Akte und Architekturen: Essener Museum Folkwang würdigt den Schweizer Fotografen Balthasar Burkhard

Balthasar Burkhard: Normandie 01,1995. Silbergelatineabzug 115 x 115 cm. Museum Franz Gertsch, Burgdorf © Estate Balthasar Burkhard, 2017.

Balthasar Burkhard: Normandie 01,1995. Silbergelatineabzug 115 x 115 cm. Museum Franz Gertsch, Burgdorf © Estate Balthasar Burkhard, 2017.

Einen der bedeutenden Fotografen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts würdigt das Museum Folkwang in Essen mit einer Ausstellung: Die 150 Werke und Werkgruppen umfassende Retrospektive für Balthasar Burkhard ist die erste große museale Würdigung des Schweizers in Deutschland und zeichnet das facettenreiche Schaffen des Fotografen etappenweise nach. Die Palette der Werke reicht von frühen Schwarzweiß-Aufnahmen aus den sechziger Jahren bis zu Architektur- und Landschaftsfotografien aus dem Spätwerk des 2010 gestorbenen Fotokünstlers.

Der 1944 geborene Balthasar Burkhard lernte bei Kurt Blum, einem der bekanntesten Schweizer Fotografen seiner Generation. 1965 eröffnete er ein eigenes Studio in Bern und fotografierte im Auftrag der Kunsthalle Bern die Künstler, die der bekannte Kurator Harald Szeemann damals ausstellte.

1966 und 1968 fotografierte Burkhard auf der Biennale in Venedig, 1972 dann auf der documenta Kassel. 1969 zeigte er erstmals die gemeinsam mit Markus Raetz geschaffenen großformatigen Fotoleinwände, mit denen er international beachtet wurde. Erstmals sind in der Essener Ausstellung Burkhards Fototagebücher dieser Zeit in einer umfassenden Zusammenschau zu sehen.

Balthasar Burkhard: Der Körper I (Installationsansicht Ausstellung Kunsthalle Basel 1983), 1983. Silbergelatineabzug 30,7 x 45,5 cm © Estate Balthasar Burkhard, 2017.

Balthasar Burkhard: Der Körper I (Installationsansicht Ausstellung Kunsthalle Basel 1983), 1983. Silbergelatineabzug 30,7 x 45,5 cm © Estate Balthasar Burkhard, 2017.

Auch in den USA, wo er einen Lehrauftrag an der Universität von Illinois annahm, arbeitete er weiter an monumentalen Leinwand-Tableaus und hatte 1977 in Chicago seine erste Einzelausstellung.

Ab 1983, zurück in der Schweiz, entdeckte Balthasar Burkhard zunehmend den menschlichen Körper. Es entstanden riesige Akte, etwa ein dreizehn Meter langer liegender Akt. Aber Burkhard interessierte sich auch für Details, Fragmente und Mikrostrukturen. Die Essener Retrospektive widmet sich dieser Werkgruppe anhand des erhaltenden Materials in Form von Studien und Skizzen und mit Hilfe von Nachdrucken. Gezeigt werden auch Architekturfotos, die seit Mitte der neunziger Jahre entstanden, und Burkhards großformatige Luftaufnahmen von Städten und Wüsten.

Balthasar Burkhard: Mexico City (Vulkan), 1999. Silbergelatineabzug auf Barytpapier 136,7 x 267,7 cm. Fondation Cartier pour l'Art contemporain, Paris © Estate Balthasar Burkhard, 2017.

Balthasar Burkhard: Mexico City (Vulkan), 1999. Silbergelatineabzug auf Barytpapier 136,7 x 267,7 cm. Fondation Cartier pour l’Art contemporain, Paris © Estate Balthasar Burkhard, 2017.

Die Ausstellung entstand in Kooperation des Museums Folkwang mit dem Fotomuseum Winterthur, der Fotostiftung Schweiz und dem Museo d’arte della Svizzerra italiana.

Essen, Museum Folkwang, 20. Oktober bis 14. Januar 2018. Öffnungszeiten: Di, Mi, Sa und So 10 bis 18 Uhr, Do und Fr 10 bis 20 Uhr. Eintritt 8 Euro, ermäßigt 5 Euro. Katalog (Steidl Verlag, Göttingen) 28 Euro.




Fotokunst von Axel Hütte: Die Welt als geistiger Raum

Hey, Sie da mit dem hochgereckten Smartphone! Ist die Fotografie überhaupt noch eine Kunst? Eine heikle Frage. Die allgegenwärtige Technik, diese Domina des 21. Jahrhunderts, ermöglicht jedem Laien gelungene Bilder. Es wird gepostet, bis es uns vor den Augen flimmert.

Axel Hütte Lemaire Channel-1, Antarctic, 2017 C-Print, 135 x 165 cm © Axel Hütte

Axel Hütte
Lemaire Channel-1, Antarctic, 2017
C-Print, 135 x 165 cm
© Axel Hütte

Und doch behauptet sich das besondere Werk – durch Konzept, Konsequenz, Reduktion und das gute alte Gespür für Motiv und Augenblick. Fotografie kann immer noch eine hohe Kunst sein, der Malerei ebenbürtig. Das beweist Axel Hütte in der wunderbaren Ausstellung „Night and Day“ im Düsseldorfer Museum am Ehrenhof.

Der 1951 in Essen geborene Künstler missachtet alles Spektakuläre. Er missachtet das sich anbietende Motiv. Mit einer altmodischen, bleischweren Plattenkamera reist er durch die Welt und lässt die Attraktionen und Panoramen links liegen.

In den kanadischen Bergen wartet er im Mondschein, bis der Nebel aufsteigt über den Wäldern, nur ein paar Konturen preisgebend. Das, wagt man zu bemerken, könnte auch der Schwarzwald sein, wozu die weiten Reisen? „Es geht hier nicht um ein paar Tannenbäume“, murrt der Künstler – er mag die blöden Fragen von Journalisten nicht.

Das Geheimnis bleibt unantastbar

Immer wollen sie das Geheimnis mit Fakten und Erklärungen durchbohren. Axel Hütte hingegen zelebriert das Verschleierte. Nicht ohne Grund hing sein Schweizer Bild vom total vernebelten „Furkablick“ in Beat Wismers großer Verhüllungs-Ausstellung „Hinter dem Vorhang“. An der rechten Seite des Bildes erscheint gestochen scharf die Fassade des historischen Pass-Hotels mit seinen Schnörkelbalkonen, die der Aussicht dienen. Doch nur die Vorstellungskraft vermag in die Ferne vorzudringen. Ein Bild wie aus einem sonderbaren Traum.

„Ich suche den Ort nicht, ich finde ihn“, bemerkt Axel Hütte. Das kann in Griethausen sein, wo ihn 1999 das gekreuzte Eisengitter einer Brücke faszinierte, oder in der Antarktis, wohin er erst in diesem Jahr reiste, um den graublauen Himmel über im Meer treibenden Eisstücken aufzunehmen.

Zwischen weißen und dunkelblauen Wänden geht es in dieser Ausstellung um etwas, was Kurator Ralph Goertz „geistigen Raum“ nennt. Der Blick darf endlich einmal ruhen – sogar auf Bildern, die sich sanft bewegen wie Axel Hüttes Video der Lichter von Detroit. Tatsächlich hatte der junge Mann in den 1970er-Jahren zwei Semester in der Filmklasse der Düsseldorfer Akademie studiert, bevor er zur Fotografie wechselte und einer der frühen Schüler der berühmten Düsseldorfer Becher-Klasse wurde.

Die Kunst in der Natur entdecken

Aber bei einem reifen Künstler ist der obligatorische Rückblick auf die Ausbildung eigentlich absurd. Als ob das eine Rolle spielte. Was zählt, ist das Werk in seiner Stille und Schönheit.

Wir sehen, wie wuchernde Zweige sich spiegeln in den dunklen Wassern des Rio Negro, während der Dschungel im Hintergrund undurchdringlich bleibt. Wir sehen, wie blaue Fensterlichter funkeln an einem Hochhaus in Kuala Lumpur. Wir erkennen die konstruktivistischen Strukturen von ganz gewöhnlichen Brücken-Stahlträgern in Japan oder Australien. Wir wandern in den Dunst eines italienischen Waldes mit kahlen und abgebrochenen Bäumen.

In schwarzer Nacht liegt der Hügel von Bourg St. Maurice in Frankreich, nur ein Schimmer deutet auf menschliche Behausungen. Irgendwo bei Ingelheim scheinen Büsche zwischen Fluss und weißem Himmel zu schweben, und ein wirres „Geäst“ erinnert an die Strukturen des Abstrakten Expressionismus.

Axel Hütte ist auch ein Entdecker der Kunst in der Natur und im profanen Bauwerk. Seine Bilder zeigen Phänomene, verbreiten Atmosphäre, sie erzählen keine Geschichten. Man müsste gar nicht wissen, wo er sie aufgespürt hat. Aber die Namen der Orte, die uns bereitwillig genannt werden, setzen bei jedem Betrachter eine eigene Fantasie frei. Und auch das ist ein Teil von Kunst.

Information:

„Axel Hütte: Night and Day“: bis 14. Januar 2018 im Düsseldorfer Museum Kunstpalast, Ehrenhof. Di.-So. 11 bis 18 Uhr, Do. bis 21 Uhr. Eintritt: 12 Euro. Katalog 39,90 Euro. www.smkp.de

Parallel wird in Bottrop das Frühwerk (1978-95) von Axel Hütte gezeigt. Neben Porträts von Kollegen interessierten Hütte damals insbesondere architektonische Formationen, wie Treppenhäuser und Flure in Mietshäusern der Nachkriegszeit, U-Bahnhöfe in Berlin, Gebäude und Plätze in London, Venedig und Paris. Di-Sa. 11 bis 17 Uhr, So. 10 bis 17 Uhr. Eintritt: 6 Euro. Katalog: 38 Euro. www.bottrop.de/mq




„Situation Kunst“ in Bochum-Weitmar: Hier wuchs ein durchgrüntes Kulturgebiet sondergleichen

Kunst-Kubus in der alten Schlossruine - ein wesentlicher Teil der "Situation Kunst". (Fotos: Bernd Berke)

Kunst-Kubus in der alten Schlossruine – ein wesentlicher Teil der „Situation Kunst“. (Foto: Bernd Berke)

Nicht, dass ich noch ins haltlose Schwärmen gerate! Doch es kann und soll nicht verschwiegen werden, dass es im Ruhrgebiet ein Kunst-Areal von besonderer Güte gibt, das nicht nur zu Ausflügen ins Grüne animiert, sondern innige Zwiesprachen zwischen Kunst, Architektur und Natur stiftet, nicht zuletzt mit Skulpturen im Außenbereich (von Größen wie Richard Serra, Ulrich Rückriem u. a.). Im gesamten Revier, ja in ganz Deutschland gibt es wohl nichts Vergleichbares. Und wo denn überhaupt?

Ich meine den Schlosspark in Bochum-Weitmar, dem sich nach und nach immer mehr Ausstellungsorte angegliedert haben, ohne den Erholungswert zu beeinträchtigen. Im Gegenteil. Hier kann die Seele vielfach gelüftet werden.

Zu meiner nicht geringen Schande muss ich gestehen, dass ich das Ambiente bis gestern noch nicht in seiner jetzigen, mit den Jahren gehörig angewachsenen Ausdehnung und Ausformung gekannt habe. Mit diesen Zeilen leiste ich Abbitte fürs Versäumnis.

Kubus in der Ruine und ein „Museum unter Tage“

Das Ganze nennt sich „Situation Kunst“ und besteht aus einer ersten Stufe (1988-90) mit vier helllichten Baukörpern, einem Erweiterungsbau von 2006 sowie neuerdings vor allem aus dem Kubus, der zum Kulturhauptstadt-Jahr 2010 als Kunststätte in die Reste einer alten Schlossruine eingesenkt wurde (ein Meisterstück zeitgenössischer, Historie aufnehmender Architektur). Rings um die modern angefüllte Ruine ist ein Wassergraben entstanden, nahebei findet sich ein pittoresker Teich mit mächtiger Trauerweide. Hier lasset uns bleiben für einige Zeit…

Oberirdischer Eingangsbereich des "Museums unter Tage". (Foto: Bernd Berke)

Schmucklos-nüchtern: oberirdischer Eingangsbereich des „Museums unter Tage“. (Foto: Bernd Berke)

Im November 2015 wurde schließlich das „Museum unter Tage“ („MuT“) eröffnet, dessen Räumlichkeiten tatsächlich – bis auf einen recht unscheinbaren Eingangsbereich – unter der Erde liegen und somit die umliegende Landschaft mit ihrem ehrwürdigen alten Baumbestand so gut wie gar nicht antasten.

Apropos Landschaft: Die Dauerschau des „MuT“ zeigt hochkarätige Landschaftsmalerei aus sechs Jahrhunderten. Hinzu kommen immer wieder Wechselausstellungen, wie jetzt gerade die sehr sehenswerte Fotografie-Präsentation „Umbrüche“ zum Wandel des Ruhrgebiets seit den späten 50er Jahren – mit Arbeiten von Rudolf Holtappel, Bernd und Hilla Becher, Joachim Brohm und Jitka Hanzlová. Über diese Schau (bis 25. März 2018) wird bei Gelegenheit noch ausführlicher zu reden sein. Versprochen.

Idyllisches Ambiente im Schlosspark. (Foto: Bernd Berke)

Idyllisches Ambiente im Schlosspark. (Foto: Bernd Berke)

Um das Kunstglück noch zu steigern: In direkter Nähe der erwähnten Bauten liegt auch noch die renommierte „Galerie m“, die bereits im rebellisch gestimmten Jahr 1968 von Alexander von Berswordt-Wallrabe gegründet wurde und seit 2003 von Susanne Breidenbach geleitet wird.

Alexander von Berswordt-Wallrabe als Spiritus rector

Damit sind wir ganz zwanglos beim Spiritus rector des ganzen Ensembles angelangt, der immer noch wohltätig im Hintergrund wirkt. Berswordt-Wallrabe hat vor Jahr und Tag den Schlosspark geerbt und hatte schon vorher bekundet, dass er ihn öffentlich zugänglich machen und künstlerisch ausgestalten wollte. Derlei „linke“ Ideen und Umtriebe missfielen seinem Vater, der ihn deshalb eigentlich schon enterbt hatte. Im gültigen Testament stand dann aber doch der Name des Sohnes, der also seine Pläne nach und nach umsetzen konnte. Welch‘ günstige Fügung…

Erste Annäherung ans Gelände auf dem Fußweg über die Schlossstraße. (Foto: Bernd Berke)

Erste Annäherung ans Gelände auf dem Fußweg über die Schlossstraße. (Foto: Bernd Berke)

Träger des durchgrünten Kunstgebiets ist die 2005 gegründete, gut ausgestattete Stiftung „Situation Kunst“, deren Vorstandsvorsitzende Alexander von Berswordt-Wallrabes Ehefrau Silke ist. Beide haben ihre famose Kunstsammlung in die Stiftung eingebracht. Dem Stiftungs-Kuratorium gehört u. a. der nunmehr aus dem zweithöchsten Staatsamt scheidende Alt-Bundestagspräsident Norbert Lammert an.

Zum Gedenken an den Kunsthistoriker Max Imdahl

„Situation Kunst“ ist dem Andenken ans Lebenswerk des einflussreichen Bochumer Kunstprofessors Max Imdahl (1925-1988) gewidmet, fungiert offiziell als Teil der Bochumer Ruhr-Universität (RUB) und wird vom dortigen Kunstwissenschaftlichen Institut betreut. Studierende können sich hier im laufenden Ausstellungsbetrieb beweisen – längst nicht nur als zunehmend kundige Wächter der Kunstschätze, sondern auch im kuratorischen Team unter Leitung von Maria Spiegel.

Genug der Einzelheiten. Jetzt aber rasch auf die Strecke; vor allem, sofern dieser Herbst noch ein paar schönere Tage mit sich bringt.

Weitere Infos mit Anfahrtsbeschreibung, Öffnungszeiten der Ausstellungen etc.: http://www.situation-kunst.de




„reboot : jetzt erst recht“ – nach neun Jahren wieder zurück auf den Kunstmarkt

Als Künstler mit Ende 40 nach einer fast 9jährigen Auszeit mit Burnout-Qualität doch wieder zurück auf den »Markt«.

Kulitattoo "Jetzt erst recht"

Jetzt erst recht – Entwurf für eine Tätowierung / s/w-Foto / 18x24cm / mit schwarzem Rahmen: 28x38cm / 2017 / Preis auf Anfrage

Die alten Freundschaften zerbrochen wie die Netzwerke von damals.
Ne Ausstellung organisieren? Wie geht das nochmal? WTF Pressearbeit? Texte schreiben? Flyer machen? Plakate? Hä?
Der Autopilot funktioniert noch, stottert aber ’n bißchen.

Und überall tummeln sich eh schon die Jungen, Glücklichen, Erfolg­reichen, die Generation, die von den Eltern überall hingefahren wurde oder die Alten, die alles richtig gemacht haben und von Ausstellung zu Ausstellung zu Sammler zu Katalog zu Buch zu Besprechung in der FAZ zu Ankäufen rumgereicht werden. (Ok, die andern gibt’s auch noch.)

Selber schleppt man dieses Stigma rum, daß man zu lang weg vom Fenster war, weil man bei dem ganzen Kunstmarktscheiß nur noch kotzen mußte. Bin ich Künstler oder Verkäufer?

Irgendwann guckt man dann zum tausendsten Mal seine Sachen an und weiß, jetzt geht’s nicht mehr anders und man kann ja eh nur das und was anderes will man sowieso nicht.

Also anfangen, unbeholfen, Müll wegräumen, ständig fällt was runter, kippt um, nix klappt ohne Knirsch, man stellt sich an wie ein Depp. Trotzdem. Zurück ans Fenster. Was nutzt die beste Kunst, wennse keiner sieht?

Dann steht und hängt alles, ’n paar Leute sind auch da, ich hab mich wie ein Viertklässler durch die Begrüßungsrede und’s Künstlergespäch gewurschtelt.

Ich atme tief, guck mir das Kulitattoo auf meinem Arm an (Preis auf Anfrage) und mach mir ’n Bier auf:

reboot : jetzt erst recht
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(Text und Bild sind meine Bewerbung für den den open call »Haut zu Markte tragen« der Künstlergruppe Group Global 3000 [https://groupglobal3000.de/haut-zu-markte]
Das Foto ist/war Teil meiner Ausstellung »Thomas Scherl aka ©scherl @ Galerie Erika«, 13. – 27.7.2017, Quickborn, »Jetzt erst recht« der Arbeitstitel.
Dokumentation: https://www.facebook.com/events/102826140305647
Galerie Erika: http://www.galerie-erika.de)




Mythos Tour de France: Ja, wo radeln sie denn?

Die Düsseldorfer meckern gerne bei einem schönen Gläschen Crémant über den Grand Départ, den großen Start der Tour de France 2017 in unserem Möchte-gern-Klein-Paris. Ein einziger Reklamerummel sei das, viel Geld, Gedöns und blöde Dekoration für ein paar Momente, die nur Radsport-Fans interessieren.

Aber halt, die Chose hat auch kulturelle Aspekte, ja, da staunen Sie, Mesdames et Messieurs! Im NRW-Forum, dieser Forschungsstation für eine Philosophie der westlichen Lebensart, wurde soeben eine Ausstellung über den „Mythos Tour de France“ eröffnet, die auch Sportschau-Verächtern gefallen wird.

Dabei geht es nicht um eine kritische Betrachtung des Radzirkus mit seinen obskuren Geschäften und Skandalen. Man will ja die Stimmung und das Sponsoring nicht verderben. Lediglich ein kleines Wandobjekt mit Beutelchen Eigenblut des jungen Künstlers Martin Höfer weist diskret auf das Doping-Problem hin. Ansonsten freut man sich an Menschen, Rädern, Emotionen – und einer zum Teil überwältigenden Ästhetik. Düsseldorfs Kulturdezernent Hans-Georg Lohe hat nicht Unrecht, wenn er feststellt, Sport und Kunst seien sich näher als gedacht.

Legenden der Landstraße

So edel sah man die Helden des belgischen Radsports gewiss nie wie auf den Schwarz-Weiß-Porträts des Fotografen Stephan Vanfleteren: Eddy Merckx, Briek Schotte, Johan Museeuw – Legenden der kurvenreichen Landstraße. Aber selbst, wenn man die Namen der Sportstars überhaupt nicht kennt und kein Fachgespräch über sie führen könnte, wird man die markanten Visagen zu schätzen wissen.

Gleich davor kann man seinen kindlichen Spaß haben. Der Franzose Pascal Rivet hat Radsportler der 1990er-Jahre in hölzerne Aufstellfiguren verwandelt – lebensgroß und kopflos wie auf einem altmodischen Jahrmarkt. Besucher dürfen damit posieren und das Smartphone für ein Selfie zücken.

An der Wand hängen, in weiß gerahmten Kästen, die Trikots diverser Tour-Teilnehmer, getränkt mit dem Schweiß der Helden: Reliquien der besonderen Art aus der Privatsammlung des britischen Modedesigners Paul Smith. Aufschlussreicher ist allerdings eine Serie der Fotografin und Bloggerin Nicola Mesken, die seit zwölf Jahren mit einer analogen Kleinbildkamera und liebevollem Blick die Fans entlang der Strecke fotografiert – und vor allem eins entdeckt hat: Begeisterung.

Harry Gruyaert (75), einer der großen Bildreporter der Agentur Magnum, hielt in den 1980er-Jahren mehr Abstand und fotografierte die stillen Landschaften, durch die Radler sausen wie ein Schwarm aggressiver Insekten. Am Rand grasen die Schafe, Brünnlein fließen, Kinder spielen, Familien machen Picknick, als wäre nichts geschehen.

Euphorie und Elend

Dazu spielt die Musette-Musik, und man hört Männerstimmen aus einem Dokumentarfilm, den der Regisseur Louis Malle 1962 gedreht hat: „Vive le Tour“. Zur großen Euphorie, zeigt Malle, gehören auch Schmerz, einsamer Kampf, Verletzung, Zusammenbruch.

Die Tour ist, jenseits der Tabellen und der üblichen Sportberichte, ein Ereignis, das verschiedene Aspekte des irdischen Lebens auf eigentümliche Art verdichtet. Man sieht beklommen auf die von Robert Capa fotografierten Fähnleinschwenker von 1939, die kurz vor Ausbruch des katastrophalen Krieges noch einmal nur ans Radfahren dachten. Man sieht den Hippie und die Mutti nebeneinander 1978 in Paris. Man sieht in wandhoher Vergrößerung die zerschundenen und verpflasterten Beine von Radsportlern, die Tim Kölln nach dem Zieleinlauf fotografiert hat: Säulen aus Muskeln.

Olaf Unverzagt, selbst begeisterter Radler, fotografierte nur die Schauplätze vor dem Sturm – die menschenleeren Kurven zwischen Häusern oder Gipfeln. Die Erwartung ist spürbar – und zugleich ein Wissen um die Flüchtigkeit des Ereignisses. Auf der berühmten Fotografie „Tour de France“, die Andreas Gursky 2007 machte, wirken Sportler, Fans, Begleiter wie winzige Ameisen in der gewaltigen Kulisse einer aus der Ferne betrachteten Serpentinenstraße irgendwo im Gebirge.

Das große Rauschen

Gursky ist nicht der einzige Düsseldorfer Kultur-Star, der sich für das Thema Tour engagiert. Kraftwerk, die Band, die 1970 den Elektropop erfand („Wir sind die Roboter“), wird zum Start der Tour de France am 1. Juli im Ehrenhof spielen und hat für die Mythos-Schau eine Filmcollage mit typischer Kraftwerk-Musik produziert. Konzeptkünstler Reinhard Mucha präsentiert im dunklen Hinterzimmer einige Bilder und Papiere, deren Sinn sich nur dem geduldigen Betrachter erschließt.

Bestechender sind da die Bilder des Fotografen Philipp Hympendahl, der mit einer altmodischen Rollfilm-Kamera nicht nur unwirklich schöne Panoramen von der Wegstrecke schuf. 2001 gelang ihm an der Route auf der Alpe d’Huez eine verblüffende Fotografie, auf der alles Umgebende überdeutlich zu sehen ist: die Berge, Bäume, Zuschauer, sogar der Kirchturm des nahen Dorfs. Die Truppe der Radler aber erscheint nur wie eine abstrakte Woge aus vorbeirauschenden Farben. Es ist eben alles nur ein Spuk.

Info:
„Mythos Tour de France“. Bis 30 Juli im NRW-Forum Düsseldorf, Ehrenhof 2. Täglich 11 bis 18 Uhr, Fr. und Sa. bis 20 Uhr. www.nrw-forum.de




Letzte Wahrnehmungen in Raum und Zeit – Nachtfotografie von Tom Fecht im Duisburger Museum DKM

Eclipse #8031 (C-Print/Unikat 180×295 cm) (Bild: Tom Fecht, VG Bild-Kunst 2017, Courtesy: Museum DKM, Duisburg)

Die Farbe Schwarz, wenn es sie denn gäbe, dominiert die Bilder. Schwarz ist der Horizont, schwarz ist das Wasser, nur geheimnisvolle Reflexe künden von der Plastizität der Wellenbewegungen. Die drei Bilder, jedes mehrere Quadratmeter groß, wurden im Abstand von Sekundenbruchteilen mit drei Kameras aufgenommen, in einem technischen Setting, das schon im 19. Jahrhundert der Bewegtbildpionier Eadweard Muybridge verwendete.

Es entstanden drei sehr unterschiedliche Momentwahrnehmungen in der Unendlichkeit von Zeit und Raum, sehr streng, autonom, kontemplativ. Die Lichtreste einer Sonnenfinsternis erhellten den Moment, aufgenommen wurde im westlichsten Westen Frankreichs, im Finistère, das dem lateinischen „finis terrae“ entspricht und sinnhaft „Ende der Welt“ bedeutet. Hier, bei den letzten schemenhaften Geländemarken auf dem Weg in die Unendlichkeit, begegnet man Tom Fecht. Und den konzeptionellen Ideen, die ihn in seinem künstlerischen Schaffen vorantreiben.

Ingenieur und Bildhauer

Fecht hat eine bemerkenswerte Karriere aufzuweisen. Als Ingenieur entwickelte er in den 70er Jahren Faxgeräte bei IBM, 1979 gehörte er zu den Gründern des viele Jahre lang mit seinen Kunst- und Kinderbüchern sehr erfolgreichen Elefanten Press Verlags. Ab 1989 versuchte er sich in der Bildhauerei, entwickelte für die Deutsche Aids-Stiftung das Memorial „Names and Stones“. 1997 wand er sich als Autodidakt der Fotografie zu, 2008-2012 dann, wie die sorgfältig zusammengestellte Vita in der Pressemappe verkündet, „Einstieg in die Nachtfotografie“.

„Gravitational Pull“ #8475 (Piezo-Pigment/Inkjet auf Baumwolle, Unikat, 91 x 233 cm) (Bild: Tom Fecht, VG Bild-Kunst 2017, Courtesy: Museum DKM, Duisburg)

Ganz ohne Licht geht es natürlich nicht. Deshalb illuminieren, wenngleich spärlich, in der Serie „Electric Cinema“ (2008) einige Blitze in der Ferne punktuell den Horizont. Doch auch in diesen Bildern dominiert das große, unendliche, alles aufsaugende kosmische Schwarz. Der Künstler wähnt sich im Einklang mit der Natur, von der wir immer noch eher ahnen als wissen, daß sie zu mehr als der Hälfte aus einer geheimnisvollen schwarzen Materie besteht, deren Gravitation so heftig ist, daß sie das Licht im All verbiegt oder es gleich ganz verschluckt.

Boten toter Sterne

Manche Strahlen aber kommen durch, wie die Serie „Incertitude“ zeigt. Man muß ganz nahe an die großen, selbstverständlich zunächst einmal tief schwarz anmutenden Bilder herantreten, um die kleinen Lichtpunkte wahrzunehmen, größere und kleinere, hellere und dunklere in reicher Zahl. Es seien dies, erläutert Fecht, die Lichtsignale längst erloschener Sterne, die sich unverdrossen ihren Weg durch die Galaxis bahnen – Schwingungen (wenn man Licht als Schwingung begreift), die für normale Augen und Filme unsichtbar bleiben. Fecht hat herausgefunden, daß er diese Lichtimpulse mit besonderen Filmen aufnehmen kann, mit alten Planfilmen nämlich in der Größe eines DIN-A-4-Blattes, die vor der Exposition erwärmt werden. Die wuchtige Fachkamera mußte für die Aufnahmen in einen Bleimantel, damit nur durch die Linse Strahlung eintrat. Und dann wurde anderthalb Stunden lang belichtet.

Ästhetische Valeurs

Die extremen Randbereiche fotografischen Schaffens, um die es hier geht, wie auch die technischen Entstehungsprozesse werden vermutlich für die meisten Betrachter mehr oder weniger rätselhaft bleiben (auch für den Autor dieses Beitrags). Hier muß man wohl dem Entwicklungsingenieur trauen. Unabhängig davon jedoch beeindrucken die ästhetischen Valeurs insbesondere der Wellenbilder, die nachdrücklich zum Sinnieren über letzte Fragen des Lebens einladen – wenngleich ihre konzeptionelle Einbindung dabei buchstäblich im Dunklen bleibt.

  • „Tom Fecht – TiefenZeit“
  • Bis 3. Dezember 2017
  • Museum DKM, Güntherstraße 13-15, Duisburg-Dellviertel
  • Geöffnet Sa und So 12-18 Uhr, jeden ersten Freitag im Monat 12-18 Uhr. An allen Tagen für Gruppen nach Vereinbarung.
  • Eintritt: 10 € für das ganze Haus.
  • mail@museum-dkm.de
  • www.museum-dkm.de



Bochumer Ausstellung über Polens „Wilden Westen“: Als in Wroclaw die Kultur aufblühte

Wroclaw (früher Breslau) hat einen historischen Wandel sondergleichen hinter sich. Die einst deutsche Stadt mit bis zu 1 Million Einwohnern wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs polnisch. Die Deutschen wurden vertrieben, Polen aus anderen Teilen des Landes sollten statt dessen in der zerstörten Stadt „heimisch“ werden. Doch wie sollte das ohne weiteres möglich sein? Mit einer bloßen Umsiedlung und einem Austausch der Bevölkerung war es ja nicht getan.

Um Identifizierung – gleichsam aus dem Nichts – zu stiften, sorgte Polens kommunistische Regierung ganz gezielt dafür, dass sich in Wroclaw nicht zuletzt Künstler aller Sparten ansiedelten. Tatsächlich blühten die Künste gerade an diesem Ort seit Mitte der 1960er Jahre so auf wie an keiner anderen Stelle des Landes.

Natalia LL: "Consumer Art" (1972), Schwarzweiß-Fotografien. (© Collection of the Lower Silesian Society for the Encouragement  of the Fine Arts - Foto: Matgorzata Kujda)

Nach Art von Andy Warhol: Natalia LL „Consumer Art“ (1972), Schwarzweiß-Fotografien. (© Collection of the Lower Silesian Society for the Encouragement of the Fine Arts – Foto: Matgorzata Kujda)

In Wroclaw durfte und konnte sich – trotz eines diktatorischen Regimes – das kulturelle Leben ungleich freier entfalten als etwa in Warschau oder Krakau. Und siehe da: Es wurden nicht nur ein paar kleine Freiräume in der Diktatur ausgelotet, das Zwangssystem wurde vielmehr beherzt überschritten. Alsbald konnte man die kreativen Hervorbringungen in Wroclaw kaum noch von den wesentlichen Strömungen der westlichen Welt unterscheiden.

Eine Ausstellung im Museum Bochum, das in den letzten Jahrzehnten immer mal wieder polnische Kunst präsentiert hat, dokumentiert und illustriert nun einige Aspekte dieser erstaunlichen Vorgänge. Der Titel der Schau lautet „Wilder Westen“, er spielt an auf die herrlich „wildwüchsige“ Entwicklung der Kultur in einer Stadt, die eben im polnischen Westen liegt. Es geht hierbei nicht so sehr um einzelne Künstler, sondern vorwiegend um die Zeitstimmung.

Krzysztof Zarebski: "Autohemo", Farbfoto. (© Sammlung Galeria Bielska BWA - Foto mit freundlicher Genehmigung von Leszek Fudusiewicz und der Galerie Monopol)

Krzysztof Zarebski: „Autohemo“, Farbfoto. (© Sammlung Galeria Bielska BWA – Foto mit freundlicher Genehmigung von Leszek Fudusiewicz und der Galerie Monopol)

Wie gut, dass in Wroclaw das Bewusstsein für die eigene Avantgarde der 60er bis 80er Jahre wachgehalten wird. Beredt und geradezu entflammt weiß Dorota Monkiewicz, Gründungsdirektorin des seit 2011 bestehenden Zeitgenössischen Museums Wroclaw, aus jenen Blütezeiten zu berichten. Aus ihrem Hause stammt die überwiegende Zahl der rund 500 Exponate, die nun in Bochum gezeigt werden. Sie selbst fungiert als leitende „Kommissarin“ der Ausstellung, gleich sieben Kuratoren haben zudem ihre Spezialkenntnisse eingebracht. Der ausführliche Katalog dürfte auch bei einem etwaigen Besuch in Wroclaw gute Dienste als Kulturführer leisten.

Vor allem anhand zahlreicher Fotografien und Videos spürt man nun in Bochum den Geist des Aufbruchs, der damals geherrscht haben muss. Wenn nicht hie und da polnische Schriftzüge auftauchten, fiele es schwer, eine Ortsbestimmung vorzunehmen. Gar manches könnte sich ebenso gut in Düsseldorf, Köln oder London abgespielt haben.

Man befand sich in Wroclaw durchaus auf der Höhe des internationalen Zeitgeistes. Nicht alle künstlerischen Arbeiten in Bochum lösen diesen Anspruch ein, doch gibt es etliche Belege für das lebendige, inspirierende Klima, das nicht nur Künstler, sondern auch Theaterleute, Filmemacher und Musiker in die Stadt lockte. Und auch die Auseinandersetzung mit Architektur war eine gehörige Triebkraft.

Da entfalteten sich – beispielsweise – Konkrete Poesie, feministische Kunstansätze, Konzeptkunst, Videokunst, Happening und Performance, ja, eigentlich alle avantgardistischen Richtungen. Von Vorgaben oder Gängelung ist nichts zu bemerken. Freilich: Anders als im Westen, gab es keine (bürgerlichen) Kunstsammler, also richteten sich Künstler aller Sparten oftmals direkt an die breitere Öffentlichkeit. Was ja gewiss kein Fehler ist.

Vitales öffentliches Interesse: "Les Comediants". Aufnahme vom 6. Internationalen Treffen der Theater und der Offenen Kunst, Wroclaw, 1978. (Foto: Bronislaw Szubzda/Staatsarchiv Wroclaw)

Vitales öffentliches Interesse: „Les Comediants“. Aufnahme vom 6. Internationalen Treffen der Theater und der Offenen Kunst, Wroclaw, 1978. (Foto: Bronislaw Szubzda/Staatsarchiv Wroclaw)

Die Gattungsgrenzen, zumal zwischen Kunst und Theater (auch der große Theatermacher Jerzy Grotowski wirkte in Wroclaw), wurden offenbar mit Verve überwunden. So ansteckend kann Kultur sein, wenn die Zeit gekommen ist: Faszinierende Fotografien zeugen von leuchtenden Momenten, zeugen von einer grundsätzlichen Offenheit, die anscheinend alle Bevölkerungsschichten und Altersgruppen erfasst hat. Es muss – wider allen grauen Alltag – eine Lust gewesen sein…

Es waltete wohl ein Genius loci. Die Künste waren seinerzeit Vorboten und Statthalter einer Freiheit, die sich in ganz Polen und anderen Ländern des europäischen Ostens erst mit dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ auch politisch manifestieren konnte.

Schon damals, so möchte man meinen, hätte es Wroclaw verdient gehabt, Europäische Kulturhaupstadt zu sein, doch da gab es diese Ehrung noch nicht – erst recht nicht für osteuropäische Städte. 2016 aber trägt Wroclaw (gemeinsam mit dem spanischen San Sebastian) den Titel. Mithin vermittelt Bochum auch in dieser Hinsicht erhellende Rückblicke.

Viele Impulse wurden erstickt, als Ministerpräsident Jaruzeski 1981 in Polen das Kriegsrecht verhängte. Von den harschen Restriktionen waren auch die Künstler in Wroclaw betroffen.

Bekanntlich gibt es in Polen neuerdings wieder ein gesellschaftliches Rollback, das die Künste einzuschränken droht. Auch gegen solche fatalen Tendenzen bezieht diese Ausstellung unversehens Position. Als sie geplant wurde, wusste man noch nicht, wie dringlich das sein würde. Ausstellungs-Kommissarin Dorota Monkiewicz möchte auf diesen Zusammenhang nicht explizit eingehen. Sie findet allerdings, dass Wroclaw im Vergleich zu früher wohlhabend geworden sei – und damit auch etwas langweiliger.

„The Wild West – Wilder Westen. Die Geschichte der Avantgarde in Wroclaw“. 5. März (Eröffnung um 17 Uhr) bis 8. Mai 2016. Museum Bochum, Kortumstraße 147. Öffnungszeiten: Di-So 10-17, Mi 10-20 Uhr. Katalog 25 €. Eintritt 5 € (jeden ersten Mittwoch im Monat frei). Weitere Infos: www.kunstmuseumbochum.de

Die Ausstellung wurde zuvor schon in Warschau und Kosice (Slowakei) gezeigt. Nach Bochum folgen noch die Stationen Zagreb und Budapest.




„Herzchen, sieh zu, wie Du klarkommst“ – Tagung zum 100. des Fotografen Otto Steinert

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Otto Steinert in einem Selbstportrait von 1950 (Foto: Museum Folkwang/Nachlaß Otto Steinert)

Die Altersverteilung war auffällig. Eine große Gruppe, vorwiegend männlich, repräsentierte die Generation 60 plus X, teilweise auch plus XX; die andere befand sich im Studentenalter, das Mittelfeld blieb deutlich sparsamer besetzt. Man war an diesem Wochenende zusammengekommen, um sich an Otto Steinert (1915 – 1978) zu erinnern, dessen Geburtstag sich im Juni zum 100. Mal gejährt hatte.

„Arbeit am Bild – Otto Steinert und die Felder des Fotografischen“ war das internationale Symposium in Essen überschrieben, auf dem am 27. und 28. November eine beachtliche Referentenriege mit Vorträgen auf Leben und Werk des Fotografen und Fotolehrers schaute. Außerdem sind Steinert-Arbeiten noch bis zum 28. Februar im Essener Folkwang-Museum unter dem Titel „Otto Steinert. Absolute Gestaltung“ ausgestellt.

„Who is Who“ der Fotoszene

Steinert gilt als bedeutendster Fotolehrer der jungen Bundesrepublik, und das Verzeichnis seiner Studenten und Studentinnen liest sich wie das Who is Who der Szene. Das Seminar-Wochenende im Sanaa-Gebäude auf dem Gelände der Zeche Zollverein war also auch so etwas wie ein Studententreffen, Steinert-Studenten aus den 50er, 60er und 70 er Jahren mit dem Drang zu kollektiver Erinnerung und junge Studis von der Gesamthochschule, die sich für den berühmten Altvorderen interessierten, den sie nie persönlich kennengelernt hatten.

Der große Fotolehrer war nicht leicht zu ertragen

Sensationelle Befunde förderten die Vorträge nicht zu Tage, Steinert-Forschung ist Kärrnerarbeit, wenngleich auch sicherlich ein Feld, auf dem sich noch manche Themen für Magisterarbeiten und Promotionen finden lassen. Viele Vorträge des Symposiums indes hätten ebenso überschrieben sein können wie der von Thilo Koenig aus Zürich: „Herzchen, sieh zu wie Du klarkommst“ zitiert er da den großen Fotolehrer, den zu ertragen alles andere als einfach war.

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Der berühmte „Ein-Fuß-Gänger“ aus dem Jahr 1950 (Foto: Museum Folkwang/Nachlaß Otto Steinert)

Koenig, von Beruf Kunstwissenschaftler, formulierte das natürlich zurückhaltender, seriöser: Es gebe Paradoxien in der Person Steinerts. Unbestritten sei einerseits, daß er es war, der zunächst in Saarbrücken, ab 1959 in Essen der jungen Bundesrepublik die Avantgarde der 20er Jahre wieder in das Bewußtsein rief, ganze Werkgruppen von Moholy-Nagy, Man Ray und vielen anderen präsentierte.

Steinert bewahrte Pioniere wie den bildjournalistisch arbeitenden Dr. Erich Salomon, der 1944 im KZ Auschwitz-Birkenau ermordet wurde, vor dem Vergessen, er lenkte das Augenmerk auf die französische Fotografie des 19. Jahrhunderts. Eine seiner ersten Ausstellungen (samt Katalog) widmete sich Hippolyte Bayard (1801-1887), der mit dem von ihm entwickelten Direkt-Positiv-Verfahren auf Papier zu den „Urvätern“ der Fotografie zählt, aber bei weitem nicht so bekannt ist wie Daguerre.

Bei der Arbeit im Schwarzweiß-Labor war Steinert überaus penibel, notierte jeden Eingriff beim Erstellen von Vergrößerungen auf „Waschzetteln“, die an den Negativbögen hingen, so daß eigentlich jeder Abzug, war er durch die zahlreichen Steinertschen Dunkelkammer-Interventionen gegangen, als Unikat gelten mußte. Diese naturwissenschaftliche Präzision, vermutet Koenig, mag mit Steinerts ursprünglichem Arztberuf zu tun haben.

Antipädagogik

Im Umgang mit seinen Studenten war Otto Steinert autoritär, er pflegte ein geradezu militärisches Auftreten, blaffte Menschen – in den Worten des mit ihm befreundeten Historikers Josef Adolf Schmoll genannt Eisenwerth – im „Casinoton“ an. Als fürsorglicher Lehrer verweigerte er sich konsequent, eher pflegte er eine „Antipädagogik“. Der schon erwähnte Titel des Vortrags ist eine Äußerung, die er machte, als ihn eine Studentin nach vernichtender Kritik an ihren Fotos fast flehentlich fragte, wie sie es denn nun anders, besser mache solle. „Herzchen, sieh zu, wie du klarkommst.“

Bilder, die ihm nicht gefielen, zerriß er gleich stapelweise, und den Stempel, auf dem „Scheiße“ stand, besaß er wirklich. Allerdings hat er ihn wohl nicht eingesetzt, höchstens mal zum Spaß. So jedenfalls der aktuelle Stand der Steinert-Forschung. Immerhin befindet sich im Archiv des Essener Folkwang-Museums ein derart abgestempeltes Bild, das dessen Autor aber nicht öffentlich zeigen möchte. Schade, wär doch lustig.

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Bildnis hell – dunkel, übrigens als Fotomontage ausgeflaggt (Foto: Museum Folkwang/Nachlaß Otto Steinert)

Um die jungen Leute Pünktlichkeit und Mores zu lehren, schloß Steinert nach Beginn der Stunde die Klasse ab, und Studenten, die ihm nicht paßten, meldete er einfach im Sekretariat ab. „Ich hab dich abgemeldet,“ lautete dann der Satz, „du studierst hier nicht mehr.“ Natürlich duzte nur er. Für die Studenten war er Herr Professor, darauf legte er großen Wert.

Menschen entwerten

Andererseits: Steinert kochte für seine Studenten und liebte es gesellig. Er brachte Zeitungen mit in den Unterricht und legte Wert auf Informiertheit und so etwas wie „politische Bildung“. Wer da indes durch Unkenntnis auffiel, mußte eventuell ein Referat verfassen, das mit Fotografie nichts zu tun hatte. Eine solche spontane Vergabe von Hausaufgaben kam manchmal auch beim gemeinsamen Essen vor.

Wirklich entspannt kann es da eigentlich nicht zugegangen sein. Eher schon drängt sich der Eindruck auf, daß Steinerts Pädagogik – oder Antipädagogik, auf jeden Fall rabenschwarze Pädagogik – darauf gerichtet war, die jungen Menschen in ihrem Selbstbild zu entwerten und in die Verzweiflung zu treiben, um sie schließlich, wenn sie nicht resignierten und die Brocken hinschmissen, nach seinen Vorstellungen gleichsam neu zu erschaffen.

Eine Fotografie der dramatischen Schwärzen

Und der Fotograf Steinert? Seine Bildauffassung mit ihren vielen tiefen, dramatischen Schwärzen, mit den gleichsam nach innen gewandten Kompositionen und einem eigentümlichen Hang zu Abstraktion und Struktur war für Jahrzehnte prägend. „Erst in den 70er Jahren entwickelt sich eine andere Auffassung, kommen offenere Bilder“, befindet Koenig und nennt in Sonderheit Timm Rautert als einen Fotografen, dessen Werk typisch für diese Wandlung ist.

Möglicherweise korrespondieren Veränderungen im Schaffen Otto Steinerts jedoch auch einfach mit gesellschaftlichen und politischen Veränderungen, gerade im Ruhrgebiet: Der Strukturwandel war im Gange, stinkige rauchig-rußige Revierkulissen à la Chargesheimer waren nicht mehr gefragt, die strenge formale Ästhetik eines Albert Renger-Patzsch galt bestenfalls als Kunst. Die fotografierte Wirklichkeit war jetzt eher hellgrau und etwas optimistischer – wenngleich man ja doch sagen muß, daß die Dramatik vieler Steinertscher Schwarzweißarbeiten einen mehr packt als die betonte Zurücknahme, die nun in der Fotografie Platz griff.

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Luminogramm I von 1952. Bromsilbergelatine, Vintage Print (Foto: Museum Folkwang/Nachlaß Otto Steinert)

Schweizerische Leichtigkeit

Lichtersetzung hatte Steinert wohl nie sonderlich interessiert, „Licht mache ich in der Dunkelkammer“ soll eine seiner stehenden Wendungen gewesen sein. Doch die Zeit ging über diese Auffassung hinweg. Und nicht nur in der Werbung erinnerte man sich zunehmend an schweizerisches Graphik- und Foto-Design beispielsweise eines Hans Finsler, das nicht durch nationalsozialistisches Pathos geprägt worden war und sich durch Leichtigkeit und Offenheit auszeichnete. Hier, so Koenig, geht die Leserichtung der Bilder nach außen, hell und luftig sind die Fotografien, korrespondieren mit Freiraum und Typographie und bilden so ein informatives neues Ganzes.

Stilistische Kontinuitäten nach 1945

Immer wieder einmal wurde der Vorwurf laut, Steinerts gestalterische Konzepte hätten sich am Monumentalstil der Nazis orientiert. Biographische Daten – 1936 tritt er 21jährig in die NSDAP ein, 1937 meldet er sich zur Wehrmacht und wird Fahnenjunker in einem Sanitätskorps – legen solche Vermutungen nahe, doch halten sie einer Überprüfung nicht recht stand, allein deshalb nicht, weil es einen typischen Nazi-Stil streng genommen nicht gab.

Eher schon sind ästhetische, formale, stilistische Kontinuitäten nach 1945 von Bedeutung, die sich indes auch in den Arbeiten zahlreicher anderer Künstler und Fotografen finden – falls diese nicht ausdrücklich damit brechen. Sieht man allerdings Steinerts frühe experimentelle Arbeiten, Fotogramme und Solarisationen vor allem, dann könnte man hier durchaus auch ein Streben nach Entgegenständlichung vermuten, einen Versuch, es auf fotografischem Feld den abstrakten Expressionisten gleichzutun, die nach dem Krieg in Deutschland West in hohem Ansehen standen.

Formale Zurücknahme jedenfalls gehörte nicht zum Selbstverständnis der von Steinert auch so getauften „Subjektiven Fotografie“. Er bearbeitete seine Themen mit Kamera und Dunkelkammer „bis zum Endsieg“, wie ein Diskussionsteilnehmer es in Essen ausdrückte. Doch die Zeit ist über vieles hinweggegangen. Was früher großes handwerkliches Geschick erforderte, ist heute oft mit wenigen Mausklicks zu bekommen. Und die Fotografie – Stichwort Becher-Schule – gefällt sich mittlerweile in großer Zurücknahme, in geradezu programmatischer Entdramatisierung.

Bleibende Verdienste

Was bleibt: Agenturen wie VISUM oder die Illustrierten der 60er, 70er Jahre, Stern, Geo, Twen, wären ohne Fotografen und Fotografinnen aus der Steinert-Schule kaum denkbar. Viele von ihnen wurden zudem erfolgreiche Hochschullehrer.

Hier einige bekannte Namen von Steinert-Schülern: André Gelpke, Guido Mangold, Harry S. Morgan, Arno Jansen, Bernd Jansen, Heinrich Riebesehl, Dirk Reinartz, Adolf Clemens, Detlef Orlopp, Erich vom Endt, Monika von Boch, Vicente del Amo, Kilian Breier, Harald Boockmann, Ute Eskildsen, Timm Rautert.

  • Ausstellung „Otto Steinert. Absolute Gestaltung“, Museum Folkwang, Museumsplatz 1, 45128 Essen. (Navi: Bismarckstraße 60)
  • Bis  28. Februar 2016. Geöffnet Di+Mi 10 – 18 Uhr, Do+ Fr 10 – 20 Uhr, Sa+ So 10 – 18 Uhr. Mo geschlossen
  • Geöffnet Neujahr, Karfreitag, Ostersonntag, Ostermontag, 1. Mai, Christi Himmelfahrt, Pfingstsonntag, Pfingstmontag, Fronleichnam, Tag der Deutschen Einheit, Allerheiligen, Totensonntag, 26. Dezember, 28. Dezember 2015
  • Geschlossen Rosenmontag, Heiligabend, 25. Dezember, Silvester
  • Besucherinfo Tel. 0201 8845 444
    info@museum-folkwang.essen.de
  • Der Eintritt in die ständige Sammlung im Museum Folkwang ist an allen Öffnungstagen frei. Ermöglicht wird dies durch die Unterstützung der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung.
  • Folgende Ausstellungen sind im freien Eintritt inbegriffen:
  • Sammlung Goetz. 12 Monate / 12 Filme (bis 1. Mai 2016)
    Los Carpinteros. Helm/Helmet/Yelmo
    (seit 15. November 2014)
    Otto Steinert. Absolute Gestaltung
    (bis 28. Februar 2016).



Als Nashörner und Elefanten hier lebten – Ausstellung „Wildes Westfalen“ in Herne

Die ältesten Exponate sind rund 465 Millionen Jahre alt. Man kann sie allerdings schwerlich erkennen, jedenfalls nicht mit bloßem Auge.

Es sind drei so genannte Trilobiten, Gliederfüßler, die mit Krebsen und Insekten verwandt sind. Gefunden wurden die winzigen, in Gestein eingeschlossenen Urzeit-Zeugnisse in Herscheid (Märkischer Kreis). Also zählen auch diese unscheinbaren Wesen zur Ausstellung mit dem forciert populären Titel „Wildes Westfalen“ (gemeint: wild lebende Tiere in Westfalen), die im LWL-Museum für Archäologie in Herne einige Zeugnisse aus der zoologischen Vergangenheit dieser Region in Vitrinen präsentiert.

"Wildes Westfalen" - Titelumschlag des Begleitbuchs (© LWL)

„Wildes Westfalen“ – Titelumschlag des Begleitbuchs (© LWL)

In Jahrmillionen haben auch auf dem Gebiet, das heute Westfalen heißt, die unterschiedlichsten klimatischen Bedingungen geherrscht, Eis- und Warmzeiten wechselten einander ab, Vegetation und Landschaftsgestalt wandelten sich desgleichen. So darf es im Prinzip eigentlich gar nicht so sehr verwundern, dass hier zeitweise Flusspferde, Krokodile und Elefanten gelebt haben. Saurier selbstverständlich auch.

Es finden sich ein paar staunenswerte Belegstücke in dieser Ausstellung. Etwa 1,8 bis 2,2 Millionen Jahre alt (auf zwei bis drei Tage kommt es da ja nicht an) ist jener Block mit drei Zähnen eines „Südelefanten“, der damals aus Afrika in die hiesigen Breiten einwanderte und als Vorfahre späterer Mammut-Arten gilt. Man vermutet, dass die Tiere, deren Überreste man am Haarstrang in der Nähe von Soest gefunden hat, bei einer Flutwelle im schmalen Flussbett ertrunken sind.

1,8 bis 2,2 Mio. Jahre alt: Block mit drei Zähnen von Südelefanten, gefunden am Haarstrang bei Soest (Foto: Bernd Berke)

1,8 bis 2,2 Mio. Jahre alt: Block mit drei Zähnen von Südelefanten, gefunden am Haarstrang bei Soest (LWL-Museum für Naturkunde, Münster – Foto: Bernd Berke)

Kaum minder imposant ist der Schädel eines raren Waldnashorns, der in der Dechenhöhle bei Iserlohn zum Vorschein kam. Mit über 200.000 Jahren ist er jedoch vergleichsweise „jung“.

Das zeitliche Spektrum der recht übersichtlichen Ausstellung (90 archäologische Objekte in 17 Vitrinen) reicht bis in die Frühneuzeit. Man bekommt nicht nur Überreste von Tieren zu sehen, sondern auch einzelne menschliche Schöpfungen mit kultischem Charakter oder alltäglichem Gebrauchswert, beispielsweise einen hirschförmigen Kerzenleuchter oder Spielzeug in Pferdegestalt.

Manche Gegenstände zeugen zudem vom sich ändernden Verhältnis der Menschen zu Tieren. So wurden Rinder zunächst vor allem gejagt und hernach allmählich domestiziert. Das prägte natürlich auch Wahrnehmung und Darstellung.

So ganz haben die Museumsleute der alleinigen Aussagekraft der Fundstücke offenbar nicht getraut, auch galt es wohl, den optischen Umfang etwas zu erweitern. Und so hat sich eine halbwegs charmante Notlösung ergeben: Der Zufall wollte es, dass langjährig tätige und also gewiefte Amateurfotografen des örtlichen Naturschutzbundes (NABU) ohnehin Kontakt zu den Fachleuten gesucht hatten. Ihre Aufnahmen, 70 an der Zahl, ergänzen und spiegeln nun die vorzeitliche Tierwelt, machen sie ein bisschen fassbarer und holen sie ans Heute heran; wenn auch in Einzelfällen um den Preis verzeihlicher „Schummelei“.

So tritt im Foto die Kellerassel als Verwandte der eingangs erwähnten Trilobiten auf. Und für die blühenden Phantasien, die sich Menschen früher aus Tieren gemacht haben, mussten eben Bildbearbeitungsprogramme herhalten, mit deren Hilfe täuschend „echt“ wirkende Bilder von Einhorn, Pegasus und Drachen entstanden sind.

Ausstellung und Begleitbuch sind zu gewissen Teilen noch das Werk des 2014 verstorbenen Altertumsforschers Prof. Torsten Capelle. Einige seiner Freunde und Schüler haben die Anregungen des Doyens verwirklicht. So knüpft man Traditionsstränge in der Wissenschaft.

Dennoch, ganz ehrlich: Ein Besuch lohnt eher bei speziellem Interesse, wenn man ohnehin in der Gegend um Herne zu tun hat oder wenn man weitere Abteilungen des Hauses besichtigt. Auch ist es eine Option, sich das Begleitbuch zu besorgen, denn richtig gesetzte Worte erschließen die Objekte womöglich getreulicher, als Fotografien heutiger Tiere.

„Wildes Westfalen“. Tierische Fotos und Funde. 1. November 2015 bis 29. Mai 2016. LWL-Museum für Archäologie, Herne, Europaplatz 1. Tel.: 02323 / 94 628-0. Geöffnet Di, Mi, Fr 9-17, Do 9-19 Uhr, Sa/So 11-18 Uhr. Freier Eintritt (freiwilliger Obolus kann am Ausgang in ein Sparschwein gesteckt werden). Weitere Infos: www.lwl-landesmuseum-herne.de




Rätsel des Alltags (5): Das Ungeheuer von Topf Ness

Länger nichts mehr für die lose Reihe „Rätsel des Alltags“ geschrieben. Jetzt aber drängt sich ein (Un)wesen geradezu auf. Oder was würdet ihr tun, wenn sich „Nessie“ quasi in eurer Küche zeigt? Das erschütternde Erlebnis schreibend zu verarbeiten suchen. Eben.

Das Beweisfoto: Ungeheuer aus dem Urschlamm. (Foto, weltexklusiv: Bernd Berke)

Das Beweisfoto: Ungeheuer aus dem Urschlamm. (Foto, weltexklusiv: Bernd Berke)

Es begab sich also bei Verfertigung einer an sich harmlosen Tomatensuppe, dass urplötzlich ein Ungeheuer sein schauriges Haupt erhob. Das unwiderlegliche, selbstverständlich weltexklusive Beweisfoto (Kaufpreis auf Anfrage) stelle ich hinzu, es sagt – wie man hilflos zu formulieren pflegt – „mehr als tausend Worte“… Eigentlich könnte ich also den Text schon beenden.

Doch halt! Aus meinem kaum erschöpflichen Nippes-Fundus taucht noch ein Souvenir auf, das ich einst in Schottland erworben habe, und zwar direkt am berühmten Loch Ness. Das vierteilige Keramik-Set stellt das legendenumwobene Monster in aparter dunkelgrünlicher Tönung dar. Hübsch, nicht wahr?

Souvenir aus Schottland (Foto: Bernd Berke)

Souvenir aus Schottland (Foto: Bernd Berke)

Man vergleiche nun aber mit dem Ungeheuer von Topf Ness. Das eine ist eher ein sinniger Scherzartikel, im anderen Falle wird es hingegen ziemlich ernst. Allein der blutorangenfarbene Urschlamm deutet doch wohl unmissverständlich darauf hin. Und bevor noch läppische Gruselspielchen zu Halloween uns ereilen, erschaudern wir hierbei im Innersten.




Auf irgendeine Art naiv – „Der Schatten der Avantgarde“ im Essener Folkwang-Museum

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„Mädchen im Spiegel“ (1940) von Morris Hirshfield, 102×57 cm groß (Foto: VG Bild-Kunst/Museum Folkwang)

Als er sich 2012 vom Kölner Museum Ludwig verabschiedete, durchwehte ein Hauch von Schwermut die Räume. „Ein Wunsch bleibt immer übrig. Kasper König zieht Bilanz“, war die Ausstellung betitelt, mit der sich der prominente Kurator und bekennende Westfale nach 12 Jahren Leitungstätigkeit verabschiedete. Und das geneigte Publikum fragte sich, wie der Ausstellungstitel denn wohl zu verstehen sei: Bleibt der letzte Wunsch nun ein für alle Mal unerfüllt, oder wird er in den folgenden Jahren noch verwirklicht?

Wie es aussieht, trifft Letzteres zu. Kasper König hat (unter anderem in St. Petersburg) munter weiter kuratiert, hat bei Anke Engelke in der Talkshow gesessen und jetzt im Essener Folkwang-Museum eine Kunstschau realisiert, die doch Fragen aufwirft: „Der Schatten der Avantgarde – Rousseau und die vergessenen Meister“. Eine Ausstellung, von der man auch sagen könnte, daß sie typisch für König ist.

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Dieses „Untitled (Blue Man on Red Object)“ des ehemaligen Sklaven Bill Traylor entstand ca. zwischen 1939 und 1942. (Foto: Mike Jensen/Museum Folkwang)

Wo gehören sie hin?

Natürlich soll nicht verschwiegen sein, daß ein zweiter Kurator mit im Boot sitzt, eine gute Generation jünger als König und aus Dortmund gebürtig: Falk Wolf, der unter anderem auf eine mehrjährige Tätigkeit im Hagener Osthaus-Museum zurückblickt. Die beiden sind für das verantwortlich, was im großen, überaus flexibel gestaltbaren Saal des Folkwang-Museums nun zu sehen ist:

Acht Dschungelbilder des berühmten Zöllners Henri Rousseau, drum herum gruppiert Arbeiten von 12 Künstlerinnen und Künstlern, denen gemein ist, daß sie anders als Rousseau im etablierten Kunstbetrieb so recht keinen Platz zugewiesen bekommen haben: Camille Bombois, Adalbert Trillhaase, William Edmondson, Morris Hirshfield, Martín Ramírez, Séraphine Louis, Alfred Wallis, um einige zu nennen. Den einen oder anderen Namen hat man wohl schon einmal gehört, sicherlich den von André Bauchant, dessen eigentümliche Historienbilder einen der Präsentationsräume füllen.

Erich Bödekers Betonfiguren

Auch ein guter Bekannter aus dem Revier ist in die Auswahl geraten: Erich Bödeker, Bergmann aus Recklinghausen, der Figuren aus Beton schuf und sie anmalte. In Essen stehen Tiere aus einem Zoo, bekannt ist aber vor allem auch seine (in Essen nicht gezeigte) englische Königsfamilie, und Beton wählte Bödeker als Material, weil es ihm am haltbarsten zu sein schien. Da lag er leider falsch, und seine schlicht-feierlichen Gestalten mit ihrer geradlinigen Aura dauerhaft zu erhalten, ist ein großes kuratorisches Problem. Aber dies nur am Rande. Mehr oder weniger sind sie alle Autodidakten, kann das Etikett „naiv“ für ihre Arbeiten verwendet werden, und schließlich ist etlichen eigen, daß sie zeitlebens still vor sich hinbosselten, ohne aktiv den Austausch mit Gleichgesinnten zu suchen, sich gar als Avantgarde zu begreifen.

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Ein Esel des Recklinghäuser Bergmanns und Künstlers Erich Bödeker (Foto: Lothar Schnepf/Kolumba/Museum Folkwang)

Der malende Sklave

Der Tscheche Miroslav Tichý, der leicht bekleidete Frauen in Schwarzweiß fotografierte und dies wohl meistens unbemerkt tat, hat es in die Ausstellung geschafft, gleichermaßen Bill Traylor, 1853 in Benton, Alabama geboren und Sklave auf einer Baumwollplantage. Dort blieb er auch noch lange nach dem offiziellen Ende der Sklaverei. Seine chiffrenhaften, kargen Zeichnungen lassen an Höhlenmalerei denken, lassen dunkle Ahnungen von Gewalt und Unterdrückung aufsteigen und gehören in ihrer diffusen Bedrohlichkeit zu den stärksten Bildern der Ausstellung.

Der 1864 geborene Amerikaner Louis Michel Eilshemius hingegen liebte es, nackte pralle Frauen in freier Natur zu malen, und wenn ihm in einigen dieser Bilder die richtige Perspektive auf groteske Art entgleitet, wenn Köpfe wirken wie schief aufgeklebt, dann könnte man glatt eine Absicht dahinter vermuten. Aber sind „naive“ Maler absichtsvoll naiv? In jedem Fall machen schon die Arbeiten dieser drei Künstler deutlich, daß hier von den Kuratoren gerade nicht das Einende gesucht wurde, sondern die bunte Vielfalt.

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Den hungrigen Löwen, der sich auf eine Antilope wirft, malte Henri Rousseau zwischen 1898 und 1905. Foto: Fondation Beyeler/Robert Bayer/Museum Folkwang)

Räume im Raum

Einen inhaltlichen, formalen Bezug zu Rousseaus schlicht-schöner Weltsicht zu konstruieren, fällt trotzdem bei keinem der zwölf Ausgestellten (plus einigen Referenz-Gemälden von Delaunay, Modersohn-Becker, Picasso uns so fort) schwer. Dies ist zu einem großen Teil dem dritten Mann zu danken, der am Zustandekommen dieser Schau beteiligt war und den zu preisen Kasper König im Termin nicht müde wurde: Hermann Czech, Ausstellungsarchitekt, der auf der riesigen Fläche drei schräg stehende Raumgebilde verteilt hat, die Containern ähneln, das Werk jeweils eines Künstlers, einer Künstlerin präsentieren und die gesamte Schau räumlich sinnhaft strukturieren. Zudem gibt es durch Stellwände abgetrennte Bereiche, und alle so entstandenen Zonen haben einen Blickachsenbezug zu den berühmten Bilder des Meisters Rousseau. Ist wirklich nicht schlecht gemacht.

Kaspar König und Falk Wolf Museum Folkwang 2015 "Im schatten der Avantgarde"

Kaspar König (links) und Falk Wolf kuratierten die Ausstellung „Der Schatten der Avantgarde“ im Essener Folkwang-Museum. (Foto: Jens Nober/Museum Folkwang)

„Kuratorische Ratlosigkeit“

Man muß wohl ein alter Hase im Ausstellungsgeschäft sein, wenn man, wie Kasper König, freimütig von „kuratorischer Ratlosigkeit“ als Konzept spricht. Oder vielleicht eben auch als Nicht-Konzept, was aber auch wieder ein Konzept wäre.

Gefragt hatte man ihn, warum nicht auch Jean Dubuffet mit seiner „Art brut“ in der Ausstellung vertreten sei, oder Kunst von psychisch Kranken, oder „Tribal Art“ aus Asien, Afrika, Ozeanien. Hätte man alles machen können, hat man eben nicht (zumal Dubuffet Rousseau dann möglicherweise die Schau gestohlen hätte).

Sicherlich ist der Titel etwas schönfärberisch; der Begriff Avantgarde geht bei den meisten Gezeigten schlichtweg in Leere, und Meister kann man sie auch nicht alle nennen. In jedem Fall jedoch schafft diese Ausstellung eine Vielzahl von sinnvollen schöpferischen Bezügen, die in Ruhe noch bedacht sein wollen. Und zu Recht wirft sie die Frage auf, warum sich der etablierte Kunst- und Museumsbetrieb bei einigen der gezeigten Künstler mit deren systematischer Einordnung so schwer tut.

Kasper König 2017 in Münster 

Übrigens werden wir Kasper König spätestens im Sommer 2017 in Münster wiederbegegnen. Er arbeitet, wie er sagt, schon intensiv an der alle 10 Jahre stattfindenden Ausstellung „Skulptur.Projekte“ , die er jetzt zum dritten Mal plant.

  • „Der Schatten der Avantgarde – Rousseau und die vergessenen Meister“. Museum Folkwang, Essen, Goethestraße.
  • Bis 10. Januar 2016
  • 96 Gemälde, 65 Grafiken, 21 Fotografien, 2 Installationen, 20 Skulpturen = 204 Kunstwerke auf 1400 Quadratmetern.
  • Geöffnet Di-So 10-18 Uhr, Do+Fr 10-20 Uhr.
  • Eintritt 8,00 €
  • Katalog 25,00 €
  • www.museum-folkwang.de



Wandel des Ruhrgebiets auf 50000 Luftbildern

Zuerst habe ich „unseren“ Dortmunder Vorort angepeilt. Anfangs haben sich dort noch Wiesen und Felder erstreckt, man kann wohl von dörflichen Strukturen sprechen. Dann sind nach und nach einzelne Straßenzüge entstanden. Und immer mehr Industrie ringsum.

Doch der Weltkrieg hat immense Lücken gerissen, man sieht die Schneisen der Zerstörung. Hernach, vor allem in den 1960er Jahren, breiteten sich große Siedlungen aus. Andernorts sind zwischenzeitlich Hallen oder Stadien aus dem Boden gewachsen oder es haben sich künstliche Seen gleichsam aufgetan. Derweil sind gigantische Stahlwerke vom Boden getilgt worden. Kurzum: Fast nichts ist auf Dauer so geblieben, wie es war.

Dortmunder Luftbild von 1926: Blick auf das Stadion Rote Erde (erbaut 1926) und die alte Westfalenhalle (erbaut 1925). (Luftbild: RVR)

Dortmunder Luftbild von 1926: Blick auf das Stadion Rote Erde (erbaut 1926) und die alte Westfalenhalle (erbaut 1925). (Luftbild: RVR)

Solch imposanter, buchstäblich raumgreifender Wandel hat – nicht nur im Zeitraffer des Online-Zugriffs – etwas Gespenstisches. Beileibe nicht jede Veränderung macht zukunftsfroh. Erst recht nicht die allseits wuchernden Verkehrswege der 70er Jahre.

Und woher stammen diese An- und Einsichten? Nun, in die Stadt- und Landschaftsentwicklung des Ruhrgebiets kann man sich jetzt anhand eines reichhaltigen Foto-Schatzes vertiefen. Der Regionalverband Ruhr (RVR) hat gestern rund 50 000 Luftbilder ins Netz gestellt, die den örtlichen und chronologischen Vergleich über die Jahrzehnte hinweg erlauben. Die Zeitstufen, die man unmittelbar aufrufen kann: 1926, 1952, 1969, 1990, 1998, 2006, 2009 und 2011-2015. Es gibt also noch Ergänzungsbedarf.

Ähnlicher Bildausschnitt von 1952, diesmal mit der neuen Westfalenhalle (eröffnet im Februar 1952). (Luftbild: RVR)

Ähnlicher Bildausschnitt von 1952, diesmal mit der damals neuen Westfalenhalle (eröffnet im Februar 1952). (Luftbild: RVR)

Die Nutzer werden vor allem markante Punkte des Reviers ansteuern und vorzugsweise das Werden und Wachsen der eigenen Umgebung erkunden. Über die Stadtplan-Darstellung kann man sich punktgenau dem gewünschten Ziel nähern und sodann aus der Luft die früheren Zustände betrachten. Es ist, als würde man quasi archäologische Schichten der regionalen Zeitgeschichte freilegen. Aus der Vergangenheit mögen sich überdies raumplanerischen Impulse fürs Hier und Jetzt ergeben.

Das gleiche Areal auf einem aktuellen Bild - mit dem Westfalenstadion (vulgo Signal Iduna Park) neben der "Roten Erde". (Luftbild: RVR)

Das gleiche Areal auf einem aktuellen Bild – mit dem Westfalenstadion (vulgo Signal Iduna Park) neben der „Roten Erde“. (Luftbild: RVR)

Gerade beim Herabschauen aufs Ruhrgebiet zeigt sich, wie sehr diese diffus entgrenzte Stadtlandschaft aufgewühlt, zersiedelt, zerschnitten, vermengt und vielfach geschunden worden ist. In neuerer Zeit sind auch Beispiele für Korrekturen am stellenweise desolaten Erscheinungsbild erkennbar. Doch das alles wird noch lange dauern. Es bleibt noch Arbeit für Generationen.

Aber möchte man denn schon wissen, wie die Luftbilder des Jahres 2025 oder 2040 aussehen werden? Mh. Ich weiß nicht so recht. Da wird mir auf einmal konservativ zumute. Lieber hätt’ ich’s nicht so schnell und abrupt.

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Netzadresse: http://www.luftbilder.geoportal.ruhr




Wenn markante Gebäude nicht mehr ohne Weiteres fotografiert werden dürfen…

Ich behaupte ja gern mal, dass manchen Politikern von Berlin bis Brüssel ein gewisser Hang zur realitätsfernen Naivität nicht abgesprochen werden kann. Bei Kommissären der Europäischen Union ist das nicht anders – oder sogar noch ausgeprägter? Ein Urheberrecht ist nicht nur eine feine und absolut zu befürwortende Sache, gerade in Zeiten der Weltweitnutzung von Bildern via facebook und anderer sozialer Netzwerke. Aber man kann bei Anpassungen dieser Rechtsvorschriften an aktuelle Medialität auch derartig übers Ziel hinaus schießen, dass es absurd wird.

Künftig ein urheberrechtlich geschütztes Panorama? Dortmunder Innenstadt mit Bibliothek und RWE Tower. (Foto vom 29.10.2010 - Bernd Berke)

Künftig ein urheberrechtlich geschütztes Panorama? Dortmunder Innenstadt mit Bibliothek und RWE Tower. (Foto vom 29.10.2010 – Bernd Berke)

Angenommen, nur mal angenommen, die in Deutschland übliche „Panoramafreiheit“ würde aufgrund der EU-diskutierten Vorschriftsänderung fallen, dann wird es aber kritisch für jeden, der gern fotografiert und schon gar für alle, die das hauptberuflich unternehmen. Alle urheberrechtlich geschützten Fassaden neuerer Provenienz, jede urheberrechtlich geschützte achitektonische Leistung innerhalb eines Stadtgebildes, jede Beleuchtungsinstallation, die einen solchen Schutz für sich in Anspruch nehmen kann, birgt dann Abmahn-Gefahren ohne Ende. Die einschlägigen Kanzleien würden entzückt sein und eigene Abteilungen einrichten, die das Netz nach „Sündenfällen“ absuchen und flugs strafbewehrte Forderungen an jegliche Übertreter solcher Vorschriften versenden.

Auch bei Selfies wäre dann Vorsicht geboten. Schon heute gilt das beim Eiffelturm (Frankreich kennt keine Panoramafreiheit). Grinst man urlaubsfröhlich in die Linse und hat die ehrwürdige Stahlkonstruktion im Hintergrund, ist das tagsüber unproblematisch. Macht man das aber bei Nacht, wird’s kritisch. Denn die aktuelle Erleuchtung der Tour Eiffel ist nicht etwa seit dem 31. März 1889 (Eröffnungstag zur Pariser Weltausstellung) an Gustav Eiffels epochalem Werk installiert, sondern erst seit 2008. Wenn man solch ein Selfie dann postet, müssten streng genommen Gebühren an die Betreibergesellschaft SETE gezahlt werden.

Setzte sich die EU mit dieser schrägen Nummer durch, wäre dies eine praktische Folge: Das Foto mit der Dortmunder Reinoldikirche im Hintergrund stellt kein Problem dar. Wäre aber beispielsweise die Landesbibliothek im Vordergrund zu sehen, könnte Unbill drohen. „Die Zentralbibliothek der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, ein markantes Gebäude aus der Ideenwerkstatt des Schweizer Architekten Mario Botta, ist ein architektonisches Ereignis, ein Blickfang und ein ,Tor zur Stadt‘.“ So steht es im Webauftritt der Stadt Dortmund. Und in der Schweiz könnte man Urheberrechte vermuten.

Also, Finger weg in Bälde von Bildern mit solchen „Eingangstoren“ in eine Stadt. Sobald eine wirtschaftliche Nutzung aus dem Ablichten von dessen Formen resultiert, träte das Urheberrecht auf den Plan. Und da man mit dem Posten auf facebook jedes Nutzungsrecht an Mister Zuckerman abtritt… Auch das Atomium in Brüssel ist geschützt, das Guggenheim-Museum in Bilbao, das Empire State Building in New York, der Louvre in Paris – nur ein paar Exempel, an denen Urheberrechtsinhaber ein solches statuieren könnten.

Vielleicht gesellen sich nächstens zahllose neue Stätten dazu. Ich überlege, ob ich schnell mal Gebrauchsmusterschutz auf Klohäuschen mit eingesägtem Herzchen anmelde. Oder auf Fotografien, die ich von Schlaglöchern auf bundesdeutschen Straßen gemacht habe. Ehe mir da jemand zuvor kommt und mir Chancen nimmt, all‘ die Abmahnverfahren der Zukunft bezahlbar zu halten.

Aber mal im Ernst, ich frage mal so ganz naiv: Wie wird die Welt zukünftig davon erfahren, dass es großartige Gebäudearchitektur gibt, wenn sich keiner mehr traut, Bilder von ihr zu veröffentlichen? Nur aus autorisierten Katalogen?




„Green City“: Kunstschau erkundet die versehrte Stadtlandschaft des Ruhrgebiets

Werner Graeff: "Skizzen zur farbigen Gestaltung des Ruhrlandes", 1952 (© Museum Wiesbaden, Schenkung Ursula Graeff-Hirsch, Foto Museum Wiesbaden)

Werner Graeff: „Skizzen zur farbigen Gestaltung des Ruhrlandes“, 1952 (© Museum Wiesbaden, Schenkung Ursula Graeff-Hirsch, Foto Museum Wiesbaden)

Ja, wo leben wir denn? Hier im Revier. Und was heißt das? Um mal ein doch recht treffliches Wortspiel zu wagen: Wir leben in einer ebenso extrem vernetzten wie verletzten Stadtlandschaft.

Eine Kunstausstellung in Oberhausen geht nun den Spuren nach, welche sich in die (allemal manipulierte, künstlich her- und zugerichtete) Landschaft eingezeichnet oder auch eingegraben haben. Diese Strukturen definieren geradezu das Ruhrgebiet. Wo sie sich verflüchtigen, hört auch das Ruhrgebiet auf. Nur ganz allmählich ändert sich diese Zuschreibung, allem Strukturwandel zum Trotz.

„Green City“ heißt die Schau in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen. Gemeint ist keine einzelne Kommune, sondern die weitläufige, in sich schier grenzenlose Stadtlandschaft der Region. Hat der Titel seine Berechtigung? Tatsächlich ist Grün im Ruhrgebiet in vielerlei Bestands- und Schwundstufen vorhanden. An manchen Ecken und Enden erobern sich Pflanzen sogar ihr Revier zurück. So begünstigt hie und da industrieller Verfall ein neues, ganz anderes Wachstum.

Apropos „Green City“ und Ökologie: Schirmherr der Ausstellung ist NRW-Umweltminister Johannes Remmel, und der ist nun mal bei den „Grünen“. Nebenbei: Als Sponsor tritt u.a. eine Stiftung des Energieriesen RWE in Erscheinung.

Luftbild von Rita Rohlfing: "moments", 21. Juni 2014, 2014-2015 (© Rita Rohlfing, VG Bild-Kunst, Bonn 2015)

Luftbild von Rita Rohlfing: „moments“, 21. Juni 2014, 2014-2015 (© Rita Rohlfing, VG Bild-Kunst, Bonn 2015)

Es herrscht eine insgesamt recht diffuse Gemengelange – und dieser verwirrende Eindruck teilt sich auch beim Rundgang durch die Ausstellung mit. Klärung darf man wohl nicht verlangen. Das Etikett „Green“ bezieht sich nicht zuletzt auf die Sehnsucht der Menschen nach intakten Naturzusammenhängen. Doch ist es hier nicht selten als Negation oder Ironie zu verstehen, denn „natürlich“ thematisieren etliche Künstler in erster Linie die versehrte Landschaft, deren klaffende Wunden zumal auf Luftbildern erkennbar sind, besonders eindrucksvoll in Rita Rohlfings Serie „moments“ von 2014/15.

Gleich 64 Künstlerinnen und Künstler werden zur Bestandsaufnahme aufgeboten, viele davon noch recht unbekannt. Die Ausstellung, kuratiert von Nina Dunkmann, verficht keine erkennbare These, sie versammelt vielmehr eine Unzahl von gegenwärtigen „Positionen“, wie man es so gängig nennt. Mögliches Motto älterer Lesart: Wer vieles bringt, wird jedem etwas bringen.

Axel Braun: "Und wer in diesen Bannkreis tritt, wird vom Geist der neuen Zeit ergriffen" (Detail), 2014 (© Axel Braun)

Axel Braun: „Und wer in diesen Bannkreis tritt, wird vom Geist der neuen Zeit ergriffen“ (Detail), 2014 (© Axel Braun)

Das Ruhrgebiet wird – extremer als die meisten anderen Gegenden Deutschlands – durchzogen und zerschnitten, doch eben auch innig verbunden von Straßen, Schienen, Kanälen, Energie-Trassen und Brücken, die sich zu komplexen Netzen summieren. So viele Schneisen, solch ein Geflecht und Dickicht. Somit gerät übrigens schon die Anfahrt nach Oberhausen zur stadtlandschaftlichen Einstimmung. Die Ausstellung wiederum gliedert sich (nicht immer lupenrein) in Kapitel, die z. B. Straßen, Wasserwegen oder Energie gewidmet sind.

Zeitgeschichtlich betrachtet, beginnt der Reigen 1952. Damals, als das rußige Ruhrgebiet Grau in Grau gerade erst wieder erstanden war, setzte der Maler Werner Graeff farbige Akzente in die ansonsten düstere Industriekulisse, als wär’s eine frühe Vision der heute so beliebten „Landmarken“ gewesen.

Hendrik Lietmann: Foto aus der Serie "Das Rohrgebiet", 2009 (© Hendrik Lietmann)

Hendrik Lietmann: Foto aus der Serie „Das Rohrgebiet“, 2009 (© Hendrik Lietmann)

Über die Gruppe „B 1“, die sich gegen Ende der 1960er Jahre schon im Namen auf die zentrale Strecke des Ruhrgebiets bezog und Stadträume neu zu deuten suchte, und eine Figur wie wie HA Schult, der 1978 eine künstlerische Ruhr-Tour durch die Region unternommen hat, spult die Ausstellung sehr rasch in die heutige Zeit vor.

Gewiss: Da gibt es auch ein paar lässliche oder gar alberne Zugriffe aufs Thema (sehet selbst), doch auch originelle und erhellende Kreationen wie etwa Klaus Dauvens „Putzlappenzeichnungen mit Naturmotiven“, Eva Ketzers transportables und auf schrill-komische Weise falsches Naturidyll „Naherholung“ oder Johannes Jensens frech-fröhliche Ausrufung eines Kompostaates (Kompost-Staates) mit eigener Botschaft, Flagge und allem sonstigen Drum und Dran. Einen poetischen Zugang eröffnet Nikola Dickes Arbeit „Der verborgene Garten“. Und Hendrik Lietmann tauft kurzerhand gleich die ganze Region um: Seine Fotoserie „Das Rohrgebiet“ zeigt das chaotisch wuchernde System der Rohrleitungen rings um Garten- und Kleingarten-Areale.

Sebastian Mölleken: "Kuh unter der A 40", 2009 (© Sebastian Mölleken)

Sebastian Mölleken: „Kuh unter der A 40″, 2009 (© Sebastian Mölleken)

Stellenweise wird deutlich, wie sich die künstlerische Wahrnehmung des Reviers mittlerweile in verschiedenen Zeitschichten gleichsam abgelagert hat, aber eben auch aufgefrischt werden kann. So reagiert etwa der Künstler Axel Braun explizit auf die anfangs so umstrittenen, monumentalen Landmarken eines Richard Serra („Terminal“ in Bochum, Bramme auf der Schurenbachhalde in Essen-Altenessen), und zwar mit großem Respekt, aber nicht in erstarrender Ehrfurcht, sondern auch mit kritischen Untertönen; wie denn überhaupt das Revier jetzt aus anderen Distanzen und mit anderen Ansprüchen vermessen wird als ehedem.

Selbst Stätten, die man zu kennen meint, wirken im Kontext dieser Ausstellung verfremdet, so dass sich der Blick womöglich weitet. Hier kann man (auf einer imposanten Fotografie von Matthias Koch) noch einmal sehen, wie die heftig umgepflügte Landschaft aussah, nachdem das einstige Hoesch-Stahlwerk verschwunden war und bevor dort der Dortmunder Phoenixsee entstanden ist. Hier kann man auch noch einmal Zustände der brutal schnurgeraden und der renaturierten Emscher vergleichen.

Manch eine dieser Zeit- und Ortsbestimmungen lässt innehalten: Welch ein Wandel liegt da hinter uns! Und was steht noch bevor?

„Green City. Geformte Landschaft – Vernetzte Natur. Das Ruhrgebiet in der Kunst“. Ludwiggalerie Schloss Oberhausen (Konrad-Adenauer-Allee 46). Eröffnung am Samstag, 9. Mai 2015, 19 Uhr. — Bis 13. September 2015, Öffnungszeiten Di bis So 11-18 Uhr. Mo geschlossen, aber Pfingstmontag (25. Mai) geöffnet. Eintritt 8 Euro, ermäßigt 4 Euro. Katalog 29,80 Euro. Reichhaltiges Führungs- und Begleitprogramm. Info-Telefon: 0208/41 249 28. www.ludwiggalerie.de




„In Pittsburgh roch es wie in Oberhausen“ – Wim Wenders‘ Fotografien in Düsseldorf

Foto: Wim Wenders/Courtesy Blain Southern

„Dust Road in West Australia“ (1988) (Foto: Wim Wenders/Courtesy Blain Southern)

Weit sind diese Landschaften, leer und von einem überdimensionalen Himmel überspannt: Die Handschrift des Filmemachers Wim Wenders drückt sich kongenial auch in seinen großformatigen Fotografien aus. Noch bis Mitte August ist die Ausstellung „4 REAL & TRUE 2“ des gebürtigen Düsseldorfers Wenders im Museum Kunstpalast in der NRW-Landeshauptstadt zu sehen.

Interessanterweise beobachtet Wenders „Menschenleere“ nicht nur in Weltgegenden wie dem Mittleren Westen der USA oder der australischen Wüste, die naturgemäß dünn oder gar nicht besiedelt sind. Er schafft diesen Eindruck auch in Fotos aus Japan oder Israel, in denen durchaus menschliche Ansiedlungen zu sehen sind, doch auch hier von Ferne, aus der Distanz.

Manchmal schlägt die Naturbetrachtung sogar ins Idyll um und nimmt Caspar David Friedrichsche Züge im Medium der Fotografie an. Die Landschaft selbst scheint zu sagen „Seht her, wie schön ich bin.“ Ganz ohne den Hinweis eines menschlichen Vermittlers, der dem Betrachter die Naturwunder erst erklären muss. Und so wirft man als Museumsbesucher einen ganz neuen und unverbrauchten Blick auf die Elblandschaft im Sommer oder die Morgendämmerung über dem See Genezareth.

Doch wohnt allen Bildern ebenso das narrative Element des Filmemachers inne, denn nahezu zu jedem gibt es eine Geschichte. „Der Weg nach Emmaus“ zeigt einen Pfad durch eine Gebirgslandschaft, sonst nichts. Trotzdem ist die Fotografie aufgeladen mit biblischer Geschichte, im Kopf des Betrachters laufen die Szenen der Begegnung von Jesus und seinen Jüngern ab, obwohl von ihnen auf dem Foto gar nichts zu sehen ist.

Ähnlich verhält es sich mit Wenders‘ Bildern von Ground Zero in New York: Die Sonne bricht durch die Wolken und beleuchtet zerstörte Hochhäuser und Krater im Boden; als Betrachter erinnert man sich sogleich an 9-11 und verknüpft die Ruinen unweigerlich mit der Tragödie der Terroranschläge. Absolut unheimlich sind Wenders‘ Bilder aus Fukushima nach der Reaktorkatastrophe, denn sie zeigen die unsichtbare radioaktive Strahlung als wellenförmige Linie auf der Fotografie. Wenders hat diese „Zerstörung“ der Fotos erst nach seiner Rückkehr aus Japan entdeckt.

In Armenien hat Wenders ein verlassenes und halb kaputtes Riesenrad fotografiert, das auf einem freien Feld steht. Hier erzählt erst der Gegenschuss die ganze Story: An der gegenüberliegenden Wand zeigt sein Foto eine verlassene russische Kaserne; mit den Soldaten ist auch ihr Vergnügungspark obsolet geworden.

Eine Entdeckung mit lokalem Bezug waren für mich die Wenders-Fotos aus einem Eisenbahntunnel in Wuppertal: Sie zeigen bunte Graffiti-Männchen – gemalt von den Zwillingen Os Gemeos aus Sao Paulo – deren leuchtende Gesichter in der Schwärze des Tunnel kontrastreich aufscheinen und irgendwie rührend wirken, als habe man die kleinen Gespenster bei ihrem geheimen Treiben im Dunkeln überrascht.

Und auch an das Ruhrgebiet denkt Wenders: In Schwarz-Weiß hat er eine (etwas trostlose) Straßenecke in Pennsylvania fotografiert, der Text dazu lautet: „In Pittsburgh roch es genauso wie in Oberhausen im Ruhrgebiet, wo ich aufgewachsen bin.“




Detlef Orlopps starke Strukturen und Plakate aus der DDR im Essener Folkwang-Museum

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Nur Struktur. Das Bild heißt „2.8.1987“ (Foto: Museum Folkwang/Detleff Orlopp)

In der Malerei wären solche Bilder etwas Vertrautes. Viele von ihnen zeigen gleichmäßige Oberflächen, sind monochrom und wirken in der Hängung schnell wie Serien. Vielleicht würde man, wäre es Gemaltes, von „konkreter Kunst“ sprechen, vielleicht auch könnte man in ihnen Totalübermalungen im Stil Gerhard Richters zu erkennen glauben.

Tatsächlich jedoch sind die rund 160 Bilder Fotografien und zeigen sorgfältig abgelichtete Strukturen in urwüchsigen Landschaften oder auf bewegten Wasseroberflächen. Sie entstanden in einem Zeitraum von rund 60 Jahren, ihr Schöpfer ist der Fotograf Detlef Orlopp, dem das Essener Folkwang-Museum jetzt eine große Werkschau ausrichtet. Die Bilder entstammen einem Ankauf von rund 500 Arbeiten, den das Museum 2012 tätigte.

Detlef Orlopp, 1937 in Westpreußen geboren, gehörte zu den ersten Schülern Otto Steinerts, der als Fotolehrer zunächst in Saarbrücken, später in Essen die „subjektive Fotografie“ begründete. Und wenn man nun in Essen Orlopps Arbeiten sieht, mag man das kaum glauben. Denn schon seine seriellen Portraitreihen, die er in den frühen 60er Jahren beginnt, prägt offenkundig der Versuch, die subjektive Handschrift des Lichtbildners durch formale Einheitlichkeit verblassen zu lassen.

Orlopps Landschaften aus jener Zeit indes lassen das Topographische, das Ortstypische noch erkennen, zeigen Bergspitzen und Felswände, Dünenformationen und Küstenlinien. Man ahnt die Wucht der urwüchsigen Natur, doch „beweist“ der Fotograf sie nie, etwa durch Größenvergleiche mit Spuren zierlicher Zivilisation. Die minimalistische Kunstrichtung Zero, so Kurator Florian Ebner, habe Orlopp in seinen frühen Schaffensjahren sehr beeinflusst. Man glaubt es, sieht man seine Bilder, gern.

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„4.9.1966“ (Foto: Museum Folkwang/Detlef Orlopp)

In den folgenden Jahrzehnten entstehen Arbeiten, die noch radikaler sind. Sie zeigen ausschließlich rhythmische Struktur und sind nicht mehr verortbar. Seriell reiht Orlopp das Ähnliche aneinander , was dieser Ausstellung in den angenehm zurückhaltenden Räumlichkeiten des Folkwang-Neubaus geradezu meditativen Charakter verleiht. Doch auch wer hier nicht die Seele schweben lässt, ist tief beeindruckt von der Vielfalt der wahrgenommenen Strukturen und von der vielen (Fotografier-) Arbeit, die in dieser Ausstellung steckt. Übrigens entstanden alle Abzüge – die meisten von ihnen im lange Zeit größten Konfektionsmaß 50 x 60 Zentimeter – sämtlich noch auf traditionelle Weise als Bromsilbergelantine-Abzüge in der Dunkelkammer.

Der serielle Charakter des Oeuvres lässt einen an die Bechers denken, die es mit ihren fotografischen Reihungen von Industrieanlagen, Fachwerkhäusern usw. zu Weltruhm brachten. Interessanterweise machte Orlopp von 1952 bis 1954 eine Fotografenlehre in Siegen, der selben Stadt, in der der sechs Jahre ältere Bernd Becher das Licht der Welt erblickt hatte. Gleichwohl war ihrer beider künstlerischer Werdegang höchst verschieden, haben sich die kreativen Lebensbahnen wahrscheinlich nie gekreuzt.

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„Helen von B., 8.10.1963“ (Foto: Museum Folkwang/Detlef Orlopp)

Der vorzügliche Katalog zur Ausstellung übrigens wurde, eine Besonderheit, auf zwei verschiedenen Papiersorten gedruckt. Frühe Bilder erscheinen in Hochglanz und reinem Weiß, spätere mit einem Hauch von Sepia auf mattem Papier. So kommt der Druck den Vorlagen besonders nahe. Ältere Fotografen fühlen sich bei dieser Materialwahl an die traditionsreichen Agfa-Fotopapiere „Brovira“ und „Record rapid“ erinnert.

Plakate aus der DDR 1949 – 1990

Die andere neue Ausstellung im Essener Folkwang-Museum hat mit der ersten nur Ort und Zeit gemein. Sie zeigt „DDR-Plakate 1949 – 1990“, ein Gutteil des Materials kommt von der Berliner Stiftung Plakat Ost.

Ja, auch in der DDR wurde geworben – für die richtige Politik und gegen den Klassenfeind, gewiss, aber ebenso für Kino und Theater und auch für die Waren, die beispielsweise der „Konsum“ für die Werktätigen (oft leider nicht) bereithielt.

Werbung hatte in der Mangelwirtschaft der DDR immer die Aura des Absurden. Und sie galt als ungelenk, über „Plaste und Elaste aus Schkopau“, die mit schäbigem Schild an einer Brücke beworben wurden, haben Generationen von westdeutschen Transitautobahnbenutzern gelacht. Gleichwohl entstand in der DDR eine Vielzahl vorzüglicher Plakate. Manche davon waren auch im Westen bekannt, wie die schwungvolle Erweiterung des „MM“-Logos der Leipziger Messe zu einem Pärchen mit Koffern, das energisch durch das Bild strebt, der Messe entgegen vermutlich. Es entstand schon 1956, seine Schöpfer waren Margarete und Walter Schultze.

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Klaus Wittkugel: „Kunst im Kampf“. Plakat zur Ausstellung der deutschen Akademie der Künste, 1962 (Foto: Museum Folkwang/VG Bild-Kunst, Bonn)

Viele klassenkämpferische Arbeiten mit roten Fahnen und geballten Fäusten, für den sozialistischen Aufbau und gegen die Bonner Kriegstreiber, sind fachlich und ästhetisch ausgesprochen gelungen. Es ist Plakatkunst im Stil der Zeit, der auf beiden Seiten der immer stärker befestigten Staatsgrenze recht ähnlich war. In den Siebzigern hielt vereinzelt die Pop Art Einzug ins DDR-Plakatschaffen, beispielsweise in der Werbung für Ulrich Plenzdorfs auch im Westen stark beachteten Film „Die Legende von Paul & Paula“ mit Angelica Domröse und Winfried Glatzeder. Auf den ersten Blick wirkt das wie ein Entwurf von Heinz Edelmann, der das Cover der Beatles-Platte „Yellow Submarine“ gestaltete. Doch der tatsächliche Schöpfer hieß Klaus Vonderwerth.

Die jüngsten Plakate stammen aus der Zeit, als es die DDR fast schon nicht mehr gab. 1990 bewarb das Bündnis 90 einen gewissen Jochen Gauck mit dem Slogan „Freiheit – wir haben sie gewollt – wir gestalten sie!“ – „Tatkräftig – zuversichtlich – mit norddeutschem Profil“ steht außerdem noch auf dem Plakat, was immer mit Letzterem gemeint ist.

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Jürgen Freeses Plakat „Nürnberg schuldig!“ von 1946 ist sogar um einiges älter als die DDR. (Foto: Museum Folkwang)

„Anschläge von ,Drüben’“, so der Titel der Plakatausstellung mit dem heutzutage wohl unvermeidlichen Doppelsinn, ist nicht zuletzt eine Einladung zum Nachdenken über den anderen deutschen Staat, den es eben auch einmal gab und den viele am liebsten einfach vergessen wollen. Bilder aus einer untergegangenen Welt mithin. Das wäre fast schon ein Plakatmotiv.

  • Detlef Orlopp: „Nur die Nähe – auch die Ferne. Fotografien“. Katalog 34 €.
  • „Anschläge von ,Drüben’. DDR-Plakate 1949 – 1990“. Katalog 20 €.
  • Beide Ausstellungen: Bis 19. April 2015, Di-So 10-18 Uhr, Do u. Fr 10-20 Uhr, Eintritt 5 €.
  • Museum Folkwang, Museumsplatz 1, Essen
  • www.museum-folkwang.de



Das Menschliche mit der Kamera suchen – Werkschau Herlinde Koelbls in Oberhausen

01 Schein und Sein, Andrea und Anita, München 2007 © Herlinde Koelbl

Schein und Sein, Andrea und Anita, München 2007. (Foto: Ludwiggalerie Schloß Oberhausen/Herlinde Koelbl)

Von Angela Merkel wird berichtet, dass sie die Fototermine mit Herlinde Koelbl in den ersten Jahren nicht so sehr schätzte. Nach einiger Zeit jedoch änderte sich das; dann habe sie ihre Sekretärin ab und an schon mal gefragt „War die Koelbl dieses Jahr eigentlich schon hier?“ Herlinde Koelbl erzählt es mit der ihr eigenen Fröhlichkeit, als sie sagen soll, wie sie denn so zurechtkomme mit den Mächtigen der Republik.

Gut kommt sie mit den Mächtigen zurecht, mit der Kanzlerin ebenso wie seinerzeit mit Joschka Fischer, Gerhard Schröder und etlichen anderen. Für ihre über Jahrzehnte laufende Arbeit „Spuren der Macht“ hat sie sie alle portraitiert, Jahr für Jahr, manche ein rundes Vierteljahrhundert lang. Nun hängen viele der Bilder in der Ludwiggalerie und erzählen vor allem vom Älterwerden. Und wer genauer hinguckt, erkennt vielleicht auch leichte Verschleißspuren. Doch alles in allem haben sich die Portraitierten gut gehalten – und Herlinde Koelbl wäre auch nicht der Typ, der um des Effekts willen mit der Kamera nach Kaputtheit und Ruin suchte. Die Fotografin schätzt das Positive, wie ihre große Werkschau auf drei Etagen jetzt erneut beweist.

02 Herlinde Koelbl, 2014 © Johannes Rodach

Die Fotografin Herlinde Koelbl, 2014 (Foto: Ludwiggalerie Schloß Oberhausen/ Johannes Rodach)

In Oberhausen gibt es ein Wiedersehen mit den Serien, die Herlinde Koelbl in den 70er und 80er Jahren bekannt machten: „Kinder“, „Männer“ und „Starke Frauen“, Blicke in „Das deutsche Wohnzimmer“, Blicke in die Schlafzimmer dieser Welt, auch in die einiger Prominenter. Da sehen wir dann zum Beispiel, dass das Bett des kolumbianischen Bildhauers Fernando Botero und seiner Frau von zwei prallen, überlebensgroßen, typischen Botero-Skulpturen flankiert ist. Erkennbar lebt der Meister in geradezu symbiotischer Nähe zu seinem Werk.

In einer weiteren Serie blicken wir in die Schreibzimmer deutschsprachiger Dichter – in das messihafte Chaos bei Friederike Mayröcker, in die klösterliche, nur mit Tisch und Stuhl möblierte Schreibklause Peter Handkes, in das voluminöse, aber gut geordnete Ambiente einer Christa Wolf. Ganz ähnlich hat die andere große Dame der deutschen Gegenwartsfotografie, Barbara Klemm, Künstler in ihrer Umgebung fotografiert – mit dem Unterschied, dass die Personen in Klemms Bildern anwesend sind. Trotzdem haben beide fotografische Positionen Ähnlichkeit, was für beidseitiges großes Einfühlungsvermögen spricht und daher letztlich nicht verwundern kann.

Mal sind Herlinde Koelbls Bilder eher klein und schwarzweiß, mal farbig, mal seriell gereiht, mal Einzelstücke. Warum mal so und mal so? Nun, die Freiheit nimmt sie sich eben und wählt den Stil, der ihr jeweils am besten zu passen scheint. Aus dem selben Grund auch werden einige Serien mit Interviewtexten ergänzt und andere nicht.

Am Anfang stand der Journalismus

Koelbls ungezwungener Umgang mit dem Formalen hat ihr hier und da allerdings den Vorwurf der Beliebigkeit eingetragen. Man weiß auch gar nicht so genau, als was man sie ansprechen soll: Bildjournalistin, Portraitistin, Konzeptkünstlerin? Ihre Anfänge jedenfalls haben eine unübersehbar journalistische Note. Die Schwarzweißbilder der „feinen Leute“ zum Beispiel, die zwischen 1979 und 1985 entstanden, zeigen die Lächerlichkeit vieler Rituale des sich selbst feiernden Blut- und Geldadels besonders deutlich, weil sie gut journalistisch zur richtigen Zeit am richtigen Ort in der richtigen Situation entstanden.

Spätere Koelbl-Arbeiten vermeiden den spontanen Beobachterstandpunkt; lieber spürt die Fotografin dem Menschlichen in mehr oder minder strengen formalen Setzungen nach und hütet sich vor allzu großer Nähe. Besonders radikal geschieht dies in ihrer Serie von Mündern. Ein machtvolles Tableau von 11 mal 13, mithin 143 gleich großen Mund-Bildern beherrscht den ersten Raum der Ausstellung.

Berühmte Serien und ein echtes Oberhausener Original

Haare und Körper sind ausgiebig ausgestellt, ebenso größere Teile der Serie „Kleider machen Leute“, die Menschen in Uniform und in Zivil zeigt und vor nicht allzu langer Zeit voll umfänglich in Dortmund zu sehen war. Ebenfalls sind einige ihrer „Jüdischen Portraits“ zu sehen.

Doch bietet die Oberhausener Schau mehr als ein sehenswertes „Best of“. Die Wand nämlich, auf der unter der Überschrift „Einmalige Begegnungen“ zahlreiche Promi-Fotos hängen, hat Herlinde Koelbl am Vorabend der Präsentation noch schnell mit Filzstift beschriftet, Name und Aufnahmejahr, Bild für Bild. So ist die Wand zu einem urigen Unikat geworden; man darf gespannt sein, ob es die Ausstellung überlebt.

Und woran arbeitet sie zur Zeit? Schon seit langem, antwortet die Fotografin, sei es ihre Gewohnheit, nicht über laufende Projekte zu sprechen. Auch eine „Lieblingsarbeit“ gebe es nicht. Fraglos liebt sie alle ihre Projekte, die in rund 40 Jahren entstanden. So unterschiedlich sie auch sind.

  • „Herlinde Koelbl – Fotografien von 1980 bis heute“, Ludwig Galerie Schloss Oberhausen. Bis 3.5.2015. Di-So 11-18 Uhr, Eintritt 8 €, Kombiticket m. Gasometer 11 €. Begleitheft (16 Seiten) 4 €. www.ludwiggalerie.de



Magische Momente mit „Magnum“ und mehr: Starker Start für C/O Berlin an neuer Stätte

Der einsame Mann, der sich auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens in todesmutiger Verzweiflung einer Panzer-Kolonne entgegenstellt und vergeblich versucht, ein Massaker zu verhindern. Che Guevara, der mit dem selbstbewussten Charme des siegreichen kubanischen Revolutionärs seine Zigarre pafft. Die lasziv auf einem U-Bahn-Luftschacht posierende Marilyn Monroe, deren Kleid im Wind flattert. Drei Momente, drei Bild-Ikonen, die sich ins kollektive Gedächtnis eingegraben haben.

Fotografen der berühmten Agentur Magnum haben im richtigen Moment auf den Auslöser ihrer Kameras gedrückt und die perfekte Synthese aus Sensibilität und Technik, Form, Zufall und purer Intuition geschaffen. Doch was geschah kurz vorher, und was sah der Fotograf kurz danach?

Die Kontaktbögen der Fotografen dokumentieren den Arbeitsprozess und die Entscheidung für den einen Moment und das perfekte Bild. Normalerweise werden diese Abzüge unter Verschluss gehalten. Dass sie jetzt unter dem Titel „Magnum Contact Sheets“ im Amerika Haus, der neuen Heimstatt der Fotogalerie C/O Berlin gezeigt werden, ist ein Tabubruch und eine kleine Sensation. Die grandiose Ausstellung gibt Einblicke in die Fotowerkstatt und wirkt wie ein Blättern im künstlerischen Skizzenbuch. Doch sie ist nur eine von vier Foto-Installationen, mit der C/O Berlin ihre frisch renovierte Herberge eröffnet.

Jahrelang war die international hoch angesehene Galerie auf Wanderschaft, hatte in einer leer stehenden Gießerei und im ehemaligen Postfuhramt in Berlin-Mitte neue Talente entdeckt und Bilder legendärer Künstler wie Annie Leibovitz oder Robert Mapplethorpe gezeigt. Nachdem ein Immobilien-Investor ihre letzte temporäre Bleibe aufkaufte, um sie profitabel zu vermarkten, zog C/O Berlin weiter, verließ das angesagte Szene-Milieu und landete ausgerechnet im West-Teil der Stadt, der seit der Wende als spießige Kunst-Einöde verpönt ist.

Doch nun, so scheint es, werden in Berlin die Kunst-Karten neu gemischt. Und C/O Berlin, inzwischen eine Stiftung mit einem 21 Jahre laufenden Mietvertrag, hat dem Amerika Haus, in dem einst den Berlinern Nachhilfestunden in Demokratie erteilt wurden, neues Leben eingehaucht. Es ist der passende Ort, um die Fotos von Will McBride zu präsentieren: „Ich war verliebt in diese Stadt“, sagt der inzwischen hoch betagte Fotokünstler, der in den 1950er Jahren aus Amerika nach Berlin kam und fasziniert war vom Freiheitsgefühl in der Frontstadt. Seine Schwarz-Weiß-Bilder zeigen eindringlich, wie zwischen Ruinen und Trümmerlandschaften neues Leben erblühte und eine freche und forsche Jugend sich Freiräume erkämpfte.

Luise Schröder und Hannah Petersohn, beide Jahrgang 1962, beschäftigen sich in „Arbeit am Mythos“ mit der Zerstörung Dresdens und übermalen fotografisch die Bilder von Tod und Leid. Bei „Picture Yourself“ schließlich können Besucher in eigens installierten Fotoautomaten Bilder im Stile der Magnum-Fotografen machen. Eine neckische Spielerei. Gespannt sein darf man, ob die Euphorie des Anfangs in die Niederungen des Alltags hinüber gerettet werden kann und C/O Berlin, nur einen Steinwurf vom maroden Bahnhof Zoo entfernt, ein dauerhafter Publikumsmagnet werden kann.

Alle erwähnten Ausstellungen bis zum 16. Januar 2015. C/O Berlin im Amerika Haus, Hardenbergstraße 22-24, täglich 11-20 Uhr, weitere Infos unter www.co-berlin.org

(P.S.: Die Illustrationen wurden Mitte Januar 2015 entfernt, weil die Leihgeber und Veranstalter das Publikationsrecht auf die Dauer der Ausstellung begrenzt haben).




Streng, schwarzweiß und einfühlsam – Fotografien von Barbara Klemm und Stefan Moses in der Küppersmühle

Neo Rauch hat sich beim Malen schmutzig gemacht und läuft, warum auch immer, aus dem Bild; und Willy Brandt steht im Wald. Den Leipziger Maler Neo Rauch hat Barbara Klemm 2011 fotografiert, den Altbundeskanzler Willy Brandt 1984 Stefan Moses. Auf den ersten Blick haben die beiden Fotografien wenig gemein. Doch beide eint, dass sie Portraits sind, dass berühmte Pressefotografen sie machten und dass sie jetzt in der Duisburger Küppersmühle in der selben Ausstellung hängen.

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Ikonen unter sich (wenn man so will): 1981 fotografierte Barbara Klemm Pop-Art-Ikone Andy Warhol vor Tischbeins berühmtem Goethe-Portrait. (Bild: Barbara Klemm/MKM)

Barbara Klemm, Jahrgang 1939, war viel Jahre lang Bildjournalistin bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, und sie machte Pressebilder, von denen einige zu Ikonen wurden. Neben dem tagesaktuellen Geschäft bearbeitete sie – und tut es zum Teil noch heute – Dauerthemen wie ihre Künstlerportraits oder Besucher in Kunstausstellungen. Arbeiten aus diesen beiden Serien sind nun in Duisburg zu sehen, ergänzt unter anderem mit einer kleinen Bildfolge über das Gesamt-Lichtkunstwerk Roden Crater, das der Lichtkünstler James Turrell in Arizona schuf. Stefan Moses, Jahrgang 1928, war unter anderem für den „Stern“ und die Fotoagentur Magnum unterwegs und portraitierte ebenfalls.

Formal zeigen die Arbeiten der beiden Fotoschaffenden Ähnlichkeit, zumal so, wie sie jetzt in Duisburg präsentiert werden. Bild hängt dicht neben Bild, und das ist an Strenge kaum zu überbieten. Durchgängig sind sie schwarzweiß, die Abzüge haben einheitliche, mittlere Größe, nichts wurde um des Effekts willen „aufgeblasen“. Doch davon abgesehen könnten die Unterschiede in der fotografischen Handschrift größer kaum sein.

Barbara Klemm, die es dank mehrerer Ausstellungen in den letzten Jahren zu einer gewissen Berühmtheit brachte, ist bekannt für ihren zurückhaltenden Stil, der die Totale dem engen Ausschnitt meistens vorzieht. Mit Distanziertheit sollte das nicht verwechselt werden. Mal um Mal arbeiten ihre Künstlerportraits die Individualität der Abgebildeten schlüssig heraus, manchmal geradezu auratisch. Einige blicken in die Kamera, andere wirken wie unbemerkt beobachtet. Eine Nadine Gordimer füllt fast das ganze Bildformat, während ein Umberto Eco in seinem Sessel im unteren Bilddrittel wegzusacken scheint. Natürlich ist die immer wieder wechselnde Proportionierung kein Ausdruck von Wertschätzung, sondern kluge, empathische fotografische Charakterisierung. Auch die eher dunkle Grundstimmung der Abzüge trägt zu dieser gleichsam analytischen Haltung bei, die nicht mit dem Neutralitätsstreben der Becher-Schule gleichgesetzt werden sollte.

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Bundeskanzler Willy Brandt steht im Wald; Stefan Moses lichtete ihn dort – im Siebengebirge – 1984 ab. (Foto: Stefan Moses/MKM)

Stefan Moses‘ Portraits sind demgegenüber kontrastreicher, knalliger, näher dran. In der Wald-Serie, in der auch Willy Brandt seinen Platz fand, stellte er Mitte der 80er Jahre deutsche Prominenz aus Politik und Kultur zwischen die Bäume und lichtete sie ab. In einer späteren, in Duisburg breit präsentierten Serie stellte er im Wendejahr 1989 gleichsam typische Vertreter der DDR-Werktätigen in die Hohlkehle und drückte drauf. Anscheinend strebte er danach, ähnlich wie in den 20er Jahren August Sander, die „typischen“ Vertreter einer Gesellschaft zu konservieren. Aus heutiger Sicht scheint der Versuch gelungen, wirkt diese Serie doch wie das Dokument einer versunkenen Welt. Denn Werktätige wie die „Facharbeiter für Tierproduktion“, die lachend und mit kleinen Schweinchen im Arm posieren, gibt es wahrscheinlich nicht mehr. Ebenso wenig die furchteinflößenden „Empfangsdamen“ aus Jena und etliche andere mehr.

Das bildjournalistische Schaffen, vor allem aus den Jahren nach der Wende im Osten Deutschlands, nimmt bei Stefan Moses vergleichsweise mehr Platz ein als bei Barbara Klemm. Das mag damit zu tun haben, dass deren beste Pressebilder in einer eigenen Ausstellung versammelt sind, die zuletzt im Berliner Gropius-Bau zu sehen war. An der Qualität jedoch liegt es nicht. Zwar ist Moses’ Portraitfotografie im Ansatz konventioneller, schwankt stärker zwischen Schnappschuss und Inszenierung, doch das hat immer wieder zu überzeugenden Resultaten geführt. Berühmt ist sein Bild des Staatsanwalts Fritz Bauer, der Mitte der 60er Jahre den ersten Auschwitz-Prozess initiierte; doch auch die Fotos aus der Familie Mann, von Marcel Reich-Ranicki und dessen Frau Teofila auf einem Bahnsteig oder, ganz stark, vom Theaterregisseur Fritz Kortner, sind von zeitloser Intensität.

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Besonders sehenswert sind in der Duisburger Ausstellung die Schwarzweißfotos, die Barbara Klemm 2004 vom Landschaftskunstwerk „Roden Crater“ des amerikanischen Lichtkünstlers James Turrell in Arizona machte. (Foto: Barbara Klemm/MKM)

In einem Zeitraum von mehr als 50 Jahren entstanden die jeweils rund 200 Fotografien, die jetzt in der Küppersmühle zu sehen sind, und für einen so großen Zeitraum sind sie erstaunlich homogen. Man sieht: Hier haben Zwei der Besten früh ihren Stil gefunden und gepflegt. Zudem lassen ihre Arbeiten die Disziplin erahnen, die den professionellen Pressefotografen frommt und unerbittlich von ihm fordert, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Und einen Film in der Kamera zu haben, hätte man früher noch gesagt. Heute reicht etwas Platz auf der Speicherkarte.

Barbara Klemm/Stefan Moses. Fotografien. Museum Küppersmühle MKM, Duisburg, Philosophenweg 55. Bis 18. Januar 2015. Mi 14-18 Uhr, Do-So 11-18 Uhr, Feiertage 11-18 Uhr. Eintritt: Wechselausstellungen 6 €, gesamtes Haus 9 €. Katalog (272 S., 238 Abbildungen) 29 €.

www.museum-kueppersmuehle.de

 




Geld sucht Kunst: Moderne in Monaco

Foto: Sidney Guillemin/Villa Paloma

Foto: Sidney Guillemin/Villa Paloma

Kunst und Geld gehen ja oft fruchtbare Verbindungen ein; zumindest, wenn man die bildende Kunst betrachtet und über Rekordpreise für Richters, Koons und Hirsts staunt. Und wo könnte diese Beziehung augenfälliger als im Fürstentum Monaco?

Auf diesem ehemaligen Piratenfelsen, der im 20. Jahrhundert zum Steuerparadies der Reichen und Schönen aufstieg, ist zeitgenössische Kunst angesagt: In der Villa Paloma, die mit der Villa Sauber gemeinsam das Noveau Musée National de Monaco bildet, ist bis zum 2. November 2014 eine Werkschau von Gilbert&George aus einer umfangreichen Familiensammlung zu sehen – der Familienname wird allerdings nicht genannt.

Von der Terrasse der aufwändig renovierten weißen Villa blickt man aufs Meer. Innen sind die Kunstfreunde an diesem Vormittag rar, so dass einem der Kurator selbst eine Art Privatführung anbietet. „Wir haben unser Programm nicht bei Kreuzfahrtschiffen publik gemacht“, erklärt Cristiano Raimondi, „denn für solche Gruppen sind unsere Räumlichkeiten zu klein.“ Nun ja, vielleicht möchte man auch ein fachkundigeres Publikum anziehen?

Im Erdgeschoss sind die neuesten, buntesten und großformatigen Arbeiten des britischen Künstlerduos zu sehen, die Stockwerke darüber zeichnen chronologisch die künstlerische Entwicklung von Gilbert&George nach: Von ihren Anfängen im Swinging London der 60er Jahre, als sie (noch) zeichneten und Ihre ersten Performances fotografisch festhielten über ihre kritische Auseinandersetzung mit religiösen Symbolen bis hin zur Stilmarke der Popkultur. Tatsächlich sprach Gilbert sogar deutsch, denn er stammt aus Südtirol; den Briten George traf er dann 1967 an der St. Martin’s School of Art in London – seit nun fast 50 Jahren stehen sie für ein gemeinsames Werk.

Tourist vor Installation am Grimaldi-Forum. Foto: E.S.

Tourist vor Installation am Grimaldi-Forum. Kein Hirst, sondern ein Vorgänger-Modell von Subodh Gupta. Foto: E.S.

Vom botanischen Garten nahe der Villa Paloma hoch über der Stadt geht es mit einem „ascenseur public“ (öffentlicher Fahrstuhl) hinunter ins Hafenviertel. Dieses typisch monegassische Verkehrsmittel hilft auf angenehme Weise ein paar Höhenmeter zu überwinden und ist kostenlos, frisch geputzt und für alle da.

Unten im Grimaldi Forum zeigt ein weiterer reicher Sammler, der mit Luxusmarken sein Geld verdient, seinen Kunstbesitz: Die Pinault Collection beansprucht 4000 Quadratmeter und hier sind sie versammelt, die Jeff Koons und die Damien Hirsts, Werke von Paul McCarthy oder Takashi Murakami. „Artlovers“ heißt die Schau, die noch bis zum 7. September zu sehen ist und die ein knallrotes, glänzendes Riesenherz von Koons zum Emblem hat.

Eine Menge junges Volk ist unterwegs und schiebt die Sonnenbrillen in die Haare. Gleich am Eingang überdimensional große Skulpturen, die antike Statuen nachahmen – doch sie sind aus Kerzenwachs und auf ihren Köpfen brennen kleine Flammen; einer ist allerdings schon heruntergefallen und liegt zerschmolzen am Boden. Skurril auch das Werk „Dancing Nazis“ von Piotr Uklanski: Eine Wand voll Fotos von Schauspielern, die in Filmen Nazis spielten, dazu 80er Jahre Popmusik und Lichtorgel.

Kinder vor Koons. Foto: Artlovers/Grimaldi-Forum

Kinder vor Koons. Foto: Artlovers/Grimaldi-Forum

Kaum überquert man die Grenze nach Frankreich Richtung Menton, geht es auch kunstmäßig gleich gediegener zu: Das Musée Jean Cocteau zeigt bis 3. November 2014 „Cocteau, Matisse, Picasso“ und huldigt damit den drei „Säulenheiligen“ der Côte d’azur. Kommt doch hier kaum eine Ausstellung ohne leuchtende Farben von Matisse, Picassos Stiere oder Cocteaus Kirchenfenster aus.

Im Musée de Photographie im kleinen Bergdorf Mougins hängen schon wieder Fotos von Picasso im Streifenpulli an der Wand. Dabei wollten wir eigentlich die schwebenden Quallen auf den Fotos von Erwan Morere sehen. Das tun wir dann auch – und machen zum Schluss einen Kopfsprung ins Mittelmeer.




Die uralten Mythen wirken noch weiter: Kunst aus Island bei den Ruhrfestspielen

Das Motto der Ruhrfestspiele lautet diesmal so: „Inselreiche. Land in Sicht – Entdeckungen“. Imaginäre Reisen in allerlei Randzonen sind zu erwarten. In dieser geistigen Geographie kann man Island recht gut unterbringen. Und also führt die Kunstausstellung der Ruhrfestspiele auf diese riesenhafte, vielfach auch bizarr anmutende Insel.

Zwar sind alle gängigen Kunstrichtungen irgendwann auch in Island angelangt, nicht zuletzt die Ausfaltungen der Abstraktion. Doch die Schau mit dem Titel „Saga“ betont in der Recklinghäuser Kunsthalle das narrative Moment, was ja auch allemal mehr Publikum anzieht als dürre Konstrukte. Immerhin ist das Erzählerische, ist also die Literatur Islands auffälligster Beitrag zur Weltkultur. Das wurde auch 2012 erst recht offenbar, als die Insel Gastland der Frankfurter Buchmesse war. Warum also nicht auch der Bildnerei das Erzählerische ablauschen?

Jóhannes S. Kjarval: "Fantasie" (1949, Öl auf Leinwand) (©Listasafn Islands/National Gallery of Iceland)

Jóhannes S. Kjarval: „Fantasie“ (1949, Öl auf Leinwand) (©Listasafn Islands/National Gallery of Iceland)

Eine mehr als heimliche, zuweilen gar ausgesprochen unheimliche Triebkraft des Erzählens sind in allen Künsten Islands die erdgeschichtlichen Dramen, die sich auf dieser Insel abgespielt haben und immer noch abspielen. Folglich steht am Anfang auch das Panorama eines grandiosen Naturschauplatzes – des Thingvellir genannten Tales, das sich an der immer weiter klaffenden Erdspalte zwischen nordamerikanischer und eurasischer Kontinentalplatte befindet. 1863 hat es der Frankfurter Maler Heinrich Hasselhorst eher nüchtern realistisch dargestellt. Für Naturmystik war er offenkundig nicht empfänglich.

Andere Künstler zeigten sich indes von der Magie des mythischen Ortes angetan: Der Isländer Jóhannes S. Kjarval bringt 1932 und 1940 die in vielerlei Schattierungen erstarrte Lava geradewegs zum Tanzen. Vollends lebendig wird auf seinem Bild „Fantasie“ (1949) eine übersinnliche Welt der Elfen und Trolle, die aus dem Gestein hervorzutreten scheinen. In den 1990er Jahren hat Magdalena Jetelová dasselbe Gelände per Laserstrahl gleichsam sezierend vermessen, wobei aber – technisch avancierten Mitteln zum Trotz – gleichfalls ein Naturzauber zu walten scheint.

Just diese Doppelgesichtigkeit kennzeichnet auch die meisten zeitgenössischen Künstler Islands: Sie verschließen sich keineswegs den technischen Möglichkeiten, knüpfen aber immer wieder an die alten Sagas und Mythen wie „Edda“ und „Völuspá“ an. Das Spektrum reicht bis zur multitalentierten Popmusikerin Björk, deren Computer-Anwendungen (Apps) um erdhistorische Urvorgänge und ewige Metamorphosen kreisen. Auch davon gibt es in Recklinghausen Proben.

Olafur Eliasson: "Cars in Rivers" (Fotografien, 2009) (©Listasafn Island/National Gallery of Iceland)

Olafur Eliasson: „Cars in Rivers“ (Fotografien, 2009) (©Listasafn Island/National Gallery of Iceland)

Von insularer Isolation kann bei all dem keine Rede sein: Praktisch alle isländischen Künstler von Rang haben in anderen Ländern (vorzugsweise Holland, Frankreich, Italien, Deutschland und USA) Strömungen der Weltkunst aufgenommen. Ein glücklicher Sonderfall in der Gegenrichtung ist das einflussreiche Wirken des Schweizer Fluxus- und Konzept-Künstlers Dieter Roth (alias Diter Rot), der einige Jahre auf Island gelebt und dort mannigfache Anstöße gegeben hat. Letztlich geht auch der heutige Welterfolg eines Olafur Eliasson auf solche wechselseitigen Formen des Austauschs zurück.

Erró: "American Interior No.1" (1968, Öl auf Leinwand) (©Listasafn Islands/National Gallery of Iceland)

Erró: „American Interior No.1“ (1968, Öl auf Leinwand) (©Listasafn Islands/National Gallery of Iceland)

Im weiteren Rundgang zeigt die Ausstellung eine Vielfalt künstlerischer Positionen. Ein paar Beispiele: Der in Paris lebende Isländer Erró setzt seine eklektischen Bildwelten etwa aus Comics, japanischen Holzschnitten, plakativer Propaganda und profanen Objekten der Warenwelt zusammen. Helgi Thorgils Fridjónsson zeigt den nackten Menschen bei nördlich klarem Lichtblau im Einklang mit der Natur.

Helgi Thorgils Fridjónsson: "Fische des Meeres" (1995, Öl auf Leinwand) (©Listasafn Islands/National Gallery of Iceland)

Helgi Thorgils Fridjónsson: „Fische des Meeres“ (1995, Öl auf Leinwand) (©Listasafn Islands/National Gallery of Iceland)

Hulda Hákon formt Reliefs und Skulpturen, die die in Island besonders virulente Wirtschaftskrise gewitzt auf den Begriff bringen. Besagter Olafur Eliasson hat 35 (je für sich genommen unscheinbare) Bilder von in Flüssen gestrandeten Bussen und Geländefahrzeugen (ein im unwegsamen Island allfälliger Anblick) so zusammengestellt, dass wir hier gleichfalls ein Sinnbild der Krise haben.

Olöf Nordal fotografiert irritierende Arrangements aus Wachsfiguren und deren noch lebenden Nachfahren. Der vielfach begabte Sigurdur Gudmundsson bringt sich selbst – gänzlich unprätentiös – auf Fotografien in rätselvolle Zusammenhänge, hinter denen sich mögliche Geschichten verbergen. Seine Bilder sind auf ihre Weise eindrücklich, aber nicht so machtvoll jene der weltberühmten Cindy Sherman, die sich im Kostüm von Coco Chanel in einer isländischen Lava-Landschaft am Vulkan Eyjafallajökull inszeniert. 2010 war sie auf der Insel, als dieser Vulkan ausbrach. Bedrohliche Natur ist auf Island stets gegenwärtig. Sie erzeugt eine gänzlich andere Art der Schönheit, als dies in lieblichen Breiten der Fall ist.

Cindy Sherman. "Untitled #512" - Fotografie (© Courtesy of the artist and Metro Pictures, New York)

Cindy Sherman. „Untitled #512“ – Fotografie (© Courtesy of the artist and Metro Pictures, New York)

Die Kuratoren Norbert Weber und Halldór Björn Runólfsson (Direktor der Nationalgalerie in Reykjavik) bürgen für beste Kontakte zur isländischen Szene, so dass der Überblick von der nötigen Substanz zehrt. Sie sprechen beseelt von Dramen, Kulissen – und von dem „Film im Kopf“, der hier in Gang gesetzt werde. Tatsächlich sehen wir hier keine sperrige, sondern überwiegend beredsame oder gar erzählfreudige Kunst, die gleichwohl manche Geheimnisse zu wahren weiß.

„Saga. Wenn Bilder erzählen – Kunst aus Island“. Kunstausstellung der Ruhrfestspiele in der Kunsthalle Recklinghausen. 4. Mai bis 6. Juli 2014. Geöffnet Di-So + feiertags 11-18 Uhr. Eintritt 3 Euro, ermäßigt 1,50 Euro. Katalog 20 Euro. Infos: Tel. 02361/50-1935 und www.kunst-re.de




Die Nabelschau des Karl Lagerfeld im Essener Museum Folkwang

Gerade konnte man die Erfolgsmeldung lesen: Der 50000. Besucher in der Karl-Lagerfeld-Ausstellung im Essener Museum Folkwang wurde gezählt, und das Museum freut sich besonders, dass so viele junge Zuschauer kommen. Im doppelten Sinne kann man sagen: Lagerfeld zieht die Menschen an.

Dabei macht das Thema Anziehen nur einen kleinen Teil der Schau aus. Mit Fotografie fängt es an – großformatig und bunt, und nicht immer hat KL selbst auf den Auslöser gedrückt. Wie es sich für seine Egonummer gehört, sieht man den Meister nicht selten selbst im Bild.

Buchkunst ist das zweite Thema, und da hat Lagerfeld aus den letzten fünf Jahrzehnten so einiges vorzuweisen. Gerade in der Inszenierung literarischer Vorlagen wie Goethes Faust oder Shakespeares Romeo und Julia, umgedeutet als Mode-Erzählung, zeigt sich die Kreativität des deutsch-französischen Selbstdarstellers.

Natürlich muss Mode den dritten Teil der Ausstellung ausmachen, und dazu gehören nicht nur seine Modelle und Fotos für die großen Schauen von Chanel und Fendi in Paris und anderswo, sondern auch die dazu gehörenden Kleider im Original.

Das Museum Folkwang ist ja schon um seiner selbst willen einen Besuch wert. Ob allerdings einem eher zweitrangigen „Künstler“ wie Lagerfeld eine derart umfangreiche Nabelschau gewidmet werden sollte, bezweifle ich persönlich. Manche weibliche Besucherin mag das ja anders sehen.

Fast peinlich wird es am Ende des Rundgangs, wenn KL zusammen mit dem Museum einen Raum inszeniert, in dem die Bücher ausgestellt werden, die er gerade liest, früher einmal gelesen oder in seiner privaten Bibliothek stehen hat.

Fehlt nur noch ein kleiner Altar mit Kerzen und Heiligenbildchen.

Karl Lagerfeld – Parallele Gegensätze. Museum Folkwang Essen, bis 11. Mai, Di-So 10-18 Uhr, Fr 10-22 Uhr. Navi-Adresse: Bismarckstraße 60.
Weitere Infos: http://www.museum-folkwang.de/de/ausstellungen/aktuell/karl-lagerfeld.html




Gasometer Oberhausen – grandiose Lichtinstallation verformt die Riesendose

Lichtinstallation "320° Licht" von Urbanscreen im Gasometer Oberhausen Foto: Wolfgang Volz

Die Installation „320 Grad Licht“ der Künstlergruppe Urbanscreen sorgt im Gasometer für atemberaubende Formen. Foto: Wolfgang Volz/ GasometerOberhausen.

Zuletzt hing Christos Luftsack im Rund des Gasometers und akzentuierte grandios das atemberaubende Nichts. Jetzt ist hier nur noch Licht – eine Licht-Installation, genauer gesagt, die „320 Grad Licht“ heißt und den einzigartigen Raum auf kluge Weise nutzt. Da Licht aber nur bei Dunkelheit sichtbar wird, ist es im Gasometer insgesamt gesehen eher dunkel – bis Ende des Jahres, denn dann endet die Ausstellung mit dem Titel „Der schöne Schein“.

Doch weißes Licht, das die Wände verzaubert, auf ihnen herabrieselt, Wellen schlägt, Tiefendimensionen auf dem glattrunden Blech erscheinen lässt und noch eine Menge mehr vermag, ist nicht alles. Genau genommen ist die Installation ja nur eine Arbeit von rund 150, die derzeit zu sehen sind. Kurator Peter Pachnicke hat nämlich in den unteren beiden Etagen des Gasometers Reproduktionen von „ausgewählten Meisterwerken der Kunstgeschichte“ aufhängen lassen, und die gaben der Schau ihren Titel. Wiewohl es, wie könnte es anders sein, eine sinnfällige thematische Verkettung mit der Lichtkunst im Obergeschoß gibt. Dort nämlich könne man „die Schönheit des Gasometers“ erfahren, samt Schönheit der Lichtarbeit. Irgendwie hängt ja immer alles mit allem zusammen.

Lichtinstallation "320° Licht" von Urbanscreen im Gasometer Oberhausen Foto: Thomas Wolf

Die Installation „320 Grad Licht“ arbeitet mit minilamilstischen Grundformen – Quadraten, Quadern, Linien – und ist ständig in Bewegung. Foto: Volz/Gasometer

Man wandert durch die von der Decke hängenden Bilder und wundert sich. Das Profil einer zarten, blonden Botticelli-Schönheit zum Beispiel füllt jetzt um die vier Quadratmeter und lässt an Werke der Pop-Art aus den 60er Jahren denken, zu deren wesentlichen Stilmitteln ja das „Blow Up“ gehörte, also das starke Vergrößern des vermeintlich Alltäglichen. Doch mag dieser Eindruck in Oberhausen zufällig sein, nicht alle Bilder wurden derartig stark vergrößert wie manche Renaissance-Portraits. Überhaupt scheint es keine festen Regeln für die Bestimmung des Vergrößerungsmaßstabs gegeben zu haben.

Lichtinstallation "320° Licht" von Urbanscreen im Gasometer OberhausenFoto: Wolfgang Volz

Blick zur Decke des Gasometers in über 100 Metern Höhe. Foto: Volz/Gasometer

Peter Pachnicke erzählt, er habe zeigen wollen, was Künstler im Lauf der Jahrhunderte an Schönheit empfanden. Er habe gleichsam „in sich selbst gegoogelt“ und geschaut, welche Bilder und Skulpturen ihm einfielen. 150 bis 200 Stück seien es gewesen, ein mehrheitsfähiger Kanon im europäischen Raum, Ausdruck eines kollektiven Bildgedächtnisses.

Nun hängen die meisten davon – ergänzt durch vorzügliche Gipsabdrücke vornehmlich antiker Plastik – im Halbdunkel des Gasometerrunds: Von Hieronymus Bosch das (etwas apokalyptische) Paradies, von Caspar David Friedrich ein Mondaufgang, von Edouard Manet die nackte Olympia, von Katshika Hokusai die Tsunami-Welle, und so weiter, und so weiter, mal mehr mal weniger größer als das Original. Ein „Best of Schönheit“, vierfarbig ausgedruckt und auf stabile Bildträger gezogen.

Doch ist dies ein ernstzunehmendes Konzept? Und trägt es, ist es attraktiv für das Publikum? Oder prägten vor allem ökonomische Überlegungen den Charakter der vergleichsweise preiswerten Sommerschau für das Jahr 2014, deren „Projektpartner“ übrigens ein bekannter Druckerhersteller ist?

Sommer

Eins von über 150 ausgedruckten Meisterwerken im Gasometer ist Arcimboldos kunstvolles Gemüsearrangement „Sommer“. Foto: Gasometer

Dieser „Schöne Schein“ hat ein Geschmäckle. Und das unvergleichliche Industriebauwerk hätte sicherlich eine bessere Bespielung verdient als die Ausstellung von Computerausdrucken. Der Besuch im Gasometer lohnt sich natürlich trotzdem, erstens sowieso und zweitens wegen der Lichtkunst der Bremer Künstlergruppe Urbanscreen. 21 Projektoren sind für ihre Realisation nötig, sie läuft in einer 20-Minuten-Endlosschleife („Loop“) und wird untermalt durch eine eigens geschaffene, dem einmaligen (Nach-) Hall der Riesenblechdose angepasste „minimalistische“ Musik. Und sie ist auch „schön“. Wenngleich Schönheit zu finden schon lange nicht mehr der Kunst vornehmstes Ziel ist.

Bis 30. Dezember 2014. Di-So 10-18 Uhr, in den NRW-Ferien auch mo. geöffnet. Eintritt 9 Euro. www.gasometer.de




„Menschenschlachthaus“: Wie die Kunst den Ersten Weltkrieg nicht fassen konnte

Gert Heinrich Wollheim: "Der Verwundete" (1919), Öl auf Holz (Privatbesitz Berlin / © Nachlass Gert Wollheim)

Gert Heinrich Wollheim: „Der Verwundete“ (1919), Öl auf Holz (Privatbesitz Berlin / © Nachlass Gert Wollheim)

Als auch die Künstler in den Ersten Weltkrieg geraten, ist ihre anfängliche Kampfes-Euphorie sehr bald vorüber. Die Bilder vom Kriege, zwischen 1914 und 1918 entstanden, enthalten hin und wieder patriotische Appelle, doch kaum noch triumphale Gesten.

Ja, die Kunst macht sich geradezu klein vor der schrecklich übermächtigen Wirklichkeit, wie man jetzt in einer bemerkenswerten Wuppertaler Ausstellung sehen kann. So manche Skizze ist im Schützengraben oder an der Frontlinie entstanden. Dorthin konnte man keine Staffeleien und Leinwände mitnehmen. Doch auch die im Atelier gemalten Ölbilder haben meist bescheidene Ausmaße.

„Menschenschlachthaus“ heißt die Ausstellung mit drastischer Deutlichkeit, der Untertitel lautet „Der Erste Weltkrieg in der französischen und deutschen Kunst“. Das Partnermuseum (Musée des Beaux-Arts) in Reims, das rund die Hälfte der rund 350 Exponate beigesteuert hat und die Schau ab 14. September übernehmen wird, will einen dezenteren Titel wählen, denn jenseits des Rheins wird der Erste Weltkrieg bis heute anders gesehen. Dort verknüpfen sich – über das Leidensgedächtnis hinaus – ungleich mehr nationale Gefühle damit, auch solche der Genugtuung und des Stolzes.

Reims hat wegen der im Ersten Weltkrieg zerstörten und später wieder aufgebauten Kathedrale (Krönungsort französischer Könige) eine herausragende Bedeutung für Frankreichs Selbstbild. So kommt es, dass im September vermutlich Frankreichs Präsident Hollande und Bundeskanzlerin Merkel die Ausstellung in Reims eröffnen werden.

Gustave Fraipont: "Brand der Kathedrale von Reims". Lavierte Gouache und schwarze Tinte, Feder und Tusche (Reims, Musée des Beaux-Arts)

Gustave Fraipont: „Brand der Kathedrale von Reims“. Lavierte Gouache und schwarze Tinte, Feder und Tusche (Reims, Musée des Beaux-Arts)

Die Ausstellung konzentriert sich ganz auf die beiden Nachbarländer und blendet alles weitere Kriegsgeschehen aus. Sie berührt freilich auch so einen weiten Themenkreis, setzt sie doch schon bei unguten Vorahnungen, kriegsträchtigen Stimmungen und beim Zustand der Kunst vor 1914 ein und verfolgt die Linie bis zu Tendenzen der 1920er Jahre, als in Deutschland die Neue Sachlichkeit aufkam und französische Künstler sich im weiten Feld zwischen Neoklassizismus und Kubismus bewegten. Der Kernbestand aber widmet sich der eigentlichen Kriegszeit, ob nun an oder hinter der Front.

Jüngst hat eine andere, thematisch verwandte große Ausstellung in der Bonner Bundeskunsthalle („Die Avantgarden im Kampf“) die These verfechten und illustrieren wollen, der Erste Weltkrieg habe die Künste beflügelt. Gerhard Finckh, Direktor des Wuppertaler Von der Heydt-Museums, mag diesem Ansatz nicht folgen. Im Gegenteil. Alle damals wesentliche Richtungen hätten sich unabhängig vom Krieg gebildet und seien bereits vorher zur Blüte gelangt. Zudem hätten die allermeisten Künstler dann den Krieg bildnerisch gar nicht zu fassen bekommen.

Pierre Bonnard: "Zerstörtes Dorf an der Somme" (um 1917), Öl auf Leinwand (Centre national des arts plastiques, Inv. FNAC 5891 / © VG Bild-Kunst, Bonn 2014)

Pierre Bonnard: „Zerstörtes Dorf an der Somme“ (um 1917), Öl auf Leinwand (Centre national des arts plastiques, Inv. FNAC 5891 / © VG Bild-Kunst, Bonn 2014)

Darf man da von einem Versagen sprechen? Wie will man denn auch mit den überlieferten Mitteln der Zeichnung, der Tafelmalerei oder Skulptur die wirklichen Gräuel „angemessen“ darstellen? So wird die bildende Kunst in keiner Hinsicht „fertig“ mit dem Krieg.

In Wuppertal ruft man demzufolge Fotografie, Film und Literatur (mit längeren Textpassagen in der Ausstellung) zur Hilfe, um dem Thema gleichsam mehrdimensional beizukommen. So entfaltet die Schau, die ohnehin zwischen Kunstgeschichte und politischer Geschichte oszillieren muss, eine anfangs geradezu irritierende Vielfalt der Perspektiven.

Selbst ein Max Beckmann hat zunächst den Krieg begrüsst, der seiner Kunst „zu fressen“ gebe, also starke Themen liefere. Sogar ein Otto Dix wirkt auf einem Selbstporträt noch gewaltbereit, wenngleich Brüche und Verstörungen zu spüren sind. Ähnliche Phänomene der Begeisterung gibt es auch auf französischer Seite.

Max Beckmann: "Selbstbildnis als Krankenpfleger" (1915), Öl auf Leinwand (Kunst- und Museumsverein Wuppertal / VG Bild-Kunst, Bonn 2014)

Max Beckmann: „Selbstbildnis als Krankenpfleger“ (1915), Öl auf Leinwand (Kunst- und Museumsverein Wuppertal / VG Bild-Kunst, Bonn 2014)

Im Folgenden findet man etliche Schattierungen der Kunst im Kriege. Wenn Maurice Denis ein preußisches Schwein darstellt, das ein unschuldiges Kind brutal niedertrampelt, so ist dies natürlich Propaganda. Man sieht hie und da patriotische Posen und Heroisierungen, Stilisierungen, Überhöhungen oder auch naive Betrachtungsweisen.

Dabei kommt es der Ausstellung zugute, dass in ihrer Fülle nicht nur berühmte Künstler vertreten sind, sondern auch einige Unbekannte, zuweilen ersichtlich weniger Talentierte. So wird deutlicher, wie und warum die herkömmliche Malerei vielfach am Thema scheitert und scheitern muss.

Doch einige wenige Künstler lassen die rohe Wahrheit der Materialschlachten und der massenhaft zerfetzten Körper aufblitzen. So zeigt Otto Dix’ (hier komplett präsentierte) Mappe „Der Krieg“ in bizarrer Zuspitzung denn doch einiges vom innersten Zerstörungswesen des Krieges. Das Totentanz-Konvolut, zu dem 50 Radierungen gehören, ist freilich erst 1924 entstanden. Auch Conrad Felixmüllers „Soldat im Irrenhaus“ (1919) ist ein solcher Aufschrei, bis ins Mark erschütternd.

Neben dem grotesken Zugriff, für den beispielsweise auch George Grosz steht, scheint äußerste lakonische Zurückhaltung eine weitere Möglichkeit zu sein, sich der schlimmen Wahrheit zu stellen. Anders herum gesagt: Wo immer sich die künstlerischen Mittel zu sehr aufdrängen (oder eben auch nicht genügen), geht die Anstrengung fehl. Traditionelle Regeln gelten hier ohnehin nicht mehr. Allseits zerfallende Strukturen müssen auch im Bild ihre Entsprechung finden. Sonst ist es von vornherein Verharmlosung.

Félix Vallotton: "Soldatenfriedhof von Châlons-sur-Marne (1917, Öl auf Leinwand (Bibliothèque de Documentation Internationale Contemporaine - BDIC)

Félix Vallotton: „Soldatenfriedhof von Châlons-sur-Marne (1917, Öl auf Leinwand (Bibliothèque de Documentation Internationale Contemporaine – BDIC)

Eines der großartigsten Bilder der Ausstellung offenbart wohl auch einen Zwiespalt. Félix Vallottons „Soldatenfriedhof von Châlons-sur-Marne“ (1917) ist mit seinen Tausenden von Grabkreuzen ein grandioses Monument stiller Trauer, doch könnte man auch argwöhnen, dies sei eine nahezu abstrakte Ansammlung von Ornamenten. Es ist ein schwankender Gang auf dem Grat – wie alle Kunst vom Kriege.

„Menschenschlachthaus. Der Erste Weltkrieg in der französischen und deutschen Kunst.“ Von der Heydt-Museum, Wuppertal, Turmhof 8. Vom 8. April bis 27. Juli 2014. Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Mo geschlossen. Karfreitag und Ostersonntag 11-18 Uhr, Ostermontag und Maifeiertag geschlossen. Eintritt 12 Euro, ermäßigt 10 Euro. Katalog 25 Euro. Umfangreiches Begleitprogramm. Informations-Hotline: 0202/563-26 26. www.von-der-heydt-museum.de




„Andy Warhol Pop Artist“ im Schloss Oberhausen

Andy Warhol 1981. Foto: Thomas Hoepker/Magnum Photos

Andy Warhol 1981. Foto: Thomas Hoepker/Magnum Photos

Campbell’s Suppendosen, Mao in Fehlfarben und die unvermeidliche Marilyn Monroe: Was wissen wir eigentlich noch nicht über Andy Warhol, den bekanntesten Pop-Künstler des 20. Jahrhunderts? Eine klug konzipierte Ausstellung in der Ludwiggalerie im Schloss Oberhausen „Andy Warhol Pop Artist“ zeigt neue Facetten aus Leben und Werk des Multitasking-Genies.

Dass Warhol zunächst als Grafiker begann und für die Werbung arbeitete, ist den Kunstfreunden geläufig. Doch dass die Stilikone mit der Silberlocke, die mit ihrer New Yorker Factory Kunst als Kollektiv-Leistung in serieller Produktion auf den Markt warf, in allen Phasen des Schaffens immer wieder angewandte Gebrauchsgrafik auf Auftrag schuf, gerät in Oberhausen sehr augenfällig in den Blick: Im Obergeschoss ist beispielsweise eine umfangreiche Sammlung von Plattencovern zu bestaunen. Das erste stammt von 1949 und illustriert im Stil der Zeit Prokofievs „Alexander Nevsky“. Das Highlight ist hier selbstverständlich die berühmte Banane auf dem Cover von „The Velvet Underground & Nico“ 1967, witzigerweise ist sie hier auch in geschälter Version ganz nackt und rosa zu sehen. Denn die berühmte Frucht war als Abziehbild konzipiert, der Fan konnte den Aufkleber entfernen und die Banane „entkleiden“.

Um den Raum zu bestücken, hat die Ludwiggalerie extra einen Aufruf an Fans gestartet, dem Museum ihre Warhol-Cover zu schicken. „Die Resonanz war riesig“, erklärt Kuratorin Meike Allekotte. „Die geschälte Banane beispielsweise stammt von einem Plattenladen in Essen. Den Besitzern war zunächst gar nicht bewusst, welch seltenes Exponat sie damit beisteuern können.“

Als Volontärin hat Allekotte in Oberhausen die Chance bekommen, die Warhol-Schau eigenständig zu betreuen – im Kunstbetrieb wohl eher eine Ausnahme. Doch das Vertrauen von Direktorin Dr. Christine Vogt hat sich absolut gelohnt; in Zeiten eines entfesselten Kunstmarktes steuert die Lugwiggalerie mit der Reflexion auf den Künstler und Marketing-Strategen Warhol eine kunsthistorische Betrachtung auf den Beginn dieser Entwicklung in den 60er Jahren bei.

Andy Warhol war nicht zuletzt ein großer Plagiator, Rechtsstreitigkeiten in Urheberfragen gab es zuhauf. Seine berühmten „Flowers“ entlehnte er einer Werbefotografie für Kodak. Die Fotografin bekam dann lange Zeit Tantiemen. Auch aus der Klassik klaute er hemmungslos: Die Venus kupferte er von Botticelli ab, aber sich selbst kopierte er ebenso gerne. In der Ausstellung hängt sein Beuys-Porträt neben einer Negativ-Version mit Diamant-Staub – als Neuauflage für reiche Sammler gedacht.

Auf der Trash-Promotion-Tour, Foto: Edition Leo Weisse/Galerie Krätz, 2012

Auf der Trash-Promotion-Tour, Foto: Edition Leo Weisse/Galerie Krätz, 2012

Andy Warhol beinahe privat kann man auf der zweiten Etage kennenlernen. 1971 auf Promotiontour für seinen Film „Trash“ reist Andy mit der Crew durch Deutschland. Ernsthaft, blass, fast schüchtern sieht er auf den Fotos von Leo Weisse aus, wie er vor Schloss Neuschwanstein im Schnee steht. Auf einem Bild trägt der Künstler eine Plastik-Duschhaube, um die Silberlocke vor den Flocken zu schützen.

Selbstverständlich darf auch Marilyn nicht fehlen: Im Erdgeschoss bilden die bunten Drucke der Filmikone das Entrée in den Raum mit der sogenannten Todes-Serie, denn sie entstanden kurz nach dem Tod der Diva. Hier hängen auch der „Elektrische Stuhl“ und die Künstlermappe zur Ermordung John F. Kennedys, die Warhol anhand von Pressefotos und Agenturmeldungen gestaltet hat.

Ja, und die Suppendosen gibt es auch zu sehen, gleich am Eingang, neben einem poppigen Goethe-Porträt. „Wenn man darüber nachdenkt, ist ein Kaufhaus eine Art Museum“, hat Andy Warhol gesagt. Die Ware als Fetisch – Andy wusste, wie das funktioniert.

19. Januar-18. Mai 2014, www.ludwiggalerie.de




Ein Kapitel Foto-Geschichte: Bilder aus der Sammlung Ernst Scheidegger im Museum Folkwang

Der Blick eines Top-Fotografen: Henri Cartier-Bresson nahm dieses Motiv bei der Feuerbestattung Mahatma Gandhis 1948 auf. © Henri Cartier-Bresson / MagnumPhotos / Agentur Focus.

Der Blick eines Top-Fotografen: Henri Cartier-Bresson nahm dieses Motiv bei der Feuerbestattung Mahatma Gandhis 1948 auf. © Henri Cartier-Bresson / MagnumPhotos / Agentur Focus.

Das Folkwang Museum Essen zeigt seit heute eine Ausstellung mit rund 60 Fotografien aus der Sammlung des Zürcher Fotografen Ernst Scheidegger. Sie stammen aus einem Ankauf, den das Museum mit Unterstützung der Krupp-Jubiläums-Stiftung in diesem Jahr tätigen konnte. Anlass ist der 90. Geburtstag des Bildjournalisten und Künstlerfotografen am Samstag, 30. November.

Das Konvolut von Fotos, das nun zum großen Teil in der Sonderausstellung im Folkwang Museum zu sehen ist, stammt aus einer Schachtel, die Scheidegger jahrzehntelang verwahrt hatte. Darin sammelte er lose Abzüge, die er als junger Fotograf mit berühmten Kollegen tauschte. So erhielt er Bilder von Robert Capa, Henri Cartier-Bresson, Ernst Haas oder David Seymour. Im Januar 2013 öffnete er die Schachtel mit den Bildern seiner Freunde für Tobia Bezzola, den Direktor des Folkwang Museums. Zu den 86 angekauften Fotografien schenkte Scheidegger dem Folkwang Museum noch 25 eigene Bilder aus Burma.

Die wertvollen Vintage-Prints entstanden damals als Tauschobjekte unter Freunden – daher rührt auch der Titel der Ausstellung: „Bilder unter Freunden“. Unter ihnen finden sich Ikonen der Fotogeschichte wie Capas umstrittenes Bild „Fallender Soldat“, aber auch Reportagefotos etwa aus dem Japanisch-Chinesischen Krieg. Werner Bischof, Ernst Haas oder George Rodger spannen mit ihren Arbeiten ein weites Panorama der frühen Nachkriegsfotografie, etwa mit Aufnahmen aus dem Sudan oder dem Wien der vierziger Jahre. Von Henri Cartier-Bresson hängt unter anderem eine bestechend eingefangene Szene von der Verbrennung des Leichnams von Mahatma Gandhi 1948 in der Schau.

Sogar ein Motiv aus Essen ist unter den Bildern: Entstanden 1951, zeigt es einen Arbeiter an einer Mauer mit einer politischen Parole. Im Titel wird vermerkt, der Mann sei Mitglied einer Nazi-Jugendorganisation gewesen. Die Fotos sind teils im Pressebildformat 18×24, teils in größeren Formaten für Ausstellungszwecke abgezogen. Die Präsentation versteckt den Werkstattcharakter der ausgezeichnet erhaltenen Abzüge nicht hinter Passepartouts, sondern zeigt die Bilder in ihrem ursprünglichen Zustand, manche mit breiten unbelichteten Randstreifen.

Vielseitig tätiger Fotokünstler

EIn Foto von Ernst Scheidegger selbst, aufgenommen bei einem Initiationsfest in Burma. Es gehört zu den 25 Bildern, die der Fotograf dem Folkwang Museum Essen schenkte. © Fondation Ernst Scheidegger Archiv

EIn Foto von Ernst Scheidegger selbst, aufgenommen bei einem Initiationsfest in Burma. Es gehört zu den 25 Bildern, die der Fotograf dem Folkwang Museum Essen schenkte. © Fondation Ernst Scheidegger Archiv

Der aus Rorschach am Bodensee stammende Scheidegger hat ein Kapitel Fotogeschichte geschrieben. Einem Studium der Fotografie bei Hans Finsler an der Kunstgewerbeschule Zürich folgten Assistenzen bei Werner Bischof und Max Bill. Zwischen 1949 und 1952 verantwortete Scheidegger im Rahmen des Marshallplanes fünf internationale Foto-Ausstellungen. Vielfältig waren die Bereiche, in denen Scheidegger tätig war: Er fotografierte für die Agentur Magnum Photos, war 1959/60 Dozent an der Hochschule für Gestaltung in Ulm, verantwortete als Bildredakteur von 1960 bis 1988 die Wochenendbeilage der Neuen Zürcher Zeitung, für die er rund 200 Bildreportagen erstellte. Außerdem war Scheidegger auch als freier Filmregisseur, Verleger und Galerist tätig.

Ernst Scheideggers Archiv umfasst rund 80.000 Negative und 50.000 Diapositive, dazu Filme über Künstler und Reisereportagen. Seit 2011 pflegt die „Stiftung Ernst-Scheidegger-Archiv“ den von der Neuen Zürcher übernommenen Archivbestand, inventarisiert und digitalisiert die Bilder. 2013 erschien im Verlag Scheidegger & Spiess eine Neuausgabe des Buchs „Alberto Giacometti. Spuren einer Freundschaft“ mit rund 30 bisher unveröffentlichten Farbfotografien. Scheidegger hatte Giacometti schon als junger Mann kennengelernt und 1964 bis 1966 einen preisgekrönten Film über den Künstler gedreht.

Die Ausstellung „Bilder unter Freunden – die Sammlung Ernst Scheidegger“ im Folkwang Museum Essen wird bis 16. Februar 2014 gezeigt. An den vier Adventswochenenden ist der Eintritt in das Museum frei. Geöffnet ist das Folkwang an diesen Tagen von 10 bis 18 Uhr.




Alexander Calder und Candida Höfer: Zwei Ausstellungen in Düsseldorf

Foto: Achim Kukulies, © Calder Foundation, New York / Artists' Rights Society (ARS), New York© Kunstsammlung NRW

Foto: Achim Kukulies, © Calder Foundation, New York / Artists‘ Rights Society (ARS), New York
© Kunstsammlung NRW

Damit ihr Himmel nicht leer ist, hängt man für Babys ein Mobile auf: Das ist bunt, tanzt durch die Luft und macht die Welt zu einem freundlichen Ort. Die Kunst des amerikanischen Bildhauers Alexander Calder (1898-1976) spricht ebenso direkt unsere kindliche Seele an: Als einer der ersten hat der Avantgardist abstrakte Formen in Bewegung versetzt und damit die kinetische Kunst begründet.

Calder gilt als Erfinder des Mobiles, geprägt hat den Begriff allerdings Marcel Duchamp bei einem Atelierbesuch bei Calder in Paris, als er seine neuesten Objekte begutachtete. Die Wortschöpfung kombiniert die französischen Worte „Bewegung“ und „Motiv“ und die neue Ausstellung in der Kunstsammlung NRW in Düsseldorf „Avantgarde in Bewegung“ zeigt bis Januar 2014 Calders schwingende, klingende und farbenfrohe Objekte aus den 30er und 40er Jahren.

„So wie man Farben komponieren kann, kann man auch Bewegung komponieren“, lautet ein Credo von Calder und selten ist man sich der drei Dimensionen eines Ausstellungsraumes so bewusst wie in der ersten Calder-Ausstellung seit 20 Jahren in Deutschland. Über den Köpfen schweben filigrane und zugleich raumbeherrschende Objekte in den bizarrsten Größen, Formen und Kombinationen. Zugleich tritt mit dem Klang noch eine vierte Dimension hinzu, der Calder ebenso einen wichtigen Platz einräumt: Durch die Bewegung geraten seine Skulpturen in Schwingung und die verschiedenen Materialien erzeugen durch Zusammenstöße eine ebenso zauberhafte wie zufällige Melodie.

Leider ist es nicht erlaubt, die Mobiles im Museum selbst in Bewegung zu versetzen und so warten die Besucher gespannt auf den Mitarbeiter des K 20, der alle halbe Stunde eine rote Kugel mit einem wattierten Stab anstupst. Unter großem „Ah“ und „Oh“ setzt sich eine Kettenreaktion in Gang und das Instrumentarium aus Flaschen, Dosen, Kisten und Gongs lässt eine Melodie hören, deren Komponist der Zufall ist.

Foto: © 2013 Calder Foundation, New York / Artists Rights Society (ARS), New York Foto: Louisiana Museum of Modern Art, Humlebæk, Dänemark© Kunstsammlung NRW

Foto: © 2013 Calder Foundation, New York / Artists Rights Society (ARS), New York Foto: Louisiana Museum of Modern Art, Humlebæk, Dänemark
© Kunstsammlung NRW

Wenn Calder für Kunst in Bewegung steht, so zelebriert Candida Höfer ein paar hundert Meter weiter im Museum Kunstpalast das genaue Gegenteil: Ihre Fotografien verschreiben sich der absoluten Statik menschenleerer Räume. Die 1944 geborene Tochter von „Frühschoppen“-Gastgeber Werner Höfer studierte an der Düsseldorfer Kunstakademie in der Becher-Klasse und lebt in Köln. Nun sind unter dem Titel „Düsseldorf“ Arbeiten ausgestellt, die in der Landeshauptstadt entstanden sind – beginnend in den 70er Jahren bis heute, so dass die Schau auch Höfers Entwicklung als Fotografin nachzeichnet.

Denn nicht immer waren ihre Bilder menschenleer: In frühen Fotos von Schaufenstern im Stadtgebiet spiegelt sich die junge Höfer sogar selbst mit Kamera. Eigentümlich spartanisch mutet das spärliche Warenangebot hinter vergilbten Vorhängen in den Geschäften der 70er Jahre an. Seltsam, hatte man doch früher niemals ein Gefühl eines Mangels und doch scheinen sich die Sehgewohnheiten durch die Supermarktkultur weitaus stärker gewandelt zu haben, als einem selbst bewusst ist.

Interessant ist auch Höfers Serie der ersten türkischen Gastarbeiter und ihrer Lebensumstände; ein maschinengeschriebener Brief der Akademie genehmigt der damaligen Kunststudentin ganz altmodisch-bürokratisch die Reise ins Heimatland der Arbeiter, um dort zu fotografieren. Höfers Fotos aus anderen Teilen der Welt bekommt man aber in dieser Ausstellung nicht zu sehen, die Auswahl beschränkt sich allein auf Düsseldorf.

So blickt der Besucher in Kirchen, Prunkräume des Benrather Schlosses, die Eingangshalle eines Bürohochhauses und das Treppenhaus des Stahlhofes. Die Szenarien atmen Perfektion, Akkuratesse und bestechen durch ihre harmonische Bildkomposition wie die Stillleben alter Meister. Es sind, so ist es im Katalog nachzulesen, „Räume vergangener bürgerlicher Öffentlichkeit“ und sie sind leer. Die versteckte Sprengkraft einer solchen Aussage zeigt, dass die Abwesenheit des Menschen als Sujet durchaus zum gesellschaftlichen Statement werden kann. Aus unseren ehrwürdigen Institutionen sind wir längst verschwunden – aber wo sind wir hin?

Infos:
K 20: „Alexander Calder – Avantgarde in Bewegung“, www.kunstsammlung.de
Museum Kunstpalast: „Candida Höfer – Düsseldorf“, www.smkp.de




Kunstszene am Rhein präsentiert sich: 50 Galerien beim „DC Open“ ab 6. September

Ein feines Kunst-Event, vor allem für Freunde zeitgenössischer Kunst, findet in diesem Jahr zum fünften Mal statt: Zum „DC Open“ schließen sich 50 Galerien aus Düsseldorf und Köln zusammen, um die Saison mit einem Wochenende zu eröffnen. Der Ausstellungs-Parcours soll die künstlerisch spannende Region vorstellen und knüpft an die Sammler- und Sammlungstradition im Rheinland an. Die Galerierundgänge, erleichtert durch einen Shuttle-Service zwischen den beiden Städten, beginnen am Freitag, 6. September, 18 Uhr.

Nach einem erfolgreichen Start im letzten Jahr bietet DC Open auch in diesem Jahr wieder ein breit angelegtes Programm an Kuratoren- und Sammlerführungen. Eingeladen sind 2013 die Museumsvereine der Umgebung, dazu Ausstellungsmacher, Kunsthistoriker und Sammler schwerpunktmäßig aus Warschau und Istanbul. Geplant ist der Besuch von Galerien, Künstler-Präsentationen und Privatsammlungen. Somit ist DC Open nicht nur ein Wochenende für Kunstinteressierte, sondern auch ein internationaler Treffpunkt für Profis aus der Kunstszene.

Einige Beispiele: Die Galerie Kaune, Posnik, Spohr in der Albertusstraße in Köln zeigt unter dem Titel „Excerpts from Silver Meadows“ Fotos des Amerikaners Todd Hido. Die Bilder, die bis 29. November zu sehen sind, beziehen sich auf eine reale Straße in Kent in Ohio, wo der Künstler seine Kindheit verbrachte.

Benedikt Hipp: "In der folgenden Betrachtung wird vorausgesetzt der Körper sei eindimensional". Bild: Courtesy Galerie Kadel Willborn

Benedikt Hipp: „In der folgenden Betrachtung wird vorausgesetzt der Körper sei eindimensional“. Bild: Courtesy Galerie Kadel Willborn

Hido hält jedoch nicht die – nicht mehr existierende – Vorstadtwelt der siebziger und achtziger Jahre fest, sondern fotografiert Orte, die ihn an diese nicht mehr betretbare Kindheitswelt erinnern. Entstanden sind sinnlich-expressive Bilder, geheimnisvolle Landschaften, ambivalente Porträts junger Frauen. Hido ist 1968 geboren, studierte an der „Boston School of the Museum of Fine Arts“ und der Tufts University. Seine Arbeiten werden weltweit gezeigt; der Künstler lebt in der San Francisco Bay Area.

In Düsseldorf zeigt Kadel Willborn an seinem Sitz in der Birkenstraße bis 12. Oktober Arbeiten von Benedikt Hipp: neue kleinformatige Gemälde in hellen Farbtönen und Zeichnungen mit Collagen-Einsprengseln sowie installative Arrangements aus Elementen wie Plastiken, Readymades und objets trouvés. Der 1977 in München geborene Künstler konnte sich seit 2004 in mehreren Einzelausstellungen vorstellen, ist aber für die Rhein-Ruhr-Region ein „Newcomer“.

Bei conrads in der Düsseldorfer Lindenstraße ist Kunst mit differenzierten Bezügen zu Politik, Kunst-, Architektur- und Mentalitätsgeschichte zu erleben: „Great Nature®“ zeigt Arbeiten von Blaise Drummond – etwa das Bild „When the Cathedrals were White“. Im Titel greift er eine Schrift des Architekten Le Corbusier auf, im Bild interpretiert er Camille Corots Gemälde „Chartres Cathedral“. Drummonds Bilder oszillieren – so die Galerie in ihrer Mitteilung – zwischen dem Scheitern der Ideale und dem Wunsch nach einem Neubeginn. Der Architektur stehe in den Bildern die Natur gegenüber – in einer fragmentarischen Repräsentation und auch als Element des Konflikts und des Widerspruchs. Die Ausstellung ist bis 19. Oktober zu sehen.

Matthias Danberg, Zahnrad, C-Print, 2013, courtesy Galerie Voss, Düsseldorf

Matthias Danberg, Zahnrad, C-Print, 2013, courtesy Galerie Voss, Düsseldorf

Die Galerie Voss, Mühlengasse, Düsseldorf, lässt sich mit Arbeiten von Matthias Danberg auf einen Künstler ein, der vor allem am Computer arbeitet. Danberg zielt auf Schichten historisch-kultureller Entwicklung, verarbeitet sie in einer narrativen, metaphorischen Bildsprache. „Seine künstlerische Strategie changiert dabei zwischen der kalten Simulationsästhetik des Virtuellen auf der einen Seite und der subjektivindividuellen Gestaltungskraft eines tendenziell anachronistischen und damit widerständigen Künstlerverständnisses auf der anderen“, heißt es in der Pressemitteilung der Galerie. Danberg hat in Dortmund und Münster Philosophie und Kunst studiert. Er lebt in Düsseldorf.

Fünf neue abstrakte Skulpturen des Mexikaners José Dávila zeigt die Galerie Figge von Rosen in der Aachener Straße in Köln unter dem Titel „Das muss der Ort sein“. Gezeigt werden auch einige seiner „cut-outs“, Fotodrucke, in die weiße Leerstellen geschnitten sind. Dávila, 1974 in Guadalajara geboren, hatte zahlreiche Einzelausstellungen weltweit. Schon 2011 zeigte die Galerie Figge von Rosen Arbeiten von ihm unter dem Titel „Nowhere Can Be Now Here”.

Jeff Cowens fotografisches Werk bewegt sich zwischen abstrakten, malerischen Kompositionen, Motivcollagen und subtil verfremdeter Porträtfotografie. Der 1966 in New York geborene Künstler wurde bereits 2012 vom Kunsthandel Michael Werner präsentiert. Zum DC Open sind nun neueste Arbeiten Cowens in der Kölner Gertrudenstraße ausgestellt. Zu der Schau erscheint ein Katalog. Bis 26. Oktober sind die Werke zu sehen, die das weite Feld bildnerischen Arbeitens in der Fotografie ausmessen.

Ganz „klassisch“ dagegen präsentiert sich die Galerie Boisserée in der Kölner Drususgasse: Sie zeigt bis 2. November Skulpturen, Radierungen, Lithografien und Arbeiten auf Papier des in Brühl geborenen Max Ernst (1891 bis 1976). Zu dieser Ausstellung erscheint ein 160seitiger Katalog mit einem Text von Jürgen Pech, wissenschaftlicher Leiter des Max Ernst Museums Brühl. Er ist zum Preis von 20 Euro auch per Postversand von der Galerie erhältlich.

Die DC Open 2013 findet vom 6. bis 8. September statt. Die beteiligten Galerien sind am Freitag, 6. September, ab 18 bis 22 Uhr geöffnet, am Samstag von 12 bis 20 Uhr, am Sonntag von 12 bis 18 Uhr. Am Samstag, 7. September verkehrt ein Shuttle-Bus zwischen Köln (Rudolfplatz/Barcelò Hotel) und Düsseldorf (Grabbeplatz/Hermannplatz). Er verlässt Köln um 13, 16, 19 Uhr und Düsseldorf um 12, 15, 18 Uhr. Information: www.dc-open.de




Ein Sommer für Matisse: Nizza widmet dem Maler acht Ausstellungen

Fünf Spidermen fassen sich an den Händen und tanzen Ringelreihen. An wen erinnert bloß diese Tanzszene, die der in Dortmund geborene Künstler Martin Kippenberger so kühn aufs Papier gebannt hat? Genau: „La Danse“ von Henri Matisse ist das Vor-Bild für die ironische Collage und dass beide Künstler nun in einem Museum zusammentreffen, kein Zufall: Zum 50. Geburtstag des Musée Matisse zeigt Nizza unter dem Titel „Un été pour Matisse“ (Ein Sommer für Matisse) noch bis zum 23. September insgesamt acht Ausstellungen, die von dem berühmtesten Maler der Côte d’Azur inspiriert sind.

Musée Matisse, Nizza, Foto: E. Schmidt

Musée Matisse, Nizza, Foto: E. Schmidt

Von 1917 bis zu seinem Tode 1954 lebte und arbeitete Henri Matisse in Nizza, hier schuf er sein farbenfrohes, vom Licht der Küste durchdrungenes Oeuvre. Den Rundgang auf den Spuren des Malers beginnt man am Besten in der roten Villa auf dem Berg über Nizza im Stadtteil Cimiez, in der heute das Musée Matisse untergebracht ist. Hier widmet man sich zum Jubiläum dem Thema der Musik im Werk von Matisse, die ebenso wie der Tanz eine zentrale Rolle bei ihm spielte. Seine Bilder zeigen Instrumente und mehrfach Tochter und Sohn an Klavier und Geige. Ergänzt wird die Schau durch die dazu passenden historischen Instrumente. Im Untergeschoss lernt man die Vielseitigkeit des Meisters erst richtig kennen: Es finden sich Theaterkostüme und eine schwungvolle blaue Keramik, die Matisse zur Gestaltung eines Schwimmbads entworfen hat. Sein Enkel hat das gesamte Interieur kürzlich der Stadt Nizza geschenkt.

Das Sujet führt den Besucher ins nebenan gelegene Musée d’archéologie, einen kleinen modernen Zweckbau nahe der Ausgrabung einer römischen Therme. Als mondäner Badeort ging Nizza in die Tourismusgeschichte ein, hier widmet man sich dem Thema des Swimming-Pools in der Kunst und hat einige ganz hübsche Fotografien und Videos zusammengestellt, die einen ein wenig abkühlen. Doch es hilft alles nichts, wir müssen den Berg hinunter, ans blaue Meer. Die Straße führt vorbei am Hotel Regina, in dem Ende des 19. Jahrhunderts noch Queen Victoria mitsamt Hofstaat logierte. Später wurde das imposante Gebäude zum Grand Hotel, in dem Matisse von 1938 bis 1954 wohnte und sein Atelier hatte.

Palais Lascaris, Nizza, Foto: E. Schmidt

Palais Lascaris, Nizza, Foto: E. Schmidt

Unten, in der quirligen Altstadt, wird auf der Place Saint Francois gerade der Fischstand abgespritzt und die Fleischergesellen machen eine Zigarettenpause. Gleich um die Ecke liegt der Palais Lascaris, ein barocker Palazzo, der einen in schattiger Dunkelheit empfängt. Hier ist die Ausstellung „Matisse und die Jahre des Jazz“ untergebracht: Zwischen 1943 und 1949 schuf Matisse ein Künstlerbuch unter dem Titel „Jazz“: Sein schwebender Ikarus auf blauem Grund mit zackigen gelben Sternen ist weltweit bestimmt millionenmal nachgedruckt worden.

Wir wandern weiter in die gleißende Sonne entlang der berühmten Strandpromenade Boulevard d’Anglais zum Musée Masséna, das in einer herrschaftlichen Luxusvilla mit Meerblick residiert, die Victor Masséna d’Essling duc de Rivoli 1898 erbaute. Hier geht es um das Thema der Palme in der Kunst, ausgehend von Matisse, der den südlichen Sehnsuchtsbaum in verschiedensten Variationen immer wieder gemalt hat. Aber Picasso hat das auch nicht schlecht gemacht, wie man sieht.

Der Rückweg über die Rue de France verführt profanerweise zum Sandalenkauf mit viel zu hohen Absätzen, in denen ich die Stufen zum Musée d’Art Moderne et d’Art Contemporain (MAMAC) kaum mehr hochsteigen kann. Doch die Mühe lohnt, denn oben heißt es freundlich „Bonjour Monsieur Matisse“ und die Kuratoren haben eine beeindruckende Auswahl an moderner Kunst zusammengetragen, die den Einfluss des stilbildenden Meisters des 20. Jahrhunderts auf seine Nachfahren augenfällig werden lässt. Von Roy Lichtenstein über Jean-Michel Basquiat und Niki de Saint Phalle bis hin zu Martin Kippenberger ist einiges von Rang und Namen vertreten.

Aufmerksame Leser haben vielleicht mitgezählt: Wir haben nur fünf von acht Matisse-Ausstellungen geschafft. Leider mussten wir dann die schmerzenden Füße ins Meer hängen. Wer alle acht an einem Tag absolviert, soll sich bitte bei mir melden, aber ich brauche Beweise. Der Flug Düsseldorf-Nizza dauert nur anderthalb Stunden.

Infos: matisse2013.nice.fr




Dortmund damals: Beim Betrachten alter Bilder aus der Heimatstadt

Manchmal entdecke ich im Internet Vorlieben wieder, die zwischendurch geschlummert haben. Da gibt es z. B. intelligente Schwärme, die schöne, noch schönere oder gezielt hässliche Worte aufspüren, was sich mitunter als Hauptspaß, seltener auch als Tiefsinn erweist. Doch hier und jetzt geht es um alte, zuweilen nostalgische Fotos aus meiner Heimatstadt Dortmund.

Bei Facebook und wohl auch in anderen Netzwerken tummelt sich dazu die eine oder andere Interessengruppe, die mit Fleiß und Akribie bei der Sache ist. Eine hat sogar rund viertausend Mitglieder: Man kann dort quasi keinen Pflasterstein oder Grashalm aus der Stadt posten, den nicht irgend jemand wiedererkennen, exakt benennen und mit historischen Hintergrundinfos anreichern könnte.

Da gibt es Leute, die sich mit lokalen Details offenbar mindestens ebenso gut auskennen wie Stadtarchivare, Regionalhistoriker oder Fachleute vom Katasteramt – und das nicht aus Pflicht, sondern aus Leidenschaft, die bekanntlich bei jeder Anstrengung Flügel verleiht. Amateure, so kann man hier mal wieder sehen, sind keineswegs Dilettanten. Sie heben denn auch ungeahnte Bilderschätze.

Ich selbst habe als Kind kaum fotografiert – und erst recht nicht als Jugendlicher. Das galt damals als „uncool“. Schade drum, sonst hielte man heute die eine oder andere Erinnerung mit städtischem Kolorit in den Händen. Von digitaler Dauerknipserei ahnte man noch nichts.

Nicht nur, aber auch wegen dieses Defizits habe ich heute ein Faible für historische Fotos aus der Stadt – ungefähr zwischen 1860 und 1980 ist so manches An- und Aufregende zu finden. Den jeweiligen Zeitgeist kann man geradezu einatmen oder aus den Bildern trinken.

Wie sich die Straßen und ganze Stadtteile gewandelt haben! Welche (hie und da noch dörfliche) Beschaulichkeit oder Pracht in der oder jener Ecke früher geherrscht hat! Wie glanzvoll war ehedem die Kaiser-Wilhelm-Allee, die heute als Hainallee vergleichsweise kümmerlich wirkt. Wie schmuck war die Hohenzollernstraße in der östlichen Innenstadt. Auch da zeugen nur noch Restbestände von damals. Wie weh wird einem zumute, wenn man all die tiefen Wunden sieht, die dann die Bomben des elenden Weltkrieges gerissen haben. Von den Menschenleben natürlich ganz zu schweigen.

Danach war Dortmund – ehedem freie Reichsstadt und Hansestadt – zwar keine geschichtslose, doch in weiten Teilen eine gesichtlose(re) Stadt: Die sozialdemokratische Abrisswut zur Schaffung von Verkehrsschneisen tat nach 1945 ein übriges. Und heute wanken manche denkmalgeschützten Bauten, wenn ein Großinvestor winkt.

Über lange Zeiträume betrachtet, blieben im Stadtplan lediglich Grundstrukturen wie etwa der Wallring, der Hellweg oder (bedeutend kleinteiliger) das Rund des Borsigplatzes erhalten. Auch die Westfalenhalle und die großen Sportstätten haben immerhin über einige Jahrzehnte nicht ihre Gestalt, wohl aber ihren Platz behauptet.

Ein besonders eigentümliches Gefühl beschleicht einen dann, wenn man alte Fotos aus dem Viertel sieht, in dem man aufgewachsen ist; womöglich gar noch aus der passenden Zeit. Häuser, die man damals gar nicht richtig beachtet hat (als Kind hat man ja auf „Jugendstil“ und dergleichen gepfiffen), wirken da auf einmal wie Persönlichkeiten oder gar wie Freunde, die über all die Jahre hinweg immer da gewesen sind. Es ist, als könnte das Spiel von neuem beginnen.

Man kann den historischen Bildern schon beim flüchtigen Hinsehen einige generelle Erkenntnisse entnehmen, die so ähnlich für viele Städte gelten dürften. Man vergleiche: Nicht nur die Autos haben die ehedem unverstellten Straßen schrecklich überwuchert, auch das Fernsehen hat zwischenzeitlich verheerend gewirkt, weil seither abends weniger Menschen die Stadt bevölkert haben.

Staunenswert war allein schon die Vielzahl der Dortmunder Caféhäuser und Amüsierbetriebe, etwa in den 20er Jahren. In den 50ern hatte dann nahezu jeder Vorort sein eigenes Kino – und nun schaue man sich die heutige Situation an. Bis in die 1960er Jahre hinein gibt es Bilder, die von einer vollen Innenstadt zeugen, in der ganz offensichtlich mehr Betrieb war als heute.

Speziell in Dortmund und dem Ruhrgebiet zeigen sich selbstverständlich die Monumente der alten Industrie – Zechen, Stahlwerke, Brauereien. Doch nicht nur das. Welch ein imposantes Theater hat es einst in dieser Stadt gegeben, welch einen prächtigen Amüsierpalast am Fredenbaum, welch einen repräsentativen Hauptbahnhof! Und welch eine großartige Synagoge, die 1938 von braunen Horden ruchlos zerstört wurde!




Der große, gültige Augenblick – Fotoporträts von Anton Corbijn in Bochum

Der Fotograf Anton Corbijn in der Bochumer Ausstellung - zwischen seinen Porträts von Ai Wei Wei (links) und Damien Hirst. (Foto: © Lutz Leitmann/Presseamt der Stadt Bochum)

Der Fotograf Anton Corbijn in der Bochumer Ausstellung – zwischen seinen Porträts von Ai Wei Wei (links) und Damien Hirst. (Foto: © Lutz Leitmann/Presseamt der Stadt Bochum)

Fotos der weltweiten Prominenz sehen oft genug wie Klischees oder gar wie leblose Charaktermasken aus, sie bestätigen vielfach das eh schon verfestigte Image. Nicht so bei Anton Corbijn.

Der mittlerweile 58jährige Niederländer, stets rastlos unterwegs, weil seine phänomenalen Fähigkeiten auf allen Kontinenten gefragt sind, bringt es zuwege, dass wir Gesichter von Popstars, berühmten Künstlern und sonstiger Prominenz (Spektrum von Mandela bis Kate Moss) auf einmal ganz anders und wie neu sehen. Ganz so, als kämen sie jetzt, in diesem Moment der Aufnahme und des Betrachtens, wahrhaft zu sich. Davon kann man sich bis zum 27. Juli in der Corbijn-Ausstellung des Kunstmuseums Bochum überzeugen, die mit über 40 großformatigen Bildern aufwartet.

Anton Corbijn: Porträt des Malers Lucian Freud (Fotografie, London 2008 - © Anton Corbijn)

Anton Corbijn: Porträt des Malers Lucian Freud (Fotografie, London 2008 – © Anton Corbijn)

All das (sozusagen selbstverständlich) in Schwarzweiß, festgehalten mit einer analogen Hasselblad-Kamera, nur mit vorhandenem Licht, ohne Stativ; also möglichst unverfälscht, so weit dies irgend möglich ist.

Dieser seriöse ältere Herr mit dem Schnauzbart, das ist also Paul McCartney, wie wir ihn wohl noch nie erblickt haben. Und der 1996 abgelichtete Mann in Frauenkleidern, der keineswegs lächerlich wirkt, heißt Mick Jagger. Melancholische Gesichtslandschaften erzählen vom wechselhaften Leben eines Johnny Cash, Tom Waits oder einer Patti Smith. Und schwingt nicht auch eine vitale Essenz ihrer Musik in diesen Bildern mit?

In einem Film über Corbijns Arbeit, der ebenfalls in dieser Ausstellung zu sehen ist, sagt Herbert Grönemeyer, so mancher Rockstar versuche hernach so zu werden, wie er auf Corbijns Bildern wirkt. Wenn es sich so verhält, dann kann man wohl von außerordentlicher Prägekraft reden. Vielleicht haben solche Fotos sogar indirekt Einfluss auf die Geschichte der populären Musik genommen.

Anton Corbijn: Porträt der britischen Singer-Songwriterin PJ Harvey ("PJ Harvey - New Forest" / © Anton Corbijn)

Anton Corbijn: Porträt der britischen Singer-Songwriterin PJ Harvey („PJ Harvey – New Forest“ / © Anton Corbijn)

Dabei trumpft Corbijn, dessen Laufbahn einst mit eindrücklichen Bildern der düster umwölkten Gruppe „Joy Division“ begonnen hat, keineswegs willkürlich auf. Selbst heftigere Gestik wirkt auf seinen Bildern nicht exaltiert, sondern als notwendiger Ausdruck. Die bloße Pose lässt er schon gar nicht durchgehen, allenfalls greift er etwaige Versteckwünsche just spielerisch auf, so etwas bei Jeff Koons, der sich hinter einer etwas albernen Maske verbergen darf und daher umso kenntlicher zu werden scheint. Ähnliches gilt für den mindestens ebenso millionenschwer gehandelten Künstler Damien Hirst, der seinen weiß gepuderten Kopf gleichsam als Totenschädel herzeigt – ungefähr nach dem vielsagenden Motto „Nicht ohne mein Markenzeichen“. Gerhard Richters markanter Kopf ist derweil nur von hinten zu sehen – dies gemahnt an allerletzte Bilder in filmischen Nachrufen, wenn jemand buchstäblich von hinnen geht. Da hebt gewiss schon der Nachruhm an, den auch der (2011 verstorbene) Maler Lucian Freud in seinen nahezu jenseitigen Blick gefasst zu haben schien, als Corbijn ihn im Profil porträtierte.

Sehr diesseitig, frontal und kolossal schaut einen hingegen der chinesische Künstler und unbeugsame Dissident Ai Wei Wei an. Er scheint vor Physis und Widerstandskraft zu strotzen.

Gänzlich anders gelagerter Fall: Den inzwischen des Dopings überführten und aller großen Titel ledigen US-Radprofi Lance Armstrong zeigt Corbijn bereits anno 2004 im bis zum Halse stehenden Wasser, als würde der Sportler gleich ertrinken. Darf man hier von Vision sprechen? Hat Corbijn etwa vage Anzeichen eines Niedergangs vorausgesehen? Wer weiß.

Ganz offenkundig gelingt es Anton Corbijn jedenfalls immer wieder, während der Porträt-Treffen Atmosphären und Situationen zu schaffen, in denen vordergründige Zufälligkeiten abgestreift werden und etwas Wesentliches, Charakteristisches hervortritt, das eben auch in den Fotografien aufscheint. Auf diese Weise wirken nicht wenige Rock- und Kunststars wie Wahrzeichen ihrer selbst, gesehen im bezeichnenden, gültigen Augenblick. Fühlbar wird so etwas wie der essentielle „Stoff des Lebens“, der sich auf je ganz eigene Weise in Gesichter und Gesten eingezeichnet hat.

Nicht nur die Abgebildeten sehen aus, als wären sie nun ganz bei sich, auch der Fotograf bleibt in seiner speziellen Sehweise immerzu präsent. Es ist, als wäre alles auf einmal da, alles zugleich. So sehen große und haltbare Momente aus.

Anton Corbijn – Inwards and Onwards. Fotoportäts. Museum Bochum, Kortumstraße 147 (Tel.: 0234/910-42 30). Noch bis 28. Juli. Di-So 10-17, Mi 10-20 Uhr. Katalogheft 12,50 Euro.

(Ebenfalls jetzt im Bochumer Museum: die Ausstellung des aus Israel stammenden Micha Laury).




Die harte Gangart der Fotografie – Bilder von Weegee in Oberhausen

Immer `ran, gleich` ran: Wenn Weegee ein starkes Bildmotiv sieht, so hält ihn nichts mehr auf Distanz.

Dann rückt der Pressefotograf den Mördern, Opfern, Cops und Underdogs im New York der 1930er und 1940er Jahre ganz dicht auf den Leib und drückt sofort ab. Menschen, deren Behausung gerade in Feuersbrünsten niederbrennt, hält er die Kamera mitten in die entsetzten Gesichter.

Weegee: "Der Erkennungsdienst bei der Arbeit", 1941 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Weegee: „Der Erkennungsdienst bei der Arbeit“, 1941 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Seit 1935 als Freelancer tätig, kann sich der Autodidakt keine Sentimentalitäten erlauben. Er muss die besten, unmittelbarsten Bilder haben, sonst würden die sensationsgierigen Zeitungen sie nicht kaufen. „Murder is my business“, sagt Weegee einmal.

Die heute noch hinreißenden Ergebnisse seiner Arbeit sind jetzt in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen zu sehen. Die Dokumente werden längst als Kunstwerke wahrgenommen. Es liegt nicht am bloßen Verstreichen der Zeit und an der generellen musealen Aufwertung der Fotografie, sondern an wahrhaftigen Qualitäten dieser Schwarzweiß-Bilder. Die rund 100 Exponate stammen aus dem Fundus des Instituts für Kulturaustausch in Tübingen, aus dem Christine Vogt und ihr Oberhausener Team eine schlüssige Auswahl zusammengestellt haben. Übrigens gab’s im Ruhrgebiet noch nie eine Weegee-Schau.

Delinquenten verbergen ihre Gesichter: Charles Sodokoff und Arthur Webber, 1942 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Delinquenten verbergen ihre Gesichter: Charles Sodokoff und Arthur Webber, 1942 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Weegees Art zu fotografieren (buchstäblich Bilder zu „schießen“) glich einem gewaltsamen Akt. Und so wirken die Aufnahmen denn auch auf den ersten Blick. Vom krassen Blitzlicht hart und grell konturiert, unerbittlich realistisch. Doch man weiß, dass Weegee zuweilen manch ein Detail eigenhändig arrangiert hat (so stellte er etwa nach einem Mord beim Bocciaspiel die Bocciakugeln „dekorativ“ in den Vordergrund), dass er Ausschnitte mit Bedacht wählte. Auch hat er Verbrechensopfer nicht in aller möglichen Drastik gezeigt, sondern ihnen einen Rest von geradezu ästhetischer Aura gelassen. In Wien würde man vielleicht sarkastisch sagen „A schöne Leich’“.

Vor allem aber hatte Weegee – mitten im heißesten Moment – ein untrügliches Gespür für wirksame Komposition und Dynamik. Wer heute versucht, den Augenblick mit schier endlosen Reihen von Digitalbildern zu fangen (Motto: Ein Gutes wird schon darunter sein), macht sich keinen Begriff davon. Damals, in der Zeit der Plattenkameras, mussten gleich die allerersten Bilder „sitzen“. Umso erstaunlicher, dass viele inzwischen den Status von Klassikern haben. So auch jenes umwerfende Bild von der gaffenden Menge, die uns auch auf unseren eigenen Voyeurismus verweist. Wir schauen Zuschauern beim Zuschauen zu, ganz fasziniert.

Oft war Weegee (1899-1968, bürgerlich Arthur Fellig) früher am Tatort als die Polizei selbst. Ab 1938 mit der offiziellen Genehmigung versehen, den Polizeifunk abhören zu dürfen, raste der besessene Nachtarbeiter sofort los, um gleichsam auf frischer Tat zugegen zu sein. Was er dann auf Platte bannte, wäre heute und zumal in Europa so nicht mehr publizierbar. Aber damals herrschten andere Gesetze. Und in den USA geht es ohnehin anders her.

Polizei beendet Straßendusche der Kinder, 1944 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Polizei beendet Straßendusche der Kinder, 1944 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Schnell wurde der im heute polnischen Złoczew geborene Fotograf, der 1910 als Kind in die USA gekommen war, bekannt und kultivierte ein entsprechendes Image, nannte sich höchst selbstbewusst „Weegee – The Famous“ und zeigte sich gern als zerknautschter harter Kerl, allzeit mit Zigarre im Mundwinkel. Als Zeitgeist-Typus der Hardboiled-Ära hätte er jederzeit in einem Marlowe-Roman von Philip Chandler auftauchen können (wenn die nicht in Los Angeles spielen würden).

Eines seiner Fotos zeigt das unglaublich überfüllte Badeufer von Coney Island. Die vielen, vielen Menschen schauen hinauf zur Kamera, Weegee steht offenbar auf einem Podest inmitten der Massen. Er ist das Gegenteil eines „unsichtbaren“ Fotografen, der heimlich auf Motive lauert. Weegee wirft sich geradezu hinein in die Situation oder stellt sich beherrschend über sie. Dass er auch subtile, ja ätherische optische Sensationen zu erfassen weiß, zeigen seine Bilder von Stadtstrukturen, etwa vom mysteriösen Schattenwurf unter der Hochbahn.

Unter der Hochbahn, Bowery, o. J. (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Unter der Hochbahn, Bowery, o. J. (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Manche haben versucht, Teile seines Werks sozialkritisch zu interpretieren. Tatsächlich hat er ja die Schattenseiten der Gesellschaft gezeigt, hat Huren, Stripperinnen, Verbrecher, Säufer, Obdachlose oder auch die diskriminierten Farbigen in Harlem abgelichtet, doch wohl weniger aus edelmütigen politischen Antrieben. Er hat sich just in die harte Wirklichkeit begeben und dort Anzeichen sozialer Tatsachen vorgefunden, sofern man sie überhaupt sichtbar machen kann. Bei einem Fotografen mit dieser formalen Könnerschaft werden eben gültige Szenen daraus. Die Verhältnisse, sie waren so.

Ostersonntag in Harlem, 1940 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Ostersonntag in Harlem, 1940 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

So auch bei einem seiner berühmtesten Bilder, das zwei schwerstreiche Damen beim Gang in die Oper zeigt und die Aussage noch mit einem Trick steigert: Eine völlig desolat wirkende „Kritikerin“, die als Kontrastfigur auftritt, soll Weegee eigens angeheuert und unter Alkohol gesetzt haben. So obszön wirkte demgegenüber der zur Schau gestellte Reichtum, dass die Nazis das Bild zu perfiden Propagandazwecken nutzen und auf in Italien abgeworfenen Flugblättern die US-Soldaten hinterhältig fragten: „GI’s, is this what you’re fighting for?“ – „Dafür wollt ihr kämpfen?“

"Kritik", 1943 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

„Kritik“, 1943 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Einmal prominent und wohlhabend, ließ es Weegee bequemer angehen. Er unternahm Europa-Reisen, verlegte sich vor allem auf Star-Fotografie und porträtierte etwa Louis Armstrong, Marilyn Monroe, Salvador Dali, Jackie Kennedy oder auch das verzückte weibliche Publikum des Frank Sinatra. Man wähnt sich hier beinahe schon in einem Konzert der Beatles mit hysterischem Kreischen und massenhaften Mädchen-Ohnmachten.

Auch Weegees Selbstinszenierungen weisen ja schon gelegentlich voraus auf Phänomene der 60er Jahre. Nicht ausgeschlossen, dass ein Mann wie Cassius Clay alias Muhammad Ali („I am the greatest“) einige seiner Imponier-Posen von einem wie ihm gelernt hat. Bei beiden, so wissen wir, steckte wirkliche Substanz hinter dem Gehabe. Und wie!

Sollte Weegee gar ein Vorvater der Pop Art gewesen sein? Ein Bild, auf dem er sich mit Andy Warhol zeigt, könnte die Vermutung nahelegen. Doch wie verschieden sind diese beiden Typen! Ein jeder steht für seine Zeit.

Weegee – The Famous. Fotografie. Bis 8. September 2013 in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen, Konrad-Adenauer-Allee 46. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 6,50 €, ermäßigt 3,50 €.
Kombiticket mit Gasometer Oberhausen (dort ist bis Ende Dezember die Christo-Installation „Big Air Package“ zu sehen) 13 €.

Statt eines Katalogs erscheint ein Booklet für 4 €.
Wenn’s etwas mehr sein darf, so greife man zu Weegees erstmals 1945 erschienenem Buch „Naked City“.




Der Fremde, im Museumsraum gefangen: Ibsens „Peer Gynt“ in Düsseldorf

Was macht der Zugereiste, der Fremde an schmuddeligen Wintertagen in Düsseldorf? Wenn man nicht über die Rheinpromenade flanieren mag und Shopping auf der Kö zu teuer ist? Genau: Er geht in eines der hochkarätigen Museen der Kunststadt, spaziert in wohltuender Stille zwischen großformatigen Fotos umher, die sich realistisch geben, aber auf eine andere Wahrheit verweisen wollen. Die die Sehnsucht nach fernen Welten wecken und nach einem „höher hinaus“, nach einem Überschreiten der dörflichen Grenzen, nach einem Ende des kunstsinnigen Flüsterns.

Wie ein Fremdköper benimmt sich denn auch „Peer Gynt“ im Norwegerpullover (Olaf Johannessen) in den heiligen Hallen. Denn Staffan Valdemar Holm, der schwedische Ex-Intendant des Düsseldorfer Schauspielhauses, hat Ibsens mythenbeladenem Helden in seiner neuesten Inszenierung ein Museum auf die Bühne gebaut. Lautstark streitet Peer dort mit der Mutter, sein ganzer Körper gespannt vor Aggressivität. Pöbelnd stört er den Hochzeitszug, ein Outlaw, den die Missbilligung der Gesellschaft zu besonders provozierendem Benehmen anstachelt. Doch es kommt noch besser: In ungezügeltem Trieb schändet er die Braut, stößt sie dann von sich. Wie ein reißender Wolf fährt er in die Herde der pietistisch korrekt gekleideten Trachtenmädchen, bespringt eine nach der anderen ohne zu ermüden. Doch auch das reicht ihm nicht. Wem das Menschsein zu eng wird, der sollte vielleicht ein Troll werden?

Staffan Valdemar HolmFoto: Sebastian Hoppe

Staffan Valdemar Holm
Foto: Sebastian Hoppe

Es fällt schwer, als Zuschauer in Holms neuester Inszenierung nicht nach biographischen Anspielungen zu suchen: Aus gesundheitlichen Gründen hatte Holm Ende letzten Jahres seinen Posten als Intendant niedergelegt. Mit großer Offenheit hatte er über sein Burnout gesprochen und ebenso seinen Unmut über Sparmaßnamen und Auslastungsdruck öffentlich gemacht. In seiner Talkreihe „Gebrochen Deutsch“ thematisierte Holm mit feiner Ironie den „ausländischen“ Blick auf Düsseldorf, Merkwürdigkeiten, die Zugereisten auffallen, von den Hiesigen dagegen für selbstverständlich gehalten werden. So hat es „Peer Gynt“ nun in eine nordrhein-westfälische Kunstsammlung verschlagen – doch wie kommt er da bloß wieder raus?

Die Antwort lautet: Gar nicht. Denn ob Peer Gynt Thronfolger bei den Trollen wird oder reicher Sklavenhändler in Übersee, er bleibt doch immer im Museumsraum gefangen, nur die Ausstellungswände verschieben sich und die Bilder wechseln. Seine Geschichte bleibt immer eine vermittelte, eine, die man sich seit langer Zeit erzählt und die wir eher vom Hörensagen kennen. Denn wer von uns hätte schon eine richtige Heldenreise selbst erlebt? Deswegen kommt einem Peer Gynt auch eher vor wie ein Zukurzgekommener mit Borderline-Syndrom. Ihm bei seinen Eskapaden zuzusehen, hat durchaus Unterhaltungswert: Holms Inszenierung beweist Leichtigkeit und subversiven Witz, besonders das Trollvölkchen mit dicken Brillen und langen Plüschschwänzen entlarvt das Spießertum auf skurrile Weise.

Auch wenn der zweite Teil ein paar Längen aufwiest, so zieht die letzte Szene den Zuschauer noch einmal in ihren Bann. In einer verzweifelten Pantomime klammert sich Peer an seine große Liebe Solvejg (Anna Kubin), die er einst verliess. Doch er kann seine früheren Taten nicht ungeschehen machen und steht wieder mit nichts da wie zu Beginn, obwohl er doch alles erringen wollte.

Zum Glück hat wenigstens jemand zwischendurch Fotos gemacht und sie an die Wand gehängt. Wie geronnene Seelenzustände, die wir ein wenig distanziert betrachten. Ein fremdes Schicksal eben.

http://duesseldorfer-schauspielhaus.de/de_DE/Premieren/Peer_Gynt.867709




Von Mäusen und Menschen: Wolfgang Tillmans fotografisches Werk im Düsseldorfer K 21

„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer Bewunderung: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ Aber wie passt die vielzitierte Sentenz des Philosophen Immanuel Kant zu einem Fotokünstler der Gegenwart?

Eigentlich gar nicht, möchte man meinen, doch empfangen den Besucher gleich im ersten Raum der Ausstellung von Wolfgang Tillmans im Düsseldorfer K21 riesengroße C-Prints von sternenübersäten Nachthimmeln. An der Wand gegenüber zieht eine kleine schwarze Venus über den orangenen Ball der Sonne. „Wann habe ich zuletzt einen derart geilen Sternenhimmel gesehen“, fragt man sich unwillkürlich und denkt an den letzten Sommerurlaub am Meer. Ernüchterung ereilt einen gleich im nächsten Zimmer: „Bitte nackt duschen“, warnt ein Schild und weitere Fotos zeigen unordentliche Kleiderstapel und schlecht sortierte Socken auf dem Sofa sowie herumstehendes Geschirr. Woher weiß der Fotograf denn so genau, wie es bei uns zu Hause aussieht?

Wolfgang Tillmans, Venus Transit, Kunstsammlung NRW

Wolfgang Tillmans, Venus Transit, Kunstsammlung NRW

Vielleicht weil er unserer Generation angehört? 1968 in Remscheid geboren, feierte er noch ein paar wilde Partys in Düsseldorf oder so und machte sich dann Anfang der neunziger Jahre nach England auf. Heute lebt und arbeitet er in London und Berlin und die in der Schau versammelten Fotos wirken wie die Chronik seines Lebens – faszinierend und beiläufig zugleich. Sie zeigen die ihn umgebenden Menschen und Dinge völlig unprätentiös. Ein Mann in Unterwäsche betrachtet seine Fußsohlen, ein anderer steht im Schwimmbad herum. Zimmerpflanzen in Nahaufnahme treten nur für einen Augenblick, nämlich für dieses Foto, aus ihrem unbeachteten Dasein hervor und eine kleine Maus flüchtet in den Gulli, die Hinterbeine in die Luft geworfen.

Ebenso selbstverständlich blickt er auf die Phänomene der Subkultur und auf die nach harten Nächten Gestrandeten: Knutschende Männer, entblößte Muschis und Schwänze, die friedlich neben hübsch angerichteten Flugzeugtabletts liegen. Fast hätte man sie für das künstlich schmeckende Würstchen gehalten, das in solchen Situationen öfter gereicht wird.

Kaum ein Bild ist gerahmt, sie sind einfach so auf die Wand gepinnt und auch die fotografierten Promis kommen ganz unscheinbar daher: Fast hätte ich Kate Moss übersehen, bzw. sie für ein leidlich hübsches Mädchen mit etwas schiefen Zähnen gehalten, vor sich auf dem Tisch seltsamerweise eine Früchte-Mischung aus Erdbeeren und Kartoffeln. Manchmal kommt einem Tillmans vor, wie der Vorreiter der Facebookkultur: Ich poste mein Leben und ihr sagt mir, wer ich bin. Tatsächlich schafft es aber seine künstlerische Vermittlung, zu zeigen, wer wir alle sind.

Wolfgang Tillmans, Kunstsammlung NRW

Wolfgang Tillmans, Kunstsammlung NRW

Außerdem hat sein Werk durchaus eine gesellschaftspolitische Komponente: Eingehend hat sich Tillmanns mit dem Thema AIDS beschäftigt. Großformatig kopierte Zeitungsartikel lassen die Berichte aus Kriegsgebieten monströs erscheinen. Und das wandfüllende Foto von der blumengeschmückten Unterführung, in der ein Migrant Opfer von Neonazis geworden war, braucht keinen weiteren Kommentar. Ebenso wenig die überdimensionale Schaufel voll mit Müll aus dem Slum. So landet der Besucher nach den verschiedensten Eindrücken durch die Augen von Wolfgang Tillmans gesehen wieder beim Sternenhimmel, denn hier ist der Rundgang zu Ende. Von Moral war also auch die Rede, hätte man gar nicht gedacht. Und zum Schluss gibt es sogar noch einen Katalog geschenkt. Total nett, dieser Künstler. Kriegt ein „like“.

Bis 7. Juli im K 21 in Düsseldorf

www.kunstsammlung-nrw.de

 




Regina Schmekens Fotos von der Ästhetik eines Spiels namens Fußball

Fußball ist Geometrie. Die Beine gehören Toni Kroos. Foto: Regina Schmeken

Als Fredl Fesl, eine Art bayerischer Hippie der sanft-spöttelnden Natur, 1976 sein Lied von den „44 Fußballbeinen“ singsprechend zur Gitarre anstimmte, mochte ein wenig Gesellschaftskritik dahinter stecken (Heute würde das wenig nett gemeinte „Millionäre in kurzen Hosen“ bemüht). Doch eher ging es ihm wohl um das Beschreiben einer Sportart, die den einen Kult ist, anderen hingegen als sinnlose Rennerei vorkommt. Dass es sich um ein Spiel handelt, das gar ästhetische Komponenten in sich birgt, scheint der öffentlichen Wahrnehmung absolut fremd (geworden).

Hier nun hat sich die Fotografin Regina Schmeken zu Wort gemeldet. Mit aussagekräftigen Bildern, die nicht auf Action ausgerichtet sind, sondern auf Schönheit und (skurrilen) Witz. Die bisweilen Rätsel aufgeben, weil der Betrachter gerade nicht weiß, wo etwa der Ball ist. Weil er überhaupt nur Beine sieht, die sich in Verbindung mit Mittelkreis oder Seitenlinie zu einem grafischen Konstrukt formen. Keine Gladiatoren betreiben hier knallharten Sport, sondern der spielende Mensch gewinnt oder verliert in Schönheit.

Schmekens Fotos sind zurzeit im Berliner Martin-Gropius-Bau zu sehen. Großformatige Schwarzweiß-Studien, denen das Wort Fußballfieber fremd scheint. Eher verbinden sich mit ihnen die Begriffe Ruhe, Kontemplation, ja Intimität. Davon spricht jedenfalls Oliver Bierhoff. Ihm ist es zu danken, dass die in Gladbeck geborene Fotografin die Nationalmannschaft von März 2011 bis zum Juni dieses Jahres begleiten durfte. Die 40 ausgestellten Exponate fallen dabei vor allem durch eine choreographische Note auf. Und das kommt nicht von ungefähr.

Denn die Fotojournalistin hatte nicht nur selbst Ballettunterricht, sondern suchte stets tänzerische Elemente in ihren Bildern. Berühmt wurde eine Aufnahme vom Weltwirtschaftsgipfel 1992 in München. Da waren Staatsmänner in quirliger Unordnung offensichtlich auf der Suche nach ihrem rechten Platz fürs Gruppenfoto – heiter wirkende Wuselei abseits des steifen Zeremoniells.

Schmekens Fußballbilder also: eingefrorene Bewegungen, gruppendynamische Momente, Szenen abseits des Brennpunktes namens Strafraum. Da liegt etwa der Ball im Netz, und Torwart Ron Robert Zieler mit fragendem Blick daneben: Wie ist die Kugel bloß dahin gekommen? Oder Sami Khedira: Liegt da im patschnassen Gras und schaut offenbar versonnen aufs Regenwasser in seinen Händen.

Vier Beine und ein Kopf oder: Klose und Podolski. Foto: Regina Schmeken

Geradezu skurril die Aufnahme, in der sich Klose und Podolski nach dem Ball bücken: Perspektivisch so eingefangen, dass wir vier Beine, aber nur einen Kopf sehen. Manchmal winden sich Arme umeinander, tänzeln zwei Füße mit dem Spielgerät. Regina Schmeken blickt auf Details, wo der Zuschauer – im Stadion – nur ein Gesamtbild hat. Fans hat die Fotografin übrigens auch abgelichtet: Konzentriert dreinblickende, angespannt sitzende Menschen im deutschen Nationaltrikot, vielleicht in Erwartung eines Freistoßes.

Brutalität aber, randalierende Fans, schimpfende Spieler oder Trainer, brutale Fauls gar sind nicht Schmekens Welt. Man mag ihr Abkehr von der Realität vorhalten, von der Tatsache, dass es letztlich um eine Menge Geld geht und somit wichtige Dinge auf dem Spiel stehen. Doch was ist dagegen zu sagen, dass sie auf die Ästhetik eben jenes Spiels hinweist, zu dem 44 Fußballbeine gehören?

Berlin, Martin-Gropius-Bau, Regina Schmeken, bis zum 6. Januar 2013.

http://www.berlinerfestspiele.de/de/aktuell/festivals/gropiusbau/ueber_uns_mgb/aktuell_mgb/start.php




Die Puppe des Monsieur Leblonde

Mustertafel mit "Mannequins" für den Künstlerbedarf, französisch, um 1868

Mustertafel mit „Mannequins“ für den Künstlerbedarf (Detail), französisch, um 1868, Sammlung Dietmar Siegert. Foto: Matthias Kampmann

Monsieur Leblonde kann man sich vorstellen als jemanden, der von Atelier zu Atelier zog und ein interessantes Produkt anpries: eine Puppe aus Kautschuk. An sich nichts Besonderes, aber zu der Zeit, es ist das 19. Jahrhundert, ein herrliches Utensil für halsstarrige Akademisten, die sich von der Fotografie nicht den Schneid abkaufen lassen wollten und natürlicher als die Natur zu malen gedachten.

Diese Puppe ist aus heutiger Sicht mehr als nur ein Symptom für die Geschäftstüchtigkeit eines Bildhauers mit Nebeneinkünften. Sie ist Symbol einer Zeit, in der Golems, Homunkuli und Roboterfantasien geträumt wurden. Das Doppel des Menschen. Hier in Form eines Lehrmittels. Leblonde führte nun nicht das vielfach ausgezeichnete Modell mit sich. Vielmehr besaß er einen Klappkoffer aus zwei Holzrahmen. In voller Ausbreitung mannshoch, zeigt es herrlich posierend diese Erfindung zur Erkundung der menschlichen Anatomie in zahlreichen Fotografien, und man muss schon zweimal hinschauen, um zu erkennen, dass es sich um einen künstlichen Körper handelt.

Vielleicht ist es das überraschendste Exponat in der Ausstellung „Tagträume – Nachtgedanken. Phantasie und Phantastik in Graphik und Photographie“, die Yasmin Doosry, Direktorin der Graphischen Sammlung des Germanischen Nationalmuseums, Nürnberg, zusammen getragen hat. Wieder einmal geht es um die Phantasmen, wieder einmal um die Relation der Surrealisten zu kunsthistorischen Vorläufern seit der Dürerzeit.

Nur Papier. Die trockene Feststellung ist keine Geringschätzung. Doosry beschreibt, dass gerade die Grafik Ideenschmiede der Künstler war. Rund 130 Fotografien, Zeichnungen, Druckgrafiken und Künstlerbücher sind in der Ausstellung zu sehen, die in Kooperation mit der Fundación Juan March, Madrid, entstand. Davon stammen 80 Prozent aus dem Bestand des Nürnberger Instituts. „Gut, dass unser Museum ein solches Depot hat. Sonst wären solche Ausstellungen nicht möglich“, meint Ulrich Großmann, Generaldirektor des Hauses.

Und in der Tat. Man sieht, hier wird aus dem Vollen geschöpft, und die Qualität der heimischen Arbeiten ergänzen prominente Leihgebern wie das Pariser Centre Pompidou. Es ist einfach wunderbar. Frisch wie am ersten Tag der Totentanz von Michael Wolgemut aus dem Jahr 1493 oder die „Majuskeln des lateinischen Alphabets“ von Matthias Zündt nach Hans Lencker von 1567, ein koloriertes und mit Gold gehöhtes Titelblatt von Lenckers „Perspectiva Literaria“.

Die Ausstellung, typisch für Grafikabteilungen, liegt im Halbdämmer. Das kommt nicht nur der Physis der empfindlichen Arbeiten wie den geradezu hingehauchten „Geschlossenen Augen“ eines Odilon Redon, eine Lithografie von 1890, zugute, sondern steigert auch die Einstimmung aufs Thema. Elf Kapitel beleuchten das Unheimliche, Fantastische, Träumerische in der Kunst seit der deutschen Renaissance. In den Vitrinen haben die Ausstellungsdesigner stumpfe Spiegel – gespenstisch – simuliert.

Der Besucher betritt jedoch keine mit Spinnweben vergarnte Rumpelkammer, sondern eine wohl sortierte und geordnete Melange aus kühler Geometrie mit ein bisschen Schreckenskabinett, Suchbildern und desorientierender Verwirrmaschine. Das Menschliche wird durch seltsame Konstrukte aus Torsi und Konfrontationen mit allerlei Fremdkörpern übersteigert. Fühlbar und sichtbar ist Entfremdung durch Verfremdung. Physikalisch simpel kommen noch die Anamorphosen daher, die seit dem 16. Jahrhundert entstehen und mehr oder weniger andeuten, dass das Sehen immer ein vermitteltes ist.

Es braucht den täuschenden Rundspiegel, damit das Bild von Diana und Cupido, die den schlafenden Endymion aufsuchen, unverzerrt gesehen werden kann. Christian Heinrich Weng kreierte das Rundblatt um 1770. Motivisch organisiert Doosry André Steiners „Anamorphose III“ (1933) aus der höchst qualitätsvollen Sammlung von Dietmar Siegert, der fast alle Fotografien beisteuerte, hinzu. Das Gummiband im Bild mit der schrägen Perspektive soll der Ariadnefaden sein, doch der Blick bietet keine Übersicht, das Auge dreht Schleifen zwischen Vordergrund und dem Spiegelbild im Hintergrund. Oder ist es umgekehrt?

Christian Heinrich Weng: Diana und Cupido suchen den schlafenden Endymion auf, ca. 1770. Foto: Matthias Kampmann

Christian Heinrich Weng: Diana und Cupido suchen den schlafenden Endymion auf, ca. 1770. Foto: Matthias Kampmann

Es gibt in der Schau Exponate, die einfach Freude bereiten, selbst wenn ihr künstlerischer Wert weniger bedeutend ist. So bietet sich hier für viele Menschen vielleicht das erste Mal die Gelegenheit, einen originalen „Cadavre exquis“ zu betrachten. Dieser hier stammt aus dem Jahr 1935. Mitgewirkt haben Óscar Domínguez, Hans Bellmer, Georges Hugnet und Marcel Jean. Mit Blei- und Farbstiften zeichneten sie auf das einen halben Meter lange und 32,8 Zentimeter breite Papier. Jeder beackerte einen Teil des Blatts, den die anderen jedoch nicht sehen konnten. Dann falteten sie den Streifen, und der nächste war dran. Wer dabei was gezeichnet hat, lässt sich nur mutmaßen. Auseinandergefaltet ergibt sich das verrückte Erzeugnis.

Das Erstellen des Cadavre ist eine Form gemeinschaftlicher Kreativität, die immer zu überraschenden Ergebnissen führt. Hier stoßen Schriftwolken mit den Künstlernamen auf Formen, die wie Organe anmuten, und die ganze absurde Zeichnung wächst aus einem Vulkan, der sich aus einer ovalen Blase speist. Erotische Konnotationen erwünscht. Aber das ist ja so üblich bei den Surrealisten. Schließlich atmeten ihre Helden Siegmund Freud und entließen ihre Einfälle durch die „Steigrohre des Unbewussten“.

Es ist definitiv nichts Neues, den Surrealismus in eine verwandtschaftliche Beziehung mit früheren Künstlern zu setzen. Kuratorin Doosry bezieht sich hier ganz bewusst auf die 1937 im New Yorker Museum of Modern Art gezeigte Surrealisten-Schau, in der der legendäre Gründer Alfred Barr eine solche Kombination erstmals realisierte. Der Blick auf die Fantastik durch die Brille des Surrealismus ist ja so naheliegend, dass derzeit auch eine Ausstellung des Frankfurter Städelmuseums mit „Schwarze Romantik“ einen ähnlichen Fokus setzt. Allerdings ist es in Nürnberg ausschließlich Grafik in Kombination mit der Fotografie, die zu motivischen und inhaltlichen Vergleichen anregt.

Das Nürnberger Vorhaben bleibt bei der Kunst und begeht nicht den Fehler, der in den 90er Jahren Methode war, Kunstgeschichte als psychoanalytisch motivierte Theorie-Illustration zu betreiben. Hier bleibt man auf dem Teppich. Abheben sollen andere. Sehr schön ist etwa die Kombination der Rötelzeichnung „Eine Art zu fliegen“ von Francisco de Goya mit der gleichnamigen Radierung, veröffentlicht nach dem Tod 1864 als eine der 18 „Torheiten“, damals unter dem Titel „Sprichwörter“. Was dieser seltsame Otto Lilienthal und seine Mitflieger in Vogelflug imitierenden Apparaten da machen, entzieht sich zum Glück der finalen Deutung – wie das meiste in dieser Ausstellung.

Es öffnen sich zudem andere, ungedachte Fenster, die leider in der Schau keine Berücksichtigung finden. Yasmin Doosry erzählt, dass „Aqua“, eine Arcimboldo nachempfundene Kompositfigur aus Meerestieren von 1580 aus dem Nachlass von Vincent Van Gogh stammt. Von dem sicher das eine oder andere Fantastische hätte gezeigt werden können. An sich ist es eine durchaus attraktive Vorstellung von einer vielleicht fantastischen Ausstellung. Und dass ein Museum seine eigenen Grenzen überschreitet und wie im Fall des Germanischen Nationalmuseums ausnahmsweise nicht nur Kunst aus dem deutschsprachigen Raum zeigt, ist angesichts des Themas notwendig.

Doch natürlich trifft man in der Hauptsache die üblichen Verdächtigen. Salvadore Dalí, Max Ernst, Paul Klee, Pablo Picasso, Man Ray, Yves Tanguy, bei den Älteren dann Giovanni Battista Piranesi, Goya, und natürlich kann eine solche Ausstellung an diesem Ort „nicht ganz Dürer-frei“ bleiben, wie Generaldirektor Ulrich Großmann trocken feststellt. Vom übermächtigen Altmeister ist einmal mehr die „Melancolia I“, der unglaublich berühmte wie rätselhafte Kupferstich aus dem Jahr 1514 zu sehen. In jedem Fall bekommen die Besucher eine Menge zu tun, eine weite Übersicht und viele motivische Bezüge vom Auftakt mit dem Blick des inneren Auges über die weiteren zehn Stationen. Wer wollte sich dem widersetzen.

Die Ausstellung ist vom 25. Oktober bis 3. Februar 2013 zu sehen. Öffnungszeiten: Di, Do, So 10 bis 18 Uhr, Mi 10 bis 21 Uhr. Der Katalog kostet 28,50 Euro im Museumsshop, im Buchhandel 38 Euro. Ein besonderes Highlight im Beiprogramm ist die Kooperation mit dem Filmhaus Nürnberg. Es werden dort unheimliche und fantastische Filme aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, etwa „Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens“ (1922) von Friedrich Wilhelm Murnau, gezeigt (25.11., 19.15 Uhr).




Zwischen Weltgeltung, Utopie und herben Verlusten: Das Hagener Osthaus-Museum spürt seiner Geschichte nach

Hagens Osthaus-Museum nimmt jetzt die eigene Geschichte in den Blick – von den Uranfängen anno 1902 bis heute. Doch man geht dabei nicht streng geordnet vor, sondern gleichsam essayistisch, kursorisch, nach Art von Flanierenden.

Damit macht man aus der Not eine Tugend. Denn weite Teile der ursprünglichen Bestände sind ja nicht mehr zur Hand, so dass in einer bloßen Chronologie arge Lücken klaffen müssten. Bekanntlich sind die hochbedeutenden Kernbestände der Sammlung im Jahr 1922, nach dem Tod des Hagener Mäzens und Museumsgründers Karl Ernst Osthaus (1874-1921), nach Essen gelangt. Sie bildeten dort den reichen Fundus des heutigen Folkwang-Museums. In Essen frohlockten sie über den immensen Zuwachs, denn Osthaus hatte mit den Bilderschätzen (u. a. Renoir, Van Gogh, Cézanne) in Hagen ab 1902 das weltweit erste Museum für zeitgenössische Kunst begründet, und zwar gegen den herrschenden Ungeist der Zeit, in der Kaiser Wilhelm II. die Werke der Franzosen als „Rinnsteinkunst“ bezeichnete.

Die wirtschaftsmächtigen Essener konnten Osthaus’ Erben einfach mehr Geld bieten, als Hagen es vermochte. Auch Gerichtsprozesse ums Kunsterbe fruchteten nichts. Es war ein gigantischer Verlust, im Grunde bis heute nicht völlig zu verschmerzen. Hagen verfiel damals für Jahre in eine Art Schockstarre. Erst 1930 wurde mit dem Rohlfs-Museum wieder nennenswertes Neuland betreten. Doch diesen Künstler wiederum verfemten die Nazis bald darauf als „entartet“. Den Hagenern gingen in der Folgezeit rund 400 Werke von Christian Rohlfs verloren – nicht zuletzt durch Plünderung. Eine Sammlungsgeschichte mit Verlusten und Verwundungen.

Ferdinand Hodler: "Der Auserwählte" (1903, zweite Fassung), Öl auf Leinwand, © Osthaus Museum Hagen.

Ferdinand Hodler: "Der Auserwählte" (1903, zweite Fassung), Öl auf Leinwand, © Osthaus Museum Hagen.

Den zentralen Platz im Entrée der Ausstellung „Der Folkwang Impuls. Das Museum von 1902 bis heute“ nimmt nun Ferdinand Hodlers grandioses Gemälde „Der Auserwählte“ (1903) ein, das gottlob noch zum Hagener Besitz zählt. In diesem Kontext wird noch einmal überdeutlich: Das Werk sollte nie und nimmer verkauft werden dürfen, so sehr steht es für den lebensreformerischen Impuls der Anfangszeit. Zwischenzeitlich hatte es ja Gerüchte gegeben, dass Lokalpolitiker der überschuldeten Stadt Hagen auf einen namhaften Millionenerlös bei britischen Versteigerern spekulierten.

Karl Ernst Osthaus hat keineswegs nur Impressionisten und später Expressionisten gesammelt. Das Hagener Folkwang-Museum hat er sich ungleich vielfältiger vorgestellt. Er war offen auch für außereuropäische Schöpfungen. Von ausgedehnten Reisen, insbesondere in den Orient, hat er zahlreiche Kunstgegenstände mitgebracht, die jetzt großzügig präsentiert werden.

Gebrauchskunst in Handel und Gewerbe sowie Architektur gehörten gleichfalls zu seinen Vorlieben. Überdies hegte der Mann, der durch eine Erbschaft (nach heutigem Wert ca. 30 Millionen Euro, bei relativ moderaten Preisen auf dem Kunstmarkt) unabhängig geworden war, naturwissenschaftliche Interessen. Er besaß eine heute verschollene Kollektion mit Abertausenden von Schmetterlingen und Käfern. Besonders die Farbenpracht der Schmetterlinge hat Osthaus fasziniert. Mit all dem verfolgte er – im Zeichen eines gehörig erweiterten Kunstbegriffs – durchaus pädagogische Absichten. Kunst sollte das ganze Leben ergreifen und die Menschen durch Schönheit veredeln. Welch ein Impuls, welch eine Vision, welch eine Utopie!

Osthaus’ Lebensstationen und seine staunenswert vielfältigen Interessen werden nicht nur mit Kunstwerken, sondern auch anhand von zahlreichen Archivalien (Briefe, Dokumente, Fotos, Plakate etc.) belegt, denn immerhin zählt seit 1963 das Osthaus-Archiv zum Hagener Bestand. Wohl noch nie wurde es für eine Ausstellung derart gründlich ausgewertet wie jetzt durch den emsigen Kurator Christoph Dorsz.

Mit der auf 2300 Quadratmetern in Alt- und Neubau weit ausgreifenden Schau würdigt man zwar zwangsläufig auch die großen Gründungsjahre von 1902 bis 1922, als hier ein veritables Weltmuseum entstand, doch weitet man die Perspektive. Schließlich ist auch in den „restlichen“ 90 Jahren seither weiter gesammelt worden; nicht immer, aber doch wesentlich den frühen Folkwang-Impulsen folgend. Die bringen vor allem die Verpflichtung mit sich, ein waches Augenmerk auf die jeweilige Gegenwartskunst zu haben und dabei auch die örtliche und regionale Szene nicht zu vernachlässigen.

Nach 1945 hat die damalige Osthaus-Chefin Herta Hesse-Frielinghaus die verbliebenen Bestände durch Neuerwerbungen nach Kräften verdichtet. Nun wurden beispielsweise auch Arbeiten der Informel-Künstler, darunter natürlich der Hagener Emil Schumacher, gesammelt. Schritt für Schritt kann man an ausgesuchten Beispielen die Genese des heutigen Eigenbesitzes verfolgen.

Hier kommt einiges am passenden Platze zusammen. Es wird etwas vom Geist des Gründervaters spürbar, je mehr man in die Dokumente eintaucht. Auch Facetten des allgemeinen Zeitgeistes lassen sich erahnen. Und schließlich waltet der Geist des Ortes, vor allem im imposanten Brunnensaal des Museums, dessen historische Zusammenhänge hier gleichfalls beleuchtet werden.

Die Ausstellung ist somit auch eine Selbstvergewisserung des jetzigen Teams um Museumsleiter Tayfun Belgin. Dem Bezug zur lokalen Szene etwa kommt man nach, indem auf Bilder der weltkriegszerstörten Stadt Hagen die Schwarzweiß-Fotos des jungen Hagener Fotokünstlers Andy Spyra folgen. Er hat den Folgen des irakischen Bürgerkriegs für die verbliebenen Christen nachgespürt. Was als thematischer Bruch erscheinen könnte, gehört in Wahrheit hierher. Auch die Dialoge mit den Rändern des Kontinents und mit nicht-europäischer Kunst will man bewusst weiterführen. 2010 war die Türkei an der Reihe, 2013 wird Korea folgen.

Mit dieser Ausstellung begibt sich das Museum auf Spurensuche nach seiner Identität. In Essen (das einige Leihgaben zu den 300 Exponaten beisteuert) hätten sie das wohl nicht in diesem Maße nötig. Aber gerade solche schweifenden Suchbewegungen können ja neue Wege im Gefolge der Traditionen weisen.

„Der Folkwang Impuls. Das Museum 1902 bis heute“. 21. Oktober 2012 bis 13. Januar 2013. Osthaus Museum Hagen. Museumsplatz 3 (Navigation: Hochstraße 73). Geöffnet Di/Mi/Fr 10-17, Do 13-20, Sa/So 11-18 Uhr. Katalog 19, 90 Euro. Eine Reproduktion der 1912 – also vor 100 Jahren – erschienenen ersten Hagener Folkwang-Katalogbroschüre kostet 4 Euro.
Internet: www.osthausmuseum.de




„Der Augentäuscher“: Ist die Fotografie eine Erfindung aus der Barockzeit?

Ein arbeitsloser Kunsthistoriker ist auf der Suche nach dem ganz großen Coup. Wäre es nicht eine Sensation, wenn er Bilder von Silvius Schwarz auftreiben und beweisen könnte, dass der Künstler tatsächlich gelebt hat?

Denn hartnäckig hält sich das Gerücht, dieser Silvius Schwarz hätte im Dresden des 17. Jahrhunderts ein ausschweifendes Leben geführt und mit seinen Werken die Kunst revolutioniert. Manche meinen, er habe nicht nur Stillleben gemalt, sondern optische Apparate gebaut und mit fotografischen Visionen experimentiert.

Einer anderen Legende zufolge ist Silvius Schwarz ein Magier und Gotteslästerer gewesen, der in blutige Ritualmorde verwickelt war. Doch leider existiert kein einziges Dokument, das diese Legenden mit Leben füllen könnte. Bis zum großen Elbhochwasser im Jahr 2002. Da fischt der brotlose Mythenjäger aus dem Brackwasser der Elbe ein paar durchgeweichte und verklebte Papiere. In ihnen berichtet der stumme Setzer Leopold vom Leben und Sterben seines Freundes Silvius Schwarz. Doch das ist nur ein Baustein in der Beweiskette, die der kunsthistorische Luftikus plötzlich in den Händen hält. Der Zufall spielt ihm nicht nur weitere Papiere des Bleisetzers zu, sondern auch einen verschollen geglaubten Briefroman, in dem die Mathematikerin und Gambenvirtuosin Sophie von Schlosser von ihrer Liebesaffäre mit Silvius Schwarz berichtet.

Und dann ist da noch diese geheimnisvolle Metallplatte, die der Legendensammler bei einem Dresdner Antiquar findet: Zeigt die dunkel angelaufene Metallplatte, in die die Jahreszahl 1673 eingeritzt ist, nicht die Reste eines Fotos? Doch wie kann das sein, wurde die Fotografie doch angeblich erst im 19. Jahrhundert erfunden?

In seinem Roman „Der Augentäuscher“ treibt Mathias Gatza ein furioses Spiel mit kunsthistorischen Visionen, mörderischen Fantasien und schriftstellerischen Finten. Wer Umberto Ecos „Der Name der Rose“ liebt, wird auch den ebenso brillant konstruierten und elegant erzählten „Augentäuscher“ goutieren.

Gatza, 1963 in Berlin geboren, versteht etwas vom Bücherhandwerk. Er hat bei Wagenbach als Volontär und bei Suhrkamp und im Berlin Verlag als Lektor gearbeitet. Bevor er selbst zum Autor wurde, hat er sich als Verleger zeitgenössischer Literatur versucht. Nachdem er mit „Der Schatten der Tiere“ ein gelungenes Debüt feierte, zieht er nun im „Augentäuscher“ alle literarischen Register. Gatza fungiert als Herausgeber fingierter Dokumente. Zwischen dem aufgedrehten Wissenschaftsbetrieb der Gegenwart und dem barocken Leben des 17. Jahrhunderts pendelt er aberwitzig hin und her und nimmt den Leser mit auf eine literarische Abenteuerreise.

Ob er sich als kunsthistorischer Lügner und Betrüger, als Setzer Leopold oder als frühemanzipierte Sophie von Schlosser verkleidet: für alle Figuren und Erzähler findet Gatza einen eigenen Ton. Außerdem weiß er alles über Malerei und Sehgewohnheiten, gefälschte Dokumente und spannende Krimis, ironisches Flunkern und satirische Verballhornung historischer Romane und wissenschaftlicher Sensationslust. Atemlos folgt man den Berichten über dieses von seinem hilflosen Vater in den Schnee geworfene Baby, das von einem in Dresden lebenden Muslim aufgelesen und erzogen wurde und aus dem später der Kunstrebell Silvius Schwarz werden sollte. Wir trauen diesem gegen Neid und Missgunst kämpfenden und nach absoluter Erkenntnis strebenden Künstler alles zu. Aber sollte er wirklich, nur weil die Umkehrung des Bildes ein Prinzip der Fotografie ist, zum teuflischen Mörder geworden sein, der 13 Kastraten des Dresdner Opernhauses kreuzigt, verstümmelt und auf den Kopf stellt?

Mathias Gatza: „Der Augentäuscher“. Roman. Graf Verlag, München 2012, 383 S., 19,99 Euro.




Stadt, Land, Fluss: Andreas Gursky in Düsseldorf

Im schwarzen Wasser schwimmt vereinzelt bunter Müll, ein wenig unter der Oberfläche, es könnten auch fernöstliche Blumen sein. Das Innere des Flüssiggas-Tanks in Katar ist gleißend golden, der Teppich der Düsseldorfer Kunsthalle dagegen einfach nur grau.

Doch möchte man gerne mit der Hand darüber streichen, um zu testen, ob er sich vielleicht rau anfühlt, aber das geht nicht: Denn der Teppich ist bloß fotografiert, der Fluss in Bangkok und der Gas-Tank sind auf großformatigen Fotos zu sehen. Sie zeigen die Dinge, wie sie sind, aber nicht, wie wir gewohnt sind, sie zu sehen. Das macht sie magisch: Höchste Realität schlägt in größtmögliche Poesie um. Der Magier heißt Andreas Gursky; ebenso wie die neueste Ausstellung im Museum Kunstpalast in Düsseldorf.

Man müsste nun referieren über die Becher-Schule, Gurskys Zeit an der Folkwang-Universität und der Düsseldorfer Kunstakademie, deren Professor er heute ist. Man müsste sprechen über „Struffsky“, unser Synonym für Thomas Struth, Thomas Ruff und Andreas Gursky, das wir spaßeshalber verwendeten, wenn wir eine der Ausstellungen der „Düsseldorfer Photoschule“ besuchten. Doch im Grunde kann man all dies ohnehin im Katalog nachlesen. Sinnvoller ist es, einfach in die Ausstellung zu gehen. Denn hier mischen sich neue Werke wie die „Bangkok-Serie“ oder „Katar“ mit früheren Arbeiten wie „99 Cent“ von 1999, das die erschlagende Billigwarenfülle in einem amerikanischen Supermarkt zeigt oder Angler am grünen Ufer der Ruhr in Mülheim 1989. Mein Lieblingsbild in diesem Zusammenhang ist der dreiflämmige Gasherd von 1980, wie er so unscheinbar in seiner Ecke steht – ein Küchenmöbel, sonst nix.

Bangkok IX, 2011, Copyright: Andreas Gursky / VG Bild-Kunst, Bonn 2012

Bangkok IX, 2011, Copyright: Andreas Gursky / VG Bild-Kunst, Bonn 2012

Bewusst herrscht bei der Hängung weder Chronologie noch Themenzwang, das macht die Ausstellung zu einer Entdeckungsreise, einer Art Memory-Spiel, welches Foto wohl zu welchem gehören möge. Schnell ausgemacht sind die C-Prints der Ocean-Serie von 2010 in ihrem unendlichen Blau und der Aufforderung zum Inselraten – ich habe Lanzarote gefunden. Außerdem das Publikum eines Madonna-Konzerts und ein Prada-Schuhregal. Nebst Börsen-, Flughafen- und Rennstrecken-Bildern, die auf den ersten Blick realistischer scheinen als sie sind. Doch ihre digitale Bearbeitung bzw. Komposition gilt nicht umsonst als das Stilmittel Gurskys, das ihn in die Nähe der Malerei rückt. Mit der beschäftigt er sich in der „Ohne Titel“-Serie, zu der nicht nur das Foto des Teppichs der Kunsthalle gehört, sondern auch extreme Nahansichten von Gemälden von Vincent van Gogh oder John Constable oder das bekannte Foto von einem Gemälde Jackson Pollocks im Museum of Modern Art in New York.

Nun also Bangkok: Schwarzes Wasser, das ein Geheimnis birgt. Schwarzes Wasser, das aussieht wie gemalt, das grün wird, die Lichtreflexe nahezu weiß. Nach dem tiefen Blau des Ozeans, auf dessen Inseln wir in Vogelperspektive schauen, folgt jetzt die Umkehrung in die extreme Nahansicht, doch ohne die Oberfläche zu durchdringen. Nur in Schemen sehen wir Fetzen des Wohlstandsmülls vorbeigurgeln. Vielleicht hat jemand im Supermarkt eine Kekspackung aufgerissen. Sie hat 99 Cent gekostet…

Bis 13. Januar 2013 im Museum Kunstpalast, Düsseldorf
Internet: www.smkp.de

Katar, 2012, Copyright: Andreas Gursky / VG Bild-Kunst, Bonn 2012

Katar, 2012, Copyright: Andreas Gursky / VG Bild-Kunst, Bonn 2012




Gerhard Roth und die Gugginger Künstler: Tolle Bilder, empathisch einfühlsame Texte

Rechtzeitig vor dem Geburtstag Gerhard Roths, des bedeutenden österreichischen Schriftstellers, der am 24. Juni 70 Jahre alt wurde, erschien im Mai im Residenz Verlag ein opulenter Text– , Bild– und Foto–Band: Gerhard Roths „Im Irrgarten der Bilder / Die Gugginger Künstler“.

So wichtig Gerhard Roths Texte für diesen Bildband auch sind, sie legen allesamt Wert darauf, die individuelle Besonderheit der Gugginger Künstler vordringlich und in uns Leser…n nachhallend zur Geltung kommen zu lassen. Was in meinem Falle zweifellos gelungen ist.

Also: Legen Sie alle Vorurteile und Vorbehalte, die Sie trotz Hans Prinzhorns Buch von 1922 und trotz Leo Navratils Veröffentlichungen vielleicht immer noch gegen die „Bildnerei“ und Gestaltungskraft von Schizophrenen und „Geisteskranken“ haben, wenigstens versuchsweise ab und lassen Sie sich ein auf die beeindruckenden, individuellen Bilderwelten der Gugginger Maler, Zeichner und Poeten. Hier nämlich werden sie zugänglich; in gewahrter, bewahrter Fremdheit und mitunter überraschender Nähe und Klarheit.

Eines der Buchkapitel (überschrieben mit „Im Haus der schlafenden Vernunft“) spielt schon im Titel auf die Bildunterschrift der bekannten Goya-Radierung an: „Der Schlaf der Vernunft gebiert Träume und Ungeheuer.“ Mir selbst kam sogleich auch noch der folgende, ebenfalls generell gemeinte, mir seit langem ebenfalls wichtige Satz des Philosophen Schelling in den Sinn: „Der Verstand ist der geregelte Wahnsinn.“

Welchen Zugang zum Schöpferischen haben die Künstler unter jenen, die in besonderer Weise auch außerhalb der Träume der Nacht von den Regelungen des eigenen Verstandes, sei’s zeitweise, sei’s dauerhafter, entbunden sind? Solche und ähnliche die Künste und den Menschen betreffende Fragen haben mich in der letzten Woche interessiert, als ich in der selten kurzen Zeit entschieden großer Sommerhitze endlich zu einer genaueren und intensiveren Lektüre dieses Text- und Bildbandes gekommen bin. Da schon schrieb ich:

„Einen kleinen Tisch nehme ich mir, auf dessen obere Fläche das große tolle Buch auch aufgeschlagen gut passt, setze mich in den Schatten auf den Balkon und lese und schaue und lese mich fest.“ –

„Auffällig: die „Irren“ schreiben“ – ob handschriftlich, ob in Blockschrift – „ noch immer in einer Schönschrift, die auch ich in meiner Kindheit in Österreich ganz ähnlich gelernt habe.“ –

„Was denn noch schreiben über dieses im Buch selber schon Geschriebene hinaus? – Anregend ist es allemal. Und die einzelnen Bilder warten darauf, dass man über ihnen ins Sinnieren kommt und nun selber über sie schreibt und denkt, auf eigene Weise und ganz privat.“ –

„Gerhard Roth hatte jeweils Mut zu eigener Subjektivität im geduldigen Anschauen und Wahrnehmen; und fordert so wie von selbst unser Subjektives, Verwandtes Suchendes und auch Findendes, heraus.“ –

„Dieses Buch wird mich weiterbeschäftigen. Ende nicht absehbar.

„Um das Rätsel des Menschseins geht es auch hier: um das Rätsel des Menschseins, das (nur aus moderner Sicht?) unlösbare; in Kunstwerken aller Zeiten und Kunstrichtungen wäre es dann immer wieder in seiner Rätselhaftigkeit sichtbar gemacht und dargestellt worden; das Rätsel wäre so vielleicht zwar immer noch unlösbar, aber doch zugänglicher gemacht.“ –

„Durch diese Bilder und durch Gerhard Roths verfasste Einzelporträts fühle ich mich wieder offener für alte und neue Kunst und bin wohl auch wieder offener für andere Menschen geworden, lerne sie ggf. besser verstehen, schon von der neu gewonnenen Ausgangslage her.“ –

„Erst katalogartig lesend, mir erst nur die naheliegenden Fragen vorlegend: Was ist unter den Künstlern von Gugging zu verstehen? Wie heißen sie? Wie hat sich alles entwickelt?“ –

„Und auf alle diese Fragen im fortlaufenden Lesen ausführlich Antwort bekommend, ziehen mich die hier zusammengestellten Beiträge Gerhard Roths, seine Einzelporträts von Gugginger Malern und Poeten, mehr und mehr hinein
und wirken sich produktiv auf mich selber aus, mich nach meiner etwaigen Eigenproduktion fragend, mich darin ermutigend und bestärkend, mich auf meine ureigene Nuance verweisend.“

Gerhard Roth: „Im Irrgarten der Bilder / Die Gugginger Künstler“, Residenz Verlag, St. Pölten/Salzburg/Wien. 360 Seiten, € 39,90.