froboess, Artist-in-Residence des Kurt Weill Festes, bei ihrem Programm „Liederliches“. Foto: Sebastian Gündel

In Richard Strauss‘ Suite „Der Bürger als Edelmann“ ist zwar die Imitation der Tänze aus der Lully-Zeit gut getroffen. Aber Ernst Theis erweist sich – wie in der „Mondscheinmusik“ aus „Capriccio“ – als Nummer-Sicher-Dirigent: Der Metrik fehlt die souveräne Gelassenheit, den Phrasen der schwingende Atem, den Übergängen die Raffinesse der Agogik, den Farben die Eleganz. Der „Strauss-Ton“, gebildet aus exquisit zu mischenden Farben und sorgsam hergestellter Balance der Instrumente, will sich nicht einstellen.

Die vielen intimen unter den 57 Veranstaltungen waren es, die wohl mehr als die großformatigen Aufführungen die empfindliche Balance zwischen den Polen von Musik und Sprache ausmaßen. Da war mit Cornelia Froboess als „Artist-in-Residence“ eine Schauspielerin zu Gast, die als Schlagersängerin begonnen hatte und bis heute eine vielfach preisgekrönte Theaterkarriere verfolgt. Sie brachte gemeinsam mit dem Gitarristen Sigi Schwab Heinrich Heine zum Klingen oder las Texte und Briefe von Kurt Weill, seinem Komponistenkollegen Ernst Krenek oder dem großen Kabarett- und Revue-Komponisten der Weimarer Zeit, Friedrich Hollaender.

Der Dessauer Dichter Wilhelm Müller. Grafik aus einen zeitgenössischen Buch.

Der Dessauer Dichter Wilhelm Müller. Grafik aus einen zeitgenössischen Buch.

Und noch ein anderer stand im Fokus des Weill Festes, einer, den man zunächst nicht mit der Moderne verbindet, wohl aber mit der Bauhausstadt: der Dichter Wilhelm Müller, 1794 in Dessau geboren, 1827 ebenda verstorben. Ein Romantiker mit kritischem Geist, mit wachem Blick auf fragwürdige Entwicklungen in der Gesellschaft. Haltungen, die ihn mit Kurt Weill verbinden. Von dem Dichter stammen die Zyklen „Die schöne Müllerin“ und „Winterreise“, die Franz Schubert noch zu Müllers Lebzeiten vertont hat. Sie stehen exemplarisch für die Emanzipation der Musik von der bloßen Begleitung zur Trägerin einer Aussage, die über die Worte hinaus und in ihre Tiefen hineinreicht.

Am Beginn des Festes stand mit „Braver Soldat Johnny“ eine Erstaufführung: Das MDR Sinfonieorchester unter Kristjan Järvi spielte eine instrumental erheblich erweiterte Neufassung der ersten Broadway-Musicals Weills, „Johnny Johnson“. Das Stück mit einem Text des Pulitzer-Preisträgers Paul Green war 1936 für Weill der nötige Erfolg, der ihm den Zugang zum Broadway öffnete. Inhaltlich knüpft es an Jaroslav Hašeks „Soldat Schwejk“ an – eine brillante Politsatire mit einem tristen Ende, ein Bekenntnis des Pazifisten Kurt Weill gegen die groteske Sinnlosigkeit des Krieges.

Das Musical ist in Europa nie richtig zur Kenntnis genommen worden. Immerhin hat das Kurt Weill Fest 2002 in Bitterfeld die originale Fassung gespielt. Die neue Bearbeitung des Komponisten und Produzenten Gene Pritsker – mit Järvi schon aus Studienzeiten bekannt – verwandelt die federleichte Combo Weills in ein süffiges Orchester und liefert dick aufgetragene Filmmusik, die Kristjan Järvi mit der entsprechenden Opulenz in Szene setzt. Das Ergebnis mag nicht überzeugen; Weills Musik wird breiter, aber nicht stärker.

Der Schauspieler Bernhard Bettermann hat das Libretto zurechtgestutzt. Ein Sechser-Ensemble, darin er selbst, Partnerin Mimi Fiedler und Sohn Tim, trägt Dialoge und Songs vor: Das Lesen vom Manuskript funktioniert bei pointierten Musical-Texten nicht, vor allem, wenn gesprochen wird, als habe man die Sätze vorher gerade mal überflogen. Das war eine Stellprobe, keine festivalreife Aufführung. Und über die stimmlichen Ergüsse der Akteure auf der Vorderbühne bleibt besser der Mantel des Schweigens gebreitet; der piepsige Vortrag der Bettermann-Partnerin Mimi Fiedler mag als bezeichnendes Beispiel genügen.

Abschluss-Pressekonferenz des Kurt Weill Festes Dessau. Von links: Intendant Michael Kaufmann, Artist-in-Residence 2016 Ernst Kovacic und der Vorsitzende der Kurt-Weill-Gesellschaft, Thomas Markworth. Foto: Kurt Weill Fest

Abschluss-Pressekonferenz des Kurt Weill Festes Dessau. Von links: Intendant Michael Kaufmann, Artist-in-Residence 2016 Ernst Kovacic und der Vorsitzende der Kurt-Weill-Gesellschaft, Thomas Markworth. Foto: Kurt Weill Fest

Für das Kurt Weill Fest 2016 sind die großen Linien gezogen. Intendant Michael Kaufmann stellte bei der Abschluss-Pressekonferenz mit dem Geiger Ernst Kovacic den nächsten Artist-in-Residence vor. Der Österreicher ist nicht ohne Bedacht gewählt: Er ist Vorstandsvorsitzender der Ernst Krenek Privat Stiftung in Krems (NÖ) – und Weill und Krenek sollen anlässlich des 25. Todestages des österreichischen Komponisten im Mittelpunkt stehen. Geplant sind Aufführungen von Weills „Der Zar lässt sich photographieren“ und Kreneks „Der Diktator“, mit denen die Zusammenarbeit mit dem Anhaltischen Theater unter seinem neuen Intendanten Johannes Weigand erneuert wird.

Fest steht auch, dass Kovacic das Erste Violinkonzert Kreneks spielt, das 1925 in Dessau uraufgeführt wurde. Mit 16.500 Besuchern hat das Weill Fest in diesem Jahr einen neuen Rekord erreicht; mit dem Theater Magdeburg und der Stiftung Moritzburg in Halle sind neue Kooperationspartner im Boot. Die Hoffnung, dass die Theater in Dessau und Magdeburg trotz der desaströsen Sparpolitik der Regierung von Sachsen-Anhalt neue Impulse für szenische Aufführungen von Bühnenwerken Kurt Weills setzen, ist laut Intendant Michael Kaufmann begründet. Von daher darf das 24. Kurt Weill Fest „Krenek, Weill & die Moderne“ mit Spannung erwartet werden. Und für das 25. Fest im Jahr 2017 – Kaufmann hat einen Vertrag bis 2018 – hört man schon von Plänen, die hoffnungsfroh stimmen.

Info: www.kurt-weill-fest.de




Vertane Chance: Das „Ruhrepos“ von Kurt Weill und Bert Brecht

Kurt Weill in einer Farbaufnahme. Foto: Kurt Weill Fest Dessau

Kurt Weill in einer Farbaufnahme. Foto: Kurt Weill Fest Dessau

Wenn ab heute (27. Februar) das Kurt Weill Fest in Dessau sich erneut dem Schaffen eines der wichtigen Komponisten der Moderne der zwanziger Jahre widmet, darf auch ein Seitenblick auf das Ruhrgebiet erlaubt sein. Für das Industrierevier wäre nämlich um ein Haar ein Werk entstanden, dessen kulturgeschichtliche Bedeutung ähnlich entscheidend wie die der 1928 uraufgeführten „Dreigroschenoper“ hätte werden können.

Die Rede ist von der Idee eines „Ruhrepos“, das mit einem Text von Bert Brecht, Musik von Kurt Weill und Film- und Fotoaufnahmen von Carl Koch als avantgardistisches Theaterprojekt geplant war. Es sollte ein zeitgeschichtliches Dokument werden, das alle Ausdrucksmittel zu einer Einheit zusammenführt; ein Werk „episch-dokumentarischen Charakters“, gedacht für ein Publikum aus allen Schichten der Bevölkerung.

Rudolf Schulz-Dornburg. Fotografie vermutlich aus den dreißiger Jahren.

Rudolf Schulz-Dornburg. Fotografie vermutlich aus den dreißiger Jahren.

Dass der hochfliegende Plan scheiterte, ist aus der Rückschau ein herber Verlust. Dabei stimmte der Beginn durchaus zuversichtlich. Die Idee zu der „Ruhrrevue“ hatte nach eigenem Bekunden der Dirigent Rudolf Schulz-Dornburg. Der 1891 in Würzburg geborene Sohn eines Sängers wurde 1927 an die Städtischen Bühnen Essen verpflichtet. Der damalige Essener Oberbürgermeister Franz Bracht (1877-1933) verband mit dem neuen Generalmusikdirektor die Hoffnung auf ein aktiveres Theaterleben. Uraufführungen sollten das Niveau der Essener Opernbühne heben.

Der Zentrumspolitiker wurde 1924 OB und legte 1932 sein Amt niederlegte, um in Berlin als Reichsminister ohne Geschäftsbereich der Regierung Franz von Papens anzugehören. Überzeugt, dass wirtschaftlicher und kultureller Erfolg notwendig zusammengehören, wollte er in der Kulturpolitik Initiativen ergreifen. Schulz-Dornburg (1891-1949) war dafür der richtige Mann: Er galt als Pionier der modernen Musik und hatte in seiner Zeit als Leiter des Städtischen Orchesters Bochum 1919-1926 auch schon die Idee, mittelalterliche und zeitgenössische Musik in einem bzw. mehreren Konzerten miteinander zu konfrontieren.

„Etwas außerordentlich Wichtiges und Schönes“

Schulz-Dornburg, Gründer der Folkwang-Schule für Musik, Tanz und Sprechen, trat bereits im Frühjahr 1927 an Kurt Weill mit der Bitte heran, in direktem Auftrag der Stadt „eine große revue-artige Arbeit zu schaffen“. Bereits im Mai 1927 war Bert Brecht mit im Boot und die Idee weit gediehen: Schulz-Dornburg berichtete an den Oberbürgermeister, er habe den Eindruck, die Industrieoper (kann) „etwas außerordentlich Wichtiges und Schönes werden, das den Absichten der Stadt in künstlerischer Beziehung besonders deutlich schon im ersten Jahr erkennen lässt“.

Die Dinge entwickelten sich rasch: In den ersten Junitagen 1927 reisten Kurt Weill, Bert Brecht und der Filmregisseur Carl Koch (1892-1963) nach Essen, um Konzept und Details der „Ruhroper“ mit dem Beigeordneten Dr. Hüttner als Vertreter des Magistrats zu besprechen. Ein Vertragsentwurf spricht von der Herstellung eines musikalischen Bühnenwerks (Ruhrepos), das Musik von Kurt Weill, Dichtung von Bert Brecht und Film- und Lichtbildkompositionen von Carl Koch enthält. Die Stadt Essen sichert sich das Vorrecht der Aufführung im Rheinland und in Westfalen. Die Uraufführung solle bis spätestens 1. April 1928 unter Leitung von Schulz-Dornburg erfolgen. Acht weitere Aufführungen seien zu spielen.

Schon Mitte Juni lieferte Koch einen Kostenvoranschlag für den Film- und Lichtbildteil: 200 Meter Trickfilm, 1000 Meter bereits bestehende Filmszenen, 2000 Meter neue Aufnahmen wie Landschaften, Details aus dem Ruhrgebiet und Atelieraufnahmen von Schauspielern. Dazu plante Koch 50 Lichtbilder. 43.000 Mark sollte das gesamte visuelle Material kosten.

Kurt Weill und Bert Brecht. Foto: Kurt-Weill-Fest Dessau

Kurt Weill und Bert Brecht. Foto: Kurt-Weill-Fest Dessau

Zu gleicher Zeit legten Weill, Brecht und Koch dem Essener Verhandlungspartner Dr. Hüttner ein Exposé vor, das detailliert auf künstlerische Mittel eingeht. „Das Ruhrepos soll sein ein künstlerisches Dokument des rheinisch-westfälischen Industrielandes, seiner eminenten Entwicklung im Zeitalter der Technik, seiner riesenhaften Konzentration werktätiger Menschen und der eigenartigen Bildung moderner Kommunen. Da nun aber der ganze Aufbau des Ruhrgebiets für unsere Zeit charakteristisch ist, soll das Ruhrepos gleichzeitig ein Dokument menschlicher Leistung unserer Epoche überhaupt sein“, umreißt Brecht die künstlerische Absicht des Gesamtprojekts.

Es ging also nicht um ein Werk über regionale Eigenheiten, sondern um nichts weniger als eine universale Darstellung und Dokumentation der modernen Zeit, für die Brecht als Ruhrgebiet als exemplarisch ansah. Er vergleicht sie mit dem „Orbis Pictus“ des 17. Jahrhunderts, der die ganze Lebenswelt einer Epoche ins Bild zu fassen versuchte.

Brecht spricht auch vom „episch-dokumentarischen Charakter“ des Werks: Ein Zeugnis seiner frühen Beschäftigung mit dem epischen Theater, das um 1936 zu seinem grundlegenden Essay zu diesem Thema führte. Die Grundstrukturen dieser modernen Theaterform sind im „Ruhrepos“ schon zu beobachten: Das Überwinden der „Schau-Spieler“ und der Fixierung auf die handelnden Personen, das Erzählen durch die Bühne selbst, die Distanz zwischen den Vorgängen auf der Bühne und ihrem Hintergrund.

Dazu planten Brecht und Weill, die wechselnde Bilderfolge der modernen Revue einzusetzen, wenn auch „zu einem ganz anderen Zweck“ als im Unterhaltungsgenre. Die Ausdrucksmittel sollten von rein symphonischen Musiksätzen über Chorpartien, Arien und Ensembles bis hin zu Sprechchören reichen, denen Brecht die Aufgabe zuwies, die (Bild-)Szenen zu erläutern und die durchgehende Handlung zu gestalten. Die „verschiedenen Abteilungen“ des Epos sollten von Szenen aus der „allerletzten Geschichte des Ruhrgebiets“ über eine „Eroika der Arbeit“ und „einfachen Liedern an einem Kran“ bis hin zu „einer Reihe primitiver lustiger Auftritte“ reichen. In den „Kranliedern“ Brechts von 1927 finden sich die einzigen identifizierbaren Spuren des „Ruhrepos“; ihr Titel deutet darauf hin, dass sie für das geplante Essener Projekt entstanden sein könnten.

Neue Einheit der Ausdrucksmittel

Auch Kurt Weill hatte für die Musik sehr konkrete Vorstellungen: Sie schließt „alle Ausdrucksmittel der absoluten und der dramatischen Musik zu einer neuen Einheit zusammen“, schreibt er kühn. Geplant seien keine „Stimmungsbilder“ oder „naturalistische Geräuschuntermalung“. Sondern die Musik präzisiere Spannungen der Dichtung und der Szene in Ausdruck, Dynamik und Tempo. Abgeschlossene Orchesterstücke sollten als symphonische Vor- und Zwischenspiele dienen. Arien, Duette, Ensemblesätze, kleinere Instrumentengruppen oder über den Raum verteilte Chöre mit ihren Instrumenten, aber auch Songs mit Jazz-Rhythmus oder „kammermusikalische Stücke komischer Art“ hatte Weill vorgesehen. Im melodischen Material plante Weill auch, ein Bergmannslied oder das „Flötenspiel eines Lumpensammlers“ zu verwenden. Das am besten mit einem szenischen Oratorium vergleichbare Stück sollte, so Weill, ein „neues Ineinanderarbeiten von Wort, Bild und Musik“ begründen.

Die Rolle des Bühnenbildes war ersetzt durch die Filme und Lichtbilder Carl Kochs. Er wollte im Ruhrepos den schon lange erwogenen Plan umsetzen, „Szenenbilder durch Lichtbildwurf“ zu ersetzen. Entscheidend war für Koch, dass die Fotografie durch die „nackte Wiedergabe der Wirklichkeit den Wert echter Dokumentation“ habe.

Das Stadttheater Essen auf einer Postkarte von 1912.

Das Stadttheater Essen auf einer Postkarte von 1912.

Ende Juli 1927 schien der endgültige Vertragsabschluss nur noch eine Formsache zu sein – ein Eindruck, den offenbar Schulz-Dornburg auch bei Besuchen in Berlin erweckte. Auch die finanziellen Probleme mit der Höhe der Film- und Fotokosten schienen bewältigt: Koch ging von den ursprünglichen 43.000 Mark auf 12.000 Mark zurück – zuzüglich 4.500 Mark, wie sie die beiden Autoren Weill und Brecht ebenfalls erhalten sollten. Offenbar hatten Brecht und Koch bereits mit der Arbeit begonnen, als es Ende Juli zu einer unerwarteten Wendung kam.

Am 29. Juli schrieb Dr. Hüttner, es sei fraglich, ob der Auftrag bereits für die kommende Spielzeit erteilt werden könne. Die Absicht, eine „Ruhrrevue“ durch die Herren Brecht und Weill schreiben und komponieren zu lassen, sei leider durch Indiskretion in die Öffentlichkeit gedrungen und schon in der Berliner Presse mitgeteilt worden. „Das Echo, das diese Nachrichten gefunden haben, ist sehr unerfreulich und hat sofort lebhaften Widerspruch nicht nur in der Presse sondern auch in der Bürgerschaft wachgerufen. Es erscheint daher mehr als fraglich, ob es geraten ist, die erste Spielzeit mit einem Wagnis, dessen Ausgang doch recht ungewiss ist, zu belasten, und damit das Gelingen der ganzen mit der Neuorganisation des Theaters verfolgten Pläne ernstlich zu gefährden. Infolgedessen wird man daran denken müssen, die Revue vorläufig noch zurückzustellen. Dies ist auch die Ansicht des Herrn Oberbürgermeisters“, heißt es in dem Schreiben.

Aggressiver Antisemitismus

Es wäre anhand von zeitgenössischen Quellen noch zu prüfen, wie heftig die kommunalpolitische Aufregung um Schulz-Dornburgs ehrgeizige Opernpläne gewesen ist. Immerhin ist in der Essener Stadtbibliothek ein anonymes Flugblatt vom Sommer 1927 archiviert, in dem es heißt, durch die geplante Theaterreform sei „die Kunst Essens in Gefahr, völlig zu verjuden“. Auch auf das Weill/Brecht-Projekt wird Bezug genommen: „Als Zugstück für die Bühnen ist ein Schlager ausgedacht – eine Ruhrrevue – großer Theaterspektakel mit Ausstattung, Gesang und Tanz – genannt ‚Die große Ruhrrevue‘. Von wem der Gedanke ausgeht, erscheint unklar. Zur Ausführung sind aber von den Hintermännern des Planes die zwei Juden Brecht und Weil vorgeschoben, welche schon fest von der Stadt engagiert sind. (…) Diese zwei Juden sollen jetzt die ‚große Kunst‘ von Berlin nach Essen bringen“.

Wohl angesichts solcher Anfeindungen schreckte die Stadtverwaltung vor dem Projekt zurück. Auch Schulz-Dornburg sah offenbar seine Reformen in Gefahr und schrieb im Mai 1928, das „Ruhrepos“ wäre im Falle einer Aufführung aufgrund der negativen Einstellung in der Bürgerschaft „von der gesamten presse des ruhrgebiets vernichtet worden“. Entlarvend sind an dem Flugblatt nicht allein der aggressive Antisemitismus, sondern auch die Ressentiments gegen die Berliner Kultur und das trotzige Beharren auf dem eigenen Kulturbegriff: Die „Provinz“ habe es nicht nötig, sich aus der Metropole in künstlerischen Dingen belehren zu lassen. Das Blatt werte die eigene Rückständigkeit als Beleg eines hohen kulturellen Niveaus, analysiert Matthias Uecker in einer Arbeit über die Kulturpolitik im Ruhrgebiet der zwanziger Jahre.

Solche Kritik hat also offenbar als Vorwand gedient, das unbequeme und riskante Projekt zu beenden. Neue Vorstöße von Brecht und Weill im Januar und März 1928 jedenfalls blieben – trotz gegenteiliger Versicherungen von Schulz-Dornburg – ohne positives Ergebnis. Hüttner schrieb kategorisch, dass ein „Auftrag zur Herstellung des von Ihnen geplanten Ruhr-Epos vorerst nicht erteilt werden könne“. Das ehrgeizige Projekt, das ein Meilenstein des deutschen Theaters hätte werden können, war am provinziellen Horizont der Akteure in der städtischen Kultur gescheitert.

Die Vorgänge um das Ruhrepos sind in einem Aufsatz von Eckhardt Köhn im Brecht-Jahrbuch 1977 nachzulesen. Sein Titel: „Das Ruhrepos. Dokumentation eines gescheiterten Projekts“. Verlag Suhrkamp, Frankfurt 1977, S: 52-77.

Das Kurt-Weill-Festival eröffnet am 27.Februar die Reihe seiner 57 Veranstaltungen mit einem Konzert des MDR-Sinfonieorchesters im Anhaltischen Theater Dessau. Unter Kristjan Järvi bringt es ein Neuarrangement des Musicals „Johnny Johnson“ unter dem Titel „Braver Soldat Johnny. Die Geschichte eines ganz gewöhnlichen Mannes“.

Artist-in-Residence des Kurt Weill Festes ist Cornelia Froboess. Foto: Sabine Finger/Kurt Weill Fest Dessau

Artist-in-Residence des Kurt Weill Festes ist Cornelia Froboess. Foto: Sabine Finger/Kurt Weill Fest Dessau

Weills Interesse an einer neuen Zuordnung von Sprache und Musik, wie sie auch im Konzept zum „Ruhrepos“ deutlich wird, führte zur Thematik des diesjährigen Weill-Festes: Unter dem Motto „Vom Lied zum Song“ beleuchtet es diese Entwicklungen – und würdigt gleichzeitig den in Dessau geborenen Dichter Wilhelm Müller, heute noch bekannt als Verfasser der Vorlagen-Gedichte für Franz Schuberts Liedzyklen „Die Schöne Müllerin“ und „Winterreise“.

Artist-in-Residence Cornelia Froboess befasst sich in mehreren Veranstaltungen mit dem Thema Sprache und Musik, ebenso Katharina Ruckgaber und das Gürzenich-Quartett, der Bariton Wolfgang Holzmair, Ute Lemper oder Anna Haentjens. Das Anhaltische Staatstheater Dessau steuert einen Ballettabend nach John Miltons „Paradise Lost“ bei, u. a. mit Musik von Kurt Weill. Zum Abschluss am 15. März spielt die Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz unter Ernst Theis Kurt Weills „Royal Palace“ und Werke von Richard Strauss.

Karten und Information: www.kurt-weill-fest.de




Rheingold, Notwist, Pasolini: Johan Simons stellt sein erstes Ruhrtriennale-Programm vor

Bikini Bar 2006(c) Atelier Van Lieshout

Demnächst vor der Bochumer Jahrhunderthalle: Die Bikinibar aus dem Atelier Van Lieshout (Foto: Ruhrtriennale)

Johan Simons ist, wie bekannt, für die nächsten drei Jahre Intendant der Ruhrtriennale, und heute hat er sein Programm 2015 präsentiert. Erster Eindruck: Es kommt drauf an, was man draus macht, oder auch: Schau’n mer mal.  Der Chef selbst ist da nicht so zögerlich. „Seid umschlungen!“ ist das euphorische Motto dieses „Festivals der Künste“ (Untertitel), das programmatisch sehr gern in den Schöpfungs- und Erlösungsmythen der Menschheit gründelt.

Die richtig großen Namen, das, was man im Showgeschäft „eine sichere Bank“ nennen könnte, fehlen weithin. Der Regisseur Luk Perceval und die Choreographin Anne Teresa De Keersmaeker sind vielleicht noch am ehesten Namen, die einer etwas breiteren Kulturöffentlichkeit bekannt sein könnten, wiewohl natürlich auch viele andere Auftretende ihre mehr oder minder große Fangemeinde haben werden.

In diesem Programm vermengt Klassik sich mit Pop und Zwölftönerei, um im nächsten Schritt auch noch elektronisch verfremdet zu werden, dort löst sich die Oper in eine Rauminstallation auf, und wenn schon nicht atemberaubend Crossovermäßiges auf die Spielstatt gestellt wird, dann sind zumindest doch Sprachenkenntnisse hilfreich, um fremdsprachige Schauspieltexte verstehen zu können. Immerhin sind deutsche Untertitel versprochen.

Ruhrtriennale-Intendant Johan Simons (Foto: Stephan Glagla)

Ruhrtriennale-Intendant Johan Simons (Foto: Stephan Glagla)

Johan Simons selbst, der das Theaterspielen auf der Straße begann, sich und seinen robusten Inszenierungsstil mit „Sentimenti“ bei der Ruhrtriennale früh schon unvergeßlich machte und selbst einen Stoff von Elfriede Jelinek noch als Burleske zu inszenieren wußte („Winterreise“, 2011 an den Münchner Kammerspielen), gibt jetzt den seriösen Einrichter bedeutungsschwerer Musikstoffe, inszeniert im September in der Jahrhunderthalle Wagners „Rheingold“, nachdem er schon Mitte August eine Bühnenfassung des Pasolini-Films „Accattone“ mit Musik von Johann Sebastian Bach auf die Bühne der Kohlenmischhalle Zeche Lohberg in Dinslaken zu stellen beabsichtigt.

Kohlenmischhalle Zeche Lohberg Dinslaken (c) Julian Roeder fuer die Ruhrtriennale

Nicht unbedingt ein Ausbund an Schönheit, trotzdem in diesem Jahr ein Spielort der Ruhrtriennale ist die Kohlenmischhalle der Zeche Lohberg in Dinslaken (Foto: Ruhrtriennale)

Die Zeche Lohberg übrigens ist neu im Strauß der Spielorte, der generösen Ruhrkohle-AG – bzw. deren mit anderen Großbuchstaben firmierenden Rechtsnachfolgerin – sei Dank. Hingegen, um auch das noch los zu werden, bleibt Dortmund wieder außen vor. Letztes Jahr noch war zu hören, daß die neue Triennale-Leitung auch Interesse an der berühmten Jugendstil-Maschinenhalle der Museumszeche „Zollern“ in Dortmund-Bövinghausen gezeigt hätte. Doch es ist wohl nichts daraus geworden. Statt dessen, neben den „Haupt-Städten“ des Festivals (Bochum, Duisburg, Essen und Gladbeck) nun also Dinslaken. Voilà!

Auffällig viele Niederländer (und Belgier) bevölkern das neue Triennale-Programm. Doch ist dies letztlich nicht zu geißeln, da ein Intendant natürlich alle Freiheiten hat, Kunst und Künstler zu bestimmen. Für den Vorplatz der Jahrhunderthalle ist seine Wahl auf das „Atelier Van Lieshout“ gefallen, das hier rund um eine bespielbare Gebäudeskulptur mit Namen „Refectorium“ ein Dorf entstehen lassen will, in dem es ein „BarRectum“, einen „Domesticator“, eine „Bikinibar“ oder auch ein „Workshop for Weapons and Bombs“ geben soll. „The Good, the Bad and the Ugly“ ist das Projekt überschrieben. Was kommt da auf uns zu? Geistige Auseinandersetzung natürlich, hier, laut Ankündigung, mit Selbstbestimmung und Macht, Autarkie und Anarchie, Politik und Sex.

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Hier gibt es bald wieder Theater: Gebläsehalle Duisburg-Nord (Foto: Ruhrtriennale)

Schauen wir ein wenig durch das Programm, das sich (unter anderem) auf einem sehr ordentlichen, nach Spielstätte und Datum ordnenden Kalender abgedruckt findet. Den Reigen der „großen“ Produktionen eröffnet, wie schon erwähnt, am 14. August die musikalische Pasolini-Adaption „Accattone“ in Dinslaken. Sie wird sechsmal gezeigt – und mehr findet in Dinslaken dann auch nicht statt.

In Bochum steigt am 15. August die Eröffnungsparty mit dem Namen „Ritournelle“, und da geht es dann hübsch popmusikalisch zu, wenn nicht gerade Neue Musik von Karlheinz Stockhausen zum Vortrag gelangt, entweder das Frühwerk „Gesang der Jünglinge“ oder das Spätwerk „Cosmic Pulses“. Bißchen Namedropping für die, die etwas damit anfangen können: Das Berliner Plattenlabel City Slang, das seit 25 Jahren besteht, spielt eine Rolle und ebenso die Gruppe „Notwist“. Es wird bestimmt laut und lustig, doch danach auch ganz ruhig.

Lediglich zwei Auftritte des Collegium Vocale aus Gent und ein Termin mit dem 80jährigen Musik-Minimalisten Terry Riley (29. August) nämlich stehen noch auf dem Augustprogramm. Unter der Leitung von Philippe Herreweghe bringen die Genter Johann Sebastian Bach zum Klingen. Am 16. August heißt das Programm „Ich elender Mensch“, am 21. August „Ich hatte viel Bekümmernis“.

Ab dem 12. September jedoch wird, wie wir doch hoffen wollen, Johan Simons’ „Rheingold“ der Jahrhunderthalle einheizen und neue Maßstäbe setzen. Angekündigt ist „eine ,Kreation’ an der Grenze zwischen Oper, Theater, Installation und Ritual“ (!). Die Musik machen das Orchester MusicAeterna aus Perm unter dem Dirigenten Teodor Currentzis und der finnische Techno-Experimentierer Mika Vainio. Sieben Termine sind angesetzt.

Weiter geht es nach Essen, in die auch ohne Theater schon beeindruckende Mischanlage der Kokerei Zollverein. Ein „Parcours“ ist sie, seit hier vor vielen Jahren die Ausstellung „Sonne, Mond und Sterne“ neue Maßstäbe in der kulturellen Umnutzung alter Industriebauten setzte. Nun erklingt hier, auf diesem Parcours, Monteverdis „Orfeo“, dezentral und verwirrend vorgetragen. Zur Musik werden Besuchergruppen von maximal acht Personen durch die Räume geführt, die nun die Stationen von Orfeos Abstieg zeigen nebst seinem Versuch, die Geliebte für sich zurückzugewinnen. Das Regisseurinnen-Trio Susanne Kennedy, Suzan Boogaerdt und Bianca van der Schoot, sagt die Ankündigung, habe in dem alten Betonbunker Qualitäten einer Vorhölle erkannt, und das kann man nachvollziehen. Eurydike übrigens, die spätere Salzsäule, wird von mehreren Schauspielerinnen gespielt.

Etliche weitere Tanz- und Musikproduktionen sowie Rauminstallationen können in diesem Text keine Erwähnung finden, weil es sonst einfach zu viel wird. Von den Schauspielproduktionen sei noch „Die Franzosen“ erwähnt, ein Werk des polnischen Regisseurs Krzysztof Warlikowski, in dem er Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“ mit weiteren Stoffen des Romanciers zum großen Sittenbild einer „Gesellschaft im Umbruch zwischen 19. und 20. Jahrhundert“ verwebt. Sein Nowy Teatr spielt das alles in polnischer Sprache und will sechsmal die Halle Zweckel füllen. Das wirkt ein bißchen optimistisch, aber man soll ja nicht unken.

Ach ja: Von Anne Teresa De Keersmaeker wird Ende September dreimal die Uraufführung ihrer Choreographie „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ gezeigt, die Rilkes Erzählung über den begeisterten Türkenkrieg-Soldaten aktuell deutet; Regisseur Luk Perceval verarbeitet mehrere Stoffe Émile Zolas mit Darstellern des Hamburger Thalia-Theaters zu einem Gesellschaftsbild, das den Titel „Liebe – Trilogie meiner Familie I“ trägt. Die Teile II und III gibt es auf dieser Triennale noch nicht zu sehen.

So, das soll mal reichen. Glück auf!

www.ruhrtriennale.de




Yasmina Reza, Piccoli, Binoche, Ute Lemper – Frankreich ist Thema der Ruhrfestspiele

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Michel Piccoli, Jane Birkin und Hervé Pierre (von links) tragen Texte von Serge Gainsbourg vor. (Foto: Ruhrfestspiele/Gilles Vidal)

In diesem Jahr soll es unser westlicher Nachbar sein. „Tête-à-tête – ein dramatisches Rendezvous mit Frankreich“ ist das Programm der Ruhrfestspiele 2015 überschrieben, und natürlich erfolgte die thematische Schwerpunktlegung lange, bevor das Land (und seine Kultur) es zu trauriger Aktualität brachten.

Fast wundert man sich, daß Festival-Chef Frank Hoffmann Frankreichs Kultur erst jetzt so entschlossen ins Rampenlicht des Recklinghäuser Festspielhauses rückt, ist er doch als Luxemburger – mit ganz leichter Andeutung eines französischen Akzents, ähnlich seinem Landsmann Jean-Claude Juncker – der französischen (Bühnen-)Kultur schon traditionell recht nahe.

Nein, man muß man nicht befürchten, daß nun ein Gründeln nach französischer Seele oder Ähnlichem einsetzte, wie überhaupt das in dieser unbedingten Art Grundsätzliche eher wohl eine Spezialität von Frankreichs östlichem Nachbarn, vulgo: uns ist.

Hoffmann greift lieber zum Füllhorn und schüttet französisch Gedichtetes, Gefühltes, Inspiriertes und Gesprochenes über seinem Publikum aus, auf daß Nähe sich auf vielfältige Weise herstelle. Das Konzept ist erprobt und funktionssicher, und ein Theater der radikalen Positionen war Hoffmanns Sache sowieso nie. Allerdings erstaunt bei der Sichtung des wieder einmal höchst umfangreichen Programms ein wenig doch die Beliebigkeit der Auswahl. Aber der Reihe nach.

Ute Lemper for Bauer Verlag/Germany 2013

Ute Lemper hat aus Paulo Coelhos Roman „Die Schriften von Accra“ einen Theaterabend gemacht. (Foto: Ruhrfestspiele/Karen Koehler)

Eugène Labiches Komödie „Moi“ (deutsch: Ich) ist der fulminante Auftakt des Festivals, der Titel wurde, was möglicherweise dem prominenten ersten Platz auf dem Spielplan geschuldet ist, aufgehottet auf „Ich Ich Ich“. Die Inszenierung ist eine Koproduktion der Ruhrfestspiele mit dem Münchener Residenztheater, Regie führt der im Revier bekannte und geschätzte Martin Kusej. Auch unter dem Titel „Die Egoisten“ war das 1864 uraufgeführte Stück schon in den Theaterprogrammen zu finden: Erzählt wird die Geschichte des – eben – habgierigen, egoistischen Monsieur Dutrecy, der hemmungslos trickst und intrigiert und am Ende der Geschichte doch als Verlierer dasteht. Er ist eine, wie das Programmheft nahelegt, typische Figur des Second Empire, der postnapoleonischen Restaurationszeit. Möglicherweise, aber das ist eine spekulative Äußerung, ebnet dieses Stück ein ganz klein bißchen den Weg zu einem besseren Mentalitätsverständnis unserer Nachbarn. Vor allem aber wohl ist es was zum Lachen, was ja auch recht wertvoll ist in zutiefst humorlosen Zeiten wie den unseren.

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Yasmina Reza hat ein neues Stück geschrieben. „Bella Figura“ wird seine Uraufführung bei den Ruhrfestspielen erleben. (Foto: Ruhrfestspiele/Pascal Victor/ArtComArt)

Die zweite große Theaterproduktion des Festivals dürfte Yasmina Rezas neues Stück „Bella Figura“ sein. Reza ist die weltweit wohl erfolgreichste Komödienschreiberin unserer Tage, „Kunst“ und „Gott des Gemetzels“ kennt (behaupte ich einfach mal) jeder Theatergänger.

Auch der Plot des jüngsten Reza-Werks ist auf grandiose Weise wieder angesiedelt auf dem Minenfeld des Alltäglichen: Boris führt seine Geliebte Andrea aus und erwähnt eher aus Gedankenlosigkeit, daß seine Ehefrau das Restaurant für dieses Rendezvous ausgewählt habe; in der Hitze der folgenden Diskussion fährt Boris beim Einparken eine ältere Dame um, und sowieso sind die Grenzen zum final Katastrophalen bald schon überschritten. Wir werden unseren Spaß haben, wenn Yasmina Reza uns den nur geringfügigst deformierenden Zerrspiegel vorhält. Thomas Ostermeier führt Regie in einer Koproduktion mit der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz, Star des Abends ist fraglos Nina Hoss in der Titelrolle.

Eine weitere Produktion wird groß angekündigt, doch ist sie an zwei Tagen nur dreimal im Programm. Die Bühnenkünstlerin Ute Lemper hat sich das Buch „Die Schriften von Accra“ des Brasilianers Paulo Coelho vorgenommen. Sie habe es, erzählt sie beim Pressetermin, in neun Abteilungen – „9 Geheimnisse“ – aufgeteilt, deren Essenz in Poesie und Musik gefaßt. Schönheit und Harmonie erwarteten nun das Publikum, eine „cinematische Einrichtung“ des Ganzen besorgte Filmregisseur Volker Schlöndorff. Was das Publikum nun genau erwartet, wurde noch nicht recht klar. Zwar fällt es schwer, sich Coelhos komplexe Dichtung in Wohlfühlhäppchen zerlegt vorzustellen, doch wer es genau wissen will, muß eben in die Vorstellung gehen.

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Wolfram Koch in Eugène Ionescos Stück „Die Nashörner“, das Ruhrfestspiele-Hausherr Frank Hoffmann inszeniert. (Foto: Ruhrfestspiele/Bohumil Kosthoryz)

Hausherr Hoffmann inszeniert im Großen Haus Ionescos „Nashörner“, Michael Thalheimer, in Kooperation mit dem Deutschen Theater in Berlin und den Salzburger Festspielen, Schillers „Jungfrau von Orleans“, die bekanntlich in Frankreich wirkte und dort auf einem Scheiterhaufen ihr Leben ließ. Hannelore Elsner liest aus Patrick Süskinds Roman „Das Parfüm“, Isabella Rosselini ist zweimal mit ihrer vergnüglichen, wenn auch nicht mehr ganz neuen Fortpflanzungsshow „Green Porno“ zu Gast. Liebhaber der Texte von Serge Gainsbourg markieren schon jetzt den 31. Mai, wenn Michel Piccoli (85 Jahre ist er mittlerweile alt!), Jane Birkin und Hervé Pierre Texte von ihm lesen. Musik, Tanz, einige Lesungen und, warum auch immer, etliche Termine mit Peter Handkes 1992 in Wien uraufgeführtem, weitgehend textfreiem Stück „Die Stunde, da wir nichts voneinander wußten“ runden das Programmgeschehen auf der Hauptbühne ab.

Etliche kleinere Produktionen sowie Uraufführungen sind wieder im Kleinen Haus, im Theater Marl und in der Halle König Ludwig zu finden – so in deutscher Erstaufführung und in Regie von Oliver Reese Joel Pommerats Beziehungsdrama „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“. Corinna Kirchhoff und Peter Schröder spielen die Hauptrollen – und mit Korea hat das Stück eigentlich nichts zu tun.

Hier ein bißchen Jules Verne, da eine in Kooperation mit der Woche des Sports produzierte „Slapstick Sonata“, dort einige Produktionen des Hamburger St. Pauli-Theaters mit seinem umtriebigen Chef Ulrich Waller – einmal mehr ist das 2015er Programm der Ruhrfestspiele der sattsam bekannte Theater-Bauchladen, der für jeden Geschmack etliches bietet, aber auch die Aura des Beliebigen verströmt. Hier verwundert es daher auch nicht, daß Claus Peymann und sein getreuer Dramaturg Hermann Beil mit der Jahrzehnte alten Burgtheater-Produktion Thomas Bernhards „Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen“ zu Gast sind.

Allerdings scheint der Anteil fremdsprachiger Produktionen 2015 höher zu sein, wenngleich es sie in den Vorjahren auch immer gab. Hier boten sich wohl besonders interessante Koproduktionen, etwa mit dem Festival in Avignon, an. In einer mit Barbican London und Les théâtres de la ville, Luxembourg, koproduzierten „Antigone“ ist Juliette Binoche Englisch sprechend zu erleben, Molières „Eingebildeten Kranken“ gibt es, wenngleich mit deutschen Untertiteln, nur auf französisch. Die Boulevardkomödie „Wind in den Pappeln“ von Gérald Sibleyras gar spielt das Vakhtangov-Staatstheater aus Moskau in Russisch. Nun gut, man erinnert sich, daß die Ruhrfestspiele ja ein internationales Festival sein möchten.

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So sieht es aus, wenn Russen französische Komödie spielen:
Vladimir Simonov, Maxim Sukhanov und Vladadimir Vdovichenkov in Gérald Sibleyras‘ „Wind in den Pappeln“. (Foto: Ruhrfestspiele/Vakthangov-Staatstheater Moskau)

Zahlreich sind die literarischen Lesungen im Programm, das freche Fringe-Festival lockt (nicht nur) Kinder und Jugendliche mit internationalem, kurzweiligem und manchmal atemberaubendem Straßentheater. Dominique Horwitz singt Jacques Brel, Burghart Klaußner Charles Trenet („La mer“). Und am Schluß singt Roger Cicero. Auf der so genannten Comedy-Schiene wird alles aufgeboten, was in Deutschland Rang und Namen hat, Hennes Bender und Max Goldt in trauter Nachbarschaft, und Jochen Malmsheimer ist natürlich auch dabei.

Und wer alles noch genauer wissen will, muß ins Internet gehen: www.ruhrfestspiele.de

 

 




Freies Theaterfestival „Favoriten 2014“ in Dortmund – Chaos, Krise, Kreativität

Black Box auf echtem Rasen, von innen gleißend weiß. Foto: Katrin Pinetzki

Black Box auf echtem Rasen, von innen gleißend weiß. Foto: Katrin Pinetzki

Es riecht erdig im ehemaligen Museum am Ostwall: Die große, lichte Eingangshalle ist mit Rasen ausgelegt. Picknickdecken liegen bereit. In der Mitte: ein schwarzer, begehbarer Kubus. Wer neugierig die Tür öffnet, stößt einen überraschten Schrei aus: Innen blendet gleißend weißes Licht, auch Wände, Boden, Decken: weiß. Ein Stuhl in der Mitte lädt ein, der extremen Sinneserfahrung nachzuspüren – und das umgebende Nichts mit Bedeutung zu füllen.

Im 29. Jahr seines Bestehens bricht das Festival „Favoriten“ gleich mit mehreren Traditionen. Das freie Theaterfestival, eines der wichtigsten in NRW, ist unter der jungen künstlerischen Leitung von Felizitas Kleine und Johanna-Yasirra Kluhs erstmals kein Wettbewerb. Die Künstler konkurrieren nicht, sondern wohnen, arbeiten, feiern zusammen und sorgen für Begegnungen mit den Besuchern – in der ganzen Stadt, vor allem aber im ehemaligen Museum am Ostwall, das nach dem Umzug des Kunstmuseums ins Dortmunder U derzeit (noch) leer steht. Eine Zukunft des Gebäudes als Baukunstarchiv NRW ist dank des bürgerschaftlichen Engagements inzwischen so gut wie sicher.

Dieses ehemalige Museum also ist Festivalzentrum, und dort wird in diesem Jahr weniger Theater gespielt als vielmehr mit theatralen Mitteln darüber reflektiert. Das ganze Gebäude mutiert zur Performance-Bühne und zum Erfahrungsfeld, es ist eine Woche lang (bis 1. November) kaum wiederzuerkennen. Schon vor der Eingangstür die erste Installation, ein Tunnel mit Sitzgelegenheiten aus Sperrholz, ein DJ legt auf und lädt Besucher wie Passanten ein, eine Weile zu bleiben. „Titel: In Arbeit. Ein Festivalumbau“ heißt diese Arbeit von David Rauer und Joshua Sassmannshausen. Weitere Werke der beiden finden sich im Haus – sie sind Recyclingkünstler und haben mit jeder Menge Witz kleine und große Skulpturen eingeschleust, materielle wie immaterielle. Ziel eigentlich aller Festivalkünstler ist es, mit Besuchern ins Gespräch zu kommen, sei es durch eine Partie Backgammon, eine kleine Massage, Maniküre oder eine waghalsige Kletterpartie auf einem raumfüllenden Sperrholzsteg.

Einige Dortmunder wurden im Vorfeld des Festivals über ihr Verhältnis zu Theater interviewt, die Antworten laufen als Endlosschleife in der Galerie im Erdgeschoss. „Woran denken Sie bei modernem oder freiem Theater?“, wird da eine junge Frau gefragt, die sich als „klassisch angehaucht“ bezeichnet. „Chaos!“, antwortet sie prompt.

Tatsächlich: Bei einem Rundgang durchs Haus geraten Besucher leicht in Verwirrung. Wer ist hier Besucher, wer Künstler? Welcher Raum ist wem zuzuordnen? Bei dieser 16. Auflage des Festivals ist das eigentlich egal, einzelne Arbeiten ordnen sich dem Gesamt-Eindruck unter. Das kreative Chaos entsteht durch den höchst produktiven Mix der Kunstformen. Traditionelle Theater-Erfahrungen werden unterlaufen – etwa von der Düsseldorfer Ben J. Riepe Kompanie, die an jedem Tag des Festivals vier Räume neu und anders bespielt. Zur Eröffnung am Samstag waberten Kunstnebel und Obertöne durch die weißen Räume; die Darsteller standen, hockten, lagen oder gingen, einzelne Töne singend, umher. Während sich die Klänge vereinten und mal traumhaft-melancholische, mal schrille Mehrstimmigkeit produzierten, stromerte ein Dutzend gut erzogener Hunde neugierig schnuppernd zwischen Besuchern und Performern umher – eine Einladung, Augen und Ohren zu öffnen und den Kopf ganz frei zu machen von Erwartungen.

Raum-Klang-Skulptur "Exuviae" von Yoshi Shibahara. Foto: Katrin Pinetzki

Raum-Klang-Skulptur „Exuviae“ von Yoshi Shibahara.
Foto: Katrin Pinetzki

Auch die einzige Produktion mit festen Beginn und festem Ende hatte keinen definierten Bühnen- und Zuschauerraum. Die Kölner Choreografinnen „SEE!“ setzten in „Ok, Panik“ einen wie gewohnt kapitalismuskritischen Text des Musikers und Autors PeterLicht in Szene. Während ein Musiker versuchte, den Klang des kapitalistischen Grundrauschens festzuhalten (brummend, bassig, rhythmisch, penetrant präsent), tanzten zwei Darsteller durchs Publikum, zunächst wie von unsichtbaren Fäden gezogen, später zunehmend selbstbewusst mit der Erkenntnis: Auch die Krise ist ein Produkt! Sie ist käuflich!

Die neue Generation der Festivalleitung hat zumindest am Eröffnungsabend ein neues, junges Festivalpublikum angezogen. Krise? Kaum.

Bis 1. November in Dortmund, Infos und Programm hier




Metropolensound: Triennale zeigt „Surrogate Cities“ als Choreographie für das Ruhrgebiet

Grundschüler aus dem Ruhrgebiet tanzen zur Musik von Heiner Goebbels (Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale)

Grundschüler aus dem Ruhrgebiet tanzen zur Musik von Heiner Goebbels (Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale)

Mal begegnet sie uns als belebende Metropole, mal als verschlingender Moloch. Die Stadt moderner Prägung ist Ballungsraum und Schmelztiegel, Brennpunkt und Sehnsuchtsort, der Menschen gleichermaßen vereint wie vereinzelt. Ungezählte Fotografen, Maler, Autoren und Dichter ließen sich von ihr inspirieren. Aber lässt sich urbanes Leben auch in Töne fassen?

Vor nunmehr zwanzig Jahren unternahm der Komponist Heiner Goebbels einen Versuch. Die Alte Oper Frankfurt hatte ihn beauftragt, ein Stück zur Feier des 700-jährigen Bestehens der Mainmetropole zu schreiben. So entstand sein Orchesterzyklus „Surrogate Cities“, der seit seiner Uraufführung am 31. August 1994 internationale Erfolge feiern konnte. Die Ruhrtriennale zeigt das Werk jetzt in einer erfrischend neuen Version der französischen Choreographin Mathilde Monnier.

Die Besetzung wird kundigen Konzertbesuchern bekannt vorkommen: Führten die Bochumer Symphoniker unter dem Dirigat von Steven Sloane das Werk doch bereits 1999 in der Bochumer Jahrhunderthalle auf. Damals wie heute waren der Stimmkünstler David Moss und die New Yorker Soul- und Jazz-Sängerin Jocelyn B. Smith als Solisten zu erleben. Deshalb von einem choreographierten Wiederaufguss zu sprechen, wäre gleichwohl falsch, ja nachgerade unfair.

Mathilde Monnier ist es mit bemerkenswert geschickter Hand gelungen, 130 höchst unterschiedliche Amateure aus der Ruhr-Region in die Produktion einzubinden. Grundschulkinder, Kampfsportler, jugendliche Hip-Hopper und ältere Menschen aus einer Gesellschaftstanzgruppe bewegen sich um ein Rund, in dem das elektronisch verstärkte Orchester musiziert. Von Lautsprechern und Bildschirmen umgeben, wirken die Musiker im monumentalen, rund 160 Meter langen Raum der Kraftzentrale als kraft- und taktgebender Nucleus. Das Publikum darf auf zwei Tribünen Platz nehmen, die an den schmalen Seiten der Halle aufgebaut sind.

Monniers einfühlsame Kunst besteht darin, Massenbewegung und Gruppendynamik zu inszenieren, ohne den Einzelnen in ein uniformes Glied zu zwingen. Individuelle Stärken und Schwächen werden sichtbar: Aber Monnier stellt niemanden zur Schau. Unperfektes, das anfangs „nur“ charmant erscheinen mag, entwickelt sie zu immer größerer Stärke, ja zur conditio humana. Nie verliert die Französin dabei die Verbindung zu Goebbels kraftvoller Musik, die sich mit Einflüssen aller Art vollgesogen hat, ohne darüber ihre Eigenständigkeit zu verlieren. Im Dialog mit einem elektronischen Sampler entsteht ein Sound, der weniger als Surrogat denn als globale Essenz der Stadt verstanden werden kann.

Heiner Goebbels beschließt in diesen Tagen seine dreijährige Intendanz (Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale)

Heiner Goebbels beschließt in diesen Tagen seine dreijährige Intendanz (Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale)

Mit unerbittlicher Präzision betreiben die Bochumer Symphoniker unter Steven Sloane eine musikalische Kernschmelze. Wie unter Druck verflüssigt, fließt Neues und Bekanntes ineinander. Soul, Jazz und Funk mischen sich mit klassischer Moderne. Wild vorwärts treibende Rhythmik mündet in das poetische Fragment einer Scarlatti-Sonate. Was wie eine bloße Collage oder eine krude Mixtur klingen könnte, schmiedet Heiner Goebbels zu einem neuartigen Sound, der keine Grenzen mehr kennt. Texte von Paul Auster und Hugo Hamilton sowie drei Horatier-Songs von Heiner Müller erzählen von Kampf und Freiheit, von Einsamkeit und Lebenshunger. Stimmakrobat David Moss und die durchschlagskräftige Soul-Röhre von Jocelyn B. Smith erfüllen diese Fragmente mit Leben.

Die New Yorker Soul- und Jazz-Sängerin Jocelyn B. Smith singt "Drei Horatier-Songs" nach Texten von Heiner Müller (Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale)

Die New Yorker Soul- und Jazz-Sängerin Jocelyn B. Smith singt „Drei Horatier-Songs“ nach Texten von Heiner Müller (Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale)

Goebbels Musik erhält durch die Choreographie von Mathilde Monnier eine hervorragende Unterstützung. Zwar leistet sie weit mehr als eine bloße Visualisierung der Musik, folgt ihrem Duktus aber doch mit einer Hingabe, die das Verständnis der Partitur und ihrer Strukturen erleichtert. Die Vorstellung endet unter Stürmen der Begeisterung. Sogar ein Hauch von Volksfest-Stimmung kommt auf, wenn Jung und Alt schließlich heimwärts streben. Mit „Surrogate Cities Ruhr“ verleiht Heiner Goebbels seiner dreijährigen Triennale-Intendanz einen bemerkenswert vitalen, unbedingt sehens- und hörenswerten Schlusspunkt.

Weitere Aufführungstermine: 26. und 27. September 2014. Informationen: http://www.ruhrtriennale.de/de/programm/produktionen/heiner-goebbels-mathilde-monnier-surrogate-cities-ruhr/

(Der Text ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Weltenlauf und Transzendenz – ein Konzert der Triennale in memoriam Gerard Mortier

Voller Einsatz: Bariton Dietrich Henschel, das hr Sinfonieorchester und Dirigent Sylvain Cambreling. Foto: Michael Kneffel

Voller Einsatz: Bariton Dietrich Henschel, das hr- Sinfonieorchester und Dirigent Sylvain Cambreling. Foto: Michael Kneffel

Gerard Mortier ist im März dieses Jahres gestorben. Er war der Gründungsintendant der Ruhrtriennale und hat dort in den Jahren 2002 bis 2004 die „Kreationen“ als neue theatralische, spartenübergreifende Ausdrucksform gewissermaßen erfunden. Manches von dem, was unter der Leitung Heiner Goebbels’ heuer zu sehen ist, darf getrost als Weiterentwicklung dieser Anfänge gewertet werden.

Darüberhinaus war Mortier auch ein Verfechter dessen, was gemeinhin als Neue Musik bezeichnet wird. Für sein erstes Jahr hatte der Intendant entsprechend das SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg verpflichtet, unter Leitung von Sylvain Cambreling – allesamt höchst versiert in der Interpretation von Werken des 20. Jahrhundert. Auf dem Programm stand damals Olivier Messiaens monumentales, 11teiliges Stück Éclairs sur l’Au-delà (Streiflichter über das Jenseits).

Nun hat das hr-Sinfonieorchester, ebenfalls unter Cambrelings Leitung, ein Konzert in Bochums Jahrhunderthalle gegeben, das die Triennale ihrem Gründungsintendanten Mortier gewidmet hat. Auch hier erklingt Messiaen, diesmal das fünfteilige „Et exspecto resurrectionem mortuorum“ (Und ich erwarte die Auferstehung der Toten) für Holz-, Blechbläser und metallisches Schlagwerk. Insofern schließt sich hier ein Kreis. Doch neben Messiaen haben die Interpreten jeweils ein Werk von Luc Ferrari sowie Bernd Alois Zimmermann gesetzt.

Die Auswahl ist kein Zufall, erschließt sich vielmehr aus einem Wort Mortiers, das dem Programm vorangestellt ist. Auferstehung, so heißt es, bedeute für ihn sein Fortwirken in dem, was er realisiert habe. „Paradiese interessieren mich nicht.“ Dazu erweist sich das Werk des gläubigen katholischen Komponisten Messiaen als spannender Kontrapunkt. „Et Exspecto…“ ist eine machtvolle Musik nach dem Prinzip „Durch Nacht zum Licht“, deren gewaltige Klangspreizungen letzthin in erhabenem Leuchten allem Irdischen entfliehen.

Der französische Komponist Luc Ferrari. Foto: Olivier Garros

Der französische Komponist Luc Ferrari. Foto: Olivier Garros

Im Kontrast dazu befasst sich Luc Ferraris ebenfalls gewaltiges, in seinen Strukturen aber weit diffuseres Orchesterstück „Histoire du plaisir et de la désolation“ mit Leidenschaften und der Trostlosigkeit, verwurzelt allein im Weltlichen. Messiaens Transzendenz ist davon ziemlich weit entfernt.

Schließlich Bernd Alois Zimmermanns „Ich wandte mich um und sah alles Unrecht, das geschah unter der Sonne“. Hier regiert, in Anlehnung an das Wort Salomons, die blanke Verzweiflung über die schlechte Welt, imposant herausgerufen von den beiden Sprechern André Jung und Thomas Thieme, noch weit verstörender melismatisch gesungen vom fabelhaften Bariton Dietrich Henschel. Zimmermann hat hier ebenfalls für großes Orchester komponiert, doch ist die Werkfaktur weitgehend transparent, in seinen kommentierenden Klangblöcken aber ungeheuer ausdrucksstark.

Wenn dies alles nun in größtmöglicher Deutlichkeit und Emphase an unser Ohr gelangt, wenn die repetitiven Klangfiguren Messiaens, das Hymnische und Exotische dieser Musik, in purer Schönheit aufleuchten, wenn uns andererseits die düsteren Szenen bei Ferrari und Zimmermann nahegehen, wenn zudem das teils hektische Flirren und Klirren der Instrumente außerordentlich spannend wirkt, dann ist das dem wunderbaren Orchester und seinem wendigem Dirigenten zu verdanken. Sylvain Cambrelings eckige Körperbewegungen geben sich den rhythmischen Finessen der Partituren hin, die Einsätze kommen punktgenau, und niemals will sich hier jemand zur Schau stellen. – Es gibt unglaublich viel Applaus.