Erst Rocksängerin, dann Bildhauerin – Pia Bohr: „In der Kultur haben es Frauen immer noch schwerer“

Im Atelier: Pia Bohr mit ihrer Skulptur „Big Engel“. (© Foto: Melanie Hoessel)

Geht’s um Frauen im Kulturbetrieb, so kann Pia Bohr (61) fundierte Auskunft geben. Zuerst hat die Dortmunderin sich über 25 Jahre lang als Sängerin der international gefeierten Kultband „Phillip Boa & the Voodooclub“ verdingt, dann ist sie nach und nach in die Kunstszene gewechselt und hat sich als Bildhauerin etabliert – zuerst mit Holzskulpturen, seit einiger Zeit mit ebenso organischen und biomorphen Schöpfungen in Bronze, weil die Arbeit mit diesem Material körperlich weniger aufreibend ist.

Besuch in ihrer Werkstatt im Dortmunder Klinikviertel, Dudenstraße 4. Hier blüht buntes Leben: Im selben Hinterhof befinden sich eine Kita und das BVB-Fanprojekt. Wir sitzen inmitten einiger ihrer neueren Arbeiten. Ihr Werkstatt-Raum atmet die angenehme Atmosphäre früherer Zeiten, hat gleichsam Patina – bis hin zum nostalgischen Radio aus den 1960er Jahren. Es funktioniert noch einwandfrei. Auch ihre Bronze-Skulpturen, so Pia Bohr, „werden so ziemlich alles überdauern. Sie schmelzen erst bei 1100 Grad.“ Bei dieser Temperatur entstehen sie auch – in einer hochspezialisierten Gießerei im münsterländischen Drensteinfurt. Bundesweit gibt es nur noch ganz wenige vergleichbare Betriebe. Veredeltes Handwerk.

Ja, für Frauen sei es in der Kultur immer schwieriger als für Männer, auch heute noch. Als Sängerin habe sie vielen Fans und Kollegen bloß als „blondes Schätzchen“ gegolten, dabei habe sie selbst etliche Songs für Phillip Boa geschrieben. Gut, dafür fließen (oder rinnen) immer noch ein paar Tantiemen, aber die Anerkennung hielt sich in Grenzen. Überdies gab es abstrusen Rechtsstreit: Als Sängerin hieß sie Pia Lund, doch wurde ihr juristisch untersagt, diesen Namen auch als Bildhauerin zu tragen. Dann halt Pia Bohr. Zur Bandgeschichte gehört schließlich auch, dass ihre damalige Ehe zerbrochen ist. Eine tolle Zeit war es gleichwohl, als die Gruppe beispielsweise mit dem Produzenten von David Bowie arbeiten konnte.

Wie war es dann als Künstlerin? Auch da habe sie kämpfen müssen. Nun nicht mehr in konfliktreicher Gruppendynamik, sondern als Einzelne – mit größeren Freiheiten, aber auch gewachsenen Risiken. Ein männlich dominierter Künstlerbund habe sie partout nicht aufnehmen wollen. Es gab gar Kollegen, die ihr ausreden wollten, Skulpturen mit glatten Oberflächen zu gestalten. Warum? Tja. Einfach mal so. Bestimmen wollen. Herrschaft ausüben. Überdies hatte sie kein Kunststudium vorzuweisen, erst recht nicht bei einem prominenten Professor. Als käme es im Schaffensprozess nicht auf andere Dinge an. Auf Liebe zum Material und Beseelung des Stoffes. Auf Formfindung und Proportionen. Auf innere Wahrhaftigkeit. Und dergleichen mehr. Als Bezugsgrößen für ihr Schaffen nennt Pia Bohr die Oeuvres von Hans Arp, Francis Bacon und Louise Bourgeois.

Vor Relikten des früheren Hoesch-Stahlwerks: Pia Bohrs Arbeit „Die Spionin“. (© Foto: Bruno de Piero)

Und die Zukunft? Scheint, gerade für Frauen, nicht eben rosig zu werden. Pia Bohr beobachtet vielfach eine Wendung rückwärts. Mühsam erstrittene Frauenrechte seien zunehmend bedroht, sagt sie. Im Gefolge des Rechtspopulismus machten sich sogenannte „Trad Wives“ (etwa: Traditionsweibchen) breit, die vorzugsweise mit Trachten oder Schürzen dienende Rollen annähmen, fast wie die „braven Muttis“ in den 1950er Jahren. Dementsprechend erstarke auch der Machismo, keineswegs „nur“ in der kulturellen Sphäre. Wehmütig lächelnd erinnert sich Pia Bohr des Titels ihrer digitalen Graphik: „Das Ende des Patriarchats“. Schön wär’s ja…

Als Ur-Dortmunderin hadert sie, wie so viele, gelegentlich mit dieser Stadt: „Dortmund ist kulturelle Provinz.“ Und nebenan? Nun, schon in der Unistadt Bochum sehe es besser aus. Ungleich lebendiger sei es in Berlin, wie sie kürzlich wieder erleben durfte. Doch da wolle sie nicht dauerhaft hin. „Da gibt es schon so viele Künstlerinnen und Künstler.“

Von Selbstverwirklichung in den Künsten redet sie nicht gern. Noch weniger mag sie die Redensart, jemand mache „das Hobby zum Beruf“. Nein, kulturelles Schaffen sei vor allem harte Arbeit. Es sei freilich wunderbar, wenn sie sehe, wie Leute ihre Skulpturen liebevoll berühren. Dabei werden, neben geglätteten Partien, auch Narben und Verletzungen in Holz oder Bronze spürbar. Schmerzliche Schönheit. Frauen riskierten derlei haptische Annäherung übrigens eher und inniger als Männer. Woran es wohl liegt?

Über all die Jahre hinweg macht Pia Bohr dieselbe Erfahrung: Oft ist unklar, wann der nächste Gig (Auftritt) oder Kunstkauf ansteht. Daraus folgt permanenter Druck. Zwar kann sie inzwischen von der Bildhauerei leben, doch haben ihr die Zeiten der freischaffenden Existenz nur einen kümmerlichen Rentenanspruch eingebracht. Wir nennen den Betrag hier nicht, es könnten einem schier die Tränen kommen. In wilder bewegten Jahren macht man sich ja auch wenig Gedanken über Einkünfte im „Ruhestand“. Auch so ein Wort, das ihr widerstrebt.

„Frauen in der Kunst“ – das Thema findet Pia Bohr wichtig. Aber: „Dass es eigens hervorgehoben wird, zeigt auch, dass es leider immer noch nicht selbstverständlich ist.“ Wo sie recht hat…

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Der Text ist zuerst im Kulturmagazin Westfalenspiegel (Münster) erschienen: www.westfalenspiegel.de

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Vom 10. Mai bis zum 8. Juni 2025 ist unter dem Titel „helle wachträume“ eine gemeinsame Ausstellung von Pia Bohr und Sonia Ruskov zu sehen, und zwar in der Produzentengalerie „Friedrich 7″ (Friedrich-Ebert-Straße 7, 44263 Dortmund). Öffnungszeiten: Mittwoch 16-18 Uhr, Samstag/Sonntag 14-17 Uhr.

Weitere Infos über die Künstlerin: www.bohrskulpturen.de




Wachsendes Interesse an Musik von Frauen: Warum der Weg ins Repertoire verwehrt blieb und was sich heute ändern muss

Zur „Wiederentdeckung des Jahres“ kürte das Fachmagazin „Opernwelt“ Louise Bertins Oper „Fausto“, die am Aalto Musiktheater im vergangenen Jahr ihre deutsche Erstaufführung feiern konnte. Jetzt war das Stück erneut in Essen zu erleben, mit Mirko Roschkowski (Fausto, rechts) und Almas Svilpa (Mefistofele). (Foto: Froster)

Komponierende Frauen gibt es, seit es die europäische Kunstmusik gibt, nur ist ihnen die Beachtung über den Tag hinaus versagt geblieben. Erst in jüngster Zeit gelingt es Komponistinnen, dauerhaft im Blick der musikalischen Öffentlichkeit zu bleiben. Die vor wenigen Tagen verstorbene Sofia Gubaidulina ist eine von ihnen, oder die Finnin Kaija Saariaho, die 2023 gestorben ist und deren letzte Oper „Innocence“ am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen eine großartige deutsche Erstaufführung erlebt hat.

Für das Defizit gibt es vielerlei Gründe, die nicht in der Qualität der Musik liegen: Im 19. Jahrhundert etwa waren Frauen wie die Italienerin Orsola Aspri (um 1807-1884) selbstverständlicher Bestandteil des römischen Operngeschäfts, wie die Wiener Musikwissenschaftlerin Melanie Unseld festgestellt hat. Warum Werken von Frauen den Weg ins historische Repertoire verwehrt wurde, hat gesellschaftliche und ideologische Gründe: eine männlich geprägte Presse, männliche Träger der Überlieferung und der Wissenschaft, schließlich auch der „Geniekult“ des 19. Jahrhunderts, für den ein auf Augenhöhe komponierendes „schwaches Weib“ undenkbar war.

In den letzten Jahren wächst das Interesse an dem, was Frauen hinterlassen haben. Bevor die Qualität ihrer Musik einem nach heutigen Kriterien fundierten Urteil unterworfen werden kann, muss sie erst einmal entdeckt und gehört werden. Denn noch so sorgfältige Editionen, noch so detaillierte musikhistorische Vergleiche nützen nicht viel, wenn sie nur zum Rascheln von Papier führen.

Merle Fahrholz bei der Pressekonferenz zu ihrer Vorstellung als neue Essener Intendantin 2021. (Foto: Werner Häußner)

Merle Fahrholz, die 2022 angetretene und 2027 schon wieder scheidende Intendantin des Aalto-Theaters Essen hat sich dieses Themas schon als Dramaturgin in Dortmund angenommen und für ihre Intendanz die Sicht- bzw. Hörbarkeit der Stimmen von Frauen zu einem programmatischen Schwerpunkt erklärt. Dass ein solches Projekt beim eher vorsichtig-traditionell geprägten Essener Publikum nicht gleich auf heftige Gegenliebe stößt, müsste auch den Verantwortlichen klar gewesen sein, die Fahrholz ihr Vertrauen geschenkt haben. Dass es nun ab 2027 wohl wieder weitergehen könnte, wie gehabt, ist bedauerlich.

Ein französischer „Faust“

Dabei ist nicht recht einzusehen, warum eine Oper wie Louise Bertins „Fausto“ – 2023 in deutscher Erstaufführung auf die Aalto-Bühne gebracht – auch bei einem eher das Gewohnte liebende Publikum nicht auf Gegenliebe stoßen sollte. Die Französin Bertin, eine körperlich beeinträchtigte junge Frau, die von ihrem Vater in jeder erdenklichen Weise gefördert wurde, konnte immerhin drei ihrer vier Opern auf Pariser Bühnen unterbringen – und der Konkurrenzdruck war um 1830 riesig!

Die Essener Aufführung in der Inszenierung von Tatjana Gürbaca, die im Februar noch einmal für eine kleine Serie wieder aufgenommen wurde, zeigt Bertins Eigenheiten im Umgang mit dem Stoff: Sie benutzt andere Quellen als Goethe und schildert einen Faust, der einem unerreichbaren Glück hinterherjagt und dafür bereit ist, die Existenz der jungen Margarita zu zerstören. Die Menschen in diesem Stück sind wankelmütig, manchmal zynisch, aber auch den Zwängen ihrer Gesellschaft unterworfen. Für die Mädchen etwa ist die Liebe Segen und Fluch zugleich: Sie sehnen sich nach Beziehung, wissen aber auch, wie ambivalent die Ehe als einzige akzeptierte gesellschaftliche Form sein kann. Und Mephisto ist bei Bertin eher ein Kommentator, der sich wundert, wie die Menschen sich ihr Glück und Leben selbst zugrunde richten.

Komponistin Louise Bertin. (Foto: Bru Zane Mediabase)

Das ist ein Stoff, der unter den Libretti bekannter Opern problemlos mithalten kann. Und die Musik? Bertin ist sich ihrer Mittel bewusst. Sie kennt den „Tonfall“ ihrer Zeit: Kantilenen á la Donizetti, Buffoneskes nach Art Rossinis, dazwischen Lyrismen, die aus dem Zauberkasten der erfolgreichen Opern Daniel François Esprit Aubers stammen könnten. Aber der Ton ist auf eine charmante Weise eigen, das Eklektische in der Musik hat seinen Platz. Man spürt, dass es dieser komponierenden Frau ums Ganze geht.

Blick in die Vergangenheit reicht nicht

Den Blick nur in die Vergangenheit zu richten, wäre eine halbe Sache: Frauen gehören in der zeitgenössischen Szene zwar vorbehaltlos dazu. Eine „Quote“ wäre auch abwegig und würde ihrer Musik einen Stempel aufdrücken, der ihr nicht bekommt. Gespielt werden soll, was gut ist. Aber neue Stücke müssen sich durchsetzen – und das bedeutet, dass eine Uraufführung hier und da zwar dienlich, aber nicht nachhaltig ist.

Das Fahrholz-Team weiß das, und hat für eine deutsche Erstaufführung die Oper „The Listeners“ der Amerikanerin Missy Mazzoli nach Essen geholt. Ein Werk, das den Stand des Komponierens in den USA anschaulich repräsentiert. „Accessible and surprising“ beschreibt Mazzoli ihre Absicht, mit ihrer Musik Menschen zu erreichen, ohne Kompromisse in der Qualität zu machen. Bei ihr stehen nicht Form und Struktur im Vordergrund, sondern der Klang, den der Essener GMD Andrea Sanguineti „eine Umarmung“ genannt hat.

Szene aus der Deutschen Erstaufführung von Missy Mazzolis „The Listeners“ am Aalto-Theater Essen. (Foto: Alvise Predieri)

„The Listeners“ ist ein ambivalenter Titel: Es geht um Menschen, die einen Brummton hören, der nicht von innen kommt und als Teil der Außenwelt feststellbar ist. Claire bricht – von diesem Ton gepeinigt – aus ihrer geordneten Lehrerinnen- und Familienwelt aus. Sie schließt sich mit Kyle, einem ihrer Schüler, der den „Hum“ auch hört, einer Selbsthilfegruppe an, die immer deutlicher sektenähnliche Züge zeigt. Schließlich entlarvt Claire den charismatisch-manipulativen Führer Howard und wird selbst zur Anführerin der Gruppe der „Hörenden“. Ein offenes Ende, denn Claire hat sich zwar von ihren bisherigen Rollenzwängen befreit, ob sie aber die Gruppe in eine bessere Zukunft führt, ist fraglich.

Manipulation und Befreiung

Das Thema des Librettos nach einer Erzählung von Jordan Tannahill lässt unterschiedliche Verständnisfacetten zu: Es schildert typische Mechanismen einer Sektenbildung und die Dynamik einer Manipulation, wie sie etwa bei Scientology beobachtet wurde. Aber es rückt auch den Entwicklungsprozess einer Frau ins Zentrum, die zu ihrer eigentlichen Bestimmung durchbricht. Die vieldeutige Figur eines Koyoten, dargestellt von einem Tänzer, eröffnet zusätzliche Horizonte, wenn man die Rolle des Tieres in der amerikanischen Mythologie einbezieht oder in ihm ein Symbol von „Wildheit“ oder „Natur“ erblickt. Anna-Sophie Mahlers Inszenierung hat diese Aspekte von Mazzolis Oper anklingen lassen, ohne sich zu sehr festzulegen.

Zur letzten Vorstellung von „The Listeners“ stellt sich im Rahmen des Festival „her:voice“ die extra angereiste Komponistin Missy Mazzoli den Fragen des Publikums. (Foto: Werner Häußner)

„The Listeners“ ist auch beachtenswert, weil es gelingt, einen zeitgenössischen Stoff ohne literarische Vorbilder oder historische Bezüge auf die Bühne zu bringen. Das erreichte auch Kaija Saariahos „Innocence“, zu der die finnische Librettistin Sofi Oksanen die Grundlage geliefert hat. Auch hier geht es um Gegenwärtiges: Zehn Jahre nach einem Schulmassaker müssen sich die Familie und die Schulfreunde des Amokschützen ihren Erinnerungen, ihren Gefühlen und auch ihrer Mitschuld stellen. In der Regie von Elisabeth Stöppler und der musikalischen Ausdeutung durch Valtteri Rauhalammi gelang ein erschütternder Abend im Musiktheater. Derzeit wird das Werk auch an der Semperoper Dresden in einer Inszenierung von Lorenzo Fioroni gezeigt.

Für die Amerikaner ist das „well made play“ ein wichtiges Kriterium für ein Stück – ein Konzept, das von manchen von Intellekt triefenden Libretti der deutschen Opernszene weit entfernt ist. Mazzolis Librettist Royce Vavrek gehört zu den am meisten gefeierten Musiktheater-Literaten der USA. Warum, war nicht nur in „The Listeners“ erfahrbar: Die Oper „Dog Days“ etwa, die er mit dem Komponisten David T. Little 2012 geschaffen hat, war in Bielefeld, Schwerin und Braunschweig zu sehen und hat in ihrer dystopischen Rätselhaftigkeit den Ruf Vavreks bestätigt. Für die „New York Times“ hat die Oper das Zeug zum „bahnbrechenden amerikanischen Klassiker“.

Kammermusik und Symphonik

Viel mehr noch als für die Oper haben Frauen im Bereich der Kammermusik geleistet. Sie waren entweder selbst ausübende Musikerinnen wie Clara Schumann, Sängerinnen wie Pauline Viardot-Garcia, oder hatten die private Sphäre eines Salons als Plattform, um sich als Komponistin zu zeigen. Wie diese Werke klingen, war in Essen beim zweiten Komponistinnenfestival „her:voice“ hörbar: In einem Kammerkonzert erklang Musik von Alma Mahler-Werfel, die derzeit auch im Essener Museum Folkwang in einer Ausstellung („Frau in Blau – Oskar Kokoschka und Alma Mahler“) präsent ist. So gut wie unbekannt sind ihre Zeitgenossinnen Evelyn Faltis (1887-1937) und Mathilde Kralik von Meyerswalden (1857-1944).

Alma Mahler stand auch beim Symphoniekonzert der Essener Philharmoniker im Zentrum: Bearbeitet für Alt und Orchester von Jorma Paula, erklangen fünf ihrer Lieder, die erhalten sind, weil sie der begeisterte Gustav Mahler im Druck erscheinen ließ. Es sind lyrische Miniaturen, durchtränkt von spätromantischer Melancholie, in denen sich Liebende im weiten Wald in sternlosem Dunkel finden und im düsteren Nebel ein Kindermund ein „Lichtlein“ aufgehen lässt. Bettina Ranch sang die Kostbarkeiten, gestützt von der gekonnt revitalisierten romantischen Orchestersprache, eher auf Klang als auf Deklamation bedacht mit weich strömenden Vokalen und Brokatschimmer im Timbre.

Auch im Falle der Symphonik wirkt in der Entstehung des „Kanons“ von Beethoven bis Bruckner und Mahler ein analytischer Filter mit: Relevant und anerkannt ist, was gattungsgeschichtlich Neues mit sich gebracht hat. Zu den nicht wenigen Symphonien, die diesen Anspruch nicht erfüllen, aber dennoch satztechnisch tadellose, abwechslungs- und einfallsreiche Musik bieten, gehören nicht nur Werke komponierender Frauen. Auch Symphoniker wie Charles Gounod oder Louis Théodore Gouvy ereilte das Schicksal einer – zudem nationalistisch gefärbten – Nichtbeachtung. Wie viel schwerer haben es in solchem Ambiente komponierende Frauen wie Emilie Mayer (1812-1883), Louise Farrenc (1804-1875) oder Charlotte Sohy (1887-1955) mit ihrer einzigen Symphonie.

Einfallsreich und professionell

Wer die Werke hört, die sich allmählich in Konzertprogrammen durchsetzen, kann nur bedauern, wie solche einfallsreichen und professionellen Arbeiten einfach verschwinden konnten. Sohys cis-Moll-Sinfonie „La grande guerre“, geschrieben 1914-1917, erstmals aufgeführt 2019, ist nur bedingt dazu zu zählen. So eindrucksvoll die gedrückte Stimmung des Beginns ist, so gekonnt sie Melodien ausbreitet und im zweiten Satz „vif“ Scherzo-Anklänge einführt: Die Instrumentierung ist stets dick, Kontraste fehlen und dem Hörer fällt es schwer, thematische oder strukturelle Fixpunkte zu erkennen – zumal die Essener Philharmoniker unter der sich wacker durchschlagenden Düsseldorfer Kapellmeisterin Katharina Müllner nicht zur gewohnten plastischen Durchzeichnung der dichten Gewebe finden. Da fällt der Kontrast zur Musik einer souveränen Könnerin drastisch aus: Kaija Saariahos „Ciel d’Hiver“ ist ein Meisterstück feinster fragiler flimmernder Klänge, in dem die Essener Philharmoniker zeigen, wie gut sie ihre solistischen Passagen untereinander abstimmen.

Überzeugender wirkt, was der Dirigent Jakob Lehmann vor einiger Zeit in Köln mit dem Concerto Köln aus Frauenfeder präsentiert hat: Louise Farrenc (1804-1875) ist in den Jahren 1845 bis 1849 mit drei Sinfonien hervorgetreten, die allen Maßstäben ihrer Zeit standhalten können. Auch ihre in Köln erklungene Es-Dur-Ouvertüre op. 24 aus dem Jahr 1834 ist ein mitreißendes Werk, vom düsteren Don-Giovanni-Pathos der Einleitung, über die einprägsame Thematik des Allegro bis zur gekonnten Finalwirkung. Man hört eine abwechslungsreiche Instrumentierung und aparte melodische Erfindung. Auch Emilie Mayers viersätzige Sinfonie Nr. 7 in f-Moll von 1856 kann mühelos mithalten: eine regelgerechte, dennoch nicht unoriginelle Sonatenform im Kopfsatz, ein farbenreicher Gesang im Adagio, der sich im Blech hymnisch erhebt, ein Scherzo mit rhythmischem Pep und einigen Überraschungen und ein energisches Finale. Das ist Musik, die man gerne wieder hört.

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Im Januar 2027 plant das Aalto-Theater Essen die Uraufführung der Oper „Day of Night“ der finnischen Komponistin Outi Tarkiainen. „Day of Night“ ist eine Koproduktion des Aalto Musiktheaters und der Finnish National Opera, wo die Oper dann im Herbst 2027 gezeigt wird. „Day of Night“ basiert auf dem gefeierten Debütroman „Halla Helle“ von Niillas Holmberg. Das Buch setzt sich den in Nordskandinavien beheimateten Sámi, dem einzigen indigenen Volk Europas, auseinander, dem Holmberg selbst angehört. Der finnisch-französische Autor Aleksi Barrière hat aus dieser Vorlage ein packendes Opernlibretto geschaffen. Intendantin Merle Fahrholz schreibt dazu: „Die Oper thematisiert den Wandel einer Region hinsichtlich Natur und Industrie, der sich auch im Ruhrgebiet beobachten lässt.“




O Kragenbär, o Elchin! Jetzt gibt es „feministische Tiergedichte“

Geht’s um neuere Tiergedichte, so denkt man vor allem an den unvergleichlichen Robert Gernhardt (Stichwort „Kragenbär“) oder auch den Vorläufer Heinz Erhardt (Kennwort „Made“). Nun schickt sich Ella Carina Werner an, solche Traditionslinien beherzt ins Feministische zu wenden. Sie ist übrigens langjährige Redakteurin des qualitativ arg schlingernden Satire-Magazins „Titanic“.

Verlagswerbung und Klappentext greifen in die Harfe des Lobpreisens: Die anglophile Verzückung kündet vorab von weiblichem „Empowerment“ und harscher, wenn auch humoriger Kritik an „Mansplaining“ oder „gender pay gap“. Zur Übersetzung, falls nötig, bitte fleißig die Suchmaschinen anwerfen.

In einer rasch rausgehauenen Rezension stand sinngemäß zu lesen, Werner stecke mit ihren Reimen Gernhardt locker „in die Tasche“. Nein, nein und nochmals nein! Das stimmt einfach nicht. Diese zuweilen recht bemühten Verse klappern und rattern, holpern und stolpern vielfach daher. Gernhardt hätte sich dergleichen niemals durchgehen lassen.

Schon eines der ersten Gedichte, das ja (wie z. B. auf Rock-Alben üblich) eingangs besonders fetzen sollte, lautet so und lässt Lesende vielleicht etwas ratlos zurück:

„Hunderttausend
Schildkrötinnen
sind zahm außen
und wild innen.“

Ja, das war’s in diesem Falle schon.

Auf ganzer Strecke überwiegt die stramme Haltung und Parteinahme. Merke, anhand dieser Gedichte: Die tierisch verkörperten Männer sind grundsätzlich blöd, sollten rechtmäßig ängstliche Untergebene der Frauen sein, sind sie doch allesamt Schlappschwänze und/oder Trottel. Menstruation finden die Deppen ebenso widerlich wie weibliche Achselbehaarung. Drum müssen sie von nun an jegliche Hausarbeit allein verrichten. So ungefähr. Wobei die Beweggründe für solche rachedurstigen Phantasien ja durchaus nachzuvollziehen sind. Folglich erscheinen männliche Wesen generell als verzichtbar:

„Beim Rammeln grunzt die Sau verächtlich:
,Spannender wär’s gleichgeschlechtlich.'“

Frauen gebührt demgemäß jedenfalls das verbriefte Recht, ein hartes Regiment zur Unterdrückung des Männlichen zu führen, nach Belieben kreuz und quer zu vögeln (gern auch queer und trans), endlos zu chillen (vulgo: dem Nichtstun zu frönen) oder ihrerseits (Gegen)-Gewalt auszuüben. Im Original in Versalien (durchgehenden Großbuchstaben) flott und aggressiv hingedichtet:

„Am Samstagabend
hat Frau Rochen
dem Ehemann das Herz
gebrochen. Und den Kiefer.
Aus Versehen, genau wie
sieben Flossenzehen
Kiemen, Schultergürtel,
Nieren…
Ja, kann beim Zanken
mal passieren.
Und später, at the end
of story, Schwanz
und Vorderzähne,
Sorry!“

Tja, wenn das denn Feminismus sein soll…

Mehrfach knüpft Ella Carina Werner bei den erwähnten Gernhardt (Kragenbär und Schnabeltier revisited) und Erhardt an und versucht, deren Einfällen anderen, womöglich gegenläufigen Sinn abzugewinnen – allein: Es bleibt beim eher hilflosen Hinterherschreiben. Geradezu dürftig gerät es, wenn F. W. Bernsteins unsterblicher Reim aufgegriffen wird: „Die schärfsten Kritiker der Elche / waren früher selber welche.“ Da tapert Werner so hinterdrein:

„Der Ruhms des Elchs
erfreut die Elchin,
doch lieber hat sie
selber welchen.“

Und so bleibt der titelgebende Reim noch einer der besten:

„Der Hahn erläutert unentwegt
der Henne, wie man Eier legt.“

Gar nicht vergessen werden darf die Illustration, die recht eigentlich den Hauptteil des Bandes ausmacht. Juliane Pieper hat sich wirklich sehr hübsche Szenen zu Werners lyrischen Anstrengungen einfallen lassen, die jeweils auf Doppelseiten ausgebreitet werden, so dass die Bildnerei ungleich mehr Zeit gekostet haben dürfte als das Verfassen der Kurzgedichte. Kein Wunder also, dass eine Zeitschrift zu diesem Buch eine mehrseitige Bilderstrecke publiziert hat. Nehmen wir’s also als Bilderbuch mit Textbeigabe, vorzugsweise geeignet zum Verschenken unter Freundinnen.

Ella Carina Werner: „Der Hahn erläutert unentwegt der Henne, wie man Eier legt“. Feministische Tiergedichte. Illustriert von Juliane Pieper. Verlag Antje Kunstmann, ohne Paginierung (ca. 160 Seiten). 22 Euro.




Sechs Stunden sind nicht genug – In Bochum inszeniert Johan Simons Elena Ferrantes Roman „Meine geniale Freundin“

Freundinnen fürs Leben: Elena Greco (Jele Brückner, links) und Raffaela Cerullo (Stacyian Jackson) (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Sechs Stunden! Wo sitzt man noch so lange im Theater? Die Schauspielexzesse Peter Steins fallen einem ein, sein Antiken-Projekt, der Faust, der Wallenstein. Doch das ist Jahrzehnte her, und seitdem sind „90 Minuten, keine Pause“ längst schon so etwas wie gültiger Bühnenstandard geworden. Man mag das bedauern. Oder sich dem widersetzen. Johan Simons tut das, in Bochum.

Neapolitanische Saga

Er macht es wieder, seine „Brüder Karamasow“ nach Dostojewskij, Premiere im Oktober 2023, dauerten gar sieben Stunden, inklusive zweier Pausen nebst Gastmahl. Zu essen gab es diesmal auch, doch dazu später (vielleicht) mehr. Nun also: Premiere der Bühnenadaption von Elena Ferrantes Romanen um zwei Freundinnen aus dem armen italienischen Süden, deren erster den Titel „Meine geniale Freundin“ trug und die als Zyklus „Neapolitanische Saga“ enorm erfolgreich waren und sind. Die Textfassung stammt von Koen Tachelet, einem langjährigen Mitstreiter Simons‘ seit gemeinsamen Zeiten am NTGent.

Jele Brückner als Elena am Schreibtisch und in der Videoprojektion (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Rechtlose Frauen

Erzählt werden die Lebensgeschichten von Elena und Raffaela, kurz Lenù und Lila, beginnend mit ihrer Kindheit in einem armen Stadtviertel Neapels. Das Viertel heißt Rione, was das italienische Wort für Viertel ist, und von wo man vor allem weg will. Doch die Möglichkeiten sind begrenzt, mafiöse Strukturen herrschen, und die faktische Rechtlosigkeit der Frauen scheint gottgegeben zu sein. Das Rione ist ein Hort der strukturellen Gewalt, zu der brutale Erniedrigungen und Vergewaltigungen ebenso zählen wie das ängstliche Festhalten an traditionellen Rollenbildern. In dieses Milieu werden die beiden Protagonistinnen hineingeboren. Elena, unschwer erkennbar als Alter Ego der Autorin, schafft die Aufnahmeprüfung einer Elitehochschule in Pisa, wird eine erfolgreiche Journalistin und Schriftstellerin; Raffaela heiratet früh, bekommt früh ein Kind von einem anderen, trennt sich von ihrem gewalttätigen Ehemann, schließt eine „Vernunftehe“, landet schließlich als Arbeiterin in der Fleischfabrik.

Feministischer Jahrhundertroman

Natürlich geschieht noch viel mehr in den Romanen, sind atmosphärische Elemente von großer Bedeutung. Elena Ferrante hat weit über tausend Seiten mit ihren Beschreibungen gefüllt, daran gemessen sind sechs Stunden Theater – netto vielleicht um die fünf – immer noch wenig, auch wenn fast pausenlos dialogisiert wird. Offenbar hat sich die Inszenierung, was man begrüßen mag, zum Ziel gesetzt, die biografische Grobstruktur beizubehalten. „Kindheit und Jugend“ ist der erste Teil überschrieben, es folgen „Erwachsenenjahre“ und „Reife und Alter“. Das Dilemma dieses Vorgehens ist jedoch die weitgehende Reduktion auf biografische Fakten – Männergewalt, Kinderkriegen, Trennungen, persönlicher Erfolg. Den feministischen Jahrhundertroman, den manche Kritiker in Ferrantes Werk sehen, findet man hier nicht wieder, gesamtgesellschaftliche Themen wie bürgerlicher Reichtum, organisierte Kriminalität oder Vetternwirtschaft bleiben lediglich strukturelle Grundierung.

Bühnenbild aus der Zentralperspektive. Es soll sich um eine typische italienische Piazza handeln. (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

68 und danach

Gewiß gibt es im Stück auch Klassenkampf und revolutionäre Bestrebungen. Die Zeit nach 1968 und die 70er Jahre waren davon geprägt, in Italien verübten die Roten Brigaden Gewalttaten, ermordeten Politiker wie den christdemokratischen Ministerpräsidenten Aldo Moro. Ferrante, Jahrgang 1943, erzählt vermutlich vieles aus eigenem Erleben im universitären Milieu. Wiederholt werden (vorwiegend im zweiten Teil des Abends) Nachrichten von revolutionären Taten in das Bühnengeschehen getragen, treten klassenkämpferische junge Männer aus gutem Haus als Agitatoren auf, gibt es den Versuch, Arbeiter und Studenten im Klassenkampf zu vereinen. Doch bei den Frauen reift die Erkenntnis, daß offenbar auch die Revolution Männersache ist, sich strukturell für sie somit nicht viel ändern würde. Hier finden sich die Wurzeln der autonomen Frauenbewegung, und wer etwas älter ist und früher mal „links“ war, kennt das vielleicht auch alles. Dieser Wiedererkennungseffekt hat sicherlich einen nicht geringen Anteil am Erfolg der Ferrante-Bücher, auch beim deutschen Publikum.

Strukturelle Zusammenhänge

In Bochum indes, kommen wir zum Theaterstück zurück, zeigt die Inszenierung letztlich wenig Interesse daran, strukturelle Zusammenhänge herauszuarbeiten. Einige Male liest Elena Sätze aus ihren Texten vor, die man vielleicht als analytischen Versuch bezeichnen könnte. Aber sie bleiben isoliert. Doch bietet diese Art der Inszenierung immerhin eine gute Wiedererkennbarkeit der Textvorlage. Wer die Bücher gelesen hat, kann alte Bekannte grüßen.

Ein bißchen wie bei Pina Bausch: Das Bühnenpersonal nimmt auf gereihten Stühlen Platz. (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Johans Stühle

Von Johan Simons wissen wir, daß er gerne Stühle auf der Bühne mag. So auch hier. Und die Schauspieler sind gut damit beschäftigt, Stühle hin und her zu tragen, aufzureihen, abzuräumen. Wenn gar ein Erdbeben die Stadt erschüttert, bleibt als bildlicher Ausdruck ein großer Haufen Stühle, unter denen (Trümmer!) Opfer zu beklagen sind. Doch mehr als einprägsame Bilder entstehen so nicht; anders als in manchen Psychotherapien erklären die Stühle in ihren Anordnungen nicht die Beziehungen der Menschen zueinander, bleibt es bei allgemeiner Symbolik von Verortung und Seßhaftigkeit.

Es soll eine italienische Piazza sein

Zweites prägendes Bühnenelement ist die permanent rotierende Drehbühne. Sie bewahrt vor allzu großer Statuarik des Geschehens und bietet in Verbindung mit mitkreisenden Videokameras zudem den Vorteil, daß auf allen Plätzen – es gibt sie im Zuschauersaal wie auch hinten auf der Bühne – in Verbindung mit der Videoprojektion alles gesehen und verfolgt werden kann. Zu Beginn rotieren zwei Schreibtische mit den beiden jungen Mädchen, umlegt mit Büchern der eine (von Elena), mit Schuhen der andere. Der Bühnenraum selbst, war vor der Premiere in einem Vorgespräch zu erfahren, sei einer italienischen Piazza nachempfunden, aber wenn man das nicht weiß, kommt man auch nicht drauf. Dafür bleibt es zu abstrakt, trotz der warm erstrahlenden Straßenlaterne.

Nicht folkloristisch

In gewisser Weise ist der hohe Abstraktionsgrad dieser Ausstattung aber auch vorteilhaft, bewahrt er das Publikum doch vor allzu folkloristischer Deutung des Geschehens. Etwas anderes wäre es vielleicht gewesen, wenn die Inszenierung sich statt für eine lineare Protokollierung für punktuelle Verdichtung der Handlung entschieden hätte.

Nochmal die Freundinnen: Stacyian Jackson als Raffaela links, Jele Brückner als Elena rechts. . (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Ideale Besetzung

Schauen wir auf die Darsteller. Jele Brückner ist Elena Greco, schon vom Typ her eine geradezu ideale Besetzung. Nachdem sie sich mit etwas Verzögerung „warmgespielt“ hat, ist sie eins mit ihrer Rolle. Die Zumutungen des Lebens – Freude, Angst, Selbstzweifel, Bedürftigkeit wie auch späterhin Selbstbewußtsein und Kraft weiß sie intensiv zu geben. Später wird ihr dafür reicher Applaus zuteil. Ihre Freundin Raffaela Cerullo wird von Stacyian Jackson gegeben, deren körperlicher Einsatz beeindruckt, die sprachlich aber nicht überzeugt. Sie spricht mit starkem (amerikanischen?) Akzent, was immer wieder zu Verständnisschwierigkeiten führt. Zudem gibt es ärgerliche Versprecher, die dem Redefluß ebenfalls nicht guttun. Außerdem legt sie (legt der Regisseur) die Rolle der Lila recht prollig an, was Leser der Bücher für unzutreffend halten.

Unmengen von Text

Mit Ausnahme der beiden Hauptkräfte spielen die anderen meistens mehrere Rollen. Garderobenwechsel geschieht oft auf der Bühne, was der Produktion die Anmutung des Unfertigen gibt. Darstellerinnen und Darsteller schlagen sich gut, stundenlang, bewältigen eine Unmenge von Text, beeindrucken mit ihrer scheinbar grenzenlosen Beweglichkeit. Wir erleben in Bochum ein hochwertiges, homogenes Ensemble, das die Inszenierung, die nicht immer frei von Längen ist, souverän trägt und alles in allem und trotz vieler bedrückender Handlungselemente zu einem unvergeßlichen Theaterabend macht.

Ein Solitär in der deutschsprachigen Theaterwelt

Erwähnt werden muß noch, daß es bei der Premiere eine ca. viertelstündige Unterbrechung durch einen Notarzteinsatz gab. Schließlich aber: Stehender Applaus, lang anhaltend. Mit seiner selbstbewußten Art, Theater zu machen, ist der 78jährige Johan Simons mittlerweile ein Solitär, nicht nur im Ruhrgebiet, sondern im ganzen deutschsprachigen Theaterraum.

Ach ja: Zu essen gab es verschiedene italienische Vorspeisen, vom Caterer in praktischen Einmalverpackungen dargeboten, außerdem Brot und Wasser. Man nahm es dankbar an an diesem beeindruckenden Theaterabend, der erst weit nach Mitternacht sein Ende fand.

Weitere Aufführungen: 1., 2., 23. Februar, jeweils 16:00 Uhr
www.schauspielhausbochum.de




Dortmunder Museum Ostwall: Künstlerinnen endlich aufwerten

Else Berg: Selbstporträt, 1917 (Sammlung Jüdisches Museum, Amsterdam)

Wie viele Kunstwerke im Bestand des Museums Ostwall im Dortmunder U stammen wohl von Frauen? Man ahnt es ja ungefähr – und doch verblüfft die Antwort: Es sind weniger als sieben Prozent. Seit einiger Zeit macht sich das weibliche Museumsteam daran, gezielt gegen die Dominanz weißer Männer anzugehen; neuerdings mit der Ausstellung „Tell these people who I am“, in der sämtliche Arbeiten von Frauen stammen.

Die gängige Zeitgeist-Formel für solche Identitäts-Suchen lautet, es müsse bislang Verborgenes endlich „sichtbar gemacht“ werden. Vor einiger Zeit verfolgten die Dortmunderinnen am Museum Ostwall (vielfach verwischte) Spuren schwarzer Geschichte im Expressionismus. Jetzt sind die Frauen an der Reihe. Die Prognose sei gewagt, dass demnächst die Kunst queerer Menschen in den Mittelpunkt rücken wird. Die Kunstsammlung NRW in Düsseldorf wird es ab September 2025 vormachen, indem sie die „Queere Moderne“ würdigt.

Zurück nach Dortmund. Warum nun eigentlich der anglophone Titel: „Tell these people who I am“? Es ist ein Zitat der heute nicht mehr allzu bekannten Keramik-Künstlerin Vally Wieselthier, die im US-Exil selbstbewusst mehr Beachtung für sich und ihre Mitstreiterinnen einforderte. Als Reaktion auf eine Zurechtweisung schrieb sie gegen Ende der 1930er Jahre die titelgebenden Worte in ein Telegramm an den US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt. Er sollte den ignoranten Leuten sagen, wen sie da vor sich hatten!

Nur nackt ins Museum?

Zeitsprung über einige Jahrzehnte: 1989 fragte die Künstlerinnengruppe Guerilla Girls, (nicht nur) bezogen auf die US-Museumslandschaft: „Do Women have to get naked to get into the Museum?“ Mussten Frauen erst nackt sein, um (z. B. als von Männern gemalte  Aktmodelle) ins Museum zu gelangen?

Die jetzige Dortmunder Ausstellung basiert nicht zuletzt auf intensiver Forschung, um „Leerstellen“ in der Sammlung überhaupt erst einmal zu klären. In weiteren Schritten ging es auf die Suche nach passenden Kunstwerken, um solche Lücken schon mal ein wenig zu schließen. Mittel- und langfristig wird angestrebt, die künftige Sammlungspolitik danach auszurichten, also gezielt und dauerhaft mehr „Frauenkunst“ ins Haus zu holen.

An den Rand gedrängt

In Betracht kommen die beiden großen Sammel-Schwerpunkte des Museums Ostwall: der Expressionismus und sodann die Fluxus-Kunst der 1960er und 1970er Jahre. Es war wohl gar nicht so einfach, die weiblichen Perspektiven und Positionen aufzuspüren, sind doch viele Künstlerinnen – zumal aus der Zeit des Expressionismus – der Vergessenheit „anheimgefallen“ bzw. vom ehedem männlich beherrschten Kunstbetrieb willentlich beiseite gelassen oder an den Rand gedrängt worden. Andererseits muss ja auch vermieden werden, Qualitätsansprüche zu senken und womöglich „Quotenkunst“ zu zeigen. Die Ausstellung imponiert denn auch nicht so sehr durch überbordende Fülle, sondern hebt interessante Protagonistinnen hervor.

Bis 1919 nur in Privatschulen zugelassen

Bis 1919 durften Frauen in Deutschland keine staatlichen Kunstakademien besuchen und waren auf (von Kunstkritik und Kunstbetrieb geringgeschätzte) Privatschulen verwiesen. Die waren wiederum so teuer, dass der Weg eigentlich nur für Frauen „aus gutem Hause“ in Frage kam. Unter solchen Bedingungen war es kaum verwunderlich, dass es schien, als sei der Expressionismus eine Männer-Veranstaltung. Die Dortmunder Kuratorin Stefanie Weißhorn-Ponert will zeigen, dass dieser Eindruck nicht stimmt und präsentiert überschaubare Ausschnitte aus acht weiblichen Lebenswerken jener Kunstepoche.

Vally Wieselthier: Mädchenkopf mit Pagenschnitt, 1928 (Galerie bei der Albertina / Zetter, Wien)

Am bekanntesten ist noch die Bildhauerin Renée Sintenis, von der Tierdarstellungen, Sportler-Statuetten und Selbstporträts zu sehen sind. Von Sintenis stammt übrigens auch eine Urform des hernach so weit verbreiteten Berliner Bären, wie er auch als Ehrung bei der Berlinale in Gold und Silber vergeben wird. Manchen Cineasten ist auch noch die Filmemacherin Lotte Reiniger ein Begriff, die vor allem mit Scherenschnitten arbeitete, welche sie beispielsweise zum frühesten abendfüllenden Animationsfilm zusammenfügte, der noch erhalten ist: „Die Abenteuer des Prinzen Ahmed“ (1923-26) heißt das Opus, das aus rund 100.000 Einzelfotos der jeweils sukzessive verschobenen Scherenschnitte besteht. In Dortmund kann man das staunenswerte Ergebnis in Augenschein nehmen.

Erschütternd die Vita der gebürtigen Schlesierin Else Berg, die sich 1910 in Amsterdam niederließ und ab 1914 zu einer Künstlerkolonie in Schoorl bei Bergen aan Zee zählte. Mit ihrer expressionistischen Malerei gehörte sie in die erste Reihe der niederländischen Moderne, doch nachdem sie 1942 im KZ Auschwitz-Birkenau ermordet wurde, geriet sie derart in Vergessenheit, dass sie 1951 in einem Dortmunder Überblick zur neueren niederländischen Kunst gar nicht vertreten war. Der ihr gewidmete Raum ist gewiss ein Highlight der neuen Dortmunder Ausstellung.

Typisch „weibliche Genres“?

Madame d’Ora: Anita Berber und Sebastian Droste, Fotografie aus der Tanzproduktion „Die Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“, 1922 (Österreichische Nationalbibliothek, Wien © Madame d’Ora)

Sehenswert sodann die Tanzfotografien von Dora Kallmus („Madame d’Ora“), die die ausdrucksvollen Auftritte von Anita Berber und Sebastian Droste mit zeittypischem Gestus gültig festhielt. Schon der Titel ihres Kunstbuchs „Die Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“ (1923) klingt expressiv.

Als Wiederentdeckungen dürfen die Grafikerin Emma Schlangenhausen (sakrale Motive, Tierszenen) oder auch die Keramikerin Kitty Rix mit ihrer Lehrerin Vally Wieselthier gelten. Ob Keramik oder auch Seidenstickereien (von Martha Worringer) als eher „weibliche Genres“ wahrgenommen werden, sei dahingestellt. Es wird wohl so gewesen sein, dass männliche Zeitgenossen derlei Kunst belächelt haben.

Unter Einsatz des Körpers

Ein ganz anderes gesellschaftliches Klima äußert sich in den Kunstwerken der Fluxus-Zeit (Kuratorin dieses zweiten Teils: Anna-Lena Friebe). Freilich waren auch damals die Benachteiligungen noch längst nicht vorüber, doch die Gegenwehr nahm – im Umkreis des erstarkten Feminismus‘ – andere Formen an. Mit allen Mitteln bis hin zur Performance und zum Happening zogen Künstlerinnen nun zunehmend Geschlechterrollen (Stichworte: liebende Frau und Mutter, aufopferungsvolle Sorgearbeit) in Zweifel; mitunter geschah dies auf so drastische Weise, dass nun vor einer Nische der Ausstellung eine jener heute weithin üblichen „Trigger-Warnungen“ vor Darstellungen von (sexualisierter) Gewalt zu lesen ist.

Keineswegs nur „dienende“, sondern eigenständige Protagonistin der Fluxus-Szene: „Charlotte Moorman performing Nam June Paik’s Opera Sextronique“, 9. Februar 1976 at Film Makers Cinematheque, NYC / Museum Ostwall im Dortmunder U. (© Dick Preston)

Selbsternannter Fluxus-Guru

Auch im Fluxus und artverwandten Kunstrichtungen ließ man(n) die Frauen nur ungern „mitspielen“. Als großer Guru gerierte sich George Maciunas, der auch Deutungs- und Auswahlhoheit beanspruchte. Da in den 1960ern der herkömmliche Werkbegriff geradezu zerbröselte, lassen sich einzelne Arbeiten eigentlich nur im Kontext der Zeitgeschichte und des Zeitgeistes angemessen beschreiben. Generell kennzeichnend sind die starken Alltagsbezüge und der entschiedene Einsatz des eigenen Körpers. Spontane Handlungen zählen mehr als Dauerhaftigkeit. Mit derlei Instrumentarium ließen sich (unterm Leitsatz „Das Private ist politisch“) persönliche Leidens- und Widerstands-Geschichten ganz anders erzählen, als etwa mit Gemälden oder Skulpturen.

Drastischer Körpereinsatz: Shigeko Kubota „Vagina Painting“, 1964 (Fondazione Bonotto, Colceresa, Italien / Foto Peter Moore © Northwestern University)

Yoko Ono, John Lennon und andere Paare der Kunst

Bemerkenswert zudem, wie sich in den 60ern und 70ern am Horizont ein neues Verständnis von Partnerschaft in Kunst und Leben abzeichnet. Nicht zuletzt sind hier John Lennon und Yoko Ono (in der Ausstellung von ihr zu sehen: die gefilmte Aktion „Cut Piece“, 1964) zu nennen, die einander beispielhaft inspirierten. Das berühmte Foto von ihrem „Bed-In“ aus dem Amsterdamer Hotel darf nicht fehlen, um auf die Erinnerungs-Sprünge zu helfen.

Weitere, eher fachweltlich erörterte Kunst- und Liebesbeziehungen führten Dorothy Iannone und Dieter Roth sowie Alison Knowles und Dick Higgins. Kunst- und Gesellschaftsgeschichte sind an diesen Punkten eng miteinander verwoben. Man versenke sich nur in die oft kleinteiligen, nicht selten hintersinnig-ironischen Handlungsanweisungen einiger Arbeiten. Die Einlässlichkeit kann auf lohnende Zeitreisen führen und dabei allerlei Denk- und Seinsblockaden lockern.

„Tell these people who I am“. Künstlerinnen in Expressionismus und Fluxus. 25. Oktober 2024 bis 23. März 2025. Museum Ostwall im Dortmunder U (6. Ebene). Geöffnet Di, Mi, Sa, So und feiertags 11-18 Uhr, Do und Fr 11-20 Uhr. Eintritt 9 Euro, ermäßigt 5 Euro.

Zur Ausstellung ist ein 222 Seiten starkes „MO-Magazin“ erschienen.

www.dortmunder-u.de
www.dortmunder-u.de/kuenstlerinnen

 

 




Erlittenes Leben, betrübliches Altern – Didier Eribons Buch „Eine Arbeiterin“

Vor allem mit seinem Buch „Rückkehr nach Reims“ war Didier Eribon – u. a. nach und neben Nobelpreisträgerin Annie Ernaux – einer derjenigen, die das autobiographische („autofiktionale“) Erzählen neuerer Prägung enorm beeinflusst haben. Selberlebensbeschreibungen, zumal von hernach mühsamst aufgestiegenen Kindern aus dem Arbeitermilieu, hatten jüngst geradezu Konjunktur. Auch jetzt wendet sich Eribon nicht von diesem Themenkreis ab, er fokussiert seinen Blick aber anders, und zwar aufs Leiden am Altern.

Sein neues Buch „Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben“ setzt ein, als der Ich-Berichterstatter (unverhüllt Eribon selbst) in der nordfranzösischen Provinz ein passendes Altenheim für seine hinfällige Mutter sucht. Dies erweist sich als außerordentlich schwieriges Unterfangen.

Was als Schilderung aus dem misslichen Alltag beginnt, verzweigt sich in Reflexionen zu gesellschaftlichen Zuständen und allerlei theoretischen Exkursen, die ums Altern kreisen. Besonders kommen dabei Bücher von Simone de Beauvoir (ihr im Vergleich zu „Das andere Geschlecht“ weniger bekanntes Spätwerk „Das Alter“ von 1970) und Norbert Elias („Über die Einsamkeit der Sterbenden“) in Betracht. Außerdem zitiert: Theodor W. Adorno, Bert Brecht („Die unwürdige Greisin“), Danilo Kiš („Die Enzyklopädie der Toten“), Michel Foucault und etliche andere.

Das Private bleibt nicht privat

Eribon bringt es zuwege, dass im Privaten das größere Ganze, das Gesellschaftliche erhellend aufscheint. Das Private bleibt nicht privat, sondern gehört ersichtlich in weitere Zusammenhänge. Erfahrung und Nachdenken steigern sich gleichsam aneinander. Eribon will buchstäblich alles ausleuchten, er will nicht weniger als die erreichbare Wahrheit.

Die Erzählung erschöpft sich also nicht in theoretischen Erwägungen, sondern umschreibt eben auch gelebtes, erlittenes Leben, zumal die Erfahrungen einer gealterten Frau, die in der Unterschicht ums bloße Überleben kämpfen musste. Diese Einzelkämpferin bekommt, anders als oft bürgerliche Frauen mit ihren gewachsenen Freundinnenkreisen, auch im Altenheim kaum Besuch – außer von ihrem Sohn Didier, dessen Brüder sich so auf Berufe und eigene Familien konzentrieren, dass sie sich von der alten Frau fernhalten oder wenigstens alles schnellstens „geregelt“ wissen wollen. Die Mutter wiederum, ehedem aus gutem Grund gewerkschaftlich orientiert, hat mit der Zeit rechtslastige und fremdenfeindliche Regungen entwickelt; ein Umstand, der Eribon spürbar zu schaffen macht, den er aber nicht verschweigt. Alles muss auf den Tisch.

Keine Erinnerung an glückliche Tage

Rückblickend kann sich die Mutter generell nicht an glückliche Tage erinnern, auch ihre Ehe war quälend, der Mann ein tyrannischer Ausbund an Eifer- und Tobsucht. Eribon registriert gar einen allgemein grassierenden Witwenhass auf verstorbene Ehemänner. Auch so ein gesellschaftlicher Befund aus einer Zeit, als die Frauen noch nicht wagten, sich scheiden zu lassen.

Im hohen Alter kommt hinzu, dass eine eklatante Unterversorgung mit passablen Pflegeplätzen herrscht. Die Zustände in den Heimen sind betrüblich bis skandalös, öffentliche Einrichtungen sind unterfinanziert, private in erster Linie auf Gelderwerb ausgerichtet – gewiss nicht nur in Frankreich.

Das Buch mündet in eine Klage und Anklage: Das höhere Alter bedeute den rasant zunehmenden Verlust von Räumlichkeit und Zeitlichkeit. Vom Leben bleiben nur noch kümmerliche Reste. Die Hochbetagten selbst sind zu schwach, um ihre Stimme zu erheben, ja überhaupt „wir“ zu sagen, sie müssten Fürsprecher haben und haben sie kaum. Appellierender Schlusssatz: „(…) sind dann nicht andere aufgerufen, ihnen eine Stimme zu geben?“

Didier Eribon: „Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben“. Suhrkamp Verlag, 272 Seiten, 25 Euro.




Die einen saufen so, die anderen so – zur wiederentdeckten Studie „Betrunkenes Betragen“

Wiederveröffentlichungen nach Jahrzehnten sind in der Belletristik nichts Ungewöhnliches, wohl aber im Sachbuchbereich. „Betrunkenes Betragen“ (Originaltitel „Drunken Comportment“) ist ein solch seltener Fall.

Die ethnologische Studie über den Umgang mit Alkohol bei den verschiedensten Völkern und Gruppierungen, verfasst von den kalifornischen Anthropologen Craig MacAndrew und Robert B. Edgerton, ist bereits 1969 erschienen. Der deutsche Schriftsteller und Psychiater Jakob Hein hat sie nun als wichtige Wiederentdeckung erneut herausgebracht und übersetzt. Vorworte zur alten und zur neuen Ausgabe markieren den historischen Abstand. Das Wort „Betragen“ mutet etwas antiquiert an und dürfte hierzulande vielen Leuten zuletzt auf Schulzeugnissen der 1960er Jahre begegnen sein. Es wird ganz bewusst abgegrenzt vom eher flüchtigen „Verhalten“ („behavior“).

Bis in die hintersten Winkel der Erde

Natürlich trägt ein 55 Jahre altes Buch Signaturen seiner Zeit und muss streckenweise auch „gegen den Strich“ gelesen werden. Das heißt aber keineswegs, dass die damals publizierten Erkenntnisse Makulatur sind. MacAndrew und Edgerton arbeiteten sich mit zahlreichen Beispielen aus aller Welt an der seinerzeit wie heute allgemein bedenkenlos geglaubten Hypothese ab, dass Alkohol eben immer und überall gleichermaßen enthemmend wirke. Die von ihnen emsig gesammelten und zitierten Aufzeichnungen von Ethnologen und sonstigen Beobachtern (bis in jene Zeiten praktisch ausschließlich Männer), die seit den Tagen der großen Entdeckungen in aller (entlegenen) Welt unterwegs waren, lassen freilich andere Schlüsse zu. Demnach gibt es äußerst vielfältige Formen der Trunkenheit, die letztlich auch unseren Umgang mit geistigen Getränken betreffen. Vielleicht hätten wir ja theoretisch mehr Wahlfreiheit, als uns bewusst ist?

Die wechselhaften Verhältnisse werden sozusagen bis in die hintersten Winkel der Erde ausgeleuchtet – von Süd- und Mittelamerika über afrikanische Regionen und Ostasien bis hin zu den indigenen Völkern auf dem Gebiet der heutigen USA. Tagelang ungemein ausschweifende Trinkfeste, so entnehmen wir einer Vielzahl von Augenzeugenberichten, hat es bei den allermeisten Gruppierungen gegeben – nicht erst seit dem fatalen Auftauchen europäischer Kolonisatoren, sondern schon zuvor: mit selbstgebrannten Substanzen von mancherlei Art und zuweilen höchstprozentiger Wirksamkeit.

Mörderische Orgien oder freundliches Beisammensein

Manche alkoholisierte Zusammenkunft artete wohl zu unvorstellbaren Orgien mit Mord und Totschlag aus, man liest hier Schilderungen von grauenhafter Bestialität, angesichts derer einem selbst das Oktoberfest, der Rosenmontag und dergleichen hiesige Besäufnisse wie überaus gemilderte Varianten erscheinen mögen. Oft wurde zunächst zugestochen oder gemeuchelt und erst dann eilends gezielt gesoffen, um eine vermeintliche triftige „Entschuldigung“ zu haben, die in etlichen Gesellschaften tatsächlich anerkannt wurde. Auch in der neueren Rechtsprechung haben sich Spuren davon erhalten. Doch das ist eine Entwicklung späterer Zeiten.

Vor allem dort jedoch, wo der Trunk von tradierten Ritualen eingefasst war, gab es (trotz vergleichbarer Unmengen alkoholischer Getränke) zumeist ein friedliches, freundliches und fröhliches Beisammensein, allenfalls mit Spott und Neckerei gewürzt. Etliche Völker aller Himmelsrichtungen verordneten sich seit jeher selbst „Auszeiten“, bei denen alle denkbaren (sexuellen) Norm-Übertretungen möglich, wenn nicht erwünscht waren. Selbst Kinder und Jugendliche waren wenigstens indirekt beteiligt. Männer wie Frauen duldeten es klaglos, wenn ihre Partner gleich neben ihnen anderweitig aktiv wurden oder „in die Büsche“ gingen, wie es hier mehrfach heißt. Einzig und allein das Inzest-Tabu hatte weiterhin Geltung. Hernach lebten sie wieder so kontrolliert, zivilisiert oder gar streng und freudlos „puritanisch“ wie zuvor; ganz so, als sei nichts geschehen.

Die Eroberer mit dem „Feuerwasser“

Sobald allerdings die (herrschaftlichen und kommerziellen) Interessen europäischer Eroberer sich Bahn brachen und Eingeborene mit „Feuerwasser“ traktiert wurden, lösten sich die wohltätig einhegenden und begrenzenden Bindungen auf. Nur mal nebenbei: Schiffsbesatzungen, die etwa im 18. Jahrhundert in Tahiti eintrafen, bekamen rund 4,5 Liter pro Tag und Mann an Bier, sie waren permanent beduselt. Gleichfalls bemerkenswert: Viele indigene Menschen wehrten sich anfangs vehement gegen den teuflischen Alkohol der Europäer, der für sie mit bösen Geistern zu tun hatte. Sie wurden aber nach und nach daran gewöhnt und gierten irgendwann danach.

Faszinierend die ungeheure Vielfalt der ursprünglichen Gesellschaftsentwürfe, die hier sichtbar wird. So wird etwa eine Ethnie geschildert, die ihre Babys vergöttert, die Kinder ab 5 Jahren aber total vernachlässigt. Andere wiederum sind nüchtern aggressiv und werden unter Alkoholeinfluss verträglich. Oder eben umgekehrt. Fast alles ist kulturell und situativ bedingt, stets zeigt sich, was die Menschen an Beispielen erlernt haben. Es geht eben nicht um Alkohol „an sich“, sondern um seine Wirkungen im gesellschaftlichen Kontext und Gefüge. Ethnologische Forschungen, auch das lernt man bei der Lektüre, sind eine aufregende Materie – bestimmt nicht nur, wenn sie sich um Suff und Sex drehen.

Craig MacAndrew / Robert B. Edgerton: „Betrunkenes Betragen. Eine ethnologische Weltreise“. Wiederentdeckt und übersetzt von Jakob Hein. Galiani Berlin. 296 Seiten. 24 Euro.

 




Jenseits der Mythen – Interview mit dem Callas-Biographen Arnold Jacobshagen

Vor 100 Jahren, am 2. Dezember 1923, wurde in New York eine der bedeutendsten Sängerinnen der Musikgeschichte geboren: Maria Callas. Zum ihrem 100. Geburtstag sprach Werner Häußner mit dem Autor einer neuen Biographie, dem Kölner Musikwissenschaftler Arnold Jacobshagen, über das Geheimnis der Gesangskunst der Callas und die Mythen um ihre Person.

Als Achtzehnjährige begann Maria Callas 1942 in Giacomo Puccinis „Tosca“ eine beispiellose Karriere. Mit Rollen wie Vincenzo Bellinis Norma und Amina („La Sonnambula“), Gaetano Donizettis Lucia di Lammermoor und Anna Bolena, Giuseppe Verdis Aida und Violetta („La Traviata“), vor allem aber mit der Wiederentdeckung von Opern wie Luigi Cherubinis „Medea“, Gasparo Spontinis „La Vestale“ oder Gioachino Rossinis „Armida“ wurde Maria Callas zur bis heute unerreichten Wegbereiterin des damals vergessenen Belcanto-Repertoires des 19. Jahrhunderts und eines technisch perfektionierten, von dramatischem Ausdruck geprägten Singens. Der Kölner Musikwissenschaftler Arnold Jacobshagen hat sich in seinem im Reclam-Verlag erschienenen Buch „Maria Callas. Kunst und Mythos“ auf die Spuren der großen Künstlerin jenseits des Mythos und hartnäckig wiederholter Klatschgeschichten begeben.

Was war Ihre Motivation, ein Buch über Maria Callas zu schreiben, nachdem es von John Ardoin bis Jürgen Kesting bereits viel und auch seriöse Literatur über diese Jahrhundertsängerin gibt?

Maria Callas ist für jeden, der sich intensiv mit Oper beschäftigt, eine Herausforderung. Besonders für mich, weil mich das italienische Belcanto-Repertoire von Rossini bis Puccini sehr interessiert. Ihre Stimme ist für viele Partien aus diesem Repertoire bis heute unübertroffen, auch wenn ich die Schwierigkeiten in ihrer stimmlichen Entwicklung sehe und hoffentlich auch gerecht beschrieben habe. Was die Callas-Literatur betrifft: Es gibt einige sehr gute und sehr viele nicht so gute Bücher, die leider bis heute das Callas-Bild prägen. Dieses etwas zu entrümpeln und einige Mythen zu hinterfragen war das eine Anliegen meines Buches. Das andere ist, ihre künstlerische Entwicklung möglichst genau zu beschreiben.

Wissenschaftler interessieren ungeklärte Fragen und Gebiete, auf denen man etwas Neues entdecken kann. Gibt es im Leben und der Karriere von Callas überhaupt noch „weiße Flecken“?

Ja, angefangen mit ihrer frühen Karriere in Athen, wo sie doch mehr als bisher bekannt von der Protektion der deutschen Besatzungsherrschaft profitiert hat. Das führte allerdings auch dazu, dass sie 1945 von der Operndirektion in Athen entlassen wurde und erst einmal zwei Jahre nicht auftreten konnte. In der späteren Karriere ist vieles gut bekannt. Wenig reflektiert sind die wahren Hintergründe ihres stimmlichen Abbaus, die vermutlich mit der erst 1971 diagnostizierten Dermatomyositis zusammenhängen. Die schleichende, aber dramatische und seltene entzündlichen Muskelerkrankung war ihr selbst bis dahin nicht bekannt. Sie führt zu einem kontinuierlichen Abbau des Muskelgewebes mit allen Konsequenzen für die Stimme. Den stimmlichen Niedergang, der ab 1957 offensichtlich war, kann man heute aus medizinischer Sicht besser verstehen. Die anderen Geschichten, die in der Callas-Literatur angeführt werden, die Onassis-Beziehung zum Beispiel, spielen hier keine wichtige Rolle.

Der Kölner Musikwissenschaftler und Callas-Biograph Arnold Jacobshagen. (Foto: privat)

Gehört dann auch die Rolle, die ihrer Gewichtsabnahme zugeschrieben wird, zu den aufklärungsbedürftigen Mythen?

Das ist ein komplexer Prozess, der auf die Singstimme unterschiedliche Auswirkungen haben kann. Es gibt positive wie negative Effekte; die positiven werden, denke ich, überwogen haben. Singen ist eine körperliche Ausdauerleistung. Gerade in den Jahren 1953 bis 1955, die den Höhepunkt ihrer künstlerischen Karriere bilden und die größte Dichte und Intensität an Auftritten in großen, unterschiedlichen Partien aufweisen, hat sie sehr wenig gegessen und einige Spezialbehandlungen wahrgenommen, um ihr erwünschtes Gewicht zu erreichen und zu halten. Über andere Ursachen für den frühzeitigen Verschleiß der Stimme kann man spekulieren. Man muss auch bedenken, dass Maria Callas sehr früh ihre Karriere begonnen hat. Aus meiner Perspektive müssen diese Faktoren eben anders gewichtet werden als bisher in der Literatur.

Stichwort Karriere: Es ist aus heutiger Perspektive sehr ungewöhnlich, dass eine 15-Jährige Santuzza, eine Frau mit Anfang Zwanzig Tosca, Kundry, Isolde und kurze Zeit später Bellinis Norma und Elvira in „I Puritani“ singt. Kommt man dem Geheimnis der Gesangstechnik auf die Spur, die so etwas ermöglicht?

Man kann vergleichen mit Sängerinnen der Gegenwart, aber auch der weiter zurückliegenden Vergangenheit. Im 19. Jahrhundert gibt es dafür Beispiele wie die von Callas bewunderte Rosa Ponselle oder Maria Malibran, die auch schon mit Fünfzehn die Rosina in Rossinis „Barbiere di Siviglia“ in London, einer der wichtigsten Bühnen der damaligen Welt, gesungen hat. Natürlich waren das Ausnahmepersönlichkeiten – genau wie Maria Callas. Da muss man andere Maßstäbe anlegen als an den Durchschnitt von Bewerberinnen an einer heutigen deutschen Musikhochschule.

Die Vielfalt der Repertoires, das sie in jungen Jahren gesungen hat, gehört dazu – gerade die Wagner-Partien, die sie zwischen 1947 und 1950 mit großer Freude gesungen hat. Sie sagte, Wagner sei einfach zu singen, da es keine komplizierten Verzierungen und Kadenzen gebe. Und dann habe man noch das wunderbare Orchester, das die Stimme trägt! Die meisten Sängerinnen fürchten sich dagegen davor, vom Orchesterklang erschlagen zu werden.

Callas hatte die enormen Möglichkeiten einer „grande vocaccia“, einer großen Stimme, die gepaart mit einer brillanten Technik Wagner und Bellini-Partien mit anspruchsvoller Agilität scheinbar mühelos bewältigen konnte. Größere Probleme hatte sie etwa mit der Partie der Turandot, die auch hochdramatisch ist, aber im Unterschied etwa zu Kundry ständig sehr hoch liegt. Turandot hat sie 1948/49 häufig gesungen, aber diese Rolle hat sie, wie sie selbst beklagt, zu viel Kraft gekostet.

Es gibt ja auch andere, die gesangstechnisch ein unglaubliches Repertoire auf einem ähnlichen Qualitätslevel gesungen haben, Lilli Lehmann etwa. Heute gibt es solche Sängerinnen so gut wie nicht mehr. Warum nicht?

Eine schwierige Frage. Es gibt ja hin und wieder Sängerinnen, die versuchen, in die Fußstapfen von Maria Callas zu treten, zuletzt Anna Netrebko. Heute gibt es eine starke Spezialisierung der Fächer, die Callas immer vehement bestritten hat. Sie hat immer gesagt, ein Sopran müsse alles singen können. Heute wird man schon in der Ausbildung auf Fächer festgelegt, in denen die Lehrer das Entwicklungspotenzial der Stimme sehen. Das hat alles gute Gründe. Solche Ausnahmeerscheinungen wie Maria Callas sehe ich heute allerdings nicht mehr.

In der Ausbildung von Maria Callas spielt Elvira de Hidalgo ja eine entscheidende Rolle. Sie haben aber noch einen Gesangslehrer erwähnt, Ferruccio Cusinati, langjähriger Chordirektor der Arena di Verona: Ist das eine Person, die bisher nicht genügend gewürdigt wurde auf dem Weg der Callas zum technisch perfekten Singen?

Das wäre übertrieben, aber er wird in der bisherigen Callas-Literatur nicht einmal erwähnt; der einzige war Callas‘ Ehemann Giovanni Battista Meneghini, der den Kontakt zu Cusinati vermittelt hatte. Es ging ab 1947 einfach darum, bei Callas, die zwei Jahre ohne wesentliche Auftritte in New York gelebt hat und nun in die italienische Opernszene eingeführt werden sollte, möglichst schnell Lücken ihres Repertoires zu schließen, damit sie als Primadonna auf dem Markt von ihrem künftigen Ehemann platziert werden konnte. Cusinatis Leistung war, mit ihr Rollen zu studieren, wohl auch Schwächen auszubügeln und die italienische Diktion zu perfektionieren. Die technischen Grundlagen hat Elvira de Hidalgo gelegt, die eine der letzten virtuosen Koloratursoprane war.

De Hidalgo hat ihre Partien ja noch ganz aus dem Geist des Belcanto gesungen, mit völlig ebenmäßig gebildeten Tönen und einer tollen Projektion des Klangs in den Raum, aber eben auch sehr instrumental. Dieses Streben nach absoluter Schönheit unterscheidet sie von Callas, die all ihre Farben einsetzt, um ihre Partien zu gestalten.

Der Vergleich vokal – instrumental ist interessant, denn es ist eine der besonderen Qualitäten der Stimme von Maria Callas, dass sie über unglaublich viele Schattierungen und Facetten verfügte. Darin liegt aber auch ein Problem des Kontrollverlustes. Man kennt ja die Schwierigkeiten, die sie bei Registerübergängen immer hatte. Es gibt auch unterschiedliche Meinungen zu der Frage, ob Callas diese Palette vokaler Schattierungen bewusst eingesetzt oder aus der Not eine Tugend gemacht und dieses unglaubliche Organ gar nicht kontrolliert eingesetzt habe, so wie es Elvira de Hidalgo in dieser Feinheit und Instrumentalität beherrscht hat. Für Callas war der Ausdruck der notwendige Kontrapunkt zur vorhandenen technischen Meisterschaft. Eines der Geheimnisse ihrer Stimme ist sicher, dass sie Expressivität mit einer stupenden Technik vereinen konnte.

Maria Callas war ja keine Intellektuelle. Woraus speist sich ihre unglaubliche dramatische Kompetenz? War das ein instinktives Erfassen ihrer Rollen, eine Empathie, die in ihrer Persönlichkeit wurzelt? Oder hatte sie ein tiefes Verständnis von den tragischen Seiten der menschlichen Existenz?

Ich denke beides. Es ist nicht notwendig, eine belesene Intellektuelle zu sein, um eine tragische Partie zu durchdringen, Dazu gehört eher Lebenserfahrung, Charakter, Empathie, Musikalität sowieso, weil Callas überzeugt war, dass alles, was eine Partie ausmacht, aus der Musik kommt. Sie hat auch viel übernommen von ihren Lehrern und den Dirigenten, mit denen sie zusammengearbeitet hat. Und so unbelesen war sie gar nicht: Zumindest nach dem Abschied von der Bühne hat sie sich Bücher empfehlen lassen und gelesen. Aber ich bezweifle, dass es unter den Sängerinnen ihrer Generation sonst so viele ausgewiesene Intellektuelle gab. Dessen ungeachtet ist die Frage nach der Bildung für das Verständnis der Partituren, die Aufführungspraxis oder die Art und Weise der Interpretation sehr wichtig. Maria Callas hatte eine rasche Auffassungsgabe, ihre Partien in kürzester Zeit beherrscht und ihre eigene Interpretation immer weiter verfeinert und vertieft.

Maria Callas wird in der Literatur als Persönlichkeit unterschiedlich beschrieben. Es gibt diesen Mythos von der tragisch verschatteten Existenz. Sie schreiben, sie sei in den meisten Phasen ihres Lebens ein glücklicher Mensch gewesen, der viel Liebe erfahren und sich wohl gefühlt habe.

Es wurden viele kurzschlüssige Folgerungen gezogen. Man hat ihre Bühnenpräsenz und ihre tragischen Rollen zum Ausgangspunkt genommen, ihre Persönlichkeit zu bewerten. Das heißt, man hat die vielen tragischen Frauenschicksale der Opern auf sie selbst projiziert. Die äußeren Umstände, besonders die Begegnung mit Aristoteles Onassis und der Verlust dieser Beziehung durch die auftretende Rivalin Jackie Kennedy, boten genügend Anlass, diese Mythen weiterzuspinnen. Aber selbst diesen Schicksalsschlag scheint sie einigermaßen schnell bewältigt zu haben, abgesehen davon, dass er mit ihrer künstlerischen Karriere nichts zu tun hat, denn er lag Jahre nach ihren großen Opernauftritten.

Was ist aus Ihrer Sicht des kritischen Wissenschaftlers der ärgerlichste Mythos über Maria Callas?

Das ist die Vorstellung, dass eine Frau aus Liebe zu ihrem Mann ihre Karriere aufgibt und dadurch in eine tragische Sackgasse gerät. Das ist vollkommen absurd: Maria Callas hat ihre Karriere aus künstlerischen und gesundheitlichen Gründen Ende der fünfziger Jahre stark reduzieren müssen und natürlich in ihrem Privatleben dann größere Erfüllung gefunden. Das eine muss man vom anderen trennen, und das geschieht in der Literatur nicht.

Ich halte es für ein sexistisches Element, Frauen grundsätzlich anders zu bewerten als Männer. Niemand käme auf die Idee, einen männlichen Sänger in gleicher Weise in einer – fast sklavischen – Abhängigkeit von einer Liebesbeziehung darzustellen. Ein Mann macht seinen Weg, aber von einer Frau wird erwartet, dass sie durch eine schicksalhafte Begegnung mit einem Mann ihre ganze Karriere verändert? Das mag man im 19. Jahrhundert erwartet haben – und diese Vorstellung scheint heute in vielen Köpfen noch so präsent, dass man einer Jahrhundertkünstlerin nicht zugesteht, auch unabhängig von Männergeschichten großartige Kunstwerke auf die Bühne zu stellen. Das finde ich sehr ärgerlich, obwohl ein guter Teil der Callas-Literatur von Frauen verfasst wurde.

Eine Frage zur Diskografie. Callas hat viel aufgenommen, es gibt auch viele Live-Mitschnitte. Welche Aufnahmen würden Sie als maßstäblich und unverzichtbar bezeichnen? Welche wären für Sie für die „einsame Insel“?

Heute hat man’s einfach, weil man mit der 131-CD-Box von Warner Classics alles mit auf die Insel nehmen kann. Aber im Unterschied zu vielen Callas-Enthusiasten würde ich die Studioproduktionen der früheren Zeit komplett mitnehmen. Sie war ja der erste Superstar in der Ära der neu entwickelten Langspielplatte. Wie Enrico Caruso durch die Schellackplatte hat Maria Callas von dieser medientechnischen Innovation profitiert. Gerade die frühen Aufnahmen sind technisch perfekte, mustergültige Interpretationen „für die Ewigkeit“, und es ist zu bedauern, dass Produzent Walter Legge kein großer Kenner des italienischen Opernrepertoires war und viele Rollen, die Callas live gesungen hat, nicht im Studio produziert hat. Umgekehrt finden viele Enthusiasten die wahre Diva in ihren Bühnenauftritten und nicht in den Studioaufnahmen.

Callas und die Region: Ihre deutschen Stationen waren Berlin und Köln.

Ja, in Köln gab es im Juli 1957 eine Jubiläumswoche der Mailänder Scala zur Eröffnung des Kölner Opernhauses. Zwei der insgesamt vier Opernvorstellungen mit Maria Callas in Deutschland fanden in Köln statt, beide Male Vincenzo Bellinis „La Sonnambula“. Die beiden anderen, zwei Mal „Lucia di Lammermoor“, gingen unter der Leitung von Herbert von Karajan in Berlin über die Bühne. Köln ist also eigentlich eine der deutschen Callas-Metropolen. Später ist sie noch öfter in Deutschland aufgetreten, aber nur in Konzerten – bis hin zu der problematischen Abschiedstournee mit Giuseppe di Stefano 1973/74.

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Arnold Jacobshagen: „Maria Callas. Kunst und Mythos“. Reclam, 367 Seiten, 38 Abbildungen. 25 Euro.




Fröhlicher Feminismus der Frühzeit: Stummfilme beim Dortmunder Frauen Film Fest

„Aufräumen“, dass die Bude wackelt: anarchisch-chaotische Szene aus dem französischen Stummfilm „Cunégonde reçoit sa famille“ (1912). (Frauen Film Festival IFFF Dortmund + Köln / Filmmuseum EYE, Amsterdam)

Vor rund 110 bis 120 Jahren sah die Frauenbewegung im Kino noch etwas anders aus. Da war es wohl schon ein gewisses Wagnis, wenn eine Frau – gern gemeinsam mit Freundinnen – den Männern ein Schnippchen schlug. Oft ging’s dabei frisch, fröhlich und frei zu. Diesen Eindruck vermitteln jedenfalls die ausgewählten Stummfilme, die beim Internationalen Frauen Film Fest IFFF in Dortmund (diesmal wieder Hauptort) und Köln (Nebenspielstätte) gezeigt werden. Ein paar Beispiele fürs muntere Treiben der historischen „Komplizinnen“, wie sie beim Festival heißen:

Die Herrschaften sind fort, vor allem der reiche Sack von Hausherr, diese Witzfigur. Das geplagte Dienstmädchen Cunégonde bekommt derweil Besuch von hauptsächlich weiblichen Verwandten. Gemeinsam räumen sie jetzt endlich mal „so richtig“ auf in der komfortablen Wohnung. Danach steht alles knietief unter Wasser – und sämtliches Porzellan liegt zerschlagen am Boden. Anarchie! Klassenkampf! Frauenaufstand! („Cunégonde reçoit sa famille“ – Kunigunde empfängt ihre Familie, Frankreich 1912).

Oder so: Vier lebenslustige junge Damen wollen ein Bad im See nehmen, da kommt ein lachhafter Schutzmann angehumpelt, um es ihnen zu verbieten. Sie schubsen ihn kurzerhand ins Wasser. Siehste wohl, haha! („Bain forçé“ – Erzwungenes Bad, Frankreich 1906)

Wahlweise auch so: Junge Frau bekommt Hausarrest von einer grotesken  Gouvernante. Doch mit einigen Verkleidungs-Tricks und indem sie männliche Dienstleute becirct, lotst die Eingesperrte ihre Schulfreundinnen zu sich, mit denen sie sich prächtig amüsiert – freilich immer in Gefahr, entdeckt zu werden. („The Classmate’s Frolic“ – Spaß mit Klassenkameradinnen, USA 1913)

Frauenpower mit männlicher Beihilfe erleidet der beleibte Galan, der einer Postangestellten nachstellt und einfach nicht locker lassen will. Der unangenehme Patron wird schließlich am Schalter so abgefertigt, dass er ein für allemal Ruhe gibt. Wenigstens schon mal bei dieser Frau. („Les Demoiselles de PTT“ – Die Mädchen von der (Postgesellschaft) PTT, Frankreich 1913)

Weitaus rabiater geht es zu, wenn Madame Plumette schlechte Laune hat. Dann haut sie allen Leuten was „vor die Mappe“, tritt gar einen Kerl gnadenlos in den Rinnstein und wirft zwei Diebe aus dem Fenster. Am Ende wird sie jedoch überwältigt. („La fureur de Mme Plumette“ – Die Wut der Madame Plumette, Frankreich 1912)

Technisch geradezu futuristisch mutet schließlich diese Story an: Wissenschaftler experimentiert so intensiv mit Bildtelefon (!), dass er seine Geliebte vernachlässigt. Deren Freundin verkleidet sich als Mann und macht – als vermeintlicher Liebhaber seiner Verlobten – den Erfinder bis zum Wahnsinn eifersüchtig. („Love and Science“ – Liebe und Wissenschaft, Frankreich 1912)

Das mag insgesamt recht harmlos anmuten, doch finden sich in den kurzen Geschichten etliche Ansätze zu weiblicher Widerspenstigkeit und zum Eigensinn. Sie mussten sich „nur noch“ entfalten. Die dazu nötige Energie war bereits vorhanden. Dafür sorgten zumindest die lebendigsten und kreativsten Ururur-Großmütter heutiger Frauen. Eine stolze Tradition, fürwahr. Überdies tauchen in mehreren Filmen am Rande schemenhaft Szenen weiblicher Drangsal und Dienstbarkeit auf, die noch den frohsinnigsten Szenenfolgen einen ernsthaften Rahmen geben. Da wird klar, wogegen es zu rebellieren galt.

Mit solchen Stummfilmen – die erwähnten dauern zwischen zwei und 14 Minuten – verhält es sich darstellerisch allerdings so: Da musste halt kräftig chargiert werden, um zwischen erläuternden Schrifttafeln die Intention vollends deutlich zu machen. Jede mittlere Gewissensnot wird zum wahnwitzig händeringenden Auftritt; wird jemand aus dem Zimmer geschickt, reckt sich der hinaus weisende Arm dermaßen, dass ein heftiger Wink mit dem Zaunpfahl dagegen eine Petitesse ist. Gut, wenn die daraus erwachsende Komik gezielt und freiwillig eingesetzt wird. Dann haben diese dramaturgischen Notwendigkeiten noch heute ihren speziellen Reiz. Interessant wäre es übrigens, auch deutsche Streifen jener Zeit zum Vergleich zu sehen. Vielleicht ein andermal.

Die überwiegend französische Stummfilmauswahl stammt aus dem reichen Fundus des Amsterdamer Filmmuseums EYE. Sie wird unter dem Titel „Komplizinnen“ am Samstag, 22. April, um 18 Uhr im Dortmunder Kino „SweetSixteen“ (Immermannstraße 29) gezeigt. Der „Cunégonde“-Film gehört zur Langen Filmnacht mit 17 Kurzfilmen von 1912 bis 2023 – am Freitag, 21. April (ab 20 Uhr, ebenfalls im „SweetSixteen“).

Das gesamte Festival, dessen Vorläufer (in Dortmund hieß die Chose anfangs „femme totale“) vor nunmehr 40 Jahren Premiere hatten, dauert bis zum 23. April und gliedert sich in zahlreiche Sektionen, weit über die Stummfilme hinaus (Spielfilmwettbewerb, Panorama, Filmlust queer, Programm für Kinder und Jugendliche etc.). Um bei all dem nicht den Überblick zu verlieren, braucht es viele weitere Informationen. Es gibt sie hier:

www.frauenfilmfest.com

 




Furchtlosigkeit, Demut und Liebe – Helga Schubert über den Alltag mit ihrem demenzkranken Mann

„Darum sorgt nicht für den andern Morgen“, heißt es bei Matthäus (Kapitel 6, Vers 34), „denn der morgende Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe.“

Diese Bibel-Zeilen stellt Helga Schuber ihrem neuen Buch voran: „Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe“ konzentriert sich ganz auf das Hier und Jetzt, das Schöne und das Schreckliche des Moments. Es ist ein Buch, das furchtlos und bewegend beschreibt, wie Liebe und Leid Hand in Hand gehen, wie qualvoll es ist, seinen schwer an Demenz erkrankten Ehemann zu pflegen, einen ehemals starken Kerl und klugen Kopf, der jetzt ans Bett gefesselt ist und sich einnässt, der seine Frau oft nicht wieder erkennt und seltsame Dinge vor sich hin brabbelt.

Helga Schubert ringt ihre Notizen dem Alltag ab und kann sie nur nachts in den Laptop eingeben, wenn ihr Mann ein paar Stunden schläft und das an seinem Krankenbett platzierte Babyphone, mit dem sie jeden seiner Atemzüge überwacht, einmal Ruhe gibt.

Jahrzehntelang wurde das Werk von Helga Schubert kaum wahrgenommen. In der DDR war die Psychotherapeutin und Schriftstellerin wegen ihrer kritischen Haltung zum „realen Sozialismus“ und ihrer religiösen Bekenntnisse eine Außenseiterin. Im wieder vereinigten neuen Deutschland hatte man kein Ohr für die leise und nachdenkliche Stimme einer Autorin, die nur noch selten in ihrer Wohnung im hyperventilierenden Berlin war, sich lieber in ihr altes Haus mit dem verwunschenen Garten in einem Dorf in Mecklenburg-Vorpommern verkroch, der Natur Respekt zollte und dem Leben Demut zeigte.

Als sie 2020 für ihren Geschichten-Band „Vom Aufstehen“ den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt, war sie bereits 80. Aber noch 13 Jahre jünger als ihr Mann, der Psychologe, Maler und Schriftsteller Johannes Helm, der inzwischen schwer erkrankt ist und dem sie nun ihr neues Buch widmet. Denn die Liebe, die sie dem Mann, den sie im Buch nur „Derden“ nennt, nach unzähligen gemeinsamen Jahren immer noch entgegenbringt, ist durch nichts zu erschüttern. Nicht durch Katheter und Windeln, die ständig gewechselt werden müssen, und auch nicht dadurch, dass Helga Schubert kaum noch aus dem Haus kommt und fast jede Einladung zu Lesungen ausschlagen muss, weil sie niemanden findet, der sich ein paar Stunden oder gar für einen Tag um ihren Mann kümmern möchte. „Jede Sekunde mit dir ist ein Diamant, sagt Derden zu mir und umarmt mich, als ich morgens in sein Zimmer und an sein Pflegebett komme. Wir sind seit 58 Jahren zusammen. Zwei alte Liebesleute. Ist es morgens oder abends, fragt er mich dann.“

Manchmal ist Helga Schubert zornig und traurig. Dass die Politik die immer drängender werdenden Probleme von Alter, Krankheit und Pflege verdrängt, macht sie fassungslos. Meistens aber ist sie erstaunlich gelassen, erträgt ihr Schicksal, als sei es ihr von Gott aufgegeben. Als eine Ärztin zu ihr sagt: „Hören Sie auf, ihm so hohe Dosen Kalium zu geben. Damit verlängern sie doch sein Leben!“, denkt sie: „Was für eine Anmaßung gegenüber der Schöpfung. Als ob ich Herrin darüber sein dürfte. Ein bisschen Sahnejoghurt im Schatten, eine Amsel singt, Stille. So darf ein Leben doch ausatmen.“

Helga Schubert: „Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe“, dtv, München 2023, 268 Seiten, 24 Euro.




„Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ – Daniela Kriens Roman jetzt endlich auf der größeren Bühne

Das Alte ist in sich zusammengebrochen, das Neue hat noch keine feste Form. In Stein gemeißelte Gewissheiten und Ideologien sind zerbröselt. Wo eben noch alles klar war und die Zukunft rosig schien, herrschen jetzt chaotische Unübersichtlichkeit und nervöse Angst. Manche lecken ihre Wunden, andere wissen nicht, wie es weitergeht.

Maria, die bald 17 wird, die Liebe entdeckt und vor einem kurzen Sommer der Anarchie steht, ist hin und her gerissen zwischen heller Euphorie und dunkler Depression, lautem Aufbruch zu neuen Ufern und schmerzlichem Verlust von Heimat und Herkunft. Ihr Vater hat sich vor Jahren in die Sowjetunion abgesetzt und wird den Kollaps des Kommunismus gut verdauen. Die volkseigene Fabrik ihrer Mutter hat den Fall der Mauer nicht überstanden. Seitdem döst sie im Gartenstuhl vor sich hin und will nur noch weg von hier. Raus aus dem Leipziger Allerlei, wo die Zukunft schon vorbei ist, bevor sie richtig begonnen hat.

Was soll Maria jetzt machen? Weiter zur Schule zu gehen, dazu hat sie keine Lust. Lieber zieht sie zu ihrem Freund Johannes, einem Bauern-Sohn, der noch auf dem Hof der Eltern lebt, aber ständig mit einer Foto-Kamera in der Gegend herum läuft und lieber Künstler werden möchte als Kuhställe auszumisten. Maria mag den sensiblen Johannes. Aber auf dem Hof gegenüber, da haust Henner, ein Eigenbrötler und Außenseiter, notorischer Trinker und begnadeter Büchernarr. Die großen Epen der russischen Dichter kennt er auswendig, natürlich auch Dostojewskijs „Brüder Karamasow“, den Roman, in den Maria gerade eintaucht, um die Irrungen des Lebens, die Verwirrungen der Liebe und ihre von geheimnisvollen Bedürfnissen und dunklen Ahnungen begleitete Selbstfindung in Zeiten der gesellschaftlichen Verwerfungen besser zu verstehen.

„Unbedingt werden wir auferstehen, unbedingt werden wir uns wiedersehen und heiter, freudig einander alles erzählen“, sagt Alexej, der jüngste der Karamasows, zum Schluss. Daran muss Maria oft denken, später, nachdem sie durch einen Tunnel der Ekstase und Erkenntnis getaumelt ist. Dann ist es Zeit für die Wahrheit, denn: „Irgendwann werden wir uns alles erzählen.“

Als die in Leipzig lebende Daniela Krien mit dem Roman „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ 2011 in einem Kleinverlag debütierte, bescherte ihr das einen Achtungserfolg bei der Kritik. Dass die aufwühlende Geschichte der Maria, die im Sommer 1990 vom jungen Mädchen zur erwachsenen Frau wird und (während um sie herum der Staat und alle Gewissheiten zerfallen) existenzielle Erfahrungen macht, zu den wichtigsten literarischen Verarbeitungen der Wendezeit gehört, wurde von den Lesern aber nicht hinreichend gewürdigt

Inzwischen wird die Autorin von einem großen Verlag betreut und ist mit „Die Liebe im Ernstfall“ und „Der Brand“ zur Bestseller-Autorin avanciert. Wenn jetzt der Roman noch einmal neu erscheint, wird ihm das wohl die Aufmerksamkeit bescheren, die er verdient.

Maria kämpft mit ihren widerstreitenden Gefühlen genauso wie mit den Ungereimtheiten der Sprache und den Abgründen ekstatischer Liebe. Die erotischen Experimente, die Maria mit dem doppelt so alten Henner vollführt, gleichen einem sexuellen Schlachtfeld. Das geht bisweilen an die Grenze des Erträglichen. Maria wird den Rausch bis zur bitteren Neige auskosten, den Wahnsinn dann aber abwerfen wie eine alte Haut und endlich bereit sein, sich nicht mehr zu belügen – und uns alles zu erzählen.

Daniela Krien: „Irgendwann werden wir uns alles erzählen.“ Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2022, 260 S., 25 Euro.




„Nicht dich habe ich verloren, sondern die Welt“ – Ingeborg Bachmann und Max Frisch, der Briefwechsel

Bis zum Sommer 1958 sind sich Ingeborg Bachmann und Max Frisch nie begegnet. Plötzlich schreibt Frisch der jungen Autorin, die mit ihren Gedichten für Furore gesorgt und in die von Männern dominierte Nachkriegsliteratur die starke Stimme einer auf Emanzipation bestehenden modernen Frau eingefügt hat, einen Brief.

Er ist von einem ihrer neuen Hörspiele so begeistert, dass er ihr schreibt, wie gut es sei, „wie wichtig, dass die andere Seite, die Frau, sich ausdrückt“. Gönnerhaft fügt er hinzu: „Wir brauchen die Darstellung des Mannes durch die Frau, die Selbstdarstellung der Frau.“

Ingeborg Bachmann, die gerade dabei ist, sich aus der unglücklichen Liebe zu Paul Celan zu befreien, lässt sich vom leicht herablassenden Ton Frischs nicht beirren, fühlt sich geschmeichelt: „Verehrter, lieber Max Frisch“, antwortet sie, „Ihr Brief ist mir schon vieles gewesen in dieser Zeit, die schönste Überraschung, ein beklemmender Zuspruch und zuletzt noch Trost nach den kargen Kritiken, die dieses Stück bekommen hat.“ Die Antwort (vom 9. Juni 1958) ist Auftakt zur Jahrhundertliebe eines der berühmtesten Paare der deutschsprachigen Literatur.

Die Liebe beginnt förmlich, nimmt aber schnell leidenschaftliche Fahrt auf und findet schließlich nach wenigen Jahren ein ziemlich unrühmliches Ende: Frisch und Bachmann werden sich nicht nur um die Möbel in ihrer gemeinsamen römischen Wohnung streiten, sondern auch über die Deutungshoheit ihrer Liebe: Frisch wird seine Geliebte in „Mein Name sei Gantenbein“ als kapriziöse Diva porträtieren, Bachmann wird in ihrem Roman „Malina“ ihren Geliebten zum Urbild männlicher Überheblichkeit und Gewalt verzerren.

Viel ist darüber spekuliert worden, was die beiden Liebenden vereinte und warum ihre Leidenschaft so gnadenlos unter die Räder des Alltags kam. Genauere Auskünfte erhoffte man sich von den rund 300 Briefen, die in den Archiven lagerten und eigentlich niemals hätten publiziert werden dürfen. Zwar hatte Frisch in seinem letzten Testament verfügt, dass seine privaten Dokumente 20 Jahre nach seinem Ableben veröffentlicht werden können (also ab 2011). Doch Bachmann hatte es kategorisch abgelehnt, ihre Liebe dem Voyeurismus des Publikums auszuliefern. „Ich will alle meine Briefe zurückhaben“, schrieb sie. „Es ist selbstverständlich, dass ich nichts aufbewahren werde.“ Weil Frisch sich weigerte („Deine Briefe gehören mir, so wie meine Briefe dir gehören“), bat sie, die Briefe zu verbrennen, „damit niemand ein Schauspiel hat eines Tages, denn wir wissen ja nicht, wie lange wir im Besitz von Dingen bleiben, die Dich und mich allein etwas angehen.“

Dass der lückenhafte, oft von Phasen des Schweigens begleitete Briefwechsel der Vernichtung entging und jetzt das Licht der Öffentlichkeit erblickt, ist den Erben Bachmanns zu verdanken. Sie haben recht gehandelt. Denn die Briefschaft legt Zeugnis davon ab, wie sich Leben in Literatur verwandelt, Bewunderung in Rivalität umschlägt, aus reiner Liebe quälende Eifersucht wird, Verlustängste und Fluchtimpulse das Miteinander vergiften.

Kaum haben sich die beiden endlich in Paris getroffen und das erste Mal miteinander geschlafen, notiert Frisch: „Ich bin nicht verliebt, Ingeborg, aber erfüllt von Dir, Du bist ein Meertier, das nur im Wasser seine Farben zeigt, Du bist schön, wenn mann Dich liebt, und ich liebe Dich. Das weiss ich – alles andere ist ungewiss.“ Die zu Undine stilisierte Bachmann seufzt: „Ich will Liebe, eine Unmasse Liebe, sonst kann ich nicht mit Dir leben, sonst bin ich lieber allein.“

Die beiden notorischen Einzelgänger, die von einer Liebesaffäre in die nächste taumeln und schwanken zwischen dem Wunsch nach einem gemeinsamen Heim und der absoluten Freiheit des kreativen Geistes, können im Alltag nicht mit, aber auch nicht ohne einander sein. Gemeinsam in einer Wohnung zu arbeiten, ist ihnen ein Graus. Nach vier Jahren trennen sich (1963) ihre Wege, der 51-jährige Frisch verliebt sich in die 23-jährige Studentin Marianne Oellers und mit reist ihr nach New York, um die Premiere eines seiner Stücke zu sehen.

Bachmann bleibt allein und krank zurück, muss sich in einem Zürcher Krankenhaus die Gebärmutter entfernen lassen: „Ich habe kein Geschlecht mehr, keines mehr, man hat es mir herausgerissen.“ Frisch ist betroffen, bittet um Verzeihung: „Wir haben es nicht gut gemacht“, resümiert er. „Es ist mir das Herz gebrochen“, antwortet sie, unversöhnlich und untröstlich.

Nach einigen Jahren des Schweigens meldet sich Frisch noch einmal bei Bachmann, bittet sie für eine Anthologie um Zusendung einiger Gedichte. Sie schickt ihm fünf Texte, darunter „Eine Art Verlust“, das mit den Worten schließt: „Nicht dich habe ich verloren, / sondern die Welt.“ Die Briefe, versehen mit klugen Kommentaren und seltenen Fotos, sind ein poetisches und erschütterndes Literatur-Dokument. Das Werk der beiden, deren Beziehung ein Verhängnis war, muss man fortan mit anderen Augen betrachten.

Ingeborg Bachmann / Max Frisch: „Wir haben es nicht gut gemacht.“ Der Briefwechsel. Hrsg. von Hans Höller u. a., Piper & Suhrkamp Verlag, 2022, 1040 S., 40 Euro.




Gehört meine Stimme wirklich noch mir?

Ist da noch jemand, der zurück möchte in die gute alte Zeit der Stimmübermittlung, vulgo des Telefonierens? (Aufnahme von 2019 aus London: Bernd Berke)

Jetzt wird’s intim. Oder wenigstens persönlich: Mit meiner Stimme habe ich eigentlich keine weiteren Probleme. Hie und da ereilten mich gar aus der holden Damenwelt vereinzelte Komplimente ob des sonoren Timbres. Oder so ähnlich. *Räusper, hüstel*.

Hätte ich also zum Hörfunk gehen sollen? Nein. Da reden sie ganz anders drauflos, wie ich es nicht vermag. Lieber äußere ich mich schriftlich. Deshalb musste es halt etwas Gedrucktes oder „irgendwas mit sichtbaren Buchstaben“ sein. Zeitung. Buch. Oder eben Blog. Ohne sonstiges Gedöns.

Wozu die weitschweifige Vorrede? Ich hatte dieser Tage ein befremdlich-gespenstisches Erlebnis, das mit meiner Stimme zu tun hat. Zwischen verwickelten Verhandlungen mit mehreren Telekom-Hotline-Mitarbeitern (drei Männer, da gibt’s nix zu gendern) wurde mir von einem Chatbot die Möglichkeit (um nicht zu sagen: die Okkasion) angeboten, mich künftig mit meiner bloßen Stimme zu identifizieren. Dann, so hieß es salbungs- und verheißungsvoll, bräuchte ich nicht mehr meine Kundennummer und derlei Kram bereitzuhalten, sondern müsste einfach nur ein paar Worte sprechen. Zu diesem Behufe möge ich, um das Ganze anzustoßen, dreimal den vorgegebenen, nicht allzu magischen Testsatz sprechen, der da ungefähr lautete: „Bei der Telekom ist meine Stimme mein Passwort.“ Was tut man nicht alles, wenn man seine Ruhe haben will? Also nach dem Piepton gesprochen, getreulich Wort für Wort. Und noch einmal. Und ein letztes Mal. Gut dressiert. Danach haben „sie“ mich tatsächlich schon an der Stimme erkannt, als wären wir seit Jahrzehnten befreundet. Auch musste ich nicht mehr den grenzdebilen Testsatz sprechen, sondern durfte herumtexten, wie mir der Schnabel gewachsen ist. Nein, ich habe keine Juxsätze oder Obszönitäten ausprobiert.

Als ich die schiere Tatsache der Stimmprobe im bekannten Netzwerk gepostet habe, wurde klar, dass sich die Sache noch nicht so herumgesprochen hat; nicht einmal bei manchen Internet-Freaks. Deswegen noch einmal diese Zeilen hier. Wenn man weiß, wie die rigiden deutschen Datenschutzbestimmungen so manche Innovation verhindern, wundert man sich, dass diese Entwicklung überhaupt möglich gewesen ist. Aber sei’s drum. Mir fiel jedenfalls ein, dass mit dieser Neuerung das Zeitalter der anonymen Anrufe sich wohl dem Ende zuneigt. Ob nun in Echtzeit oder im Nachhinein, kann bald jeder Anruf stimmlich und namentlich zugeordnet werden, sofern ein Muster vorliegt (daran wird’s nicht lange mangeln).

Welch eine – behördlicherseits wohl willkommene – Ergänzung zur personengenauen Bilderkennung! Bald verlieren Krimis dieser altbackenen Art endgültig jeden Sinn, in denen ein sinistrer Herr anonym anruft und mit hinterhältiger Stimme knödelt: „Hier ist einer, der es gut mit Ihnen meint…“




Alles so schön aufgeräumt – die Welt im Kinderduden von 1970

1970? Ganz schön lange her. Über ein halbes Jahrhundert. Andererseits haben die Älteren unter uns jenes Jahr schon bei recht wachen Sinnen erlebt. Insofern gehört es zum überschaubaren biographischen Bestand, frei nach Peter Rühmkorf waren es „Die Jahre, die ihr kennt“.

Warum die Vorrede? Nun, mir ist ein just 1970 erschienener „Kinderduden“ in die Hände gefallen, der vorwiegend als (ziemlich ungelenk gezeichnetes) Bildwörterbuch mit 28 Schautafeln aus etlichen Lebensbereichen angelegt ist. Die zweite Hälfte besteht aus einem alphabetisch sortierten Lexikonteil. Dabei handelt es sich um eine – nach den Maßstäben der Zeit „kindgerechte“ – Auswahl aus dem damaligen „Großen Duden“ (Band 1, Rechtschreibung).

Gleich die erste Tafel heißt „In der Küche“ und beginnt so: „Ganz modern ist Mutters Küche. Alles hat seinen festen Platz.“ Gut kann ich mich entsinnen, dass die Hausfrau und Mutter eines Schulfreundes gern und stolz gesagt hat: „Die Küche ist m e i n Reich!“ Auch bei den Kindern im Duden ist die Rollenverteilung schon klar: „Nun hilft Monika der Mutter und deckt den Tisch. Peter hat sich schon auf seinen Stuhl gesetzt und wartet gespannt darauf, was es heute zu essen gibt.“ Dem Bübchen würden sie wohl heute was husten. Oder doch nicht?

Technik war nur spärlich vorhanden

Das alles scheint wirklich mindestens ein halbes Jahrhundert her zu sein. Rund um die Figuren und Gegenstände verstreut, markieren Ziffern die Zuordnung der Wörter, scheinbar ganz objektiv, nüchtern und sachlich, wie es zumal Bildwörterbüchern eigen ist: 1 der Braten 2 das Brettchen 3 der Eierbecher 4 die Flasche 5 das Glas 6 der Herd… 9 die Kartoffel 10 die Katze… Tatsächlich scheint alles seinen unverrückbar festen Platz zu haben, so auch im Bad der rosa Puschelbezug auf dem Toilettendeckel und desgleichen die fußwärmende Umrandung, wobei man seinerzeit noch „Klosett“ und „Klosettpapier“ zu sagen pflegte. Technik war hingegen im Haushalt nur spärlich vorhanden, ein Röhrenfernsehapparat (womöglich ein Farbgerät) war das höchste der Gefühle.

„So sollst auch du leben!“

Es ist jedoch eine rundum heile Welt, die den Kindern hier bestens portioniert vorgestellt und anempfohlen wird. Unausgesprochen schwebt der Spruch „So sollst auch du leben!“ girlandenhaft über allen Szenen. Alles ist in schönster Ordnung, ganz gleich, ob in den einzelnen Zimmern der elterlichen Wohnung (im Wohnzimmer dürfen die Kinder nur zu Weihnachten spielen), im Straßenverkehr, selbst auf dem „Rummelplatz“ (wie man damals sagte), in der Schule, beim Arzt, auf Bahnsteig und Flughafen, auf dem Bauernhof, im Lebensmittelgeschäft (schon mit Einkaufswagen, aber noch kein richtiger Supermarkt), wo Peter einholen soll und – o keimfreier Witz – die Maßeinheiten verwechselt: „Ein Pfund Eier, einen Liter Puddingpulver…“ Darüber lachen die erwachsenen Einkäufer. An anderer Stelle dieser Fibel heißt es, Kinder dürften ihrerseits keine Erwachsenen auslachen. Damit das klar ist.

Auch die Autobahn erscheint – trotz eines Unfalls – vor allem aufgeräumt und geradezu adrett zu sein, gelbes Fahrzeug des Automobilclubs inbegriffen. Es ist alles da, was man erwartet, es fehlt an nichts. Überall bescheidener Wohlstand und Anstand. Nichts irritiert, nichts gibt Rätsel auf. Ohne Sorge. Sei ohne Sorge. Dies wiederum frei nach Ingeborg Bachmann (Gedicht „Reklame“).

Perlenkette und Zigarrenkiste

Und dann erst das familiäre Weihnachtsfest, an dem „Mutti“ eine Perlenkette und Vater eine Kiste wirtschaftswunderlicher Zigarren bekommt, die er gleich unterm Baum zu paffen beginnt. Monika freut sich derweil geschlechtergerecht über eine Puppe und Peter über eine Autorennbahn. Mehrfach (Wochenmarkt, Postamt) wird Monika so angesprochen: „Na, kleines Fräulein…“, wobei auch hinter dem Schalter ein „Fräulein“ sitzt, nur halt kein kleines. Hat man zu der Zeit eigentlich selbst so daher geredet oder sich bereits davon abgesetzt? Nun ja, man hat immerhin „Pardon“, Spiegel und Stern gelesen – damals eine dreifache Speerspitze des Nicht-mehr-weiter-so.

Gar häufig haben sich in den 70er-Kinderduden solche grundbiederen Kern- und Merksätze eingeschlichen: „Mütter haben immer etwas zu nähen oder zu stopfen.“ Es war auch die Zeit, als Kinder in der Bahn sofort für Ältere aufgestanden sind und als sie daheim wie in der Schule noch geschlagen („gezüchtigt“) wurden, was natürlich nicht im Kinderduden steht. Kinderduden? Eher schon „Kinder dulden“. Sie hatten artig, brav und folgsam zu sein, Diener oder Knicks zu machen. Worte, die es heute praktisch nicht mehr gibt. Jetzt sind wir mit allfälligem Stinkefinger und „expliziten“ Texten im Gangsta-Rap oft beim auch nicht wünschenswerten Gegenteil angelangt.

Die Mondlandung und „Max Hackemesser“

So altbacken das Ganze durch und durch ist, so modern und fortgeschritten gibt sich eine Bildseite, die von der Mondlandung handelt. Kein Wunder. Am 21. Juli 1969 hatte die Nation, um nicht zu sagen weite Teile der Menschheit, nachts vor den Fernsehgeräten gesessen, um live „dabei“ zu sein. Hienieden aber war alles noch wie längst gehabt und gewollt: Da heißt der Metzger am idyllischen Marktplatz „Max Hackemesser“ und einige Jahrzehnte vor den Smartphones bediente man sich der „Fernsprechzelle“. Wie hieß noch der Spruch, der darauf pappte? Ach ja: „Fasse dich kurz“. Drum höre ich jetzt auf.




Die Landkarte der Liebe neu vermessen – Nicole Krauss‘ Storys „Ein Mann sein“

Es ist Sommer. Ein Mann liegt träge am Strand, beobachtet seine spielenden Kinder und seinen alten Vater. Während die Hitze ihn schläfrig macht, lässt er sein Leben Revue passieren, denkt er an das unmerkliche Älterwerden, all die kleinen Veränderungen, die sich ständig ereignen, an das Leben, „das sich immer auf so vielen Ebenen abspielt, alles zur gleichen Zeit.“

Die Gedanken zerfließen, zerrinnen, sind nicht greifbar. Vielleicht ahnt er, dass gerade jetzt, während er mit seinen Kindern Ferien am Meer macht, seine Frau ihren Liebhaber in Berlin trifft und dabei nicht nur beglückende, sondern auch zutiefst beklemmende Erfahrungen macht.

Ein scharfer Cut. Die Perspektive wechselt, wir hören die freimütigen Bekenntnisse der Frau. Lauschen ihren Worten, mit denen sie den hemmungslosen Sex beschreibt, den sie mit ihrem Liebhaber hat, einem Journalisten und passionierten Amateurboxer. Ein großer, starker Mann mit einem emotionalen Handicap. Er kann es nicht ertragen, neben einer Frau einzuschlafen, sie die ganze Nacht in den Armen zu halten. Nach dem Liebesakt muss er das Bett verlassen und in seinem eigenen Bett zur Ruhe kommen. Seine Frau hat sich deshalb von ihm scheiden lassen. Die Liebhaberin, eine Jüdin aus New York, hat dafür Verständnis. Viel verstörender findet sie, dass der deutsche Mann ihr bei einem Spaziergang durch den Grunewald beichtet, er wäre damals bestimmt ein Nazi gewesen: „Ich bin genau der Typ, den sie für die Napola rekrutiert hätten“, sagt er mit Bezug auf die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten, in denen die Nazis die Elite der starken und gehorsamen Jugend zu SS-Führern herangezüchtet haben. Dass er eine Schwäche für Ruhm und Ehre hat, lässt die Frau noch durchgehen. Aber dass der Mann glaubt, in ihm schlummere ein willfähriger Massenmörder? „Sie würde lieber glauben, dass der Mann, mit dem sie schläft, niemals, unter keinen Umständen, ein Nazi hätte sein können.“

„Ein Mann sein“, heißt diese verstörende Story, sie ist zugleich der Titel des Erzählbands, in dem die US-amerikanische Autorin Nicole Krauss vom Kampf der Geschlechter und den Zumutungen des Zusammenlebens berichtet. Immer geht es um das Wechselspiel von Macht und Sex, Liebe und Gewalt und den Versuch, die Landkarte der Beziehungen neu zu vermessen und zu beschriften. Einmal erzählt sie, wie eine aus New York nach Tel Aviv gereiste Frau in der Wohnung ihres verstorbenen Vaters einen fremden Mann antrifft. Er hat einen Schlüssel, geht hier ein und aus. Wer ist dieser Unbekannte und warum drängt er sich in den Leben der Frau, die irgendwann glaubt, in einem seltsamen Traum gefangen zu sein? Ein anderes Mal erinnert sie sich an eine Mitschülerin, die eine von Gewalt-Lust und Unterwerfungs-Fantasien dominierte Beziehung zu einem älteren, reichen Mann unterhielt. Was wohl aus ihr geworden ist? Und was mag aus dem jungen Mann geworden sein, in dessen Leben die Erzählerin hineinschlüpft: Viele Jahre war er der Sekretär eines bedeutenden Landschafts-Architekten in Südamerika. Hat erlebt, wie die Generäle der Junta ihn zwangen, in einem seiner prächtigen Parks unzählige Leichen zu verscharren. Warum hat der jüdische Architekt, der vor den Nazis aus Deutschland nach Südamerika geflohen war, das still ertragen und erduldet?

Ein rätselvolles, großes Buch einer großen Autorin.

Nicole Krauss: „Ein Mann sein.“ Storys. Aus dem Englischen von Grete Osterfeld. Rowohlt, Hamburg 2022, 256 Seiten, 24 Euro.




Unermüdliche Suche nach Benachteiligung – „Cherchez la FemMe“ im Dortmunder Studio

Von links: Linda Elsner, Sarah Yawa Quarshie und Iman Tekle (Bild: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Angekündigt wird die Begegnung mit drei sehr unterschiedlichen Frauen, mit Claude Cahun, Josephine Baker und Eartha Kitt. Doch wenn das Spiel beginnt, läuft es ganz anders als geplant. Offenbar ist das Publikum zu früh gekommen, die auf der Bühne sind noch nicht fertig. Und das Licht ist auch noch nicht an.

Witzig? In Grenzen schon. „Cherchez la FemMe“ heißt das 75-minütige Spektakel im Studio des Dortmunder Theaters, das nach seinem verstolperten Anfang bald an Fahrt gewinnt. Und natürlich ist die orthographisch fragwürdige, selbstverständlich vieldeutige Schreibung des Titels absichtsvoll erfolgt.

„Kochshow“ mit (von links): Linda Elsner, Iman Tekle, Sarah Yawa Quarshie und Christopher Heisler (Bild: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Weibliche Identität

Recht offenkundig geht es, wie mittlerweile oft im Dortmunder Theater, um die geschlechtliche Identität, vor allem jedoch um vorgebliche Unterdrückung, Vermeidung, Diffamierung der weiblichen Anteile eines jeden Menschen. In einer „Kochshow“ ist zu sehen, wie weibliche Identität „seit 800 Jahren“ aus diskriminierenden, minderwertigen Zutaten entsteht, zusammengebraut (vermutlich) von weißen alten Männern. In Wirklichkeit aber soll es eine solche weibliche Identität gar nicht geben, ihre Definition sei lediglich ein Unterdrückungsmechanismus, behauptet diese Szene. Na gut.

Hier dreht es sich um Hannah Arendt. Szene mit (von links) Linda Elsner, Iman Tekle, Christopher Heisler und Sarah Yawa Quarshie (Bild: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Hannah Arendt

Es irritiert, dass wir nun jedoch Hannah Arendt begegnen, von der man zumindest weiß, dass sie eine bedeutende Geisteswissenschaft-lerin war, dass sie ein Verhältnis mit Martin Heidegger hatte, dass sie den Eichmann-Prozess verfolgte, ein Buch darüber schrieb und ihr Satz von der „Banalität des Bösen“ geradezu populär wurde. Auf der Bühne, wo eine Darstellerin Hannah Arendt spielt, während die anderen ohne Rollenzuweisungen bleiben, geht es aber offenbar vor allem um ihr weibliches Selbstverständnis im männlich dominierten Wissenschaftsbetrieb. Sie soll sich wohl nicht benachteiligt gefühlt haben, kann das denn stimmen? Letztlich bleibt die Antwort aus, sie wäre von der Anlage der Szenen her auch kaum möglich. Denn Schauspiel – mit der Betonung auf Spiel – findet an diesem Abend nicht statt. Statt dessen wird in Richtung Publikum deklamiert und monologisiert, meistens solistisch, gelegentlich aber auch im Chor, anklagend und vorwurfsvoll.

Zeigt komisches Talent: Christopher Heisler (Bild: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Zum Glück mit Spaßfaktor

Glücklicherweise haben die Autorinnen vom Kollektiv „Operation Memory“ (Julienne De Muirier, Alexandra Glanc und Maria Babusch, alle auch Regie) einen kräftigen Spaßfaktor in ihren Theaterabend eingebaut. „Cherchez la FemMe“ ist auch eine Bühnenshow, in der die Darsteller, drei Frauen und ein Mann, zu Titeln wie „New York, New York“ erheiternde Tanzeinlagen liefern. Bei Josephine Baker ginge es ja gar nicht ohne. Auch Eartha Kitt, von der man Titel wie „Santa Baby“ oder „C’est si bon“ im Ohr hat und die als gleichermaßen erotische wie wehrhafte Cat Woman Karriere machte, vollzieht ihren Bühneneinsatz höchst körperbetont. Von Leonard Cohen hört man dazu „I’m Your Man“ vom Band.

Eine Produktion mit erheblicher Flüchtigkeit

Textpassagen gelangen zum Vortrag, die die Frauen von „Operation Memory“ den beschriebenen Künstlerinnen biographisch zuordnen, mehr oder weniger jedenfalls, Texte voller Verlusterfahrung und Zorn. Ob das alles so stimmt, und ob das passt, wer weiß? Vielleicht ist der eine oder andere Satz durchaus bedenkenswert. Doch wohnt dieser Produktion erhebliche Flüchtigkeit inne, die ein gründlicheres Nachschmecken schwer macht.

Sehr unglücklich

Ein wenig anders verhält es sich lediglich bei der Fotografin und Schriftstellerin Claude Cahun (1894 – 1954), der sich dieser Abend mit etwas mehr Ernsthaftigkeit widmet und zu der es auch eine projizierte Bilderfolge zu sehen gibt. Sie soll, so legt das Stück uns nahe, mit ihrem Geschlecht, mit Geschlechtlichkeit schlechthin, sehr unglücklich gewesen sein. Und damit wäre man bei der zentralen Frage, nämlich, wie glücklich oder unglücklich Menschen in ihrer konkreten Existenz waren, sind oder sein könnten. Doch dieser Frage stellt sich dieser Abend, na sagen wir mal: kaum.

Fleißiges Bühnenpersonal

Die Schauspielerinnen heißen Sarah Yawa Quarshie, Linda Elsner und Iman Tekle. Einsatzfreude kann allen Darstellern attestiert werden, bei Christopher Heisler, dem einzigen Mann auf der Bühne, blitzt zudem immer wieder dezentes komödiantisches Talent hervor.

Gelangweilt hat man sich nicht, schlauer geworden ist man aber auch nicht. Anhaltender, naturgemäß begeisterter Uraufführungsbeifall.




Fall ohne Fallhöhe in Gelsenkirchen: Gabriele Rech verpasst „Madama Butterfly“ ein neues Ende

Hochzeits-Show für den Fremden im ersten Akt von Puccinis „Madama Butterfly“ in Gelsenkirchen. (Foto: Björn Hickmann)

Irgendwann musste es so kommen: Am Ende von Giacomo Puccinis „japanischer Tragödie“ richtet Madama Butterfly den Dolch nicht gegen sich selbst, sondern sticht den hereinstürzenden Pinkerton ab. Damit macht Regisseurin Gabriele Rech das Opfer zur Täterin, nimmt ihr die Fallhöhe.

Tatsächlich ein „Schritt in Richtung Unabhängigkeit“, wie das Programmheft der neuesten Produktion des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier meint? Eher eine jener aufgesetzten Ideen, deren hervorstechender Wert die Neuheit ist.

Der Reihe nach. Dirk Beckers Bühne signalisiert von Anfang an: Hier wird „Japan“ für Touristen mit speziellen Interessen inszeniert. Papierwände und Kirschblüten als Deko, ein Podium, mit silbernem Glitter verhängt. Grotesk auf eine Wand vergrößert, gehört auch Katsushika Hokusais zum Kitsch verkommene „Große Welle von Kanagawa“ zum Inventar. Japanerinnen in bunten Folklore-Kostümen (Renée Listerdahl) trippeln herein. Ein paar Damen hängen an einer reichlich mit Flaschen ausgestatteten Bar ab. Der passend geschmeidig singende Goro (Tobias Glagau) vermittelt nicht nur Quartier, wird mit dem vergnügungswilligen B.F. Pinkerton schnell handelseinig. Immer wieder wechselt Geld die Hände.

Die Kolleginnen verfolgen interessiert die Show der Madama Butterfly. Die „Verwandten“ der arrangierten Hochzeit können ihr Kichern kaum verbergen. Und Michael Heine wirft sich als wütender Onkel Bonze mächtig ins Zeug. Wer für einen kurzen Moment glaubt, jetzt werde es ernst und die Galerie über der Szene repräsentiere eine Art inneres Gewissen der Cio-Cio-San, verliert diese Illusion schnell. Die „Bekehrung“ Butterflys zur Religion des Amerikaners gehört ebenso zum Spektakel wie das mit Gelächter verkündete Lebensalter von 15 Jahren. Zum Höhepunkt: Liebesduett mit falschen Papierampeln und Thomas Ratzingers Stimmungslicht.

Die tiefe Liebe an der Bar? In Puccinis „Madama Butterfly“ am Musiktheater im Revier bleiben Fragen offen. Ilia Papandreou (Cio-Cio-San) und Carlos Cardoso (Pinkerton). (Foto: Björn Hickmann)

Als die Show im zweiten Akt zu Ende ist, das Papier zerfetzt, die Bar geleert, stellt sich die Frage: Warum hängt „Madama Butterfly“ noch in diesem Ambiente herum, angetan mit der abgeschabten Uniformjacke ihres in die USA entschwundenen „Gatten“? Wie ist es möglich, dass ein professionelles Showgirl sich mit Haut und Haaren an einen Kunden verliert und seit fast drei Jahren auf die Rückkehr des Marineleutnants wartet? Woher ein solches fundamentales Missverständnis?

Calixto Bieito hat einst an der Komischen Oper – die Musik Puccinis bewusst missverstehend – Butterflys Strategie von Anfang bis Ende ausinszeniert: Ziel war es, mit einer Green Card rauszukommen aus ihren Milieu. Was Gabriele Rechs „Butterfly“ bewegt, aus Sehnsucht an der Flasche zu hängen, erschließt sich nicht. Und wenn sich im Duett „Bimba, dagli occhi pieni di malia“ der psychologische Schalter in Richtung schwärmerisch-radikaler Liebe umgelegt haben sollte, bleibt die Inszenierung diesen Moment schuldig.

Puccinis Oper über eine existenzielle Tragödie ließe sich wohl auch als soziales Drama erzählen, wäre da nicht die Perspektive des Komponisten, der alle Figuren auf Cio-Cio-San als Zentrum ausgerichtet hat. Rech entwertet die innere Katastrophe der Butterfly. Pinkertons Handeln erscheint in diesem Kontext durchaus verständlich und konsequent pragmatisch, wenn er mit der eingekauften Braut von früher nichts mehr zu tun haben will und bei seiner Rückkehr ein paar große Scheine als Kompensation hinterlässt. Er ist Geschäftspartner in einem Sex-Deal, nicht der gedankenlose Chauvi, der ein gewaltiges Missverständnis auslöst. Dass Butterfly am Ende zusticht, statt den Ehrenkodex ihrer alten Kultur im Suizid zu realisieren, ließe sich in der Tat als Chiffre für eine Befreiungstat lesen. Aber dazu müssten die Signale in der Inszenierung anders gesetzt werden.

Giuliano Betta am Pult der Neuen Philharmonie Westfalen unterstützt im ersten Akt die Atmosphäre der Vorspiegelung, indem er Puccinis Musik so unemotional wie möglich ablaufen lässt: kantig, bisweilen laut, mit wenig Raffinesse in Artikulation und Phrasierung, aber mit Sinn für Details, die das Orchester klarsichtig ausmusiziert. Später findet Betta das organische Pulsieren von Puccinis Metrum; die Lautstärke könnte jedoch subtiler geregelt werden. Den Solisten und dem trefflich agierenden Chor von Alexander Eberle wäre damit geholfen.

Ilia Papandreou hat als Cio-Cio-San den ironischen Tonfall des ersten Auftritts ebenso verinnerlicht wie die weiten Kantilenen ihrer sehrenden Sehnsucht. Wenn die Töne auf dem Atem ruhen, erschafft sie magische Momente intensiven Gesangs. Carlos Cardoso als Gast vom Aalto-Theater Essen bringt für den Pinkerton keinen warm strömenden, sondern einen wie Kristall strahlenden Tenor mit, besingt „America forever“ mit einiger Anstrengung und gestaltet „Addio fiorito asil“ eher kühl als – je nach Lesart – wehmütig oder larmoyant gefärbt. Butterflys Dienerin Suzuki bleibt in dieser Inszenierung eine Randfigur, mit ehrwürdigen Reifespuren gesungen von Noriko Ogawa-Yatake, die vor mehr als 20 Jahren, ebenfalls in einer Inszenierung von Gabriele Rech am Musiktheater im Revier, die Titelpartie verkörpert hatte. Zur Blässe verurteilt bleibt auch der Sharpless von Petro Ostapenko.

Könnte doch sein, dass  die unbändige kreative Energie künftiger Butterfly-Regieführenden zu noch originelleren Lösungen führt: Vielleicht ersticht Suzuki demnächst die abtrünnige Butterfly, oder gleich Pinkerton mit dazu? Könnte nicht Sharpless die beiden Frauen erschießen und über ihren Leichen die Hände Pinkertons schütteln? Oder werten wir mal die Randfigur der Kate Pinkerton auf (Scarlett Pulwey hätte sicher nichts dagegen gehabt) und lassen sie ihren unmöglichen Ehemann abknallen? Auf, auf ins Terroir der Deutungen, die gute alte Oper ist noch lange nicht am Ende!

Weitere Vorstellungen: 20., 22., 28. Mai, 18. Juni 2022. Info und Karten: Tel.: 0209/4097-200, www.musiktheater-im-revier.de




Ein Beitrag, der jetzt gestrichen werden muss

Seit den monströsen Kriegsverbrechen von Buschta (oder Buchta oder Butscha – sucht euch die Schreibweise aus, es ist zweitrangig) „gehen“ Texte wie der folgende, eilig gestrichene eigentlich nicht mehr, es verbietet sich jede auch noch so eingehegte Launigkeit. Da wir aber andererseits keine (Selbst)-Zensur ausüben wollen, bleiben die Ende März verfassten Zeilen noch notdürftig erkennbar.

Überhaupt vergeht einem schon seit einiger Zeit ganz gründlich die Lust auf kulturell oder feuilletonistisch angehauchte Betrachtungen. Obwohl gerade die Künste, sofern sie den Namen verdienen, ein dauerhaftes Gegengewicht sein und bleiben könnten… Ars longa, vita brevis.

Ceterum censeo: Jetzt endlich selbst das russische Gas abdrehen – und sei es „nur“ als starkes Zeichen ohne entscheidende Wirkung!

Was waren das noch für selige Zeiten, als „wir“ lediglich eine Nation von 40, 60 oder 80 Millionen Fußballtrainern gewesen sind. Gewiss, Länder- und Vereinsmannschaften stellen wir auch heute noch linkshändig auf, notfalls für Frankreich, England und Spanien gleich mit. Aber nur noch nebenbei. Wir haben jetzt Wichtigeres zu tun.

Inzwischen haben wir nämlich anderweitige Karrieren draufgesattelt. Zunächst bekanntlich als Top-Virologen, die sich ganz geläufig über komplizierteste Fachfragen ausgetauscht haben. Mit Corona und Konsorten kennt sich doch heute jeder Depp aus. Nun gut: Zuweilen ist da auch ein bisschen Besserwisserei im Spiel. Das bleibt halt nicht aus, wenn man viele Semester eines Fachstudiums und praktischer Forschung kurzerhand überspringt. Dann muss man eben beherzt behaupten.

Neuerdings haben sich viele, die das vorher nicht von sich selbst erwartet hätten, dem verschrieben, was hirnparalysierte Vorväter „Kriegskunst“ zu nennen beliebten. Zeitenwende eben. Oder richtiger: Zeitenbruch. Als Generalissimus von eigenen Gnaden widmet sich nun so mancher Mann überschlägigen ballistischen Berechnungen, intelligenter Nachschub-Logistik, effektiven Abwehrsystemen oder der schlagkräftigen Koordination verschiedenster Waffengattungen bis hin zu… Nein, wir wollen es nicht auch noch hier leichtfertig herbeireden. Frauen sind auf diesem Felde jedenfalls hoffnungslos in der Minderheit. ER wird es ihnen beizeiten zu erklären versuchen – wie einst das Abseits.

„Blamiert“ sich Russland militärisch – oder sollte man es nach wie vor „nicht unterschätzen“? Hockt Putin schon im Bunker? Dreht er uns den Gashahn zu? Gibt er sich mit dem Donbass zufrieden? Was machen die Chinesen? Derlei gravitätische Fragen werden Tag für Tag in mancherlei Medien erwogen. Im Gefolge solcher Gedankenspiele haben sich einige Leute außerdem flugs zu Flüchtlings-Kommissaren und Energie-Experten mit ungeahnt fossilen Präferenzen promoviert. Zwei bis drei Talkshows gucken – und schon kann man wieder mitpalavern. Wo liegt denn nur wieder die Generalstabskarte mit den vielen Pfeilsymbolen?

 




„Das andere Geschlecht“ – Bundeskunsthalle erinnert an Simone de Beauvoirs Klassiker der Frauenbewegung

Simone de Beauvoir an ihrem Schreibtisch in Paris im Jahr 1945. (Foto: akg images, Denise Bellon / Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH)

Ein rundes Datum gibt es nicht, es ist auf jeden Fall schon lange her. 1949, vor 73 Jahren mithin, erschien Simone de Beauvoirs bahnbrechendes Werk „Le deuxième sexe“, dessen Titel im Deutschen zwei Jahre später nicht ganz exakt mit „Das andere Geschlecht“ übersetzt wurde. Genau genommen eben das zweite, nicht das andere.

Die Ordnungszahl Zwei verweist schon auf die Rangfolge, die „den Mann“ seit ewigen Zeiten auf Platz eins stellt, was Beauvoirs Buch „als eine sozialwissenschaftliche und existentialistische Studie“, so die Pressemitteilung, ausgiebig referiert. Jetzt widmet die Bundeskunsthalle dem Buch und seiner Autorin eine durchaus ansprechende Ausstellung, die Katharina Chrubasik kuratiert hat.

Das intellektuelle Paris

Wie die meisten Literaturausstellungen mangelt es auch dieser naturgemäß an Exponaten. Herausragend ist deshalb ein wenige Zentimeter hoher Giacometti-Kopf, den der berühmte Skulpteur von Simone de Beauvoir fertigte. Erläuterungen und Zitate, gefällig auf die Wände appliziert, prägen den Gesamteindruck stark. Viele Fotos im zeittypischen Schwarzweiß lassen jedoch auch ein Gefühl entstehen für das wilde, aufbegehrende, intellektuelle Paris der frühen 50er Jahre, wo die Szene Jazz hörte und der Existentialismus zur dominierenden (westlichen) Nachkriegsphilosophie wurde. Eine hübsch nachempfundene Café-Bestuhlung in typischem Thonet lädt zur Rast und zum Blättern in verschiedenen Ausgaben des Buches, Übersetzungen zumal, ein.

Die erste Ausgabe von „Le deuxième sexe“ von 1949 in zwei Bänden. (Foto: Laurin Schmid, 2022 / Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH)

Kämpferische Frauen

Trotz moderner Medien wie Video- und Hörstationen ist diese Schau natürlich eine nostalgische Veranstaltung; auch die Schwarzweiß-Fotos kämpferischer Frauen, die in der Bundesrepublik gegen den Paragraphen 218 auf die Straße gingen, sind schon 50 Jahre alt. Das wird erst anders im letzten Raum. Hier laufen Filme mit den Interviews, die Alice Schwarzer seit 1972 regelmäßig mit Simone de Beauvoir führte und die auch heute noch die Wucht spüren lassen, mit der politische Frauenthemen damals ins Öffentliche drängten. Das formale Setting mit Interviewerin und Interviewter kann und will nicht verbergen, daß die beiden Frauen gut und vertrauensvoll befreundet waren. Auch zu Beauvoirs Lebenspartner Jean-Paul Sartre bestand eine enge Freundschaft, an die sich Alice Schwarzer im Pressetermin lebhaft und streckenweise gar humorvoll erinnerte. Die Diskussionskultur des berühmten Intellektuellenpaars sei hoch gewesen, vorbildlich und entwaffnend, Widersprüche hätten sie als Material für produktive Gespräche sehr geschätzt.

Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir bei einem Cuba-Besuch 1960. Mit im Bild: Gastgeber Fidel Castro (stehend). (Foto: ullstein Bild – Pictures from History – Ionary Zeal / Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH)

Auf dem Index

„Das andere Geschlecht“ kam bei Gallimard heraus und war ein großer literarischer Erfolg, wurde in der ersten Woche 22.000 Mal verkauft. Die erste deutsche Übersetzung folgte 1951 mit dem irgendwie doch zeittypischen Untertitel „Sitte und Sexus der Frau“. Weitere Ausgaben, so 1953 die englische, waren mitunter stark und auch sinnentstellend gekürzt. Der Vatikan, die Sowjetunion und das zu jener Zeit faschistisch regierte Spanien setzten das Buch auf den Index. Doch seine Wirkmächtigkeit bleibt ungebrochen. Seit den 1990er Jahren, wiederum sei der Pressetext zitiert, „richtet eine neue Generation von Wissenschaftlerinnen einen frischen Blick auf das Buch“ mit der Folge, daß etliche Neuübersetzungen der vollständigen Originalfassung entstanden.

Die Macht der Influencerinnen

Und heute? Den Paragraphen 218, stellt Alice Schwarzer nüchtern fest, gibt es noch immer. Und ungewollt schwangere Frauen finden immer schwerer Kliniken, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Mit dem Thema „Influencerinnen“ hat sie sich beschäftigt, ist erschrocken über den Gruppendruck, der von ihnen und ihren vorgeblichen Schönheitsidealen auf Mädchen und Frauen ausgeht. Von Equal Pay wäre vielleicht noch zu reden, von der Gläsernen Decke, die weibliche Karrierechancen deckelt, und so fort. An Problemen ist mithin kein Mangel, auch 73 Jahre nach dem Erscheinen von Simone de Beauvoirs „Klassiker der Frauenbewegung“ nicht.

  • Simone de Beauvoir und „Das andere Geschlecht“
  • Bundeskunsthalle, Bonn, Helmut-Kohl-Allee 4
  • Bis 16. Oktober 2022
  • Geöffnet Di 10-19 Uhr, Mi 10-21 Uhr, Do-So und feiertags- 10-19 Uhr
  • Eintritt 5 EUR
  • www.bundeskunsthalle.de

 




Die tiefe Wahrheit der Komödie: Vor 400 Jahren wurde der Dramatiker Jean-Baptiste Molière geboren

Es ist sicher nicht übertrieben, Molières „Tartuffe“ als eine der wichtigsten Komödien der Weltliteratur zu bezeichnen. Bei ihrem Erscheinen 1664 erzeugte sie einen gewaltigen Skandal. Ihr Autor wurde als Jean Baptiste Poquelin am 15. Januar vor 400 Jahren getauft*. In seiner Bedeutung als einer der großen dramatischen Autoren der Literaturgeschichte ist er William Shakespeare an die Seite zu stellen.

Jean Baptiste Molière im Jahr 1664. Stich von Charles Courtry nach einem heute verlorenen Gemälde von Michel Corneille d. J.

„Le Tartuffe“ wird bis heute häufig aufgeführt. Die Geschichte eines gerissenen Betrügers, der sich der Religion bedient, um mit vorgetäuschter Frömmigkeit und demonstrativem Glaubenseifer eine ganze Familie unter Kontrolle zu bringen, ist nach wie vor aktuell. Denn Molière beleuchtet in seinen Figuren die Mechanismen der Manipulation. Er führt die psychologischen Ursachen vor, die Menschen dazu bringen, ihre Einsichtsfähigkeit auszuschalten.

Der wohlhabende Herr Orgon und seine auf religiöse Perfektion fixierte Mutter Madame Pernelle unterwerfen alles, was sie erfahren und erleben, einem auf Tartuffe bezogenen Erklärungsmuster. Die Menschen in ihrem familiären Umfeld entlarven die Täuschung unschwer. Aber ihre Kritik führt dazu, die eigene Anschauung noch hartnäckiger zu verteidigen und sich an ihrer Wahrheit festzuklammern. Das Ende ist ein menschliches Desaster und der Bankrott der bürgerlichen Existenz. Ein Phänomen, das nur allzu bekannt wirkt. Doch in der Realität gibt es, anders als bei Molière, keinen wissenden König, dessen Eingreifen eine Katastrophe verhindern könnte.

Molières „Tartuffe“, eine bissige Abrechnung mit falscher Frömmigkeit und religiöser Heuchelei, wird im Frankreich Ludwigs XIV. als Angriff auf Glauben und Kirche missdeutet. Die Königinmutter Anna erwirkt, ganz im Sinne einer katholischen gegenreformatorischen Geheimgesellschaft, der Compagnie du Saint-Sacrement, ein Aufführungsverbot. Molière wird verdammt als ein „in Fleisch gehüllter, als Mensch verkleideter Dämon“, als „pietätloser Libertin“. Fünf Jahre kämpft er beim König, der ihm eigentlich gewogen ist, für sein Stück, bis es endlich nach der Entmachtung des alten Hofstaats 1669 mit riesigem Erfolg öffentlich in Paris aufgeführt werden kann.

Verblendung und Realitätsverlust

Dass Tartuffe erst im dritten der fünf Akte persönlich auftritt, ist mehr als ein spannungsfördernder Theaterkniff, den schon Goethe bewundert hat. Er gibt Molière den Freiraum, die Unzulänglichkeiten der Charaktere zu entwickeln, die auf ihre eigenen Gedankenkonstruktionen und Illusionen hereinfallen. Er führt dem Zuschauer schmerzlich vor, wie sich Menschen verrennen und von der Realität verabschieden.

Nicht nur in „Tartuffe“ überwindet Molière das possenhafte Unterhaltungstheater seiner Zeit. Seine Komödien haben den Anspruch, in der Deutung der menschlichen Existenz mit der Tragödie gleichzuziehen. Molière nimmt charakterliche Schwächen aufs Korn und kritisiert soziale Verhältnisse seiner Zeit. Ironie und karikierende Verzeichnung sollen die Zuschauer jedoch nicht nur lachen lassen, sondern dienen dazu, den Blick in die menschliche Seele zu vertiefen.

Als Molière 1659 mit seiner Komödie „Der verliebte Arzt“ auf Einladung seines Förderers Herzog Philippe von Orléans in Paris gastiert, gewinnt er das Wohlwollen des jungen Königs. Davor lagen für ihn fast zwei Jahrzehnte Theater in der Provinz. Molière hatte als Zwanzigjähriger darauf verzichtet, das erfolgreiche Geschäft seines Vaters, eines Tapissiers (Raumausstatters) zu übernehmen, und gemeinsam mit seiner langjährigen Gefährtin Madeleine Béjart eine Theatertruppe gegründet. Dieses Unternehmen geht nach zwei Jahren Bankrott und Molière wandert in Schuldhaft.

Komödien für den König

In den folgenden 13 Jahren lernt er das Theater von Grund auf kennen: Er leitet eine Theatertruppe, betätigt sich als Schauspieler und Autor. Mit „Die lächerlichen Preziösen“ karikiert er das exaltierte Verhalten von Pariser Mädchen, die gerne adelig und gebildet wären, und erzielt einen viel beachteten Erfolg, den er mit „Die Schule der Frauen“ fortsetzt. Wie der „Tartuffe“ ist dieses Stück über eine sich selbst bewusst werdende junge Frau und ihr Recht auf Liebe Anlass für eine heftige Kontroverse.

Für den König entwickelt Molière in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Jean-Baptiste Lully unterhaltsame Ballettkomödien, bleibt aber auch dem Genre der Charakterkomödie treu. Bis heute gespielt werden etwa „Der Geizige“, „Der Bürger als Edelmann“ oder „Der eingebildete Kranke“. Die Titelrolle dieses Stücks über naive Medizingläubigkeit und unfähige Quacksalber sollte am 17. Februar 1673 sein letzter Auftritt auf dem Theater werden: Während der Vorstellung attackiert den seit Jahren an Krankheiten laborierenden Molière ein schwerer Hustenanfall. Mit Fieber und Schüttelfrost bringt man ihn nach der Vorstellung nach Hause, wo er einen Blutsturz erleidet und stirbt. Nur auf Drängen des Königs gewährt die Kirche ihrem exkommunizierten Kritiker ein Begräbnis in aller Stille.

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* Geburtsdatum vermutlich einen Tag vor der Taufe, am 14. Januar 1622.

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Von den über 30 Stücken Molières ist in seinem Geburtsjahr an den Theatern in der Region so gut wie nichts zu finden. Lediglich die Burghofbühne Dinslaken spielt den „Tartuffe“  (Premiere war am 10.01.2020) in drei Vorstellungen in Limburg, Goch und Kamp-Lintfort.

Das umfangreiche Werk und die schillernde Persönlichkeit Molières stellt Frank Castorf ab 21. Januar 2022 ins Zentrum eines Abends im Depot 1 des Schauspiels Köln: „Ich bin ein Dämon, Fleisch geworden und als Mensch verkleidet“ ist der Titel der Produktion, zu der Aleksandar Denic die Bühne geschaffen hat. Tickets gibt es unter Tel. (0221) 221 28 400.

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Sozialer Aufstieg hat seinen Preis – Theater Dortmund zeigt „Der Platz“ nach dem Roman von Annie Ernaux

Marlena Keil, Antje Prust, Mervan Ürkmez, Linda Elsner, Lola Fuchs, Raphael Westermeier (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Was, so könnte man zu Beginn vielleicht fragen, macht den Wert einer Biographie aus? Bei Herrschern, Künstlern oder Verbrechern, beiderlei Geschlechts sie alle natürlich, fielen uns schnell Antworten ein; stets gilt es von der Lebensleistung zu berichten, von großen Taten oder großen Irrtümern, von Wahnsinn oder tragischer Verstrickung.

Macht und Reichtum begünstigen fraglos die Entstehung von Biographien, doch auch arme Leute können ein interessantes – und somit berichtenswertes – Leben geführt haben. Wenn aber nur ein zu jeder Zeit ausgesprochen durchschnittliches Leben gelebt wurde, es bis zum etwas frühen Tod mit 68 keine dramatischen Brüche und Wendungen gab – ja was soll man da erzählen? Und vor allem: warum?

Musikerin Houaida (links) (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Laden und Kneipe

Annie Ernaux (Jahrgang 1940), französische Schriftstellerin mit starker Neigung zum Autobiographischen, hat es in ihrem Buch „Der Platz“ (1983) getan. Sie erzählt die Geschichte ihres Vaters, der zuerst Knecht auf einem normannischen Bauernhof war, später Industriearbeiter, und sich schließlich mit einem kleinen Laden nebst Kneipe selbstständig machte. Die kleinbürgerliche Selbstständigen-Existenz wird als sozialer Aufstieg gesehen, wenngleich die Einkommensverhältnisse bescheiden bleiben. Der Vater bemüht sich um ein gewandtes Auftreten, um seine vermeintlich bessergestellte Kundschaft zu beeindrucken, doch Minderwertigkeitsgefühle und die Angst vor dem Zurücksinken in eine proletarische Existenz bleiben lebenslang.

Das ist im Grunde die Geschichte. Erzählt wird sie rückblickend von der erwachsenen Tochter, die Gymnasiallehrerin geworden ist und durch ihre Verbeamtung Teil der bewunderten, beneideten, privilegierten Mittelschicht. Vom Vater hat sie sich dadurch entfremdet, beklagt sie.

Und nochmal, von links: Antje Prust, Linda Elsner, Raphael Westermeier, Lola Fuchs, Marlena Keil, Mervan Ürkmez (Foto: Theater Dortmund/Birgit HupfeldEEei

Endlich im Großen Haus

Im Schauspiel Dortmund hat Julia Wissert Annie Ernaux’ Buch „Der Platz“ nun als Stück auf die Bühne gebracht. Es ist dies die erste Inszenierung von Dortmunds immer noch neuer Intendantin im Großen Haus, wenngleich sie schon seit der vergangenen Spielzeit im Amt ist, Corona hat Schuld.

Gleich sechs Darstellerinnen und Darsteller bietet sie für den Monolog der Annie Ernaux auf, um das Leben des Vaters in recht straff geordneten Rückblenden zu erinnern. In etwa, ganz genau ist das nicht immer zuzuordnen, stehen verschiedene Akteure für die unterschiedlichen Entwicklungsstadien der heranwachsenden, später erwachsenen Tochter. Ihr Leiden unter der Nicht-Intellektualität des Elternhauses, ihre Minderwertigkeitsempfindungen gegenüber Kindern aus dem bürgerlichen Milieu, ihre Trauer um die Förderung, die das eigene Elternhaus ihr trotz gutem Willen nicht geben konnte – das sind, wenn man einmal so sagen darf, wesentliche Befindlichkeiten dieses Vortrags, der die Tochter (oder auch, wenn man so will, die Romanautorin) weitaus gründlicher zum Gegenstand autobiographischer Betrachtung macht als den Herrn Papa: Der schwere Aufstieg aus dem proletarischen Milieu – voilà.

Peinlicher Alter

Noch einmal ketzerisch nachgefragt: Sind solche Biographien es wert erzählt zu werden? Wie gesagt, Besonderes geschieht angeblich nicht. Oder könnte es sein, daß die Tochter an ihrem Vater vieles nicht oder nicht hinreichend wahrgenommen hat? Oder daß sie gar Dinge weggelassen hat, die nicht in das letztlich recht schlichte Konzept von ungebildetem Vater und zu kurz gekommener Tochter paßten? Ein dialektisch grundiertes Verfremdungsgeschehen ist nicht zu erkennen, und das häufige Hantieren mit Zentralbegriffen wie Scham und Entfremdung vermag nicht gänzlich zu überzeugen. Der Alte war ihr peinlich, könnte man respektlos vermuten, auch weit über die Pubertät hinaus. Mehr jedenfalls wird uns nicht berichtet.

Die Frage nach den Ressourcen wird nicht gestellt

Dabei wäre die Frage nach den Ressourcen der erfolgreichen Tochter wichtig gewesen, von denen es ja auch einige gegeben haben muß. Warum zum Beispiel kommt die Mutter mit wenigen kleinen Ausnahmen in all den Lebenserinnerungen nicht vor? Sie dürfte doch auch wichtig gewesen sein für das Kind – und übrigens auch für den gemeinsamen, mutigen Beschluß der Eheleute, eine selbstständige Existenz aufzubauen. Beim Vater wird zumindest deutlich, daß er, wenn er seine Tochter auch nicht intellektuell fördern konnte, doch stolz auf sie war und ihr den sozialen Aufstieg gönnte.

Etwas somnambul und etwas rätselhaft: das Ensemble in steter Bewegung (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Recht ordentlich

Wenn man so schnell bei den inhaltlichen Valeurs eines Stückes anlangt, dann spricht das für die Qualität der Inszenierung. Zwei Männer und vier Frauen tragen in sachlich-engagiertem Ton vor, machen neugierig auf zukünftige Taten des neuen Ensembles: Antje Prust, Linda Elsner, Lola Fuchs, Marlena Keil, Mervan Ürkmez, Raphael Westermeier.

Ihre Körperlichkeit steht dabei in einem gewissen Widerspruch zum nüchternen Textprotokoll. Alle sind sie mehr oder weniger immer in Bewegung, getrieben suchend, schematisch agierend, ein wenig rätselhaft, ein wenig somnambul. Etwas emotionale Aufladung durch feinen Gesang hier und da (Musik: Houaïda) wirkt entspannend. Glücklicherweise widersteht die Inszenierung der Versuchung, Motive von Ausgrenzung, Rassismus, Klassengesellschaft oder ähnlichem einzuflechten. Kluge Theaterbesucher kommen auch von alleine darauf, daß es da Bezüge gibt.

Wenig Publikum

Leider kann nicht unerwähnt bleiben, daß zur fünften Aufführung kaum 30 Zuschauer den Weg ins Dortmunder Theater (Großes Haus!) fanden. Vermutlich war es keine gute Idee, in den letzten Wochen der Spielzeit 2020/2021 nicht mehr zu spielen, als dies bei Beachtung der Hygieneauflagen wieder möglich gewesen wäre. Auch ein abgespecktes Sommerprogramm wäre vorstellbar gewesen, um für Aufmerksamkeit zu sorgen. In Dortmund aber herrschte zu lange zu viel Ruhe. Zudem haben Intendantenwechsel, wie eben in Dortmund, oft auch den Verlust von Teilen des alten Stammpublikums zur Folge. Und Korona hat seinen Schrecken noch nicht verloren. Heißt: Das Theater Dortmund muß sein Publikum zurückgewinnen. Wünschen wir ihm Glück dabei.

 

 




Verlassen für alle Zeit – „Nicht mehr. Mehr nicht“, das neue Buch von Botho Strauß

Nein, beim Lesen dieses Buches gilt es nicht, von A bis Z oder auch nur phasenweise zu „verstehen“. Gegen solche schnöden Kategorien sperrt sich der Text vielfach und nachdrücklich. Vielleicht sollten Lesende sich möglichst absichtslos im (häufig stockenden) Textfluss treiben lassen, doch immer wieder aufmerken.

Wie bei Botho Strauß kaum anders zu erwarten, sondert sich auch sein neues Werk „Nicht mehr. Mehr nicht“ entschieden von alltäglicher Sprache und überhaupt vom Ruch der Gegenwart ab. Der Blick richtet sich ganz aufs Vergangene und Verlorene: „Und es werden schreckliche Zeiten sein, die kein Einstweh mehr kennen.“

Mythen und Metamorphosen

In zahllosen, schier unendlich kreisenden, aber dann doch im Verzagen und Verstummen endenden Variationen vernehmen wir Monologe einer vom Geliebten Verlassenen. Es ist die Dichterin Gertrud Vormweg, die sich freilich in allerlei mythische Gestalten, Situationen und Metamorphosen versetzt, um ihr namenloses Leid vielleicht doch noch fassen oder ertragen zu können. So imaginiert sie sich als karthagische Königin Dido (alias Elissa), bei der Aeneas (alias Lionardo) nicht bleibt. Jener entglittene Geliebte wird als Flüchtling oder Migrant bezeichnet, in ihrer schmerzgetränkten Erinnerung erscheint er einerseits als äußerst behutsam und einfühlsam, dann wieder als gänzlich selbstbezogener Mann, der im Nachhinein auch ihren Zorn anstachelt. Rückblickend und bis zum Ende hin bleibt der Abwesende ungreifbar wie ein Phantom. Mit seinem Fernbleiben rieselt schier alles dahin, auch Schrift, Gedanken und Töne lösen sich auf. Einmal wird das Bild der alles mit sich reißenden Flut aufgerufen, aber natürlich nicht als Tagesereignis, sondern als biblische Metaphernquelle und Mythos.

Jenseits der Lebensweisheit

All das erweist sich als großer, zutiefst ernsthafter Gegenentwurf zu den leichtfertigen Trennungen in unseren Zeiten und Breiten. Statt dessen diese zeitlos gültige Choreographie der Paarungen:

„Drei Körperkehren ergeben ein Zuzweit: Anblick Umarmung Begleitung.
Voreinander Ineinander Nebeneinander.
Eine vierte aber ist Abkehr des einen vom anderen.“

Vom Satz- und Schriftbild her wirkt das Ganze beinahe wie eine Aphorismensammlung, auch inhaltlich ließe sich manche Zeile so auffassen, doch geht es wahrlich nicht um Lebensweisheiten, dazu ist das allermeiste viel zu rätselhaft. Oder wie soll man es nennen, wenn ein Mann vor dem nackten Frauenleib kauert „wie die Deutschen in den Kriegsjahren vor ihrem Volksempfänger, wenn sie den feindlichen Sender hörten.“ Andere Sätze wiederum klingen nach Maximen und Reflexionen, etwa dieser: „Gemessen am Tod verläuft jedes Leben ereignislos.“ Oder auch: „Sich wichtigtun ist unter den Menschen das meiste Tun.“

Auf der Suche nach Chiffren

Zuallermeist weitab vom üblichen Sprachgebrauch und etwaiger Sinnstiftung, deuten sich Partikel uralter Überlieferungen an, kommt somit auch etlicher Bildungsstoff zum Vorschein. Es werden dazu Spurenelemente der Hoch- und Weltliteratur, zumal der ambitioniertesten Lyrik aufgeboten. Zitat der Dichterin: „Wenn schon allein, dann unter Vorbildern begraben.“ Zur Linderung dringlich gebraucht werden Hieroglyphen, werden „Chiffren, die Asyl gewähren den vor Kommunikation geflohenen Worten.“ Dabei kommt es, gottlob sehr selten, auch zu verbalen Verstiegenheiten von solcher Art:

„Der eine heißt Nach-Dir, die andere heißt Vor-Mir. Aber Sie – Er? Da fehlt noch das rettende g, Sie-g-er! … Wer?“

Erlesen ist ansonsten nicht allein die Auswahl der Dichtungen, sondern der ganze sprachliche Duktus, der durchweg kühn und zuweilen tollkühn anmutet. Da wird ein Frauenschuh nicht einfach abgestreift, sondern von der Ferse geschelft. Da tauchen rare Worte auf wie „Proskynese“, „Kukulle“, „verschlaubt“ oder „Etmal der Liebe“, der vollzogene Geschlechtsakt wird umschrieben mit „zupaar gegangen“. Fremd steht uns das entgegen.

Sehnsucht nach Ausbleichen und Erlöschen

Überhaupt ist dies abermals eine schwierige, ja gewichtig lastende, doch durch alle Mühen hindurch ertragreiche Lektüre. Die Verlassene sammelt mit kunstvollen (nur gelegentlich vom Entgleisen bedrohten) Formulierungen Sprachmagie und möglichen Abwehrzauber um sich herum, der jedoch auf Dauer nichts gegen wachsenden Weltüberdruss vermag. Als einzig mögliche Existenzformen werden alsbald das Warten und das Suchen gedacht, nein: innig erlitten. Zusehends überwiegt die Sehnsucht nach Schwinden, Ausbleichen, Stillwerden, Erlöschen.

Vereinzelt weitet sich das individuelle Erleiden zum Befund über die jetzt angebrochene Endzeit:

„Da wir nun Nachzügler sind, Nachzügler des vom Menschen begriffenen Menschen, vielleicht auch der Sprache, der Liebe, der Arbeit, wie nur der Mensch sie verstand, bleibt von uns kaum mehr als das Bild, das die Geräte überliefern werden. Nirgends ein Gleichnis.“

Das Wort ist nur ein „lettrischer Krüppel“

Oftmals kommt das Ungenügen der Sprache zur – Sprache. Da das Gewebe der Worte zwischen den Liebenden einmal zerrissen ist, verliert alles Gerede seinen Sinn. Erklärtermaßen zwecklos auch das Streben nach „treffenden“ Ausdrücken, wo doch ein Anschein von Wahrheit allenfalls im Verschwommenen liege und jedes Wort ohnehin nur ein „lettrischer Krüppel“ sei.

Rundweg verworfen werden überdies großsprecherische, aufs Ganze gehende politisch-moralische Weltdeutungen, mitsamt Ansichten, Haltungen, Standpunkten, unnützer Klugheit oder auch „tieferen Einsichten“: „Klima, Chaos, Virus und Weltende … Das große Ganze verdirbt den Verstand.“

Was aber dann? Am Ende steht hier nicht nur die zwischendurch erhoffte Minderung und Eindämmung, sondern vollends die – verzweifelt gestammelte – Zurückweisung des Vorhandenen, ein Kehraus des Lebens. Letzter Absatz, wobei trotz allem die Nuancen zwischen „Nicht mehr“ und „Mehr nicht“ zu beachten sind:

„Nicht mehr! Mehr nicht! Sie tritt, nur um wegzusehen, vor die Tür. Nicht mehr davon! Und dann einfach: mehr nicht, nicht mehr, nichts mehr. Nicht!“

Ach, wenn es doch möglich wäre, dem ein überlebensgroßes JA! entgegenzusetzen…

Botho Strauß: „Nicht mehr. Mehr nicht
Chiffren für sie„. Hanser Verlag. 156 Seiten, 22 Euro.




Rekonstruktion einer Abtreibung von 1964 – „Das Ereignis“ von Annie Ernaux

Oktober 1963. Eine Studentin ist schwanger. Sie will das Kind nicht bekommen. Was daraus folgt, ist heute kaum noch vorstellbar. Auch deshalb hat es Annie Ernaux lange Zeit später aufgeschrieben. Die Erinnerung hat ihr über Jahrzehnte keine Ruhe gelassen. Ihr im Jahr 2000 erschienener, denkbar schmerzlicher Erlebens-Bericht „L’événement“ ist erst jetzt auf Deutsch erschienen und heißt „Das Ereignis“.

Mit Hilfe alter Kalender-Einträge und Tagebuch-Notizen hat Annie Ernaux versucht, nachträglich zur damaligen Wahrheit vorzudringen, Worte für das eigentlich unsagbare (nicht: unsägliche), jedenfalls ungeheure Geschehen zu finden, das hernach – im Laufe der späten 1960er und der 1970er Jahre – zur scheinbaren, vielfach achselzuckend hingenommenen „Normalität“ geronnen zu sein schien.

Im Bann des strikten Verbots

Anno 1963 war Abtreibung strikt verboten. Es war praktisch unmöglich, einfach so an eine entsprechende Adresse heranzukommen – erst recht für junge Frauen in erzkatholischen französischen Provinzstädten wie Rouen. Diese einschnürenden Umstände bleiben in jeder Zeile spürbar.

Ein möglicher Ratgeber, dem die Erzählende sich damals anvertraut, will erst einmal mit ihr schlafen. Als unverheiratete Schwangere gilt sie ihm „traditionsgemäß“ als Freiwild. Zwar gibt sie ihm nicht nach, doch nimmt sie sogar dieses Ansinnen pragmatisch hin. Ihr bleibt vielleicht nichts anderes übrig, will sie nicht riskieren, dass die Mitwelt von ihrer Notlage und der geplanten Straftat erfährt.

Es vergehen Wochen und Monate, ohne dass sich ein Ausweg ergibt. Bedrohlich verdichtet sich die angsterfüllte Zeit. Keine verlässlichen Informationen, nur Gerüchte und vage Hoffnungen. Von ihrem vorherigen Studentinnen-Alltag sieht sich Annie Ernaux derweil völlig entfremdet, wie abgestemmt. Sie fühlt sich nicht mehr als (aus einfachen Verhältnissen stammende) Intellektuelle, auch nicht mehr als junges Mädchen. Ein mehrfacher Identitätsverlust, der vorerst große Leerstellen hinterlässt.

Schonungslose Schilderungen

Streckenweise geht es in diesem Buch ausgesprochen drastisch zu, Dinge und Empfindungen werden schonungslos benannt. In ihrer Verzweiflung greift die junge Frau zur „Selbstbehandlung“ mit einer Stricknadel. Sie fragt sich, ob sie darüber schreiben dürfe und kommt zu dem Schluss: Aber ja! Alles andere würde die Wahrheit verschleiern. Zitat: „Etwas erlebt zu haben, egal, was es ist, verleiht einem das unveräußerliche Recht, darüber zu schreiben.“

Wenige Seiten später heißt es: „Denn etwas in der Vorstellung oder in der Erinnerung zu sehen, ist die Grundlage jedes Schreibens.“ Solches Schreiben wiederum ist spürbar durchdrungen von Notwendigkeit. Was das Innenleben anbelangt, bleiben die Schattierungen der Erinnerung in diesem Falle eher flüchtig. Das Konkrete, Körperliche und Materielle (Orte, Instrumente, medizinische und juristische Gegebenheiten) haben sich jedoch nachhaltig eingeprägt.

Im Januar 1964 führt der Weg dann doch zu einer „Engelmacherin“ in Paris. Die hochnervöse, zudem geldgierige Frau führt eine Sonde ein, mit der die Schwangere tagelang herumläuft – mit einem erbarmungswürdigen, trostlosen Verlassenheits-Gefühl. Es ist ein im betäubenden Gleichmaß fließendes Unglück. Wenn überhaupt, dann macht ein derartig lakonischer, illusionsloser und vollkommen ideologiefreier Text das körperliche und seelische Elend ansatzweise fassbar – gewiss nicht nur, aber wohl besonders für Frauen.

Antriebe und Grenzen des Schreibens

Die damaligen Zustände und Gefühle lassen sich nicht gänzlich rekonstruieren. Darum geht es auch nicht. Es geht darum, sich schreibend anzunähern, die Geschehnisse zwar womöglich anders, doch wahrhaftig zu schildern, so dass das Resultat den wirklichen Vorgängen entspricht. Angestrebt wird, einen Text „zur Welt zu bringen“, der seinerseits so viel Wahrheit wie möglich in die Welt bringt. Eine andere Art der Geburt. Überhaupt ist dies nicht nur ein Buch über Abtreibung, sondern auch eines über Antriebe, Möglichkeiten und Grenzen des Schreibens, das eben auch ein Hervorbringen ist.

Die ganze gewaltsame Wahrheit einer Abtreibung (zumal unter solchen Bedingungen) bricht schließlich buchstäblich hervor, als die willentlich eingeleitete Fehlgeburt sich im Beisein einer Freundin ereignet: „Wir sind in meinem Zimmer. Ich sitze mit dem Fötus zwischen den Beinen auf dem Bett. Wir wissen beide nicht, was wir tun sollen. Ich sage zu O., dass die Nabelschnur durchtrennt werden muss.“ So. Und dann noch schrecklicher. Es ist nichts, was sich leichthin abtun ließe.

Nicht nur lächerlich, sondern geradezu abgründig mutet eine Episode nach der eigentlichen Abtreibung an. Wegen Komplikationen ist eine Nachbehandlung dringend erforderlich. Ein Arzt bedauert seine Unfreundlichkeit vor dem Eingriff. Hätte er doch nur gewusst, so lässt er durchblicken, dass die Patientin gleichfalls eine Studierte ist, dass sie gleichsam in seine gehobene Kaste gehört, dann, ja dann hätte er sich anders verhalten…

Nach all dem und trotz all dem, so hält Annie Ernaux schließlich fest, habe sich bei ihr ein starker Kinderwunsch eingestellt. Tatsächlich hat sie 1964 (!) und 1968 zwei Kinder bekommen und großgezogen. Aber davon steht nichts mehr in diesem erschütternden Buch.

Annie Ernaux: „Das Ereignis“. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp Verlag (Bibliothek Suhrkamp), 104 Seiten, 18 Euro.

 

 




Starker Auftakt: Neues Frauenteam des BVB gewinnt im allerersten Punktspiel gleich 8:0

Olé, hier kommt der BVB, und zwar das Frauenteam (zum Schlussapplaus). (Foto: Bernd Berke)

Also, davon muss nun auch einmal berichtet werden: Der ruhmreiche BVB hat jetzt (endlich, endlich!) ein Fußball-Frauenteam, das heute gleich fulminant in den Punktspielbetrieb eingestiegen ist – mit einem 8:0-Heimsieg gegen den BV Brambauer.

So drückend überlegen waren die BVB-Damen, dass Brambauer nur ganz selten gerade mal über die Mittellinie kam und im gesamten Spiel keine einzige Torchance hatte.

Wir reden von der Kreisliga A, in der die brandneue BVB-Formation startet, um sich vielleicht und hoffentlich von Saison zu Saison hochzuarbeiten. Kreisliga? Nun ja. Immerhin 1625 Zuschauerinnen und Zuschauer waren ins altehrwürdige Stadion „Rote Erde“ gepilgert – mehr als zu jedem Frauen-Bundesligaspiel dieses Wochenendes. Okay, die Karten wurden zum Auftakt verschenkt. Doch es wären wohl nicht viel weniger Leute gekommen, wenn die Tickets beispielsweise 5 Euro gekostet hätten.

Der starken Leistung zollten auch die BVB-Bundesligaspieler Mats Hummels und Marcel Schmelzer ihren Respekt. Nach dem Schlussjubel stellten sie sich mit den Fußballfrauen zum Gruppenbild auf.

Hier die Namen der Torschützinnen: Zabell (2), Heim (2), Glänzer, Goosmann, Lau, Klemann. Sie und ihre Mitspielerinnen wird man sich – zumindest in und um Dortmund – merken müssen. Wenn ich aus der bemerkenswerten frauenschaftlichen Geschlossenheit eine Spielerin hervorheben sollte, so wäre es Kapitänin Lisa Klemann, die in jeder Szene ganz und gar auf Höhe des Geschehens war und zuweilen drei oder vier gegnerische Akteurinnen beschäftigte. Bravo!

P. S.: Was generell mal wieder auffiel beim Frauenfußball, lässt sich eher aus der Verneinung heraus beschreiben: keine allzu ruppigen Szenen, keine offenkundigen Machtkämpfe, kein albernes „Markieren“ von Fouls. Na, und so weiter.

Auch die Bundesliga-Spieler Mats Hummels (Mitte) und Marcel Schmelzer (links) gratulierten den BVB-Frauen. (Foto: Bernd Berke)




Der Stadtnomade als alternder Mann – Paul Nizons Journal „Der Nagel im Kopf“

Der Schweizer Schriftsteller Paul Nizon, seit vielen Jahren in Paris lebend, ist mittlerweile 91 Jahre alt. Es erscheint durchaus als altersgerecht, wenn er in seiner jüngsten Journal-Sammlung weit, weit zurückblickt. So erinnert er sich an Liebschaften, die etliche Jahrzehnte zurückliegen oder gar an die ersten weiblichen Lockrufe, die ihn zur Frühzeit ereilten, überhaupt an die Phasen der „Lebens-Anwärterschaft“, die hernach zum Antrieb seines Schreibens geworden sind.

Der vielfach – zumal in der schreibenden Zunft – verehrte Nizon (ein kostbares Hauptwerk: „Das Jahr der Liebe“ von 1981) ist nie ein Autor für die Menge gewesen, aber einer, der aus der neueren deutschsprachigen Literatur schwerlich wegzudenken ist; erst recht nicht aus französischer Perspektive besehen. Nach wie vor schreibt Nizon seine Bücher auf Deutsch. Wie er auch in seinem Band „Der Nagel im Kopf“ darlegt, betrachtet er sich selbst als einen Miturheber „autofiktionalen“ Schreibens und hält abermals fest, dass seine Literatur weit überwiegend aus Ablagerungen des Selbsterlebten bestehe – und nicht aus freischwebendem Fabulieren.

Unerfülltes Begehren in Rom

Als gar nicht so geheimes, weil wiederholt beschworenes Kraftzentrum auch dieses Buches erweist sich das italienische Erlebnis mit einer gewissen Maria, das den eingestandenermaßen „frauensüchtigen“ Mann seither verfolgt – obwohl oder gerade weil sie den Liebesakt damals nicht vollzogen haben. Die (Nicht)-Affäre und das unerfüllte Begehren sowie die Begleitumstände (seinerzeit lief ein bestürzender KZ-Film im römischen Kino) haben offenbar innig mit seiner kompromisslos anspruchsvollen Künstlerwerdung zu tun. In diesem Zusammenhang steht ein nie ausgeführtes Romanprojekt mit dem Arbeitstitel „Der Nagel im Kopf“ seit Dezennien im Raum. Nun heißen die von 2011 bis 2020 (Corona taucht nur knapp auf) entstandenen Aufzeichnungen so. Zitat: „… das Entsetzen hat sich mir eingebrannt. Es ist in mir steckengeblieben wie ein Nagel im Kopf.“

„So viel Tod“

Durch das Journal ziehen sich Stimmungsschwankungen zwischen Selbstmitleid und Selbstüberhöhung. Die allmähliche Alters-Verdunkelung mit ihren Schwächungen und Gebrechlichkeiten ist ein fortlaufendes Thema, daraus resultierend auch Einsamkeits-Gefühle, denn nach und nach sterben viele seiner Zeitgenossen und Weggefährten, seine Alters-Kohorte „dünnt aus“: „So viel Tod. Und in den Zeitungsmeldungen räumt der Tod die paar Überlebenden meiner Generation weg.“

Manche Passagen mögen dünkelhaft oder hochmütig wirken, andere wiederum ausgesprochen verzagt und entkräftet. Paul Nizon kreist nun einmal sehr um sich selbst. Andernfalls gäbe es sein Oeuvre nicht, jedenfalls nicht das vorhandene. Er sorgt sich um seinen Nachruhm und fragt sich immer wieder, was wohl von seinem Lebenswerk bleiben werde. Hin und wieder vergleicht er sich mit weltweit populären Erfolgsautoren wie etwa John Irving. Doch die eigentlichen Bezugsgrößen sind Schriftsteller wie Robert Walser, Elias Canetti oder – auf andere Art – der gleichfalls in Paris lebende Peter Handke.

Wo der Weltgeist waltet

Apropos Paris: In dieser Metropole waltet für Nizon sozusagen der vitale, stets sich erneuernde Weltgeist in allen Schattierungen. Nizon denkt an sein ruheloses  „Stadtnomadentum“ mit vielfach wechselnden Ateliers („Schreibbuden“) in allen möglichen Arrondissements zurück. Wie anders als die enge, ängstliche Schweiz erscheint ihm diese leuchtende Weltstadt mit ihrer ganz anderen Lebensart! Doch an einem Demo-Tag, an dem das halbe Pariser Zentrum verstopft ist, ergreift ihn eine Panik der Ausweglosigkeit. Überhaupt sieht er Frankreich in den Zeiten der Gelbwesten-Proteste kurz vor einem Bürgerkrieg. Den Präsidenten Macron hält er übrigens für schrecklich profan – im Gegensatz zu Politikern vom Format eines Mitterrand. Zwischendurch beschreibt Nizon seine Haltung zu Ereignissen wie dem Tod des Popstars Johnny Halliday und dem verheerenden Brand der Kathedrale Notre-Dame, die je auf ihre Weise die französische Nation bewegt haben.

Den anfangs stets unsicheren Einkünften zum Trotz, bereut Nizon keinesfalls seine frühzeitige Entscheidung gegen ein Angestellten-Dasein und für seine künstlerische Existenz par excellence. Nicht nur in Paris und Rom hat er gelebt, sondern zeitweise auch in Barcelona und London. Einen Flaneur und fiebrigen Frauensucher wie ihn kann man sich eigentlich nur in solchen Städten vorstellen, nie und nimmer auf dem Lande oder an wenig bedeutsamen Orten. Auch Zürich und Bern waren ihm nicht genug.

Paul Nizon: „Der Nagel im Kopf“. Journal 2011-2020. Suhrkamp Verlag, 263 Seiten, 26 Euro.

 




Nach Aufregung um #MeToo-Vorwürfe: Weibliche Doppelspitze soll die Berliner Volksbühne in ruhiges Fahrwasser bringen

Unter neuer Interims-Leitung für eine schwierige Übergangszeit: die Berliner Volksbühne. (Foto: Stefan Müller / Volksbühne)

Das ging jetzt aber sehr schnell. Kaum hatte sich Volksbühnen-Intendant Klaus Dörr im Dickicht der #MeeToo-Debatte verlaufen und war aufgrund schwerer Vorwürfe, seine Amtsführung sei von sexueller Belästigung und verbalen Entgleisungen geprägt, holterdiepolter zurückgetreten, da kann Kultursenator Klaus Lederer bereits eine plausible Lösung präsentieren: Eine weibliche Doppelspitze übernimmt vorübergehend die Leitung des leckgeschlagenen Theatertankers, das seit dem Abgang von Frank Castorf einfach nicht in ruhiges Fahrwasser kommen will.

Sabine Zielke, langjährige Dramaturgin am Hause, und Gabriele Gornowicz, Geschäftsführerin bis 2014, bilden das Frauen-Duo, das die lähmende Zeit überbrücken und die Volksbühne aus den Schlagzeilen bringen soll, bis der designierte Intendant René Pollesch im Sommer dorthin zurückkehrt, wo er seine Karriere einst begann, um die legendäre Bühne am Rosa-Luxemburg-Platz wieder mit neuem, möglichst provokantem und inspirierendem Theaterleben zu erquicken.

Weil zwei Frauen an der Front vielleicht nicht ausreichen, um den aufgestauten Ärger zu kanalisieren, die erzürnten Mitarbeiter zu beruhigen und – falls mal wieder in Zeiten der Pandemie gespielt werden sollte – die Zuschauer und die Kritiker zu besänftigen, ist auch gleich noch ein Interims-Direktorium installiert worden: Dazu gehören Thomas Walter (Geschäftsführer von 2014-2018), Klaus Michael Aust (Chefdisponent), Stefan Pelz (Technischer Direktor), Schauspieldirektor Thorleifur Örn Arnarsson sowie je ein Mitglied des Ensembles und des Personalrats. Hoffentlich geht das gut und der vielstimmige Leitungs-Chor kann sich gegen Kakophonie und Intrigen rechtzeitig wappnen.

Probleme begannen mit Castorfs Abschied

Was war geschehen? Nachdem Patriarch Frank Castorf gegen seinen Willen die Volksbühne (nach über 25 Jahren!) aufgeben musste, sollte der filigrane Chris Dercon dem Haus ein neues Image verleihen: jünger und performativer, interdisziplinärer und interaktiver sollte alles werden. Doch es wurde ein Reinfall. Zwischenzeitlich war das Theater sogar von rebellierenden Kunst-Aktivisten besetzt.

Dann sollte Klaus Dörr, der schon Regisseur und Intendant Armin Petras am Berliner Maxim-Gorki-Theater und am Schauspiel Stuttgart als Manager den Rücken frei gehalten hatte, den Riesentanker retten, einen Spielplan entwickeln. Plötzlich aber titelte die „taz“: „#MeToo an der Volksbühne“ und schrieb: „Mehrere Mitarbeiterinnen der Berliner Volksbühne erheben schwere Vorwürfe gegen Intendant Klaus Dörr.“

Warten auf René Pollesch

Zehn Frauen legten bei der Beschwerdestelle gegen sexuelle Belästigung und Gewalt Beschwerde ein. Dörr, so heißt es, habe Mitarbeiterinnen unangemessene SMS geschickt, sexistische Bemerkung gemacht, Frauen im Gespräch erniedrigt und beleidigt, anzüglich angestarrt und körperlich berührt. Kaum hatte Dörr das als „halt- und substanzlose Anschuldigungen“ abgetan und rechtliche Schritte angekündigt, ging er von Bord. Hinter den Vorwürfen, heißt es, stünden keine strafrechtlich relevanten Vergehen.

Was man einem bekennenden Macho wie Frank Castorf noch hat durchgehen lassen (denn er zahlte mit Aufsehen erregenden Inszenierungen zurück), wurde nun einem alerten Kunst-Manager (der sich vor allem mit Zahlen und Geld auskennt) zum Opfer.

Das neue Frauen-Duo muss jetzt die Scherben wegräumen, Ruhe bewahren, leise treten. Ein eigenes Programm und Profil sollen und wollen sie nicht entwickeln. Bald schon kommt ja Pollesch. Alle warten auf ihn, als wäre er der Heiland. Wenn sich da mal niemand täuscht.

 

 

 




Über alle Regeln hinweg: Als die Tänzerin Lola Montez Bayernkönig Ludwig I. den Thron kostete

Lohnt es sich wirklich, sich mit dieser Frau zu beschäftigen, und das noch 200 Jahre nach ihrer Geburt? Braucht eine Hochstaplerin, eine offenbar nur mittelmäßige Tänzerin, eine unschwer als narzisstisch erkennbare Persönlichkeit noch 2020 eine nagelneue, kritische Biografie?

Marita Krauss‘ Biographie über Lola Montez, im Dezember 2020 erschienen bei C. H. Beck. (343 Seiten, 24 €).

Muss jemand wie jene Lola Montez in Filmen, Dramen und sogar einer – 1937 in Dortmund uraufgeführten, heute vergessenen – Operette von Eduard Künneke („Zauberin Lola“) verewigt werden, nur weil sie sechzehn Monate lang die Geliebte eines Königs war, den sie schließlich sogar die Krone gekostet hat?

Es lohnt sich, weil die kaum 40 Jahre der Lebensspanne dieser Frau bunt, anrüchig und dramatisch waren, wie sie im Roman nicht besser hätten erfunden werden können. Und weil sie zu einer Art Urtyp der „femme fatale“ wurde, die Ende des 19. Jahrhunderts das Frauenbild und die Kultur des Fin de siècle prägte.

Heute vor 200 Jahren geboren

Die Geschichte der Lola Montez beginnt am 17. Februar 1821 – heute vor 200 Jahren – in einem Nest namens Grange im irischen Nordwesten, führt über Indien und Schottland in ein englisches Internat für höhere Töchter, von dort über Spanien und London ins thüringische Reuß-Ebersdorf zur ersten Affäre mit einem regierenden Fürsten. Als ihr im Oktober 1846 an der Münchner Hofbühne die Erlaubnis zu einem Tanzauftritt verweigert wurde, hatte sie bereits ihren ersten Mann verlassen. Sie war aus London geflohen, weil sie sich als spanische Tänzerin „Maria de los Dolores Porrys y Montez“ ausgegeben hatte und als Hochstaplerin aufgeflogen war. Und sie zählte als Halbweltdame in Paris die beiden Schriftsteller Alexandre Dumas den Älteren und den Jüngeren sowie Franz Liszt unter ihre Verehrer, bevor einer ihrer weiteren Liebhaber bei einem – wegen ihr ausgefochtenen – Duell erschossen wurde.

König Ludwig I. von Bayern weiß davon nichts, als ihm in seiner unermüdlichen Kleinarbeit für sein Land auch der Bescheid der Intendanz unter die Augen kommt. Eine spanische Tänzerin mit hochtönend klingendem Namen! Der König, für seinen bisweilen hartnäckigen Eigensinn berüchtigt, wird aufmerksam. Er liebt den Zauber der spanischen Sprache. Der Sechzigjährige, im Grunde einsame Mann ist zudem empfänglich für weibliche Schönheit. Lola Montez versucht, zum König vorzudringen, um doch noch zu ihrem Tanzspiel zu kommen. Sie weiß um die Wirkung ihrer Reize und ist entschlossen, sie einzusetzen.

Nach drei Versuchen erhält sie Audienz. Der König spricht mit ihr lange über Kunst und Literatur – auf Spanisch. Wenig später liegt die Genehmigung vor: Die „Spanierin“ darf tanzen! München ist neugierig, das Theater voll. Stürmischer Beifall für die geheimnisvolle Fremde. Die Kenner stellen fest, dass sie von Fandango und Bolero nichts verstehe. Aber das innere Feuer wirkt. Ludwig ist begeistert, beschließt: Hofmaler Joseph Karl Stieler muss dieses herrliche Wesen für die Galerie der Schönheiten malen. Und Lola Montez nutzt die Zeit der Sitzungen, das „liebeleere“ Herz des Königs für sich zu entflammen.

Feuchter Schimmer wilder Leidenschaft

Das leicht idealisierte Porträt hängt heute noch in der „Schönheitengalerie“ im Münchner Schloss Nymphenburg und entfacht eine ganz eigene Faszination. In seiner Ludwig-Biografie beschreibt Egon Cäsar Conte Corti die gebürtige Irin als „Kunstwerk der Natur“: „Tiefblaue, feurige, glänzende Augen, die zuweilen eine feuchten Schimmer wie von wilder Leidenschaft zeigen, erhellen ein formvollendetes Antlitz, das bei nicht allzu hoher Stirn von seidenweichen, ebenholzschwarzen Haaren überschattet ist… Man sieht ihr an den Augen ab, dass sie nicht unklug ist, aber ihr Herz ist ebenso kühn wie leidenschaftlich, ebenso mutig wie unbändig und setzt sich über alle Regeln hinweg, die ihre Mitwelt in Bann halten.“

Über alle Regeln hinweg: Sehr schnell werden sich die maßgeblichen politischen Kreise bewusst, welche Gefahr ihnen in der ehrgeizigen Frau droht: Elizabeth Rosanna James, geborene Gilbert, beherrscht den König komplett. Minister, Behörden, Polizei, kirchliche Kreise, Adel sind alarmiert. Ihre Versuche, den bezauberten Mann zur Vernunft zu bringen, scheitern. Ludwig empfindet sie „als Angriff auf sein Glück“ und als „Einmengen in sein privates Leben“. Sein Starrsinn ist geweckt: Gelten in Bayern die königlichen Weisungen nicht mehr? Im November 1846 ändert Ludwig sein Testament, vermacht ihr 100.000 Gulden und setzt eine jährliche Rente von 2.400 Gulden aus.

Lola nutzt die Gunst der Stunde. Sie provoziert nicht nur die Politiker, sorgt für den Fall von zwei Regierungskabinetten und für königliche Ungnade gegen ganze Reihe von Beamten. In der Öffentlichkeit provoziert sie einen Skandal nach dem anderen. Dass die Beziehung zu Ludwig wohl so gut wie keusch bleibt, ist erst eine Erkenntnis aus jüngeren Recherchen. Dafür umgibt sie sich mit jungen Liebhabern und einem Kreis von Studenten des Corps Alemannia, die bei den Münchnern verächtlich „Lolamannen“ genannt werden. Ein gewalttätiger Zusammenstoß von Studenten lässt den entrüsteten Ludwig die Universität schließen. Jetzt ist das Maß in der Münchner Gesellschaft voll: Ein Aufstand droht. Der Monarch willigt schließlich ein: Die erst vor wenigen Monaten erhobene „Gräfin von Landsfeld“ muss Bayern verlassen.

Bigamie und Shows in Goldgräber-Städten

Erst allmählich und nach seiner erzwungen Abdankung 1848 wird dem König klar, wie sehr er hintergangen und ausgenutzt wurde. Lola Montez lebt zunächst mit dem Geld Ludwigs luxuriös in der Schweiz, geht dann nach London, wo sie einen jungen Offizier heiratet und wegen Bigamie angeklagt wird, weil ihr früherer Ehemann noch lebt.

1852 spielt sie sich selbst am Broadway in der Revue „Lola Montez in Bavaria“ und kommt mit einer Tournee sogar bis in Goldgräber-Städte Australiens. Bevor sie am 17. Januar 1861 in New York an einer Lungenentzündung stirbt und in Brooklyn begraben wird, sichert sie ihren Lebensunterhalt durch Lesungen und wandelt sich zur bekennenden Christin.

Die Historikerin Marita Krauss gibt ihrer neuen Biografie als Titel ein Zitat von Lola Montez: „Ich habe dem starken Geschlecht überall den Fehdehandschuh hingeworfen.“ Ein „herzloses dämonisches Wesen“, wie Richard Wagner urteilte? Eine machtgierige, berechnende Narzisstin? Oder eine Frau, die mit ihrem Willen zur Selbständigkeit und ihrem ungestümen Temperament an einer Gesellschaft zerbrach, die den Frauen genau das nicht zubilligen wollte?




Ros*in*enmontagsgruß – Gendern will gelernt sein

Gerd*a Frauholz
(Foto: Gerd Herholz)

Liebe Frau*innen und Männer*innen, liebe Männ*innen und Frauende, liebe Närrinnen und Narrhalesen,

heute am Rosenmontag möchte ich mich vordergründig zwar vor allem an die Männ*innen unter Ihnen wenden, aber selbstverständlich sind Frauende und Kind*innen immer mitgemeint.
Unumstritten, es ist höchste Zeit, dass Frauenzimmer, ja eigentlich alle weiblichen Räume und Welten sprachlich deutlich sichtbar werden! Ihnen, den Frauen, soll und muss von nun an die Hälfte des Himmels gehören – und die Hälfte der Erde und Hölle sowieso.

Als beherzte/r Fürsprecher*in des globalen Feminats („Ihr Wunsch wird mir zum Befehl!“) möchte ich dennoch darauf hinweisen, dass bei der gendergerechten Betonung des Weiblichen in der deutschen Sprache das Männliche schon aus folkloristischen Gründen nicht ganz verloren gehen sollte – obwohl es dafür sicher gute Gründe gäbe.

Nehmen wir zum Beispiel nur eine Formulierung wie „den Anstifter*innen und Täter*innen dieses Verbrechens muss der Prozess gemacht werden“. Gelesen wie gewünscht durchaus eindeutig zweideutig; rein akustisch allerdings hören wir da allein noch die weiblichen Formen der Vokabeln „Anstifter“ und „Täter“ heraus, wir hören also nur „Anstifterinnen und Täterinnen dieses Verbrechens muss …“. Da hilft auch eine kleine Stolperpause vor den „innen“ wenig. Und die männlichen Formen der Dativ-Deklination, also „Anstiftern“ und „Tätern“ gehen klanglich gänzlich verloren, so als ob den „AnstifterN und TäterN dieses Verbrechens“ nicht auch der Prozess gemacht werden müsste.

Halten wir fest: Schreiben und Hören desselben Satzfragments führen zu völlig unterschiedlichen Verstehenshorizonten: Mal gehen die Männer halb unter, mal ganz.

Zu Unrecht versenkt werden männliche „Anstifter“ und „Täter“ auch im Plural. Durch den weiblichen bestimmten Artikel „die“ werden sie zu „die Anstifter“ und „die Täter“. Diese ungerechte Verweiblichung der männlichen Mehrzahl sollten sich Frauende schlicht verbitten. Es wäre also höchste Zeit, auch im Plural männlichen Gruppen den bestimmten Artikel „der“ zuzuordnen: „Der Anstifter und der Täter vieler Verbrechen können ihrer Verantwortung nicht entkommen.“ Nun weiß auch der/die/das Letzte, wer gemeint ist. Und bitte kommen Sie mir jetzt nicht mit Haarspaltereien zu biologischem und grammatischem Geschlecht, zum komplexen Verhältnis von Sexus und Genus (nicht zu verwechseln mit „Genuss“). Wollte man und frau da alles berücksichtigen, kämen die wohl in Teufel*innens Küche.

Dennoch, eine Person, die einmal gelernt hat, Sexismus in der Sprache zu sehen, kann nicht der-/die-/dasselbe bleiben, das ist klar. Zunehmend irritieren mich aber auch andere diskriminierende Etikettierungen, etwa von Tier*innen oder Kind*innen. Immerhin, es gibt im Singular z. B. die Formen „der Hund“ / „die Hündin“, aber wieso die ganze Art dann wieder als (d-e-r) Hundeartige oder d-i-e Hundeartigen bezeichnet wird, ist nicht nachvollziehbar. Ich schlage deshalb eine gendergerechte Differenzierung aller Wörter im Singular / Plural vor: „der Hund / der Hunde“ sowie „die Hündin / die Hündinnen“. Die ganze Art könnte man vielleicht als „Hund*innen“ bezeichnen?

Über die weitere Deklination vieler Begriffe muss von linguistischer Seite gründlich nachgedacht werden. Wo der Mann im Plural sich dem weiblichen Artikel nicht weiter unterordnen will, darf zum Beispiel auch alles Weibliche im Genitiv nicht länger von einem „der“ regiert, ja unterjocht werden. Nieder mit einer Formulierung wie „die Schönheit der Frau“. Es muss natürlich heißen: „die Schönheit die Frau“ oder wie mittlerweile immer öfter als Graswurzelgendern im Rahmen lebendiger Sprachgestaltung zu hören ist: „die Schönheit von die Frau“.

Ein letzte Anmerkung, ja fast ein Seitenhieb noch wider das Sächliche. Es ist nicht einzusehen, dass wir weiterhin etwa „das Kind“ sagen. Hier wird durch den sächlichen Artikel das Kind versachlicht, es wird zur Sache. Die Folgen solcher Depersonalisierung sind heute überall zu sehen, etwa in der katholischen Kirche. Also bitte in Zukunft explizit nur noch geschlechterdifferenzierende Singular- / Plural-Formen verwenden: „der Kind / der Kinder“ und „die Kind / die Kinder“.

Ich hoffe, ich habe ein wenig zur aktuellen Debatte beitragen können.
Wenn Sie tiefer in die Materie einsteigen wollen, empfehle ich aus der 3sat-Mediathek die Kulturzeit-Extra-Sendung „Streit ums Gendern“. Mir war danach ein wenig schwindlig, aber Sie sind ja jetzt durch diesen Beitrag besser vorbereitet.

Für heute mit freundlichen Grüßen
Ihre
Gerd*a Frauholz




Wuchtiges Werk auf schmalem Grat: Max Beckmann in der Hamburger Kunsthalle

Max Beckmann: „Messingstadt“ (1944), Öl auf Leinwand, 115 x 150 cm. (© Saarlandmuseum – Moderne Galerie, Saarbrücken, Stiftung Saarländischer Kulturbesitz / © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 – Foto: Tom Gundelwein)

Versteckt hinter einem Vorhang lauert der Künstler und greift mit riesigen Händen nach seinem nackten Modell, das sich wollüstig ergibt und den erotischen „Traum des Bildhauers“ befriedigt.

Nachts stürzt er sich, verkleidet als dunkler „Vampir“, auf eine schlafende Schöne und saugt, während er sie vergewaltigt, das Blut der wehrlosen Frau aus. In der Hülle des mythologischen Stiers wird er zum Tier, erinnert sich an den „Raub der Europa“ und wirft sich das bewusstlose Objekt seiner Begierde über die Schulter: Der Mann als enthemmtes Wesen. Die Frau als wehrloses Opfer. Der Künstler als lüstern lechzender Voyeur und sexueller Triebtäter.

Wenn man nur diese drei mit farblichem Furor und wilder Gebärde auf die Leinwand geworfenen Werke von Max Beckmann betrachtet, kann einem ganz schummrig werden. Niemals käme man auf die Idee, dass sich die 140 Werke umfassende Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle eigentlich um das genaue Gegenteil drehen soll.

Max Beckmann: „Bildnis Käthe von Porada“, 1924, Öl auf Leinwand, 120 x 43 cm, Leihgabe der SEB Bank, Standort: Städel Museum, Frankfurt am Main (© VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / © Städel Museum – Artothek – Foto: U. Edelmann)

Konzept mit Kultur-Quark

Kurioserweise behauptet Kuratorin Karin Schick unter dem Titel „weiblich – männlich“, dass Beckmann nicht nur Geschlechterrollen festschrieb, sondern sie zugleich öffnete: „Er fand Zartheit in Frauen- und in Männerfiguren, Schlagkraft in der Heldin wie im Helden. Fasziniert von den Mythen verschiedener Kulturen, kannte er die uralte Vorstellung, dass Frau und Mann aus einem einzigen, androgynen Geschlecht hervorgingen, nach dessen Einheit man sich auf ewig zurückseht.“ Abgesehen davon, dass das ziemlicher Kultur-Quark ist, sieht man davon in der Ausstellung so gut wie nichts.

Max Beckmann: „Odysseus und Kalypso“, 1943, Öl auf Leinwand, 150 x 115,5 cm (© Hamburger Kunsthalle / bpk / © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / Foto: Elke Walford)

„Kriechende Frau“

Ja, es gibt ein paar zart besaitete Frauen-Porträts, kunstfertige Auftragsarbeiten für den Salon der „Käthe von Porada“, „Frau Dr. Heidel“ wird zur zeitlosen Schönheit, seine hoch verehrte Schwiegermutter „Frau Tube“ ins rechte Bild rückt. Aber überwiegend inszeniert sich Beckmann auf unzähligen Bildern und Zeichnungen als selbstverliebter Gockel, geheimnisvoll lächelnd, eine Zigarette in den feingliedrigen Fingern. Die Frauen schmachten ihn an, halten sich fest an ihm, senken brav den Blick, bezirzen ihn mit Laszivität, spielen „Die Erschrockene“, werfen sich ihm als „Kriechende Frau“ vor die Füße. Um zu zeigen, dass Männer auch sensibel sein können, legt Beckmann ihnen manchmal ein Buch in die klobigen Hände oder malt ein paar weiße Blumen an die Wand.

Gewaltbereite Männlichkeit

Die Werke, meint die Kuratorin, „zeigen Selbstbewusstsein, Hingabe und Widerstreit, Macht und Ohnmacht, Freiheitsdrang und Verschmelzung“. Mag sein, vor allem aber zeigen sie den Mann als gewaltbereiten Täter, der hinauszieht in die feindliche Welt und sich nach gewonnener Schlacht gern von einer willigen Schönheit besänftigen lässt. Das schmälert nicht das wuchtige und wirkungsmächtige Werk Beckmanns, das hier in einer großen Fülle zu besichtigen ist. Aber es zeigt doch auch, auf welchem schmalen Grat eine Ausstellung wandelt, die sich ein Thema herbeifantasiert und es dann nicht einlöst.

„Max Beckmann: weiblich – männlich.“ Hamburger Kunsthalle. Bis 24. Januar 2021. Di, Mi, So: 10-18 Uhr, Do 10-21 Uhr, Fr, Sa: 10-20 Uhr. Katalog: Prestel Verlag, in der Ausstellung: 29 Euro, im Handel 45 Euro. www.hamburger-kunsthalle.de

 




„Ein Paar aus vier Menschenhälften“: Frank Schablewski beginnt sein groß angelegtes Romanprojekt „Schwarmbeben“

Ein Mann tötet die Frau, mit der er ein Jahr verheiratet ist. Von Beruf Fleischer, kennt er sich mit dem Handwerk des Ausweidens gut aus.

Fachgerecht zerlegt er den ausgebluteten Körper in vierzehn Stücke, die er, verpackt in fünf Plastiksäcken und mit Steinen beschwert, im Bosporus versenkt.

Erzählt wird uns dieser brutale Mord nicht als Istanbul-Krimi. Kein mit Faszination an der Gewalt geschriebener Thriller ist Ein Paar aus vier Menschenhälften, eher ein Requiem oder eine Elegie in Prosa, an bestimmte Musikformen erinnernd, die immer wieder neu ansetzen und mit unpathetischem Engagement das ähnlich bereits Erfahrene variieren; ein „Mosaik des Todes“.

Eine kunstvoll erweiterte Zeitungsmeldung

„Jemand Fremdes“ liest am Tisch einer Kaffeerösterei in einer stillen Seitengasse im Galata-Viertel (Beyoğlu) die informationsarme Nachricht in der Zeitung. „Der Artikel hielt sich nicht damit auf, die ganze Geschichte zu erzählen. Das Ereignis selbst verbrauchte eine Vorgabe an Zeichen.“ Wer würde je auf die Ermordete einen Nachruf schreiben, wer, wenn nicht der Autor mit dem vorliegenden Buch, das eine auf 160 Seiten kunstvoll erweiterte Zeitungsmeldung übertrifft? Zugleich schreibt er damit einen ausführlichen Grabsteintext auf viele namenlose Frauen, die durch ihre Ehemänner sterben mussten und müssen. Auf die Gewalt der Tat antwortet die Sprachgewalt des Dichters.

So ungeheuerlich ist der Vorgang des Abschlachtens, dass er sich vielleicht nur aus der Sicht der Toten darstellen lässt. Für sie werden die Dinge transparent, ähnlich wie in Vladimir Nabokovs spätem Roman Durchsichtige Dinge (Transparent Things, 1972) – der Blick aus einer jenseitigen Welt auf die unsere, in der das Leben ohne die Tote weitergeht.

Blick aus einer jenseitigen Welt

Aus ihrem nassen Grab blickt die Frau in den Gerichtssaal, in dem der Mordfall verhandelt wird. Sie hört den Richter ihren Mörder von jeder Schuld freisprechen und ihr selbst, dem Opfer, die Verantwortung für ihren Tod zuschreiben. „Für den Richter war es der geborene Mord.“ Sie habe im Grunde alles erlebt, was eine Frau erleben kann, Geburt, Elternhaus, Hochzeit, Ehe, die ein Jahr dauerte, bis der Mann nichts anderes mehr mit ihr anzufangen wusste, als sie zu töten. Für sie wäre „das Leben keine Lösung“ gewesen, hört sie den Richter sagen. Ob aber für den Mann das Weiterleben eine Lösung sein kann, fragt niemand.

Wortreich nutzt der Richter den Fall, um seine Weltanschauung zu unterbreiten, doch in seiner Rede tun sich nur neue Abgründe auf. Er gibt vor, sich „in heroischer Weise der Gerechtigkeit hinzugeben“, und zwar „nicht in der Sprache des Volkes“. Mann, Frau, Richter – diese drei Funktionen bilden die Triade des Tragischen; weitere Personen wie die Familie der Frau oder ihre Anwälte werden nur am Rande erwähnt. Ohnehin hatte die Frau nur Brüder.

Autor Frank Schablewski (© Rimbaud Verlag)

Ewiges Gesetz?

Im Bereich meines gesetzlichen Throns werden die ersten in unserer Sprache geschriebenen Urteile für immer gelten“, sagt der Richter. Und diese gehen stets zu Lasten der Frau. Er ist „der letzte Richter überhaupt“. Der Richter beansprucht für sich ein überzeitliches, ein ewiges, Gesetz. Aber mag es auch der gängigen Praxis entsprechen, ist dieses Gesetz ein bloß behauptetes; „es war das völlige Innehalten des Rechts.

Detailreich beschriebener Meeresgrund

Auf eine andere Art überzeitlich präsent ist die Ermordete, da für sie die Zeit keine Rolle mehr spielt. „Das Wasser spiegelte das Gesetz“, heißt es im Text. Als nähme uns der Autor mit zu einer Erkundungsfahrt in einem Glasbodenboot, sehen wir jeden Gegenstand, jeden Meeresbewohner, jeden Abfall auch, der den Bewohnern der Stadt unter der sich spiegelnden Oberfläche in der Düsternis der Tiefe verborgen bleibt. Die Tote aber, in fünf zerfetzten Plastiktüten verpackt, fühlt die Algen, die Einsiedlerkrebse, Schnecken und Fische, die sich ihrer Körperteile bemächtigen. In der Meerenge des Bosporus, zwischen den Kontinenten, liegt das nun nicht länger Zusammenhaltende. Am Ende ist wohl alles gesagt, was sich über das Meer und seinen Grund in allen seinen Bedeutungen sagen lässt.

Männerrituale

Weit weniger gründlich wird im Gerichtssaal das Verbrechen untersucht. Vielmehr bestätigen sich die anwesenden Männer gegenseitig in der Richtigkeit des Geschehenen, „Ein Kopf bejahte den anderen“, analog zu den Ritualen, die sich als Tanz von Männern in einem Park abspielen. „Jeder stellte sein Leben mit Gebärden dar, einem ganz eigenen Mienenspiel, in der kurzen Zeit einer Handbewegung. Jeder kreiste um sich selbst.“

Aber noch ein anderes Ritual spielt im Buch eine Rolle – das in Initiationsriten weltweit beobachtete Thema von Zerstückelung und Wiedergeburt, ethnologisch als Übergangsritus bezeichnet. Einen der Ur-Mythen für dieses Muster bildet der zerstückelte Osiris, der von seiner Schwester-Gemahlin Isis neu zusammengesetzt wird. Von einer mythischen Wiederherstellung, Erneuerung, Gesundung des Körpers spricht auch der Richter in Ein Paar aus vier Menschenhälften, versucht, das brutale Verbrechen dadurch zu beschönigen.

Riten des Übergangs

Seismographisch lässt sich bereits an frühen Textstellen das Erdbeben vorhersehen, das am Ende Meer und Erde vermischt. Ein Hain mit Apfelbäumen rutscht als erstes in den Bosporus. Doch bei aller Kunstfertigkeit der Sprache und in der Komposition ist die Lektüre allein schon wegen des todernsten Themas keine leichte Kost – kann es und darf es nicht sein.

Frank Schablewski ist bisher vor allem als Lyriker, Essayist und Autor kürzerer Prosa in Erscheinung getreten. Mit einem Stipendium der Kunststiftung NRW lebte er 2016 mehrere Monate in einer Künstlerresidenz in Istanbul. Bereits zuvor wurden mehrere seiner Gedichte ins Türkische übertragen und der Autor wurde wiederholt zu Poesiefestivals in die Türkei eingeladen. In Deutschland erscheint sein literarisches Werk vorrangig im Rimbaud Verlag in Aachen. Ein Paar aus vier Menschenhälften ist der erste von vier Teilen seines Romans Schwarmbeben. Wir dürfen auf die weiteren drei Teile von Frank Schablewskis groß angelegtem Werk gespannt sein.

Frank Schablewski: „Ein Paar aus vier Menschenhälften“. Rimbaud Verlag, Aachen; 164 S., fadengeh. mit Klappen. ISBN 978-3-89086-224-8, € 25 ,-




Bye-bye, Sabine – ein Nachruf auf die Dortmunder Krimiautorin Sabine Deitmer

Die Krimiautorin Sabine Deitmer, die jetzt mit 72 Jahren gestorben ist. (Foto: Klauspeter Sachau / Literaturhaus Dortmund)

Die Dortmunder Krimiautorin Sabine Deitmer, die jetzt mit 72 Jahren gestorben ist. (Foto: Klauspeter Sachau / Literaturhaus Dortmund)

Die eloquente, couragierte und warmherzige Schriftstellerin Sabine Deitmer gab der deutschsprachigen Kriminalliteratur wichtige Impulse. Nicht nur, weil sie den Spielraum des Komischen in diesem Genre erweiterte, sondern auch, weil sie das Verhältnis zwischen Opfern und Tätern neu auslotete, ebenso wie die Diskrepanz zwischen männlichem Blick und weiblicher Sicht auf kriminelle patriarchalische Strukturen.

Sabine Deitmer, die am 11. Januar mit 72 Jahren gestorben ist, lud ich das erste Mal Ende der 80er-Jahre ins soziokulturelle Zentrum Ruhrwerkstatt nach Oberhausen ein. Damals war sie mit ihren überaus erfolgreichen Kurzgeschichten auf Lesereise. „Bye-bye, Bruno – Wie Frauen morden“, Stories, in denen angesichts körperlicher wie struktureller Gewalt jeweils ein männliches Auslaufmodell von aufbegehrenden Frauen einfallsreich und quasi in Notwehr entsorgt wurde.

Problembären wie Bruno

In einem Interview kommentierte Deitmer ihre damalige Schreibe so – und das mag nach Zeitgeist klingen, reicht aber leider bis zur aktuellen „#Me Too“-Bewegung: „Männer vom Typ Bruno, die normalerweise von ihren Frauen viel Wertschätzung kriegen und gehätschelt werden, solche Männer zu karikieren und in ihrer Begrenztheit zu beschreiben, bereitet mir Vergnügen. Und gleichzeitig diese normalen Frauen, die doch so oft unterschätzt werden, etwas liebenswert aufzubauen, unter dem Motto: Die Frauen sind nicht so blöd, wie die Männer häufig meinen.“

Als ich 1996 Sabine Deitmer dann zu einer Lesung des Literaturbüros Ruhr einlud, hatte ich zuvor knapp sechzig Krimi-Autorinnen und -Autoren in NRW recherchiert, die mit ernst zu nehmenden Werken, Debüts, Hörspielen oder Kriminalgeschichten in Erscheinung getreten waren, darunter fünfzehn Frauen. Immer noch zu wenig. In den USA – so Deitmer damals – waren schon gut fünfzig Prozent der Krimiautoren Frauen.

Also gestaltete Sabine Deitmer ihn hierzulande beherzt mit, den Boom sogenannter Frauenkrimis, auch den der Regionalkrimis, der „local crime stories“. Deren beste Autorinnen und Autoren wussten um die wichtige Verbindung von sozialer/regionaler/lokaler Verwurzelung und Weltoffenheit. Gute Krimis mit der Region (und deren sozialen Milieus) als Spielraum und Kulisse entlarven zwar bornierte Provinzialität, gehen aber nie selbst darin auf. Denn ob nun Vorort oder Weltbühne: Immer findet sich das Kleinkarierte, Provinzielle im Weltläufigen, immer findet sich auch das Großartige im scheinbar Kleinen.

Belesene Autorin, schreibende Leserin

Sabine Deitmer war schon früh eine versierte und weltoffene Leserin, auch eine Leserin vermeintlich schlichterer Formate und Bewunderin kleiner Helden, war Enid Blyton-Fan, Kalle Blomquist-Hörerin, später Jerry-Cotton-Leserin.

1947 in Jena geboren, wuchs sie in Düsseldorf auf. Studierte Anglistik und Romanistik. Ihre Magister-Arbeit schrieb sie über die „Rezeption von Kriminalromanen am Beispiel Agatha Christie“. Als Literatin versuchte sich Deitmer zunächst in der Dortmunder Gruppe „Frauen schreiben“. Aus dieser Zeit gibt es Texte von ihr in den Anthologien „Mitten ins Gesicht – weiblicher Umgang mit Wut und Hass“ (1984) und „Venus wildert – wenn Frauen lieben“ (1985).

1988 erschien „Bye-bye, Bruno“ und wurde ein Bestseller. Der Erfolg war so groß, dass sich männliche Autoren zügig dranhängten und parodistische Gegengeschichten herausbrachten: „Good bye, Brunhilde. Rache für Bruno!“ Bei aller Spottlust schien da männliches Autorenego durchaus angekratzt. Ganz listig vielleicht, aber eben überhaupt nicht lustig, diese Konter-Attacken auf „Brunhilde“, sind doch Frauen in der Realität sowieso überall und jederzeit Opfer männlicher Mordgier.

„Ich habe gelernt, wie eng der kreative Raum ist, der Frauen zugestanden wird. Wenn wir ihn erweitern wollen, müssen wir uns auf einiges gefasst machen“, diese Sätze Deitmers klingen beinahe auch wie ein Kommentar zur Causa Bruno/Brunhilde.

Weg von Killerinnen, hin zur starken Kommissarin

„Ich merke, dass mich Männerleichen allmählich langweilen …“, auch das ein gescheit- lakonischer Deitmer-Satz. Sie wollte weg von der resilienten Frau als kesser Killerin und wandte sich schließlich einer starken Frauenfigur zu, die als Ermittlerin ihre ganz eigenen Wege ging. Zwischen 1993 und 2007 trieb Sabine Deitmer auch ihre eigene Entwicklung als Romanautorin konsequent voran. „Kalte Küsse“ hieß der erste Krimi mit Kommissarin Beate Stein, es folgten „Dominante Damen“, „Neonnächte“, „Scharfe Stiche“ und „Perfekte Pläne“.

Beate Stein (welch sprechender Name) versucht, zumindest nach außen hin der harte Typ zu sein, hard boiled, tough woman. Deitmer charakterisierte ihre Protagonistin so: „Das ist eine ganz normale Frau, mit starken und schwachen Seiten. Sie ist klug genug, ihre schwachen Seiten nur denen zu zeigen, die damit umgehen können, ihrer blinden Freundin zum Beispiel. In ihrem Job ist sie kompetent und cool, schlagfertig und mit sarkastischem Humor. Ich wollte mit ihr eine Figur schaffen, die sich von der Institution nicht einmachen lässt, darin effizient und erfolgreich reagiert.“

„Neonnächte“ und „Kalte Küsse“ wurden von RTL verfilmt, zwei Romane wurden für den Rundfunk bearbeitet. Für „Dominante Damen“ gab es einen 2. Platz beim Deutschen Krimipreis, für „Scharfe Stiche“ den „Frauenkrimipreis der Stadt Wiesbaden“, für ihr Gesamtwerk erhielt Sabine Deitmer 2008 den renommierten Glauser-Ehrenpreis.

Abschied von einer Meisterin des beharrlichen Aufbruchs

Ich habe an Sabine immer das bewundert, was im Zen-Buddhismus als „Anfängergeist“ bezeichnet wird. Sie selbst hat das einmal für ihre Arbeit so formuliert:
„Das Schwierigste beim Schreiben ist für mich der Anfang. Ich muss mich selbst davon überzeugen, dass sich die Geschichte zu erzählen lohnt.“ „Recherchen mache ich ausgesprochen gern. (…) Da habe ich das Gefühl, dass ich mir über das Schreiben ein Stück mehr Welt erobern kann. Das finde ich … toll.“

Sabine Deitmer wird mir im Gedächtnis bleiben. Sie war eine von denen, die nicht darüber lamentierten, sondern die sie einfach zu schreiben begann: Literatur aus dem Ruhrgebiet, die Vergleiche nicht zu scheuen braucht.




Lieb* Schül*

Alles nur eine (sprachiche) Luftblase? (FFoto: Bernd Berke)

Alles nur eine (sprachliche) Luftblase? (Foto: Bernd Berke)

Es ist schon ein Kreuz mit dem Gendern. Sagt „man“ was dagegen, findet „man“ sich womöglich schnell auf der zur Rechten neigenden Seite des politischen Spektrums wieder. Und doch erscheint manch eine sprachliche Verrenkung im angeblichen Dienste der Geschlechtergerechtigkeit ziemlich lächerlich.

Zwei neuere Beispiele fürs Gendern auf Biegen und Brechen:

Kürzlich auf einer Pressekonferenz. Eine Kulturschaffende mit mehr als einem Anhauch von Feminismus und mit ausgesprochenem Hang zur „Diversität“ ließ es sich nicht nehmen, jedes Mal mitten im Wort kurz innezuhalten, um die Gender-Linien akustisch zu markieren. Es klang arg abgehackt. Sie sagte beispielsweise Schauspieler-Innen; ganz so, als handle es sich um Menschen, die innen und nicht außen tätig sind. Ob man Alexa und Siri wohl auch auf solche automatenhaften Sprechweisen trimmen kann?

Welche verbalen Blüten das Bemühen sonst noch so treibt, zeigt sich in der offenbar bereits eingeschliffenen Gewohnheit an einem Dortmunder Gymnasium. Da werden die Schülerinnen und Schüler bzw. die Lernenden ungelogen wie folgt angeschrieben:

Lieb* Schül*

Ja, ihr habt wirklich richtig gelesen. Ist das nun halbwegs humorig oder lediglich hilflos? Bleibt denn nur noch Gestammel, wenn sich gefälligst (nach Möglichkeit) alle gemeint fühlen sollen? Da verschlägt es einem tatsächlich die Sprache.

Jou, das war’s dann auch schon, lieb* Les*.

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Das heißt nee, es folgt noch ein P. S.:

Vorschlag zur Güte: Wie wär’s denn eigentlich mit Anreden wie „Liebe Leute“? Oder gar mit „Liebe Mitmenschen“?




Alle Menschen werden Brüder, wenn im Grill die Glut entfacht…

Ich geb's ja zu: Das (annähernd) kugelförmige Einstiegsmodell ist hier auch vorhanden. (Foto: Bernd Berke)

Ich geb’s ja zu: Das (annähernd) kugelförmige Einstiegsmodell ist hier auch vorhanden. (Foto: Bernd Berke)

Von den zirpenden Tierchen gleichen Namens mal abgesehen: Zur Goethezeit (oder so) hatte das Wort Grillen ungefähr die Bedeutung „Flausen im Kopf“. Einer, der Phantastereien zuneigte, galt als Grillenfänger. Schlagt’s nach im Grimmschen Wörterbuch.

Heute tritt das Wort im gänzlich anderen Kontext auf. Grillen ist die vielleicht liebste „Freizeit-Aktivität von Millionen, Tendenz steigend“ (um den gängigen Pressequatsch-Modus zu imitieren). Da sind sich z. B. Deutsche und Migranten türkischer Herkunft ganz einig. Und noch etliche andere. Vor dem Grill sind beinahe alle gleich. Lasset uns singen aus voller Brust, sehr frei nach Schiller und Beethoven: Alle Menschen werden Brüder, wenn im Grill die Glut entfacht…

Als wär’s in der Steinzeit

Prosaischer gesagt: Sobald die ersten Sonnenstrahlen im Frühjahr hervorschimmern, wird allüberall der Grill angeworfen. Vor allem mehr oder weniger fachkundige Männer versammeln sich um die Feuerstellen, als wär’s in der Steinzeit. Grille, wem ein Grill gegeben!

Natürlich werden rings um den Grill weder Smoothie noch Latte Macchiato geschlürft, sondern es werden vorzugsweise ein paar Fläschchen Bier verkostet. Die Hopfenkaltschale lindert ja wohl auch am besten dieses durchdringende Hitze-Gefühl. Aaaaah! Da muss auch das sonst bevorzugte Weinchen weichen.

Fleisch auf dem Rückzug?

Endlose Debatten kann’s darum geben, was wie und warum auf den Grill gehört und was eher nicht. Welche Saucen in Betracht kommen. Welche Metzger die besten seien. In den letzten Jahren haben sich allerdings vegetarische und vegane Fraktionen auch am Grill in Stellung gebracht. Kaum etwas Pflanzliches, das bei ihnen nicht auf dem Rost und in speziellen Folien landete. Doch nach wie vor haben die Fleischliebhaber die Oberhand, wenn auch mit Rückzugsgefechten. Wie sich denn überhaupt – als Reaktion auf all das Gemüsezeugs – eine Gegenbewegung etabliert hat, zu der beispielsweise „Fleisch-Boutiquen“ und ähnliche Etablissements mitsamt passender Propaganda-Presse zählen.

Angewandte Grillistik

Für Diskussionen (in branchenüblich „flotter Schreibe“ muss man natürlich schreiben: heiße Diskussionen) sorgt auch immer mal wieder die Grundsatzentscheidung oder auch Gretchenfrage des Grillens: Wie hältst du’s mit der Energie? Soll man den recht bequemen und weitgehend schmutzfreien Gasgrill vorziehen oder den rußig-authentischen Holzkohlegrill? Falls man den Letzteren wählt, welche von den zahllosen Kohlesorten wäre wofür am besten geeignet? Aber was sagt Gretchen, äh Greta dazu?

Tja, das Grillen ist mitunter eine Wissenschaft. Angewandte Grillistik, wenn man so will. Oder muss es Grillologie heißen? Egal. Aber damit das ein für allemal klar ist: Der elektrische Tischgrill geht gar nicht. Der ist was für, naja…

Manche Männer (Frauen hingegen kaum) halten sich enorm viel zugute auf ihre Grill-Expertise, man könnte auf den Verdacht kommen, es spiele dabei – neben einem gewissen Atavismus – auch Kompensation eine Rolle. Oft geht übermäßige Grillwut übrigens mit ständigen Handwerker-Projekten und geradezu exzessiven Baumarktbesuchen einher. Und man schaue sich an, welche überdimensionierten Grill-Boliden im Einsatz sind. Erinnern sie nicht an die unsäglichen SUV-Panzer? Auch die Zubehör-Ausrüstung hat es in sich – vom Schutzhandschuh über allerlei Gerätschaften wie Anzündkamine, Schaufeln und Zangen bis zum Reinigungs-Set.

Die Sehnsucht nach dem Herbst

Gehen die schier endlos langen Sommer zur Neige, in denen mindestens an jedem Wochenende dunstige Schwaden durch die Siedlungen gezogen sind, sehnen sich Grill-Skeptiker endlich, endlich in den Herbst hinein, in dem derlei Aktivitäten seltener werden. Grill-Industrie und die ihr hörigen Grill-Fanatiker haben indes so etwas Teuflisches wie „Wintergrillen“ ausgeheckt, auf dass die Glut nie und nimmer verlösche. Wird’s kälter, dann gibt’s eben Glühwein zum Grillgut. Gnade!

P. S.: Es soll sogar Leute geben (und hierbei sind dem Vernehmen nach Frauen führend), die zu mittleren bis größeren Grill-Events in der Nachbarschaft eines jener flinken Cocktail-Taxis in die Straße beordern. Na, denn Prost!




Als Frauen aus der Rolle fielen – ein Abend mit Super-8-Filmen der 60er und 70er Jahre beim Frauenfilmfestival in Dortmund

Hoch die Tassen! Auch Alkohol half beim temporären Abschied von gewohnten Rollenbildern. (Screenshot aus dem Film „Feier 197576")

Hoch die Tassen! Auch Alkohol wirkte beim temporären Abschied von gewohnten Rollenbildern mit. (Screenshot aus dem Super-8-Film mit dem Archivtitel „Feier 197576″)

Allenthalben befasst sich die Kultur mit Fakes, Lügen und Täuschungen, so auch das Internationale Frauenfilmfestival IFFF in Dortmund (und Köln). „Bilderfallen“ heißt das Schlagwort zum Schwerpunkt. Natürlich sollen wir (und namentlich Frauen) möglichst nicht in derlei Fallen tappen, sondern allzeit wachsam bleiben oder werden. Nun denn!

Das größte deutsche Filmfestival seiner Art beginnt am 9. April und steht – nach Jahrzehnten mit Silke Räbiger an der Spitze – unter neuer Leitung: Maxa Zoller (44), auf nahezu abenteuerlichen Lebenswegen über die Eifel, London und Kairo ins Revier gekommen, trägt erstmals die Verantwortung. Das Programm, das sie mit ihrem Team zusammengestellt hat, lässt sich hier durchstöbern.

Vor solcher Fülle und Vielfalt mit rund 130 Filmen und Videos aus 38 Ländern kapitulierend, habe ich mich in eine Programmnische begeben und mir vorab 14 Kurzfilme angeschaut, die unter dem Titel „Café Kosmos“ am Samstag, 13. April (18 Uhr, Dortmund, domicil, Hansastraße), im Rahmen des Festivals zu sehen sein werden – garniert mit einem nachfolgenden Gespräch zur Sache.

Die neue Festivalchefin Maxa Zoller (Foto: © Julia Reschucha)

Die neue Festivalchefin Maxa Zoller (Foto: © Julia Reschucha)

Es handelt sich um eine Reihe von Super-8-Filmchen, die durch öffentliche Aufrufe ans Licht gekommen sind, nunmehr digitalisiert vorliegen und also (vorerst) für die Nachwelt gerettet worden sind. Künftig werden sie zur Mediathek Ruhr auf der Essener Zeche Zollverein gehören.

Insgesamt umfasst das Konvolut, das von der Interkultur Ruhr gesammelt und aufbereitet wurde, rund 1000 Schmalfilme. Sicherlich eine Fundgrube zum Privaten, das bekanntlich immer auch politisch ist.

Familiäre Festivitäten und Selbstinszenierungen

Die fürs Festival ausgewählten Super-8-Filme (sämtlich ohne Ton, aber zumeist schon farbig) zeigen überwiegend familiäre Szenen aus dem Ruhrgebiet der 60er bis 80er Jahre; freilich nicht so sehr den ganz normalen Alltag, sondern vielfach private Festivitäten, mithin Geschehnisse an besonderen Tagen. Auch haben wir es hier nur bedingt mit der Wirklichkeit oder gar mit der „Wahrheit“ zu tun, sondern eher mit (Selbst)-Inszenierungen. Die Filme haben also gleichsam (mindestens) einen „doppelten Boden“ und enthalten mutmaßlich auch etliche „Bilderfallen“.

Doch so vertrackt und fallenstellerisch wirken die einzelnen Filme zunächst nicht. Im Gegenteil: Mit diesen kurzen Zeitreisen tauchen wir in familiäre Niederungen scheinbar simplen Zuschnitts ein. Für die Älteren lautet das Motto, frei nach Peter Rühmkorf: „Die Jahre, die ihr kennt“. Wie bogen sich da die Wohnzimmertische unter alkoholischer Schwerlast (Eckes, Asbach, Doppelkorn etc.), wie schrankenlos wurde da Kette geraucht – selbstverständlich auch im Beisein der Kinder!

Nachwirkende Rollenbilder aus der Kittelschürzen-Zeit

Bei näherem Hinsehen zeigen sich – über solche Befunde hinaus – allerlei Rollenmuster einer Gesellschaft, die noch in den Nachwehen der erzkonservativen und elend verklemmten Adenauer-Ära befangen war. Nur ganz allmählich, das lässt sich hier ahnen, traten Frauen aus den ihnen traditionell zugewiesenen Rollen der Kittelschürzen-Zeit heraus. Dies war offenkundig nicht zuletzt unter Alkoholeinfluss der Fall. Einmal richtig „angeschickert“ (wie man damals sagte), fassten sie Mut zu ungeahnt extrovertierten Auftritten im Familien- und Freundinnenkreis.

Es waren vielleicht (fragile und brüchige) Signale eines gesellschaftlichen Aufbruchs, in denen sich spätere Schritte zur Befreiung ankündigen mochten. Doch allzu viel sollte man nicht hineindeuten. Eine gehöriger Anteil der Filme ragt ins Peinliche hinein. Ein Streifen heißt denn auch knapp und unverhüllt „Tanzen und besoffen“. Auf dem Weg zur Befreiung, so ließe sich sagen, gab es auch manche Entgleisungen. Ob Frauen oder Männer: Betrunkene mögen (sofern sie noch dazu in der Lage sind) offener reden und meinetwegen auch neue Rollen erproben, aber fraglos glorifizieren lässt sich das nicht. Andererseits ist Vorsicht geboten: Dies sind auch keine Anlässe, um sich (aus vermeintlich sicherer zeitlicher Entfernung) wohlfeil lustig zu machen.

Schwerelosigkeit im Ruhrgebiets-Partykeller

Immerhin sind Entwicklungen erkennbar: In dem 1961 gedrehten Streifen „Ein Tag wie mancher andere“ ziehen 8 Minuten lang Szenen eines seinerzeit typischen Frauenalltags vorüber. Babypflege, Hausputz, Wäsche, sodann Einkauf und Kochen, damit der Mann, der von der Arbeit kommt, liebevoll umsorgt und bestens versorgt ist, so dass er noch ganz schnell das Kind ins Bettchen legen kann. Hernach liest er die Zeitung, während sie strickt. Damit verglichen, fallen die Frauen in einigen später gedrehten Filmen eben schon mal aus der Rolle. Selbst eine Kegelbahn kann dann zum bizarren Laufsteg werden. Und in dem herzigen Partykeller-Streifen „Kosmos“ erkunden sie, angetan mit Phantasie-Masken wie Dadaistinnen, gemeinsam mit Kindern und Männern gar spielerisch die „Schwerelosigkeit“.

Allerdings erschöpft sich das „Aufbegehren“ hin und wieder auch in der bloßen Bereitschaft, sich im Alkoholdunst von allen abküssen zu lassen, neckisch den Rock zu lupfen oder für Zehntelsekunden blitzartig den Hintern zu zeigen. Aus dem Objektstatus waren die Frauen damit noch lange nicht heraus. Sie erlaubten sich nur kleine Fluchten.

Aber ich will hier nicht den Hobby-Feministen geben. Wahrscheinlich sehen Frauen von heute das alles ganz anders, vielleicht gar als Teil einer „Ahnengalerie“ eigener Befreiungen. Und wahrscheinlich hat der Feminismus schon wieder ein paar allerneueste Wendungen vollzogen, um hierbei theoretische und praktische Folgerungen zu ziehen, von denen bislang kaum zu träumen war. Oder etwa nicht?

Internationales Frauenfilmfestival (IFFF) Dortmund/Köln. 9. bis 14. April. Eröffnung am 9. April um 19:30 Uhr im CineStar Dortmund mit „The Man Woman Case“. Veranstaltungsorte in Dortmund: CineStar, Kino im „U“, Schauburg, domicil. Weitere Informationen:
https://www.frauenfilmfestival.eu/index.php?id=2




Vorfälle im Revier, die uns hoffentlich zu denken geben (523. Folge): Angesagte Ausstellungstitel, blickdichte Rollos

Hey, Hi und Hallo da draußen, hier ist wieder Euer quirliger Trendscout, zum Jahresbeginn besonders kregel zugange.

Bevor das Rollo runter saust, guckt Kater Freddy schnell nochmal aus dem Fenster. (Symbolfoto: BB)

Bevor das R o l l o runter saust, guckt Kater Freddy schnell noch einmal aus dem Fenster. (Symbolfoto: BB)

Eine heiße Mode bei Ausstellungstiteln ist zu vermelden, die (mangels vieler weiterer Möglichkeiten) freilich auch ganz schnell wieder vorüber sein kann. Zwei Titel nach demselben Strickmuster sind gerade im Ruhrgebiet plakatiert:

„Krieg. Macht. Sinn.“
(Essener RuhrMuseum)

und

„BILD MACHT RELIGION“
(Museum Bochum).

Ganz klar, man kann die jeweils drei Worte zusammenhängend lesen, sollte sie aber sogleich auflösen und einzeln wahrnehmen, um ein wenig ins Thema hineinzuschmecken. Im Grunde aber sind es bloße Signale, die von den Inhalten nicht allzu viel preisgeben, sondern nur Anspielungscharakter haben.

Nun gut, ein paar Varianten zu dieser Machart würden einem notfalls noch einfallen. Aber die Anzahl dürfte endlich und somit recht bald erschöpft sein. Schade ums schöne Narrativ. (Ha, das Wort hätten wir damit auch untergebracht!)

Ein neues Fass, ein anderes Fass

Machen wir also – nach dem unvergänglichen Monty-Python Motto „And now to something completely different“ – gleich das nächste Fass auf. Ein bodenloses Fass. Eines, dem die Krone ins Gesicht geschlagen wurde. Oder muss es Gischt heißen?

Kommt mal näher, ich will lieber flüstern. Pssssst!

Also, ich habe Folgendes hinter vorgehaltener Hand gehört: Rings um eine große Bildungs-Institution im Ruhrgebiet ging ein Spanner auf seine Streifzüge. Er war auf Anblicke junger Frauen aus, die er gelegentlich auf Video festgehalten haben soll. Wirklich nicht fein. Ganz und gar nicht fein.

Der penetrant wiederholte Vorfall hat nunmehr eine ziemlich kostspielige Nachrüstung zur Folge. Über 200 Fenster sollen nunmehr von einer örtlichen Firma mit blickdichten Rollos ausgestattet werden. Frage niemand nach dem Gesamtpreis. Und frage bitte auch niemand: Cui bono?“

 




Plastikpuppen, Suchmaschinen – Dortmunder Hartware Medienkunstverein zeigt Arbeiten von „Computer Grrrls“

Bild aus Caroline Martels Film „The Phantom of the Operator“ von 2004 (Bild: public domain/artifact productions. Im Rahmen der Ausstellung „Computer Grrrls“, HMKV im Dortmunder U)

Zwei aufblasbare überlebensgroße Plastikpuppen sind der Blickfang im Raum – plumpe Gebilde, denen Ventilatoren in regelmäßigen Abständen Kontur und Fülle verleihen, bevor sie, mangels Luftdruck, wieder in sich zusammensacken. Der grob-schlächtigen Bemalung nach sind sie nackt, eine erotische Anmutung jedoch geht von ihnen eher nicht aus.

Luftnummer

Was die Figuren eint, ist ihre Geschichte: Beide sind sie Auftragsarbeiten, entstanden in spezialisierten Werkstätten in China und den Niederlanden, denen als Vorbild identische zweidimensionale Pläne dienten, die die Künstlerin Simone C. Niquille anfertigte. Der Unterschied zwischen den Puppen ist mithin der „kulturellen Differenz“ der Produzenten geschuldet. Da sich die Figuren jedoch recht ähnlich sind, kann es (bei dieser Art von Beweisführung) mit der kulturellen Differenz nicht weit her sein.

Ach ja: Angebliches Vorbild der Puppenplanung ist eine Doppelgängerin von Hillary Clinton (auf einem Videomonitor zu sehen), deren Gesicht folgerichtig den runden Kopfballon einer der Figuren ziert. Bei der anderen wurde auf ein vorlagengetreues Gesicht eher weniger Wert gelegt. „The Fragility of Life“ heißt das ganze bedeutungsschwer. Haben wir jetzt alles?

Computer und Zubehör aus der Vergangenheit sind das Thema von Jenny Odell. „Neo-Surreal“, 2017 (Bild: Jenny Odell. Im Rahmen der Ausstellung „Computer Grrrls“, HMKV im Dortmunder U)

Computer und Zubehör aus der Vergangenheit sind das Thema von Jenny Odell. „Neo-Surreal“, 2017 (Bild: Jenny Odell. Im Rahmen der Ausstellung „Computer Grrrls“, HMKV im Dortmunder U)

Video-Schwerpunkt

Mit dem Kunstbegriff ist es bei solchen Arbeiten nicht immer einfach. Finale Wertungen sollen hier unterbleiben, ein jeder Besucher – und eine jede Besucherin, aber klar doch! – urteile selbst.

„Computer Grrrls“ ist der Titel der Ausstellung, zu sehen ist sie im Hartware Medienkunstverein (HMKV) im Dortmunder „U“. Mit einer marginalen Ausnahme wird hier nur Kunst von Künstlerinnen (ohne Sternchen) gezeigt, Arbeiten eher jüngerer Frauen, die mehr oder weniger eng um Computer, Informationsverarbeitung, Internet, KI und so fort kreisen.

Etwa 13 der 23 Exponate (bei manchen ist eine eindeutige Zuordnung nicht sinnvoll) arbeiten mit Video, mal auf kleinem Schirm, mal im abgedunkelten Séparée, was in der Ausstellung eines „Medienkunstvereins“ ja auch naheliegend ist. Eher schon könnte man hier die Zeichnungen und Aquarelle Suzanne Treisters als Ausreißer betrachten. In ihnen ist sogar Humor zu registrieren, wenn sie etwa auf einer wandgroßen Weltkarte die „Post Singularity Epoch of Artificial Super Intelligence Inhabitation of Earth“ darstellen. Bemerkenswert sind auch die Mandalas ähnlichen ornamentalen Bilder, die die Entwicklung von IT beschreiben.

Ganz so zornig sind sie nicht

„Computer Grrrls“ denn also. Der Titel läßt an „Riot Girls“ denken, an zornigen weiblichen Punk der 90er Jahre, der nun beim Medienthema irgendeine Entsprechung zu finden sich anschickt. Doch ist in der Ausstellung eher keine aggressive Kunst zu finden, und es wäre unredlich, die oftmals klugen und nachdenklichen Positionen sämtlich unter das Zornesbanner zu drängen. Auch muß nachdenklich stimmen, daß das Signalbild der Ausstellung, eine vielgliedrige, wohl weibliche Gestalt, die die Zunge provozierend herausstreckt, keineswegs ein Exponat ist, sondern offenbar eine Auftragsgraphik des Vereins mit dem bescheidenen Copyrightvermerk „Gestaltung: Stefanie Ackermann, Manuel Bürger“. Hatten sie wirklich kein Kunstwerk, das zum Titel paßte?

Nadja Buttendorf erzählt im Video die Geschichte ihrer Eltern beim DDR-Elektronikkombinat Robotron. (Bild: Nadja Buttendorf. Im Rahmen der Ausstellung „Computer Grrrls“, HMKV im Dortmunder U)

Telefonistinnen

Wie auch immer. Auffällig bei vielen Arbeiten ist eine Interesse an Forschung, zumal an historischer. So befaßt sich Caroline Martels mit feiner Ironie betitelter 65-Minuten-Film „Le Fantôme de l’Opératrice“ (Das Phantom der Telefonistin) unter Verwendung alter Originalaufnahmen profund mit Frauen und elektrischer/elektronischer Technik. Darsha Hewitt hat zwei „analoge“ Rhythmusgeräte vom Typ Wurlitzer Sidemann 5000 in Glasvitrinen gestellt, hat sie gründlich erforscht und erläutert sie in 10 Fünfminutenvideos. Nadja Buttendorf wiederum erzählt im Stil einer YouTube-Serie in heiter anmutenden Dreiminutenfolgen die Geschichte ihrer Eltern, die sich im seinerzeit bedeutenden DDR-Elektronikkombinat Robotron kennenlernten, heirateten, arbeiteten und sich nach dem Niedergang der Firma trennten.

Üble Späße mit dem Chatbot

Andere Künstlerinnen registrieren – auch hier könnte man oft sagen: augenzwinkernd – die Wechselbeziehungen von Mensch und Netz. So hat Erica Scourti in „Body Scan“ ihre Körpermaße als Text in eine Suchmaschine gegeben und präsentiert in einem Video nun – emotionslos, wie es scheint -, was ihr angeboten wird. „I’m here to learn so :))))))“ von Zach Blas & Jemima Wyman erzählt die angeblich wahre Geschichte des Chatbots Tay, der im Netz die feine Konversation erlernen sollte. Böse Trolls jedoch brachten ihm so viel verbalen Schweinkram bei, daß Microsoft Tay nach 16 Stunden wieder aus dem Verkehr ziehen mußte: Eine eindrucksvolle 4-Kanal-Videoinstallation mit einem eingedötschten, munter erläuternden Chatbot-Kopf, 27:33 Minuten lang.

Schönes aus dem 3D-Drucker

Erwähnt sei schließlich noch eine besonders „schöne“ Arbeit der Iranerin Moreshin Allahyari. In der Konzentration eines abgetrennten Betrachtungsraums erzählen Videos von monströsen weiblichen Dschinn-Figuren, von Ya’jooj und Ma’jooj, von Aisha Qandisha, und in zwei Vitrinen stehen diese Figuren, leuchten golden, Geschöpfe aus dem 3D-Drucker. Dieses Projekt sei, belehrt uns das Programmheft, Teil einer Serie zu „digitalem Kolonialismus und Re-figuration als feministische und aktivistische Praxis“. Nun gut; auf jeden Fall hinterlassen die einzigen figurativen Arbeiten mit gleichsam klassisch-skulpturaler Anmutung in dieser Ausstellung einen bleibenden Eindruck.

Skulpturales aus dem 3D-Drucker: Morehshin Allahyari, „Ya’jooj Ma’jooj“, 2018 (Bild:  Morehshin Allahyari. Im Rahmen der Ausstellung „Computer Grrrls“, HMKV im Dortmunder U)

Plötzlich waren die Frauen weg

Zurück noch einmal zum titelgebenden Zorn, der in den Arbeiten kaum Widerhall findet. Wenn er sich aber aus der Kunst nicht speist, wie dann? Es hat, eine Zeitschiene an der Wand verdeutlicht es, mit der Präsenz oder, ehrlicher ausgedrückt, Nicht-Präsenz von Frauen im großen IT-Themenfeld zu tun.

Gewiß, in der Frühzeit des komplexen Rechnens gab es sie noch, als „Rechnerinnen“ bei Finanzämtern oder Versicherungen. Auch als Bedienerinnen riesiger Maschinen, die mechanisch oder mit Röhrenbestückung Resultate suchten, waren sie unverzichtbar, und in Bletchley Park zum Beispiel, wo der geniale Mathematiker Alan Turing im 2. Weltkrieg den Code der Nazi-Verschlüsselungsmaschine „Enigma“ knackte, war die Zahl der weiblichen Mitarbeiter erheblich.

Doch spätestens mit dem Aufkommen der Personal Computers (PC) in den 80er Jahren, erläutert Inke Arns vom Hartware Medienkunstverein, war Schluß mit weiblicher Beteiligung. Computer waren nun Männersache, und sie sind es bis heute geblieben. Wenn Frauen in der IT-Industrie doch einmal in Spitzenpositionen gelangen, CEO werden, dann wahrscheinlich auf der juristischen oder wirtschaftswissenschaftlichen Schiene, eher nicht auf der technischen. Die berühmten Firmengründer und bald danach schon Multimilliardäre – Bill Gates, Steve Jobs, Mark Zuckerberg und so fort – waren sämtlich Männer, eine Videoarbeit in der Ausstellung thematisiert die männliche Dominanz ironisch, indem sie einfach Biographien aneinanderreiht: „A Total Jizzfest“ von Jennifer Chan.

Viele künstlerische Positionen

Wenngleich feministische Klage und präsentierte Kunst in dieser Ausstellung ein wenig auseinanderfallen, schmälert dies nicht ihre Attraktivität, weil so viele junge Positionen zu sehen sind wie selten. Der Vollständigkeit halber sei noch vermerkt, daß das Pariser Kulturzentrum La Gaîté Lyrique Kooperationspartner der Schau ist. Dort, in Paris, wird die Ausstellung im kommenden Frühsommer zu sehen sein, bevor sie dann im August zum MU Einhoven nach Holland weiterzieht.

  • „Computer Grrrls“, HMKV im Dortmunder U, Leonie-Reygers-Terrasse, 44137 Dortmund
  • Bis 24. Februar 2019.
  • Geöffnet tgl. außer Mo 11-18 Uhr, Do+Fr 11-20 Uhr.
  • Eintritt frei
  • www.hmkv.de



Frauen, die beim Wohnen warten

Gelegentlich liegen der regionalen Tageszeitung Möbelprospekte bei. Die interessieren mich nur sehr bedingt. Doch eins ist mir jetzt (mal wieder) aufgefallen: Man sieht darin besonders viele wartende Frauen.

Barfuß auf dem Sofa (1)

Barfuß auf dem Sofa (1)

Ihr wisst schon ungefähr, was ich meine, nicht wahr? Junge Frauen, die offenbar endlos Zeit haben, warten in diesen Musterwohnungen – auf was auch immer. Dass ein männliches Wesen nach seines Tages Mühen erscheine? Dass endlich das Leben anfange? Warten sie etwa auf den Postboten oder Handwerker? Wohl kaum. Das wäre denn doch zu profan.

Sie sollen ungemein entspannt wirken, aber es gelingt ihnen nur selten, diesen Eindruck glaubhaft zu vermitteln. Es sind ja auch zumeist preiswerte oder gar kostenlos posierende Statistinnen, die sich da lümmeln und rekeln oder auch selbstvergessen sinnend in unbestimmte Fernen blicken.

…und meistens sind sie barfuß

Auf dem Sofa: die wartende Frau. Auf dem Bett: die wartende Frau, etwas leichter bekleidet. Auch in der Küche hat sie nichts zu tun als zu warten. Hin und wieder nimmt sie eine Tasse Tee oder Kaffee zu sich, höchstens mal ein Stückchen Obst, das ist offenbar alles, was sie zum Dasein braucht. Hin und wieder tippen solche Frauen auf Tablets oder Smartphones herum. Und meistens sind sie barfuß.

Barfuß auf dem Sofa (2)

Barfuß auf dem Sofa (2)

Nur selten kommt ein Mann hinzu, oft übrigens in deutlicher Distanz auf dem breiten, breiten Sofa. Manchmal darf auch ein fröhliches Kind dabei sein. Und wenn eine Familie sich zeigt, dann fast immer idealtypisch mit einer Tochter und einem Sohn. Ansonsten, wie gesagt, bleibt die junge Frau für sich, als wenn just die Abwesenheit des Mannes erst wahre Muße ermögliche. Paradox nur, dass sie zugleich auf ihn wartet.

Domizile in weltbester Lage

Und wahrlich, sie wohnen nicht schlecht. Im mittleren Preissegment geht es schon los mit den maßlosen Übertreibungen: Allein ihre Küchen sind wohl um die 70 Quadratmeter groß, auch in den Bädern kann man großzügig umhergehen, ganz zu schweigen von den anderen Zimmern. Es sind stets weitläufige Wohnlandschaften mit einigen Metern Deckenhöhe.

Barfuß auf dem Sofa (3)

Barfuß auf dem Sofa (3)

Die Fensterblicke im Hintergrund (selbstverständlich Fotomontagen) suggerieren derweil allerbeste Wohnlagen, entweder mitten im Zentrum von Weltstädten oder direkt am Rande riesiger Parks und Waldungen, manchmal auch Mixturen aus beidem. Latifundien halt. Anwesen sondergleichen. Gerne auch mit unverstelltem Meer- oder Flussblick. Kurzum: eigentlich für Normalsterbliche unbezahlbar. Frei nach Kurt Tucholskys Diktum über die ideale Wohnlage: vorne Ostsee, hinten Ku’damm. Oder war’s umgekehrt?




Junge Frau, ganz auf sich gestellt: Wuppertal würdigt das künstlerische Werk von Paula Modersohn-Becker

Paula Modersohn-Becker: „Kopf eines kleinen Mädchens mit Strohhut" (1904). Öl auf Leinwand (© Kunst- und Museumsverein im Von der Heydt-Museum Wuppertal)

Paula Modersohn-Becker: „Kopf eines kleinen Mädchens mit Strohhut“ (1904). Öl auf Leinwand (© Kunst- und Museumsverein im Von der Heydt-Museum Wuppertal)

Man muss es sich immer wieder vor Augen halten: All die Bilder der Paula Modersohn-Becker (1876-1907) stammen von einer sehr jungen Frau. Schon recht früh zeigt ihr Werk alle Anzeichen von Reife.

Mit ungefähr 20 begann sie vorsichtig tastend ihren künstlerischen Weg. Anfangs malte sie noch sichtlich unbeholfen. Aber dann! In wenigen Jahren hat sie das Ihre gefunden. Schon mit 31 Jahren ist sie gestorben und hat bis dahin nach ihrer eigensinnigen, sanft beharrlichen Art eine gewisse Vollendung erreicht. Ihre besten Bilder erstrahlen vor Innigkeit, sie sind von manchmal geradezu bestürzender Wahrhaftigkeit. Eher unscheinbaren Motiven wie Kinderbildnissen oder einfachen armen Leuten verleiht  sie etwas beispielhaft Monumentales, aber ganz und gar nichts Auftrumpfendes.

Spannungsfeld zwischen Worpswede und Paris

Als sie zwölf Jahre alt war, zog die Familie (der Vater war preußischer Bahn-Baurat) mit sieben Kindern von Dresden nach Bremen. Doch zwei andere, denkbar gegensätzliche Orte sind entscheidend für ihren künstlerischen Werdegang gewesen, den jetzt das Wuppertaler Von der Heydt-Museum in den Blick nimmt: das bei Bremen gelegene Dörfchen Worpswede mit seiner kleinen Künstlerkolonie, den vielen schlanken Birken, dem Teufelsmoor – und das leuchtende Paris! In der Silvesternacht 1899/1900 reist sie erstmals an diese Stätte ihrer Sehnsucht. Sie kehrt mehrmals dorthin zurück, manchmal für einige Monate.

Paula Modersohn-Becker: „Alte Armenhäuslerin", um 1905. Öl auf Leinwand (Von der Heydt-Museum Wuppertal)

Paula Modersohn-Becker: „Alte Armenhäuslerin“, um 1905. Öl auf Leinwand (Von der Heydt-Museum Wuppertal)

Zahllose Ausstellungen der damals avantgardistischen Künstler und Kunstströmungen (u. a. Cézanne, Gauguin, Van Gogh, Nabis, Fauves) sieht sie dort, sie studiert an der Académie Calarossi, lernt später den leidenschaftlich bewunderten Bildhauer Auguste Rodin kennen – durch Vermittlung des Dichters Rainer Maria Rilke, der zu jener Zeit Rodins Privatsekretär ist. Nach vorherigen Lehrjahren in Berlin, wo sie Einflüsse von Arnold Böcklin und Walter Leistikow aufnimmt, entfaltet sie an der Seine nach und nach ihr Talent.

Exemplarischer Lebenslauf

Eigentlich wird Paula die kleine Welt von Worpswede nun zu eng. Und doch kehrt sie immer wieder dorthin zurück. Ein Zwiespalt. Auch sonst sammelt sie Widersprüche: Eigentlich sehnt sie sich nach einem üblichen Familienleben, doch durch ihr Werk und ihr künstlerisches Streben emanzipiert sie sich zunehmend, ohne zur Feministin zu werden.

Sie heiratet den Maler Otto Modersohn, aber nach ein paar unerfüllten Jahren will sie sich von ihm trennen. Es kommt jedoch zu einer Art Versöhnung und sie, die immer Kinder haben wollte, wird endlich schwanger. Unfassbare Tragik: 18 Tage nach der Geburt ihrer Tochter Mathilde stirbt Paula an einer Embolie. Ein als exemplarisch empfundener weiblicher Lebenslauf um 1900, der – mit erfinderischen Zutaten – vor zwei Jahren auch fürs Kino taugte, als Christian Schwochows Film „Paula“ mit Carla Juri in der Titelrolle herauskam.

Übrigens: Es hat sich eingebürgert, sie lediglich Paula zu nennen – ohne den etwas sperrigen Doppelnamen. Bei welchem männlichen Künstler verfahren wir ebenso? Sagen wir nur „Max“ zu Ernst oder Beckmann? Sagen wir bloß Pablo oder Salvador?

Zu Lebzeiten rundweg unterschätzt

Zurück ins Museum. Nach Bremen besitzt Wuppertal das zweitgrößte Konvolut an Werken Paula Modersohn-Beckers, immerhin 22 Gemälde umfassend. Sie bilden den Kern der Schau, die zuerst fürs Rijksmuseum Twenthe in Enschede (Niederlande) zusammengestellt wurde und nun quasi als „Re-Import“ in Wuppertal zu sehen ist, wo Beate Eickhoff als Kuratorin wirkt. Paula Modersohn-Beckers Schaffen wird (mit aufschlussreichen Seitenblicken auf einige Zeitgenossen) anhand von etwa 80 Arbeiten weitgehend chronologisch aufgeblättert, so dass man das zu ihrer Zeit weithin unbeachtete Aufblühen ihrer Fähigkeiten nachvollziehen kann.

Paula Modersohn-Becker: „Sitzender Mädchenakt mit Blumenvasen", um 1907. Öl auf Leinwand (Von der Heydt-Museum, Wuppertal)

Paula Modersohn-Becker: „Sitzender Mädchenakt mit Blumenvasen“, um 1907. Öl auf Leinwand (Von der Heydt-Museum, Wuppertal)

Zu Lebzeiten hat sie nur ganz selten ausgestellt, sie wurde in Abhandlungen über Worpswede kaum je erwähnt, auch hat sie so gut wie keine Bilder verkauft. Wenn überhaupt einmal ein männlicher Kritiker über sie schrieb, ging es gleich recht ruppig und verletzend zu. Folglich glaubte sie zunächst nicht an sich selbst, sie war aber gottlob hartnäckig. Viele ihrer Bilder blieben unsigniert und trugen nur eine Jahreszahl.

„Hände wie Löffel…“

Selbst ihr Mann Otto Modersohn ahnte zwar ihre Begabung, mäkelte aber auch über ihren Malstil, und zwar wortwörtlich derart anmaßend: „Sie haßt das conventionelle und fällt nun in d. Fehler alles lieber eckig, häßlich, bizarr, hölzern zu machen. Die Farbe ist famos, aber die Form? Der Ausdruck! Hände wie Löffel, Nasen wie Kolben, Münder wie Wunden, Ausdruck wie Cretins…“ Außerdem sei sie auch noch – wie man heute sagen würde – beratungsresistent.

Paula Modersohn-Becker: „Sitzende Mutter mit Kind auf dem Schoß", 1906. Öl auf Pappe (Von der Heydt-Museum Wuppertal)

Paula Modersohn-Becker: „Sitzende Mutter mit Kind auf dem Schoß“, 1906. Öl auf Pappe (Von der Heydt-Museum Wuppertal)

Richtig ist, dass sie einem Ideal der Einfachheit frönte: „Es brennt in mir ein Verlangen, in Einfachheit groß zu werden.“  Insbesondere als Porträtistin wollte sie wahre, ungeschönte Menschen zeigen. Eine Frau mit grotesk langer Nase wird zu allem Überfluss im unvorteilhaften Profil dargestellt. Das Gegenteil von gefälliger Auftragskunst. Wenn das nicht authentisch ist…

„Die roten Rosen waren nie so rot…“

Auch der hochmögende Rilke erkannte ihr Wesen wohl erst recht spät, doch umso inbrünstiger. In Gedanken an sie schrieb er ein Gedicht, das so beginnt: „Die roten Rosen waren nie so rot / als an dem Abend, der umregnet war. / Ich dachte lange an dein sanftes Haar… / Die roten Rosen waren nie so rot.“  Manche Kunstfreunde, die es gerne menscheln sehen, spekulieren bis heute, ob Rilke nicht die bessere Wahl für Paula Becker gewesen wäre. Ach, wie müßig ist das!

Während die schöpferischen Herren in Worpswede (Otto Modersohn, Heinrich Vogeler, Fritz Mackensen u. a.) die Akademien verabscheuten und sich möglichst nur noch schwärmerisch in freier Natur ergehen mochten, erstrebte Paula gerade umgekehrt eine akademische Ausbildung, die ihr damals jedoch weitgehend verwehrt blieb. Private Institute standen ihr allenfalls offen, keine staatlichen. Vielleicht hat sie ihre Anlagen gerade deswegen umso eigenständiger entwickeln können. Sie war ganz auf sich gestellt. Schmerzliche Verheißung der Freiheit!

Ungeheuerliche Aktdarstellung mit Kind

Die Heimattümelei der allzeit in Worpswede verbliebenen Männer, die sich geradewegs stur weigerten, Einflüsse aus Frankreich aufzunehmen, machte sie später anfällig für nationalistische oder noch schlimmere Versuchungen. Geradezu revolutionär muten hingegen die „späten“ Bilder von Paula an: Wenn sie sich etwa selbst als Akt mit Kind darstellt (damals eine Ungeheuerlichkeit) oder wenn ihr aparte Mädchendarstellungen im deutlichen Gefolge des exotischen Gauguin gelingen, so wagt man kaum sich vorzustellen, was aus ihr noch hätte werden können.

Paula Modersohn-Becker auf der Veranda ihres Hauses, 1901 (Ausschnitt) (Foto: Atelier Schaub, Hamburg / Paula-Modersohn-Becker-Stiftung, Bremen)

Paula Modersohn-Becker auf der Veranda ihres Hauses, 1901 (Ausschnitt) (Foto: Atelier Schaub, Hamburg / Paula-Modersohn-Becker-Stiftung, Bremen)

Auzfgrund ihrer jeweils allerneuesten Kunst-Erfahrungen in Paris ließ Paula Modersohn-Becker alsbald impressionistische Anwandlungen hinter sich. Courbet sagte ihr mehr als Monet. Sie hat nicht bloß die Natur nachgeahmt, sondern sich draußen ins Gras gelegt, die Augen geschlossen, sozusagen „innere Bilder“ aufgerufen und diese Bilder schließlich flächig konstruiert, in kühnen Perspektiven zugespitzt oder stilisiert. So darf sie bereits als eine Vorläuferin des Expressionismus gelten. Bei etlichen Besuchen im Pariser Louvre wurde sie überdies auf altjapanische Kunst und auf altägyptische Totenbilder von erhabener Einfachheit aufmerksam. Auch solche Spuren, welche die Wuppertaler Ausstellung getreulich nachzeichnet, finden sich in ihrem Oeuvre.

Riesiger Nachlass – nachlässig behandelt

So wenig Anerkennung war der Lebenden insgesamt zuteil geworden, dass man überrascht war, als sich etwa 700 vielfach beachtliche Gemälde und rund 1000 Zeichnungen in ihrem Nachlass fanden, der – das Wortspiel sei erlaubt – leider recht nachlässig behandelt wurde. Zudem ging hernach vieles im Gefolge der schandbaren Nazi-Ausstellungsaktion „Entartete Kunst“ verloren, anderes wurde im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs zerstört.

Und wie kam es, dass gerade in Wuppertal viele Bilder von ihr vorhanden sind? Nun, letztlich ist es dem vielfach in Bremen wirkenden Künstler Bernhard Hoetger (aus Hörde stammend, heute ein Stadtteil von Dortmund) zu verdanken, der den eigentlichen Gründervater des heutigen Museums, den Wuppertaler Bankier August von der Heydt, recht früh auf Paula Modersohn-Beckers Schaffen hinwies. So konnte es auch nicht ausbleiben, dass im nahen Hagen Karl Ernst Osthaus von ihrem Wirken erfuhr. Es waren Zeiten und Kreise, in denen Region keineswegs „Provinz“ bedeuten musste.

„Paula Modersohn-Becker. Zwischen Worpswede und Paris“. 9. September 2018 (Eröffnung ab 11:30 Uhr) bis zum 6. Januar 2019 im Von der Heydt-Museum, Turmhof 8, Wuppertal. Geöffnet Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Eintritt 12 €, ermäßigt 10€, Katalog 20 €.

Weitere Informationen: http://vdh.netgate1.net/

 

 

 

 




Ob Gebühren oder Gedichte – Wenn alles zur Zumutung wird

Im Aufmacher der feiertäglichen WAZ-Titelseite geht es um Studiengebühren. Demnach möchten NRW-Hochschulen die Langzeitstudenten (so ca. ab dem 20. Semester und darüber hinaus) ein wenig zur Kasse bitten. Bis jetzt sind es nur Gedankenspiele.

Bekleidung zur Demo gegen Studiengebühren beim bundesweiten Bildungsstreik 2009 - hier am 17. Juni 2009 in Göttingen. (Foto: Niels Flöter / miRo-Fotografie) - Link zur Lizenz:https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en

Hier hatte der Protest noch einen gewissen Pfiff: Bekleidung zur Demo gegen Studiengebühren beim bundesweiten „Bildungsstreik“ – hier am 17. Juni 2009 in Göttingen. (Foto: Niels Flöter / miRo-Fotografie) – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en

Schließlich, so die hauptsächliche Begründung, profitierten diese zögerlichen Studenten ja auch viele Jahre lang von günstigem Mensa-Essen, dito von preiswerten Nahverkehrstickets und speziellen Tarifen bei der Krankenversicherung. Womit noch nicht alle Vorteile genannt sind.

Falls nicht besondere Umstände vorliegen (Krankheit, sonstige Notlage), die eben geprüft werden müssten, finde ich die Gebührenpläne durchaus nachvollziehbar, sofern sie sich im moderaten Rahmen bewegen. Etwa 74000 Langzeitstudenten, rund zehn Prozent aller Studierenden, blockieren dem Bericht zufolge in NRW Studienplätze an den ohnehin schon überfüllten Hochschulen.

„In jedem Fall diskriminierend“

Okay, bevor jemand fragt, gestehe ich freimütig: Auch ich bin nicht in 8 Semestern fertig geworden, sondern habe zwölf gebraucht. Ein wenig Orientierungsphase und so genanntes „Studentenleben“ sollten schon möglich sein. Eng getaktete Verschulung gibt’s inzwischen mehr als genug, uns ging’s in der Hinsicht noch besser. Jedoch: Sind 20 Semester und mehr noch statthaft? Langwierig auch auf Kosten von Steuer zahlenden Kindergärtnerinnen und Krankenschwestern zu leben, ist alles andere als „cool“.

Worauf ich aber hinaus will, ist der unsägliche Ausspruch eines Studentenvertreters, der da laut WAZ folgenden Satz von sich gegeben hat:

„Gebühren sind in jedem Fall diskriminierend.“

Also ehrlich, bei diesem Schwachsinn schwillt mir einfach der Kamm.

Dümmlicher Zynismus

Weiß der Bursche, der übrigens Michael Schema heißt (keine Scherze mit Namen!), überhaupt, was er da faselt? Kennt er eigentlich die wirkliche Bedeutung des Wortes Diskriminierung? Fühlt er sich auch diskriminiert, wenn Miete und Stromrechnung fällig werden oder wenn er in der S-Bahn seinen Fahrschein vorzeigen soll? Ist ihm bewusst, dass sein Ausspruch nicht nur dümmlich, sondern nachgerade zynisch ist, wenn man an wirklich diskriminierte Menschen denkt?

Aber wir erleben ja schon seit geraumer Zeit, worauf es hinausläuft mit dem diffusen Gefühl, „diskriminiert“ und benachteiligt zu werden. Im Gefolge der political correctness an US-Universitäten, wo einem (weitaus seltener: einer) Lehrenden mitunter jede scherzhafte Äußerung als „Mikro-Aggression“ ausgelegt werden und blitzschnell zum Karriereende führen kann, breitet sich auch hier eine erschreckende Überempfindlichkeit aus, die allüberall Zumutungen und Verletzungen wittert.

Bewunderung als Belästigung?

Ein neueres Beispiel rankt sich um einen unschuldsvoll-harmlosen Text des Lyrikers Eugen Gomringer (92) aus dem Jahr 1951. Seit vielen Monaten wogt eine heftige Debatte um folgende Zeilen, die den Titel „Avenidas“ tragen:

Fassade der Berliner Alice Salomon Hoschule für Sozialarbeit, Gesundheit und Erziehung im Februar 2011. (Foto: Auto 1234 - Self photographed) Link zur Lizenz:https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/de/deed.en

Schmucklos genug: Fassade der Berliner Alice Salomon Hochschule für Sozialarbeit, Gesundheit und Erziehung im Februar 2011. (Foto: Auto 1234 – Self photographed) Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/de/deed.en

„Alleen / Alleen und Blumen / Blumen / Blumen und Frauen / Alleen / Alleen und Frauen / Alleen und Blumen und Frauen und ein Bewunderer“

Ganz, ganz schlimm, nicht wahr? Das findet jedenfalls der Allgemeine Studierendenausschuss (Asta) der Berliner Alice Salomon Hochschule, an deren Fassade der Text seit 2011 steht. In Gomringers Gedicht werde die „patriarchalische Kunsttradition“ reproduziert, in der Frauen nur die Musen seien, die den männlichen Künstler inspirieren.

Und weiter im Asta-Sprech, nun vollends losgelöst vom dichterischen Sinn: „Es (das Gedicht, d. Red.) erinnert zudem unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen alltäglich ausgesetzt sind.“ Selbstredend wird die Entfernung des Gedichts gefordert. War da nicht mal was?

Sie wähnen sich für alle Zeit im Recht

Nach diesem „Verständnis“ dürfte man Frauen also nicht einmal mehr bewundern. Dass die Studierenden weder einen blassen Schimmer vom Zeitkontext des Gedichts noch von Lyrik überhaupt haben, darf man mit Fug vermuten. Diskutieren wollen sie über ihre bodenlos ahnungsfreie Gedicht-„Interpretation“ selbstverständlich auch nicht. Sie wähnen sich fraglos ein für allemal im Recht.

Gomringer, ein Doyen der Konkreten Poesie, sprach jetzt im Deutschlandfunk von „Säuberung“. Auch diese Wortwahl mutet einstweilen noch übertrieben an. Aber der Zorn des großen alten Mannes ist nur zu berechtigt.




Wesentlich von Anfang an: Alissa Walsers Erzählband „Eindeutiger Versuch einer Verführung“

Wer eine eher kürzere, sehr unterhaltsame Lektüre für die Ferienzeit sucht, die sich zudem locker im Handgepäck verstauen lässt, dem sei Alissa Walsers Band „Eindeutiger Versuch einer Verführung“ empfohlen.

Die Schriftstellerin, die u. a. mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde, erzählt skurrile, verstörende oder abwegige Geschichten aus dem Alltag. Obwohl es über 50 solcher Begebenheiten sind, die den Leser immer wieder an neue Orte führen und mit anderen Menschen zusammenbringen, braucht die Autorin dafür gerade mal 160 Seiten. Ihre besondere Stärke liegt vor allem darin, sehr prägnant zu erzählen und sich – von der ersten Zeile an – auf das Wesentliche zu beschränken.

Sie schreibt über Zufallsbekannschaften, wie man sie in der U-Bahn erleben kann, oder über Kontakte, die ganz gezielt zustande kommen, weil der Millionär eben Millionär ist, wenn auch mit einem leicht schrägen Charakter. Familien- und Paarbeziehungen betrachtet sie mit feiner, aber wohlwollender Ironie, indem sie beispielsweise den Wortwechsel in Unterhaltungen gleichsam seziert.

Da im Leben so mancher Familien ein Hund nicht mehr wegzudenken ist, kommt den Vierbeinern auch mehrmals eine Hauptrolle zu. Die Vorlieben und Marotten von Menschen sind ein weiteres Sujet, mit dem sich die Autorin auseinandersetzt, darunter durchaus recht urige Anwandlungen wie beispielsweise die, Spinnennetze auf keinen Fall zu zerstören.

Manchmal zeichnet Alissa Walser Charaktere, die auf der Schattenseite des Lebens stehen, aber gelernt haben, dieses Schicksal für sich zu akzeptieren. Mit kritischem Blick schaut sie auf die technologische Welt und gibt dem Leser zu verstehen, dass er durchaus selbst entscheiden kann, wie sehr er sich vereinnahmen lassen möchte. Dass man im eigenen Leben aber nicht immer die Richtung bestimmt, sondern auch von Zufällen abhängig ist, gehört ebenfalls zum Themenkreis des Buches.

Bleibt noch zu klären, was es eigentlich mit dem Buchtitel auf sich hat: Den findet der Leser auch als Titel einer der Kurzgeschichten wieder, in der Alissa Walser die Frage nach der passenden und dem Anlass gemäßen Kleidung recht amüsant verpackt.

Alissa Walser: „Eindeutiger Versuch einer Verführung“. Hanser-Verlag, 160 Seiten, 17 Euro.