Aus dem Geisterreich der Geschichte: Johan Simons inszeniert in Bochum „Die Jüdin von Toledo“ nach Feuchtwangers Roman

Alles zertrümmern: Ensemble-Szene aus „Die Jüdin von Toledo". (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz - Schauspielhaus Bochum)

Alles zertrümmern: Ensemble-Szene aus „Die Jüdin von Toledo“. (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz – Schauspielhaus Bochum)

Große Erwartungen an der Königsallee: Der neue Schauspielhaus-Intendant Johan Simons (zuvor Chef der RuhrTriennale) zeigt seine erste Bochumer Premiere und hat mit „Die Jüdin von Toledo“ nach Lion Feuchtwangers Roman gleich einen höchst gewichtigen Stoff gewählt, der sich trotz historischer Ferne immer wieder aufs Heute beziehen lässt und verblüffende bis bestürzende Aktualität gewinnt. Und das keineswegs nur gedanklich, sondern mit genuin theatralischen Mitteln.

Das Grundgerüst der vielfältigen Ereignisse: Der kastilische König Alfonso (Ulvi Erkin Teke) sinnt mit anderen christlichen Fürsten auf einen neuen Kreuzzug gegen die andalusischen Gebiete Spaniens, in denen Muslime herrschen, seinerzeit als Garanten einer kulturellen Blüte sondergleichen. Zur Abwehr christlicher Angriffe rufen sie hernach freilich andere, weit weniger tolerante Glaubensbrüder zur kriegerischen Hilfe – ein Umstand, der sich womöglich durch all die Jahrhunderte fatal ausgewirkt hat.

Amour fou mit Gewalt-Faszination: Raquel (Hanna Hilsdorf), König Alfonso VIII. (Ulvi Erkin Teke). (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz - Schauspielhaus Bochum)

Amour fou mit Gewalt-Faszination: Raquel (Hanna Hilsdorf), König Alfonso VIII. (Ulvi Erkin Teke). (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz – Schauspielhaus Bochum)

König Alfonso, hier eher mit trottelhaften Zügen als bruchlos imponierende Heldenfigur, verfällt derweil einer Amour fou mit der schönen, muslimisch erzogenen Jüdin Raquel (gegen jedes Klischee besetzt: Hanna Hilsdorf) und lässt gar eigens ein Lustschloss errichten. Lässt ihr Vater etwa zu, dass sie sich als eine Art Hure verdingt?

Jedenfalls zieht Raquels mit manchen Wassern gewaschener Vater Jehuda (Pierre Bokma), vormals zum Islam konvertiert und nun wieder zum jüdischen Glauben zurückgekehrt, geschickt die Fäden in Alfonsos Staats- und Wirtschaftswesen. Derlei Aufschwung aber braucht Frieden als Grundlage, während der Ritterkönig Alfonso trotz anders lautender Verträge zum „Heiligen Krieg“ gegen die Muslime drängt und vom christlichen Scharfmacher De Castro (Guy Clemens) zusätzlich angetrieben wird. Zur gleichen Zeit werden Juden in Europa zunehmend verfolgt.

Gewalt macht grässlich geil

Es entsteht eine kreuz und quer verwobene, mitunter auch verworrene Gemenge-, Gefühls- und Gefechtslage, die tief bis in die Körperlichkeit hineinreicht. Macht und „Heldentum“, so sieht man vielfach, machen mitunter grässlich geil. Die abgründige Faszination durch schrankenlose Gewalt ist ein Kernthema des Stücks. Blutrünstige Vorstellungen erfassen nicht zuletzt die Frauen, die Königin (Anna Drexler) ebenso wie Alfonsos jüdische Geliebte. Hie und da erkundigen sie sich lechzend nach Leichenzahlen, bevor sie es bereitwillig treiben.

In einer Szene steigert sich der Befund zur ebenso bizarren wie lachhaften Gruppen-Orgie. Unbedingt nötig war diese Aufgipfelung nicht, sie brachte freilich die lautesten Lacher des Abends. Auch wirkte das anfängliche Gezerre des zehnköpfigen Ensembles um ein Tuch noch ein paar Spuren zu harmlos und „sportlich“ verhampelt für die verwickelten Interessenlagen. Doch das sind Ausnahmen in einer ansonsten sehr ernsthaften Aufführung, die gleichsam von Szene zu Szene an Dringlichkeit gewinnt. Übrigens erleichtern englische Obertitel auch deutschsprachigem Publikum den Zugang, falls denn mal ein Satz vernuschelt sein sollte.

Einige Zeitebenen sind zu bedenken

Regisseur Johan Simons und sein Dramaturg Koen Tachelet haben den Roman (als Aufbau-Taschenbuch immerhin 511 Seiten) zu einer knapp dreistündigen Theaterfassung konzentriert und dialogisch gekonnt aufbereitet. Das Ganze ist wahrlich nicht unkompliziert, sind doch einige Zeitebenen zu bedenken: Der Roman über die Kreuzzugszeit des 12. Jahrhunderts beschreibt die Beziehungen zwischen Christen, Muslimen und Juden in jener frühen Epoche. Gewiss ist er nicht ohne die Erfahrungen des jüdischen Schriftstellers Lion Feuchtwanger im erzwungenen Exil ab 1933 zu verstehen. Feuchtwangers Roman erschien 1955, umfasst also auch das furchtbare Wissen um den Holocaust. Schließlich spielen nunmehr heutige Konflikte zwischen den drei monotheistischen Weltreligionen hinein. Solche Fülle will erst einmal bewältigt sein.

Beiderseits der Mauer: Szene mit (v. li. im Vordergrund) Musa (Gina Haller), Raquels Vater Jehuda Ibn Esra (Pierre Bokma) und Raquel (Hana Hilsdorf). (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz - Schauspielhaus Bochum)

Beiderseits der Mauer: Szene mit (v. li. im Vordergrund) Musa (Gina Haller), Raquels Vater Jehuda Ibn Esra (Pierre Bokma) und Raquel (Hanna Hilsdorf). (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz – Schauspielhaus Bochum)

Der Bühne (Johannes Schütz) merkt man die Vielschichtigkeit nicht direkt an, im Gegenteil: Sie ist radikal reduziert auf eine im Grunde simple Geometrie aus Kreis (Drehbühne) und raumgreifendem Rechteck. Eine große weiße Mauer (Aus Styropor? Aus Rigips?) teilt die Spielfläche die ganze Zeit über in zwei variierende Hälften. Immerzu werden Figuren voneinander getrennt oder auch wieder zueinander gebracht. Beinahe unaufhörlich rotiert die Drehbühne, so dass die Darsteller stets in Bewegung sein müssen, sollen sie vorne sichtbar bleiben; es sei denn, sie lägen leblos Boden, was überaus häufig geschieht. Dabei sieht es manchmal so aus, als würden sie beinahe von der Mauer zermalmt. Doch selbst dann vollführen sie zwangsläufig die Drehung der Bühne mit.

Auch eine Klagemauer

Auf diese Weise entstehen – wie von Geisterhand – immer wieder neue Situationen und Konfrontationen oder auch Allianzen, wie denn überhaupt die Figuren gelegentlich wirken, als seien sie flackernde, schwankende, wankende Gestalten aus einem geschichtlichen Geisterreich, die aber jederzeit wiederkehren können. Sie tragen ja auch einen „ewigen“ Streit aus; jedenfalls einen, der nicht und nicht aufhören will und immer wieder ins falsche Heldentum „Heiliger Kriege“ mündet, die schon hier (jüdische) Flüchtlingsströme und deren rigide Abwehr nach sich ziehen. Die dominierende Trennwand ist daher auch und vor allem eine Klagemauer.

Zu schrecklichen Opfern bereit

Feuchtwangers historisch weitgehend faktengetreuem Roman folgend, ist dies ein vielfältig und oft gedanklich haarfein differenzierendes Stück, reich an Zwischentönen, die am Ende allerdings brutal erstickt werden. Mehrere Protagonisten, wie Alfonsos Beichtvater Rodrigue (Michael Lippold) oder auch der muslimische Arzt Musa (Gina Haller) unternehmen – aus unterschiedlicher Motivation (Menschenliebe, Pragmatismus, Fatalismus etc.) – immer wieder Anläufe zur Friedensstiftung und zur Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen den Religionen, ungefähr im guten Geiste von Lessings „Nathan“-Drama. Doch die kriegerischen Gegenkräfte scheinen übermächtig.

Die eifersüchtige Königin sorgt dafür: Den Juden wird am Ende, als alles zerstört ist, die Schuld an der christlichen Niederlage zugeschoben, weil die lüsterne Raquel Alfonso von Kriege abgelenkt habe. Die Juden haben keine Armeen und sie sind, wie es einmal raunend heißt, oft auf schreckliche Weise zu allen erdenklichen Opfern bereit. Wehe, wenn das aufgehetzte Volk auf sie losgelassen wird. Zunächst werden hier „nur“ Raquel und ihr Vater umgebracht, doch sind diese Morde Vorboten der Pogrome kommender Zeiten.

Neben all dem steht ein blinder Bettler und etwas entrückter „Seher“ (Risto Kübar), der – mal weise, mal opportunistisch – weitere Perspektiven ins Geschehen einbringt. Ist er nicht ein Nachfahr Shakespearescher Narren?

Nach der Schlacht: Ensemble-Szene. (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz - Schauspielhaus Bochum)

Nach der Schlacht: Ensemble-Szene. (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz – Schauspielhaus Bochum)

Wenn alles zertrümmert ist

Als Kriegslüsternheit und tödliche Intrigen die Oberhand gewonnen haben, wird minutenlang die weiße Mauer in Stücke geschlagen, bis die Bühne wie ein Schlachtfeld aussieht – oder wie das Eismeer auf Caspar David Friedrichs berühmten Gemälde. Es ist, als sei auch die Schutzmauer der Zivilisation gefallen.

Schon zu Beginn hat eine schrille Alarmsirene aufgeheult, zwischendurch haben immer wieder (Wach)hunde bedrohlich gebellt und schlimmste Assoziationen geweckt, auch haben anschwellende Motorengeräusche an Schlachten und Abtransporte neuerer Zeiten gemahnt. Am Schluss fährt die Bühne zurück und wird in Richtung Zuschauerraum gekippt, so dass alle Trümmerteile und alle Schauspieler haltlos hinunter rutschen. Ein immens starkes Katastrophen-Bild, das in Erinnerung bleiben wird.

Erstmals sind mit dieser Produktion Teile des völlig neu formierten Bochumer Ensembles zu erleben. Man darf annehmen, dass sie sich mit der Zeit noch mehr aufeinander einspielen, doch schon jetzt war ein von Simons geweckter Ensemble-Geist zu spüren. Niemand spielt sich über Gebühr in den Vordergrund, alle miteinander sind sie aufs bestmögliche Ergebnis aus. Ungeschmälerte Bewunderung ist indes Pierre Bokma als Jehuda zu zollen. Er ist denn doch ein Zentralgestirn, um das diese Aufführung zu wesentlichen Teilen kreist.

Großer, anhaltender Beifall für alle Beteiligten. Gut möglich, dass das Haus mit solchen Inszenierungen wieder nachdrücklicher auf der überregionalen Theater-Landkarte auftaucht. Eine ganz andere Frage ist, ob auch nennenswert viele muslimische Zuschauer sich das Stück ansehen werden.

Nächste Vorstellungen: 3., 4., 7., 16. November, 14., 16., 26. Dezember. Karten-Telefon: 0234 / 3333 5555. 

www.schauspielhausbochum.de




Panorama europäischer Baukultur: Diözesanmuseum Paderborn zeigt herausragende Gotik-Ausstellung

Das Diözesanmuseum Paderborn zeigt eine große Gotik-Ausstellung. Eingangsbereich der Ausstellung. Foto: Werner Häußner

Das Diözesanmuseum Paderborn zeigt eine große Gotik-Ausstellung. Hier der Eingangsbereich der Schau. (Foto: Werner Häußner)

Von Licht und Farbe durchflutete Räume, himmelwärts gelenkter Blick, filigrane, schwerelose Architektur: Die gotische Kathedrale fasziniert bis heute Betrachter und Besucher; die Interpretation dieses so revolutionär scheinenden Baustils füllt Bände. Die gotische Kathedrale, deren Entwicklung Ende des 12. Jahrhunderts beginnt, ist zum Inbegriff „mittelalterlicher“ Architektur geworden und hat in der Kulturgeschichte vielfältige Deutungen erfahren. Eine große Ausstellung widmet sich nun in Paderborn einem markanten Beispiel für diese Epoche.

Das Erzbischöfliche Diözesanmuseum stellt bis 13. Januar 2019 den Paderborner Dom in den Zusammenhang der Baukultur des 13. Jahrhunderts in Europa. 170 Leihgaben aus 80 renommierten europäischen Museen stellen Verbindungen her – zwischen der gotischen Baukunst Frankreichs und Westfalens ebenso wie zwischen dem Paderborner Bau und den geistig-theologischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufbrüchen im „Jahrhundert der Kathedralen“.

Anlass für die Ausstellung ist das Jubiläum der Weihe des hochromanischen Doms, den Bischof Imad vor 950 Jahren errichten ließ. Dessen Nachfolgerbau, der heute zu sehen ist, bezieht sich in seinen Dimensionen auf den Imad-Dom und betont damit die Kontinuität, obwohl der gotische Bau, so das Vorwort des voluminösen Ausstellungskatalogs, der erste Dom war, der nicht „aus Anlass der Zerstörung des Vorgängers erfolgte, sondern aus einem bewusst gefassten Entschluss, eine größere und modernere, d.h. gotische Kathedrale zu errichten“.

Zentrales „Ausstellungsstück“ ist der heutige Dom selbst. An ihm lassen sich die innovative Architektur- und Formensprache ablesen, die um 1215 unter direktem französischem Einfluss in Paderborn zu einem modernen Bau führte, der regionale spätromanische Traditionen selbstbewusst mit der neuen Formensprache verbunden hat. Dies sei, wie Museumsdirektor Christoph Stiegemann betonte, kein Zeichen von Provinzialität. Heute sehe die Forschung das Eigenständige der westfälischen Gotik nicht als Mangel, sondern als bewusste Entscheidung, gotische Formen in spätromanische Architekturkonzepte umzuschmelzen.

Älteste erhaltene Architekturzeichnungen

Wie war es möglich, Formen der französischen Gotik aufzugreifen und der heimischen Bautradition anzupassen? Darauf antwortet eines der herausragenden Stücke der Ausstellung: Die Reimser Palimpseste stehen als älteste erhaltene Architekturzeichnungen für ein Medium, das in wenigen Jahrzehnten sämtliche Bau- und Planungsverfahren revolutionierte. Nun konnten die Bauleute komplexe geometrische Architekturformen konzipieren und weiträumig kommunizieren. Die Zeichnungen machten die Formen skalierbar: Es entstand Architektur en miniature; gotische Formelemente ließen sich auf kunstvolle Goldschmiedearbeiten, Elfenbeinschnitzereien oder Reliquiare anwenden. In der Ausstellung steht für solche gestalterische Möglichkeiten das einzigartige Heiliggrabreliquiar aus dem Schatz der Kathedrale von Pamplona, das bisher noch nie in Deutschland gezeigt wurde; ebenso die originalen Fragmente des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Schreins der heiligen Gertrud von Nivelles.

Die Momumentalskulpturen am Hauptportal des Paderborner Domes. Foto: Werner Häußner

Die Momumentalskulpturen am Hauptportal des Paderborner Domes. (Foto: Werner Häußner)

Die Ausstellung verdeutlicht auch, dass die Gotik „mit einer völlig neuen Wirklichkeitserfahrung“ (Stiegemann) einhergeht. Sehen und Schauen als wesentliche Träger von Erfahrung spielen dabei ebenso eine Rolle wie die beginnende Individualisierung des Menschen, die sich in der Konzeption etwa von Heiligenfiguren ablesen lässt. Der berühmte „Kopf mit der Binde“ des Naumburger Meisters, eine der 15 herausragenden Leihgaben aus dem Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseum Mainz, zeigt lebensnahe Mimik: Das um 1240 entstandene steinerne Antlitz lässt sich als verhaltenes Lächeln, aber auch als wehmütiger Blick deuten und gibt der Bedeutungsforschung bis heute Rätsel auf.

Anders der Ausdruck des Engels aus dem Pariser Louvre: Sein entspanntes Lächeln vermittelt einen Eindruck von ruhevoller Heiterkeit, ohne einen Zug ins jenseitig Verklärte anzunehmen. Auch die monumentalen Apostel am Hauptportal des Paderborner Doms nehmen die Züge der neuen Individualität und einen emotionalen Ausdruck an. Sie treten dem Betrachter überlebensgroß als Person, nicht mehr nur als Repräsentanten einer Idee entgegen, wurzeln aber in ihrer Gestaltung aus der Fläche noch in älteren Traditionen: auch sie ein Beispiel selbstbewusster Eigenständigkeit.

Stein und Holz werden nebeneinander verwendet, da die Farbfassung das Material der Skulpturen verborgen hat. Eine jüngst durchgeführte dendrochronologische Untersuchung hat ergeben, dass die Eiche, aus der die beiden Figuren der Bistumspatrone Kilian und Liborius über den Portaltüren geschnitzt wurden, zwischen 1212 und 1224 gefällt wurde – ein wichtiges Datum für die ansonsten quellenmäßig nur dürftig abgedeckte Baugeschichte des gotischen Doms.

Projektleiterin Petra Koch-Lütke Westhues hat die Schau in sechs Stationen aufgeteilt. Sie beginnt mit dem Vorgängerbau, dem 1068 fertiggestellten romanischen Dom von Bischof Imad. Die Wandlungen von der ältesten Paderborner Bistumskirche aus der Zeit Karls des Großen bis hin zum heutigen Dombau veranschaulichen dreidimensionale Animationen. In den Blick rücken die baufreudigen Oberhirten aus der einflussreichen Familie Bernhards II. zur Lippe. Veranschaulicht werden die technischen Innovationen, die den Bau der Kathedralen erst ermöglichten, und die rationalisierten Abläufe an der Großbaustelle mit der Organisation der verschiedenen Gewerke.

Für die Liturgie der Zeit und die Funktion der Kathedrale als Haus Gottes, für das Wechselspiel zwischen öffentlich-repräsentativer Feier der Eucharistie und privater Frömmigkeit stehen exemplarische Leihgaben, aber auch die digitale Rekonstruktion des im 17. Jahrhundert abgebrochenen gotischen Lettners des Paderborner Doms. Eines der Kunstwerke ist ein um 1250 entstandenes Elfenbeindiptychon aus dem Museum für byzantinische Kunst in Berlin mit Szenen aus Passion und Auferstehung Jesu Christi; ein anderes ist die erlesene Goldschmiedearbeit aus der Domschatzkammer Essen, das Armreliquiar des heiligen Cosmas. Dieses Stück in Form eines silbernen Arms trägt auf den Spitzen der Finger einer eleganten Hand ein Türmchen mit gotischen Zierformen. Die um 1300 entstandene Kostbarkeit belegt, wie gotische Architekturelemente als Dekor in zum Teil winzigen Maßstäben in die Kunst übertragen wurden.

Doch die gotische Kathedrale war nicht nur steingewordenes Zeugnis des Glaubens und Abbild des himmlischen Jerusalem. Ein pointierter Katalogbeitrag von Bruno Klein verdeutlicht, in welch komplexe Deutungszusammenhänge die gotische Kathedrale im Lauf der Jahrhunderte eingebunden war. Er geht auch auf ihre Funktion im Rahmen der erblühenden städtischen Gesellschaften ein, in der sie eine dynamische Rolle als „Projektionsfläche besonders vieler und keineswegs einheitlicher Erwartungen“ fungierte. Darin sieht Klein den eigentlichen Grund für die Entwicklung dieses markanten Bautyps.

Die Dombauten als große Gemeinschaftsleistungen erfüllten eine aktive Funktion in religiösen, sozialen, politischen und künstlerischen Aushandlungsprozessen – und ihre Zeit ging, so die These, zu Ende, als sich die Gesellschaften zu weit ausdifferenzierten und „ein einzelnes Bauwerk nicht mehr die Interessen aller zum Ausdruck zu bringen vermochte“. Ein Aspekt, den eine Ausstellung nur sehr abstrakt darstellen kann, der aber in der Betrachtung der gezeigten Kunstwerke nicht aus dem Blick geraten sollte.

„Gotik. Der Paderborner Dom und die Baukultur des 13. Jahrhunderts in Europa“. Bis 13. Januar 2019 im Erzbischöflichen Diözesanmuseum Paderborn. Geöffnet Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr. Der Eintritt kostet neun, ermäßigt sechs Euro. Der Katalog mit 800 Seiten und 740 Abbildungen kostet in der Ausstellung 39,95 Euro. Info: www.dioezesanmuseum-paderborn.de/gotik

 




Wie eine späte Heimkehr: Essener Ruhr Museum zeigt stilbildende Revier-Fotografien von Albert Renger-Patzsch

Blick in die Ausstellung mit Fotografien von Albert Renger-Patzsch. (© Ruhr Museum / Foto: Rainer Rothenberg)

Blick in die Ausstellung mit Fotografien von Albert Renger-Patzsch. (© Ruhr Museum / Foto: Rainer Rothenberg)

Über Jahrzehnte hinweg hat dieser Mann den Blick geprägt, mit dem viele Menschen die Landschaft des Ruhrgebiets wahrgenommen haben: Albert Renger-Patzsch (1897-1966) ist wahrhaftig ein stilbildender Fotograf gewesen. Jetzt widmet ihm das Essener Ruhr Museum auf dem Gelände der Zeche Zollverein eine Ausstellung, die just hierher gehört: „Die Ruhrgebietsfotografien“ waren ab Ende 2016 zunächst in der Münchner Pinakothek der Moderne zu sehen, jetzt ist die Ausstellung – in stark erweiterter Form – gleichsam heimgekehrt.

Renger-Patzsch, sonst vorwiegend als Auftrags-Fotograf unterwegs, hat die Ruhrgebietslandschaften als sein größtes freies Projekt in Angriff genommen. Es sind keine Ansichten eines kurzfristig Zugereisten. Renger-Patzsch war mit dem Revier vertraut. Der Fotograf lebte von Ende 1929 bis zum Oktober 1944 (als sein Haus bei Luftangriffen zerstört wurde) in der Essener Künstlersiedlung Margarethenhöhe.

Schon vor seiner Umsiedlung ins Ruhrgebiet war der gebürtige Würzburger prominent gewesen, insbesondere durch seinen vielbeachteten Bildband „Die Welt ist schön“ von 1928, der mit Pflanzen-, Tier- und vor allem Objektaufnahmen bereits die neusachliche Sicht auf die Welt kultivierte.

Entdeckung der „Zwischenstadt“

Die jetzt in Essen gezeigten Serien seiner Ruhrgebiets-Aufnahmen sind vorwiegend zwischen 1927 und 1935 entstanden. Im Kontrast zwischen noch ländlichen Stadträndern und gewaltig aufkommenden Industrie-Giganten hat er völlig neuartige Räume bzw. Raum(un)ordnungen entdeckt und festgehalten. Viel später hat man für derlei schwer beschreibliches Niemandsland den Begriff „Zwischenstadt“ verwendet.

Und tatsächlich: Seine Bilder von Zechengebäuden und Halden-Landschaften, Vorstadt-Siedlungen und Schrebergärten zeigen ein damals atemberaubend neues Amalgam aus schwindender Natur und ungeheuerlich wachsender Industrie. Das hat es in dieser Form in ganz Deutschland nicht so beispielhaft monumental gegeben, auch in Europa suchten solche Konglomerate ihresgleichen.

„Fotograf der Dinge“ – wertfrei und objektiv?

Als Fotograf im Umkreis der Neuen Sachlichkeit hat sich Renger-Patzsch (ganz anders als etwa Erich Grisar, dem das Ruhr Museum und im Gefolge die Dortmunder Zeche Zollverein zuvor eine Ausstellung gewidmet haben) absolut nicht für Arbeitsbedingungen oder gar für Klassenkämpfe interessiert. Seine Bilder sind denn auch menschenleer, er ist ein „Fotograf der Dinge“.

Wohl erst mit heutigem Blick sieht man die Trostlosigkeit und die argen Verletzungen, die der Landschaft zugefügt wurden. Renger-Patzsch hingegen hat offenkundig noch den bizarrsten Industrie-Wüsteneien ästhetische Valeurs abgewonnen. Auch das macht diese Bilder so scheinbar zeitenthoben und klassisch. Ja, seine Sichtweise mutet weitgehend emotionslos, „objektiv“ und „wertfrei“ an, doch könnte man gegen die letzten beiden Zuschreibungen eine ganze Menge einwenden.

Ruhrgebiet früherer Zeiten

Es ist dies eine Wiederbegegnung mit dem „alten“ Revier, wie es bis in die 1960er Jahre hinein Bestand hatte, insofern liegen die 20er und 30er gar nicht so immens weit zurück. Die Ansammlungen von Schloten zwischen einer kahlen Baumreihe oder direkt hinter einer Arbeitersiedlung im Essener Nordend wirken durchaus imposant, die zuweilen monströsen Halden haben etwas von großer Geste.

Wertungen sind diesen Bildern allerdings fremd, auch die gewiss dürftigen Häuser wirken wie selbstverständlich hingestellt. Und wenn sich ein Zechenturm samt Schornsteinen direkt hinter einem geduckten Fachwerkhaus erhebt oder einige Kühe vor Schlotkulisse stehen, so sind das beileibe keine kritischen Stellungnahmen, sondern: Es ist, wie es ist.

Keine sonderlichen Schwierigkeiten nach 1933

Jedenfalls war sein bildkünstlerisches Werk auch nach 1933 sozusagen „anschlussfähig“, er scheint in der Nazi-Zeit keine sonderlichen Schwierigkeiten gehabt zu haben und konnte sogar für die paramilitärische NS-Organisation Todt tätig werden. Andererseits hatte er lediglich im Winter 1933/34 einen Lehrauftrag an der Essener Folkwang-Schule für Gestaltung. Hat er sich bewusst entzogen?

Ergänzt werden die zentral präsentierten Ruhrgebietslandschaften mit rund 200 weiteren Fotografien von Albert Renger-Patzsch, die sich in einigen Seitenkabinetten gruppieren und ebenfalls mehrheitlich Vintage-Prints, also Originalabzüge sind. Es handelt sich überwiegend um Auftragsarbeiten, entstanden ab den 1920ern bis in die 1960er Jahre, beispielsweise für die Bochumer Edel-Tischlerei Dieckerhoff oder fürs Museum Folkwang, wo Renger-Patzsch seinerzeit ein eigenes Atelier hatte.

Rare Porträtaufnahmen

Hinzu kommen Aufnahmen der Villa Hügel, des Essener Münsters (Domkirche), der Gartenstadt Margarethenhöhe und von markanten Zechenbauten, nicht zuletzt vom jetzigen Ausstellungsort, der Zeche Zollverein – und aus der kriegszerstörten Stadt Essen. Als sein Haus in der Margarethenhöhe zerstört wurde, zog die Familie zum Künstler Hermann Kätelhön nach Wamel (Möhnesee) bei Soest.

Die Ausstellung, gemeinsam kuratiert von Stefanie Grebe (Essen) und Simone Förster (München), hält noch eine weitere Spezialität bereit: Überraschend für den sonst so sehr auf Dinge fixierten Renger-Patzsch, finden sich auch einige Porträtaufnahmen, die zwar gleichfalls von meisterlichem Handwerk und von Kunstfertigkeit zeugen, aber bei weitem nicht so stilbildend sind wie eben seine (Zwischen)stadtlandschaften. Interessant auf jeden Fall einige der Dargestellten: Die Skala reicht vom berühmten Kunstmäzen Karl Ernst Osthaus (Hagen, 1920) über Großindustrielle wie Hugo Stinnes (Mülheim/Ruhr, 1930) bis zum 1935 porträtierten jungen Juristen bei den Rheinischen Stahlwerken in Essen. Er hieß übrigens Gustav Heinemann und wurde Jahrzehnte später Bundespräsident.

Kölner Galerie und Münchner Stiftung

Nun soll noch geklärt werden, wer all die fotografischen Schätze gesammelt und bewahrt hat. Es waren Ann und Jürgen Wilde, die schon sehr zeitig Fotografie als Kunst betrachtet und präsentiert haben, als die Marktpreise noch nicht verrückt gespielt haben. Bereits 1974 zeigten sie in ihrer Kölner Galerie Ruhrgebietsbilder von Albert Renger-Patzsch, dessen Werk sie auch hernach gepflegt haben. Seit 2010 ist die Stiftung Ann und Jürgen Wilde der Münchner Pinakothek der Moderne angegliedert, womit sich auch der Ort der Erstausstellung erklärt. Im Ruhrgebiet freilich wird man diese Ausstellung ganz anders rezipieren als an der Isar.

Albert Renger-Patzsch: Die Ruhrgebietsfotografien. Essen, Ruhr Museum auf Zeche Zollverein, Kohlenwäsche (A 14), Gelsenkirchener Straße 181 (Navigation: Fritz-Schupp-Allee, 45141 Essen). 8. Oktober 2018 bis 3. Februar 2019. Geöffnet Mo bis So 10-18 Uhr. Eintritt 7 €, ermäßigt 4 €, freier Eintritt für Kinder und Jugendliche unter 18 sowie für Studierende unter 25. Katalog (336 Seiten, ca. 200 Schwarzweiß-Abb.) 29,80 €. Weitere Infos: www.ruhrmuseum.de und Tel.: 0201 / 24 681 444.

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Nachbemerkung:

Aus Urheberrechtsgründen mussten die Fotos einzelner Werke zu dieser Ausstellung leider sechs Wochen nach Ende der Schau gelöscht werden. Somit steht jetzt nur noch der Text fast ohne bildliche Anschauung hier – bis auf einen einzige, sehr ungenauen Blick auf Stellwände. Ob wohl auch die Print-Medien Bilder in ihren Online-Auftritten getilgt haben?




Aufbruch zu einer Landpartie führt in die Schrecken des Ersten Weltkrieges – Jean Cocteaus Roman „Thomas der Schwindler“

Wenn eine Reisegruppe Kekse, Orangen und Likör einpackt, dann wird es sich wohl um Proviant für eine Landpartie handeln, möchte man meinen. Doch die edel gekleideten Frauen und Männer, die da im Paris des Jahres 1914 die Kisten entsprechend gefüllt haben und sich auf den Weg machen, verfolgen ganz andere Absichten.

Ihr Ziel ist die Stadt Reims oder anders gesagt: die französische Front. Sie wollen den verwundeten Soldaten helfen und (wenn möglich) die Kämpfe aus nächster Nähe verfolgen. In den Lazaretten angekommen, treffen sie aber auf eine Welt, mit der sie nun überhaupt nicht gerechnet haben und die ihr Vorstellungsvermögen übersteigt. Verstörende Szenen wie diese prägen den Roman „Thomas der Schwindler“, den der Regisseur, Maler und Schriftsteller Jean Cocteau (1889-1963) im Jahr 1923 verfasst hat.

Der Manesse-Verlag hat das Werk in einer ansprechenden Edition als Neuübersetzung herausgegeben und bietet mit einem Nachwort von Iris Radisch, einem Anmerkungsapparat und einer editorischen Notiz einige Verständnishilfen. Das Buch weist eine ganze Reihe biographischer Züge des Autors auf. Für Iris Radisch war Cocteau ein Dichter, der in der Zeit des noch jungen 20. Jahrhunderts dem „Typ des Künstler-Dandy zu neuem Glanz“ verholfen habe.

Cocteaus Roman beruht auf realen Begebenheiten. Historisch belegt sind seine Besuche zusammen mit weiteren Mitgliedern der feinen Gesellschaft an der Front. Er verarbeitet seine eigenen Erlebnisse mit dem Krieg, wobei er selbst überhaupt kein Soldat war, sondern für untauglich befunden wurde. Er hatte sich freiwillig zum Dienst gemeldet.

Und so erzählt Cocteau von einem jungen Mann, der schon bei der Angabe seines Alters und seiner Herkunft schwindelt, um besser dazustehen. Als Neffe eines bekannten Generals gibt er sich aus. Denn nur so, davon ist er überzeugt, wird es ihm gelingen, zur Front und zu den Verletzten durchzukommen.

Aber spätestens, als der junge Thomas die Schützengräben besuchen darf, werden ihm die Schrecken des Krieges überdeutlich vor Augen geführt. Dem jungen Mann erscheint es ähnlich zu ergehen wie seinem literarischen Vater, der zu Beginn des Krieges zunächst einen Waffengang ungleich spannender fand als Langeweile und Tristesse des Alltags. Daran konnten auch die Aussichten auf amouröse Abenteuer und Liebeleien, die der Kontakt zu adeligen Frauen versprach, nicht wirklich etwas ändern.

Jean Cocteau, der unter anderem mit Pablo Picasso, Charlie Chaplin, Edith Piaf und Marcel Proust befreundet war, führt mit dem Buch keine laute Klage gegen den Krieg, allein die Beschreibungen der Realität reichen aus, um die Unmenschlichkeit und die Brutalität zum Ausdruck zu bringen. Denn was Krieg eigentlich bedeutet, das wusste die kleine Reisegruppe wahrlich nicht, als sie meinte, mit einigen Lebensmitteln die Not lindern zu können.

Jean Cocteau: „Thomas der Schwindler“. Roman. Aus dem Französischen neu übersetzt von Claudia Kalscheuer. Manesse Verlag, 192 Seiten, 20 Euro.




Bürgerinitiative peilt ehrgeiziges Ziel an: Altes Dortmunder Rathaus soll wieder aufgebaut werden – der jetzige Sachstand und ein Gespräch dazu

Virtuelle Rekonstruktion der Platz-Situation am Alten Markt in Dortmund:

Virtuelle Rekonstruktion der Platz-Situation am Alten Markt (Südseite) in Dortmund, Zustand im Jahre 1909. Von links nach rechts sind folgende Gebäude zu sehen: die Krone am Markt, das Haus zum Spiegel, das alte Rathaus und die damalige Sparkasse/Bibliothek. Zwischen Rathaus und Sparkasse mündet die Balkenstraße in den Markt. Heute befindet sich an der Stelle von Krone, Spiegel und Rathaus der Kronenkomplex. (© Christopher Jung / Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/)

Ein paar prominente Beispiele: Vor Jahr und Tag wurde die Dresdner Frauenkirche restauriert. Die Berliner ziehen ihr monumentales Stadtschloss wieder hoch. Und ganz aktuell: Am kommenden Wochenende feiert Frankfurt die Wiedergeburt von Teilen seiner Altstadt, welche einen höchst reizvollen Kontrast zur Skyline der Bankentürme bildet.

Alle drei urbanen Schauplätze konnten auf bundesweite Ausstrahlung rechnen und haben in interessierten Kreisen weithin Anteilnahme geweckt. Das kann man von entsprechenden Bestrebungen im Ruhrgebiet bislang leider nicht behaupten. Aber vielleicht ändert sich das jetzt.

Facebook-Gruppe mit fast 450 Mitgliedern

Denn nun regt sich etwas im Revier: In Dortmund blühen Träume von einem Wiederaufbau, der freilich noch mindestens in mittlerer Ferne liegen dürfte. Immerhin hat sich schon vor Jahren eine Facebook-Gruppe formiert, die jetzt so richtig Fahrt aufnimmt, inzwischen fast 450 Mitglieder hat und erste Treffen organisiert. Nennen wir es mal den Beginn einer neuen Bürgerinitiative.

Ziel ist vor allem die Wiedererrichtung des (zumindest im deutschen Sprachraum) ältesten steinernen Rathauses nördlich der Alpen. Dieser Rückgriff auf die stolze Historie der einstigen Freien Reichsstadt und Hansestadt Dortmund könnte, sofern architektonisch gelingend, wahrhaftig ein Zeichen des Aufbruchs sein. Bevor jemand fragt: Ja, gewiss, Dortmund hat auch noch ein paar andere Sorgen. Das spricht aber keineswegs gegen einen solchen Wiederaufbau.

Anno 1241 erstmals urkundlich erwähnter Bau

Kurzer Blick in die Geschichte: Das ursprünglich romanische Dortmunder Rathaus wurde 1241 erstmals urkundlich erwähnt, 1348 war Kaiser Karl IV. hier zu Besuch. Das Rathaus nahm durch die Jahrhunderte immer wieder andere Gestalt und wechselnde Funktionen an. Am 11. August 1899 wurde das nach Plänen von Stadtbaurat Friedrich Kullrich gründlich erneuerte, aber substanziell immer noch historische Rathaus eingeweiht – von Kaiser Wilhelm II., der damals zur Eröffnung des Dortmunder Hafens und des Dortmund-Ems-Kanals in die Stadt kam.

Das Alte Rathaus aus einer anderen virtuellen Perspektive:Blick vom Hellweg zum Markt und zum Rathaus. Links angeschnitten das heute noch existierende Herbrecht'sche Haus von 1906. (© Christopher Jung / Link zur Lizenz:

Das Alte Rathaus aus einer anderen virtuellen Perspektive: Blick vom Hellweg zum Markt und zum Rathaus. Links angeschnitten das heute noch existierende Herbrecht’sche Haus von 1906. (© Christopher Jung / Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

Ein Wiederaufbau könnte den Zustand von 1909 aufgreifen, der recht gut dokumentiert ist. Betrüblich genug: Nach dem Zweiten Weltkrieg hätte das historische Gebäude mit gutem Willen und einiger Anstrengung gerettet werden können (die andere Westfalenmetropole Münster hat’s mit dem Prinzipalmarkt vorgemacht), doch das Alte Rathaus zu Dortmund wurde 1955 komplett abgerissen. Heute steht – an der Südseite des Alten Marktes – ungefähr an jener Stelle das Karstadt-Sporthaus.

In den 1970er Jahren gab es schon einmal eine Initiative zum Wiederaufbau, die jedoch damals politisch nicht dauerhaft  mehrheitsfähig war.

Gespräch mit dem Initiator Björn Wrocklage

Und wie geht es jetzt weiter mit dem ehrgeizigen neuen Projekt? Dazu ein (via Facebook-Messenger geführtes) Gespräch mit dem Dortmunder Björn Wrocklage (35), Student der Raumplanung und einer der Initiatoren der erwähnten Facebook-Gruppe:

Frage: Wie sehen Sie derzeit die Chancen auf Verwirklichung eines solch ambitionierten Wiederaufbau-Projekts?

Björn Wrocklage: Ich sehe gute Chancen auf eine Verwirklichung unserer Ideen. Andere Städte wie Berlin, Potsdam oder Frankfurt zeigen, dass Rekonstruktionen möglich sind. Auch die vielen positiven Rückmeldungen aus der Bürgerschaft zeigen, dass unsere Idee auf große Zustimmung stößt. Es handelt sich beim Dortmunder Rathaus um das älteste steinerne Rathaus Deutschlands. Eine (nicht repräsentative) Umfrage der Dortmunder Ruhr Nachrichten ergab eine rund 85-prozentige Zustimmung zu den Plänen. Die Dortmunder hätten ihr Altes Rathaus schon gerne wieder zurück.

Finanzierung vor allem durch Spenden

Wie könnte das Ganze finanziell auf die Beine gestellt werden? Mit anderen Worten: „Wer soll das bezahlen?“

Wrocklage: Der Wiederaufbau des Alten Rathauses soll aus Spenden finanziert werden. Dies war auch bei der Dresdner Frauenkirche oder dem Berliner Schloss der Fall. Schon bei der großen Restaurierung des Alten Rathauses durch Friedrich Kullrich 1899 wurde die Hälfte der Kosten durch Spenden wohlhabender Dortmunder finanziert.

Glauben Sie denn, dass das (finanzkräftige) Bürgertum in und um Dortmund mit dem in Frankfurt oder Berlin mithalten kann?

Wrocklage: Ich fürchte, dass wir mit diesen Städten nicht mithalten können. Aber auch durch viele kleine und mittlere Spenden könnten wir die notwendige Summe zusammenbekommen.

Ideal wäre ein Gebäude-Ensemble an historischer Stelle

Kann denn das Rathaus (und eventuell weitere Bauten) überhaupt am angestammten historischen Ort wieder errichtet werden?

Wrocklage: Diese Chance besteht. Unser Konzept sieht einen gleichzeitigen Wiederaufbau des Alten Rathauses, der historischen Krone am Alten Markt und des Hauses zum Spiegel vor, womit an der historischen Stelle ein kleines Ensemble entstehen könnte. Es wäre auch deshalb möglich, weil die historische Fluchtlinie ca. 5 Meter weiter südlich lag. Man könnte daher auch ohne großen Aufwand die historischen Fassaden vor dem derzeitigen Komplex Krone am Markt wieder aufbauen.

Müsste dafür nicht Karstadt Platz machen? Und könnte die Fusion Kaufhof/Karstadt in dieser Hinsicht für Bewegung sorgen?

Wrocklage: Das Karstadt Sporthaus kann an seiner jetzigen Stelle stehen bleiben, da das Rathaus nicht auf dem Gelände des Karstadt Sporthauses stand. An dieser Stelle stand einst die Bibliothek. Soweit ich weiß, hat Karstadt einen langfristigen Mietvertrag. Ob das Karstadt Sporthaus mittelfristig in das Kaufhof-Gebäude zieht, vermag ich nicht einzuschätzen. Sehr langfristig könnte man an dieser Stelle auch über eine kleinteiligere Bebauung nachdenken, die sich dem dann rekonstruierten Alten Rathaus anpasst. Aber da reden wir über einen Zeitraum von 30 oder mehr Jahren.

Vorgeblendete Fassade oder komplette Rekonstruktion?

Wäre es denkbar, dass angesichts der beengten Platzverhältnisse nur eine historische Fassade vorgeblendet wird und sich dahinter ein völlig normales „modernes“ Gebäude verbergen wird?

Wrocklage: Das könnte ein möglicher Kompromiss sein, erst einmal nur die historischen Fassaden vor die modernen zu blenden. Denn man muss auch bedenken, dass es im jetzigen Gebäude bereits Nutzer gibt, die teils langfristige Mietverträge besitzen. Beim Alten Rathaus ist das langfristige Ziel allerdings eine komplette Rekonstruktion.

Wäre notfalls eine andere als die historische Stelle für den Wiederaufbau vorstellbar oder würde das alles verfälschen?

Wrocklage: Ein Wiederaufbau wäre auch an einer anderen Stelle in der Innenstadt denkbar. Allerdings favorisieren wir inzwischen einen Wiederaufbau an historischer Stelle.

Geschichtsbewusstsein der Einwohner stärken

Sind in Ihrer Facebook-Gruppe auch Fachleute wie z. B. Architekten dabei?

Wrocklage: Unter unseren Gruppenmitgliedern befinden sich auch Architekten und Stadtplaner, die ihren fachlichen Input einbringen. Viele von uns sind überdies sehr an der Dortmunder Stadtgeschichte interessiert und bringen ein großes Fachwissen mit. Eine der ersten Maßnahmen unserer Initiative war es, den Wikipedia-Artikel zum Alten Rathaus zu vervollständigen. Überhaupt wollen wir das Geschichtsbewusstsein der Dortmunder stärken. Hier haben wir schon einige Ideen, über die ich leider noch nichts Genaueres erzählen kann.

Welche Funktion könnte ein wiederaufgebautes Rathaus haben? Könnte es als Museum oder Archiv dienen?

Wrocklage: Dazu gibt es noch keine Festlegungen. Vieles ist denkbar und möglich. Eine museale Nutzung mit einer Dauerausstellung über die Hansezeit in Dortmund wäre genauso möglich wie eine gastronomische Nutzung oder etwa eine Nutzung durch die Stadt Dortmund selbst, etwa als Repräsentationsort für Empfänge oder als Standesamt.

Bald Dialog mit dem Immobilienbesitzer aufnehmen

Wie sieht das weitere Vorgehen in näherer Zukunft aus? Sie streben offenbar eine Vereinsgründung an – und außerdem?

Wrocklage: Wir arbeiten an einer Vereinsgründung, die wahrscheinlich im Frühjahr 2019 stattfinden wird. Danach werden wir sowohl in der Politik als auch in der Gesellschaft für unsere Idee werben und Spenden sammeln. Auch konkrete Pläne für den Wiederaufbau müssen dann entwickelt werden.

Noch vor der Vereinsgründung wollen wir allerdings das Gespräch mit dem Besitzer der Immobilie suchen, da das ganze Projekt nur mit dessen Zustimmung realisiert werden kann. Ich meine das Dortmunder Immobilienunternehmen, dem die Krone am Markt sowie das Karstadt-Sporthaus gehören. Wir wollen möglichst rasch mit diesem Unternehmen ins Gespräch kommen.

Bestehen schon Kontakte in den „politischen Raum“?

Wrocklage: Mit einigen Politikern, die der Idee positiv gegenüberstehen, gab es bereits Kontakte. Mehr kann ich dazu noch nicht sagen.

Erstes Projekt dieser Art im ganzen Ruhrgebiet

Kann die Angelegenheit über Dortmund hinaus Interesse wecken?

Wrocklage: Der Wiederaufbau des Alten Rathauses wird bestimmt zu bundesweitem Interesse führen. Vielleicht wird es nicht so stark sein, wie bei der Frauenkirche in Dresden, aber das Projekt wird sicherlich überregional wahrgenommen, weil es das erste erfolgreiche Rekonstruktionsprojekt im Ruhrgebiet wäre und weil das Alte Rathaus als ältestes steinernes Rathaus nördlich der Alpen ein besonderer Bau ist. Vielleicht entstehen danach neue Ideen für weitere Rekonstruktionsprojekte im Ruhrgebiet oder andere Projekte bekommen neuen Schwung. So gibt es auch in Essen eine Initiative, die sich für den Wiederaufbau des historischen Rathauses stark macht.

20 Jahre wären ein realistischer Zeitrahmen

Gibt es Planzeichnungen, die schon als erste Grundlage eines Wiederaufbaus dienen könnten?

Wrocklage: Die Originalpläne sind nach unseren derzeitigen Informationen leider verschollen. Es ist allerdings durch vielerlei Fotos und Zeichnungen möglich, auf dieser Grundlage neue Pläne zu entwickeln.

Welchen Zeitrahmen müsste man sich für die Realisierung vorstellen?

Wrocklage: Wenn es nach uns geht, so würden wir lieber heute als morgen mit dem Wiederaufbau starten. Der ist allerdings abhängig von vielerlei Faktoren. Am wichtigsten ist dabei natürlich die Zustimmung des Immobilienbesitzers. Dann hängt auch viel davon ab, wie schnell die notwendige Summe zusammenkommt. Es wäre mein persönlicher Traum, in 10 Jahren fertig zu sein. Andere Projekte zeigen allerdings, dass 20 Jahre wahrscheinlich realistischer sind.

 




Stilles Heldentum in finsteren Zeiten – Erich Hackls bewegender Recherche-Bericht „Am Seil“

Seit der ehemalige Lehrer und Lektor Erich Hackl 1987 mit der Erzählung „Auroras Anlass“ als Schriftsteller debütierte, wächst das literarische Werk des Autors langsam aber stetig an. Seine in über 25 Sprachen übersetzten Romane und Erzählungen werden von der Kritik regelmäßig gelobt und mit Preisen bedacht. Trotzdem ist dem in Wien und Madrid lebenden Schriftsteller der ganz große Durchbruch in die Liga der Bestseller-Autoren – leider – nie so recht gelungen.

Sein neues Buch trägt den Titel „Am Seil. Eine Heldengeschichte“. Es geht um den authentischen Fall einer gefährlichen Lebensrettung, über der viele Jahre der Mantel des Schweigens lag: Denn der Retter – der Handwerker Reinhold Duschka – war bis zu seinem Tode 1993 der Meinung, er habe nur seine menschliche Pflicht getan; und die Geretteten (die Jüdin Regina Steinig und ihre Tochter Lucia) wollten nach dem Krieg lieber verdrängen als sich erinnern.

Vor dem Vernichtungslager bewahrt

Doch irgendwann war der Wunsch von Lucia einfach zu groß, den passionierten Bergsteiger und wortkargen Handwerker zu würdigen und dem Autor Erich Hackl in allen Einzelheiten zu berichten: wie Duschka es schaffte, sie und ihre Mutter von 1941 bis 1945 vor der Deportation ins Vernichtungslager zu bewahren; wie sie zu dritt an ein unsichtbares Seil gebunden waren und dann mit Glück und Vertrauen überlebten.

Hackl berichtet, was Lucia ihm über die Lebensrettung erzählt hat, er befragt Bekannte, Verwandte, Freunde, macht die Widersprüche in den Erinnerungen deutlich und füllt die Leerstellen der Geschichte mit eigenen Vermutungen: so entsteht ein literarisches Puzzle über stilles Heldentum, Moral und Menschlichkeit.

Vier Jahre lang im gefährlichen Versteck

Als der Abtransport in die Vernichtungslager bevorsteht, tauchen Regina und Lucia in die Illegalität ab und finden bei Reinhold Unterschlupf: in seiner Werkstatt hausen sie vier Jahre lang, immer in der Gefahr, von Kunden, die bei ihm aus Kupfer, Messing und Zink gefertigte Gegenstände kaufen wollen, als Juden erkannt und denunziert zu werden. Nur selten trauen sie sich zu einem kleinen Spaziergang ins Freie. Als die Werkstatt kurz vor Kriegsende ausgebombt wird, besorgt Reinhold einen neuen Unterschlupf und versorgt die beiden mit Nahrung, Kleidung und Büchern.

Nach dem Krieg: Traum vom „normalen Leben“

Als der Krieg vorbei ist, versucht jeder, in ein normales Leben zurück zu finden: Reinhold heiratet eine Musikerin und wird kaum je ein Wort über die Ereignisse verlieren, schon weil er fürchtet, dass im notorisch antisemitischen Österreich Bergkameraden und Kunden sich von ihm abwenden könnten. Regina wird jahrelang darum kämpfen müssen, ihre Arbeitsstelle als Chemikerin in einer Klinik wieder zu bekommen. Erst mit 91 lässt sich Reinhold überreden, seine Heldentat öffentlich zu machen und erklärt sich bereit, von der Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechter unter den Völkern“ ausgezeichnet zu werden.

Es ist ein Glücksfall akribischer Recherche und literarischer Fantasie, wie Erich Hackl diese fast vergessene Heldengeschichte rekonstruiert und uns davon erzählt: ohne jeden moralischen oder politischen Zeigefinger; ganz so, als wäre Zivilcourage das Normalste von der Welt.

Erich Hackl: „Am Seil. Eine Heldengeschichte.“ Diogenes, Zürich. 118 Seiten, 20 Euro.




Wo die legendären Alben lebendig werden: Dortmund lockt mit „The Pink Floyd Exhibition“

Blick in die Dortmunder „Pink Floyd"-Ausstellung: Der schreckliche Lehrer bricht durch die Mauer, die dem ungleich größeren Exemplar aus der Konzertreihe „The Wall" nachempfunden ist. (Foto: Bernd Berke)

Blick in die Dortmunder „Pink Floyd“-Ausstellung: Der schreckliche Lehrer durchbricht die Mauer, die dem ungleich größeren Exemplar aus der Konzertreihe „The Wall“ von 1981 nachempfunden ist. (Foto: Bernd Berke)

Ein berühmter Song von Pink Floyd trifft hier und jetzt besonders zu: „Wish You Were Here“, eh schon eine der eingängigsten Schöpfungen der 1965 gegründeten britischen Kultband. Ja, man wünscht sie sich zurück, am liebsten gleich und genau hierher: die alten Zeiten, die eigene Jugend, all die verheißungsvollen Aufbrüche der damaligen Pop- und Rockmusik.

Tatsächlich wird einem jetzt in Dortmund dabei aufgeholfen: „The Pink Floyd Exhibition“ mit dem britisch-sarkastischen Untertitel „Their Mortal Remains“ (Ihre sterblichen Überreste) erweist sich als durchaus anregendes Unterfangen, das so manche Phase und manchen Moment der über 50-jährigen Band-Historie überraschend lebendig werden lässt. Auch jüngeren Besuchern dürfte sich bei der Zeitreise hoch droben auf der sechsten Ebene des „Dortmunder U“ der eine oder andere Zugang zum Werk der Supergruppe eröffnen.

Dritte Station nach London und Rom

Die Abfolge der Ausstellungsstationen klingt geradezu märchenhaft: erst London (Victoria and Albert Museum), dann Rom, jetzt Dortmund. Schon einmal hat Dortmund ziemlich zentral im „Pink Floyd“-Universum gelegen: 1981 gab es in der Westfalenhalle gleich sieben Aufführungen der gigantischen Show „The Wall“. Ansonsten stemmten damals nur Los Angeles, New York und London die ungemein aufwendige Konzertserie.

Schier endlos gespiegelt: das ohnehin schon vielschichtige Cover des „Pink Floyd"-Albums „Ummagumma". (Foto: Bernd Berke)

Schier endlos und überlebensgroß gespiegelt: das irritierende Cover des „Pink Floyd“-Albums „Ummagumma“. (Foto: Bernd Berke)

Auch an diesen Mythos, an den sich etwas ältere Dortmunder noch heute mit leuchtenden Augen erinnern, konnte „U“-Direktor Edwin Jacobs anknüpfen, als er Aubrey Powell (Gestalter vieler legendärer „Pink Floyd“-Plattencover) von einem lohnenden Gastspiel der Schau in Dortmund überzeugte. Powell fungiert denn auch auch Ko-Kurator der Ausstellung. Und wer, wenn nicht er, könnte den Geist der Cover (und somit auch der Musik) gleichsam wieder einfangen und staunenswert neu aufleben lassen?

Auf einmal erhebt sich die Mauer

Hier und da steht man beim Rundgang ganz plötzlich inmitten altbekannter Szenarien; da wird etwa das ohnehin schon rätselhaft vielschichtige Cover von „Ummagumma“ beiderseits endlos gespiegelt. Am spektakulärsten ist jedoch der Effekt, wenn sich auf einmal ein nachempfundenes Stück der Mauer aus den „Wall“-Konzerten vor einem erhebt – mitsamt dem grässlichen Lehrer und dem erbärmlich leidenden Schüler.

Ganz klar: Da erinnern sich Kenner natürlich sogleich an die – zugegeben – auch etwas wohlfeile Zeile „We don’t need no education“ (Wir brauchen keine Erziehung) und den Schlachtruf „Hey! Teachers! Leave them kids alone“ (Ey, Lehrer, lasst die Kinder in Ruhe). Überhaupt ist die Verschränkung von Sound und Bildern in dieser Ausstellung streckenweise besonders stimmig gelungen. Eins hebt das andere hervor, hebt es auf eine neue Stufe.

Die Musiker als Ingenieure und Tüftler

Wer sich entsprechend Zeit nimmt, kann gut und gerne zwei bis drei Stunden durch diese Ausstellung streifen, die eine labyrinthische, abgedunkelt höhlenartige Anmutung hat – fast wie so ein Underground-Club seligen oder auch erschröcklichen Angedenkens.

Reichlich Exponate: Eine von vielen Vitrinen in der Dortmunder „Pink Floyd"-Schau. (Foto: Bernd Berke)

Reichlich Exponate: Eine von vielen gut gefüllten Vitrinen in der Dortmunder „Pink Floyd“-Schau. (Foto: Bernd Berke)

Ziemlich getreulich chronologisch, sozusagen Album für Album (siehe Anhang), kann man hier voranschreiten – von den psychedelischen Anfängen durch alle (über)ambitionierten Klangexperimente und bombastischen Aufgipfelungen von quasi wagnerianischen Gesamtkunstwerk-Ausmaßen, die freilich bei dieser Band mit den Jahren nicht immer mit überbordendem Erfindungsreichtum einher gingen. Dass und wie „Pink Floyd“ auch Anschluss an die Avantgarde der E-Musik suchte, hat längst nicht alle Kritiker gleichermaßen überzeugen können.

Nicht ohne fliegendes Schwein

Die Mannen von Pink Floyd, so zeigt sich hier abermals, waren nicht zuletzt kreative Ingenieure und ehrgeizige Soundtüftler, die stets das jeweils neueste elektronische Equipment bis an die Grenzen austesteten. Zahlreiche Gerätschaften sieht man hier, die heute liebenswert altmodisch und reichlich verwittert aussehen, die zu ihrer Zeit aber der letzte Schrei und State of the Art waren – vom heute vorsintflutlich wirkenden „Azimuth Co-ordinator“ bis zum frühen Synthesizer.

Ein Markenzeichen der Band: schwebendes Schwein im Rolltreppenhaus des „Dortmunder U". (Foto: Bernd Berke)

Ein Markenzeichen der Band: schwebendes Schwein im Rolltreppenhaus des „Dortmunder U“. (Foto: Bernd Berke)

Ansonsten sieht man einen vielfältigen medialen Mix aus Fotografien, Filmausschnitten, Plakaten, Bühnenskizzen, Briefen und weiteren Objekten. Hie und da sind es eher bloße Devotionalien, doch manch ein Stück gibt auch näheren Aufschluss. Und ja: Das fliegende Schwein hat selbstverständlich auch seine gebührenden Auftritte, und zwar erstmals schon ganz unten überm Foyer.

Der Gentleman Nick Mason gab sich die Ehre 

Offenbar hat man sehr zeitig und vorausschauend begriffen, dass es zur sich immer mehr entfaltenden Band-Geschichte jede Menge aufhebenswerte Gegenstände gibt. So gehören denn auch zahlreiche Gitarren zu den Exponaten, aber auch ein im Stile des japanischen Malers Hokusai verziertes Schlagzeug oder gar hübsch aufgefächerte gebrauchte Drumsticks von Nick Mason und ein halb zerfetztes Schlagfell, das er offenbar etwas wuchtiger traktiert hat.

Hübsch aufgefächert: Drumsticks des Schlagzeugers Nick Mason. (Foto: Bernd Berke)

Hübsch aufgefächert: Drumsticks des Schlagzeugers Nick Mason. (Foto: Bernd Berke)

Dabei hat sich dieser Nick Mason, der mitten aus der aktuellen Tournee heraus als einziges Band-Mitglied zur Ausstellung nach Dortmund kam, in der Gruppe musikalisch zumeist vornehm im Hintergrund gehalten, jedoch dem großen Ganzen ein höchst solides rhythmisches Gerüst und Fundament verliehen. Er macht übrigens den sehr angenehmen Eindruck eines feinsinnigen, mit Ironie gesegneten britischen Gentleman. Indeed!

Wechselvolle Bandgeschichte

Die Alphatiere der Gruppe, Roger Waters und David Gilmour, sind – nach allem, was man so hören und lesen kann – hingegen ganz andere, mächtig auftrumpfende Kaliber. Roger Waters, der seit etlichen Jahren im Sinne der dubiosen Organisation BDS für einen rigiden Boykott gegen Israel eintritt, wehrt sich übrigens in einem just heute veröffentlichten Interview der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ-Magazin) nochmals gegen den oft erhobenen Vorwurf des Antisemitismus‘. An dieser Stelle genug davon.

Die wechselvolle, oft sehr turbulente Bandgeschichte, die anfangs Syd Barrett früh in den Drogenwahn trieb und später in mancherlei persönliche und juristische Grabenkämpfe mündete, wollen wir hier auch nicht im Detail nachbeten. Teile kann man sich in der Ausstellung erschließen, anderes wird man füglich nachlesen können. Vom optischen und akustischen Genuss des finalen Konzertfilms sollte man sich jedenfalls nicht abhalten lassen.

Von links: Aubrey Powell (häufig Cover-Gestalter für „Pink Floyd" und Kurator der Dortmunder Schau), Dortmunds OB Ullrich Sierau, „Pink Floyd"-Drummer Nick Mason,, Edwin Jacobs (Chef des Dortmunder „U") und Jörg Stüdemann, Dortmunder Stadtkämmerer und Kulturdezernent. (Foto: Bernd Berke)

Von links: Aubrey Powell (häufig Cover-Gestalter für „Pink Floyd“ und Ko-Kurator der Dortmunder Schau), Dortmunds OB Ullrich Sierau, „Pink Floyd“-Drummer Nick Mason, Edwin Jacobs (Chef des Dortmunder „U“) und Jörg Stüdemann, Dortmunder Stadtkämmerer und Kulturdezernent. (Foto: Bernd Berke)

Ob die Schau doch noch eine oder mehrere weitere Stationen ansteuern wird, steht dahin. Gespräche laufen offenbar. Man könnte den Verdacht haben, dass die USA noch an die Reihe kommen werden.

Dortmund aber hat die Exklusivität in ganz West- und Mitteleuropa für sich. Die Besucherzahl könnte und sollte deshalb weit oberhalb der 100.000er-Marke liegen. Viele Gäste werden wohl vor allem aus den Niederlanden, aus Belgien, der Schweiz und Österreich anreisen – und wer weiß, woher sonst noch. Wie schön, wenn die Stadt mal außerhalb der Fußball-Zusammenhänge dermaßen viele Leute anlockt.

„The PINK FLOYD Exhibition. Their Mortal Remains“. Ausstellung im „Dortmunder U“, 6. Ebene, Leonie-Reygers-Terrasse. Tel. 0231 / 50-247 23. www.dortmunder-u.de

15. September 2018 bis 10. Februar 2019. Geänderte Öffnungszeiten: Mo-Mi 10-18, Do/Fr 10-20 Uhr, Sa/So 10-22 Uhr. Letzter Einlass jeweils eine Stunde vor Schließung.

Tickets gibt es im Vorverkauf über die Firma Eventim, die sonst vor allem Konzertkarten anbietet. Die ungewöhnlichen Preise: Normal 29,76 Euro, ermäßigt 23,16 Euro. www.eventim.de Bestell-Hotline 01806 / 57 00 70.

Durch den Rundgang geleitet wird man übrigens von hochmodernen Audioguides, die jeweils die passenden Sounds zu den gerade besehenen Ausstellungsstücken liefern – ganz gleich, wie und in welcher Richtung man sich bewegt.

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Die wichtigsten Alben von Pink Floyd“

The Piper at the Gates of Dawn (1967)
A Saucerful of Secrets (1968)
Ummagumma (1969)
Atom Heart Mother (1970)
Meddle (1971)
The Dark Side of the Moon (1973)
Wish You Were Here (1975)
Animals (1977)
The Wall (1979)
The Final Cut (1983)
A Momentary Lapse of Reason (1987)
The Division Bell (1994)




Neuer Mauerbau, Stalins Schatten und der Terror des Digitalen – zum umstrittenen DAU-Kunstprojekt in Berlin

Fotografie aus dem „Institut" (Charkiw). (© Gruber / Berliner Festspiele)

Rätselhafte Fotografie aus dem „Institut“ (Charkiw). (© Gruber / Berliner Festspiele)

Vor 29 Jahren fielen in Berlin die Mauer und der „Eiserne Vorhang“. Das war der Auftakt vom Ende des Realen Sozialismus und einer Diktatur des Proletariats, die immer nur ein ideologischer Popanz war, mit dem sich schamlose Partei-Bonzen der herrschenden Nomenklatura die Macht über das Volk sicherten. Neben einigen unverbesserlichen Nostalgikern, die sich gern die schlechte Vergangenheit schön reden, gibt es jetzt auch einige Künstler, die vom (temporären) Wiederaufbau der Mauer träumen.

Direkt in Berlins Mitte, in einem etwa 300 mal 300 Meter großen, von einer russischen Beton-Mauer abgeriegelten Areal zwischen Staatsoper und Bauakademie, soll direkt an der Straße Unter den Linden vom 12. Oktober bis 9. November ein neo-stalinistisches Menschenexperiment durchgeführt werden, das sich als freiheitliches Kunst-Projekt tarnt und den Besuchern neue und ungeahnte Möglichkeiten der Wahrnehmung und Partizipation verspricht.

Erlebniszone mit „historischen Echoräumen“

Unter dem kryptischen Kürzel „DAU Freiheit“ wird, so lassen die als Mitveranstalter auftretenden Berliner Festspiele verlauten, eine „Zone markiert, die für vier Wochen zu einem besonderen Erlebnisraum wird“, „historische Echoräume öffnet“ und angeblich die Chance bietet, „eine politisch-gesellschaftliche Debatte über Freiheit und Totalitarismus, Überwachung, Zusammenleben und nationale Identität zu eröffnen.“

Wer denkt, das klinge arg nach politischer Überhöhung eines künstlerisch größenwahnsinnigen Projekts, liegt wohl nicht ganz falsch. Doch worum geht es eigentlich beim „DAU“-Projekt, dieser seltsamen Mixtur aus Performance und Reality-Show, die in Berlin unter dem Begriff „Freiheit“ auftritt, bevor sie – entschlackt und ohne Mauer – weiter zieht und in Paris als „Gleichheit“ und in London als „Brüderlichkeit“ für verwirrte Gemüter sorgen wird?

Auf den geheimnisvollen Spuren des Physikers Lev Landau

Mit der Französischen Revolution und ihren hehren Idealen hat „DAU“ jedenfalls nichts zu tun. Eher schon mit der Negation der Digitalmoderne, die hinter der Maske der totalen Transparenz den gläsernen Menschen schafft. Namensgeber des Projekts ist der russische Physiker und Nobelpreisträger Lev Landau (1908-1968), der von seinen Freunden „Dau“ genannt wurde und in Moskau ein streng geheimes „Institut für Physikalische Probleme der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften“ betrieb.

Weitere Fotografie aus dem „Institut" (Charkiw). (© Orlova / Berliner Festspiele)

Weitere Fotografie aus dem „Institut“ (Charkiw). (© Orlova / Berliner Festspiele)

Um dem Rätsel des geheimnisumwitterten Physikers auf die Spur zu kommen, ließ der russische Regisseur Ilya Khrzhanovsky im ukrainischen Charkiw, wo Landau eine zeitlang lebte und arbeitete, ein gigantisches, 12.000 Quadratmeter großes Filmset aufbauen: einen eigenen, von Zäunen begrenzten Stadtteil, in dem von 2009 bis 2011 über 400 Menschen lebten und das – mit allen Mitteln des Terrors und der Totalüberwachung – so funktionierte wie Stalins Machtimperium.

…und die Kamera war immer dabei

In Charkiw wurde drei Jahre lang geforscht und geliebt, wurden Experimente durchgeführt und Kinder gezeugt. Und die Kamera von Jürgen Jürges, der früher mit Fassbinder und Wenders drehte, war immer dabei. Kunst-Performerin Marina Abramovic war zu Gast und Regisseur Romeo Castellucci, Pop-Musiker von Massive Attack und Star-Dirigent Theodor Currentzis. Aus dem so entstandenen Film-Material sollen 13 Spielfilme und eine Vielzahl von Mini-Serien geschnitten worden sein. Nichts Genaues weiß man nicht, alles liegt im Dunkeln der künstlich angeheizten Gerüchteküche.

Jetzt sollen die Filme im temporären neuen Berliner Mauer-Staat „DAU Freiheit“ vier Wochen lang präsentiert werden. Dazu soll es Performances und Lesungen, Konzerte und Vorträge, Einzelgespräche und Überraschungen geben. Mit dabei sollen auch wieder Abramovic und Co sein. Doch wer was wann wo vorführt, darüber herrscht (noch) Schweigen. Klar scheint bisher nur, dass im ganzen Kunst-Areal das alte DDR-Flair wieder auflebt, schlechte Beschilderung und dunkle Beleuchtung, muffiger Geruch und beklemmende Atmosphäre wie weiland im Mangel-Staat.

Reanimation des Realsozialismus‘

Wer die neo-sozialistische Reanimation betreten will, muss vorher einen Fragebogen ausfüllen und ein Visum beantragen und dann beim Passieren der Mauer sein Handy abgeben. Dafür bekommt er ein Gerät namens „DAU-Device“, das den Besucher zu den einzelnen Programmpunkten führt: Einlass nur auf Einladung durch das Gerät.

Wer dem Kunst-Terror nicht gewachsen ist, kann ein Notsignal senden und sich befreien lassen. Die Anwohner des Mauer-Parks werden zu „Ehrenstaatsbürgern“ erklärt, haben eigene Zutritts-Möglichkeiten zum Überwachungsstaat und können sich in ihrem angestammten Wohnraum frei bewegen. Ob das ganze Treiben wiederum von Khrzhanovsky und Jürges filmisch begleitet und später in einen neuen Streifen über Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit einfließt, ist noch unklar.

Auch ein russischer Oligarch finanziert das Ganze mit

Klar ist nur, und das macht die bizarre Angelegenheit nicht schmackhafter, dass neben den Berliner Festspielen auch Sponsoren das Projekt finanzieren, die nicht gerade ein guten Leumund haben, wie der russische Oligarch Sergej Adonjew. Auch dass es beim Dreh in der Ukraine sexuelle Übergriffe von Seiten des Regisseurs gegeben haben soll, hinterlässt einen bitteren Beigeschmack.

Die Kunst ist frei und wird auch den Größenwahn dieses Menschenexperiments und den Terror des temporären Mauer-Staates ertragen. Der schlimmste Feind der Kunstfreiheit ist aber die Bürokratie: Der Bau einer Mauer und das Leben in einem von eigenen Gesetzen bestimmten Erlebnisraum brauchen Genehmigungen von Bau- und Gewerbeamt, Polizei, Feuerwehr. Die stehen noch aus. Könnte also sein, dass sich alles noch als Luftnummer erweist und alle Kunst-Träume zerplatzen wie heiße Ballons.

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„DAU Freiheit“, vom 10. Oktober bis 9. November 2018.
Ein genaues Programm existiert (noch) nicht, auf dem 300 mal 300 Meter großes Areal und in den kooperierten Häusern und Akademien am Boulevard Unter den Linden sind Filmvorführungen des 700 stündigen DAU-Filmmaterials, Kunst-Performances, Auftritte von Musikern, wissenschaftliche Vorträge u.a. geplant.
Besucher(innen) registrieren sich auf der „DAU-Webseite“, um ein Visum zu erwerben.
Täglich können bis zu 3000 Visa ausgegeben werden. Ein Zwei-Stunden-Visum kostet 15 Euro, ein Tagesvisum 25 Euro, ein 72-Stunden-Visum 45 Euro. Es soll auch Diplomaten- und Presse-Visa geben, die für die gesamte Laufzeit gelten und Zutritt zu allen Veranstaltungen gewährt.

Infos unter www.berlinerfestspiele.de

https://www.berlinerfestspiele.de/de/aktuell/festivals/dau_freiheit/dau_freiheit_1.php




Traumatische Familiengeschichte: Maxim Billers Roman „Sechs Koffer“ als Geflecht aus Fakten und Fiktionen

Wir müssen uns Maxim Biller als ebenso verletzenden wie verletzlichen Menschen vorstellen: Zwei Seelen wohnen, ach, in seiner Brust.

Als Kolumnist und Kritiker gibt der 1960 in Prag geborene Autor gern den ungehobelten Rüpel und geht lustvoll an die Schmerzgrenze fieser Beleidigungen und übler Nachrede. Als Erzähler dagegen schafft er es immer wieder, uns mit nachdenklichen Skizzen, zärtlichen Tönen und poetischen Porträts zu überraschen. Vor allem dann, wenn er sich dem unverarbeiteten Trauma seiner eigenen Familiengeschichte widmet und in einem Geflecht aus Fakten und Fiktionen in die dunklen Geheimnisse seiner weit verzweigten jüdischen Herkunft vorwagt.

Das Schweigen durchbrechen

Sein neuer Roman, „Sechs Koffer“, ist ein geglückter Fall verzweifelter literarischer Erinnerungsarbeit und humorvoller Rekonstruktion dessen, worüber man in der Familie Biller lieber schweigt: Denn bis heute ist ungeklärt, wer 1960 den Großvater in der Sowjetunion als Devisenschmuggler denunziert hat und dafür verantwortlich ist, dass der „Tate“ hingerichtet wurde.

Lange Zeit war Onkel Dima als Verräter ausgemacht, hatte er doch fünf Jahre in der damaligen Tschechoslowakei im Knast gesessen und, um seine eigene Haut zu retten, bestimmt einige (kleinkriminelle) Familiengeheimnisse preisgegeben. Doch seit der Autor als Fünfzehnjähriger den nach Zürich geflohenen Onkel besucht und bei ihm einige Geheimdienstunterlagen gefunden hat, weiß er, dass Dima als Verräter nicht taugt.

Politische Abgründe des 20. Jahrhunderts

Mit feinem Gespür für hinterhältige Pointen und überraschende Wendungen erzählt Biller aus verschiedenen Perspektiven, wie sich die politischen Abgründe des 20. Jahrhunderts auf die jüdische Familie auswirken. Wie die Billers von Moskau nach Prag und von dort aus nach Hamburg fliehen. Wir lernen Billers Vater kennen, der aus dem Russischen übersetzt und nicht mehr mit seinen Brüdern sprechen mag. Und wir begegnen Tante Natalia Gelernter, die einst als Regisseurin eine große Hoffnung des tschechischen Kinos war und dann am Antisemitismus der Kulturbonzen scheiterte: Ihr Film „Hanka Zweigová“ über eine Jüdin, die den Holocaust überlebt und danach nur noch Spaß haben und mit Männern schlafen will, die an Krieg und Katastrophe keinen Gedanken verschwenden, gilt als eine ebenso gelungene wie gewagte künstlerische und politische Provokation.

Zum Finale der literarischen Öffnung von sechs mit Geschichten vollgestopften Koffern erzählt Biller von seiner Schwester Jelena. Auch sie hat gerade einen autobiografisch grundierten Roman über die Familien-Geheimnisse geschrieben. Sie lebt jetzt in London und kommt auf Einladung des NDR nach Hamburg, um über ihr Buch zu sprechen. Während sie mit dem Taxi vom Flughafen zum Sender fährt, erinnert sie sich an all die verschwiegenen familiären Abgründe, die ihr Leben belasten, sie überlegt, ob sie die Tür zur dunklen Kammer aus Verdrängung und Verrat vor dem Mikrofon wirklich öffnen soll. Hatte ihr Bruder nicht einmal in einer Talk-Show auf die Frage, warum er so viel und so unnachgiebig über seine Familie schreibt, gesagt: „Weil ich keine Geheimnisse mag“?

Maxim Biller: „Sechs Koffer“. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln. 200 Seiten, 19 Euro.




„Kunst & Kohle“ in den Ruhrkunstmuseen: Das bequeme Konzept der kleinen Portionen

Die Ausstellungen zum Ende der Steinkohle-Ära („Kunst & Kohle“ sowie „Das Zeitalter der Kohle“) sind in den Revierpassagen Ende April und Anfang Mai ausführlich besprochen worden. Nun meldet Rolf Pfeiffer Kritik am Gesamtkonzept von „Kunst & Kohle“ an:

Da nun gottlob die letzte deutsche Steinkohlezeche ihre Förderung einstellen wird, mußte ein Kunstprojekt her, begleitend sozusagen. Es heißt „Kunst & Kohle“ und wird von zahlreichen Museen der Region veranstaltet, die gemeinsam unter der Bezeichnung „Ruhrkunstmuseen“ firmieren.

Hermann Kätelhön: "Hochofen", undatiert Radierung, 33,3 x 26,2 cm (Bild: Museum Folkwang, Essen)

Hermann Kätelhön: „Hochofen“, undatiert Radierung, 33,3 x 26,2 cm (Bild: Museum Folkwang, Essen)

„Kunst & Kohle“ wird sogar beworben, die Plakate dominieren harte Schwarz- und Weißtöne, was auch sonst. Ein großer Wurf ist dieses Ausstellungsprojekt aber dennoch nicht, eher ärgerlicher Ausdruck institutioneller Bequemlichkeit, der das Publikumsinteresse, das man ja sowieso nicht so genau kennt, egal ist.

Bechers und die Farbe Schwarz

Das Konzept von „Kunst & Kohle“ sieht vor, daß in jedem der 20 beteiligten Häuser zwischen Hamm und Oberhausen eine Sonderschau sich des Themas annimmt. Die Galerie unter Tage der Ruhruni Bochum etwa widmet sich der Farbe (bzw. „Nicht-Farbe“) Schwarz, das Bottroper Quadrat zeigt (einmal mehr) fotografierte Fördertürme, Hochöfen etc. der Bechers, Folkwang in Essen präsentiert den Industriemaler Hermann Kätelhön, und so fort. Das klingt nicht schlecht, heißt aber im Konkreten, daß man mit wenigen Ausnahmen (wie Küppersmühle, DKM und Lehmbruck in Duisburg) ausgesprochen kleine Sonderschauen zu sehen bekommt. Da macht dann ein Museum nicht satt, man muß schon mehrere abklappern, um ein hinreichendes Quantum Kunst zu erhalten. Und das Dilemma wird sichtbar.

Lohnt sich das?

Lohnt es sich, beispielsweise für eine einzelne Installation von Andreas Golinski zum Kunstmuseum Bochum zu reisen? Auch wenn der Künstler genau so heißt wie der amtierende Museumsdirektor, sind die beiden nicht miteinander verwandt, und das ist lustig, aber leider kein Argument. Gewürdigt werden müssen die Faktoren, die immer da sind: Lohnt der Museumsbesuch den Aufwand an Zeit und Fahrtkosten, die nervige Parkplatzsuche, die absehbare nächste Schweißattacke auf dem Fußweg in der prallen Sonne? Bei fast allen kleineren Häusern würde ich spontan sagen: nein, es lohnt sich nicht, nicht für die geringe Menge an ausgestellten Arbeiten (was keine qualitative Wertung ist).

Derzeit in der Küppersmühle zu sehen: Anselm Kiefers „Klingsors Garten“ von 2018 (Detail/Installationsansicht). Die Arbeit stammt aus einer Privatsammlung. (Bild: Anselm Kiefer, Henning Krause, Museum Küppersmühle MKM)

Teures Kombiticket

Ein Zweites kommt hinzu. Die Ruhrkunstmuseen nach Ruhrkunstmuseen-Konzept abzuklappern, ist schon von den Eintrittsgeldern her eine teure Angelegenheit, denn es gelten in jedem Haus die normalen Preise. Das angebotene Kombiticket ist mit 25 Euro unverschämt teuer. Zwar gilt es für die gesamte Laufzeit, aber die Zahl derer, die sich mehrere Male aufmachen, um Kunst in Kleckerportionen zu konsumieren, dürfte übersichtlich sein. Nur mal zum Vergleich: Die Bundeskunsthalle in Bonn nimmt 15 Euro, Museum Kunstpalast in Düsseldorf 14 Euro, Museum Ludwig in Köln gar nur 12 Euro. Und in diesem Häusern gibt es ordentlich was zu sehen.

Nur das Beste an einem Ort

Der Vergleich hinkt? Ja natürlich. Aber er läßt doch ahnen, wie eine publikumsfreundliche Kunstausstellung zum Kohleausstieg aussehen könnte. Man würde sie auf wenige, vielleicht auch nur einen Standort konzentrieren, wo zusammengetragen, präsentiert und inszeniert würde, was die beteiligten Häuser beitragen könnten. Es wäre dies das Beste, Eindrucksvollste, nennen Sie es, wie Sie wollen. Die Realisierung einer solchen Schau, eines über die Grenzen der Region und des Landes weit hinausstrahlenden „Highlights“ könnte man vertrauensvoll bei den Ruhrkunstmuseen belassen, schließlich existiert dort eine gewaltige Menge kuratorischer Manpower. Und falls die es doch nicht auf den Pinn kriegten, könnte man auch einen Star der internationalen Kuratoren-Szene engagieren.

Die Vorteile für das Publikum liegen auf der Hand: ein einziger Ort (randvoll mit Kunst), nur eine Anreise, nur eine einfache Planung. Übrigens wäre der Zentralort auch unter ökologischen Aspekten einer Herumjuckelei im Kohleland vorzuziehen, auch jener mit dem nervigen ÖPNV.

Warum konkurrieren?

Doch das alles hätte viel Arbeit bedeutet, und viele gute Ideen und Entwürfe wären zwangsläufig im Papierkorb gelandet. Auch besteht bei einem solchen Großprojekt ja immer die Gefahr, daß andere den Lorbeer einheimsen, der eigentlich einem selbst zusteht. Warum also konkurrieren? So wie es jetzt ist, bleibt jeder sein eigener kleiner Museumsfürst. Das Volk kommt oder es kommt nicht (bei kleineren Häusern eher: nicht). Doch wenigstens dürfen die Besucher das Rad benutzen, Streckenpläne wurden ausgearbeitet.

Hier geht’s los: Die Standseilbahn im historischen Schrägaufzug der Kokerei Zollverein (Bild: Ruhrmuseum)

Zollverein lohnt sich

Um es nicht zu verschweigen: Eine große Ausstellung gibt es schon, nur dreht die sich eher um die wirtschaftlichen, technischen, sozialen, historischen usw. Aspekte des Kohlebergbaus. Sie heißt „Das Zeitalter der Kohle“ und ist in der Kokerei Zollverein in Essen untergebracht, in jenen imposant-schaurigen Baulichkeiten, wo schon die allererste Ausstellung „Sonne, Mond und Sterne“ das Kohle-Thema streifte, wo Andrea Breth tief verstörendes Theater inszenierte und Industriekultur und „Hochkultur“ (unter anderem in Gestalt der Ruhrtriennale) sich immer wieder auf das Eindrucksvollste begegnen. Mit einer Standseilbahn im Schrägaufzug kommt man hin, und sieht man einmal von der peinlichen Beschallung durch das Steigerlied im Eingangsbereich ab, ist diese Ausstellung durchaus überzeugend geraten. Der Eintritt kostet 10 Euro, und das Kombiticket der Kunstmuseen ist hier selbstverständlich nicht gültig.




Aufruhr in der Provinz: Das Jahr 1968 in Westfalen

„1968 in Westfalen“: Der Buchtitel lässt aufhorchen, stehen doch Sauer- und Münsterländer ebenso wie Bewohner von Bergmannssiedlungen im Revier nicht gerade in dem Ruf, Rebellionen anzuzetteln. Folglich müsste es doch eigentlich vor 50 Jahren ganz ruhig geblieben sein, als in Frankfurt, Hamburg, München und Berlin Studenten in Scharen mit der Parole „Unter den Talaren Muff aus 1000 Jahren“ auf die Straße gingen.

Der Historiker Thomas Großbölting von der Uni Münster betreibt in dem Band nun eine Spurensuche. Er will rekonstruieren, was das Jahr 68 im Westfalenland nun wirklich ausgemacht hat. Herausgekommen ist dabei weit mehr als eine simple Chronik von Ereignissen, sondern die prägnante und zugleich einordnende Darstellung eines Umbruchjahres mit seinen Folgewirkungen für die Provinz. Großbölting ist übrigens der Ansicht, dass Dortmund oder Münster seinerzeit eher Mittel- als Großstädte gewesen seien.

Vom kurzen und vom langen ’68

Auch in Westfalen riefen die Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg und des charismatischen Bürgerrechtlers Martin Luther King, das Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke sowie die Massaker der US-amerikanischen Soldaten in Vietnam massive Reaktionen hervor. Die Menschen versammelten sich in großer Zahl zu Gedenk- oder auch Gebetsstunden, auch kam es zu offenen Protesten gegen Rassismus, Diskriminierung und das militärische Vorgehen der USA in Indochina.

Nachdem Großbölting gleich zu Beginn seines Buches erklärt hat, 1968 könne nicht rein als Jahreszahl verstanden werden, sondern sei vielmehr Chiffre für Widerstand, Proteste und Revolte, geht er auf die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge und Entwicklungen jener Zeit ein. Dabei kommt er zu einer aufschlussreichen Unterscheidung. Der Wissenschaftler spricht von dem „kurzen“ und dem „langen“ 1968.

Er meint damit einerseits die eher ereignisorientierte Ebene. Die beginnt für ihn bereits am 2. Juni 1967 mit dem Tod von Benno Ohnesorg, den während der Demonstration gegen den Besuch des persischen Schahs der Polizist Karl-Heinz Kurras erschoss. Diese Phase endet mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze Ende Mai 1968 im Bundestag – gegen alle Widerstände in der Bevölkerung.

Nachhaltige Veränderung der Gesellschaft

Andererseits – und das ist dann die Langversion – hat 1968 zu nachhaltigen gesellschaftlichen Veränderungen geführt. Nach Darstellung des Historikers sind „ökologisches Bewusstsein, Gleichstellung von Mann und Frau, die Akzeptanz verschiedener Formen von Sexualität, Friedensorientierung, Emanzipation und Partizipation“ heute nicht nur Teil des Mainstreams, sondern man definiere damit auch die „Loyalität zum System“.

An diesen Umwälzungen und speziell an dem „kurzen“ 1968 haben traditionelle Unistädte wie Münster mit den Studierenden ihren Anteil, aber ebenso die dazu im Vergleich noch sehr jungen Hochschulen in Ruhrgebiet. Dass es überhaupt zur Gründung der Unis in Dortmund, Bochum oder Bielefeld kam, steht im engen Zusammenhang mit dem Bildungsnotstand, der nicht nur in Deutschland, sondern in der damaligen westlichen Welt in Folge des Sputnik-Schocks ausgemacht wurde. Sputnik hieß der erste Satellit, den die Sowjetunion ins Weltall geschickt und damit im Westen Bedrohungsängste ausgelöst hatte. Mit der Forcierung von Bildung wollten nun die Industriestaaten im Wettlauf mit den Russen deutlich punkten.

Bildungsnotstand als Keim der Kritik

Bildungsnotstand und Kritik am Bildungssystem sollten allerdings auch zum Thema der Studierenden werden. Ihr Aufbegehren in Westfalen entsprang aber vor allem universitären Anlässen, wie beispielsweise in Bochum als Protest gegen eine geplante Univerfassung. Oftmals ging es allerdings auch um politischen Ereignissen, unter anderem bei der wohl größten Aktion in Münster mit über 2000 Beteiligten, die den damaligen Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger bei einem Besuch der Stadt mit Sprechchören ob dessen Nazi-Vergangenheit empfingen.

Nun ist das Buch aber nicht nur lesenswert, weil es aufzeigt, dass auch Studierende in Westfalen es verstanden, auf die Straße zu gehen, sondern es beschreibt auch das gesamte Ausmaß von Aufruhr in Westfalen und darüber hinaus. Wenn man so will, blieb kaum eine gesellschaftliche Gruppe verschont, auch die Kirchen nicht. Beim Katholikentag in Essen gab‘s Debatten am laufenden Band und eine bis dahin kaum gekannte Heftigkeit der Kritik an den Kirchenoberen. Schüler und Lehrlinge machten Front gegen zu hohe Busfahrpreise, Jugendliche forderten mehr Jugendzentren. In Bochum oder auch in Münster machten Aktivistinnen von sich reden, die die traditionelle Rolle von Mann und Frau in Frage stellten und damit die Emanzipationsbewegungen nach vorne brachten.

Als Rudi Dutschke mit Johannes Rau diskutierte

Dass es in diesen stürmischen Zeiten auch Momente gab, die von Sachlichkeit geprägt waren, macht der Autor am Beispiel einer Debatte in der Wattenscheider Stadthalle deutlich. Im Februar 1968 diskutierte dort der damalige Fraktionschef der NRW-SPD (und spätere Bundespräsident) Johannes Rau mit Rudi Dutschke, der sich nach Meinung von Beobachtern nicht als radikaler Studentenführer präsentierte, sondern eher als „parteipolitischer Konkurrent der SPD“.

Wer nun wissen möchte, wo denn eigentlich der Protest seinen Ausgang nahm, den nimmt Großbölting mit auf einen Besuch in den USA Mitte der 60er Jahre, als Studierende sich für Redefreiheit auf dem Campus einsetzten, Woodstock zur Legende wurde, Schwule und Lesben, Native Americans sowie Vietnamkriegsgegner Demonstrationen organisierten. Apropos USA: Großbölting nutzt die letzten Zeilen des Buches, um eindringlich darauf hinzuweisen, dass die heutige Liberalität, die zweifellos 68 zuzuschreiben ist, keineswegs eine Selbstverständlichkeit darstellt.

Thomas Großbölting: „1968 in Westfalen. Akteure, Formen und Nachwirkungen einer Protestbewegung“. Ardey Verlag, Münster. 172 Seiten, 13,90 €.




Feines Gespür für das Lebensgefühl der Zeit: Vor 125 Jahren wurde der Schriftsteller Hans Fallada geboren

Er hieß eigentlich Rudolf Friedrich Wilhelm Ditzen, nannte sich aber nach zwei Märchenfiguren der Brüder Grimm: nach „Hans im Glück“ und nach dem Falada aus „Die Gänsemagd“. Das sprechende Pferd sagt die Wahrheit, selbst als sein Kopf abgeschlagen wird. Vor 125 Jahren, am 21. Juli 1893, wurde Hans Fallada in Greifswald geboren.

Hans Fallada, Porträt um 1930. Copyright Hans Fallada Archiv

Hans Fallada, Porträt um 1930. © Hans Fallada Archiv

Hans Fallada gilt als einer der wichtigsten Schriftsteller der Weimarer Republik, der mit realistischen Milieustudien und wachem Blick für die Menschen auf der Verliererseite die Lebensumstände der dreißiger Jahre beschrieb.

Mit dem sozialkritischen Roman „Bauern, Bonzen und Bomben“ begann 1931 sein schriftstellerischer Erfolg; „Kleiner Mann – was nun?“ wurde 1932 zum Bestseller und ist bis heute eines seiner bekanntesten Werke geblieben. Auch Bücher wie „Jeder stirbt für sich allein“ oder der posthum erschienene Roman „Der Trinker“ sind Welterfolge geworden. „Wer einmal aus dem Blechnapf frißt“ spiegelt seine Erfahrungen im Gefängnis wieder.

Persönlich hatte er stets mit sich selbst zu kämpfen: Als Schüler schon ein Außenseiter, litt er später unter Alkohol- und Morphiumsucht. Aufgrund eines inszenierten Duells, das als Doppelsuizid gedacht war und bei dem er seinen Freund erschoss, wurde er erstmals in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. In der Zeit des Dritten Reiches zog er sich in sein Haus nach Carwitz in Mecklenburg zurück, verhielt sich den Machthabern gegenüber ambivalent. 1947 starb er an den Folgen der Morphinsucht.

Die Revierpassagen sprachen mit der Vorsitzenden der Hans-Fallada-Gesellschaft, Patricia Fritsch-Lange, über den weltberühmten Schriftsteller.

Gibt es eigentlich eine Erklärung für das schwierige Leben und die Sucht von Hans Fallada?

Die Erkrankungen von Hans Fallada sind gut erforscht und dokumentiert. Es gibt medizinische Unterlagen, Briefwechsel und Aufzeichnungen aus der Familie. Fallada stammt aus einer Familie mit einer langen Tradition des schriftlichen Erinnerns, die sich auf hohem Niveau ausdrücken konnte. Die Wurzeln seiner psychischen Instabilität dagegen sind schwer greifbar. Ein paar unglückliche Zufälle, eine gewisse Veranlagung – dann passiert so etwas. Die Eltern waren für die damalige Zeit erstaunlich liberal. Der Vater bot ihm zum Beispiel an, ihn ein Jahr voll zu finanzieren, damit er ausprobieren könne, ob er wirklich Schriftsteller werden wolle. Da war Hans Fallada schon weit über 20 Jahre alt.

Fallada ist einer der wichtigsten Schriftsteller der Weimarer Republik. Den Nazis gegenüber verhielt er sich unterschiedlich: auf der einen Seite reserviert bis ablehnend, auf der anderen Seite kooperativ.

Malerisch gelegen ist das Anwesen Hans Falladas in Carwitz, heute ein Museum. Foto: Hans-Fallada-Gesellschaft e.V.

Malerisch gelegen ist das Anwesen Hans Falladas in Carwitz, heute ein Museum. Foto: Hans-Fallada-Gesellschaft e.V.

Fallada hat die Freiheit ausgekostet, die ihm die Weimarer Republik bot. Er hat in der Künstler-Bohème in Berlin gelebt und versucht, dort seinen Platz zu finden. Als die Nazis an die Macht kamen, verhielt er sich wie die meisten Deutschen. Er beobachtete, versuchte, mit der Situation zurechtzukommen, sich zu etablieren als Schriftsteller und als „ordentlicher“ Bürger. Ein politisch denkender, vorausblickender Mensch war er nicht. Ihm fehlte die Distanz. Aber der Rückzug nach Carwitz aufs Land hatte sicher das Ziel, aus all den Bedrängungen herauszukommen. Damit war er jedoch nicht aus der Literatur-Szene verschwunden. Die Nazis behandelten ihn mit Zuckerbrot und Peitsche. Zeitweise war er unerwünschter Autor, dann wurde er wieder gelobt und erhielt Aufträge, sogar für Filmdrehbücher.

Wie kaum ein anderer hat er die Zeit tiefgründig beschrieben.

Das Arbeitszimmer des Schriftstellers in Carwitz. Foto: Hans-Fallada-Gesellschaft e.V.

Das Arbeitszimmer des Schriftstellers in Carwitz. Foto: Hans-Fallada-Gesellschaft e.V.

Er hat als Teilnehmer an den Zeitläuften geschrieben. Das hat die Leser offenbar damals wie heute angesprochen. Wer etwas wissen will über das Leben in Deutschland in den dreißiger Jahren, erfährt aus seinen Büchern authentisch und unmittelbar, wie der Alltag damals gewesen ist. Fallada beschreibt nicht aus intellektueller Distanz. Man bekommt aus seinen Werken ein Gespür für die Atmosphäre und das Lebensgefühl der Zeit. Der Leser erfährt, was die Menschen im Inneren bewegte, welche Werte und welche Moral ihr Leben bestimmt, wie sie ihren Alltag tatsächlich bewältigen. Nach meinem Gefühl ist das der Grund, warum Fallada auch heute noch gelesen wird.

Das Interesse scheint ungebrochen. „Kleiner Mann – was nun?“ wurde 1972 von Peter Zadek am Bochumer Schauspielhaus als eine Art Revue auf die Bühne gebracht und außerdem – wie mehrfach vorher – verfilmt.

Die Bühnenbearbeitung des Romans „Kleiner Mann – was nun?“ von Tankred Dorst ist seither häufig an verschiedenen Theatern zu sehen gewesen. Es gibt auch Bühnenfassungen von „Jeder stirbt für sich allein“.

Welche Titel würden Sie jemandem empfehlen, der Hans Falladas Werk kennenlernen möchte?

Als Einstieg „Kleiner Mann – was nun?“ und „Ein Mann will nach oben“, ein vielschichtiger Roman aus dem Berlin der Zwanziger Jahre.

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Die Hans-Fallada-Gesellschaft unterhält das Hans-Fallada-Museum in Carwitz, richtet jährlich Hans-Fallada-Tage aus und fördert die Forschung. Am 20. Juli wurde dort die Ausstellung „ ‚Sonst nichts Neues‘. Die Feldpostbriefe des Ulrich Ditzen (1896-1918)“ eröffnet. Ulrich Ditzen war der jüngere Bruder Hans Falladas. Info: www.fallada.de

Lesehinweise:

Peter Walther: Hans Fallada. Die Biografie. Aufbau-Verlag 2018, 25 Euro.

Jenny Williams: Mehr Leben als eins. Hans Fallada. Aufbau Verlag Taschenbuch 2011, 12,99 Euro.




Von Nöttelefönes, Klötenköhm und Halfjehang – ein Herkunftswörtbuch zur Sprache an Rhein (und Ruhr)

Zugegeben, anfangs war ich ein klein wenig enttäuscht. Wenn man ein „Herkunftswörterbuch der Umgangssprache an Rhein und Ruhr“ (Untertitel) in den Händen hält, erwartet man doch auch etliche Belege zur Mundart des Ruhrgebiets. Doch wenn man erst einmal blättert, stellt sich schnell heraus, dass wir es hier vornehmlich mit einem rheinischen Wörterbuch zu tun haben. Gewiss, vor allem im Raum um Duisburg lappt eins ins andere. Auch sonst gibt es etliche Überschneidungen und Anklänge.

Und überhaupt: Eine weitere Fremdsprache kann ja nicht schaden. Erst recht nicht, wenn sie von den „natürlichen Feinden der Westfalen“ (der schätzenswerte rheinische Kabarettist Jürgen Becker sah es aus seiner Perspektive genau umgekehrt) gesprochen wird. Man muss ja wissen, was der „Feind“ so redet.

Basis ist ein interaktives Online-Projekt

Genug der Vorrede. „Wo kommt dat her?“ lautet der bodenständige Haupttitel des umfangreichen Herkunftswörterbuchs, in dem ersichtlich jede Menge Arbeit steckt. Die Resultate sind keineswegs nur angelesen, sondern verdanken sich vielfach mündlichen Auskünften von Dialektsprechern. Man ist also verbal nah dran am gewöhnlichen Alltag.

Autor des Lexikons ist Peter Honnen (Jahrgang 1954), Sprachwissenschaftler des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) beim Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte in Bonn, ein Experte sondergleichen: Schon seit über dreißig Jahren befasst er sich speziell mit rheinischer Alltagssprache. Eine denkbar breite Basis seiner Publikation ist das interaktive „Rheinische Mitmachwörterbuch“, das seit 2007 online ist und inzwischen über 7000 Stichwörter mit zahllosen Fundstellen und Beispielsätzen  von rund 2000 Mitwirkenden erfasst. Selbst das vorliegende Buch kann mit fast 700 Seiten nur eine begrenzte Auswahl aus dem ungeheuren Fundus bieten.

Niederdeutsch, Jiddisch und Rotwelsch als Quellen

Im Vorwort erläutert Honnen einige Grundlinien der Forschung. Demnach belegt das Wörterbuch an vielen Stellen die Verwandtschaft des Rheinischen mit dem Niederdeutschen und Niederländischen, deutlich weniger mit dem weiter südlich anzusiedelnden Hochdeutsch oder dem „Lutherdeutsch“. Zudem haben sich alltagssprachlich – in abgewandelter Form – im Rheinischen viele Übernahmen aus dem Lateinischen, Jiddischen und Französischen gehalten.

Auch das Rotwelsch, die alte Vaganten- und Gaunersprache, hat bleibende Spuren hinterlassen. Überdies haben sich Wendungen aus dem Studenten- und Soldatenidiom durchgesetzt. Die Quellen sind also vielfältig. Mundart und Alltagssprache erweisen sich dabei immer wieder als wahre Kraftwerke für notfalls auch mal derbe und direkte Worterfindungen, sie halten die gesamte Sprache lebendig.

Bei zahllosen Stichworten lässt uns Honnen ansatzweise an der Fachdebatte schnuppern, indem er verschiedene Deutungsmöglichkeiten mit widerstreitenden Begründungen vorstellt. Vieles ist im Fluss. Und häufig streiten sich Köln und Düsseldorf um eine Urheberschaft. Unter dem kölschen Stichwort „Imi“ (zugereister, nur „imitierter“ Kölner) heißt es denn auch schulmäßig: „Der blöde Imi da hät Helau jeschrien!“

Das Revier wird kurzerhand eingemeindet

Zwischendurch kommt auch schon mal ausdrücklich das Ruhrgebiet zu seinem Recht: Rätselhaft sei beispielsweise die Etymologie von „Zigulle“ für „Nase“ im Ruhrgebiet, „eine überhaupt sehr fantasievole Region, was Wortneuschöpfungen betrifft.“ Das geht dem Ruhri jetzt aber runter wie Butter. Kurz darauf wird jedoch die Prämisse klargestellt: „Mit Rheinland ist gemeint: der Niederrhein, das Ruhrgebiet, das Bergische Land, das zentrale Rheinland, die Eifel, der Westerwald und der Hunsrück.“ Danke für die großzügige Eingemeindung, bei der Sauer- und Siegerland freilich nicht explizit genannt werden.

So richtig beginnt der lehrreiche Spaß allerdings nicht mit allgemeinen Definitionsversuchen und Erkenntnissen, sondern beim Stöbern in den einzelnen Stichwörtern. Es steigert das Vergnügen ungemein, wenn man sich Wörter und Sätze im rheinischen Singsang gesprochen vorstellt. Um es nicht vollends auszuufern zu lassen, hier nun gerade mal ein Dutzend aufgepickte Beispiele:

Überschätzter Einfluss des Polnischen

  • Die Wort- und Wendungsliste reicht mitunter bis in Ortsdialekte hinein, so etwa, wenn es um den (fast nur) in Aachen gebräuchlichen Erstaunens-Ausruf „Au Hur“ geht. Dessen Herkunft bleibt aber rätselhaft – wie so manches auf diesem Gebiet.
  • „Ballern“ für saufen (dafür gibt es – ähnlich wie fürs Vögeln – schier endlos viele Worte) lehnt sich vermutlich an das polnische Wort balować an, doch auch das ist nicht ganz gewiss; wie denn überhaupt die Sprache an der Ruhr gar nicht so sehr vom Polnischen beeinflusst zu sein scheint. Mottek (Hammer) ist schon eine rare Ausnahme. Allerdings kommt, was man nicht vermutet hätte, auch „Dalli“ aus dem Polnischen (von dalej = los, vorwärts).
  • Für gar zu dünnen „Blümchenkaffee“ gibt es herrlich viele Bezeichnungen, Zitat: „Schwerterkaffee, Bodenseekaffee, Zores, Spräuz, Schlöres, Schlüntes, Plörre, Geschläpps, Bankrottsbrühe, Flöres oder Schlotterbrühe“ sowie natürlich Muckefuck. Wie reich doch die Sprache in ihren regionalen Ausfaltungen ist!
  • Der Ausruf „Boah ey“ stammt n i c h t aus dem Englischen, obwohl der selten fehlbare Duden es allen Ernstes behauptet…
  • „Bock“ haben rührt von der Romanes-Sprache her (bokh = Hunger, Verlangen). Wer hätte das gedacht?
  • Im Rheinischen und in anderen Dialekten kann mitunter ein einziges Wort ausdrücken, was man sonst umständlich umschreiben müsste, so etwa fuckakich (für: außen schön, innen faul oder auch außen hui, innen pfui).
  • Manche Worte sind einfach umwerfend, so etwa Geheuchnis (Ort, an dem man sich besonders wohlfühlt), Halfjehang (nachlässig gekleideter Mensch), Klabusterbeeren (bröckelige Kotreste am Hinterteil), dinseln (mit kleinen Schritten gehen), Klötenköhm (Eierlikör) oder Nöttelefönes (notorischer Nörgler). Solche anregenden Schöpfungen finden sich zuhauf in diesem Lexikon.
  • Hättet ihr geahnt, dass das Wort Kneipe aus Sachsen kommt?
  • Manche Herleitungen klingen abenteuerlich, im Lexikon werden sie angemessen distanziert wiedergegeben: So soll Kasalla (Prügel) angeblich daher rühren, dass übers Knie gelegte und verprügelte Schüler bis in die 1950er Jahre in dieser misslichen Lage fast unweigerlich das überall aufgepappte Schild des Schulmöbelherstellers Casala gesehen haben. Wenn’s nicht stimmt, ist es wenigstens gut erfunden.
  • „Krass“ (von lat. crassus = dick, grob) haben Studenten schon im 18. Jahrhundert als Modewort benutzt. Es hat sich als ausgesprochen haltbar erwiesen.
  • Das später so reviertypische „Malochen“ ist schon um 1750 belegt und kommt nicht aus dem Polnischen, sondern aus dem Jiddischen (melocho = Arbeit).
  • „Den heiligen Jörg anbeten“ oder „Kotzebues Werke studieren“ bedeutet ungefähr dasselbe: sich übergeben. Das eine ist rein lautmalerisch, das andere gibt sich ansatzweise intellektuell. Ihr habt doch hoffentlich schon längst gefrühstückt? Dann seid ihr – noch so eine Redensart – „an Schmitz Backes vorbei“, habt also das Gröbste hinter euch.

Sätze mit Schakal und Schabau

Na, und so weiter, und so fort. Man möchte am liebsten noch und noch aufzählen. Aber das lassen wir mal hübsch bleiben. Schnobert doch lieber selbst mal in diesem Wörterbuch. Es lohnt sich allemal.

Doch halt! Eins noch: Ich war mal zwei Jahre lang genötigt, im Rheinland (Bonn) zu leben. Aus jener Zeit ist mir ein mundartbezogener Scherz in Erinnerung geblieben. Ihr wollt ihn doch sicherlich hören, oder? Schabau bedeutet übrigens billiger Schnaps.

„Sach mal’n Satz mit Schakal.“ – (ratloses Achselzucken) – „Schakal Fööß!“
„Und sach mal’n Satz mit Schabau.“ – (wieder Ratlosigkeit) – „Schabau kal Fööß!“

Peter Honnen: „Wo kommt dat her? Herkunftswörterbuch der Umgangssprache an Rhein und Ruhr.“ Greven Verlag, Köln. 688 Seiten, 28 Euro.

 




Tosende Wellen, technische Wunderwerke, erhabene Momente – ein Buch zur Geschichte der Leuchttürme

Stünde im Kreuzworträtsel die Frage nach einem „größeren technischen Nostalgie-Objekt“, so könnte die Lösung entweder Dampflok oder Leuchtturm lauten. Mit beiden verknüpfen wir geradezu romantische Vorstellungen. Also kommt ein Buch mit dem verheißungsvollen Titel „Wächter der See. Die Geschichte der Leuchttürme“ gerade recht.

Nach dem hymnischen Motto „Britannia, Rule the Waves“ kann es kaum erstaunen, dass sich mal wieder ein Engländer des Themas angenommen hat. R. G. Grants Buch (im Original: „Sentinels of the Sea“) hat denn auch eine gewisse angloamerikanische Schlagseite, was freilich kein großer Nachteil ist. Es setzt mit der abenteuerlichen Geschichte rund um den Bau des Leuchtturms von Eddyston (Südwestengland, ab 1696) ein, der durchaus einen Romanstoff abgeben könnte.

Eines der sieben Weltwunder

Doch richtet sich der Blick immer wieder in andere Zeiten, Erdwinkel und Meeresbreiten. Als frühes Inbild eines imposanten Leuchtturms gilt der Pharos von Alexandria (um 280 v. Chr.), von den Ptolemäern errichtet, stolze 140 Meter hoch und in der Antike als eines der sieben Weltwunder gerühmt. 1303 und 1323 vernichteten zwei Erdbeben das kolossale Gebäude.

Mit spürbarer Neigung zum Stoff und Liebe zum Detail erzählt Grant die Leuchtturm-Geschichte(n) sodann von den Alten Römern über die Hanse bis in die Epoche des Kolonialismus, in der England und Frankreich auch die technologischen Leitmächte waren – nicht zuletzt beim Leuchtturm-Bau. Zur Mitte des 19. Jahrhunderts meldete dann auch (das sich eben erst national formierende) Deutschland entsprechende Ambitionen an, wie denn überhaupt die Geschichte der Leuchttürme nicht von den großen Linien der allgemeinen Historie zu trennen ist. Nicht zu vergessen: Etwas dermaßen Aufragendes zu errichten, mag auch männlicher Sicht insgeheim auch seine phallischen Implikationen gehabt haben. Dieser Seitenaspekt kommt im Buch jedoch nicht explizit vor.

Warum Küstenbewohner die Türme oft ablehnten

Zumeist entstanden Leuchttürme nach größeren Schiffskatastrophen an besonders gefährlichen Riffs und Meerengen. Freilich wehrten sich die Küstenbewohner häufig dagegen, weil nämlich die Plünderung von angelandeten Schiffswracks eine ihrer wichtigen Einnahmequellen darstellte…

Es ist nicht nur ein informatives, sondern auch ein spannendes Buch. Die Entwicklung der Technik wird Stufe für Stufe eingehend geschildert, sie führte etwa von der simplen Talgkerze und Holzfeuern (für die in bestimmten Landstrichen zahllose Bäume gefällt wurden) bis zur elektrischen Beleuchtung, immer raffinierteren Spiegeln und zur Fresnel-Linse, die das Licht zunehmend verstärkten und bündelten. Dichten Nebel durchdrangen sie jedoch alle nicht völlig, da mussten zuerst Signalhorn oder Glocke und später der Funk herhalten. Mit dem Funk endete dann allerdings auch die Blütezeit der Türme.

Bauarbeiten unter ständiger Lebensgefahr

Ein weiteres Hauptkapitel ist den einst lebensgefährlichen Bauarbeiten gewidmet. An einer stets wellenumtosten Stelle der Bretagne konnte man pro Tag nur rund eine Stunde tätig sein, so dass sich die Sache über sieben Jahre hinzog. Vielerorts waren die Arbeiter bei plötzlich stärkerem Wellengang lediglich durch Leinen notdürftig gesichert. Viele von ihnen haben das nicht überlebt. Auch sonst gemahnt das Abenteuer- und Gefahren-Niveau an Wagnisse wie etwa Polarexpeditionen. Erst als Erfindungen wie Pressluftbohrer und Sprengstoffe aufkamen, ließen sich Fundamente auf Felsen leichter gründen.

Die ganz große Zeit der Leuchttürme endete ungefähr in den 1920er Jahren. Schon um 1910 standen sie nicht mehr an der Spitze der technischen Entwicklung, sondern waren nur noch Nachzügler, im Buch wird das natürlich nautisch ausgedrückt: Sie gerieten demnach ins Kielwasser.

Diese heldenhafte Einsamkeit

Gegen Schluss des historischen Streifzugs erfahren wir, wie es jenen heldenhaften Einsiedlern, also den Leuchtturmwärtern erging, bevor schließlich immer mehr Türme unbemannt bleiben konnten. Da mag es Phasen erhabener Einsamkeit gegeben haben, doch ein leichtes Leben ist das bestimmt nicht gewesen. Unbedingte Zuverlässigkeit war gefragt, ehemalige Seeleute oder Soldaten wurden für den lebenswichtigen Beruf bevorzugt. Da das Amt andererseits oft über Generationen in der Familie blieb, gab es jedoch schon bald auch vereinzelt Leuchtturmwärterinnen. Wäre ja auch gelacht, wenn sie das nicht gekonnt hätten!

Die Bebilderung des Bandes besteht nicht in erster Linie aus Fotografien, sondern vor allem aus (oft seitenfüllenden) Plan- und Konstruktionszeichnungen. Es ist ein wenig so, als ob man den Erfindern und Ingenieuren über die Schulter schauen dürfte. Hier zahlt es sich übrigens aus, dass Dumont eben auch ein führender Kunstbuch-Verlag ist, der Illustrationen besondere Aufmerksamkeit angedeihen lässt.

„Geduldig und stumpf sitzt er da…“

Englischsprachige Dichter haben die vielleicht gewichtigsten Worte zum Thema ersonnen. So schrieb beispielsweise der US-Lyriker Henry Wadsworth Longfellow ein Gedicht mit dem Titel „The Lighthouse“, das vor allem die unerschütterliche Beständigkeit der wegweisenden Flamme preist. Biographisch noch näher dran war der Schotte Robert Louis Stevenson, der aus einer Familie von Leuchtturm-Konstrukteuren stammte. In seinem Gedicht „The Light-Keeper“ (1870) erscheint der Leuchtturmwärter quasi als Opfergestalt, in der Übersetzung liest sich das so: „Der alles aufgibt, was im Leben angenehm ist, / Für die Mittel zum Leben. / (…) / Geduldig und stumpf sitzt er da, / Märtyrer eines Salärs.“ Jetzt sagen Sie aber bitte nicht, dass es Ihnen im Job so ähnlich vorkommt.

R. G. Grant: “Wächter der See. Die Geschichte der Leuchttürme“. Aus dem Englischen von Heinrich Degen. Dumont Verlag. 160 Seiten Bildbandformat, Hardcover. 250 farbige Abbildungen, 100 s/w-Abb. 28 Euro. 

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Im Original kann man Robert Louis Stevensons oben erwähntes Gedicht u. a. hier nachlesen: https://www.poetrynook.com/poem/light-keeper




Von der Schiefertafel zum Tablet, von der Langspielplatte zum Streaming: „Die Verwandlung der Dinge“

Wie die Dinge immerzu vergehen und sich wandeln! Ganz konkret und doch geradezu gespenstisch.

Auch dem kulturhistorisch bewanderten Sachbuchautor Bruno Preisendörfer (Jahrgang 1957) ist immer mal wieder Verwunderung und zuweilen gelinde Belustigung anzumerken, hervorgerufen durch all die heimlichen und unheimlichen Evolutionen unseres Alltags, zumal in der Spanne eines längeren Menschenlebens.

Preisendörfers Buch „Die Verwandlung der Dinge“ beschreibt zum Gutteil Sachen und Verhältnisse, die jüngere Menschen gar nicht mehr kennen oder die sie sich nicht einmal mehr vorstellen können. Hie und da mutet die Rückschau schon ziemlich vorsintflutlich an. Mag sein, dass man bald so etwas wie „Zeitgenössische Archäologie“ wird studieren können.

Der Autor unternimmt „Eine Zeitreise von 1950 bis morgen“ (Untertitel), wobei er sich mit der Zukunftsschau merklich zurückhält. Auch geht er mit Industrie-Kritik in Sachen Unterhaltungselektronik sehr sparsam um. In dieser Hinsicht könnte man sich ganz andere Ansätze vorstellen.

Am interessantesten werden seine Schilderungen immer dann, wenn er die Verwendung einstiger Gegenstände detailliert beschreibt. Manche Phänomene von „damals“ drohen einem ja selbst schon zu entgleiten: ihr Erscheinungsbild, ihre Haptik und Akustik, ihr Gebrauch mitsamt allerlei Tücken.

Wie war das denn noch mit Schiefertafel, Griffel und später Füllfederhalter – Jahrzehnte, bevor wird uns an PCs und Tablets gewöhnt haben? Wie lief das mit Langspielplatten, Tonbändern und Audio-Kassetten, bevor Walkmen, CDs, MP3-Player und schließlich das Streaming aufkamen? Wobei anzumerken wäre, dass die LPs bekanntlich seit Jahren eine kleine Renaissance erleben, auch so etwas gibt’s. Manchmal erobert die Nostalgie – im Namen des Authentischen – gewisse Marktnischen zurück. Fast völlig verschwunden sind hingegen die früher so allgegenwärtigen Telefonzellen, seit fast alle Leute mit Smartphones gesegnet sind.

Preisendörfers Phänomenologie ist streckenweise recht spannend und leidlich unterhaltsam zu lesen, allerdings steigt der Autor nur ganz selten und höchstens mal nebenher in Tiefenstrukturen technischer Entwicklungen ein, sondern verharrt weitgehend an der Oberfläche. Es zitiert sich ja auch so schön und süffig aus alten Gebrauchsanleitungen.

Im Überschwang des Gestrigen unterläuft dem Autor auch schon mal eine Geschmacklosigkeit, als es um die die Einführung des Farbfernsehens geht: „Die Farbära begann in Westdeutschland am 25. August 1967. Benno Ohnesorg lag am 2. Juni 1967 noch schwarz-weiß auf dem Straßenpflaster.“ Aber das ist gottlob die Ausnahme.

Was geneigte Leser allzeit zu schätzen wissen und was leider nicht selbstverständlich ist: Das Buch hat einen ordentlichen, gut durchgearbeiteten Anhang mit Quellenverzeichnis, launigem Glossar, Chronologie („Zeittreppe“) und Personenregister.

Speziell zu gerundeten Geburtstagen mit etwas höheren Ziffern und zu ähnlichen Anlässen dürfte dies ein ideales „Weißt-du-noch?“-Geschenk sein. Aber wer sagt, dass man auf solche Anlässe warten muss?

Bruno Preisendörfer: „Die Verwandlung der Dinge. Eine Zeitreise von 1950 bis morgen“. Verlag Galiani Berlin. 272 Seiten. 20 Euro.




Seltene Fresken in der gräflichen Gruft – ein überraschender Fund im Arnsberger Kloster

Nicht leicht zu erkennen: Kreuzigungsszene als mittelalterliches Fresko im Arnsberger Kloster Wedinghausen. (Foto: Bernd Berke)

Nicht ganz leicht zu erkennen: Kreuzigungsszene als mittelalterliches Fresko im Arnsberger Kloster Wedinghausen. (Foto: Bernd Berke)

Mh, was gibt es denn hier zu sehen? Mal ganz ehrlich: Dieser archäologische Fund wirkt beim ersten Hinsehen für Laien ziemlich unscheinbar. Man muss schon von kundigen Fachleuten angeleitet werden. Wenn man die Hintergründe erfährt, erhellt sich die Sache und man ahnt die Bedeutung.

Tatsache ist: Im Kloster Wedinghausen zu Arnsberg haben Archäologen des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) im Zuge von Sanierungsarbeiten Fresken aus der Zeit um 1320 bis 1340 freigelegt. In Westfalen wurde so etwas noch nie gefunden, ja, in ganz Europa gibt es kaum Vergleichbares.

Nicht ohne pflichtgemäßen Heimatstolz spricht Arnsbergs Bürgermeister Ralf Bittner von einer – nun ja – „Sensation“. Barbara Rüschoff-Parzinger, LWL-Kulturdezernentin und selbst ausgebildete Archäologin, kündigt scherzhaft an: Demnächst werde sie wieder einmal in Flandern sein und könne dann mit dieser westfälischen Neuentdeckung punkten. Offenbar haben die dortigen Kolleginnen und Kollegen gelegentlich schon Zweifel am Fundreichtum in Westfalen geäußert. Was es mit Flandern sonst noch auf sich hat, dazu kommen wir gleich noch.

Kreuzigungsszene im gotischen Stil

Jetzt erst mal näher hingeschaut: Das seinerzeit frisch („ al fresco“) und daher eilends auf den noch nassen Putz gemalte Bild zeigt eine Kreuzigungsszene (so genannter „Dreinagel-Typus“) im gotischen Stil, und zwar am Fußende einer Grabkammer, die sich wiederum in der Mitte des ehemaligen Kapitelsaals befindet. Und was ist nun zu sehen? In der Mitte hängt Jesus am Kreuz, links steht sein Lieblingsjünger Johannes, rechts trauert Maria, die Hände vor der Brust gefaltet. Den Raum zwischen den Figuren füllt kunstvoll ausgeführtes Rankenwerk.

Wollt ihr auch noch das typische Lokalteilfoto? Bitte sehr, hier ist es. Es beugen sich über die Fundstelle (von links): Ausgrabungsleiter Wolfram Essling-Wintzer, LWL-Kulturdezernentin Barbara Rüschoff-Parzinger, Prof. Michael Rind (LWL-Direktor für Archäologie), Arnsbergs Bürgermeister Ralf Bittner und Propst Hubertus Böttcher. (Foto: Bernd Berke)

Foto mit hohem Lächelfaktor gefällig? Bitte sehr, hier ist es. Es beugen sich über die Fundstelle (von links): Ausgrabungsleiter Wolfram Essling-Wintzer, LWL-Kulturdezernentin Barbara Rüschoff-Parzinger, Prof. Michael Rind (LWL-Direktor für Archäologie), Arnsbergs Bürgermeister Ralf Bittner und Propst Hubertus Böttcher. (Foto: Bernd Berke)

Das Bild gehört zur Grabkammer der gräflichen Stifterfamilie, der man also das ganze, 1173 gegründete Prämonstratenser-Kloster zu verdanken hatte. Die Kreuzigungsszene verwies natürlich auch auf die Auferstehung und somit aufs erhoffte Seelenheil der Grafen. Dass das Bild in einer Gruft den Blicken entzogen wurde, hat vermutlich keinem der damaligen Zeitgenossen etwas ausgemacht. Es war keine Epoche der Schauwerte. Konservatorisch betrachtet, war das Überdauern in der Dunkelheit jedenfalls ein Segen.

Das empfindliche Bild für die Zukunft bewahren

Ausgrabungsleiter Wolfram Essling-Wintzer war, als die Fresken im Oktober 2017 unverhofft zum Vorschein kamen, nach eigenem Bekunden „verzückt“ von der gut erhaltenen Leuchtkraft, die nun freilich durch besonders sorgsamen Umgang für die Zukunft bewahrt werden muss. Schließlich sind die Fresken ja nicht mehr durch die geschlossene Gruft geschützt. Die Untersuchungen sollten jetzt zügig vonstatten gehen, damit das kostbare Bild sehr bald wieder möglichst wenigen Umwelteinflüssen ausgesetzt ist. Die Zeitfrage ist vor allem auch eine Geldfrage. Deshalb engagiert sich hier die Deutsche Stiftung Denkmalschutz mit finanziellen Mitteln.

Schon hat man den gesamten Fund mit 3D-Fotografien festgehalten und rundum eingescannt, so dass künftig ein virtuelles Museum denkbar wäre, in dem man das abgedunkelte Original allenfalls durch einen schmalen Sehschlitz betrachten dürfte. Vorerst ist der Fund überhaupt nicht zur öffentlichen Besichtigung freigegeben.

Hubertus Böttcher, als Dechant und Propst sozusagen der heutige Hausherr im Kloster, schwärmt von der Aura der Fundstelle und favorisiert eine Lösung, die auch jüngere Leute anspricht, sie in eine andere Zeit eintauchen lässt. Seine nicht nur diesseitige Vision geht weiter: In absehbarer Zeit sollen junge, zölibatär lebende Männer aus Brasilien im restaurierten Klostergeschoss (eine Etage über der Gruft) einziehen und den Ort womöglich zum geistlich-geistigen Zentrum machen – ganz im Sinne ihrer „Katholischen Gemeinschaft Shalom“.

Mächtiger Pfeiler als Zeugnis der Barbarei

Doch zurück zum Bodendenkmal und zur Fundsituation: Bei einer gewaltsamen Grab-Plünderung anno 1804 (nach Aufhebung des Klosters) kamen drei Schädel abhanden, nur Knochenbruchstücke blieben übrig, die man jetzt auswerten kann. Leider findet sich in der Grabstätte noch ein weiteres Zeugnis brachialer Barbarei. Ebenfalls zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde nämlich das Fundament eines mächtigen Pfeilers achtlos mitten hinein gesetzt. Andernfalls wäre die 2,10 Meter lange und 80 Zentimeter breite Grablege heute noch ungleich besser und vollständiger erhalten. Zum Glück hat man auch viele abgeplatzte Wandstückchen gefunden, die sich mit neuesten Computerprogrammen als virtuelles Puzzle wieder zusammensetzen lassen. Dann wird man ungefähr wissen, was an den Fresken fehlt.

Teilansicht des Arnsberger Klosters Wedinghausen, das derzeit gründlich restauriert wird. (Foto: Bernd Berke)

Teilansicht des Arnsberger Klosters Wedinghausen, das derzeit gründlich restauriert wird. (Foto: Bernd Berke)

Knochenreste wurden gleichfalls in der gräflichen Gruft entdeckt. Man hofft, mit den heutigen Methoden (DNA-Analyse) schon bald nachweisen zu können, dass die hier beigesetzten Verstorbenen miteinander verwandt waren. Dann müsste es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um die Grafen Heinrich I. und Heinrich II. handeln, die dritte Person dürfte Ermengardis sein, die Gattin Heinrichs II. Mehr noch: Anhand von DNA-Proben könnte man auch Rückschlüsse auf Gesundheitszustand und Ernährungsgewohnheiten dieser höchlich privilegierten mittelalterlichen Menschen ziehen.

Teile eines westeuropäischen Netzwerks

Das alles mag immer noch nach bestenfalls regionaler Bedeutsamkeit klingen. Doch weit gefehlt. Zwar gibt es auch Beispiele in Lübeck und Bonn, doch zumal in Brügge und Umgebung befinden sich die meisten Gräber, die auf diese Art mit Fresken bemalt sind. Heinrich I. hatte, wie man aus schriftlicher Überlieferung weiß, durch seinen Vater Gottfried von Cuyk Kontakt zur flandrischen Region. Jener Gottfried von Cuyk war Burggraf von Utrecht. Da zeichnen sich also – nunmehr auch künstlerisch beglaubigt – Teile eines (west)europäischen Netzwerks ab.

Arnsberg, heute Sitz einer Bezirksregierung, der Teile des Ruhrgebiets unterstehen, war auch damals anscheinend keine reine Provinz. Mit leichter Zuspitzung kann man eventuell sogar behaupten, dass Heinrich I. und sein Sohn in der reichspolitischen, wenn nicht europäischen Liga agierten. Von weit reichender, allerdings unfriedlicher Wirkung zeugt überdies die Beteiligung an den Kreuzzügen. Aber das Kapitel blättern wir jetzt nicht auf.

 




Verderben für Welschlands Gefild: Gaspare Spontinis Riesen-Oper „Agnes von Hohenstaufen“ in Erfurt wiederentdeckt

"Es schwebe der Adler des heiligen Reichs": Kaiser Heinrich VI. (Máté Sólyom-Nagy) lässt den Vogel auf seinem Arm landen. Foto: Lutz Edelhoff

„Es schwebe der Adler des heiligen Reichs“: Kaiser Heinrich VI. (Máté Sólyom-Nagy) lässt den Vogel auf seinem Arm landen. Foto: Lutz Edelhoff

Es sollte ein großer Wurf werden, eine Art preußischer Nationaloper und die Krönung des Werks des Berliner Generalmusikdirektors Gaspare Spontini. Geblieben ist die große historisch-romantische Oper „Agnes von Hohenstaufen“ ein work in progress, umstritten und geschmäht. Ein riesiges Vorhaben, das die einen für „beispiellos misslungen“ hielten, die anderen in den höchsten Tönen als wegweisend priesen. Eine Kontroverse, die sich bis heute durch die magere Rezeptionsgeschichte der eigentlich drei Mal uraufgeführten Oper zieht.

Die mit Spannung erwartete Wiederaufführung in Erfurt auf der Basis einer kritischen Edition von 2001 plus der erst kürzlich wiederentdeckten Ouvertüre wird die unterschiedliche Beurteilung nicht harmonisieren – das lässt sich nach über drei Stunden Aufsehen erregender Musik und einem zweitägigen wissenschaftlichen Symposion der Universität Mainz wohl feststellen.

Ein Stoff aus der Geschichte der Stauferzeit

Aber der Reihe nach: Spontini, ab 1820 vom preußischen König angeworbener erster „Generalmusikdirektor“ in Berlin, wollte mit der großen Oper nach einem Stoff aus der Geschichte der Stauferzeit den großen Wurf landen, der seit langem von ihm erwartet wurde. Anlass war die Hochzeit des Prinzen Carl mit der weimarischen Prinzessin Marie 1827, zu der allerdings erst der erste Akt des Librettos von Ernst Raupach fertiggestellt war. Schon damals begann die Kontroverse, die Spontini und seinen schärfsten Kritiker Ludwig Rellstab sogar bis vors Gericht führte.

Gaspare Spontinis "Agnes von Hohenstaufen" in Erfurt: Claudia Sorokina (Mitte) als Agnes. Foto: Lutz Edelhoff

Gaspare Spontinis „Agnes von Hohenstaufen“ in Erfurt: Claudia Sorokina (Mitte) als Agnes. Foto: Lutz Edelhoff

Die vollendete Oper erschien im Berliner Königlichen Opernhaus 1829 anlässlich der Vermählung des Prinzen Wilhelm – des späteren Kaisers – mit Auguste von Weimar. Fassung Nummer drei, gründlich überarbeitet und zum Teil neu komponiert, hatte 1837 eine erfolgreiche Premiere. Die Partitur blieb ungedruckt, was wohl der entscheidende Grund für das Ausbleiben von Folgeaufführungen an anderen Opernhäusern gewesen ist: Über „Agnes von Hohenstaufen“ senkte sich trotz der Bemühungen Spontinis dichtes Vergessen; erst 1954 dirigierte Vittorio Gui beim Maggio Musicale Fiorentino eine italienische Version.

Dank des Einsatzes von Riccardo Muti folgten weitere Aufführungen in Florenz und Rom, ohne für das Werk größere Aufmerksamkeit zu wecken. Eine von Muti geplante Koproduktion mit Mailand, Wien und Berlin scheiterte. Die Kontroverse um die „Agnes“ jedoch geisterte weiter durch die Literatur. Wie bei anderen Werken des – so der Musikwissenschaftler Anno Mungen – „unterforschten“ Spontini lag keine kritische Edition vor. Auch Opern wie die mit Maria Callas wiederbelebte „La Vestale“ (zuletzt Karlsruhe 2013), „Fernando Cortez“ (Erfurt 2006) oder die tragédie-lyrique „Olimpie“ (1987 Berlin und 2016 Amsterdam, konzertant) finden nur sporadisches Interesse.

Historische Kostüme, bedeutungsvolle Schauplätze

Nach fast 180 Jahren lässt die Erfurter Inszenierung von Spontinis Opus magnum aufschlussreicher Einblicke zu: in die für die Operngeschichte so wichtige Zeit um 1830, aber auch auf Bedingungen ihrer Rezeption. „Agnes von Hohenstaufen“ rückt mit ihrem historischen Stoff, ihrer ehrgeizigen, stilistisch offenen Komposition, ihrem außerordentlichen Orchesterapparat, ihren herausfordernden Gesangspartien, dem dramaturgisch überlegten Einsatz von Chören und den – in Erfurt gestrichenen – Ballettszenen nahe an die kurze Zeit später sensationelle Erfolge feiernden „großen“ Opern Daniel Francois Esprit Aubers („La Muette de Portici“), Gioachino Rossinis („Guillaume Tell“) und Giacomo Meyerbeers („Robert le Diable“).

Auch die vom Werk untrennbare Bedeutung der „mise-en-scène“ weist auf die „grand opéra“ hin: Historisch sorgfältig nachempfundene Kostüme und bedeutungsvolle Schauplätze sollten nicht bloß, wie Kritiker beanstandeten, die „Schaulust“ des Publikums befriedigen. Sie waren entscheidende Bedeutungsträger, also mehr als Dekoration. Spontini schuf bereits ein „multimedial“ angelegtes Werk, das dem Wagner’schen „Gesamtkunstwerk“ unmittelbar zuzuordnen ist.

Die Wahl des Stoffes erweist sich als aktuell und hochpolitisch, wie Fabian Kolb (Mainz) beim Symposion ausführte: Der seit 1815 preußische Rhein spielt in der Romantik wie in den nationalpatriotischen Gefühlen der Zeit eine wichtige Rolle, das deutsche Mittelalter wurde in dieser Zeit neu entdeckt, eine überzeugende und der historischen „Realität“ angenäherte, glaubwürdige Darstellung diente dem Ideal der Bühne als – auch historische – Lehranstalt.

Musikalisch setzt Spontini auf Überwältigungsstrategie. Aufgeheiztes Pathos, instrumentaler Glanz, forcierte Lautstärke, üppige Instrumentation und moderne Instrumente wie die nicht immer glücklich hinzugefügte Tuba, dazu auch im Gesangsstil eine Abkehr von der älteren Bravour hin zu psychologisch „natürlicher“ Deklamation verfehlten ihre Wirkung nicht. „Ein Ganzes, das durch seine Größe imponiert“, fasst Kolb zusammen und zitiert eine zeitgenössische Quelle: Spontinis Musik wolle „betäuben und verblenden, um uns in einem beständigen Taumel zu erhalten“.

Zukunftsweisende Lösungen für musikdramatische Herausforderungen

Spontini hat – darauf hat auch Anno Mungen (Bayreuth/Thurnau) hingewiesen – für musikdramatische Herausforderungen zukunftsweisende Lösungen gefunden. Die Ouvertüre mit ihrer langsamen Einleitung, die sich durch immer neu hinzutretende Instrumente bei statischer Repetition des Materials zu einem spannungsreichen Crescendo entfaltet, lässt sich wohl nicht grundlos mit Wagner „Rheingold“-Einleitung in Verbindung bringen.

Meyerbeer und Rossini dürften Spontinis Musik aufmerksam zur Kenntnis genommen haben – letzterer hatte ja „Fernando Cortez“ für Neapel bearbeitet. Und dass zum Beispiel Heinrich Marschner bei „Hans Heiling“ oder „Der Templer und die Jüdin“ eher auf Spontini als auf Beethoven geschaut hat, legt der Hör-Eindruck nahe – obwohl in der Untersuchung solcher Bezüge noch viel Forschungsarbeit zu leisten ist.

Allerdings zeigt der gewaltige Erfurter Kraftakt auch die Grenzen heutiger Rezeption: Denn die Dauerspannung, unter die Spontini das Philharmonische Orchester Erfurt und die verstärkenden Musiker der Thüringen Philharmonie Gotha-Eisenach setzt, erzeugt keinen „beständigen Taumel“ mehr, sondern erdröhnt und erdrückt das Interesse. So großartig konzipiert die „Kirchenszene“ im zweiten Akt auch ist – der Zuhörer erwartet nach pausenlosem Pomp jedes wieder anrollende Crescendo, jeden neuen monumentalen Blecheinsatz mit Überdruss.

Spontini schafft es nicht, Ruhepunkte zu setzen, Kontraste aufzubauen. Kaum wähnt man sich – wie in der Szene des gefangenen Heinrich zu Beginn des zweiten Akts – an einem eher reflektierenden, sparsamer instrumentierten Moment, brechen die Stahlgewitter wieder los. Zudem wirken ganze Passagen merkwürdig gegen den organischen Fluss und Akzent der deutschen Sprache geschrieben. Zu viel, zu viel …

Flecken auf dem musikalischen Glanz

Das Theater in Erfurt. Foto: Theater Erfurt

Das Theater in Erfurt. Foto: Theater Erfurt

Zoi Tsokanou, die tapfere Dirigentin des Abends, versucht so gut es geht, diesen gewaltigen Apparat zu beherrschen, zu dem auch noch bis zu 80 Sänger auf der Bühne gehören (Opernchor, Philharmonischer Chor und Stadtharmonie Erfurt). Sie organisiert das allen Beteiligten fremde Werk mit dem Fokus auf Sicherheit. Aber sie kann weder der abundanten Rhetorik Spontinis Bedeutung abgewinnen, noch greift sie gestalterisch auf die endlos wirkenden Strecken martialischen Pomps zu. Unsicherheiten im Orchester häufen sich im Lauf des Abends, der geforderte Glanz der Streicher hat – wie öfter in Erfurt – unschöne Flecken, Tempo und Phrasierungen wirken immer wieder zögerlich suchend. Das liegt auch an der Musik Spontinis – der Eindruck drängt sich auf, dass der Komponist feineren koloristischen und dynamischen Differenzierungen fast unüberwindliche Hindernisse aus Notenmassen entgegengestellt hat.

Die Sänger bleiben von Spontinis Hang zur Monumentalität nicht verschont. Zu hören ist das etwa bei Bernhard Berchtold, mit dem die Tenorrolle des Kaisersohns Heinrich zu leichtstimmig besetzt ist. Auch Claudia Sorokina hat in der Titelrolle der Agnes zu kämpfen und kann den Stimmsitz nicht immer kontrollieren. Siyabulela Ntlale als französischer König Philipp-August rettet sich, weil sein Bariton zwar nicht mit klanglichem Kern prunken, sich aber mit Präsenz durchsetzen kann. Máte Sólyom-Nagy gibt einen Kaiser Heinrich VI. mit Autorität und sonorem, wenn auch hin und wieder tremolierendem Fundament.

Claudia Sorokina als Agnes. Foto: Lutz Edelhoff

Claudia Sorokina als Agnes. Foto: Lutz Edelhoff

Margrethe Fredheim hat den idealen, dunkel getönt flutenden Sopran für die Partie der Irmengard von Henneberg, der Mutter der Agnes. Todd Wilander (Philipp), Juri Batukov (Heinrich der Löwe) Kakhaber Shavidze (Erzbischof von Mainz) sowie Caleb Yoo, Jörg Rathmann und Henry Neill zeigen, dass Spontini selbst in kleineren Partien mit Sängern auf Weltniveau rechnet. Das Erfurter Ensemble stürzt sich mit Enthusiasmus in dieses Turnier mit Spontinis gewaltigen Noten und lässt sich nicht aus den Sätteln heben.

Aus der nationalen Aufbruchsstimmung der 1830er-Jahre erklärt sich der Überschwang des Librettos, für die letzte Fassung der Oper überarbeitet von Carl August von Lichtenstein. Im Ambiente des deutschen Rheins werden historische Ereignisse aus der Zeit der Staufer geschickt miteinander verquickt: Die Aussöhnung Kaiser Heinrichs VI. mit Heinrich dem Löwen und die heimliche Heirat zwischen dessen Sohn Heinrich und Agnes von Staufen, die Opposition der Fürsten, die Bündnispolitik des Kaisers mit dem französischen König und sein Versuch, seine Herrschaftsansprüche in Sizilien durchzusetzen.

Dabei wird kein ungebrochenes Kaiserlob gesungen: Heinrich der Sechste ist das Porträt eines starren, uneinsichtigen Politikers, dessen Tyrannei die Fürsten bis an die Grenze der Revolution reizt. Das Ende feiert trotz aller Rufe zu Fahnen, Waffen und blutigem Tanz keine ungebrochene Herzenseinheit: Was zusammenschweißt, sind die „Klänge der Kriegsdromete“ und der erhoffte „Siegerkranz“.

Die „siegenden Schwingen“ des Adlers

Mittelalter - Vormärz - Weltkrieg: Marc Adam und Monika Gora setzen Zeitebenen in Bezug zueinander. Foto: Lutz Edelhoff

Mittelalter – Vormärz – Weltkrieg: Marc Adam und Monika Gora setzen Zeitebenen in Bezug zueinander. Foto: Lutz Edelhoff

Marc Adam setzt in seiner Inszenierung an dieser nationalen bellizistischen Rhetorik an: Die Wiederentdeckung des Mittelalters unter den Vorzeichen der Romantik und der deutschen Nationalbewegung zur Zeit Spontinis beleuchtet er von den Folgen des übersteigerten Nationalismus im Ersten Weltkrieg her. Die Bühne Monika Garas, ein tiefer, zentralperspektivischer Raum, bildet einen düsteren Schlund des Krieges. Ein Soldat liegt gekrümmt in einem Schützenloch – und ein lebendiger Adler macht sich über ihn her, bevor er auf dem Arm des Kaisers landet: der „Adler des heiligen Reichs“, der mit „siegenden Schwingen“ Verderben in „Welschlands Gefild“ bringt.

Gleich darauf segnet der Erzbischof Waffen und beschwört die gerechte Sache. Die Parallele zur Kriegspropaganda von 1914/18 ist in der Tat frappierend. Adam fächert die Zeitebenen auf: Die martialische wilhelminische Gesellschaft spielt in historisierenden Kostümen ein Schultheater-Mittelalter nach, verwandelt sich aber auch in Vormärz-Herren und Biedermeier-Damen und stellt so den Bezug zum Preußen der „Heiligen Allianz“ her.

Als Tableau sind solche Szenen wirkungsvoll, aber die Leitidee einer Verschränkung der Zeiten erweist sich als wenig ergiebig, um die Bühne aus den Fluten von Aufmärschen und Chormassen zu befreien. Da wirkt auch die Gasmaske am Szenenrand nur als äußerlicher Verweis für innere Zusammenhänge. Andere Szenen wie das Kloster des zweiten Akts bleiben zu sehr im dekorativ Atmosphärischen stecken. Das historische Lehrstück, schon ins Konzept der Spontini-Oper eingeschrieben, bleibt in seiner zähen Bildhaftigkeit auf Distanz.

Dennoch: Es war wichtig, diese Oper zu zeigen und zu sehen. Dem Erfurter Dramaturgen Arne Langer ist für siebenjährige Forschungs-, Entdeckungs- und Überzeugungsarbeit nicht genug zu danken. Spontinis „Agnes von Hohenstaufen“ ist ein Dokument deutscher Befindlichkeit in einer Schlüsselperiode der Geistes- und der politischen Geschichte. Und seine Musik richtet bei all ihrer Hybris und ihrem unerhörten Aufwand den Blick auf eine Zukunft, deren selbstreklamierte Erfindung durch Richard Wagner nun vollends unglaubwürdig geworden ist.

Eine Aufzeichnung von Gaspare Spontinis „Agnes von Hohenstaufen“ wird am Samstag, 16. Juni, 19.05 Uhr auf Deutschlandfunk Kultur ausgestrahlt.




Ein Fenstersturz mit unabsehbaren Folgen: Vor 400 Jahren begann in Prag der Dreißigjährige Krieg

Die Szene wirkt wie aus einem schlechten Film: Am Morgen des 23. Mai 1618 dringt ein Trupp radikaler Protestanten unter Führung des Grafen Heinrich Matthias von Thurn auf der Prager Burg in den Tagungsraum der vom Kaiser und König von Böhmen ernannten Bevollmächtigten – der sogenannten Regenten – ein.

Das Werk von Herfried Münkler über den Dreißigjährigen Krieg. Coverabbildung: Rowohlt Verlag

Das Werk von Herfried Münkler über den Dreißigjährigen Krieg

Dort kommt es zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung, in deren Verlauf die beiden katholischen Regenten Jaroslav Borsita von Martinitz und Wilhelm Slavata samt dem Sekretär Philipp Fabricius aus dem Fenster in den 17 Meter tiefen Burggraben gestoßen werden – in der Absicht, sie zu ermorden.

Die Mode der Zeit verhindert den Tod der drei: Die schweren, weiten Mäntel bremsen den Sturz, die abgeschrägten Mauern der Burg lassen die Männer wohl eher hinabrutschen als im freien Fall auf den Boden schlagen. Dass die Opfer auf einem Misthaufen weich gelandet seien, ist jedoch eine Legende.

„Urkatastrophe der Deutschen“

Der „Prager Fenstersturz“ wird gemeinhin als Beginn einer 30jährigen Serie kriegerischer Auseinandersetzungen angesehen, die erst 1648 mit dem „Westfälischen Frieden“ endete. Bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs galt der Dreißigjährige Krieg als Urkatastrophe der Deutschen: Gewalt und Seuchen dezimierten die Bevölkerung von geschätzt 17 auf elf Millionen, die „kleine Eiszeit“ – es gab Jahre, da schneite es bis in den Juni – mit Missernten und Hungersnöten tat ein Übriges dazu.

Heerhaufen und umherziehende Marodeure verwüsteten die Felder, brannten Gehöfte und Dörfer nieder, brachten Epidemien ins Land, vergewaltigten und töteten. Der Historiker Herfried Münkler, Verfasser eines grundlegenden neuen Buchs über diese Zeit, sagt, der Krieg habe im Verhältnis „weit mehr Todesopfer gefordert als der Erste und der Zweite Weltkrieg zusammen“.

Münkler weist jedoch auch darauf hin, dass die Kriege, die zwischen 1618 und 1648 geführt wurden, nicht als Religions- oder Konfessionskriege gelten können: „Religion fungierte vor allem als Brandbeschleuniger für … politische Konflikte. Und diese Konflikte schafften wiederum die Möglichkeit, den religiösen Streit in äußerster Härte auszutragen“, sagt er in einem Interview. Die Besonderheit des Konflikts sei, so Münkler in der „Tagespost“, dass er sich „relativ früh und fast gleichzeitig mit der Konfessionsfrage verbindet“.

Der Aufstand in Böhmen war keine Volksbewegung

Der sogenannte böhmische Aufstand war keine breite Volksbewegung, sondern die Reaktion einer Minderheit Adliger auf die Politik der Habsburger: Der 1617 zum König von Böhmen gewählte Ferdinand versuchte, das Land zu rekatholisieren. Zwar hatte er die Privilegien der Protestanten bestätigt, die Politik vor Ort aber wurde als Schikane empfunden, gegen die sich immer mehr Widerstand formierte. Zudem hegte Ferdinand ein tiefes Misstrauen gegen die Stände. Die Schließung und der Abriss zweier evangelischer Kirchen 1617 führten zum Protest protestantischer Adliger, woraufhin der König weitere Versammlungen verbot.

Herfried Münkler. Foto: Rowohlt/Reiner Zensen

Der Autor Herfried Münkler (Foto: Rowohlt/Reiner Zensen)

Der Konflikt weitete sich aus, als die protestantische Opposition ein „Direktorium“ als Übergangs-Landesregierung wählte und begann, unter Führung des Grafen Thurn eine Armee aufzustellen. Die Habsburger reagierten zunächst planlos und ihre militärischen Kräfte unter Karl Bonaventura Bucquoy waren zu schwach, um sich durchzusetzen. Während Ferdinand in Frankfurt zum deutschen Kaiser gewählt wurde, schlossen sich die fünf böhmischen Kronländer (Böhmen, Mähren, Schlesien und die beiden Lausitzen) zu einer Konföderation zusammen, erklärten die Wahl Ferdinands zum König von Böhmen für widerrechtlich und wählten am 26. August 1619 den 23jährigen Friedrich V. von der Pfalz zum König.

Keine Unterstützung für den „Winterkönig“

Der Pfälzer hatte auf Unterstützung seines Schwagers, des Königs von England, und der protestantischen Union gerechnet, wurde aber bitter enttäuscht. Von seinen neuen Untertanen verstand er weder die Katholiken noch einen Teil der in zahlreiche Splittergruppen zerfallenden Protestanten. Seine streng reformierten Pfälzer Begleiter zogen sich den Unmut der Böhmen zu, als sie im Prager Veitsdom Kunstwerke zerstörten und Heiligengräber schändeten. Inzwischen beschlagnahmten die böhmischen Konföderierten katholische Besitztümer und erhöhten die Steuern erheblich, um ihre Militärausgaben zu finanzieren. Ein Vorstoß auf Wien im Winter 1619 scheiterte.

Jetzt sammelte der neu gewählte Kaiser Ferdinand seine Kräfte: Er sicherte sich die Unterstützung von Herzog Maximilian von Bayern. Im August 1620 nötigte Ferdinand den mit den Böhmen verbündeten österreichischen Ständen eine Kapitulation ab, dann marschierten die kaiserlichen Truppen unter Bucquoy und dem berüchtigten Johann T’Serclaes von Tilly in Böhmen ein. In der Schlacht am Weißen Berg am 8. November 1620, der ersten großen militärischen Auseinandersetzung des Dreißigjährigen Krieges, unterlagen Friedrich V. von der Pfalz und sein Heerführer Christian I. von Anhalt den Truppen der Katholischen Liga. Der Weg zur Entmachtung der Stände und zur Gegenreformation in Böhmen war damit frei. Friedrich V. verlor seine Erblande und die Kurwürde, die sich Maximilian von Bayern neben der Oberpfalz sicherte.

Geschürt von Extremisten auf beiden Seiten

Der Konflikt war freilich nicht zu Ende. Noch war ein „Dreißigjähriger Krieg“ nicht absehbar, aber die Kräfte des politischen Ausgleichs waren nicht in der Lage, die Eskalation zu stoppen. Der zunächst auf Böhmen und Teile Österreichs begrenzte Verfassungs- und Konfessionskonflikt wurde zum Krieg katholischer und protestantischer Mächte, geschürt von Extremisten auf beiden Seiten, Reformierten und Jesuiten. Er weitete sich aus zu einem europäischen Hegemonialkrieg, aus dem die Partei der Habsburger als der große Verlierer hervorgeht und sich europäische Groß- und Mittelmächte wie Frankreich, Schweden, aber auch Bayern und Sachsen stabilisieren und arrondieren.

Lektüre:

Herfried Münkler: „Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe,  deutsches Trauma 1618-1648“. 976 Seiten. Rowohlt-Verlag Berlin. Hardcover 39,95, E-Book 29,99 Euro.

Peter H. Wilson: „Der Dreißigjährige Krieg. Eine europäische Tragödie“. 1160 Seiten. Theiss Verlag. Hardcover 49,95, E-Book 39,99 Euro.




Nicht nur zum Ende der Zechen-Ära eine Erinnerung wert: August Siegel, Bergmann und Gewerkschafts-Pionier

Gastautor Horst Delkus erinnert – nicht zuletzt aus Anlass der bald endenden Zechen-Ära im Ruhrgebiet – an den Bergmann und Gewerkschafter August Siegel (1856-1936), einen Pionier der Arbeiterbewegung des Reviers:

Die Heilige Barbara – Schutzpatronin der Bergleute – muss mit dem Kopf geschüttelt haben, als sie erfuhr, wie die katholische Geistlichkeit gegen den neu gegründeten Verband der Bergarbeiter hetzte: Gewerkschaftlich organisierte Bergarbeiter, hieß es da von der Kanzel herab, seien Mordbuben, der Auswurf der Menschheit.

August Siegel - Lithographie von Hermann Kätelhön, datiert aufs Jahr 1921. (Deutsches Bergbau-Museum / montan.dok / Sammlung Delkus)

August Siegel – Lithographie von Hermann Kätelhön, datiert aufs Jahr 1921. (Sammlung Delkus)

Ein Pfaffe hatte sogar das Bündnis des Bergarbeiterverbandes mit der Hölle entdeckt. „Wo die ‚Bergarbeiterzeitung‘ auf dem Tische liegt“, predigte er den Frauen der Bergarbeiter, „da sitzt der Teufel unterm Tisch.“ Und die ‚Tremonia‘, die katholische Zentrums-Zeitung des einflußreichen Dortmunder Verlegers Lambert Lensing, mahnte: „Wehe unserem Arbeiterstande, wenn er sich in die Hände der Sozialdemokratie begibt.“

Panikmache anno 1889. Denn die organisierte Sozialdemokratie war damals im Ruhrgebiet noch eine Sekte; ihre heimlichen Hauptstädte hießen Leipzig, Hamburg oder Berlin. Auf den Bergarbeiterstreik im Mai hat sie wahrscheinlich nicht mehr Einfluß gehabt, als die Apo 70 Jahre später auf die Septemberstreiks 1969. „Sie ist mit dem Ausbruch desselben gerade so überrascht worden, wie die übrige Welt“, schrieb einer, der es wissen mußte: August Bebel.

Er galt als bester Agitator der Gründungszeit

Einfluss im Bergarbeitermilieu des Ruhrgebiets hatten um 1889 vor allem drei Sozialdemokraten: die mit dem Nimbus der „Kaiserdelegierten“ versehenen Bergleute Ludwig Schröder, Friedrich Bunte und August Siegel. Ein zeitgenössischer Chronist über diese „Volksverführer und Hetzer“: „Schröder, der Älteste, wird als ‚mehr erfahren‘, ‚offen‘ und ‚gutmütig‘ im Gegensatz zu dem hinterhältigeren Bunte geschildert. Siegel scheint der geistig Beweglichste zu sein. Er scheint auch für weit greifende Organisationspläne und für die eigentlichen Lohnkämpfe mehr eingenommen als die zwei anderen.“

Alle drei waren an der Gründung und am Aufbau der Bergarbeitergewerkschaft maßgeblich beteiligt. In der Phalanx der Gewerkschaftsführer aber sind sie – im Gegensatz zu Hue, Sachse, Husemann und Schmidt – in Vergessenheit geraten. Immerhin ist einer von ihnen im Internationalen Handwörterbuch des Gewerkschaftswesens von 1932 noch mit einer Kurzbiographie vertreten: August Siegel. In ihm, heißt es da, „verkörpert sich ein Stück Geschichte des Verbandes der Bergarbeiter, war er doch in der Gründungszeit sein bester Agitator“.

Mit elf Jahren täglich zwölf Stunden auf der Kohlehalde

Geboren wurde August Siegel am 1.April 1856 in Zwickau. Sein Vater war Bergmann, starb jedoch fünf Monate vor Augusts Geburt. Die Witwenrente reichte für die neunköpfige Familie nicht aus. August besuchte die Armenschule, unternahm Bettelstreifzüge aufs Land. Über seine Kindheit schrieb er später: „Bei den Bauern konnte ich manchen Überfluss entdecken, der mich dazu zwang, Vergleiche anzustellen mit der furchtbaren Not, die bei uns zu Hause herrschte. Warum ist es so? Warum kann sich nicht jeder satt essen, wenn er Hunger hat? Das waren meine ersten philosophischen Gedanken.“

Zwölf Stunden täglich arbeitete er bereits mit elf Jahren täglich auf der Kohlenhalde. Als ein älterer Bruder beim Rangieren der Kohlenwaggons schwer verunglückte, stand für seine Mutter fest: Mein Sohn soll kein Bergmann werden! Er wurde Sandformer in einer Chemnitzer Maschinenfabrik. Hier ergaben sich die ersten Kontakte zu Sozialdemokraten. Mit 16 Jahren trat er der Partei bei. Nach dem Chemnitzer Metallarbeiterstreik 1872 folgte Siegel seiner älteren Schwester von Sachsen nach Westfalen. In Dortmund und Umgebung fand er Arbeit auf verschiedenen Zechen.

„Wie sehr die Belegschaften schikaniert wurden…“

Siegel in seinen Erinnerungen: „Wie sehr die Belegschaften schikaniert wurden, ist kaum zu beschreiben. Warum, wird man fragen, haben die Leute die betreffende Zeche nicht verlassen und auf einer anderen Grube gearbeitet? Das ist leichter gesagt als getan. Viele von der Belegschaft waren Kleinhauseigentümer und hatten ohnehin schon einen weiten Weg zur Arbeitsstelle. Bei einem Arbeitswechsel mußten sie noch weiter laufen. Zumal fanden sie das, was sie auf der einen Zeche verlassen hatten, auf der anderen getreulich wieder.“ Streiks ohne eine Organisation im Rücken erschienen wenig aussichtsreich.

Als Vorsitzender eines nichtkonfessionellen freien Knappenvereins arbeitete Siegel bald mit anderen Dortmunder Bergarbeiterführern zusammen und agitierte mit seiner kräftigen Stimme die Bergleute auf zahllosen Versammlungen. In seinen Lebenserinnerungen, 1921 als Serie für die Jugendzeitschrift des Bergarbeiterverbandes verfasst, schreibt er später: „Wie oft wunderte ich mich in jenen Tagen, wenn die bürgerlichen Zeitungen schrieben, daß die sozialdemokratischen Agitatoren von den Schweißtropfen der Arbeiter lebten. Nicht einen Pfennig bekamen wir. Fahr- und Zehrgeld, wie alles, was wir sonst noch ausgeben mußten, ging aus unserer Tasche. Hin und wieder verspielten wir noch dazu eine Schicht. Das hielt uns aber nicht ab, unserem Ziel treu zu bleiben. Unsere Arbeit war auch keineswegs umsonst. Es kam etwas mehr Leben in die ruhig dahinbrütenden Knappen.“

Streikführer für wenige Minuten zur Audienz beim Kaiser

Alle in Deutschland existierenden Bergarbeitervereine erhielten für den 2.Juni 1889 eine Einladung zu einem Delegiertentag der Knappenvereine nach Dortmund-Dorstfeld. Zentraler Tagesordnungspunkt: Wie die miserable Lage der Bergarbeiter in Deutschland zu beseitigen sei.

Doch wegen des Massenstreiks im Mai, bei dem rund 100.000 Bergarbeiter die Arbeit niederlegten, wurde die Versammlung verschoben. Während dieses Streiks schickten die Dortmunder Bergarbeiter Bunte, Schröder und Siegel zum Kaiser nach Berlin, um ihm die Forderungen der streikenden Ruhrkumpels vorzubringen: Wiedereinführung der Acht-Stunden-Schicht, Lohnerhöhungen und Abschaffung der Schikanen auf den Zechen. Als die drei zur Kaiser-Visite aufbrachen, bröckelte der Streik rasch ab. Die Audienz dauerte nur wenige Minuten und gipfelte in der Drohung Wilhelms II., alles über den Haufen schießen zu lassen, falls der Streik unter den Einfluß der Sozialdemokratie geriete.

Nach erfolglosem Streik auf die Schwarze Liste gesetzt

Nach diesem erfolglosen Streik wurden Siegel und die anderen Streikführer gemaßregelt. Sie kamen auf die Schwarze Liste. Mit Hilfe von Spendengeldern aus der Parteikasse konnten sie sich jedoch eine bescheidene Existenz aufbauen. August Siegel wurde Flaschenbierhändler und später hauptamtlicher Agitator des Bergarbeiterverbandes, den 200 Zechendelegierte und Knappenvereinsvertreter am 18.August 1889 in Dorstfeld gegründet hatten. Einige Klagen wegen „indirekter Aufreizung zum Ungehorsam“ und Beleidigung (unter anderem hatte er die Knappschaftsältesten in einer Bergarbeiterversammlung unfähige „Strohköpfe“ genannt und ihnen vorgehalten, sie würden ihre Stellung nur zum eigenen Vorteil ausnutzen) brachten ihm mehrere Gefängnisstrafen ein.

Der alte Friedrich Engels hilft dem nach London geflüchteten Siegel

Anfang Januar 1892 sollte Siegel eine neunmonatige Haftstrafe im Zuchthaus Siegburg, einer ehemaligen Irrenanstalt, antreten. Fünf weitere Anklagen standen noch aus. Ludwig Schröder riet seinem Freund zur Flucht. Am 12.Januar 1892 machte sich Siegel aus Dorstfeld davon. Erste Station seines Asyls: London. Hier halfen dem mittlerweile steckbrieflich Gesuchten Friedrich Engels und Julius Motteler bei der Übersiedlung nach Schottland, wo Siegel im Bergbau Arbeit fand und bald seine Familie nachreisen lassen konnte.

Beim alten Engels hat Siegel einen guten Eindruck gemacht: „Das ist doch mal wieder ein deutscher Arbeiter, mit dem man sich vor allen anderen Nationen sehen lassen kann.“ Er empfahl Siegel eindringlich die englische Sprache zu lernen und „täglich, wenn nicht stündlich“ Kontakt zu den schottischen Arbeitern zu halten.

Als Mitglied der Bergarbeitergewerkschaft und der sozialistischen Independent Labour Party (ILP) beteiligte sich August Siegel an zahlreichen Streiks der britischen Bergarbeiterbewegung. Auch hier wurde er als Streikführer gemaßregelt. Als deutscher Asylant verlor er während des Ersten Weltkrieges seinen Arbeitsplatz. Bald folgte die Ausweisung als „lastiger Ausländer“.

Ausweisung und Rückkehr ins Ruhrgebiet

Im Januar 1919 kehrte Siegel ins Ruhrgebiet zurück. In Bochum, in der Hautpverwaltung des Bergarbeiterverbandes, arbeitete der humorvolle Graubart noch bis zu seiner Pensionierung 1929. Er starb im Alter von 80 Jahren am 5.Oktober 1936.

Geprägt durch die Aufbruchstimmung der frühen Sozialdemokratie sowie etlicher Arbeitskämpfe verkörperte August Siegel die Gründergeneration der heutigen Gewerkschaften. Sein Leben umfaßt eine Periode der Arbeiterbewegung, die vom Sozialistengesetz, dem ersten Massenstreik 1889 und den ersten stabilen Gewerkschaftsorganisationen bis zur kampflosen Zerschlagung der Gewerkschaften durch den Faschismus reicht. Ein Gewerkschaftsbeamter, ein Apparatschik ist August Siegel nie geworden. Weil die Gewerkschaft als Organisation erst mit ihm aufgebaut wurde und weil für ihn die Sache selbst wichtiger war als die eigene Karriere.

Durch und durch Sozialist und Idealist

Bernhardine Gierig, 88 Jahre alt, hatte Siegel in den zwanziger Jahren über ihren Vater persönlich kennengelernt. Tief beeindruckt erzählt sie heute noch: „Siegel war ein richtiger Mensch. Er machte kein Theater daraus, daß er gelitten hat für die Bewegung; er wollte keinen Profit aus der Sache schlagen. Er war sozialistisch gesonnen durch und durch. Ein wirklicher Idealist.“

Die Heilige Barbara wird an diesem Pionier der Bergarbeiterbewegung sicher ihre helle Freude gehabt haben.




Schier 60 Jahre ist es her: Am 18. Mai 1958 wurde Schalke 04 zum letzten Male Deutscher Fußballmeister

Schon seit Wochen wird im Hinblick auf dieses eher unangenehme Jubiläum einschlägig gescherzt und in digitalen Fotokisten gekramt.

Die begehrte Schale für Deutsche Fußballmeister. (Foto: Florian K. / Wikimedia Commons - Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Die begehrte Meisterschale, auf Schalke lange nicht mehr erblickt, also dort allmählich ein unbekanntes Objekt. (Foto: Florian K. / Wikimedia Commons – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Wat ham wer da gelacht: Als Schalke 04 zum letzten Male Deutscher Fußballmeister war, gab es diese und jene historischen Automodelle, solche vorsintflutlichen Telefone und dergleichen nostalgischen Kram mehr. Adenauer hatte jedenfalls noch fast fünfeinhalb Kanzlerjahre vor sich, Dwight D. Eisenhower war US-Präsident. Popmusikalisch machten beispielsweise der munter gepfiffene „River Kwai March“ und Paul Ankas Heuler „Diana“ Furore.

Jaja, genau 60 Jahre ist es her, dass die Blauen aus Gelsenkirchen ihren letzten Meistertitel errungen haben. Es war am 18. Mai 1958, als sie das Endspiel gegen den dieser Tage aus der ersten Liga abgestiegenen Hamburger SV (!) glatt mit 3:0 gewinnen konnten. In der Schalker Mannschaft standen u. a. Günter Siebert, Berni Klodt und Willi Koslowski. Klingt irgendwie kernig und authentisch, woll? Ich sach dir!

Manchmal ziemlich dicht dran

Jawohl, es war ein Endspiel. Denn die Bundesliga mit Punkten und Tabellen wurde ja erst Jahre später aus der Taufe gehoben – übrigens per Beschluss in Dortmund… Aus Jux wurde jetzt auch schon gemunkelt, dass Schalke die einstweilen abgelaufene Bundesliga-Uhr aus Hamburg übernehmen werde, um all die verflossenen titellosen Jahre anzuzeigen. Um es mal donaldistisch und comictauglich zu sagen: kreisch! schenkelklopf!

Zugegeben, seit 1958 waren die „Knappen“ immerhin ein paar Mal ziemlich dicht dran am ersehnten Erfolg. Doch genau darin liegt ein Teil des Langzeit-Witzes, dass sie es immer wieder verfehlt haben, manchmal auf geradezu groteske Art und Weise, als laste ein listiger und irgendwie auch lustiger Fluch auf ihnen. Gern nennen sie sich selbst „Meister der Herzen“. Wenn’s ihnen Freude bereitet…

Die Häme höret nimmer auf

Einmal hat ihnen auch der BVB quasi in letzter Minute den Titel vermasselt. Wie singen sie heute noch auf der schwarzgelben Tribüne, wenn’s um S04 geht: „Ein Le-heben laaaang / keine Schale in der Hand…“ Sie haben da auch schon Schlimmeres gegrölt. Anders gesagt: Wer die Schale so dauerhaft nicht hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Vor allem in und um Dortmund höret die Häme nimmer auf. Revier-Solidarität? Tja. Öh… Vielleicht ein andermal.

Zugegeben auch, dass der einst hart konkurrierende oder gar zeitweise enteilte BVB diesmal – frei nach Roman Weidenfeller – gar keine „grandios Saison gespielt“ hat und deutlich hinter dem Vize(!)-Meister Schalke zurück geblieben ist. Auch haben die Schwarzgelben das letzte Revierderby kläglich vergeigt, nahezu ohne nennenswerte Gegenwehr. Es war quälend, wie so vieles in der gottlob abgelaufenen Spielzeit. Leute, es kommen auch wieder andere Jahre. Aber es muss dringend etwas geschehen. Etwas? Nein, jede Menge.

Unverrückbare Tatsache bleibt jedoch: Der BVB hat acht Deutsche Meisterschaften eingefahren, und zwar beginnend direkt vor dem letzten Schalker Titel, also 1956 und 1957; danach noch 1963, 1995, 1996, 2002, 2011 und 2012. Hinzu kamen vier Pokalsiege und zwei legendäre europäische Triumphe (1966 und 1997). Auch in der „Ewigen Tabelle“ der Bundesliga zeigt sich der feine Unterschied: Da haben die Dortmunder 2730 Punkte gesammelt, die Gelsenkirchener deren nur 2444.

Zahlen, Herr Ober!




(Fast) alles über „Kunst & Kohle“: 17 Museen in 13 Revier-Städten stemmen Mammutprojekt zum Ende der Zechen-Ära

Schwarz. Schwarz. Schwarz. Es ist, in mancherlei Schattierungen bis hin zu diversen Grauwerten, der beherrschende „Farb“-Ton dieses wahrlich ausgedehnten Ausstellungsreigens.

Weiße Nymphen am Fuße einer Kohlehalde: Blick auf Alicja Kwades Installation "Die Trinkenden" im Museum Ostwall im Dortmunder "U". (Foto: Bernd Berke)

Weiße Nymphen am Fuße einer Kohlehalde: Blick auf Alicja Kwades Installation „Die Trinkenden“ im Museum Ostwall im Dortmunder „U“. (Foto: Bernd Berke)

Hie und da erscheint die Finsternis schon im Titel: Schlichtweg „Schwarz“ lautet er im Bochumer „Museum unter Tage“, „Reichtum: Schwarz ist Gold“ heißt es derweil im Duisburger Lehmbruck-Museum. Anderwärts dominiert das Schwarz jedenfalls die verwendeten Materialien oder wird durch vielfältige Kontraste und sozusagen durch Legierungen anverwandelt. Wirklich kein Wunder, denn es geht ja im gesamten Revier um „Kunst & Kohle“.

Der Ausstellungssommer 2018 hat durchaus fordernden Charakter. Kulturbeflissene müssen sozusagen alles geben (bekommen dafür aber auch etliches geboten): In den letzten Tagen eröffneten eine raumgreifende Schau zur Geschichte des Steinkohle-Bergbaus in Essen und ein fünffach aufgefächertes Friedens-Projekt in Münster. Wir berichteten jeweils. Hier und jetzt aber geht es um eine weitere Unternehmung, die sich aufs Ende des deutschen Bergbaus bezieht und insgesamt alles andere von den Dimensionen her in den Schatten stellt: Gleich 17 Ausstellungshäuser in 13 Städten des Ruhrgebiets vereinen ihre Kräfte just zum revierweiten Ereignis „Kunst & Kohle“, das an den meisten Orten bis zum 16. September dauert.

Hilfreiches Netzwerk der RuhrKunstMuseen

Ohne das gemeinsame Netzwerk jener 20 „RuhrKunstMuseen“, die seit 2008 – damals im Vorfeld des Kulturhauptstadtjahres 2010 – zunehmend kooperieren, wäre der Kraftakt so nicht möglich gewesen. Auf diese Strukturen ließ sich aufbauen, als es darum ging, das weitläufige Themenfeld in aller Vielfalt, Breite und Tiefe darzustellen. Das Ganze soll natürlich auch touristisch beworben werden. Die nicht nur insgeheime Hoffnung: Wer für die Kunst ins Revier kommt, wird hier vielleicht auch ein bisschen „Kohle“ ausgeben.

Gruppenbild vor dem bereits teilweise verhüllten Herner Schloss Strünkede: Einige Museumsdirektor(innn)en des Reviers und Vertreterinnen der Stiftungen. (Foto: Bernd Berke)

Gruppenbild vor dem bereits teilweise verhüllten Herner Schloss Strünkede: Direktor(inn)en diverser Kunstmuseen des Ruhrgebiets und Vertreterinnen der beteiligten Stiftungen. (Foto: Bernd Berke)

Sprachspielchen beiseite. Schon seit 2011 liefen die Vorarbeiten zu „Kunst & Kohle“, bereits seit 2007 sah man ja das epochale Datum der letzten Zechenschließungen in Bottrop und Ibbenbüren unweigerlich kommen. Also kann man jetzt (inklusive museumseigener Mittel) auf einen stolzen Etat von 2,5 Millionen Euro zurückgreifen und Arbeiten von rund 150 Künstler(inne)n auf insgesamt 20000 Quadratmetern Ausstellungsfläche zeigen.

Hauptförderer ist mit 750.000 Euro einmal mehr die RAG-Stiftung, die vor allem gegründet wurde, um die enormen „Ewigkeitskosten“ (Grundwasserschutz etc.) nach dem Ende des Bergbaus zu tragen, welche jährlich rund 220 Millionen Euro ausmachen dürften. Das Stiftungsvermögen liegt allerdings auch, wie es in vornehmer Diskretion hieß, im „niedrigen zweistelligen Milliardenbereich“, so dass auch noch dies und das für Kultur und Bildung übrig bleibt. Außerdem sind bei „Kunst & Kohle“ u. a. die Kunst Stiftung NRW und die Brost Stiftung mit an Bord.

Im Bottroper Josef Albers Museum ausgestellt: Bernd und Hilla Becher "Fördertürme" (Fotografien, 1972-83) (© Estate Bernd & Hilla Becher, vertreten durch Max Becher, courtesy Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur - Bernd und Hilla Becher Archiv, Köln, 2018)

Im Bottroper Josef Albers Museum: Bernd und Hilla Becher „Fördertürme“ (Fotografien, 1972-83) (© Estate Bernd & Hilla Becher, vertreten durch Max Becher, Courtesy Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur – Bernd und Hilla Becher Archiv, Köln, 2018)

Wie bekommt man das in den Griff?

Das sind fürwahr imponierende Zahlen und Fakten. Doch wie bekommt man das gesamte, nahezu monströse Unterfangen als Besucher (oder Berichterstatter) „in den Griff“? Wie kann man sich welche Schneisen schlagen?

Wie zu hören war, schicken sich mehrere Regional-Zeitungen an, mit all den einzelnen Ausstellungen gleichsam in Serie zu gehen und so auch das von Journalisten gefürchtete „Sommerloch“ Stück für Stück zu füllen. Glückauf dazu! Wir bringen hingegen einen schier endlosen „Riemen“, der dennoch nur Hinweise und Stichworte enthalten kann…

Die einstige Bergbaustadt Hamm ist leider nicht dabei

Im Duisburger Lehmbruck-Museum zu sehen: William Kentridge "Drawing for Mine", Kohlezeichnung (1991) (© William Kentridge)

Im Duisburger Lehmbruck-Museum zu sehen: William Kentridge „Drawing for Mine“, Kohlezeichnung (1991). (© William Kentridge)

Einstweilen muss ich freimütig bekennen, nicht etwa alle 17 Ausstellungen gesehen zu haben. Das kann – außer dem federführenden Koordinator Prof. Ferdinand Ullrich (vormals Leiter der Kunsthalle Recklinghausen) – bisher wohl niemand von sich behaupten. Es ist ja auch schön, die Auswahl unter so vielen Optionen zu haben. Zur Erschließung größerer Bereiche werden (kostenlose!) Bustouren angeboten, die jeweils zu drei Ausstellungen führen. Ich habe fürs Erste eine westfälische Route im östlichen Ruhrgebiet vorgezogen – mit den Stationen Herne, Dortmund und Unna.

Apropos Ost-Revier: Hamm, früher eine ausgesprochene Bergbaustadt mit mehreren großen Zechen (Sachsen, Radbod, Heinrich Robert) ist aus unerfindlichen Gründen nicht am Projekt beteiligt. Freilich war das dortige Gustav-Lübcke-Museum in den letzten Jahren auch nicht mit personeller Kontinuität gesegnet. In Hagen, dessen zwei Kunstmuseen auch nicht mitmachen, hat man’s eh weniger mit der Steinkohle gehabt. Sonst aber sind praktisch alle Ecken und Enden der Region mit von der Partie.

Spektakuläre Verhüllung des Herner Schlosses mit Jutesäcken

Nun geht’s aber auf die Tour:

In Herne ist das größte und spektakulärste Kunst-Signal schon aus einiger Entfernung sichtbar. Dort hat der aus Ghana stammende Ibrahim Mahama, der auch schon die letzte documenta bereicherte, große Teile des Schlosses Strünkede unter dem bezeichnenden Titel „Coal Market“ mit Jutesäcken verhüllt. Anders als Christo, ist es ihm nicht in erster Linie um die ästhetische oder gar ästhetisierende Wirkung zu tun, seine Arbeit ist vor allem mit gesellschaftlicher und politischer Bedeutung aufgeladen.

Die in Asien gefertigten, überwiegend in Afrika verwendeten, nunmehr zerschnittenen und sodann in vielen Arbeitsstunden von freiwilligen Helfern miteinander vernähten Jutesäcke sind sichtlich gebrauchte Exemplare, sie riechen buchstäblich noch nach dem Schmutz und nach der Knochenarbeit auf den Transportwegen durch Afrika und auf interkontinentalen Strecken. In etlichen Säcken wurde tatsächlich Kohle transportiert (etwa von Afrika nach Europa), in anderen beispielsweise Lebensmittel. Wenn ein eher herrschaftliches Gebäude wie das Schloss damit verhüllt wird, ist dies eine nachdrückliche, auch provokante Erinnerung an globale Kapitalströme und weltweiten Warenverkehr, in dem vielen Ländern hauptsächlich die Drecksarbeit bleibt.

Trotzdem freut man sich in Herne über den ungewohnten Anblick. Das Schloss ist nämlich beliebte Kulisse für viele Hochzeiten. Es soll Brautpaare geben, die es kaum noch erwarten können, hier und möglichst bald zu heiraten, denn so besonders wird das alte Gemäuer später wahrscheinlich nie wieder aussehen…

Die Verwandlung von Holz durch Feuer

Weiter zur zweiten Station in Herne: In den Flottmann-Werken wurde einst der Abbauhammer erfunden und produziert, mit dem die Massenproduktion in den Revierzechen recht eigentlich begonnen hat. Heute sind von den vielen Werksgebäuden „nur“ noch die Flottmannhallen übrig. Dort stellt jetzt der englische Bildhauer und Zeichner David Nash seine Arbeiten aus, die gerade in dieser lichten Ausstellungshalle wunderbar zur Geltung kommen. Sie fügen sich derart gut zum Generalthema Kohle, dass man meinen könnte, es seien eigens hierfür ausgeführte Auftragsarbeiten. Doch das ist nicht der Fall.

Blick in die Ausstellung mit Arbeiten von David Nash in den Herner Flottmann-Hallen. (Foto: Bernd Berke)

Blick in die Ausstellung von David Nash in den Herner Flottmann-Hallen. (Foto: Bernd Berke)

Nash ist vorwiegend Holzbildhauer, doch seine in Herne präsentierten Skulpturen haben gleichwohl die Anmutung von Steinkohle-Produkten. Er rückt dem Holz mit Kettensägen,  Bunsenbrennern, zuweilen auch mit Flammenwerfern zuleibe und lässt es allseits gezielt verkohlen. Vorzugsweise sind die Skulpturen nicht zusammengefügt, sondern aus einem großen Stück herausgearbeitet. Aus all dem ergibt sich ein anregendes Wechselspiel zwischen natürlichen Oberflächen (Risse und Sprünge im Holz) sowie geometrischen Figurationen. Hier und in Nashs Zeichnungen wird man gewahr, wie vielfältig die Valeurs zwischen Schwarz, Grau und Weiß sind.

Auf nach Dortmund, durch den üblichen Nachmittagsstau. Hier geht es ins Museum Ostwall im Dortmunder „U“, sechste Etage. Edwin Jacobs, Direktor des Hauses, ist zugleich Sprecher des eingangs erwähnten Verbundes der RuhrKunstMuseen.

Bergmännische Laienkunst im Kontrast zu professionellen Positionen

Bergbau gilt gemeinhin als Männersache, doch hier haben sich drei Kuratorinnen Aspekten des Themas gewidmet: Regina Selter (stellv. Direktorin), Karoline Sieg und Caro Delsing. Sie haben nicht nur ermittelt und in einer Karte visualisiert, dass es in der Hoch(ofen)zeit der 50er/60er Jahre in Dortmund 15 fördernde Zechen gegeben hat. Sie haben zudem die Geschichte des Museums erforscht und herausgefunden, dass Leonie Reygers, die Gründungsdirektorin nach dem Zweiten Weltkrieg, ein Faible für naive Kunst und Laienkunst hatte. Demgemäß richtete sie einen entsprechenden Sammlungsschwerpunkt ein. Naive Kunst aus Paris zeigte sie schon 1952 unter dem heute treuherzig klingenden Titel „Maler des einfältigen Herzens“.

All das war Anlass genug, um im ersten Teil der Ausstellung die Bilder einiger naiver Künstler aus der Ostwall-Sammlung und vor allem Beispiele fürs Schaffen bergmännischer Laienkünstler zu versammeln. Gewiss, manche von ihnen haben zu einem eigenen Stil und eigenen Ausdrucksformen gefunden. Dennoch deutet schon die drangvoll enge „Petersburger Hängung“ darauf hin, dass die künstlerische Wertschätzung für diese Arbeiten insgesamt auch ihre Grenzen hat. Es sind teilweise etwas unbedarfte Idyllen. Doch ein paar Bilder künden auch von Ängsten und Alpträumen der Arbeitswelt.

Wenn Dinge des Bergbaus zu abstrakten Mustern geraten

Es geht ein deutlicher Riss durch diese Dortmunder Ausstellung, der auch gar nicht gekittet werden soll. Getrennt durch einen Kreativbereich, in dem Besucher sich einschlägig betätigen können, folgen als Teil zwei einige gegenwärtige künstlerische Positionen, die denn doch völlig andere, ungleich reflektiertere Zugänge zum Thema Kohle eröffnen – freilich sozusagen „von außen“ her, aus der Perspektive des professionellen Kunstbetriebs und lange nach der eigentlichen Zechenzeit.

Abstrakte Wirkung: Andreas Gursky "Hamm, Bergwerk Ost" (2008), C-Print (© Andreas Gursky / VG Bild-Kunst, Bonn 2017/18 - Courtesy Sprüth Magers)

Abstrakte Wirkung aufgehängter Bergmannskleidung in der Waschkaue: Andreas Gursky „Hamm, Bergwerk Ost“ (2008), C-Print (© Andreas Gursky / VG Bild-Kunst, Bonn 2017/18 – Courtesy Sprüth Magers)

Das Spektrum reicht hier von Andreas Gurskys Fotografie „Hamm, Bergwerk Ost“, der die aufgehängte Bergmannskleidung in der Waschkaue zu einer geradezu abstrakten Komposition verwandelt, beispielsweise bis zum Bochumer Künstler Marcus Kiel, der textile Hinterlassenschaften von Bergmännern zu einer – ebenfalls abstrakt wirkenden – Wandinstallation von gehöriger Größe zusammengefügt hat. Es sind dies originelle Bergbau-„Denkmäler“ besonderen Zuschnitts – und von besonderer Güte. Fron und Schweiß der bergmännischen Maloche haben sie allerdings weit hinter sich gelassen.

Die „Heilige Barbara“ als Modepuppe

Bemerkenswert z. B. auch die Arbeiten zweier Frauen: Die Modedesignerin und Künstlerin Eva Gronbach hat eine gesichtslose Frauenfigur mit leichtem Sommerkleid auf einen Haufen mit grober Bergmannskleidung postiert. Bei näherem Hinsehen merkt man, dass auch die Frauenmode aus recycelter Bergmannskluft gewonnen wurde. Überdies erweist sich die Figur als Anspielung auf die „Heilige Barbara“, die Schutzpatronin der Bergleute. Hier stellt sich recht deutlich die Frage nach einer Zukunft jenseits des Bergbaus, auf die auch die gesamte Ausstellungs-Serie zu gewissen Teilen abhebt. Nicht nur ein mehr oder weniger wehmütiger Abschied von der Kohle soll gefeiert werden, sondern man will erklärtermaßen auch Grüße in die heraufdämmernde Zukunft aussenden. Wohl auch darauf spielt der lokale Dortmunder Ausstellungstitel „Schichtwechsel“ an.

Installation in Dortmund: Eva Gronbachs Arbeit "Was vergeht, was bleibt, was entsteht". (Foto: Bernd Berke)

Installation in Dortmund: Eva Gronbachs Arbeit „Was vergeht, was bleibt, was entsteht“. (Foto: Bernd Berke)

Der zweite Frauenname folgt sogleich: Alicja Kwade fasziniert mit ihrer Installation „Die Trinkenden“, in der höchst konventionelle Porzellan-Nymphen („weißes Gold“) am Fuß einer Kohlehalde („schwarzes Gold“) knien. Daraus erwächst eine durchaus rätselhafte Spannung. Wer mehr von dieser Künstlerin sehen will, hat dazu reichlich Gelegenheit: Das Kunstmuseum in Gelsenkirchen widmet ihr im „Kunst & Kohle“-Kontext eine Einzelausstellung.

Überhaupt finden sich Querbezüge zwischen den Museen. Einen losen Anknüpfungspunkt gibt es etwa nach Oberhausen, wo in der Ludwiggalerie Bergbau- und Kumpel-Figuren im Comic das Spezialgebiet sind. Auch in Dortmund sieht man eine Arbeit in diesem Geiste: Stephanie Brysch, also eine weitere Frau, hat ihre Collage „Unter Tage“ aus Comic-Figuren erstellt, die sich allesamt unter die Erdoberfläche begeben.

In Dortmund drei Kuratorinnen, in Unna drei Künstlerinnen

Nun aber noch etwas weiter ostwärts nach Unna. Dort befindet sich das weit und breit einmalige Zentrum für internationale Lichtkunst mit etlichen „Ikonen“ des Metiers. Und siehe da: Hier sind drei Künstlerinnen mit ihren Licht-Installationen gar unter sich. Bergbau als Männersache? Das gilt längst nicht mehr, wenn es um die ästhetischen Hinterlassenschaften und die weiteren Aussichten geht.

Beitrag im Lichtkunstmuseum Unna: Diana Ramaekers' Neon-Installation "Mein Berg" (2015) (© Foto: Sergé Technau Photograhy, Courtesy by Diana Ramaekers)

Beitrag im Lichtkunstmuseum Unna: Diana Ramaekers‘ Neon-Installation „Mijn Berg“ (Mein Berg,  2015). (© Foto: Sergé Technau Photograhy, Courtesy by Diana Ramaekers)

Das Lichtkunst-Museum ist thematisch von vornherein prädestiniert, geht es doch zum Rundgang durch die ehemalige Linden-Brauerei einige Meter abwärts in den früheren Gärkeller; wenn man so will: unter Tage. Alle drei Installationen der meditativen Ausstellung „Down here – Up there“ (Hier unten, dort oben) spielen mit wechselnden Effekten von Licht und Dunkelheit.

Die Niederländerin Diana Ramaekers hat rot gefärbten Neonröhren montiert, deren Licht langsam entsteht und verlischt, immer und immer wieder – ein geheimnisvoller Energiefluss in der Dunkelheit. Nicola Schrudde hat ihren vielschichtigen Raum unter dem Titel „Schwarzdichte“ mit keramischen Plastiken und Videoloops so gestaltet, dass man nur allmählich und schemenhaft erkennt, was sich da begibt. Offenbar werden Kräfte der Natur beschworen, die in der Zukunft des Ruhrgebiets wieder mehr hervortreten sollen.

Schließlich Dorette Sturms raumfüllende „Breathing Cloud“, eine atmende Wolke also, die stets an- und abschwillt. Sehr sanftmütig kommt einem das vor – wie eine milde Verheißung. Man mag an die einst so schwarzen Wolken denken, die „damals“ über dem Revier hingen. Nun füllen sie sich offenbar mit neuem Leben. Und die Schwärze ist geschwunden.

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„Kunst & Kohle“: je nach Stadt ab 2., 3., 5. oder 6. Mai (Ausnahme: Küppersmühle in Duisburg erst ab 8. Juni). In den meisten Museen bis zum 16. September (Ausnahmen: Dortmunder „U“ nur bis 12. August, Museum Folkwang Essen nur bis 5. August).

Die beteiligten Museen (nach Städte-Alphabet) und ihre Themen:

Kunstmuseum (Bochum): Andreas Golinski „In den Tiefen der Erinnerung“
Museum Unter Tage (Bochum):
„Schwarz“
Josef Albers Museum (Bottrop):
Bernd und Hilla Becher – Bergwerke
Museum Ostwall im „U“ (Dortmund): „
Schichtwechsel“ – von der (bergmännischen) Laienkunst zur Gegenwartskunst
Lehmbruck-Museum (Duisburg): „
Reichtum: Schwarz ist Gold“
Museum DKM (Duisburg): „
Die schwarze Seite“
Museum Küppersmühle (Duisburg):
Hommage an Jannis Kounellis
Museum Folkwang (Essen):
Hermann Kätelhön – Ideallandschaft: Ruhrgebiet
Kunstmuseum (Gelsenkirchen):
Alicja Kwade
Flottmann-Hallen (Herne):
David Nash
Emschertal-Museum / Schloss Strünkede (Herne): „
Coal Market“ – Verhüllung durch Ibrahim Mahama
Skulpturenmuseum Glaskasten (Marl): „
The Battle of Coal“
Kunstmuseum (Mülheim/Ruhr):
Helga Griffiths „Die Essenz der Kohle“
Ludwiggalerie im Schloss (Oberhausen): „
Glück auf! Comics und Cartoons“
Kunsthalle (Recklinghausen):
Gert & Uwe Tobias
Zentrum für Internationale Lichtkunst (Unna): „
Down here – up there“
Märkisches Museum (Witten):
Vom Auf- und Abstieg

25 Euro (ermäßigt 15 Euro) kostet ein Kombi-Ticket, das auch zum mehrmaligen Besuch aller Ausstellungen über den gesamten Zeitraum berechtigt. Erhältlich in allen teilnehmenden Museen und unter der Ticket-Hotline der Ruhr Tourismus GmbH: 01806/18 16 50.

Kostenlose Bustouren, jeweils zu drei beteiligten Museen (ca. fünfeinhalb Stunden lang). Termine im Ausstellungs-Booklet: Anmeldungen unter buchungen@ruhrkunstmuseen.com oder telefonisch: 0203/93 55 54 723

Massiver Katalog in 17 Bänden im Wienand-Verlag, begrenzte Auflage der Gesamt-Publikation im großen Schuber, ansonsten in Einzelexemplaren für die beteiligten Museen erhältlich. Zur ersten Orientierung gibt es zudem ein Gratis-Booklet mit knappen Infos zu allen Ausstellungen.

Alle weiteren Informationen unter:

www.ruhrkunstmuseen.com/kunst-kohle.html




Den Frieden von allen Seiten betrachten – eine fünffache Themenausstellung in Münster

Ein globaleres, ebenso zeitübergreifendes Thema kann man sich schwerlich aussuchen: Gleich fünf Münsteraner Museen und Institutionen zeigen jetzt Ausstellungen über den Frieden. Die Präsentationen dauern samt und sonders bis zum 2. September. Und da man beim Thema Frieden nicht ohne den finsteren Kontrast des Krieges auskommt, weitet sich das Spektrum des umfangreichen Projekts „Frieden. Von der Antike bis heute“ noch einmal wesentlich.

Battista Dossi: "Pax" (1544), Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister (© bpk / Staatl. Kunstsammlungen Dresden / Hans-Peter Klut)

Battista Dossi: „Pax“ (1544), Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister (© bpk / Staatl. Kunstsammlungen Dresden / Hans-Peter Klut)

Münster ist bekanntlich die Stadt des Westfälischen Friedens, der 1648 geschlossen wurde und jetzt also 370 Jahre zurück liegt. Der Dreißigjährige Krieg, der damit aufhörte, brach vor 400 Jahren aus. Vor 100 Jahren endete der Erste Weltkrieg. Wenn man denn also runde Daten braucht, so gibt es Anlässe genug für eine solche Gemeinschafts-Ausstellung. Die eingehende Beschäftigung mit dem Thema lohnt sich aber auch ohne Ziffern-Jonglage. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist übrigens Schirmherr der Münsterschen Unternehmung.

Entstehung von Bildtraditionen

Beteiligt sind das LWL-Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, wo außerdem das Bistum Münster gastiert; das Archäologische Museum der Uni Münster, das Picasso-Museum und das Stadtmuseum. Sie alle zusammen zeigen rund 660 Exponate und gehen dementsprechend auf viele Aspekte des Themenkreises ein. Dabei ergeben sich etliche Kreuz- und Querbezüge zwischen den einzelnen Ausstellungen.

Gemeinsame Ansätze betreffen vor allem die Ikonographie, also quasi die Bildtraditionen des Friedens, die sich im Laufe der Zeiten herausgebildet haben und auf deren Fundus getrost zurückgegriffen werden konnte. Im LWL-Landesmuseum am Domplatz finden sich dafür markante Beispiele. Hier prunkt man u. a. mit allegorischen Kriegs- und Friedensbildern von Peter Paul Rubens (kleinere Ölskizzen), der die Gepflogenheiten bei Friedensverhandlungen in seiner Eigenschaft als Diplomat aus eigener Anschauung kannte.

Friedensgöttin Pax mit Füllhorn

Gleich eingangs der Schau gehen mit der 1544 von Battista Dossi gemalten Friedensgöttin Pax einige Symbole einher, wie sie immer wiederkehren, so etwa Füllhorn, Früchte und Ähren als Wohlstands-Versprechen nach einem Friedensschluss. Zudem hat Pax mit ihrer Fackel eine Rüstung verbrannt. Zu ihren Füßen liegen Wolf und Lamm in schönster Eintracht – auch dies seit Jahrhunderten ein bewährtes Bildmuster für friedliche Zeiten.

Auguste Rodin: "Die Bürger von Calais", Figur Jean d'Aire (um 1895-1899), Kunsthalle Bremen - Der Kunstverein Bremen: Kupferstichkabinett (Foto: LWL/Anne Neier)

Auguste Rodin: „Die Bürger von Calais“, Figur Jean d’Aire (um 1895-1899), Kunsthalle Bremen – Der Kunstverein Bremen: Kupferstichkabinett (Foto: LWL/Anne Neier)

Das LWL-Museum widmet sich überdies den überlieferten Strategien, Gesten und Ritualen des Friedens, wie sie zumal in den Darstellungen historischer Friedensschlüsse zum Ausdruck kommen. Zu nennen wäre Gerard ter Borchs buchstäblich mustergültiges, in den Grundzügen später vielfach nachgeahmtes Bild einer solch feierlichen Zeremonie: „Beschwörung des Spanisch-Niederländischen Friedens am 15. Mai 1648“.

Demutsgesten vor dem Gnadenakt

Auch gehört die (im Idealfalle großmütig angenommene) Unterwerfungs- und Demutsgeste zum geschichtlichen Repertoire. Besonders trefflich und subtil formuliert ist diese Gestik in Auguste Rodins Figurengruppe „Die Bürger von Calais“ (um 1895-99), welche bei den englischen Belagerern der Stadt flehentlich um Gnade baten. In diesem Kontext kann es eigentlich nicht überraschen, wenn zwischen all den Kunstwerken auch eine berühmt gewordene Fotografie auftaucht, die Willy Brandts Kniefall vor dem Ehrenmal des Warschauer Ghettos zeigt und sich in althergebrachte Bildtraditionen einfügt.

Das 20. Jahrhundert brach insofern mit der Überlieferung, als nach den weltweiten Konflikten vornehmlich Siegfrieden herrschte – ohne das Wenn und Aber von ausgehandelten Kompromissen. Eine andere, mildere Form des Friedens schien gar nicht mehr vorstellbar. Und mit Aufkommen der atomaren Bewaffnung ist, wie die Ausstellung ebenfalls zu zeigen sucht, die Frage nach Frieden dringlicher denn je.

Ein etwas kraftloses Finale

Die Schau, die bis dahin doch einige bemerkenswerte Kunstwerke in schlüssiger Anordnung aufbietet (u.a. auch einschlägige Karikaturen von Honoré Daumier und Kriegsbilder von Otto Dix), mündet schließlich in einen Raum, der sich recht plakativ der demonstrativen Ästhetik der Friedensbewegung anbequemt. Es ist, als ob etwas recht Gewaltiges am Ende eher etwas kraftlos auströpfelt.

Otto Pankok: "Christus zerbricht das Gewehr" (1950). Privatsammlung Gerhard Schneider, Olpe und Solingen, Zentrum für verfolgte Künste GmbH im Kunstmuseum Solingen (© Otto Pankok Stiftung)

Otto Pankok: „Christus zerbricht das Gewehr“ (1950). Privatsammlung Gerhard Schneider, Olpe und Solingen, Zentrum für verfolgte Künste GmbH im Kunstmuseum Solingen (© Otto Pankok Stiftung)

Im selben Haus gastiert das Bistum Münster mit einer konzentrierten Auswahl unter dem Leitmotto „Frieden. Wie im Himmel so auf Erden?“ Sie kommt übrigens gerade recht zum Deutschen Katholikentag, der vom 9. bis 13. Mai in Münster stattfindet. Die Friedenssehnsucht, so die eindrücklich belegte Hypothese, zählt zu den zentralen Motiven des Christentums, versinnbildlicht u. a. in der Vorstellung vom „Himmlischen Jerusalem“. Übliche Friedenssymbole sind beispielsweise Tauben und Regenbögen, wie sie in der LWL-Schau etwa bei Otto Piene in moderner Gestalt wiederkehren. Von Tauben wird im Picasso-Museum ebenfalls noch zu reden sein. Die fünf Ausstellungen bestehen zwar je für sich, sie bilden aber eben auch einen hie und da dicht geflochtenen Zusammenhang.

„Mit Gott zum Sieg“

Das Bistum Münster hat keineswegs eine Ausstellung (u.a. gekrönt mit Objekten der Antike sowie Werken von Veit Stoss, Otto Pankok und Christian Schmidt-Rottluf) aus dem Geist der Selbstbeweihräucherung zusammengetragen – im Gegenteil: Man ist so klug und aufrichtig, auch Schattenseiten wie die Missionierung mit dem Schwert gebührend darzustellen. Klerikal abgesegnete Parolen wie „Mit Gott zum Sieg“ dienten weltlichen Kriegstreibern. Und zu den furchtbaren Kreuzzügen sieht man mit Entsetzen die auf 1634 datierte Darstellung eines Christus, der triumphal den abgeschlagenen Kopf eines Muslims in der Hand hält. Gepriesen sei die Aufklärung, die nach und nach das Christentum geläutert hat. Sie möge allen Religionen zuteil werden.

Weiter geht’s ins Archäologische Museum der Universität. Hier schreitet man sogleich auf eine vergoldete Replik der altgriechischen Friedensgöttin Eirene zu. Schon zu dieser Frühzeit findet sich also die anthropomorphe Deutung des Friedens, der Menschengestalt annimmt. Und schon hier steht das Füllhorn sozusagen für die erhoffte Friedens-Dividende, also für wirtschaftliche Blüte. Die Taube hingegen fungierte zunächst nur als bloßes Tieridyll und noch längst nicht als explizites Friedenszeichen.

"Taube mit Olivenzweig fliegt zur Arche Noah" (Buntmetall, Münzstätte Apameia (Phrygien/Türkei) - (Staatliche Museen zu Berlin, Münzkabinett - Foto Bernd Berke)

Noch kein ausdrückliches Friedenssymbol: „Taube mit Olivenzweig fliegt zur Arche Noah“ (Buntmetall, Münzstätte Apameia (Phrygien/Türkei). Geprägt unter Kaiser Philippus Arabs (reg. 244-249 n. Chr.)  – (Staatliche Museen zu Berlin, Münzkabinett – Foto Bernd Berke)

Inszenierung des Kaisers

Die kleine archäologische Ausstellung schlägt beherzt einen Bogen von etwa 700 vor Chr. bis ins 3. Jahrhundert nach Chr. und berührt griechische wie römische Vorstellungen vom Frieden. Während sie in Griechenland noch mythologisch grundiert war, bezog sie sich in der römischen Antike vor allem auf den Kaiser als Friedensbringer, zumal auf den Imperator Augustus. Ein Modell führt die ausgesprochen raumgreifende, architektonische und städtebauliche Inszenierung des Friedens vor Augen, wie sie den Herrschenden im Römischen Weltreich gefiel. Wer einmal sein weitläufiges Gebiet arrondiert hat, kann wohlfeil den Frieden zelebrieren.

Man erfährt überdies, dass (nicht nur) seinerzeit eine gewisse Korpulenz zum Inbild des gütigen Friedensherrschers gehörte. Kühner Vergleich der Ausstellungsmacher: Ein Foto des wohlgenährten „Wirtschaftswunder“-Ministers und nachmaligen Kanzlers Ludwig Erhard soll quasi an die antiken Bildnisse anknüpfen.

Mit dem Botenstab zwischen den Fronten

Außerdem sieht man Tontafel-Fragmente des ältesten erhaltenen Friedensschlusses der Menschheit von 1259 v. Chr. Dieser Vertrag zwischen Hethitern und Ägyptern ist hier bruchstückweise als Kopie in Keilschrift vorhanden.

Auch lernt man, dass der Botenstab zur Grundausstattung antiker Diplomaten zählte. Mit diesem Stab versehen, der Immunität garantierte, wandelten sie zwischen den Fronten, um zu verhandeln; wie denn überhaupt in der Antike oftmals der vernünftige Interessenausgleich zum Friedensschluss führte – und nicht das einseitige Diktat des Siegers. Allerdings ergibt sich im 3. Jhdt. n. Chr. auch das Paradox, dass viele Münzen die Friedensgöttin Pax zeigen, während die Zeiten in Wahrheit ungemein kriegerisch waren.

Nächste Station: das Kunstmuseum Pablo Picasso. Hier wird das Spannungsfeld zwischen Picassos weltberühmter Kriegsanklage „Guernica“ (die natürlich nicht im Original zu sehen ist, sondern als Paraphrase der Künstlerin Tatjana Doll) und des recht eigentlich von ihm kreierten Motivs der Friedenstaube vermessen.

Pablo Picasso: "Die Taube" (1949), Lithographie (Kunstmuseum Pablo Picasso Münster © Succession Picasso, Paris, VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Pablo Picasso: „Die Taube“ (1949), Lithographie (Kunstmuseum Pablo Picasso Münster © Succession Picasso, Paris, VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Himmelschreiendes Nachtstück

Die Entstehungsphasen seines „Guernica“-Bildes sind gleichwohl präsent, und zwar durch Fotografien seiner damaligen Gefährtin Dora Maar, die das allmähliche Werden des Werks – von April bis Juni 1937 – Schritt für Schritt festhalten. Das letztlich unausdeutbare Großformat bezieht sich auf die barbarische Zerstörung der baskischen Stadt Guernica durch Francos faschistische Truppen, die deutsche „Legion Condor“ und italienische Unterstützer. Es ist ein himmelschreiendes Nachtstück, allen Opfern des Überfalls zugeeignet.

Erst in dieser Phase wurde Picasso überhaupt politisch. Die Münsteraner Ausstellung enthält auch seine schrundige, bewusst ungeglättete Skulptur eines Mannes mit Schaf, die sich (in der Tradition von Auguste Rodin) weit abheben sollte von der Sterilität eines Arno Breker, der damals – unter deutscher Besatzung – gerade in Paris ausstellte. Auch bei dieser Picasso-Schöpfung oszillieren die möglichen Bedeutungen. Was beim flüchtigen Hinsehen als Friedensbotschaft gesehen werden könnte, kippt wohl doch ins schiere Gegenteil um: Bringt der Mann das Tier nicht zur Schlachtbank? Es ist jedenfalls eine subversive Arbeit, die auch der Gestapo verdächtig war, die Picasso in Paris drangsalierte.

Friedenstauben für die Kommunisten

Und die Tauben? Wurden Picassos denkbar breitenwirksames und wohl populärstes Motiv überhaupt. Als ursprüngliches Vorbild dienten vermutlich jene Mailänder Tauben, die Picasso als Geschenk von Matisse erhalten hatte. In Münster sieht man nun einige Varianten des Motivs, das Picasso stets wieder aufgriff, seit er 1949 die Urfassung entworfen hatte. Picasso, nunmehr Mitglied der Kommunistischen Partei, stellte damit die Genossen zufrieden. Endlich sei die Kunst des Avantgardisten einmal verständlich, lobten sie. Hernach stellte er sein Tauben-Motiv häufig der Partei für Plakate zur Verfügung. Kurios: Es gibt ein Zitat von Picasso, das sinngemäß besagt, es sei ein Witz, ein dermaßen aggressives Tier wie die Taube zum Friedenssymbol zu ernennen…

Bliebe noch das Stadtmuseum Münster. Dessen Schwerpunkten entsprechend, wird dort die örtliche und regionale Wahrnehmung des Westfälischen Friedens von 1648 behandelt. Unter dem Titel „Ein Grund zum Feiern?“ beleuchtet man die Aktivitäten zu früheren Jubiläen des historischen Datums. Die Rückblicke reichen in die Jahre 1748, 1848, 1898 und 1948. In Münster galt der Westfälische Frieden lange Zeit als eher missliebiger Gedenkanlass, wähnte man doch, der Katholizismus sei schlecht dabei weggekommen. Erst ganz allmählich rang man sich zu einer gelasseneren und neutraleren Sicht der Dinge durch.

Ob man nun alle fünf Ausstellungen absolvieren soll? Nun, das bleibt selbstverständlich jedem und jeder selbst überlassen. Ich kann nur sagen: Beim Pressetermin ging es in einer Tour de Force über den gesamten Parcours. Und das übersteigt im Grunde die mentale Aufnahmebereitschaft. Ratsam wäre es, sich je nach Interessenlage etwas herauszusuchen oder sich die ganze Sache an zwei verschiedenen Tagen zu Gemüte zu führen. Ganz ruhig und friedlich also.

„Frieden. Von der Antike bis heute“. Bis 2. September 2018 an folgenden Orten in Münster:

  • LWL-Museum für Kunst und Kultur, Domplatz 10 (mit zusätzlicher Gastausstellung des Bistums Münster). Tel. 0251/ 5907 201
  • Archäologisches Museum der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Domplatz 20-22. Tel. 0251 / 832 69 20
  • Kunstmuseum Pablo Picasso Münster, Picassoplatz 1, Tel. 0251/ 41 44 710
  • Stadtmuseum Münster, Salzstraße 28, Tel. 0251/ 492 45 03
  • Gemeinsame Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 10-18 Uhr (montags geschlossen). Kombi-Ticket für alle Ausstellungen Erwachsene 25 €, ermäßigt 16 €, Kinder, Jugendliche, Schüler 8 €
  • Sonderöffnungszeiten zum Deutschen Katholikentag, 9. bis 12. Mai, jeweils 10 bis 22 Uhr
  • Zur Ausstellung erscheinen fünf Katalogbände im Sandstein-Verlag, die einzeln oder als Gesamtedition im Schuber erhältlich sind. Die Kataloge kosten einzeln: LWL-Museum 38 €, Bistum 38 €, Archäologie 38 €, Picasso-Museum 24 € und Stadtmuseum 18 €. Alle zusammen (1064 Seiten) 98 Euro.
  • Weitere Infos: www.ausstellung-frieden.de

 

 




Durchs „Schwarze Gold“ wurde Europa hell und bunt: Schau auf Zeche Zollverein zelebriert das Kohle-Zeitalter

Bergmann und Grubenpferd als "Arbeitskameraden", Ruhrgebiet, 1937. (© Deutsches Bergbau-Museum Bochum, montan.dok)

Bergmann und Grubenpferd als „Arbeitskameraden“, Ruhrgebiet, 1937. (© Deutsches Bergbau-Museum Bochum, montan.dok)

Im Dezember ist Schicht im Schacht, dann wird mit Schließung der Bottroper Zeche Prosper-Haniel das Steinkohle-Zeitalter im Ruhrgebiet und damit in ganz Deutschland enden. Da sollte man sich noch einmal bewusst machen, was die Kohle eigentlich bedeutet hat. Jetzt gibt es Gelegenheit. Und wie!

Eine geradezu ausufernde Ausstellung in Essen schickt sich an, uns die Sinne zu öffnen, wenn man sich denn von der betäubenden Menge und Vielfalt nicht ins Bockshorn jagen lässt: „Das Zeitalter der Kohle“ heißt sie, laut Untertitel erzählt sie (wohl auch wegen entsprechender Fördermittel) „eine europäische Geschichte“, und zwar so ungefähr seit 1800 bis heute. Die Macher wissen nicht einmal so ganz genau, ob sie nun rund 1000 oder 1200 Exponate zeigen. Ist ja im Endeffekt auch zweitrangig.

Treibstoff der Moderne

Ohne Kohle keine Moderne. Auf diese knappe Formel könnte man den „Parcours“ (so sportlich benennen sie in Essen den Rundgang) auf mehreren Ebenen in der gigantischen Mischanlage der Zeche Zollverein bringen. Beispielsweise hätte es ohne Kohle keine künstlichen Farbstoffe gegeben. Plakativ gesagt: Die Welt wurde bunt, während die Bergleute unter Tage schwarz wurden. Eine grandiose Installation aus etwa 3000 bis 4000 Original-Fläschchen mit derlei Farbstoffen führt das Ausmaß vor Augen. Auch hier hat wohl niemand exakt nachgezählt, es kommt halt auf den optischen Gesamteindruck an.

Aus Kohle entstanden: Tausende Fläschchen mit künstlicher Farbe als Installation in der Essener Ausstellung. (Foto: Bernd Berke)

Aus Kohle entstandene Substanzen: Mehrere Tausend Fläschchen mit künstlicher Farbe als Installation in der Essener Ausstellung. (Foto: Bernd Berke)

Die Welt wurde nicht nur bunter, sondern auch heller, denn die Gaslaternen, die damals immer mehr Städte erleuchteten, hätte es ohne Kohle so ebenfalls nicht gegeben. Ohne Kohle und ihre Nebenprodukte wären schließlich auch die Anfänge der modernen Chemie undenkbar gewesen. Da reden wir unter anderem von lebenswichtigen Medikamenten. Und von Düngemitteln. Von Bakelit. Und und und.

Keim des einigen Kontinents

Weit mehr noch: Mit Kohle wurden Dampfmaschinen angetrieben, hernach auch Dampflokomotiven und Dampfschiffe. Also änderte sich die Verkehrs-Infrastruktur grundlegend. Mit Kohle-Energie wurden sodann auch die verheerenden Kriege des 20. Jahrhunderts geführt, Kohle und Stahl galten als besonders „kriegswichtig“. Diesem Aspekt ist ein Extra-Kapitel der Ausstellung gewidmet.

Ein Mobile aus bergmännischen Arbeitsgeräten. (© Ruhr Museum / Deimel + Wittmar)

Ein Mobile aus bergmännischen Arbeitsgeräten. (© Ruhr Museum / Deimel + Wittmar)

Und wie war das noch mit Europa? Nun, die Kohle, sprich die Gründung der Montanunion im Jahr 1951, stand am Beginn des europäische Einigungsprozesses. Der Impuls, der dahinter stand: Nie wieder sollten auf diesem Kontinent Kriege um Energie geführt werden. Ohne Kohle auch keine EU? Hört sich gewagt an, aber in den Anfängen ist was dran. In Essen kann man jetzt das staunenswert gut erhaltene Gründungsdokument des europäischen Kohleverbundes sehen – u. a. mit den Unterschriften von Robert Schuman und Konrad Adenauer, der nicht als Kanzler, sondern in seiner damals zusätzlichen Eigenschaft als Außenminister signierte.

Gewichtiger Auftakt zur Ausstellung: sieben Tonnen schwerer Kohlebrocken, zumindest der größte in Deutschland. (Foto: Ruhr Museum / Deimel + Wittmar)

Gewichtiger Auftakt zum Rundgang: sieben Tonnen schwerer Kohlebrocken, zumindest in Deutschland der größte. (Foto: Ruhr Museum / Deimel + Wittmar)

Gewaltige Geschichten

Man ahnt: Die Bedeutung der Kohle kann schwerlich überschätzt werden, sie hat tatsächlich ein ganzes Zeitalter geprägt, im Ruhrgebiet und anderswo bis tief in die Sozialstrukturen und in den Alltag hinein. Gewaltige Geschichten von Migration, Klassenkämpfen und Naturzerstörung sind hierbei zu erzählen. Was freilich gleichfalls stimmt: Die Kohlegewinnung hat auch einige Waldstücke gerettet, denn sonst wäre viel mehr Holz verbrannt worden.

All diese Phänomene – und einige Verzweigungen mehr – werden in der Schau aufgegriffen, für die das Ruhr Museum und das Deutsche Bergbau-Museum Bochum ihre eh schon gehörigen Kräfte vereint haben, als Hauptförderer tritt zudem die RAG-Stiftung in Erscheinung. Der Gesamtetat beträgt deutlich über 2 Millionen Euro, bei 80.000 Besuchern wäre man finanziell „aus dem Schneider“. Heinrich Theodor Grütter, Chef des Ruhr Museums, wäre sicherlich noch zufriedener, wenn um die 100.000 kämen.

Originellster Zugang zur Schau: die 150 Meter lange Fahrt mit der Standseilbahn, hier ein Blick auf die Strecke. (Foto: Bernd Berke)

Originellster Zugang zur Schau: die 150 Meter lange Fahrt mit der Standseilbahn, hier ein Blick auf die Strecke. (Foto: Bernd Berke)

Zugang auch per Standseilbahn

Falls es so viele Besucher sein werden, so müssten sie sich beim originellsten Zugang per Standseilbahn (150 Meter) gewiss auf längere Wartezeiten einrichten, denn hier können immer nur wenige Leute auf einmal zusteigen. Aber man kann ja auch mit dem Aufzug ganz nach oben fahren, wo die Schau beginnt und dann etagenweise abwärts führt. So geht es sich allemal bequemer, als wenn man „bergauf“ müsste. Außerdem ist es themengerecht, denn man kann sich dabei Gänge und Fahrten in die Tiefe besser vorstellen. Rein theoretisch, versteht sich.

Der immense Aufwand ist jedenfalls angemessen. Denn derart vielfältig ist die Themenpalette, dass natürlich selbst über 1000 Ausstellungsstücke bei weitem nicht ausreichen, das Spektrum in aller Breite und Tiefe darzustellen. So erschöpft sich selbst diese streckenweise strapaziöse Groß-Inszenierung notgedrungen in lauter Hinweisen und Anspielungen, die füglich zu ergänzen wären. Will man mehr Durchblick und Zusammenhang, so wird man sich wohl den Katalog zulegen und/oder eine Führung buchen müssen. Auch wäre ein mehrfacher Besuch ratsam. Dann kann man sich auch eingehender den Grundsatzfragen widmen, wie etwa der, warum Menschen eigentlich auf die wahnwitzige Idee gekommen sind, derart brachial in die Tiefen der Erde vorzudringen.

Technikgeschichtliches Zeugnis ersten Ranges: Dampfzylinder der Feuermaschine Saline Königsborn (heute Unna), 1797/99. (© Deutsches Bergbau-Museum Bochum, montan.dok - Foto: Rainer Rothenberg)

Technikgeschichtliches Zeugnis ersten Ranges: Dampfzylinder der Feuermaschine Saline Königsborn (heute Unna), 1797/99. (© Deutsches Bergbau-Museum Bochum, montan.dok – Foto: Rainer Rothenberg)

Kohlegürtel von England bis zur Ukraine

Um 1750/1800 begann zwar in einem europäischen West-Ost-Gürtel, der schließlich von England über Nordfrankreich, Belgien und das Ruhrgebiet bis in die Ukraine reichte, das eigentliche Kohle-Zeitalter mit zusehends intensiverem Abbau. Doch blickt die Ausstellung gleich eingangs noch viel weiter zurück, nämlich um einige Millionen Jahre, als das nachmalige „Schwarze Gold“ ursprünglich aus Farnwäldern entstanden ist. Man hat eine australische Sorte aufgetrieben, die den damaligen Gewächsen recht ähnlich sein soll. Daneben thront ein kolossales Stück Kohle, es ist wohl mindestens das größte in Deutschland, wenn nicht noch weiterer Superlative würdig: Sieben Tonnen wiegt der Würfel, er wäre längst gebröckelt, hielte ihn nicht Epoxidharz zusammen. Das Schaustück wurde – abseits der üblichen Produktion – anno 2016 abgebaut.

Ein Mobile aus Arbeitswerkzeug

So ist man denn eingestimmt auf die Inszenierungen der (Stuttgarter) Gestaltungs-Agentur „Space 4“, die sich beispielsweise ein Riesen-Mobile aus bergmännischem Gerät ausgedacht und implantiert hat. Überhaupt bietet die Ausstellung etliche imponierende Schauwerte und Punkte zum Innehalten. So manches Objekt verströmt überdies die Aura des Authentischen, die über das rein Museale hinausweist. Leitidee im Kernbestand der Ausstellung ist die vielfältige Bedeutung von Feuer, Wasser, Luft und Erde für den Bergbau. Man geht also ganz elementar ans Thema heran.

Lebensrettender Schuh

Welche weiteren Stücke soll man aus der Fülle nun besonders hervorheben? Das Ensemble der historischen Gaslaternen, die über den Köpfen der Besucher schweben? Die Wandtapete mit Darstellung der Eisenbahn von St. Ètienne nach Lyon? Die internationale Gemäldegalerie mit Porträts steinreich gewordener „Schlotbarone“? Die vielen prägnanten Fotografien, die vom Alltag der Bergleute und von nahezu mörderischen Arbeitsbedingungen zeugen? Vielleicht jenen unscheinbaren Arbeitsschuh des Hauers Fritz Wienpahl, der 1930 in der Castroper Zeche Victor verschüttet wurde und just diesen Schuh als lebensrettendes Trinkgefäß verwenden konnte? Die gewaltigen Gerätschaften auf dem Freigelände um die Mischanlage, die als eine Art Skulpturenpark präsentiert werden? Oder jenes Dokument, welches belegt, dass sich schon 1962 in Essen eine Interessengeminschaft gegen Luftverschmutzung im Revier formierte?

Dieser Arbeitsschuh war für den verschütteten Hauer Fritz Wienpahl 1930 in Castrop das lebensrettende Trinkgefäß. (© Deutsches Bergbau-Museum Bochum, montan.dok - Foto: Rainer Rothenberg)

Dieser Arbeitsschuh war für den verschütteten Hauer Fritz Wienpahl 1930 in Castrop das lebensrettende Trinkgefäß. (© Deutsches Bergbau-Museum Bochum, montan.dok – Foto: Rainer Rothenberg)

Wehmut und Zukunft

Doch vergessen wir nicht die eher unspektakulären Momente, die das Ganze einrahmen: Ganz zu Beginn blicken wir in die gleichermaßen erschöpften und stolzen Gesichter von Bergleuten direkt nach der Schicht; am Schluss sehen wir Video-Aufzeichnungen ehemaliger Kumpel, die darüber nachdenken, was das Ende des Bergbaus für sie und für die Region bedeutet. Einer sagt fassungslos: „Da stehsse da. Wat machsse denn jetz?“ Überhaupt vernimmt man da viel Wehmut und Resignation, gegen die all die vielen Kohle-Kulturprojekte dieses Jahres unter dem Strukturwandel-Motto „Glückauf Zukunft!“ angehen wollen. Es möge nützen.

Der Abschied von der Kohle vollzog sich in unseren Breiten übrigens deutlich glimpflicher als in England. Dort fielen die Menschen in der berüchtigten Thatcher-Ära tatsächlich ins „Bergfreie“ und in die Verarmung. Auch dazu gibt es Exponate in Essen, so einen Solidaritätsaufruf aus dem Ruhrgebiet für die britischen Kollegen – und ein Plakat zum Benefizkonzert der Gruppe „Clash“ von 1984.

„Das Zeitalter der Kohle. Eine europäische Geschichte“. 27. April bis 11. November 2018. Essen, Unesco-Weltkulturerbe Zeche Zollverein, Areal C (Kokerei), Mischanlage (C 70), Eingang am Wiegeturm, Arendahls Wiese.

Geöffnet täglich Mo-So 10-18 Uhr, Eintritt 10 €, ermäßigt 7 €, freier Eintritt für Kinder und Jugendliche unter 18 sowie Studierende unter 25.

Öffentliche Führungen Mo-So 11 Uhr, 90 Minuten, 3€ pro Person plus Eintritt (Infos/Buchungen Tel. 0201 / 24681-444 und per Mail: besucherdienst@ruhrmuseum.de), Audioguide 3 €. Katalog (Klartext Verlag) 24,95 €. Umfangreiches Begleitprogramm mit Vorträgen, Exkursionen usw.

Mehr Infos: www.zeitalterderkohle.de

 

 




Manchmal liegt die Fachwelt krass daneben: Herner Museum zeigt „Irrtümer und Fälschungen der Archäologie“

Humorvoller Einstieg ins Irrtums-Thema: David Macaulay mit seiner Zeichnung, die Toilettenbrille und Deckel als edlen Schmuck deutet. (Foto: LWL / S. Brentführer)

Humorvoller Einstieg ins Irrtums-Thema: David Macaulay mit einer seiner Zeichnungen, die Funde wie Toilettenbrille und Deckel – Jahrtausende später – als edlen Schmuck deuten. (Foto: LWL / S. Brentführer)

Ein Ausstellungstitel im Klartext-Modus: „Irrtümer und Fälschungen der Archäologie“ nimmt in Herne selbstkritisch die eigene Zunft aufs Korn. Schauplatz ist das LWL-Museum* für Archäologie, das den detektivischen Spürsinn des Publikums weckt. „Fakt oder Fake?“, das ist auch hier die Frage. Klingt irgendwie ziemlich aktuell.

Zu Beginn richten sich phantasievolle Blicke in die Zukunft. Bereits 1979 hat der US-Architekt und Zeichner David Macaulay den Bildband „Motel der Mysterien“ veröffentlicht. Das Buch handelt von einer fiktiven Ausgrabung im Jahr 4022 n. Chr., die für diese Ausstellung teilweise nachinszeniert wurde. Unser ferner Nachfahre, der Hobby-Archäologe Howard Carson, deutet demnach billiges Plastik als ungemein kostbares Material, eine Toilettenbrille als edlen Halsschmuck und eine Kloschüssel als Trichter, durch den wohl Gottheiten angerufen wurden. Rätselhafte „Yankee-Kultur“…

Rekonstruktion des Xantener Grabfundes nach Philipp Houben und Franz Fiedler, 1839. (Foto: Bayerische Staatsbibliothek)

In Wahrheit keine Krone, sondern Beschlag eines Eimers: Rekonstruktion des Xantener Grabfundes nach Philipp Houben und Franz Fiedler, 1839. (Foto: Bayerische Staatsbibliothek)

Solche krassen Fehldeutungen sind, wie wir im weiteren Verlauf des Rundgangs erfahren, auch in der wirklichen Archäologie vorgekommen. Museumsdirektor Josef Mühlenbrock zitiert dazu den Reim: „Was man nicht erklären kann, sieht man stets als kultisch an.“ Heute verfügen die Experten freilich über so viele Vergleichsstücke, dass sie nicht mehr so leicht getäuscht werden können. Doch so ganz ist niemand dagegen gefeit.

Die Reihe der Irrtümer und Fälschungen wird mit rund 200 Exponaten dokumentiert. Das Spektrum reicht von Heinrich Schliemann, der die Ausgrabungen in Troja fast nur im Lichte der Homer-Dichtung „Ilias“ erklären wollte und damit gründlich daneben lag, bis hin zu Konrad Kujau, dem Fälscher der berüchtigten „Hitler-Tagebücher“.

Nicht antik: Der Goldschmied Israel Rouchomowsky schuf diese goldene Tiara gegen Ende des 19. Jahrhunderts. (© bpk/RMN - Grand Palais, Foto Hervé Lewandowski)

Gar nicht antik: Der Goldschmied Israel Rouchomowsky schuf diese goldene Tiara gegen Ende des 19. Jahrhunderts. (© bpk/RMN – Grand Palais, Foto Hervé Lewandowski)

Ein Beispiel, das Macaulays Phantasien ähnelt: 1838 stieß der Freizeit-Archäologe Philipp Houben in Xanten auf ein frühmittelalterliches Grab und fand darin einen vermeintlich gekrönten Schädel. Doch die Krone, so stellte sich später heraus, ist in Wahrheit die Einfassung eines Holzeimers gewesen.

Der Pariser Louvre fiel 1896 auf die geschickte Fälschung einer angeblichen „Tiara des Saitaphernes“ herein und kaufte den goldenen Helm voreilig. Urheber des Objekts war allerdings ein Zeitgenosse, nämlich ein begabter Goldschmied aus Odessa. Der Louvre hat jetzt die Fälschung nach Herne ausgeliehen. Längst gilt der einst so peinliche Irrtum als historisches Lehrstück.

Ein weiterer Erzählstrang der Schau rankt sich ums sagenhafte Einhorn. Frühere Forscher-Generationen waren von der Existenz des Fabeltiers überzeugt, so auch Koryphäen wie Otto von Guericke, u. a. Erfinder der Luftpumpe. Ihm galt ein Knochenfund von 1663 in Quedlinburg (Harz) als Einhorn-Beweis. Sogar der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz übernahm eine entsprechende Skelettzeichnung in seine „Protogaea“, ein Standardwerk über Fossilien. Herne zeigt dazu die originale Kupferstichplatte und ein imposantes Modellskelett.

Rekonstruktions-Zeichnung des "Quedlinburger Einhorns" in Gottfried Wilhelm Leibniz' Buch "Protogaea" (1749). (Foto: LWL)

Rekonstruktions-Zeichnung des „Quedlinburger Einhorns“ in Gottfried Wilhelm Leibniz‘ Buch „Protogaea“ (1749). (Foto: LWL)

Die westfälische Region kommt auch vor. Das Herner Archäologie-Museum selbst ist 2003 beinahe dem Hype um einen „Paderborner Schädel“ aufgesessen, der angeblich Relikt eines 27.000 Jahre alten „Ur-Westfalen“ gewesen sein sollte. Quasi in letzter Minute wurde verhindert, dass das Stück einen Ehrenplatz in der Dauerschau einnahm.

Geradezu komisch: Im nahen Herten tauchten im Jahr 1980 Fundstücke auf, die für steinzeitliche Feuersteine gehalten wurden. Nichts da! Der Fund ging letztlich auf den Marketing-Gag eines örtlichen Wurstfabrikanten zurück.

„Irrtümer und Fälschungen der Archäologie“. LWL-Museum für Archäologie, Herne, Europaplatz 1. Bis zum 9. September 2018, geöffnet Di/Mi/Fr 9-17, Do 9-19, Sa/So 11-18 Uhr. Katalog 29,90 Euro. Außerdem: Bildband „Motel der Mysterien“ von David Macaulay 19,90 Euro. Weitere Infos: http://www.irrtuemer-ausstellung.lwl.org oder www.lwl-landesmuseum-herne.de

Nach der Station Herne wird die Ausstellung noch im Hildesheimer Roemer- und Pelizaeus-Museum zu sehen sein (24. November 2018 bis 26. Mai 2019).

* Für Auswärtige: LWL bedeutet Landschaftsverband Westfalen-Lippe (Sitz Münster)




Zukunftsfroh erblüht die Stadt: Ein lange verschollener Image-Film aus dem Jahr 1964 macht derzeit in Dortmund Furore

Fünf ausgebuchte Vorstellungen gab’s schon im Kino des „Dortmunder U“. Welches attraktive Lichtspiel wird denn da geboten? Welcher Blockbuster zieht die Menge so magisch an?

Hurra, die Schule ist aus! Vielleicht erkennen sich hier ein paar ältere Dortmunder als Kinder von 1964 wieder. (Screenshot aus dem besprochenen Film - Stadtarchiv Dortmund/RWE-Archiv)

Hurra, die Schule ist aus! Vielleicht erkennen sich hier ein paar ältere Dortmunder als Kinder von 1964 wieder. (Screenshot aus dem besprochenen Film – Stadtarchiv Dortmund/RWE-Archiv)

Nun, es ist eigentlich ein unscheinbares Werk, das sicherlich keinerlei Spuren in der Filmgeschichte hinterlassen wird. Der gerade mal 49 Minuten lange Streifen mit dem wenig aussagekräftigen Titel „Moderne Großstadt Dortmund“ schlummerte bis vor einiger Zeit unbeachtet im Archiv des Essener RWE-Konzerns. Es ist ein Marketingfilm der Dortmunder Stadtverwaltung aus dem Jahr 1964, der die damalige Gegenwart und Zukunft der Kommune geradezu schwärmerisch ausmalt. Selbst dem Dortmunder Stadtarchiv war die Existenz des Films bis dato völlig unbekannt, der als zeitgeschichtlicher Fund von gewisser lokaler und regionaler Bedeutung gelten darf.

Nostalgie-Effekt und Heimatgefühl

Als Präsentator der Dortmunder Erfolgsgeschichten tritt im Film zwischendurch mehrfach Dietrich Keuning auf, von 1954 bis 1969 Oberbürgermeister der Stadt. Er lobt und preist die fruchtbaren Anstrengungen von Rat und Verwaltung in allen Fachbereichen, die zu einer neuen Blüte der Stadt geführt hätten. Erklärte Ziele sind laut Keuning eine „Stadt aus einem Guss“ und „Arbeiten für ein glückliches Leben“. Zumindest in der Online-Fassung, die ich gesehen habe, spricht er übrigens keineswegs lippensynchron.

Keuning beschwört überdies Dortmunds große Vergangenheit als Freie Reichsstadt und Hansestadt – ungeachtet der Tatsache, dass „seine“ SPD nach dem Zweiten Weltkrieg einen zusätzlichen Abriss-Kahlschlag in der Stadt vorangetrieben hat und also mit manchen Zeugnissen der Tradition nicht gerade pfleglich umgegangen ist; womit die ungeheure Aufbauleistung nach 1945 natürlich nicht geschmälert werden soll.

Der damalige Oberbürgermeister Dietrich Keuning präsentiert "sein" Dortmund. (Screenshot)

Der damalige OB Dietrich Keuning präsentiert in dem Film „sein“ Dortmund. (Screenshot / Stadtarchiv Dortmund)

Der Film vermittelt jedenfalls – in längst fahl gewordenen Farben – eine beschönigende, hie und da auch etwas verlogene Sicht der Dinge. Doch der Nostalgie-Effekt ist heute allemal stärker als derlei Bedenken. Hier können die „Baby-Boomer“ auf eine kleine Zeitreise in die Stadt ihrer Kindheit gehen, die noch eine ganz andere war als heute. Wer damals schon hier gelebt hat, kann so manche Filmsequenz nach sich selbst und seinesgleichen absuchen. Wie seltsam wird einem da zumute.

Beim erstaunlich gesteigerten Interesse dürfte auch eine Sehnsucht nach Identifikation und – tja – „Heimatgefühl“ eine Rolle spielen. Wie immer man das deuten mag.

Als man noch mit 750.000 Einwohnern rechnete

Schauen wir hin: Wie es da überall wimmelte! Wie viele Kinder es offenkundig gab! Dortmund hatte um 1964 immerhin 651.000 Einwohner, die halt auch nicht daheim am Computer hockten, sondern vielfach draußen unterwegs waren, und zwar mehrheitlich zu Fuß oder mit Bussen und Bahnen, noch nicht so sehr mit eigenen Kraftfahrzeugen.

Heute liegt man gerade mal wieder bei knapp 600.000 Einwohnern und ist – nach etlichen Jahren des Schwundes – mächtig stolz darauf. Damals plante man mit einer Perspektive auf künftig 750.000 Bürger… Es war eben die Zeit vor den großen Kohle- und Stahlkrisen, als das Ruhrgebiet noch die dampfende Lokomotive des bundesdeutschen Wohlstands war. Doch die Schwerindustrie spielt in diesem Film nur am Anfang eine gewichtige Rolle. Sie wurde sozusagen als selbstverständliche Basis wahrgenommen. Wenn man damals all das Kommende geahnt hätte…

Bauzustand des 1966 eröffneten Dortmunder Opernhauses im Jahr 1964. (Screenshot)

Bauzustand des 1966 eröffneten Dortmunder Opernhauses im Jahr 1964. (Screenshot / Stadtarchiv Dortmund)

Die Stadtspitze macht dem Film zufolge quasi alles richtig, sie führt die Bürger goldenen Zeiten entgegen. Für alles wird gesorgt. Unfreiwillig komischer Satz: „Wenn die Tiefbauer kommen, wird es ernst…“ Und so nimmt einen der Film, stets zukunftsfrohen Sinnes und auf die Segnungen der Technik vertrauend, mit in moderne Sportstätten, Krankenhäuser und Schulen sowie schnell hochgezogene neue Siedlungen.

Und weiter geht’s zum BVB in die Kampfbahn Rote Erde (weise Prophezeiung: deren 42500 Plätze reichten nicht aus), in die Westfalenhalle und zum gerade als Neubau entstehenden Stadttheater, auf Spielplätze mitten „im Steinmeer“, zum Zoo, in den Westfalenpark und in den Rombergpark. „Zeitgemäß“ verbreiterte Straßen und der noch ziemlich holprige Pisten-Flugplatz werden gleichfalls besichtigt. Selbst Seitenblicke auf Müllabfuhr und Feuerwehr fehlen nicht. Überall gibt es im Grunde nur Gutes zu berichten. Später hätte man wohl getextet, Dortmund sei rundum „bestens aufgestellt“. Nun ja.

Angehende Dortmunder Krankenschwestern anno 1964. (Screenshot)

Angehende Dortmunder Krankenschwestern anno 1964. (Screenshot / Stadtarchiv Dortmund)

Überall wirkten „fleißige Hände“

Auch sprachlich macht sich der Abstand von 54 Jahren deutlich bemerkbar. Die zeitüblich noch leicht schnarrende, wenn auch nicht  mehr martialisch klingende Sprecherstimme aus dem Off verkündet immerzu das „tüchtige“ Wirken „fleißiger Hände“, wahlweise auch flinker oder rühriger Hände, Kinder können sich auf dem Robinson-Spielplatz im Westfalenpark „nach Herzenslust tummeln“, Schüler und Lehrlinge (man sagte noch nicht „Auszubildende“) erhalten ihr „Rüstzeug“ fürs Leben, im Altersheim verbringt man einen „behaglichen und sorgenfreien“ Lebensabend. Na, und so weiter. Es war eigentlich noch der Sound der 50er Jahre, obwohl man doch so sehr zu neuen Ufern streben wollte.

Doch trotz alledem sollte man sich über die Altvorderen nicht erhaben dünken. Wer weiß denn, wie peinlich ein heutiger Imagefilm – und gebe er sich jetzt noch so „hip“ – in ein paar Jahrzehnten wirken wird?

Eine weitere öffentliche Vorstellung folgt noch: am nächsten Dienstag, 13. März, um 19 Uhr im Kino des „Dortmunder U“, Leonie-Reygers-Terrasse, 44137 Dortmund. Kostenlose Karten gibt es ab 18 Uhr am Kino. Außerdem ist der Film jetzt online zu sehen, und zwar hier: www.film1964.dortmund.de




Widerstand im Zeichen von Glauben und Menschlichkeit: Vor 75 Jahren wurden drei Mitglieder der Weißen Rose hingerichtet

„Es lebe die Freiheit“, schallt es am 22. Februar 1943 kurz nach 17 Uhr durch den Hinrichtungsraum im Gefängnis in München-Stadelheim. Es sind die letzten Worte von Hans Scholl, bevor er durch das Fallbeil sein Leben verliert. Kurz vor dem 24-jährigen starb seine jüngere Schwester Sophie, wenig später der dreifache Vater Christoph Probst. Am Vormittag hatte der berüchtigte Bluthund der NS-Regimes, Roland Freisler, ihr Todesurteil gesprochen.

Büste von Sophie Scholl in der Walhalla (seit 2003). (Bildhauer: Wolfgang Eckert / Foto: Ryan Hulin - Wikimedia Commons - Link zur Lizenz:

Büste von Sophie Scholl in der Walhalla (seit 2003). (Bildhauer: Wolfgang Eckert / Foto: Ryan Hulin – Wikimedia Commons). Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Freisler war extra aus Berlin nach München gereist. Er wollte einen Schauprozess. Aber die drei jungen Leute, Akteure der Widerstandsbewegung „Weiße Rose“, stahlen dem brüllenden Präsidenten des Volksgerichtshofs die Schau. Ruhig und gefasst vertraten sie ihre Überzeugungen, entgegneten sie den Tiraden.

„Ich bin nach wie vor der Meinung, das Beste getan zu haben, was ich gerade jetzt für mein Volk tun konnte. Ich bereue deshalb meine Handlungsweise nicht und will die Folgen … auf mich nehmen“, ist im Vernehmungsprotokoll Sophie Scholls zu lesen. „Heute hängt ihr uns, und morgen werdet ihr es sein“, sollen die letzten Worte von Hans Scholl vor dem Scheingericht gewesen sein.

„Arbeiten wider die Geißel der Menschheit“

Der aktive Widerstand der „Weißen Rose“ begann Ende Juni 1942, als Hans Scholl und Alexander Schmorell das erste von sechs Flugblättern verfassten und verteilten. „Nichts ist eines Kulturvolkes unwürdiger, als sich ohne Widerstand von einer verantwortungslosen und dunklen Trieben ergebenen Herrscherclique ‚regieren‘ zu lassen“, beginnt der Text, und appelliert dann an die Leser: „Daher muß jeder einzelne seiner Verantwortung als Mitglied der christlichen und abendländischen Kultur bewußt in dieser letzten Stunde sich wehren, soviel er kann, arbeiten wider die Geißel der Menschheit, wider den Faschismus und jedes ihm ähnliche System des absoluten Staates. Leistet passiven Widerstand … wo immer Ihr auch seid, verhindert das Weiterlaufen dieser atheistischen Kriegsmaschine, ehe es zu spät ist, ehe die letzten Städte ein Trümmerhaufen sind, gleich Köln, und ehe die letzte Jugend des Volkes irgendwo für die Hybris eines Untermenschen verblutet ist.“

In den weiteren Flugblättern prangerten die jungen Widerständler die Massenmorde an Juden und Polen an, von denen Hans Scholl an der Front erfahren hatte. Sie verdeutlichten die Mitschuld aller Deutschen, die das Unrecht ertrugen statt es zu bekämpfen. „Wir schweigen nicht, wir sind Euer böses Gewissen, die Weisse Rose lässt Euch keine Ruhe!“, heißt es am Ende des vierten Flugblatts.

Tiefes christliches Grundverständnis

Zum Verhängnis wurde den Geschwistern Scholl eine Aktion am Vormittag des 18. Februar. Beim Auslegen des sechsten, von dem später ebenfalls verhafteten und ermordeten Kurt Huber verfassten Blatts in der Universität stieß Sophie Scholl einen Stapel vom zweiten Stock in den Lichthof des Gebäudes. Sie wurden vom Hausmeister, einem SA-Mann, entdeckt und nach Verhör durch den Universitätspräsidenten, einem überzeugten Nationalsozialisten, der Gestapo überstellt. In den Verhören, so ist den Protokollen zu entnehmen, bekräftigten die Geschwister ihre prinzipielle Gegnerschaft zum NS-Regime und seiner Ideologie.

Hans und Sophie Scholl verteidigten Freiheit und Menschenwürde aus einem tiefen christlichen Grundverständnis heraus. Aufgewachsen in einem liberalen evangelischen Elternhaus, zeigten sie anfangs Sympathien für die NS-Jugendorganisationen, wandten sich aber ab, als sie die totalitären Ziele des NS-Staates immer deutlicher erkannten.

Hans Scholl kam in Kontakt mit katholischen Theologen wie Theodor Haecker und Carl Muth. Eine wichtige Rolle für seinen Entschluss, Widerstand zu leisten, dürften neben seinen Fronterlebnissen auch die Predigten des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen spielen.

Das Gewissen in barbarischen Zeiten

Für die umfassend gebildete, musikalisch und literarisch interessierte Sophie Scholl war ein intensiver Glauben einer der wesentlichen Impulse, dass sich die 21-Jährige – gegen den Willen ihres Bruders – der Widerstandsbewegung aktiv anschloss. Die Biologie- und Philosophie-Studentin wirkte im Januar 1943 erstmals daran mit, ein Flugblatt herzustellen und zu verteilen.

Für Sophie wie für Hans Scholl war die Entwicklung ihres politischen Bewusstseins eng mit der Vertiefung ihres Christentums verbunden. Der „christliche Mensch sei Gott mehr als dem Staat verantwortlich“, waren sie überzeugt. Der Münchner Weihbischof Ernst Tewes brachte es auf den Punkt: „Sie hatten die Unbedingtheit ihres Gewissens erfahren und wurden durch nichts davon abgebracht.“

Heute, 75 Jahre nach ihrer Hinrichtung, sind die Geschwister Scholl und die anderen Mitglieder der Weißen Rose ein Beweis, dass selbst unter barbarischen Zeitläuften der Einzelne die Chance hat, nach seinem Gewissen zu handeln.




Der „andere“ Don Giovanni: Vor 200 Jahren starb der italienische Komponist Giuseppe Gazzaniga

Anmerkungen zu einer Fußnote der Musikgeschichte: Heute, am 1. Februar vor 200 Jahren, starb in Crema in Italien der Schöpfer des „Don Giovanni“. Wie? Mozart, das wissen wir doch, verblich am 5. Dezember 1791, und zwar in Wien. Richtig, dennoch gilt es, eines Komponisten zu gedenken, der eine der mindestens siebzig Don-Juan-Versionen für die Opernbühne geschaffen hat – und zwar nicht die schlechteste: Giuseppe Gazzaniga.

Der Komponist Giuseppe Gazzaniga um 1780. (Bild: Wikimedia /gemeinfrei - Link: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Giuseppe_Gazzaniga.jpg)

Der Komponist Giuseppe Gazzaniga um 1780. (Bild: Wikimedia /gemeinfrei – Link: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Giuseppe_Gazzaniga.jpg)

Heute meist nur noch beiläufig erwähnt, war Gazzaniga zu Lebzeiten eine europäische Berühmtheit. Seine Opern, er hat mindestens 50 geschrieben, wurden zwischen 1770 und 1800 – also zu Lebzeiten Mozarts – in ganz Europa gespielt. Und sein „Don Giovanni“ mit einem Text des Wiener „kaiserlichen Poeten“ Giovanni Bertati begann erstmals am 5. Februar 1787 die Damen auf den Brettern des Teatro San Moïsè in Venedig zu verführen.

Das Grausen wird weggelacht

Mozarts Librettist Lorenzo da Ponte hat sich allen Anscheins nach bei der venezianischen Karnevalsoper Gazzanigas und Bertatis bedient: Die Eröffnungsszene mit Leporello – der bei Gazzaniga Pasquariello heißt –, dem Terzett und dem Tod des Komturs, die „Registerarie“ des Dieners, das letzte Mahl Giovannis und seine Höllenfahrt finden sich in der früheren Oper in verblüffend ähnlicher Form.

Das Finale freilich ist ein karnevalesker Scherz: Während Don Giovanni mit Krach-Bumm und sprühendem Feuer in teuflische Gefilde abfährt, starten die Überlebenden eine schmissige Tarantella. Das Grausen vor dem dämonischen Ende wird gekonnt weggelacht und weggetanzt.

Karriere auf europäischer Ebene

Gazzaniga war bereits ein Jahr zuvor von seinem Förderer Antonio Sacchini in Wien eingeführt worden – mit einer Oper auf ein Libretto von Lorenzo da Ponte: „Il finto cieco“ („Der falsche Blinde“), die am 20. Februar 1786 eine offenbar viel beachtete Premiere feierte. Zu dieser Zeit war Gazzanigas europäische Karriere schon in Gang gekommen. „La vendemmia“ etwa, 1778 in Florenz uraufgeführt, erreichte bis 1785 Wien, Dresden, Prag, London, Lissabon und als „Die Weinlese“ Berlin.

Begonnen hatte der 1743 in Verona geborene Gazzaniga, der eigentlich Priester werden sollte, vor 250 Jahren mit einem 1768 in Neapel vorgestellten Intermezzo („Il barone di Trocchia“), dem eine Reihe von Buffonerien für den unersättlichen venezianischen Opernbetrieb folgten. Unter Titeln wie „Das Grab des Merlin“ oder „Die Insel der Alcina“ kann man sich noch etwas vorstellen – aber was sich hinter dem 1773 in Mailand erschienenen „Zon-zon, Fürst von Kibin-kin-ka“ verbirgt, hätte zu wissen doch einen gewissen Reiz. Allerdings versuchte sich Gazzaniga auch an ernsten Stoffen wie „Ezio“ auf das oft vertonte Libretto von Metastasio, „Armida“ oder „Perseus und Andromeda“. Auch ein „Idomeneo“ (1790) steht im Verzeichnis seiner Werke.

Kurzlebige Werke für den unersättlichen Opernbetrieb

Gazzanigas „Don Giovanni“ habe ich vor mehr als 35 Jahren einmal im Heidelberger Schlosshof gesehen: In einer turbulenten Inszenierung nach Art einer Wanderbühne, mit einem großen Knall am Ende – ein sommerlicher Gute-Laune-Spaß mit einer spritzigen, gekonnt fabrizierten Musik, freilich meilenweit von der Tiefgründigkeit Mozarts entfernt. Gazzanigas Musik spiegelt die neapolitanische Oper der Mitte des 18. Jahrhunderts, wie sie seine Lehrer Antonio Porpora und Niccoló Picinni verkörpert haben. Die (spärliche) Literatur hebt seinen Sinn für Situationskomik und seine melodische Erfindungsgabe hervor, die offenbar schon seine Zeitgenossen gerühmt haben.

Als Komponist gehört Gazzaniga zu den zahlreichen Produzenten kurzlebiger Werke für den täglichen Bedarf der italienischen Opernhäuser, vergleichbar vielleicht heutigen Spielfilm- oder Fernsehserienproduzenten. Unter welchen Bedingungen gearbeitet werden musste, wird in einer Episode aus den Memoiren Lorenzo da Pontes deutlich: Von der Theaterdirektion beauftragt, ein Libretto für Gazzaniga zu verfassen, schusterte da Ponte in ein paar Tagen aus einer französischen Komödie ein Stück zusammen. Eine wohl heftige Liebschaft beschäftigte Gazzaniga und hinderte ihn, die Oper in der festgesetzten Zeit fertigzustellen. So bastelte er zwanzig Jahre zuvor geschriebene Musik und Szenen aus eigenen und fremden Werken zu einem Mischmasch zusammen, der „weder Hand noch Fuß“ hatte und nach drei Aufführungen „in den Schlaf geschickt“ wurde.

Als sein kompositorischer Stil unmodern wurde

Da Ponte bezeichnet Gazzaniga in seinen Erinnerungen als Komponisten von einigem Verdienst, dessen Stil aber nicht mehr modern sei. Und das genannte Machwerk verhöhnt er mit einem unübersetzbaren italienischen Begriff: „guazzabuglio“, der so etwas wie Kuddelmuddel bedeutet.

Dass der rasche Wandel und die Entwicklung in der Opernmusik Italiens und Europas seine Art zu komponieren unmodern werden ließ, scheint Gazzaniga selbst bemerkt zu haben: 1791 übernahm er das Amt des Domkapellmeisters an der Kathedrale von Crema, das er bis zu seinem Tod 1818 versah. In dieser Zeit entstanden zahlreiche geistliche Kompositionen, deren Handschriften in Verona und Bologna in Archiven schlummern.

Sich von seinen Opern ein Bild zu machen, wäre ebenfalls nur durch ausgiebige Quellenstudien möglich. Die Produktion für das Musiktheater hat Gazzaniga bis 1807 weitergeführt, wenn auch nicht so intensiv wie vorher. Hin und wieder taucht sein „Don Giovanni“ auf der modernen Bühne auf, zuletzt meines Wissens 2015 in Pisa, ein reizvoller Kontrast zum unvergänglichen Meisterwerk Mozarts.




Französische Literatur aus Sicht eines ihrer besten Kenner – Hanns Grössels Essays und Kritiken

Wer sich für Literatur aus Frankreich interessiert und nicht mehr ganz jung ist, wird in den Feuilletons der überregionalen Zeitungen, aber auch in verschiedenen Büchern dem Namen Hanns Grössel begegnet sein; als Übersetzerangabe oder als Verfasser von Vor- oder Nachworten.

In den 1970er-Jahren beispielsweise trug Grössel wesentlich zur Wahrnehmung des Surrealismus in Deutschland bei. Und er machte das Lesepublikum auf Raymond Roussel aufmerksam, von dem er zwei Werke übersetzte und über den er eine Monographie in der Edition text+kritik herausgegeben hat.

Eine repräsentative Auswahl der Essays und Kritiken des im Sommer 2012 im Alter von 80 Jahren verstorbenen Literaturkritikers und Übersetzers, der 30 Jahre als Rundfunkredakteur beim WDR tätig war, konnte zur Buchmesse im vorigen Herbst dank der Initiative der Kunststiftung NRW in einem sorgfältig edierten Band im Lilienfeld Verlag erscheinen.

Spektrum von Stendhal bis Modiano

Zeitlich reicht das Spektrum der versammelten Texte von Stendhal bis Patrick Modiano. Neben den kanonisierten großen Namen der Moderne wie Victor Hugo, Gustave Flaubert, Guy de Maupassant, Charles Baudelaire, Emile Zola, Marcel Proust gibt es dabei auch weniger Bekannte wie José-Maria de Heredia oder Charles-Louis Philippe zu entdecken.

Sodann sind natürlich Geheimtipps vertreten, Autoren, die selten eine große Leserschaft erreichten, deren Werke aber immer wieder, oftmals von kleineren, engagierten Verlagen neu aufgelegt werden. Als Beispiele könnte Marcel Schwob genannt werden, dessen Reisebriefe aus der Südsee im vorigen Herbst im Elfenbein Verlag erstmals in deutscher Übersetzung erschienen sind.

Zu nennen wären auch Joris-Karl Huysmans und Emmanuel Bove, von denen jeweils ein schöner Band für dieses Jahr im Lilienfeld Verlag angekündigt ist. Oder Saint-Pol-Roux, von dem nach längerer Pause 2013 ein kleineres, aber wichtiges Werk bei Matthes & Seitz erscheinen konnte, Paul Valérys „Cahiers“, oder gar die von Gerd Haffmans herausgegebene 11-bändige Ausgabe der Tagebücher der Brüder Edmond und Jules de Goncourt im Verlag Zweitausendeins.

Diese wenige Beispiele zeigen, dass die Entdeckungen und Wiederbegegnungen keineswegs auf die Jahre zwischen 1966 und 2002 beschränkt bleiben, in denen Grössel die in diesem Band versammelten Essays und Kritiken schrieb.

Kein Sammelsurium, sondern Komposition

Dass bei der Vielzahl der besprochenen Autoren aus diesem Band kein Sammelsurium unterschiedlichster Texte wurde, verdanken wir der sorgfältigen Auswahl und Zusammenstellung durch Norbert Wehr, der Grössels Nachlass verwaltet und der den Band ebenso umsichtig und mit Liebe zur Literatur komponiert hat wie jedes Dossier der von ihm seit 40 Jahren herausgegebenen Literaturzeitschrift „Schreibheft“.

Hanns Grössel bietet die besten Voraussetzungen für eine abgerundete Werkschau, er, der ausgezeichnete Kenner, der die von ihm besprochenen Bücher in ihrem literaturgeschichtlichen Zusammenhang berücksichtigt, mit vielfältigen Querverbindungen und Leitmotiven.

So stellt sich beim Lesen des Buchs der Eindruck ein, die ursprünglich an verstreuten Orten erschienenen Beiträge folgten insgeheim dem Prinzip der kommunizierenden Röhren, wovon ein Artikel zu André Breton aus der Süddeutschen Zeitung vom August 1973 handelt, und fügten sich zu einem sprechenden, einem erzählenden Hanns-Grössel-Kosmos zusammen.

Das Nachwort von Norbert Wehr mit persönlichen Erinnerungen an den großen Literatur-Entdecker und Übersetzer verdeutlicht dessen Verdienste, seine gewissenhafte Haltung gegenüber der Literatur und Grössels respektvollen Umgang mit Büchern und Autoren, auch mit denen, die seinem kritischen Blick nicht standhielten.

Schwerpunkte und Vorlieben

Bei aller Vielfalt und Weite seines immensen Schaffens lassen sich gut die Schwerpunkte und Vorlieben des Literaturmenschen Grössel erkennen. Der streitbare Georges Bataille gehört dazu, mit dem sich die Auseinandersetzung nach wie vor lohnt – sei es mit seinem ökonomischen Konzept der Verausgabung, sei es mit seiner Perspektive auf die wilde Kindheit, sei es mit den Provokationen in seinem „obszönen Werk“ (unter diesem Etikett sind 1972 im Rowohlt Verlag fünf seiner wesentlichen Texte erschienen).

Ähnlich bekannt für Grenzüberschreitungen und Tabubrüche dürfte Henri Michaux sein, der sich früh „großen Zerreißproben“ unter dem Einfluss von Meskalin und LSD ausgesetzt hatte – nebenbei bemerkt: ein faszinierender Zeichner. Von ihm ist in dem Band das Werk Eckpfosten besprochen.

Innenansichten einiger Außenseiter

Unter den Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts sind es besonders Nathalie Sarraute und Marguerite Yourcenar, denen sich Grössels besondere Aufmerksamkeit zuwendet. An den von Yourcenar gewählten Sammeltitel zu ihrer dreibändigen autobiographischen Familiengeschichte, Das Labyrinth der Welt, lehnt sich der Titel des vorliegenden Bands an.

Zu Victor Segalen hat der Auswahlband glücklicherweise einen Text erstmals nach dem ungekürzten Manuskript veröffentlichen können, während in der Wochenzeitung Die Zeit im August 1983 eine gekürzte Fassung erschienen war. Dieser außergewöhnliche Schriftsteller, Arzt, Ethnologe ist plausibel in einem Kapitel vertreten, das „Außenseiter. Fünf Innenansichten“ benannt ist und außer ihm Raymond Roussel, Michel Leiris, Max Jacob und Paul Léautaud umfasst. Letzterer wird unter zwei verschiedenen Rubriken besprochen; seine Kriegstagebücher in dem Kapitel „Paris unter Besatzung“.

Keine Narrenfreiheit für Kollaborateure und Antisemiten

Die deutsche Besatzung, die Vichy-Regierung, französische Kollaborateure und auch die Résistance bilden für Grössel einen besonderen Forschungsgegenstand. Mit nur spärlichen Informationen über die Tätigkeit seines Vaters im besetzten Paris bemühte sich Grössel, wie das Nachwort deutlich macht, durch die Werke von Louis-Ferdinand Céline, Pierre Drieu la Rochelle, Paul Léautaud, Paul Nizan, Jean-Paul Sartre und Léon Werth dem Leben im Paris der Kriegsjahre näher zu kommen.

Grössel bleibt als Kritiker unabhängig und lässt sich durch stilistische Qualität nicht bestechen, wenn es sich um Kollaborateure und erklärte Antisemiten wie Céline oder Drieu la Rochelle handelt. Er möchte das Politische nicht vom Literarischen trennen, davon ausgehend, „dass alle Schriften eines Autors aus demselben Kopf stammen“. Er fährt fort: „Sollte diese Überzeugung dann in den Ruch eines moralischen Rigorismus geraten: besser, wir nehmen das hin, als dass wir unsere Glaubwürdigkeit verlieren, wir, die wir über Literatur schreiben, sie analysieren und werten.“

In die Diskussion um Pierre Drieu la Rochelle, der in seinen 52 Lebensjahren zwischen den politischen Extremen pendelte, der 1931 den später von Louis Malle verfilmten Roman Le feu follet (Das Irrlicht) vorlegte und im März 1945 seiner Verurteilung als Kollaborateur der Nazis durch Selbstmord zuvorkam, schaltet sich Grössel ein und wehrt sich dagegen, „dem Künstler, weil er Künstler ist, ein erhebliches Maß an politischer Narrenfreiheit zu gewähren.“ Er verteidigt sein Berufsethos: „Wenn wir nicht selber Schaden nehmen wollen, müssen wir mit dem Verhätscheln aufhören.“

Was fehlt und was noch kommt

Freilich muss ein auf 540 Seiten begrenzter Band eine Auswahl treffen. Man mag bedauern, dass beispielsweise Grössels Nachwort zu Jules Renards Tagebuchauszügen aus dem Band Ideen, in Tinte getaucht (München 1986) nicht einbezogen wurde. Doch Renard und viele, denen kein eigener Beitrag gewidmet ist, kommen in den Essays zu anderen Autoren durchaus zur Geltung, wie etwa Jean Genet in der Besprechung zu Sartres Buch Saint Genet, Komödiant und Märtyrer (Reinbek 1982). Dankenswerterweise hat die Kunststiftung NRW keine Kosten und Mühen gescheut, dem Band ein umfassendes Personenregister beizufügen.

Leserinnen und Lesern, denen Hanns Grössel mehr als Experte für dänische und schwedische Literatur, vor allem als Übersetzer der Lyrik von Inger Christensen und des Literatur-Nobelpreisträgers Tomas Tranströmer, bekannt ist, können sich auf den zweiten, von Peter Urban-Halle herausgegebenen Band freuen, den der Lilienfeld Verlag für dieses Jahr angekündigt hat. Mit der Zusammenstellung seiner Essays und Kritiken in zwei Bänden wird dem Homme de lettres Hanns Grössel eine verdiente Würdigung zuteil.

Hanns Grössel: Im Labyrinth der Welt. Essays und Kritiken zur französischen Literatur. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Norbert Wehr. Schriftenreihe der Kunststiftung NRW, Literatur, Band 9. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf. 544 Seiten, 30 €.

Außerdem vom Verlag angekündigt:

Hanns Grössel: Umwege zur Wirklichkeit. Essays und Kritiken zur skandinavischen Literatur. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Peter Urban-Halle. Schriftenreihe der Kunststiftung NRW, Literatur, Band 10. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2018, ca. 450 Seiten, 30 €.




Natur und Kunst, Schönheit und Grauen: Vor 150 Jahren starb der Biedermeier-Schriftsteller Adalbert Stifter

Kann man ihn überhaupt noch lesen, diesen Biedermeier-Schriftsteller? Ist seine Sittlichkeit nicht längst altmodisch? Sind diese langatmigen Schilderungen von Landschaften und Naturidyllen nicht jedem modernen Gefühl zuwider? Fehlt ihm nicht, was schon Joseph von Eichendorff vermisste, der über ihn sagte, er habe „nicht eine Spur von moderner Zerrissenheit“?

Adalbert Stifter, vor 150 Jahren (am 28. Januar 1868) gestorben, galt einst als der bedeutendste Autor des Biedermeier. Man schätzte seine Naturdarstellungen. Bis in die 1960er Jahre hinein war seine Prosa Stoff für die Schule, seine Texte fanden sich in Lesebüchern. Werke wie „Die Mappe meines Urgrossvaters“, seine Erzählungs-Sammlung „Bunte Steine“ oder sein wohl berühmtester Roman „Der Nachsommer“ gehörten zum literarischen Bildungsgut.

Sogar Karl Kraus hat ihn gepriesen

Der Philosoph Friedrich Nietzsche etwa bewunderte diesen groß angelegten Bildungsroman und zählte ihn – neben Goethe – zum „Schatz der deutschen Prosa“. Der scharfzüngige Karl Kraus ließ allein Stifter unter allen Schriftstellern dieser Epoche gelten, die anderen „sollten diesen Heiligen für ihr lautes Dasein um Verzeihung bitten …“. Und kein Geringerer als Thomas Mann preist ihn in höchsten Tönen: „Stifter ist einer der merkwürdigsten, hintergründigsten, heimlich kühnsten und wunderlich packendsten Erzähler der Weltliteratur.“

Die Sprache bleibt für die Gegenwart

Kritiker dagegen bemängeln, dass die Figuren seiner Werke als Menschen blass bleiben und hinter den allzu ausgiebigen Natur- und Landschaftsschilderungen zurücktreten. Sein Stil wird als weitschweifig getadelt. „Die Ergebenheit in alles von der Natur Vorgegebene beginnt selbst den geneigten Leser zu martern“, schreibt Ilse Aichinger über seine Erzählung „Bergkristall“. Was für heute bleibt, glaubt man der österreichischen Schriftstellerin, ist die Sprache: Sie „entdeckte in der Schilderung die Definition der Räume und Landschaften, in der Gelassenheit und Ergebenheit den reißenden, fast verzweifelten Strom der Sprache, ihre Hochkarätigkeit, den Tod zu ihren Seiten.“

Das Abgründige in Stifters Werk, das wohl auch Franz Kafka erspürt hatte, die Natur als Raum und Spiegel der Seele – das braucht offenbar Zeit und Einfühlung, um entdeckt zu werden. Das Grauenvolle, Unergründliche, zutiefst Erschreckende, dessen Walten in der Natur Stifter eben auch entdeckt, hat man gern und geflissentlich übersehen.

Solche Bilder leisteten der Idyllisierung Vorschub: Adalbert Stifter, Im Gosautal, ein Gemälde aus dem Jahr 1834. Bild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Adalbert_Stifter_-_Im_Gosautal.jpg

Solche Bilder leisteten der Idyllisierung Vorschub: Adalbert Stifter, „Im Gosautal“, ein Gemälde aus dem Jahr 1834. Bild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File: Adalbert_Stifter_-_Im_Gosautal.jpg

Sehnsucht nach Harmonie

Adalbert Stifter, 1805 in Oberplan an der Moldau in Böhmen (heute Horni Planá in Tschechien) geboren, stammt aus den armen Verhältnissen einer Leinweberfamilie. Der Großvater brachte ihn auf die Lateinschule und ab 1818 in das Stiftsgymnasium der Benediktiner von Kremsmünster. Eine Zeit, die er später als die schönste seines Lebens beschrieb. Er lernte Zeichnen und wollte Landschaftsmaler werden – einige Bilder zeugen von seinem Talent.

Die Schule vermittelte ihm Religion, Philosophie, Kunst und Naturwissenschaft gleichermaßen, führte ihn in den Kosmos der christlichen Weltanschauung ein, unterwies ihn aber auch in der Philosophie der Aufklärung. Im Schönen entdeckte er das Göttliche. Das Göttliche aber strebe, so schrieb er selbst, überall nach beglückender Entfaltung, als Gutes, Wahres, Schönes. Die Sehnsucht nach dieser harmonischen Weltschau sollte sein späteres Denken und Schreiben prägen.

Unglückliche Liebe und materielle Not

Als Student der Rechte in Wien begann er auch zu dichten. In Wien verliebte er sich heftig und unglücklich in Fanny, die Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns. Sie erwiderte seine Leidenschaft nicht. Stifter verfiel dem Alkohol und musste das Studium ohne Abschluss abbrechen. In dieser Zeit entstanden erste Erzählungen, die aber nicht oder erst später veröffentlicht wurden. Um die Ordnung in seinem Leben wieder herzustellen, vermählte sich Stifter mit der Putzmacherin Amalia Mohaupt, die ihn über 30 Jahre lang liebevoll umsorgte.

In den ersten Jahren plagten das Paar erhebliche materielle Sorgen. Die Lage wandelte sich allmählich, als 1840/41 die Erzählungen „Der Condor“ und „Feldblumen“ veröffentlicht wurden und auf positives Echo stießen. Stifter unterrichtete als Hauslehrer den Sohn des österreichischen Staatskanzlers Metternich und fand einen Verleger, der ihn förderte. Die Schicksalserzählung „Abdias“ brachte ihm 1842 den literarischen Durchbruch. Zwei Jahre später erschienen erste Bände seiner gesammelten Erzählungen.

Keine Gegenliebe für pädagogische Reformideen

Im Revolutionsjahr 1848 zog Stifter, der auf der Seite der Erneuerung stand, von Wien nach Linz. Die Erzählung „Die Landschule“ spiegelt sein lebenslanges pädagogisches Interesse wieder. Nach einigen vergeblichen Versuchen gelang es ihm, 1850 einen Posten als Schulrat zu erreichen.

Gut zwei Jahre später wurde er auch zum Landeskonservator für Oberösterreich der k.k. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale ernannt. Sehr engagiert widmete er sich dem Denkmalschutz und der Förderung der bildenden Kunst, in der er die „irdische Schwester der Religion“ erkannte. Seine pädagogischen Reformideen jedoch stießen bei Kirche und Behörden nicht auf Gegenliebe.

Neu bei dtv: Wolfgang Matz hat Stifters Erzählungen nach den Erstdrucken herausgegeben - rechtzeitig zum 150. Todestag des Autors. Cover: dtv

Neu bei dtv: Wolfgang Matz hat Stifters Erzählungen nach den Erstdrucken herausgegeben – rechtzeitig zum 150. Todestag des Autors.

Gesundheitliche Gründe und ein Schicksalsschlag – der Tod seines Adoptivkindes Juliane, wohl ein Suizid – führten dazu, dass Stifter seinen Tätigkeiten nicht mehr nachgehen konnte. Seinen historischen Roman „Witiko“ vollendete er nach jahrelanger Arbeit.

Stifter war ein übermäßiger Esser und Trinker, der sechs Mahlzeiten am Tag verschlang. Als sein Tod infolge einer Leberzirrhose absehbar war, öffnete er sich auf dem Krankenbett mit einem Rasiermesser die Halsschlagader und starb zwei Tage nach diesem Suizidversuch am 28. Januar 1868.

Neue Bücher:

Der Münchner Literaturwissenschaftler, Lektor und Träger des Paul-Celan-Preises Wolfgang Matz hat 2016 mit „Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung der Dinge“ eine Biografie auf aktuellem wissenschaftlichen Stand vorgelegt.

Stifters großer Roman „Der Nachsommer“ ist in einer neuen Ausgabe beim Deutschen Taschenbuch-Verlag (dtv) erhältlich, der auch „Bergkristall“ und „Witiko“ im aktuellen Programm führt. Wichtige Werke von „Abdias“ bis „Bunte Steine“ sind als gelbe Reclam-Ausgaben erhältlich.

Hier noch ein Gedicht von Adalbert Stifter:

Abschied

Nun sind sie vorüber, jene Stunden,
Die der Himmel unsrer Liebe gab,
Schöne Kränze haben sie gebunden,
Manche Wonne floß mit ihnen ab.

Was der Augenblick geboren,
Schlang der Augenblick hinab,
Aber ewig bleibt es unverloren,
Was das Herz dem Herzen gab.

 




Unterwegs zu einer Welt ohne jede Verletzung – ein müßiger Frankfurter Streit um „Mohren“-Apotheken

Das musste ja irgendwann kommen! Ich hatte mich schon gewundert, dass diese Debatte nicht viel eher vom Zaun gebrochen wurde: Laut „Frankfurter Rundschau“ (ach, das Blatt gibt’s wirklich auch noch?) wird in der Mainmetropole jetzt angeblich heiß diskutiert, ob die beiden „Mohren“-Apotheken in der Stadt weiterhin so heißen dürfen.

Logo der Dortmunder "Mohren-Apotheke": eine geradezu klassische Darstellung, die doch nicht mehr schockieren muss. (Screenshot)

Logo der Dortmunder „Mohren-Apotheke“: eine geradezu klassische Darstellung, die doch wohl nicht mehr schockieren muss. (Screenshot)

Zumindest steuert die – seltsam gestrig benannte – „Kommunale Ausländer- und Ausländerinnenvertretung“ (KAV) stracks auf ein Verbot zu. Der Magistrat solle unverzüglich einschreiten, weil „in Frankfurt am Main kein Platz für Rassismus ist“, wie die formelhaft herunter geleierte Begründung lautet. Haben die in Frankfurt keine anderen Sorgen und Probleme, als aus heiterem Himmel solche nutzlosen Spiegelfechtereien anzuzetteln?

Die alten Bücher umschreiben

Hier ist mal wieder derselbe Furor am Werk, der am liebsten immerzu eingreifen und untersagen würde – eine durchaus „deutsche“ Untugend, auch und gerade unter „linken“ Vorzeichen. Am besten wär’s nach dieser Lesart, wenn man beispielsweise die Bücher von Astrid Lindgren, Michael Ende und vielen anderen Autoren gründlich umschriebe, wenn man so manche missliebige Kinoszene aus Filmen herausschnitte. Da waltet der ach so wohlmeinende Ungeist von Zensoren, die sich immerzu berufen fühlen, für uns alle zu handeln. Sie wünschen sich eine quasi keimfreie Welt ohne jede Verletzung. Schlimmer noch: Sie drohen unentwegt mit deren alsbaldiger Herbeiführung.

Lauert denn nicht auf jeder Seite, in jeder Szene ein Affront, den die hyperempfindlichen, daher gramgebeugten und schließlich doch aufrechten Recken der politischen Korrektheit aufspüren und flugs beseitigen müssen? Just jetzt ereilte uns ja auch die Nachricht, dass ein herzlich harmloses, ja ausgesprochen sanftmütiges Gedicht Eugen Gomringers von einer Berliner Hochschulwand getilgt wird, weil sich überaus frauenbewegte Menschen davon „sexistisch“ angegriffen fühlen wollen. An dieser Stelle haben wir über das blödsinnige, kulturfeindliche Unterfangen schon ratlos den Kopf geschüttelt.

Gleich wieder am großen Rad drehen

Ginge es einem einzigen Einwohner, einer einzigen Kundin besser, wenn die Apotheken nicht mehr so hießen? Wären die dort verkauften medizinischen Mittel dann eventuell sogar wirksamer? Mir würden viele Verhältnisse einfallen, in denen sich alltäglicher Rassismus weitaus deutlicher und schmerzhafter zeigt als in solchen traditionellen Benennungen, die man nach so vielen Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten schlichtweg hinnehmen oder ignorieren könnte. Im Falle einer der beiden Frankfurter Apotheken ist das „Mohren“-Motiv gar seit langer Zeit in die Hauswand eingelassen und gilt als denkmalwürdig. Aber nein! Da muss gleich wieder das ganz große Rad gedreht werden.

Haltestellenschild im Sauerland. Ist hier die sofortige Umbenennung erforderlich? (Foto: Bernd Berke)

Haltestellenschild im Sauerland. Ist hier die sofortige Umbenennung erforderlich? Dürfen ganze Orte Oberneger, Mittelneger und Unterneger heißen? (Foto: Bernd Berke)

Beim „Negerkuss“ (heute meist „Schokokuss“ oder „Schaumkuss“ genannt) kann ich die Empörung viel eher nachvollziehen, die Bezeichnung steht noch ganz anders und schärfer provozierend im Heute, sie sollte nun wirklich und selbstverständlich vermieden werden, ebenso wie etwa das „Zigeunerschnitzel“. Wobei sich etliche Zeitgenossen gerade durch derlei Einschränkungen bemüßigt fühlen, die Worte „jetzt erst recht“ herauszukrähen. Wat willze machen, wie wir im Revier sagen.

Auch in Dortmund gibt es eine…

Anders verhält es sich mit einem angestaubten, in ziemlich ferner Historie angesiedelten Wort wie „Mohr“, von dem sich wirklich niemand mehr attackiert fühlen muss. Es hat schon eher heraldische Qualität. In vorkolonialer Zeit konnte damit durchaus der „edle Schwarze“ gemeint sein, was freilich auch wieder so ein Klischee darstellt. Doch es ist vertrackt: Entfernt man zwiespältige Worte, so verschwindet keinesfalls wie von selbst die Haltung, die damit vermeintlich einhergeht.

Jetzt folgt noch der fulminante Ruhrgebiets-Regionalbezug: Auch in Dortmund gibt es eine „Mohren-Apotheke“, die ich nicht nur kenne, sondern auch sehr schätze – ungeachtet des Names. Allerdings habe ich insgeheim damit gerechnet, dass diese Benennung eines Tages plötzlich zum Thema werden könnte. Man kennt ja die Pappenheimer. Dass eine Stadt wie Frankfurt die Vorreiterrolle übernehmen würde, war zu erwarten.

Ein notorischer Witzbold hat unterdessen vorgeschlagen, die Dortmunder „Mohren-Apotheke“ vorsichtshalber und zugleich kostengünstig in „Möhren-Apotheke“ umzubenennen. Ruhe! Darüber lacht man doch nicht.




Die Masse als politischer Akteur: Zum 100. Geburtstag Gottfried von Einems zeigt Magdeburg seine Oper „Dantons Tod“

Am 24. Januar 1918, vor 100 Jahren, erblickte in Bern einer der bekanntesten Komponisten der fünfziger und sechziger Jahre das Licht der Welt: Heute nur noch Insidern der Operngeschichte ein Begriff, entfaltete Gottfried von Einem nach der Uraufführung seiner Oper „Dantons Tod“ in Salzburg das musikalische Nachkriegs-Leben in Deutschland und Österreich entscheidend mit. Magdeburg würdigt nun als bisher einziges deutsches Opernhaus von Einem mit einer Premiere seines erfolgreichen Opern-Erstlings von 1947.

Beim Wiener Verlag Kremayr und Scheriau erschienen: Joachim Reibers Biografie des Komponisten Gottfried von Einem. Coverabbildung: Verlag

Beim Wiener Verlag Kremayr und Scheriau erschienen: Joachim Reibers Biografie des Komponisten Gottfried von Einem. Coverabbildung: Verlag

Von 1948 an hatte Gottfried von Einem als Mitglied des Direktoriums der Salzburger Festspiele – mit Unterbrechung bis 1964 – weitreichenden Einfluss, gestützt durch seine hervorragende Vernetzung, unter anderem mit der Familie Wagner, den Komponistenkollegen Boris Blacher und Werner Egk oder dem in vielen Bereichen aktiven Rolf Liebermann.

Die Opern „Der Prozess“ nach Franz Kafka (1953) und „Der Besuch der alten Dame“ nach Friedrich Dürrenmatt (1971) sicherten dem eher konservativ eingestellten, der neuen Musik der Schönberg-Schule und der Darmstädter Kreise abholden „Componist“ – so die Selbstbezeichnung – einen festen Platz auf den Spielplänen der Opernhäuser, den er erst nach seinem Tod 1996 langsam einbüßte.

Mit „Jesu Hochzeit“ auf ein mystisch-esoterisches Libretto seiner zweiten Frau, der Schriftstellerin Lotte Ingrisch, verursachte von Einem 1980 in Wien einen veritablen Opernskandal. Gottfried von Einem verstand es, sich einerseits mit den Verhältnissen während des Dritten Reiches äußerlich zu arrangieren, half aber auch, Juden zu schützen und wurde daher 2002 posthum als „Gerechter unter den Völkern“ ausgezeichnet. In Deutschland und Österreich galt von Einem dank seiner Oper „Dantons Tod“ als „Komponist der Stunde Null“ – eine Bezeichnung, die heute angezweifelt wird, etwa in der neuesten Biografie von Joachim Reiber.

Bogen von der Französischen Revolution bis zur NS-Diktatur

Die Vorlage zu von Einems Oper, Georg Büchners „Dantons Tod“ lässt sich von vielschichtigen Zeitebenen aus lesen: Da ist das Stück über die Französische Revolution, zugespitzt auf ein paar Wochen des Jahres 1794. Da ist der Blick des jungen, unruhevollen Geistes auf Danton, Robespierre, Saint-Just, Desmoulins und ihre Gefolgschaften aus der Perspektive der restaurativen Gesellschaft der 1830er Jahre in Deutschland, eingespannt zwischen brutaler Unterdrückung des politischen Lebens und gärendem Freiheitswillen. Da ist die illusionslose Realität des Polizeistaats Hessen-Darmstadt, in dem Büchner ein System von Bespitzelung, Willkür und Gewalt am eigenen Leibe erfährt. Und da ist, unvermeidlich, der Blick der eigenen Gegenwart auf den historischen Stoff.

Noa Danon als Lucile in "Dantons Tod" von Gottfried von Einem in Magdeburg. Foto: Kirsten Nijhof

Noa Danon als Lucile in „Dantons Tod“ von Gottfried von Einem in Magdeburg. Foto: Kirsten Nijhof

Gottfried von Einem zieht noch einmal eine Ebene ein: Unverkennbar reflektieren er und sein Librettist Boris Blacher – selbst ein begabter Komponist – die zwölf Jahre der braunen Diktatur. Das geschieht nicht direkt, sondern wirkt subtil, dem schnellen Blick kaum bemerkbar. Aber die Masse als politischer Akteur und gleichzeitig Material in den Händen weniger Demagogen, das „Volk“ als Faktor der ideologischen Auseinandersetzung führt über Büchner hinaus.

Gottfried von Einem hat mit dem Werk kurz nach dem Attentat auf Hitler 1944 begonnen. Er selbst beschreibt die Situation als „unerträglichen Druck“, unter dem wie er Millionen Menschen standen: „Ständige Spannung, Schrei nach Erlösung von ihr.“ Wie gebannt sei er unter dem Zwang des Stoffes gestanden: „Das Werk brannte ab mit mir, mit meiner Musik.“

In Magdeburg tut Intendantin Karen Stone gut daran, die Handlung nicht eindeutig zu verorten, weder im Paris des 18. Jahrhunderts noch im Ambiente einer der Diktaturen der Gegenwart oder jüngeren Vergangenheit. Die Szene von Ulrich Schulz, eine Brücke aus kaltem Metall, flankiert von zwei Treppen, öffnet oder schließt je nach Bedarf einen flexiblen Spielraum, der sich mit einer Tapete mit französischen Lilien in einen Wohnraum oder mit einem hochgefahrenen Lichtkäfig in ein Gefängnis verwandeln lässt. Auch Requisiten und Kostüme spielen mit den Zeitebenen, lassen an Barock, 68er oder die uniformierten Einheitsschnitte östlicher Diktaturen denken.

Inszenierung rückt Rolle der Massen in den Mittelpunkt

Stone rückt in ihrer Inszenierung die Rolle der Massen in den Mittelpunkt. Unterstützt von Choreograph David Williams sucht sie den Weg zu stilisierter Aktion, die der Falle des so gut wie immer unglaubwürdigen Bühnen-„Realismus“ entgeht. Das gelingt nicht durchweg: Die zweite Szene, in der ein junger Adliger (Peter Diebschlag) gelyncht werden soll, sieht ein wenig aus wie eine schlechte Victor-Hugo-Verfilmung.

Aber wenn Stone bei den großen Reden Robespierres und Dantons das Volk wie in Trance wandeln lässt, wenn sie in der Gerichtsszene des zweiten Teils den unheimlichen Sog zeigt, der jede Individualität von den Einzelnen abzieht, machen die gleichgeschalteten Bewegungen dieser Marionetten und ihre mechanischen Reaktionen auf den Bann der Macht deutlich, wie wenig sich der Einzelne, und sei er ein mutiger Revolutionär wie Danton, der Wucht der Masse entziehen kann.

„Wir sind das Volk und wir wollen, dass kein Gesetz sei …“ skandiert eine zwielichtige Menge. Robespierre schafft es, die ungeordnete Menschenschar in Reih‘ und Glied hinter sich zu bringen. „Égalité“ prangt in blutigen Lettern im Hintergrund – und Gottfried von Einems Musik spiegelt das emotional wirksame Pathos, das wir aus den Aufmärschen aller Diktatoren der Welt nur zu gut kennen. Die Statisterie und der von Martin Wagner höchst sicher einstudierte Chor haben diese Szenen bravourös bewältigt und die Faktur der für viele wohl völlig unbekannten Musik bis hin zum „Brüllen“ der Menge anstandslos umgesetzt.

Der „Blutrichter“ zeigt die unheimliche Einsamkeit der Macht

Sobald es um die Rolle von Einzelnen im Getriebe der Revolution geht, wird Stones Regieansatz unschärfer, zeichnet am ehesten noch Robespierre als einsamen Gesinnungstäter durch: Stephen Chaundy färbt seinen Tenor schneidend-gequält, um die eisige Tugend-Ideologie eines Mannes darzulegen, der eine Welt zurücklässt, die er mit den Worten der Bibel für das Chaos vor der Schöpfung beschreibt: wüst und leer. Die unheimliche Einsamkeit der Macht, die glaubt, sie mache sich nicht die Hände schmutzig: Während der Vorhang langsam fällt, zieht sich der „Blutrichter“ der Revolution Handschuhe über.

Szene aus dem zweiten Teil von "Dantons Tod" im Bühnenbild von Ulrich Schulz. Foto: Kirsten Nijhof

Szene aus dem zweiten Teil von „Dantons Tod“ im Bühnenbild von Ulrich Schulz. Foto: Kirsten Nijhof

Danton wird im puffigen Pink eines Vergnügungsetablissements als Epikureer eingeführt, für den „liberté“ wohl eher in Richtung eines Libertinismus zu lesen sei: Jeder möge seine Natur ausleben und auf diesem Wege selig werden. Zu wenig, um die markigen Ansprachen zu erklären, mit denen sich Peter Bording später mit beeindruckender deklamatorisch gefasster Stimmwucht zu verteidigen sucht. Johannes Stermann gibt als Saint-Just den „Mann aus dem Volk“, dessen todbringenden Einfluss auf Robespierre und das Tribunal er mit der Gelassenheit des Siegers ausspielt.

Auch Simon (Paul Sketris) ist eine zwielichtige Figur, die mit roter Mütze als Einpeitscher oder williges Echo durch die Szene geistert. Amar Muchhala bemüht sich nach Kräften, mit seinem schlank-klaren Tenor den Alpträumen des traumatisierten Camille Desmoulins im Gefängnis Ausdruck zu geben, wird aber szenisch von der Regie eher allein gelassen.

Eine Oper für Frauen ist „Dantons Tod“ wirklich nicht; dennoch war die Rolle der Lucile bei der Uraufführung in Salzburg mit Maria Cebotari prominent besetzt. In Magdeburg tritt Noa Danon in die Fußstapfen ihrer großen Vorgängerin und erfüllt die entscheidenden Szenen am Ende des dritten und des sechsten Bildes mit Stimmglanz und Gestaltungskraft. Wenn sie über den Leichen das alte Volkslied „Es ist ein Schnitter, der heißt Tod“ anstimmt, fasst sie das Elend des einzelnen Menschen angesichts des grässlichen Fatalismus der Geschichte in einem anrührenden Moment zusammen. Über ihr glänzen die Schlagworte der Revolution auf der Schneide einer riesigen Guillotine im Blut.

Handwerklich sattelfeste Musik

Gottfried von Einems Musik lässt hören, dass sich da jemand mit dem Studium des „strengen Kontrapunkts“ handwerklich sattelfest gemacht hat, bevor er dem Genius der Inspiration freien Flug zugestand. Die hochdifferenziert ausgearbeitete Partitur gebraucht die Mittel des Orchesters sich souverän beschränkend, kammermusikalisch filigran, aber auch mit Gewicht und Klangpracht, wenn es auf (falsches) Pathos oder aufgewühlte Massenszenen ankommt.

Kimbo Ishii und das Magdeburger Orchester widmen sich der Musik mit Klangsinn und Präzision, lassen hören, wie sich von Einem der tonalen Tradition zugehörig fühlt, aber sich auch die Freiheit zu einer Moderne nimmt, die sich nicht an den damals tonangebenden Richtungen zeitgenössischer Musik orientiert.

Schöne Melodie für zwei Henker

Die schönste Melodie erfindet von Einem für die beiden Henker (Frank Heinrich und Alejandro Muñoz Castillo), die nach getaner Arbeit nach Hause gehen: Ganz „normale Männer“, die den schönen Mond besingen – so wie die Hunderttausende von Tätern des Dritten Reiches. Ein Hinweis auf die Gefährlichkeit des deutschen romantischen Gefühls, der schaudern lässt.

Von Einems Oper ist ein Werk kultivierter Autoren für ein gebildetes Publikum, ein kaum dramatisch motiviertes Philosophieren in Musik. Der Hunger nach Geist hat im Jahr 1947 dieses Werk sicher mit Sehnsucht begrüßt. Dass diese Reflektion über die Bedingungen und Grenzen der Freiheit und der an Büchner angelehnte fatalistische Blick auf den Lauf der Geschichte in den achtziger und neunziger Jahren aus der Zeit gefallen schien, ist verständlich. Heute, mit dem Plärren des „Volks“ im Hintergrund, blitzt in „Dantons Tod“ wieder eine Zeit-Aktualität auf, die es lohnend macht, sich jenseits einer Gedenkveranstaltung zum 100. Geburtstag eines verdienten Autors mit dem Stück zu beschäftigen.

Magdeburg war der mutige Vorreiter – die bisher einzige deutsche Bühne, die sich in dieser Spielzeit an von Einem gewagt hat. Es folgt noch „Der Besuch der alten Dame“ in Radebeul am 26. Mai. Wien würdigt von Einem mit der Premiere von „Dantons Tod“ an der Staatsoper am 24. März und von „Der Besuch der alten Dame“ im Theater an der Wien am 16. März 2018.




Kein dürres Gedenkdatum: Was mir der Élysée-Vertrag und die deutsch-französische Freundschaft persönlich bedeuten

Da durften wir uns noch kohlrabenschwarz anmalen: Lang zurückliegender deutsch-französischer Moment. (Foto: pivat)

Da durften wir uns noch kohlrabenschwarz anmalen: Lang zurückliegender deutsch-französischer Moment. (Foto: pivat)

Was sehe ich denn da im Gedenktagekalender? Der deutsch-französische (oder auch französisch-deutsche) Élysée-Vertrag jährt sich heute zum 55. Mal? Für mich ist das kein abstraktes Datum aus ferner Vergangenheit. Es ist mit persönlicher Bedeutung angefüllt. Lasst mich kurz davon erzählen.

Der französische Staatspräsident Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer unterzeichneten das historische Vertragswerk am 22. Januar 1963. Damit wurde die fürchterliche „Erbfeindschaft“ zwischen beiden Ländern, die in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts so viele Menschenleben kostete, höchst offiziell und feierlich beendet. Und es blieb gottlob keine bloße Symbolik.

Tatsächlich herrscht seit 1945 und erst recht seit 1963 dauerhafter Frieden zwischen diesen beiden Völkern, etwaige Konflikte klärt man zeitnah bei regelmäßigen Konsultationen. Dabei spielt es bisher keine Rolle, welche Regierung jeweils am Ruder ist. Und die europäische Einigung wäre ohne Frankreich und Deutschland nicht so immens vorangeschritten – mancherlei Mängel inbegriffen, von denen wir aber jetzt einmal absehen wollen.

Dortmund verkündete schon 1960 Partnerschaft mit Amiens

Im Gefolge des Vertrages gab es nicht nur zahlreiche Jugendbegegnungen zwischen beiden Ländern, es entstanden auch etliche Städtepartnerschaften. Dortmund war ganz früh mit von der Partie, schon vor dem Élysée-Vertrag. Man knüpfte Verbindungen zu Amiens und proklamierte die Partnerschaft bereits 1960. Just aus Amiens kamen die Kinder, mit denen fortan viele Dortmunder Kinder- und Jugendgruppen einige Wochen der Sommerferien verbrachten. Ich durfte mehrmals dabei sein. Schon kurz nach der Anfangsphase. Welch ein Glück des Beginnens.

Urlaub mit meinen Eltern habe ich so gut wie gar nicht erlebt, höchstens mal ein paar Tage an der holländischen Küste oder in der Eifel. An Fliegen oder gar Fernreisen war noch nicht zu denken, ein eigenes Auto hatten wir damals auch nicht. Statt dessen ging’s – erstmals mit elf Jahren – mit dem Bus auf deutsch-französische Gruppenreisen, zunächst dreimal nach Mollseifen im Sauerland, später nach Rieseberg/Königslutter (Niedersachsen), einmal auch nach Sanary in Süfrankreich und nach Marina di Massa in Italien.

Wie Pfadfinder am Lagerfeuer - die französischen Jungs Jacques, Eric und Marc aus Amiens. (Foto: privat)

Nach Pfadfinder-Art am Lagerfeuer: die französischen Jungs Jacques, Eric und Marc aus Amiens. (Foto: privat)

Herrliches Gemeinschaftserlebnis

Sauerland klingt für heutige Begriffe vielleicht langweilig, war aber als Gemeinschaftserlebnis wunderbar und teilweise abenteuerlich nach Pfadfinder-Art. Allein die Schnitzeljagden, Budenbauten und Indianerspiele in den Wäldern… Ich will nicht behaupten, dass man davon bis heute zehrt. Aber unvergesslich sind so manche Augenblicke doch. Und es will mir scheinen, als sei dies noch wirkliche Kindheit gewesen.

Leider hatten wir anfangs in der Schule noch keinen Französisch-Unterricht, so dass die Kommunikation überwiegend nonverbal erfolgen musste. Doch wie gut das unter uns Kindern ging! Für Zweifelsfälle waren da ja auch noch ein sprachkundiger „Moniteur“ bzw. eine „Monitrice“ (GruppenleiterIn). Wenn wir zusammen durch die Wälder streiften, hitzige Wettspiele austrugen, miteinander malten oder einander Lieder aus dem jeweiligen Land vorsangen, spielte Sprache eh nur eine Nebenrolle.

Die Jungs aus Frankreich waren galanter

Mit der Zeit bemerkten wir auch Unterschiede, die teilweise den Klischees entsprachen: Gleichaltrige französische Jungs waren einfach „früher dran“ und entschieden frecher, was den galanten Umgang mit Mädchen anbelangte; die französischen Mädchen wiederum hatten – wie soll man sagen – vielfach mehr Geheimnis und schon früh etwas Apartes, Anmutiges. Oder war’s eher das lockende Unbekannte, das einen verwirrte? Allein, dass sie mit so wohlklingenden Lauten sprachen, deren Wortsinn sich einem nicht erschloss. Jedenfalls glaube ich, dass aus der Zeit meine – und nicht nur meine – spätere Vorliebe für französische Filme (Truffaut, Rohmer, Rivette etc.) herrührte. Ja, in jenen Ferienzeiten erfuhren wir vielleicht einen Hauch von Nouvelle Vague…

Ich erinnere mich an jenen Tag, als abends „Teppichtanz“ gespielt wurde, in dessen Verlauf man sich unschuldige Küsschen geben durfte. Doch schon das brachte uns ca. Dreizehnjährige einigermaßen in (bestenfalls halbwegs begriffene) Wallung. Sagte nicht eine Monitrice nach Ende des Spiels zu ihrem Kollegen, das habe uns wohl zu sehr aufgeregt? Was sie wohl gemeint hat? Wenn Adenauer und de Gaulle geahnt hätten, was sie uns da beschert haben… Adenauer hätte vielleicht mit rheinischem Zungenschlag einen seiner Lieblingssätze gesagt: „Meine Herren, die Situation ist da…“

„Hitler – c’est fini…“

Und der Krieg? War anfangs noch keine 20 Jahre her, spielte aber unter uns Kindern praktisch keine Rolle mehr. Alles schmeckte so herrlich nach Neuanfang. Einmal sagte ein kleiner Franzose mit plötzlichem Ernst zu uns: „Hitler (sprich: „Itlère“) – c’est passé, c’est fini!“ Hatten sie ihm zu Hause wohlmeinend aufgetragen, das zu sagen? Egal. Jedenfalls haben wir ihn verstanden und waren wirklich erleichtert.

Diese bedeutsamen kleinen Momente. So unscheinbar, doch noch nach Jahrzehnten präsent.




Hochstapler und ehrbarer Kaufmann – spannungsreiche Gegenüberstellung im Verlag „Das kulturelle Gedächtnis“

Es sind die Porträts zweier gegensätzlicher Charaktere, die hier zwischen denselben zwei Buchdeckeln zusammengebracht werden: Erich Wulffens Psychologie des Hochstaplers von 1923 und Oswald Bauers klassisches Handbuch Der ehrbare Kaufmann und sein Ansehen, das zuerst 1906 erschienen ist.

Um diese beiden Wiederentdeckungen in dem Rahmen zu würdigen, in dem sie jetzt neu erscheinen, sei kurz auf den Verlag hingewiesen. Er heißt Das kulturelle Gedächtnis, und der Name ist Programm. Das Ziel der Kuratoren ist, wie es im ersten Verlagsprogramm heißt, „notwendige Bücher der Literatur- und Kulturgeschichte neu zu verlegen – um so schon gemachte Erfahrungen einzubringen, erreichte Standards des Denkens und Schreibens hochzuhalten.“

Dieses anspruchsvolle Programm verantworten vier Kenner, die im Literaturbetrieb langjährige Erfahrungen gesammelt haben: Thomas Böhm, Peter Graf, Carsten Pfeiffer und Tobias Roth. Im Frühjahr 2017 ist diese schöne Buchreihe zum ersten Mal in Erscheinung getreten, mit einer Neuveröffentlichung von Voltaires Tragödie Le Fanatisme ou Mahomet le prophète, die 1741 uraufgeführt wurde und 2017 in einer neuen Übersetzung von Tobias Roth unter dem Titel Der Fanatismus oder Mohammed erschienen ist.

Fake News von 1835, Flüchtlingsschicksal von 1754

Eine weitere historische Veröffentlichung im selben Verlagsprogramm, die an Aktualität nichts zu wünschen übrig lässt, liefert ein frühes Beispiel für Fake News: Die astronomische Entdeckung von Bewohnern des Mondes, heute eine allzu leicht zu durchschauende Lügengeschichte, die aber 1835 mit einem vorgeblich wissenschaftlichen Garanten die Auflage der New York Sun in die Höhe schnellen ließ.

Ein Flüchtlingsschicksal beschreibt ein drittes Buch aus dem Verlagsprogramm: Bereits der lange Weg zur Küste hat das aufgesparte Geld verzehrt; Gebühren, Bestechungsgelder für Schlepper, überteuerte Camps mit Massen an Ausreisewilligen. Einige ertrinken oder werden auf der Überfahrt verhungern, an Krankheiten und Auszehrung sterben – das Buch heißt Reise in ein neues Leben und handelt von dem Schwaben Gottlieb Mittelberger, der sich 1754 auf den Weg nach Amerika aufmachte.

Als Walt Whitman den Schmelztiegel New York pries

Mit dem zweiten Verlagsprogramm im Herbst 2017 folgte die deutsche Erstveröffentlichung eines Romans von Walt Whitman. Der Autor ist vor allem durch sein Hauptwerk Leaves of Grass (dt.: Grasblätter) bekannt. Sein 1852 anonym erschienener Roman Life and Adventures of Jack Engle jedoch konnte erst 165 Jahre nach seiner Veröffentlichung dem richtigen Autor zugeordnet werden und erschien 2017 unter Whitmans Namen erstmals auf Englisch und in deutscher Übersetzung durch Stefan Schöberlein unter dem Titel Das abenteuerliche Leben des Jack Engle. Walt Whitman lobpreist in der Romanhandlung die multikulturelle Metropole New York als einen Schmelztiegel, in dem Menschen aus allen Nationen zusammenhalten, um einen Schwachen gegen die Übermacht der Herrschenden zu verteidigen.

Ebenfalls im Herbst erschien neu Ernst Ottwalts Justizroman Denn sie wissen was sie tun, über dessen Protagonisten Kurt Tucholsky 1932 schrieb: Er „ist das Produkt von Erziehung, Kaste und System. Es ist gut gesehen, wie die Rädchen des großen Unrechtgetriebes ineinander greifen, Akte auf Akte, Paragraph auf Paragraph, (…) und zum Schluss ist es keiner gewesen.“ Ein Schelm, wer dabei an aktuelle Gerichtsverfahren denkt.

Gelassenheit, Widerborstigkeit, Liebe zur Buchkunst

Aber die Gruppe der vier Kuratoren belässt es in ihrem Verständnis vom kulturellen Gedächtnis nicht bei einem bequemen Alles-schon-mal-Dagewesen. Sie wollen die Erfahrungen der Vergangenheit für die Gegenwart nutzbar machen, und neben den sich aufdrängenden Parallelen zur Jetztzeit werden auch die historischen Unterschiede und Entwicklungen deutlich. „Dieses Ziel verfolgen wir mit heiterer Gelassenheit, Widerborstigkeit und mit Liebe zur Buchkunst.“

Gegensatz zwischen Diplomatie und Duell

Innerhalb der ohnehin nicht hoch genug zu lobenden Initiative dieser Verlagsgründung soll an dieser Stelle ein Buchformat besonders in den Fokus gerückt werden: die von Thomas Böhm konzipierte und kuratierte Reihe GEGENSCHUSS. Es geht darum, größte denkbare Gegensätze in einen Band zusammenzubringen, der sich von zwei Richtungen aus lesen lässt. Im Programm aus dem Frühjahr 2017 waren das ein Standardwerk der internationalen Diplomatie und eine Schrift über die Regeln des Duells.

Diplomatie oder Duell – gibt es in der Weltpolitik ebenso wie in jedermanns Alltag wichtigere Entscheidungsfragen? Jules Cambons Buch Der Diplomat, erstmals auf Deutsch 1925 erschienen, möchte man manchem Grobian und jedem Autokraten auf den Nachttisch legen. Und wo der Kampf unausweichlich erscheint, lädt Franz von Bolgárs Schrift von 1880 auf konzentrierten 60 Seiten immerhin dazu ein, Die Regeln des Duells – so der Buchtitel – zu beachten.

Was war nach den Diplomaten und Duellanten als nächstes brisantes Gegensatzpaar vorstellbar? Der Kurator hat sich für den Hochstapler und den ehrbaren Kaufmann entschieden.

Betrug mit theatralischen Qualitäten

Erich Wulffen, ein Kriminologe und Staatsanwalt, der schon früh seine Liebe zum Theater entdeckte und seinen Wunschberuf des Schriftstellers neben der vom Vater empfohlenen Juristenkarriere verwirklichen konnte, legte 1923 mit Psychologie des Hochstaplers eine erfahrungsgesättigte Charakterstudie jenes oftmals renommiersüchtigen, dabei jedoch andere Menschen für sich einnehmenden und sehr oft mit schauspielerischem Talent ausgestatteten Ganoventyps vor. Als Theaterliebhaber wusste Wulffen den dramaturgischen Aspekten der von ihm geführten Prozesse viel abzugewinnen. Vergleiche mit der Bühnenwelt durchziehen sein Hochstapler-Buch, in dem der „Hochstapelei und Literatur“ ein eigenes Kapitel gewidmet ist.

Die Elite der Gaunerwelt – wie ein anderes Buch mit Hochstapler-Geschichten heißt – verfügte immer schon über einen hohen Unterhaltungsfaktor. Felix Krulls Erben genießen weitgehende Sympathie, sind doch ihre Opfer ihnen oft gar nicht so unähnlich – Menschen mit Imponiergehabe oder solche, die sich von geringem Einsatz große Gewinne versprechen.

Hochstapelei basiert oft auf Hochbegabung

Es sind oftmals Hochbegabte, denen eine entsprechende Ausbildung verwehrt blieb, um in den Berufen arbeiten zu können, die auszuüben sie als Hochstapler vorgeben. Als ein aktuelleres Beispiel, das Wulffen in sein kriminologisches Pionierwerk freilich nicht einbeziehen konnte, erinnern wir uns an Gert Postel, einen ehemaligen Briefträger, dem es mit gefälschten Diplomen gelang, Oberarzt in einem Psychiatrischen Krankenhaus zu werden, in diesem Beruf hohes Ansehen bei den Kollegen – den Ärzten, nicht den Hochstaplern – genoss und der nach abgebüßter Haftstrafe als Bestsellerautor und als (nicht von allen) gern gesehener Gast in Talkshows reüssierte.

Zu Wulffens Zeitgenossen dagegen gehören unter anderem Ignatz Strassnoff, der 1926 seine auch später noch mehrfach aufgelegten Memoiren veröffentlichte, und Georges Manolescu, den – wie Stephan Porombka ihn nennt – „erste(n) Star der Branche“, mit dem Erich Wulffen lange Zeit eine briefliche Korrespondenz führte. Wulffen porträtiert die Personen, über die er als Staatsanwalt zu richten hatte, mit der Sympathie, die Roman- oder Theaterautoren für die von ihnen entwickelten Charaktere aufbringen, und geht bei der Hochstapelei von einem in allen Menschen angelegten Talent aus. Längere Abschnitte seiner Studie beschäftigen sich mit dem Hochstapler im Kind.

Warnung vor den Tücken der Handelswelt

Nach den abenteuerlichen Geschichten, die sich um die Psychologie des Hochstaplers gruppieren, könnte man vom ehrbaren Kaufmann ein weniger spannendes Leseerlebnis erwarten. Dem ist nicht so. Die Lektüre Oswald Bauers kann besonders dann aufregend werden, wenn sich beim Lesen des kaufmännischen Ehrenkodex‘ zahlreiche Negativbeispiele heutiger Marketing-Praktiken aufdrängen. Dass diese aber keine Erfindungen unserer Zeit sind, macht der historische Text von 1906 ebenso deutlich.

Bauer benennt die „Chikanen“, die von einzelnen Handelspartnern ausgehen können, und muss neben seinen Ausführungen zum guten Stil der kaufmännischen Korrespondenz mit Bedauern auch auf Beispiele eines impertinenten, auf Preisdrückerei angelegten Geschäftsgebarens zu sprechen kommen. Die Übergänge vom aggressiven Wettbewerb zum Betrug am Kunden sind fließend. Wem würden zu dem Thema keine Schlagzeilen aus den letzten Wochen und Monaten einfallen?

Nervöse Zeiten durch „das Telephon“

Es geht Oswald Bauer um das Ansehen des Kaufmannsstands, die Diskrepanz zwischen der äußeren Wahrnehmung und dem inneren Ehrbegriff, um Anstand, Redlichkeit, kurz, was man den Charakter nennen könnte. Kulanz ist ein Schlüsselbegriff, wenn die Überzeugung, im Recht zu sein, mit den als ungerechtfertigt empfundenen Forderungen des Vertragspartners kollidiert. Kulanz, um die Selbstachtung zu wahren, Stärke des Gewährens statt der Schwäche des Verlierens.

Für einen Kaufmann erstaunlich genug, warnt Bauer vor einer „Überschätzung materieller Glücksgüter sowohl, wie von Ehren, Rang und Würden.“ In der Geschäftigkeit sieht er Gefahren wie die allgemein zunehmende Nervosität, die er als die Krankheit der Gegenwart und als Krankheit der Zukunft erkennt. Leichte Erregbarkeit, Jähzorn, Müdigkeit und ein chronischer Mangel an Zeit, dem das letzte Kapitel gewidmet ist.

Über die Nervösen, Ausgebrannten, Depressiven schreibt Bauer: „Sie erfüllen die Anforderungen des Lebens, aber unter Kämpfen; ihre Intelligenz befähigt sie vielleicht zu großen Leistungen, aber ihre Organisation versagt ihnen Kraft und Zähigkeit; sie sehen, was andere sehen, aber wie durch ein gefärbtes Glas; sie gleichen ihrer Umgebung und sind doch fremd in ihr.“

Und er fügt eine ebenso zeitgenössische wie zeitgemäße Beobachtung hinzu: „En passant wollen wir eine nervös machende Errungenschaft der Neuzeit, das Telephon, nicht vergessen.“

Nachworte stehen in der Mitte

In einem „Zwischenspiel“ genannten Nachwort spannt Thomas Böhm einen zeitlich weiten, jedoch auf 7 Seiten komprimierten, Bogen von Plutarch über Beispiele aus dem Mittelalter, dem Humanismus bis zu modernen Standardwerken zur Volks- und Betriebswirtschaft, und hebt besonders ein Postulat aus Bauers Schrift hervor: „daß wir im weiteren Sinne zuerst Mensch und dann erst Mann des Geschäftes sein sollen.“

Die Nachworte zu beiden Büchern treffen sich in der Mitte des Bands, wo Thomas Böhm ihre Verbindung herstellt – nicht zuletzt durch einen Hinweis auf die Finanzmärkte, die sich von dem Kaufmannsideal, wie Oswald Bauer es beschreibt, komplett abgekoppelt haben und damit der Fiktion, der Hochstapelei, die Schleusentore öffnen.

Oswald Bauers Regelwerk des ehrbaren Kaufmanns von 1906 gehört ebenso zu den notwendigen Büchern wie Wulffens Charakterzeichnung des Hochstaplers. Beide behandeln auf unterschiedliche Weise entscheidende Fragen unserer Gegenwart. Wir dürfen gespannt sein auf das Programm des Frühjahrs 2018.

Erich Wulffen: „Der Hochstapler“ vs Oswald Bauer „Der ehrbare Kaufmann“ (Reihe: Gegenschuss, Band 2). Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, Berlin. 256 Seiten, 22 Euro.

Mehr Informationen zu den anderen genannten Büchern aus dem Verlag über: www.daskulturellegedaechtnis.de
Alle Abbildungen in diesem Beitrag: © Verlag „Das kulturelle Gedächtnis“

Zwei andere kursiv gesetzte Buchtitel beziehen sich auf:

Egon Larsen: Hochstapler. Die Elite der Gaunerwelt. Hamburg, 1984
Stephan Porombka: Felix Krulls Erben. Die Geschichte der Hochstapelei im 20. Jahrhundert. Berlin, 2001

In der Rezension erwähnt, aus Gründen der besseren Lesbarkeit jedoch nicht mit bibliographischen Daten im Text angegeben:

Gert Postel, Reiner Pfeiffer: Die Abenteuer des Dr. Dr. Bartholdy – Ein falscher Amtsarzt packt aus. Bremen, 1985
Gert Postel: Doktorspiele – Geständnisse eines Hochstaplers. Frankfurt am Main, 2001
Ignatz Strassnoff: Ich, der Hochstapler Ignatz Strassnoff. Berlin 1926




Fördertürme als prägende Bauten einer ganzen Region – Rolf Arno Spechts Fotoband „Kathedralen im Revier“

Wie schon hie und da gesagt: Im Revier wird heuer allerorten der Zechen-Vergangenheit gedacht, denn die hier so lange prägende Ära der Steinkohle endet im Dezember 2018 mit Schließung der allerletzten Schachtanlagen.

Der Zusammenschluss der RuhrKunstMuseen wird ebenso seinen Ausstellungs-Reigen beisteuern, wie beispielsweise das Ruhr Museum (Essen) und das Deutsche Bergbaumuseum (Bochum), die mit einer gemeinsamen Schau groß ins Geschehen einsteigen. Überdies gibt es einschlägige Film- und TV-Dokus, literarische Aufarbeitungen und Sachbücher zum Themenkreis. Womit wir sicherlich noch nicht alle Sparten genannt haben. Wird vielleicht auch irgendwo eine Zechenoper aufgeführt?

Im Essener Klartext Verlag, der seit einigen Jahren zur Funke Mediengruppe gehört, ist jetzt ein Bildband erschienen, der die Fördertürme in den Mittelpunkt stellt, sein nicht gar zu origineller, jedoch treffender Titel lautet „Kathedralen im Revier“. Tatsächlich ist der sakrale Bezug nicht so weit hergeholt, die imposanten Industrie-Ensembles können es an Wucht und Pathos mit so manchem Kirchenbau aufnehmen. Übrigens gibt es auch eine Art heimliches Pathos der Sachlichkeit.

Manche Motive zeigen sich so nur sehr selten

An Begleittexten wird bis zum Punkt der Kargheit gespart. Ein knappes Grußwort und ein ebenso kurzes Vorwort sowie ein paar Zwischenrufe müssen reichen. Die Bilder des 1969 in Marl geborenen Fotografen Rolf Arno Specht, im gesamten Ruhrgebiet zwischen Duisburg/Dinslaken im Westen und Hamm/Ahlen im Nordosten entstanden, sprechen ja auch weitgehend für sich. Der Mann muss sich wahrlich intensiv und extensiv mit seinem Thema befasst haben. Bestimmte Motive hat er nach eigenem Bekunden auf diese Weise bestenfalls einmal im Jahr aufnehmen können, als Wetter, Lichtverhältnisse und Perspektiven exakt seinen Vorstellungen entsprachen.

Für die relativ wenigen Untertage-Fotos hat Specht – wegen der Explosionsgefahr – keine womöglich Funken auslösende Digital-Ausrüstung verwenden können, auch Belichtungsmesser und Autofokus waren nicht erlaubt. Althergebrachte fotografische Tugenden und Fähigkeiten waren also unabdingbar.

Bauten im dichten Nebel und bei Sonnenuntergang

Der Band beginnt mit einer ganzen Reihe von Aufnahmen im ungemein dichten Nebel, welcher an den einst alltäglichen Smog gemahnt, der oft durchs ganze Ruhrgebiet waberte. Nur schemenhaft tauchen die imposanten Bauwerke zunächst auf; ganz so, als müssten sie erst noch einmal behutsam ans Tageslicht geholt werden und als müsse man der Erinnerung vorsichtig aufhelfen. Oder ist just schon das Gegenteil der Fall: Entschwinden die Gebäude etwa schon in die Gefilde des Vergessens? Doch hoffentlich nicht.

Des weiteren sieht man Bilder zur Einbettung der Zechengerüste in (Stadt)-Landschaften, aus denen sie gleichsam erwachsen und über die sie sich – zuweilen geradezu majestätisch – erheben.

Eine weitere Reihe zeigt Fördergerüste im Licht von Sonnenuntergängen bzw. Sonnenaufgängen, dabei kommt etwas beinahe Überirdisches oder Magisches ins Spiel. Schließlich folgen noch einige Luftbilder, die abermals die herausragenden Plätze der Fördertürme in den diversen Stadtlandschaften markieren. Tatsächlich sind es architektonische „Auftritte“, wie man sie sonst von Sakralbauten kennt.

Imposante Signaturen von Heimat und Identität

Man erfährt noch einmal ein- und nachdrücklich, wie sehr diese Bauten das Bild der ganzen Region bestimmt haben, so dass sie natürlich unbedingt denkmalwürdig sind; vielleicht nicht jedes einzelne Ensemble, aber doch etliche von ihnen. Und ja: Das alles hat mit Begriffen wie Heimat und Identität zu tun. Vieles andere ist im Revier ja mittlerweile so ähnlich wie in anderen Gegenden. Aber eine Zechenlandschaft haben sie in München, Berlin, Hamburg oder Frankfurt eben nicht, ja noch nicht einmal im nahen und mental doch so fernen Düsseldorf.

Der Erhalt der Gebäude und möglichst vielfältiges neues Leben an diesen einstigen Stätten härtester Arbeit sind wichtige Aufgaben der Revierstädte und der Ruhrkohle AG (RAG), die über ihre millionenschwere Stiftung ja auch mancherlei technische „Ewigkeitskosten“ zu tragen hat, damit das von Bergsenkungen durchzogene Revier nicht „absäuft“.

Einige Gerüste wanderten von Stadt zu Stadt

Das Buch schließt mit einer schnellen „Bestandsaufnahme“ über alle noch existierenden Fördertürme – insgesamt 125, wenn ich richtig mitgezählt habe. Diesen Überblick hätte man sich noch ein wenig ausführlicher gewünscht.

Doch auch so lernt man im Schlussteil, dass im Gefolge des Bergbau-„Wanderzirkus'“ dieses oder jenes Fördergerüst schließlich noch den Ort gewechselt hat. So stand etwa das Wahrzeichen des Deutschen Bergbaumuseums Bochum einst an der Dortmunder Zeche Germania, während wiederum die heute an der Dortmunder Zeche Zollern II/IV“ aufragenden Türme früher zu Schachtanlagen in Gelsenkirchen bzw. Herne gehört haben. Aus heutiger Sicht nicht zu fassen: Die gesamte Zollern-Anlage, heute Zentrale des Westfälischen Industriemuseums, sollte ursprünglich komplett abgerissen werden. Deshalb fehlen die Original-Fördergerüste, denn der Akt der Barbarei hatte schon begonnen.

Rolf Arno Specht: „Kathedralen im Revier. Zechenlandschaft Ruhrgebiet“. Klartext Verlag, Essen. 176 Seiten Bildbandformat, Hardcover, durchgehend farbig. 24,95 Euro.




Vom fernen Freigeist fasziniert – Werner Streletz‘ Versuch über den französischen Dichter Robert Desnos

Man tritt dem Bochumer Autor Werner Streletz wohl nicht zu nahe, wenn man ihn einen fleißigen, produktiven Schreiber nennt.

2011 erschien „Volkers Lied der Nibelungen. Eine Annäherung“, 2013 der Roman „Rohbau“, 2014 „Gewaltig endet so das Jahr. Meine Tage mit Georg Trakl“. 2016 folgte wiederum ein autobiographisch getönter Roman: „Rückkehr eines Lokalreporters“.

Im Umkreis des Surrealismus

Und nun liegt, noch 2017 erschienen, ein freilich nur 66 Seiten schmaler Band mit dem Titel „Der freieste aller Dichter vor“, der als Novelle firmiert und in dem Streletz Annäherungsversuche an den französischen Dichter Robert Desnos (1900-1945) unternimmt.

Streletz ist geradezu getrieben vom Impuls, zumal in der Literatur-, Theater-, Film- und Rockmusik-Geschichte Geistesverwandtschaften aufzuspüren oder – wer weiß – vielleicht auch erst zu kreieren. Nun also Robert Desnos, der vor allem als sprühend inspirierter Lyriker im Umkreis der Pariser Surrealisten auftrat, sich aber von deren selbsternanntem „Papst“ André Breton keineswegs vereinnahmen ließ und auch dessen kommunistische Orientierung nicht teilte.

„Der freieste aller Dichter“

Unterdessen verdingte sich Desnos als durchaus fähiger Journalist und „Werbefuzzi“, um mit Streletz zu reden. Das Ehrenzeichen, „der freieste aller Dichter“ zu sein, bekam Desnos vom Schriftstellerkollegen Paul Eluard angeheftet.

Werner Streletz zeigt sich durchweg angetan, ja fasziniert vom französischen Freigeist und imaginiert die eine oder andere Begegnung mit diesem „Sekretär des Unbewussten“ – nach dem Leitmotto „Wenn ich ihn gekannt hätte…“ Es ist, als wolle sich der Bochumer partout eines weiteren Vorläufers oder zumindest Anregers versichern.

Einmal verfassen die beiden sogar quasi ein Gedicht miteinander, genauer: Der Bochumer ermuntert Desnos, in einer schwachen Stunde wieder in seine literarische Spur zu finden. Zuweilen fallen Streletz zu Begebenheiten aus Desnos‘ Biographie eigene Erinnerungen aus der Ruhrgebiets-Kindheit ein. So beispielsweise, wenn es um die Angst vor dem eigenen Vater geht.

Nicht alles will sich zueinander fügen

Doch nicht immer will sich das wirklich zueinander fügen. Manches wirkt eher wie zwanghaft herbeigeschrieben. Die Lebensläufe lassen sich natürlich nicht ohne weiteres miteinander kurzschließen. Und man fragt sich im Lauf der Lektüre, ob Werner Streletz vielleicht gerade auch die Schwierigkeit herausstellen wollte, sich solch einer literarischen Gestalt tatsächlich zu nähern. Der unentwegt betonte Modus des „Es wäre möglich, dass…“ würde sich somit teilweise als illusorisch erweisen.

Robert Desnos mit seiner Gefährtin Youki Foujita im Jahr 1933. (Foto: Archives Desnos / Menerbes - public domain / gemeinfrei bei Wikimedia Commons)

Robert Desnos mit seiner Gefährtin Youki Foujita im Jahr 1933. (Foto: Archives Desnos / Menerbes – public domain / gemeinfrei bei Wikimedia Commons)

Es ist eine manchmal geradezu leichtfertige, dann aber auch wieder recht mühselige Annäherung, in deren Verlauf Streletz zuweilen auch sprachlich sehr vorsichtig tastend und manchmal geradezu umständlich zu Werke geht. Hie und da droht er sich in Zeitebenen und konjunktivischen Formen geradewegs zu verheddern. Ein literarischer Draufgänger ist er nicht; eher schon einer, der sich immerzu in Frage stellt.

Tod im KZ Theresienstadt

Etwa in der Mitte des Textes ist es aufs Schrecklichste vorbei mit der einst herrlich behaupteten Freiheit der Kunst und des Künstlers. Die Nazi-Truppen sind in Frankreich einmarschiert und können sich auch auf Denunzianten und Kollaborateure stützen. So kommt es, dass auch Robert Desnos, der für die Résistance im Untergrund gearbeitet und zuvor mit der Japanerin Youki Foujita ein privates, jedoch auch öffentlich zelebriertes Glück gefunden hat, verhaftet und nacheinander in verschiedene Konzentrationslager deportiert wird. Kurz nach der Befreiung des Konzentrationslagers Theresienstadt stirbt Desnos dort unter absurd tragischen Umständen am 8. Juni 1945.

Überflüssig zu sagen, dass eine „Annäherung“ an den französischen Dichter mit dieser Zeit in der Hölle noch unendlich problematischer, wenn nicht vollends unmöglich wird. Was zuvor streckenweise mühselig erschien, wird nun in jeder Hinsicht quälend.

Im letzten Satz der Novelle (wir wollen hier nicht über Gattungs-Definitionen streiten) schwingt denn auch leise Resignation mit: „Seltsam eigentlich, dachte ich: Vielleicht ist das alles doch schon zu lange her.“

Werner Streletz: „Der freieste aller Dichter. Unterwegs mit Robert Desnos“. projekt verlag, Bochum/Freiburg. 66 Seiten. 12,80 Euro.

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Nachspann

P.S.:

Eine heitere Gedichtprobe von Desnos, die in Streletz‘ Buch zitiert wird und von Morgenstern oder Ringelnatz stammen könnte – oder auch von Villon:

Der Pelikan

Der Kapitän Jonathan
Fing schon mit 18 Jahr’n
Eines Tages einen Pelikan
Auf einer Insel im Ozean.

Der Pelikan von Jonathan
Legt morgens ein schneeweißes Ei,
Und daraus schlüpft ein Pelikan
Der ihm erstaunlich gleicht.

Und dieser zweite Pelikan
Legt auch ein schneeweißes Ei,
Aus dem schlüpft unvermeidlich dann
Ein neuer und tut es ihm gleich.

Ich glaub, dass dies so ewig währte,
wenn man sie nicht vorher als Omelett verzehrte.

P.P.S.:

Zufallsfund während der Streletz-Lektüre: „Der freieste Schriftsteller aller Zeiten“ war – nach dem Urteil von Friedrich Nietzsche – übrigens (auch) Laurence Sterne („Tristram Shandy“), ein unübertroffener Großmeister der Abschweifungen.

P.P.P.S.:

Und noch ein Fund, verzeichnet im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek; eine ausgesprochene Rarität, sogar mit Ruhrgebiets-Bezug: Anno 2008 ist in der von Louis Flamel betriebenen Dortmunder edition alicorn ein druckgraphisches Mappen-Buch über Robert Desnos erschienen: „L’étoile de mer oder die Sirene des Schlafs. Robert Desnos & Louis Flamel“. edition alicorn. Trémoigne (= Dortmund) 2008.

 




„Manapouri“ – Marcel Schwobs Briefe von einer Reise nach Samoa am Beginn des 20. Jahrhunderts

In den Jahren 1901/1902 unternahm der französische Schriftsteller Marcel Schwob (1867–1905) auf den Spuren des von ihm verehrten Robert Louis Stevenson eine Reise in die Südsee. Die Briefe, die er von dieser Seereise an seine geliebte Frau, die erfolgreiche Schauspielerin Marguerite Moreno, schrieb, wurden nun erstmals in deutscher Übersetzung im Elfenbein Verlag veröffentlicht.

In den Pariser Schriftstellerzirkeln der 1890er-Jahre um Stéphane Mallarmé, André Gide, Paul Valéry, Alfred Jarry, Paul Claudel, Colette und Jules Renard galt Marcel Schwob wegen seiner außergewöhnlichen Sprachbegabung, stilistischen Brillanz und enormen Belesenheit als eine große Hoffnung der französischen Literatur.

In der kurzen Zeit zwischen 1891 und 1896 veröffentlichte Schwob jährlich mindestens einen Band mit Erzählungen, die meisten im Verlag Mercure de France; er übersetzte Shakespeare, Defoe, De Quincey und auch die Erzählung „Will o‘ the Mill“ von Robert Louis Stevenson. Seine Entdeckerfreude erstreckte sich ebenso auf englischsprachige Literatur wie auf ältere französische Dichtung. Mit seinem Korrespondenzpartner Robert Louis Stevenson verband ihn unter anderem ein starkes biographisches Interesse an François Villon. Ab 1896 aber wurde Schwob zunehmend zum Opfer einer nicht eindeutig diagnostizierten Krankheit, die ihn in die Abhängigkeit von Morphium brachte. Viele, vor allem wissenschaftliche, Arbeiten blieben Fragmente.

Auf den Spuren von Robert Louis Stevenson

Einer seiner Ärzte riet ihm zu einer längeren Seereise. Wie Stevenson, der eingangs seines 1896 posthum veröffentlichten Werks In der Südsee große Erwartungen an das der Gesundheit zuträgliche Klima der pazifischen Inselwelt formulierte, setzte auch Schwob alle Hoffnung in die Heilkraft einer längeren Südseereise.

Im Oktober 1901 schiffte er sich in Marseille ein; die Reise führte über Port Said durch den Sueskanal nach Dschibuti und weiter über Ceylon, wo Schwob bei einem vierzehntägigen Aufenthalt Gelegenheit hatte, die von Henry Cave beschriebenen Ruinenstädte zu besichtigen, nach Australien. Sein chinesischer Begleiter Ting durfte den Kontinent erst nach Zahlung einer sehr hohen Kaution betreten, die Schwob nur mit Mühe auftreiben konnte, wodurch die Weiterreise hier bereits zu scheitern drohte. Die Begegnung mit dem eigenwilligen Kapitän Crawshaw ermöglicht schließlich, dass er mit dessen Schiff „Manapouri“ die Insel Upolu erreicht, den letzten Wohnsitz des bereits 1894 gestorbenen Robert Louis Stevenson in Samoa.

Mit Worten malen

Schwobs Briefe legen Zeugnis ab, welch einen elaborierten Stil er auch in der privaten Form pflegte. Sie waren nicht zur Veröffentlichung vorgesehen, eventuell aber vom Autor als Vorarbeiten zu einem noch zu schreibenden Werk gedacht, das dann jedoch nicht mehr zustande kam.

Die sich bei einer langen Seefahrt wiederholenden Motive – Meer, Horizont, Wolken, gelegentlich die Silhouette eines entfernt gelegenen Landes oder einer Insel – beschreibt Schwob nuanciert und ohne sich zu wiederholen. Seine Sprachmalereien dürften auch beim Übersetzen ins Deutsche eine Herausforderung dargestellt, dem guten Ergebnis nach zu urteilen aber auch den besonderen Reiz einer solchen Aufgabe ausgemacht haben.

„Die fliegenden Fische um uns herum“

Ein Beispiel: „Das flüssige Himmelsufer aus düsterem Blau wird da und dort von Grisailleflächen unterbrochen, finsteren Dunstklippen, bei denen es sich um äquatorialen Regen handelt. Wo kein Wind weht, weint der Himmel lautlos auf die Erde. Die nördliche und die südliche Welt vermischen sich in der Trauer ihrer Sterne. Am Äquator ist das Meer auf ewig traurig und von Regen zerfurcht.“

Das Wenige, was abgesehen vom gesellschaftlichen Leben an Bord passiert, wird zum Ereignis: „Und dabei schwirren die fliegenden Fische um uns herum wie Schmetterlinge. Ein feuchter und silbriger Strich schnellt hoch, gleitet in einem langen Kuss knapp übers Wasser. Zehn, zwanzig, dreißig springen auf, stechen winzige Strudel ins glatte Meer. Arme kleine Fische mit so schweren Flügeln, die einem freudlosen Himmel entgegenstreben. Und der Regen prasselt; und das Meer erschauert von seinem unzählbaren Lachen hinter schweren Tränen.“

Verehrung und Krankheit

In Apia, der Hauptstadt Samoas, wird Schwob freundlich aufgenommen. Er beginnt, Samoanisch zu lernen, erhält eine Einladung des alten Königs Mataafa, der von Robert Louis Stevenson in Eine Fußnote zur Geschichte. Acht Jahre Unruhen aus Samoa (1892; deutsch: Achilla Presse, Hamburg, 2001) unter Samoas zerstrittenen Herrscherfamilien mit besonderer Sympathie bedacht worden war; eine Kava-Zeremonie wird ausführlich beschrieben.

Wie Stevenson erhielt auch Schwob von den Einheimischen den Namen Tusitala – der Geschichtenerzähler. Doch statt der erwarteten Genesung von seiner Krankheit verschlimmert sich sein Zustand. Eine Lungenentzündung überlebt er, in einer Hütte der hingebungsvollen Pflege durch einen jungen Einheimischen überlassen, nur knapp.

Sorgfältige Edition

Stevensons letztes Wohnhaus und sein Grab auf dem nahe der Hauptstadt Apia gelegenen Mont Veae konnte Marcel Schwob wohl nicht mehr besuchen. Erneut ist es Kapitän Crawshaw mit seiner „Manapouri“, der ihm weiterhilft und seine Rückreise ermöglicht. Im März 1902 erreicht Marcel Schwob Marseille, knapp drei Jahre später starb er im Alter von 37 Jahren.

Die eindrucksvolle Reisebeschreibung wird in der deutschen Ausgabe durch Schwobs 1894 erstmals erschienenen Essay zu Robert Louis Stevenson und durch vier Briefe Stevensons an Schwob aus den Jahren 1889–1894 bereichert. Der Übersetzer und profunde Schwob-Kenner Gernot Krämer, der zuvor im selben Verlag zwei andere Werke des Autors veröffentlicht hat (Das gespaltene Herz, 2005, und Der Kinderkreuzzug, 2012) steuerte wertvolle Anmerkungen und ein informatives Nachwort bei. Zahlreiche zeitgenössische Foto-Dokumente der beschriebenen Schauplätze illustrieren die Briefe anschaulich. Das sorgfältig gestaltete Buch ist ein wertvolles Dokument über die Brieffreundschaft und Geistesverwandtschaft zweier besonderer Schriftsteller und ein weiteres Zeugnis über die literarische Meisterschaft Marcel Schwobs.

Marcel Schwob: „Manapouri“. Reise nach Samoa 1901/1902. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Gernot Krämer. Elfenbein Verlag, Berlin. Gebunden, 216 Seiten, 22 €.




Prägende Gestalt der Nachkriegs-Jahrzehnte: Vor 100 Jahren wurde der Schriftsteller Heinrich Böll geboren

 „Freiheit wird nie geschenkt, immer nur gewonnen“ (Heinrich Böll)

Heinrich Böll 1983 bei einer Pressekonferenz in Heerlen/Niederlande. (Foto: Marcel Antonisse / Anefo - Nationaal Archief, NL - Wikimedia Commons) Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Heinrich Böll 1983 bei einer Pressekonferenz in Heerlen/Niederlande. (Foto: Marcel Antonisse / Anefo – Nationaal Archief, NL – Wikimedia Commons) Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Seine Erzählungen und Romane prägten die Literatur der jungen Bundesrepublik, sein politisches Engagement ließ ihn zum Feindbild und Hoffnungsträger werden. Am 21. Dezember 1917 kam in Köln einer der bedeutendsten Schriftsteller deutscher Sprache zur Welt: Heinrich Böll.

Bölls 100. Geburtstag wurde in diesem Herbst mit Lesungen, Ausstellungen, Tagungen und Neuausgaben seiner Werke begangen. Beim Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen unter dem Titel „Man möchte manchmal wimmern wie ein Kind“ Bölls bisher unbekannte Kriegstagebücher aus den Jahren 1943 bis 1945. Knapp und stellenweise geradezu lyrisch notierte Böll darin, was ihn in den letzten Kriegsjahren quälte und am Leben hielt. Stichwortartig hielt er hier fest, was den einzelnen Tag innerhalb der grausamen Kriegsroutine an der Front zu etwas Besonderem machte. Aber man kann auch ahnen, wie die Erlebnisse in den Schützengräben der Front den jungen Heinrich Böll traumatisierten.

Kaum einen Schüler gibt es im Nachkriegsdeutschland, der nicht mit seinen Werken konfrontiert wurde, etwa mit der bissigen Groteske „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ oder mit „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“. Nach sieben Jahren Arbeitsdienst, Krieg und Gefangenschaft hatte Heinrich Böll einen illusionslosen, oft schmerzhaften Blick auf die deutsche Gesellschaft der Nachkriegszeit. Wie die Menschen den Aufbruch in eine neue Zeit erkauften, indem sie die Schrecken von Krieg und Nazi-Herrschaft verdrängten, ließ ihm keine Ruhe.

Gegen den Konformismus in der jungen Republik

Bölls Kriegstagebücher sind zum 100. Geburtstag erschienen. Cover: Kiepenheuer & Witsch

Bölls Kriegstagebücher sind zum 100. Geburtstag erschienen. (Cover: Kiepenheuer & Witsch)

Böll hatte viel Verständnis für die „kleinen Leute“, denen er literarisch und in zahllosen Vorträgen und Reden eine Stimme lieh. Aber ihre geistige Enge, Geschichtsvergessenheit und bigotte Moral lehnte er ebenso deutlich ab. In den Außenseiter-Figuren seiner Bücher, die vom Krieg geprägt waren und die schrecklichen Jahre nicht vergessen konnten, spiegelt sich der Autor selbst: Die Menschen, die sich eilfertig dem beginnenden Wirtschaftswunder anpassten, betrachtete er mit tiefer Skepsis.

Bölls Auftritt bei der „Gruppe 47“ verschaffte ihm einen Autorenvertrag, der ihn von seinen bisherigen Aushilfstätigkeiten unabhängig machte. In schneller Folge erschienen nun Werke wie „Wo warst du, Adam?“ (1951), „Und sagte kein einziges Wort“ (1953) bis hin zum in zahllosen Auflagen nachgedruckten Bestseller „Irisches Tagebuch“ (1957). Als sein wichtigster Roman gilt „Gruppenbild mit Dame“, in dem er 1971 ein Panorama der schicksalhaften Jahre von 1922 bis 1970 entwirft.

Böll, eher ein scheuer, zurückhaltender Mensch, geriet so in Opposition zu den herrschenden gesellschaftlichen Leitbildern, die ihm Schmähungen und Feindschaften einbrachte. 1972 griff er die Springer-Presse wegen ihrer Berichterstattung über die RAF-Terroristin Ulrike Meinhof scharf an. Daraufhin musste Böll eine Hausdurchsuchung über sich ergehen lassen und wurde als geistiger Sympathisant des Terrorismus verunglimpft. Kritik übte der bekennende Katholik Böll auch an seiner Kirche, die er 1976 demonstrativ verließ, ohne sich vom Glauben abzuwenden.

Literarisch verarbeitete Gegenwart

In den bedeutenden Werken der siebziger Jahre, „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ oder „Fürsorgliche Belagerung“, sind die turbulenten Jahre der deutschen Gegenwart von damals literarisch verarbeitet. „Einmischung ist die einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben“, ein bekanntes Zitat Bölls, prägte sein Leben.

Der moralisch-katholisch geprägte Denker fand sich in der politischen Opposition, die er mit einer aus tiefem Misstrauen gegen Obrigkeiten und Autoritäten gespeisten Leidenschaft unterstützte. Ob in Reisen in die Tschechoslowakei, wo er 1968 das Ende des Prager Frühlings erleben musste, ob bei Besuchen in der Sowjetunion oder in Lateinamerika oder bei Demos der Friedensbewegung: Böll mischte sich ein, wurde zu einem der bekanntesten Köpfe des linken Widerstands in der Bundesrepublik.

Cover: Kiepenheuer & Witsch

Neue Böll-Biographie (Cover: Kiepenheuer & Witsch)

Nach dem Tod Heinrich Bölls am 16. Juli 1985, vor allem aber in den letzten zwanzig Jahren, scheint es stiller geworden zu sein um sein literarisches Erbe. In den achtziger Jahren war sein moralischer, antiautoritärer Impetus – wie ihn der Literaturkritiker Helmut Böttiger beschreibt – gesellschaftlich nicht mehr gefragt.

Sein 100. Geburtstag könnte den Literaturnobelpreisträger von 1972 wieder in Erinnerung rufen und sein Schaffen auf aktuelle Bezüge hin befragen. Dazu zählen nicht nur die frühen, der „Trümmerliteratur“ zugeordneten Werke wie „Wanderer, kommst du nach Spa…“ von 1950 oder die Kriegserzählung „Der Zug war pünktlich“. Seine genauen Analysen der Gesellschaft der Nachkriegszeit würden wohl auch Mentalitäten und Denkmuster zutage fördern, denen wir heute (wieder) begegnen.

Aus Anlass von Heinrich Bölls 100. Geburtstag erschien bei Kiepenheuer & Witsch die Biografie des Böll-Spezialisten Ralf Schnell: „Heinrich Böll und die Deutschen“. Im Theiss Verlag publiziert Jochen Schubert, Mitarbeiter der Heinrich Böll Stiftung, eine Biografie, die sich auch auf unveröffentlichte Quellen und Fotos stützt. Der Deutsche Taschenbuch Verlag (dtv) legt fünf Schlüsselwerke in einheitlich gestaltetem Einband neu auf.




So also standen damals die Dinge – Bilder schlürfen, Dialoge trinken auf filmischen Zeitreisen in die 60er und 70er Jahre

In den letzten Wochen und Monaten habe ich zuweilen Streaming-Dienste wie vor allem den auf deutsche Filme spezialisierten Auftritt alleskino.de in Anspruch genommen, um mich auf cineastischem Wege in die späten 60er und frühen 70er Jahre zurückzuversetzen. Warum nur?

Tableau aus Rudolf Thomes Kinofilm von (Screenshot)

Weitwinkel-Tableau aus Rudolf Thomes Kinofilm „Fremde Stadt“ von 1972. (Screenshot)

Es war die Zeit, in der man sein bisschen Bewusstsein herausbildete, in der man sich aber stark und gelegentlich sogar unbesiegbar fühlte, was natürlich auch den einen oder anderen „Kater“ nach sich zog.

Wie sehr ist das alles mit der Zeit geschwunden! Wie kopfschüttelnd und zugleich verständnisinnig sieht man heute die Jungen sich am Weltenlauf abarbeiten.

Nun trinkt, schlürft und inhaliert man geradezu die Signaturen jener alten Zeiten, in denen man selbst so sehr nach vorne schaute. Musikalisch sowieso. Doch auch im Lichtspiel: Man scannt gleichsam jedes einzelne Bild. So also haben die Lichtschalter und Hinterhöfe ausgesehen. So die Möbel. So die Kleidungsstücke. So die Tapeten. So die Autos. So die Straßen und Gebäude. Wie man damals redete und sich gab…

Deutlicher und dringlicher als heute

Und man war ja selbst mitten darin, wohl deutlicher und dringlicher als heute. Eigentlich unfassbar. Es war Botho Strauß, der gegen Ende des Jahrzehnts in seinem Theaterstück  „Groß und klein“ (1978) den nachmals legendären Satz prägte: „In den siebziger Jahren finde sich einer zurecht!“

Es war ein anderes Deutschland damals. Es war anscheinend alles noch so einfach und vergleichsweise übersichtlich verteilt. Wie war das denn noch ohne Handy, Computer und all das Zeug? Wie war das mit den Schreibmaschinen? Man weiß ja kaum noch, wie das gegangen ist. Und was hat man damals versäumt? Wie wirklich und unwirklich hat man gelebt; keineswegs so, wie es einem im Kino vorkommt.

Auf den Spuren von Rudolf Thome

Besonders die Filme von Rudolf Thome („Tagebuch“, „Fremde Stadt“) haben es mir angetan. Nicht, weil sie besondere Meilensteine des Kinos wären, sondern weil sie so viel von dem Lebensgefühl jener Jahre enthalten und bewahren. In all ihrer Unbeholfenheit und Naivität. Oder gerade deshalb. Wie quälend in „Tagebuch“ – mit gesuchtem Bezug auf Goethes „Wahlverwandtschaften“ – Beziehungen durchkonjugiert wurden, jaja, so schrecklich verkopft war das mitunter in den Siebzigern. Und wie Thome beispielsweise versucht hat, amerikanische Gangsterfilme nachzubilden… Mit heißem Bemüh’n, jedoch teilweise mit untauglichen Mitteln, mit unzulänglichen Darstellern. Und dennoch: Respekt! Das damals in diesem Lande so gewagt zu haben, ist ein bleibendes Verdienst.

…und natürlich Wenders, Herzog, Fassbinder

Sogar May Spils‘ „Zur Sache Schätzchen“ habe ich mir noch einmal angetan. Und tatsächlich: Die impulsive Rebellion, das Andersseinwollen ist auch in diesem Film gültig aufbewahrt. Auch Ulrich Schamonis „Alle Jahre wieder“ habe ich mir abermals angeschaut, in dem das altbekannte Spießertum der westfälischen Provinz (Münster) und seine noch zaghaften Gegenkräfte wieder aufleben. Kein Wunder, dass der Streifen alljährlich zur Weihnachtszeit am Hauptdrehplatz wieder und wieder gezeigt wird, wie andernorts nur „Das Leben des Brian“.

Auch Wim Wenders‘ „Alice in den Städten“ und Werner Herzogs „Stroszek“ zählen zum Umkreis der Filme, die mich zuletzt wie magisch angezogen haben. Und ich weiß schon, dass demnächst die üblichen Verdächtigen wieder an der Reihe sein werden: mehr von Wenders, Herzog und Fassbinder. Lieber noch wär’s einem auf der Kinoleinwand, doch zeigt mir bitte das Lichtspielhaus im Ruhrgebiet, in dem nennenswerte Arthouse-Retrospektiven laufen. Dabei wäre das Publikum der passenden Jahrgänge durchaus vorhanden.

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P.S.: Der obige Screenshot kommt erst in Vergrößerung richtig zur Geltung. Ein Hinweis zu Vorgehen:  https://www.revierpassagen.de/groessere-bilder




Große Autoren im kleinen Format, eine Fleißarbeit und ein Ärgernis – Buchvorstellungen, nicht nur für die Weihnachtszeit

Bitte um die geschätzte Aufmerksamkeit: Es folgen sechs kompakte Buchvorstellungen – vor allem für versierte Vielleser(innen) mit weiter reichenden Interessen und gehobenen Ansprüchen. Es sind übrigens nicht durchweg Neuerscheinungen, denn dieses saisonale Gehechel, bei dem nach einem halben Jahr die allermeisten Bücher schon aufgegeben und als Remittenden behandelt werden, nervt zusehends.

Zu Beginn ein kleines Bekenntnis in Sachen einer gar nicht so bedeutungslosen Äußerlichkeit: Schon immer habe ich das besondere Klassiker-Format des Zürcher Manesse-Verlages gemocht. Die Bände mit den kleinen Maßen 9,8 mal 15,5 Zentimeter liegen wunderbar in der Hand und sind stets solide bis liebevoll ausgestattet.

Von den Texten ganz zu schweigen. Nehmen wir nur die Neuerscheinung von Essays des unsterblichen Dichters Charles Baudelaire. Die von Melanie Walz aus dem Französischen übersetzte Auswahl enthält luzide Ausführungen etwas zur damals noch unerhörten und heftigst umstrittenen Musik Richard Wagners, zu Flauberts Roman „Madame Bovary“, aber auch ganz handfeste „Ratschläge für junge Literaten“ oder eine Abhandlung über Kinderspielzeug – und natürlich ebenso kluge wie sinnliche Gedanken über die Liebe. Das alles in einem funkelnden Stil, der sich auch noch in der deutschen Übertragung mitteilt.

Ein Gipfelglück des Buches ist jener sozusagen süffige Vergleich zwischen zwei Rauschmitteln,  der dem Band den verlockenden Titel gegeben hat: „Wein und Haschisch“. Wir wollen hier nicht verraten, welchem der beiden Mittel Baudelaire den Vorzug gibt. Man kann es sich freilich auch so denken. Und es ist auch beinahe zweitrangig, angesichts der kundigen und inspirierten Beschreibungen von Zuständen, in die einen Wein und Haschisch versetzen können. Baudelaire erweist sich abermals als erfahrene Fachkraft für Räusche aller Art. Auch Wagners Musik zählt ja für ihn gleichsam zu den berauschenden Substanzen.

Das Büchlein macht einen geradezu kostbaren Eindruck, als stamme es aus früheren Zeiten und leicht dekadenten Zusammenhängen, als hätte es gar zu Baudelaires Tagen auf dem oder jenem Tisch liegen können. Der Einband ist tatsächlich mit handschmeichlerischem Samt überzogen, wodurch er freilich auch ein bibliophiler Staub- und Flusenfänger von spezieller Güte ist. Irgend etwas ist halt immer.

Charles Baudelaire: „Wein und Haschisch“. Essays. Übersetzt von Melanie Walz. Nachwort von Tilman Krause. Manesse-Verlag, Zürich. 224 Seiten, 22,95 Euro.

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Weil ich mich bei der Baudelaire-Lektüre gerade wieder so schön ans Manesse-Format gewöhnt habe, reiche ich gleich noch einen Klassiker nach, der dort (schon vor einiger Zeit) ebenfalls erschienen ist: „Das Buch der Snobs“ von William Makepeace Thackeray, das selbstverständlich in England verfasste, unerreichte Standardwerk zu diesem Thema schlechthin.

Thackeray (1811-1863), bekanntlich auch Autor des einschlägigen Romans „Jahrmarkt der Eitelkeiten“ (und der legendären Satirezeitschrift „Punch“), war ein Meister der trefflich-süffisanten Gesellschafts-Beobachtungen. Und siehe da: So manches, was er den Snobs seiner Zeit abgelauscht hat, findet man – unter veränderten Vorzeichen – auch heute noch wieder. Manches gesellschaftliche Gehabe ist eben nicht nur zeitbedingt, sondern gehört ganz offenkundig zur menschlichen Grundausstattung; zumindest im bürgerlichen Kontext.

Trotzdem versteht sich natürlich längst nicht jede Bemerkung oder Anspielung Thackerays für uns Heutige von selbst. Der von Gisbert Haefs sehr geschmeidig übersetzte Band ist denn auch mit etlichen Anmerkungen versehen, die manchen höheren und tieferen Sinn erst so recht erschließen.

William Makepeace Thackeray: „Das Buch der Snobs“. Übersetzt von Gisbert Haefs. Manesse Verlag, Zürich. 464 Seiten, 22,95 Euro.

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Wenn wir schon mal in Zürich sind, können wir auch gleich „nebenan“ beim Diogenes-Verlag vorbeischauen, der zuweilen ebenfalls das kleine Buchformat pflegt – beispielsweise mit einem jetzt noch einmal in neu bearbeiteter Übersetzung vorgelegten Band von Voltaire. „Stürmischer als das Meer“ versammelt die Briefe des Franzosen aus dem erzwungenen englischen Exil.

Die insgesamt 25 philosophischen und politischen Briefe, in denen Voltaire eine kritische Außenansicht auf Frankreich wagt, wurden in Paris bei Erscheinen in Buchform sofort verboten und verbrannt.

Aus englischer Perspektive, wo die gesellschaftlichen Verhältnisse seinerzeit schon ungleich moderner waren  als im Ancien Régime, hat Voltaire mit machtvollen Worten an den Grundfesten der französischen Gesellschaft gerüttelt. Es waren nicht zuletzt diese Briefe, die die Französische Revolution geistig angestoßen haben.

Das thematische Spektrum zeugt von Voltaires regem Interesse an mancherlei Phänomenen. So handeln die Briefe vom Regieren, vom Parlamentarismus, von Wirtschaft und vom anglikanischen Glauben, sie befassen sich mit den Ideen von Locke, Descartes, Pascal und Newton, keineswegs nur in geistesgeschichtlicher, sondern auch in naturwissenschaftlicher Hinsicht. Tragödie und Komödie im Theater werden ebenso besehen wie die Zustände an den Akademien. Auch hat der umtriebige Denker Voltaire eine briefliche Abhandlung mit dem Titel „Vom Unendlichen und der Zeitrechnung“ verfasst.

Voltaire: „Stürmischer als das Meer“. Briefe aus England. Übersetzung und Nachwort Rudolf von Bitter. Diogenes-Verlag, Zürich. 224 Seiten, 14,99 Euro.

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Damit wären die buchhändlerischen Kleinformate aber nun abgetan? Nichts da! Auch im Kunstmann-Verlag erscheinen derlei griffige Editionen, zum Exempel Gedichte von F. W. Bernstein, der vor allem mit Robert Gernhardt und F.K. Waechter selig die legendäre „Neue Frankfurter Schule“ des parodistischen Humors bildete. Das grandiose Trio steigerte sich mit „WimS“ („Welt im Spiegel“, Beilage der Satirezeitschrift „Pardon“) in wunderbaren Nonsens hinein, den man bis dahin in Deutschland nicht kannte. Bernstein höchstpersönlich verdanken wir beispielsweise auch den unverwüstlichen Zweizeiler: „Die schärfsten Kritiker der Elche / waren früher selber welche.“

Als „Mein Programm“ stellt Bernstein (bürgerlich: Fritz Weigle) seiner Gedichtsammlung diese Zeilen voran: „Ihr sucht / Verse von schnatternder Wucht? / Ihr findet sie hier: / Alle von mir“.

Bei Bernstein kommt unter Garantie niemals auch nur die Spur von Pathos oder Weihe auf. Ein hoher Ton wird nicht geduldet. Kein Thema ist ihm zu gering. Vieles wird auf die elementaren Dinge des Alltags zurückgestutzt, gepflegter Nonsens liegt dabei stets auf der Lauer. Markantes Zitat: „Sinnverlust ist Lustgewinn“.

Unter dem Titel „So möcht ich dichten können“ heißt es über ein in diesem Sinne offenbar vorbildliches Oktett von Mendelssohn: „Das geht so froh über alle Zäune und umhuscht all / die üblen Möbel, die in der Lyrik herumstehen: / Tiefentisch, Bedeutungshocker, Sesselernst, / das Symbolbüffet, das Vertiko für Relevanzen“.

Kein Wunder, dass sich Bernstein gerade an Rilke reibt, der nicht einmal über Wurzelbürsten gedichtet habe. Auch Büstenhalter, Hosenträger und Wasserhähne habe kein Dichterfürst gebührend besungen. Rilke wird derweil so ernüchtert parodiert: „Wer jetzt kein Geld hat, der kriegt keines mehr.“ Rilke also ganz und gar nicht. Hingegen könnte man meinen, bei Bernstein zuweilen einen leisen Nachklang von Heinrich Heine zu vernehmen. Nein? Na, dann eben nicht.

Der Mann gibt sich jedenfalls so nonchalant, dass manche es stellenweise für Larifari halten mögen. Doch dahinter verbirgt sich bei näherem Hinsehen und Hinhören ungleich mehr, melancholisches Leiden am Zustand der Welt inbegriffen. Apropos: „Weltende“ klingt bei Bernstein so gar nicht gravitätisch: „Die Zeit ist um. Es ist so weit. / Wir sind schon in der Nachspielzeit. / Schlusspfiff! Jetzt wird auferstanden! / Skelette raus, soweit vorhanden; / auf die Bühne zum Finale! / Weltgericht!“

Doch er kann es auch zum Heulen schön und anrührend. Man lese sein bewusst schmuckloses „Nachruf“-Gedicht zum Tod von Robert Gernhardt – und schweige andächtig still.

F.W. Bernstein: „Frische Gedichte“. Verlag Antje Kunstmann, München. 208 Seiten, 18 Euro.

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Nun aber zu einem ganz anderen Format, das – rein physisch gesprochen – einiges mehr auf die Waage bringt: „Vagabunden“ von Beate Althammer ist mit eng bedruckten 716 Seiten eine (kultur)historische Fleißarbeit mit umfassendem wissenschaftlichem Anspruch. Dem etwas umständlichen Untertitel zufolge wird die „Geschichte von Armut, Bettel und Mobilität im Zeitalter der Industrialisierung (1815-1933)“ aufgearbeitet.

Von der Titelseite abgesehen, hat man (leider) auf historische Illustrationen verzichtet, nur ein paar wenige Tabellen lockern den Text unwesentlich auf. Man kann mit Fug von einer „Bleiwüste“ sprechen, die wohl eher ein eh schon fachkundiges Publikum ansprechen wird.

Mobilität gilt heute als eine Voraussetzung für beruflichen Erfolg und Karriere. Hier allerdings geht es um größtenteils erzwungene Mobilität als Armuts-Phänomen, das oftmals kriminalisiert und mit Repression bekämpft wurde.

Andererseits prägten gewisse Formen des Vagantentums auch antibürgerliche Freiheitsvorstellungen. Überdies erwies sich das wechselnde Terrain der Vagabunden als weites Feld für frühe sozialpolitische Versuche der Eingrenzung. Dass sich dieser Themenkreis auch heute noch längst nicht „erledigt“ hat, kann man Tag für Tag in unseren Städten sehen.

Beate Althammer ist ausgewiesene Spezialistin auf dem erwähnten Gebiet. Von ihr und Christina Gerstenmayer gemeinsam herausgegeben, liegt – ebenfalls im Klartext Verlag – seit 2013 die Quellenedition „Bettler und Vaganten in der Neuzeit“ (1500-1933) vor. Hier ist das Wort „Gründlichkeit“ wahrhaftig angebracht.

Beate Althammer: „Vagabunden.“ Klartext Verlag, Essen. 716 Seiten, Paperback, 34,95 Euro.

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So. Jetzt haben wir uns mit Klassikern und einer geschichtswissenschaftlichen Arbeit vorwiegend in der Vergangenheit bewegt. Wie wär’s denn mit noch einigen Prisen Gegenwart, die schon im Buchtitel verheißen werden?

Nun, auch diese Gegenwart ist nur bedingt heutig zu nennen, denn der oft so umstrittene französische Schriftsteller Michel Houellebecq begibt sich diesmal auf eine ziemlich sichere Seite, hat er sich doch mit dem deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer auseinandergesetzt oder richtiger: Er hat einige von dessen Gedanken nachvollzogen.

Da haben wir also wieder eine womöglich produktive geistige Annährung zwischen  beiden Ländern – weiter oben war von Baudelaire und Wagner die Rede, diesmal sind es eben Houellebecq und Schopenhauer.

Und jetzt wird geschimpft: In dem eh schon sehr schmalen Band stammt geschätzt beinahe die Hälfte des gesamten Textes von… Schopenhauer. Seite um Seite zitiert Houellebecq – kursiv gedruckt – aus dessen Werken und paraphrasiert sodann in vergleichbarer Länge, was der Meister gesagt und gemeint hat. Schön für ihn, wenn er sich auf diese Weise Schopenhauer gleichsam anverwandelt haben sollte. Aber muss er uns so umständlich daran teilhaben lassen? War es wirklich nötig, dass Schopenhauer posthum das Buch von Houellebecq quasi zu großen Teilen honorarfrei vollschreiben musste?

Via Schopenhauer lässt uns Houellebecq u. a. wissen, dass die wahre Kunstbetrachtung stets in interesseloser Kontemplation und Versenkung bestehe. Sicherlich finden sich da auch weitere an- und aufregende oder gar großartige Gedankengänge. Aber sie stammen eben weit überwiegend vom deutschen Philosophen.

Der Aufsatz hätte gut und gern in einer Essay-Sammlung oder dergleichen Platz finden können. Ein eigenes Buchprojekt ist er nicht unbedingt wert. Immerhin bringt einen der Band auf die gute Idee, Schopenhauer mal wieder im Original (ohne mitunter lästige Houellebecq-Unterbrechungen) zu lesen.

Michel Houellebecq: „In Schopenhauers Gegenwart“. Aus dem Französischen von Stephan Kleiner. Dumont Verlag, Köln. 76 Seiten, 18 Euro.

 




Das Kind des Kunsthändlers – Gurlitt-Stück „Entartete Kunst“ als Berliner Gastspiel in Recklinghausen

Ein wirkliches Aha-Erlebnis: Auch wenn keine Ruhrfestspiele sind, wird im Recklinghäuser Festspielhaus Theater gespielt. Als Veranstalter fungiert dann die Stadt, und die Künstler kommen – manchmal – von weit her. Für Ronald Harwoods Schauspiel „Entartete Kunst“ kamen sie aus Berlin, vom Renaissance-Theater. Die Agentur Landgraf hat sie auf Tournee geschickt: Udo Samel, Boris Aljinovic, Anika Mauer und Ralph Morgenstern.

Im Großen Haus der Ruhrfestspiele in Recklinghausen war das Berliner Renaissance-Theater zu Gast (Foto: Ruhrfestspiele/Torsten Janfeld)

Ein Berg von Raubkunst

Wir erinnern uns: Als offiziell verkündet wurde, was der alte Herr Gurlitt in seiner Schwabinger Wohnung aufbewahrte, verfielen größere Teile der bundesdeutschen Journaille in lebensbedrohliche Schnappatmung. Ganz offenbar war hier ein Riesenkonvolut sogenannter Raubkunst aufgetaucht, das der Sohn eines notorischen Nazi-Kunsthändlers klandestin und illegal hütete. Und der Mann selber war ein Monstrum, wenn auch ein eher ungefährliches. Er zahlte keine Steuern und hatte keine Krankenversicherung.

Weder in der Sozialversicherung noch in der Steuerverwaltung zu existieren, das wurde Cornelius Gurlitt schließlich zum Verhängnis. Bei einer Zollkontrolle fiel er – durch legal mitgeführte – 9000 Euro und durch unbedachte Äußerungen über sein Finanzgebaren auf, was die Staatsanwalt zu einer Durchsuchung seiner Wohnung veranlaßte.

Gnadenlose Staatsanwaltschaft

Übermäßiges Feingefühl kann den Behörden bei ihrem Einsatz im Jahr 2012 nicht vorgeworfen werden. Sie taxierten Gurlitts Kunst mal eben so auf eine Milliarde Marktwert und schafften sie ins Depot. Im November 2013 wurde der behördliche Zugriff bekannt, ein Jahr später starb der alte Mann mit 82 Jahren, nachdem er zuvor noch den damals schon nicht unbeträchtlichen „unbedenklichen“ Teil der Kunstsammlung dem Kunstmuseum Bern vererbt hatte.

Mittlerweile ist unstrittig, daß die Staatsanwaltschaft mit unverhältnismäßiger Härte vorging und daß das Schlagwort von der riesigen Raubkunst-Sammlung kaum haltbar ist. Statt eine Milliarde Euro ist die Sammlung nach seriöseren Schätzungen nur noch einen zweistelligen Millionenbetrag wert (auch nicht wenig!), gerade einmal fünf von insgesamt 1500 Werken konnten bisher als eindeutig geraubt identifiziert und ihren rechtmäßigen Besitzern zurückgegeben werden.

Kunsthändler der Nazis

Natürlich ist die Provenienzforschung hier ein schwieriges Feld. Auch muß man befürchten, daß rechtmäßige Besitzer oder ihre Nachfahren in manchen Fällen Krieg und Holocaust nicht überlebt haben. Doch den größten Teil der Sammlung scheint Hildebrand Gurlitt, der erfolgreiche Vater Cornelius’, auf korrekte kaufmännische Weise zusammengetragen zu haben – jedenfalls so korrekt, wie es im Nationalsozialismus möglich war, wo man die besetzten Länder plünderte und den jüdischen Deutschen ihre Vermögen abpreßte, bevor sie im besseren Fall ausreisen durften oder in den Vernichtungslagern ermordet wurden.

Hildebrand Gurlitt hat sich die Verhältnisse bestens zunutze gemacht, wie es scheint, hat moderne, als „entartet“ verfemte Kunst im Auftrag der Nazis ins Ausland verkauft, hat in den besetzten Kriegsgebieten beschafft, was die braunen Bonzen gerne haben wollten, beispielsweise für Hitlers geplantes „Führermuseum“. In einer Zeit der Ungeheuerlichkeiten hat er sich bewegt wie ein Fisch im Wasser, und fast folgerichtig ging er nach dem Krieg aus seinem „Entnazifizierungsverfahren“ (was für ein Wort!) als unbelastet hervor.

Das wahrscheinlich wertvollste Bild in Gurlitts Sammlung stammt von Claude Monet (1840–1926): „Waterloo Bridge“ (1903, Öl auf Leinwand, doubliert 65×101,5 cm) (Foto: Bundeskunsthalle Bonn)

Lust am „Fuppen“

Der Hildebrand Gurlitt, dem wir in Ronald Harwoods Theaterstück begegnen, ist nurmehr verklärende Erinnerung seines Sohnes Cornelius. Udo Samel gibt ihn als ewiges Kind, dem die Bilder in der Wohnung seine Familie sind und das voller Hingabe mit seiner Modelleisenbahn spielt. Er bewundert seinen Vater, was bleibt ihm auch übrig, aber dessen Fußabdrücke sind für ihn viel zu groß.

Cornelius Gurlitt hat studiert, wie später zu erfahren ist, Kunstgeschichte, aber das hat ihn nicht davor bewahrt, sein unbedeutendes Kinderleben nach dem Tod des Vaters endlos fortzuführen, das Erbe zu pflegen, zu „seiner Familie“ zu machen. Nur wenige Künstler bedeutender Eltern haben dieses Danach so zurückgezogen und exzentrisch gleichermaßen gelebt wie Cornelius Gurlitt; doch das schmerzende Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit dürften viele von ihnen kennen, die Verletzlichkeit, die sie die Welt draußen meiden läßt.

Wer, wenn nicht Udo Samel, wüßte das herauszuspielen, der kleine dicke Mann mit seiner inneren Getriebenheit, die ihm die großen, schönen, reinen Gedanken ebenso einzugeben scheint wie sie die unvermittelt aufblitzenden kleinen Niederträchtigkeiten formt, die sexuellen Anspielungen, die peinlichen Tiraden über die allgegenwärtige, altersgeile Lust am „Fuppen“. Udo Samel zelebriert mit sparsamen Mitteln große Schauspielkunst; sein Cornelius Gurlitt ist ein tragischer Mensch auch ganz jenseits jeder Beutekunst-Diskussion.

Um den Hauptdarsteller Udo Samel herum inszeniert

Wie für Udo Samel geschrieben wirkt dieses inklusive Pause kaum zwei Stunden dauernde Stück. Auf jeden Fall hat Regisseur Torsten Fischer es in dieser Uraufführung um ihn herum inszeniert. Nur so, mit dieser armseligen, abgründigen Figur in ihrer strahlenden Mitte, funktioniert die Inszenierung. Die weiteren drei Mitwirkenden – Boris Aljinovic und Anika Mauer als hart vorgehende Vertreter der Staatsanwaltschaft, Ralph Morgenstern als halbseidener Kunsthändler Andras Weisz – sind zwar allesamt bemerkenswert gute Darsteller und weit mehr als nur Stichwortgeber, haben aber nur selten die Möglichkeit, mit ihrem Spiel nennenswert zum Fortgang des Stückes beizutragen.

Schrecklich viele leere Plätze

Darf man es verschweigen? Der große Saal im großen Haus war geradezu erschreckend leer. Vielleicht gab es zu wenig Werbung für diesen Theaterabend, auch ist er innerhalb des Monatsprogramms mit seiner Mischung aus Musik, Kindertheater und Comedy fast so etwas wie ein Fremdkörper. Gleichwohl schmerzt es, Udo Samel, der einst als Kaldewey in Botho Strauß’ gleichnamigem Stück an der Berliner Schaubühne unvergeßliche Auftritte hatte (für die man kaum Karten bekam), hier vor weitgehend leeren Reihen spielen zu sehen. Es sei dies, schreibt die Agentur, Samels erste Theatertournee, und bis 5. Dezember ist sie (laut Internet) terminiert. Da ist man gespannt, ob er sich in der Zukunft auf weitere Tournee-Abenteuer einlassen wird.

  • Weitere Termine (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): 2.12. Scharoun-Theater Wolfsburg, 3. 12. Festhalle Viersen
  • Zwei Ausstellungen zeigen aktuell Bilder aus der Sammlung von Cornelius Gurlitt:
  • „Bestandsaufnahme Gurlitt – Der NS-Kunstraub und die Folgen“, Bundeskunsthalle Bonn, bis 11. März 2018
  • „Bestandsaufnahme Gurlitt. Entartete Kunst – Beschlagnahmt und verkauft“, Kunstmuseum Bern, bis 4. März