Vergehende Zeit, hier im Revier: Zum Beispiel die Dortmunder Steinhammerstraße

Wilhelm Schürmann: Steinhammerstrasse, Dortmund 1979-81 (SK Stiftung Kultur, Köln/Verlag Hatje Cantz)

Wilhelm Schürmann: Steinhammerstrasse, Dortmund 1979-81 (SK Stiftung Kultur, Köln/Verlag Hatje Cantz)

Jetzt bin ich doch tatsächlich ein kleines bisschen stolz und weiß gar nicht so recht, aus welchem Grund. Vielleicht bin ich auch einfach nur berührt vom Zeitvergang und vom verwehten Geist eines Ortes. Ja, das wird es wohl sein.

Die Sache ist die: Just über die eigentlich unscheinbare Dortmunder Steinhammerstraße, in der ich im Alter zwischen 2 und 6 Jahren unter kargen Umständen aufgewachsen bin, gibt es jetzt einen gewichtigen, höchst bemerkenswerten Bildband des Fotografen Wilhelm Schürmann. Es ist wahrlich selten, dass ein Buch Aspekte der eigenen Biographie so unmittelbar und nah betrifft.

Schürmann hat (wenige Jahre vor mir) in und um Nummer 117 seine Kindheit verbracht, also drei Häuser weiter auf der gleichen Straßenseite. Als bereits gestandener Fotokünstler kam er 1979 an die Stätten zurück und hat bis 1981 nicht nur atmosphärische Partikel der frühen Jahre aufgespürt, sondern auch Signaturen des teilweise schmerzlichen Wandels und – etwa in Gestalt trister Ladenleerstände – gar den Vorschein kommender Verheerungen vorgefunden. Nach und nach ist das Gefüge der einst recht geschäftigen Straße zerfallen.

Wohl nur jemand, der selbst dort gelebt hat, konnte derlei Stimmungswerte so genau erfassen und ins Bild setzen. Manchmal wird mir angesichts dieser Fotos, als könnte ich durch einen Zeittunnel schemenhafte Szenen der eigenen Kindheit aufflackern sehen. Die Gegend war, wie Gabriele Conrath-Scholl im Katalogtext richtig schreibt, einst ein gutes Gelände für „Vorstadtkrokodile“. Da konnte man stromern. Auch das macht Heimat aus.

Wilhelm Schürmann: Mutter mit Tochter, Dortmund, 1979 (SK Stiftung Kultur, Köln/Verlag Hatje Cantz)

Wilhelm Schürmann: Mutter mit Tochter, Dortmund, 1979 (SK Stiftung Kultur, Köln/Verlag Hatje Cantz)

Um 1980 finden sich allerdings etliche Anzeichen der Verarmung und Überalterung, die Wohnzimmer wirken nur noch wehmütig, wie ein murmelndes Selbstgespräch, wie hilflose Beschwörung einer vermeintlich besseren Zeit. Doch rede niemand verächtlich vom „Gelsenkirchener Barock“. In diesem Kontext wird spürbar, dass wuchtige Plüschigkeit als Ausgleich in dieser schäbigen, verrußten, aschgrauen Welt eben notwendig zum Seelenhaushalt gehört hat.

Das Eintauchen ins eigene Herkommen hat Schürmann (1981 bis 2011 Professor für Fotografie in Aachen) damals ganz offenkundig neue künstlerische Anstöße gegeben. Am Ende der 70er und zu Beginn der 80er Jahre hat man, wegen diverser Rückstände und Ungleichzeitigkeiten, gerade noch ahnen können, wie es in dieser Ruhrgebietsstraße im Stadtteil Marten einst zugegangen sein mag. Später hätte man Fotografien an dieser Stelle nicht mehr derart mit Nachkriegs-Vergangenheit aufladen können.

Wilhelm Schürmann: Wohnzimmer, Dortmund 1979-81 (SK Stiftung Kultur, Köln/Verlag Hatje Cantz)

Wilhelm Schürmann: Wohnzimmer, Dortmund 1979-81 (SK Stiftung Kultur, Köln/Verlag Hatje Cantz)

Heute ist das alles eine vollends versunkene Lebenswelt und Schürmanns Fotos gehören somit zur „Archäologie“ der Region. Sie weisen übers rein Dokumentarische weit hinaus, es sind eindringliche Studien zum Lauf der Zeiten.

Die Schwarzweiß-Bilder (was sonst!) umkreisen – mal eher spontan, mal sorgsam arrangiert – einen rund 200 Meter langen Bereich der Steinhammerstraße anhand von typischen Sichtachsen, Gebäuden, Schaufenstern, Interieurs und vor allem Porträts einiger Bewohner. Und siehe: Um 1980 ist noch vieles vom einstigen Ruhrgebiets-Ambiente vorhanden, wenn auch in hie und da schon ramponierter Form.

Da kündet gewiss manches Detail von provinzieller Enge und Beschränkung. Doch man spürt vor allem jenen unverwechselbaren Charakter, der das Ruhrgebiet ausgemacht hat. Auch hier, im Schatten der Zeche Germania (deren markanter Turm später verpflanzt wurde und seither Wahrzeichen des Bochumer Bergbaumuseums ist), entlang des Bahndamms und rund um den Güterbahnhof lebte ein Menschenschlag, der härteste Arbeit und Entbehrungen kannte, sich aber nicht so leicht unterkriegen ließ. Die Verhältnisse werden nicht ohne leisen Humor registriert. Der Buchtitel „Wegweiser zum Glück“ leitet sich von einer Lotto-Broschüre her, die jemandem aus der hinteren Hosentasche lugt. Die Sehnsucht nach einem anderen Leben…

Besonders berührend ist hingegen eine traurige Episode in der Mitte des Bandes. Da blicken einen 1979 die Eheleute Schwingeler an, die einen Gemüseladen im alten Güterbahnhof hatten. Sodann sieht man, wie der Bahnhof am 30. Juli 1981 abgerissen wird – und schließlich, wie das gramgebeugte alte Paar tags zuvor den Laden für immer verlassen hat.

Die Gegend um die Steinhammerstraße hat übrigens ohnehin einen Platz in der Fotografie-Geschichte. Sowohl Albert Renger-Patzsch als auch Bernd und Hilla Becher haben prägnante Aufnahmen der Zeche Germania gemacht. Mit Norbert Tadeusz (1940-2011) hat ein wichtiger Maler zeitweise in der Steinhammerstraße gelebt, sein Bruder hatte dort einen Frisiersalon.

Mehr noch: Der ebenfalls in Dortmund geborene Künstler Bernhard Johannes Blume (1937-2011) hat Wilhelm Schürmann seinerzeit darin bestärkt, das Fotoprojekt Steinhammerstraße weiter zu verfolgen. Schürmann wiederum hat sich auch als Kunstsammler einen Namen gemacht und hat sehr zeitig Arbeiten des jungen Dortmunder Martin Kippenberger (1953-1997) erworben. Da könnte man fast meinen, die Steinhammerstraße hätte wesentliche Kunstimpulse dieser Stadt gebündelt wie keine zweite.

Wilhelm Schürmann: „Wegweiser zum Glück“. Bilder einer Straße. Verlag Hatje Cantz. 228 Seiten, 175 Abbildungen. Format 25 x 29,5 cm, gebunden. Text in Deutsch/Englisch. 49,80 Euro.

Das auch drucktechnisch sehr ansprechende Buch basiert auf einer Ausstellung der SK Stiftung Kultur (Köln), die leider nur noch bis zum 12. August dauert. Ausschnitte waren früher schon einmal im Essener Folkwang-Museum zu sehen, doch die Aufnahmen sollten unbedingt einmal in Dortmund gezeigt werden – am besten im Industriemuseum Zeche Zollern.

Kölner Ausstellung: Bis zum 12. August 2012. Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, Im Mediapark 7, 50670 Köln, Tel. 0221/888 95 300. Geöffnet täglich außer mittwochs 14-19 Uhr, Eintritt 4,50 Euro.

Nur zum Vergleich, ohne jeden Kunstanspruch: die Steinhammerstraße im August 2008. (Foto: Bernd Berke)

Nur zum Vergleich, ohne jeden Kunstanspruch: die Steinhammerstraße im August 2008. (Foto: Bernd Berke)




Düstere Szenen und klare Linie – Plakate, Fotos und Grafiken im Museum Folkwang

Karl Jacob Hirschs Plakat "Was will Spartakus?" (1919). Foto: Museum Folkwang

Kaum etwas scheint langweiliger zu betrachten, nichtssagender in der Wirkung als Wahlplakate. Eine bunte, zumeist familienkompatible Szenerie oder ein plumpes Symbol, garniert mit so flotten wie hohlen Sprüchen – fertig. Doch vielleicht ist dies nur Ausweis eines routinierten, ja ritualisierten Politikbetriebes, trotz aller Krisen und Probleme.

Dieser Eindruck von gesitteter Normalität verfestigt sich, blickt man nur ein wenig zurück. Vor 90 Jahren, also in den „wilden“ 20ern, war Wahlkampf nicht weniger als Glaubenskrieg, schufen die Plakatmaler drastische und krasse Szenarien, in denen die werbende Partei als Engel, der Gegner indes als Killer der Menschheit dargestellt werden. Diese grob expressionistische Bildsprache ist nun in Essens Folkwang-Museum (kopfschüttelnd) zu bestaunen, im Rahmen einer Ausstellung, die sich mit Plakaten, Fotos und Grafiken zumeist der 20er Jahre auseinandersetzt. „Unsere Zeit hat ein neues Formgefühl“ ist der fast neutral wirkende Titel der großen Schau.

Die Formen waren, mit Blick auf die illustrierte politische Propaganda, ziemlich wuchtig. Der bildmächtige Expressionismus hielt sich nicht mit Filigranem auf. Hinzu kommt eine klare Farbsymbolik bei zumeist düsterer Grundierung. Ein Plakat mit dem Titel „Der rote Hammer der Vereinigten Sozialdemokratie zerschlägt den faschistischen Drachen“, Max Schwimmer schuf es 1927, bedarf im Grunde keiner näheren Beschreibung. Die Gegner, also die Rechten, waren in der Wahl ihrer Mittel nicht weniger zimperlich: Bei ihnen stellt sich der Bolschewismus als Zwergenfratze dar, mit wirrem Haar und gezücktem Dolch. Nur gut, dass ein engelsgleiches Wesen das Volk vor diesem Schurken beschützt.

All dies war gewissermaßen Symbol eines brodelnden Vulkans namens Nachkriegsdeutschland oder Weimarer Republik, wo die politische Debatte regelmäßig in Straßenkämpfen endete. Doch ungeachtet dessen wurde getanzt, gelebt, gelacht – zumindest von denen, die es sich leisten konnten. Und so zeigt die Essener Schau eben auch das dekorative Plakat jener Zeit. Präsentiert mit Walter Schnackenbergs „Deutsches Theater – Vornehmstes Variété Münchens“ symbolträchtig den Hang zum Vergnügen. Ein Paar bestaunt aus der Loge heraus eine Tänzerin – geschwungene Linien, freundlicher Blick, das Leben scheint schön.

Andere Exponate verweisen auf den Aufstieg des Kinos. B. Namirs Plakat zu „Quick“, mit Lilian Harvey und Hans Albers, wirkt fast fotorealistisch. Später entwirft Jan Tschichold, im Sinne von Bauhaus und Neuer Sachlichkeit hellgrundierte Blätter mit grafischen Elementen und viel leerer Fläche. Hier offenbart sich die neue Form, die der Ausstellungstitel vorgibt.

Anneliese Kretschmer: Der Arbeiterdichter Karl Höller (1931).

Von expressiver Kraft zur klaren Linie: Die Essener Ausstellung zeigt auch in der Sparte Fotografie wirkmächtige Beispiele. Auffällig ist, dass die Porträtaufnahmen, als messerscharfe Studien einfacher Leute, überwiegen. Helmar Lerskis „Köpfe des Alltags“ (1928-1931) sind markantes Beispiel. Leere, abgewandte oder trotzig aufbegehrende Blicke, die Gesichter motivfüllend, einzelne Partien durch wunderbares Licht-Schatten-Spiel hervorgehoben: Lerski illustriert das Leiden (an) der Zeit. Oder nehmen wir nur das Bild der Dortmunder Fotografin Annelise Kretschmer, die 1931 den Arbeiterdichter Karl Höller ablichtete. Gesicht und Kleidung verschmutzt, alles wirkt düster wie mancher Holzschnitt von Kirchner. Daneben aber hatte Kretschmer auch den Blick fürs Glamouröse, wie das Bild „Modisches Porträt“ (etwa 1931 entstanden) zeigt. Die fotografierte Dame, vornehm gekleidet mit Kappe, Handschuhen, Gürtel und Rüschenbluse senkt fast schüchtern den Blick – eine Aufnahme der stillen Art.

Das Neue, Sachliche in der Fotografie ist hier vor allem Produkt der zunehmenden Industrialisierung. Die Meister der Kamera entdeckten Strukturen wie etwa Germaine Krull die Verstrebungen des Eiffelturms oder Lotte Goldstern-Fuchs die Kölner Eisenbahnbrücke. Anton Bruehl wiederum bannte eine Anordnung von Garnrollen aufs Fotopapier, gesehen aus der Froschperspektive und aus nächster Nähe. Dieser Blick und das elegante Spiel mit Schatten gibt den Gebrauchsgegenständen eine bedrohliche Größe, als handele es sich um Fabrikschornsteine. Hier also überlagert sich grafische Anordnung mit expressivem Gehalt.

Schließlich Zeichnungen und Druckgrafik: Die Schau blickt etwa auf die Landschaften Alexander Kanolds, die mit ihren geometrisch angehäuften Gebäuden eher bedrohlich denn einladend wirken. Düster-expressionistisches (Kirchner) steht in schärfstem Kontrast zum Konstruktivismus eines László Moholy-Nagy oder El Lissitzky. Es ist eine imposante Schau im Folkwang-Museum, die die Kunst einer aufregenden Zeit ins Blickfeld rückt.

Die Ausstellung „Unsere Zeit hat ein neues Formgefühl“ ist im Essener Museum Folkwang bis zum 5. August zu sehen.




„Bella Italia“ wird zwar behauptet, aber leider nicht gezeigt

Grandiose Erwartungen weckt das Wuppertaler Von der Heydt-Museum mit seiner Ausstellung „Bella Italia“: Fotos und Gemälde aus den Jahren 1815 bis 1900 bekommt man in abgedunkelten Räumen zu sehen, aber die versprochenen „Bella Italia“-Gefühle kommen nicht auf.

Ostern auf dem Petersplatz um 1870 (Foto aus der Ausstellung)

Was sieht man? Offensichtlich hat der Sammler Dietmar Siegert seine sicherlich wichtige und wertvolle Kollektion alter Fotografien dem Museum für diese Ausstellung angedient, und dort hat man nun um die Bilder herum diese Ausstellung konzipiert. Entsprechend zufällig wirkt die Zusammenstellung, und wer dem Thema angemessene Gemälde in ausreichender Zahl erwartet hatte, der wird mit einigen kleinformatigen Italien-Motiven aus dem Bestand der Wuppertaler Ständigen Ausstellung (oder aus dem Depot) abgespeist.

Die Bilder sind geographisch gehängt, zeigen also Szenen aus dem alpinen Norden über Venedig und Florenz, Rom und Neapel bis Sizilien. Schrifttafeln an den Wänden zitieren zahlreiche deutsche Dichter und andere Italien-Reisenden mit ihren Berichten über das Land und behaupten eine Sehnsuchtslandschaft, die sich in den Fotos nicht wieder finden lässt – allenfalls in den Gemälden spiegelt sich der romantische Anspruch. Auch der Anspruch im Katalog, den Fokus auf „das Italienbild der Deutschen im 19. Jahrhundert“ gelegt zu haben, zeigt sich nur in den Zitaten, nicht in den Exponaten.

Lohnt sich ein Besuch? Eigentlich nur für Freunde und Fachleute der Fotografiegeschichte. Italienfreunde fahren besser selber in das Land.

Bella Italia. Fotografien und Gemälde 1815-1900. Von der Heydt-Museum Wuppertal. Bis 9. September. Eintritt 7 Euro.




Der Blick auf diese ganz anderen Wesen – Künstlerische Tierfotografie in Recklinghausen

Wie bitte? Tierfotografie? Daran versucht sich doch fast jeder Amateur mit wechselndem Geschick. Kann man denn auf diesem Gebiet künstlerische Qualität oder gar Dignität erlangen, die womöglich entschieden übers Dokumentarische hinaus weist?

Aber ja! Das Sujet gibt jedenfalls alle Höhen und Tiefen her. Es hat doch alle Kunstausübung vermutlich mit jenen Tierdarstellungen in Höhlenzeichnungen begonnen und sich seither – auch zwischen den berühmten Hasen von Dürer und Beuys – überreich entfaltet. Immer wieder hat sich der Mensch im animalischen Gegenüber selbst befragt.

Vogel in verfremdender Rückenansicht: Roni Horn (*1955), Untitled, No. 1, 1998, 62,5 x 62,5

Vogel in verfremdender Rückenansicht: Roni Horn (*1955), Untitled, No. 1, 1998, 62,5 x 62,5

Die Kunsthalle Recklinghausen zeigt jetzt eine Auswahl höchst ambitionierter Tierfotografien. Sie stammen überwiegend von Künstlerinnen und Künstlern, die zuvor mit Malerei, Bildhauerei oder Installation befasst waren. Wie man schon ahnen konnte: Viele Wege und Techniken führen zum Tierbild. Der alberne Ausstellungtitel „Für Hund und Katz ist auch noch Platz“ lockt allerdings deutlich unter dem Niveau der präsentierten Arbeiten.

Denn natürlich finden sich Tiere hier nicht als niedliche oder liebliche Wesen abgelichtet. Ein Generalbass der Ausstellung betrifft die Herrschaftsausübung des Menschen, der die Tierwelt unterjocht, die Geschöpfe mitunter monströs zurichtet und nach Belieben tötet.

Da sieht man Tiere als verstörte und verstörende Fremdlinge in der entseelten Zivilisation (Marc Cellier), als Versatzstücke in agrarindustriellen Landschaften (Heinrich Riebesehl), in Todesstarre mit weit aufgerissenen Augen (Oleg Kuliks schockhafte Affenbilder), als elendiglich verzüchtete Horrorexemplare (Mona Mönnigs Nacktkatze und andere Irrwesen) oder als Opfer verheerender Umweltschäden: Inge Rambow hat einen erblindeten Albinohirsch fotografiert, der zwischen chemisch verseuchten Deponie-Tümpeln der einstigen DDR (Buna-Werke bei Schkopau) zu Tode erkrankt ist. Sein leerer Blick und seine hilflose Verrenkung geraten zum Inbild leidender Kreatur.

Doch es gibt auch etliche Künstler, die sich nicht in Empathie ergehen, sondern in erster Linie auf Formensprache zielen. So setzt Johannes Brus fotochemische Prozesse in Gang, die seine Tierbilder nach und nach farblich verwandeln und schließlich vielleicht ganz verschwinden lassen. Walter Schels hat Hund, Gans, Eule und Schaf in langwierigen „Model“-Sitzungen so aufgenommen, als seien sie etwa pikierte, eitle oder herrschsüchtige Individuen. Nicht die übliche Art der Vermenschlichung ist dies, sondern eine, die durchaus frappiert.

Walter Schels (*1936), Schaf, 1984, 80 x 65 (Bild: Museum)

Walter Schels (*1936), Schaf, 1984, 80 x 65 (Bild: Museum)

Das Federkleid von hinten aufgenommener Wildvögel (Roni Horn) erscheint als samtige Struktur mit Tendenz zur Ungegenständlichkeit. Diese Fotos werden jeweils als Diptychen gezeigt, so dass man gezwungen ist, auf feinste Detailunterschiede zwischen beiden Hälften zu achten.

Vermeintliche abstrakte Strukturen können allerdings auch just fragwürdige Verhältnisse bloßlegen, wie Andreas Gefellers Luftbildsicht auf Massentierzucht bei näherem Hinsehen beweist. Das Ornament, das man da sieht, besteht aus Tausenden von Hühnern, die sich um Futtertröge scharen.

William Wegmann gruppiert seine Hunde für die Kamera so, dass sie – von oben betrachtet – gemeinsam die Zeichen des Alphabets, Ziffern oder Satzzeichen bilden. Beinahe so, als könnten die Tiere mit ihren Körpern schreiben. Dass sie ein menschliches Zeichensystem formen, ist einigermaßen absurd und lässt breiten Spielraum für Deutungsversuche.

Aus vier Hunden gebildeter Buchstabe: William Wegman (*1943), "Letter A", 1993, 32x29

Aus vier Hunden gebildeter Buchstabe: William Wegman (*1943), „Letter A“, 1993, 32×29

Die etwa 200 Exponate stammen aus dem prallen Fundus der DZ Bank (Frankfurt/Main), die quasi als Zentralinstitut der Volksbanken fungiert. Dort also hat man eine Sammlung mit inzwischen über 6500 fotografischen Arbeiten von rund 600 Künstlern angelegt.

In Zeiten, da so manche Privatsammlung durch öffentlich finanzierte Ausstellungen nobilitiert wird und somit im Wert steigt, legt Kunsthallen-Chef Ferdinand Ullrich Wert auf die Feststellung, dass er und sein Stellvertreter Hans Jürgen Schwalm die unstrittige Hoheit bei Auswahl und Hängung hatten. Wir haben ja auch nichts anderes erwartet.

„Für Hund und Katz ist auch noch Platz“. Tierfotografien aus der DZ Bank Kunstsammlung. Bis 24. September in der Kunsthalle Recklinghausen, Große-Perdekamp-Straße 25-27. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr.




Emotionen im Blick – Fotos als Seelenspiegel

Aino Kannisto: White Stones

Da steht sie nun, mit leeren Händen: eine junge Frau, rothaarig, schwarzweißes Kleid und kalkige Finger, inmitten einer grau-weißen Steinwüste. Sie blickt – ins Leere? Oder doch mit ängstlichen, erstaunten Augen in die Kamera? Das Bild, nein, diese Frau, die finnische Fotografin Aino Kannisto, ist uns ein Rätsel. Sie hat sich selbst abgelichtet, wieder und wieder. Doch es sind keine Porträts, die uns die Bochumer Galerie m hier zeigt, sondern sorgfältig vorbereitete, klar strukturierte Inszenierungen. Und der Titel der Schau, „She and She“, führt zu einer weiteren Erkenntnis: Kannisto schlüpft in Rollen, als wollte sie sagen „Ich bin eine andere“.

Was den jeweiligen Ort betrifft, scheint er vieles auszudrücken, nur nicht eins, die reale Welt. Die Frau im Bade: Ein Foto in unwirklichem Weiß, gebrochen nur durch Terrakotta-Kacheln und den von Patina durchsetzten Armaturen der Wanne. Ihr Blick scheint die Frage „Was soll ich hier“ auszudrücken. Die Frau im Garten sitzend: Sie mag Héléne heißen, so sagt es jedenfalls die Tasse, die vor ihr steht. Sie piekt mit der  Gabel wie lustlos in ihrem Kuchen herum. Doch was bedeuten die drei anderen Tortenstücke? Ist da jemand nicht gekommen?

Schließlich, die Frau neben einer rostrot bepinselten Holzwand. Eine wunderbare Licht-Schatten-Komposition. Sie trägt das Haar offen, ein schwarzes Kleid, die sommersprossigen Arme sind frei. Das einzige Bild von 20 Exponaten, in dem uns ein leicht herausfordernder Blick anschaut. Doch eigentlich, auch hier die große, irritierende Melancholie.

Aino Kannisto: Woman sitting in the garden

Kannistos Fotos wirken bisweilen wie Filmstills.  Standbilder inmitten einer Geschichte, die der Fantasie des Betrachters entspringen darf. Doch gleichzeitig bedeutet dieses Auf-den-Punkt-Bringen ein Verharren in der Lautlosigkeit, ja Einsamkeit. Kein Lächeln – eine Künstlerin stellt sich ins Zentrum von Inszenierungen, die vor allem eins suggerieren: Ich habe viel Bekümmernis.

Dieser Kummer nimmt seinen Lauf in teils unwirtlicher Umgebung. Die Frau unter einem weißen Tuch auf einer abgenutzten Steinbank liegend – ein Bild wie aus der Pathologie. Oder sitzend in einem schäbigen Zimmer, widerwillig in einer geknackten Walnuss pulend. Anderswo in einem heruntergekommenen Treppenhaus stehend, die braune Tür neben sich, selbst wie dramatisch gealtert wirkend. Ein düsteres Foto, wären da nicht die hellen Hautpartien, die sehr plastisch für die Ausgewogenheit der Lichtverhältnisse sorgen.

Viele sagen, Porträtfotographie ist dann gelungen, wenn es gelingt, in die Seele der Person zu blicken, die sich vor der Kamera befindet. Streng genommen hat Kannisto nicht sich selbst porträtiert, aber in die Seele schauen kann der Betrachter dieser Frau/diesen Frauen schon.

Ganz offensichtlich und von beiden auch so verstanden, handelt es sich indes bei den Fotos von Nevin Toy-Unkel und Dirk Vogel, zu sehen im Jüdischen Museum Dorsten, um Porträts. Um Bilder von Menschen, die eine Vergangenheit mehr oder weniger mit sich herumschleppen, die recht oder schlecht in der Gegenwart verankert sind und skeptisch bis hoffnungsfroh in die Zukunft schauen.

Ayse Simon, Anästhesistin aus Herne. Foto: Nevin Toy-Unkel

Sie alle leben in Deutschland, sie alle kamen aus der Fremde. Jüdische Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, denen sich der Dortmunder Dirk Vogel mit Behutsamkeit und sensiblem Gespür für den rechten Moment, den Auslöser zu drücken, nähert. Andererseits Migranten aus der Türkei, oder Deutsch-Türken der jüngeren Generation, die Nevin Toy-Unkel, in Marl lebend, überwiegend als freundlich dreinblickende Menschen fotografiert hat.

Wie etwa das smarte Unternehmer-Paar, das gleichsam für sich wirbt oder die Anästhesistin, die lächelnd und stolz in die Kamera schaut. Alle abgelichtet in ihrer jeweiligen Lebenssituation, in vertrauter Umgebung also, die im übrigen  wichtiger Bestandteil des Bildaufbaus ist.

Valeria Geruhmanova im geblümten Kleid. Foto: Dirk Vogel

Dirk Vogel wiederum ist seinen „Modellen“ an deren Lieblingsplätze gefolgt. Er fokussiert mehr auf die Gesichter, pflegt gleichzeitig die Liebe zu Details, die auf den jüdischen Glauben der Porträtierten verweisen. Da ist etwa die Dame im blütenbunten Kleid, die melancholisch in die Ferne schaut, im Hintergrund ein siebenarmiger Kandelaber. Oder die junge Frau mit Hut und schmalem Gesicht, die an den Film „Yentl“ mit Barbra Streisand erinnert.

Große Texttafeln sagen uns etwas über den Lebenslauf dieser Menschen, ihr Befinden und ihre Wünsche. Doch auch ohne das Geschriebene lassen die Bilder von Vogel und Toy-Unkel Deutungen zu. Das ist beeindruckend.

www.jmw-dorsten.de

www.m-bochum.de

 




Dynamik und Ästhetik – preisgekrönte Pressefotos in Dortmund

Die Afghanin Bibi Aisha. Foto: Jodi Bieber

Das Bild ist um die Welt gegangen: Bibi Aisha, Afghanin, 18 Jahre alt, gewaltsam entstellt, ohne Nase. Bestraft, weil sie aus dem Haus des Ehemannes geflohen war. Der südafrikanischen Fotografin Jodi Bieber wurde mit diesem Porträt der Preis „World Press Photo of the Year“ (2011) zuerkannt. Wohl auch deshalb, weil trotz aller innewohnenden Grausamkeit das Bild eine Ästhetik ausstrahlt, die der jungen Frau ihre Würde lässt.

Im Dortmunder Depot sind nun (bis zum 8. März) alle prämierten Fotos zu sehen, 160 an der Zahl, preisgekrönte Werke in neun verschiedenen Kategorien, sowohl Einzelaufnahmen als auch Bilderserien. Sie sind überwiegend an Brennpunkten dieser Welt entstanden, dokumentieren auf teils erschreckende Weise des Menschen Kriege, sein Unglück, sein Leid. Aber auch Skurriles ist zu sehen, neben einigen schönen Naturfotos.

So kann es wohl zum eingangs erwähnten Bild der jungen Afghanin keinen größeren Kontrast geben als das Porträt der beiden schrulligen alten Damen, die auf einem irischen Jahrmarkt in die Linse des Fotografen Kenneth O’Halloran schauen. Die eine mit kauzig-grimmiger Miene, die andere mit einem sanften Lächeln, das etwas Fürsorgliches hat. Beide haben sich, in ihrer Art, schick gemacht – das Bild lebt nicht zuletzt von den sich beißenden Farben.

Wieder ein Kontrast: Der Blick fällt auf zwei Menschen, die in großer Distanz voneinander entfernt sitzen. Es sind nicht irgendwelche Personen, sondern ranghöchste Politiker Nordkoreas: Staatschef Kim Jong-il, der nach links auf seinen Sohn und designierten Nachfolger Kim Jong-un schaut. Ein skeptischer Vater blickt in Richtung seines Sohnes, dessen bulliges Gesicht wie versteinert wirkt. Fast wollen wir glauben, es menschelt zwischen den beiden.

Zwei Damen auf einem irischen Jahrmarkt. Foto: Kenneth O'Halloran

Viele Fotos, blickt man nur genau hin, sind trotz aller Schrecknisse von einem Funken Hoffnung erleuchtet. Ein junger Mann, der in der Westsahara für die Unabhängigkeit der Saharauis streitet, blickt gedankenverloren in den hellen Sternenhimmel. Oder betrachten wir nur die Schwarze, die in einer von Wellblech umzäunten Parzelle Cello übt, als Mitglied des Kinshasa Symphony Orchestra, das inzwischen weltweit Beachtung findet.

Erwähnt werden soll aber auch der deutsche Fotograf Uwe Weber, Preisträger für ein Dokument über die Duisburger Love Parade. Menschen dicht an dicht, nackte Angst in vielen Gesichtern. Es scheint, als würde sich die Masse im Bild bewegen. Ein Beispiel für viele Aufnahmen, die eine ungeheure Dynamik entfalten. Nicht zuletzt durch die Brillanz der Farben.

Ein Tölpel im Landeanflug auf eine Brutkolonie. Foto: Thomas P. Peschak

Schließlich wollen wir aber die Schönheit dieser Welt preisen. Thomas P. Peschak gelang das beste Foto in der Kategorie Natur. Ein Tölpel im Landeanflug auf eine Brutkolonie. Die Gesichtszeichnung des Tieres ist von größter Plastizität. Peschak, in Deutschland geboren und in Südafrika lebend, macht uns staunen.

www.depotdortmund.de




Moden und Marotten im Journalismus (1): Kunterbunte Spielzeugwelt

An dieser Stelle sollen ab jetzt in loser Folge Moden und Marotten des journalistischen Handwerks aufgegriffen werden; vorwiegend aus dem Print-Bereich, aber auch schon mal aus anderen Medien. Frisch ans Werk:

Aus dem Arsenal der journalistischen Illustration (Foto: Bernd Berke)

Aus dem Arsenal der journalistischen Illustration (Foto: Bernd Berke)

Schon seit Jahren fällt die Neigung auch intelligenter Blätter auf, mehr oder weniger komplizierte Themen mit Spielzeug zu bebildern, vorzugsweise mit Playmobil-Figuren (oder artverwandten Produkten anderer Marken). So wird etwa ein Krankenhaus-Set herangezogen, um medizinische oder gesundheitspolitische Beiträge zu bebildern. Modellautos und Modellbahnen mitsamt den zugehörigen Spielzeuglandschaften liefern ebenfalls reichlich Anschauungsobjekte.

Die unterschwellige Botschaft lässt sich einigermaßen klar herauspräparieren: Hier, lieber Leser mit dem Laienverstand, wirst du (welch’ schreckliche Chefredakteurs-Formel) „da abgeholt, wo Du bist“. Hier wird dir ein schwieriges Thema auf leichthändige, ja geradezu kinderleichte Weise näher gebracht. Du wirst Spaß und Freude an der Lektüre haben. Steig ein, lies mit!

Die Frage ist, ob sich solche Bilder insgeheim auf den Text auswirken und sich die Wortjournalisten zu Simplifizierungen hinreißen lassen. Mal ganz abgesehen davon, dass sich die Methode eigentlich längst verbraucht hat und nur noch streng dosiert eingesetzt werden sollte.

Vielleicht wäre es noch interessant herauszufinden, wer damit eigentlich angefangen hat. Haben Bildredakteure und Fotografen diese Möglichkeit entdeckt und seither weidlich ausgereizt, oder haben Texter die ersten Anstöße gegeben?

Ausschnitt aus der heutigen FAZ-Sonntagszeitung (Sportteil)

Ausschnitt aus der heutigen FAZ-Sonntagszeitung (Sportteil)

Gleichklang auf Biegen und Brechen

Weeil wir schon einmal dabei sind, folgt hier gleich eine zweite Marotte aus dem Geiste der „flotten Schreibe“:

Sie ist just heute mal wieder in der FAZ-Sonntagszeitung (am Fuß der ersten Seite im Sportteil) zu besichtigen. In der dortigen Ankündigungsleiste stehen die Worte „Anmut“, „Armut“ und „Unmut“, die auf völlig verschiedene Themen verweisen, nämlich auf Pole Dancing als Fitnesstrend, auf den Handballnachwuchs und auf den in Ungnade gefallenen Fußballer Cacau vom VfB Stuttgart. Schwankt da nicht das sprachliche Gerüst?

Der Dreiklang der Anreißer soll freilich suggerieren, dass hier „aus einem Guss“ gearbeitet worden ist. Die Redaktion hat konferiert und ein übergreifendes Konzept entwickelt, das nicht zuletzt am sprachlichen Feinschliff zu erkennen ist. Es könnte allerdings auch sein, dass hier die Chefetage nach unten „durchregiert“ und die Wortreihe angeregt hat, um es euphemistisch zu formulieren.

Das häufig verwendete, meist arg bemüht wirkende Mittel erweist sich ja auch schnell als unguter Zwang. Nicht nur die Worte werden in ein Schema gepresst, sondern oft genug auch die Sachverhalte. Solche Vereinheitlichungswut kann geradezu den Eindruck erwecken, die Worte sollten strammstehen.




Friedrich Seidenstücker: „Zille an der Linse“ kam aus Unna

Er ist d e r Berliner Fotograf, liebkoste Mensch und Alltag humorvoll und zeitkritisch, ein „Zille an der Linse“ – und quasi der Knautschke (legendärer Urvater vieler Bewohner des Nilpferdhauses im Zoo) der Tierfotografie: Friedrich Seidenstücker. Ihm widmet die Berlinische Galerie vom 1. Oktober 2011 bis 6. Februar 2012 eine Ausstellung, die 226 (nur 21 davon sind Neuprints) seiner Bilder zeigt und mit ihnen einen drallen und im wahren Wortsinne liebevollen Ausschnitt der Metropole von 1925 bis 1958.

Friedrich Seidenstücker (1882 bis 1966) hat in seiner Heimatstadt Unna nur eine kleine Skulptur als Spur hinterlassen, der man nachsagt, dass sie aus seiner formenden Hand stamme. Sein abbildendes Werk entstand in Berlin und blieb dort, weil diese Stadt Friedrich Seidenstückers Universum wurde.

In Hagen hatte er das Maschinenbaustudium begonnen, das er 1904 in Berlin-Charlottenburg fortsetzte. Während des 1. Weltkrieges war er, obschon mit Fotografie und Bildhauerei in Kontakt, Flugzeugkonstrukteur bei der Zeppelin Bau AG in Potsdam, was er einige Jahre später den Nazis verschwieg, so dass er die dunkelste Zeit relativ unbehelligt als (politisch) mäßig beachteter Fotograf „überwintern“ konnte.

Friedrich Seidenstücker: Frühling (1948). Copyright: bpk/Friedrich Seidenstücker

Nach dem Krieg dokumentierte Friedrich Seidenstücker Zerstörung und Wiederaufbau, bekam anlässlich seines 80. Geburtstages eine große Ausstellung, um danach langsam der Vergessenheit der Menschen anheim zu fallen, die im zerschlissenen Berlin mit immer neuen und moderneren Reizen beschäftigt waren.

1971 entdeckte das Bildarchiv Preussischer Kulturbesitz bei einem Trödler Friedrich Seidenstückers Nachlass und erwarb den für 500 Deutsche Mark. Wohl getan, denn dieser Fund ermöglichte die Ausstellung in der Berlinischen Galerie. Und – wesentlich kleiner – eine Erinnerung an den Sohn der Stadt in Westfalen mit vier Buchstaben im dortigen Hellweg Museum. Wann, das weiß ich nicht mehr.

Ausstellung 1. Oktober 2011 bis 6. Februar 2012.
Berlinische Galerie
Landesmuseum für Moderne
Kunst, Fotografie und Architektur
Stiftung Öffentlichen Rechts
Alte Jakobstraße 124-128
10969 Berlin
http://www.berlinischegalerie.de
Tageskarte 8 Euro
Ermäßigt 5 Euro
jeden ersten Montag im Monat 4 Euro
Freier Eintritt bis 18 Jahre

Teaserbild: Friedrich Seidenstücker: Ohne Titel (Die Zwillinge Hilde und Helga Fischer), 1948. Copyright: bpk/Friedrich Seidenstücker




Weiß – die Synthese aller Farben

Callum Innes, Installationsansicht Loock Galerie, Berlin, 10, Foto CL

Callum Innes, Installationsansicht Loock Galerie, Berlin, 10, Foto CL

Jawohl, Euer Ehren: Ich gestehe. Ich gehöre auch zu denen, die mit der Kamera im Anschlag durch Ausstellungen ziehen, und von denen man sich fragt, was sie mit all den erlegten Terabytes eigentlich anstellen. Naja, erstmal beschriften und in entsprechenden Ordnern versenken. Selbige tragen so unverfängliche Titel wie „Malerei“, „Skulptur“, „Installation“ und so. Guckt man aber rein, fällt – in meinem Fall – eine gewisse Einseitigkeit auf.

Es sieht nicht allzu farbenfroh aus da drinnen. Die Palette der Gemälde beispielsweise bewegt sich zwischen Zartgrau und Titanweiß, die der Objekte zwischen Vanille und Beige, und nur unter den Installationen finden sich dunklere Grautöne. Der Anblick dieses ziemlich blassen Sortiments, das ich inzwischen zusammen geknippst habe, veranlasst schon mal die Frage, warum mich inmitten des allgegenwärtigen Farbrausches ausgerechnet die gespenstisch blutleeren Leinwände und Objekte anziehen. Leide ich unter diesem psychischen Waschzwang, der so manche Personen mit mörderischer Gesinnung veranlasst, sich vorzugsweise in schneeweißer Garderobe zu präsentieren?

Anders gefragt: Was hat Weiß, was all die umwerfend schönen Farben nicht haben?

Rosella Bellusci "Uomo diafano D, B, C", 07, Foto CL

Rosella Bellusci „Uomo diafano D, B, C“, 07, Foto CL

Dabei sind mir die Vorzüge bunter Farben durchaus geläufig. Ich gehör sogar zu den fantasiearmen Langweilern, die im einst legendären Fragebogen der FAZ auf die Erkundigung nach der „Lieblingsfarbe“ einfallslos aber wahr „alle“ geantwortet hätten. (Bedauerlicherweise hat mich die FAZ nie gefragt.) Dennoch können sie „alle“ mir zuweilen sowas von gestohlen bleiben. Und dabei weiß (!) ich mich in bester Gesellschaft – nämlich in eurer.

Wir alle sind einem Farbgewitter ausgesetzt, gegen das wir uns eher selten durch bewusstes, weitaus häufiger durch unbewusstes Ausblenden wehren. Umso wohltuender erleben wir die Sicht in eine unbunte Weite. Ja, Weite, denn Sehen ist entspannend, wenn wir den Blick ausrollen können, ohne irgendwo anzustoßen. Dieses unscharfe Schweifenlassen funktioniert besonders gut, wenn es mangels Form- und Farbunterschieden nichts zu fokussieren gibt: Himmel, Wasser, Erde – eine gewisse Reizarmut zugunsten von Weitläufigkeit macht relativ unaufgeregte Elemente zur Badewanne für die Augen.

 

Esperanza Spierling "Fünf Würfel", 09, Foto CL

Esperanza Spierling „Fünf Würfel“, 09, Foto CL

Da sich in Ausstellungen aber eher selten die Gelegenheit ergibt, selbige an Horizonten oder Wolkendecken zu räkeln, suchen sich diese unsere „Eierbecher der Blicke“ andere Schlupflöcher aus dem visuellen Overkill. Dazu gehören Flächen und Körper, die die optische Entsprechung sog. Schalltoter Räume darstellen – Kammern, deren Wandverkleidungen keinerlei Ton reflektieren.

Diese Analogie jedoch trifft nur begrenzt zu, denn hat sich der vom Farbgeflimmer betäubte Gesichtssinn erst an die plötzliche Ruhe gewöhnt, gewinnt er an Schärfe und fängt an, die anfängliche Reizarmut „rein“ weißer Situationen in Nuancen zu zerlegen – ein Phänomen, das einst zum gern zitierten Irrtum der vermeintlichen Vielzahl von Wörtern für Schnee in den Sprachen der Eskimo geführt hat.

 

Markus Amm, Installationsansicht Galerie Guenther, Berlin, 10, Foto CL

Markus Amm, Installationsansicht Galerie Guenther, Berlin, 10, Foto CL

Weiß erzeugt eine unvergleichliche Sensibilität für seine nicht-weißen Bestandteile. So stellt es die zu seiner Erfassung notwendige Trennschärfe selbst her, indem der Blick ins vermeintlich einheitlich Helle alsbald die darin verborgenen Unterschiede offenbart.

Das lustvolle Auflösen anfänglich kompakter Homogenität in eine Vielzahl verschiedener Helligkeiten, Schärfen und Entfernungen ist wohl auch der Grund, weshalb wir bis heute hartnäckig an der inzwischen mehrfach widerlegten Illusion festhalten, die Heroen und Göttinnen der Antike habe man sich weiß gewandet und ungeschminkt vorzustellen. Trotz pädagogisch ambitionierter Ausstellungen solcher Statuen entsprechend des historisch belegten, papageienbunten Dresscodes der griechischen Klassik, bevorzugt die Mehrheit heutiger BetrachterInnen die unbemalte, und daher erst richtig „edle Einfalt, stille Größe“, wohl wissend, dass sie eine geschichtliche Fälschung ist.

 

Antonella Zazerra, Installationsansicht Art Cologne, 11, Foto CL

Antonella Zazerra, Installationsansicht Art Cologne, 11, Foto CL

Während andere monochrome Flächen zwar ebenfalls sensibilisieren, leisten sie dem investigativen Blick dennoch mehr Widerstand. Je mehr Licht eine Farbe absorbiert, desto eindringlicher müssen wir sie fixieren, wohingegen Licht reflektierende Flächen uns die Arbeit des scharfsichtigen Beleuchtens abnehmen. Das als Schneeblindheit bekannte Kippen des Lichten ins Überbelichtete inszenierte einst Terence Koh in einer Installation namens Captain Buddha, die nur durch eine Luke erreichbar war. Die beim Eintreten erlebte Blendung verdankte sich weniger einer einzelnen Lichtquelle als vielmehr dem erbarmungslosen Weiß der Situation – ein optischer Nebel, aus dem die Konturen symbolisch aufgeladener Gegenstände nur widerwillig herauf dämmerten. Dieses Auflösen der Formen in einem nicht fassbaren, gleißend hellen Raum ähnelt einer in buddhistischer Terminologie als Leerheit umschriebener psychischer Erfahrung, die Koh wie folgt erläutert: „schon immer wollte ich eine ausstellung über die ideen des buddhismus machen, sie werden heutzutage sehr gebraucht“.

 

Stand von Grossetti Arte Contemporanea auf der Art Cologne, 11, Foto CL

Stand von Grossetti Arte Contemporanea auf der Art Cologne, 11, Foto CL

Wie dem auch sei, wurde die philosophische Kapazität des Weiß, über sich hinaus ins Nicht-Materielle zu verweisen, traditionell auch Gold zugesprochen. Anders als diese grundsätzlich mit dem Wert eines Edelmetalls assoziierte Farbe aber wahrt Weiß eine gedankliche Freiheit, welche die Betreiber der Mailänder Galerie Grossetti Arte Contemporanea veranlasste, der diesjährigen Art Cologne ein Kuckucksei namens White Meditation Room ins Nest zu legen. Und in dem war tatsächlich drin, was drauf stand. Das Aufgebot einer Vielzahl (mehr oder weniger) weißer Exponate erzeugte eine kontemplative Ruhe und fungierte somit als exotische Insel inmitten des Rummelplatzes der Messehalle.

 

Stand von Grossetti Arte Contemporanea auf der Art Cologne, 11, (Detail), Foto CL

Stand von Grossetti Arte Contemporanea auf der Art Cologne, 11, (Detail), Foto CL

Es ist seine Doppelnatur, die Weiß als Synthese aller Farben über diese hinausgehend ins Immaterielle erhebt. Denn es ist materielle Präsenz sowie deren Abwesenheit, eine barrierefreie Spielwiese umherwandernder Blicke, die gleich darauf zur Implosion örtlicher Begrenzungen und somit vollständigen Orientierungslosigkeit führen kann, eine Projektionsfläche zur dramatischen Inszenierung subtiler Abweichungen, die ebenso zur Auslöschung jeglicher Unterscheidung führt. Dieser Verweis des Gegenständlichen aufs Nicht-Gegenständliche nebst aller vorher beschriebenen Eigenschaften hat jedenfalls bewirkt, dass sich meine Festplatte unter dem Etikettenschwindel „Malerei“ und „Skulptur“ mit allerlei Varianten weißen Rauschens füllt, die innerhalb der Kakophonie von Messe- und Ausstellungshallen den Durchblick ins Jenseits von Hinguckern und Must-Sees erlauben.

 

Stand von Grossetti Arte Contemporanea auf der Art Cologne, 11, (Detail), Foto CL

Stand von Grossetti Arte Contemporanea auf der Art Cologne, 11, (Detail), Foto CL

 





Zum Tod des Fotokünstlers Bernhard Blume: Erinnerung an eine Dortmunder Ausstellung von 2006

Der 1937 in Dortmund geborene Fotokünstler Bernhard Blume ist mit 73 Jahren in Köln gestorben. Aus diesem Anlass eine Erinnerung an eine Dortmunder Ausstellung:

Dortmund. Ja, was machen d i e denn da?! Wir sehen ein Paar im ehedem romantischen deutschen Wald. Der Mann kniet in anbetender Haltung vor einem Baum, später wird er gar himmelwärts fahren. Derweil hängt die Frau hilflos im Geäst, zappelt eingeklemmt zwischen zwei Stämmen oder saust unsanft hernieder.

Die fotografisch auf großen Schwarzweiß-Tafeln festgehaltene Groteske füllt jetzt den Lichthof des Dortmunder Ostwall-Museums. „Metaphysik ist Männersache“ heißt die Arbeit von Anna und Bernhard Blume. Das ist, wie eigentlich alles bei den Blumes, ironisch gemeint. Bernhard Blume erklärt: „Männer schwelgen schnell in abstrakten Theorien, Frauen bleiben selbst beim Philosophieren bodenständig.“ Er selbst ist freilich in Dortmund geboren und aufgewachsen, also kraft westfälischer Herkunft eben doch ein Mann, der nicht so leicht abhebt…

15 Fotoserien und zahlreiche Zeichnungen des renommierten Künstler-Ehepaares sind jetzt in Dortmund zu sehen. Beim Rundgang kommt man aus dem Grinsen kaum heraus. Denn es ist durchweg hellwache und witzige Kunst.

Noch in den 70er Jahren, in der Wohnung von Bernhard Blumes Mutter zu Dortmund-Kley, ist die Fotoreihe „Ödipale Komplikationen“ entstanden. Da tollt er mit ihr geradezu krähend haltlos auf einem alten Sofa herum, auch schäkern und tanzen die beiden. Die Szenenfolge flimmert zwischen spießiger Gemütlichkeit und orgiastischem Spaß. Zum Piepen jedenfalls! Und man darf Bernhard Blume glauben, wenn er feixend anmerkt: „Ich hatte übrigens nie einen Ödipus-Komplex, da war nichts mit Mami.“

Mit seiner Frau Anna hat er eine nicht minder verrückte „Mahlzeit!“ (Titel) eingenommen. Liturgische Anspielungen vermengen sich in dieser Bilderserie mit niederer Alltäglichkeit. Kartoffel-Quadrate im Mund verformen die Gesichter. Das Ganze endet im blitzartigen Erbrechen, von der Fotolinse gnädig unscharf erfasst. Bei der „Vasenekstase“ fliegt Bernhard Blume mit dem Gefäß schräg und fast surreal durchs Zimmer. Die Wirklichkeit ist tückisch, es fließen so manche Energieströme zwischen Mensch und Dingwelt. Dabei scheint es auch Anflüge ungeahnter Befreiung zu geben; ganz so, als könnte die lästige Schwerkraft auch mal nachlassen.

„de-konstruktiv“ heißt die ganze Schau. Tatsächlich werden hier, im frech-fröhlichen Sinne der Aktionskunst aus den 60er Jahren, starre Gegebenheiten, Gewohnheiten und (kleinbürgerliche) Rituale aufgebrochen, zum Tanzen gebracht – stets freundlich lächelnd, was allerdings auch enthüllend wirken kann: In einem Konvolut von Bleistift-Zeichnungen hat Anna Blume die konstruktivistisch« Moderne (Malewitsch, Mondrian etc.) verulkt. Deren Geometrien wirken, als Muster auf T-Shirts verewigt, nur noch wie billige Dekoration. Wie furchtbar ernst und wichtig sich die Urheber damals genommen haben, dokumentieren daneben ihre gesammelten Lehrsprüche.

Seit einiger Zeit arbeiten die Blumes mit digitaler Fotoausrüstung. Früher haben sie ihre herrlichen Farcen vor dem Ablichten penibel planen müssen, heute hilft die Nachbearbeitung am Computer. Bernhard Blume: „Von solchen Möglichkeiten haben wir immer schon geträumt.“

„de-konstruktiv. Bilder aus dem wirklichen Leben“. Dortmund, Museum am Ostwall. 19. Nov. bis 11. Feb. 2006. Geöff. Di/Mi/Fr 10-17, Do 10-20, Sa 12-17 Uhr. Eintritt 3 Euro, Katalog 24,80 Euro

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Infos
• Bernhard Blume wurde 1937 in Dortmund geboren, seine Frau Anna im selben Jahr im westfälischen Bork.
• Die beiden lernten sich in den 50er Jahren bei einem VHS-Zeichenkursus im Dortmunder Fritz-Henßler-Haus kennen.
• Bernhard Blume arbeitete damals einige Jahre lang in Dortmund als Maler für Kinoplakate: „Das war Akkordarbeit“, sagt er.
• Die Blumes leben seit Jahrzehnten in Köln. Doch Bernhard Blume sehnt sich mitunter nach seiner Heimatstadt: „Ich hänge an Dortmund.“

Ausriss der WR-Kulturseite vom 18.11.2006 (Foto zum Zeitungsartikel: Ralf Rottmann)

Ausriss der WR-Kulturseite vom 18.11.2006 (Foto zum Zeitungsartikel: Ralf Rottmann)

(der Artikel – siehe auch Repro-Ausschnitt – stand am 18. November 2006 in der „Westfälischen Rundschau“, das Foto zum Zeitungsbericht stammt vom WR-Kollegen Ralf Rottmann)




Als der Widerstand wuchs: Gesichter der „Wende“

Des welthistorischen Tages wollen wir auch an dieser Stelle gedenken: Vor 50 Jahren, am 13. August 1961, hat das DDR-Regime mit dem schändlichen Mauerbau begonnen. Doch wir zäumen die Sache von hinten auf und betrachten ein Buch über die „Wende“ von 1989, die diese Mauer schließlich zu Fall gebracht hat.

Gesine Oltmanns (Foto: Dirk Vogel)

Gesine Oltmanns (Foto: Dirk Vogel)

Der Dortmunder Fotograf Dirk Vogel porträtiert in dem Bildband „Gesichter der Friedlichen Revolution“ insgesamt 63 Protagonist(inn)en jener bewegenden Phase deutscher Geschichte. Es sind durchweg aufrechte, anständige Charaktere, deren Lebensleistung hohen Respekt verdient. Unter teilweise großem persönlichem Risiko haben sie Courage in einer Diktatur bewiesen. Auch wenn einige es selbst nicht gerne hör(t)en, so darf man sie wohl Heldinnen und Helden der Zeitgeschichte nennen, Vorbilder weit über den Tag hinaus. Doch selbst Helden sind mitunter fehlbar.

Die kurzen Begleittexte zu den fotografischen Porträts stammen von 23 verschiedenen Autoren, sind also zwangsläufig von schwankender Qualität. Hie und da würde man sich wünschen, die Dargestellten mit deren eigenen Äußerungen wiederzufinden. So klingt manches etwas steril, weil praktisch nur von makellosen Menschen die Rede ist. Das liest sich schon mal wie Hagiographie oder landläufige Nachrufprosa. Ein Buch über Leute, die entschieden Widerspruch erhoben und Widerstand geleistet haben, dürfte ruhig etwas kontroverser sein. Hier aber hat es den Anschein, als würden (hochinteressante) Biographien im Idealzustand eingefroren und somit gleichsam stillgestellt.

Doch mit und zwischen den Zeilen lernt man auch hinzu. Von prägnanten Einzelheiten abgesehen, entsteht nämlich eine Art Typologie des Widerstands. Es werden die verschiedenen Triebkräfte sichtbar, die zur Friedlichen Revolution geführt haben. In erster Linie sind hier kirchliche Anstöße zu nennen. Auch sind die widerständigen Kräfte zuvörderst bürgerlich im traditionell besten Sinne.

Carlo Jordan (Foto: Dirk Vogel)

Carlo Jordan (Foto: Dirk Vogel)

Bei vielen stand am Beginn des Aufbegehrens die Verweigerung des Waffendienstes bei der NVA (Nationale Volksarmee der DDR), also ein im weiteren Sinne friedensbewegter Ansatz. Andere kamen über umweltpolitische Fragen (Tschernobyl, Bitterfeld, AKW-Bau bei Stendal), Frauengruppen oder kulturelle Impulse allmählich zur grundlegenden Kritik am SED-Staat. Fast alle sind von der Stasi drangsaliert worden und haben Haftstrafen verbüßt. Doch man erfährt auch, dass jede auf Einschüchterung angelegte Repression verschärften Widerstand erzeugen kann. Eines steht fest: „Ostalgie“ kann hier wirklich nicht aufkommen.

Im Gegensatz zu den Texten sind Dirk Vogels eindringliche Schwarzweiß-Fotografien (grundsolide aufgenommen mit Leica-M-Modellen der Jahre 1956 und 1963), obgleich den Personen jeweils individuell angemessen, nahezu „aus einem Guss“. Es wird durchweg ein beachtliches Niveau gehalten, Vogel erweist sich als Porträtist von einigen Graden. Schmerzliche und freudige Lebenserfahrungen (welch eine Euphorie hat 1989 geherrscht, die hernach vielfach enttäuscht wurde) meint man den Gesichtern anzusehen, zuweilen auch Charisma, Trotz oder Verzagtheit, mehr oder weniger milde Ironie über die wechselhaften Zeitläufte, doch praktisch keine Verbitterung. Und immer wieder leuchtet in den Gesichtern die spürbare Bereitschaft zur Mitmenschlichkeit auf. Lebensschätze, die in Wort und Bild aufgehoben werden müssen. Nicht zuletzt als Wegzehrung für kommende Zeiten.

Dirk Vogel hat Erfahrungen mit womöglich heiklen, jedenfalls vielschichtigen Themen gesammelt. So hat er sich fotografisch intensiv und leidenschaftlich mit jüdischem Leben in Deutschland, mit Sinti und Roma sowie mit dem Alltag behinderter Menschen befasst. Das alles verlangt Gespür für Nuancierungen und Empfindlichkeiten. Bemerkenswert überdies, dass ein Fotograf aus dem deutschen Westen dieses hauptsächlich östliche Feld bestellt. Vogel war 1989 Bundeswehr-Soldat in Niedersachsen. Als immer mehr DDR-Flüchtlinge kamen, sollte die Kaserne vielen von ihnen zunächst als erste Bleibe im Westen dienen. Die Begegnungen von damals waren prägend.

Walter Schilling (Foto: Dirk Vogel)

Walter Schilling (Foto: Dirk Vogel)

Ein wenig beneidet man den Fotografen, dass er für sein aufwendiges Projekt all diese Menschen der „Wendezeit“ persönlich kennen lernen durfte. Um nur einige aufzuzählen: Wolf Biermann, Marianne Birthler, Bärbel Bohley, Rainer Eppelmann, Lilo Fuchs, Katja Havemann, Roland Jahn, Freya Klier, Stephan Krawczyk, Vera Lengsfeld, Markus Meckel, Matthias Platzeck, Lutz Rathenow, Friedrich Schorlemmer, Konrad Weiss. Und all die anderen. Sie hatten jeweils die Wahl des Ortes und des Ambientes, doch die Kompositionen waren Aufgabe des Fotografen. Man ahnt dieses (niemals feindselige) Widerspiel in manchem Bild.

„Gesichter der Friedlichen Revolution. Fotografien von Dirk Vogel“. Mit einem Essay von Claudia Rusch. Herausgeber: Robert-Havemann-Gesellschaft e. V. (Archiv der DDR-Opposition). 144 Seiten, 19,80 Euro (ISBN: 978-3-938857-10-6)

Hier nochmals der Link zu sämtlichen Fotos des Bandes:
http://vogel-d.de/Frei/index.html
Ausgewählte Bilder sind verschiedentlich ausgestellt worden, u. a. in Berlin.
Am 3. Oktober 2011 (ab 19 Uhr) hält der Fotograf Dirk Vogel einen Vortrag beim Bochumer Kulturrat (Lothringer Straße 36 c) und stellt einige Bilder aus, siehe auch: http://www.kulturrat-bochum.de/index.php?id=141
Nach den Sommerferien 2012 (!) wird die Städtische Galerie Iserlohn alle 63 Porträts zeigen.

Alle Abbildungen sind dem besprochenen Band entnommen (Fotos: Dirk Vogel)




Sie sind unter uns – Aussteiger des digitalen Zeitalters

Zum Erstaunen des mit dem üblichen Maschinenpark mobiler Endgeräte ausgestatteten Endverbrauchers geschieht es immer wieder: Inmitten einer telefongrafierenden Menge stemmt jemand eine voluminöse Sucherkamera vors Gesicht und setzt mit Betätigung des deutlich hörbaren Auslösers eine Reihe weiterer Schnapp- und Klickgeräusche aus der Frühzeit des Menschen in Gang – bis hin zum Summen des Motors, der den Rücktransport der Filmspule nach der letzten Aufnahme untermalt.

Analoge Telefonie (Ward "Charging-Bull", 10, Foto web)

Analoge Telefonie (Ward „Charging-Bull“, 10, Foto web)

Abhängig vom Lebensalter reicht die Reaktion der Umstehenden vom interessierten „Was machst du da?“ der im digitalen Zeitalter Aufgewachsenen bis zur nostalgischen Rührung ihrer Vorfahren, die mit derlei mechanischen Tonfolgen Erinnerungen verbinden: Der Geruch von Filmdöschen, Fixierbad, von Staub grillenden Diaprojektoren, die haptischen Feinheiten von Baryth-Papier, sowie die erlesene Schönheit reich geschmückter Umschläge von Fotoalben.

Analoge Bürokommunikation (Graham "Rheinmetall", 03, Foto web)

Analoge Bürokommunikation (Graham „Rheinmetall“, 03, Foto web)

Auf ihre liebenswerte Fortschrittsverweigerung angesprochen führen die analogen Felsen in der Pixelbrandung eine überschaubare Palette von Argumenten an: An erster Stelle die Sinnlichkeit des Materials und die der manuellen Arbeit im Labor, die Spannung der Zeitverzögerung durch das Einschicken von Farbfilmen nebst der Überraschung angesichts der Ergebnisse, sowie die disziplinierende Wirkung der Beschränkung auf eine gegebene Anzahl kostspieliger Aufnahmen.

Und diejenigen, die diese Eigenschaften für kein Alleinstellungsmerkmal analoger Fotografie halten (schließlich treten am Bildschirm ähnliche Probleme auf) zücken die apokalyptische Keule: Alles hat einmal ein Ende, nur digitale Medien haben zwei – degenerierende Dateien und zerbröselnde Speichermedien. Als vorbildliches Gegenbeispiel verweist man auf Nega- und Positive, die sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts verlustarm erhalten haben (sprich restauriert wurden), wohingegen ungezählte geistige Errungenschaften der letzten paar Jahrzehnte auf elektronischen Speichermedien – alle mit der Haltbarkeitsdauer von Milch – begraben liegen.

Beschwörungen der Nachhaltigkeit des Althergebrachten gegenüber dem programmierten Verfall jeweils zeitgenössischer Produktion kehren seit Beginn der Industrialisierung in Gestalt der Arts & Crafts-Bewegung über das Weimarer (!) Bauhaus1 bis zu postmodernen Design-Positionen rhythmisch wieder. Und eben diese Argumente für die Überlegenheit des Unterlegenen werden auch beim derzeit standhaften Beharren auf analoger Foto- und Filmtechnologie angeführt.

Dean "Filthy Weather", 1998, (Kreide auf Schultafel), Foto Institute of Contemporary Art, Pennsylvania

Dean „Filthy Weather“, 1998, (Kreide auf Schultafel), Foto Institute of Contemporary Art, Pennsylvania

Aus der Fraktion der digitalen Refuseniks greife ich eine Künstlerin heraus, deren Gesamtwerk – Ton- und Filminstallationen, Fotografie, Objekte, Texte, Zeichnung – sich durch die sprichwörtliche Einheit in der Vielfalt auszeichnet.

Hauptsächlich im Bereich des 16 mm-Films arbeitend, gehört Tacita Dean zu den eloquentesten Verfechterinnen analoger Bilder und Töne. Eine zusammenfassende Beschreibung ihrer Filme wäre an dieser Stelle so hilfreich wie ungerecht. Deren Wirkung verweigert sich nämlich der Nacherzählung, weil ein zentrales Merkmal im ruhigen Aufzeichnen subtiler Prozesse in Natur, Kreatur und Architektur besteht. Die sich der Betrachtenden übertragende Konzentration der langen Einstellungen verdankt sich einer Fokussierung auf Feinheiten – eine mikroskopische Wahrnehmungsschulung, die das Sehfeld wie ein Zoom aufzieht.

Dean "Bubble House", 1999, Foto Institute of Contemporary Art, Pennsylvania

Dean „Bubble House“, 1999, Foto Institute of Contemporary Art, Pennsylvania

 

Der investigative Blick, der visuelle Subtexte bizarrer Landschaften und skurriler Artefakte offenlegt, richtet sich auch auf Personen, und zwar in einer Weise, die das metaphorische Potential alltäglicher Handlungen sichtbar macht, wodurch die umher schlendernden, kramenden und plaudernden ProtagonistInnen ihre eigenen Denkmäler werden. Frei von aller „Jetzt erzählen Sie mal“-Rhetorik folgt die Kamera den Koryphäen in ihrem angestammten Habitat, das sich bei der damit hervorgerufenen näheren Betrachtung als äußerst vielsagend erweist.

Apropos vielsagend: All das wollte ich eigentlich gar nicht sagen, sondern vielmehr Tacita Deans Feldzug zur Rettung des 16 mm-Films schildern.

Nachdem sie seit Jahren den Niedergang der analogen Foto- und Filmindustrie in Wort und Film begleitet hatte, veröffentlichte Dean Anfang 2011 anlässlich der Schließung des letzten auf 16 mm-Film spezialisierten Labors in Großbritannien einen Artikel im Guardian. Dabei war die Popularität analoger Medien unter KünstlerInnen durchaus gestiegen. Auf der letzten Berlin-Biennale beispielsweise lag der Anteil analoger Filme doppelt so hoch wie der digitaler. Da aber eine solche Gegenreaktion keine Geschäftsgrundlage ist, und 16 mm-Filme vorwiegend zu dokumentarischen oder künstlerischen Zwecken Verwendung finden, nicht aber für Spielfilme, wurde die Produktion eingestellt.

Dean "Opening-Swell", 1998, Foto Institute of Contemporary Art, Pennsylvania

Dean „Opening-Swell“, 1998, Foto Institute of Contemporary Art, Pennsylvania

Dean erklärt ihre Vorliebe für das Format mit dem Hinweis, ihre Filme seien Malerei näher als Kino. Die Verwandtschaft von 16 mm-Film und bildender Kunst beruhe u.a. auf der Tatsache, dass Lichtempfindlichkeit des Auges wie der fotografischen Trägermedien gemeinsame Grundlage sei. Da digitale und analoge Verfahren einander nicht über- oder unterlegen sondern schlicht verschieden sein, plädierte sie für das Aufrechterhalten von Wahlmöglichkeiten.

Freiwillige Selbstkontrolle (Beckett, Filmstill, 1964, Foto web)

Freiwillige Selbstkontrolle (Beckett, Filmstill, 1964, Foto web)

Kopfschüttelnd merkt sie gern an, der Siegeszug digitaler Medien verdanke sich dem erstaunlich bereitwilligen Verzicht auf die nahezu perfekte – nämlich analoge – Wiedergabe der Realität zugunsten trägen Masse entstellender Pixel.

Und überhaupt sei „analog“ letztlich die Sammelbezeichnung für „alles, was mir lieb und teuer ist.“

Wie dem auch sei – der volle pädagogische Wert dieses Appells wird hauptsächlich Unbedarften wie mir zuteil, die spätestens an dieser Stelle zugeben müssen, Unterschieden analoger und digitaler Medien bislang zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet zu haben. Zumindest das werden wir ändern.

1(und nur das Weimarer – nicht etwa das der nachfolgenden Phasen)




Ein Dortmunder Stillleben

Vanitas – alles Irdische ist eitel und vergänglich. Dieser Umstand ist auf barocken Bildern hinreichend beschrieben worden. Eine erfrischende Neu-Interpretation erfuhr das Genre nun durch einen unbekannten Installationskünstler auf der Dortmunder Kampstraße. Die Materialien: Mixed Media (Glasflasche, Taubenleiche, Heckenrosen).

Neu ist einerseits, dass der Anonymus organische Materialien verwendete und damit quasi die Dimension der Zeit, die Vergänglichkeit, nicht nur anhand von Symbolen andeutet, sondern gleich damit arbeitete. Schon Stunden später vermutlich wird ein unwissender Flaschensammler oder Straßenreiniger das Arrangement zerstört haben, und wenn nicht, täten Insekten das ihre, das Bild zu zerstören, indem sie das tote Tier schändeten. Auch die Heckenrosen würden verblühen.

Erfrischend ist andererseits die Erweiterung der Symbolik: Statt Geige, Schmuck oder Büchern steht hier die Pilsflasche stellvertretend für jene Dinge, denen wir Wert beimessen. Statt Totenkopf , Sanduhr, Kerze oder welkender Blume symbolisiert eine tote Taube für das jedem Leben immanente Ende. Ein Dortmunder Stillleben.

 

 




Lang lebe das Lichtbild

Weil es in diesem Beitrag etwas dauert, bis ich zum Punkt komme, hier eine kurze Einordnung: Es geht um einen Lichtbild-Vortrag der Bochumer Gruppe „Dunix“ mit dem Titel „Sex & Schimmel oder als Oma noch laufen konnte“, kürzlich zu sehen im Sissikingkong, und um Dia-Karaoke im Rasthaus Fink am Nordmarkt – zwei gelungene Versuche, eine sterbende Form der gepflegten Abendunterhaltung, eben die Dia-Schau, am Leben zu erhalten. Eingeflochten sind dabei Betrachtungen über die (Dia-)Fotografie im Allgemeinen und Besonderen. Und los geht’s!

Dia aus der Dunix-Schatzkiste

Glückliche Kindheit, dokumentiert im Dia - aus der Dunix-Schatzkiste

Es gibt eine Menge Erlebnisse, die unsere Kindern vermutlich vorenthalten werden. Zum Beispiel der Moment, in dem man ungeduldig noch im Laden die zugeklebte Tüte mit den selbst fotografierten, frisch entwickelten Fotos aufreißt. Zum Beispiel das Bezahlen solcher Fotos. (Wie, jedes einzelne Foto hat Geld gekostet?) Zum Beispiel das Gefühl, mit anderen mehr oder weniger interessierten Bekannten in einer Diashow zu sitzen, ermüdend schlecht fotografierte Landschaftsimpressionen zu betrachten und das Klicken des Projektors als hochwillkommene Abwechslung vom langatmigen Vortrag des Fotografen zu empfinden.

Dia-Shows! Für jüngere Leser: Das funktioniert so ähnlich wie eine Slideshow im Internet. Oder nein: So, als würde man sich mit einem Beamer auf die Leinwand geworfene Fotos anschauen, nur dass die Dia-Positive jeweils in kleinen Plastikrähmchen stecken und in einem Karussell auf Knopfdruck weiter und weiter, bis ins Licht befördert werden. Manchmal steckten die Dias auch falsch herum im Karussell, dann musste der Dia-Vortragende sie erst umdrehen. Manchmal war ein Steckfach leer, dann konnte man sich die feinen Unebenheiten und Kratzer auf der Linse ganz genau auf der Leinwand anschauen. „Die praktischen Vorteile des Diafilms liegen vor allem in der hohen Schärfe und Farbtreue sowie dem großen Tonwertumfang des Diapositivs. Diese Vorteile treten in der Projektion klar zu Tage“, weiß Wikipedia. Es ist nicht überliefert, ob die  fotografierende Menschheit in ihrer Masse in den 1960er, 1970er Jahren von diesen Vorteilen wusste. Überliefert ist nur, dass sie massenhaft Dias produzierte, vermutlich aus einem anderen Grund: Weil man dann so prima Dia-Shows veranstalten konnte. So kommt es, dass sich auf Flohmärkten und in Trödelhallen heute sorgfältig sortierte Dias in ihrem zierlichen Plastikrahmen in Holz- oder Plastikkisten stapeln.

Sport oder Trinken? Sporttrinken. Aus der Dunix-Schatzkiste.

Sport? Trinken? Sporttrinken - aus der Dunix-Sammlung.

Gottseidank gibt es Menschen, die damit noch etwas anzufangen wissen. Mindestens zwei Veranstaltungsreihen im Revier beleben derzeit das Format Dia-Show neu. Die Bochumer Alex Schwegl und Florian Biedermann haben irgendwann damit begonnen, Flohmarkt-Dias zu sammeln und zu sortieren – in Kategorien wie „Urlaub“, „Tiere“, „Weihnachten“ oder „Menschen vor Blumen“. Dann haben sie Serien zusammengestellt, Dramaturgien ersonnen und Musik dazu ausgesucht. Schon seit Jahren zeigen sie ihre Shows, bevorzugt im Dortmunder Sissikingkong und in Bochumer Kneipen und Cafés. Die aktuelle Show heißt „Sex & Schimmel oder als Oma noch laufen konnte“ und zeigt genau das: privatpornografische Aufnahmen aus der Zeit vor Youporn, feucht gewordene und angeschimmelte Dias (die, auf die Leinwand projiziert, von ganz erstaunlich abstrakter Originalität sind, sowohl farblich als auch kompositorisch) und Dias, in denen die Fotografen familiäre Ereignisse rund um Krankheit und Tod festhielten. Außerdem eine sensationelle, mit Avantgarde-Musik unterlegte Serie von der Riesen-Baustelle Brasilia, der futuristischen Hauptstadt Brasiliens, aufgenommen während der Bauarbeiten Ende der 1950er Jahre. Gequatscht wird während des Dunix-Lichtbildvortrags nicht – dazu ist die liebevoll ausgewählte Musik auch viel zu laut. Wenn Death Metal zu Bildern von Buffet-Schlachten läuft oder ein Liebeslied aus den 1920er Jahren zu den Szenen einer Rentner-Ehe, braucht es keine weiteren Erläuterungen.

Das ist beim Dia-Karaoke, einer Erfindung des Rasthaus Fink auf dem Dortmunder Nordmarkt, ganz anders. Hier ist das Quatschen Programm, hier kann man damit sogar einen Preis gewinnen. Dia-Karaoke ist keine durchkomponierte Show, jeder Abend verläuft anders. Dia-Serie an die Wand geworfen, die allen Anwesenden völlig fremd ist. Fremde Menschen in einer nicht näher bestimmten Zeit tun Dinge an einem unbestimmten Ort. Dazu improvisiert der Vortragende nun spontan eine Geschichte, so überzeugend, wie er nur kann. Gleiches tun die anderen Kandidaten mit Zunächst braucht es einige Freiwillige, die gegeneinander antreten wollen. Dann wird eine jeweils anderen Dia-Serien. Am Ende entscheidet das Publikum, wer die überzeugendste, verrückteste, unterhaltsamste Geschichte ersonnen hat.

Beide Veranstaltungen sind toll – weil sie Erinnerungen zurückholen und sie zugleich ironisch brechen. Und weil sie vor Augen führen, dass der Wandel von der analogen zur digitalen Fotografie weit mehr bedeutet als nur eine technische Neuerung.

Wer um 1900 fotografierte, schuf mit der Fotografie sein Bild für die Ewigkeit – ein Foto war so teuer (und so umständlich herzustellen), dass es mit heiligem Ernst zelebriert wurde. Als das Fotografieren in den 1950er Jahren erstmals für den Normalbürger bezahlbar wurde, änderte sich das Fotografierverhalten nur langsam. Zwar wurde nun viel mehr fotografiert, doch der Gedanke dahinter war der Alte geblieben: Fotografieren ist Verewigen. Fotos konnte sich zwar jedermann leisten, doch hinter jedem „Klick“ lag noch immer eine bewusste Entscheidung, eine Komposition („Stell dich mal da hin!“). Ich hinterlasse der Nachwelt ein Bild von mir und meinem Leben, so wie ich von anderen gesehen werden möchte.

So erklären sich all die Aufnahmen von Landschaften und Städten (Seht her, dort war ich!), von Ehemännern und -frauen, Kindern und Haustieren vor bunten Blumen (So harmonisch ist mein Familienleben!), von Statussymbolen wie Autos, Wohnwagen, Fernsehern und Schrankwänden (Das kann ich mir leisten!) und Feierlichkeiten (So beliebt bin ich, so lustig ist mein Leben!).

Wer ist das? Und wieso so bunt? Aus der Dunix-Schatzkiste.

Der Umbruch, den die digitale Fotografie mit sich bringen wird, ist vielleicht noch revolutionärer als der zwischen den Anfängen der Fotografie und ihrer Massentauglichkeit. Wenn man für Bilder nicht mehr zahlen muss und Speicherplatz fast unbegrenzt vorhanden ist, wird viel, viel, viel mehr fotografiert. Gleichzeitig sind die Fotografien erst mal nicht greifbar, sondern bleiben Daten in privaten Speichermedien – so lange, bis sie zum Beispiel in Communities veröffentlicht werden. Dass diese Umstände Auswirkungen auf die Motivwahl, auf das Fotografieren selbst haben, liegt auf der Hand. Welche, das werden wir vielleicht in einem halben Jahrhundert erfahren. Dann, wenn unsere Enkel oder Urenkel unser Fotomaterial kreativ weiterentwickeln.




Mythos Minox: Nicht nur für Spione

Wer weiß noch, was eine Minox ist? Selbst in manchen Fotofachgeschäften kann man nicht mehr sicher sein, dass dort einschlägige Kenntnisse über den einstigen Mythos der Kleinstbildfotografie (Negativformat 8 x 11 Millimeter) vorhanden sind. Ein Jammer.

Etwas ältere Leute, sofern nicht allseits desinteressiert, erinnern sich wahrscheinlich: Das waren doch diese Mini-Kameras, mit denen damals so viele Spione ihre illegalen Aufnahmen gemacht haben. Das ist zwar zu kurz gegriffen, aber sicherlich richtig. Die Liste prominenter Minoxianer früherer Tage ist jedenfalls lang, sie reicht von Queen Elizabeth bis Heinz Erhardt und Götz George.

Ausführlich erfährt man die Einzelheiten jetzt (etwas abseits von den üblichen Kulturpfaden) im Stadtmuseum zu Iserlohn. Dort breitet der Hagener Sammler Reinhard Lörtz noch bis zum 19. April seine Minox-Kollektion aus. Er weiß so gut wie alles über das Phänomen. Wenn sich Privatleute derart leidenschaftlich in ein Hobby versenken, so häuft sich eben manches Spezialwissen an.

Erfinder der fotografischen Winzlinge war in den 1930er Jahren der hochbegabte Tüftler und Autodidakt Walter Zapp (1905-2003), der anfangs in seiner Geburtsstadt Riga (Baltikum) wirkte. 1936 lag die noch nicht zum Verkauf bestimmte Ur-Minox vor. Zapp, so geht die Legende, war höchst betrübt, als er erfuhr, wer 1938 der erste Erwerber eines marktreifen Modells war: ein osteuropäischer Diplomat. Da fing’s also offenbar schon an mit den Heimlichkeiten.

Alles andere wäre aber auch verwunderlich gewesen. Denn eine Kamera, die flugs in jeder Jackentasche verschwinden konnte, rief geradezu nach hinterlistigen Anwendungen. So gab’s denn auch bald passendes Spionage-„Zubehör“ wie etwa Rasierpinsel, in deren Holzgriff der Fotoapparat über Staatsgrenzen geschmuggelt werden konnte.

Nach 1945 wurden die Kameras in Wetzlar bzw. zwischenzeitlich in Heuchelheim (Kreis Gießen) gefertigt. Im „Kalten Krieg“ kam die ganz große Zeit der Minox. Auch der DDR-Topspion Günter Guillaume, der sich das Vertrauen des Bundeskanzlers Willy Brandt erschlichen hatte, soll auf dieses offenbar zuverlässige Arbeitsgerät zurückgegriffen haben. Eine Folge war bekanntlich der Kanzlersturz im Mai 1974.

Kurios: Erst sehr spät ließ sich die Firma Minox die längst berühmte Markenbenennung schützen, als nämlich in den USA Salben und Seifen gleichen Namens angeboten wurden. Verwechslungsgefahr war da eigentlich nicht gegeben.

In der reichlich bestückten Iserlohner Vitrinenschau sieht man die praktisch lückenlos dokumentierte Entwicklung der verschiedenen Baureihen. Die Vielfalt der Geräte, die sich hinter Kürzeln wie Minox A, B (ab 1958), C (ab 1969), BL, LX verbergen, ergibt weit verzweigte Stammbäume. So unübersichtlich ist diese „Familie“, dass nur der Eingeweihte diverse Fälschungen als Markenpiraterie erkennt. Auch solche Täuschungs-Exemplare finden sich in der Ausstellung, überdies etliche Sonder-Editionen wie etwa jene Minox-Modelle, die für besonders betuchte Kundschaft mit einer 24 Karat-Goldschicht veredelt wurden.

Original-Schaukästen und andere Reklamemittel, die im Lauf der Jahrzehnte eigens für die Kultmarke eingesetzt wurden, zeugen vom wandelbaren Zeitgeist. Ein Stoffteddy mit Minox-Mütze ist das Relikt einer gemeinsamen Werbeaktion mit der nicht minder legendären Firma Steiff. Einschlägige Literatur und Zubehör (Filme, Stative, Taschen etc.) runden den musealen Minox-Kosmos ab.

Wie es bei solchen Ausstellungen mit Nostalgiefaktor häufig zu gehen pflegt: Der Ablauf der Zeiten erscheint (gewollt oder ungewollt) als allmähliche Entfernung von den einzig wahren, authentischen Ursprüngen, mithin als gewisse Dekadenz.

Reinhard Lörtz hat sich zunächst vor allem auf Trödel- und Sammlermärkten umgetan, später auch bei Internet-Auktionen. „Bis vor einiger Zeit konnte man dort noch fündig werden, heute ist der Markt weitgehend leergekauft.“

Natürlich haben sich Minox-Sammler in einem Club organisiert, der weltweit rund 400 (überwiegend ältere) Mitglieder hat. Eins steht für den Bahnangestellten Lörtz’ fest: „Wenn ich in ein paar Jahren pensioniert bin, habe ich endlich Zeit, ein Minox-Museum einzurichten – irgendwo in Westfalen.“

„Die Minox“. Noch bis zum 19. April im Stadtmuseum Iserlohn, Fritz-Kühn-Platz 1. Geöffnet Di, Mi, und Fr. bis So. 10-17, Do 10-19 Uhr (Karfreitag, Ostersonntag und Ostermontag geschlossen). Eintritt frei. Tel.: 02371/217-1963.




Okkulte Kunst: Vision und Wahn

Mit spiritistischen Séancen und Tischerücken fing es oft an. Bald folgte das manische Malen: Es entstanden dann Hunderte, ja Tausende von „medialen” Bildern – angeblich aus dem Jenseits diktiert oder von höheren Wesen „befohlen”. Das Museum Bochum zeigt jetzt solch okkulte Kunst, deren Urheber nicht selten in der Psychiatrie endeten.

Es ist keine Grusel-Schau. Aber es sind Grenzgänge zwischen Vision und Wahn, die einen nicht kalt lassen. Beklemmend ist vielfach die Zwanghaftigkeit, immer und immer wieder dieselben Formen und Figuren auf Leinwand oder Papier zu bannen. Mal sind es Ornamente, mal schier endlose Schriftzüge oder entseelt starrende Augen, die den Betrachter durchbohren. Solche Botschaften rühren an die Ängste jedes Menschen.

Manchmal nah an
der Avantgarde

Es waren oft einfache Bäuerinnen oder Handwerker, die für übersinnliche Einflüsterungen empfänglich waren, als „Medien” oder Hellseher bekannt wurden und irgendwann dem Bilderwahn verfielen. Gelegentlich war ein Schock (etwa der Tod naher Angehöriger) der Auslöser. Doch es gibt viele verschiedene Lebenswege in diese Außenbezirke der Kunst.

Das Bochumer Museum fasst auch „Geisterfotografie” in den Blick. Da tauchen unversehens schemenhafte, lichtumflorte Gestalten „aus dem Jenseits” neben den vermeintlich medial begabten (und gepeinigten) Menschen auf. Häufig wurden in solchen Fällen Manipulation beim Entwickeln der Filme nachgewiesen. Doch wer weiß schon felsenfest, ob es nicht doch Erscheinungen gibt, von denen sich unsere Schulweisheit bisher nichts träumen lässt?

Monströs sind mitunter die Dimensionen: Rund 500 000 Zeichnungen hat die 59-jährige Berlinerin Vanda Vieira Schmidt zu riesigen Säulen aufgeschichtet. Ihr erklärtes Ziel ist die endgültige Rettung des Weltfriedens. Es ist ein unheimliches Ankämpfen gegen diffuse Bedrohungen, die es ja gibt und die sie vielleicht nur stärker spürt als gewöhnliche Menschen.

Gehören derlei Bilder ins Museum? Aber ja! Unbedingt. Haben denn nicht auch die großen Surrealisten die Trance, den unbewussten „Automatismus” beim Malen und Schreiben gepriesen? Auch das war also (ob mit oder ohne Drogen) Inspiration, die auf irrationale Weise „eingegeben” wurde. Gar nicht zu reden vom Genie, das gemeinhin als „verrückt” gilt.

Von der anderen Seite her besehen: Einige der in Bochum gezeigten Werke sind verblüffend nah an den Avantgarden ihrer jeweiligen Zeit. Die Französin Marguerite Burnat-Provins (1872-1952) bewegt sich auf den Höhen anerkannter Symbolisten und Jugendstilmeister. Die Schwedin Hilma af Klint wagt den Sprung in die Abstraktion ungefähr zur gleichen Zeit wie der berühmte Wassily Kandinsky. Und die textreichen Schaukastenbilder des Amerikaners Paul Laffoley, die von Kontakten mit Außerirdischen und phantastischen Zeitreisen künden, ähneln ausgeklügelten Schöpfungen der Konzeptkunst.

Auch biographisch gibt es Berührungspunkte: Der Surrealist Antonin Artaud hat seinerzeit den selben Psychiater aufgesucht wie der Franzose Raphael Lonné. Dessen Bilder wiederum kaufte der Künstler Jean Dubuffet, der sich zu seinen wildwüchsigen Werken (Stichwort „Art brut” = „rohe Kunst”) von Bildfindungen so genannter „Geisteskranker” anregen ließ. Fließende Grenzen.

Doch beim wahnhaften Malen scheint über kurz oder lang jegliche Art der ästhetischen Überprüfung zu schwinden. Die Formen mäandern regellos dahin – oder sind im Gegenteil zwanghaft geordnet, in stets gleichen Wiederholungsmustern angelegt. Schein-Ordnungen, die sich gegen inneres Chaos stemmen. Diese Innenwelten wuchern zu kompletten Wahn-Systemen. Wenn man in diese Gefilde auch nur ein paar Schritte weit folgt, ist es schon schaurig genug.

„The Message. Kunst und Okkultismus”. Museum Bochum, Kortumstr. 147. Bis 13. April. Di-So 10-17 Uhr. Eintritt 3 €. Katalog 28 €.

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AM RANDE

Zur Bochumer Schau gehört auch ein 1967 gedrehter Film. Der Streifen handelt vom US-Liftboy Ted Serios (1918-2006), der in den 1960er Jahren angeblich seine Gedanken auf Polaroid-Sofortbilder bannen konnte. Unter Psychologen-Aufsicht kam das Polaroid-Modell 95 zum Einsatz – mit Blitz, Blende 3, Entfernung auf „unendlich”. Vors Objektiv wurde ein Zylinder gesetzt, um Gedanken zu „bündeln”. Mal tauchte auf den Fotos ein schemenhafter „Neandertaler” auf, mal ein verschwommener „Bus”. Am 15. Juni 1967 war Schluss mit dem (faulen?) Zauber. Danach gelangen Serios keinerlei „Gedankenfotos” mehr. Schon vorher brauchte er gelegentlich einige Flaschen Bier als Ansporn.




Alles ist schön – besonders das Geld / Ein Phänomen des Zeitgeistes: Heute vor 20 Jahren starb der Pop-Künstler Andy Warhol

Von Bernd Berke

Der Kerl war ziemlich unfassbar, und er gibt bis heute Rätsel auf. Eine verstörend maskenhafte Erscheinung war diese bleiche männliche Diva – mit starkem Hang zu Kommerz und Glamour, doch auch zum düsteren Inferno des Lebens. Heute vor 20 Jahren ist der legendäre Pop-Künstler Andy Warhol nach einer Gallen-Operation gestorben – unter letztlich ungeklärten Umständen.

Der vormalige, schon gegen Ende der 50er Jahre gut bezahlte Werbegrafiker hat nach 1960 gar vieles in die Kunst eingeschleust, was vorher nicht drin war. Vor allem: blanke Reklame-Ästhetik, grelle Konsum-Fetische. Und eine „coole“ Haltung, wie man sie vorher kaum gekannt hatte. Nicht nur die Kunst, auch die Gestalt des Künstlers hat sich mit ihm noch einmal schillernd gewandelt. Gelegentlich hat Warhol gar das Menschenbild überschritten und sich zum quasi maschinellen Phänomen stilisiert.

Glorienschein für die banale Welt der Waren

Bevor die Linke sich anschickte, den „Konsum-Terror“ zu geißeln, glorifizierte Warhol die banale Warenwelt mit Serienbildern von Campbell’s-Suppendosen, Cola-Flaschen und Dollarnoten, die unter seiner Hand zu Ikonen der Zeit wurden. Ehe liebreizend harmlose Hippies von befriedeten Blumenwelten träumten, vervielfältigte er 1963 ungeniert schockierende Pressefotos von Unfällen und Selbstmördern ins Riesenhafte. Und wo andere mal vorsichtig Haschisch probierten, kursierten in Warhols kaputten Kreisen ganz selbstverständlich die harten Drogen.

Andy Warhol hat sich und seine Kunst vermarktet wie niemand zuvor. Ja, er hat just Geschäfte als Kunstform gepriesen. Zitat: „Ein gutes Business ist die faszinierendste Kunst überhaupt.“ So könnte auch ein Börsen-Guru reden. Joseph Beuys behauptete, jeder Mensch könne ein Künstler sein. Warhol postulierte: „Alles ist schön.“

Anything goes – auch schon mit Videotechnik

Klingt ja wirklich tolerant, kann aber geradewegs auf Verächtlichkeit und auf fürchterliche Nivellierung hinauslaufen. Alles gilt dann gleichermaßen viel oder wenig. Warhol ist Vorläufer einer so genannten Postmoderne, die sich um ästhetische Wertigkeiten und Hierarchien nicht mehr bekümmert: Anything goes. An der Spitze des Zeitgeistes betrieb er seine Sache so multimedial, wie es seinerzeit nur irgend möglich war. Auch die Videotechnik hat er als einer der ersten Künstler genutzt. Hätte er das Internet schon gekannt, so hätte er es wohl entscheidend mitgeprägt.

In seiner New Yorker „Factory“ (Fabrik) jedenfalls, wo sich Durchgeknallte jeder Sorte unter seinem Leitstern ausleben durften, entstanden nicht nur Siebdruck-Bilder (Porträt-Motive von Monroe bis Mao) wie am Fließband. Hier tobte sich die von Warhol geförderte Rockformation „Velvet Underground“ (Lou Reed, John Cale, Nico & Co.) im Stroboskop-Gewitter aus. Warhol schuf das berühmte Bananen-Cover der finster charismatischen Gruppe.

Monströse Filme aus der „Factory“

Im Umfeld der „Factory“ entstanden monströse Filme wie etwa „Empire“ – ein achtstündiger, starrer Kamerablick auf das Empire State Building. Oder wüste Streifen mit schäbigem Porno-Touch wie „Flesh“, „Trash“, „The Chelsea Girls“ und „Blue Movie“. Es war Warhol keinesfalls wurscht, was diese chaotische Werkstatt ausstieß. Alles musste am Ende seinen Stempel tragen. Trotz allem Laissez-faire ließ er in diesem Punkt nicht mit sich spaßen. Er galt als „Kontrollfreak“.

Wie ein Vampir, der das Leben aussaugt, fotografierte Warhol alles und jeden mit seiner Polaroid-Sofortbildkamera (damals eine avancierte Apparatur), am liebsten freilich Prominenz wie etwa Brigitte Bardot oder Bianca Jagger, die er auch bei den berüchtigten Partys im New Yorker „Studio 54″ um sich scharte. Denn da witterte er stets schon den Duft des Geldes, das diese Bilder einbringen würden. Er verlangte (und bekam) alsbald um die 30 000 Dollar für jedes Porträt.

Apropos: Die Preise für seine Werke haben jüngst noch einmal enorm zugelegt. Ein Mao-Bildnis von 1972 erzielte kürzlich in New York den Rekordpreis von 17,4 Millionen Dollar. Solche Zahlen hätten Warhol sicherlich gefallen.

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ZUR PERSON

Eltern aus der Slowakei

  • Warhol wurde am 6. August 1928 als Andrej Warhola in Pittsburgh (USA) geboren.
  • Seine Eltern waren slowakische Einwanderer.
  • Mit 21 zog er nach New York, wurde Werbegrafiker und zeichnete für Magazine wie „Glamour“, „Vogue“ oder „Harper’s Bazaar“.
  • Seine erste Ausstellung als Künstler hatte er 1962 in einer Galerie in Los Angeles. Er zeigte Bilder von Campbell’s-Suppendosen.
  • 1963 gründete er die „Factory“ in New York.
  • 1968 schoss die radikale Frauenrechtlerin Valerie Solanas auf Warhol. Er wurde lebensgefährlich verletzt.
  • Später vermarktete er jene Bilder, die durch die Schüsse durchlöchert worden waren .. .

 




Wenn Autoren zu Autonarren werden – Bildband folgt berühmten Schriftstellern auf Fahrstrecken und in die Garagen

Von Bernd Berke

Literarischer Geist und Technik stehen einander fremd, ja feindlich gegenüber. So weit ein gängiges Vorurteil. Ein neues Buch räumt jetzt mit dem Unsinn auf. Es handelt von berühmten Schriftstellern, die Autonarren gewesen sind.

Viele Edelfedern gaben sich freilich nicht mit einem x-beliebigen Fahrzeug zufrieden. Aldous Huxley („Schöne neue Welt“) bevorzugte die Luxusmarke Bugatti, Hermann Hesse („Steppenwolf“) hielt es mit Mercedes, für Truman Capote musste es schon ein Jaguar sein. „Dschungelbuch“-Autor Rudyard Kipling und Krimi-Schriftsteller Edgar Wallace nahmen fürstlich im Rolls Royce Platz. Sie legten wohl auch Wert auf die hohe Lauf-Kultur der Motoren.

Der Pole Witold Gombrowicz („Ferdydurke“) hingegen schält sich – wie ein Foto zeigt –  aus einer verbeulten Citroën-„Ente“. Bescheidenheit war seine Zier, wenigstens in diesem Punkt. Motorradfan Samuel Beckett („Warten auf Godot“) fuhr ebenfalls diverse „Enten“, wegen arger Sehschwäche allerdings zuweilen fast im Blindflug.

Françoise Sagan war wohl die Schnellste von allen

Ulf Geyersbach hat für seinen mit aussagekräftigen Schwarzweiß-Fotos illustrierten Band „…und so habe ich mir denn ein Auto angeschafft“ (O-Ton Thomas Mann) liebevoll gründlich recherchiert. Er folgt den Geistesgrößen gleichsam bis in die Garagen. Auch schreibt er einen gepflegten, dem Gegenstand angegossenen Stil. Und so haben wir denn ein Weihnachtsgeschenk für kluge Autofans und aufgeschlossene Literaturliebhaber.

Reichlich perlen hier die Anekdoten. Im Verhältnis zum Auto zeigt sich stets ein Stück des Charakters. Françoise Sagan („Bonjour tristesse“) war, wie auch sonst im Leben, am Steuer rastlos; eine Raserin, die kein Risiko scheute und in diverse Unfälle verwickelt wurde. Sie lenkte u. a. Modelle von Maserati und Aston Martin.

James Joyce und Carl Zuckmayer galten nicht als Fahrkünstler, sondern als Könige des eleganten Aussteigens. Wenn sich der Wagenschlag öffnete, zelebrierten sie ihre Auftritte. Vladimir Nabokov nutzte ein Oldsmobile gar als Schreibstube: Auf der Rückbank soll er seinen Skandalroman „Lolita“ verfasst haben.

Als James Joyce im Taxi Marcel Proust ins Gesicht paffte…

„Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ glitt Marcel Proust gern mit etlichen PS durch die Landschaft, verguckte sich in den einen oder anderen Chauffeur und billigte dem Auto erheblich mehr Poesie zu als der Bahn. Doch als der Raucher James Joyce („Ulysses“) einmal zu ihm ins Taxi stieg und den Asthmatiker Proust anpaffte, war der pikiert. Genies unter sich…

Auch Thomas Mann („Buddenbrooks“) lenkte nicht selbst. Der Patriarch ließ sich von Frau Katia und den Kindern chauffieren. Tochter Erika brachte es später immerhin zu Rallye-Erfolgen zwischen Finnland und Marokko. Ihr Vater hingegen schätzte Autos als schützende „Austern“ – gegen die Zumutungen der schnöden Welt.

Einen expliziten Auto-Verächter gibt es auch in diesem Kabinett. Robert Musil („Der Mann ohne Eigenschaften“) konnte sich freilich von seinen spärlichen Einnahmen kein Kfz leisten. So war’s wohl auch Neid eines Besitzlosen.

Sodann die Fotos! Wer etwa den feinsinnigen Österreicher Arthur Schnitzler („Reigen“)in gen“) Beifahrer mit verwegener Rennbrille und Lederkappe sieht, dem wird dieses Bild bei künftigen Lektüren kaum aus dem Kopf gehen. Prächtig auch dieses Fundstück: Bert Brecht anno 1926 in hautenger Lederkluft, die Hände lässig in den Hosentaschen, Zigarre im Mundwinkel. Kurzum: coole Pose vor seinem neuen Opel.

Ein SteyrModell bekam der findige Brecht einst vom Hersteller als Gegengabe für gereimte Werbesprüche. Von ihm stammt aber auch dieses etwas garstige Gebrauchsgedicht: „Ford hat ein Auto gebaut / Das fährt ein wenig laut. / Es ist nicht wasserdicht / Und fährt auch manchmal nicht.“ So kann selbst aus Pannen Lyrik entstehen.

Ulf Geyersbach: „.. ..und so habe ich mir denn ein Auto angeschafft – Schriftsteller und ihre Automobile“. Nicolai Verlag. 126 Seiten Großformat, zahlreiche Schwarzweiß-Abbildungen. 34,90 €.

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ZITATE

Wie in der Höhlenzeit

  • Schriftsteller-Zitate zum Autofahren:
  • „Das Mindeste, was man von einem Großschriftsteller verlangt, ist darum, dass er einen Kraftwagen besitzt.“ (Robert Musil)
  • „Autofahren ist genau so ein Talent wie beispielsweise Dichten.“ (Walter Hasenclever)
  • „Leben ohne Auto in einer Welt ohne Pferde, das ist ein wenig unbequem…“ (Rudyard Kipling)
  • „Die Großmannssucht hat uns ja nun dahin gebracht, eine sehr prachtvolle 8cylindrige Horch-Limousine zu bestellen …“ (Thomas Mann)
  • „Bald werden wir auf unsere Vor-Auto-Zeit zurückblicken, wie wir jetzt auf unsere Höhlenzeit zurückblicken.“ (Virginia Woolf, 1927)
  • „Ich verwandelte mich in einen sehr schnellen Fahrer. In Arizona sieht man kaum je einen Verkehrspolizisten.“ (Raymond Chandler).

 




Digitales Leben ohne Lustaufschub – Abschied von Fotografie auf Film hat Folgen für die alltägliche Wahrnehmung

Von Bernd Berke

Die Nachricht klingt nüchtern: Der japanische Kamerahersteller Nikon will nur zwei herkömmliche Modelle im Programm behalten. Ansonsten verlegt er sich völlig auf digitale Apparate. Die wirtschaftliche Entscheidung setzt allerdings ein markantes Zeichen der Zeit.

Bei Canon und anderen Firmen wird es über kurz oder lang kaum anders sein. Es erhebt sich die Frage, wie lange es die Fotografie auf Film überhaupt noch gibt. Vielleicht wird sie demnächst eine sündhaft teure Sache für Spezialisten und Freaks.

Jedenfalls lässt sich daran die wachsende Geschwindigkeit in unserem Alltag ermessen. Früher konnte die Spannung, nachdem man einen belichteten Film im Fotoladen abgegeben hatte, über Tage hinweg anschwellen. Dann kamen Schnellentwickler („fertig in einer Stunde“) und Polaroid-Fotos, die noch etwas zögerlich und klebrig aus dem Gerät krochen. Jetzt drückt man halt auf den Auslöser, sieht das Resultat direkt auf dem Computer, versendet es weltweit per e-Mail oder aufs Handy und stellt es ins Internet. Toll! Aber auch ein wenig betrüblich.

Auch der Frust hat sich beschleunigt

Es gibt nämlich keinen Lustaufschub mehr. Damit schwindet wohl auch die wahre Leidenschaft, weil alles umstandslos verfügbar ist und man es gleich haben kann. Dies wiederum kommt einer ziemlich weit verbreiteten Konsumhaltung entgegen: „Ich will alles – und zwar jetzt!“ Allerdings: Auch enttäuschende Ergebnisse sieht man nun sofort. Der Frust hat sich ebenfalls beschleunigt.

Vom geradezu poetischen Erlebnis im heimischen Fotolabor, wo das Motiv zunächst schemenhaft und wie von Geisterhand auftauchte, wollen wir gar nicht weiter reden. Schon das Wort „Entwicklung“ signalisierte ja einen Reifungsprozess. Wie prosaisch erscheint hingegen eine Speicherkarte. Zack auf dem Chip, zack gelöscht.

Zugegeben: Man hat ja selbst die „gute alte Zeit“ des Bildermachens verlassen. Ich hantiere mit zwei Digitalkameras, während die analoge Spiegelreflex kaum noch zum Einsatz kommt. Der Mensch kann’s eben nicht abwarten, das Leben ist kurz.

Die technischen Möglichkeiten und Effekte sind ja auch verlockend. Kaum „geknipst“, schon am Computer nachbearbeitet – und ver(schlimm)bessert. Baumkronen mit Rot- oder Blaustich? Kein Problem. Sofortige Umwandlung in Negativ-, Sepia- oder Schwarzweiß-Darstellung? Nur ein Mausklick.

Schneller und raffinierter lügen

Dies alles bedeutet freilich auch: Man kann mit Fotoapparat und Computer immer besser montieren, manipulieren und also lügen. Willentlich veränderte Fotos etwa aus der sowjetischen Ära wirken dagegen plump.

Es beschleicht einen bei all dem ein leises Unbehagen; ganz so, als hätte man„natürliches“ Verfahren aufgegeben und sich der Künstlichkeit verschrieben.

Aber vielleicht ist ja nicht aller Tage Abend. Manche glauben gar, dass es irgendwann eine Renaissanc des Zelluloid-Films geben könnte. Nach Einführung der Musik-CD (die nun ihrerseits unter Bergen von i-Pods und MP3-Dateien verschwindet) haben wir’s erlebt: Nicht wenige Leute haben sich wieder dem angeblich „wärmeren“ Klang der alten Vinyl-Scheiben zugewendet oder halten sich eben beide Abspielmöglichkeiten offen. Man muss ja nicht gleich zur Schellack-Scheibe zurückkehren.

Doch was soll die „Maschinenstürmerei“? Man sollte die älteren Techniken nicht vergöttern und die neueren nicht verteufeln. Wie groß war einmal die Aufregung, als die Fotografie erfunden wurde und alsbald der Malerei den Rang streitig zu machen drohte –anfangs zumindest auf dem Felde realistischer Darstellung. Längst existieren beide recht friedlich nebeneinander. Und auf beiden Gebieten gibt es Kunst, aber auch Quatsch.

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HINTERGRUND

Markt verändert sich rapide

  • Schätzungen besagen, dass 2006 in Deutschland voraussichtlich rund acht Millionen Digitalkameras verkauft werden – und nur noch etwa 1 Million herkömmliche Apparate.
  • Immerhin: In 80 Prozent der deutschen Haushalte gibt es derzeit noch analoge Fotokameras.
  • Beispiel Nikon: Herkömmliche Kameras machen nur noch drei Prozent des Umsatzes in der Fotosparte aus.
  • Die Traditionsmarke Leiça geriet mit analogen Geräten in die roten Zahlen und hofft nun auf Erfolge mit digitalen Modellen.
  • Auch Filmhersteller wie Kodak und llford haben den Vormarsch der Digitalfotografie schmerzlich zu spüren bekommen. Agfa ging sogar pleite.

 

 




Krämpfe der Wirklichkeit – Fotografien von Diane Arbus im Essener Museum Folkwang

Von Bernd Berke

Essen. Von Erotik keine Spur: Einsam hockt die Stripperin zwischen zwei Auftritten im schäbigen Hinterzimmer. Von Glorie kein Schimmer: Ein namenloser US-Patriot hat sich mit Flagge und Anstecker („l’m proud“) gerüstet. Doch der „stolze“ Mann sieht erbärmlich aus; ganz so, als hätte er in dieser Leistungsgesellschaft nie eine Chance gehabt. Man glaubt ohne weiteres, dass er zum seelischen Ausgleich glühender Patriot werden musste.

Wenn man die Fotografien der US-Künstlerin Diane Arbus (1923-1971) anschaut, rieseln einem häufig Schauer über den Rücken. Hier begegnet man meist Menschen von den Rändern der Gesellschaft – ungemein frontal und unausweichlich. Jedes Bild scheint einem zuzurufen: Stelle dich der Wirklichkeit!

Oberflächlich betrachtet, summieren sich die rund 180 Schwarzweiß-Aufnahmen im Essener Folkwang-Museum zum Panoptikum wie auf längst vergangenen Jahrmärkten. Ist es Voyeurismus? Man sieht Transvestiten, Dominas mit devot winselnden Kunden, Nudisten, dicke Kinder, Kleinwüchsige, Behinderte, schräge Leute aus der High Society.

Viele der erfassten Momente sind sirrend, manche auch brüllend bizarr. Hier waltet ein Wille zur ungeschönten Wahrheit. „Diane Arbus – Revelations“ heißt die Schau. Enthüllungen also. Im Wörterbuch steht auch: Offenbarungen.

Die in New York geborene Diane Arbus war eine „höhere Tochter“ und schuf anfangs elegante Modefotografte. Dann aber suchte sie andere Welten auf. Wohl in einer Mischung aus Angst und Faszination hat sie sich auf die Schatten- und Nachtseiten der Gesellschaft begeben. In den 50er und frühen 60er Jahren war dies ein Tabubruch. Die Abweichungen, die Arbus gezeigt hat, erweisen sich als eine Art Vorschuss auf spätere, schrille Zeiten. Heute wimmelt jede Nachmittags-Talkshow von Freaks.

Das Bizarre wird allmählich „normal“

Bei Diane Arbus kann jedoch von Banalisierung noch keine Rede sein. Mit geradezu heiligem Ernst verwandelt sie all diese Randfiguren in Ikonen. Dies geschieht mit solcher Beharrungskraft, dass das Bizarre irgendwann beinahe alltäglich wird. Wenn Arbus sich hingegen dem Alltag der „schweigenden Mehrheit“ zuwendet, so entdeckt sie darin wiederum bestürzend krampfhafte Momente. Ein kleiner Junge auf der Straße schreit da unvermittelt existenzielle Not heraus. Und ein ganz junges Paar wirkt so desolat, als wäre es längst in ehelicher Ödnis erstarrt.

Mögliche Folgerung: All diese Menschen sind, in welcher Ausprägung auch immer, aus einem Holz geschnitzt. Ein humaner Ansatz, der auch abseitige Existenzen gleichsam eingemeindet. Dahinter lauert die Grundsatzfrage: Was ist überhaupt „normal“? Doch heute nimmt man diese Gesellschaftskritik in erster Linie als Kunst wahr. Ethik verschwindet hinter Ästhetik. Die Ausstellung war auf US-Toumee und hat nun ihre Europa-Premiere in Essen, es folgen London und Barcelona.

Die von RWE gesponserte Folkwang-Schau bietet mehr als nur die bloße Präsentation der (auf dem Kunstmarkt sehr hoch gehandelten) Fotografien. In drei atmosphärisch dicht gespickten Kabinetten blickt man in die Werkstatt der Künstlerin. Tagebücher, Notizen, Briefe, Lektüre, Handwerkszeug und dergleichen sind hier versammelt. Auch sieht man Kontaktabzüge ganzer Serien, so dass man nachvollziehen kann, welche Motive und Ausschnitte die Fotografin verworfen hat.

Diane Arbus hat den Freitod gewählt. Mit 48 Jahren schnitt sie sich die Pulsadern auf. Vielleicht hat sie die Trennung von ihrem Mann nicht verwunden. Medikamente, die sie gegen Hepatitis nehmen musste, haben vermutlich zusätzliche Depressionen ausgelöst. Oder hatte die Verzweiflung auch etwas mit den Motiven ihrer Fotografien zu tun? Wir werden es nie wissen, wir können nur schauen und ahnen.

„Diane Arbus – Revelations“. Museum Folkwang. Essen, Goethestraße 41. Bis 18. September. Geöffnet Di-So 10-18, Fr 10-24 Uhr. Katalog 49.80 €.




Robert Frank: Bilder aus den Randzonen des Sichtbaren – Arbeiten des Filmemachers und Fotografen in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Beim Umgang mit den vielen Bildern, die täglich auf einen einstürmen, befindet man sich zwangsläufig im Zwiespalt. Auch einem Manne wie dem Fotografen und Filmemacher Robert Frank (76) ergeht es nicht anders.

Er kennt den Impuls, aus dem Rauschen der unendlichen Bilder-Flut gültige, dauerhafte Momente festzuhalten. Doch vom Film her weiß er, dass es d a s eine Bild, welches für sich genommen alles aussagt, gar nicht geben kann. Denn alles ist im Fluss.

Das Museum Folkwang widmet Robert Frank jetzt eine anregende Ausstellung, die künstlerische Wegstrecken zwischen Überfülle und Zerfall der Bilder ausmisst. Zu sehen sind vor allem Fotografien und experimentelle Filme. Titel des Ganzen: „Hold still – keep going“, also etwa: Bleib da – geh‘ weiter. Da haben wir ihn wieder, diesen Zwiespalt.

Robert Frank, 1924 in Zürich geboren, wanderte 1947 in die USA aus. Anfangs verdiente er dort sein Geld u. a. mit Modefotos für „Harper’s Bazaar“, mit journalistischen Aufgaben und Werbung. 1958 machte in den Staaten sein Bildband „The Americans“ Furore. Er enthielt spontan und radikal subjektiv wirkende, freilich hinterrücks treffende, im Kopf flirrend nachwirkende Beobachtungen des dortigen „way of life“ und seiner Idole. Die Haltung oszilliert zwischen Sentiment und ironisch-kritischer Distanz. Daraus erwuchs eine Ästhetik, die mindestens in die 60er Jahre voraus deutete.

Erst aus der Sequenz erwächst so etwas wie „Wahrheit“

Frank misstraute längst den „dokumentarischen“ und erzählerischen Ansprüchen des Metiers. Nicht das Einzelbild verhieß ihm eine Annäherung an die „Wahrheit“, sondern –dem filmischen Beispiel folgend – ganze Sequenzen, oft scheinbar chaotisch collagiert, mit Schriftzügen unterlegt oder von ihnen durchkreuzt.

Nicht um vermeintliche objektive Anschauung geht es hier, sondern um Intuition, Gespür für den Moment und Sinn für den Zufall, für die Randzonen des Sichtbaren. Da darf ein Bildmotiv ruhig unscharf sein, es darf in die Schräge kippen, Gesichter dürfen mittendrin angeschnitten werden oder verwackelt aussehen. gekoppelt. Es wirkt bei Robert Frank umso authentischer, wie im frischesten Moment beim Schopfe gepackt und noch nicht von Reflexion überlagert. Wie Filmstreifen sind manche dieser Bilderfolgen gekoppelt. Das Auge des Betrachters irrt hin und her zwischen den fragmentierten Sekunden. Eine ungerichtete, zuweilen ratlos schwankende Wahrnehmung, wie sie ja eigentlich auch den Alltag prägt.

Karge Inventuren bis zum gähnenden Nichts

Karge Inventuren: hier eine bloße Hand, dort einfache Gerätschaften, nahezu leere Zimmer. Aufmerksamkeit im Wartestand, bereit zum Sprung. Manche Bilder sind Umkreisungen der Trostlosigkeit und des gähnenden Nichts. Doch sie künden auch von der Suche nach dem Einfachen, an das man sich halten kann.

Seltsam der Sog der Filme, wenn man sich auf die Fährnisse der Handkamera einlässt: Man sieht scheinbar banale Szenen wie die vom Farbigen, der fiebrig zwischen Autos umherläuft und an der roten Ampel für ein paar Cents Scheiben reinigen will. Immer wieder. Oder man leidet mit an der Einsamkeit jenes Mannes. der in der U-Bahn schwadroniert, während alle anderen betreten schweigen. Partikel von Sozialdramen, mit dem Seziermesser herausgelöst.

Robert Frank, der auch mit dem verrufenen Beat-Poeten Jack Kerouac unterwegs war, treibt es mitunter weit mit seinen Zumutungen: Über die „Rolling Stones“, für die er das Plattencover zu „Exile on Main Street“ entwarf, hat er 1972 Film „Cocksucker Blues‘ gedreht. Er war den Stones „zu hart“. Mick Jagger & Co. verboten die Aufführung. Die Jungs haben trotz aller Exzesse immer aufs Image geachtet.

Bis 11. Februar 2001 im Folkwang Museum, Essen (Goethestraße). Di-So 10-18, Fr 10-24 Uhr. Katalog 40 DM.

 

 




Neue Gemeinschaft stiften – Jochen Gerz‘ Kunstaktion „Das Geschenk“ in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Gesichter blicken einen an – und es werden immer mehr. Schon gestern waren es 400 Porträts, die die Wände des Dortmunder Ostwall-Museums zierten. Im August sollen es rund 5000 sein. Der Ankauf für die Sammlung ist bereits beschlossene Sache.

Der mit documenta- und Biennale-Weihen versehene Künstler Jochen Gerz (60) beschert den Dortmundern mit seiner Aktion „Das Geschenk“ ein spezielles Gemeinschafts-Erlebnis.

In der Medienkunst-Schau „Vision Ruhr“ (frühere Zeche Zollern II/IV – die WR berichtete) hat Gerz ein Fotostudio mit moderner Digitaltechnik eingerichtet. Studenten der Dortmunder FH lichten dort kostenlos Besucher ab. Möglichst gefasst sollen sie dreinschauen, niemand soll sich in Szene setzen. Gerade dann tritt die Individualität der Gesiebter (frontal und in Nahsicht) hervor. Im Schnitt haben sich die Macher 8 Minuten Zeit für eine Porträtsitzung gegeben – samt Ausdruck und Rahmung.

Jede(r) Fotografierte darf ein Bild mit nach Hause nehmen, aber nie das eigene. Also trägt man das Bildnis eines oder einer Unbekannten heim, gewährt symbolisch „Gastfreundschaft“. Das eigene Konterfei nimmt wiederum ein „Fremder“ mit. Menschenfreundliche Vision: sich auf den Anderen einzulassen, ohne Ansehen von Herkunft, Beruf und dergleichen.

Inspirieren ließ sich der in Paris lebende Gerz vom Gedanken an die oftmals bewiesene Solidarität der Revier-Bewohner. Vor diesem Hintergrund stiftet sein Projekt eine neue Gemeinschaft. Besonderer Zusatz-Effekt: Man besitzt ein Kunstwerk und ist zugleich Teil von ihm. All das beschränkt sich nicht auf den privaten Raum, sondern greift ins Öffentliche aus: Sämtliche Zweitabzüge gelangen ins Ostwall-Museum, das somit nach und nach ganz gefüllt wird. Frankfurts Schirn-Kunsthalle will die Schau übernehmen.

Die Westfälische Rundschau unterstützt die Aktion auf vielfältige Weise, auch durch Veröffentlichung von Porträtfoto-Seiten (in der Dortmunder WR-Ausgabe). Zur Eröffnung der Ostwall-Schau (heute um 19 Uhr) wird WR-Chefredakteur Frank Bünte mit Jochen Gerz und dem Ausstellungsleiter Axel Wirths über die „Geschenk“-Aktion sprechen.

Jochen Gerz: „Das Geschenk“. Museum am Ostwall, Dortmund. Bis 20. August. Di/Mi/Fr/So 10-18, Do 10-20, Sa 12-18Uhr.

„Vision Ruhr“, Zollern 11/IV, DO-Bövinghausen (Grubenweg). Bis 20. August. Tägl. außer Mo 10-19, Fr 10-22 Uhr.




Die Räume der Literaten – Interview mit der Fotografin Herlinde Koelbl

Von Bernd Berke

Herlinde Koelbl zählt zu den renommiertesten Fotografinnen weit und breit. Zur Frankfurter Buchmesse, wo die WR mit ihr sprach, hat sie den aufwendigen Band „Im Schreiben zu Haus“ (Knesebeck-Verlag, 98 Mark) veröffentlicht. Sie hat dafür in den letzten Jahren 42 wichtige deutschsprachige Schriftsteiler daheim besucht – von Handke bis Simmel, von Walser bis Ernst Jünger, von Rühmkorf bis Elfriede Jelinek. In Bildern und Gesprächen spürt sie der Frage nach: Wie und wo entsteht unsere hohe Literatur?

Sie haben unter den Autoren Tag- und Nachtmenschen getroffen. Solche, die stets rastlos auf Reisen gehen, und solche, die lieber seßhaft sind?

Herlinde Koelbl: Ja, das sind gewisse Trennlinien. Und dennoch scheinen alle etwas gemeinsam zu haben, das schwer zu benennen ist. Schreiben als eigentliches Zuhause. Es sind jedenfalls drei Generationen von Schriftstellern. Die Älteren schreiben oft noch mit Bleistift oder Füllfederhalter, wie etwa Sarah Kirsch. Martin Walser benutzt Kugelschreiber, die auch kopfüber funktionieren, seit er einmal einen Bandscheibenschaden hatte und im Liegen schreiben mußte. Er schnürt seine Manuskripte mit Bindfäden zusammen. Und Ingo Schulze, ein jüngerer Autor, umarmt auf dem Foto seinen Computer. Es ist wie eine Liebesbeziehung zum Schreibgerät.

Wie ist die Idee zu diesem Buch entstanden?

Koelbl: Ursprünglich wollte ich nur Hände fotografieren. Schriftstellerhände. Die drücken sehr viel aus. Sehen Sie sich zum Beispiel die Hände von Ernst Jünger oder Hermann Lenz an. Sie vermitteln eine Ahnung von Großbürgerlichkeit, wie es sie heute nicht mehr gibt. Bei Peter Handke hatte ich mir ganz feingliedrige Finger vorgestellt, dabei hat er richtig männliche Hände – mit deutlichen Spuren der Gartenarbeit… Aus der Idee mit den Händen hat sich alles Weitere entwickelt. Die Handschriften, der hand-werkliche Aspekt des Schreibens…

Sie haben die Schreib-Zimmer fotografiert, die Schreibtische. Gibt es Entsprechungen zwischen diesen äußerlichen Situationen und den Werken?

Koelbl: Wahrscheinlich ja. Das Zimmer von Friederike Mayröcker ist über und über angefüllt mit Papierbergen. Andererseits gibt es ganz karge, leere Schreibtische, beispielsweise bei Reiner Kunze. Peter Handke hat verschiedene Schreibzimmer, eines wirkt tatsächlich wie eine Mönchs-Zelle. Wahrscheinlich hat dies einiges mit der Arbeitsweise und dann auch mit dem Werk zu tun.

Etliche Autoren sagen, daß sie eigentlich gar nicht gern schreiben.

Koelbl: Die meisten Bücher entstehen unter großen Qualen und schmerzlichen Umwegen. Und doch gibt es bei allen Schriftstellern immer wieder dieses ungeheure Glücksgefühl, das alle Qualen vergessen läßt, wenn das Werk gelungen ist.

Manche Schriftsteller, beispielsweise Sten Nadolny oder der inzwischen verstorbene Jurek Becker, haben Ihnen sehr viel über sich verraten. Über ihre Antriebe und Hemmnisse. Auch über Depressionen und Ängste.

Koelbl: Ja, das waren zwei besonders intensive Gespräche. Vielleicht kann ich recht gut zuhören. Und vielleicht braucht man den „sechsten Sinn“, die richtige Mischung aus Denken und Fühlen. Genug davon. Das ist ja eine Erfahrung, die auch viele Schriftsteller gemacht haben: Wenn man zu sehr über die Mechanik seiner Fähigkeiten nachdenkt, gehen sie eventuell verloren –  wie bei dem Ballettänzer, der seine Schritte erklären will und sie dann nicht mehr ausführen kann.




Bazillus der Begabung – die Dortmunder Fotografen-Familie Angenendt

Von Bernd Berke

Dortmund. Wenn eine Familie über drei Generationen beachtliche Fotografen hervorbringt, wird man hellhörig. „Einen Bazillus oder irgend etwas mit den Genen“ vermutet Rudolf Angenendt als Ursache für die fortgepflanzte Begabung.

Aber es waren auch Patriarchen im Spiel. Rudolf Angenendt (Jahrgang 1924) kam zur Fotografie, weil ihn sein Vater Erich (1894-1962) rabiat dazu gezwungen hat. Und Rudolfs Sohn Christian Angenendt (geboren 1956) geriet – nach abgeschlossenem Germanistik-Studium – in die Fänge des Dortmunder Foto-Professors und Fach-Despoten Pan Walther. Da konnte auch er nicht mehr anders.

Arbeiten von Großvater, Vater und Sohn sind jetzt im Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte (Hansastraße) vereint. Und da zeigt sich, daß in der Lichtbildner-Dynastie Angenendt, die aus Hamm kam und dann in Dortmund ansässig wurde, nicht durchweg ein- und derselbe Geist geherrscht hat.

Großvater Erich widmete sich noch vorwiegend Motiven aus der herkömmlichen Schwerindustrie. Bewunderung für imposante Technik rund um Kohle und Stahl spricht aus diesen Bildern. Vielfach gerinnt diese Sicht zu prototypischen „Ikonen“ des Ruhrgebiets früherer Zeiten. Die Aufnahmen sind so formbewußt gestaltet, daß sie der Gefahr einer Glorifizierung des industriellen Heldenlebens entgehen.

Rudolf Angenendt ging zwar auch unter Tage, um dort ungewöhnliche Farbaufnahmen anzufertigen, doch interessierten ihn später vor allem grundlegende chemische und physikalische Prozesse, die er mit aufwendigen Verfahren in Forschungslabors fotografisch festhielt. So gelangen ihm erstaunliche Bilder von Wärme- und Kälteströmen oder von den Wallungen des Chlorgases. Verblüffende Erkenntnis: In den Naturgesetzen waltet eine verborgene Ästhetik, die gewissen Formen der abstrakten Kunst nahe kommt.

Auch Christian, der Jüngste, hat sich für seine Diplomarbeit in einem Hüttenwerk umgetan. Doch er spürt zwischen den Hochöfen lauter Zeichen des Verfalls auf. Wie er denn überhaupt einen wachen Sinn für Verletzungen der Dinge hat. Wenn er etwa zersprungene Flaschen oder abgeblätterte Farben zeigt, schwingt Wehmut mit über den Zustand der Welt.

Bis 14. April. Tägl. außer Mo. 10-17 Uhr, Katalog 49 DM.




Der herbe Charme verfallener Fabriken – Industrie-Fotos von Bernd und Hilla Becher in Münster

Von Bernd Berke

Münster. Ist es Sturheit oder Konsequenz? Seit über 30 Jahren fotografieren Bernd und Hilla Becher immer und immer wieder Industriebauten. Sie werden nicht müde, die Relikte einer versinkenden Arbeitsweit im Bilde festzuhalten.

Ein immenses Werk hat sich angehäuft, aus dem das Westfälische Landesmuseum in Münster – trotz beachtlicher Stellfläche – nur kleine Ausschnitte vorzeigen kann.

Bernd Becher (Jahrgang 1931) ist in Siegen aufgewachsen, ganz nah bei einem Hochofen. Der häßlich-erhabene Anblick hat ihn wohl fürs Leben geprägt. 1957 gab er die Malerei auf, weil er industrielle Motive möglichst emotionslos wiedergeben wollte. Vor-Bilder waren unterkühlt sachliche Fotos, die er in Betriebsbüros gesehen hatte. Seine Frau Hilla (geboren 1935), gelernte Lichtbildnerin, besaß Ausrüstung und technisches Wissen.

Am Aufnahmeverfahren hat sich seither so gut wie nichts geändert. Auch blieb es bis heute bei schwarz-weißen Abzügen, auf daß keine Farbe von Umriß und Gestalt ablenke. Schon der rötliche Schimmer von Mennige auf Stahlgerüsten wäre den Bechers zu bunt.

Es geht also nüchtern zu, wenn sie durch die Industriereviere reisen, um Zechen- und Wassertürme, Fabrikhallen, Hochöfen, Gasbehälter oder Kohlesilos aufs Bild zu bannen. Vieles existiert nicht mehr, anderes verwittert oder dient – schick restauriert – anderen Zwecken. Derlei Verfälschungen interessieren Bernd und Hilla Becher nicht. Sie suchen auch keine Besonderheiten, sondern Durchschnittsbauten.

Internationales Formenvokabular

In Münster sind die Aufnahmen meist zu Sechser- oder Neuner-Serien gruppiert, so daß haarfeine Vergleiche zwischen jeweils ähnlichen Bautypen möglich sind. Hier wird der Blick geschult: Was unterscheidet Siegerländer Fabrikhallen von einem Pendant in Belgien oder in den USA? Gibt es formale Entsprechungen zwischen Werksfassaden in Dortmund und Eisenhüttenstadt? Ja, es gibt sie. Man entdeckt überraschende Gemeinsamkeiten über Grenzen hinweg. Kühles Ingenieurs- und Kommerz-Kalkül schuf ein weltweit gültiges Formenvokabular, das (je nach Region) variiert wurde. Und das Motiv-Spektrum reicht vom herbbrutalen Charme nackter Stahlskelette bis zu reich verzierten Imponier-Fassaden. Auch die Geld-Religion brauchte „Kathedralen“.

Ostdeutsche Industriebauten fehlten bis 1989 im Repertoire der Bechers ganz. So sehr sie sich auch mühten, sie bekamen in der DDR keine Aufnahme-Genehmigungen. Die SED fürchtete sich vor Spionage. Als hätte man dort vorbildliche Fabriken sehen können…

Bernd und Hilla Becher: „Typologien“. Westfälisches Landesmuseum“, Münster; Domplatz. 11. Dezember bis 29. Jan. 1995, tägl. außer Mo 10-18 Uhr. Begleitbuch: 48 DM.




In einem Lachen kann der Zeitgeist stecken – Rheinisches Landesmuseum in Bonn zeigt Fotografien von Will McBride

Von Bernd Berke

Bonn. Fröhliche Szene im Strandbad. Meint man im ersten Moment. Doch dann blickt man genauer hin, und da heißt das Bild: „Ertrunkenes Mädchen wird geborgen“. Nun sieht man plötzlich auch die fassungslosen Gesichter auf dem 1956 in Berlin aufgenommenen Foto. So ist das bei Will McBride. Seine Bilder bleiben oft im Bewußtsein stecken wie ein Pfeil.

McBride, dem Bonn jetzt eine Überblicks-Ausstellung widmet, war US-Soldat in Nachkriegsdeutschland. Er blieb hier, sah mit Sympathie und Distanz, wie das Land sich veränderte. Er wohnte vor allem in Berlin und Frankfurt. In beiden Städten wehte der Zeitgeist früher und heftiger als andernorts. Besonders zur Zeit der Studentenrevolte.

Vorformen des speziellen „68er-Gefühls“, jener kaum definierbaren Aufbruchstimmung, sind bereits in McBrides Bildern aus den späten 50er Jahren zu spüren – als hätte er Vorahnungen gehabt. Dabei war es „nur“ der präzise Blick, auch bei scheinbar ganz privaten Anlässen (Fluß-Fete „Riverboat Shuffle“, 1959). Das Lachen eines jungen Mädchens erzählt da mehr vom erhofften Durchbruch zur Freiheit as ganze Aufsätze. Dazu würde schon eher die Musik der „Doors“ als von Elvis passen.

Keine Landschaften, kaum Stilleben. McBride und seine Kamera suchen immer den Menschen. Den Freak beim Rockfestival porträtiert er ebenso gültig wie Willy Brandt (tieftraurig, einen Tag nach dem Berliner Mauerbau 1961).

Kein Wunder, daß Will McBride zum Star des stilbildenden Magazins „twen“ wurde. Dort ließ man ihm Raum für vielteilige Foto-Essays. „Ziellos zu wandern, wohin du willst“ heißt eine dieser Serien. Es könnte ein Leitmotiv sein.

Ob im bitterarmen Kalkutta oder im Edel-Internat Salem: Der Mensch beschäftigt diesen Fotografen ganz und gar, also auch die Uralt-Motive Geburt und Tod – und der nackte Körper. Die langhaarigen Darsteller des Musicals „Hair“ quetscht McBride 1968 unbekleidet in Pappkartons: Körper als Zeichen, als „Buchstaben“ aus Fleisch, die von ihren Beziehungen zueinander sprechen.

Will McBride. Schwarz-Weiß-Fotografien. Rheinisches Landesmuseum, Bonn, Colmantstraße 14-16. Bis 27. September. Katalog 45 DM.




Kaltes Weltall und Leben im Stillstand – Fotoarbeiten von Thomas Ruff im Kunstverein Arnsberg

Von Bernd Berke

Arnsberg. Auf den Fotos von Thomas Ruff scheinen Leben und Bewegung zu gefrieren. Eine Bilderserie zeigt Ausschnitte von seltsam gestrigen Wohnungs-Interieurs. Da ist der mit Nippes vollgestopfte Schrank: angestaubtes Hochzeitsbild, Spitzendeckchen, Figur eines sich aufbäumenden Pferdes – zu Erinnerungen geronnene, liebevoll bewahrte und dennoch schon verwischte Lebensspuren.

Ein anderes Ruff-Foto zeigt verblaßte Kinderbilder auf grauslich-altmodischer Tapete. Man kann auf die ganze Wohnung schließen. Die Kinder sind außer Haus, es herrscht Stille und Einsamkeit, doch wohl auch Beschirmung vor hektischer Gegenwart.

Es ist dies denn auch eine Ausstellung im Arnsberger Kunstverein, die auf den ersten Blick fast klösterliche Stille ausstrahlt. Sinnfällig wird dies anhand der wandfüllenden Porträts. Ohne besondere Vorbereitung lichtet Ruff Bekannte und Freunde ab, als sollten nur notdürftige Paßbilder angefertigt werden. Doch dann vergrößert er die frontal aufgenommenen Gesiebter ins Riesenhafte (Standardgröße: 1,65 m Breite, 2,10 m Höhe). Und nun haben diese Bilder etwas Forderndes. Still und unbewegt, geradezu stoisch wird man von diesen gigantischen Gegenübern angeblickt. In innere und womöglich äußere Bewegung gerät indes der Betrachter. Wie lange kann er vor diesen Blicken bestehen, soll er flüchten oder standhalten?

Solche Ruhe der Bilder (die freilich Unruhe erzeugt), treibt Ruff ins Endlose: Eine weitere Serie sind nämlich jene im Observatorium gefertigten Bilder vom Weltall. Auch diese Fotos sind auf enorme Großformate gebracht. Da starrt einen sozusagen die ganze Leere und Kälte des Weltenraums an. Auch ein vorbeiziehender Komet wird hier nicht als bewegtes Objekt abgebildet, sondern“ als starrer Strich, der wie ein Riß quer durch das Bild geht.

Der in Düsseldorf lebende Ruff ist Schüler von Bernd und Hilla Becher, die besonders durch nüchtern abgelichtete Zechentürme bekannt wurden. Bei Ruff ist es nicht nur Nüchternheit, sondern oft geradezu Ernüchterung, die aus den Bildern spricht.

Die relativ kleine, aber konzentrierte Ausstellung, vom Künstler selbst gehängt, präsentiert auch Beispiele für Thomas Ruffs neues Interesse an Zeitungsfotos, die er seinerseits ablichtet und wiederum vergrößert. In Kunstform haben sie natürlich eine ganz andere Wirkung denn als Nachrichten-Illustration. Bilder aus dem Jahrhundert sind da versammelt: Hitler mit verzückt lauschenden Jugendlichen, der tote Chomeini, Festnahme eines Terroristen, untergehender Ozeanriese, Rheinfelsen, eine eiserne Hand usw.

Und der Zusammenhang? Jedenfalls ist es kein dokumentarischer. Thema ist eher, was Bilder überhaupt aussagen und vermitteln können.

Ruff, der zur Eröffnung der Ausstellung kommt (Sonntag, 11 Uhr), ist im Kunstbetrieb ziemlich „angesagt“. Er ist bei der zwar allseits herzhaft verrissenen, aber wohl doch den Marktwert steigernden Berliner Überblicksschau „Metropolis“vertreten, desgleichen 1992 bei der Kasseler „documenta“. Arnsbergs Kunstverein hat erneut einen guten „Riecher“ bewiesen.

Kunstverein Arnsberg, Königstraße 24. – Vom 28. April bis zum 7. Juni. Katalog 30 DM.




Verlockungen des Ruhrgebiets sind Thema in New York – Festival „Ruhr Works“ mit Kultur aller Sparten

Aus New York berichtet
Bernd Berke

New York. Die Kultur des Ruhrgebiets „hat in New York erste Anker werfen können“! Das befand NRW-Kultusminister Hans Schwier, der sich gegenwärtig in der Metropole am Hudson River über Erfolg und Fortgang des Projekts „Ruhr Works“ informiert. Diese Festivalreihe der Essener „Kulturstiftung Ruhr“ hat seit September einem gewissen Teil der kulturversessenen New Yorker Szene „Aspekte des Reviers“ nähergetragen.

Für den meisten Gesprächsstoff haben dabei die Tanztheater, Gastspiele von Susanne Linke (Essen) und Reinhild Hoffmann (Bochum), gesorgt. Die ehrwürdige „New York Times“ berichtete allein neunmal über einzelne Veranstaltungen der Reihe, die noch bis Januar 1990 mit Gastspielen aus den Bereichen Musik, Tanztheater, Literatur. Film und Kunst andauern wird. In dem New Yorker Weltblatt war sogar der schöne Reim von „Allure of the Ruhr“ die Rede (Verlockung der Ruhr/Reiz der Ruhr).

Die Kulturstiftung Ruhr will es, wie hier bekannt wurde, „nicht bei dem Ankerwurf“ an der US-Ostküste belassen, sondem zu weiteren Ufern aufbrechen. 1991 soll ein ähnliches Festival in Sao Paulo starten, 1993 ist Tokyo an der Reihe. Minister Schwier zur WR: „Es ist sinnvoll, gerade in solchen Wirtschaftsmetropolen unsere Kultur zu zeigen.“ So soll es denn in New York auch schon erste Anfragen nach Investititionsmöglichkeiten im Revier gegeben haben – wohl nicht veranlaßt, aber vielleicht beflügelt durch die kulturellen Gastspiele.

Andererseits darf man auch nicht in verfrühten Jubel verfallen. Ehrlich gesagt droht die New Yorker Revier-Reihe, die auch einige programmliche Schwachpunkte hat, doch etwas im Gewimmel dieser Riesenstadt „unterzugehen“. 35 000 gedruckte Programm-Magazine von Ruhr Works können die Millionenbevölkerung wohl kaum überschwemmen. Die Stadt bietet einfach enorm viel – von den Rolling Stones, die soeben hier aufgetreten sind, bis hin zu den laufenden Ausstellungen über Velazquez, Picasso und Braque. Günstige Fügung allerdings: die Frage einer „deutschen Wieder-Vereinigung“ wird auch in New York heftig diskutiert. Das schafft unverhofftes Interesse für solche Belange, indirekt also auch für deutsche Kultur.

Immerhin kamen jetzt zum Beispiel rund 500 Vernissage-Gäste zur Eröffnung einer von vier Revierfotografen bestückten Ausstellung im derzeit führenden Künstlerviertel SoHo, das bis vor einiger Zeit verfallen war und nun plötzlich die meisten, besten und teuersten Galerien der gesamten Stadt beherbergt. In seiner explosiv-kreativen Atmosphäre entfernt an Berlin-Kreuzberg erinnernd, ist dieses quirlige Stadtquartier Schauplatz eines unablässigen „Gallery Hopping“, eines Lieblingssports der hiesigen Kunstszene, der einfach darin besteht, von Galarie zu Galerie zu laufen und „in“ zu sein. Mit dem, was sich allein in diesem Bezirk an Galerien ballt, kann zum Beispiel ganz Köln nicht konkurrieren.

Seltsam übrigens, nach über 6000 Kilometern Flug, hier fotografische Ansichten des Ruhrgebiets wiederzufinden – von Dortmund, Essen oder Bottrop. Noch seltsamer und schwer in Worte zu fassen: diese Aufnahmen lassen eine gewisse unterschwellige „Verwandtschaft“ zwischen dem Revier und New York erahnen. Als Bochums Ex-Theaterchef Claus Peymann vor Jahren sagte, das Revier sei New York, wisse es aber nicht, hatte er wohl nicht ganz Unrecht. Bestärkt wird dieses Gefühl noch durch einen Besuch in der Clocktower-Gallery, die ebenfalls Revierfotos zeigt und außerdem mit einem fast konkurrenzlosen Dachterrassen-Rundblick auf Manhattans Skyline lockt.

Beim New Yorker Goethe-Institut, das Ruhrworks mitorganisiert, zeigt man sich übrigens mit dem bisherigen Verlauf der Revierreihe zufrieden. Es gebe, so Institutsleiter Jürgen Uwe Ohlau, in der Bunderepublik nur ganz wenige Regionen, deren kulturelle Substanz für solche Projekte ausreiche. Das Ruhrgebiet gehöre auf jeden Fall dazu.




Paris als Bühne des Lebens – Fotografien von Fritz Henle

Von Bernd Berke

Dortmund. Ursprünglich waren Fritz Henles Paris-Fotografien ein Fehlschlag. Die berühmte (und in Sachen Fotografie stilbildende) US-Illustrierte „Life“ hatte den gebürtigen Dortmunder 1938 eigens in die Seine-Metropole entsandt. Der ließ sich denn auch vierzehn Juli-Tage lang durch die Weltstadt treiben und hielt Facetten einer heute längst versunkenen Lebenswelt fest.

Doch die amerikanischen Auftraggeber druckten die auch technisch hervorragenden Bilder damals nicht, sie hatten wohl ein ganz anderes Paris-Bild in den Köpfen: ein bißchen Can-Can, ein bißchen Toulouse-Lautrec – das konnte und wollte „Mister Rollei“, wie er wegen seiner bevorzugten Kamera genannt wird, nicht liefern.

Jetzt, aus Anlaß seines 80. Geburtstags, richtet ihm die Geburtsstadt eine Ausstellung der Paris-Bilder aus, die für Henle (neben einer Präsentation in New York) „zu den beiden schönsten meines Lebens“ zählt. Diese Ausstellung wird durch viele deutsche Städte und nach Paris wandern.

Henle, 1936 schon ein international bekannter Lichtbildner und aus Nazi-Deutschland in die USA emigriert, hat sich Paris nicht mit sozialkritischem oder politisch geschärftem Blick genähert, obwohl er 1938 natürlich wußte, daß NS-Deutschland Frankreich als Feindesland ansah. Er suchte Szenen ästhetischer Harmonie, die er nach eigenem Bekunden in seinem Inneren verspürte. Auch Armut wirkt, so gesehen, idyllisch.

Menschen aller Gesellschaftsschichten stehen im Mittelpunkt. Grundsätzlich aber gilt für Henle, der sich nie thematisch festlegen ließ und nach dem Krieg auch Industrie- und Modefotos nicht scheute: Alles, was vors Auge der Kamera gerät, kann interessant sein.

Henles schweifender, „flanierender“ Blick entdeckte in Paris lauter Bühnen des Lebens, er fand eine Themen-Überfülle eher an den Rändern der Ereignisse. Bestes Beispiel ist die Serie über den Auftritt eines Drehorgelspielers nebst Affen. Der Mann taucht lediglich auf zwei Bildern auf, dann zeigt Henle nur noch die Reaktionen der Zuschauer. Sichtbar werden Wirkungen und Widerschein des Geschehens auf den Gesichtern.

Fritz Henle: „Paris 1938″ (Fotografien). 24. Juni bis 27. August. Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Dortmund, Hansastr. 3. Katalog 34 DM.




Ansichten aus „24 Stunden Ruhrgebiet“ im großen Buch der Zufälle

Von Bernd Berke

Mit Pauken und Trompeten hatte der Kommunalverband Ruhrgebiet (KVR), der den Anstoß zur groß angelegten „Belichtung des Reviers“ gegeben hatte, dieses Buch schon Monate vor dem Erscheinen angekündigt. Eins ist klar: Es ist das Revierbuch dieses Herbstes, an dem die meisten, nämlich 72 Fotografen aus aller Welt, beteiligt sind. Und es ist das Revierbuch, dessen Fotos in der kürzesten Frist, nämlich am 24. Mai 1985 zwischen 0 und 24 Uhr, entstanden sind.

Jedoch: Spektakuläre Rekorde allein reichen nicht aus. „Das Fotoereignis“ – so lautet der stolze Untertitel des Bandes. Kein Zweifel, es finden sich unter den 600 Ablichtungen zahlreiche gelungene, sogar der eine oder andere Geniestreich. Im Ganzen aber hat der Zufall die Oberhand behalten – und das ist auch kein Wunder bei 72 so unterschiedlichen Fotografen-Temperamenten, kein Wunder auch, weil die meisten ohne näheren Bezug, sozusagen „unvorbereitet, wie sie sich hatten“, aufs Revier gestoßen sind (bzw. gestoßen wurden).

Immerhin sorgen derlei Zufall und Spontanität auch dafür, daß eine breite Palette des Lebens im Revier erfaßt wird. Durch Industrie zerstörte Teile der Landschaft werden nicht schamhaft bemäntelt, die Arbeitswelt zwischen Kohle und Computer spielt ihre gebührende Rolle, die Freizeit zwischen Disco, Schrebergarten, Fußballplatz und Freibad ebenso.

Vor allem einige Menschenbilder prägen sich ein. Hier hatte die Spontanität wirklich ihr Gutes: Es gab kaum Zeit für Vorbereitungen und damit kaum Gelegenheit, Szenen oder Porträts auszuklügeln und zu „stellen“. Menschen des Reviers (Arbeiter, Künstler, Hausfrauen, Schüler, Politiker, Wirtschaftsführer) scheinen sich den von auswärts angereisten Fotografen unmittelbarer erschlossen zu haben als das oft verwirrend strukturlose Konglomerat der Stadtlandschaft.

„24 Stunden Ruhrgebiet“. Reise- und Verkehrsverlag, München, 280 S., ca. 600 (meist farbige) Fotos. Begleittexte von Ralf Lehmann. 98 DM.




Schon in den Trümmern begann die Verdrängung – Bonn: Große Ausstellung über Kunst und Kultur der Nachkriegszeit im Westen

Von Bernd Berke

Bonn. Nein, wirklich „lebendig“ kann die Nachkriegszeit natürlich nicht wieder werden – auch nicht durch eine Ausstellung großen Kalibers. Auch nicht, wenn deren Macher unter erdenklichen Mühen über 800 Exponate aus den Jahren 1945 bis 1952 aufgetrieben haben. Die Schau „Aus den Trümmern – Kunst und Kultur in Rheinland und Westfalen“ startet heute im Rheinischen Landesmuseum Bonn (bis 8. Dezember).

Ein Ford Taunus G 73 A Spezial („der mit dem Buckel“) fällt im Foyer zuerst auf. Das Gefährt steht zugleich für die Probleme des Ausstellungsteams, das unter Leitung von Professor Klaus Honnef wahre „Archäologenarbeit“ zu leisten hatte. Nicht einmal die Ford-Werke nämlich konnten mit einem solchen Fahrzeug dienen. Ein Privatmann sorgte für Abhilfe. Der Oldtimer aus einer Zeit, die noch so nah zu sein scheint, allen Moden zum trotz jedoch durch notorische „Erinnerungsfaulheit“ (Klaus Honnef) Lichtjahre entfernt liegt, steht auch für den halbherzigen Versuch, die vielen künstlerisch durchgestalteten Exponate um einige Alltagstupfer zu ergänzen.

Deutlich wird die Durchdringung immerhin im Bereich der Architektur-Dokumentation. Kein Wunder, verschränken sich auf diesem Gebiet doch ohnehin Politik, Kunst und Alltag am innigsten. Jedenfalls zeigt diese Abteilung mit Fotos, Plänen und Modellen etwas sehr Beklemmendes, nämlich, daß viele deutsehe Architekten ihre (während der Bombennächte verfertigten) Pläne nach 1945 nur aus der Schublade holen mußten, um – teils unverdrossen, teils modifiziert – ungute Traditionen des Monumentalismus fortzuführen. Es werden aber auch die Sünden der Gegenströmung des rein funktionalen Bauens deutlich.

Das Ruhrgebiet kommt leider etwas knapp weg. Immerhin sieht man u. a. auch das Originalmodell der (1952 in neuer Form wiedererrichteten) Dortmunder Westfalenhalle. Auch wird (doch da tat man dem Revier zu viel „Ehre“ an) ein von verlogener Heimeligkeit triefendes Wohnambiente der 50er Jahre als Ausfluß des „Gelsenkirchener Barock“ vorgeführt – als ob es diesen Wohnstil nur in hiesigen Breiten gegeben hätte.

Beschämend kurz kommt im zweiten Stock die Mode jener Jahre. Es folgt allerdings eine hervorragend bestückte Fotografie-Abteilung. Kinder beim Ringelreihen auf dem Trümmergrundstück; Volksfest mit Riesenrad zwischen Ruinen; Kölner Karneval gleich nach der Kriegskatastrophe. Bodenloser Frohsinn mitten im Jammer? Legitimes Ausbrechen von Lebensfreude? Beginn der Verdrängung, die bis heute nachwirkt?

Die Leitfiguren der Nachkriegskunst, hier jeweils mit wenigen Bildern vertreten, sind schnell benannt: E. W. Nay, Fritz Winter, Emil Schumacher, K. O. Götz, Ewald Mataré, Gerhard Marcks. Symptomatischer aber scheinen mir drei andere Arbeiten: Erstens Wilhelm Schmurrs „Frühlingsstilleben“ (1944) – eine karge „Inventur“ wie in Günter Eichs gleichnamigem Gedicht; viel ist den Menschen nicht geblieben. Zweitens Walter Icks‘ Selbstbildnis vor einer Trümmerlandschaft (1946): Melancholischer Versuch einer Selbstvergewisserung nach dem großen Desaster. Drittens: Leo Breuers „Bahnhof Paris-Ost“ (1951), ein kaum verhüllter Anklang an Piet Mondrian, Wiederanknüpfung an die internationale Moderne.

Die Ausstellung wandert: 26.1.-23. 3.1986 Kunstmuseum Düsseldorf, 12.4.-31.5.1986 Museum Bochum. Der Katalog (fertig erst Ende November) kostet 52 DM.




Zwischen Erotik und Erniedrigung – umfangreiche Aktfoto-Schau in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Der nackte Menschenkörper vor der Kamera. In allen denkbaren Posen, Verfremdungen, Freiheiten und Zwängen; kultiviert, erhöht, aber auch vergewaltigt.

Von der Erotik bis zur Erniedrigung, vom Bild mit Kunstanspruch bis zum Kommerz-Reißer reicht das Spektrum der Ausstellung „Das Aktfoto“, die jetzt – nach langen und zähen Verhandlungen – im Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte zu sehen ist. Höchstwahrscheinlich wird dies die einzige Station nördlich der Mainlinie bleiben. Die Schau, die besonders in München Furore machte (die WR berichtete ausführlich) und nun via Frankfurt und Wien ins Revier kommt, dürfte, trügen nicht alle Sinne, wohl die bestbesuchte Ausstellung dieses Jahres in Dortmund werden. Ob sich, wie in München geschehen, auch hier Besucher vor den Bildern ihrer Textilien entledigen, bleibt abzuwarten.

Pornographie hinter einer Stellwand

2000 Exponate waren in München zu sehen. Für Dortmund wählte Dr. Jörn Christiansen rund 700 Bilder aus. Christiansen beabsichtigt eine Konzentration aufs Wesentliche, einen gerafften historischen Überblick sowie ein Kaleidoskop verschiedener Themen und Funktionsbereiche (z. B.: der nackte Körper auf Daguerreotypien, im Umfeld der FKK- und Body Building-Bewegung, des Journalismus und der Werbung). In einer verschwiegenen Ecke, hinter einer Tafel, die Jugendliche unter 18 vor dem Zutritt warnt, finden sich auch einige Beispiele für pornographische Lichtbilder.

Zusammenhänge und Querbezüge dieser ungünstig auf drei Etagen verteilten Ausstellung muß man sich erst erschließen. Fachkundige Führungen und eine Diaschau sollen dieses Problem mildern. Die Ausstellung dauert vom 21. September bis zum 8. Dezember. Der eigens für Dortmund erweiterte Katalog kostet 39 DM.




Fotografische Facetten des Reviers

Von Bernd Berke

Essen. Der schmale Durchgang vom Folkwang- zum Ruhrlandmuseum ist auf längere Sicht reserviert. Design-Studenten der Essener Gesamthochschule (Seminarleiter: Thomas Rather) werden dort, einer nach dem anderen, insgesamt zwei Jahre lang fotografische Aspekte des Reviers zeigen.

Heute abend wird die erste von fast 20 Ausstellungen eröffnet: Britta Lauers Foto-Porträts von Künstlern aus dem Ruhrgebiet und dem Rheinland (zu sehen bis 13. August).

„Reviertypischer“ soll es in den (bereits jetzt angekündigten) Folgeausstellungen zugehen. So wird etwa unter dem Titel „Mein Vater, der Kokereimaschinist“ ein „Malocher“-Leben dokumentiert. Malakowtürme und eine Dorstener Zechensiedlung sind weitere Themen. Die Geschichte eines Vorort-Sportvereins kommt gleichfalls ins Blickfeld, außerdem „Ruhrgebietsfeste – gestern und heute“ sowie „Lärmschutzwände im Ruhrgebiet“.

Obwohl auch Relikte einer Revier-Kindheit der 60er Jahre und Kinos der 50er Jahre vorkommen, liegt der Schwerpunkt nicht etwa auf Nostalgie. Mit „Ein Stadtteil verändert sich“ und „Von Kohle keine Spur mehr“ werden Neuprägungen der Industrielandschaft einbezogen.

Wenn sich – etwa Mitte 1987 – der Ausstellungsreigen geschlossen hat, soll sich als Summe (Motto: „Ortserkundung Ruhrgebiet“) eine facettenreiche optische Schilderung dieser Region ergeben haben. Zum krönenden Abschluß soll dann auch ein Gesamtkatalog vorliegen.

Die ersteAusstellung – besagte Künstlerporträts von Britta Lauer – läßt auf ein auch ästhetisch befriedigendes Projekt hoffen. Britta Lauer hat nicht einfach Köpfe abgerichtet, sondern die Künstler im Kontext ihrer Arbeit fotografiert, was oft intensive Gesprächsvorbereitungen erforderte. Die Persönlichkeiten der Künstler drücken sich sehr nuanciert aus. Das Spektrum reicht vom konventionellen Porträt bis zur ausgeklügelten Raum-(Selbst)-Inszenierung. Höchst unterschiedlich verhalten sich die Künstler zu ihren Werken: Manche stehen selbstbewußt davor, andere prüfen oder bearbeiten es, wieder andere scheinen wie zufällig aufs Bild geraten zu sein oder gar im Werk aufzugehen und zu verschwinden.




Vom Kopierer kommt die „Kunst auf Knopfdruck“

Beherzt rückt Jürgen O. Olbrich dem Kopiergerät zuleibe. Auf der dünnen Glasplatte (normale Bruchlast: 6 Kilogramm) tanzt er einen verwegenen Rock’n Roll. Ergebnis bei eingestellter Dauerfunktion: verwirrende Geflechte aus Fußabdrücken – Schwarz auf Weiß verewigt. Ein andermal ließ Olbrich Speiseeis aufdem Kopierer schmelzen und hielt den Zerfließ-Vorgang auf Kopien fest.

Derlei Aktivitäten durfte kaum ein Bürochef oder Kopierladeninhaber dulden. Immerhin: Millionen Menschen gehen täglich mit Fotokopiergeräten um. Doch nur ganz wenige kommen auf die Idee, dies spielerisch zu tun oder gar Kunst daraus zu machen. Einer von den Wenigen ist Klaus Urbons (32), der seit 1977 „Copy Art“ betreibt und jetzt in Mülheim/Ruhr das bundesweit erste „Museum für Fotokopie“ eingerichtet hat. Er zeigt dort rare Geräte aus den letzten 25 Jahren der rasant fortschreitenden Modellgeschichte – und Kunstwerke, die mit den Apparaten fabriziert worden sind. Besagter Jürgen Olbrich aus Kassel – Vertreter einer impulsiven Richtung von Copy Art – ist in der Eröffnungsausstellung vertreten.

„Copy Art“ ist möglicherweise die demokratischste Kunst, die es gibt. Urbons: „Für ein paar Groschen kann jeder mitmachen“. „Copy Art“ kann höchst simpel sein, sozusagen „Kunst auf Knopfdruck“, aber auch erstaunlich vielfältig. Es muß nicht immer so brachial zugehen wie bei Jürgen Olbrich. Eine Variante für Einsteiger sind etwa sogenannte Kopien-„Generationen“, das heißt, von einer Kopie wird wieder eine Kopie gezogen, von dieser Zweitkopie die nächste, usw. Der verblüffende Effekt ist in Mülheim anhand einer 100-teiligen Arbeit von Timm Ulrichs zu bestaunen: Die Umrisse eines abkopierten Buchdeckels werden zusehends blasser; gleichzeitig scheint die vermeintlich „seelenlose“ Apparatur selbst zeichnerisch kreativ zu werden: Sie ersetzt den verschwindenden Gegenstand durch frappierende Muster. Ulrichs kopierte übrigens ein Buch mit beziehungsreiehern Titel: Walter Benjamins „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ – eine Art „Bibel“ jeglicher Vervielfältigungskunst.

180-Grad-Darstellung des eigenen Gesichts

Klaus Urbons hat auch schon sehenswerte Selbstporträts per Kolpierer angefertigt. Er drehte beispielsweise während des Belichtungsvorgangs den Kopf und bekam eine zerrspiegelhafte 180-Grad Rundum-Ansicht des eigenen Gesichts. Weiterer Tip aus seiner Werkstatt: Legt man ein geeignetes Stück Gardine dazwischen, bekommt man obendrein ein hauchfeines Bildraster.

Verkleinerungen, Vergrößerungen, Farbkopien, nachträgliche Kolorierung von Hand, Montage oder Collage verschiedener Kopien eröffnen dem Ideenreichtum ein weites Feld. Es entwickeln sich regelrechte „Stilrichtungen“ – wie in Malerei und Skulptur. Durch Umbauten des technischen Innenlebens der Kopierer kann die Ausdrucksvielfalt nochmals gesteigert werden.

Kopier-Kunst kann zum teuren Vergnügen, ja zu einer Art Sucht werden. Klaus Urbons erinnert sich an die Zeiten, als er noch keine eigenen Geräte besaß: „Ich stand manchmal stundenlang im Copy-Shop. Nachher war ich einen ganzen Sack voller Kleingeld los, manchmal weit über 100 Mark.“ Offenbar stellen sich, ist man erst einmal dermaßen bei der Sache, Dauerlust-Gefühle wie bei Computerspielen oder an Spielautomaten ein. Urbons, der auch alle erdenklichen Texte zum Thema sammelt: „Comic-Zeichner haben dieses Phänomen längst entdeckt. Da gibt es viele Figuren, die ihr ganzes Geld im Kopierladen ver jubeln.“

Beinahe nostalgisch schwärmt der gelernte Schriftsetzer und Grafiker Urbons von den älteren Kopiergeräten. Heutige Apparate seien durchweg normiert und böten weniger Entfaltungs- und Spielmöglichkeiten. In der Anfangszeit aber hätten Konstrukteure die abenteuerlichsten Verfahren erprobt. Die Mülheimer Museumsstücke dokumentieren die Entwicklung.

Begonnen hat es (um das Jahr 1938) mit Naßkopierern, die eigentlich nur eine Weiterentwicklung der Repro-Kamera darstellen. Mit Geschick braucht man für eine Kopie mit solchen Maschinen „nur“ fünf bis sechs Minuten. Urbons bekam seine ersten Altgeräte aus jdem Gerümpelkeller eines Fachhändlers.

Die alten Geräte waren phonstarke Monstren

Heute hat er fast 40 Stück beisammen, die phonstark loslegen „wie Düsenjäger“ (Urbons) und bis zu einer halben Tonne wiegen. Das schafft neben Transportschwierigkeiten auf Dauer auch arge Platzprobleme. Urbons hat, außer seinem kleinen Museum, mittlerweile schon zwei Garagen randvoll mit Kopiergeräten bestückt. Dennoch sucht er weitere Raritäten. Für den Tag der Ausmusterung sind ihm schon die frühesten je gebauten Kopierer der Firma Xerox versprochen, die noch heute an der Technischen Hochschule Aachen in Gebrauch sind.

Inzwischen ist Urbons so gewieft, daß er schon Umbauten an Kopierern vornimmt, die die Hersteller nicht für menschenmöglich gehalten hätten. Fernziel: Der Mülheimer möchte einen Kopierer anfertigen, der ganz speziell auf Künstler-Bedürfnisse zugeschnitten ist.

Die neuesten Trends und Gags hat sich Urbons kürzlich auf der Hannover-Messe angesehen. Staunend stand er vor da Kopierern, die per Computer angesteuert werden können – das Verbindungsglied zwischen Computergrafik und „Copy-Art“: Weitere Neuheit, die ebenfalls für Künstler interessant ist: Relief-Kopierer, die – „Sprung in die dritte Dimension“ – fühlbar erhöhte bzw. vertiefte Oberflächenstrukturen vervielfältigen können. Ursprünglich war diese plastische Technik zur Wiedergabe von Blindenschrift erfunden worden. Schließlich träumt Urbons davon, via Telekopierer fixen Kontakt zu Zunftgenossen aufzunehmen.

Kopierkünstler ringen noch um ihre Anerkennung. Zwar läuft derzeit die erste einschlägige „Biennale“ in Barcelona, und seit 1980 ist eine Kopierausstellung auf US-Tournee, doch hat sich bislang noch kein renommiertes Museum dieser Richtung angenommen.

Die Preise freilich pegeln sich mittlerweile schon auf kunstmarktübliche Höhen ein. Ein Großformat in der Mülhimer Ausstellung fand für schlanke 1000 DM einen Käufer. Bescheidener gibt sich der gleichfalls ausgestellte Roland Henß-Dewald. Preisangabe unleT einer seiner Arbeiten: „1000 Blatt A-4-Papier“.

„Museum für Fotokopie“, 4330 MüIheim/Ruhr, Friedrichstraße 59. Ständige Geräte- und wechselnde Kunstausstellungen. Geöffnet donnerstags 18-21 Uhr. Besuchstermine auch nach telefonischer Vereinbarung (0208/34 461). Vorführung von Geräten und eigene Kopierversuche sind möglich. Die Eröffnungsausstellung dauert bis 30. Mai.

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Erschienen in der Rundschau-Wochenendbeilage vom 18. Mai 1985

 

 




Verblüffende Rundblicke auf das Ruhrgebiet

Von Bernd Berke

Essen. Der normale Blickwinkel des Menschen umfaßt einen Kreisausschnitt von etwa 40 Grad. Um mehr zu sehen, muß man den Kopf bewegen. Wie es wäre, wenn man „augenblicklich“, also ohne Kopfdrehung, über eine vervierfachte Rundumsicht verfügen könnte, das lassen die im Essener Folkwang-Museum ausgestellten „Panoramafotos des Reviers“ ahnen (bis 22. April, Katalog 15 DM).

Der Duisburger Diether Münzberg (39) hat an besonders charakteristischen Flecken des Reviers seine Kamera auf eine drehbare Vorrichtung montiert, die 160 Grad abschwenkt, während der Farbfilm im Kameragehäuse transportiert wird. Der Breitwand-Effekt ist verblüffend. Selbst Gegenden, die man tausendmal gesehen zu haben glaubt, werden zu befremdend künstlichen (Stadt-)Landschaften, obgleich man doch jedes Detail der Realität wiederfindet.

Es enthüllt sich der wahre Kern eines Klischees: das geradezu atemberaubend dichte Beieinander der verschiedensten baulichen und industriellen Geschichts-„Ablagerungen“ im Revier. Rudimente von Landschaft, alte Zechenhäuser, gesichtslose Schnellstraßenschneisen und Supermärkte, die Trinkhalle um die Ecke, Industrie-Silhouetten – all diese strukturlose Vielfalt verdichtet sich zu einem verfremdeten Eindruck dieser Region, der jenseits aller Querelen um das Image des Ruhrgebiets liegt. Das Monströse und das Liebenswerte, das Gespenstische und das Anrührende liegen nämlich dicht, manchmal kaum trennbar beieinander.

Die Panoramabilder haben auch bei der Ruhrkohle AG Eindruck gemacht, die eine Motivauswahl in ihrem ]ahreskalender ’85 abdruckte.




Nur Stichproben der fotografischen Kunst

Von Bernd Berke

Bochum. Wer immer strebend sich bemüht, wird im weitläufigen Bochumer Museumsbau irgendwann auch auf die beiden Ausstellungen „Fotokunst aus NordrheinWestfalen“ (bis 20.1.85) und „Kunst gegen den Faschismus“ stoßen, die beide heute eröffnet werden.

Die nicht einmal umfangreiche Fotoausstellung (15 Exponate) mußte aus Platzgründen auf zwei Geschosse verteilt werden, die antifaschistische Kunst wird in der ständigen Schausammlung versteckt.

Die Lichtbilder stammen aus dem Besitz des Kultusministeriums, wurden im Rahmen des Spektakels „NRW Kultur ’84“ aus den Magazinen der Landeskunstsammlung geholt und waren bereits in Marl zu sehen. Die 15 Exponate von ebenso vielen Künstlern können allenfalls als Stichproben fotografischer Kunstanstrengungen in diesem Lande gelten. Nicht die fotografische Einzeldarstellung, sondern die – sicher durch andere Massenmedien geprägte – serielle Reihung von Bildern, deren feine Unterschiede man sich erst „erschauen“ muß, bildet hier den Hauptstrang; so etwa bei den 126 rot kolorierten Bildern des Düsseldorfers Michael Sauer (Titel: „Mannesmann“), auf denen abstrakt wirkende Details der Arbeitswelt den Menschen schier erdrücken, oder bei den „Industrieportalen“ von Tata Ronkholz aus Hürth, die die Arbeitswelt als bedrohlich abgeschlossenen Sektor hervortreten lassen.

Mit archaischen Zeichen hingegen arbeitet die Kölnerin Astrid Klein, deren Arbeit „Einatmen – ausatmen“ einer Höhlenzeichnung ähnelt. Der Katalog (10 DM), in Düsseldorf erarbeitet, ist alles andere als gelungen, hat man sich doch bei der Abfolge der Reihungen mehrfach verzettelt.

Parallel beginnt die Ausstellung „Kunst gegen den Faschismus“ mit rund 40 Exponaten aus Eigenbesitz. Sie versammelt Zeitdokumente zur Bochumer Synagogen-Brandstiftung in der sogenannten „Reichskristallnacht“ 1938 und künstlerische Antworten (u. a. von John Heartfield, Federico Garcia Lorca, Henry Moore) auf den Faschismus.




Messe-Rahmenprogramm: „Photokina“ stellt das gedruckte Bild in den Blickpunkt

Von Bernd Berke

Köln. Auf massenwirksame Lichtbilder setzt diesmal die „Photokina“-Messe mit ihrem Beiprogramm in Köln. War man 1980 und 1982 mit anspruchsvollen Bilderschauen in die Kunsthalle ausgewichen, präsentiert man sich nun wieder auf dem Messegelände – unter dem populären Leitthema „Das gedruckte Foto“.

Profis und Amateure können sich Anregungen in jederlei Format holen, denn Bilder auf Briefmarkengröße („Foto-Philatelie“) werden ebenso gezeigt wie gigantische Abzüge aus Foto-Jahrbüchem und Kalendem, aus dem Bereich besonders kreativer Reklame-Fotografie oder aus preisgekrönten Foto-Reportagen. Auch sonst weniger beachtete Sparten sollen zur Geltung kommen, beispielsweise Aufnahmen aus Theater-Programmheften, die ansonsten nur am jeweiligen Ort beachtet werden und nach der Auffiihrung meist in die Schublade wandern.

Eingeleitet wird die Fülle der Exponate mit einer historischen Abteilung. Dort kann man anhand zahlreicher Beispiele nachvollziehen, wann und wie die Erfindungen der Fotografie und des Rotationstiefdrucks vereinigt wurden undadenaSiegeszug des „gedruckten Fotos“ einleiteten. ln Deutschland nahm diese Entwicklung um 1912 ihren Lauf. 1913 erschien bereits die erste Illustrierte, der „Berliner Weltspiegel“. Eine Auswahl von Fotos aus den 50er Jahren erweitertdie Rückbesinnung.

Zurück zur Gegenwart: Auch Anhänger von Sofortbild-Kameras kommen bei den Bilderschauen nicht zu kurz. Gedruckte und signierte Schnellbilder machen einen eigenen Ausstellungsteil aus. Weiterer Zweig des Mediums: fotografisch gestaltete Schallplattenhüllen.

Was Amateure auf fotografischem Gebiet zu leisten vermögen, belegen ebenfalls mehrere Film- und Bilderschauen. Da werden u. a. die Siegerfotos des bundesweiten Wettbewerbs „Blende ’84“ vorgestellt, und Super-8-Fans steuern ihre Ansichten zum Thema „Lokalereignis“ bei. Schließlich sind die Gewinnerfotos eines Jugendwettbewerbs (Aufgabenstellung: „Meine Freizeit“) zu besichtigen.

Sämtliche Bilderschauen sind – nicht nur furs Fachpublikum – während der ..Photokina“ (10. bis 16. Oktober) zu sehen. Dafür muß man allerdings an der Tageskasse 30 DM Eintritt hinblättern. Preiswerter wird’s nach Messeschluß: Dann sieht man das Rahmenprogramm für 5 DM (17. bis 28. Oktober). Alle Bilderschauen befinden sich in den Rheinsälen des Messegeländes und in den neuen Glas-Pavillons (Nähe Messeturm). Öffnungszelten: bis 16. Oktober täglich 9 bis 19 Uhr, ab 17. Oktober täglich 10 bis 18 Uhr.




„Die Gleichschaltung der Bilder“ – Pressefotos in der NS-Zeit

Von Bernd Berke

Essen. Mal wurde dem Göring der Schmerbauch wegretuschiert, mal ein Foto, das Hitler mit Brille zeigte, nicht freigegeben. Doch meist bedurfte es solch eindeutiger Manipulationen gar nicht: „Die Gleichschaltung der Bilder“ – so der Titel einer jetzt in Essen eröffneten Ausstellung mit Pressefotos – erfolgte ab 1933 vielfach ohne große Reibungsverluste.

Die Originale und Reproduktionen aus Illustrierten sollen ausschnittweise die Art der journalistischen Bildberichterstattung zwischen 1930 und 1936 dokumentieren. Die Exponate, zusammengestellt vom „Berliner Forschungsprojekt zur Geschichte der Pressefotografie“, waren bisher nur an der Spree zu sehen.

Die begrenzte Auswahl kann nur Schlaglichter auf die Problematik werfen. Zuweilen vermißt man ausführlichere, erläuternde Texte. Dennoch ahnt man, daß die faschistischen Machthaber zwar im Oktober 1933 mit dem „Schriftleitergesetz“ die wenigen noch widersetzlichen Presseorgane ins Joch zwangen, sich im Großen und Ganzen aber auf die Selbstzensur der Journalisten verlassen konnten. Zudem wachte ein 23-jähriger SS-Mann als dilettierender Foto-Amateur gleich zum Leiter der Bildpressestelle im Propagandaministerium befördert, mit zwölf Hilfswilligen in der Pressemetropole Berlin über die Einhaltung der Zensur.

Illustriertenfotos, vor der Glanzzeit des Tonfilms wohl das schlagkräftigste Medium, erlebten in den letzten Jahren der Weimarer Republik ihre eigentliche Blütezeit. Doch von wenigen Ausnahmen abgesehen, kaprizierte man sich schon vor 1933 auf Harmlosigkeiten oder auf vermeintlich unpolitische Sensations-Bebilderung, so daß der Übergang zu den „Kraft-durchFreude“-Illustrationen der NS-Jahre fast nahtlos erfolgen konnte. Außerdem: Durch neue Textzeilen konnte ein und dasselbe Bild einen genehmen Sinn erhalten.

Prof. Diethard Kerbs, Leiter des Projekts Pressefotografie, sucht nach weiterem Belegmaterial (Kontaktadresse: Schillerstraße 10, 1000 Berlin 12). Dies sei umso notwendiger, als die größten Bilddienste sehr einseitig archiviert hätten. Kerbs: „Vom Vorzeige-Militär Mackensen gibt es noch Hunderte von Fotos, von Carl von Ossietzky nur einige wenige.“

„Die Gleichschaltung der Bilder“. Pressefotografie 1930-36. Alte Synagoge, Essen, Alfredistraße, bis 11. März.




Schocks und Lügen – Fotos aus 35 Kriegen

Von Bernd Berke

Siegen/Recklinghausen. K e i n Kunstgenuß erwartet die Besucher der Kunsthalle Recklinghausen und der Städtischen Galerie „Haus Seel“ in Siegen.

Gleichzeitig in beiden Häusern wird man jetzt mit schonungslosen Dokumenten menschlichen Leids konfrontiert: „Bilder vom Krieg“, eine vom Hamburger „Stern“-Magazin zusammengestellte Ausstellung mit 254 Schwarz-Weiß-Fotos, zeigt unfaßbare Szenen der Grausamkeit vom Amerikanisch-Mexikanischen Krieg (1848) bis zur Schlacht um Beirut (1982): US-Bürgerkrieg, Krimkrieg, Kolonialkriege, die beiden Weltkriege, Hiroshima, Korea- und Vietnamkrieg, Sinaikrieg und, und, und…

Der Schock, der sich unfehlbar einstellt, wenn man die Bilder aus über 130 Jahren und 35 verschiedenen Kriegen sieht, ist selbstverständlich beabsichtigt. Man kann die Ausstellung nur mit dem brennenden Wunsch „Nie wieder Krieg!“ verlassen.

Allerdings zeigen nicht all diese Bilder das wahre Gesicht des Krieges. Besonders in der Frühzeit der Fotografie nämlich gaben Schlachtenlenker die Parole „No dead bodies“ („Bloß keine Leichen“) aus, um dem Volk weiter den hehren Einsatz fürs Vaterland und siegreiches Heldentum vorgaukeln zu können.

Waren es zunächst naiv-idyllische Genre-Szenen, die man mit dem Fotoapparat herbeilog, so sollte die Illusionsmaschinerie bald zur Attacke übergehen: Regierende und Militärs erklärten die Arbeit des Kriegsfotografen zum kriegswichtigen „Wehrdienst mit der Kamera“ (man denkt unwillkürlich an den Ausdruck „ein Bild schießen“). Statt zerfetzter Leichen mußten also also z. B. stolzgeschwellte Veteranen des Krimkriegs oder auch eine pittoreske weiße Wolke vor dem Kanonenröhr abgelichtet werden, als diene der Gebrauch der Waffe einzig dem ästhetischen Vergnügen. Kriegslüstern jubelnde Soldaten und Zivilisten (Aufbruch in den 1. Weltkrieg), immer wieder von falscher Romantik triefende Bilder mit Soldatenbräuten oder zynischer Show-Glamour beim Auftritt von Front-Unterhaltern (z.B. Marilyn Monroe im Koreakrieg) gehören in verwandte Kategorien. Man erschrickt über die vielföltigen Möglichkeiten fotografischer Manipulation.

Wenn dennoch realistische Bilder gemacht wurden, bekamen die jeweiligen Zeitgenossen sie oft nicht zu Gesicht. Die Aufnahmen verschwanden in Archiven und wurden erst späteren Generationen zugänglich gemacht. In neuerer Zeit, so macht die Ausstellung deutlich, nahm die Ehrlichkeit (oder nur die Abgebrühtheit der Massenmedien und ihrer Konsumenten?) zu: Bei den schlimmsten Ereignisse waren und sind die Zeitgenossen nun „live“ dabei. Der Vietnam-Krieg war übrigens der erste, bei dem die Kamera Anklägerfunktion bekam und bewußt als „Waffe“ gegen den Krieg eingesetzt wurde.

„Bilder vom Krieg“: Kunsthalle Recklinghausen 28. August bis 20. September / Siegen (Städtische Galerie Haus Seel) 27. August bis 18. September, Katalog 29,80 DM




2568 Fotos stellen die TV-Realität in Frage

Von Bernd Berke

Bonn. Unsere vom Fernsehen entscheidend umgeprägten Sehgewohnheiten stellt ein Mammutwerk dar, das jetzt in der Bonner Kunsthalle zu sehen ist.

Sein Urheber, der 33-jahrige Wahl-Düsseldorfer Klaus Mettig, muß sich einer beachtlichen TV-Nachrichtenberieselung unterzogen und dabei seinen Fotoapparat stets „schußbereit“ auf den Bildschirm gerichtet haben. So entstanden Tausende von Schwarz-Weiß-Bildern, „eingefrorene“ Mattscheiben-Momente, von denen Mettig exakt 2568 Stück zu riesigen Bildwänden zusammenfügte.

Die schier endlose Fotoreihe (alle Bilder dicht an dicht, im einheitlichen Rechteckformat), die sich in Bonn durch eine ganze Raumflucht zieht, war bisher nur im holländisehen Eindhoven komplett und auf der „documenta 7″ in Teilen zu sehen.

Man mag an das kürzlich von Bodo Harenberg in Dortmund präsentierte Geschichts-Allerlei „Monumenta ’83“ denken. Aber: Was beim ersten Hinsehen wie eine gestaltlose Addition oder bloße Anhäufung wirkt, enthüllt sich hier bei näherer Betrachtung als listenreicher Kommentar zur gewohnten Mediennutzung: 2568 Ausschnitte aus der TV-„Realität“ – das sind zahllose pompöse Staatsakte, geschniegelte Nachrichtenverleser, lakonische Schrifteinblendungen zu Katastrophen, garniert mit Börsentabellen, dazu Kriege, Demonstrationen, Porträts der Mächtigen und Massenszenen mit den Ohnmächtigen.

Dies alles, so legt es Mettigs schmucklose Aufreihung nahe, wird über den gleichen Medienleisten geschlagen, somit eingeebnet und sämtlich gleichermaßen (un)wichtig oder (un)wirklich. Was, etwa als „Tagesschau“ oder „Heute“, schnell und gnädig am Zuschauer vorüberflimmert, ist hier von unerbittlicher Statik.

Die optische Kürzelsprache der Nachrichtenvermittlung, sonst kaum noch bewußt, wird in ihre Einzelteile zerlegt. Und seltsam: Man bekommt so etwas wie Mitleid, nicht nur mit den „behandelten“, sondern auch mit den handelnden Personen der Zeitgeschichte – so hilflos und verloren wirken die Gesichter der Machthaber im fotografisch gestoppten Fernsehbild.

Kunstmuseum Bonn, Rathausgasse 7, bis 4. September