Raffaels Madonnen in Dresden vereint

Raffael: Madonna di Foligno, 1511/1512 (Copyright: Vatican Museums)

Raffael: Madonna di Foligno, 1511/1512 (Copyright: Vatican Museums)

Der deutsche Papst hat es möglich gemacht. Fast fünfhundert Jahre lang haben sich die von Raffael fast zeitgleich gemalten Altarbilder nicht mehr getroffen, jetzt kann man sie nebeneinander betrachten.

Zuletzt standen die „Madonna von Foligno“ und die „Sixtinische Madonna“ im Jahre 1512 zusammen im Atelier des italienischen Renaissance-Malers. Dann trennten sich die Wege der Bilder, die auf eindringliche Weise die himmlische Erscheinung der Maria mit dem Jesuskind thematisieren.

Auf verschlungenen Pfaden und verschiedenen Zwischenstationen kam die „Sixtinische Madonna“ 1754 nach Dresden, um die ohnehin prächtige Sammlung von August III., dem sächsischen Kurfürst und König von Polen, mit einem ebenso unzweifelhaften wie bedeutenden Raffael-Gemälde nochmals aufzuwerten und zu schmücken.

Die „Madonna von Foligno“ wurde, nachdem napoleonische Truppen sie beschlagnahmt und restaurierten hatten, im Jahr 1816 nach Italien zurückgebracht, um in der Vatikanischen Pinakothek ein gut behütetes und viel umschwärmtes Dasein als Ikone der Kirchenkunst zu führen. Zwei Jahrhunderte lang wurde das Bild nicht ausgeliehen, nie ging es auf Reisen. Dass aus Anlass des Deutschland-Besuches von Papst Benedict XVI., die „Madonna von Foligno“ den Vatikan verlassen und in der Gemäldegalerie der Alten Meister in Dresden ihr Schwesterbild treffen darf, ist eine Geste eines Kirchenführers an seine deutsche Heimat – und es ist eine Kunst-Sensation.

Die beiden kostbaren Raffael-Bilder sind nicht allein in Dresden. Zu ihnen gesellen sich knapp 20 weitere Werke, Gemälde, Zeichnungen, Kupferstiche, Bücher und Dokumente. Skizzen Raffaels zu seinen „Madonnen“, korrespondierende Werke von italienischen Malern wie Corregio und Garofalo sind zu sehen, aber auch Arbeiten deutscher Künstler, Albrecht Dürer und Lucas Cranach d. Ä., die „Stuppacher Madonna“ von Matthias Grünewald.

Raffael: Sixtinische Madonna, 1512 (Copyright: Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alter Meister - Foto: Estel/Klut)

Raffael: Sixtinische Madonna, 1512 (Copyright: Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alter Meister - Foto: Estel/Klut)

„Himmlischer Glanz“, so der Titel der Ausstellung, ist wahrlich keine opulente und ausufernde, aber dennoch bedeutende Kunstschau. In klaren Konturen und beispielhafter Deutlichkeit zeigt sie nicht nur klassische Beispiele der Madonnen-Darstellung aus der Zeit Raffaels. Sie belegt auch, wie Werke wichtiger Künstler – auch über die Alpen hinweg – miteinander kommunizierten, wie sie sich in Bildsprache und Themengestaltung, Malweise und Farbgebung aufeinander bezogen. Das ist spannend und lehrreich, kann aber den Blick des faszinierten Betrachters nicht vom magischen Zentrum der Bilderschau lenken: den beiden großformatigen, von zeitloser Schönheit, ästhetischer Erhabenheit und göttlicher Gnade kündenden Madonnen-Bildern.

Hier die „Sixtinische Madonna“, die wahrscheinlich von Papst Julius II. in Auftrag gegeben wurde und für die Klosterkirche San Sisto in Piacenza bestimmt war, quasi als Geschenk dafür, dass die oberitalienische Stadt dem Kirchenstaat beigetreten war: In der Mitte schreitet Maria mit dem Jesuskind auf dem Arm in Richtung der irdischen Welt. Der kniende Papst Sixtus II. und die Heilige Barbara weisen ihr den Weg. Unten lümmeln sich zwei schelmische und sympathische Engelchen, die, aus dem Bild tausendfach herauskopiert, längst zu Pop-Ikonen der Alltagskultur geworden sind.

Und nur eine Armlänge in Dresden entfernt nun die „Madonna von Foligno“: Die Muttergottes, auf Wolken sitzend vor einer Sonnenscheibe, mit dem Kind auf dem Arm. Links Johannes der Täufer und Franziskus, rechts der Heilige Hieronymus und Auftraggeber Sigismondo dei Conti. Und alles strahlt, nach mehreren Restaurierungen, in Rot, Blau und Gold. Gegen die satten und knalligen Farben nimmt sich die matt und grünstichig erscheinende, seit vielen Jahren nicht mehr aufgefrischte „Sixtinische Madonna“ geradezu kleinlaut aus. Gleichwohl verheißt auch dieses Bild ein großes Versprechen, und jeder Betrachter spürt, hier zwei der bedeutendsten Meisterwerke der Renaissance ansichtig zu werden und Zeuge eines einmaligen historischen Moments zu sein: Denn wohl nie wieder werden die beiden Schwestern sich begegnen.

Infos:

+ „Himmlischer Glanz. Raffael, Dürer und Grünewald malen die Madonna“. Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alter Meister, bis zum 8. Januar 2012
+ Öffnungszeiten: tägl. 10 – 18 Uhr, Mo geschlossen
+ Eintritt: 10 Euro, ermäßigt 7,50 Euro.
+ Informationen und Anmeldungen von Führungen unter 0351/49142000 oder besucherservice@skd.museum
+ Katalog, herausgegeben von Henning und Arnold Nesselrath, Prestel Verlag, München, 128 S., 80 Farbabbildungen, 24,95 Euro.
+ Mehr über Raffael und die Renaissance: Giorgio Vasari: „Das Leben des Raffael“, neu übersetzt und kommentiert, Wagenbach Verlag, Berlin 2004, 204 S., 12,90 Euro.




Pinguin-Verlag in Dortmund? Nie davon gehört!

Auch wenn der Lexikon-Vorvater Friedrich Arnold Brockhaus hier geboren wurde, so ist Dortmund nie durch ein reges Buchverlagswesen aufgefallen. Das Defizit gilt bis heute.

Böser Fuchs, guter Hase (Copyright 1963 by editrice AMZ, Milano / Pinguin-Verlag, Dortmund)

Böser Fuchs, guter Hase (Copyright 1963 by editrice AMZ, Milano / Pinguin-Verlag, Dortmund))

Gewiss, vereinzelt wurden in der Stadt Verlage tätig. Um nur die trübe Gegenwart zu betrachten: Die kommerziell erfolgreicheren Zeiten von Harenberg sind längst vorüber. Eigentlich hält nur noch der Grafit-Verlag tapfer die Stellung, der vor allem mit (Regional)-Krimis gewachsen ist.

Und zwischendurch war da ja auch nicht sonderlich viel, oder?

Umso mehr fällt es auf, wenn man doch einmal ein Büchlein aus Dortmunder Produktion in den Händen hält. Durch Zufall ist mir jetzt ein schmales Kinderbuch in die Hände geraten, das irgendwann in den 1960er Jahren im Dortmunder Pinguin-Verlag erschienen ist. Die Lizenz kam aus Mailand und stammte aus dem Jahr 1963.

Pinguin-Verlag? Nie zuvor gehört. Soll man recherchieren und auf eine regionale Goldader hoffen? Wohl kaum. Schon der erste Eindruck beim Blättern und dann beim Befragen der Suchmaschinen lässt ahnen, dass hier geringfügiges Gut betreut worden ist. Offenbar haben sich die Pott-Pinguine vor allem auf dem lokal seit jeher lukrativen Gebiet des Fußballs betätigt und u. a. BVB-Mannschaftsbilder zu Markte getragen.

Erbärmlich kommt das besagte Bilderbuch daher, unbeholfen gezeichnet und gleich zu Beginn sprachlich fehlerhaft. Überdies scheint die spindeldürre Geschichte insgeheim einer windschiefen politischen Codierung zu folgen. Böse Titelfigur ist ein adeliger Fuchs („Baron Fox von Kolon“), der sich durch Spottgesänge des Hasen und seiner Clique dermaßen ehrverletzt fühlt, dass er den Hasen kidnappt. Dafür muss der Fuchs allerdings so gründlich büßen und der Hase darf so dämlich grinsgesichtig triumphieren, dass die Sympathien am Ende eher beim gebeutelten Hochadel liegen. Oder sollten die Kinder das Gegenteil lernen? Man weiß es nicht.

Man will es auch gar nicht wissen. Auch interessiert einen das weitere Schicksal des Pinguin-Verlages nicht. Es wird wohl quälend gewesen sein.

Und also lautet der Beschluss,
dass man nun nichts mehr schreiben muss.




Friedrich Seidenstücker: „Zille an der Linse“ kam aus Unna

Er ist d e r Berliner Fotograf, liebkoste Mensch und Alltag humorvoll und zeitkritisch, ein „Zille an der Linse“ – und quasi der Knautschke (legendärer Urvater vieler Bewohner des Nilpferdhauses im Zoo) der Tierfotografie: Friedrich Seidenstücker. Ihm widmet die Berlinische Galerie vom 1. Oktober 2011 bis 6. Februar 2012 eine Ausstellung, die 226 (nur 21 davon sind Neuprints) seiner Bilder zeigt und mit ihnen einen drallen und im wahren Wortsinne liebevollen Ausschnitt der Metropole von 1925 bis 1958.

Friedrich Seidenstücker (1882 bis 1966) hat in seiner Heimatstadt Unna nur eine kleine Skulptur als Spur hinterlassen, der man nachsagt, dass sie aus seiner formenden Hand stamme. Sein abbildendes Werk entstand in Berlin und blieb dort, weil diese Stadt Friedrich Seidenstückers Universum wurde.

In Hagen hatte er das Maschinenbaustudium begonnen, das er 1904 in Berlin-Charlottenburg fortsetzte. Während des 1. Weltkrieges war er, obschon mit Fotografie und Bildhauerei in Kontakt, Flugzeugkonstrukteur bei der Zeppelin Bau AG in Potsdam, was er einige Jahre später den Nazis verschwieg, so dass er die dunkelste Zeit relativ unbehelligt als (politisch) mäßig beachteter Fotograf „überwintern“ konnte.

Friedrich Seidenstücker: Frühling (1948). Copyright: bpk/Friedrich Seidenstücker

Nach dem Krieg dokumentierte Friedrich Seidenstücker Zerstörung und Wiederaufbau, bekam anlässlich seines 80. Geburtstages eine große Ausstellung, um danach langsam der Vergessenheit der Menschen anheim zu fallen, die im zerschlissenen Berlin mit immer neuen und moderneren Reizen beschäftigt waren.

1971 entdeckte das Bildarchiv Preussischer Kulturbesitz bei einem Trödler Friedrich Seidenstückers Nachlass und erwarb den für 500 Deutsche Mark. Wohl getan, denn dieser Fund ermöglichte die Ausstellung in der Berlinischen Galerie. Und – wesentlich kleiner – eine Erinnerung an den Sohn der Stadt in Westfalen mit vier Buchstaben im dortigen Hellweg Museum. Wann, das weiß ich nicht mehr.

Ausstellung 1. Oktober 2011 bis 6. Februar 2012.
Berlinische Galerie
Landesmuseum für Moderne
Kunst, Fotografie und Architektur
Stiftung Öffentlichen Rechts
Alte Jakobstraße 124-128
10969 Berlin
http://www.berlinischegalerie.de
Tageskarte 8 Euro
Ermäßigt 5 Euro
jeden ersten Montag im Monat 4 Euro
Freier Eintritt bis 18 Jahre

Teaserbild: Friedrich Seidenstücker: Ohne Titel (Die Zwillinge Hilde und Helga Fischer), 1948. Copyright: bpk/Friedrich Seidenstücker




Ins Herz der juristischen Finsternis

Zunächst scheint alles ganz klar: Der seit Jahren in Deutschland lebende und arbeitende Italiener Fabrizio Collini erschießt in einem Berliner Luxushotel den Großindustriellen Hans Meyer. Der Mörder ruft selbst die Polizei und gesteht die Tat.

Danach aber verfällt er in tiefes Schweigen. Vor allem zum Motiv seiner Mordtat will er sich nicht äußern. Wenn Anwalt Caspar Leinen, dem die Pflichtverteidigung des vermeintlichen Mörders zugewiesen wird, gehofft haben könnte, „Der Fall Collini“ sei ein leicht abzuwickelnder juristischer Selbstläufer, sieht er sich schnell getäuscht. Doch nicht nur, dass die Motive der Tat im Dunkeln liegen, macht ihm zu schaffen. Auch dass der Anwalt das Mordopfer kannte und Hans Meyer in seiner Jugend verehrt hat wie einen Vater, wird für Caspar Leinen zu einer schweren Belastung. Denn er ahnt bald, dass ihm im Fall Collini einige unangenehme Wahrheiten bevorstehen, die ihn in die Abgründe der eigenen Biografie und der deutschen Geschichte führen werden.

Natürlich sind die Romanfigur Caspar Leinen und der Autor Ferdinand von Schirach nicht identisch. Aber sie haben doch einiges gemein. Der 1964 in München geborene von Schirach arbeitet seit 1994 als Strafverteidiger in Berlin, verteidigt Mörder und Drogendealer, kleine und große Wirtschafts- und Polit-Kriminelle. Dass von Schirach genauso akribisch an der Wahrheitsfindung interessiert ist wie seine literarischen Figuren, davon zeugen die Erzählbände „Verbrechen“ (2009) und „Schuld“ (2010), mit denen der schreibende Anwalt die Bestseller-Listen stürmte, den angesehenen Kleist-Preis erhielt und sich schlagartig in die erste Reihe deutscher Literaten katapultierte. Der lakonische Ton, die kühle Distanz und die Genauigkeit seiner wie mit einem Seziermesser aufs Papier geritzten Erzählungen erinnern an die Short-Stories von Raymond Chandler. Gespannt durfte man sein, wie er sein literarisches Besteck auf der Langstrecke eines Romans beherrscht. Und in welche juristischen und menschlichen Labyrinthe er sich wohl diesmal begibt.

Dass sich der Autor auf ein Gebiet wagt, das ihm wie ein biografischer Klotz am Bein hängt und über das er öffentlich nur ungern spricht, ehrt ihn. Es muss ihm zugleich wie eine Befreiung vorgekommen sein. Denn mit dem „Fall Collini“ taucht nicht nur die literarische Figur Caspar Leinen, sondern auch der schreibende Enkel des verurteilten NS-Verbrechers Baldur von Schirach in die Zeit des Nationalsozialismus, des Hitler-Krieges und des Massenmordes ein. Der von Fabrizio Collini erschossene Hans Meyer war nämlich, wie Caspar Leinen nach beschwerlichen Recherchen und staubigen Exkursionen in deutschen Archiven herausfindet, nicht nur der von ihm geliebte gutmütige alte Mann und der in Wirtschaftskreisen hoch angesehene Industrielle. Er hatte auch eine mörderische Nazi-Vergangenheit. Als „SS-Sturmbannführer“ hatte Meyer in Italien Erschießungen veranlasst und Schuld auf sich geladen. Aber er hatte, obwohl Collini ihn schon vor Jahrzehnten als Mörder seiner Familie angezeigt hatte, nie dafür büßen müssen. Die Tat galt als verjährt, die Schuld als unerheblich. Dafür hatten die von ehemaligen Nazis ins bundesdeutsche Gesetzbuch geschmuggelten Bestimmungen gesorgt.

Ferdinand von Schirach nimmt den Leser mit auf eine Reise ins Herz der juristischen Finsternis. Denn seinem Alter Ego Caspar Leinen geht es darum, die Mordmotive aufzuklären und die Schwere der Schuld seines Mandanten zu eruieren. Wenn es um die Beschreibung der juristischen Fallstricke und die Aufklärung der Nazi-Verbrechen geht, ist der Autor in seinem Element. Doch so präzise er hier ist, so klischeehaft geraten ihm die menschelnden Einschübe in seine Mord- und Rache-Geschichte. Caspar Leinen erinnert sich an seine unbeschwerten Kindertage mit Philipp, seinem früh verstorbenen Freund und Enkel von Hans Meyer. Und daran, wie er sich in Philipps Schwester Johanna verliebte, dieselbe Johanna, die jetzt nicht verstehen kann, warum Caspar den Mörder ihres Großvaters verteidigt, die ihm schwere Vorwürfe macht – und dann doch mit ihm ins Bett geht. Der Leser könnte gut auf diese banalen Erinnerungssequenzen und erotischen Gemeinplätze verzichten. Aber dann wäre aus dem Roman vielleicht doch nur wieder eine Erzählung geworden.

Ferdinand von Schirach: „Der Fall Collini“. Roman. Piper, München, 2011, 197 S., 16,99 Euro.

Als Hörbuch: Ungekürzte Lesung von Burghard Klaußner. Osterwold, 3 CD, 19,99 Euro.

Infos:
+ Ferdinand von Schirach, geboren 1964 in München, Enkel des NS-Reichsjugendführers Baldur von Schirach.
+ Seit 1994 Strafverteidiger in Berlin.
+ Betrat mit den Erzählbänden „Verbrechen“ (2009) und „Schuld“ (2010) die literarische Bühne.
+ „Der Fall Collini“ ist der erste Roman des Autors.
+ Kleist-Preis für „Verbrechen“ 2010.
+ Doris Dörrie arbeitet an der Verfilmung einer Geschichte aus „Verbrechen“.
+ Das ZDF plant eine Serie mit Filmversionen der Erzählungen.
+ Unter dem Titel „Einspruch“ schreibt von Schirach regelmäßig Kolumnen im „Spiegel“.




Das Ruhrgebiet war gegen Nazis nicht immun: Schon 1932 füllte Hitler die Westfalenhalle

Die Neonazis beunruhigen Dortmund – zu Recht. Ein kleiner historischer Abstecher zeigt nämlich, dass das Ruhrgebiet keineswegs immun war gegen die Nazis um Hitler.

Die alte Westfalenhalle (Foto: Stadtárchiv Dortmund)

Vor gut 85 Jahren, Mitte Juni 1926, kam der Anführer der Nationalsozialisten zum ersten Mal ins Ruhrgebiet. Wegen seiner persönlichen Kontakte zu den Hattinger „Parteigenossen“ begann Hitler seine Rundreise in der Stadt Hattingen. Im Lokal „Märker“ traf er sich mit den örtlichen NSDAP-Mitgliedern, und auf der Treppe vor dem Lokal entstand ein Erinnerungsfoto, auf dem zum ersten Mal auch die Mädchengruppe der NSDAP Hattingen zu sehen ist. Anschließend fuhr Hitler weiter nach Bochum, Elberfeld und Essen, wo er jeweils vor großen Versammlungen seine umjubelten Reden hielt. Die Polizei hatte darauf bestanden, dass diese Kundgebungen als „Mitgliederversammlungen“ aufgezogen wurden, was den Ortsgruppen natürlich entgegen kam. An den Eingängen mussten die Zuhörer Personalausweis, den Partei-Mitgliedsausweis und eine Einlasskarte vorzeigen, und dennoch waren die Versammlungen überfüllt. Wer noch nicht Mitglied war, wurde gleich an der Kasse aufgenommen. Allein für Bochum schätzte die Polizei die Teilnehmerzahl im Evangelischen Gemeindehaus auf etwa 1000.

Im März 1932 war Hitler wieder einmal im Ruhrgebiet, und diesmal sprach er in der Westfalenhalle vor mehr als 18.000 begeisterten Anhängern. Es ging um die Reichspräsidentenwahl, in der Hitler später gegen den Amtsinhaber unterlag.

Bei den letzten freien Reichstagswahlen am 6. November 1932 erhielt die NSDAP entgegen ihren Erwartungen „nur“ 33,1 Prozent der Stimmen. Sie verlor reichsweit 34 Mandate, allerdings lagen die Verluste der Nazis im Ruhrgebiet unter dem Reichsdurchschnitt. Es gibt also im Revier keinen Grund, von einer besonderen Resistenz auszugehen.




Träumen ohne Sigmund Freud

Psychoanalytiker und Patienten, die hofften, auf der Couch verquasten Träumen und verdrängten Wünschen auf die Spur zu kommen, müssen dieser Tage ganz tapfer sein. Nicht genug, dass der französische Philosoph Michel Onfray meint, Sigmund Freuds Lehre sei bloß ein auf Hirngespinsten und Obsessionen basierendes Konstrukt und der Ödipus-Komplex eine Legende. Jetzt haben auch noch Neurologen und Psychologen der Universität Zürich Freuds Traumdeutung entzaubert.

Freuds These, wir würden in unseren Träumen einen Weg zum Unbewussten finden und, symbolisch verschlüsselt, unsere geheimsten Wünsche und Aggressionen bearbeiten, ist für die Zürcher Wissenschaftler reiner Humbug. Nach Verkabelung und Untersuchung hunderter Schlafpatienten fanden sie heraus, dass Träume sehr wenig mit der Verarbeitung von Realität zu tun haben: Der Traum ist eine Form kreativen Denkens, der Träumende löst sich von eingefahrenen Denkmustern und erlebt und verarbeitet Themen in neuen Zusammenhängen: Nicht ohne Grund hat Paul McCartney behauptet, er habe die Melodie von „Yesterday“ geträumt.

Träume, so die Zürcher Erkenntnis, sind „die Wächter des Schlafes“. Mit den Worten eines von den Schlafforschern befragten jungen Mädchens kann man auch sagen: „Wir träumen, damit uns im Schlaf nicht langweilig wird.“

(Teaser-Foto: Bernd Berke)




Erhabene Schönheit der Renaissance

Diese Schönheit und Anmut, dieser Stolz, dieses Selbstbewusstsein, diese Eleganz. Seit Wochen beherrschen die von zeitloser Erhabenheit erzählenden „Gesichter der Renaissance“ das Berliner Stadtbild. Überall hängen Plakate und Transparente.

Jetzt endlich ist die Zeit des neugierigen Wartens vorbei. Und das Ergebnis lässt den Betrachter vor Ehrfurcht in die Knie gehen: Das auf der Berliner Museumsinsel gelegene Bode-Museum öffnet die Pforten zu einer opulenten Bilderschau und zeigt mehr als 170 Hauptwerke der Renaissance, Gemälde, Zeichnungen, Medaillen und Büsten, die erstmals zusammen zu sehen sind. Zu den Leihgebern der fragilen und nur selten auf Reise geschickten Kunstwerke gehören die Florentiner Uffizien und der Pariser Louvre, die National Gallery in London und die Sammlung Czartoryski aus Krakau.

Leonardo da Vinci: "Dame mit dem Hermelin" (Portrait der Cecilia Gallerani), 1489/90, Copyright bpk/Scala

Leonardo da Vinci: "Dame mit dem Hermelin" (Portrait der Cecilia Gallerani), 1489/90, Copyright bpk/Scala

Ob Sandro Botticelli oder Filippo Lippi, Domenico Ghirlandaio oder Gentile Bellini, Antonio del Pollaiuolo oder Andrea d´Assisi: Kaum einer der großen italienischen Meister, die im 15. Jahrhundert die Kunst revolutionierten, sie aus den Zwängen der Kirche befreiten und das selbstbewusste Antlitz des Finanzadels künstlerisch veredelten, fehlt in der grandiosen Schau. Natürlich auch nicht Leonardo da Vinci. Seine „Dame mit Hermelin“ (1489/90) ist Höhe- und Schlusspunkt der Kunst-Exkursion, die zu einem ästhetischen Erlebnis wird. Dass das Bildnis der etwas spöttisch und missgelaunt über ihre Schulter in eine abstrakte Ferne schauenden Cecilia Gallerani überhaupt von Krakau nach Berlin reisen durfte, ist eine Sensation: leider eine von begrenzter Dauer. Denn schon Ende Oktober (vier Wochen vor Ende der Ausstellung) muss das Bild zur großen Leonardo-Schau nach London reisen. Und ins Metropolitan Museum of Art darf die schöne Dame schon gar nicht: Für die zweite Station der Ausstellung über die „Gesichter Renaissance“ in New York (19.12. 2011-18.3.2012) wird es ein neues Glanzstück geben müssen.

Sandro Botticelli "Profilbildnis einer jungen Frau" (Simonetta Vespucci?), um 1476, Copyright Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Jörg P. Anders

Sandro Botticelli "Profilbildnis einer jungen Frau" (Simonetta Vespucci?), um 1476, Copyright Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Jörg P. Anders

Trotzdem: Für Michael Eisenhauer, Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin, ist das, was in Berlin seinen Anfang nimmt und in New York weitergeführt wird, die „weltweit größte und bedeutendste Ausstellung zur Portrait-Kunst der italienischen Renaissance“. Da hat er Recht.

Den Ausgangspunkt bildet Florenz, weil dort das autonome Portrait erstmals in großer Zahl auftritt. Danach richtet sich der Blick auf die Höfe von Ferrara, Mantua, Bologna, Mailand, Neapel und des päpstlichen Rom. Schließlich geht es nach Venedig, wo sich die Portrait-Kunst erst mit Verspätung etablierte. Der durch ein schummriges Halbdunkel flanierende Betrachter macht überall wunderbare Entdeckungen, sieht inszenierte Machtfülle (Botticellis „Bildnis des Giuliano de´Medici“) und überirdische Schönheit (Pollaiuolos „Bildnis einer Dame“).

Andrea Mantegna: "Bildnis des Kardinals Ludovico Trevisano", um 1459, Copyright Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Jörg P. Anders

Andrea Mantegna: "Bildnis des Kardinals Ludovico Trevisano", um 1459, Copyright Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Jörg P. Anders

Der Kunstflaneur wird Zeuge, wie sich das Einzelportrait, das früher nur Herrschern und historischen Persönlichkeiten vorbehalten war, zur autonomen, vielgestaltigen Kunstform entwickelt. Doch wer Italiens künstlerischen Beitrag zur Erfindung von Individualität und Identität miterleben will, braucht Geduld. Aus konservatorischen und ästhetischen Gründen werden immer nur 300 Besucher auf einmal zugelassen. Da werden sich lange Schlangen bilden.

Filippo Lippi: "Bildnis eines Mannes und einer Dame", um 1440, Copyright The Metropolitan Museum of Art, New York

Filippo Lippi: "Bildnis eines Mannes und einer Dame", um 1440, Copyright The Metropolitan Museum of Art, New York

Die Wartezeit kann man sich dann mit einer aufs Mobiltelefon herunter geladenen kostenlosen Online-Applikation versüßen: Die „App“ hat unzählige Kunstwerke und Kommentare, Künstlerbiografien und Videos im Angebot. Ob der Kunstliebhaber allerdings auch Statements von Hair-Stylist Udo Walz oder Modemacher Wolfgang Joop hören und sehen will, sei dahin gestellt. Diesen zeitgeistigen Firlefanz hat die zeitlos schöne Ausstellung gar nicht nötig.

Infos:

+ „Gesichter der Renaissance – Meisterwerke italienischer Portrait-Kunst“, bis 20. November 2011, Fr – Mi 10 -18 Uhr, Do 10 – 22 Uhr.
+ Bode-Museum, Museumsinsel Berlin, Am Kupfergraben 1, 10117 Berlin,
+ Rund 170 Meisterwerke der italienischen Renaissance (Gemälde, Zeichnungen, Medaillen, Büsten), zusammengetragen aus über 50 Museen.
+ Danach im New Yorker Metropolitan Museum of Art, 19.12. 2011-18.3.2012,
+ Service und Tickets unter www.smb.museum/gesichter,
+ Eintritt: 14 Euro, ermäßigt 7 Euro,
+ Katalog: In der Ausstellung 29 Euro, im Buchhandel 47,50 Euro




Bochum stand für Gebirge und Straßenbahn

Bochumer Zeche Prinzregent in den 50-er Jahren

Der Blick auf das Ruhrgebiet ist ja immer relativ. Bei mir zum Beispiel als im flachsten Münsterland geborenem Dorfkind stand früher das Revier für Gebirge und Straßenbahn, für Kohlezechen und Kaninchen.

Meine Mutter stammte aus Bochum-Weitmar und hatte nach der kriegsbedingten Evakuierung 1942 ins Münsterland geheiratet. Was lag bei armen Leuten wie uns also näher, als einen Teil der Sommerferien statt am Meer bei den Großeltern und anderen Verwandten im Kohlerevier zu verbringen. Wenn ich dann mit meinem Opa spazieren ging und er mir die Gegend zeigte, die Stoppelfelder und Kohlehalden, die Bergmannshäuschen und Kriegsruinen, dann waren die Hügel und Täler nördlich der Ruhr für mich echtes Gebirge. Andere Höhen kannte ich nicht, die Alpen kamen erst später in den Blick.

Auch Straßenbahnen waren für einen Dorfbubi eine Sensation. Vor allem die Klingel, die vom Schaffner mit einem längs laufenden Lederband bedient wurde, fand ich faszinierend. Und erst die Kaninchen im Stall hinter dem Haus der Großeltern. Mit Hingabe verbrachte ich Stunden beim Füttern, und diese Annäherung hinderte mich nicht, später beim Verzehr zu helfen.

Meine Onkel und der Großvater waren allesamt auf Zeche beschäftigt. „General“ und „Prinzregent“ hießen im Bochumer Süden die beiden großen Förderanlagen. Weiße Hemden bekamen schnell einen schwarzen Rand, wenn wir zu Fuß von Weitmar zur Tante nach Wiemelhausen gingen, denn vom Zechenglände wehte immer etwas Kohlenstaub durch die Luft.

Zu Hause spielten wir in den umliegenden Wäldern und an den Bächen, und doch waren die Besuche in Bochum das Größte. Wie gesagt, der Blick auf das Ruhrgebiet ist immer relativ.




Ein Ausflug an den Südrand des Reviers

Ausstellung "Textil verbindet" im Industriemuseum Ennepetal

Ein kleiner Ausflugstipp: Seit einigen Jahren gibt es am Südrand des Reviers in Ennepetal in einer alten, denkmalgeschützten Gießerei ein beachtenswertes Industriemuseum, das von April bis November an jedem ersten Sonntag im Monat geöffnet hat und – zur Zeit noch – kostenlos besucht werden kann. Es wird geführt von einem privaten Förderkreis, man kann Former- und Gießer-Vorführungen erleben, und auf dem Freigelände an der Neustraße treffen sich zu den Öffnungszeiten Besitzer von PKW- und Traktor-Oldtimern mit ihren Fahrzeugen.

Das Museum liegt auch nur wenige Minuten vom Eingang der Kluterthöhle entfernt, einer der längsten Naturhöhlen Deutschlands.




Der „Simplicissimus“ im Ruhrgebiet

Im berühmten Schelmenroman vom „Simplicissimus“ über den Dreißigjährigen Krieg erwähnt der Autor Grimmelshausen auch den kaiserlichen General Melchior von Hatzfeld. Dieser General hinterließ seine Spur aber nicht nur in der Literatur, sondern auch im heutigen Ruhrgebiet, genauer an dessen Rand, in Hagen und in der heutigen EN-Kreishauptstadt Schwelm.

Der Dreißigjährige Krieg, in dem es vordergründig um die Religionsausübung ging, hatte 1618 begonnen. In den Jahren ab 1622 war auch der Raum südlich der Ruhr zunächst durch die Besetzung mit katholischen (spanischen) Truppen betroffen. In der Stadt Schwelm hielt jedoch die protestantische Bevölkerung auch nach dem Abzug der Spanier an ihrer reformierten Konfession fest.

Titel des "Simplicissimus"

Darüber ärgerten sich die verbliebenen Katholiken so sehr, dass sie 1630 die kaiserlichen Soldaten aus dem bergischen Radevormwald und aus Lennep herbeiriefen, die dann „die Stadt ganz und gahr ausplünderten“, wie der Historiker Gerd Helbeck in seinem lokalgeschichtlichen Werk zitiert. Der Erbkirchrat der Schwelmer Kirche, Junker Georg von Vaerst, wurde gefangen genommen, sein Wohnhaus total verwüstet.

Erst 1631 gab der Droste von Wetter der lutherischen Gemeinde Schwelm ihre Kirche zurück, denn inzwischen hatten die protestantischen Schweden in den Krieg eingegriffen und die Position des hier in der Grafschaft Mark herrschenden Kurfürsten von Brandenburg gestärkt. Unter anderem erlebten die Schwelmer 1632 den Einzug eines Finnischen Regiments.

Nicht nur Schwelm, auch viele andere Städte mussten in diesem Krieg immer wieder Plünderungen und Brandstiftungen hinnehmen oder sich durch Zahlungen an die Soldaten und ihre Anführer frei kaufen. Dann gab es einen Schutzbrief, von denen mehrere in Schwelm erhalten geblieben sind.

Zu den Schutzmaßnahmen der Stadtbürger gehörten auch die Ausgaben für Boten und Kundschafter, damit man frühzeitig von der heranziehenden Soldateska oder von marodierenden Freibeutern erfuhr. Die Bürger suchten dann Fluchtorte aus, zum Beispiel in der Kluterthöhle in Altenvoerde (heute Ennepetal), und sie versteckten ihre Wertgegenstände. So ist zu erklären, dass sich immer wieder Münzen und Gegenstände aus dieser Kriegszeit in Verstecken oder im Boden finden.

Im September 1640 zog der zu Beginn erwähnte General von Hatzfeld in Schwelm ein. Mit seiner Einheit wollte er weiter nach Hagen, und um den Weg zu finden, musste ihn ein Schwelmer Bürger begleiten. Dieser Dienst wurde entlohnt, und über das Entgelt ist ein Eintrag in der Schwelmer Stadtrechnung erhalten. Insgesamt hat die Stadt Schwelm in den Jahren 1640/41 für Erpressungen, Kontributionen und sonstige kriegsbedingte Zahlungen fast 1700 Reichtaler ausgegeben.

Mit dem Friedensvertrag von Münster und Osnabrück endet 1648 der Dreißigjährige Krieg. Für den Bekenntnisstand wurde darin als Stichjahr 1624 festgelegt, und für Städte mit gemischten Konfessionen wurde die Gleichheit der Bekenntnisse hergestellt. Daher gab es auch in Schwelm nach Kriegsende weiter eine reformierte und eine katholische Gemeinde.




Als der Widerstand wuchs: Gesichter der „Wende“

Des welthistorischen Tages wollen wir auch an dieser Stelle gedenken: Vor 50 Jahren, am 13. August 1961, hat das DDR-Regime mit dem schändlichen Mauerbau begonnen. Doch wir zäumen die Sache von hinten auf und betrachten ein Buch über die „Wende“ von 1989, die diese Mauer schließlich zu Fall gebracht hat.

Gesine Oltmanns (Foto: Dirk Vogel)

Gesine Oltmanns (Foto: Dirk Vogel)

Der Dortmunder Fotograf Dirk Vogel porträtiert in dem Bildband „Gesichter der Friedlichen Revolution“ insgesamt 63 Protagonist(inn)en jener bewegenden Phase deutscher Geschichte. Es sind durchweg aufrechte, anständige Charaktere, deren Lebensleistung hohen Respekt verdient. Unter teilweise großem persönlichem Risiko haben sie Courage in einer Diktatur bewiesen. Auch wenn einige es selbst nicht gerne hör(t)en, so darf man sie wohl Heldinnen und Helden der Zeitgeschichte nennen, Vorbilder weit über den Tag hinaus. Doch selbst Helden sind mitunter fehlbar.

Die kurzen Begleittexte zu den fotografischen Porträts stammen von 23 verschiedenen Autoren, sind also zwangsläufig von schwankender Qualität. Hie und da würde man sich wünschen, die Dargestellten mit deren eigenen Äußerungen wiederzufinden. So klingt manches etwas steril, weil praktisch nur von makellosen Menschen die Rede ist. Das liest sich schon mal wie Hagiographie oder landläufige Nachrufprosa. Ein Buch über Leute, die entschieden Widerspruch erhoben und Widerstand geleistet haben, dürfte ruhig etwas kontroverser sein. Hier aber hat es den Anschein, als würden (hochinteressante) Biographien im Idealzustand eingefroren und somit gleichsam stillgestellt.

Doch mit und zwischen den Zeilen lernt man auch hinzu. Von prägnanten Einzelheiten abgesehen, entsteht nämlich eine Art Typologie des Widerstands. Es werden die verschiedenen Triebkräfte sichtbar, die zur Friedlichen Revolution geführt haben. In erster Linie sind hier kirchliche Anstöße zu nennen. Auch sind die widerständigen Kräfte zuvörderst bürgerlich im traditionell besten Sinne.

Carlo Jordan (Foto: Dirk Vogel)

Carlo Jordan (Foto: Dirk Vogel)

Bei vielen stand am Beginn des Aufbegehrens die Verweigerung des Waffendienstes bei der NVA (Nationale Volksarmee der DDR), also ein im weiteren Sinne friedensbewegter Ansatz. Andere kamen über umweltpolitische Fragen (Tschernobyl, Bitterfeld, AKW-Bau bei Stendal), Frauengruppen oder kulturelle Impulse allmählich zur grundlegenden Kritik am SED-Staat. Fast alle sind von der Stasi drangsaliert worden und haben Haftstrafen verbüßt. Doch man erfährt auch, dass jede auf Einschüchterung angelegte Repression verschärften Widerstand erzeugen kann. Eines steht fest: „Ostalgie“ kann hier wirklich nicht aufkommen.

Im Gegensatz zu den Texten sind Dirk Vogels eindringliche Schwarzweiß-Fotografien (grundsolide aufgenommen mit Leica-M-Modellen der Jahre 1956 und 1963), obgleich den Personen jeweils individuell angemessen, nahezu „aus einem Guss“. Es wird durchweg ein beachtliches Niveau gehalten, Vogel erweist sich als Porträtist von einigen Graden. Schmerzliche und freudige Lebenserfahrungen (welch eine Euphorie hat 1989 geherrscht, die hernach vielfach enttäuscht wurde) meint man den Gesichtern anzusehen, zuweilen auch Charisma, Trotz oder Verzagtheit, mehr oder weniger milde Ironie über die wechselhaften Zeitläufte, doch praktisch keine Verbitterung. Und immer wieder leuchtet in den Gesichtern die spürbare Bereitschaft zur Mitmenschlichkeit auf. Lebensschätze, die in Wort und Bild aufgehoben werden müssen. Nicht zuletzt als Wegzehrung für kommende Zeiten.

Dirk Vogel hat Erfahrungen mit womöglich heiklen, jedenfalls vielschichtigen Themen gesammelt. So hat er sich fotografisch intensiv und leidenschaftlich mit jüdischem Leben in Deutschland, mit Sinti und Roma sowie mit dem Alltag behinderter Menschen befasst. Das alles verlangt Gespür für Nuancierungen und Empfindlichkeiten. Bemerkenswert überdies, dass ein Fotograf aus dem deutschen Westen dieses hauptsächlich östliche Feld bestellt. Vogel war 1989 Bundeswehr-Soldat in Niedersachsen. Als immer mehr DDR-Flüchtlinge kamen, sollte die Kaserne vielen von ihnen zunächst als erste Bleibe im Westen dienen. Die Begegnungen von damals waren prägend.

Walter Schilling (Foto: Dirk Vogel)

Walter Schilling (Foto: Dirk Vogel)

Ein wenig beneidet man den Fotografen, dass er für sein aufwendiges Projekt all diese Menschen der „Wendezeit“ persönlich kennen lernen durfte. Um nur einige aufzuzählen: Wolf Biermann, Marianne Birthler, Bärbel Bohley, Rainer Eppelmann, Lilo Fuchs, Katja Havemann, Roland Jahn, Freya Klier, Stephan Krawczyk, Vera Lengsfeld, Markus Meckel, Matthias Platzeck, Lutz Rathenow, Friedrich Schorlemmer, Konrad Weiss. Und all die anderen. Sie hatten jeweils die Wahl des Ortes und des Ambientes, doch die Kompositionen waren Aufgabe des Fotografen. Man ahnt dieses (niemals feindselige) Widerspiel in manchem Bild.

„Gesichter der Friedlichen Revolution. Fotografien von Dirk Vogel“. Mit einem Essay von Claudia Rusch. Herausgeber: Robert-Havemann-Gesellschaft e. V. (Archiv der DDR-Opposition). 144 Seiten, 19,80 Euro (ISBN: 978-3-938857-10-6)

Hier nochmals der Link zu sämtlichen Fotos des Bandes:
http://vogel-d.de/Frei/index.html
Ausgewählte Bilder sind verschiedentlich ausgestellt worden, u. a. in Berlin.
Am 3. Oktober 2011 (ab 19 Uhr) hält der Fotograf Dirk Vogel einen Vortrag beim Bochumer Kulturrat (Lothringer Straße 36 c) und stellt einige Bilder aus, siehe auch: http://www.kulturrat-bochum.de/index.php?id=141
Nach den Sommerferien 2012 (!) wird die Städtische Galerie Iserlohn alle 63 Porträts zeigen.

Alle Abbildungen sind dem besprochenen Band entnommen (Fotos: Dirk Vogel)




Der Dirigent im kalten Bachwasser

Zum Thema Sergiu Celibidache läuft in der Westfälischen Rundschau derzeit eine interessante Sonderseite „Kultur extra“. Dazu hier eine erweiternde Anekdote:

Sergiu Celibidache

Als nach dem Ende des Krieges 1945 in den Großstädten des Rhein-Ruhrgebietes die Opern und Konzertstätten durch Bomben und Brände zerstört waren, mussten Theaterensemble und Orchester auf umliegende Kleinstädte ausweichen.

So kam es, dass in der Industriegemeinde Milspe (gehört seit 1949 zu Ennepetal) das ehemalige „Gefolgschaftshaus“ der Firma ABC („Spax“-Schrauben) unter dem neuen Namen „Haus der Kunst“ ein vielbesuchter Veranstaltungsort wurde. Mehr als 40 000 Besucher kamen in den ersten beiden Nachkriegsjahren, um Schauspieler aus Wuppertal, Düsseldorf oder Essen zu sehen.

Zu den „Gastspielern“ gehörten mehrfach auch die Berliner Philharmoniker. Ihr Dirigent war Sergiu Celibidache, der vor seinem ersten Auftritt an einem warmen Sommerabend den Wunsch nach einem erfrischenden Bad im Freien äußerte. Man führte ihn zu einem nahen Hammerteich, den auch die Kinder und Jugendlichen des Dorfes zum Schwimmen nutzten. Natürlich war das Bachwasser ziemlich kalt, aber Celibidache war zufrieden und schritt am Abend erfrischt zum Dirigat.




Die norwegische Katastrophe oder: Warum der Tod von Amy Winehouse zur Randnotiz wurde

Es sollten einige Gedanken werden, über Janis Joplin, Jimi Hendrix, Jim Morrison, Kurt Cobain und nun Amy Winehouse, die jede und jeder nur 27 Jahre alt wurden. Und dass sie allesamt so grenzwertig gute MusikerInnen waren und wohl nur deshalb das leisten konnten, was sie so virtous beherrschten, weil sie parallel dazu das taten, was sie so frühzeitig umbrachte. So blieben sie legendär, und auch Amy Winehouse wird legendär bleiben, ob sie bei You Tube nun volltrunken auf der Bühne zu sehen ist, oder ihre Wahnsinnstimme wuchtig gegen jeden Lebensfrust ansingt.

Aber ehrlich gesagt, je länger die Anschläge in Norwegen vor drei Tagen nachbebten, desto intensiver beschatteten sie jede andere Nachricht. Ich weiß gar nicht, ob ich alle Gründe aufzählen kann, ob sie sich mir erschließen, mir überhaupt je bewusst werden kann, warum der Schatten so weit reicht. Ich will doch versuchen, mich dem ein bisschen zu nähern.

Es gab schon viele Katastrophen und menschenverursachte Anschläge, die ähnlich viele und noch mehr Menschenleben beendeten. Dennoch halte ich das nun Geschehene für bisher einmalig. Denn dieser blond-blauäugig-christliche „Schützer“ des Abendlandes, ein Mustergermane, vermutlich in der eigenen Nachbarschaft auch ein Muster-Norweger, er hat seine offenbar minutiös voraus geplanten Morde anscheinend als eine Art Marketing verstanden. Er gab eilends auf, als Polizisten ihn stellten, provozierte keinen finalen Rettungsschuss eines nervösen Beamten – was ja angesichts dessen, was auf dieser Insel geschehen war, eine verständliche Reaktion hätte sein können. Nein, Anders Behring Breivik wollte die Chance wahren, seine „Botschaft“ zu verkünden, den Menschen zu erläutern, warum er sein Handeln für unausweichlich hielt. Der Mann ist kein Amokläufer, der den eigenen Tod als Fanal und Finale der Tat mit einplant. Er fühlt sich als messianischer Verkünder einer Botschaft – in seinen Augen der Botschaft drohenden gesellschaftlichen Unheils.

Es gab schon viele menschenverursachte Taten, viele, die unmenschlich erschienen. Aber dieser Anders Behring Breivik blieb anscheinend zu jeder Sekunde dieses schrecklichen Tages kühl, voraus berechnend emotionslos. Er schaute jungen Menschen in die Augen und tötete sie mit einer Pistole, er peilte sie über die Zeileinrichtung seines Gewehrs an und sah wohl mehr oder weniger ungerührt zu, wie sie umfielen. Das ist schon eine andere Dimension als die eines Bombenanschlages, wenn auch in der grausamen Wirkung gleich. Diese Art des Anschlages setzte er nach polizeilichen Ermittlungen kurz zuvor in der Hauptstadt Oslo um, damit auch die Regierung wisse, dass sie gemeint sei. Anders Behring Breivik suchte geradezu diesen „Kontakt“, wollte keine Anonymität. Er war ja auch in seinen eigenen Augen kein Täter, sondern Botschafter, vielleicht sogar Prophet. Und die Opfer, junge Menschen, die fröhlich den Sommer im Ferienlager verbringen wollten, sie waren keine Opfer, sondern – in der kruden Fantasie des „Jägers“ – Bannerträger des Kulturmarxismus, was immer das auch sein mag.

Der Mensch als solcher hat wohl von jeher seinen jeweiligen Gesellschaften Gläubigkeit verordnet, höheren Wesen die Verantwortung für das Schicksalhafte weitergegeben, Weltanschauungen erdacht, damit erklärbar wurde, was zu den jeweiligen Zeiten noch nicht so schlüssig erklärbar schien – kurz, er schuf sich Religionen. Und weil im Laufe der Jahrtausende immer mehr und immer neue Anschauungen hinzu kamen, einige Religionen es unternahmen, missionarisch tätig zu werden, wuchs langsam aber sicher immer stärker die Angst vor dem Neuen und Unbekannten – was keineswegs auf eine Region oder eine Religion beschränkt blieb.

Und weil die jeweils missionierende Religion ihre Anschauung oder ihre Weltsicht für die einzig wahre und gültige hielt, wuchsen aus der jeweiligen Heimat und der Sicht auf die Dinge und weltlenkenden Göttlichkeiten Alleinvertretungsansprüche. Und entlang des geschichtlichen Strahls entdeckten die Alleinvertreter natürlich auch Minderheiten, vor denen man die Mitmenschen Furcht lehren konnte, die für Pest oder ähnliche zeitgenössische Bosheiten der Umwelt verantwortlich waren. Derzeit werden im westlichen Europa gern mal die Muslime haftbar gemacht…

So auch bei Anders Behring Breivik, der nach den bisherigen Erkenntnissen gern das Armageddon voraussagte, natürlich in Form anonymer, quasi vermasster islamischer Horden, die vor nichts und niemandem Halt machen. Norwegen wird zu klein für den „Ansturm“, 1,6 Prozent Muslime bei knapp fünf Millionen Einwohnern. Dabei ist gerade Norwegen in unsere Augen doch traditionell tolerant, ist als reiches Land relativ geschützt vor um sich greifendem Sozialneid, scheint durch seine ungeheure Weite eher erfreut über Zuwanderungsinteresse. Wird auch sicher alles so sein, aber es wird immer hoffähiger nicht so zu sein, ob das in Finnland, in Dänemark, Norwegen oder direkt vor unserer Türe geschieht.

„Hoffähig“ würden solche Gedanken gemacht, sagte heute Morgen jemand im WDR-Tagesgespräch. Unter anderem durch jene, „die schreiben, was sich offen auszusprechen andere nicht trauen“. Sofort fiel das Stichwort „Sarrazin“. Diese Gattung pseudowissenschaftlicher Schnellschreiber, die Millionen damit verdienen, dass sie als sehr ernst zu nehmende Persönlichkeiten und mit verfeinertem Sprachgebrauch das aussprechen, was andere nur am Tresen gut abgefüllt von sich lallen würden. Oder nicht so ernst zu nehmende Menschen wie Udo Ulfkotte es publizieren oder in den Internet-News des Kopp-Verlags von Eva Hermann verlesen lassen. Islamophobie hat Modecharakter, man kann sich eines Vokabulars bedienen, das verwissenschaftlicht klingt und kann dennoch braune Gedanken gut blondiert verkaufen.
Jedem so gestrickten Veröffentlicher sollte massiver Widerstand begegnen, eine Form Widerstand, die ihn lächerlich macht, seine gedankenlose Fehlsicht publik macht, sein Vokabular auf das reduziert, was es darstellt: grunddumme Hetze.

Das waren sie, ein paar Gedanken der schlafarmen Nacht. Amy Winehouse kam in dem Gedankenwust auch immer wieder vor. Aber sie geriet zur Randnotiz. Gleichwohl bedauere ich ihre zukünftige Abwesenheit ebenso wie die von Janis Joplin damals – lang her.

Tagespresse vom 25. Juli 2011 (Bild: Bernd Berke)




Neulich im Kreuzworträtsel: Wo endet das Ruhrgebiet?

Neulich im Kreuzworträtsel die Frage: Stadt im Sauerland mit neun Buchstaben. Als Lösung sollte man dort „Ennepetal“ eintragen, aber liegt Ennepetal im Sauerland?

Wie der ganze Ennepe-Ruhr-Kreis gehören Ennepetal und die anderen acht Städte politisch zum Ruhrgebiet, sind also Mitglied im „Regionalverband Ruhr“. Landschaftlich fühlt man sich in Städten wie Breckerfeld und Ennepetal oder im Hagener Süden aber tatsächlich wie im Sauerland. Wer durch die Kreisstadt Schwelm bummelt und die verschieferten Fachwerkbauten mit den grünen Fensterläden bewundert, der wähnt sich eher im Bergischen Land. Ähnlich sieht es an den anderen Rändern des Reviers aus: Haltern ist doch kulturell und landschaftlich mehr eine münsterländische Stadt, und Xanten oder Wesel liegen natürlich am Niederrhein.

Das Ruhrgebiet ist eben eine künstliche Struktur, orientiert an der Industrieentwicklung und an dem Wunsch, eine gemeinsame Landschaftsplanung zu erreichen. Klar, die ersten Kohlen grub man aus den Pingen auf den Haßlinghauser Wiesen, bevor der Bergbau in Witten unter die Erde ging und weiter nach Norden wanderte. Klar, die erste Kleinmetallindustrie entstand in den Seitentälern der Ruhr-Nebenflüsse, und das war natürlich das Sauerland, dem Namen nach also das „Süderland“ – doch südlich wovon? Wahrscheinlich entstand die Bezeichnung aus Sicht der frühmittelalterlichen Machtzentren, und die lagen in Soest und Dortmund, in Essen, Hattingen und Werden. Das Süderbergland war der unterentwickelte Süden, das Mezzogiorno Westfalens, aber dennoch Keimzelle der heutigen Industrieregion.

Was sagt also ein Ennepetaler anderswo in der Welt, wenn man ihn fragt, wo das denn liegt? „Zwischen Hagen und Wuppertal“ lautet meist die Antwort. Das ist schon sehr genau, ein „Zwischen“ eben – nicht richtig Ruhrgebiet, nicht richtig Sauerland.

In Amerika fragte uns mal ein Arzt nach unserer Herkunft. „From Germany“ war die erste Antwort. Und genauer? „Near Cologne“. Und dann seine überraschende Rückfrage: „Is that in France?“

So relativiert sich mit der Entfernung die Bedeutung von Grenzen.




Als Brecht bei Feuchtwanger klingelte – Klaus Modicks Roman „Sunset“

Winter 1918. Der Krieg geht zu Ende, in München wird die Räterepublik ausgerufen. Das lässt auch den Schriftsteller Lion Feuchtwanger, der sich bisher eher für buddhistische Weisheiten und historische Themen interessierte, nicht kalt.

Gerade arbeitet er an seinem Theaterstück „Thomas Wendt“, einem „dramatischen Roman“ über einen Künstler, der sich zum politischen Engagement bekennt und sich in die Revolution einmischt. Da klingelt es an der Hautür und ein abgerissen wirkender junger Mann mit Stoppelbart, Schiebermütze und abgewetzter Lederjacke begehrt Einlass in die Wohnung des arrivierten Schriftstellers. Er habe ein Stück geschrieben und hoffe, dass der über beste Bühnen-Kontakten verfügende Feuchtwanger in der Lage sei, eine Aufführung zu erwirken, „weil ein Stück“, so der selbstbewusste Jungdichter, „das nicht aufgeführt wird, nichts wert ist.“

Das Drama, das der freche Dichter dem älteren Kollegen auf den Schreibtisch pfeffert, trägt den Titel „Spartakus“. Ein Geniestreich, einer, der Feuchtwanger fast das Leben kostet. Denn als die konterrevolutionären Freikorps seine Wohnung plündern und das Manuskript finden, vermuten sie, nicht ganz zu Unrecht, Feuchtwanger würde mit der Räterepublik sympathisieren. Nur durch einen Zufall entgeht Feuchtwanger dem Erschießungskommando. Aber das ist eine andere Geschichte. Eine, die vielleicht ein andermal etwas genauer erzählt und zu einer Novelle ausgeschmückt werden sollte.

In Klaus Modicks Roman „Sunset“ hat der süffisante Hinweis auf das lebensbedrohliche „Spartakus“-Manuskript eine andere Funktion: er soll zeigen, dass die Freundschaft, die in jenem Revolutionswinter zwischen Lion Feuchtwanger und Bertolt Brecht entstand und sich im Berlin der 20er genauso fortsetzte wie im kalifornischen Exil der 30er und 40er Jahre, von vornherein nicht frei war von bizarren Umgangsformen und kuriosen Streitereien. Wie sollte es auch anders sein, begegneten sich doch hier zwei Schriftsteller, die unterschiedlicher nicht sein konnten und doch zeitlebens miteinander aufs Innigste verbunden waren: Hier der bürgerliche Erfolgsautor, der mit seinen historischen Romanen gigantische Auflagen erzielte und selbst im Exil eine riesige Villa bewohnte. Dort der marxistische Intellektelle, der zwar stets viele Frauen um sich scharte, aber ständig am Hungertuch nagte und dessen Stücke in Amerika niemand spielen wollte. Ohne Feuchtwangers finanzielle Hilfe, das kann man ruhig einmal laut sagen, wäre Brecht in Hollywood vor die Hunde gegangen.

Klaus Modick weiß das natürlich alles. Schließlich hat er vor über 30 Jahren bei Hans-Albert Walter, den Mentor der Exil-Literatur-Forschung in Deutschland studiert und über Feuchtwangers Leben und Literatur promoviert. Durch die Romane Modicks spukt seither ein von Feuchtwanger inspirierter, historisch fundierter, von Aufklärung und Humanismus geprägter Erzählgestus. Eigentlich war es längst überfällig, dass Modick seinen Lieblingsautor zur Romanfigur macht. Ein schwieriges Unterfangen, musste er doch die sich in seinem Kopf angehäuften Fakten zu einer fiktiven Geschichte komponieren. Es ist ihm wunderbar gelungen.

Denn Modick verdichtet die Handlung auf einen einzigen Tag im August 1956: Feuchtwanger ist einer der letzten im kalifornischen Exil verbliebenen deutschen Dichter. Selbst die Kommunistenhysterie der McCarthy-Ära konnte ihn nicht vertreiben. Feuchtwanger ist allein in seiner „Villa Aurora“, es ist heiß, Gattin Marta macht auswärtige Besorgungen, die Sekretärin ist verreist. Da erreicht ihn ein von Johannes R. Becher geschicktes Telegramm aus Ost-Berlin: „Bertolt Brecht gestorben.“ Natürlich kann er der Einladung Bechers zum bereits am nächsten Tag angesetzten Staatsakt im Berliner Ensemble nicht nachkommen. Statt sich über den stalinistischen Kulturminister zu ärgern, erinnert sich Feuchtwanger lieber an seine Zeit mit Brecht. Wie er sich als väterlicher Freund und Ruhepol des jüngeren, aufbrausenden Kollegen empfand. Wie sie zusammen an Feuchtwangers „Warren Hastings“-Drama arbeiteten oder am „Spartakus“-Manuskript von Brecht, das unter dem Titel „Trommeln in der Nacht“ Bühnengeschichte schrieb.

Wenn der Tag zu Ende geht und die Sonne im Stillen Ozean versinkt, hat der von Magenkrämpfen gequälte Feuchtwanger nicht nur wichtige Stationen seiner Freundschaft mit Brecht abgeschritten, er hat auch eine Lebensbilanz gezogen. Modick hat dabei vieles frei erfunden. Aber eine gut erfundene Geschichte, das wusste niemand besser als Feuchtwanger, ist allemal besser als Langeweile in der Wirklichkeit.

Klaus Modick: „Sunset“. Roman. Eichborn Verlag, Frankfurt, 192 S., 18,95 Euro.




Als Heinrich Heine von den Franziskanern lernte

Mitten im Trubel der Düsseldorfer Altstadt gibt es seit etwa fünf Jahren einen sehr ungewöhnlichen Ort der Ruhe – das „Max-Haus“.

Es ist katholisches Stadthaus, Veranstaltungszentrum, Kunstgalerie, Gebetsstätte, Cafe und Konzerthaus in einem. Ungewöhnlich wirkt es nicht nur durch die Ausstrahlung, sondern vor allem durch seine preiswürdige Architektur, seine Offenheit für jedermann und seine Geschichte.

In der Nähe des früheren Hafens hatten Franziskaner auf den Resten der alten Citadelle 1661 ein Kloster errichtet, eine Kirche gebaut und ab 1695 eine Lateinschule eingerichtet, die Vorläuferin der heute noch bestehenden Max-Schule. Die Kirche war ursprünglich dem heiligen Antonius von Padua gewidmet. Als jedoch 1803 durch den Beschluss zur Säkularisation auch Kirche und Kloster abgerissen werden sollten, benannten die Mönche ihren Komplex schnell um nach dem heiligen Maximilian – dem Namenspatron des Kurfürsten. Durch diesen schmeichlerischen Trick (man ist eben in Düsseldorf) konnten die Gebäude erhalten werden, die Franziskaner gingen als Pfarrer in die Gemeinden und die Schule wurde im Sinne der französischen Besatzung als „Lyceum“ weiter betrieben.

Diese Schule nun bekam durch den späteren Dichter Heinrich Heine ein literarisches Denkmal. Der jüdische Junge hieß zu der Zeit noch Harry und besuchte die katholische Einrichtung von 1807 bis 1814. Er erinnert sich an mehreren Stellen seines Werkes, zum Beispiel in den „Reisebildern“, an diese für ihn meist angenehme Zeit, er führt einzelne Lehrer an und klagt über die Schwierigkeiten des Sprachenlernens. Im „Buch Le Grand“ schreibt er unter anderem über seine Probleme mit dem Lateinischen: „In den dumpfen Bogengängen des Franziskanerklosters, unfern der Schulstube, hing damals ein großer, gekreuzigter Christus von grauem Holze, ein wüstes Bild, das noch jetzt zuweilen durch meine Träume schreitet und mich traurig ansieht mit starren blutigen Augen – und vor diesem Bilde stand ich oft und betete: O du armer, ebenfalls gequälter Gott, wenn es dir nur irgend möglich ist, so sieh doch zu, dass ich die verba irregularia im Kopfe behalte.“ Dieses Kreuz hängt übrigens immer noch im Kreuzgang des ehemaligen Klosters.

Nachdem die Franziskaner vor drei Jahrzehnten das Kloster aufgegeben hatten, drohte es zu verfallen oder kommerziell genutzt zu werden. Weil die Düsseldorfer Katholiken und das Erzbistum Köln jedoch auf der Suche nach einem geeigneten Zentrum waren, wurde der Komplex nach einem Architektenwettbewerb renoviert und modernisiert. Der ehemalige Kreuzgang blieb erhalten, und durch ein großes quadratisches Glasdach entstand im Innenhof ein wetterfester, lichtdurchfluteter Veranstaltungsraum, der unter anderem für die „Mittwochsgespräche“, aber auch für Konzertreihen wie „Bach beflügelt“ genutzt wird. Besucher können das Haus jederzeit betreten, lesen, Kaffee trinken oder in einem „Raum der Stille“ meditieren oder beten. Außerdem gibt es im ehemaligen Kreuzgang ständig Ausstellungen verschiedener Künstler. Zur Zeit läuft noch bis zum 20. August 2011 eine Gemeinschaftsausstellung von fünf Künstlern unter dem Titel „Graffiti im Kreuzgang“. Kurator für diesen Teil des Zentrums ist der Düsseldorfer Künstler Christoph Pöggeler, dem man im Stadtbild überall begegnet: Er schuf die lebensgroßen und lebensechten Figuren, die man in der Düsseldorfer Innenstadt an vielen Stellen auf Litfasssäulen stehen sieht.

Zur Straße hin wurde die Fassade des ehemaligen Klosters unverändert gelassen. Auch das bronzene Erinnerungsschild an den berühmten Schüler Heinrich Heine hat man gelassen. Nebenbei: Weil der Umbau des Klosters zum „Katholischen Stadthaus“ so gelungen sei, hat der Düsseldorfer Architekten- und Ingenieursverein 2010 dem Max-Haus die jährliche Auszeichnung „Bauwerk des Jahres“ verliehen.

Ein Besuch in diesem Ensemble lohnt sich also, auch wenn man als Atheist oder Protestant oder sonst etwas keinen Bezug zum Katholizismus hat.




Georg Stefan Troller: „Tagebuch mit Menschen“

„Tagebuch mit Menschen“ –

unvergessen ein Artikel in einem der deutschen Eliteblätter – sei es nun
FAZ oder SZ oder, oder … zum „Buch der Tagebücher“,
also zum Tagebuch überhaupt.

Wofür braucht der Leser ein Tagebuch,
wofür möchte er darin lesen?

Private Schnulzenschau, oder darf es doch etwas mehr sein?

Dann irgendwie glitt der Autor ab in einen Rundumschlag,
warum auch immer.
Ach, diese Tagebücher, diese Rotzerei, dieses ewige Zurschaustellen.

An der Stelle mochte ich dem Journalisten nicht mehr folgen,
war er wohl Opfer seiner angedachten, phantasierten,
verinnerlichten Vorstellung von Objektivität geworden.

Vielleicht hatte er auch für jenen Artikel, dem das „Buch der Tagebücher“
zugrunde lag, sich mit einer Auswahl beschäftigen müssen,
die ihn einfach nicht begeisterte.

Vielleicht war er aber auch ein nicht begeisterungsfähiger Mensch?

Diesen Eindruck kann man häufig bei Journalisten antreffen.
Warum das so ist, bleibt zunächst dahin gestellt.

Ich erinnerte mich an das „Tagebuch mit Menschen“ – also
Georg Stefan Trollers Buch „Personenbeschreibung“ –
welches man durchaus als Sternstunde des deutschsprachigen
Journalismus bezeichnen kann und es auch tun sollte.

So wohltuend sich abhebend von journalistischer Überheblichkeit,
von den alltäglich niedergeschriebenen Gedankenfürzen
bis hin zu intellektuellen Akrobatiken,
denen kaum ein Mensch noch folgen kann, noch will,
außer der Journalist selbst,
der einen hohen Wert auf Selbstbefriedigung legt.

Bei Troller ticken die Uhren anders, weil sie in seinem Leben
schon immer anders getickt haben,
als es der Mainstream hergibt, verlangt, predigt und feiert.

Aufgrund biografischer Erfahrungen mit deutscher Überheblichkeit
und Arroganz, ihnen gegenüber kritisch eingestellt und sich dennoch dem
deutschsprachigem Raum heimatlich verbunden gefühlt,
hatte er, hat er Vergleichswerte, die der gemeine Journalist
so in der Regel nicht hat.
Und das merkt man beim Lesen…

Hier also – in seinen Personenbeschreibungen zu finden –
eine Art Zusammenfließen von subjektiven und objektiven
Wahrnehmungen, die miteinander auf vielfältige Art und Weise
verbunden werden,
also eben nicht jene gern praktizierte Aufspaltung
zwischen Individualität und scheinbar objektivierbaren Fakten,
die der Darstellung komplizierter, komplexer Vorgänge nicht würdig ist.

Da der Durchschnittsjournalismus,​ der bis in höchsten Etagen reicht,
mit einer zweifelhaften Geistes- und Fingerfertigkeit solche Probleme
im Handumdrehen erledigt, ist die Lektüre von Georg Stefan Troller
eine wohltuende Abwechslung, kurativ, aber eben keine leichte Kost.
Dennoch nie unterschlagend, mit einer guten Prise Humor versehen,
inklusive Selbstironie, eine erhellende wie erheiternde Reise
durch ein reichhaltiges Leben.

So musste man eben entdecken wollen,
dann würde man auch entdecken…

Und an manchen Stellen dieser Reise würde man einfach
nur schweigen, weil das Dargestellte es so verlangt.

Aber dieser Forderung nachzukommen, erscheint in heutigen Zeiten
ungefähr so unmöglich, wie die Abschaffung des Privatfernsehens,
sofern es sich nicht selbst abschafft,
indem es immer mehr Verrückte produziert,
die eben nicht ihre Klappe halten können,
sondern sich berufen fühlen und vor allem berufen werden,
sich öffentlich – und das alltäglich – auszukotzen,
ohne kurativen Wert.

So dann auch die Frage an die vermeintlich Intellektuellen gestellt,
was sie gedenken zu tun,
angesichts dieser Lage, die man ohne zu übertreiben als
dramatisch bezeichnen darf, aber eben auf eine andere Art als
schon bekannt.

Man müsste also hineingehen ins Desaster, was nie schön ist.
Aber genau da gehört der Journalist hin,
wenn er oder sie – Aussagekraft entwickeln möchte.
An dieser Wegkreuzung kann sich kein Journalist vorbeimogeln,
ohne Schaden zu nehmen und Schaden zu verursachen.

Foto / Text: Stefan Dernbach ( LiteraTour )

http://www.stefandernbach.​kulturserver-nrw.de/




Monegassische Hochzeiten

Briefmarken, Fußball und Skat als Einbürgerungshilfen eines Ösi im Revier

Den Übergang vom Ösi zum Wösi (damals hieß das noch nicht so) schaffte ich mit 10 bei den etwa Gleichaltrigen durch das Fußballspielen, das ich im Essener Norden auf der Bleiche hinter unserem Kruppschen Wohnblock spielerisch lernte – und auf den abgeteilten Wiesen hinter den Häusern gegenüber, sowie auf unserer kaum befahrenen Sackgasse zwischen diesen Häusern, der Heegstraße nämlich, die heute zu einem großen Teil der in den 70er Jahren neuen Straßenführung von Essen nach Bottrop zum Opfer gefallen ist, und mit ihr die Häuser natürlich auch. Wenn wir heute mit dem Auto von Bottrop nach Essen fahren, fahren wir gleichsam durch unser Schlafzimmer. Virtuell natürlich. Aber wer weiß noch davon?

Skatspielen war auch wichtig. Das lernte ich ebenfalls mit 10 und durfte sehr bald (welch hohe, welch wirkliche Auszeichnung!) mit den alten Kruppianern und staublungigen Bergleuten, Rentnern und Frührentnern also, nach Herzenslust mitspielen. Und zwar immer bei uns, in der von meinem Opa, dem aus Ostpreußen stammenden und ebenfalls und maßgeblich Skat mitspielenden ehemaligen Walzwerker, gezimmerten Laube, die vordem ein Hühnerstall war. Da ging’s hoch her! Und auch meine Einbürgerung bei den Erwachsenen war hierdurch gelungen.

Als Konstante hatte ich meine Briefmarkensammelleidenschaft aus Salzburg mitgebracht. Damals sammelten noch viele Kinder und Jugendliche und Erwachsene Briefmarken. Und so gab es auch hier Anknüpfungspunkte und Übergangshilfen. Naheliegenderweise sammelte ich schwerpunktmäßig österreichische und deutsche Marken; lernte dadurch viel Geschichte, Erdkunde und vieles andere Wissenswerte kennen; sammelte aber auch Motivmarken aus dem Bereich vor allem der Tier- und Pflanzenwelt und des Sportes; nachdem ich zuvor eine ganze Zeit lang alle Briefmarken, die mir irgendwie in die Finger gekommen waren, also gestempelte und ungestempelte, geschnittene und gezackte, dreieckige und viereckige, aus welchem Land und aus welcher Zeit auch immer, in meine Sammlung einbezogen hatte.

Als ich vor einigen Tagen nun aus den Fernsehnachrichten, da bildbegleitet, wie nebenbei erfuhr, dass bei der aktuellen Fürstenhochzeit in Monaco ein Block Briefmarken mit dem neuvermählten Paar herausgegeben würde, fühlte ich mich sofort an meine einstige Sammelleidenschaft erinnert. Ich holte seit langem mal wieder meine alten Briefmarkenalben heraus und stieß gezielt auf meine monegassischen Marken der 50er-Jahre. Die drei Marken mit der Einzelansicht des Fürsten Rainier III fielen mir gleich ins Auge, auch die monegassischen Marken zu den Olympischen Spielen von Helsinki 1952 usf., vor allem aber, die fünf Briefmarken, die ich eigentlich gesucht hatte: die Marken mit dem damals Schlagzeilen beherrschenden Hochzeitspaar vom 19. April 1956. Dennoch war und bleibt das Jahr 1956 in meinem Gedächtnis vor allem das Jahr des am Radio von mir bewusst mitbekommenen Ungarnaufstandes und der fast gleichzeitigen Suezkrise, von der ich nur ein wenig zeitversetzt – in wieder aufgeweckter Erinnerung daran – ägyptische Briefmarken mein eigen nennen durfte.




Entnazifizierung im Revier: „Darum war ich in der Partei“

Über die Befreiung des Ruhrgebiets vom Nationalsozialismus durch alliierte Truppen habe ich hier vor einiger Zeit einige Hintergründe dargelegt. Nun soll es um die Entnazifizierung nach 1945 gehen.

Wenn die Amerikaner und ihre Verbündeten eine Stadt oder Gemeinde befreit hatten, dann setzten sie in der Regel sofort einen unbelasteten Bürgermeister ein. Manchmal brachten sie ihn sogar mit. Gleichzeitig hatten sie genaue Vorstellungen über die geplante „Denazification“. Noch vor der Kapitulation der deutschen Wehrmacht hatten die Besatzungsmächte am 25. April dazu eine Direktive erlassen, die vor Ort durch provisorisch eingerichtete Behörden und den Militärkommandanten umgesetzt wurde. In der britischen Zone, zu der auch das Ruhrgebiet gehörte, arbeitete die Besatzungsmacht mit einem Skalensystem von 1 bis 5. Die Kategorien 1 und 2 landeten vor Spruchgerichten. Dazu gehörten insbesondere Angehörige der verbrecherischen NS-Organisationen wie SS, Waffen-SS und des SD. Später kam die Unterscheidung zwischen A und B hinzu, nach welchen Kriterien Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst, aber auch aus „finanziellen Unternehmen“ vorzunehmen seien. Wer unter A fiel, gehörte zu den „zwangsweise zu entlassenden Personen“. Solche Listen gab es wenige Wochen nach Kriegsende auch für Journalisten.

Wie das im Revier praktisch ablief, zeigen die Erlasse des Regierungspräsidenten in Arnsberg. Am 3. Juni 1945 verlangt er, dass sich die noch vorhandenen Mitglieder der Ortsgruppenstäbe der aufgelösten NSDAP „unter Aufsicht zu versammeln“ haben. An Ort und Stelle musste dann eine Liste aller ehemaligen männlichen und weiblichen Mitglieder der NSDAP in der jeweiligen Gemeinde angefertigt werden. Die beteiligten Funktionäre mussten eine eidesstattliche Erklärung abgeben, außerdem waren die Parteimitglieder nach dem Grund ihres Eintritts in die NSDAP zu befragen. Am 15. Juni seien die Listen abzugeben, eine Abschrift erhielt der Militärkommandant, bei wahrheitswidrigen Angaben drohte „strengste Bestrafung“.

Für das damalige Amt Milspe-Voerde – heute das Gebiet der Stadt Ennepetal – sind im Stadtarchiv diese Listen der einzelnen Ortsgruppen, nach Zellen geordnet, erhalten geblieben. Daraus ergibt sich zum einen, wie stark die Bevölkerung mit Funktionären der NSDAP und ihrer Gliederungen durchsetzt war, und zum anderen, wie feige die Menschen nach der Befreiung mit ihrer persönlichen Geschichte umgingen. Als Gründe für den Parteieintritt am häufigsten genannt wurden: Zwang der Behörden, Überredung durch die eigenen Kinder, Übernahme durch den BDM, wegen der Arbeitsstelle, wegen langjähriger Erwerbslosigkeit, Überredung durch die Frauenschaftsleiterin, aus taktischen Gründen (sehr oft genannt), wegen Aufforderung durch den Ortsgruppenleiter, um den Ehemann vor Angriffen seitens der Partei zu schützen, weil man es für einen guten Zweck hielt, um eine sichere Existenz zu bekommen, aus geschäftlichen Gründen, um im Beruf zu bleiben, weil man ohne Wissen übernommen worden sei.

Seltener werden die Gründe genannt, die wahrscheinlich für die meisten ehemaligen Parteimitglieder eher zutrafen: aus politischer Dummheit (mehrfach genannt), aus Überzeugung (nur wenige Nennungen), weil man Fanatiker war oder einfach „aus Dummheit“.
Einige Befragte machten auch persönliche Angaben: Ein Gastwirt sei nur eingetreten, um eine Konzession zu bekommen, ein anderer war Blockwart und eingetreten, „um meine Familie zu schützen“, ein dritter war körperbehindert und fühlte sich gezwungen, der Partei beizutreten, ein vierter sei „nur auf Anordnung des Dienstvorgesetzten“ beigetreten. Ein Unternehmer schrieb: „Weil ich im Anfang die Sache für gut und ehrlich hielt.“

Wie man sieht, wurde in den meisten Fällen der Parteieintritt als unausweichlich dargestellt. Einige ehemalige NSDAP-Mitglieder versuchten in dieser Befragung sogar, einen angeblichen Austritt zu konstruieren. Ein Unternehmer aus Gevelsberg schrieb, er sei im August 1944 aus der Partei ausgetreten, und das habe er auch in einem Schreiben am 10. Mai 1945 dem Herrn Amtsbürgermeister mitgeteilt. Zu dem Zeitpunkt war das Ruhrgebiet jedoch bereits mehrere Wochen besetzt, und das Deutsche Reich hatte am 8. Mai bedingungslos kapituliert.

Warum sich zahlreiche Sozialdemokraten und Kommunisten, aber auch engagierte Christen dem verbrecherischen Regime widersetzten und dafür Verfolgung und Tod in Kauf nahmen, die meisten Bürger der Hitler-Partei jedoch mit Überzeugung nachrannten, das bleibt ein großes Rätsel. Wenn man den persönlichen Notizen im Ennepetaler Stadtarchiv glaubt, dann waren es überwiegend sehr egoistische Motive – ohne Rücksicht auf die angekündigten Opfer.

Feierstunde zur Gründung der Stadt Ennepetal 1949




Kriegsende an der Ruhr: Bei Hattingen gab es „Friendly Fire“

Immer im Mai wird in Deutschland an das Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert. Im Ruhrgebiet erlebten die Menschen diese Befreiung, die es ja objektiv war, in den Wochen von Anfang bis zum 18. April, als die im sogenannten Ruhrkessel eingeschlossenen Soldaten der Wehrmacht kapitulierten. An einige Details dieser Militäraktionen soll hier erinnert werden.

Für die alliierten Truppen bedeutete die Stadtlandschaft Ruhrgebiet eine gefährliche Herausforderung. Deshalb näherten sie sich mit ihren Panzerverbänden von mehreren Seiten. Bereits am 3. März 1945 hatten deutsche Soldaten die Rheinbrücken in Düsseldorf gesprengt, andere Übergänge folgten. Bei Wesel gelang es britischen und amerikanischen Pioniereinheiten am 23. und 24. März, den Rhein zu überqueren. Nacheinander werden die Städte Dorsten, Dülmen und Hamm befreit. Gleichzeitig näherten sich von Süden durch das Sauerland und das Bergische Land Verbände in Richtung Ruhr. Am 2. April hatten sich bei Siegen die von Norden kommende 2. US-Division und die aus Süden kommende 3. Division getroffen, so dass der geplante Kessel großräumig geschlossen und zugezogen werden konnte.

Bis zum 11. April zogen die südlichen Truppen der Alliierten etwa der heutigen B 54 folgend über Olpe, Meinerzhagen und Kierspe Richtung Hagen, Ennepe-Ruhr und Wuppertal. Wenn es Widerstand gab, wurde mit Panzerwaffen zurückgeschossen, so zum Beispiel in Schmallenberg-Oberkirchen oder in Ennepetal-Voerde. Dort hatte eine deutsche Panzerbesatzung einen amerikanischen Panzer in Brand geschossen. Als Folge gingen zahlreiche Häuser im Dorf durch Granatfeuer in Flammen auf. Unna war am 11. April „überrollt“ worden, wie die Menschen es ausdrückten, während Dortmund von der Wehrmacht kampflos geräumt wurde.

Von Osten aus erreichten die alliierten Soldaten Bochum und die Ruhr, während von Süden amerikanische, britische und belgische Einheiten über Schwelm und Sprockhövel Richtung Hattingen vorrückten. Diese erreichten am Abend des 15. April 1945 den Fluss, doch bevor es zur Teilung des Ruhrkessels durch den Zusammenschluss der alliierten Einheiten kam, lieferten sich die befreundeten Truppen noch ein Gefecht – „Friendly Fire“ genannt, weil man sich nicht rechtzeitig erkannte. Diese und andere Details finden sich in den zunächst als geheim eingestuften Tagesberichten der 8. US-Infanterie-Division, die als Kopien im Stadtarchiv Ennepetal liegen.

Drei Tage später, am 18. April, kapitulierte die deutsche Wehrmacht im Ruhrkessel. Etwa 350.000 Offiziere und Soldaten kamen in Kriegsgefangenschaft, die meisten lagerten zeitweise in den Rheinwiesen bei Düsseldorf. Die NS-Gauführung hatte sich kurz vor der Überrollung noch einmal in Hasslinghausen versammelt, dann schlug man sich in Zivil in die Büsche.

Am 25. April trafen in Torgau an der Elbe amerikanische und sowjetische Truppen zusammen, am 8. Mai kapitulierte Deutschland bedingungslos – der Krieg war in Europa beendet, im Fernen Osten dauerte er noch bis zur Kapitulation Japans am 2. September.

Wie die Befreier mit den NS-Funktionären umgingen, soll bei anderer Gelegenheit erzählt werden.




Apollinaire im Nachgang: „Flaneur in Paris“ auf Deutsch

Wie konnten Guillaume Apollinaires literarische Streifzüge durch Paris über mehr als neunzig Jahre unübersetzt bleiben? In Frankreich ist das vergnügliche kleine Buch bereits 1919 unter dem Titel „Le Flâneur des deux rives“ erschienen.

Apollinaire führt seine Leser durch Viertel wie das damals noch ruhige Auteuil (heute ein Quartier des 16. Arrondissements). Oder in die zum Rive Gauche gehörenden Straßen Saint-André-des-Arts und die Rue de Buci. Das unbekannte, vom Verschwinden bedrohte Paris und seine Geschichten, aber auch das Paris der großen Boulevards und Künstlertreffpunkte wie das Café Napolitain sind in dem Buch vertreten. Vor allem geht es um die Menschen, die diese Schauplätze belebten: Bohemiens, eigenwillige Buchhändler, Kleinverleger und verschiedenste Originale.

Ein Bilderrätsel, das dem Flaneur scheinbar zufällig vor die Füße flattert, führt zum Kontakt mit einem Maskierten und am nächsten Morgen zum Besuch bei dem durch die Auflösung des Rebus‘ identifizierten Schriftstellerkollegen. Das Hotelzimmer, das der exzentrische Ernest la Jeunesse, Autor inzwischen vergessener Romane, bewohnt, erweist sich als vollgestopftes Kuriositätenkabinett.

Freude an Mystifikationen, Überblendungen von Realität und Fiktion, Klatsch und ausgelassene Späße begegnen uns fast auf jeder Seite – Späße wie der fiktive Antiquariatskatalog (mit authentischen Buchtiteln) im Kapitel „Die Quais und die Bibliotheken“, dessen Einträge zum Beispiel lauten:
„BOISGOBEY (F. de). Enthauptet. In 2 Teilen, Kopf beschnitten, stockfleckig“ oder
„GRAVE (Th. De). Der Hochstapler. Mit falschem Titel“.

Ein staubiges Kellergewölbe in der Rue Laffitte Nr. 8, in dem sich Bilder zeitgenössischer Maler stapelten und Künstler wie Picasso, Redon, Bonnard und Derain sich zu exotisch gewürzten Speisen mit schönen Frauen trafen, nimmt Apollinaire als Ausgangspunkt, um sich an Léon Dierx, den Prince des Poètes aus dem Kreis der Parnassiens zu erinnern, dessen Ruhm inzwischen verblasst sein dürfte. So sind es im Buch weniger die noch heute großen Namen unter seinen Freunden – Pablo Picasso, Max Jacob, Robert Delaunay, Marcel Duchamp, Blaise Cendrars, Alfred Jarry u. v. a. –, denen Apollinaire mit seinen „Chroniques“ ein Denkmal setzt. Stattdessen wird der dichtende Garkoch Michel Pons porträtiert. Oder das private Napoleon-Museum eines zehnjährigen Schülers. Oder ein sich offenbar aus verschiedenen Informanten zusammensetzender Gesprächspartner, der die Bibliotheken der Welt bereist.

Der Erste Weltkrieg bildet einen Einschnitt in der Welt der Pariser Bohème. Die meisten Kolumnen waren zwar vor 1914 erschienen, größtenteils im Mercure de France. Für die Buchform hat Apollinaire sie sich 1918, kurz vor seinem Tod, noch einmal vorgenommen. Gegenüberstellungen mit der verlorenen Vorkriegszeit finden wir fast in jedem Kapitel. So trägt das Buch erheblich dazu bei, nicht nur einzelne Zeitgenossen, sondern eine ganze Epoche, die Welt, in der Flaneure noch exquisite Spazierstocksammlungen besaßen, vor dem Vergessen zu bewahren.

Walter Benjamin reihte „Le Flâneur des deux rives“ bereits 1929 unter die „Bücher, die übersetzt werden sollten“ ein. Nun ist es dem Übersetzer und Herausgeber Gernot Krämer sowie der Friedenauer Presse zu verdanken, dass wir Apollinaires Wonnen der flânerie erstmals auf Deutsch lesen können. Neben der gelungenen Übertragung des sicherlich nicht leicht zu übersetzenden Autors überzeugt die Publikation durch die editorische Sorgfalt und das kenntnisreiche Nachwort. Den Anmerkungsapparat der 1993 in den Editions Gallimard erschienenen Pléiade-Ausgabe hat Gernot Krämer durch eigene Recherchen bereichert und geht vielen interessanten Spuren nach, die die Herausgeber der französischen Ausgabe vernachlässigt haben.

Die Lektüre verlockt, die Wege Apollinaires über Satellitenbilder und Stadtpläne zu verfolgen. Oder gleich nach Paris zu fahren und dem „Flaneur in Paris“ an beiden Ufern der Seine nachzuwandern.

Guillaume Apollinaire: „Flaneur in Paris“. Aus dem Französischen übersetzt und herausgegeben von Gernot Krämer. Friedenauer Presse, Berlin 2011, 136 Seiten, 16 Euro




Kleistiana (2): Über Haydns Tod

Kleistgedenkjahr 2011 + Joseph Haydns Gedenktag heute

Etwa 2 Monate vor dem von Hardenberg über Raumer bewirkten, abrupten Ende der ersten Berliner Abendzeitung mit ihrer 153. Ausgabe, jener Zeitung Heinrich von Kleists, die seit dem 1. Oktober 1810 erschienen war, erschien unter den Miszellen ein Beitrag zu Joseph Haydns Tod am 31. Mai 1809. Man mag diesen Text als ganzen vermittels folgenden Links bitte nachlesen:
http://modules.drs.ch/data/attachments/2009/090531_Haydn%20heute.pdf

Der Schweizer Rundfunk bzw. Radio (DRS 2) , der den von Kleist übersetzten und geringfügig erweiterten Text ins Netz gestellt hat, hat ihn nach der Sembdnerschen Kleist-Ausgabe zitiert. Nimmt man auch noch die neuere Münchener Kleist-Ausgabe hinzu, wie ich es gerade wohlweislich getan habe, so stellt man vor allem fest, dass das in Kupfer gestochene Haydn-Wort dort in einem anderen Wortlaut zitiert wird: „Meine Kraft ist erloschen, Alter und Schwäche drücken mich zu Boden.“  (Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, München 2010, S.467, Z. 16f.)




Lisztiana II – Wunderkind wider Willen

Die Musikwelt feiert heuer den 200. Geburtstag Franz Liszts. Das Bild über ihn scheint klar: der Frauenheld, der Tastenlöwe, zuletzt der gottesfürchtige Abbé. Doch wer war dieser Künstler wirklich? Michael Stegemann, Professor für Historische Musikwissenschaft an der TU Dortmund, weiß zu differenzieren. Hier ein Gespräch mit ihm – über Liszt den Neuerer, den Eitlen und Verzweifelten.

Franz Liszt, der Verführer und Virtuose – ist das alles, Professor Stegemann?

Natürlich nicht. Viele haben leider ein Bild über den Komponisten, das sich auf die Zeit zwischen 1830 und 1845 beschränkt und nur etwa zwei Dutzend Werke berücksichtigt. Dabei hat er mehr als 800 geschrieben.

Warum ist das so?

Liszt wurde bereits zu Lebzeiten demontiert, etwa von den publizistischen Gegnern seiner „Zukunftsmusik“. Das Publikum wiederum hat ihm nie verziehen, dass er seine Virtuosenkarriere im Alter von 36 Jahren aufgab. Und schließlich: Seine Tochter Cosima hat ihn kaltgestellt. Sie wollte ihn gegenüber Wagner bewusst klein halten. Man muss sich das vorstellen: Als Liszt in Bayreuth beerdigt wurde, erklang keine einzige Note seiner Musik, sondern nur die Richard Wagners.

Wie war Liszt eigentlich?

Er wollte nie Pianist werden. Sein Vater hat ihn in die Wunderkind-Karriere gedrängt. Natürlich hat Liszt sich später die Huldigungen gefallen lassen; er war durchaus eitel. Doch es gibt Briefstellen, in denen er sich angeekelt darüber zeigt, gewissermaßen als dressierter Affe pianistische Kunststückchen abliefern zu müssen.

Später flüchtete er in die Religion?

Nein, mit religiösen Fragen hat sich Liszt Zeit seines Lebens beschäftigt. Er war Franziskaner. Das Erlangen der niederen Weihen – seither durfte er sich Abbé nennen – war Endpunkt einer langen Entwicklung.

Was ist das Neue an Liszt, dem Zukunftsmusiker?

Er hat die klassischen Formmodelle radikal aufgehoben. Das Dur-moll-System hat er schon in seinem Frühwerk, etwa der Dante-Sonate, ausgehebelt. In seiner Programmmusik hat er poetische und musikalische Ideen verknüpft, nicht jedoch irgendwelche Bilder platt übertragen. Schließlich: Liszt hat sich mit fernöstlichen, fremden Harmonien beschäftigt. Sein Klavierwerk, das nach 1880 entstanden ist, war pures Experimentieren, für Aufführungen nicht gedacht.

Das Klavier-Festival Ruhr wird uns Liszt als Liedkomponisten vorstellen…

Ja, Gott sei Dank. Die etwa 100 Lieder, in sieben Sprachen komponiert, sind heute fast völlig vergessen. Dabei hat Liszt Texte vertont, die auch Brahms oder Schumann angeregt haben. Allein die Beschäftigung mit den Liedern reicht aus, um ein völlig anderes Bild von Franz Liszt zu bekommen.

Infos zum Klavier-Festival gibt es unter http://www.klavierfestival.de

(Der Text ist in ähnlicher Form in der WAZ erschienen).




Verschaukelt

Die Einheit ist Geschichte, und sie ist nach wie vor unvollendet. Vollendete Tatsachen schaffte jedoch die Einheitsdenkmalsjury mit ihrer Auswahl des Entwurfs aus dem Stuttgarter Architekturbüro Milla, das zusammen mit Sasha Waltz die Möglichkeit des Andenkens an die Prozesse, die zu dem Staatsgebilde von heute geführt haben, grandios dämlich verschaukelte. Dieses Werden als 50 Meter breite Wippe materialisieren zu wollen, mag vielleicht als Metapher im Hirn funktionieren. Die Vorstellung, das Ganze dann in der Nähe des rekonstruierten Disney-Objekts namens Stadtschloss aufgestellt zu erleben, führt zu einem Ensemble, das an Peinlichkeit nicht zu überbieten ist.

Sicherlich, unter keinem guten Stern stand das Projekt von Beginn an. Zuerst die Schmach des Scheiterns von Wettbewerb Nummer eins. Aber auch der zweite Rundgang verhieß nach der Vorauswahl nichts Gutes. Man denke etwa an die Beliebigkeit von Stephan Balkenhols „Kniendem“. Unentschieden eben. Und das trifft gleichermaßen auf die Wippe zu. Viel lässt sich heineinsehen. Oh, körperlich erlebtes Pendeln im großen Format. Kommt es dann zur existenziellen Erfahrung, wenn bewegungsfreudige Kids Touristengruppen in Bewegung bringen? Nun, so hoch kann die Amplitude schon aus baurechtlichen Gründen nicht ausschlagen. Sicher und gepampert, wird alles der üblichen Artigkeit angepasst. Also doch nur Symbolik mit wohlmeinendem Label „Wir sind das Volk. Wir sind ein Volk“. Selbst wenn auf dem Plateau kein Kaiser Wilhelm mehr aufragt, sondern egalitär jeder Besucher den Fuß auf das Werk zu setzen vermag, so wird es doch dadurch weder aus gestaltungslogischer noch ikonografischer Perspektive besser um das Projekt.

Letztlich spiegelt der Entwurf die herrschende Tagespolitik eines Landes, in dem die Akteure der derzeitigen Regierung hin und her wackeln. Sie reflektieren eine wankelmütige Kanzlerin, einen Außenminister, der etwa mit Blick auf die arabische Revolution erst vollmundige Hilfe verspricht, dann aber wiederum nur den lähmenden Takt für ein unentschiedenes Pendeln zwischen verhaltenem Aktionismus und Rückzieherei vorgibt. Ganz gleich in welches Ressort man schaut – sieht man vielleicht einmal von, man höre und staune, Frau Leutheusser-Schnarrenberger ab, ist es ein bleiernes Schwanken auf niedrigem Niveau. Wenn das Denkmal für diesen Nicht-Zustand der Berliner Republik geschaffen worden wäre, meinen Segen hätte es bekommen. Der deutschen Einheit wird ein derartiger Fun-Park jedoch keineswegs als dauerhafter Anlass der Erinnerung oder des An- und Überdenkens gerecht.




Zurück zum Körper

Immer raffiniertere Techniken haben unser Leben entsinnlicht, so dass sich das Bedürfnis einstellt, verlorene Körperlichkeit wiederzugewinnen. Das ist ein Grundgedanke, der den Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht umtreibt – und beileibe nicht nur ihn.

Der in Würzburg geborene Gumbrecht (Jahrgang 1948) war bereits mit 26 Jahren Professor in Bochum, wechselte dann an die Uni Siegen, lehrt seit 1989 an der Stanford University (Kalifornien/USA) und gilt als einer der einflussreichsten Geisteswissenschaftler deutscher Herkunft. Geographisch, biographisch und thematisch hat er einen weiten Horizont. Beispielsweise hat er schon früh (bevor es intellektuelle Mode geworden ist) auch Phänomene des Sports in den Blick gefasst.

Im neuen Aufsatzband „Unsere breite Gegenwart“ verfolgt er Spuren einer noch ausführlich zu schreibenden Geschichte der Körperlichkeit. Ein schmales Buch, doch wie gedankenreich! Freilich ziehen sich einige Kernsätze arg wiederholungsträchtig durch alle Kapitel. Und leider ist Gumbrecht kein Stilist, der seine Denkpracht in sprachlicher Eleganz erstrahlen ließe.

Der Autor diagnostiziert ein Ende jenes linearen historischen Denkens, das ungefähr seit Beginn des 19. Jahrhunderts Habitus der Intellektuellen gewesen sei, das sich und die Menschheit stets unterwegs zu einer besseren Zukunft wähnte, immerzu die Welt erst deutend entschlüsseln wollte und sich dabei unter dem Descartes-Leitsatz „Ich denke, also bin ich“ fortwährend selbst beobachtete.

Die Zukunft lässt uns keine Wahl

Heute, so Gumbrecht, stehe keine offene Zukunft mit vielerlei Wahlmöglichkeiten mehr vor uns, sondern es komme allenfalls eine umfassende Bedrohung auf uns zu, vornehmlich in Gestalt der kaum noch aufzuhaltenden Klimakatastrophe. Nach der längst erkalteten Weltraum-Euphorie seien wir zurückgeworfen auf den desolaten Zustand der Erde. Gleichzeitig würden wir überflutet von Vergangenheiten, von denen wir nie mehr richtig loskommen. Wir haben nahezu alles abrufbereit gespeichert, aber was ist wirklich wichtig?

Die mehrfache Ausweg- und Richtungslosigkeit, so Gumbrecht weiter, verweise uns auf eine „breite Gegenwart“ simultanen Geschehens, in der wir zwischen (allzu) vielen Optionen oszillieren. Während wir uns nicht mehr so sehr in die (kommende oder verflossene) Zeit hinein projizieren, orientieren wir uns im Hier und Jetzt mehr räumlich und damit körperlich. Wir suchen nicht mehr den eigentlichen Sinn hinter den Dingen, sondern oft schon in ihrer schieren Präsenz. Man könnte auch sagen: an ihrer sinnlich wahrnehmbaren, gleichsam körperlichen Oberfläche.

Sprache streichelt die Haut

Derlei Gedankenfiguren wendet Gumbrecht auf verschiedene Lebensbereiche an. Im Lichte seiner Hypothesen gewinnt selbst die vermeintlich körperlose Sprache physischen Klang und Volumen. Die Schwingungen gesprochener Worte berühren demnach ganz sachte unsere Haut, noch bevor Fragen nach Bedeutung und Interpretation sich stellen. Auch schließe der Rhythmus von Gedichten eine körperliche Dimension ein, ebenso wie die beschwörende Sprache der Mystik. Gumbrecht hegt die Hoffnung, „daß (…) die Sprache (wieder?) zum Mittel der Versöhnung mit den Dingen der Welt werden kann.“ Ein uralter Traum unserer Gattung. Aber ist er denn nicht längst ausgeträumt?

Anderes Thema, ähnliches Theorie-Besteck: Die Globalisierung lasse räumliche Unterschiede immer unwichtiger werden, tendiere also letztlich zur Körperlosigkeit. Erschreckender Befund im Zeichen des Internets: „Es ist daher schwierig geworden, Situationen zu finden, die es verdienen, Situationen des ,Erlebens‘ genannt zu werden…“

Lob des zauberhaften Sports

Just in den (jedoch zunehmend kommerzialisierten) Erscheinungsformen des Sports sieht Gumbrecht Anzeichen einer Gegenbewegung, die auf eine Rückgewinnung der Physis hinauslaufen könnte. In einer allseits entzauberten Welt seien große Momente des Sports zugleich Augenblicke der Wiederverzauberung, die Stadien somit potenziell heilige Orte. Ein schöner Spielzug der eigenen Mannschaft bringe einen den Göttern näher. Prosaischer und fast schon banal kann man sagen, „…daß der Sport dem Körper einen Platz in unserer Existenz offenhält“.

Phänomene wie Tattoo, Piercing, offene Sexualität, expandierende Schönheitschirurgie, aber auch ein Hang zur Regionalisierung weisen Gumbrecht zufolge gleichfalls in die Richtung spürbar konkreten Daseins, allerdings (so wäre hinzuzufügen) mit womöglich schmerzlichen Nebenwirkungen. Zitat: „Es ist das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einem Raum, der nicht zu groß ist, um noch mit persönlichen Erfahrungen (…) gefüllt werden zu können…“ Ein solcher Weg könnte in die Enge führen, nicht ins Offene. Außerdem hat man über Regionalisierung und nachfolgende Dialektmoden auch schon in den 70er Jahren debattiert, es ist wahrlich nichts Neues unter der Sonne.

Doch wiederum kommt der heutige US-Staatsbürger Gumbrecht zu einem erstaunlich hoffnungsvollen Schluss: „In der neoliberalen Welt der Globalisierung haben wir die Freiheit, uns ständig neu zu erfinden.“ Das erzähle mal einer den Verlierern des entfesselten globalen Wirtschaftens. Vielleicht erweist sich die gepriesene Freiheit ja als furchtbarer Zwang.

Unter der Überschrift „Stagnation“ lässt Gumbrecht bisherige Denkweisen und Ideologien Revue passieren. Ob Marxismus oder Strukturalismus, sie alle hätten mit immer neuen Projekten in eine erstrebenswerte Zukunft gezielt. Doch irgendwann war es offenbar genug mit Zuversicht und Gewissheit, und es trat Stillstand ein. Der Fortschrittsgedanke sei implodiert. Auch die Kultur habe einen Bedeutungswandel durchgemacht. Nicht mehr Irritation und Provokation sei ihr Hauptfeld, sondern sie trete in die Sphäre der Rituale ein. Auch unser Verhältnis zu den literarischen Klassikern wird beleuchtet. Bis vor einiger Zeit habe es vor allem widerspenstig politische Lektüren gegeben, heute würden Autoren wie Kleist eher „lebenskundlich“ und existenzialistisch rezipiert, also gleichsam körpernah. Gumbrechts Beispiel: Kleists gemeinsamer Freitod mit Henriette Vogel ergreift selbst brasilianische Studenten.

Im Schlusskapitel zieht Gumbrecht eine interessante Parallele zwischen einem körperlosen Denken und den von jeder fassbaren Realität abgehobenen Spekulationen mit Derivaten, die in die tiefste Wirtschaftskrise geführt haben. Und wieder dämmert eine vage Hoffnung: Mehr Körper – weniger Krise?

Hans Ulrich Gumbrecht: „Unsere breite Gegenwart“. edition suhrkamp. 144 Seiten. 12 Euro.




Die Bestseller der NS-Zeit

Das Nazi-Regime war – wie man weiß – totalitär, und doch ging es in vielen Bereichen „ungeordnet“ bis chaotisch zu. Auch die literarischen Präferenzen waren letztlich nicht ausgemacht.

Christian Adam (Abteilungsleiter Bildung und Forschung bei der Birthler-Behörde) hat in seinem sehr materialreichen, doch nicht allzu stringent strukturierten Buch „Lesen unter Hitler“ zusammengetragen, was nur irgend in der NS-Zeit Bestsellerauflagen erzielt hat. So kommt weniger der explizite Ungeist von NS-getreuen Autoren (Johst, Blunck, Behrens-Totenohl, Vesper) zur Sprache, sondern in erster Linie populäre Publikationen.

Das Spektrum reicht von anfangs noch erlaubten Groschenheften bis zur Kinderliteratur („Heidi“, „Biene Maja“). Gewichtiger noch: Sachbücher und Ratgeber („Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, FKK-Broschüren mit „arischer“ Schlagseite, Reemtsma-Bildsammelalben zu Olympia 1936 u.a.) nehmen breiten Raum ein, was dem Leseverhalten breiter Schichten eher entspricht, als würde man nur fiktionale Literatur einbeziehen. Dabei zeichnet sich so etwas wie eine Typologie damals gängiger Erfolgsbücher mitsamt einigen überraschenden Schattierungen ab.

Die ruchlose Bücherverbrennung und die damit einher gehenden Verbote hatten 1933 praktisch alle wesentlichen Werke der Gegenwartsliteratur verbannt und vernichtet, doch was an deren Stelle treten sollte, blieb nebulös und auch unter höheren NS-Chargen umstritten. Während Propagandaminister Goebbels und seine Gefolgsleute nicht nur völkische Blut- und Boden-Literatur, sondern – ähnlich wie im Kino – auch (ablenkende, „betäubende“) Unterhaltung gelten ließen, standen der Chefideologe Alfred Rosenberg und seine Kumpane für strikte Linientreue im rassistischen Sinne. Zynisch waren beide Haltungen. Jedenfalls fühlten sich ab 1933 nach und nach eine ganze Reihe von Ministerien, Behörden und Institutionen für Zensurmaßnahmen zuständig, die einander nicht selten in die Quere kamen.

Was immer das Regime auch kulturpolitisch anstellte: All die verfemten Autoren waren nicht annähernd zu „ersetzen“. Es blieb eine Handvoll Schriftsteller, die einigermaßen achtbares Handwerk lieferten (z. B. Ehm Welk, Hans Dominik im Bereich der Science Fiction, der mondäne Schweizer John Knittel oder auch – Hans Fallada!), doch das literarische Leben lag weitgehend brach. Es kamen unter den Bedingungen der Zensur keine nennenswerten Autoren hinzu. So suchte man, notfalls durch Umdeutung, die „unverwüstlichen“ Klassiker in Dienst zu nehmen – von Goethe und Schiller bis Wilhelm Busch, von Thoma und Ganghofer bis Hesse. Und in dem Norweger Knut Hamsun hätschelte man einen Vorzeigeautor, der sich mehrfach explizit fürs NS-Regime ausgesprochen hatte.

Auf Wirrnis deuten die knapp skizzierten Lese-Biographien einiger Nazi-Größen hin. Der simple Göring simulierte anspruchsvolle Lektüren, Himmler hingegen hatte einen großbürgerlichen Hintergrund und war relativ belesen (was eben noch längst kein Wert an sich ist). Während Hitler als Karl-May-Anhänger galt, hatte der studierte Germanist Goebbels auch modernistische Neigungen.

Aufschlussreicher sind Exkurse zur Lesersoziologie und zur Entwicklung des damaligen Buchmarktes. So hat die in Kriegszeiten verfügte Papier-Rationierung wahrscheinlich stärker gewirkt als einzelne Zensurbestimmungen. Zu den Profiteuren zählte nicht nur der Nazi-Verlagskonzern Eher, sondern beispielsweise auch der seinerzeit rapide gewachsene Bertelsmann-Verlag. Immer wieder geht es um finanzielle Pfründe des (seinerzeit boomenden) Gewerbes, die sich NS-Parteigenossen sicherten – bis hin zur schamlosen persönlichen Bereicherung. Die „Arisierung“ ehedem jüdischer Verlage war eine kriminelle Vermögens-Umverteilung. Und Hitlers „Mein Kampf“ brachte Millionen Reichsmark an Autorenhonorar ein…

Als Leitsterne und Gegengifte beim Gang durch jene finsteren Zeit dienen vor allem Victor Klemperers bewegende Tagebücher von 1933 bis 1945, die das tägliche Leben und die Lektüren von damals aus leidender, kritischer Sicht in den Blick fassten. Tatsächlich muss man hier ansonsten durch viel gedanklichen Unrat waten, Adam erspart dem Leser etliche Zitate aus braunen Publikationen nicht. Einerseits gilt es, durch derlei O-Töne die ideologische Mixtur genauer kenntlich zu machen, doch sollte man nicht überdosieren. Adam hält zuweilen nur mühsam die Balance zwischen Dokumentation, Analyse und (meist geraffter) Bewertung.

Das Buch fördert mitunter erstaunliche Fakten zutage. So hat Goebbels die Krimis des Briten Edgar Wallace („Der Hexer“) geschätzt, die bis 1939 in Deutschland noch zu kaufen waren – ebenso wie etwa Werke von Georges Simenon, Aldous Huxley oder Margaret Mitchells „Vom Winde verweht“. Doch 1940 standen schlagartig 160 Wallace-Titel auf dem Index. Sämtliche Bücher aus dem Land des Kriegsgegners waren fortan verpönt. Daher konnte der schottische Romancier A. J. Cronin („Die Zitadelle“), der die englische Gesellschaft bissig kritisierte, mit reichsdeutschem Wohlwollen rechnen.

Bis etwa 1940 gab es außerdem das freilich schmal besetzte Genre des versöhnlichen, ja nachgerade pazifistisch sich gerierenden Kriegsromans, allen voran Polly Maria Höflers deutsch-französische Liebesgeschichte „André und Ursula“, die allerdings erst in den 1950er Jahren mit Ivan Desny verfilmt wurde. Und noch so eine französische Nuance: Die Bücher des vehementen Nazi-Gegners Antoine de Saint-Exupéry waren trotz allem weiter in Deutschland erhältlich. So manches wohltuend „Unzeitgemäße“ (Kästner usw.) erhielt man, so man denn hartnäckig suchte, überdies noch vereinzelt in Antiquariaten. Es waren jedoch nur noch Spurenelemente von Gedankenfreiheit.

An vielen Stellen des Buches wären Vertiefungen möglich, zuweilen wünschenswert. So würde man über einen schillernden Abenteuerbuch-Verfasser wie Anton Zischka (der seinerzeit auf Mallorca lebte) gern mehr erfahren. Auch zwei der ganz wenigen Glamour-Gestalten im Dunstkreis des Faschismus, das Jetset-Paar Elly Beinhorn (Fliegerin) und Bernd Rosemeyer (Rennfahrer), wären als Autorenduo eine genauere Untersuchung wert. Doch all das kann eine solche Überblicks-Darstellung wohl schwerlich leisten.

Umfangreichere Studien wären auch jene Literaten wert, die von den NS-Machthabern geduldet oder gar stillschweigend gefördert wurden – und die bruchlos in Lesebüchern der Nachkriegszeit an prominenter Stelle wieder auftauchten, bis in die mittleren 60er Jahre hinein. Der Humorist Heinrich Spoerl wäre hier ebenso zu nennen wie etwa Erwin Guido Kolbenheyer, Werner Bergengruen, Hans Carossa und Ina Seidel. Allesamt keine genuin faschistische Literatur, doch bar jeder Widerständigkeit und also kompatibel.

Christian Adam: „Lesen unter Hitler“. Autoren, Bestseller, Leser im Dritten Reich. Verlag Galiani Berlin. 384 Seiten mit Abbildungen. 19,95 Euro.




Entwurzelter Riese

Einen Elefanten von Lissabon nach Wien bringen? Mit etlichen Mühen und ausgeklügelter Logistik kann es gelingen. Wie aber hat man das im 16. Jahrhundert angestellt, als noch kaum ein Europäer je einen Elefanten zu Gesicht bekommen hatte?

Anno 1551 vollzieht sich ein solcher Haupt- und Staatsakt mit Hintergedanken: Der König von Portugal (Johann III.) schenkt dem Herrscher von Spanien just den Dickhäuter Salomon (später Soliman genannt). Insgeheim will der König mit dieser Zeremonie einen lästig gewordenen, zudem höchst gefräßigen Kostgänger loswerden und ihn dem weitläufigen Verwandten Maximilian (seinerzeit Statthalter in Spanien für Kaiser Karl V.) aufhalsen – mitsamt dem Elefantenführer, dem indischen Mahut namens Subhro. Der ist der einzige, der mit dem exotischen Tier artgerecht umgehen kann. Diese Fähigkeit nutzt er, seiner subalternen Stellung zum Trotz, listig aus.

Auf historischen Vorgaben fußt „Die Reise des Elefanten“, der letzte Roman des im Juni verstorbenen portugiesischen Nobelpreisträgers José Saramago. Doch das geschichtliche Gerüst wird weit überwölbt von literarischer Kunst.

Ein wenig irritierend zunächst, dass Saramago ganze Dialogfolgen nur durch Kommata trennt und somit in langen Satzketten aufzieht. Doch man gewöhnt sich rasch daran. Das Stilmittel fügt sich sogar bestens zu den höfisch ziselierten Umständlichkeiten, die sich hier immer wieder zur Farce verdichten. Groteske Zeremonien und lachhafte Hierarchien machen jedes Unterfangen doppelt schwierig; erst recht eine Herkules-Aufgabe wie den Elefantentransport durch den halben Kontinent. Eigentlich ist das ganze Unterfangen ein Irrwitz, um des schönen Scheins willen verfügt vom Monarchen und zähneknirschend auszuführen von niederen Chargen.

Machtpolitisches Misstrauen und religiöse Konflikte im Spannungsfeld von Reformation, beginnender Gegenreformation (und Inquisition) wirken erschwerend mit hinein. Ach, Europa! Als der Elefant vor der Basilika von Padua niederkniet (dank einer vom Klerus dringlich erwünschten Dressur durch den Mahut), deuten die Katholiken dies nur zu bereitwillig als „Wunder“. Bei den Habsburgern, die bereits dem Protestantismus zuneigen, ist dies hingegen nicht opportun. Auf solch spiegelglattem Gelände hat sich schon die bloße Übergabe des Elefanten im portugiesisch-spanischen Grenzgebiet recht heikel gestaltet. Doch das alles ist noch nichts gegen die lebensgefährliche Überquerung der Alpen im eisigen Winter. Sagt da jemand „Hannibal“? Ja, auch der wird mal kurz als Bezugsgröße erwähnt.

Immer wieder wird das damalige „Hier und Jetzt“ auch aus der Perspektive späterer Epochen betrachtet und damit sanft, aber bestimmt relativiert und in seiner zeitlichen Bedingtheit herausgestellt. Freilich geht es dabei recht diskret zu, als sei man nur heimlich zu Gast in jenen Jahren.

Auch der rigide Deutungsanspruch der christlichen Konfessionen wird durch Vergleiche in Zweifel gezogen, denn da wäre ja auch noch der Hinduismus mit seinen Elefanten-Gottheiten. Überhaupt duldet flagrante Fabulierfreude keine allzu starren Fakten, in ihrem Fluge schert sie sich nicht um „diese verdammte Realität“, wie es an einer Stelle heißt. Als Schreibender muss man wohl wendiger sein als die träge Wirklichkeit.

Der nahezu allwissende Erzähler, der sich allerdings selbst ironisch nimmt, schwebt leichthin über den Dingen, ist ihnen (gemeinsam mit den Lesern) manchmal voraus, stolpert jedoch auch schon mal hinterdrein. Zitat: „Wir werden nicht mehr dabei sein, wenn sie den Rückweg ins Dorf organisieren.“ Oder: „Wir werden laufen müssen, um sie einzuholen.“ Dabei schreitet dieser Roman so langsam voran ein Elefant.

Das mag in etlichen Passagen betulich und behäbig klingen, sorgt aber auch für einen ruhigen Erzählfluss, dem ein unaufgeregtes Alltagswissen entspricht, das eben alle Hierarchien hinter sich lässt. Und so rückt in all den kleinen oder größeren Wirren auf der langen Strecke jener indische Mahut mehr und mehr ins wahre Gravitationszentrum des Geschehens, noch vor allen erlauchten Häuptern, grimmigen Soldaten oder geknechteten Ochsenkarrenziehern. Dieser Mahut ist ein weiser, verschmitzter Narr, der sich stets sein Teil denkt, sich aber nicht gern den Mund verbrennen möchte. Und so lässt er manche Verletzungen seiner Würde stillschweigend über sich ergehen. Denn wer weiß, ob man ihn in Wien noch brauchen oder zum Teufel jagen wird?

Der gleichfalls heimatlose, entwurzelte Elefant scheint sich derweil um nichts zu bekümmern – außer ums Fressen, das man ihm auch unterwegs tonnenweise herbeischaffen muss. Ansonsten weiß er nicht, wie ihm geschieht auf der langen Reise. Dieser Umstand gewinnt bei Saramago existenzielle Bedeutung, wenn er den Mahut sinnieren lässt: „Ich glaube, in Salomons Kopf vermischen sich das Nichtwollen und das Nichtwissen zu einer großen Frage über die Welt, in die man ihn hineinversetzt hat, aber diese Frage betrifft ja uns alle, uns und die Elefanten.“

Ein Satz, bei dem man wie unterm endlos weiten Sternenhimmel steht.

José Saramago: „Die Reise des Elefanten“. Roman. Aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis. Verlag Hoffmann und Campe. 236 Seiten. 19,95 Euro.




Rauschen der Ferne

Man muss schon ein paar Jährchen verbracht haben, um es noch zu kennen – das Rauschen der weiten Entfernungen, die man mit einem herkömmlichen Weltempfänger-Radio mehr schlecht als recht überbrückte. Wie man gefiebert hat, ob heute wohl Korea oder Mexiko „hereinzukriegen“ wären…

Fürs heutige Empfinden hat das alles erbärmlich geklungen. Selbst mit den besten Empfangsgeräten war vieles Glückssache. Wie stolz war man, wenn man zwischen dem Grundrauschen und ebenso kurzwellentypischen Kratz- oder Fieptönen ein paar schüttere Sätze aus Südamerika zu hören bekam. Enthusiasten ließen sich dann eigens Bestätigungskarten als Trophäen von Stationen aus aller Welt schicken. Man befasste sich ernsthaft mit Phänomenen wie Sonnenflecken, die großen Einfluss auf die Qualität des Fernempfangs haben. Fachzeitschriften ohne jegliche Hochglanz-Attitüde verkündeten tabellarisch die allfälligen Frequenzwechsel, sofern bis Redaktionsschluss bekannt.

In den eisesstarren Zeiten der Ost-West-Propagandaschlachten war Radio Moskau eine vielsprachige Dominante und Radio Tirana blies vollends abstruse Ideologie-Partikel in den Äther. Sie überdeckten und störten oft ungleich interessantere Angebote.

Längst hat das Internet die Kurzwelle in weiten Teilen der Welt überflüssig gemacht. Zigtausend Sender von überall sind online glasklar zu empfangen. „Unübersichtlich“ ist gar kein Ausdruck für diese Vielfalt. Und die großen Kurzwellenstationen stellen seit Jahren reihenweise Programme ein.

Wo ist das verheißungsvolle Rauschen geblieben, das einst auch die Sehnsucht nach Ferne enthalten hat?

Gepriesen sei die Unvollkommenheit. Vielleicht gibt es ja irgendwo schon Internet-Radios, bei denen man solche Störgeräusche künstlich hinzufügen kann, so wie man digitale Fotos auf Schwarzweiß trimmt oder mit Sepiatönen versieht – damit’s noch einmal so schön heimelig wird.

P. S.: Ob im besagten Rauschen auch etwas mitschwingt, was beseelt Hörende an der analogen LP festhalten lässt?




Mythos Minox: Nicht nur für Spione

Wer weiß noch, was eine Minox ist? Selbst in manchen Fotofachgeschäften kann man nicht mehr sicher sein, dass dort einschlägige Kenntnisse über den einstigen Mythos der Kleinstbildfotografie (Negativformat 8 x 11 Millimeter) vorhanden sind. Ein Jammer.

Etwas ältere Leute, sofern nicht allseits desinteressiert, erinnern sich wahrscheinlich: Das waren doch diese Mini-Kameras, mit denen damals so viele Spione ihre illegalen Aufnahmen gemacht haben. Das ist zwar zu kurz gegriffen, aber sicherlich richtig. Die Liste prominenter Minoxianer früherer Tage ist jedenfalls lang, sie reicht von Queen Elizabeth bis Heinz Erhardt und Götz George.

Ausführlich erfährt man die Einzelheiten jetzt (etwas abseits von den üblichen Kulturpfaden) im Stadtmuseum zu Iserlohn. Dort breitet der Hagener Sammler Reinhard Lörtz noch bis zum 19. April seine Minox-Kollektion aus. Er weiß so gut wie alles über das Phänomen. Wenn sich Privatleute derart leidenschaftlich in ein Hobby versenken, so häuft sich eben manches Spezialwissen an.

Erfinder der fotografischen Winzlinge war in den 1930er Jahren der hochbegabte Tüftler und Autodidakt Walter Zapp (1905-2003), der anfangs in seiner Geburtsstadt Riga (Baltikum) wirkte. 1936 lag die noch nicht zum Verkauf bestimmte Ur-Minox vor. Zapp, so geht die Legende, war höchst betrübt, als er erfuhr, wer 1938 der erste Erwerber eines marktreifen Modells war: ein osteuropäischer Diplomat. Da fing’s also offenbar schon an mit den Heimlichkeiten.

Alles andere wäre aber auch verwunderlich gewesen. Denn eine Kamera, die flugs in jeder Jackentasche verschwinden konnte, rief geradezu nach hinterlistigen Anwendungen. So gab’s denn auch bald passendes Spionage-„Zubehör“ wie etwa Rasierpinsel, in deren Holzgriff der Fotoapparat über Staatsgrenzen geschmuggelt werden konnte.

Nach 1945 wurden die Kameras in Wetzlar bzw. zwischenzeitlich in Heuchelheim (Kreis Gießen) gefertigt. Im „Kalten Krieg“ kam die ganz große Zeit der Minox. Auch der DDR-Topspion Günter Guillaume, der sich das Vertrauen des Bundeskanzlers Willy Brandt erschlichen hatte, soll auf dieses offenbar zuverlässige Arbeitsgerät zurückgegriffen haben. Eine Folge war bekanntlich der Kanzlersturz im Mai 1974.

Kurios: Erst sehr spät ließ sich die Firma Minox die längst berühmte Markenbenennung schützen, als nämlich in den USA Salben und Seifen gleichen Namens angeboten wurden. Verwechslungsgefahr war da eigentlich nicht gegeben.

In der reichlich bestückten Iserlohner Vitrinenschau sieht man die praktisch lückenlos dokumentierte Entwicklung der verschiedenen Baureihen. Die Vielfalt der Geräte, die sich hinter Kürzeln wie Minox A, B (ab 1958), C (ab 1969), BL, LX verbergen, ergibt weit verzweigte Stammbäume. So unübersichtlich ist diese „Familie“, dass nur der Eingeweihte diverse Fälschungen als Markenpiraterie erkennt. Auch solche Täuschungs-Exemplare finden sich in der Ausstellung, überdies etliche Sonder-Editionen wie etwa jene Minox-Modelle, die für besonders betuchte Kundschaft mit einer 24 Karat-Goldschicht veredelt wurden.

Original-Schaukästen und andere Reklamemittel, die im Lauf der Jahrzehnte eigens für die Kultmarke eingesetzt wurden, zeugen vom wandelbaren Zeitgeist. Ein Stoffteddy mit Minox-Mütze ist das Relikt einer gemeinsamen Werbeaktion mit der nicht minder legendären Firma Steiff. Einschlägige Literatur und Zubehör (Filme, Stative, Taschen etc.) runden den musealen Minox-Kosmos ab.

Wie es bei solchen Ausstellungen mit Nostalgiefaktor häufig zu gehen pflegt: Der Ablauf der Zeiten erscheint (gewollt oder ungewollt) als allmähliche Entfernung von den einzig wahren, authentischen Ursprüngen, mithin als gewisse Dekadenz.

Reinhard Lörtz hat sich zunächst vor allem auf Trödel- und Sammlermärkten umgetan, später auch bei Internet-Auktionen. „Bis vor einiger Zeit konnte man dort noch fündig werden, heute ist der Markt weitgehend leergekauft.“

Natürlich haben sich Minox-Sammler in einem Club organisiert, der weltweit rund 400 (überwiegend ältere) Mitglieder hat. Eins steht für den Bahnangestellten Lörtz’ fest: „Wenn ich in ein paar Jahren pensioniert bin, habe ich endlich Zeit, ein Minox-Museum einzurichten – irgendwo in Westfalen.“

„Die Minox“. Noch bis zum 19. April im Stadtmuseum Iserlohn, Fritz-Kühn-Platz 1. Geöffnet Di, Mi, und Fr. bis So. 10-17, Do 10-19 Uhr (Karfreitag, Ostersonntag und Ostermontag geschlossen). Eintritt frei. Tel.: 02371/217-1963.




Was bleibt von der Kunst der 80er Jahre?

„Neue Wilde“, „Junge Wilde“, „Heftige Malerei“ – an Etikettierungen für die Kunst der (frühen) 80er Jahre mangelt es nicht. Nach all dem prinzipiellen Misstrauen gegen Bilder, das die Szene schließlich geradezu gelähmt hatte, brach um 1979/80 eine offenbar lang angestaute Flut hervor. Schon bald gab es machtvolle Manifestationen wie die Großausstellungen „Westkunst“ in den Kölner Messehallen (1981), „Zeitgeist“ im Berliner Gropius-Bau (1982) und die von Rudi Fuchs geleitete documenta (ebenfalls 1982).

Unter dem verkaufsfördernden Motto „Es wird wieder gemalt“ nahm auch der Handel Aufschwung. Positiv gewendet: Die Kunst war also offenbar doch noch nicht tot. Ebenso wenig wie die vordem totgesagte Literatur. Mag immerhin sein, dass man sich für diese neuen Aufbrüche auch naiv (oder gar dumm?) stellen musste, damit es doch wieder einmal weitergehen konnte…

Bielefelds Kunsthallen-Direktor Thomas Kellein erinnert sich an die Jahre, in denen auch seine Museumslaufbahn begonnen hat: Die Nachfrage sei dermaßen angeschwollen, dass die bekanntesten Maler Wartelisten abarbeiteten – oft unverschämt schnell und nachlässig. Zuweilen wurden aus lauter Bilderhunger sozusagen noch feuchte Leinwände erworben. War’s aus jetziger Sicht nur ein folgenloses Feuerwerk, oder hat einiges Bestand? Um es gleich zu sagen: Natürlich gibt es Bleibendes, man muss gewiss keine halbe Generation abschreiben.

Heute scheint das alles unendlich lang her zu sein. Die Museen lassen den Bildermassen jener Jahre kaum noch besondere Aufmerksamkeit angedeihen. Gerade deshalb will sich die Bielefelder Kunsthalle nun einiger Substanzen der 80er vergewissern. „The 80s Revisited“ stützt sich auf die Sammlung des Schweizer Galeristen Bruno Bischofberger. So umfangreich ist deren Fundus, dass er auf zwei Ausstellungen verteilt wird. Jetzt sind erst einmal die Europäer (ergänzt um den Graffiti-Anreger Keith Haring) an der Reihe. 2011 werden die New Yorker Leitfiguren (u. a. Andy Warhol, Julian Schnabel, Jean-Michel Basquiat) folgen. Selbst Warhol kehrte damals von der Factory-Produktion gelegentlich zur herkömmlichen Handarbeit zurück.

Man kann mit Fug von Bilderrausch oder gar Bilderwahn sprechen, wenn man in die 80er zurückblickt. Mit unbekümmertem Furor, zuweilen mit aggressiver Erregung gingen viele Künstler zu Werke. Punk und New Wave auf der Leinwand, wenn man so will. Bloß keine kopflastigen Konzepte mehr. Schrankenlose, oft grelle Subjektivität brach sich Bahn, notfalls roh hingefetzte Handarbeit triumphierte über alles Durchdachte und Geschliffene. Da konnte auch mancher Pfusch mit durchgehen. Hauptsache spontan. Freiheit erwies sich zuweilen als bloße Frechheit. Kein Wunder, dass all dies das Marktgefüge durcheinander brachte, die Szene aufwühlte und spaltete. Nicht wenige Galeristen lehnte die neuen Bilderwelten rundweg ab.

Vor allem Künstler aus Italien und Deutschland zählten zu Vorreitern. Beginnen wir im zweiten Stock der Kunsthalle: Hier bekommt Francesco Clemente einen imposanten Auftritt. Seine dauerhaften Selbstbefragungen und flimmernden Ich-Überblendungen fließen in subtile, innige und zartsinnige Darstellung ein. Er zählt keineswegs zu den bedenkenlosen Tempo-Malern, im Gegenteil: Hier hat sich ein Werk über viele Jahre hinweg konsequent entfaltet. Auch Enzo Cucchi erscheint in diesem Kontext als Schwergewicht. Er findet immens dichte Sinnbilder fürs große Ganze der Existenz, für schreiende Ängste und kommende Katastrophen.

Der Künstlerkreis ums Kölner Gemeinschaftsatelier „Mülheimer Freiheit“ verschrieb sich hingegen anfangs dem fröhlichen Dilettantismus. Doch die einzelnen Maler fanden dann doch ihre je eigenen Wege – und sei’s die des „anything goes“. Paradebeispiele hierfür ist Dokoupil, von dem u. a. Beispiele aus den Serien der Schnuller- und der Ruß-Bilder zu sehen sind. Immer wieder wendet er sich anderen Stilrichtungen zu, er meidet jede persönliche Handschrift, jegliches Markenzeichen. Fast täglich alles anders. Es ist, als deute dies schon voraus auf die schier unendlichen, anonymen Bilderberge im Internet. Schnoddrige Beliebigkeit oder „postmodern“ gewieftes Spiel mit medialen Horizonten?

Rainer Fetting und Salome vertreten die schrille Berliner Richtung. Fetting wird hier als Nachfahre der Expressionisten (Kirchners Badebilder) sichtbar, selbst die spontanste Wallung ist eben nicht voraussetzungslos, sondern fußt auf Tradition. Fetting und vor allem Salome setzen heftige Zeichen einer schwulen Kultur, die hier ein für allemal aus subkulturellen Verstecken ausbricht. Folgt man den Pfaden der Bielefelder Schau, so waren die 80er in der Kunst ohnehin eine weitgehend frauenferne Angelegenheit, was Themen und Protagonisten angeht.

Hinunter ins erste Geschoss der Kunsthalle. Hier finden sich weniger fulminante Statements, jedoch spezielle Positionen von Wegbereitern der beharrlich besessenen Art. Peter Halley wurde nicht müde, mit seinen spröden Gitterbildern die Abstraktion als Gefängnis der Künste zu schildern. Philip Taffee trieb abstrakte und ornamentale Formen derart auf die Spitze, dass sie wie Tapetenmuster erscheinen. Auch bei den vertrackt zitierenden Schöpfungen des Schweizers John Armleder drängt ein grundsätzliches Unbehagen an vorheriger Kunst zum Ausdruck.

Ein hochinteressanter Sonderfall ist die Kunst von David McDermott & Peter McGough, die all ihre Bilder mit (weitgehend von historischen Inhalten losgelösten) Jahreszahlen versehen und selbst ein Leben wie zu viktorianischer Zeit führen. Abschied von der linear fortlaufenden Geschichte, in der man nunmehr willkürlich überall „andocken“ kann.

Mag es aus zeitlichem Abstand auch einige ästhetische Gemeinsamkeiten geben, so zählt doch auch in den 80ern die Stringenz des konkreten Lebenswerks, ja ganz zuletzt kommt es auf das einzelne Bild an, das in den besten Fällen den bloßen „Zeitgeist“ weit übersteigt.

„The 80s Revisited“. Kunsthalle Bielefeld, Artur-Ladebeck-Straße 5. Bis 20. Juni 2010. Geöffnet Di-So 11-18, Mi 11-21, Sa 10-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 7 Euro. Katalog (umfasst auch die Exponate des 2011 folgenden zweiten Teils der Ausstellung): In der Kunsthalle 29,90 Euro, im Buchhandel 49,90 Euro.




Ästhetik aus der Tüte

Was haben die Künstler Max Liebermann, Otto Modersohn, Fritz Overbeck und Max Slevogt gemeinsam?

Sie alle entwerfen um 1900 Reklame-Bilder für die Schokoladenfabrik Stollwerck. Der Impressionist Slevogt geniert sich allerdings ein wenig dafür und lässt seine Signatur in diesem Umfeld beiseite. Werbung gilt nicht als sonderlich fein. Kann man sich damit gar den künstlerischen Leumund ruinieren? Vorsicht, Vorsicht!

Im Herner Emschertal-Museum wird das Wort Kunst hingegen schon graphisch im Titelschriftzug betont. Die aus Berlin kommende Wanderschau heißt „ReklameKunst auf Sammelbildern um 1900“, auch die aufdringlichere Schreibweise „ReklameKUNST“ findet sich im Faltblatt. Wir haben es also mit einem Phänomen im weiten Grenzgelände zwischen Kultur und Kommerz zu tun. Die Ursprünge der Gattung liegen um 1870 in Paris. Die Drucktechnik (Farblithos) erreicht zur Jahrhundertwende eine ungeahnte Blüte, vorherrschende Richtung ist der Jugendstil. Dass es bei aller Ästhetik knallhart um Absatzmärkte geht, steht rückseitig auf demselben Blatt.

Firmen wie Stollwerck, Liebig (Fleischextrakt), Palmin und Knorr haben mit ihren teilweise sehr liebevoll gestalteten Bilderserien zeitweise großen Erfolg. Schon bald gibt es zahlreiche Sammelalben und eine staunenswerte Themen-Differenzierung. Schulkinder sind zunächst die hauptsächliche Zielgruppe, später kommen auch beflissene Erwachsene aus dem Bürgertum hinzu. Neben halbwegs humorige Idyllen sowie frühe Sport- und Märchen-Motive tritt pittoresk aufbereitetes Bildungsgut mit leicht fassbaren Botschaften, etwa in Gestalt von Herrscherporträts, Bildnissen historischer Gestalten (Sokrates, Hannibal, Galilei, Luther) oder simplifizierende Ansichten zur Welt des Mittelalters. Volksbildung, sozusagen aus der Tüte. Ideologie raschelt vernehmlich mit.

Kein Wunder, dass ein solch massenhaft verbreitetes Medium irgendwann politisch in Dienst genommen wird. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs legt Palmin die deutschnationale Reihe „Unsere Kolonien“ auf, und der Süßwaren-Produzent Stollwerck feiert das stramm Soldatische mit heroischen Schlachtenmotiven. Eine ausgesprochene Rarität sind dagegen jene Ansichten von Mietskasernen aus dem Dickicht der Städte. Fast könnte man dahinter eine soziale Anklage vermuten, doch dies wäre sicherlich eine Überinterpretation.

Der erläuternde Untertitel klingt umständlich: „Eine Ausstellung des Museums Europäischer Kulturen – Staatliche Museen zu Berlin im Rahmen des Föderalen Programms der Stiftung Preußischer Kulturbesitz.“ Mit solchen Übernahmen sparen regionale Museen Geld und Aufwand, sie müssen aber mit der vorhandenen Aufarbeitung und Präsentation vorlieb nehmen. Fix und fertig bedeutet auch lückenhaft. Im Falle der Reklamepostkarten wäre eine prägnantere Darstellung wirtschafts- und sozialgeschichtlicher Hintergründe wünschenswert.

So vermittelt die Kollektion (Sammlung Detlef Lorenz) vorwiegend nostalgische Schauwerte, und zwar vielfach en miniature. Für Details ist hin und wieder gar eine Lupe ratsam, denn einzelne Bilder haben Briefmarkenformat. Liebling, ich habe die Werbung geschrumpft…

„Reklamekunst auf Sammelbildern um 1900“. Emschertal-Museum / Städt. Galerie im Schlosspark, 44629 Herne, Karl-Brandt-Weg 2. Bis 3. Januar 2010. Öffnungszeiten Di-Fr 10-13 und 14-17, Sa 14-17, So 11-17 Uhr. Tel.: 02323/16 26 59. Eintritt frei. Kein Katalog. Weiterführende Literatur: Lorenz, Detlef „Reklamekunst um 1900. Künstlerlexikon für Sammelbilder“, Berlin 2000.




Wer ohne Sünde ist…

Die meisten Kunstausstellungen vergleichen in erster Linie Bild mit Bild, ja sozusagen Pinselstrich mit Pinselstrich. Einige aber setzen ausdrücklich Bild und Wirklichkeit miteinander in Beziehung. Zu dieser anregenden Sorte gehört jetzt auch „Freiheit – Macht – Pracht“ im Wuppertaler Von der Heydt-Museum.

Hier wird niederländische Kunst des 17. Jahrhunderts („Goldenes Zeitalter“) vornehmlich als Ausdruck der damaligen Politik, Wirtschaft, Religion und Gesellschaft verstanden. Daraus ergeben sich vielfach erhellende Ansichten.

Katalog und/oder Führung sind diesmal besonders ratsam: Denn erst wenn man die Hintergründe kennt, sieht man die Bilder mit anderen Augen. Bei all dem sollte man jedoch ihre Eigenständigkeit, ihren Eigen-Sinn zu schätzen wissen. Übers Dokumentarische hinaus bergen sie ja einen gehörigen künstlerischen „Überschuss“.

Die konfliktreiche Spaltung in nördliche (dauerhaft protestantische) und südliche (katholische) Niederlande (*** siehe Fußnote) ist eine Grundtatsache, die selbstverständlich auch die Künste geprägt und in verschiedene Richtungen gedrängt hat. Beispielsweise dieser direkte Kontrast in Wuppertal: Zwei Darstellungen andächtiger Frauen machen den Unterschied sinnfällig. Ein Gemälde aus dem Süden (Jacob van Oost d. Ä.) zeigt eine Betende vor dem Kruzifix (also vor einem gemachten Bildnis), im Norden (Cornelis Bisschop) ist die alte Dame hingegen völlig in sich gekehrt. Sie hat sich von allen äußeren Bildern abgewandt. Arg zugespitzt gesagt: Katholiken neigten zu schwelgend barocker, gern auch dramatisierter Bildlichkeit, Protestanten hielten es eher mit dem Wort.

Schon aus den bloßen Bildthemen lässt sich ersehen, womit im 17. Jahrhundert besonders profitabel gewirtschaftet wurde. In den Niederlanden waren dies vor allem Schiffbau, Fischfang sowie lukrativer Fernhandel und – daraus erwachsend – ein aufblühendes Finanzwesen. Hatte man zuvor etwa Händler mit Waagen und Bargeld gezeigt, so sind jetzt auch schon mal (vergleichsweise abstrakte) Wechsel oder sonstige Wertpapiere auf Bildern zu sehen.

Auch Tulpen-Zwiebeln wurden als Luxusgut kunstwürdig, die Spekulationen und der plötzliche Wertverfall lösten seinerzeit die Mutter aller Börsenkrisen aus. Basierend auf wirtschaftlichen Erfolgen, entfaltete sich gleichwohl ein neues Nationalgefühl. Dieses wiederum wird sichtbar in der weitgehend naturgetreuen Darstellung heimischer Gegenden. Vormals hatte man sich vor allem an italienischen Ideallandschaften orientiert.

Selbst mythologische Themen haben zuweilen ganz handfeste aktuelle Hintergründe. So reihen sich auf dem Bild „Neptun mit den Gaben des Meeres“ (um 1650/55, gemalt von Erasmus Quellinus II und Peter Boel) die reichlichen Früchte und Schätze aus dem Wasser als üppige Girlande aneinander. Dennoch schaut der Meeresgott missmutig und bedrückt drein. Warum? Weil just zu jener Zeit eine kriegerische Seeblockade den Genuss des maritimen Reichtums schmälerte. Die Klage über diese Blockade ist mithin das eigentliche Thema des Bildes. Und wenn Arent de Gelder um 1684 die im Exil lebende Jüdin Esther malt, die sich im Perserreich entschlossen für ihr Volk eingesetzt hat, so ist insgeheim (für den kundigen, gebildeten Zeitgenossen freilich überdeutlich) gemeint, auch der Protestant möge im Konflikt mit Katholiken standhaft bleiben.

Portraits entstehen gleichfalls nicht von ungefähr, sondern auftragsgemäß mit mehr oder minder verhüllten Absichten. Es geht vornehmlich um Repräsentanz, um Machtansprüche. So ließen sich damals zu Wohlstand gelange Bürger ganzfigurig malen – ein Zeichen der Dominanz, wie es bis dahin nur dem Adel zukam.

Pralle Genreszenen und Typenparodien aus dem bäuerlichen Leben (Suff, Spielsucht und Faulheit als Dauervorwürfe), aus Wirtshäusern und Bordellen dienen einerseits der ergötzlichen Unterhaltung, andererseits erheben sich die betrachtenden Bürger über solche moralischen Abgründe. Mögliches (bigottes) Motto der Distanzierung: „Gut dass w i r nicht so sündhaft sind.“ Flankierend finden sich Bilder wie Joost Cornelisz Droochsloots „Das Armenhaus in Utrecht“ (1654), die gleichsam das Loblied der bescheidenen, anständigen Armut anstimmen. Mittellosigkeit, so die protestantische Auffassung der Zeit, war keine Schande, sie war nämlich göttlich vorherbestimmt (prädestiniert). Man musste sie daher demütig annehmen und sollte nicht aufbegehren. Einmal darf man raten, wessen Interesse ein solcher Armutsbegriff entgegenkam.

Die historische Entwicklung der Liebesbeziehungen ist ein Kapitel für sich. Ehedem gab es das Konzept der „Romantischen Liebe“ noch nicht, es herrschte bei Eheschließungen dynastisch oder wirtschaftlich motivierter Pragmatismus. Auf Thomas de Keysers Gemälde „Bildnis einer holländischen Familie“ (um 1624) hält indes der betuchte Gatte zärtlich die Hand seiner Frau, die Kinder gruppieren sich dekorativ um das Paar – ein frühes Anzeichen fürs Aufkommen der später vorherrschenden Kleinfamilie.

Man ahnt: Das Sein bestimmte das Bewusstsein, auch im Maleratelier. Die Wuppertaler Schau erschöpft sich allerdings keineswegs in der Illustration materieller Bedingungen. Es sind grandiose Meisterstücke zu sehen – von Peter Paul Rubens bis van Dyck, von Ruysdael bis Jan Brueghel, Pieter de Hooch bis Jacob Jordaens und Gerard ter Borch bis Jan Steen.

Stupend die handwerklich großartige Feinmalerei des Trompe-l’oeil („Augentäuschung“), die ihre Gipfelpunkte im Stilleben erreicht und vom gewachsenen Selbstbewusstsein der Künstler sowie (indirekt) von einem kennerhaften Publikum zeugt, das derlei Finessen zu würdigen wusste. Früchte erscheinen da so überaus lebensecht gemalt, dass man schier hineinbeißen möchte, gemaltes Papier scheint leise zu rascheln. Die dargestellten Dinge bedeuten längst nicht nur sich selbst, sondern weisen über sich hinaus. Oft genug sind es Sinnbilder der Vergänglichkeit alles Irdischen.

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Daten/Fakten:

„Freiheit Macht Pracht – Niederländische Kunst im 17. Jahrhundert“. Noch bis zum 23. August im Von der Heydt-Museum, 42103 Wuppertal, Turmhof 8. Geöffnet Di bis So 11-18 Uhr, Do 11-20 Uhr. Führungen Sa 15 / So 12.30 und 15 Uhr, Themenführungen Do 18 Uhr (Info/Anmeldung 0202/563-6231). Katalog 25 €. Internet:

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*** Ausführliche Darstellung der historischen Voraussetzungen im Ausstellungskatalog, z. B. ab Seite 77: Der südliche Teil des Landes (heute Belgien) blieb nach dem Aufstand gegen den spanische Herrschaft („Achtzigjähriger Krieg“) unter spanischer Verwaltung, der Norden (heutige Niederlande) wurde zur Republik.

Die zehn Provinzen des Südens („Union von Arras“) waren durch spanischen Einfluss überwiegend katholisch geprägt, die sieben Provinzen des Nordens („Union von Utrecht“, heutige Niederlande mit der Provinz Holland, 1648 im Westfälischen Frieden zu Münster als Staat anerkannt) bekannten sich zum Protestantismus.




Wunder mit Widerhaken – F. C. Delius‘ Roman zur Erfindung des Computers

US-Amerikaner rühmen sich der Erfindung des Computers, doch irgendwann haben sie anerkannt, dass einst ein Deutscher die kreative Vorhut bildete: Konrad Zuse (1910-1995).

Stoff genug für Phantasien mit realistischer Sättigungsbeilage. Jetzt liegt ein Roman über Zuses Leben vor – verfasst vom vielfach bewährten Friedrich Christian Delius, der etwa auch schon das fußballerische „Wunder von Bern“ zum literarischen Spielfeld erkoren hat („Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“, 1994).

Der Titel des neuen Buches klingt artverwandt und beschwört ebenfalls „Wunder“ herauf: „Die Frau, für die ich den Computer erfand“ geht von der Fiktion aus, dass eben jener Konrad Zuse anno 1994 einen öden Braunschweiger Festakt zu seinen Ehren „schwänzt“ und statt dessen einem Journalisten zwölf Stunden lang (!) Bekenntnisse auf Band spricht, die erst posthum publiziert werden sollen. Schon die exorbitante Länge riecht nach Protest gegen den heute vielfach üblichen Häppchen-Journalismus.

Das denkwürdige Treffen begibt sich sozusagen in der mittleren Mitte Deutschlands – im hessischen Rhön-Kreis Hünfeld, zu Zeiten des geteilten Landes ein Grenzgelände des Kalten Krieges, auf dem West und Ost einander kriegsbereit belauerten (Stichworte: „Fulda Gap“, „Point Alpha“ bei Geisa). In dieser Gegend hat der gebürtige Berliner Zuse nach dem Zweiten Weltkrieg gelebt.

Der Romantext besteht – bis auf einen einzigen Satz – ausnahmslos aus den auf Band aufgezeichneten Passagen. Die Sprache liest sich dementsprechend lebendig und spontan, sie hört sich nicht „nach Papier“ an. Gut vorstellbar, dass auch Delius seinen Text zur Probe auf Band gesprochen hat. Aufgeteilt ist das Ganze in knappe Kapitel, was die einladende Lektürefreundlichkeit noch steigert. Man kann das Buch also recht glatt und zügig „weglesen“; eine Feststellung, die nicht etwa als vergiftetes Lob verstanden werden möge. Denn das Widerspenstige und die Widerhaken gegen oberflächlich flotten Zeitgeist und digitale Idiotie stecken im (vordergründig kulinarisch dargebotenen) Inhalt.

Zentrale, doch ungreifbare Gestalt ist eine gewisse Ada Lovelace (1815-1852), Tochter des romantischen Dichters Lord Byron und dazumal rares weibliches Genie der Mathematik, die bei Leibniz’ binärem Zahlensystem angeknüpft hat. Man sagt ihr nach, sie habe bereits die allererste Programmiersprache skizziert. Zuse stößt in den 1930er Jahren in einem Buch auf die jung verstorbene Britin und verliebt sich in sie – sozusagen im Überschwang eines erfinderischen Eros über Generationen hinweg. Jahrzehnte bleibt er ihr insgeheim treu, und sie beflügelt ihn, ja sie scheint ihn durch prekäre Situationen zu geleiten wie ein Engel.

Wunder über Wunder allein schon, wie es Zuse gelingt, die ersten Apparate in Berlin-Kreuzberg unter widrigsten Umständen zu bauen und dass er später seine Erfindung (eine monströse, aber schließlich wie geölt funktionierende Maschine mit dem Hilfsnamen „A 4“ bzw. „Z 4“) durch die kriegerischen Wirren nach Bayern rettet. Der erste Prototyp „A 1“ war 1938 noch ein mechanisch ratterndes Ungetüm gewesen, das notgedrungen aus lauter Ersatzmaterialien bestanden hatte.

Der erfahrene Schriftsteller Delius spielt in der offenbar gründlich recherchierten, jedoch mit erfinderischer Lust angereicherten Geschichte allerlei Themen und Motive durch, durchweg stilsicher, stellenweise kunstvoll, ja virtuos: Da geht es vorderhand um mögliche Verfehlungen und die Verantwortung des Ingenieurs im „Dritten Reich“. Sehr differenziert kommt hier Zuses spezielle Form des freimütig eingestandenen Mitläufertums zur Sprache. Er hat auch bei Berechnungen mitgeholfen, um deutsche Fliegerbomben zu optimieren. Hätte er sich weigern können? Hätte er dann noch weiter an seinen programmierbaren Maschinen arbeiten können?

Besessen und getrieben von seiner eigentlichen Aufgabe, an der er in 80-Stunden-Wochen gearbeitet hat, hat sich dieser Mann durch alle Fährnisse laviert. Der Roman scheint den Schluss nahezulegen, dass Zuse dabei wahrscheinlich anständiger geblieben ist als der allseits dienliche Raketenpionier Wernher von Braun. Ein irritierendes Flimmern ergibt sich freilich aus der (natürlich vom Autor Delius arrangierten) subjektiven Rede, die ja immerhin schönfärberisch und selbstgerecht sein könnte. Doch der uneitle Tonfall spricht wiederum gegen solchen Verdacht.

Ein weiterer Themenstrang ist die unaufhörliche Rivalität zwischen Künsten und Geisteswissenschaften sowie Mathematik, Natur- und Ingenieurswissenschaften. Zuse erscheint nicht als zorniger, doch als schroffer und schräger alter Mann, der sich aus den bislang lebenslang durchstreiften Gefilden der Logik endlich ins befreite Phantasieren hinein bewegt und nun frei von der Leber weg reden kann: „…die Zukunft gehört der Kunst. Ohne Kunst ist das Leben ein Irrtum…“, sagt er mit Anklang an Nietzsche.

Vor allem aber zitiert Zuse immer wieder aus Goethes „Faust“, vielleicht auf der Suche nach dem Faustischen und Mephistophelischen schlechthin. Doch er hat’s stets ein paar Nummern kleiner und damit menschlicher. Ada statt Mephisto, so lautet die Formel. Bei aller Knorrigkeit und Sperrigkeit und trotz opportunistischer Anwandlungen begegnet uns in Konrad Zuse, so wie Delius ihn darstellt, eine vorwiegend sympathische Figur, die durch Schattierungen und Schraffuren genauer, wahrhaftiger wird.

Nicht ungern sieht dieser Zuse sich endlich als Erfinder gewürdigt, doch sind ihm eitle Allüren fremd. Ihm geht es schlichtweg um die Richtigkeit der Sache. Dass die Amerikaner ihn (nicht zuletzt mit gezielt eingesetzter Dollar-Power) in den 1960er Jahren rasant überholt haben, das hat ihn geschmerzt, doch irgendwann hat er auch das verwunden. Man stelle sich mit F. C. Delius vor, was da hätte entstehen können: Ein weltweit führendes „Silicon Valley“ rund um Fulda und Hünfeld – das wäre doch auch zu irrwitzig gewesen, oder?

Friedrich Christian Delius: „Die Frau, für die ich den Computer erfand“. Roman. Verlag Rowohlt Berlin. 284 Seiten. 19,90 €.




Kunst 1968: Alles auf Anfang

Zu „1968“ ist nun wahrlich so manches gesagt und gezeigt worden. Da fällt einem kaum noch etwas ein. Die meisten Restbestände vom Dachboden der Zeitgeschichte dürften zum 40. Jahrestag anno 2008 auf den Tisch des Hauses gekommen sein. Oder etwa nicht? *** (siehe Fußnote). Man glaubte jedenfalls, über die damalige Rebellion in groben Zügen einigermaßen Bescheid zu wissen.

Umso mehr verwundert nun der Ansatz der Bielefelder Kunsthalle. Dort steht die Kunst des Jahres 1968 unterm Leitwort „Unschuld“. Ja, das Motto lautet sogar „Die Große Unschuld“. Während andere Museen die politischen Aspekte von 1968 rauf und runter buchstabiert haben, steht Bielefeld mit dem ästhetischen Zugang ziemlich einzig da.

Nanu? Unschuld? Auf diesen vermeintlich Harmlosigkeit aufrufenden Begriff ist man nicht gerade gefasst, wenn man an jene Zeiten zurückdenkt. Doch beim Rundgang durch die Bielefelder Schau leuchtet die Perspektive so manches Mal ein. Um den geronnenen Klischeesatz gleich zu verwenden: So viel Anfang wie damals war selten. Sinnbildlich für weite Teile der Auswahl könnte der leere Globus des bei uns weitgehend unbekannten Slowaken Július Koller stehen: Da nimmt der innige Wunsch nach tabula rasa (reiner Tisch), nach völligem Neubeginn Gestalt an. Alles auf Anfang.

Allseits offen und frei gab sich sich seinerzeit die Kunst, gaben sich auch zahlreiche Künstler im Dasein. Gar vieles schien möglich zu sein. Kaum etwas, was nicht zum Experiment, zur Umschöpfung und gründlichen Umdeutung anregte. Diese wunderbare, vielfach zukunftsfrohe Vitalität des Veränderungswillens mutet im historischen Rückspiegel nicht nur unschuldig an, sondern gelegentlich auch ein wenig unbedarft und nahezu naiv. Aber man gäbe reichlich was drum, wenn wenigstens ein Hauch dieser Stimmung durch unsere Gegenwart wehen könnte.

Die Kunsthalle hat sich ein immenses Pensum aufgeladen, das beinahe ihre Dimensionen und Möglichkeiten sprengt. 350 Arbeiten von 150 Künstlern sind zu sehen. Nicht nur alle Etagen des Hauses werden (zuweilen dicht an dicht) „bespielt“, sondern die Flut der Exponate ist hie und da bis an den Rand der Treppenhäuser, in die Flure und ins Kellergeschoss geschwappt.

In dieser Fülle und aus dem gehörigen zeitlichen Abstand zu 1968 wird man einiges gewahr. So etwa auch die Leidenschaft des Zeitgeistes für allerlei aufblasbare Hüllen – von Christos berühmter Riesen-„Wurst“ auf der documenta bis zu Hans Holleins durchsichtigem, aufblasbarem „Büro“, das zugleich auf die schier grenzenlose Mobilität der Lebens- und Denkweisen und auf die Lust an der Transparenz verweist. Solche „Architektur aus Luft“ war gewissermaßen ein Prägezeichen der geschichtlichen Stunde. Gleich daneben vermittelt ein Flugzeugmodelle von Panamarenko das freudige Vorgefühl fürs Abheben.

Ausstellungs-Kurator Roman Grabner geht in der Interpretation noch weiter – und dabei zum Ursprung zurück. Er macht in den Kunst-Hüllen von und um 1968 imaginäre Gebärmütter aus, von denen sich die Menschen wohlig warm umhüllt fühlen konnten – auch ein Schutz gegen grellen Konsumterror, anschwellende Gewalt und (Vietnam)-Krieg? So betrachtet, gewinnt das Wort „Unschuld“ nochmals eine andere Qualität.

Doch natürlich lässt sich die vielfältige Kunst nicht so ohne weiteres auf wenige Begriffe bringen. Das ist auch gar nicht das Ziel dieser keineswegs eindimensionalen Ausstellung. Sie rekonstruiert Partikel eines Zeitklimas und eines Energiestromes, der zumindest in Rinnsalen bis heute fließt. Und es drängt sich der Eindruck auf: Alles, was wir heute als Kunst akzeptieren, hat damals einen Neuanfang genommen.

Viele Protagonisten der Zeit waren allerdings ausgesprochene Sonderlinge und Einzelgänger, die jeweils ureigenes Neuland betraten. Zahlreich also die „Positionen“, deren Hervorbringungen den Betrachter in wahre Wechselbäder tauchen und die sich nicht einfach gesellschaftlich „verrechnen“ lassen.

Einige Beispiele: Der noch junge Sigmar Polke drehte das bis dahin gängige Kunstvokabular durch den Wolf – stets in dem Sinne, nichts „Höheres“ mehr gelten zu lassen. Umgekehrt erlangten bei ihm rüde Schimpfwörter (auf einer Art Bildteppich versammelt) „Museumswürde“, die freilich zugleich wieder grundsätzlich dementiert wurde. Eine windungsreiche Kunst gegen jede hierarchische Ordnung.

Die Wiener Aktionisten (Otto Muehl, Hermann Nitsch, Günter Brus) ergingen sich derweil in rituellen Orgien mit Blut, Urin, Kot und Sperma. Der zur rigorosen Askese neigende Brus riskierte bei Performances des öfeteren seine physische Unversehrtheit.

Die Anfänge der avancierten Lichtkunst (Dan Flavin) kommen ebenso in Betracht wie die Entgrenzungen der Body Art und der Land Art, die letztlich ins Unendliche zielte und von der im Museum nur vage Spuren gezeigt werden können. Die fast vollkommene formale Zurückhaltung der Minimal Art wird hier – gerade im Kontrast zu aufgeregteren Spielarten – als Quell erhabener Ruhe erfahrbar. Die Arte povera (mit „armen“ Materialien geschaffen) spendet weitere, nochmals anders gelagerte Energien, etwa mit den (Uterus-förmigen!) Iglus des Mario Merz. Und die feministisch oder matriarchalisch inspirierte Kunst beispielsweise der grandiosen Louise Bourgeouis lässt auch die Frage nach einer etwaigen „spezifisch weiblichen“ Ästhetik aufkommen. Schwieriges Gelände.

Ebenso plakativ vordergründig wie abgründig wirkt der „Auftritt“ des Andy Warhol mit einem Motiv von 1963, das er just 1968 erneut aufgriff. Er stellte einen Elektrischen Stuhl auf die Bildbühne und „porträtierte“ das furchtbare Möbel in schillernd wechselnder Farbgebung. Ob dies irgend eine Kritik an Hinrichtungen bedeutet oder nur das Spiel mit visuellen Werten, ist ganz und gar nicht gewiss. Explizit „politische“ Kunst (z.B. Edward Kienholz) wird in Bielefeld eher in Nischen gezeigt. Der brachiale Einbruch des Vietnam-Krieges in spießige US-Wohnzimmer ist dabei ein Standardthema.

Auch gegenläufige Richtungen, an die man bei der Stichzahl „1968“ nicht sofort denkt, wurden just damals eingeschlagen und füllen das Maß in Bielefeld noch üppiger: In der DDR orientierte sich der frühe A. R. Penck (bürgerlich Ralf Winkler) an archaischen Signaturen der Höhlenmalerei. Georg Baselitz irritierte mit Hund- und Jagd-Bildern die linken Präferenzen, er wurde zunächst geflissentlich ignoriert. Noch heftiger am kritischen Zeitgeist zielte Anselm Kiefer vorbei, der sich vor diversen Hintergründen unverdrossen mit dem Hitlergruß zeigte. Um das Mindeste zu sagen: Eine ausgesprochen störrische, monströse Arbeit, die bis heute Rätsel aufgibt.

„1968. Die Große Unschuld“. Kunsthalle Bielefeld (Artur-Ladebeck-Straße 5). Bis 2. August. Geöffnet täglich 11-18 Uhr, Mi 11-21 Uhr, Sa 10-18 Uhr. Pfingsten (31. Mai/1. Juni) geöffnet). Eintritt 7 €, ermäßigt 2 bis 5 €, Familie 14€. Katalog (576 Seiten) im Museum 28 € (im Buchhandel 49,95 Euro). Internet: http://www.kunsthalle-bielefeld.de

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*** Die neueste Debatte (um den 2. Juni 1967, Kurras und die Stasi) lassen wie hier mal geflissentlich außen vor.




Varusschlacht: Phantombild der Antike

Das ist nun mal wirklich ein „runder“ Gedenktag: Vor 2000 Jahren (also 9 n. Chr.) schlug der germanische Cheruskerfürst Arminius („Hermann“) den römischen Feldherrn Varus – irgendwo in den heute niedersächsischen oder westfälischen Gegenden rings um den Teutoburger Wald.

Das heißt: Es war selbstverständlich kein bloßer Zweikampf, sondern eine massenhafte Schlacht zwischen den jeweiligen Gefolgsleuten, vulgo Soldaten (die ja immer dran glauben müssen, wenn mächtige Herrschaften ihren Namen „für alle Zeit“ vergolden wollen). Womit der erforderlichen political correctness halbwegs Genüge getan wäre.

Unerhört für die damalige Weltmacht Rom: Gegen die vermeintlich wüsten „Barbaren“ aus dem Norden verlor man gleich drei Legionen – eine Schmach, die man südlich der Alpen und westlich des Rheins nicht wahrhaben wollte.

Jetzt soll ein schier unüberschaubarer Ausstellungsreigen gleich an drei Orten (Haltern am See, Detmold und Kalkriese) das historische Ereignis wachrufen, so gut es eben geht. Eine leitende These richtet sich gegen altgediente Klischees. Ganz knapp und knackig gefasst: Varus war beileibe kein Depp oder geborener „Loser“, und Arminius war zwar offenkundig listenreich (bis hinterhältig), doch keinesfalls ein makelloser Held nach Art eines „David gegen Goliath“.

Überhaupt zogen die Germanen gegen die überlegenen Römer immer wieder nur deshalb zu Felde, um schlichtweg Beute zu machen, um zu plündern und zu brandschatzen. Sie betrieben – wie man heute weiß – eine „Raub-Ökonomie“. Kein schmeichelhafter Zug der Altvorderen, fürwahr.

Haltern skizziert mit hochinteressanten Funden und sonstigen Schaustücken das ungeheure Anschwellen und Aufblühen des altrömischen Imperiums („vom Dorf zur Weltmetropole“) und behält dabei nach Möglichkeit stets die Biographie des Publius Quinctilius Varus (geboren 47 v. Chr.) im Blick. Dies kann allerdings – trotz aller Ausgrabungserfolge und Deutungsschläue – buchstäblich nur in Bruchstücken geschehen.

Die rund 300 aufwändig inszenierten Exponate in der gründlich umgebauten Seestadthalle (Seitenaspekte sind zudem im örtlichen Römermuseum zu finden) führen zurück in ein „Goldenes Zeitalter“ Roms unter dem Kaiser Augustus.

Varus war Augustus eng verbunden, er absolvierte damals eine fulminante Karriere im Römischen Reich, war 13 v. Chr. Konsul und begleitete Augustus auf heikler diplomatischer Mission (u. a. Verhandlungen mit den Parthern, die im heutigen Iran herrschten).

Münzfunde aus Nordafrika lassen zumindest vage auf Varus’ Physiognomie schließen. Populäre Weiterung: Daraus hat das Landeskriminalamt von NRW gar im Museumsauftrag ein Phantombild erstellt, das nun die Ausstellung ziert. Ganz so, als würde hierzulande noch nach Varus gefahndet.

Dieser Varus war zeitweise römischer Statthalter in Syrien. Als solcher regierte er auch ins angrenzende Judäa hinein, wo er Unruhen niederschlug, indem er ungefähr 2000 Aufständische kreuzigen ließ. Davon zeugt ein auf den ersten Blick unscheinbares Vitrinenobjekt. Es ist das Fragment eines Fersenbeins, durch das seinerzeit ein Nagel getrieben wurde. Aus all dem kann man wohl folgern: Varus war durchaus ein mehr als harter Widersacher, wenn es darauf ankam.

Noch so ein verräterisches Detail: Anhand der Inschrift auf einer Bleischeibe (die als eine Art persönlicher „Gepäckanhänger“ diente) konnten Experten nachweisen, dass Varus schon 15 v. Chr. im Alpen-Feldzug jene Legion kommandiert hatte, mit der er rund 20 Jahre später im Teutoburger Wald vernichtend geschlagen wurde.

Funde aus Haltern selbst wiederum bezeugen, dass die Legion 19 (Inschrift auf einem Bleibarren: L XIX) eben hier wenigstens teilweise stationiert war. Jedenfalls wurden auf der Lippe nachweislich auch Luxusgüter wie Wein und Austern zu den römischen Truppen geliefert. Weitere Fundstücke wecken neuerdings Spekulationen, dass Haltern das sagenumwobene Aliso gewesen sein könnte – die wohl letzte rechtsrheinische Bastion der Römer.

In Kalkriese stehen unter dem Schlagwort „Konflikt“ die eigentlichen militärischen Auseinandersetzungen im Brennpunkt, die sich mit Ausläufern bis etwa 16 n. Chr. hinzogen. Man scheut sich auch nicht, nebenher zur fassbaren Verdeutlichung ganze Legionen aus Playmobil-Figuren aufzubieten. Und man glaubt recht felsenfest, in Kalkriese inzwischen genügend Beweise gesammelt zu haben, um einigermaßen schlüssig zu belegen, dass die Varus-Schlacht just hier stattgefunden habe; ein altes Streitthema, das sich (etwa wegen heikler Datierungsfragen) immer noch nicht völlig erledigt hat.

In Detmold schließlich thematisiert man unter der Überschrift „Mythos“ die vielfältigen, nicht selten auch gefährlichen Phantasien, die aus der Schlacht hergeleitet worden sind. Schon der antike Autor Tacitus hatte ja die „deutschen Tugenden“ mutmaßlich zugespitzt und übertrieben, um die dekadenten Römer aufzurütteln.

Oft genug handelte es sich bei uns später um „Helden“-Verehrungen mit arg deutschnationaler („germanischer“) Schlagseite oder sogar mit faschistischer Prägung. So sieht man sich jetzt auch in Detmold veranlasst, den heutigen Frieden im vereinten Europa zu beschwören und gleichzeitig besondere Sicherheitsmaßnahmen gegen einen etwaigen Missbrauch der Schau zu ergreifen. Traurig genug, dass so etwas nötig zu sein scheint.

Viel lieber reden die Veranstalter des 12 Millionen Euro teuren Dreifach-„Events“ (Schirmherrin: Kanzlerin Angela Merkel, die morgen nach Detmold und Kalkriese zur Eröffnung kommen will) von den touristischen Vermarktungs-Chancen, die sich aus der geballten Kooperation ergeben. An allen Orten insgesamt rechnet man mit exorbitanten 500 000 Besuchern. Allein im doch recht kleinen Haltern kalkuliert man mit mindestens 150 000 Gästen. Damit geriete die Kapazität der Stadt an manchen Tagen an ihre Grenzen. Beinahe schon beängstigend: Schon jetzt sind weit über tausend Gruppenführungen vorgebucht.

Und um also auch diesen Kalauer des Anklangs noch schnell loszuwerden: Ein wahres Fieber, dieses Varus-Fieber.

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Daten und Fakten:

„Imperium – Konflikt – Mythos“. 2000 Jahre Varusschlacht.

Haltern, Seestadthalle (Lippspieker 25) und LWL-Römermuseum (Weseler Straße 100). 16. Mai bis 11. Oktober. Di-Fr 9-18 Uhr, Sa 10-20 Uhr, So 10-18 Uhr. Eintritt 9 € (ermäßigt 6 €).
Kombikarte für alle drei Ausstellungsorte 18 €. Dreibändiger Katalog, Museumsausgabe 59,90 €. Weitere Infos, Buchungen von Führungen: 02364/93 76-38 (Führung oder Audio-Führung unbedingt empfehlenswert).
Internet (auch mit Daten für Detmold und Kalkriese) http://www.imperium-konflikt-mythos.de




Triebstau und Freiheitsdurst – der Roman „Empörung“ von Philip Roth

Das ist das Wunderbare an Literatur: Dass sie einen in alle Zeiten und Rollen eintauchen lässt. Wollte man nicht immer schon mal wissen, was ein US-Student 1951 (zur Zeit des Koreakrieges) so getrieben und wie er sich dabei gefühlt hat? Bitte sehr: Der famose Philip Roth lädt in seinem Roman „Empörung” unsere Phantasie mit solchen Erlebnissen auf.

Der Student heißt Marcus Messner, ist Sohn eines jüdisches (koscheren) Metzgers in New Jersey und weiß auch anschaulich von diesem blutigen Metier zu berichten, weil er seinem Vater einige Zeit im Geschäft geholfen hat.

Nun aber besucht Marcus das College – und wird seines Erzeugers nicht mehr froh. Denn der macht sich auf einmal derart viele Sorgen um seinen Sohn, dass er ihm nachspioniert und ihn am liebsten vor aller bedrohlichen Welt wegsperren würde. Bisher konnte man vernünftig mit dem Manne reden, doch nun? Es ist fürchterlich. Auch die Mutter leidet sehr.

Marcus zieht die Konsequenz und schreibt sich an einem anderen, weit vom Elternhaus entfernten College ein. Dort erlebt er nun diverse Reifeprüfungen des Lebens – keineswegs nur geistige.

Da ist vor allem die bezaubernde Olivia Hutton, die es ihm gleich beim ersten Date oral besorgt – und das in jenen prüden Zeiten, die sonst meist nur den sexuellen Triebstau kennen. Wow! Er kann’s kaum glauben, dass ihm so viel Gutes widerfährt.

Doch aus der unverhofften Fleischeslust erwachsen Sorgen. Olivia erweist sich als Problemfrau sondergleichen. Mit ihren nicht einmal 20 Jahren ist sie schon Alkoholikerin und hat einen Selbstmordversuch hinter sich. Außerdem sind Marcus‘ Zimmergenossen auf dem Campus unerträgliche Stinkstiefel, so dass er mehrmals umzieht – bis es dem Dean (etwa: Dekan) zu bunt wird. Er bittet Marcus zur hochnotpeinlichen Aussprache übers Sozialverhalten (Vorwurf: ständige Flucht vor unangenehmer Realität). Dabei steigert sich der eloquente, eigensinnige Student aus lauter Freiheitsdurst in eine Empörung hinein, ja er redet sich wohl schier um Kopf und Kragen . . .

Wenn man das alles mit fliegendem Atem liest, möchte man meinen, es mit dem Buch eines ganz jungen Autors zu tun zu haben, der aus unmittelbar praller Erfahrung berichtet. Frisch und frech klingt alles hier. Philip Roth ist 1933 geboren, er kannte also die Zeit um 1951 als ganz junger Mann. Und sie ist ihm offenbar sprühend lebendig geblieben. Staunenswert.

Marcus und viele seiner Altersgenossen fühlen sich allseits gefesselt – von starren gesellschaftlichen Konventionen, religiösen und familiären Rücksichten. Da droht sich etwas gewaltsam zu entladen. Doch die Revolten der 60er Jahre sind noch weit entfernt. Jungspunde, die nicht spuren und über die Stränge schlagen, werden um 1951 kurzerhand in den schrecklichen Kriegseinsatz nach Korea geschickt. Dieses mögliche Verhängnis schwebt jedenfalls als vage, düstere Verheißung über dem gesamten Geschehen dieses Romans und färbt insgeheim jede Handlung ein.

Philip Roth lässt den Leser nicht nur schwelgen und bangen, sondern gibt dem Buch gegen Schluss eine ungeahnte Wende, die alles Vorherige in ein anderes Licht stellt. Viel mehr wollen wir hier nicht verraten, sonst würde der Kunstgriff des Romanciers an Wirkung einbüßen. Nur so viel: Schmerzlinderndes Morphium ist im Spiel. Doch es gibt Schmerzen, die letztlich niemals aufhören . . .

Philip Roth: „Empörung”. Roman. 201 Seiten. Hanser Verlag. 17,90 Euro.




Ein Lieblingsbuch der Engländer – James Boswell: „Dr. Samuel Johnson“

Vorfälle aus dem 18. Jahrhundert kommen nur gar zu oft in altertümlicher, gravitätischer Sprache daher. Deshalb scheinen uns das Zeitalter und die Menschen von damals so fern zu liegen.

Jetzt aber liegt ein Buch wieder vor, das einen mit all seiner Lebendigkeit sehr rasch vom Gegenteil überzeugt. Wir reden von James Boswells famoser Lebensbeschreibung über „Dr. Samuel Johnson”.

Der Titel klingt staubtrocken, dahinter aber verbirgt sich anregender Lesestoff über viele hundert Seiten. Der Band empfiehlt sich nachdrücklich zur (Wieder-) Entdeckung. Nicht von ungefähr gilt dieses Werk bis heute als ein Lieblingsbuch der Engländer.

Besagter Johnson (1709-1784) war Studienabbrecher im schon damals ehrwürdigen Oxford, doch später ein lebenskluger Gelehrter, wie er im Buche steht. Vom Naturell her etwas faul, zwang er sich oft zu übermenschlicher Tüchtigkeit. Alle Achtung!

Kunst des
kultivierten
Gesprächs

Zudem war Johnson ein Genie der gehobenen, beredsamen Geselligkeit. Im London jener Jahre (damals die Welthauptstadt schlechthin) scharte er einen weitläufigen Kreis von Schriftstellern, Denkern, Malern und Schauspielern um sich. Man tafelte und trank, redete dabei recht freimütig über alles und jedes, was die Gemüter irgend bewegte. Das reicht vom ganz gewöhnlichen Alltag übers politische Tagesgeschäft (dessen Gebräuche oft stark an heute erinnern) bis hin zu Fragen von der Art, ob man Freunde und Verwandte im Jenseits wiedersehe (manche ja, manche nicht) und ob dies ein freudiges Ereignis sein werde. Kommt drauf an, denn (so Johnsons bemerkenswerte Ansicht): „Nach dem Tode sehen wir einen jeden in seinem wahren Licht.” Oha!

Fast immer geht es in den Gesprächszirkeln meinungsfreudig, häufig weise oder zumindest originell und schlagfertig zu; mal ist die Stimmung verhalten melancholisch, mal geradezu kalberig albern, ganz selten mit einem Stich ins Törichte.

Gewiss, da gibt es ziemlich zeitgebundene Themen und Urteile (etwa über Frauen und Ehe), die allerdings gerade aus weitem Abstand heraus historisch interessant sind. Im übrigen kam schon Johnson zur Loriotschen Einsicht, dass Männer und Frauen im Grunde nicht zusammen passen (aber einander brauchen).

In den allermeisten Momenten hat man jedenfalls den erstaunlichen Eindruck, mittendrin zu sitzen und aktuellen Streitgesprächen zu lauschen. In jedem Satz kann eine Überraschung lauern. Die Kunst des Gesprächs erwächst hier allemal aus edlem Wettstreit möglichst scharfsinniger Argumente. Wenn das keine Kultivierung ist!

Der Autor muss rundweg gepriesen werden: Der Schotte James Boswell (1740-1795) war rund 30 Jahre jünger als Samuel Johnson, den er bewunderte. Doch dieser fein-sinnige Beobachter hatte durchaus seinen eigenen Kopf und Willen. Amüsant die Sticheleien des überzeugten Engländers Johnson gegen alles Schottische. Boswell hat’s nicht krumm genommen. Auch Amerikaner und Franzosen bekamen schon damals ihr Fett weg. Wie gesagt: Es ist ein Lieblingsbuch der (gebildeten) Engländer.

Wir Deutschen kennen als entfernt vergleichbares Unterfangen Eckermanns getreulich notierte Unterhaltungen mit dem greisen Geheimrat Goethe. Diese erscheinen freilich geradezu devot vorgetragen, monologisch strukturiert und klassisch geglättet, während Boswells Aufzeichnungen auch in der herrlichen Übersetzung als quicker Quell sprudeln.

Gottlob hat dieser Boswell die munteren Dialoge bei Tisch und sonstwo zunächst in einer Kürzelsprache spontan mitgeschrieben und erst später genau ausgeführt. Somit sind wir hier ganz nah am ersten Eindruck der frischen wörtlichen Rede. Welch eine anregende Zeitreise!

James Boswell: „Dr. Samuel Johnson”. Diogenes, 848 S., 26,90 €.

INFO:

  • Zum Gesprächszirkel um Samuel Johnson zählten (neben dem Biographen James Boswell) u. a. der Maler Sir Joshua Reynolds, der Schauspieler David Garrick, der Autor Oliver Goldsmith sowie der Politiker und Philosoph Edmund Burke. Zuweilen gesellten sich kluge Damen hinzu.
  • Samuel Johnson ist bei den Briten „unsterblich”, weil er praktisch im Alleingang das erste große Wörterbuch der englischen Sprache schuf, das über 150 Jahre lang Maß aller Dinge war. Außerdem verfasste er eine englische Literaturgeschichte seiner Zeit.



Dortmunder Handschriftensammlung: Friedrich der Große bedankt sich für Heringe

Dortmund. Das soll Friedrich der Große geschrieben haben? Diese unscheinbaren, winzigen Buchstaben, jede Linie ausgesprochen blass, macht- und kraftlos wirkend? Ja, es stimmt. Und es war sogar der wohl letzte Brief, den der berühmte Preußenkönig (am 1. Juli 1786) verfasst hat. Das historische Papier gehört zu den wertvollsten Stücken der Dortmunder Handschriftensammlung.

Die wenigen Zeilen, die der kranke König aufs Blatt strichelte, sind auch inhaltlich bemerkenswert, wenn auch unscheinbar: Der Monarch bedankt sich bei einem Markthändler für die jüngste Herings-Lieferung. Derlei höfliche Bescheidenheit wirkt in dieser Schriftform schlichtweg anrührend. Kein Abdruck könnte ein solches Gefühl wecken. Dies vermag nur die originale Handschrift. Die Dortmunder Sammlung in der Stadt- und Landesbibliothek, die auch frühe Druckwerke und Dichter-Nachlässe umfasst, ist mindestens bundesweit bedeutsam. Ob Goethe, Annette von Droste-Hülshoff, Karl Marx, Thomas Mann, Albert Schweitzer oder auch US-Präsidenten wie Coolidge und Nixon – hier werden eigenhändige Schriftstücke vieler Größen aus Kunst, Kultur und Politik verwahrt.

Heinrich Zilles Entschuldigung für „Radaubetragen“

Wenn Jens André Pfeiffer, der Leiter der Handschriftenabteilung, einen ins „Allerheiligste“ vorlässt, kann einem schon etwas feierlich zumute werden: Im weitläufigen, akkurat klimatisierten Tresorraum lagern etliche Schätze der Geistesgeschichte. Forscher aus allen Weltgegenden verbringen hier zuweilen mehrere Wochen, um Handschriften buchstäblich mit der Lupe zu untersuchen.

Jede Schrift hat ihre spezielle Aura. Archivar Pfeiffer sagt, dass es längst nicht immer um Hochgeistiges geht, sondern um Alltag: „In vielen Briefen ,menschelt‘ es sehr.“ Kurzum: In diesem Paradies für Graphologen glaubt man häufig, den Schreibenden gleichsam über die Schulter zu schauen. Da beschleicht einen auch schon mal das Gefühl, ein klein wenig indiskret zu sein. Beispiel: Der „Milljöh“-Zeichner Heinrich Zille dürfte kaum geahnt haben, dass seine zerknirschte briefliche Entschuldigung für ein bierseliges „Radaubetragen“ in unbefugte Hände Nachgeborener geraten könnte. Recht privat muten auch Goethes Wein-Bestellungen und seine Klagen über Gallenbeschwerden an. Und an einen Tierpräparator, der für Goethe eine Schnepfe aufbereiten sollte, schreibt der Geheimrat, er erwarte jedes Knöchelchen des Vogels zurück. Klingt nach Ärger, falls denn doch etwas gefehlt haben sollte.

Karl Marx, der des öfteren an den Dichter Ferdinand Freiligrath geschrieben hat, meldet dringenden Geldbedarf an und lamentiert wieder einmal über seine Furunkel. Und Hermann Hesse hat einen Brief geradezu kindlich kunterbunt illustriert – Zeichen eines sonnigen Gemüts?

Wie kamen all diese Dinge nach Dortmund? Nun, in der Gründerjahren der 1908 er öffneten Bibliothek waren so genannte Autographen noch vergleichsweise preiswert zu haben. Zudem spendeten Stahlbarone und andere betuchte Bürger Geld für den Erwerb kostbarer Manuskripts und Drucke. Der damalige Bibliotheksdirektor Erich Schulz hatte ein Faible für Handschriften und konnte den Grundstock für die Sammlung legen, die dann stetig ausgebaut wurde und heute zigtausende von Katalognummern enthält.

Was man in Dortmund nicht unbedingt erwartet: Auch ein unvergleichlich gut erhaltenes Exemplar vom Text des Deutschlandliedes findet sich hier. Die sorgsame Reinschrift, die August Heinrich Hoffmann von Fallersleben am 26. August 1841 angefertigt hat, wird nicht verliehen – zu wertvoll, zu empfindlich ist das Kleinod.

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Infos:

  • Die Dortmunder Handschriftensammlung umfasst nahezu 30 000 Einzelstücke, etwa 115 Nachlässe und mehrere Tausend Frühdrucke ca. ab 1500 n. Chr., so auch die deutsche Erstausgabe von Daniel Defoes „Robinson Crusoe“(1720).
  • Hinzu kommen rund 900 historische Landkarten und Stadtansichten.
  • Ältester Besitz ist ein Pergament-Schriftblatt von Gregorius Magnus, das zu einem Codex des 9. Jahrhunderts gehört.
  • Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, Westfälisches Handschriftenarchiv. Königswall 18, 44137 Dortmund. Leitung: Jens André Pfeiffer 0231/750-23 206

(Der Beitrag stand am 2. Februar 2009 in ähnlicher Form in der „Westfälischen Rundschau“)




„Payback“: Das Leben besteht aus Schuld und Schulden – Margaret Atwood denkt über Tage der Abrechnung nach

Auf den ersten Blick scheint es ein Buch der Stunde zu sein. Unter dem Titel „Payback” (Rückzahlung) befasst sich die weltweit prominente kanadische Autorin Margaret Atwood mit Krediten, Zinswucher, Schuldnern und Gläubigern. Erste Ausläufer der jetzigen Wirtschaftskrise spielen schon mit hinein.

Doch Atwood bedient offenkundig keine kurzatmige Aktualität, sondern bereitet ihr Thema gründlich auf. Sie beginnt nicht etwa erst bei Adam und Eva, sondern setzt viel früher an: in den unvordenklichen Urzeiten der Evolution, in denen unser genetisches Erbe entstanden ist.

Daraus erwächst eine Kernthese. Die Idee eines gerechten Gleichgewichts zwischen Schuld(en) und Abzahlung sei tief in uns eingesenkt, sie habe sich – in wechselnden Formen – durch alle Epochen und Kulturen erhalten. Sprich: Wir ernten irgendwann, was wir gesät haben, jedes Soll und Haben wird im „großen Buch” verzeichnet und eines Tages abgerechnet.

Lektionen reichen
von der Urzeit
bis zur Börsenkrise

Atwood durchpflügt ganze Bereiche der Weltgeschichte, um praktisch immer und überall auf „Schulden” jeder Sorte als treibende Kraft zu stoßen; ganz so, als ließe sich die Welt aus diesem einzigen Beweggrund heraus erklären. Eigentlich keinWunder, denn natürlich findet Atwood überall das, was sie so innig gesucht hat. Immerhin hat sie einige sarkastische, lakonisch schnoddrige Wendungen parat („Raub und Plünderung sind ja schön und gut, aber . . .”), die mit gelegentlich angestrengter Lehrhaftigkeit versöhnen.

Da wird beispielsweise der tiefere Zusammenhang zwischen Geldschulden und Sündenschuld erwogen. Auch kommen Schuldknechtschaft, altertümliche Figuren wie der „Sündenesser” (der eine Schuld für eine Gegenleistung tilgt), Opfer und Blutrache in den weitschweifigen Blick. Ein Fazit: Im Leben bleibt man fast immer etwas schuldig.

Der Faustische Pakt mit dem Teufel (auch da droht der Tag der Abrechnung) wird ebenso ausgiebig erläutert wie die Dickens-Figur des kaltherzigen Geizhalses Ebenezer Scrooge, der zur Weihnachtszeit geläutert wird und mit seinen angehäuften Reichtümern fortan nur noch Gutes bewirkt. Auch Shakespeares Schulden-Klassiker „Der Kaufmann von Venedig” wird traktiert. Atwood buchstabiert all diese Fundstellen bisweilen etwas langwierig.

Immerhin: Man lernt dazu, man lernt nicht aus, auch gibt es manchen Geistesblitz. Doch auf Dauer kommen einem die Lektionen doch etwas umständlich vor. Auch das heutige, sich nüchtern gebende Wirtschaftsleben, so ahnt man jedenfalls, ist im Grunde von alten Mythen durchwirkt. Doch manches, was Atwood auftischt, wirkt wie aus dem Hut gezaubert.

Die Schrift, so erfahren wir, sei vor allem erfunden worden, um Schulden zu notieren, nicht etwa für poetische Ergießungen. Keine große Überraschung. Ein paar Seiten später sind wir plötzlich wieder bei weit überzogenen Kreditlinien und der in dieser Hinsicht bis dato so laxen US-Mentalität. So rollt das Ganze etwas ziellos vor sich hin.

Man hegt Hoffnung, dass am Ende eine literarisch unterfütterte Schulden-Theorie mit Nutzanwendung in der heutigen Krise stehen möge. Doch diese Hoffnung wird einigermaßen enttäuscht. Statt dessen wird der geizige Scrooge auf heutige GmbH-Verhältnisse getrimmt und (wie das Original) von Geistwesen auf lehrreiche Zeitreise mitgenommen. Doch hier soll er im finalen, globalen Schnelldurchgang sinngemäß lernen, dass man Geld nicht essen kann und dass wir die Erde von unseren Kindern nur geborgt haben. Klingt ausgelutscht? Wohl wahr! Tatsächlich läuft hier schließlich alles auf herzlich gut gemeinte Öko-Appelle hinaus. Nun ja.

Warum für diese Zeigefinger-Prosa gleich fünf (!) Übersetzerinnen ‚ran mussten, ist unerfindlich. War es etwa eine Gruppenübung im Rahmen eines Förderprogramms?

Margaret Atwood: „Payback. Schulden und die Schattenseiten des Wohlstands.” Berlin Verlag. 265 S., 18 €.




Deutsche Sprache – unverwüstlich: Bonner Haus der Geschichte illustriert den vielfältigen Wandel

Bonn. Absichtslos ins Blaue gezielt und trotzdem ein aktueller Treffer! Vor eineinhalb Jahren hatte das Bonner Haus der Geschichte begonnen, seine Ausstellung „Man spricht Deutsch” vorzubereiten. Da konnte noch niemand wissen, dass Ende 2008 eine fast hitzige Debatte darüber aufkommen würde, ob unsere vorwiegende Landessprache als Leitideal im Grundgesetz verankert werden soll.

Mal abgesehen von solchen Bestrebungen, hört sich auch folgender Befund zweischneidig an: Als „Geltungszwerg und Bedeutungsriese” könne das Deutsche (je nach Perspektive) gelten. Prof. Hans Ottomeyer fand die paradox klingende Formulierung, die ungefähr dies besagt: Weltweit spielt unsere Sprache nur eine Nebenrolle, doch hat sie sich so reich entfaltet wie kaum eine andere. Wenn das kein Grund genug zur Freude am geschliffenen Wort ist!

Der Geltungszwerg
gilt zugleich als
Bedeutungsriese

Ottomeyer leitet das Deutsche Historische Museum in Berlin, das diesmal eng mit dem Bonner Haus der Geschichte kooperiert und auch den selben Ausstellungs-Architekten engagiert hat. Vernünftige Arbeitsteilung: Bonn konzentriert sich jetzt auf den Sprachwandel seit dem Zweiten Weltkrieg, Berlin wird ab Januar bis in die Anfangsgründe der Sprachgeschichte zurückblicken.

Der Parcours ist ebenso eng wie kurzweilig geraten: Dicht an dicht sind rund 500 Exponate angehäuft, die so gut wie jeden Aspekt der deutschen Gegenwartssprache anklingen lassen. Einschlägige Tondokumente, Filmausschnitte (natürlich auch Gerhard Polts Satire „Man spricht deutsh”) und anspielungsreiche Gegenstände lockern die Abfolge der Schriftstücke auf.

Da geht es um frühkindlichen Spracherwerb, um ein- und ausgewanderte Ausdrücke, um die hässlichsten und schönsten (Libelle, Habseligkeiten) Wörter, den gar mächtigen Einfluss des Englischen, um Sprachprobleme der Migranten, deutsch-deutsche Vokabel-Differenzen und um die allzeit wechselhaften Jugend-Jargons seit dem flockigen Gerede der „Halbstarken” in den 50er Jahren („Zentralschaffe”) – bis hin zum türkisch-deutsch gemixten Straßen-Idiom „Kanak-Sprak”.

Auch Seitenblicke auf Gebärdensprache, Dichtkunst und Dialekte fehlen nicht. Werbe- und Polit-Sprache (längst nicht mehr so knackig wie bei Wehner und Strauß) geraten gleichfalls ins Visier. Vielerlei Stoff, fürwahr.

Etliche weitere Themen quellen aus dem Füllhorn. Auch der Einfluss von Fernsehen oder Internet auf Leselust und Lesefähigkeit wird angerissen, ebenso die Klischees vom Deutschen in anderen Ländern: harter Klang, Anmutung soldatischer Zackigkeit. Voltaire spottete schon 1750, Deutsch tauge „nur für Soldaten und Pferde”.

Bald weltweit auf
Werbetournee durch
die Goethe-Institute

Man bekommt zahlreiche kleine Denkanstöße – mit hübschen Details wie jenem Foto vom „Gastarbeiter”-Sprachunterricht der frühen 60er. Da steht an der Tafel ein zeittypisch kreuzbraver Übungssatz: „Der Herr gibt der Dame den Bleistift.” Nostalgisch auch die in langen Deutschstunden von Schülern verzierten und beschmierten Reclam-Hefte. Ein ähnliches Exemplar könnte wohl fast jeder beisteuern.

Sprache lässt sich nur umständlich bebildern, doch die Bonner lassen sich nicht lumpen. Die Erinnerung an die 50er wird etwa mit zeitgenössischen Comics und dito Kofferradios wachgerufen. Ein eigens gebauter Schreibroboter (der gleich nach Eröffnung der Schau den Geist aufgab) sollte mit metallischer Geisterhand (un)sinnige „Manifeste” zu Papier bringen, man hatte ihn mit Wortkaskaden und Satzbildungsregeln gefüttert. Immer wieder kann der Besucher sein Wissen testen – anhand von Quiz-Klappen mit aufgedruckter Frage und verborgener Antwort.

Die Schau versteht sich ausdrücklich als „Werbung” für die deutsche Sprache, sie wird anschließend einige Jahre lang vom Goethe-Institut auf Welttournee geschickt. Also gibt man zwar die eine oder andere kleine Bedrohung zu, doch im Grunde erscheint unsere Sprache als unverwüstlich und vital. Die Ausstellung gibt uns tröstlich zu verstehen: Das Deutsche habe schon manches verwunden und werde noch manches überstehen – auch steifen Bürokratenjargon, Anglizismen, SMS- oder Internet-Kürzel. Was die Sprache nicht abmurkst, kann sie bereichern.

„Man spricht Deutsch”. Haus der Geschichte, Bonn, Willy-Brandt-Allee 14. Bis 1. März 2009. Geöffnet Di-So 9-19 Uhr, Eintritt frei.

Die Sprachausstellung ergänzt die im selben Haus laufende Schau „Flagge zeigen. Die Deutschen und ihre Nationalsymbole” (bis 13. April 2009, ebenfalls Di-So 9-19 Uhr).

Die Berliner Sprachausstellung beginnt am 15. Januar 2009 im Deutschen Historischen Museum.