Eine Betrachtung des Neuen: Heiner Goebbels‘ 2. Ruhrtriennale-Programm

Heiner Goebbels, Intendant der Ruhrtriennale. Foto:

Heiner Goebbels, Intendant der Ruhrtriennale, setzt erneut aufs Experiment. Foto: Wonge Bergmann

Teufel: Da hat doch die Kinderjury der Triennale im vergangenen Jahr ihren Preis „Die größte Qual für die Ohren“ ausgerechnet der Lieblingsband des Intendanten Heiner Goebbels zugedacht. Und dann musste er sich von Teilen des Publikums anhören, ein Theaterabend ohne Pause sei arg gewöhnungsbedürftig. So kann es gehen, wenn der Rezipient aus den eigenen (Hör)-Ritualen heraus einem kunstsinnigen Macher begegnet, der das Experiment liebt, das Neue, eben Unerhörte. Das Triennale-Programm dieses Jahres spricht darüber, wieder einmal, Bände.

Goebbels verfasst im Editorial ein Plädoyer für die herrliche Unbefangenheit der Kinderjury, sieht die Vorstellungspause als Störung eines komplexen Wahrnehmungsprozesses. Umgekehrt heißt dies wohl, dass sich der Intendant ein ebenso offenes, dazu höchst neugieriges, intellektuelles Publikum wünscht – für all die Produktionen, die wir hier ganz unbefangen als Theater 2.0, Antitheater oder Metatheater bezeichnen wollen.

Harry Partch: Delusion of the Fury, Probenszene - wie aus dem Futuristenlabor. Foto:

Harry Partch: Delusion of the Fury, Probenszene. Foto: Klaus Grünberg

Den Beginn markiert in dieser Saison das Musiktheater des Amerikaners Harry Partch, ein Stück zwischen Traum und Wahn namens „Delusion oft he Fury“. Mit vom Komponisten eigens gebauten Instrumenten und von ihm aufgezeichneten Tonsystemen. Das Bühnenmodell, das im Programmbuch zu sehen ist, wirkt wie aus dem Baukasten eines Futuristen. Das Original gibt’s dann in Bochums Jahrhunderthalle zu bestaunen.

Das Theater 2.0 wiederum findet sich im Tanzgeschehen der Brasilianischen „Grupo de Rua“: Wie zu lesen ist, leitet sich „CRACKz“ aus choreographischem Material ab, das im Internet zu finden ist: „download, remix, share – speichern, neu zusammenfügen, teilen“ ist das Prinzip, zu erleben auf Zollverein in Essen.

Nichts weniger als den Theaterbetrieb ad absurdum führen will „Forced Entertainment“: Altvertraute Figuren und Textfragmente stehen einem Science-Fiction-Sujet gegenüber. Eine Mixtur, „Das letzte Abenteuer“ genannt (Maschinenhalle Zweckel, Gladbeck). Ähnlich geheimnisvoll, märchenhaft und abenteuerlich geht es in Helmut Lachenmanns Oper „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ zu. Abgesehen davon, dass der Komponist hier die annähernd völlige Dominanz des musikalischen Geräuschs zelebriert, wird Hans-Christian Andersens bekanntes Märchen durch weitere Texte verfremdet. Das Ergebnis kann, wie jüngst in Berlin gesehen, ein unglaubliches Erlebnis werden. Zur Triennale darf nun Robert Wilson seinen Zugang zum wuchtigen Stück, in der Jahrhunderthalle, offerieren.

Beinahe spukig soll es zudem ausschauen in „Stifters Dinge“, einer von Goebbels selbst verantworteten Performance im Duisburger Landschaftspark. Fünf Klaviere erklingen, ohne Hilfe eines Pianisten, es gibt keine Akteure, nur Töne und Bilder. Ein Theater über das Theater: Im Zentrum stehen Bühnenbestandteile (Vorhang), Mittel für szenische Tricks wie Eis oder Nebel.

Die einzige Konstante bei all diesem avantgardistischen Vorpreschen ist das Publikum. Es darf  rätseln, entschlüsseln, sich wundern oder ärgern, debattieren, vielleicht sogar still genießen. Es darf im übrigen auch mitmachen: In William Forsythes großflächigem Labyrinth, einem Raum mit 400 Pendeln, die sich in variablen Tempi bewegen, sollen geneigte Betrachter lustvoll umherschweifen. Oder eher schlangengleich: Denn eine Berührung des Instrumentariums im Essener Museum Folkwang sei zu vermeiden, heißt es im Programm. Ja, wo die Kunst ihre Ordnung hat, ist im Zweifel der Mensch für das Chaos verantwortlich.

„Habt Mut !“ wollen wir den Besucherscharen zurufen. Denn schon manche Theaterrevolution hat sich im Nachhinein als Spiel auf der Bühne vor Publikum entpuppt. Wie in hunderten von Jahren zuvor. Auch Heiner Goebbels und seine Mitstreiter werden das Rad nicht neu erfinden können. Vielleicht sieht’s nur ein bisschen peppiger aus.

Im Internet (www.ruhrtriennale.de) stehen alle weiteren Informationen, im übrigen auch über sämtliche Produktionen der vorherigen Festival-Jahrgänge. Der Vergleich lohnt sich.




Wagnisse erwünscht – das Programm der Ruhrfestspiele 2013

Programmheft RuhrfestspieleAufbruch und Utopie – unter diesem Motto stehen in diesem Jahr die Ruhrfestspiele. Nach ergiebigem Studium des Programmheftes stellt sich allerdings schon die Frage, ob das Motto nicht ein wenig zu gewagt und da eher der Wunsch der Vater des Mottogedankens ist.

Wenig spektakulär, kaum wagemutig mutet das Programm an. Schon quantitativ ist es weniger umfangreich als in den letzten Jahren. Ein Zeichen, dass auch das Programmheft kleiner ist als sonst? Ein Zeichen, dass man in der sonst so umlagerten Kartenstelle sogar in der ersten Woche des Vorverkaufs ohne Wartezeit sofort drankommt? Ich hoffe nicht. Denn eigentlich ist es ja Konsens, dass die Ruhrfestspiele den Machern und dem Publikum gleichermaßen am Herzen liegen.

Geben wir also jener Epoche eine Chance, die gerne die Geburt der Moderne genannt wird. Denn aus dieser Zeit, beginnend mit dem wilhelminischen Zeitalter bis hin zur Machtergreifung der Nationalsozialisten, sind die Werke, die 2013 zur Aufführung auf dem Hügel und umliegender Spielstätten gelangen. Kafka, Hauptmann, Schnitzler, Wedekind, Fallada – um nur wenige zu nennen, deren Werke das gewünschte Spannungsfeld zwischen Realität und Utopie zeigen sollen.

Hedda Gabler wird die Ruhrfestspiele eröffnen, eine Premiere in Ko-Produktion mit dem Deutschen Theater, Berlin. Auch im weiteren Verlauf setzt man auf bewährte Ko-Produktionen, so mit dem Théâtre National du Luxembourg. Das St.Pauli Theater Hamburg, welches in den letzten Jahren vielleicht nicht immer für Highlights, aber zuverlässig für Kontroversen sorgte, ist diesmal leider nur mit einer, eher brav anmutenden Ko-Produktion dabei.

Internationale Stars glänzen eher durch Abwesenheit, auf dem Hügel bereits bekannte Akteure wie Angela Winkler oder Christian Brückner geben sich aber wieder die Ehre. Auch auf einige Stars der Theaterszene, wie die wunderbare Birgit Minichmayr, für die der schöne Festspielort auf dem Recklinghäuser Hügel Neuland ist, darf man sich freuen. Mit der Halle des alten Bergwerks König Ludwig wird zudem ein neuer, traditionsträchtiger Spielort präsentiert.

Ein umjubeltes Highlight war im letzten Jahr das Ballett Onegin in der Choreographie von Boris Eifman. Eifman und seine St.Petersburger werden auch dieses Jahr wieder da sein, diesmal mit Red Giselle, eine der wenigen Produktionen, für die es bereits jetzt nur noch wenige Karten gibt. Ein besonderes Event erwartet man sich dieses Jahr vom Abschlusskonzert. Keine Geringeren als die Fantastischen Vier dürfen den Hügel rocken und wohl wie ihre Vorgänger von der einzigartigen Location begeistert sein.

Allerdings wird gerade beim Abschlusskonzert mit einer langjährigen Tradition gebrochen. Bonuskarten waren einmal. In diesem Jahr gibt es gerade mal 5 Euro Nachlass für die ersten 1500 Ticketkäufer, die mehr als 6 Karten für die Ruhrfestspiele erwerben. Bei 40 Euro pro Karte für das Abschlusskonzert ein mehr als mageres Goodie. Keine Frage, 40 Euro ist ein fairer Preis für Konzerte dieser Art, den Fanta4 sicher auch angemessen. Das soll hier auch gar nicht bezweifelt werden. Dennoch – die Ruhrfestspiele sollten immer auch ein Festival auch für die sogenannten kleinen Leute sein und ihnen den Zugang zu solchen Veranstaltungen ermöglichen. Zudem bleibt zu bedenken, dass man auf dem Open-Air-Hügel nicht überall wirklich gut sehen kann, zudem hat dort um 22:00 Uhr Schluss zu sein.

Bleibt die Frage, ob diese neue Praxis den Fanta4 geschuldet oder ob es einfach nur folgerichtig für eine Stadt ist, die gerade erst die Grundbesitzabgaben und die Gewerbesteuern deutlich erhöhte, dafür sogar extra in einem Brief um Verständnis warb und es sich nun wohl kaum mehr leisten kann, Karten zu verschenken.

Ausführliche Infos zu den Veranstaltungen finden sich auf der Internetseite der Ruhrfestspiele Recklinghausen.




25 Jahre Klavier-Festival Ruhr: „Man muss die Dinge zu Ende denken“

Alle wollen bei der Geburtstagsparty dabei sein: Das Medieninteresse war groß bei der Programmvorstellung des diesjährigen Klavier-Festivals Ruhr, das in diesem Sommer seinen 25 Geburtstag feiert. Vom 4. Mai bis 19. Juli ist die internationale Pianisten-Elite wieder im Ruhrgebiet und angrenzenden Landesteilen zu Gast.

„Let’s go to the opera“ heißt das Motto des Jubiläumsprogramms, das damit den 200. Geburtstagen von Richard Wagner und Giuseppe Verdi Reverenz erweist. So wird der Einfluss beider Opernkomponisten auf die Welt der Klaviertranskriptionen und -paraphrasen im 19. und 20. Jahrhundert spürbar. Sein Silberjubiläum feiert das Festival u.a. mit Wiedereinladungen an große Pianisten unserer Zeit, darunter Martha Argerich, Evgeny Kissin, Maria Joao Pires, Murray Perahia, Krystian Zimerman und Marc-André Hamelin, der in diesem Jahr mit dem Preis des Klavier-Festivals Ruhr geehrt wird. Auch die Geiger Gidon Kremer und Frank Peter Zimmermann kehren mit ihren Klavierpartnern zum Festival zurück.

Eröffnet wird die Jubiläumsausgabe des Festivals am 4. Mai um 20 Uhr mit Tschaikowskys 1. Klavierkonzert b-Moll in der Bochumer Jahrhunderthalle, gespielt von dem 1987 im russischen Gorki geborenen Pianisten Igor Levit. Begleitet wird Levit vom WDR Sinfonieorchester Köln unter der Leitung von Krzysztof Urbánski, das im Anschluss „Bilder einer Ausstellung“ von Mussorgsky interpretiert. Unter www.klavierfestival.de findet sich das umfangreiche Gesamtprogramm des knapp dreimonatigen Klaviersommers.

„Man muss die Dinge zu Ende denken“, zitiert Festivalleiter Franz Xaver Ohnesorg einen der damaligen Gründungsväter vom Initiativkreise Ruhrgebiet, Alfred Herrhausen. 1988 lernte der Intendant den Wirtschaftsführer auf dem Geburtstag eines gemeinsamen Freundes kennen, erzählt Ohnesorg bei der Pressekonferenz. Nun, im 25. Jahr des anfangs unter dem Titel „Bochumer Klaviersommer“ gestarteten Pianistentreffens hat Traudl Herrhausen die Schirmherrschaft übernommen. Seit zwei Jahren wird das Klavierfestival als eigene Stiftung geführt.

Das AufTakt-Projekt, Foto: Frank Mohn

Das AufTakt-Projekt, Foto: Frank Mohn

„Den Gründungsvätern aus der Wirtschaft kam es darauf an, einen kulturellen Akzent im Ruhrgebiet zu setzen“, so Traudl Herrhausen. Das hat das Festival schon lange geschafft. Inzwischen gilt es, neben dem Konzertpublikum auch den Nachwuchs nachhaltig für Musik zu begeistern. Was 2006 mit der „Little Piano School“ für 2-6jährige Kinder begonnen hat, hat sich unter dem Stichwort „Education Programme“ als fester Bestandteil auf dem Gebiet der kulturellen Bildung etabliert.

Damit Kinder unabhängig von ihrer sozialen Herkunft kreative musikalische Erfahrungen sammeln können, bringen die „Discovery Projects“ Förderschüler, Grundschüler und Gymnasiasten in Duisburg Marxloh zusammen. In diesem Jahr geht es um das Thema „Hochzeit“, passend dazu stehen „Les Noces“ von Igor Strawinsky im Mittelpunkt der Workshop-Arbeit. Mehr als 50 türkische Brautmodengeschäfte reihen sich auf der Weseler Straße in Duisburg Marxloh aneinander. „Viele Kinder sind regelmäßig zu Familienhochzeiten eingeladen“, berichtet der Leiter der Education-Programme, Tobias Bleek. „So können Hochzeitsrituale der unterschiedlichen Herkunftskulturen in die Choreographie einfließen.“

Der bildungsbiographisch entscheidende Übergang zwischen Kindergarten und Grundschule steht im Zentrum eines Pilotprojekts, das das Klavierfestival Ruhr in Zusammenarbeit mit der Stiftung Mercator entwickelt. Im „KlavierGarten“ des Klavierfestivals erleben Kindergartenkinder oft ihre erste musische Bildung. Um dieses Potential auch in der Grundschule weiter zu entwickeln, vernetzt das Projekt Kindertagesstätten und Grundschulen. Eine mit klassischer Musik illustrierte Version von „Wo die wilden Kerle wohnen“ bildet den Bezugspunkt; Profi-Musiker und Festival-Pianisten verwandeln den bekannten Stoff in klingende Geschichten. Weitere Informationen: www.klavierfestival.de/education




„Kalendarium des Todes“ – ein mörderisches Jahr am Hellweg

CoverDownload von Grafit.deFeiertage mögen so manchem ohnehin bedrohlich vorkommen. Nach der Lektüre des Buches „Kalendarium des Todes“ wird es den oder anderen wohl noch mehr grausen. Die sechste Krimi-Anthologie der „Mord am Hellweg“-Reihe führt durch ein mordsmässig bewegtes Jahr.

Im Laufe des kriminalistischen Jahres lernt man so einiges. „Auftragskiller wird man nun mal nicht aus der Lameng“ – damit wäre das auch geklärt. Der freundliche Auftragskiller in Edda Mincks stumpfem Trauma in Bergkamen überlegt, ob er da mal nicht ein Buch drüber schreiben solle. “Könnten sie ja auf diesem Krimi-Festival am Hellweg vorlesen……..“ Gute Idee, die nehmen solche Geschichten immer gerne.

„Mord am Hellweg“ ist zum Markenzeichen geworden, ganz klar – die Reihe und das Festival reüssieren. Die feine Gesellschaft, welche sich für die Kurzgeschichten zusammengefunden hat, beweist dies eindrücklich. Neben versierten Krimi-Autoren sind es diesmal auch einige eher genre-fremde Autoren, die sich freudig in die Mordsarbeit stürzten. So nahm der Hellweg-Veteran Ralf Kramp die Mutter Beimer aus der Lindenstrasse, Marie Luise Marjan unter seine Fittiche, um mit ihr die Abgründe des Muttertags zu erkunden, und Nina George ließ gemeinsam mit Deutschlands bekanntestem Gefängnisarzt Joe Bausch (der Pathologe aus dem Kölner Tatort) den Glöckner von Bönen seinen letzten Tag der Arbeit erleben.

Die Kurz-Krimis sind wie immer einzig, aber ganz und gar nicht artig. Manche Storys sind schon arg schräg, andere machen durchaus nachdenklich, manche sind auch richtig spannend und laden zum Rätseln ein. Was sie eint, ist ein niedriger Blut- und Horror-Faktor sowie ein witziger Unterton, oft versehen mit kleinen Seitenhieben in die Hellweg-Region. Wie ein weiterer roter Faden zieht sich eine Art Stellvertreter-Gerechtigkeit durch die Anthologie. Die Opfer sind durch die Bank weg alle nicht sympathisch, man ertappt sich bei dem Gedanken, dass endlich mal wieder „en fiese Möpp“ seiner wohlverdienten Gerechtigkeit zugeführt wurde und ist oft genug dem Täter nachgerade dankbar, dass er für Recht und Ordnung gesorgt hat. Was das über unser Verhältnis zur Obrigkeit aussagt – es darf spekuliert werden.

Ganz nebenbei gibt es noch einige nette Ausflugstipps für Ruhr und Lippe. Fest eingeplant für den nächsten Sommer ist schon die Besteigung der Gelsenkirchener Himmelshalde. Auch die so idyllisch beschriebene Marina in Rünthe scheint es wert zu sein, mal genauer unter die nicht nur kriminalistische Lupe genommen zu werden. Gelsenkirchen, seine Schlösser, Pommesbuden und Himmelshalden sind der Schauplatz der finalen Silvester-Geschichte, in der die bayerische Krimi-Autorin Rita Falk ihren kultigen Dorfpolizisten Eberhofer die Erfahrung machen lässt, dass der Freistaat und das Ruhrgebiet so weit gar nicht voneinander weg sind. In diesem Sinne Glückauf und ois guade für Mord am Hellweg VII.

„Kalendarium des Todes. Mord am Hellweg VI“, 22 Kurzkrimis, herausgegeben von H.P. Karr, Herbert Knorr & Sigrun Krauß. Grafit Verlag, Dortmund. 341 Seiten, €11,00




Festival „Now!“: Neues von Hauschka auf Zollverein

Hauschka. Foto: Zollverein

Hauschka. Foto: Zollverein

Was ist das für ein Stil? Der „Spiegel“ hat sich Gedanken gemacht, als das Album „Silfra“ erschien, auf dem Hauschka gemeinsam mit der amerikanischen Geigerin Hilary Hahn improvisierte. Neo-Klassik? Post-Klassik? Oder spielt der Düsseldorfer Pianist, der durch sein „präpariertes Klavier“ bekannt wurde, so etwas wie Indie-Rock oder Post-Rock? Für Volker Bertelmann – so heißt Hauschka „bürgerlich“ – sind solche Zuordnungen egal: Er bezeichnet seine Musik als „zeitgenössisch“ und lässt es damit gut sein. Wer die Probe aufs Exempel machen will: Am Donnerstag, 15. November, ist Hauschka auf Zollverein zu Gast: Schacht XII, Halle 12, 20 Uhr.

Auf der Suche nach „seiner“ Musik hat Hauschka seine zehnjährige Klavierausbildung wiederentdeckt. Dass ein Klavier mehr können müsste als durch gepflegten Anschlag und Pedalgebrauch herauszulocken sei, forderte den Musiker heraus, als er Anfang des Jahrtausends über neue Wege nachdachte. Rock, Hip Hop, Singen in Bands: Das hatte er hinter sich, als er 2005 „The Prepared Piano“ aufnahm. Sein Klavier peppte er dafür auf, mit Leder, Filz oder Gummi zwischen den Saiten, mit folienumwickelnden Hämmerchen oder Klammern.

Das Ergebnis waren neue, wundersame Klänge, mal geräuschhaft, mal sphärisch wie von Elektronik verfremdet. Hauschka wurde in der Indie-Szene wahrgenommen als jemand, der das Experiment mit dem Klang aus einem fundierten musikalischen Hintergrund speist. „2004, als ich mit ‚Substantial‘ meine erste Platte herausbrachte, war ich mit Max Richter und zwei, drei anderen einer der wenigen in der Indie-Szene mit einem ernsthaften Musikanspruch.“ Hauschka hatte Erfolg: Acht Alben seit 2004, Filmmusiken und das Impro-Album „Silfra“ mit Hilary Hahn (2012) zeugen davon.

Wie kommt Hauschka in ein Programm wie das des Festivals „Now!“? Wo ist er verortet zwischen Luigi Nono, Helmut Lachenmann, György Ligeti, György Kurtág oder Bernd Alois Zimmermann? Hauschka bezieht sich nicht auf klassische Musik: „Die Berührung beschränkt sich auf das Instrument und vielleicht auf ein paar Zitate. Es gibt Szenarien von Klängen, die vielleicht mit Schostakowitsch in Verbindung gebracht werden können.“ Konzept oder Programm ist das nicht, auch wenn ihn manche mit Erik Saties Klang-Experimenten oder mit der amerikanischen Minimal Music in Berührung bringen. Mit Hilary Hahn, die sich sonst von Bach bis Barber bewegt, war er sich einig: „Wir wollten kein Album machen, das in der Klassik verortet ist.“

Hauschka fühlt sich wohl im Umfeld der zeitgenössischen Musik, wie sie das Festival „Now!“ vorstellt. Er sieht in den letzten Jahren einen Wandel: Die „klassische“ Szene sei viel weniger starr als noch vor einigen Jahren; die Suche nach einer neuen Identität lasse frühere Grenzen verschwimmen. Auch seine Zuhörer sieht er auf diesem Weg: „Mein Publikum ist auf der Suche nach Musik über Pop und Klassik hinaus. Es sucht ein neues Erlebnis und hat das Gefühl: Was ich hier mache, ist zeitgemäß.“

Dass er sich der Tonalität verpflichtet fühlt, könnte Vielen eine Brücke zum Neuen sein: „Ich glaube, das eröffnet einem größeren Kreis die Möglichkeit, sich mit neuer Musik zu beschäftigen.“ Bei seinem Festival „Approximation“, das er seit 2005 in Düsseldorf veranstaltet, beobachtet er, wie sich ein neues Publikum entwickelt: Klassik, experimentelle Elektronik und Independent Music überlagern sich und erschließen sich gegenseitig. „Das empfinden die Konzertbesucher als zeitgemäß.“

Hauschka sieht darin auch einen Teil seiner Erfolgsgeheimnisses: „Klassische neue Musik mit Anspruch bringt sich oft selbst in eine Ecke, aus der es schwer ist, sich locker zu präsentieren.“ Von Zuschreibungen unbelastet, fällt ihm das leichter. Hauschka ist froh, nicht mit Größen wie etwa John Cage verglichen zu werden. „Hätte ich damals, als ich anfing, Cage gekannt, hätte ich mich wohl nicht an das präparierte Klavier gesetzt.“

Beim Blick in die Zukunft geht der Trend für den Klavierkünstler in Richtung Komposition, weniger in Richtung neuer Experimente. „Ich habe das Gefühl, meinen bisherigen Klangkosmos auszutarieren.“ Weiterführende Entwicklungen hat es ja schon seit 2010 gegeben: In jenem Jahr erschien das Album „Foreign Landscapes“, auf dem das präparierte Klavier seine bisherige Solo-Funktion verliert. Hauschka schrieb erstmals Musik für ein zwölfköpfiges klassisches Ensemble vollständig auf. 2011 auf „Salon des Amateurs“ – mit vielen Bezügen zu moderner Tanzmusik – übernimmt das Klavier die Rolle eines Rhythmusinstruments. „Musik definiert in ein Notenbild zu bringen, war für mich ein spannender Versuch. Ich fragte mich, ob das die Magie der Musik wegnimmt.“ Hauschka schwebt vor, „dass sich Improvisation und Notation die Hand geben“.

Eine neue Erfahrung war für ihn auch, eine 18 Minuten lange Musik für ein klassisches Ensemble zur Inszenierung von „Puppen“ (Kevin Rittberger, Premiere Dezember 2011) für das Düsseldorfer Schauspielhaus zu schreiben. Am Frankfurter Schauspiel läuft weiterhin Kleists „Die Marquise von O.“ mit Hauschkas Musik, eine Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen, ebenfalls in der Regie Rittbergers. „Dieses Format reizt mich“, bekennt der Musiker, „und ich möchte gerne mal 45 Minuten Musik komponieren, ohne das Gefühl zu haben, nach zehn Minuten mit meinem Geschirr zu Ende zu sein.“

Jetzt hat Hauschka erst einmal eine neue Filmmusik abgeschlossen: „Schnee von gestern“ heißt der israelische Dokumentarfilm der Filmemacherin Yael Reuveny, für den er mit einem Streichquartett zusammengearbeitet hat. Mit Musikern aus Kenia hat er eine neue Platte aufgenommen, die 2013 erscheinen soll. Zwei Tourneen werden ihn in die USA führten, wo er unter anderem am Massachusetts Institut of Technology (MIT) zu einer Lecture eingeladen ist. Ein solches Workshop hat Hauschka vor kurzem erst an der Folkwang Hochschule der Künste gehalten. Außerdem liegen mehrere Angebote für Filmmusiken vor. Man wird also von Hauschka hören – nicht nur im Konzert auf Zollverein, wo er am präparierten Klavier improvisiert.

Festival „Now!“: zurücknachvorn: Hauschka – Solo am präparierten Klavier. Donnerstag, 15. November, 20 Uhr, Zeche Zollverein, Schacht XII, Halle 12. Tickets: (0201) 81 22 200, www.zollverein.de




Festival „Now!“ in Essen: Weg mit den Dogmen der „Neuen Musik“!

„Faschistoide Züge“ bescheinigt Günter Steinke dem „Serialismus“ der Nachkriegszeit. Dem Professor für Komposition an der Essener Folkwang Universität der Künste ist zuzustimmen: Was sich in den Fünfziger Jahren im Umkreis von Darmstadt und Donaueschingen entwickelt hatte, wirkte fast drei Jahrzehnte wie ein Dogma. Wer dem Fortschrittsbegriff und der strukturellen Denkweise dieser musikalischen Auffassung nicht folgte, wurde weggebissen. Damit ist Schluss. Und das Festival „Now!“, das zum zweiten Mal zeitgenössische Musik nach Essen bringt, will das in seinem Programm auch klingend belegen. In seinem – erstmals erscheinenden – Programmbuch zitiert es Peter Sloterdijk: „Was ästhetisch die Uhren geschlagen haben, sagen nicht mehr die avantgardistischen Geschichtsdoktrinen.“

Und so erklärt „Now!“ mit dem Motto „zurücknachvorn“, worum es bei der zweiten Ausgabe dieses Festivals für Neue Musik gehen soll: Um den Blick zurück, der neue Perspektiven eröffnet. Vom 26. Oktober bis 1. Dezember erklingen in zehn Konzerten in Essen Werke von 28 Komponisten, die sich ausdrücklich auf musikalische Traditionen beziehen. Mit von der Partie sind zum ersten Mal die Essener Philharmoniker – auf eigenen Wunsch. Die Liste der Gäste ist lang und luxuriös: Das Ensemble Modern kommt wieder, das Arditti Quartett, das WDR Sinfonieorchester Köln und Splash – Perkussion NRW, zuletzt in Orffs „Prometheus“ bei der Ruhrtriennale zu erleben. Im Großen Saal der Philharmonie sind Sängerinnen wie Angelika Luz oder Sarah Wegener zu hören. „Wir machen mit „Now!“ ein Projekt für die Region, aber wir wollen auch bundesweit wahrgenommen werden“, so Philharmonie-Intendant Johannes Bultmann.

Das Festival ist noch jung: Im letzten Jahr gegründet, stellte es am Beispiel von vier Komponisten die aktuellen Richtungen der amerikanischen klassischen Musik vor. In diesem Jahr verweist das Motto „zurücknachvorn“ auf das fruchtbare Spannungsfeld zwischen Alt und Neu. Das wird auch in der Theorie behandelt: Am Sonntag, 4. November, 15 Uhr, diskutieren im RWE-Pavillon der Philharmonie vier Komponisten über dieses Thema: Helmut Lachenmann, Georg Friedrich Haas, Brian Ferneyhough und Lars Petter Hagen – zwischen 1935 und 1975 geboren – vertreten eine Generation, die sich von den Vorgaben einer „Neuen“ Musik frei gemacht hat. „Ein Thema mit Zündstoff“, meint Steinke.

In den Konzerten sollen Struktur- und Klangvorstellungen heutiger Komponisten zu erleben sein. „Inwiefern ist es möglich, wieder an Melos zu denken, an Kontrapunkt oder Tonalität?“, umschreibt Steinke die neuen – aus dem Blick auf die Tradition gewonnenen – kompositorischen Möglichkeiten. Dabei geht es weder um einen Historismus, der Musik schüfe, die wie aus früheren Zeiten klänge. Auch nicht um ein rückwärts gerichtetes „Zitatewesen“. Sondern darum, wie eine junge Generation mit einem individuellen Blick auf Traditionen neue Musik hervorbringt.

Eröffnet wird „Now! – zurücknachvorn“ am Freitag, 26. Oktober, 19.30 Uhr, in der Philharmonie Essen: Das Ensemble Modern spielt Werke von Lars Petter Hagen, Anders Hillborg, Sven-Ingo Koch und Helmut Lachenmann, dessen Hauptwerk „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ (1997) im September an der Deutschen Oper Berlin – nach Hamburg, Stuttgart, Wien und Salzburg – seine fünfte Premiere erfuhr. Am Sonntag, 28. Oktober, 15 Uhr, spielt das Ensemble „Splash“ im Salzlager der Kokerei Zollverein. Die Namen der Komponisten reichen von dem Kölner Dietmar Bonnen (geboren 1958), einem wagemutig-witzigen Experimentator, bis zu einer Uraufführung der Chinesin Ying Wang, die u.a. in Köln bei York Höller, Michael Beil und Rebecca Saunders studiert hat.

Am 2. November gastiert das Ensemble musikFabrik in Essen. Foto: Klaus Rudolph

Am 2. November gastiert das Ensemble musikFabrik in Essen. Foto: Klaus Rudolph

Unter dem Titel „…wie stille brannte das Licht“ ist am 2. November, 19.30 Uhr, in der Philharmonie das Ensemble musikFabrik mit den Sängerinnen Sarah Wegener und Natalia Zagorinskaja zu hören; es erklingt Musik von Ligeti, Haas und György Kurtág. Am nächsten Tag um 19.30 Uhr spielen Michael Faust (Flöte) und das WDR Sinfonieorchester unter Brad Lubman Musik von Magnus Lindberg, Gérard Pesson, Salvatore Sciarrino und Jörg Widmann. Und am Sonntag, 4. November, 10.30 Uhr, bringt das Arditti Quartett prominente Streichquartett-Schöpfungen mit: „Fragmente – Stille. An Diotima“ von Luigi Nono, das Streichquartett Nr. 6 von Brian Ferneyhough und Helmut Lachenmanns Streichquartett Nr. 3 „Grido“.

Der nächste Konzertblock bringt am 9. November, 20 Uhr, in der Neuen Aula der Folkwang Universität der Künste in Werden ein „transmediales Konzert“ unter dem Titel „Fembot/Attractor“. Geleitet wird es vom Komponisten und Medienkünstler Dietrich Hahne. Zwei Uraufführungen multimedialer Werke stehen auf dem Programm: Magnus Lindbergs „Corrente II/Fembot“ und Ludger Brümmers „Dele/Attractor“, jeweils in einer VideoKontrafaktur Hahnes. Der Künstler hat 2011 das „NOW!“-Festival mit aus der Taufe gehoben, hat aber schon seit 2007 die Räumlichkeiten des Weltkulturerbes Zollverein mit diversen medialen Performances bespielt.

Am 10. November, 19.30 Uhr, geht es in der Philharmonie wieder etwas „konventioneller“ zu. Die Essener Philharmoniker eröffnen ihre Zusammenarbeit mit dem Festival mit einem Konzert unter Jonathan Stockhammer und Werken des 1976 geborenen Dänen Simon-Steen Andersen, Wolfgang Rihm („Verwandlung 2. Musik für Orchester“), der finnischen Komponistin Kaija Saariaho, Schülerin von Brian Ferneyhough und Klaus Huber, sowie der in London geborenen und in Berlin lebenden Rihm-Schülerin Rebecca Saunders.

Mit den klanglichen Möglichkeiten präparierter Klaviere hat der Musiker und Komponist Hauschka seit seiner CD „The prepaired piano“ (2005) Erfolg in einer Szene, die sich unvoreingenommen zwischen Rock, Hip-Hop und Klassik bewegt. Der in Düsseldorf lebende Musiker kommt am 15. November, 20 Uhr, in die Halle 12 auf Zeche Zollverein/Schacht XII. Die Folkwang Symphony krönt das Festival am 22. November, 19.30 Uhr, im Alfried Krupp Saal der Philharmonie. Johannes Kalitzke dirigiert, Angelika Luz singt. Ein neues Werk der koreanischen Kompositionsstudentin an der Folkwang Hochschule, Yagyeong Ryu, mit dem Titel „Fadenlicht“ wird flankiert von zwei „Klassikern“ der Moderne: Bernd Alois Zimmermanns Konzert für Violoncello und Orchester (Solist: Jan-Filip Tupa) und Luigi Nonos „Como una ola de fuerza y luz“.

Zu Ende ist „Now!“ dann noch nicht: Am 1. Dezember stellen um 16 Uhr Komponisten, Studierende der Folkwang Universität und Schülerinnen und Schüler die Ergebnisse einer „Expedition“ in die Bereiche neuer klassischer Musik vor: Im RWE-Pavillon wird hörbar, wie die Schülerinnen und Schüler auf der Basis des Orchesterwerks „Double up“ von Simon-Steen Andersen eigene Kompositionsversuche unternehmen. Ein Ergebnis eines mehrwöchigen Projekts und ein sehr konkreter Bezug auf das Motto des Festivals: Gehörtes und Erlebtes wird zur Basis für Neues!

Mit der Philharmonie agieren als Veranstalter die Folkwang Universität der Künste, der Landesmusikrat NRW und die Stiftung Zollverein. Gefördert wird das Projekt von der Kunststiftung NRW. Bultmann kündigte an, „Now!“ werde auch von seinem Nachfolger Hein Mulders weitergeführt. Langfristig solle das Festival als Marke etabliert werden, um Publikum und Fachleute über die Region hinaus anzulocken. Das Echo jedenfalls ist positiv: Von den 130 aufgelegten „Festival Cards“, die zum günstigen Preis von 28 Euro Zugang zu allen Konzerten gewährt, sind nur noch wenige übrig.

Info: www.philharmonie-essen.de; Karten: (0201) 81 22 200.




Ruhrtriennale: Die jungen Mädchen und der Traum von einer anderen Zeit

Anfangs gehen die 39 Mädchen wie in Zeitlupe quer über die Bühne. Ihr unentwegt gemurmeltes Mantra lautet „Alles wird gut“ („Everything’s going to be alright“). Sie schreiten in Trance. Woher und wohin?

Nur manchmal stößt die eine oder andere sacht an einen der verstreut stehenden Stühle. Doch plötzlich ein metallisches Kreischen! Die Stühle werden hart über den Bühnenboden geschoben, auch vernimmt man dabei schabende, knirschende, kratzende Geräusche. Es sind ungeahnte Stimmen, die da ertönen. Singende Stühle. Mythische Traumzeit in männerloser Welt.

Recht unscheinbar und verhalten hat der Abend begonnen, doch wenn man in den ersten Minuten gedacht haben sollte, hier wabere nur etwas im Ungefähren, so hat man sich gewiss geirrt. Diese Aufführung kann jederzeit in gläserne Poesie entschweben oder auch in schneidende Schärfe umschlagen. Sie kann naiv und durchtrieben sein. Schon kurz nach dem schlafwandlerischen Beginn setzen sich alle Mädchen in einer Phalanx auf die Stühle, den Zuschauern konfrontiert, für Minuten in Schweigen verharrend. Da baut sich eine Anspannung bis zur Alarmgrenze auf, die sich dann allerdings unversehens ins Federleichte löst.

Frontal zum Publikum: das Ensemble von "When the mountain changed its clothing" (Bild: Ruhrtriennale)

Frontal zum Publikum: das Ensemble von "When the mountain changed its clothing" (Bild: Ruhrtriennale)

Das Ruhrtriennale-Projekt „When the mountain changed its clothing“ (Als der Berg sein Kleid wechselte), vom Intendanten Heiner Goebbels mit dem famosen Vocal Theatre Carmina Slovenica in Szene gesetzt, ist wahrhaftig ein besonderes Ereignis aus Musik, Choreographie und literarischen Spiegelungen.

Glauben wir mal dem Programmheft und nehmen an, dass es hierbei vornehmlich um den Abschied von der (weiblichen) Kindheit geht. Tatsächlich werden ja Kuscheltiere rituell beigesetzt, wie im Kindergarten ziehen die Mädchen kollektiv Windjacken und Gummistiefel an und tollen herum. Altes wird abgelegt, Neues dämmert herauf. Unschuld und angemaßte Erfahrung halten einander die Waage. Einige Grundthemen des Seins werden fragend durchgespielt. Manche Passagen wirken, als könne alles, alles noch einmal ganz von vorn anfangen. Doch ach! Jegliche Zukunftshoffnung trägt das Weh doch wohl schon in sich. Und schon werden die Lügen des Lebens eingeübt.

(Foto: Wonge Bergmann für Ruhrtriennale)

(Foto: Wonge Bergmann für Ruhrtriennale)

Es ist streckenweise kaum zu fassen, welche Klangwelten diese zwischen 11 und 20 Jahre jungen Mädchen aus Maribor (unter der musikalischen Leitung von Karmina Šilec) herbeizaubern. Der streng präzise, unglaublich fugenlos gefügte, jedoch unangestrengt dargebotene Chorgesang umfasst staunenswert viele Register bis hin zur Obertontechnik; mal hört sich das an wie ein wundersamer Nachhall auf Gregorianik oder erinnert von fern her ans legendäre „Mystère des voix Bulgares“, das vor etlichen Jahren im Westen als Folkpop-Phänomen Furore machte. Mitunter steigert es sich bis zur rhythmischen Ekstase, so etwa beim indischen Traditional „Taka Din“. Sind diese Mädchen etwa auf Höchstleistung gedrillt worden – oder sind sie allesamt einfach phänomenal begabt? Jedenfalls können sie sich in einer nahezu kirchenähnlichen Akustik in der Bochumer Jahrhunderthalle angemessen entfalten.

Das musikalische Material (weit gespannt zwischen Schönberg, Brahms, slowenischer Folklore und Partisanenlied) ist ebenso vielfältig wie die Textbausteine. Der durch Klang und Bewegung geschaffene Kontext verwandelt die verwendeten Texte, macht sie gleichsam durchlässig, transparent: Wer hätte ohne weiteres gedacht, dass ein ungemein modern anmutendes, zyklisches Frage-Exerzitium über Jugend, Alter und Tod aus Jean-Jacques Rousseaus „Émile oder über die Erziehung“ stammt? Ein eigenwilliger Exkurs zum Geld wird dem Werk von Gertrude Stein entnommen, weitere Wortschwingungen kommen von Joseph von Eichendorff, Alain Robbe-Grillet („Wovon träumen die jungen Mädchen? – „Vom Messer und vom Blut.“), Adalbert Stifter oder Marlen Haushofer. Sie lösen auch im Spiel magische Momente aus: Ein Brot tragen. Mit einem Ball spielen. Wie innig das sein kann!

Alles besteht gleichwertig nebeneinander, entkoppelt und befreit vom herkömmlichen Sinn. Altgewohnte Zusammenhänge werden durch ebenso zwingende wie beiläufige Wiederholungs-Zyklen (geleitet und begleitet vom Kreislauf der Jahreszeiten, in deren Verlauf eben auch der titelgebende Berg sein Kleid wechselt) geführt, auf dass ein reiner Anfangszustand leuchten möge. Vielleicht sogar angstlos und frei.

Großer Beifall für große Kunst.

Weitere Aufführungen (mehrsprachig mit deutschen Übertiteln) nur noch am 28. Und 29. September, jeweils 19.30 Uhr, in der Jahrhunderthalle Bochum




Im dunklen Bauch der Sprache: Orffs „Prometheus“ bei der Ruhrtriennale

Selten ist man einer fremden Sprache so ausgesetzt wie an diesem Abend: Vielleicht kennen einige das Gefühl, wie schwierig es auf Reisen sein kann, sich in einem unbekannten Zeichensystem zurechtzufinden. Doch die Erfahrung, im dunklen Bauch einer ehemaligen Industriehalle zu sitzen und zwei Stunden mit der fremdartigen Melodie des Altgriechischen von Carl Orffs „Prometheus“ konfrontiert zu werden, ist relativ einzigartig. Die Ruhrtriennale ermöglicht den eigentümlichen Selbstversuch noch bis zum 27. September in der Kraftzentrale des Landschaftsparks Duisburg Nord.

Carl Orff/Lemi Ponifasio: Prometheus © Paul Leclaire

Carl Orff/Lemi Ponifasio: Prometheus © Paul Leclaire

Doch wie geht man nun damit um? Abwehr ist kein probates Mittel, denn wer ohne die Bedeutung der Worte zu verstehen nicht leben kann, der wird sich langweilen. Eher empfiehlt es sich, zumal vom Komponisten so intendiert, die Sprache als eine Art Musik, als rhythmisches Element auf sich wirken zu lassen. Denn tatsächlich entfaltet sie gerade im Zusammenspiel mit Orffs wuchtiger Musik (Musikalische Leitung: Peter Rundel) eine vibrierende Kraft und transportiert all die archaischen Emotionen wie Wut, Hass, Grausamkeit und Schmerz in einer stilisierten Form.

Überhaupt zeichnet sich die Inszenierung des samoaischen Regisseurs Lemi Ponifasio durch hohes Stilbewusstsein aus: Der Boden ist mit indirekt beleuchteten Glasplatten ausgelegt unter denen grünlich das Wasser schimmert. Der gewaltige Raum der Kraftzentrale wird bis zur hintersten Wand bespielt, so dass die Tänzer der MAU Company aus Neuseeland dort hinten verschwindend klein erscheinen. Prometheus selbst (Wolfgang Newerla) ist mitnichten an einen Felsen gefesselt: Er sitzt im Vordergrund auf einer schlichten Holzbank und deklamiert während sein Alter Ego (Ioanne Papalii/MAU) in der Mitte des Raumes auf einer Art beleuchtetem Operationstisch der Qualen harrt, die da kommen mögen. Das weitere Personal von Hephaistos bis Hermes ist in martialische dunkle Kostüme geschnürt, die Frauen wirken wie Amazonen. Die Okeaniden tragen hellblonde Perücken und durchsichtige Gewänder und sind die nahezu einzigen, die wirklich singen dürfen.

Die eigentümlich stillen Tänze der MAU Company tragen leise Gesten in den von lauten Tönen wiederhallenden Saal, meist bleibt der Blick an ihren bloßen Füßen hängen, auf denen sie über das Glas mehr schleichen als gehen.

Das nimmt sich so ganz anders aus als bei der Uraufführung des Orffschen Werks 1968, von der der Kritiker Werner Oehlmann seinerzeit im Tagesspiegel schrieb: „Der Regisseur Gustav Rudolf Sellner und der Bühnenbildner Teo Otto überrennen den Zuschauer geradezu mit einer Fülle vitalen Theaters, mit einem Überfluss an Formen und Farben, Kostümen und Masken“. Hier dagegen: Kein Hephaistos, der Ketten schmiedet und Keile durch Prometheus Brust treibt. Keine Flügelrösser, nirgends. Stattdessen gibt es kaum Interaktion zwischen den Figuren, sie deklamieren den Text, aber sie beziehen sich nicht aufeinander. Doch hier geht es auch nicht um Menschen, sondern um Götter. Trotzdem: Der Freiheitskampf des Prometheus, der den Menschen das Feuer brachte und nun von Zeus dafür bestraft werden soll, sein Aufbegehren, sein Stolz, seine Unbeugsamkeit und auch seine Siegesgewissheit, dass er eines Tages von seinen Qualen gerettet werde: Für all das hat Wolfgang Newerla nur ein Ausdrucksmittel zur Verfügung: Altgriechisch! Verdammt dazu, auf seiner Bank zu sitzen, kann er sich nur ab und zu die Kehle befeuchten, was aussieht, als trinke er einen – Ouzo…

Das dramatische Element dagegen übernehmen Raum, Licht, Musik und die Füße der Tänzer. Und ein Publikum, von dem Hingabe gefordert ist. Gewähren wir die Gnade? Das muss jeder selbst entscheiden…

18., 21., 23., 25. und 27. September
Kraftzentrale, Landschaftspark Duisburg-Nord
www.ruhrtriennale.de




Einmal Hochkultur und zurück – die Kinderjury der Ruhrtriennale

Kunst zum Kichern bei der Ausstellung "12 Rooms" im Essener Folkwang Museum.

Kunst zum Kichern bei der Ausstellung "12 Rooms" im Essener Folkwang Museum.

Eine Kinder-Jury begleitet die Ruhrtriennale und verleiht zum Ende des Festivals jeder Produktion einen Preis – die Awards heißen „Die beste Hose“, „Die beste Pose“ oder „Das verrückteste Stück“. Sie werden Abend für Abend wie Superstars behandelt: Chauffeur, roter Teppich, Blitzlichtgewitter. Über die Künstler, die Stücke, die Hintergründe wissen die Kinder – nichts. Was soll das sein: Kulturvermittlung? Oder tatsächlich die angekündigte „kritische Prüfung zeitgenössischer Kunst“ durch eine „unverbildete Jury“? Und: Kann das gut gehen?

Bochum, 17. August, kurz vor 20 Uhr. Internationales Stimmengewirr im Foyer der Jahrhunderthalle. Aus ganz Deutschland und dem Ausland sind Opernliebhaber angereist, um „Europeras 1 & 2“  zu erleben. Die Gelegenheit ist selten, seit der Uraufführung 1987 war John Cages Opern-Dekonstruktion kaum mehr zu sehen. Vom Parkplatz bis zur Halle stehen Verzweifelte auf der Suche nach Karten – alle Termine sind ausverkauft. Es wird eine Wahnsinns-Produktion, die den Sängern und Musikern alles abverlangt.

Zwei Vans fahren vor; selbstmalte Glitzer-Schilder weisen sie als „VIP“-Fahrzeuge aus. Kaum sind die Mitglieder der Kinderjury, heute Abend alles Mädchen, aus den Autos geklettert und unter dem Applaus der Umstehenden verlegen über den roten Teppich in die Jahrhunderthalle gegangen, werden ihnen Mikrofone unter die Nase gehalten. „Was erwartest du dir heute Abend?“, will eine Radio-Reporterin wissen. „Viel! Dass es nicht langweilig wird. Und dass es … spannend wird“, antwortet ein Mädchen. Kurz vor Beginn der Vorstellung macht Jana Eiting von „Mammalian Diving Reflex“ letzte Ansagen. Die kanadische Künstlergruppe wurde von der Ruhrtriennale für das Kinderjury-Projekt engagiert. „Also, wenn es langweilig wird, und das kann passieren, dann beschäftigen wir uns irgendwie, ihr könnt ja was malen“, sagt sie. Als der Zuschauerraum schon bis auf den letzten Platz gefüllt ist, nehmen die Mädchen unter wohlwollendem Applaus des Publikums in der ersten Reihe Platz.

Gelsenkirchen, 27. Juni, 8.30 Uhr. „Wir wollen mal ein bisschen über Kunst reden“, sagt Jana Eiting. Sie steht in einem Projektraum der Gesamtschule Ückendorf in Gelsenkirchen, um sie herum 21 Schülerinnen und Schüler, die sich für das Kinderjury-Projekt gemeldet haben. Die Gelsenkirchener Schule ist eine von dreien, die am „Children’s Choice Award“ teilnehmen; auch in Bochum und Duisburg wird es noch Treffen geben. Insgesamt sind um die 60 Kinder dabei; jedes wird sich ein paar Produktionen der Ruhrtriennale anschauen. Jury-Sitzungen gibt es nicht, die Preisträger werden anhand der Evaluationsbögen ausgezählt, die jedes Kind am Ende einer Show ausfüllen wird. Doch das wissen die Kinder noch nicht, der Workshop heute ist der erste.

In die 5. oder 6. Klasse gehen die Kinder, die im Stuhlkreis sitzen und sich immer wieder vom Kameramann der Ruhrtriennale ablenken lassen. Vom Alter her sei für das Jury-Projekt „alles zwischen Milchzähnen und Schamhaaren“ okay, hatte Darren O’Donnel, der künstlerische Direktor der Gruppe, gesagt. Das hat in diesem Fall nicht ganz geklappt. Einige stecken schon schwer in der Pubertät, offenbar mussten sie die eine oder andere Klasse wiederholen. Die Gesamtschule Ückendorf hat trotz guter Ausstattung und eines engagierten Kollegiums keinen besonders guten Ruf bei bildungsorientierten Eltern, was vermutlich allein daran liegt, dass Kinder deutscher Eltern dort seit langem in der Minderheit sind. So auch im Jury-Workshop. „Wir machen soziale Kunst“, sagt Jana Eiting und fragt, was das wohl bedeutet: sozial. „Mit Geld irgendwas?“, schlägt ein Schüler vor. „Sozialamt!“, fällt einem anderen ein. Was eine Jury ist, das muss den Kindern niemand erklären. „Deutschland sucht den Superstar“ kennen nun wirklich alle. „Sehen wir auch Stars?“, will ein Mädchen wissen. Als eine Mitarbeiterin des Mammalian Diving Reflex erzählt, dass sie in Kanada aufgewachsen sei, nicht allzu weit entfernt von Teenie-Schwarm Justin Bieber, da weichen zwei Mädchen nicht mehr von ihrer Seite. In der Pause muss sie Autogramme geben.

Roter Teppich für die Youngster-Jury der Ruhrtriennale.

Roter Teppich für die Youngster-Jury der Ruhrtriennale.

Essen, 17. August, 12 Uhr. Die Ruhrtriennale eröffnet mit der Performance-Ausstellung „12 rooms“ im Museum Folkwang. Damien Hirst, Marina Abramivic, Jon Baldessari sind mit ihren Arbeiten vertreten – doch die Stars der Eröffnung sind die Kinder. Vorfahrt mit dem Van, roter Teppich, Applaus – das volle Aufmerksamkeitsprogramm. Auch Darren O’Donnel, der künstlerische Leiter von „Mammalian Diving Reflex“, ist dabei. Er hat „The Children’s Choice Awards“ auf Festivals in vielen Städten auf der Welt initiiert und begleitet, und er ahnt wohl, wie die Kinder sich fühlen, wenn sie plötzlich in einer fremden Stadt vor einem Kulturpalast inmitten fein gekleideter Menschen stehen. Mit sicherem Blick geht er auf die schüchternsten Schüler zu, steckt ihnen eine Löwenzahn-Blume hinters Ohr, stellt seine Kaffeetasse auf ihren Köpfen ab, bringt sie mit Faxen zum Lachen. Schnell ist die Scheu dahin, nur ein Mädchen klammert sich an den Arm ihres Lehrers. Schon bald bewegen sich die Kinder alleine und sicher durch die Schau, öffnen Türen, machen sich Notizen.

Während die erwachsenen Vernissage-Besucher zumeist zurückhaltend an den Turen der zwölf Kunst-Kojen stehen bleiben und erst einmal beobachten, sehen die Schüler die Live Art als eine Art Streichelzoo: Sie gehen nah ran an die Statisten, fassen sie an, stellen ihnen Fragen, lachen. Zögerlich treten nun auch die erwachsenen Besucher näher, einige machen es den Kindern nach.

Diese Schüler waren noch nie in einem Kunstmuseum; was denken sie, wenn das Kunstwerk aus einem Mann in KFOR-Uniform besteht, der in der Ecke steht und die Wand anstarrt? „Cool“, sagt Hasan, „der Soldat hat mir am besten gefallen.“ Warum? „Ich mag Krieg.“ Später in seiner Pause erzählt der Soldat-Darsteller den Kindern, dass er tatsächlich ein Kriegsveteran ist. Der Künstler Santiago Sierra wolle, erklärt er, mit der Performance darauf aufmerksam machen, dass Kriegseinsätze für die Soldaten oft psychische Folgen haben. Dann dürfen die Kinder Fragen stellen. „Sind die Waffen schwer?“, fragen sie, und „Haben Sie schon mal jemanden erschossen?“

Bochum, 17. August, 20.05 Uhr. „Puh, geschafft“, sagt Samira, als sie endlich in der ersten Reihe Platz nimmt und ihre 1,5-Liter-Wasserflasche aus der Tasche packt, „das Schlimmste hab’ ich überstanden.“ Das Schlimmste: Der Walk über den roten Teppich, die Interviews, der Gang vor der Augen hunderter Zuschauer zum Sitzplatz. Jetzt heißt es nur noch, die Oper zu überstehen, zweieinviertel Stunde Neue Musik. Samira war noch nie im Theater. Sie hat sich schön gemacht und erwartet, schöne Dinge zu sehen. Sie wird nicht enttäuscht werden: Heiner Goebbels Inszenierung ist eine Materialschlacht, eine Show der Effekte, es gibt Tier-Masken, Rokoko-Kleider und Männer in Frauenkleidern, es brennt und schneit auf der Bühne, Kulissen werden hineingerollt oder von oben herabgelassen. „Bor!“ entfährt es Samira, als ein schwerer roter Samtvorhang unvermittelt vor einer Sängerin auf den Boden donnert. Nach einer Stunde kramt Samira ihr Notizheft hervor, beginnt zu schreiben – und hört nicht mehr auf. „Wie hat es mir gefallen“, schreibt sie als Überschrift oben aufs Blatt, und notiert: „Dass Männer und Frauen zusammen singen. Dass viele verschiedene Orte gezeigt werden. Dass man sieht, wie sie auf der Bühne arbeiten und aufbauen.“ Am Ende klatscht sie, bis ihre Hände weh tun. Anstrengend war es, langweilig, aber auch ein einzigartiges Erlebnis.

Nach der Vorstellung dürfen die Kinder noch Mezzosopranistin Karolina Gumos treffen. „Wir haben mehr als hundert Arien gesungen, habt ihr eine erkannt?“, fragt die Sängerin in ahnungslose Gesichter: Was bitte ist eine Arie? Dennoch hängen die Mädchen an den Lippen der Künstlerin, die mit Turm-Frisur und ausladendem Reifrock direkt vom Schlussapplaus zu ihnen geeilt ist.

Wenn die Jury-Kinder am 30. September auf großer Bühne ihre Awards vergeben, dann haben sie auf den teuersten Plätzen und unter exklusiven Bedingungen Kulturveranstaltungen erlebt. Sie wurden aus ihrem Klassenzimmer einmal ins große Kulturleben geschubst. Dass sie aber keine Erklärungen bekamen, dass es kein Lern-Ziel gab, dass Vor- und Nachbereitung komplett fehlten – das muss man erst einmal verdauen. „No education“ heißt die Programmlinie der Ruhrtriennale für junge Leute, keine Erziehung, keine Bildung. Das Konzept dahinter: Man kann Kultur nicht vermitteln, man muss sie einfach erleben. „Komplett informiert zu sein, hilft auch nicht immer“, sagt Darren O’Donnel, „manchmal bringt es einen vielleicht weiter, verwirrt zu werden.“ Wichtig sei, dass die Kinder ins Zentrum rücken. Dass sie dabei sind, anstatt in kindgerechte Veranstaltungen abgeschoben zu werden.

Samira wird also nach wie vor mit dem Namen „John Cage“ nichts anfangen können, und Hasan ist vielleicht enttäuscht, wenn beim nächsten Besuch in einem Kunstmuseum nur Plastiken und keine Soldaten in der Ecke stehen. Vielleicht, wahrscheinlich sogar war es auch ihr erster und einziger Ausflug in die Hochkultur. Kulturvermittlung ist „The Children’s Choice“ also nicht. Eine kritische Prüfung zeitgenössischer Kunst sicher auch nicht. Letztlich waren die Schüler Teil eines Kunstprojekts: So wie der Kriegsveteran für Santiago Sierra im Museum Folkwang die Wand anstarrt, so schaut Hasan für die Ruhrtriennale den Veteranen an. Sie werden ihre Erlebnisse vermutlich beide so schnell nicht vergessen.

Der Text erschien in der September-Ausgabe des Kulturmagazins K.WEST.




Festspiel-Passagen IX: Lust am Neuen und Seltenen

Während Händel mittlerweile im Repertoire der Opernhäuser eine wichtige Rolle spielt, gibt es bei anderen Komponisten von Weltgeltung noch einiges zu entdecken. Unermüdliche Arbeit für Gioachino Rossinis breit gefächertes Opernschaffen leistet seit Jahren das Rossini Festival in Bad Wildbad. Intendant Jochen Schönleber legt besonderen Wert auf Sänger, die den zum Teil exorbitanten Ansprüchen Rossini’scher Partien entsprechen. In den vergangenen Jahren hat das Festival manchem jungen Belcantisten zum Durchbruch verholfen.

In Rossinis kurzer Farce „Adina ossia Il Califfo di Bagdad“ ließ vor allem eine Nebenrolle aufhorchen: Christopher Kaplan als Ali – Mitglied des Jungen Ensembles der Semperoper Dresden – verbindet darstellerische Präsenz mit einem wohlgeformten Tenor. Auch Rosita Fiocco würde man gerne wieder hören, auch wenn die Koloraturen noch etwas schwer im Ansatz gebildet sind. Antonio Petris‘ Regie bemühte sich ohne Erfolg, dem Werk eine interessante Seite abzugewinnen. Ausnahmsweise mal ein Rossini, der für die Bühne zu Recht vergessen werden kann.

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

2013 wird solches wohl nicht der Fall sein: So wie in diesem Jahr Rossinis „Semiramide“ steht dann das monumentale Abschlusswerk von Rossinis Opernschaffen im Programm: „Guillaume Tell“, konzertant und so vollständig wie möglich. Ein geradezu vermessenes Vorhaben; eine Herausforderung, der man sich in den Staatsopern-Sphären von Berlin oder München bisher nicht zu stellen wagte.

Auf keinen Fall wieder in die Geschichte zurücksinken sollte die andere Rarität des Wildbader Festivals 2012: „I Briganti“ ist eine nach Schillers „Räubern“ entworfene Oper Saverio Mercadantes. Uraufgeführt 1836 in Paris, war sie ein von Rossini unterstützter Versuch, Paris für diesen damals in Italien weithin bekannten Kollegen zu gewinnen. Ein Projekt, das trotz exquisiter Sängerriege scheiterte: Mercadantes konservativer Ansatz, zu sehr dem italienischen „Melodramma“ verpflichtet, konnte sich gegen die moderne Oper Giacomo Meyerbeers nicht durchsetzen.

Wildbad versuchte, das Stück erstklassig zu besetzen. Unter der wenig geschmeidigen, metrisch oft schematischen Leitung von Antonino Fogliani boten die Virtuosi Brunenses aus Brünn kaum mehr als eine solide Unterstützung der Solisten. Der hoch gelobte Tenor Maxim Mironov war als Ermano den virtuosen Anforderungen seiner Partie gewachsen, aber die Stimme hat Stetigkeit und warmen Klang zu gewinnen. Petya Ivanova als Amelia agiert wie eine Diva der fünfziger Jahre; ihre Stimme verliert im Lauf des Abends den Kontakt zum Körper, wird hart, dünn und im Klang prekär.

Bruno Praticó, der alte Haudegen, zeigt, wie es geht: Als alter Graf Moor entfaltet er im Duett mit seinem Sohn Ermano wundersam die Aura des technisch zuverlässigen Singens mit schier endlosen Bögen und sprechendem Klang. Die Regie ließ die Akteure alleine, die sich mit allen Peinlichkeiten abgelebter Opern-Gepflogenheiten über Wasser hielten und ständig auf den Dirigenten starrten. Mercadantes Oper aber sollte wegen ihrer dramatischen Anlage und ihrer feurig-sensiblen Musik einen Weg zu weiteren Inszenierungen finden.

St. Gallen Festspiele Logo

Weiter im Süden, in der Ostschweiz, brachten die siebten St. Galler Festspiele Hector Berlioz‘ „La Damnation de Faust“ auf die weiträumige Freilichtbühne vor der Kulisse der barocken Stiftskirche. Carlos Wagner inszenierte die „Legende dramatique“ als Welttheater mit Méphistophéles als Zirkusdirektor. Das wirkte nicht willkürlich bunt, sondern entspricht dem Charakter der Stücks.

Stellenweise verwies die Inszenierung den Zuschauer auf farbige Zeit-Panoramen und epische Großbilder, wie sie in Romanen von Charles Koster (Ulenspiegel), Victor Hugo (Der Glöckner von Notre Dame) oder Umberto Eco (Der Name der Rose) geschildert sind. Die Fantasie der Kostüme (Ariane Isabell Unfried) verhinderte peinliche Anklänge an Monumentalfilm-Ausstattungen; die Spielfläche (Rifail Ajdarpasic) mit ihren verschiedenen Ebenen und Plateaus ließ bewegungsreiches „Augenfutter“ zu. Dass er am Ende in einem Hamsterrad endet, lässt Méphistophéles ein wenig wie den betrogenen Teufel erscheinen: Sein Werk, Menschen – hier mit Hilfe von Marguerite als dienstbarem Geist – zum Bösen zu verführen, ist eine Sisyphusarbeit, die dank göttlicher Gnade und Barmherzigkeit zum vergeblichen Mühen verurteilt ist.

Berlioz‘ farbige und klanglich subtile Partitur eignet sich nicht für eine Freilicht-Produktion, bei der das Sinfonieorchester St. Gallen unter der Bühne sitzt und mittels Lautsprecher verstärkt wird. Da mag sich Dirigent Sébastien Rouland noch so um die Finessen mühen: Der Klang bleibt oft grob und eindimensional. In den Opern der letzten Jahre, von Gaetano Donizettis Sintflut-Rarität „Il Diluvio universale“ über die frühen Verdi-Opern „Giovanna d’Arco“ und „I Lombardi alla prima crociata“ – heuer in Erfurt bei den Domstufen-Festspielen wieder aufgenommen – war das weniger problematisch, weil deren Partituren nicht so visionär klanglich gearbeitet sind wie die Musik des französischen Orchester-Revolutionärs. Mit Verdis selten gespielter Oper „Attila“ steht Sankt Gallen im Juni/Juli 2013 – im 200. Geburtsjahr Verdis – wieder auf der sicheren Seite (Premiere am 21. Juni 2013).

In Nürnberg rückten die Internationalen Gluck-Opern-Festspiele zum vierten Mal einen Komponisten ins Blickfeld, der hohe akademische Ehren genießt, im Bühnenalltag aber nicht allzu häufig präsent ist. Dass es nicht an stiller Einfalt und edler Größe liegen kann, zeigte das Staatstheater Nürnberg mit einer bestürzend konsequenten Aktualisierung von Glucks „Ezio“. Das finstere Machtspiel verlegte Andreas Baesler – in Nordrhein-Westfalen durch Regiearbeiten in Gelsenkirchen, Essen oder Münster kein Unbekannter – in die Überdrussgesellschaft einer außer Rand und Band geratenen Wohlstandszeit.

Nürnberg Gluck Festspiele Logo

Erpressung, sexuelle Gewalt, Mord gehören zum Verhaltensrepertoire. Ein derart geschärftes, in die Gegenwart geholtes antikes Drama lässt nicht kalt. Zumal der Schauplatz passt: Hermann Feuchter und Lilith-Marie Cremer bauten in der Theater-Tiefgarage hölzerne Verschläge, bei denen nicht klar war, ob die Darsteller oder die Zuschauer Gefangene oder Gaffer sind.

Die Darsteller agierten auf gefährliche Weise präsent, und die Musiker der Accademia Bizantina, der Neuen Nürnberger Ratsmusik und der Nürnberger Musikhochschule gaben unter Leitung von Nicola Valentini Glucks Musik trotz der akustischen Probleme Schlagkraft und Kontur. Eine tiefsinnige Choreografie des immer erfolgreicher agierenden Nürnberger Ballettchefs Goyo Montero zum ewigen Mythos des Don Juan und eine konzertante Aufführung der Oper „Das Goldene Vlies“ des gebürtigen Nürnbergers Johann Christoph Vogel (1756 bis 1788) rundeten die Festspiele zu einer kurzen, aber entdeckungsreichen Zeit. Peter Theiler, bis 2008 Intendant des Musiktheaters im Revier, hat bisher immer wieder Opern für die Bühne wiederentdeckt. So bleibt zu hoffen, dass er seine Linie 2014 – im 300. Geburtsjahr Glucks – mit ebenso viel Lust am Neuen und Ungewöhnlichen fortsetzen wird.




Festspiel-Passagen VIII: Zwischen Carmen-Leid und Händel-Leidenschaft

Die Zeit der sommerlichen Festivals ist vorüber, der Alltag erwartet uns wieder. Vorbei die letzte Vorstellung des früher ungeliebten, jetzt mit Wehmutstränen verabschiedeten Bayreuther „Tristan“ Christoph Marthalers; vorbei die Dernière des begeistert gefeierten Herheim-„Parsifal“, dessen Absetzung immer noch unverständlich ist, denn so wird das Wagner-Jahr 2013 am Hügel ohne das Stück gefeiert, das Wagner für das Festspielhaus geschrieben hat. Das Bayreuther Festspielorchester nebst Chor und Solisten war gefeierter Gast in Barcelona, um dem krisengeschüttelten Spanien mit erlösungsschwangeren Wagner-Klängen die Wunden zu salben.

Stefan Herheims "Parsifal"-Inszenierung lief heuer zum letzten Mal. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Stefan Herheims "Parsifal"-Inszenierung lief heuer zum letzten Mal. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Salzburg hat den ersten Pereira-Hype hinter sich; die Bilanz des neuen, aus Zürich gekommenen Chefs ist durchwachsen. Auf der einen Seite stehen Überflutung mit Luxus von Domingo bis Netrebko und überflüssige Zelebration massentauglicher Werke wie die mit Magdalena Kozená fragwürdig besetzten „Carmen“. Auf der anderen Seite ein Aufbruch wie die Konzertreihe „Ouverture spirituelle“ oder die ehrgeizig geglückte Inszenierung der „Soldaten“, Bernd Alois Zimmermanns Ikone des modernen Musiktheaters.

Gerühmt: Salzburgs Inszenierung von Zimmermanns "Soldaten". Foto: Ruth Walz

Gerühmt: Salzburgs Inszenierung von Zimmermanns "Soldaten". Foto: Ruth Walz

Und es gab in Salzburg auch weniger beachtete „Events“, die dem Festival jenseits des Opern-Spielplans (2013 wird er leider arg populistisch ausfallen) Profil geben könnten. Die vierzehn „Salzburg contemporary“-Konzerte sind ein Beispiel: Der musikalische Kosmos Heinz Holligers war zu erschließen; der Komponist war auch als Dirigent und Oboist zu erleben. Oder das Konzept des neuen Chefs der Schauspielsparte, Sven-Eric Bechtolf, der sich auf Werk und Text statt auf Material und Dekonstruktion besinnen will.

Er hat auch eine Nürnberger Puppenspieler-Truppe nach Salzburg eingeladen, die sich „Thalias Kompagnons“ nennt. Joachim Torbahn und Tristan Vogt heißen die kreativen Köpfe des Teams, das in Ferdinand Raimunds „Der Bauer als Millionär“ Naivität in Tiefsinn verwandelt, das Moralische wie das Parodistische in der Distanz der Puppenwelt von Banalität und Schwere befreit: weise Einfalt!

Dem Blick über die sommerliche Kultur-Landschaft bieten sich traditionsreiche Fixpunkte wie die Händel-Festspiele in Göttingen und Halle. Die Universitätsstadt an der Leine hat mit Laurence Cummings einen neuen künstlerischen Leiter gewonnen, der den zwölf musikalischen Tagen rund um Händel sein Siegel erst noch aufprägen muss. Die Oper dieses Jahres, Händels „Amadigi di Gaula“, konnte nicht restlos überzeugen: Das Konzept der Regisseurin Sigrid T’Hooft, die strengen Bewegungsregeln des barocken Theaters ins Heute zu übertragen, geht ästhetisch auf, gibt dem Zauber- und Ritterstück aber keinen dramatischen Zug.

Konflikte und Leidenschaften bleiben „historisch“. In der musikalischen Umsetzung gelingt Andrew Parrott die Vergegenwärtigung schlüssiger: Das Festspielorchester spielt kompakt und kantig, schroffer als unter dem bisherigen künstlerischen Leiter Nicolas McGegan, manchmal aber auch weniger subtil. Die Sänger lassen technisch zu viel zu wünschen übrig, um Ausdruck und Schönheit des Singens miteinander zu verbinden.

In Halle lag im 80. Jahr der Festspiele der Schwerpunkt auf einem Blick auf Händels Verhältnis zur Religion und auf die Erinnerung an Händels Lehrer Friedrich Wilhelm Zachow, der vor 300 Jahren, am 7. August 1712, gestorben ist. Ein abwechslungsreiches Programm bot oratorische Spezialitäten wie das Auferstehungsspiel „La Resurrezione“, das allegorische Oratorium „L’Allegro, il Pensieroso ed il Moderato“ und die selten zu hörende „Brockes Passion“. Dazu kam „Il Martirio di Santa Teodosia“ von Alessandro Scarlatti, einem der italienischen Anreger Händels, aufgeführt von dem renommierten spanischen Ensemble „Al Ayre Espanol“ unter dem so charismatischen wie tiefgründigen Eduardo López Banzo.

Aber auch die Akademie für Alte Musik Berlin und der Rias Kammerchor sorgten unter Hans-Christoph Rademann mit Händels „Josuah“ für einen Höhepunkt der Festspiele an der Saale. Dem Thema „Händel und die Konfessionen“ widmete sich eine inhaltsreiche wissenschaftliche Konferenz, von der viele Anregungen zum Weiterdenken ausgingen.

Mit der Tanzpantomime „La Terpsichore“ kam im historischen Goethe-Theater in Bad Lauchstädt eine Kunstgattung zu Ehren, die noch zu entdecken ist. Die Musik zu Ehren der griechischen Muse der Tanzkunst lieferten Georg Friedrich Händel und sein französischer Zeitgenosse Jean-Féry Rebel. Die Musiker von Les Talens Lyriques entfachten ein regelrechtes Tanzfeuer unter der Leitung von Christophe Rousset: jeder Ton passte akkurat. Ideal wirkt der markant-schroffe Schönklang mit tief empfundenen lyrischen Momenten und einer unermüdlichen Lust an barocker Klangpracht.

Choreographin Béatrice Massins Hauptinteresse gilt dem barocken Bühnentanz, sie nutzt ebenso einige freie Darstellungsformen um die Ausdruckspalette der Tänzer von Les Fêtes galantes anzureichern. In dem rund 80-minütigen Werk wirkte das freilich auf Dauer etwas ermüdend, da die Schrittfolgen und Positionen sich häufig wiederholen. Das Programm 2013 der Festspiele in Halle verspricht mit den Opern „Almira“ und „Alessandro“ und dem Oratorium „Judas Maccabäus“ wieder anregende Begegnungen mit Händel.

(Mitarbeit: Tony Kliche, Halle/Saale)




Wortmusik: Robert Wilson liest John Cage bei der Ruhrtriennale

Komponist, Zen-Buddhist, passionierter Pilzsammler: John Cage wäre am 5. September 100 Jahre alt geworden (Copyright: Rex Rystedt)

Die Sehnsucht nach vollkommener Stille, die der amerikanische Komponist John Cage im schalltoten Raum der Harvard-Universität suchte und aufgrund körpereigener Geräusche doch nicht fand, führte 1952 zu seinem epochalen Werk 4’33’’, in dem nicht ein einziger Ton erklingt. Zwei Jahre vor der Uraufführung durch den Pianisten David Tudor hatte Cage die Grundzüge seines Denkens und Schaffens in seinem „Vortrag über nichts“ skizziert.

Der Sprachduktus folgt dabei einem strengen rhythmischen Muster: Cage schrieb eine Wortmusik, ein Duett zwischen Stimme und Stille, in dem es um nichts geht, oder wahlweise um alles. Tiefgründig Philosophisches trifft auf clowneske Alberei, zen-buddhistische Gelassenheit auf das nachgerade zwanghafte Aufzählen aller Abschnitte und Unterkapitel des Wortstroms.

Bei der Ruhrtriennale, die Cages Vortrag als „einen der zentralen Texte der experimentellen Literatur des 20. Jahrhunderts“ ankündigt, übernimmt es der berühmte Regisseur und Theaterkünstler Robert Wilson, die Botschaft des Komponisten unter die Festivalbesucher zu bringen – unterstützt vom Videokünstler Tomek Jeziorski und akustischen Einsprengseln von Arno Kraehahn. In ein weißes Nachthemd gekleidet, ganz Traumtänzer oder Pierrot lunaire, sitzt er in der Bochumer Jahrhunderthalle inmitten einer Wüste aus alten Zeitungen. Weiße Banner mit schwarz aufgemalten Cage-Zitaten dominieren die Bühne. Bevor die Vorstellung mit einer nicht erklärten Verspätung von 25 Minuten beginnt, zücken viele Besucher ihr Handy für ein Szenenfoto. Dann setzt der Lärm ein: unvermittelt, infernalisch. Es ist ein unbestimmbares computergeneriertes Getöse, das geschlagene zehn Minuten lang aus den Lautsprechern dröhnt und Ohren und Psyche an die Grenzen der Belastbarkeit führt. Eine Handvoll Besucher streicht bei diesem Präludium die Segel. Die anderen harren aus, ja halten sich in der Mehrheit nicht einmal die Ohren zu. Es müssen wohl treue Cage-Adepten sein, denn der Komponist wollte bekanntlich stets „alles hören, was es zu hören gibt“ – sogar in der Nähe startender Düsentriebwerke.

Wilson beginnt, indem er mit der Hand über die Buchseiten streicht. So macht er den Fluss der Zeit und der Worte sichtbar. Deutsche Übertitel gibt es für den im amerikanischen Original gehaltenen Vortrag nicht, aber das gemessene Tempo und die deutliche Diktion machen das Folgen leicht. Trotz äußerlicher Unbewegtheit ist Wilson, der in den 1960er Jahren von John Cage und Merce Cunningham beeinflusst wurde, die innere Beteiligung beim Vortrag anzumerken. Seine Stimme, warm und modulationsfähig, lässt die von Offenheit und Optimismus bestimmte Lebenseinstellung des Komponisten ebenso anklingen wie seinen skurrilen Humor, der das Publikum an diesem Abend immer wieder zum Kichern bringt. In der Endlos-Schleife, in der sich der Vortrag schließlich verfängt, flüstert, predigt und bellt er den Text heraus, bis Cage über eine Tonbandeinspielung schließlich selbst das Wort übernimmt, während Wilson auf der Bühne ein kleines Nickerchen einlegt.

Die Überblendung zeigt, wie verblüffend ähnlich Wilson-Cage und der echte Cage zu diesem Zeitpunkt klingen. Doch es dauert noch eine Weile, bis die vierzehnfache Wiederholung der immergleichen Sätze durchbrochen wird. Ein gequältes Aufstöhnen, unterdrückt und doch hörbar, können viele da nicht unterdrücken. Wer weiß, ob mancher nicht im Stillen dachte, was eine junge Frau einst frei heraus schrie, als sie Cages private Lesung dieses Texts in seiner New Yorker Dachwohnung miterlebte. Sie stürmte mit den Worten hinaus: „John, ich mag dich wirklich, aber das hier kann ich auch nicht eine Minute länger ertragen!“

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Festspiel-Passagen VII: Salzburg – Mit der Zauberflöte ins Labyrinth

Mandy Fredrich (Königin der Nacht) und Julia Kleiter (Pamina) in der Salzburger "Zauberflöte". Foto: Monika Rittershaus

Mandy Fredrich (Königin der Nacht) und Julia Kleiter (Pamina) in der Salzburger "Zauberflöte". Foto: Monika Rittershaus

Der siebenfache Sonnenkreis ist eine Mischung aus Baustellenlampe und Hirnschrittmacher, mit einem Schlauch offenbar direkt mit Sarastros Hirn verbunden. Der Weisheitstempel besteht aus lauter Türen, mit kryptischen Buchstaben bezeichnet. Sarastro und die Königin der Nacht balgen sich am Ende um das technische Gerät, während die jungen Leute den Kinderwagen Papagenos und Papagenas hinterherlaufen. Familienidylle statt Weisheitslehre?

Jens-Daniel Herzog, der Dortmunder Operndirektor, hat sich mit der „Zauberflöte“ bei den Salzburger Festspielen vorgestellt – wie so viele andere ein Import aus des neuen Intendanten Alexander Pereiras Zürcher Zeit. Und seine Botschaft scheint zu sein: Leute, nehmt den ganzen Zauber nicht so wichtig. Das ist ein dürftiges Ergebnis.

Sicher lassen sich bei der „Zauberflöte“ die Tiefenschichten in Emanuel Schikaneders einzigartigem Libretto ausblenden, lässt sich das unterhaltsame Abenteuerstück aus der Wiener Vorstadt hervorkehren. Aber Herzog stellt sich – so jedenfalls in einem Interview im Programmbuch – auf die Seite Susan Sontags und ihre Ablehnung, in einem Kunstwerk einen „Subtext“ zu ergründen. Sontag propagiert die postmoderne Beschränkung auf die pure Sinnlichkeit und den Primat der individuellen Erfahrung, die sie in einer Interpretation eingeschränkt sieht.

Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Bei einem so komplexen Kunstwerk wie der Oper ist der Verzicht auf eine schlüssig ausgearbeitete, pointierte Deutung gleichzusetzen mit dem Verharren an der Oberfläche. Das mag durchaus sinnenfroh und unterhaltsam sein, ermöglicht aber keine ästhetische Erfahrung, sondern verhindert sie. Der Verzicht auf einen Standort – den der Regisseur einnehmen muss – lässt den Zuschauer irgendwohin treiben statt ihn herauszufordern, die eigene Position zu suchen und einzunehmen.

Herzog ist natürlich viel zu klug, um die postmoderne Falle zuschnappen zu lassen, aber er konnte sich ihren Fangzähnen doch nicht ganz entwinden. Die Zauberflöte, die in seiner Inszenierung den Prinzen Tamino vor den wölfischen Ungeheuern rettet, war bei ihm zumindest verstimmt. Hätte er sich konsequenter auf die Gegensätze des Stücks eingelassen, hätte er die naive, aber zutiefst menschliche Welt des Papageno über das putzige Dreirad-Lieferwägelchen und die Vogelfedern hinaus geführt, wäre auch das Potenzial von Bühnenbildner Mathis Neidhardts Felsenreitschul-Imitation zu erschließen gewesen. Denn das Versteckspiel mit verschiebbaren Kästen nach Art eines Türen-Klapp-Boulevardkrimis brachte nicht viel.

Markus Werba (Papageno) schiebt sein Vogel-Mobil weg. Foto: Monika Rittershaus

Markus Werba (Papageno) schiebt sein Vogel-Mobil weg. Foto: Monika Rittershaus

Die Salzburger „Zauberflöte“ war nicht wegen Herzogs Inszenierung mit Spannung erwartet worden, sondern vor allem, weil sie Nikolaus Harnoncourt zum ersten Mal in Salzburg – in Zürich war er schon vor fünf Jahren – und zum ersten Mal mit seinem Orchester, dem „Concentus Musicus“ aufführte. Und weil er aus lebenslanger, vielleicht ein wenig altersmilder Erfahrung eine Gegenposition zu all den verhetzten „Original“-Zauberflöten formuliert. Wir hören den schlanken, dunkel grundierten Streicherklang nicht im mechanischen Tempo, sondern in einer fast schon manieristisch am Text-Metrum ausgerichteten Varianz. Wir hören seidige Bläser, die nicht mehr jäh, sondern fast schüchtern akzentuieren. Wir erleben, wie Harnoncourt zwar beweglich-flüssige Grundtempi anschlägt, dann aber verzögernd der Emotion Raum gibt, wie in „Schnelle Füße…“ oder in Paminas Arie „Ach ich fühl’s…“. Und wir erfahren, dass Sarastros Arien, längst keine wuchtig-pathetischen Bekenntnisse aus der Patriarchenwelt mehr, durchaus mit gemäßigter Würde vorzutragen sind. Irritierend ist, dass Harnoncourt kaum Wert auf den musikalischen Bogen legt. Er fordert nicht nur konsequentes Anti-Legato, sondern nimmt „Löcher“ in Kauf, deren Sinn sich nicht erschließt.

Wer von der Krise des Wagner-Gesangs redet, muss den Mozart-Gesang mit einschließen. Seit den traurigen Eindrücken aus dem Salzburger Mozart-Marathon 2006 hat sich da nicht viel geändert. Sicher, Georg Zeppenfeld als undramatisch-beherrschter Sarastro und die unangestrengt auf dem Atem singende Pamina Julia Kleiters wissen, wie es geht. Mandy Fredrich hat auch am Essener Aalto-Theater die „Königin der Nacht“ gesungen: Sie beherrscht die technischen Finessen der Partie, hat ein gut ausgebildetes Fundament für den Klang auch in der Höhe, aber keine charismatische Brillanz. Markus Werba, ein gewinnender Darsteller, darf sich als Papageno ruhig an seiner künftigen Frau, der bezaubernden Elisabeth Schwarz, ein Beispiel nehmen und die Stimme aus der Kehle nach vorne bewegen. Bernard Richter singt den Tamino hölzern und kann die Töne nicht binden. Die drei Damen bilden alles andere als ein Ensemble, speziell Sandra Trattnigg zernichtet als Erste Dame mit Trompetentönen den Gleichklang. Und gibt es in Salzburg für den Mohren – der hier nach neuester Quellenkritik „Manostatos“ heißt – keinen Buffo-Tenor mehr, der nicht nur haltlosen Sprechgesang bietet wie Rudolf Schasching?

Thomas Tatzl, der Papageno in Peter von Winters "Labyrinth". Foto: Hans Jörg Michel.

Thomas Tatzl, der Papageno in Peter von Winters "Labyrinth". Foto: Hans Jörg Michel.

Noch viel misslicher sind die sängerischen Eindrücke in der einzigen Oper, die bei den Salzburger Festspielen aus dem Repertoire herausfällt: Peter von Winters „Das Labyrinth“, nur sieben Jahre nach Mozarts Tod von Emanuel Schikaneder als „Der Zauberflöte zweyter Theil“ konzipiert. Wir finden das bekannte Personal aus Mozarts Oper wieder. Die Königin der Nacht hat sich mit König Tipheus und dessen Freund Sithos zwei Heerführer an ihre Seite geholt, die den Kampf mit dem spürbar militarisierten Sarastro endgültig entscheiden sollen. Papageno findet seine Eltern und mit ihnen jede Menge Geschwister, und Monostatos ist am lunaren Hof trefflich etabliert. Tamino und Pamina müssen neue Prüfungen ablegen: Nach Feuer und Wasser ist nun die Erde dran: ein unterirdisches Labyrinth gilt es zu durchschreiten. Nicht Hollywood, sondern Wien hat die Fortsetzung als Erfolgsprinzip entdeckt.

Ein angemessener Blick auf das Stück muss sich zuerst davon verabschieden, Konzeption und Musik der „Zauberflöte“ auf diese Fortsetzung zu übertragen. In den sieben Jahren seit ihrer Uraufführung haben sich Perspektiven und Interessen verschoben, gerade im rasch auf Zeitströmungen reagierenden populären Unterhaltungstheater. Im „Labyrinth“ tritt die Ideenwelt zurück, vielleicht, weil Mozarts Einfluss fehlt. Dafür triumphiert das Wunderbare, Effektvolle, Kolportagehafte.

In Salzburg bleibt dieser „zweyte Theil“, wie so manches Film-Sequel, glanzlos hinter dem Original zurück: Im Residenzhof singt die – früher mal in Dortmund und Bonn, jetzt an der Komischen Oper Berlin engagierte – Julia Novikova eine koloraturüberforderte, harttönig-dünne Königin, die viel gelobte Malin Hartelius eine Pamina ohne Höhe und Charme. Clemens Unterreiner und Philippe Sly bleiben als neu eingeführte Krieger Tipheus und Sithos zuverlässig blass.

Mandy Fredrich als Königin der Nacht und Klaus Kuttler als Monostatos. Foto: Hans Jörg Michel

Julia Novikova als Königin der Nacht und Klaus Kuttler als Monostatos. Foto: Hans Jörg Michel

Das mag auch der inspirationslosen Regie der in Dortmund geborenen und bis 2003 am Schauspielhaus Bochum inszenierenden Alexandra Liedtke geschuldet sein. Warum Salzburg für ein solches Werk keinen Platz für einen erfahrenen Opernregisseur hat, ließe sich wahrscheinlich nur durch einen Blick hinter unzugängliche Kulissen ergründen. Raimund Orfeo Voigts Bühne verwendet technisch aufwändige, verschiebbare Licht-Lamellen, erinnert in Reminiszenzen wie der Hanswurst-Bühne an die Tradition des Volkstheaters, mit dem Zitat von Schinkels Berliner Zauberflöten-Himmelsgewölbe an die Spuren des erhabenen Aufklärungstheaters. Doch Liedtke fällt nichts ein als schrecklich vorhersehbare Auftritte; vom Zauber- und Maschinentheater ebenso wenig eine Spur wie von einem Versuch, zu verstehen, wie Schikaneder den Stoff an den Geist einer neuen Epoche angepasst und was diese Wandlung für Zuschauer von heute bedeuten könnte.

Im lustlos knappen Beifall zeigt sich der Ärger über festspielunwürdige Besetzungen, über das beflissene, aber uninspirierte Spiel des Mozarteum-Orchesters unter Ivor Bolton und über eine konzeptlose, den Abend unerträglich dehnende Inszenierung. Wären da nicht einige wenige Sänger gewesen, auf deren Auftritt man sich gefreut hat wie Christof Fischesser als Sarastro oder Thomas Tatzl und Regula Mühlemann als Papageno und Papagena, wären da nicht die heiteren, die „ausschweifende Pracht“ der Uraufführung persiflierenden Kostüme von Susanne Bisovsky und Elisabeth Binder-Neururer gewesen, der gut dreistündige Abend wäre in Langweile versauert.

An Peter von Winter lag es nicht, wie manche Rezensenten vorschnell behaupteten, die immer noch glauben, was nicht im internationalen Repertoire steht, tauge nichts. Winters Bezeichnung „große heroisch-komische Oper“ deutet eine Entwicklung an: Die Musik gibt sich „romantischer“, weniger verspielt, aber auch weniger durchgearbeitet als Mozarts Vorbild. Wir schreiten voran in Richtung Cherubini, Spontini und Beethoven.

Peter von Winter auf einem zeitgenössischen Stich.

Peter von Winter auf einem zeitgenössischen Stich.

Winter liefert kein Plagiat oder eine Imitation. Zwar tauchen in der Ouvertüre die feierlichen Dreiklänge auf. Die Königin der Nacht noch effektvoller Koloraturen perlen lassen, Sarastro gefällt sich wieder in salbungsvollem Arioso. Die tragenden Zauber-Requisiten Glockenspiel und Flöte treffen wir erneut. Offenbar besonders beliebte Szenen werden wieder aufgenommen, wie die Tänzchen der vom Glöckchenklang verzückten Bösewichter. Doch es kündigen sich auch andere, pathetischere Töne an. Der Chor – der von Alois Glassner einstudierte Salzburger Bachchor – hat eine gewichtige Rolle. Der Krieg Sarastros mit König Tipheus und der nun eindeutig böse und rachsüchtig gezeichneten lunaren Herrscherin entspricht der politischen Lage – ein Jahr vorher stand Napoleon vor Wien – und wohl auch dem Hang der Zeit nach mehr „Action“ und weniger Weisheitslehren.

Und wenn ein Schleier auf dem Weg durchs Labyrinth die „Tugend“ der Pamina schützen muss, haben sich die Gewichte verschoben von Philosophie und Weltweisheit zur einer am Sexuellen orientierten Moral der neuen bürgerlichen Schichten, auf deren dunkler Seite die Versuchung für Papageno lauert: Für exotischen Sex, sprich, die Nacht mit einer schwarzen Frau, ist er bereit, seinen Aufruf zum Mord an Monostatos noch einmal zu überdenken. Zu wünsche wäre, dass die Salzburger Wiederentdeckung von Winters „Zauberflöte“ nicht – wie die letzte Aufführung 2002 in Chemnitz – einfach verpufft. Dem Aufführungsrekord der Mozart’schen Erstversion schadet es nicht, wird hin und wieder an einem Opernhaus die Fortsetzung gespielt.

Infos zum Salzburger Spielplan: http://www.salzburgerfestspiele.at




Präzise Anarchie: Eröffnung der Ruhrtriennale mit „Europeras 1 & 2“ von Heiner Goebbels

Regisseur von "Europeras": Heiner Goebbels. Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale

Regisseur von "Europeras": Heiner Goebbels. Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale

John Cage wäre am 5. September 100 Jahre alt und gilt als einer der wichtigsten Anreger der zeitgenössischen Kunst: Malerei, Musik, Performance hat er beeinflusst, neue Richtungen wie die Fluxus-Bewegung wären ohne ihn nicht denkbar gewesen. Als Theoretiker ist er für ein modernes Musiktheater wohl ebenso bedeutsam geworden wie für die Sprechbühne Antonin Artaud und sein „Theater der Grausamkeit“. Für beide spielt die Einheit des Kunstwerks, die Nachahmung der Wirklichkeit, die Geschlossenheit eines als sinnvoll oder zielgerichtet erlebbaren Zusammenhangs keine Rolle.

Im Gegenteil: John Cage will jede Absicht aus seinen Werken verbannt wissen. Der Zufall soll herrschen. Und die Autonomie des Einzelnen steht über jedem Zusammenhang. Zur Eröffnung der Ruhrtriennale hat deren neuer Intendant Heiner Goebbels mit „Europeras 1 & 2“ nicht nur dem amerikanischen Multitalent eine Hommage bereitet, sondern wohl auch ein prinzipielles Statement zum Theater gegeben. Ein erweiterter Begriff vom Theater, die Negation traditioneller Formen, unmittelbares Erfahren statt Mitteilen und Verstehen: Ein Kunstbegriff, der in den bildenden Künsten seit einem guten Jahrhundert dominiert, war mit der Frankfurter Uraufführung der beiden ersten „Europeras“-Werke 1987 endgültig im Musiktheater angekommen.

Cages Prinzip: Alles ist getrennt, nichts gehört zusammen. Musik, Bühne, Licht, Bewegung, Kostüm: Die Bestandteile der klassischen Oper werden zerlegt und wieder montiert. Die Abläufe sind nach dem chinesischen „I Ging“ zusammengestellt. Dabei spielt der Zufall die bestimmende Rolle – und die Zeit: Die Zahlenreihen beleuchteter Stoppuhren rasen in „Europeras 1“ unaufhaltsam dem Ende zu: Eine Stunde, dreißig Minuten exakt, dann verklingt der letzte einsame Gesang.

Man könnte den Vorgang, der in diesem Zeitraum abläuft, objektivierte Anarchie nennen. Denn die Grundlagen, die Cage entwickelt und Goebbels in seiner szenischen Realisierung aufgegriffen hat, sind – der chinesischen Orakel-Methode entsprechend – mathematisch höchst präzis. Das Anarchische bedeutet nicht Chaos, sondern den völligen Verzicht auf Über-, Unter- oder Zuordnung. In 64 Zeitfenstern spielen rund 30 Musiker Fragmente aus Opernpartituren. Das kann ein einzelner Ton sein oder ein komplexes Melodie-Bruchstück. Wann das Stück innerhalb des gegebenen Zeitrahmens erklingt, bleibt dem jeweiligen Spieler überlassen.

An 64 festgelegten Positionen auf der Spielfläche singen die zehn Solisten Arien oder Fragmente aus 64 Opern, von ihnen selbst ausgewählt aus dem rechtefreien Repertoire, von Purcell und Gluck bis Wagner und Debussy. In Bochum, im riesigen Raum der Jahrhunderthalle, waren die 64 Felder über die gesamte Tiefe des bespielbaren Raums von rund 90 Metern Länge verteilt. Bühnenbildner Klaus Grünberg plünderte die Operngeschichte für 32 Bühnenbilder; Florence von Gerkan entwickelte aus historischen Vorlagen 32 Kostüme, von der Rüstung bis zum Reifrock.

Felsen, Lüster, Sängerin: Triumph der Vereinzelung. Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale

Felsen, Lüster, Sängerin: Triumph der Vereinzelung. Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale

So rauschen sie vorbei, nach einem exakten Zeitplan und dennoch systemlos, simultan und ohne Beziehung zueinander: Venezianischer Barock und deutsches Biedermeier, Römer aus der Opera seria und bürgerliche Herren, gemalte Drachen und Seeungeheuer, romantische Heroinen und affektierte Hofgecken. Was sie singen, passt nicht zum Kostüm; wie sie sich bewegen, passt nicht zum Affekt ihrer Arien. Auf der Bühne öffnen sich Höllenschlünde aus dem barocken Wiener Theater und romantisch Weber’sches Waldweben, brennen Tempel und schwingen kristallene Lüster, strahlen Pappmaché-Sonnen und fingern einsame Scheinwerfer durch die Dunkelheit. Denn auch das Licht verweigert den Dienst, sucht sich autonom und ohne Zusammenhang mit der Szenerie seinen Weg.

Romantisches "Waldweben" für "Europeras". Entwurf: Klaus Grünberg

Romantisches "Waldweben" für "Europeras". Entwurf: Klaus Grünberg

Die Sänger, reduziert auf sich selbst, kämpfen sich mit Hilfe der Stimmgabel durch ihre Arien – hier beschwört Nikolay Borchev Lortzings „Heiterkeit und Fröhlichkeit“, dort fragt Frode Olsen mit dem Eremiten aus dem „Freischütz“, ob ein Fehltritt solcher Büßung wert sei. Gesungen wird entsprechend mühevoll, mit heiserem Timbre und unsicherer Intonation. Kein Wunder, fehlt doch jede Stütze durch ein Instrument – im Gegenteil, die Sänger haben sich gegen die vor sich hin streichenden, blasenden oder schlagenden Solisten des Festivalorchesters zu behaupten. Die Helden dieser Aufführung sind die „Assistenten“: Die jungen Leute haben nach einem präzisen Zeitplan die Requisiten kreuz und quer durch die Halle zu transportieren, schleppen Bühnenteile, bringen Hänger zum richtigen Ort. Zu schauen gibt es viel.

Ein Spaß also, eine überbordende Luxus-Fantasie eines Mannes, dessen Antwort auf die Last der Tradition, auf die Enge des Konventionellen, auf jedes nach Bedeutung riechendes Konzept stets Gelächter war? Sicher nicht. Auch wenn Kritiker in „Europeras“ ein großironisches Werk erkennen wollen: Der radikale Verzicht auf Sinn, die ebenso radikal durchgezogene Vereinzelung der Theater-Elemente, die Herrschaft der Herrschaftsfreiheit sind so humorlos wie konsequent. Hier wird nicht persifliert, hier transzendiert keine leichte Hand Pathos in Parodie. Cage ist kein Offenbach der 68er.

Die Kunst, die hier beabsichtigt ist, schafft keine Komödien. Auch wenn das Schmunzeln in vielen Szenen nicht weit ist: Gelacht wird kaum in der tiefen, dunklen Jahrhunderthalle. Und das lag nicht an den tropischen Temperaturen, die – das wird man zugestehen müssen – dem begeisterungsarmen Beifall noch zusätzlich einen matten Touch gegeben haben. Das liegt wohl eher am Todesernst, mit dem hier die Individualisierung, die Vergötterung des Selbst, die Negation des Sinns vorangetrieben werden. Welche Geschichte in der vermixten europäischen Operntradition zu lesen ist, bleibt alleine dem Zuschauer überlassen. Die bildende Kunst lässt grüßen. Und das Theater, das sich mit der Weigerung, Geschichten zu erzählen, in ein ästhetisch so brisantes wie philosophisch verstiegenes Abseits manövriert hat. Das selbstbestimmte Subjekt triumphiert.

„Europeras“ lässt den Rezipienten mit seinem unauslöschlichen Trieb, Sinn und Zusammenhang zu erschauen, gnadenlos alleine. Es sind „your operas“, wie man den Begriff „Europeras“ auch lesen könnte: eure Opern. Nicht nur jene, die aus Europa 200 Jahre in die Welt geschickt wurden und die Cage, wie er sagte, alle auf einmal zurückgeschickt hat. Sondern eben auch die Oper jedes Einzelnen, der auf einem Platz in der heißen Jahrhunderthalle in der Falle sitzt, für sich selbst zu entscheiden, was er mit diesen Elementen sinnlicher Einwirkungen denn nun anfangen soll. Mit der bildenden Kunst tut er sich bei solchen Operationen nicht so schwer. Für ein Bild ist der Ablauf der Zeit nicht relevant; selbst vergängliche Installationen zerfallen in Zeiträumen, die normalerweise eine intensive Betrachtung erlauben. Für das Musiktheater gilt das nicht.

Goebbels beschreibt das Ergebnis als eine „Polyphonie unzähliger ‚Stimmen‘, die zu eigener Entfaltung gebracht werden“. Man muss kein Antimodernist sein, um in Cages Experiment etwas anderes zu erkennen: Eine babylonische Anti-Symphonie, ein monströses Nebeneinander von „befreiten“ akustischen und visuellen Äußerungen, Sinnbild der Vereinzelung von Individuen, die nur durch die gnadenlose Diktatur einer Maschine – der Uhr – überhaupt in so etwas wie einen Zusammenhang genötigt werden. Eine radikale Freiheit, die nicht nach dem Warum und Wohin fragt. Das überlässt sie, zu erschütternder Gänze, dem Zuschauer.

Weitere Termine: 29., 31. August, 2. September (höchstens noch Restkarten)




Festspiel-Passagen VI: Maßlose Leidenschaft – Händels „Tamerlano“

„Tamerlano“ gehört nicht zu den erfolgreichsten Opern Georg Friedrich Händels. Für die Eröffnung der Saison am King’s Theatre im Oktober 1724 mutete er dem Londoner Publikum ein ungewöhnlich düsteres Werk zu.

Schon die Tuttischläge zu Beginn der Ouvertüre melden von hoher Tragik. „Schwarze“ Tonarten, dunkle Farben in den Streichern: Musikalisch kündigt sich eine Geschichte an, die den Intrigenstadl der zeitgenössischen italienischen Oper durch ihre Radikalität übertrifft. Tamerlano ist ein Herrscher, den keine Moral zu zügeln vermag; sein Gegenspieler Bajazet so stolz, dass er jedem Kompromiss den Tod vorzieht. Und der Irrtum, der Asteria an der Liebe von Andronico zweifeln lässt, ist auf eine fast schon absurde Weise schwach begründet.

Für Händel sind solche extremen Bühnenfiguren eine Herausforderung, die er musikalisch glänzend pariert. „Tamerlano“ beinhaltet eine Reihe ausdrucksstarker Arien; die Selbsttötung Bajazets inspirierte ihn zu einer Szene, die musikalisch einzigartig ist und heute noch unter die Haut geht. Vor allem dann, wenn ein so erfahrener Gestalter wie Placido Domingo sich dieses mehrschichtigen Charakters annimmt. Domingo war wohl der „Star“, der das Publikum in die beiden konzertanten Aufführungen von „Tamerlano“ bei den Salzburger Festspielen locken sollte. Denn fast vier Stunden Opernmusik ohne Szenerie sind selbst für beharrliche Hörer eine Zumutung, der sich ein Händel-Zeitgenosse vor 300 Jahren sicher nicht unterworfen hätte.

Zum Glück halten sich weder Domingo noch die anderen Sänger an historisch informiertes Zirpen, sondern bieten saftig durchblutete Opernmusik. Im Falle Domingos bedeutet das einen immer noch kernig glänzenden Klang, einen meisterlich gestützten Ton, beherrschte Farben und – vor allem in der bewegenden Todesszene – beispielhaftes Abschattieren und suggestive Rhetorik. Das Vibrato ist – wie sollte es auch anders sein – nicht mehr so kontrolliert und spannkräftig wie früher. Durch die Koloraturen mogelt sich Domingo mit erfahrungsgesättigtem Geschick, solidarisch getragen von Marc Minkowski am Pult seines Orchesters „Les Musiciens du Louvre“. Wie Domingo aber einen Charakter musikalisch erfasst und durchdringt, hat ein nach wie vor selten erreichtes Format.

In Bejun Mehta hat er einen würdigen Gegenspieler: Als Tamerlano zieht der amerikanische Counter alle Register, um die Leidenschaften dieses Herrschers einzufangen, der in Liebe wie Hass kein Maß akzeptiert: Hohn, Erniedrigung, Sklaverei und sexuelle Gewalt hat er für die bereit, die seinen egomanischen Leidenschaften nicht folgen wollen. Mehta muss Affekte wie Überschwang, Stolz, Wut, Kränkung ausdrücken: seine gut gebildete Stimme bringt dafür Brillanz, Schlagkraft und Agilität mit. Zwar muss Mehta in der Höhe manche Töne „antippen“ und nicht jede Messa di Voce gelingt abgerundet; dennoch gehört er derzeit zu den führenden Vertretern des Fachs und kann diese Position mühelos verteidigen.

Franco Fagioli zieht als Andronico leider nicht gleich: Die Partie, für den legendären Kastraten Senesino geschrieben, will nicht durch prunkvolle Virtuosität brillieren. Sie lässt dem Sänger eher die Chance, die Schönheit und Ebenmäßigkeit des Tons in allen Lagen, aber auch die Beherrschung des „passaggio“ und die Fülle des tiefen Registers zu demonstrieren. Fagiolis Mezzo kann vor allem in der Tonbildung nicht mehr überzeugen: Das Vibrato ist zu dominierend, der Ton wirkt hohl und schwammig, die Artikulation leidet. Seine an Grimassen grenzende Mimik ist wohl kaum gewollt; sie zeigt, wie der Sänger um die Position seiner Stimme ringt. Der kleinen Rolle des Leone gibt Michael Volle ein präsentes, technisch abgesichertes Profil.

Ausgezeichnete besetzen konnte Salzburg die Frauenpartien: In der Partie der Asteria, geschrieben für die legendäre Primadonna Francesca Cuzzoni, ließ die erst 22jährige Julia Lezhneva kaum einen Wunsch offen. Ob funkelnde Brillanz oder wehmutsvolle Innerlichkeit, ob Bangigkeit oder Beklemmung: Lezhneva findet stets die richtige Farbe, die passende Phrasierung. Ihre beiden Arien im ersten Akt mit ihren uneindeutigen Affekten, ihren zwischen Leid, Liebe, Hass und Verachtung schwankenden Gefühlen, stellt sie musikalisch differenzierend dar. Dazu dienen ihr eine kostbar timbrierte Mittellage, sanft gedrosselte Mezzavoce, tadellose Piani.

Lezhneva hat ein entspanntes Legato, kann aber auch impulsiv akzentuieren. Nur die Höhe wirkt technisch fragwürdig: zu oft bildet sie die Töne am flachen Gaumen, statt ihnen Stütze und Rundung zu geben. Dennoch: Lezhneva, vom Magazin „Opernwelt“ zur Nachwuchssängerin des Jahres 2011 gekürt, ist mit Recht eine der großen Hoffnungen im belcantistisch geprägten Sopranfach. Die Französin Marianne Crebassa bietet ein ebenso überzeugendes Rollenporträt der Irene: Die fremde Prinzessin ist Tamerlano als Braut versprochen, doch der Tatar setzt sie lediglich als Manövriermasse der Liebe ein, um Andronico für sein Wohlverhalten zu belohnen. Händel macht die Figur spannend, weil er Irene nicht als passives Opfer zeigt, sondern als selbstbewusste Frau, die nicht geneigt ist, die Spiele der mächtigen Männer über sich ergehen zu lassen. Ihr Mezzosopran ist kraftvoll, geschmeidig, expressiv und nur hin und wieder von zu üppigem Vibrato überlagert.

Les Musiciens du Louvre aus Grenoble, das vor 30 Jahren von Marc Minkowski gegründete Orchester, hatte wesentlich Anteil daran, den langen Abend nicht zu lange erscheinen zu lassen. Minkowski bot einen dunkel getönten Händel-Klang, der sich signifikant von der basislosen Brillanz manch englischer oder deutscher „Originalklang“-Ensembles abhebt. Bei aller Präzision und Transparenz verleugnet er nicht, dass Händel, wenn ihm die Möglichkeiten geboten waren, üppige Besetzungen für substanzreichen, festlichen Klang bevorzugte. Manchmal litten die Bläser; selbst die Trompete von Hara Fruzsi musste sich bemühen, mehr als eine Orchesterfarbe abzugeben. Minkowski reagierte jedoch stets umsichtig; dämpfte zum Beispiel die Streicher reaktionsschnell in der aparten, von zwei Flöten begleiteten Arie der Irene. Die abwechslungsreiche Klanggebung und Phrasierung des Ensembles, das über Jahre hin gewachsene Einverständnis mit dem Dirigenten, die Balance innerhalb des Ensembles und die flexiblen Tempi trugen dazu bei, Händels Musik auch über lange Zeit hin spannend zu halten.




Festspiel-Passagen V: Metapher absoluter Fremdheit – „Solaris“ in Bregenz

Stanislaw Lems Roman „Solaris“ hat seit seinem Erscheinen 1961 – auf Deutsch erst 1972 – nichts von seiner Tiefe und Faszination eingebüßt. Andrej Tarkowski (1972) und Steven Soderbergh (2003) haben Filme gedreht; es gibt einige Adaptionen für die Bühne – zuletzt am Münchner Volkstheater, am Burgtheater Wien und am Schauspiel Zürich. Nun hatte bei den Bregenzer Festspielen eine „Solaris“-Oper Premiere – die zweite nach der Kammeroper von Michael Obst (München, 1996). Der Henze-Schüler Detlev Glanert hat auf ein Libretto von Reinhard Palm komponiert, das sich eng an den Roman Lems anlehnt.

„Solaris“ ist vielschichtig: Auf der Science-Fiction-Ebene dreht es sich um den Versuch, Kontakt mit einem Wesen aufzunehmen, das einen ganzen Planeten umspannt; ein Plasma-Ozean, der seit Urzeiten alleine um seine beiden Sonnen kreist. Eine Lebensform, die schon von ihrer bloßen Existenz her keinen Begriff vom „Anderen“ hat. Wie kann Kommunikation mit einem solchen Fremden überhaupt möglich sein?

Auf der psychologischen Ebene konfrontiert „Solaris“ mit den Folgen der Interaktion. Auf der Forschungsstation, die das Planeten-Wesen umkreist, kommt es zu seltsamen Erscheinungen: „Gäste“ tauchen auf, Materialisationen verdrängter Träume und Erinnerungen. Solaris liest die traumatischen, „abgekapselten“ Erinnerungen der Forscher auf der Station aus den Gehirnen heraus und lässt sie als reale Personen auf der Station erscheinen. Das Entsetzliche ist, dass diese „Gäste“ aus den verborgensten Winkeln der Psyche stammen: „….unsere eigene monströse Hässlichkeit, unsere Albernheit und unsere Schande“, wie der Forscher Snaut formuliert. Dem neu eingetroffenen Psychologen Kris Kelvin erscheint seine junge Frau Harey. Sie beging Jahre vorher Selbstmord – an dem sich Kelvin mitschuldig fühlt.

Keine Rolle in der Oper spielt Lems satirische Auseinandersetzung mit der Wissenschaft: Die „Solaristik“ ist in seinem Roman eine seit hundert Jahren etablierte Forschungsrichtung mit zahllosen Schulen, Thesen, Dogmen; ein Lehr- und Literaturgebäude, das genüsslich ausgebreitet wird, in dem sich die wirklich wichtigen Erkenntnisse jedoch in entlegenen Anhängen, trivialwissenschaftlichen Sammlungen oder fachfremdem Material finden. Lem formuliert seinen Skepsis gegenüber der menschlichen Erkenntnisfähigkeit und einem das Gegenteil postulierenden Forschungs-Betrieb. Die „Solaristik“ mutet an wie eine Ersatz-Religion, flankiert von einer Ersatz-Theologie, die das „Wesen“ des unfassbaren Ozeans ergründen will.

Denn „Solaris“ hat in seiner einsamen Einmaligkeit etwas Göttliches. Er setzt mit seiner stabilen Umlaufbahn – die es in einem Doppelsonnensystem nicht geben dürfte – die Gesetze der kosmischen Physik außer Kraft. Auf seiner Oberfläche ereignen sich ständig Neuschöpfung und Verfall. Souverän erschafft er die Erscheinungen aus dem Gehirn-Inhalt der Menschen; ihre Materie existiert allein durch seine Energie. Sein In-Sich-Ruhen, seine unberührbare Majestät erinnern an die jenseitige, aller menschlichen Erkenntnisfähigkeit entzogene Natur Gottes.

Aber die Solaris ist auch ein „unvollkommener Gott“, dem Kommunikation offenbar nicht gelingt. Seine Selbstäußerungen scheinen hilflose Versuche eines kosmischen Kindes. Oder experimentiert das Wesen mit den Menschen statt sie mit ihm? Keine Offenbarung erschließt die Solaris, wie sie wirklich ist – nicht einmal, wie sie erscheinen möchte. Lems Metapher der absoluten Fremdheit ist perfekt.

Für die Menschen in der Station wird die Bahn um den Planeten zum Ort ihres eigenen Fegefeuers. Der alte katholische Begriff meint die Konfrontation mit dem Verdrängten, das erschreckt, peinigt, beschämt. Das, was wir nicht „wahr haben wollen“. Die Seiten unserer Persönlichkeit, die wir selbst nicht in unser Selbstbild integrieren können oder wollen: „Man liebt es und es ekelt uns vor dem Gegenstand unserer Begierde und ist zugleich verrückt danach…“, beschreibt der Wissenschaftler Snaut, was sich auf der Station materialisiert, ihre Bewohner beherrscht und bis zum Suizid treibt. Unzerstörbare Vergangenheit, unbestechlich. „Wir brauchen keine anderen Welten. Wir brauchen Spiegel“, resümiert Kelvin. Wirklich? Denn Kelvin sucht am Ende, auf der Oberfläche Solaris‘, das Eingehen in das gigantische „Andere“. Doch Erlösung ist das nicht: „Die Zeit der grausamen Wunder ist noch nicht vorbei“, sind seine letzten Worte.

Glanert und Palm akzentuieren in ihrer Oper die Frage nach den Traumata, denen wir nicht entfliehen können: Alle Erforschung des Jenseitigen und des Weltraums beruht nach Glanerts Worten auf dem Wunsch, „einen Gott oder zumindest einen großen Bruder zu finden, der uns einen Teil unserer Schuld abnimmt“. Die „Gäste“ erhalten in der Oper ein ausgeprägteres Profil als im Roman: die „Negerin“, die Stationschef Gibarian zum Selbstmord treibt; der „Zwerg“, der den stets um Kontrolle ringenden Intellektuellen Sartorius peinigt; die „Alte Frau“, die Snaut halb als Mutter, halb als Domina demütigt. Im christlichen Verständnis braucht der Mensch einen Anderen, der ihm die Befreiung von seinen Schatten zusagt. Nicht umsonst dürfte Andrej Tarkowski seinem „Solaris“-Film Bachs Choral „Ich ruf zu Dir, Herr Jesu Christ“ unterlegt haben.

In der Inszenierung von Moshe Leiser und Patrice Caurier blieb die Bregenzer Uraufführung von „Solaris“ allerdings zwischen Raumschiff Enterprise und interstellarer Beziehungskiste stecken. Christian Fenouillat hat eine dem Klischee einer Raumstation entsprechende Bühne gebaut, mit von Bullaugen durchbrochenen weißen Wänden, auf denen die farbigen Projektionen von Tommi Brem ein Versuch sind, Lems uneinholbare Beschreibungen der fremdartig faszinierenden Atmosphäre der Solaris wenigstens ansatzweise zu visualisieren. Aber die blinkenden bunten Dioden an irgendwelchen Geräten werfen uns wieder zurück in Sci-Fi-Kitsch.

Im Licht des lebenden Ozeans: Kelvin (Dietrich Henschel) und Harey (Marie Arnet). Foto: Forster/Bregenzer Festspiele

Im Licht des lebenden Ozeans: Kelvin (Dietrich Henschel) und Harey (Marie Arnet). Foto: Forster/Bregenzer Festspiele

Wenn dann die „Negerin“ (Benita Hyman) als monströser Fleischberg über die Szene watschelt, lässt das zwar das Publikum staunen, holt aber den unheimlichen Augenblick der ersten Erscheinung eines „Gastes“ nicht ein. Ihre Stärke hat die Inszenierung in den Momenten, in denen Kris Kelvin und die Erscheinung seiner Frau Harey immer deutlicher realisieren, dass sich die bloße materialisierte Erinnerung verselbständigt. Dass sie Selbstbewusstsein entwickelt und über die körperliche Montage einer Toten aus dem Abbild einer Erinnerung hinaus zu einer eigenen Persönlichkeit wächst. Dietrich Henschel und Marie Arnet erfüllen diese Szenen mit vokaler Poesie.

Martin Koch und Martin Winkler zeichnen scharfe Porträts der Forscher: Der eine spricht als Snaut die Wahrheit in der ironischen Leichtigkeit eines Kurt-Weill-Songs aus; der andere versucht als Sartorius in schnarrender Deklamation, die Reste der wissenschaftlichen Fassade zu retten. Christiane Oertel (Alte Frau) und Mirka Wagner (Zwerg) verlieren nach und nach alle Hemmungen, sich kreischend und belfernd als Quälerinnen ihrer Opfer zu übertreffen.

Mit Markus Stenz, Noch-GMD in Köln, stand ein wissender Sachwalter für Glanert am Pult der Wiener Symphoniker. Er hat 2006 bereits die Uraufführung der Oper „Caligula“ in Frankfurt geleitet und sich – unter anderem mit dem Bundesjugendorchester – immer wieder für die Musik des Komponisten eingesetzt. In Bregenz dirigierte er im ersten Orchesterkonzert auch Glanerts Fassung der Schubert-Ballade „Einsamkeit“. Mit dem traditionell besetzten Orchester – plus Bassklarinette, Kontrafagott, Celesta – erweist sich Glanert in „Solaris“ wieder einmal als Klanggestalter ersten Ranges. Er meidet naheliegende psychedelische Klangnebel, setzt Tonfolgen ein, die im Lauf des Stücks thematisches Gewicht gewinnen, schreibt frei tonale sangliche Linien und ermöglicht Sängern und Orchestersolisten mitunter belcantistische Entfaltung.

Stenz realisiert die dramatische Attacke ebenso wie die bohrende Repetition, das weiträumige Auffliegen orchestraler Melodik ebenso wie Klanggebilde an der Grenze der Unhörbarkeit. Der Prager Philharmonische Chor unter Lukáš Vasilek repräsentiert unsichtbar das Solaris-Wesen, das sich – anders als im Roman – in der Oper in den vier „Interludien“ immer klarer artikuliert, allerdings in kryptischem Wortsalat, der wohl eher Fremdheit als eine beginnenden kommunikative Kompetenz ausdrücken will.

Die Bregenzer Inszenierung wird am 19. Mai 2013 von der Komischen Oper Berlin übernommen. Dass sich andere Bühnen des tiefgründigen Werks annehmen, wäre dringend zu wünschen: das szenische Potenzial harrt noch darauf, umgesetzt zu werden.




Festspiel-Passagen IV: Sensibilität statt Sensation

Im sechsten Jahr hat es sich – um bei Richard Wagners Wortwahl zu bleiben – „ausgerast“. Die Liebe zum Tode hin ist zu einer recht langatmigen Affaire degeneriert. Christoph Marthalers „Tristan und Isolde“-Inszenierung hat für ihre letzten fünf Aufführungen am Grünen Hügel trotz penibler Einstudierung durch Anna-Sophie Mahler keine Kraft mehr. Marthaler selbst ist schon gar nicht mehr gekommen. Das „verzückte und wahnsinnige Begehren nach dem Ewigen und Absoluten“ (Thomas Mann) schrumpft auf die Dimensionen eines kleinbürgerlichen Trauerspiels.

Dabei hatte Marthalers Inszenierung – gegen alle bloß ästhetisch sich erregende Kritik – ihre Meriten. Denn sein sorgsamer Minimalismus und die schnoddrig-spießigen Räume der Anna Viebrock schlossen von vornherein die „erotische“ Romantik aus, die viele in Wagners weltensprengender Liebesgeschichte suchen. Da war nichts mit blauer Liebesnacht unter funkelnden Sternen. Sondern eher gescheiterter Ausbruch aus einer tristen Sphäre: abgerissene Säle, schimmliggraue Keller, der Charme einer Kolchosenkantine.

Humorige Anflüge im zweiten Aufzug: Isolde (Irene Theorin, links)  und Brangäne (Michelle Breedt). Foto: Jörg Schulze

Humorige Anflüge im zweiten Aufzug: Isolde (Irene Theorin, links) und Brangäne (Michelle Breedt). Foto: Jörg Schulze

Was Marthaler 2005 gezeigt hat, blieb mir in Erinnerung als ein gemeinsames Schreiten von Tristan und Isolde hin auf ein Ziel, das jenseits dieser überwältigenden Tristesse liegt. Gemeinsames Schauen auf ein Ziel außerhalb des Horizonts statt umarmungssüchtige Banal-Erotik: Marthaler hatte im Blick, worum es dem erlösungsbedürftigen, geradezu manisch auf eine höhere Form der „wahren Liebe“ versessenen Wagner gegangen ist. Davon geblieben sind die ohnmächtigen Ausbrüche Isoldes im ersten Aufzug, das pubertäre Spiel mit den Schaltern für die „Zünde“ im zweiten, aber auch das beeindruckende, isolierte Rasen und Sterben Tristans.

Der Bayreuther Tristan: Robert Dean Smith. Foto: Jörg Schulze

Der Bayreuther Tristan: Robert Dean Smith. Foto: Jörg Schulze

Dieser Tristan findet auch 2012 in Robert Dean Smith eine nicht gerade ideale, aber sehr glaubwürdige Darstellung. Smith ist einer der wenigen, die den Tristan wirklich singen – nicht brüllen, markieren oder deklamieren. Auch wenn sich sein Tenor manchmal nicht frei entfaltet, nicht optimal in den Raum projiziert ist, nimmt er für sich ein, weil er behutsam steigert, weil er sensible Piani gestalten kann. Dass er vorsichtig mit seinen Kräften haushaltet und sich im Fieberwahn auf der heimatlichen Burg Kareol nicht entäußert, ist konsequent: Smith ist kein Heldentenor alter Schule – aber wo gibt es noch einen Tristan, der verschwenderisch strahlende Töne verschenken kann?

Und wo gibt es eine Isolde, die Bayreuth aus der Herrschaft der glucksend-wabernden Großkaliber befreien könnte? Iréne Theorin – wir kennen sie als Isolde und Turandot vom Aalto-Theater – hat das Material für Ausbrüche, sie kann auch verhalten singen. Aber ihre Tonbildung ist so vibratosatt und matt fokussiert, dass man kaum ein Wort versteht. Für den „Liebestod“ fehlen ihr die Zwischentöne und die langsam sich steigernde, sehrende Glut, das jenseitige Verschweben des Tons, das Gestalten des großen Bogens. Doch der Beifall, der in direktem Verhältnis zur Lautstärke der Sänger stand, kam der schwedischen Sopranistin reichlich zu.

Mit Kwangchul Youn kehrt der König Marke von 2005/06 wieder zurück; ein führender Wagner-Bass, der jenseits von Hornbrille und Funktionärsmantel den inneren Zwiespalt, das aufrichtige Leiden an einer „Wunde, die kein Himmel erlöst“ verkörpert, aber auch das ratlose Nichtverstehen des metaphysischen „Müssens“ in Tristan und Isoldes gegenseitiger Verfallenheit. Mit freiem, sicherem Sitz und leuchtendem Klang nimmt Clemens Bieber als junger Seemann für sich ein. Bieber hat vor 25 Jahren in Bayreuth debütiert und ist inzwischen der dienstälteste Solist der Festspiele. Doch die Stimme ist frisch und unverbraucht wie eh und je.

Mit Jukka Rasilainens Kurwenal kann sich nur anfreunden, wer dröhnend scharfgeschnittene Wagner-Stimmen liebt. Ralf Lukas als Melot versucht, seiner Rolle als korrekter, verständnisloser Verräter markant gerecht zu werden; Arnold Bezuyen und Martin Snell erfüllen als Hirt im Hausmeister-Kittel und Steuermann die Erwartungen. Michelle Breedt macht aus der Brangäne ein Kabinettstück der Schauspielkunst, wenn sie im zweiten Aufzug die Gouvernante herauskehrt und Isolde vom unüberlegten Griff zum Lichtschalter abhalten will. Gesanglich kultiviert sie leider, was sie auch als Fricka im „Ring“ gezeigt hat: unstet hervorgestoßene Töne, brüchige Linien, kaum einmal ein lockerer Ansatz.

Zum heimlichen Star der Aufführung steigerten sich das Orchester und der Dirigent Peter Schneider. Ihm, dem die glamouröse Aura des Pultstars abgeht, sind die tiefsten Eindrücke des Abends zu verdanken. Souverän konzipiert er die großen Linien, die atemberaubenden Steigerungen, die Exaltation des Klangs. Dabei ist schwer atmende Dramatik seine Sache nicht; die Musik hat bei ihm eine hellglühende Transparenz, die bei aller Hitze den Blick auf Strukturen nicht verwabert.

Schneider ließ nichts selbstverständlich „fließen“; er kennt die Stockungen, das Ausleuchten harmonischer Tiefen in eingängig scheinenden Momenten vertrauter Thematik. Außerdem artikuliert er so sorgfältig wie sängerfreundlich; nur im dritten Aufzug läuft die Musik manchmal neben den Eruptionen Tristans her statt sie zu stützen oder abzutönen. Schneider hat sich erneut als Wagner-Interpret von hohem Rang erwiesen. Man braucht die Sensation nicht, die Sensibilität genügt.




Festspiel-Passagen III: Liebe in Zeiten der Datenströme

Jan Philipp Gloger ist 31 und damit aus einer Generation, die mit Matrix, Modem und Microsoft aufgewachsen ist. Er war noch ein Kind, als die alten Blöcke des Kalten Krieges von den neuen Fronten der Globalisierung und des Neoliberalismus abgelöst wurden. Die Welt, die ihm sein Bühnenbildner Christof Hetzer für den „Fliegenden Holländer“ auf der Bayreuther Festspielbühne gestaltet, ist die Welt dieser Kinder. Ein magisch flackerndes Gefängnis, gebildet aus Prozessoren und Platinen, Lichtbändern und Zählwerken. Winzig klein sitzen zwischen den energetischen Entladungen Menschlein in einem anachronistischen Holzboot: Daland und der Steuermann, autoritärer Chef und beflissener Angestellter. Sie sind beide so cool. Aber wenn sich Herr Daland unbeobachtet fühlt, schnupft er eine Prise Koks, und fühlt sich ertappt, wenn jemand guckt.

Gestrandet im Meer der Daten: Daland (Franz-Josef Selig, rechts) und der Steuermann (Benjamin Bruns). Foto: Enrico Nawrath

Gestrandet im Meer der Daten: Daland (Franz-Josef Selig, rechts) und der Steuermann (Benjamin Bruns). Foto: Enrico Nawrath

Gloger will, das macht das Einstiegsbild des „Fliegenden Holländer“ deutlich, Wagners Geschichte einer utopischen, einer „wahren“ Liebe in der Welt der vom Zeitgeist Getriebenen erzählen. Ihr Horizont ist die Vernetzung, die scheinbar Alle mit Allen verbindet. Aber dieses Netzwerks der Produzierenden und Kommunizierenden macht unendlich einsam: Der Holländer, der zwischen dem Datenblinken auftaucht, hat mit dem Rollkoffer und dem Kaffee-Pappbecher die Embleme des global ökonomisch getriebenen Ahasvers von heute bei sich.

Ein weiteres Prinzip, das sich der aus Hagen stammende Regisseur als Deutungsmuster zu eigen macht, ist das der Verkleinerung: In dieser Welt wird auf verwertbares Format heruntertransponiert. Der Sturm wird zum domestizierten Strom frischer Luft aus dem Ventilator, der in Dalands Produktionsstätte hergestellt wird: Summ und brumm, du Rädchen … Reduziert wird auch die Liebe: Der Holländer fragt in seinem Monolog nach dem gepries‘nen Engel Gottes, der seines Heils Bedingung ihm gewann. Die Antwort gibt eine Kaffee-Mamsell mit lasziver Bewegung: konsumierbarer Sex, ökonomisch relevante Gefühlsprodukte. Der Steuermann hält sich gleich an dem fest, was man greifen kann: Der Geldkoffer liegt in seinen Armen.

Mit dem Zuschnitt auf das, was man „in Zahlen darstellen kann“ – ein Lieblingskriterium von Unternehmensberatern und Controllern – endet Glogers Geschichte auch: Der Steuermann fotografiert mit seinem Handy die Vereinigung von Senta und Holländer im Tode – und zur nachkomponierten Verklärungsmusik Wagners verpacken eifrige Arbeiterinnen das neue Produkt: Kitschfiguren des Paares, von innen zu beleuchten. Der heftig ausgebuhte Coup der Inszenierung erfasst sehr genau die ökonomische Banalisierung großen Ideen und geistiger Entwürfe. Die „wahre Liebe“ Wagners, eine transzendentaler Begriff, kommt in solch schlichtem Materialismus nur als herziger Abklatsch vor.

Der Wagner’sche Liebesbegriff ist in den letzten Jahrzehnten in der Inszenierungsgeschichte des „Fliegenden Holländers“ oft genug reduziert, korrumpiert oder desavouiert worden. Zu erinnern ist an Harry Kupfers grandiose Bayreuther Deutung von 1978, der das Transzendierende in Wagners „Holländer“ aus einem materialistischen Ansatz konsequent als Wahn zu entlarven versuchte. Es gab psychologisierende Deutungen in jeder Spielart; in jüngerer Zeit wuchs die Sensibilität für das mythische Potenzial der Oper.

Pietá: Symbol für Wagners "wahre Liebe". Adrienne Pieczonka als Senta und Samuel oun als Holländer. Foto: Enrico Nawrath

Pietá: Symbol für Wagners "wahre Liebe". Adrienne Pieczonka als Senta und Samuel Youn als Holländer. Foto: Enrico Nawrath

Udo Bermbach zitiert im Programmheft des Bayreuther „Holländers“ nicht umsonst Max Horkheimer, der für die Bestimmung der „wahren Liebe“ ihre Richtung auf ein „künftiges glückliches Leben aller Menschen“ für unverzichtbar gehalten hat. Ein Ziel, das nur als Utopie oder in religiös begründeter Perspektive gedacht werden kann.

Gloger zeigt in seiner Inszenierung nun keine Offenbarung, aber er lässt seine Deutung auf eine solche hin offen. Das Romantisch-Übersinnliche, für das der Holländer steht, löst weder Widerstand noch Erschrecken aus; es hat in dieser Welt einfach keinen Platz. Wo es auftaucht – etwa durch die Mannen des Holländers in der Chorszene des dritten Aufzugs – wird es einfach absorbiert. Doch Senta, das „Kind“, das „nicht weiß, was es singt“, erschafft sich eine Welt, gibt ihrem Suchen eine Richtung, die sie mit der Sehnsucht des Holländers „nach dem Heil“ verbindet.

Haus, Schiff und Himmel bildet sie nach. Eine Puppe aus Pappe steht auf der Höhe des Hügels aus Schachteln, den sie sich als Flucht- und Rückzugsort errichtet hat. Genau an dieser Stelle erscheint der Holländer in Dalands Haus, eine Verkörperung dessen, was Senta sich in ihrem Inneren erträumt. Solche Momente der Inszenierung stellt Gloger ziemlich lapidar und kaum erläutert auf die Bühne – vielleicht die größte Schwäche der Produktion, die gerade in den intimen Szenen zwischen Senta und dem Mann ihrer Ideale zugespitzter interpretieren müsste. Aber um an solchen Momenten weiterzuarbeiten, ist Bayreuth ja eine „Werkstatt“.

Mit dem Dirigenten der einzigen Premiere dieser Festspiel-Saison am Grünen Hügel, Christian Thielemann, war sich Gloger einig, nicht auf die derzeit beliebte „Urfassung“ des „Holländers“ zuzugreifen, sondern den nachkomponierten „Erlösungsschluss“ als weitergehenden Willen Wagners zu akzeptieren und szenisch zu integrieren. Wenn sich Senta am Ende mit selbstgebastelten Papp-Engelsflügelchen zu ihrem Holländer auf die Sehnsuchts-Burg flüchtet und zum harfenlichtdurchfluteten Pathos des Finales die Plastikfigürchen verpackt werden, könnte dieser Moment als rabenschwarzer Kommentar zu Wagners scheinbar irrealem, psychologisch verstiegenem Konzept gesehen werden. Doch dem steht die Musik im Wege: Thielemann lässt sie in solchem Ernst, solch brennender Identifikation aufleuchten, dass sie einen unüberwindlichen Kontrapunkt zum Zynismus der Szene setzt: Klingende Hoffnung, Rettung der Wahrheit und ungebrochene Hoffnung auf die verwandelnde Kraft der Liebe.

Thielemann hat sich des „Holländers“ in einem höchst ästhetischen Orchesterklang angenommen, ist aber nicht immer in der Tiefe angekommen. In der Ouvertüre bricht er in Sentas Balladenmotiv den Bogen und radikalisiert die Punktierungen zum dezidierten Non-Legato. „Schöne Stellen“ kostet er wieder einmal bis zur Grenze des Zerfallens aus. Oft achtet er mehr auf die Brillanz der Melodiestimmen als wichtige Farben aus der Tiefe der Partitur zu heben und zu gewichten. Das ist schwelgerisch musiziert und – die Ovationen beweisen es – höchst publikumswirksam. Aber hinter der Glätte ist es schwer, Abgründe zu orten.

Adrianne Pieczonka als Senta. Foto: Enrico Nawrath

Adrianne Pieczonka als Senta. Foto: Enrico Nawrath

Unter den Sängern überzeugen alleine der schönstimmige und sichere Steuermann von Benjamin Bruns und die Senta Adrianne Pieczonkas. Ihr gelingen balsamische Piani, aber auch die aufflammende Leidenschaft und der zu allem entschlossene Furor des Finales. Dass sie nicht alle Töne konstant durchstützt, macht ihr bei manchen, von Thielemann noch verlangsamten Bögen Probleme. Aber als lyrisch grundierte Senta mit der nötigen Expansionskraft und stimmlich abgesicherter Farbpalette ist Pieczonka ihren Vorgängerinnen seit den achtziger Jahren überlegen.

Der Sänger des Titelhelden, Evgeny Nikitin, musste wegen seiner unglücklichen Tattoo-Affäre weichen. Sein Cover Samuel Youn, in Köln engagiert und dort auch als „Holländer“ erfolgreich gewesen, schlug sich tapfer. Er beginnt mit entspannter Tiefe, doch die Stimme verkrallt sich, je höher sie steigt, immer heftiger in einer klanglich limitierten Position, wird fest und unflexibel. Dann verliert der Sänger auch die Freiheit, verständlich zu artikulieren. Die hat Michael König als Erik: Als Hausmeister im grauen Kittel versucht er vergeblich, seinen braven, ambitionslosen Liebes-Begriff der zum Höchsten gestimmten Senta zu erklären. Dennoch könnte das alles freier, unverfärbter und mit Schmelz gesungen sein; schließlich sind Eriks Gefühle ja aufrecht und lauter.

Franz-Josef Selig, bis 1995 am Aalto-Theater Essen, singt den Daland. Foto: Enrico Nawrath

Franz-Josef Selig, bis 1995 am Aalto-Theater Essen, singt den Daland. Foto: Enrico Nawrath

Franz-Josef Selig, von 1989 bis 1995 im Ensemble des Essener Aalto-Theaters, ist einer jener kraftvollen, aber wüst orgendeln Bässe, die für einen noch nie überzeugenden Wagner-Stil stehen. Und Christa Mayer hinterlässt als Mary stimmlich wenig Eindruck. Wie immer eine sichere Bank: Der Chor der Bayreuther Festspiele hat unter Eberhard Friedrich Glanz, Wucht und Präzision wie eh und je. Obwohl die Regie-Sensation, die sich viele Beobachter erwarten, am Grünen Hügel diesmal ausgeblieben ist, kann sich Glogers ausgewogene Arbeit behaupten; neben Herheims überbordenden „Parsifal“-Assoziationen, Hans Neuenfels‘ „Lohengrin“-Zuspitzungen und Sebastian Baumgartens überkandidelter Installations-Belebung im „Tannhäuser“ hat sie als solide erarbeitetes Musiktheater durchaus ihre Chance.




Festspiel-Passagen II: Geistlicher Auftakt in Salzburg

Der Salzburger Dom: Prachtvolle Kulisse für den "Jedermann" bei den Salzburger Festspielen. Foto: Werner Häußner

Der Salzburger Dom: Prachtvolle Kulisse für den "Jedermann" bei den Salzburger Festspielen. Foto: Werner Häußner

Heute ungewöhnlich, wie klar sich Alexander Pereira bekennt: Er glaubt an Gott. „Ich bin ein alter Jesuitenschüler“, sagt er in einem Interview, in dem er seine Entscheidung begründet, den Salzburger Festspielen künftig eine „Ouverture spirituelle“ voranzustellen. Der neue Intendant möchte die geistliche Musik ins Blickfeld rücken. Christlich geprägte Werke sollen künftig auf solche aus anderen Weltreligionen treffen, jedes Jahr eine andere: 2013 ist der Buddhismus dran, 2014 der Islam.

Zum Auftakt seiner ersten Salzburger Festspielzeit setzte Pereira einen jüdischen Schwerpunkt, mit Musik, die nicht jeden Tag zu hören ist: Das Israel Philharmonic Orchestra spielte unter Zubin Mehta Ernest Blochs „Avodath Hakodesh“ (Gottesdienst). Mit Noam Sheriffs „Mechaye Hametim“ (Auferweckung der Toten), einer 1985 entstandenen großen Symphonie mit Chor, Orchester und Solisten, kam ein zeitgenössischer israelischer Komponist zum Zuge. Und von einem Klassiker der Moderne, Arnold Schönberg, stammt „Kol Nidre“, für das er melodische Elemente aus Musik zum jüdischen Jom Kippur verarbeitet hat.

In diese Reihe darf man Igor Strawinskys „Psalmensymphonie“ getrost einordnen. Bilden doch drei alttestamentliche Psalmtexte die Grundlage, die zum jüdischen wie zum christlichen Gebets- und Traditionsschatz gehören. Als Person schlägt Strawinsky eine Brücke zur orthodoxen Christenheit, als Musiker verleugnet er die Spuren russischer Kirchenmusik auch in diesem Werk nicht. Um das Jahr 1930, in dem die Symphonie entstanden ist, praktizierte er seinen Glauben explizit und setzte sich mit religiösen Fragen auseinander. Mit den Wiener Philharmonikern und der vorzüglichen Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor verständigte sich Valery Gergiev auf einen ruhigen, unspektakulären Zugang mit breit gefächerten dynamischen Nuancen zwischen Pianissimo und Mezzoforte.

Strawinsky hat sich bei der Musik zu Psalm 38, 39 und 150 von religiöser Emphase fern gehalten. Er schreibt Musik wie eine mittelalterliche Miniatur: farbenprächtig, aber objektivierend. Und Gergiev folgt dieser „darstellenden“ Linie. Die Flexibilität des Chores, die ruhig-schwingenden Tempi des Dirigenten, die strukturerhellende Transparenz des Orchesters passen bestens. Wenn in „Alleluja. Laudate Dominum“ das „in sanctis Eius“ verhalten-scheu erklingt, ist man an die große östliche Tradition der Heiligenverehrung erinnert. Kein Triumph, keine Verherrlichung, sondern ein ehrfürchtiges Sich Nähern mag diese musikalische Wiedergabe widerspiegeln.

Die Eröffnungskonzerte der „Ouverture spirituelle“ zeigen eine dramaturgisch bewusste Konzeption: Am Beginn stand – wie künftig in jedem Jahr geplant – Joseph Haydns „Schöpfung“, eine hochgelobte Aufführung unter John Eliot Gardiner; im nächsten Jahr soll sie Nikolaus Harnoncourt dirigieren. Es folgte der „Messias“ unter Daniel Harding, ein Schlüsselwerk in der Geschichte des Oratoriums. Mit der c-Moll-Messe KV 427, die Mozart selbst bei seinem letzten Salzburg-Besuch 1783 dirigierte, wurde dem musikalischen Genius loci gehuldigt.

Im Laufe der Saison, die bis 2. September ausgedehnt wurde, folgen mit der „Messe solennelle“ von Hector Berlioz am 15. August und der „Messa da Reqiuem“ Giuseppe Verdis als Abschlusskonzert am 1. September weitere bedeutende Schöpfungen aus der geistlichen Sphäre. Während die Festspiele auf diese Weise eher eine Reihe der beliebtesten „Highlights“ präsentieren – was sich künftig der Profilierung halber nicht fortsetzen sollte –, brachte etwa die Salzburger Dommusik im Sonntagshochamt eine der zwanzig Messen von Luigi Gatti, dem Hofkapellmeister Fürsterzbischof Colloredos und damit Vorgesetzten von Leopold Mozart.

Der Anfang mit der „Schöpfung“ lässt sich durchaus programmatisch für die philosophische Ausrichtung der „Ouverture sprituelle“ verstehen. Haydn schrieb kein Oratorium für die Kirche, sondern für eine gebildete Gesellschaft, für die freilich christlicher Glaube und die Ausrichtung an christlichen Prinzipien Teil ihres geistigen Lebens war. Der Schöpfungslaube, den Gottfried van Swietens Libretto voraussetzt, verbindet nicht nur Juden, Christen und Muslime. Dass am Beginn allen Existierenden eine wie auch immer geartete göttliche Setzung steht, ist Gemeingut aller Religionen. So spiegelt die „Schöpfung“ Rückbezug auf Gott, Freude an der Natur, aufklärerisches Denken, aber eben auch ein Bewusstsein für das – wenn auch sehr allgemein zu verstehende – Gemeinsame aller Religionen, formuliert auf der Basis eines christlich-jüdischen Schöpfungsbegriffs.

Ein Projekt wie die „Ouverture spirituelle“ ist in Gefahr, zu einem Wohlfühlprogramm mit beliebten Werken und beliebigen Inhalten zu degenerieren. Um ein postmodernes kulturelles Konsumprogramm mit spiritueller Prägung zu vermeiden, bieten die Festspiele gemeinsam mit den Herbert-Batliner-Europainistitut ein Begleitprogramm an. Wie beim „Jedermann“ mit seinem aus dem geistlichen Spiel stammenden Parabel-Charakter bleibt es dem Zuschauer überlassen, ob er sich innerlich berühren lässt, ein Häppchen moralische Genugtuung aufnimmt oder sich Hoffmannsthals Appell lediglich als beeindruckendes Produkt einer Kulturepoche zu Gemüte führt. Wer die aus Antike, Christentum und Aufklärung ererbte Idee, Bildung könne den Menschen zum vollkommeneren Menschsein führen, nicht ganz aufgeben will, wird den spirituellen Schwerpunkt zu Beginn der Festspiele – der dessen ureigensten Intentionen entspricht – nur begrüßen können.

Nicht nur christlich, sondern ausgeprägt katholisch war das Programm eines Konzerts, mit dem Nikolaus Harnoncourt und sein Concentus Musicus im Salzburger Dom zu Gast waren. Die „Missa Longa“ (KV 262) und die Litanei zum Allerheiligsten Altarsakrament (KV 243) sind beide in Salzburg uraufgeführt worden: die „Litaniae de venerabili altaris sacramento“ zum Palmsonntag 1776, die Messe – durch das Schreibpapier des Autographs auf 1775 zu datieren – vermutlich im gleichen Jahr im Dom oder in Sankt Peter. Beide geben ein glanzvolles Zeugnis für das Können des 19jährigen Konzertmeisters im Dienste Colloredos. Mit der Messe scheint Mozart alle kontrapunktischen Künste zum Lob Gottes – auch zum Ohrenschmeichel seines Dienstherrn und der Selbstbestätigung seiner Kunst – eingesetzt zu haben. Und die „Litaniae“ geben Zeugnis vom Einfallsreichtum des Komponisten, der jeder Wiederholung des „miserere nobis“ eine eigene Farbe, einen spezifischen Ausdruckswert geben konnte.

Harnoncourt dirigierte beide Salzburger Höhepunkte der Kirchenmusik – in Wien hatte Mozart ja leider keine Gelegenheit mehr, auf diesem Feld zu brillieren – mit ausgefeilter Sorgfalt im Detail. Die Reaktionsschnelligkeit seines Orchesters, der vokale Expressionswille des Arnold-Schönberg-Chores, verhallten leider in der unergründlichen Akustik des Domes. Ein Grund ist wohl: Musiziert wurde im Altarraum, nicht auf der Empore, wie es für eine Kirche eigentlich vorgesehen ist.

Auf Wunsch Harnoncourts wurden extra die Tapisserien aus dem Dommuseum aufgehängt, um die akustischen Verhältnisse der Mozartzeit anzunähern. Leider umsonst: Der Nachhall überflutete die sorgsam ausmodellierten dynamischen Kontraste; jedes Forte verurteilte ein nachfolgendes Piano zum Tod durch Ertrinken. Zudem neigt Harnoncourt in der Messe zu raschen, energischen Tempi und kleinteiliger Artikulation.

Auch die Solisten Sylvia Schwarz, Elisabeth von Magnus, Jeremy Ovenden und Florian Boesch versuchten meist vergeblich, ihre Stimmen zu profilieren. In den „Litaniae“ hatten die Musiker dank des langsameren Tempos und des musikalischen Pathos mehr Chancen auf fassbar gestalteten Klang. Harnoncourt beleuchtete theologische Schlüsselworte wie „supersubstantialis“ oder das – von Mozart in eine exotisch-dunkle Klangfarbe gekleidete – „Viaticum“, die Wegzehrung derer, die im Sterben zu Gott streben. Ansonsten musste man in Kauf nehmen, was als Gleichnis für unsere Zeit stehen könnte: Das Wort verhallte unverstanden.




Festspiel-Passagen I: Ein Hakenkreuz geht nie

"Der düstre Blick....": Noch starrt Arno Brekers Wagner-Kopf über das Grün des Hügels: Die Vergangenheit hat die Festspiele wieder einmal eingeholt. Foto: Werner Häußner

"Der düstre Blick....": Noch starrt Arno Brekers Wagner-Kopf über das Grün des Hügels: Die Vergangenheit hat die Festspiele wieder einmal eingeholt. Foto: Werner Häußner

Sie sind eröffnet, die alljährlichen Dionysien am mythischen Hügel. Doch Bayreuth wäre nicht es selbst, bliebe es bei den Tragödien im Festspielhaus. Die Komödien finden meist vorher statt, in diesem Jahr ersetzt durch ein deftiges Satyrspiel. Opfer der Medien-Mänaden – manche meinen auch, derer im Direktionsbüro – ist der Sänger Evgeny Nikitin. Seine „Tattoo-Affäre“ ließ die Debatten um Kartenvergabe und Wahnfried-Gestaltung, die Spannung um Neuinszenierung und Zukunftspläne, vorübergehend in den Hintergrund treten. Und besonders wichtig in Zeiten, in denen „Kultur“ der intellektuellen Bescheidung halber einfach mit „Freizeit“ gleichgesetzt wird: Angela Merkel schien das gleiche Kleid wie 2008 getragen zu haben! Jaja, die Spar-Kanzlerin! Und man will deutlich die Seidensöckchen zu ihren Pumps gesehen haben! Wenn das keine Meldungen sind ….

Evgeny Nikitin, der vorgesehene Sänger des „Holländer“, war zu diesem Zeitpunkt schon längst abgereist. Er sollte der erste Russe sein, der am Grünen Hügel den ruhelosen, gespenstischen Seefahrer singt. Die PR-Maschinerie lief auf vollen Touren: Porträts hier, Interviews dort. Jeder wollte etwas über den Bassbariton mit der „tollen Wagner-Stimme“ erfahren, der sich auch als Drummer einer Metal-Band hervorgetan hatte. Doch mitten im Steigflug stürzte Evgeny Nikitin unsanft ab. Die Vergangenheit hatte ihn eingeholt: seine eigene, aber vor allem diejenige Bayreuths.

Tattoos wurden dem Sänger zum Verhängnis. Irgendwann in seiner Jugend hatte er sich tätowieren lassen: mit Runen und einem unübersehbaren Hakenkreuz auf der rechten Brust. Längst hat er es überstechen lassen. Aber die Medien speichern, so vergesslich sie sonst gerne sind, manche Bilder lange. In der ZDF-Sendung „aspekte“ war das Nazi-Mal in Aufnahmen des oberkörperfreien Drummers deutlich zu sehen. Und ein Boulevardblatt, dem jeder Anlass zum Skandal nur recht ist, hatte zu recherchieren begonnen.

Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier reagierten schnell. Ein Gespräch mit dem Künstler, danach eine Presseerklärung: Nikitin verzichtet auf seinen Auftritt bei den Bayreuther Festspielen. Und dann ein Satz, den man zwei Mal lesen muss: „Im Ergebnis der ca. halbstündigen Unterredung wurden Evgeny Nikitin die Konnotationen dieser Symbole gerade in Verbindung mit der deutschen Geschichte bewusst.“

Als Nikitin in den siebziger Jahren in Murmansk aufgewachsen ist, konnten sie noch erzählen, die Leidtragenden des „Großen Vaterländischen Krieges“. Hatte er nie ein Wort gehört über Tod und Elend, die unter dem Zeichen des Hakenkreuzes über sein Volk gebracht wurden? War ihm das Hitler-Symbol tatsächlich nur ein Mittel, um jugendlichen Trotz, Protest, Verweigerung auszudrücken? Wenn ja – und man darf davon ausgehen, dass der Sänger die Wahrheit sagt –, lässt sich nur staunen, wie geschichtsvergessen und blauäugig jemand nach Bayreuth kommt, um den „Holländer“ zu singen.

Nikitin hat nicht mitbekommen, dass seine Tattoos mit dem Nationalsozialismus oder mit Neonazis in Zusammenhang gebracht werden könnten? Da will jemand zur Spitze der Wagner-Sänger weltweit gehören und scheint nicht den Schimmer davon zu haben, welche unheilvolle Rolle Wagners Denken, Wagners Musik und die Ideologie Bayreuths in der Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts spielte? Und was soll die „spirituelle“ Bedeutung sein, die der Sänger in diesen Symbolen entdecken will? Nein, Nikitin ist kein Nazi, kein Neonazi, auch keiner von den schrecklichen Verharmlosern. Er ist wohl einfach nur geschichtslos und naiv. Aber: Kann ein Sänger, so schön die Stimme auch sein mag, das heute, zumal in Bayreuth, noch sein?

Nikitin wird dennoch seinen Weg gehen: Beinahe schon demonstrativ wurde darauf hingewiesen, dass er im Herbst als Telramund im Münchner „Lohengrin“ zu erleben ist. Bayreuth plante für die gestrige Premiere derweilen mit dem Koreaner Samuel Youn, der in der Titelrolle des „Holländer“ – und etwa auch als Klingsor im „Parsifal“ – schon in Köln zu überzeugen wusste. Seit 2004 singt Youn bereits bei den Festspielen; 2010 hatte er als Heerrufer seine erste große Bayreuther Rolle.

Samuel Youn als "Holländer" in Bayreuth. Foto: Enrico Nawrath

Samuel Youn als "Holländer" in Bayreuth. Foto: Enrico Nawrath

Es war zu erwarten, dass sich ein „Skandal“ manifestiert – egal, wie die Wagner-Halbschwestern entschieden hätten. In Kommentaren wurde gemutmaßt, die entsprechenden Schlagzeilen seien schon gesetzt gewesen, als Nikitins Absage eintraf. Bayreuth und die Nazis bleibt ein heikles Thema, so lange Arnold Brekers Wagnerkopf noch über das Grün vor dem Festspielhaus in weite, weite Fernen stiert. Katharina Wagner, persönlich unverstrickt, hat bei ihrem Amtsantritt lückenlose Aufklärung gelobt – und das bei der Pressekonferenz zu Festspielbeginn noch einmal bekräftigt. Sie hat die geistige Auseinandersetzung mit den langen braunen Schatten in ihren „Meistersingern“ von 2007 gesucht und in Stefan Herheims „Parsifal“ mitgetragen. Doch so lange die wissenschaftliche Erschließung keine Ergebnisse vorzeigen kann, so lange Quellen weggeschlossen bleiben, wird sich das Gespenst nicht bannen lassen. Die Wunde schließt sich erst, wenn die „Nacht über Bayreuth“ dem hellen Tageslicht historischer Aufarbeitung gewichen ist.

Momentan holt sie die Geschichte wieder einmal ein, die beiden Wagner-Urenkelinnen. Ob sie richtig reagiert haben, darüber gibt es weit auseinander liegende Meinungen. Wäre eine gemeinsame Pressekonferenz mit Nikitin der bessere Weg gewesen, wie es der Intendant der Bayerischen Staatsoper, Nikolaus Bachler, vorgeschlagen hat? Wer die Eigendynamik medialer Prozesse kennt, wird der Idee skeptisch gegenüberstehen – so gutwillig und aufklärend sie auch gemeint sein mag. Andere sehen in der Entscheidung, Nikitin ziehen zu lassen, die richtige Reaktion angesichts der Verstrickungen der Festspiele mit dem Nationalsozialismus. Brigitte Hamann, Autorin eines Buches über „Hitlers Bayreuth“, sagte der „Deutschen Welle“, es sei „so viel an Last durch die Nazis in Bayreuth, heute auch noch, dass man als Chefin der Festspiele ja überhaupt nicht anders kann, als immer wieder zu betonen: Wir distanzieren uns“.

Bachler hatte sich mit scharfer Kritik in die Debatte eingeschaltet: „Ich sehe in der Causa Nikitin zunächst mehr ein Problem Bayreuths und der Wagner-Familie als eines des Sängers.“ Er halte es für verlogen, dass die „Torheit eines 16-jährigen Rocksängers, der diese längst bereut und versucht hat, ungeschehen zu machen, ausgerechnet von der Wagner-Familie geahndet wird“.

Der Staatsopernintendant betonte weiter, man zeige offenbar „mit dem Finger auf jemanden anderen, weil man mit der eigenen Geschichte ein Problem hat“. Nikitin habe in seinen Aussagen den Vorfall aus seiner Zeit als Schlagzeuger in einer Heavy-Metal-Band nicht nur bedauert, sondern auch Reue gezeigt. „Eine Reue, die ich von der Familie Wagner in den letzten 50 Jahren nie vernommen habe.“ In diese Kerbe schlägt auch das Feuilleton der FAZ: „Versagt hat nicht der russische Sänger. Versagt haben, wieder einmal, die Festspiele“, war dort zu lesen. Auch der „Lohengrin“ – Regisseur Hans Neuenfels sieht ein „großes Versagen“ der Festspielleitung: Von einem solchen Vorfall dürfe man nicht überrascht und von einem Boulevardmagazin zum Handeln genötigt werden. Dass das Problem nun in „einer solchen fast infantilen, analphasigen Boulevardposse endet, das finde ich schon besonders beschämend für die Festspiele“. So Neuenfels‘ Resümee.

Solche Äußerungen zeigen, wie bereitwillig mit der unglücklichen Jugendsünde des Evgeny Nikitin nun auch Politik gemacht wird. Die Festspielleiterinnen wollen doch nicht die Jugendtorheit eines Sängers „ahnden“. Sie haben mit Blick auf eine drohende Skandalisierung der Auftritte Nikitins entschieden. Der Bayreuth-Dirigent Christian Thielemann hat es auf seine Art zusammengefasst: „Ein Hakenkreuz geht nie.“ Und mit dieser Feststellung auch gleich einen geistigen Schlenker zu seiner generellen Abneigung gegen Inszenierungen mit Bezügen zur NS-Zeit vollzogen.

Vorwerfen wird diese „Notbremse“ den Festspielleiterinnen nur jemand, der ernsthaft glaubt, die wohlfeile Geschichte vom Hakenkreuzträger auf der braun belasteten Bühne wäre durch einen differenzierten, rationalen Diskurs zu verhindern gewesen. Wer weiß, wie das Mediengeschäft heute läuft, wird nicht im Ernst annehmen, dass Vernunft und Augenmaß die Gesetze dieses Marktes außer Kraft gesetzt hätten.




Schubert für Feinsinnige: András Schiff beim Klavier-Festival Ruhr

András Schiff berichtete in einem Interview einmal aus seiner Jugend: Er habe im Unterricht bei seinem Landsmann György Kurtág als Hausaufgaben Schubert-Lieder bekommen, die er in der Klavierstunde dann selbst singen musste. Und Schiff folgert: „Singen und Spielen, das war der vielleicht wichtigste Impuls in Richtung Schubert.“ Wer dem Klavierabend des ungarischen Pianisten in der Stadthalle Mülheim folgte, wird die Spuren dieser Ausbildung unschwer erkannt haben. Kurtág, einer der bedeutenden Komponisten der Gegenwart, hat dem jungen Schiff etwas mitgegeben, was dieser in seinen unvergleichlichen Stil integriert hat. Sein Schubert-Abend zum Abschluss des „klassischen“ Programms des Klavier-Festivals Ruhr war inspiriert von den Grundtugenden des Singens und des Atmens.

Dass Schubert in „singenden Phrasen“ denkt, macht Schiff sogleich deutlich: Den Anfang der G-Dur-Sonate D 894 setzt er in einem kunstvoll gesponnenen Bogen an, einer subtilen Mischung aus gebundener Phrase und perlender Staccato-Leichtigkeit, gegliedert mit einer schier unerschöpflichen Vielfalt an dynamischen Valeurs. Für einen solchen Ansatz ideal ist der Hammerflügel aus dem Bonner Beethoven-Haus, den Schiff spielt: Einem gewissen Franz Brodmann, einem unbekannten, angeblich in Wien zu lokalisierenden Instrumentenbauer, zugeschrieben, bietet er einen diskreten, farbigem Spiel zugeneigten Klang. Der Bass lässt sich markant betonen oder seidig-trocken ausspielen; in der Mittellage zeigt der Flügel warme, etwas metallisch klingende Tragfähigkeit. Nur der Diskant wirkt noch recht altertümlich spitz, wenig tragfähig im Ton. Dass vor allem in der oberen Mittellage die Stabilität der Stimmung schnell nachlässt, gehört zu den Kompromissen, die man bei historischen Instrumenten eingehen muss: Man bezahlt den Zugewinn im Klang durch Mängel der technischen Perfektion.

Dennoch: Mit diesem Flügel kann Schiff zeigen, worum es ihm bei Schubert geht: die gesanglich geprägte Phrasierung, die unerschöpflichen Abmischungen und Schattierungen in Klang und Dynamik, die Kunst der leisen Töne, der kaum hörbaren Andeutung. Die Zuhörer versetzt der Zwang zur Konzentration dabei nicht immer in Ruhe. Warum man spätestens 90 Sekunden nach dem Beginn eines Stücks das Ritual des Bonbon-Auspackens beginnen muss, bleibt mir auf ewig ein Rätsel.

Feines Geraschel in 4-D-Ausstrahlung also zu Schubert/Schiffs melancholischer Heiterkeit, zur diskreten Leidenschaft sanfter Aufschwünge und erlesen miniaturisierter Kontraste, zu elegischem Verklingen, nachdenklichem Kreisen und – hin und wieder – einem delikat gezügelten Forte-Akzent. Der Gefahr sanft-elegischer, versüßter Ästhetik entkommt Schiff nicht immer – vor allem in diesem schweifenden ersten Satz. Aber man kann ihm nicht vorwerfen, Schubert zu „verzärteln“: Schon im Andante-Satz greift der Pianist beherzter zu, arbeitet harmonische Kontraste deutlich heraus. Vor allem überspielt er nichts. Nur meidet er, Schuberts Psycho-Dramatik vorzuführen, wie ich es einmal etwa von Arcadi Volodos in jugendlichem Zupacken gehört habe.

Bei Schiff bleibt es bei Schubert für Feinsinnige. Der Anfang der ungeheuer tiefsinnigen posthumen C-Dur-Sonate D 960 ist etwa bei Alfred Brendel unter einen spannungsreicheren Bogen gestellt; Brendel betont – allerdings auf modernen Flügeln – eher das Gebrochene, das widerständige Potenzial des Bass-Trillers. Schiff achtet eher den Fluss der Musik, aber gerade auf dem Hammerflügel wirken die Triller nächtlich harsch und fast böse. Zwei Aspekte einer Schlüsselstelle, beide genial erfasst und dennoch so unterschiedlich!

Nun entwickelt Schiff die Sonate dann auch eher aus einem kantablen Aspekt. Das bedeutet jedoch nicht, dass er der Dynamik des Fließens unbekümmert Noten opfert. Bis in die fast unhörbaren Pianissimi des zweiten Satzes behauptet jeder Ton sein Gewicht. Dieses Andante sostenuto rückt Schiff nahe an die „Winterreise“ mit ihrer lakonischen, gelähmten Trauer.

Das Scherzo setzt er mit deutlich markanteren Rhythmen und spielerischer Frische deutlich ab; im vierten Satz muss die schmerzliche Intensität, die der Diskant auf dem modernen Flügel gewinnt, miniaturisierten Porzellantönen weichen – ein Eindruck, der das Bild von Schubert als dem Weltschmerz-Komponisten der Romantik etwas relativiert. Vier Zugaben, darunter die „Ungarische Melodie“ und zwei der unvergleichlichen Impromptus – runden einen Abend der Innerlichkeit ab, der in unserer lärmvollen Welt wie eine der Zeit enthobene Zauberinsel wirkte.




Ein Hoch der Tastenkunst: Martha Argerich beim Klavier-Festival Ruhr

Der Jubel war programmiert: Martha Argerich, eine der bekanntesten Pianistinnen weltweit, gehört zu den geschätzten „Stammgästen“ des Klavier-Festivals Ruhr. Solo-Konzerte gibt die Dame mit den langen grauen Haaren seit langem nicht mehr gerne. Sie macht mit Musikern, die sie schätzt, Kammermusik. In diesem Jahr konzentrierte sich ihr Auftritt in der Philharmonie auf das Klavier. Zwei Flügel, vier Spieler, acht Hände: Der Tastenkunst wurde Tribut gezollt!

Argerich eröffnete den Abend mit ihrer langjährigen Klavierpartnerin Lilya Zilberstein. Mozarts D-Dur-Sonate zu vier Händen (KV 381) schnurrte in perfekter Gleichzeitigkeit dahin. Die Damen gönnten sich kein Innehalten, preschten durch den ersten Satz. Kein idealer Zugang zu Mozart: Farbwechsel wären durch die Noten beglaubigt und würden die Vorherrschaft des rein Motorischen brechen. Dass Mozart zum Beispiel die Staccato-Treppchen schon nach vier Takten durch Bindebögen, nach weiteren vier Takten durch Rhythmuswechsel ersetzt, hat für die beiden stürmischen Damen keine Konsequenz für ihre Rhetorik. Und der piano-Einsatz ab Takt 14 zählt nicht als Zäsur, nach der sie die Artikulation verändern. Der zweite, schön fließende Satz gestand Mozart jedoch die Tiefe der Empfindung zu; im dritten Satz waren die Pianistinnen brillant-gelöst im Allegro molto angekommen.

Lilya Zilberstein (links) und Martha Argerich bei ihrem Essener Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr. Foto: Mark Wohlrab/KFR

Lilya Zilberstein (links) und Martha Argerich bei ihrem Essener Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr. Foto: Mark Wohlrab/KFR

Aus zweien von Debussys „Trois Nocturnes“ hat Maurice Ravel ein effektvolles Stück für zwei Klaviere gemacht, in dem Zilberstein und Argerich in ihrem Element sind: Konzentration auf magische Klangmomente, meditatives Kreisen, ein raffiniertes Spiel mit der Spannung, aber auch rasantes Martellato. Wenn im zweiten Stück, „Fêtes“, die dunkle Bässe „ausrollen“, die Spannung der Musik verebbt, noch einmal ein paar Töne aufklingen, wie Schaumkrönchen sich an einem Felsbrocken am Strand bilden, bevor bestimmende Bass-Akkorde das Ende signalisieren, dann wird beim Zuhören klar, wie souverän die beiden zu gestalten wissen.

In Franz Liszts „Concerto pathétique“ steigern sie die Ausdrucksmittel noch: Musikalische Gesten werden – wie im Stummfilm – expressiv überzeichnet: schmerzliches Pathos, aufgewühlte Bewegung, verzehrende Intensität, bittersüße Melancholie. Doch in einer von Martha Argerich unvergleichlich innig erzählten Melodie klappt jemand – schnapp – die Handtasche zu. Kein Augenblick der Zeit ist vollkommen …

Der Abend wurde auch genutzt, den Söhnen von Lilya Zilberstein zu ihrem Klavier-Festival-Debüt zu verhelfen: Daniel und Anton Gerzenberg verstärkten das Damen-Duo in Bedrich Smetanas Sonate für zwei Klaviere zu acht Händen. Füllig und orchestral kommt diese Musik daher, aber Smetana war doch wohl eher Melodiker als ein Freund kontrapunktischer Herumfeilerei. Die harmonischen Subtilitäten sind bei den Vieren in schön ausbalancierten Händen. Daniel und Anton, zwei sympathische Jungs, können leider – auch in der Zugabe eines Smetana-Rondos – nur beflissenes Teamwork beisteuern. Da die beiden seit 2008 als Klavierduo auftreten, wird es wohl irgendwann die Gelegenheit geben, zu hören, was sie wirklich können.

Ans Ende – vor die drei heftig beklatschten Zugaben – setzen Argerich und Zilberstein acht Sätze aus Tschaikowskys „Nußknacker“: Tanzmusik vom Feinsten, mit Geschmack, blitzender Präzision und einem kleinen Schuss Sentiment veredelt. Noch ein Hinweis: Am 20. Juli erscheint Martha Argerichs neuestes Album. Mit Gidon Kremer (Violine), Yuri Bashmet (Viola) und Misha Maisky (Cello) spielt sie Brahms‘ Klavierquartett op. 25 und Schumanns Fantasiestücke op. 88.




Daniil Trifonov: Grandioses Debut beim Klavier-Festival Ruhr

Daniil Trifonov bei seinem Debüt beim Klavier-Festival Ruhr in Düsseldorf, Foto: KFR/Frank Mohn

Daniil Trifonov bei seinem Debüt beim Klavier-Festival Ruhr in Düsseldorf, Foto: KFR/Frank Mohn

Hymnische Kritiken zu bekommen, ist heutzutage nicht schwer. Die Frage ist immer, von wem. Der 21-jährige Russe Daniil Trifonov hat sie nicht aus einer gut geschmierten PR-Maschinerie, sondern von Kritikern, deren Kompetenz und Unabhängigkeit erprobt sind.

Der junge Mann scheint sich zum Glück auch nicht als kompatibel für Kampagnen zu geben: Seine noch nicht inflationär verbreiteten Äußerungen in Interviews deuten auf ein maßvolles gezügeltes Selbstbewusstsein hin, das sich vor allem musikalisch verwurzelt: Auf der einen Seite zitiert ihn das Programmheft zu seinem Einstand beim Klavier-Festival Ruhr mit dem Satz, er verstehe das Wort Karriere im musikalischen Sinne; auf der anderen hatte er sein im letzten Jahr schon geplantes Debüt bei dem renommierten Ruhrgebiets-Tastenmarathon abgesagt, um nach dem Rubinstein-Wettbewerb in Tel Aviv noch schnell auch den Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau zu gewinnen. Dem 16. Chopin-Wettbewerb war er einen dritten Preis wert. Aber Martha Argerich und Krystian Zimmerman wurden in Warschau auf den Newcomer aus Nischnij-Nowgorod aufmerksam. Und wenn Argerich einmal sagt, so etwas habe sie noch nie gehört, hat das Gewicht.

So haben sich die Portale der Klavierwelt für Trifonov weit geöffnet. Er hat schon in Sälen gespielt, die für Andere Gipfelpunkt einer langen Karriere sind: Carnegie Hall New York, Wigmore Hall London, Musikverein Wien, Suntory Hall Tokyo, Salle Pleyel Paris, Amsterdamer Concertgebouw und Berliner Philharmonie; dazu kommen jetzt im Sommer Festivals wie Verbier, Lockenhaus oder das – neben dem Ruhr-Festival – zweite wichtige europäische Pianistentreffen im südfranzösischen La Roque d’Anthéron. Und wer mit den Berliner und den New Yorker Philharmonikern spielt, mit dem Cleveland Orchestra und den Wiener Philharmonikern, von dem lässt sich getrost behaupten, er habe den Durchbruch nicht nur geschafft, sondern längst hinter sich.

Solche Leute holt das Klavier-Festival an Rhein und Ruhr! Ruhris und Rheinis sollten, so sie es denn wahrnehmen, stolz sein auf ihr noch existierendes Kulturleben. Zumindest die lesende Öffentlichkeit hatte für diese Wahrnehmung wenig Chancen: Das Trifonov-Debüt wurde publizistisch weitgehend ignoriert. Zu wenig lokale Relevanz für „Europas neue Metropole“? Das stimmt sogar: Trifonov bewegt sich auf internationalen Parketts. Der einzige Unterschied zu arrivierten Künstlern seines Kalibers ist das Fehlen von Hochglanz-Breitseiten, die ihm mit ihrem Dauer-Salut den Weg auch in „lokale“ Feuilletons freischießen.

Das Publikum in Düsseldorf jubelte. Trifonov erwies sich als „formidabler Virtuoso“, wie ihn die „New York Times“ bei seinem Debüt im August 2011 beschrieben hat. Das betrifft nicht nur Wucht und Kraft des Zugriffs, etwa in den bösen Glockenschlägen und dem ungezähmten Furor von Skrjabins fis-Moll-Sonate Nr. 3, einem Paradestück Trifonovs. Sondern auch den Bruitismus und die ungeschönte Raserei in den pianistisch unglaublich anspruchsvollen Transkriptionen Guido Agustis von Strawinskys „Feuervogel“-Sätzen. Und die technischen Raffinessen von Chopins Etuden op. 25, die Trifonov so spielend bewältigt, als habe er ein paar Übungsstückchen von Karl Czerny vor sich.

Daniil Trifonov bei seinem Debüt beim Klavier-Festival Ruhr in Düsseldorf, Foto: KFR/Frank Mohn

Daniil Trifonov bei seinem Debüt beim Klavier-Festival Ruhr in Düsseldorf, Foto: KFR/Frank Mohn

Aber all die grandiosen Kaskaden, die Pranke im Bass und die gleißende Kraft des Diskants, die durchgerauschten Passagen und Arpeggien, die Raserei der Hände und der Triumph ihrer Spannweite über die Grenzen der Physis – alles das macht den jungen Virtuosen noch nicht zu einem Dramatiker, einem Poeten oder einem Lyriker am Klavier, sondern erst einmal zu einem Techniker. Wenn da nicht noch etwas ganz Anderes wäre: Im Allegretto der Skrjabin-Sonate zum Beispiel ist es die Farbe der Bässe, ein trocken-drohendes Staccato, das die Leichtigkeit als trügerisch entlarvt. Es ist die Abtönung der Phrasenenden, die zeigt, mit wie viel Delikatesse Trifonov zu modellieren versteht. Es ist die souveräne Geschmeidigkeit, mit der er sich an das Maestoso im letzten Satz anschleicht: Wie ein Tiger spannt er die Sehnen an, um dann mit voller Kraft abzuspringen.

Mehr noch: In Tschaikowskys „Echo rustique“ aus den 18 Morceaux op.72 bricht sich eine fröhlich zupackende Lust am Spielen ihre Bahn, ein gewitzter Blick auf den „Effekt“. Und in der cis-Moll-Hommage an Chopin aus dem gleichen Zyklus überzeugt der klare Aufbau des Stücks, die klug gesetzten dynamischen Forte-Piano-Kontraste, und wieder die federnden, gestaltreich durchformten Bässe. Bei Strawinsky transzendiert Trifonov die knallig-wilde Energie der „Danse infernale“ in der „Berceuse“ in kühler Poesie, in zerbrechlich-gläsernen Klangflächen. Das ungerührte, kalte Feuer dieser Tanz-Explosionen erfasst Trifonov ebenso wie die orchestrale Fülle des Finales.

Bedürfte es nach so viel musikalischer Überzeugungskraft noch eines letzten Impulses, um Trifonovs überragende Begabung zu bestätigen: mit Claude Debussys „Images“ hätte er ihn gegeben. Die „reflets dans l’eau“ habe ich – weder auf Tonträger noch live – schon lange nicht mehr so kontrolliert, so klar und dennoch mit solch poetischer Durchdringung erlebt wie an diesem Abend im Düsseldorfer Robert-Schumann-Saal. Die große Kunst der Balance – hier der innere Drang des Stücks, mit lyrischen Farben aquarelliert zu werden, dort der Wille Debussys zu Klarheit und seine Distanz zu schweifend-glühender Innerlichkeit – beherrscht Trifonov schlicht überwältigend. Und die Versenkung am Schluss hat in ihrer zärtlichen Freude am lichten Ton nichts vom Hang zum romantischen Kolorit, das Debussy gerne in die Nähe unscharfer Farbenmalerei des Impressionismus rückt.

Dass ein 21jähriger noch nicht „fertig“ ist mit dem Erschließen musikalischer Weltenräume, ist eine Binsenweisheit, die eigentlich keiner Erwähnung bedürfte. Aber bevor Trifonov zum jungen Abgott aus einer neuen Pianistengeneration stilisiert wird, sei auch auf Momente hingewiesen, die sein Potenzial auf künftige Erfüllung hin offen halten: Es ist, pikanterweise, das Einfache, das ihm noch nicht so souverän von der Hand geht. Tschaikowskys Morceaux, „Salonstücke“ im besten Sinne, wünschen sich im Falle der Valse aus op.51 das „Sentimentale“, also die Verschattung des Tons, den Trifonov zu klar und zu diesseitig nimmt. Die Bässe sind in diesem Fall zu bestimmt gesetzt, Arpeggien fehlt das biegsame Gleiten mit dem Hauch des Ungefähren. Das Sentiment will, überspitzt gesagt, ein kleines Spiel mit der Schlamperei – und das fordert das überlegen-augenzwinkerte Loslassen eines Virtuosen, der weiß, was er kann, und der sich dennoch ein wenig „gehen“ lässt.

Auch im Andante der Skrjabin-Sonate steht die jugendliche Ernsthaftigkeit der Suche nach dem Doppelgesicht der perfekten Töne noch im Wege. Bei Chopin schafft es Trifonov, poetisches Raffinement expressiv zu gestalten; da sind es nurmehr Details, die davon zeugen, wie jung dieser Ausnahme-Pianist ist: die Bässe der f-Moll-Etüde wirken ratlos unter der silbrigen Oberfläche; in der e-Moll-Etüde kommt er zu schnell zum Ziel des Crescendo und für die melancholische Lähmung des Stücks in cis-Moll fehlt ihm noch ein Quentchen Geduld. Doch das sind nicht mehr als winzige Flecken in einem überwältigend leuchtenden Bild, das, wäre es makellos, seine innere Tiefe verlöre.




„Noh all dänne Jahre“ – das Abschlußkonzert der Ruhrfestspiele mit BAP

Das war ja mal ein Open Air, wie es im Buche steht. Es regnete, ach was, es schüttete in Recklinghausen wie aus Kübeln beim Abschlußkonzert der Ruhrfestspiele. Trotzdem kann man nicht sagen, dass das Konzert ins Wasser gefallen wäre. Der guten Laune der gut 5000 Besucher des BAP-Konzerts tat das Wetter und die verschlammte Konzertwiese keinen Abbruch. „Gibt ja schließlich kein schlecht‘ Wetter…“ mit dieser Mütter-Weisheit eröffnete Wolfgang Niedecken – auf die Minute pünktlich wie immer – den Abend.

Zwei Stunden lang (mehr war städtischer Vorgaben wegen nicht drin) rockten die fünf BAP-Musiker, verstärkt von der großartigen Geigerin Anne de Wolff, den Hügel. „Sonx“ aus dem sehr gelungenen, neuen Album „Halv su wild“, das textlich und musikalisch ausgefeilt an frühere Zeiten der Band anknüpft, wechselten sich ab mit den bewährten Gassenhauern. Wenngleich diese Stücke seit einigen Jahren neu arrangiert daherkommen, waren es erwartungsgemäß Lieder wie „Do kanns zaubere“ oder „Kristallnaach“, die beim Publikum die größte Resonanz fanden. Ganz zu schweigen von „Verdamp lang her“, dem als Mitgröhllied verkannten Song mit dem eigentlich todtraurigen Text. So endete der Abend und mit ihm die Ruhrfestspiele für die meisten Anwesenden inclusive Band mit dem Gefühl „et war schön, et war jood, am Engk vielleicht doch bissje zu koot“.

Wer jedoch über Jahrzehnte BAP-Konzerte besucht, mit den speziellen Ritualen und Abläufen dieser Gruppe aufgewachsen und vertraut ist, bleibt jedoch mit der Frage zurück „Wirklich alles halv su wild“? Die diesjährige Tournee besteht neben einigen Zusatzkonzerten bei Festivals aus Nachholterminen für die Tour, welche letzten Herbst aufgrund des Schlaganfalls von Wolfgang Niedecken abgesagt wurde. Wer nicht nur „aff un zu“ zufällig auf BAP-Konzerten landet, merkt eindeutig, es ist „Vill passiert sickher“ und leider fast „Nix wie bessher“.

Die Band rettet sich im Laufe eines Konzerts mit auffällig vielen Soli über die Zeit, den zugegeben guten Musikern, die Niedecken in den lezten 25 Jahren um sich geschart hat, wird ein weit größerer Raum als sonst gegeben. Es ist spürbar, dass es ohne deren Unterstützung nicht wirklich gut gehen würde. Es werden kaum noch Balladen gespielt, welche immer einen großen Teil der Bühnenpräsenz des Wolfgang Niedecken ausmachten. Die musikalische Leitung der „Kapelle“, wie Niedecken sein BAP immer nannte, hat er abgegeben, das regelt alles Helmut Krumminga, sein äußerst begabter Gitarrist. Und die Rituale, die sich im Laufe von Jahrzehnten aufgebaut haben? In Recklinghausen war von ihnen kaum etwas zu sehen, in Münster vor einem Monat nur ansatzweise. Natürlich kann das ein gangbarer Weg sein, BAP noch einige Jahre auftreten zu lassen. Aber auch Wolfgang Niedecken muss es sich gefallen lassen, dass man ihm die Frage, ob „Noh all dänne Johre“ nicht auch er „zu alt ist, um auf sich selber reinzufallen“ gleichfalls stellt. Die Vorstellung, dass ausgerechnet Niedecken, dessen Stimme in diesem Land durchaus Gewicht hat, eines Tages entzaubert da steht und sagt „Hätt ich datt bloss paar Daach fröher jewoss“ ist schlicht nicht schön.

Aber wahrscheinlich kann er gar nicht anders. Nicht umsonst wohl hat er sich als einzige Ballade, die er alleine vorträgt, das alte „Für ’ne Moment“ ausgesucht:
„All ming Jedanke, all ming Jeföhle
hann ich – sulang ich denke kann –
immer noch ussjelääf oder erdraare,
en unserer eijne Sprooch.“

Nicht immer machen „Sonx“ unverwundbar, wenn Niedecken das auch noch so sehr beschwört. Wünschen wir ihm, dass der Hoffnungsschimmer, der sich derzeit zeigt, wirklich „funkelnd zeigt, wo’s langgeht“.




Der Handlungsreisende versus König Fußball – in Recklinghausen gewannen beide

Leerer als sonst war es an diesem Abend im Festspielhaus Recklinghausen. Es war der Abend des Länderspiel-Klassikers Deutschland gegen die Niederlande. Ungewöhnlich viele, die noch eine Karte verkaufen wollten, harren draußen aus. Drinnen dann geht es um das, was auch – seien wir ehrlich – den Fußball unserer Tage bestimmt: Geld, Ansehen, Popularität.

Das St.Pauli Theater Hamburg, Stammgast bei den Ruhrfestspielen, zeigte in der Schlusswoche der Ruhrfestspiele Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ in der Inszenierung von Wilfried Minks.

Im Mittelpunkt steht Willy Loman, der mit Mitte 60 ein müder und demoralisierter Handelsvertreter ist und seine besten Zeiten hinter sich hat. Seine Abschlüsse erreichen nicht die Zielvorgaben, seine Ausgaben übersteigen seine Einnahmen, die Existenzen seiner zwei erwachsenen Söhne sind schlicht gescheitert. Seine Säule ist seine ebenso tapfere wie leichtgläubige Frau Linda. Doch diese betrügt er genau wie sich selbst. Der Wahrheit blickt er nur selten ins Auge, schon den kleinsten Erfolg bläht er auf zum sagenhaften Fortschritt. Seine halbherzigen Hilferufe verhallen ungehört. Linda und die Söhne erkennen durchaus, wie schlecht es ihm geht, doch sind sie zu nicht mehr als schalen Durchhalteparolen fähig.

Belegt mit dem Fluch des Vertrieblers flüchtet Loman sich in falschen Stolz. Nicht um’s Überleben geht es ihm, sondern um die Sicherung seines Ansehens. Loman rettet sich mal in eine verklärte Vergangenheit, mal in Träume von einer glanzvollen Zukunft, die seine Söhne richten sollen. Doch diese richten gar nichts, eher werden sie gerichtet. Zugrunde gerichtet durch Willy Lomans Träume und übersteigerte Erwartungen.

Der als genialer Bühnenbildner Peter Zadeks bekannt gewordene Wilfried Minks inszenierte den „Handlungsreisenden“ mit sparsamen Mitteln werkgetreu und erlag nicht der Versuchung, das Stück in die Jetztzeit zu übertragen. Gerade deshalb entfaltet es durch die unwillkürlich beim Zuschauer aufkommenden Fragen eine bestechenden Sog. Hat sich etwas geändert? Ist es nicht gar noch immer schlimmer geworden? Sind wir nicht alle ein bißchen Loman?

Arthur Millers Intention war es nicht, die Realität zu spiegeln, sondern tief in die Psyche seiner Schlüsselfiguren einzudringen. Wie lebt man weiter, wenn man die Vergeblichkeit eines lebenslangen Tuns erkannt hat? Bei Miller ist die Antwort der Tod und so legen auch Minks‘ Darsteller ihr Spiel an. Burghart Klaußner zeigt Willy Loman eindringlich in seiner Zerrissenheit, sein Loman steuert vom ersten Moment an auf den Abgrund zu. Deutlich zeigt er, selbstübersteigernde Reden schwingend, den verzweifelten Versuch, das Abrutschen zu verhindern. Klaußners Loman glaubt schon lange nicht mehr, was er lügt. Er erwartet allerdings durchaus, dass andere ihm glauben. Nicht um sein Selbstbild geht es ihm, sondern um sein Spiegelbild in den Augen anderer. Wichtig ist nicht, was man kann. Wichtig ist, wie man auf andere wirkt.

Auch Margarita Broich in der Rolle der Linda Loman zeigt eine starke Leistung. Überzeugend gibt sie die Frau, auf der das Schicksal der Familie lastet, die Frau, die im Zweifelsfall ihren Willy über alles stellt, auch über ihre Söhne. Klaglos stopft sie ihre Strümpfe, während ihr Mann seiner halbseidenen Geliebten vollseidene Strümpfe kauft.

Das übrige Ensemble passt sich den beiden herausragenden Hauptdarstellern mutig an und versucht ebenfalls, sein Spiel aus der Psyche ihrer Figuren heraus zu erklären. Nicht allen gelingt dieses Tun und so wirkt das Stück manchmal holprig und desorientiert, wenn mehrere Ensemble Mitglieder auf der Bühne stehen und nicht recht zu wissen scheinen, wie sie eine Interaktion untereinander stimmig anlegen sollen. Tiefpunkt des Abends ist die Szene, in der die Söhne mit einem Marilyn-Monroe-Verschnitt anbändeln, einer Blondine im schlecht sitzenden weißen Plissee-Kleid, welches zu allem Überfluss auch noch klischeehaft hochgewirbelt wird. Dieser Gag im einem Stück des Monroe-Liebhabers Arthur Miller wirkt billig und bewirkt auch nicht mehr als ein paar vereinzelte Lacher. Das hätte man sich sehr gut sparen können.

Dennoch gelingt es dem St.Pauli Theater, die universelle und Zeiten überdauernde Gültigkeit von Millers systemkritischem Stück zu vermitteln. Der Handlungsreisende, der ewige Opportunist zerbricht, weil er sich der Demokratie des Anpassens unterordnet. Loman verabschiedet sich selbst aus diesem Leben, die Familie kassiert die Versicherungsprämie. Linda wundert sich, aber die fälligen Rechnungen bezahlt sie dennoch und kommt zum Schlußsatz „Wir sind frei“. Er klingt eher gefangen denn erleichtert.

Erleichtert sind hingegen die Zuschauer, die den Abend an der Bar des Hauses ausklingen lassen. Die letzte Viertelstunde des Fußballspiels können sie dort noch verfolgen. Deutschlands Kicker gewinnen.

Die Ruhrfestspiele befinden sich auf der Zielgeraden. Am morgigen Samstag, den 16. Juni, gibt es auf dem Recklinghäuser Hügel das große Open-Air Abschlusskonzert, bereits zum zweiten Mal mit BAP.




Ich bin dann mal weg: Heiner Goebbels‘ „Ästhetik der Abwesenheit“

Prof. Heiner Goebbels © Wonge Bergmann für die Ruhrtriennale

Prof. Heiner Goebbels © Wonge Bergmann für die Ruhrtriennale

Der Intendant als sein eigener Theoretiker: Im Gegensatz zu den meisten Künstlern, die die Deutung ihrer Werke gerne mit dem Hinweis verweigern, das Geschaffene solle für sich sprechen, liefert Heiner Goebbels die Dramentheorie zu seinen Musiktheaterinszenierungen gleich mit.

Mehr noch: Die ästhetische Theorie entwickelt sich scheinbar organisch aus seinen Kompositionen und aus der Art, wie er glaubt, sie in Szene setzen zu müssen. Das ist ebenso originell wie überzeugend. Doch Heiner Goebbels ist eben nicht nur Komponist, neuer Intendant der Ruhrtriennale und Musiktheaterregisseur, sondern auch Professor für angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Seit 2009 ist er außerdem Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Düsseldorf, wo er kürzlich in einem Vortrag seine „Ästhetik der Abwesenheit“ erläuterte.

Mal ehrlich: Wer stört bei einem Konzert am meisten? Tut eigentlich nichts und verstellt nur den Blick auf die Musiker? Genau: der Dirigent. So sieht man denn auch in der Aufführung „Eislermaterial“ mit dem Ensemble Modern (die am 13. Oktober nochmals in der Philharmonie Köln zu erleben ist) die Musiker im Karree um einen leeren Raum herumsitzen, in dem auf den zweiten Blick eine winzige Tonfigur auf einem Podest den Stab in die Höhe reckt – die Karikatur eines Dirigenten. Für Goebbels ist der Dirigent nicht nur verzichtbar, sondern er maßt sich sogar eine Führungsposition an, die Publikum und Musiker in ein bestimmtes Rezeptionsverhalten hineinzwängt und so die freie künstlerische Erfahrung verhindert.

Ausgeweitet auf das Drama bzw. die Oper bedeutet dieser Ansatz einen Verzicht auf Sänger bzw. Schauspieler, eigentlich auf alle, die durch ihre Präsenz auf der Bühne den Fokus des Publikums auf ihre Figur richten. Was radikal anmutet, ist tatsächlich Ergebnis einer ästhetischen Entwicklung, die Goebbels mithilfe von Videoeinspielungen erklärt. In „Eraritjaritjaka“ (2004) geht der Schauspieler nach einem langen Monolog von der Bühne und fährt, von der Videokamera begleitet, mit dem Auto nach Hause. Dort liest er Briefe, macht die Wäsche und brät sich ein Spiegelei währenddessen er Texte von Canetti rezitiert. Die Zuschauer erleben das auf der Leinwand mit und gerade durch die Abwesenheit entstehe eine ungeheure Spannung: Kommt der Schauspieler noch einmal wieder? Sollen wir auf ihn warten oder auch nach Hause gehen und uns selbst vielleicht ein Ei braten? Haben wir Hunger oder möchten wir lieber Musik hören?

In „Stifters Dinge“ von 2007, die bei der Ruhrtriennale wieder zu sehen sein werden, vollendet sich die „Ästhetik der Abwesenheit“ in einer Art fremdartiger Anwesenheit von klingender Materie. Ein Versuch, so Goebbels, komplett auf Darsteller zu verzichten und nur die Dinge sprechen zu lassen, die sich auf der Bühne befinden: Wasser, Eis, vom Wind bewegte Vorhänge, Licht. Dazu hört der Zuschauer eingespielte Aufnahmen von menschlichen Stimmen in fremden Sprachen. Kann das gelingen, kann man so das Publikum fesseln und eine ästhetische Erfahrung jenseits der üblichen Sehgewohnheiten ermöglichen? Für Heiner Goebbels ist das Experiment gelungen, die Abwesenheit mündet nicht in der Leere, sondern dialektisch gesprochen in der Anwesenheit von etwas ganz anderem, bisher noch nicht in den Blick geratenem, dem Fremden. Etwas, das sich Freiheit der Kunst nennt? Oder wie eine Zuschauerin es ausdrückte: „Endlich steht niemand mehr auf der Bühne, der mir sagt, was ich denken soll.“

Ende Juli erscheint Heiner Goebbels „Ästhetik der Abwesenheit – Texte zum Theater“ als Buch im Verlag Theater der Zeit.

 




Großer Ballettabend auf dem Hügel – Boris Eifman zeigte „Onegin“

Früher war es gute Tradition, dass auf dem Recklinghäuser Hügel während der Ruhrfestspiele wenigstens ein Ballett der Extraklasse gezeigt wurde. Unvergessen die Gastspiele Maurice Béjarts oder Alvin Aileys. In den letzten Jahren versteckte sich das Genre Tanz und Ballett, wenn überhaupt, in den Nebenveranstaltungen. Diesmal begeisterte aber mit dem Boris Eifman State Academy Ballett St.Petersburg seit langem wieder ein Ensemble von Weltrang ein dankbares Publikum auf dem Recklinghäuser Hügel.

Die St.Petersburger zeigten das Ballett „Onegin“, nach Puschkins Novelle „Eugen Onegin“, über die Irrungen und Wirrungen eines russischen Lebemanns in der Choreographie von Boris Eifman zur Musik von Tschaikowski und des russischen Rockmusikers Alexander Sitkovetsky. Die Geschichte des Eugen Onegin gilt seit jeher als eindringliches Bild der „russischen Seele“.

Eifmans wilde und eigenwillige Version in zwei Akten ist der gelungene Versuch, diese Geschichte, unter Wahrung der ihr eigenen Poesie und Philosophie, im Kontext des modernen Rußland zu zeigen. Folgerichtig ergänzt Eifman die Musik Tschaikowskis mit Stücken des russischen Rockmusikers Alexander Sitkovetsky. Dessen Musik geht in Richtung des bombastischen Stadion-Rocks à la U 2 oder Coldplay und passt ausgezeichnet zur vermittelten Dramatik. Erst diese Musik ermöglicht es den Tänzern, dem Werk eine eigene Kraft und Dynamik zu verleihen, gerade dann, wenn Eifman die Geschichte in noch extremeren Umständen zeigt. Die alte Welt bricht zusammen, das Leben diktiert neue Regeln und die Protagonisten lassen Vergangenes hinter sich. Eifman gilt als ein Meister in der Kunst, Geschichten tänzerisch zu erzählen. Souverän schafft er es, Musik, Bühnenbild, Licht und Choreographie zu einem eindringlichen Ganzen verschmelzen zu lassen. Der erste Akt ist großartig, der zweite spektakulär. Im Zusammenspiel aller Komponenten gelingen ihm und seinem Ensemble grandiose Bilder von tiefer Eindringlichkeit.

Die Tänzer tanzen durchgehend auf Weltklasse-Niveau. Soli und Pas de Deux leben allerdings hauptsächlich von der großen Kraft und dem Ausdruck der Männer, allen voran Dmitry Fisher als Lensky. Oleg Gabyshev als Onegin ist ebenfalls ein hervorragender Tänzer, jedoch ist seine Rolle im ersten Akt tänzerisch noch undankbar und er wirkt bei weitem nicht so stark wie Fisher. Der zweite Akt kommt ihm mehr entgegen, man merkt, dass der moderne Tanz ihm mehr liegt als die Wanderung zwischen zwei Stilen. Die Solistinnen bleiben dahinter spürbar zurück, ihr Ausdruck ist bei weitem nicht so stark. Einzig Maria Abashova als Tatjana vermag im zweiten Akt in der Nachtclubszene zu überzeugen.

Die größte Kraft und Wirkung entfaltet das Ballett jedoch erst dann, wenn das ganze Ensemble auf der Bühne ist. Sie tanzen homogen, aber dennoch auffällig individuell, was die beabsichtigte Aussage eindrucksvoll unterstreicht

Es waren vier großartige Ballettabende, die das Publikum mit stehenden Ovationen belohnte und die dem Motto der Ruhrfestspiele „Im Osten was Neues“ mehr als gerecht wurden.

[youtube http://www.youtube.com/watch?v=K3xArOu1NOo&w=560&h=315]

(Quelle: www.youtube.com)




Winterreise im Mai – Katja Riemann und Arne Jansen bei den Ruhrfestspielen

Das Thermometer in Recklinghausen zeigte gut 25 Grad, auf dem Festspielhügel herrschte gepflegte Festival-Atmosphäre. Die Gastronomie gut besucht, das Publikum eigentlich sommerlich heiter gestimmt. Auf dem Programm aber steht eine Winterreise, im Festspielhaus rieseln die Schneeflocken.

Mit einer Schneekugel beginnt die Uraufführung von „Winter – ein Roadmovie“ bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen. Die Schneekugel – das unscharfe Symbol einer verkitschten, heilen Welt. Im Laufe der Jahre geliebt, verpönt, belächelt, derzeit Kult. Auf einer großen Leinwand sind sowohl Heinrich Heine als auch Franz Schubert in solch einer Kugel zu sehen. Die künstlichen Flocken rieseln zu den Klängen der Black Eyed Peas.

Erst dann beginnt die eigentliche Reise, auf die Schauspielerin und Sängerin Katja Riemann und der virtuose Jazz-Gitarrist Arne Jansen das Publikum in diesem Jahr mitnehmen. In ihrem Roadmovie verbinden sie den Liederzyklus „Winterreise“ von Franz Schubert mit Heinrich Heines „Deutschland, ein Wintermärchen“. Wie derWesten berichtet, ist die Idee zu diesem ambitionierten Projekt im letzten Jahr beim Brunch im Festspielhaus entstanden. 2011 waren Katja Riemann und Arne Jansen erstmals gemeinsam mit einem Projekt auf der Bühne. „Doitschlandlied“ war der Titel ihrer ersten gemeinsamen Konzeption, die so großen Anklang fand, dass die Frage nach einer Fortführung der erfolgreichenen Zusammenarbeit einfach im Raume stand.

„Winter – ein Roadmovie“ ist anders als das „Doitschlandlied“. Es ist elegischer, melancholischer, leiser. Das Thema Deutschland bleibt, weitet sich aber auf Europa aus. Die Werke Heines als auch Schuberts spiegeln nicht nur deutsche Geschichte wider, sie zeigen auch eine früh entstandene Sehnsucht nach einem geeinten Europa. In Zeiten der Eurokrise sind beide Werke aktueller denn je. Riemann und Jansen zeigen dies akzentuiert und punktgenau. Bearbeitet haben die beiden ihr Roadmovie mit akribischer Sorgfalt, spürbarer Hingabe, aber auch mit Respekt und Demut für die zugrunde liegenden Werke. Und so ist auch die diesjährige konzertante Vorlesung des Duos trotz des frostigen Themas mitten im Sommer wieder ein Erfolg.

Arne Jansen ist ein Ausnahme-Gitarrist. Selbst wenn er sich zurücknimmt wie an diesem Abend, sein großes Talent trägt die konzertante Begleitung und begeistert durchgehend. Die Riemann zeigt sich vielseitig. Dass sie eine gute Sängerin ist, hat sich mittlerweile herumgesprochen – bei dieser Aufführung traut sie sich auch an instrumentale Ergänzung mit Blockflöte und Melodica. Die Texte fordern ihr ganzes schauspielerisches und gesangliches Können, sie ist eine Schauspielerin, die noch Mut zum Drama und zum Deklamieren hat. Souverän steht sie diese sicher anstrengende Reise durch, schafft es dabei nonchalant, das Publikum einzubeziehen und mit diesem in einen angenehm unaufgeregten Dialog zu treten. Unaufdringlich unterstützend wirken kleine Film-Einspieler auf der Leinwand, jeder für sich ein kleines Kunstwerk.

Die Ruhrfestspiele dümpeln in diesem Jahr zwar gewohnt erfolgreich, aber auch unspektalulär vor sich hin. Wie schon im letzten Jahr sind es die Aufführungen im kleinen Haus, die Mut und Kreativität zeigen, so wie jetzt die Winterreise im Mai. Intendant Frank Hoffmann verbindet die Ruhrfestspiele gerne mit dem Anspruch, sie seien ein Ort der Kreativität, deren dort uraufgeführte Werke von Recklinghausen aus einen erfolgreichen Weg durch die Theater und Bühnen der Republik finden. Zumindest „Winter- Ein Roadmovie“ dürfte diesen Anspruch erfüllen.

Die Ruhrfestspiele Recklinghausen zeigen noch bis zum 16. Juni ein breitgefächertes Programm.




Meister der Notenmassen – Pianist Igor Levit mit Etüden von Debussy und Liszt

Igor Levit, Tasten und Finger fest im Blick. Foto: Mohn/Klavier-Festival Ruhr

Zehn Tage sind nunmehr beim Klavier-Festival Ruhr 2012 ins Land gegangen. Es hat sich einen fulminant wuchtigen, wie elegant pianistischen Auftakt gegönnt – mit den Bochumer Symphonikern unter Steven Sloane und dem Solisten Jean-Yves Thibaudet. Als berühmter Dauergast gab sich Daniel Barenboim die Ehre, als fingerflinke Sinnsucherin kam Yuja Wang.

So weit, so interessant. Nun aber hat der Russe Igor Levit in Essen die Bühne betreten. Als ein Zeremonienmeister des Klavierspiels, der in strenger Selbstdisziplin dafür sorgt, seine Kraft im Zaum zu halten. Der sich in einen dämonischen Virtuosen verwandeln kann, ohne Gefahr zu Laufen, als Hexenmeister apostrophiert zu werden. Und der vom Musizieren offenbar nicht genug bekommt, Werk um Werk, Stück um Stück auftürmt, als wolle er sich einer neuen olympischen Disziplin des Abarbeitens von Notenmaterial unterwerfen.

Wenn also dieser Mittzwanziger, der vom Feuilleton schon zum jungen Meister erkoren ist, in Essen Debussys 12 Etüden interpretiert, um nach der Pause noch eine Stunde Liszt draufzulegen, dann ist die Verehrung durchs Publikums schon ob der Quantität des Programms riesengroß. Levit liefert (zu) viel des Guten, füllt den Raum mit Klang(über)sättigung. Er exerziert und attackiert. Der Körper ist gebeugt, das Gesicht auf Tastenhöhe, die Mimik verrät zumeist Ernst, Ingrimm, bisweilen Verbissenheit. Diesem gewaltigen ästhetischen Rausch ergeben wir uns unmittelbar.

Dennoch: Levit ist kein Zauberer. Er kann viel, aber letzthin stellt er sich selbst ein Bein. Mag er als Meister der Notenmassen ungeheuer beeindrucken, stellt sich trotzdem die Meinung ein: Er hat’s im Griff, wir hören es wieder und wieder. Viel Ursache, viel Wirkung und manche Erschöpfung. Nun bitte, es ist genug.

Dabei beginnt alles spielerisch leicht. Debussys zwölf Etüden, die ja mehr sind als eine Abfolge raffinierter Triolen- Sextolen- oder Akkord-Exerzitien, serviert uns Levit als klangschöne Piècen. Der Pianist meidet allen Akademismus, zeichnet klare Strukturen, verzückt das Publikum mit hochdifferenzierter Dynamik. Wir hören kantige Motorik und entmaterialisiertes Schweben. Der Solist zelebriert, ohne die Etüdenfolge in falscher Schönheit zu ertränken.

Dem Zauber, der dieser Musik gleichwohl inne ist, darf sich das Publikum wohlig hingeben, darf Gedanken spinnen über Stimmungen oder eigene Bilder evozieren. Debussy hat, im Gegensatz zu seinen Préludes, hier keine poetischen Titel notiert. Und so gibt uns Levits kontrolliertes, Klangräume öffnendes Spiel alle Möglichkeiten der Assoziation.

Bei Franz Liszts „Douze études d’exécution transcendante“ liegen die Dinge anders. Die meisten Stücke dieses hochvirtuosen Dutzends tragen Titel, sind teils klavieristische Programmmusik. Der Komponist gießt Helden- und Befindlichkeitstum überwiegend in gleißende Fingerakrobatik. Für sich genommen ist dieser Zyklus eine Offenbarung. In Verbindung zu Debussys Etüden wirkt er eher derb, protzend, ranschmeißerisch.

So gesehen, ist Levits Konzertdramaturgie nicht glücklich zu nennen. Zudem werden seine pianistischen Grenzen deutlich. Unfallfrei entkommt er dem virtuosen Wahnwitz mancher Stücke jedenfalls nicht. Und alles Zarte scheint nur Atempause, um sich erneut ins Exzessive zu stürzen. Selbst das „Schneetreiben“, wie Liszt seine letzte Etüde umschreibt, ist bei Levit eher ein winterliches Unwetter. Wie gesagt: Wir ergeben uns.

 

Informationen zum Programm unter www.klavierfestival.de

 




Zuerst die Musik, dann die Worte – das neue Programm der Ruhrtriennale

Heiner Goebbels, neuer Intendant der Ruhrtriennale. Foto: Triennale

Wenn der Intendant eines internationalen Festivals von Haus aus Komponist ist, kann es kaum verwundern, dass die Musik eine Hauptrolle im Programm spielt. Wie bei der Ruhrtriennale, deren Leitung Heiner Goebbels für die nächsten drei Jahre übernommen hat. Die Vorstellung seiner ersten Spielzeit hat nun beredtes Zeugnis davon gegeben. Oper, Konzert und Tanz stehen im Mittelpunkt. Und selbst die Theaterproduktionen entbehren kaum des Tönenden.

Goebbels ist im Ruhrgebiet kein Unbekannter, vielmehr – indirekt zumindest – ein Pionier all dessen, was sich die Triennale auf die Fahnen geschrieben hat. Denn seine Musik wurde von den Bochumer Symphonikern schon in der Jahrhunderthalle, also einer einst industriell genutzten Spielstätte, aufgeführt, als noch niemand an ein Festival mit ungewöhnlichen Aufführungsorten und Programmen jenseits des Mainstreams dachte.

Inzwischen hat sich die Triennale etabliert, wechselt alle drei Jahre der Intendant, und mit ihm ändern sich die Schwerpunkte. Goebbels sagt: „Uns geht es um die radikale Erneuerung des Musiktheaters. Dem Publikum wird Unerhörtes geboten, nicht das Repertoire der regionalen Bühnen. Wir wollen eine Kultur von allen für alle. Deshalb werden viele Mitwirkende aus dem Ruhrgebiet kommen.“

Begonnen wird mit einem Revolutionär unter den Komponisten, John Cage. Dessen „Europeras I/II“ sind in Goebbels Regie zu sehen. Ein musikalisches Konglomerat aus 64 Arien der europäischen Operngeschichte, geordnet nach dem Zufallsprinzip. Die Inszenierung in Bochums Jahrhunderthalle arbeitet mit 32 verschiedenen Bühnenbildern.

Carl Orffs „Prometheus“ folgt, in der Duisburger Kraftzentrale; ebenfalls ein Werk, das man auf gängigen Spielplänen vergeblich sucht. Ein „Sprach-Musik-Drama“ nennt Goebbels die Oper, deren Archaik sich schon durch die Besetzung mit einem 20köpfigen Schlagwerkensemble erschließt. Ähnlich perkussiv dürfte es auf der Halde Haniel in Bottrop zugehen – einer neuen Spielstätte –, wenn dort die japanische Gruppe Boredoms, verstärkt um Drummer aus der Region, Klangekstasen in die Nachtluft senden.

Der Blick auf den Tanz führt etwa zur Produktion „enfant“ für drei Maschinen, neun Tänzer und eine Gruppe Kinder in der Jahrhunderthalle oder zur Uraufführung der Performance „Le Sacre du Printemps“ des Choreographen Laurent Chétouane (Spielort PACT Zollverein).

Die Veranstaltungen, die unter der Rubrik Theater subsumiert sind, lassen nur selten die Musik außen vor. So ist „Life and Times – Episode 2“ eigentlich eine Musicalperformance des „Nature Theater of Oklahoma“ (PACT Zollverein). Romeo Castelluccis „Folk“ wiederum, zwischenmenschliche Formen wie Gemeinschaft, Trennung und Isolation diskutierend, arbeitet mit Bewegungsritualen und will die Grenzen zwischen Akteuren und Publikum aushebeln. Doch auch hier geht es nicht ohne Musik (von Scott Gibbons; zu sehen in der Gebläsehalle Duisburg).

Hinzu kommen klassische (Kammer)-Konzerte, Publikumsgespräche und Symposien. Das Thema „No education“ bezieht Kinder auf witzig-verspielte Art ins Programm ein. Sie werden sich alle Produktionen ansehen und am Schluss Preise vergeben – in selbst gewählten Kategorien. Tatkräftige Hilfe erhalten sie von der kanadischen Forschungsgruppe „Mammalian Diving Reflex“.

Dem Urteil der Jury dürfen wir ebenso gespannt entgegensehen wie dem Gesamtprogramm. Intendant Heiner Goebbels hat zwar auf ein übergeordnetes Thema verzichtet, doch trifft der Titel eines Opernlibrettos des 18. Jahrhunderts wohl den Kern: „Prima la Musica, poi le parole“. Zuerst die Musik also. Goebbels, darauf angesprochen, denkt nach und verweist auf den russischen Regisseurs Wsewolod Meyerhold.  Dessen Credo war: „Das Wichtigste … wofür ich kämpfe, ist die Untermauerung des Schauspiels mit einem musikalischen Fundament“.

 

Alle Einzelheiten zum Programm finden sich unter http://www.ruhrtriennale.de




Ringen um die Wittener Tage für neue Kammermusik nur vorerst beendet

Auch das "Calefax reed quintet" gastiert in Witten. Foto: WDR

Die „Wittener Tage für neue Kammermusik“ sind gesichert. Das liest sich eigentlich als gute Nachricht. Doch dahinter verbirgt sich leider die Tatsache, dass eines der traditionsreichsten, renommiertesten Festivals in Deutschland auf der Kippe stand. Und dass es an der Finanzierung hing – aber das ist ja für Kulturschaffende ein täglich elend Brot.

Die Kammermusik-Tage, seit 1969 gemeinsam vom WDR und der Stadt Witten veranstaltet, reichen bis ins Jahr 1936 zurück, damals von dem Komponisten Robert Ruthenfranz ins Leben gerufen. Sie entwickelten sich für die tonschöpfende Avantgarde zum wichtigen Uraufführungsforum. Und nicht zuletzt: Die Erfüllung von Kompositionsaufträgen brachte Geld.

Seit langer Zeit also gibt es Konzerte, Klanginstallationen (teils in freier Natur) sowie Gespräche, bisweilen auch Filme. Längst genießen die „Tage“ internationalen Ruf. Und die Porträtkonzerte, seit 1978 im Programm, widmeten sich zunächst vor allem dem Werk, das hinter dem Eisernen Vorhang entstand.

Witten war zudem stets Podium für junge Spezialensembles, aber auch für berühmte Formationen wie etwa das Arditti String Quartet. Schon bald stand das Festival im Ruf, das Donaueschingen des Ruhrgebiets zu sein, anspielend auf das Nachkriegsmekka der Neuen Musik. Selbst das Goethe-Institut brach einst eine Lanze für dieses wichtige Stück deutschen Kulturguts: ohne die „Tage“ sei manche Entwicklung zeitgenössischen Komponierens, etwa die Renaissance des Streichquartetts, kaum möglich gewesen.

Dies alles kostet selbstredend Geld. Der WDR übernahm dabei den größten Batzen, zuletzt etwa 200 000 Euro. Die Stadt Witten und das Land gaben zusammen (Stand 2010) gut 75 000 Euro – deren Anteil sollte in diesem Jahr etwas niedriger sein. Doch die hochverschuldete Kommune hat bisher keinen genehmigten Sparhaushalt, darf also ihren Betrag nicht zur Verfügung stellen. Dies wiederum, eine Auswirkung des sogenannten Stärkungspaktes, lässt die Geldbörse des Landes zugeschweißt. Die Frage, beklommen gestellt, sei erlaubt, inwieweit statt von Stärkung besser von Erpressung die Rede sein sollte. Nun, der Trend, die Kultur den einen oder anderen Kopf kürzer zu machen, hat ja im Moment Konjunktur. So widerlich und kurzsichtig dies auch ist.

Deshalb blieb nach langen Verhandlungen dem WDR nichts anderes übrig, als annähernd die gesamten Kosten für die Kammermusiktage zu übernehmen. Witten selbst muss nur noch die Räumlichkeiten und das Personal zur Verfügung stellen. Ein Scheitern dieser Gespräche wäre einer Katastrophe gleichgekommen. Nicht nur wegen der Ausfallhonorare für Komponisten und Interpreten, sondern vor allem wegen der (internationalen) Blamage.

Die Not ist indes nur für dieses Jahr beseitigt. Und so wird das Festival vom 27. bis 29. April wie geplant stattfinden. Mit 23 Uraufführungen und dem Porträt des dänischen Komponisten Hans Abrahamsen. Danach sollen alle Beteiligten über die Zukunft der „Tage“ beraten. Dass es soweit kommen musste, ist schlimm genug.




Wachstum möglich: Dortmunder „Klangvokal“-Fest erstmals auf sicherem Grund

Die israelische Sängerin Yasmin Levy zählt zu den "Klangvokal"-Gästen in Dortmund. Foto: Klangvokal

Wer die Pressemappe aufschlägt, sieht ein Tütchen „Gelbe Riesen“ vor sich. Sonnenblumen-Saatgut ist drin, wohl als sinnfälliges Symbol für Wachstum, letzthin fürs strahlend-duftige Sommergefühl. Ganz so wie das Bild auf dem Flyer des Dortmunder „Klangvokal“-Festivals. Blauer Himmel, ein gelbes Blütenmeer, eine Dame in Weiß: Das Programmheftchen, das den musikalischen Veranstaltungsreigen für 2012 unter dem Titel „Begegnungen“ auflistet, mag also für Optimismus im Dienste der Kunst stehen.

Dazu besteht derweil wieder Anlass. „Klangvokal“, die Verbeugung vor dem Facettenreichtum der menschlichen Stimme in Oper, Oratorium, Weltmusik und Jazz, prägt seit 2009 das Kulturleben der westfälischen Metropole. Anfangs war das Festival finanziell einigermaßen üppig ausgestattet, doch setzte die Stadt sehr schnell die Sparschraube an. Am Ende des Kulturhauptstadtjahrs (2010) war nicht sicher, ob das Festival weiter existieren kann. Quasi in letzter Minute schuf der Rat eine tragfähige Finanzgrundlage.

Nun aber haben sich die Politiker dazu entschlossen, den städtischen Zuschuss für 2012 bis 2014 zu garantieren. Das sind in diesem Jahr 330 000 Euro, in den nächsten beiden Jahren indes jeweils 10 Prozent weniger. Und dennoch: „Klangvokal“-Intendant Torsten Mosgraber ist froh, endlich Planungssicherheit zu haben. „Viele berühmte Künstler kann man nur weit im Voraus verpflichten“, weiß er um die Bedingungen des internationalen Konzertlebens.

Zum städtischen Zuschuss kommen weitere Mittel, die der Freundeskreis gibt, lokale Sponsoren beisteuern und die sich inclusive des Kartenverkaufs-Erlöses auf 270 000 Euro summieren sollen. Mosgraber sieht auch hier optimistisch nach vorn: Der Zuschauer-Zuspruch habe sich inzwischen bei gut 70 000 eingependelt. Auf jeden Fall können die Besucher in diesem Jahr (vom 16. Mai bis zum 3. Juni) 26 Konzerte an elf Spielstätten genießen. Mit im Boot sind etwa der Jazzclub Domicil, Theater und Konzerthaus Dortmund sowie diverse Kirchen.

Die hohe Publikumszahl erklärt sich vor allem daraus, dass der Kern des Festivals das (nunmehr vierte) Fest der Chöre ist. Dann ist jeder eingeladen, die Dortmunder Innenstadt singend zu beleben. Hinzu kommt in diesem Jahr der 6. Internationale Gospelkirchentag, mit einer gewissermaßen aufgefächerten Großveranstaltung auf 35 verschiedenen Podien. Und das Galakonzert mit der a-cappella-Formation „Wise Guys“ in der großen Westfalenhalle dürfte ebenfalls Zulauf finden.

Den Reiz des Festivals machen aber jenseits allen Gesangsspektakels außergewöhnliche Weltmusik- oder Jazzabende aus. Und eben jene Begegnungen, die in ihren Kontrasten für Spannung sorgen sollen. Etwa das Eröffnungskonzert, in dem Händels „Israel in Ägypten“ auf Musik des vorderen Orients trifft – mit dem Barockensemble „L’arte del mondo“ und irakisch-jüdischen Musikern.

Für den Jazz mögen hier der Amerikaner Kurt Elling und die Dänin Caroline Henderson stehen, für die Weltmusik die Sängerin Angelique Kidjo aus Benin oder der südafrikanische a-cappella-Chor „Ladysmith Black Mambazo“. Das Abschlusskonzert wiederum mit Vivaldis Oper „Juditha Triumphans“ gestalten neben dem Sinfonischen Chor der Chorakademie Dortmund die Accademia Bizantinia unter Leitung von Ottavio Dantone. Die Titelrolle singt die berühmte amerikanische Mezzosopranistin Vivica Genaux.

„Klangvokal“, inzwischen offenbar von Politik und Verwaltung anerkannt als wichtiger Beitrag zur oft propagierten Musikstadt Dortmund, hat also alle Chancen auf Fortbestehen. Daraus muss ja nicht gleich ein Riese erwachsen.

Karten gibt unter Tel.: 01805/570005

http://www.klangvokal-dortmund.de




„Acht Brücken“: Köln blickt auf den musikalischen Tüftler John Cage

John Cage machte die Stille hörbar. Szenenfoto zur Performance "Listen to the Silence". Foto: Acht Brücken

Claude Debussy und Maurice Ravel, Philip Glass und John Cage: Es gibt 2012 einige Jubilare zu feiern, sei es deren runder Geburts- oder Todestag. Die vier Genannten haben zumindest gemeinsam, dass sie, jeder auf seine Art, nicht weniger als eine musikalische Revolution ausgelöst haben. John Cage ist unter diesen Komponisten vielleicht der Innovativste, Experimentierfreudigste gewesen. Auf jeden Fall gilt es heuer, ihn (neu) zu entdecken. Das Kölner Festival „Acht Brücken“ lädt dazu ein (29.4.-6.5.2012). Mehr als 40 Konzerte versprechen die plastische Darstellung eines überaus facettenreichen Bildes.

John Cage wurde vor 100 Jahren in Los Angeles geboren, er starb 1992 in New York. Mehr als 250 Werke hat er geschrieben, hinzu kommen musiktheoretische Texte. Kurzzeitig studierte er in Europa (Paris) und bei Arnold Schönberg in dessen amerikanischem Exil, mithin bei einem der wichtigsten Vertreter der europäischen Avantgarde. Insofern findet sich auch Cage in einer Tradition, die bis weit ins 19. Jahrhundert zurückreicht: (Mittel)-Europa war für Komponisten der Neuen Welt wichtigster Anknüpfungspunkt.

Einerseits setzte Cage dieser Historie ein skurriles, witziges, aufregendes, ironisches Denkmal: mit den Europeras I-V, ganz eigene Reminiszenzen an die Operngeschichte. Zum anderen aber lotete er mit seinem wohl berühmtesten Stück, 4’33’’, die Stille des musikalischen Raumes aus. Oder begab sich mit den Kompositionen für präpariertes Klavier auf neue Klangspuren, die sich teils, auf verblüffende Weise, fernöstlichen Farben annähern. Oft führte ihm der Zufall die kompositorische Hand, stellte er in „Zeitklammern“ den Interpreten frei, wann die jeweiligen Töne gespielt werden müssen.

Entsprechend weit gefächert ist das Werkangebot von „Acht Brücken“.  Die Sonatas and Interludes für präpariertes Klavier erklingen ebenso wie die Suite for Toy Piano (Spielzeugklavier) oder Cages Song Books. Gespannt sein darf man auf die bereits erwähnten Europeras, deren Nummern III bis V vorgestellt werden. Keine einzige Note stammt von Cage selbst. Vielmehr zelebriert er eine Collagetechnik, die etwa 36 Arien von Gluck bis Puccini zusammenschweißt, von sechs Sängerinnen und Sängern nach Belieben ausgewählt. Oder 140 Fragmente aus Lizstschen Opernfantasien, von zwei Pianisten in die Flügel gehämmert. Wie sagte Cage: „200 Jahre lang haben uns die Europäer ihre Opern geschickt, nun senden wir sie ihnen zurück.“

Natürlich beschäftigt sich „Acht Brücken“ nicht mit Cage allein, sondern leuchtet auch das amerikanische Umfeld aus – mit Werken etwa von Charles Ives und George Gershwin, Samuel Barber und Philip Glass. Berühmte Interpreten geben sich die Ehre: so der Bariton Thomas Hampson, die Geigerin Patricia Kopatchinskaja, der Schlagzeuger Martin Grubinger, das Ensemble musikFabrik oder die Münchner Philharmoniker. Begleitend zum Konzertprogramm gibt es das Förderschulprojekt „Visionen“, Vorträge, Filme und Performances.

Kurzum: Köln schaut mit europäischem Blick auf das Amerika des John Cage.

www.achtbruecken.de




Nicht pompös, sondern für alle da – bewährte Programmvielfalt beim Klavier-Festival Ruhr

Auch Yuja Wang ist Gast des Klavier-Festivals Ruhr 2012. Foto: Wohlrab

Das Klavier-Festival Ruhr 2012 beginnt um neun. Früh morgens, versteht sich – als taufrische Ouvertüre zum gut zwei Monate dauernden Pianistentreffen (5. Mai bis 14. Juli). Im WDR3-Klassikforum, moderiert von Hans Winking, sollen Künstler, Sponsoren und Intendant Franz Xaver Ohnesorg zu Wort kommen, Musik inklusive, direkt aus der Essener Philharmonie.

Ohnesorg dürfte sich freuen über diese öffentlichkeitswirksame Neuerung – wie auch über die Tatsache, dass die noch junge Stiftung Klavier-Festival es erstmals geschafft hat, Rücklagen zu bilden. Gleichwohl weiß er, dass ein langer Atem erforderlich ist: „Es wird mehr als 15 Jahre dauern, um von den Zinsen des Stiftungskapitals das Festival hauptsächlich zu finanzieren“, sagt Ohnesorg.

Bei der Vorstellung des Programms in der Essener Philharmonie demonstriert er allerdings auch Bescheidenheit. „Wir sind kein pompöses Festival, wir grenzen niemanden aus“, betont der Intendant. Mit dem Hinweis auf günstige Tickets für alle Konzerte, auf Preisermäßigungen für Jugendliche wendet er sich so gegen eine Debatte, die (privat geförderte) Kultur und Soziales gegeneinander ausspielen will. Mit Nachdruck erwähnt er zudem das Education-Programm: 600 Kinder würden angesprochen, an verschiedenen Projekten teilzunehmen.

Doch dem Intendanten ist natürlich klar, dass auch die Kunst nach Brot geht. Und so verbucht es Ohnesorg, der sich im Kreis der Förderer, Sponsoren und jetzt sieben Partnerstiftungen „wohl aufgehoben“ fühlt, als Erfolg, dass nunmehr gut 40 Prozent des Festival-Etats Sponsorenmittel sind. „Dabei liefert der Initiativkreis Ruhrgebiet immer noch den größten Beitrag.“

Für Ohnesorg ist das stete Umwerben weiterer Geldgeber auch Anlass, neue Spielstätten zu erschließen. So begibt sich das Festival im Rahmen von 65 Konzerten (2011 waren es 61) wiederum teils ins Westfalenland. In Schwelm, im Ibach-Haus, tritt David Kadouch auf (22.5.), debütiert die junge französische Pianistin Lise de la Salle (11.7.). Das Schloss Rheda ist Auftrittsort für Christine Schornsheim (2.6.), das Wasserschloss Gartrop in Hünxe für den Essener Folkwang-Professor Boris Bloch (9.7.). „Wir wollen dahin gehen, wo unser Publikum zuhause ist“, lautet des Intendanten Credo.

Die französische Pianistin Lise de la Salle gibt ihr Debüt beim Festival. Foto: Lynn Goldsmith

Insgesamt setzt das Festival auf die bewährte Mischung aus vielversprechenden jungen Solisten und Berühmtheiten des Fachs. 2012-Jubilare wie John Cage (100. Geburtstag) oder Claude Debussy (150. Geburtstag) sind Anlass für einen französisch-amerikanischen Schwerpunkt.

Dessen konzertanten Beginn – nach dem frühmorgendlichen Auftakt – bestreiten in Essens Philharmonie die Bochumer Symphoniker unter Steven Sloane und der Pianist Jean-Yves Thibaudet mit Werken von Ravel, Gershwin und Bernstein. Für den jazzigen Kehraus sorgen wiederum Till Brönner und Freunde in Duisburgs Mercatorhalle.

Dazwischen lotet Steffen Schleiermacher die präparierte Klavierwelt von John Cage aus (29. 5., Essen), lädt Alfred Brendel zum pianistischen Meisterkurs (2. – 4. 7., Essen), begibt sich András Schiff erstmals am Hammerklavier auf Schuberts Spuren (13. 7., Mülheim).

Schuberts Musik ist gewissermaßen ein heimlicher Schwerpunkt des Festivals, der seinen Ausdruck etwa im Hertener Liedwochenende findet (17.-18. Mai). Sechs Konzerte wiederum wenden sich dem Jazz zu. Dabei soll die Begegnung von Chick Corea und Bobby McFerrin besondere künstlerische Überraschungen liefern (25. 6., Essen).

Den Preis des Klavier-Festivals Ruhr bekommt der rumänische Pianist Radu Lupu während seines Konzerts in Mülheim (21.5.). Er interpretiert Werke von César Franck, Schubert und Debussy.

Die letzte Information, die Ohnesorg bei dieser Programmvorstellung liefert, lädt uns ein zu lustvoller Spekulation. „Im kommenden Jahr feiern wir 25 Jahre Klavier-Festival Ruhr. Dann gibt es ein neues Format.“

 

Karten gibt es unter Tel. 01805 500 80 3 oder im Internet: www.klavierfestival.de

 

(Der Text ist in ähnlicher Form in der WAZ erschienen)

 

 




„Verträgen halte Treu'“ – Kann Castorf den „Ring“?

Er macht’s. Er, das ist Frank Castorf, Intendant der Berliner Volksbühne, Regie-Berserker und Stückezerfledderer. Er wagt sich ans Größte, Hehrste des musikalischen Theaters – also an Richard Wagners gewaltige, episch breite Trilogie „Der Ring des Nibelungen“. Kann er’s? Vor allem: Schafft er’s ausgerechnet am würdevollen Weihetempel namens Bayreuth? Die da das Sagen haben, Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier, rufen ein klares „Ja“.

So steht es also fest: 2013, im Jahr des 200. Geburtstags von Richard Wagner, inszeniert ein Beinahe-Grünschnabel in Sachen Opernregie den mächtigen Vierteiler des Genius. Was nicht unbedingt ein Problem sein muss: Christoph Marthaler, Christoph Schlingensief oder Werner Herzog waren auch nicht unbedingt die geborenen Opern-Deuter – auf dem Grünen Hügel lieferten sie Achtbares. Andererseits: Die Filmemacher Lars van Trier (Melancholia) und Wim Wenders (Der Himmel über Berlin) hatten vor dem „Ring“ bereits kapituliert, einen entsprechenden Bayreuther Auftrag dankend zurückgegeben.

Nun also Frank Castorf. Er ist im Revier kein Unbekannter. 2004 hatte der DGB den Einjahresintendanten ganz unsolidarisch vom Ruhrfestspielhof Recklinghausen gejagt. Weil das Publikum weggeblieben war. Niemand wollte sehenden Auges in eine Image-Katastrophe schlittern. Ein Regisseur aus (Ost)-Berlin, der gerne suburbanes Elend auf die Bühne wuchtete, war zuviel des Üblen.

Richard-Wagner-Büste im Garten auf Bayreuths Grünem Hügel, in grimmiger Erwartung.

An Opern wiederum hat sich Castorf bisher zweimal versucht. Giuseppe Verdis Eifersuchtsdrama „Otello“ brachte er 1998 in Basel heraus. Er geruhte, die Konventionen und Illusionen des Musiktheaters zu zerstören. Alles lief beiläufig ab, nichts berührte. 2006 folgten in Berlin „Die Meistersinger von Nürnberg“. Jedenfalls ein bisschen davon – mit Schauspielern und einem „Chor der werktätigen Volksbühne“, mit Textbrocken aus Ernst Tollers Revolutionsdrama „Masse – Mensch“.

Kann Castorf also den Ring in Bayreuth? Er wird sich an jede Note, jede Silbe halten müssen, sonst wird ihn der „Wagnerianer“  ins ewige Walküren-Feuer verbannen. Doch er hat einen Vorteil: Er ist, nach Wenders‘ Absage, der Retter in der Not. Ohnehin ist die Zeit knapp, einen anständigen Ring aus dem Boden zu stampfen. Im übrigen: Nach dem „Tannhäuser“, den Sebastian Baumgarten heuer in der Biogasanlage verortete, kann’s kaum schlimmer kommen.

Den wohl größten Skandal auf dem Grünen Hügel hat sowieso Patrice Chéreau zu verantworten. Dessen „Jahrhundertring“-Deutung (1976) datierte in Zeiten der Frühindustrialisierung – mit entsprechend antikapitalistischem Einschlag. Störungen im Festspielhaus und Debatten nach den Aufführungen, die bisweilen in Prügeleien kulminierten, waren das Ergebnis. So gesehen, soll Castorf ruhig kommen. Bayreuth ist bereit.

 

 




Sonnenwochenende im Dunkel – Denovali Swingfest 2011

Die Musikerinnen und Musiker hätten schlechteres Wetter verdient. Wer mochte sich schon an einem Wochenende, an dem sich die Sonne erfolgreich Mühe gab, den bereits verloren geglaubten Sommer nachzuholen, in eine lichtlose Halle zurückziehen? Immerhin einige Hundert oder Tausend, die sich in ihrer musikalischen Ausrichtung den experimentierfreudigsten unter den jüngeren Bands und Solo-Künstlern verbunden fühlen.

Wenn sich am Sonntag bereits zur Mittagszeit die nicht gerade kleine Essener Weststadthalle mit hauptsächlich jungen Menschen füllte, die den Eigenkompositionen des französischen, hierzulande kaum bekannten Klavierquartetts Les Fragments de la Nuit lauschen wollten, darf das als ein Erfolg der Organisatoren von Denovali gewertet werden – einem Label, das die verschiedensten Ausrichtungen abseits der musikalischen Mainstreams in sein Programm aufnimmt.

Einundzwanzig Gruppen und Solo-Musiker – allesamt gut auf ihre Art – forderten an drei Tagen das Durchhaltevermögen der Festivalbesucher heraus. Die Vielfalt verleitete zur Selektion. Bei mir waren es vor allem die eher dem schweren Metall verbundenen Künstler, die durch den Filter meiner Aufmerksamkeit fielen, sowie einige „Public Autistics“ aus dem Ambient/Drone-Bereich, die mit sorgsam ausgetüfteltem, fertigem Klangmaterial angereist kamen. Künstler wie Jefre Cantu-Ledesma, dessen Konzert aus einem 35-minütigen Dauerton zu bestehen schien, mit nur einem sehr empfindlichen Gehör zugänglichen Veränderungen, das durch die dargebotene Lautstärke zugleich in der Wahrnehmung feiner Unterschiede beeinträchtigt wird.

Der Grieche Subheim, der ebenfalls in die Kategorie der musikalischen Autisten gehört, setzte zur Elektronik zusätzlich eine Gitarre und ein mit dem Besen geschlagenes Tom Tom ein, was die Zuhörer ihm dankten.
Nadja, das kanadische Duo in charakteristischer Aufstellung – sie konsequent mit dem Rücken zum Publikum, er demselben zugewandt –, erinnerten einmal mehr daran, dass sich diese Variante des Postrocks nicht allein den Einflüssen von Godspeed!, sondern auch des Krautrocks verdankt – ähnliche Klänge hatte man in Essen vor vierzig Jahren schon recht ähnlich gehört, wenngleich damals noch mit tonnenschweren Geräten generiert.
Das schottische Hidden Orchestra betrat zwar mit vier Musikern die Bühne, darunter doppelte Schlagzeugbesetzung, verdeutlichte bei seinem Auftritt aber, warum es so heißt. Einige der Beteiligten blieben unsichtbar, ihre Gesangs- oder Instrumentalparts wurden auf Knopfdruck eingespielt. Insgesamt kamen die zum Teil auf Traditionen des Cinematic Orchestra zurückgreifenden Klänge zu schön, zu harmonisch, herüber, mit einer oft lächelnden, sich in den Hüften wiegenden Geigerin/Keyboarderin. Als dazu noch Vogelgezwitscher eingeblendet wurde, mochten Teile des Publikums sich gewünscht haben, die Kapuzenmänner von Sunn O))) wären verfrüht auf die Bühne gekommen, um ein paar schrille Doom-Metal-Riffs dazwischenzukloppen.

Im Unterschied dazu brachte das Kilimanjaro Darkjazz Ensemble am Samstagabend raffinierter das Wechselspiel aus Schmerz und Glück in die Gehörgänge. Wer gegen Ende des vorigen Jahrtausends glaubte, mit Nils Petter Molvaers Album „Khmer“ oder Eivind Aarsets „Électronique Noire“ sei eine bestimmte Rhythmik, ein bestimmter Einsatz der Trompete oder ein bestimmter Sound der Gitarre an ein nicht mehr überbietbares Extrem gelangt, konnte sich beim Auftritt der Amsterdamer Formation davon überzeugen, dass diese Musikrichtung ausbaufähig ist, nicht zuletzt durch die teils trip-hop-haften Partien der Sängerin.

Angesichts der extremen Hell-Dunkel-Kontraste zwischen der Weststadthalle und der Rasenfläche an der Thea-Leymann-Straße entschied ich mich, während drinnen solch schwere monolithische Kompositionen wie die von Kodiak + N abliefen, für eine gute halbe Stunde Sonnenlicht. Generell aber dominierte während des Festivals (wie auf dem Denovali Label) das Dunkel. Bohren & der Club of Gore, beinah von allem Licht befreit, beugten nur selten ihre Hinterköpfe in die wenigen, von oben durch den Bühnennebel herabstrahlenden Lichtsäulen. Die nach eigenem Bekenntnis „unromantischste Band Deutschlands“ rebelliert mithilfe einer extremen Dehnung des Takts gegen das schnelle Vergehen der Zeit. Freilich wird in ihren (selbst so bezeichneten) „Songs“ nicht gesungen, und der spärliche Text erschöpft sich in lakonischen Ansagen („Im nächsten Stück geht es um Engel, die alles kaputt machen“). Dann folgt ein weiteres bass-lastiges Low-Tempo-Stück.

In die dunkelste Ecke gehört auch das Dale Cooper Quartet aus Frankreich, das seine Stücke an David-Lynch-Filmen entlangkomponiert. Die Gitarre ist gestimmt wie im Twin-Peaks-Soundtrack von Angelo Badalamenti, und ein vom Diktaphon eingespielter Musikschnipsel zitiert ein Schmachtlied von der Sorte, wie sie der von Dennis Hopper gespielte Brutalo aus „Blue Velvet“ liebt. Streckenweise nimmt uns das Quartett mit auf einen Trip, um dann im Collagen-Durcheinander die Harmonie zu brechen.

Einer der Höhepunkte des Festivals spielte sich an seinem Rand ab, als Pausen-Act auf einer unscheinbaren Bühne neben der Bar im Merchandising Room. Hier trug in der Umbaupause zwischen dem (sehr guten!) Contemporary Noise Sextet und dem Dale Cooper Quartet der Sänger von Her Name is Calla, Tom Morris, zur akustischen Gitarre einige seiner Lieder vor. Die teilweise an Jeff Buckley erinnernde Stimme könnte ein Stadion ausfüllen. Am Samstag sang er vor kleinem Publikum Stücke aus einem Soloalbum, aus der ersten CD von Her Name is Calla und den mehrfach schon gecoverten Kate-Bush-Klassiker „Running Up That Hill“.
Die UK-Band Her Name is Calla, die am Sonntagnachmittag auftrat, lebt von der Stimme ihres Lead-Sängers, von seinem Variationsreichtum zwischen zartesten Tönen und kräftigsten. Was nicht heißen soll, dass die übrigen Bandmitglieder (diesmal ist der Trompeter leider nicht mit nach Deutschland gekommen) nicht gut wären; sie sind allesamt große Klasse. Geige, Bass und Schlagzeug stellen sich auf die Nuancen ein, die Tom Morris aus seiner Stimme herausholt. Wenn andere Bandmitglieder mitsingen, mal die Geigerin, mal zusätzlich der Bassist und ausnahmsweise auch der sonst wild wirbelnde Schlagzeuger, sind das Accessoires. Die Basis ist die Stimme des Leadsängers. Auch wenn Geige und Schlagzeug im Duett das selbstentfesselte Chaos bändigen, wird der nächste stimmliche Einsatz von Tom Morris bereits erwartet. Entfesselt wird das Mikrofon, damit Gitarrenhälse sich am Mikroständer reiben können. Kalkuliert werden Rückkopplungen herbeigeführt, doch die drohende Zertrümmerung der Gitarren bleibt aus.

Neben den dunklen Schwerpunkten kamen auf dem Fest auch einige fröhliche, lustige, verspielte Töne zum Klingen. So bei den eingangs erwähnten, neo-klassisch orientierten Les Fragments de la Nuit, ebenso wie bei dem Münsteraner Komponisten und DJ Thomas Bücker, alias Bersarin Quartett, der am Freitagabend gemeinsam mit einem Gitarristen und einem Schlagzeuger auftrat. Vor allem aber bei dem Düsseldorfer Hauschka.

Hauschka (bürgerlich: Volker Bertelmann) ist ein vielseitiger Pianist. Er komponierte schöne Stücke, zum Beispiel auf dem Album „Ferndorf“ (2008), mit dem er Frieden mit der Siegerländer Provinz schloss, in der er aufwuchs: Reminiszenzen an ein blaues Fahrrad, an den Nadelwald, ans Freibad, an die Eltern, an verregnete Wochen … Er spielte im vorigen Jahr mit dem Magik*Magik Orchestra aus San Francisco seine durchkomponierten Partituren der „Foreign Landscapes“ ein, schrieb Filmmusik, wird im nächsten Jahr auf Einladung des Goethe-Instituts in Kenia mit afrikanischen Musikern zusammenarbeiten. Auf dem Denovali-Festival präsentierte er sich dagegen musikalisch eher einseitig. Hauschka hat nach eigenem Bekunden eine starke Affinität zu Club-Musik, und sein Lieblingsclub ist der „Salon des Amateurs“ in der Düsseldorfer Kunsthalle. So heißt auch sein aktuelles Album, auf dem er Techno-Rhythmen in die Instrumentalmusik zurückführt. Aber während ihm auf dem Album erstklassige Musiker assistieren, zum Beispiel der Schlagzeuger John Convertino von Calexico, kommen bei den Solo-Auftritten die Drums leider nur aus der Beatbox. Dafür ist die Kamera-Großeinstellung in das Innere seines präparierten Klaviers ein Fest fürs Auge. Kleine Schellen ertönen auf Tastendruck, Tamburins scheppern im Kasten des Flügels, eingeklemmte Holzstäbe schnarren, Kronkorken hüpfen, Klebeband dämpft, und ein Stück lang springen Pingpong-Bälle wie Popcorn aus der heißen Pfanne und sortieren sich neu.

Denovali Swingfest
30.09. – 02.10. 2011
Weststadthalle
Thea Leymann Strasse 23
45127 Essen
Infos: www.denovali.com/swingfest




Düstere Schönheit – Vorschau aufs Denovali Swingfest in der Essener Weststadthalle

Der Wortbestandteil „Swing“ im Festivalnamen ist pures Understatement. Sicher wird der Beton mitschwingen, wenn die durchdringenden Bässe finsterer Bands wie Bohren & der Club of Gore oder Kodiak durch die Weststadthalle wummern. Mit einer älteren Ausrichtung des Jazz hat die am kommenden Wochenende präsentierte Musik aber rein gar nichts zu tun.

Der Untertitel „Experimental Music Festival“ verrät dagegen schon etwas mehr über die einundzwanzig Gruppen und Einzelkünstler, die vom 30. September bis 2. Oktober in Essen auftreten werden. Aber experimentieren lässt sich ja in den verschiedenen Genres.

Das Bersarin Quartett tritt am Freitag gegen 19 Uhr auf

Mehrere der auf dem Festival vertretenen Musiker greifen Traditionen klassischer Instrumentalmusik auf und variieren sie, oftmals um elektronische Mittel erweitert. So der Münsteraner Komponist und DJ Thomas Bücker, alias Bersarin Quartett, dessen Auftritt für Freitag, 30.09., 19 Uhr, vorgesehen ist. Oder der Düsseldorfer Hauschka (i .e. Volker Bertelmann) mit seiner bestechend schönen, manchmal wehmütigen, manchmal heiteren Klaviermusik (Sonntag, 2.10., 19 Uhr). Der Klassik vielleicht am engsten verbunden ist die französische Formation Les Fragments de la Nuit (Piano, Cello und drei Violinistinnen), die den Sonntagnachmittag bereits gegen 13 Uhr eröffnet.

Der Düsseldorfer Hauschka, alias Volker Bertelmann

Postrock – sofern diese generelle Bezeichnung überhaupt etwas aussagt – ist auf dem Festival durch mehrere Gruppen präsent. Die UK-Band Her Name is Calla, die bereits im vorigen Jahr auf dem Denovali Swingfest im Essener Jugendzentrum durch die kräftige Stimme des Lead-Sängers Tom Morris und durch satten Gitarrenklänge überzeugte, ohne dass die subtileren Töne von Geige und Posaune in den Klanggewittern untergingen, spielt auch in diesem Jahr wieder in Essen (Sonntag, 16 Uhr). Der gleichen musikalischen Kategorie ließen sich die Petrels (UK) zuordnen. Angenehm zu hören, etwas in Richtung Shoegazing weisend, sind auch die schwedischen September Malevolence (Freitag, leider schon um 14.30 Uhr). Ebenso AUN aus Kanada. Wer es gern härter mag, wird von Omega Massif gut bedient.

Her Name is Calla spielen am Sonntag gegen 16 Uhr

Ambient und Drone sind auf dem Essener Fest vertreten durch Künstler wie Jefre Cantu-Ledesma (San Francisco), Tim Hecker (Montreal), Kodiak (Gelsenkirchen) sowie durch den Musiker und Videokünstler Thomas Köner, dessen Performance den Freitag beschließt. Das überragende Duo Nadja aus Toronto tritt am Samstag gegen 16 Uhr auf.

Aus dem Jazz kommt das polnische Contemporary Noise Sextet (Samstag, 17.30 Uhr). Stärker elektronisch geprägten Jazz bringt das Hidden Orchestra aus Edinburgh auf das Essener Festival – voraussichtlich eines der herausragenden Ereignisse am Sonntagabend (20.30 Uhr). Das Kilimanjaro Darkjazz Ensemble aus Amsterdam dagegen, das den Samstag beschließen soll, trägt den Jazz zwar ebenfalls im Namen, ließe sich aber ebenso in eine Reihe stellen mit experimentierfreudigen, mit dem Abgründigen spielenden Postrockbands. Soundtracks zu nie gedrehten Filmen. In diese Richtung gehen auch die dunklen Sounds des Dale Cooper Quartets (Samstag, 19 Uhr). Nicht nur der Bandname, auch die Musik der Bretonen spielt auf David Lynchs Kult-Serie „Twin Peaks“ an. Subheim aus Griechenland, der am Freitag um 17:30 Uhr auftreten soll, steht ebenfalls schwärzester Harmonik nahe, ebenso wie Lento aus Italien oder die Finsterlinge aus Mülheim, Bohren & der Club of Gore, die den Takt auf das größtmögliche Maß verlangsamt haben (Freitag um 22 Uhr). Das Licht am Sonntagabend machen drei dem Death oder Doom Metal zugewandte amerikanische Kapuzenmänner aus: Sunn O))).

Denovali Swingfest
30.09. / 01.10. / 02.10. 2011
Weststadthalle (U-Bahn: Berliner Platz)
Thea Leymann Strasse 23
45127 Essen
Tickets und Infos: http://www.denovali.com/swingfest

 

 




Bayreuth – Essen und zurück: Die Harfenistin Gabriele Bamberger im Bayreuther Festspielorchester

Sie ist wieder zu Hause. Zwei Monate Bayreuth sind vorbei. Nun probt die Harfenistin
der Essener Philharmoniker für die neue Saison. Gabriele Bamberger hat ihren
Urlaub im Orchester der Festspiele verbracht. Ein Arbeits-Urlaub also? Die
lebhafte Virtuosin der sanften Saiten widerspricht: „Bayreuth ist keine
Anstrengung. Es ist wie Urlaub mit Harfe spielen.“ Seit 1985 ist die gebürtige
Österreicherin – mit wenigen Unterbrechungen – Mitglied des
Festspielorchesters. Nächstes Jahr ist sie zum zwanzigsten Mal dabei. Und freut
sich schon wieder auf die Herausforderung, im berühmten verdeckten Graben fünf
Wagner-Opern hintereinander zu spielen.

Wie viele andere Musiker und Sänger bestätigt auch Gabriele Bamberger: In Bayreuth zu
arbeiten, ist etwas Besonderes. Welches Orchester hat schon vier Harfen, in den
„Ring“-Jahren sogar sechs? In einem normalen Orchester sitzen grade mal zwei.
„Wir sind sonst Einzelkämpfer. Aber in Bayreuth entwickelt sich ein tolles
Gruppengefühl.“ Jeder der Orchestermusiker ist motiviert, sein Bestes zu geben.
„Kollegialität ist wichtig“, sagt die Harfenistin, „schließlich verbringen wir
unseren ganzen Urlaub miteinander.“

Was Gabriele Bamberger in Bayreuth fasziniert, ist die Arbeit mit berühmten Dirigenten. Ihr
erster Maestro war 1985 Giuseppe Sinopoli. Unter ihm hat sie gleich im
„Tannhäuser“ gespielt, für die Harfen die anstrengendste Wagner-Oper. „Das
Beste, was ich an musikalischer Gestaltung erlebt habe, war unter Christian
Thielemann“, schwärmt die Musikerin: „Bei ihm sitzt man auf der Stuhlkante.
Aber gleichzeitig ist es ein ganz entspanntes Musizieren.“ Was macht die Arbeit
mit Thielemann so herausragend? „Jeder Dirigent hat seine besondere Art zu
musizieren. Thielemann hört erst mal, was jeder der Musiker ihm anbietet. Passt
das in sein Konzept, nimmt er das Angebot auf. Thielemann ist ständig mit den
Augen bei den Kollegen. Eine kleine Geste, und man weiß, was er will.“

Gerne erinnert sich Gabriele Bamberger aber auch an die Arbeit mit Größen wie Daniel
Barenboim und James Levine. „Das Spielen mit Barenboim war ein wirklich
nachhaltiges Erlebnis. Er hat einfach Charisma, ist eine musikalische
Persönlichkeit.“ Ähnlich ging es ihr mit Levine: „Er saß da, mit dem Handtuch
über der Schulter, hat gestrahlt, badete in der Musik.“ Sein „Parsifal“ sei
zwar langsam gewesen, aber dennoch ungeheuer spannend: „Da war keine Sekunde
Langeweile drin.“ In diesem Jahr hat der Musikerin vor allem die Arbeit mit
Daniele Gatti im „Parsifal“ gefallen. „Er dirigiert so mitreißend und intensiv,
da empfindet man keine Länge. In diesem Jahr passte einfach alles.“ Aber auch
Andris Nelsons großer Bogen bei gleichzeitiger rhythmischer Konturierung im
„Lohengrin“ hat die Harfenistin sehr überzeugt.

In Bayreuth sitzen Musiker im Orchester, mit denen man keine musikalische Basisarbeit mehr
zu leisten hat. Wie alle anderen wurde Gabriele Bamberger auf eine Empfehlung
hin eingeladen. „Im ersten Sommer spielt man sozusagen für die Kollegen“,
erklärt sie. Denn der oder die Neue müssen in den Klangkörper passen. Wer im
nächsten Jahr wieder eingeladen wird, gehört zum Festspielorchester. Bamberger
erinnert sich: „Ich wurde vom Orchestervorstand angerufen und gefragt, ob ich
mitspielen will. Das war Helmut Schützeichel, der in Mannheim Oboe gespielt
hat. Ich war damals Mitglied der Badischen Staatskapelle in Karlsruhe. Später
habe ich erfahren, dass mich mein damaliger Chef Christof Prick empfohlen hat.“
Unter ihm hatte sie am Badischen Staatstheater bereits das ganze gängige
Wagner-Repertoire gespielt.

Begonnen hat Gabriele Bamberger nach dem Studium in Salzburg 1979 in Gelsenkirchen. Dort
spielt ihr Mann heute noch Geige im Orchester. Und passte früher auf die Kinder
auf, wenn seine Frau nach Bayreuth fuhr. Später wurde die Wagner-Stadt zum
gemeinsamen Urlaubsziel. „Die Kinder haben sich in Bayreuth wohl gefühlt, mein
großer Sohn hat im letzten Jahr hier sogar geheiratet. Uns zieht’s immer wieder
hierher.“

Die Erfahrungen im Festspielorchester nimmt die Harfenistin mit in die Heimat.
Aber: Dank der Bayreuther Eindrücke kann Gabriele Bamberger auch ermessen, wie
gut die Essener Philharmoniker unter ihrem Chef Stefan Soltesz geworden sind.
„Nach der Bereicherung in Bayreuth folgt eben keine Ernüchterung in Essen.
Sondern es macht richtig Spaß, wieder zu Hause zu spielen.“ Sie freut sich,
dass Soltesz Wagner ins Repertoire integriert hat: „Er vertraut mir, er weiß,
dass ich die Partien kenne. Das ist ein schönes Gefühl.“ Ihr
Bayreuth-Engagement hat Soltesz „stets unterstützt“ und sich immer sehr
interessiert gezeigt. Dass er die Werke so genau einstudiert und am Abend so
spontan musiziert, hilft ihr auch für ihren Dienst in Bayreuth. „Stefan Soltesz
hat uns ein Bewusstsein für musikalische Qualität beigebracht. Das müssen wir
jetzt an die jüngeren Kollegen weitergeben.“

(Der Artikel ist in kürzerer Form auch in der WAZ Essen erschienen)




Francesco Tristanos Gebrauchsmusik – Klangmixturen mit Klavier

Francesco Tristano. Foto: Matthew Stansfield

Crossover? Das war gestern. Als Waldo de los Rios 1970 den „Song of Joy“ herausbrachte, die seichte Variante des Schlusssatzes von Beethovens 9., mit der „Ode an die Freude“. Oder als drei Jahre später das Electric Light Orchestra einen alten Chuck-Berry-Hit, „Roll over Beethoven“ coverte, mit den Anfangstakten der schicksalsträchtigen 5. Sinfonie als Intro. Oder etwa als der japanische Synthesizer-Guru Tomita die „Bilder einer Ausstellung“ Mussorgskys in ganz andere Sphären hob (1975).

Alles längst vergangen. Heute steht Francesco Tristano in den Startlöchern. Der junge luxemburgische Pianist (der seinen Nachnamen Schlimé abgelegt hat), der sich als ein Techno-Nerd sieht und Crossover ablehnt. Einer, der sich in Klangtüftelei und rhythmischem Minimalismus auslebt. Dem der Sound das wichtigste ist, unabhängig davon, ob die dazugehörigen Noten barocken, klassischen oder modernen Ursprungs sind.

Was das bedeuten kann, hat Tristano nun während der Ruhrtriennale in zwei Konzerten – oder besser: Performances – klar gemacht. Zum einen bei einem Soloauftritt mit Klavier, Keyboard und elektronischer Zuspielung, andererseits in Kooperation mit Instrumentalisten der Duisburger Philharmoniker sowie den Club-Musik-Berühmtheiten Carl Craig und Moritz von Oswald.

Tristano solo: „… Towards Meditation“ will er sich begeben, gewissermaßen auf eine Klangstraße Richtung Erleuchtung – mit einer Mixtur aus dröhnendem Bass-Sound, schwebend hohen Keyboard-Klängen (als wär´s ein Stück von Jean Michel Jarre), darin eingeflochten Werke von Bach, Debussy oder John Cage. Der Weg ist das Ziel, und der 30jährige Pianist lässt keinen Zweifel daran, dass er auf dieser Strecke ein Suchender ist. Sonst wäre die teils holprige Bach-Rhetorik ebenso wenig zu erklären wie der bisweilen manieristisch verzärtelte Impressionismus Debussys.

Was schwerer wiegt, ist die Tatsache, dass Tristano nur dann frei aufspielt, ja sich in Trance musiziert, wenn er die Gefilde einer gleichförmigen Rhythmik erreicht hat. Darauf scheint alles hinauszulaufen, auf eine Meditation im Geiste des Maschinellen, letzthin des Stupenden. Wer da über eine Mischung von Hochkultur mit, ja was eigentlich (niedererer Kultur ?) schreibt, formuliert floskelhaft am Problem vorbei.

Das macht das zweite, großbesetzte „Konzert“, wie der Soloauftritt Tristanos erneut in Bochums Jahrhunderthalle erklingend, überaus deutlich. Da ist der teils sphärische Klang und der Beat, da ist zwischendrin ein wenig Klaviermelos, da bettet sich Streicher- oder Bläsersound ins rhythmische Geschehen ein. Die Duisburger Symphoniker, das klassische Orchester also, wird zur Staffage eines Events.

Der Eindruck will sich einstellen, dass hier jemand sehr wohl auf alte Crossover-Zeiten schielt, als Welthits der Rockmusik ein orchestrales Gewand bekamen. Das letztendlich aber alles in die Dominanz des Rhythmus mündet. Die Jahrhunderthalle wird zum Dancefloor. Wer stille sitzen bleibt, entbehrt des ästhetischen Zugewinns. Insofern sind Francesco Tristanos Mixturen nicht mehr als ein Stück Gebrauchsmusik. Wie etwa die seichten Salonstücke des 19. Jahrhunderts. Ist dies die große Versöhnung von „E“- und „U“-Musik?

 




„Tristan“ bei der Triennale: Liebestod im Zwielicht

Ein „Wagnis“? Willy Decker wählt große Worte bei der Premierenfeier nach „Tristan und Isolde“
zur Eröffnung der zehnten Ruhrtriennale, der letzten unter seiner Intendanz.

Wagners gewaltiges, alle Grenzen sprengendes Werk ist heute fest im
Musiktheaterbetrieb verankert: An der Oper Köln scheiterte 2009 David Pountney
daran, in Düsseldorf zog 2010 Klaus Guth die Linien hin zu Wagners Biografie, in
Essen steht die Inszenierung von Barrie Kosky ab 29. Januar 2012 wieder im
Spielplan. Selbst mittlere Häuser wie Wuppertal und Münster hatten in den
letzten Jahren ihren „Tristan“ – und konnten szenisch wie musikalisch mit achtbaren
Ergebnissen auf sich aufmerksam machen. Wozu also in der Jahrhunderthalle
Bochum ein Stück realisieren, das man in der dichten westdeutschen Theaterlandschaft
wahrlich nicht missen muss?

Die Antwort liegt bei Decker selbst und in der Programmatik der Triennale: Nach Judentum
und Islam steht in diesem Jahr der Buddhismus im Zentrum der Reflexion über die
großen Weltreligionen. Wagner hatte sich, von Schopenhauer inspiriert, intensiv
mit buddhistischen Gedanken beschäftigt, sich sogar einmal als „unwillkürlich
zum Buddhisten geworden“ bezeichnet. Decker selbst folgt persönlich den Pfaden
des Buddhismus. So liegt es nahe, in „Tristan und Isolde“ die Spuren dieser
asiatischen Lehre – die eigentlich keine Religion sein will – zu erforschen,
die Schnittpunkte zwischen der christlichen Geisteswelt des Westens und der
buddhistischen Spiritualität des Ostens erkenntlich zu machen.

Wagner radikalisiert mit diesem geistigen Instrumentarium die romantischen Axiome
eines E.T.A. Hoffmann. Es ist nicht mehr nur die Trugwelt des bürgerlichen
Wohlbehagens, die zugunsten einer vollkommeneren und authentischeren „Geisterwelt“
überwunden wird. Es ist nicht mehr nur die Vollendung im Paradies, wie sie das
Christentum verspricht. Für Wagner zählt die Überwindung einer Schein-Welt, die
unserer Vorstellung Raum und Zeit vorgaukelt, wo es doch nur das All-Eine, das
Ewige gibt. Heraus aus „jener grauenhaften Ursächlichkeit des Entstehens und
Vergehens“: das ist Wagners Sehnsucht. So erklärt sich das „Unbewusst“ als „höchste
Lust“, erklärt sich die Radikalität, mit der das Protagonistenpaar Liebe und
Tod als Erfüllung anstreben.

Das eine bekommt man nicht ohne das andere:
Wirkliche Liebe ist, wie Wagner ja auch pathetisch für sein eigenes Leben
beklagte, in dieser Welt der – scheinbaren, aber wirksamen – Gegensätze nicht
zu haben; Tod ist die Bedingung, dass die Schranken zwischen den Individuen
fallen und der Weg frei wird in die Erfüllung und Erlösung. Und die Nacht ist
die Chiffre für die Abwesenheit des grausamen Lichts, in dem die Scheinwelt,
die uns umgibt, zu jammervoller Wirksamkeit gelangt.

Anja Kampe als Isolde in der Inszenierung Willy Deckers bei der Ruhrtriennale (Foto: Ruhrtriennale/Paul Leclair)

Anja Kampe als Isolde in der Inszenierung Willy Deckers bei der Ruhrtriennale (Foto: Ruhrtriennale/Paul Leclair)

„Tristan und Isolde“ lässt sich ebenso romantisch-christlich lesen, aber Deckers Bezug auf
den Buddhismus hat zumindest in der dramaturgischen Konzeption viel Anregendes
an sich. Auf der Bühne sind die komplexen Gedanken dann allerdings schwer zu
realisieren. Decker und sein Bühnenbildner Wolfgang Gussmann wählen,
unterstützt vom Licht Andreas Grüters, den Weg der extremen Reduktion. Zwei
leere, weiße Flächen liegen parallel, schieben sich ineinander, bilden kühle,
ästhetisch-geometrische Figuren oder nach hinten ins Unendliche offene Räume, müssen
aber auch den harten Einbruch der Schein-Realität erdulden, wenn die
schrundigen Außenmauern der Halle sichtbar werden, zwischen denen die Flächen
wie eine Insel der Zuflucht schweben. Ein Himmelskörper treibt im Hintergrund,
schiebt sich im dritten Aufzug in die Welt Tristans, leuchtet wie der drohende
Mond in Strauss‘ „Salome“ unheilvoll rötlich, als der Liebestrank seine Wirkung
entfaltet. In der „Nacht der Liebe“ wird das Rund zu einer Blase, die
Symbolbilder birgt: Meer, Dunst, zerfließende Körper und Gesichter, die sich
drehen, auflösen und wieder konkretisieren, und die im dritten Aufzug in
blutrotes Licht tauchen.

In diesem abstrakten Raum gelingen eindringliche Bilder, etwa wenn Isolde isoliert im Heer der
grünen Mannen König Markes sitzt, oder wenn sich in den fantasievollen
Projektionen des Teams „fettFilm“ (Momme Hinrichs und Torge Møller) die weißen
Platten in einem weiten kosmischen Raum verlieren. Doch in der Personenregie
bleibt vieles im Ungefähren stecken, kommt Decker nicht über symbolische
Arrangements hinaus, wie sie schon seine Leipziger „Tristan“-Inszenierung gekennzeichnet
haben. Der Schluss wirkt merkwürdig kraftlos: Die beiden weißen Platten
schließen sich wie Buchdeckel. Isolde, herausgetreten aus dieser Sphäre, singt
die letzten Worte ihres „Liebestodes“ im Zwielicht, das am Ende dem Dunkel
weicht.

Musikalisch war der Triennale-Tristan dem künftigen Generalmusikdirektor der Bayerischen
Staatsoper München anvertraut: Kirill Petrenko hat mit den Duisburger
Philharmonikern in der gut eingerichteten, dennoch schwierigen Akustik der
Jahrhunderthalle einen skrupulös verfeinerten Wagner erarbeitet. Jede Stimme kommt
zu ihrem Recht. Der Spaltklang wird ins Extrem getrieben. Das lässt etwa das
Frage-Antwort-Spiel von Streichern und Bläsern, die harmonische Anreicherung
durch selbständige Begleitstimmen oder die Reibungen in der vielschichtigen
Chromatik deutlich hervortreten. Gleichzeitig aber löst sich Wagners Mischklang
auf in zusammenhanglose Einzelteile, die auch die Legato-Wirkungen empfindlich
beeinträchtigen.

Petrenko achtet fast ängstlich darauf, die Sänger nicht zuzudecken, unterdrückt damit aber
jene ekstatische Überwältigung, die gerade der „Tristan“-Partitur eigen ist.
Das Fieber der Streicher im Schlussgesang bleibt kalt, die „Nacht der Liebe“
fröstelig. Auch wenn man sich die pathetischen Rauschzustände vergangener
Dirigenten-Generationen nicht zurückwünscht: So ausgeblutet kann dieser „Tristan“
höchstens als klang-anämisches Gespenst durch das kalte Kabinett zeitgeistiger
Musik-Lesarten geistern. Immerhin ließ sich auf diese Weise hören, wie
vorzüglich die Duisburger Philharmoniker ihre Aufgabe bewältigten. Die Bläser
konnten auch in den Soli brillieren, während es die Streicher schwer haben, in
der resonanzarmen Akustik zu bestehen.

Unter den Sängern können sich die Frauen am ehesten noch dem erschreckenden Mittelmaß
entwinden, das den Wagner-Gesang heute bestimmt. Claudia Mahnke ist vor allem
in ihren Rufen im zweiten Aufzug eine stimmsatte Brangäne mit unforciertem,
substanzvollem Klang. Anja Kampe geht die Isolde mit einem lyrischen, aber
expansionsfähigen Ton an. Ihre Artikulation ist – wie die von Frau Mahnke –
einwandfrei, die Tonbildung frei von der missverstandenen großhubigen Vibrato-Dramatik
amerikanischer Sopran-Schlachtschiffe. Decker verordnet ihr nicht immer
nachvollziehbare raumgreifende Aktionen; dennoch hat sie ihre Partie unter
Kontrolle, kann nuancieren und ins Piano zurücknehmen.

Christian Franz versucht das als Tristan auch. Aber dem Tenor, der in den Neunzigern
seine Karriere in Wuppertal begonnen hat, fehlt die Sicherheit beim
Positionieren der Stimme. Bereits im ersten Aufzug steigt sein nicht sonderlich
voluminöser Tenor nach oben, wird dünn und bemüht. Im Duett des zweiten
verschmelzen die Stimmen nicht, setzt Franz den rund gebildeten Piani von Anja
Kampe fistelig ungestützte Töne entgegen. Durch den mörderischen dritten Aufzug
kämpft er sich angestrengt; man wundert sich, dass die Stimme noch die
Kondition für den vokalen Gewaltparcours hat. Mit Stephen Milling gewinnt die
Figur des König Marke vokale Kontur, wenn auch die Höhe nicht befriedigt.
Alejandro Marco-Burmester ist ein sicherer Kurwenal, Boris Grappe ein greller, passend
unsympathischer Melot. Das ChorWerk Ruhr unter Michael Alber bewies wieder
einmal gediegene Qualität. – Der Beifall der Triennale-Fans war lang, aber
schütter und steigerte sich nur bei Anja Kampe zu freundlicher Intensität.

Spielplan der Ruhrtriennale: http://www.ruhrtriennale.de/de/programm/spielplan/