Die Unternehmer-Familie Quandt und ihr Bezug zum Ruhrgebiet

Vor einigen Tagen ist Johanna Quandt, eine der reichsten Frauen der Republik, gestorben. Die Familie lebt zwar im hessischen Bad Homburg und mehrt dort ihr Vermögen mit den BMW-Besitzanteilen, aber es gibt seit langer Zeit eine enge Beziehung zum Ruhrgebiet. In Hagen gehörte das Unternehmen Varta zum Quandt-Kerngeschäft, und in Ennepetal lebte Günther Quandt, Johannas Schwiegervater, bis zu seinem Tod im Winter 1954.

Der Unternehmer war eng mit dem NS-Regime verbunden – geschäftlich und privat. Der Nazi-Propagandaminister Joseph Goebbels hatte ihm seine hübsche und zuvor schon untreue Frau Magda ausgespannt, und als nach der Scheidung Ende 1931 die Hochzeit mit Goebbels anstand, wurde sogar auf Quandts Gut Severin in der Nähe von Parchim (Mecklenburg) gefeiert – mit Adolf Hitler als Trauzeugen und Quandts ältestem Sohn Harald (10) als „Blumenkind“ in SA-Uniform. Die Braut war jene Magda Goebbels, die 1945 ihre fünf Kinder ermordete und sich dann selbst tötete.

Die Stockey-Villa zu Günther Quandts Lebzeiten. (Bild: Stadtarchiv Ennepetal)

Die Stockey-Villa zu Günther Quandts Lebzeiten. (Bild: Stadtarchiv Ennepetal)

Günter Quandt wurde nach dem Krieg als nationalsozialistischer Mittäter von den Alliierten interniert, und als er 1948 frei kam, erwarb er in Ennepetal-Milspe eine Unternehmervilla von der Witwe Stockey als Wohnsitz für sich allein. Die Wahl fiel vermutlich auf diesen Standort, weil er nahe an der Varta-Zentrale in Hagen lag. Über Weihnachten 1954 unternahm Quandt eine Reise nach Ägypten, wo er am Tag vor Silvester starb.

Sein zweiter Sohn Herbert heiratete später die kürzlich verstorbene Johanna, die ihr Vermögen bereits vor ihrem Tod an die beiden Kinder Susanne Klatten und Stefan Quandt verschenkt hatte.

Zufälligerweise gibt es noch eine indirekte Verbindung nach Ennepetal: Günther Quandts erste Ehefrau Magda besuchte als junges Mädchen eine katholische Klosterschule in Vilvoorde bei Brüssel, bevor sie mit ihrer Familie nach Berlin zog, und diese Stadt Vilvoorde ist seit mehr als vier Jahrzehnten die belgische Partnerstadt von Ennepetal.

Quandts Villa ging nach seinem Tod von den Erben in den Besitz der Stadt Ennepetal über, die dort zeitweise ihr Bauamt einrichtete. Heute gehören Park und Villa einem privaten Investor.




RuhrTriennale: „Nomanslanding“ im Duisburger Hafen überwindet alles Trennende

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Sie kommt genau auf uns zu: Die andere Hälfte von „Nomanslanding“ (Foto: rp)

Auf den ersten Blick wirkt das Ganze wenig spektakulär. Zwei halbierte Rieseneierschalen stehen da irgendwie auf dem Wasser und erinnern an Konzertmuscheln, was aber keinen Sinn ergibt, weil sie sich ja gegenüber stehen und deshalb kein Publikum beschallen können. Stege führen ans Ufer. Die Installation, um eine solche handelt es sich also offenbar, befindet sich im „Eisenbahnbassin“, einem Hafenbecken in Duisburg Ruhrort, das früher einmal der Eisenbahnhafen war und heute mehr oder weniger funktionslos ist. Hier steht das Wasser sehr still, was ein Grund gewesen sein mag, „Nomanslanding“ hier aufzubauen.

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Installation im Duisburger Eisenbahnbassin. Ab und zu schaut ein Ausflugsboot vorbei. (Foto: rp)

„Nomanslanding“ heißt das Gebilde, für das sich eine deutsche Übersetzung nicht eben aufdrängt. „Niemandes Landung“ vielleicht, „keines Menschen Landung“? Jedenfalls sind die beiden Rieseneierschalen im Duisburger Hafen neben Joop van Lieshouts phantasievollem Siedlungsgewürfel vor der Bochumer Jahrhunderthalle die bedeutendste skulpturale Arbeit der diesjährigen Ruhrtriennale. Der Begriff Skulptur indes hilft dem Verständnis nur begrenzt. Vor allem nämlich funktioniert „Nomanslanding“ als Inszenierung.

Und die läuft so ab: Bevor das Publikum sich (abgezählt und sicherheitstechnisch instruiert) über die beiden Stege zu den Muscheln begibt, wird es mit Schwimmwesten ausgestattet, muß es die Teilnahmebedingungen unterschreiben. Dann wird man im Rund der Halbkugel auf einer Sitzbank plaziert – und gewahrt kurze Zeit später fast zufällig, daß sich die eigene Halbkugel auf die andere zu bewegt. Aus einem unsichtbar bleibenden Soundsystem sind derweil Kriegsklänge und vielsprachige Textzeilen zu hören. Immer näher kommt die eine Halbkugel der anderen, schließlich berühren sie einander, es wird dunkel, der Soundtrack bleibt bedrohlich.

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Schwimmwesten sind für den Besuch der beiden Muscheln vorgeschrieben. Sie machen ein etwas mulmiges Gefühl. (Foto: rp)

Klagender Gesang ertönt, nach einer weiteren Kunstpause wird es heller im runden Raum, schließlich ergeht die Aufforderung die Hälften zu tauschen. Und nicht unberührt verläßt man das Geschehen, das kaum 30 Minuten dauerte, durch die Halbkugel von gegenüber.

Breit ist der Fundus an Metaphorik, der zur Deutung bereitsteht. An die Überquerung des Flusses Styx ist zu denken, der die Welt der Toten von der der Lebenden trennt, und wenn einem außerdem noch afrikanische Flüchtlingsboote und die dazugehörigen Katastrophennachrichten einfallen, liegt man sicher auch nicht falsch.

Indes, der teilnehmende Künstler Andre Dekker hebt es in seinen Erläuterungen zum Werk ausdrücklich hervor, ist der Bezug ein Gutstück konkreter. Die Arbeit bezieht sich auf den Ersten Weltkrieg, der 1914 ausbrach, will indes nicht Anklage sein, sondern Klage, will der Trauer um die vielen Todesopfer Raum geben. „Ein Klagelied, vielleicht auch ein Wiegenlied“, sagt Dekker. Nämlich dann, wenn aus der traurigen Gewißheit des Geschehenen die vergewissernde Geborgenheit des „Nie wieder!“ sich formt. Sinnliche Symbolhaftigkeit, wenn man so will – und sei es auch nur die Querung von etwas Wasser in einem Duisburger Hafenbecken.

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Gleich wird es duster. Die beiden Hälften stoßen aneinander. (Foto: rp)

Als die Arbeit 2014 zum ersten Mal in Sydney installiert wurde, jährte sich der Beginn des Ersten Weltkriegs zum 100. Mal. Das war auch für die Australier ein wichtiges historisches Datum, denn als Teil des Commonwealth hatte das Land auf britischer Seite an dem Krieg teilgenommen und hohe Verluste erlitten. Die Duisburger Zweitverwertung 2015 muß nun leider ohne runde Jahreszahl auskommen, und Glasgow im kommenden Jahr (die dritte Station) erst recht. Da kann man sich schon mal fragen, ob der erhebliche Aufwand gerechtfertigt ist. Die Antwort fällt nicht leicht.

Jedenfalls hat der Duisburger Hafen bis zum 13. September eine Attraktion zusätzlich zu bieten, und der Eintritt ist frei. Allerdings bleiben Zweifel, ob die komplizierte Besichtigungsprozedur mit großer Nachfrage, vor allem an Wochenenden, fertig wird. Und ob die alles in allem doch recht komplexe Technik bis zum Ende durchhält und kein Vandalismusopfer wird. Aber man soll nicht unken. Halten wir es mit Kaiser Franz und schau’n wir mal.

Noch ein paar Fakten: Die Künstlerinnen und Künstler, die sich „Nomanslanding“ ausgedacht haben, sind Robyn Backen (Australien), Andre Dekker (Niederlande), Graham Eatough (Großbritannien), Nigel Helyer und Jennifer Turpin (beide Australien).

  • Die Adresse ist Duisburg, „Am Eisenbahnbassin“, Autoparkplätze sind rar.
  • Geöffnet bis 13. September tgl. 13 bis 23 Uhr, Eintritt frei, „wetterfeste Kleidung empfohlen“.
  • Mehr Informationen: www.ruhrtriennale.de, www.urbanekuensteruhr.de

 

 

Zwei Strophen des Klageliedes, dem Programmzettel entnommen:

Verse 1

We will meet you at the river

We’ll draw closer on the tide

You can hear us in the water

From the shore to the other side

 

Verse 2

All our lives brought here together

To flow before your eyes

At last on Nomanslanding

Cast off the line untied




Wandel des Ruhrgebiets auf 50000 Luftbildern

Zuerst habe ich „unseren“ Dortmunder Vorort angepeilt. Anfangs haben sich dort noch Wiesen und Felder erstreckt, man kann wohl von dörflichen Strukturen sprechen. Dann sind nach und nach einzelne Straßenzüge entstanden. Und immer mehr Industrie ringsum.

Doch der Weltkrieg hat immense Lücken gerissen, man sieht die Schneisen der Zerstörung. Hernach, vor allem in den 1960er Jahren, breiteten sich große Siedlungen aus. Andernorts sind zwischenzeitlich Hallen oder Stadien aus dem Boden gewachsen oder es haben sich künstliche Seen gleichsam aufgetan. Derweil sind gigantische Stahlwerke vom Boden getilgt worden. Kurzum: Fast nichts ist auf Dauer so geblieben, wie es war.

Dortmunder Luftbild von 1926: Blick auf das Stadion Rote Erde (erbaut 1926) und die alte Westfalenhalle (erbaut 1925). (Luftbild: RVR)

Dortmunder Luftbild von 1926: Blick auf das Stadion Rote Erde (erbaut 1926) und die alte Westfalenhalle (erbaut 1925). (Luftbild: RVR)

Solch imposanter, buchstäblich raumgreifender Wandel hat – nicht nur im Zeitraffer des Online-Zugriffs – etwas Gespenstisches. Beileibe nicht jede Veränderung macht zukunftsfroh. Erst recht nicht die allseits wuchernden Verkehrswege der 70er Jahre.

Und woher stammen diese An- und Einsichten? Nun, in die Stadt- und Landschaftsentwicklung des Ruhrgebiets kann man sich jetzt anhand eines reichhaltigen Foto-Schatzes vertiefen. Der Regionalverband Ruhr (RVR) hat gestern rund 50 000 Luftbilder ins Netz gestellt, die den örtlichen und chronologischen Vergleich über die Jahrzehnte hinweg erlauben. Die Zeitstufen, die man unmittelbar aufrufen kann: 1926, 1952, 1969, 1990, 1998, 2006, 2009 und 2011-2015. Es gibt also noch Ergänzungsbedarf.

Ähnlicher Bildausschnitt von 1952, diesmal mit der neuen Westfalenhalle (eröffnet im Februar 1952). (Luftbild: RVR)

Ähnlicher Bildausschnitt von 1952, diesmal mit der damals neuen Westfalenhalle (eröffnet im Februar 1952). (Luftbild: RVR)

Die Nutzer werden vor allem markante Punkte des Reviers ansteuern und vorzugsweise das Werden und Wachsen der eigenen Umgebung erkunden. Über die Stadtplan-Darstellung kann man sich punktgenau dem gewünschten Ziel nähern und sodann aus der Luft die früheren Zustände betrachten. Es ist, als würde man quasi archäologische Schichten der regionalen Zeitgeschichte freilegen. Aus der Vergangenheit mögen sich überdies raumplanerischen Impulse fürs Hier und Jetzt ergeben.

Das gleiche Areal auf einem aktuellen Bild - mit dem Westfalenstadion (vulgo Signal Iduna Park) neben der "Roten Erde". (Luftbild: RVR)

Das gleiche Areal auf einem aktuellen Bild – mit dem Westfalenstadion (vulgo Signal Iduna Park) neben der „Roten Erde“. (Luftbild: RVR)

Gerade beim Herabschauen aufs Ruhrgebiet zeigt sich, wie sehr diese diffus entgrenzte Stadtlandschaft aufgewühlt, zersiedelt, zerschnitten, vermengt und vielfach geschunden worden ist. In neuerer Zeit sind auch Beispiele für Korrekturen am stellenweise desolaten Erscheinungsbild erkennbar. Doch das alles wird noch lange dauern. Es bleibt noch Arbeit für Generationen.

Aber möchte man denn schon wissen, wie die Luftbilder des Jahres 2025 oder 2040 aussehen werden? Mh. Ich weiß nicht so recht. Da wird mir auf einmal konservativ zumute. Lieber hätt’ ich’s nicht so schnell und abrupt.

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Netzadresse: http://www.luftbilder.geoportal.ruhr




Auto des Wirtschaftswunders: Vor 60 Jahren feierte Volkswagen die erste Million

Die Belegschaft feierte: Eine Million Volkswagen waren am 5. August 1955 in Wolfsburg vom Band gelaufen. Foto: Volkswagen AG

Die Belegschaft feierte: Eine Million Volkswagen waren am 5. August 1955 in Wolfsburg vom Band gelaufen. Foto: Volkswagen AG

Zehn Jahre nach Kriegsende. Das Wirtschaftswunder war in vollem Gang. Endlich konnte man sich wieder etwas leisten. Für viele Deutsche rückte der Traum vom eigenen Auto in greifbare Nähe. Und dieser Traum hatte eine Form: rundlich, bucklig, wie ein kleines Insekt. Am 5. August 1955 feierte Wolfsburg ein Fest: Eine Million Volkswagen waren vom Band gelaufen – die meisten von ihnen von dem Modell, das später als „Käfer“ weltberühmt wurde. Im Ruhrgebiet sorgten die fröhlich knatternden Wagen da schon für die ersten Staus …

Die „New York Times“ beschrieb schon 1938 eine kühne Vision: Bald sollten, so der Artikel, die deutschen Autobahnen „Tausende und Abertausende von glänzenden kleinen Käfern“ bevölkern. Ein eingängiges Bild: Bänder durch die Landschaft, auf denen lauter metallene Käferchen entlangkrabbeln. Der Begriff „Käfer“ für den deutschen „KdF“-Wagen wurde wohl mit diesem Vergleich geschaffen.

Es sollte allerdings bis weit nach 1945 dauern, bis das Auto auf den Straßen zum Alltag gehörte. Im Krieg war an die von Hitler angedachte Massenproduktion des „Volkswagens“ nicht zu denken. Und nach 1945 kam die Produktion nur allmählich in Gang. Erst ab 1946 konnten Privatpersonen – gegen Bezugsschein – einen Volkswagen kaufen. 5.000 Mark kostete er – je nach Kaufkraftberechnung wären das heute um die 20.000 Euro.

Der goldene Jubiläums-Käfer von 1955, heute ausgestellt im Zeithaus der Autostadt in Wolfsburg. Foto: Volkswagen AG

Der goldene Jubiläums-Käfer von 1955, heute ausgestellt im Zeithaus der Autostadt in Wolfsburg. Foto: Volkswagen AG

Die Herstellung des robusten und sparsamen Wagens in der typischen Buckelform und mit dem geteilten Fenster im Heck („Brezelkäfer“) kam richtig in Schwung, als im Werk Wolfsburg die Kriegsschäden beseitigt waren, die Währungsreform 1948 für neuen Schwung sorgte und der Export in die USA startete.

Fast 20.000 Fahrzeuge verließen im Reformjahr 1948 die Fabrik, für die Hitler mit großem Propaganda-Getöse 1938 den Grundstein gelegt hatte. Dass 1955, am 5. August vor 60 Jahren, der einmillionste Volkswagen vom Band lief, unterstreicht die Erfolgsgeschichte des Wagens, der wie kaum ein anderes Produkt zum Symbol für das Wirtschaftswunder und den sozialen Aufstieg breiter Bevölkerungsschichten wurde. Den Jubiläums-VW, einen 30-PS-Käfer, überzog von Goldstaub durchsetzter Lack; die Chromteile trugen geschliffene Steine aus Südamerika: Sichtbares Zeichen des Stolzes der Autobauer auf ihren Erfolg.

Meistgebautes Auto der Welt

Bis 1973 entwickelte der VW-Konzern das Modell weiter, das in den sechziger Jahren – wohl in Abgrenzung zu anderen Volkswagen-Typen wie dem VW 1500, der 1961 auf den Markt kam – auch in Deutschland „Käfer“ genannt wurde.

Als am 1. Juli 1974 der letzte seiner Art mit der Nummer 11 916 519 in Wolfsburg vom Band lief, wurde das in der Öffentlichkeit als Ende einer Epoche wahrgenommen. Fast zwölf Millionen „Volkswagen Typ 1“ – wie der Käfer intern hieß – sind dort hergestellt worden. Schon 1972 erreichte der Käfer den Rang des meistverkauften Autos der Welt: Er löste Fords Modell T „Tin Lizzy“ auf diesem Platz ab. Heute nimmt ihn der Nachfolger des Käfers, der VW Golf, ein.

Dennoch: Die Geschichte des motorisierten Krabbeltiers ist noch nicht zu Ende. Die Form ist einfach zu einzigartig, zu attraktiv, um sie im Design-Archiv verschwinden zu lassen. Bis 1978 baute VW den Käfer in Emden weiter, danach belieferte Volkswagen de México mit in Puebla produzierten Wagen den deutschen Markt. Bis 1980 baute Karmann in Osnabrück die Cabriolet-Version – sie war lange Zeit das erfolgreichste Cabrio der Welt! Erst 1985 bot Volkswagen in Deutschland keine Käfer mehr an. Produziert – und hin und wieder von Importeuren auch in Deutschland angeboten – wurde das Erfolgsmodell noch bis 2003: Der letzte von 21.529.464 gebauten Käfern ist im „Zeithaus“ der Autostadt in Wolfsburg ausgestellt.

Unsterbliches Design

Bis heute lebt das Design in veränderter Form weiter: Mit dem Werbeslogan „Eine Legende wird erwachsen.“ bietet VW den „Beetle“ als „Kultauto“ in einer modernen Form an. Erst im April hat Volkswagen auf der New York International Auto Show vier neue Versionen präsentiert. Im November 2014 hatte VW den Beetle und das Beetle Cabriolet mit fünf verschiedenen modernen EU-6-Motoren vorgestellt. Umgerechnet kostet der Wagen, ausgestattet mit modernster Technik, heute nicht mehr als sein Urahn im Jahr 1946: Wer einen der nur noch dezent buckligen Beetles fahren will, ist ab 18.000 Euro dabei.

Nicht mit zu verkaufen sind Gefühle. Das nostalgische Fahrgefühl, das Schwelgen in Erinnerungen verbinden sich nur mit den Modellen aus der Kindheit und Jugend derer, die den Käfer in seinen Glanzzeiten erlebt haben. Wer denkt noch an den Stolz über das erste Auto in den fünfziger Jahren, das Hochgefühl, mit einem vollgepackten Volkswagen zum ersten Mal über die Alpen ins Sehnsuchtsland Italien in den Urlaub zu fahren, die Freude am chromblitzenden Gefährt, das jeden Samstag poliert und gewienert wurde?

Rund 50.000 alte Käfer sind noch fahrbereit; das charakteristische Knattern des alten, zuverlässigen VW-Motors in den Straßen ist selten geworden.




Neues aus dem Fegefeuer: „Die 7 Todsünden“ im Kloster Dalheim

Hier geht‘s heiß her: Was dem Sünder im Fegefeuer droht, zeigt dieser Holzschnitt aus dem 15. Jahrhundert. Der Geizhals schluckt Gold, den Zornigen trifft das Schwert, und die Wollüstige beißt eine Schlange. Foto: Kunsthaus Zürich

Was dem Sünder im Fegefeuer droht, zeigt dieser Holzschnitt aus dem 15. Jahrhundert. Der Geizhals schluckt Gold, den Zornigen trifft das Schwert, und die Wollüstige beißt eine Schlange. Foto: Kunsthaus Zürich

Sie haben die Ausstellung »Die 7 Todsünden« im Kloster Dalheim noch nicht gesehen? Da haben Sie etwas verpasst. Aber nur kein Neid: Überwinden Sie die Trägheit, gehen Sie einfach hin!

Kleine Augen und ein eckiges Kinn, auch die Nase zeigt spitz nach oben. So sieht er aus, der Neid. Dagegen die Habgier: Eine Hakennase prangt unter Schlitzaugen, die Mundwinkel sind nach unten gezogen. Die Schweizer Künstlerin Eva Aeppli formte die »Physiognomie der Laster« an Bronze-Köpfen. Sie sind die letzte Station vor dem Ausgang im LWL-Landesmuseum Kloster Dalheim in Lichtenau. Da haben die Besucher bereits 1700 Jahre Kulturgeschichte der Laster und Sünden hinter sich. »Die 7 Todsünden« ist die erste museale Beschäftigung mit dem Thema.

Sie beginnt schon im Klostergarten. Dort begrüßt ein Ortsschild den Eintretenden: »Bundesligastadt Paderborn«. Man wundert sich, bis man den von einem Ast hängenden roten Sandsack mit der Aufschrift »Zorn« wahrnimmt, und das Schild an der Rosskastanie, das den unschuldigen Baum als »geizigen Giganten« schmäht. Schließlich sei er wegen seiner kurzlebigen Blütenpracht und der ungenießbaren Früchte ein »Symbol barocker Verkommenheit«. Ob das stolze Ortsschild also für Hochmut steht?

Die Exponate im Garten deuten schon an, was während des Rundgangs immer wieder aufblitzt: Die so genannten Todsünden sind so tödlich gar nicht mehr. Allzu oft in der Kulturgeschichte wurden sie instrumentalisiert oder zumindest umgewertet. Was vorgestern noch tabu war, war gestern gesellschaftlicher Konsens – und wird heute wieder kritisch gesehen.

Gleich zu Beginn schreitet man durch das »Portal der sieben Sünden«, das uns »abholt«: Fotografische Alltagsszenen beweisen, wie die großen Laster sich heute manifestieren. Ein Selfie steht für den Hochmut, der schimpfende Autofahrer für den Zorn. Dazu allgegenwärtige Sprüche aus der Werbung: »Heute ein König!«, »Geiz ist geil!», «Der Duft, der Frauen provoziert.« Heute darf kokettiert werden mit den vermeintlichen Sünden. Sie klingen offenbar noch in uns nach, haben aber längst ihren Schrecken verloren. Das war einmal anders.

Eremitisch in der Wüste lebende Mönche waren es, die im 4. Jahrhundert zunächst acht »Hauptlasten« ausmachten, die den Asketen in Versuchung führen könnten – die Traurigkeit gehörte noch mit dazu. Davon zeugt das älteste Ausstellungsstück, eine beschriebene Keramikscherbe. Papst Gregor machte Ende des 6. Jahrhunderts den Hochmut als Wurzel alles Bösen aus und leitete sieben Kardinalsünden daraus ab. Seitdem gehörten sie fest zur katholischen Morallehre.

Diese Herzdamen gewähren tiefe Einblicke in die Doppelmoral der frühen Adenauerzeit. Spielkarten wie diese durften in den 1950er Jahren nur unter der Ladentheke gehandelt werden. Foto: Wirtschaftswundermuseum, Bohn

Diese Herzdamen gewähren tiefe Einblicke in die Doppelmoral der frühen Adenauerzeit. Spielkarten wie diese durften in den 1950er Jahren nur unter der Ladentheke gehandelt werden. Foto: Wirtschaftswundermuseum, Jörg Bohn

Das Gros der Objekte in diesem ersten Ausstellungsraum stammt allerdings aus dem Spätmittelalter, der Blütezeit der Lehre von den Lastern. Der Kanon der sieben Todsünden wurde populär über Predigten (in der Ausstellung ist ein Ausschnitt zu hören) und durch das Sakrament der Beichte (symbolisiert durch einen Beichtstuhl) aber auch über Abbildungen, Altarbilder oder anderen Kirchenschmuck.

Über die Kirchen gelangten die magischen Sieben in die weltliche Literatur und Kunst, etwa in Peter Dells holzgeschnitzte Statuetten, die die Sünden im frühen 16. Jahrhundert als Frauengestalten zeigen. Aus jener Zeit stammt auch das wohl skurrilste Stück: der gläserne Dildo einer Äbtissin aus dem Damenstift Herford. Unsterbliche, bis heute beliebte Heldenfiguren aus dem Spätmittelalter sind die personifizierte Sünde selbst, etwa Don Juan, die Mann gewordene zornige Wollust. Auch viele Märchenfiguren stehen für eine Sünde: die Frau des Fischers für Völlerei bzw. Maßlosigkeit, die Stiefmütter von Schneewittchen und Aschenputtel für Neid, Pechmarie für Trägheit.

Im Barock dann die erste Umwertung einer Sünde: Völlerei und Verschwendung galten (auch der Kirche) plötzlich als Statussymbole. Schuld war die Kirchenspaltung: Der Barock ist die sinnliche Antwort auf das nüchterne Erscheinungsbild des Protestantismus. Einen Raum weiter wird man sich daran erinnern angesichts der Fotos überladener Büffets und gedankenlosen Genießens in den 1950er Jahren: Nach den Entbehrungen des Krieges hatte man schließlich Nachholbedarf und fand am Schlemmen nichts Schlimmes. Das ist heute, im Zeitalter der Selbstoptimierung und Körperdisziplin, wiederum anders.

Mit der Industrialisierung begann die Beschleunigung des Lebens: Müßiggang konnte die erstarkende Wirtschaft nun wirklich nicht gebrauchen. Dabei war mit der Sünde der »Trägheit« ursprünglich gar nicht nur Faulheit gemeint, sondern Trägheit des Herzens, die Gleichgültigkeit z.B. gegenüber anderen Menschen, ausgedrückt etwa in dem biblischen Gleichnis vom barmherzigen Samariter.

Vielschichtig wird es in dem Teil der Schau, die die Zeit des Nationalsozialismus betrachtet: Die Nazis instrumentalisierten die Sünden geschickt, um ihre Gegner zu diffamieren (die geizigen oder habgierigen Juden) und nutzten die Popularität des Todsünden-Konzepts, um eigene Werte zu propagieren: »Die einzige Sünde heißt Feigheit«, hieß es auf einem Propagandaplakat. Der große Globus aus Adolf Hitlers »Führerbau« in München zeigt das Einstichloch eines Bajonetts, vermutlich von einem alliierten Soldaten – gleichermaßen ein Symbol für Hochmut und Zorn.

Nach dem Krieg machte die sexuelle Revolution Wollust salonfähig, wovon u.a. Ausschnitte aus Oswalt-Kolle-Videos zeugen. Rudi Dutschkes Lederjacke und seine Karteikarten stehen für den Zorn der 1968er. Wie dreidimensionale Mind-Maps hängen beleuchtete Schautafeln für jede Sünde im letzten Raum, zur Wut gibt es die Assoziationen »Wutbürger«, die Figur des »Hulk«, Anti-Stressbälle.

Am Ende kann man dann selbst eigene Gedanken zum Thema an die Wand heften. »Die einzige Sünde ist«, schrieb jemand, »definieren zu wollen, was eine Sünde ist.« Lektion gelernt.

 »Die 7 Todsünden« im LWL-Landesmuseum für Klosterkultur in Lichtenau-Dalheim; bis 1. November 2015; Tel. 05292/ 93 190; Katalog: Ardey Verlag, Münster, 29,90 Euro.




Eine Lehrerin im Jahre 1852

Gelegentlich hört man Eltern kleiner Jungen klagen, dass nicht nur im Kindergarten, sondern auch in der folgenden Grundschule ihr Sprössling fast ausschließlich dem Wirken von Erzieherinnen ausgesetzt sei. Dabei gibt es Lehrerinnen an Schulen noch gar nicht so lange.

Auch im Hattinger Rathaus hatten nur Männer das Sagen. (Foto Pöpsel)

Auch im Hattinger Rathaus hatten nur Männer das Sagen. (Foto Pöpsel)

Beispielhaft berichtet zu diesem Thema Gerhard Solbach im Märkischen Jahrbuch über die erste Lehrerin in Hattingen, und die kam erst vor gut 160 Jahren in den Schuldienst. Im „Amts-Blatt der Königlichen Regierung zu Arnsberg“ vom 9. Oktober 1852 wird in der Abteilung Personal-Chronik erwähnt: „Die Schulamts-Candidatin Caroline Weyland aus Iserlohn ist zur Lehrerin an der evangelischen Elementar-Schulanstalt zu Hattingen, Kreis Bochum, provisorisch ernannt worden.“

220 Kinder in einer Klasse

Diese Elementar-Schule war bis 1858 in einem der Fachwerkhäuser am historischen Kirchplatz untergebracht. Die Klassen waren bereits seit den 40-er Jahren überfüllt. Einer der Lehrer habe zeitweise 220 Schulkinder in einer Klasse unterrichten müssen, und deshalb beantragte der Schulvorstand, eine weitere Klasse einrichten zu dürfen und die Zuweisung einer sechsten Lehrkraft. Diese Stelle bekam jenes erwähnte Fräulein Weyland mit ihrer Ernennung am 21. Juli 1852. Sie war damit die erste Lehrerin in Hattingen, und in anderen Gemeinden der Region ging es mit der Zulassung von Frauen in den Schuldienst ähnlich zu.

Caroline Weyland hatte ihre Ausbildung in der Diakonissenanstalt in Kaiserswerth erhalten, der von dem evangelischen Theologen Theodor Fliedner begründeten Lehranstalt bei Düsseldorf. Die neue Lehrerin erhielt 120 Taler im Jahr als Gehalt – eine Summe, die für männliche Lehrer mit Familie zu gering gewesen wäre. Für ein unverheiratetes Fräulein hielt man die Summe jedoch für ausreichend, und so argumentierte der Schulvorstand auch ganz offen, dass man eine Lehrerin erbeten habe, weil sie billiger war. Allerdings versprach man dem Fräulein, dass sie bei Bewährung im Amt mit einer „angemessenen Gehaltserhöhung“ in einigen Jahren rechnen könne.

Auch Caroline Weyland hatte bis zu 120 Kinder in einer Klasse zu unterrichten. Zeitgleich mit ihrer Anstellung war auch für die unteren vier Klassen die Trennung nach Geschlechtern eingeführt worden. Die vom Schulvorstand versprochene Gehaltserhöhung bekam sie aber trotz Gesuch nicht bewilligt, weil der Schulvorstand davon ausging, dass „sich die Volksschullehrer in der Stadt durch Privatunterricht viel Geld verdienten“, wie Gerhard Solbach in seinem Aufsatz schreibt. Das sei aber wohl sehr übertrieben gewesen.




Politik und Privates in der englischen Provinz um 1850 – ein Roman von Anthony Trollope

Die englische Provinz-Gesellschaft um die Mitte des 19. Jahrhunderts muss ein skurriles Typen-Kabinett gewesen sein.

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Diesen Schluss jedenfalls legt (auch) Anthony Trollopes 1855 erschienener Roman „The Warden“ nahe, der unter dem beinahe biedermeierlich anmutenden Titel „Septimus Harding, Spitalvorsteher“ auf Deutsch vorliegt, und zwar in der allzeit beachtenswerten Bibliothek der Weltliteratur des Manesse Verlages.

Der ungemein disziplinierte Vielschreiber Trollope (1815-1882), hauptberuflich ein umtriebiger und reisefreudiger Postbeamter, der immerhin 47 Romane verfasste und mithin an Balzacsche Dimensionen heranreichte, führt uns abermals ins fiktive westenglische Städtchen Barchester, dessen Bewohner er überaus detailverliebt beschreibt.

Vorangeschickt sei noch dies: Handwerklich ist der weltläufige Mann, der – ein geradezu modernes Konzept – ganze Romanserien mit gleich bleibendem Personal ins Werk setzte, sozusagen über jeden Zweifel erhaben. Der Zeitgenosse von Dickens und Thackeray, der sich selbst als literarischer Nachfahre von Jane Austen begriffen hat, zählt zu den wichtigsten Chronisten der viktorianischen Ära. In Deutschland ist er leider immer ein wenig unterschätzt worden. Auch diese Neuauflage zu seinem 200. Geburtstag (24. April 2015) dürfte daran nicht viel ändern.

Im besagten Barchester also begegnen wir der Hauptperson, jenem Geistlichen und Kantor Septimus Harding. Vom Bischof höchstpersönlich ins Amt eingesetzt, lebt er zudem recht gut dotiert als „Spitalvorsteher“, will heißen: Er leitet ohne viel Arbeitsaufwand die Geschicke eines stiftungsfinanzierten Armenhauses für zwölf alte Männer, die dort einen erträglichen Lebensabend verbringen.

Alles geht Jahr für Jahr seinen ruhigen Gang, bis ausgerechnet Hardings Schwiegersohn in spe, der Chirurg John Bold, sich in der Rolle eines Reformers und Weltverbesserers gefällt. Immer hartnäckiger forscht er nach, ob Hardings Gehalt eigentlich noch dem mildtätigen Stiftungsgedanken entspricht – oder ob das gute Geld nicht vielmehr den betagten Heiminsassen zustünde. Da zieht eine Gestalt der neuen Zeit mit Furor zu Felde.

Schon bald erfasst die gezielt geschürte rebellische Stimmung die angeblich übervorteilten Greise. Vollends bricht der Skandal aus, als die quasi „unfehlbare“ Zeitung „Jupiter“ (gemeint war wohl die „Times“) den Fall aufgreift und Harding attackiert. Die Artikel, die man heute vielleicht als „Shitstorm“ bezeichnen würde, werfen den Spitalvorsteher dermaßen aus der gewohnten Lebensbahn, dass er sein Amt freiwillig aufgeben will. Es soll auch nicht der Hauch eines Zweifels auf seiner Amtsführung liegen.

Nun hat aber der so gewissenhafte Harding, Vater zweier Töchter, bereits einen anderen Schwiegersohn, nämlich den mit allen rhetorischen Wassern gewaschenen Erzdiakon, der vehement die Interessen der anglikanischen Staatskirche vertritt, die ihre Autorität von reformerischen Bestrebungen bedroht sieht. Er will unter allen Umständen verhindern, dass Harding vor den Angriffen zurückweicht.

Und also setzt ein Ringen zwischen den Liebhabern der Töchter ein, in dem es um die (religions)politische Macht geht; wie denn Trollope überhaupt vom Räderwerk der Politik eine Menge verstanden hat. Abstecher seines Romans ins weltstädtische London zeigen, dass all dies die bloß provinzielle Perspektive weit übersteigen könnte.

Es ist heute noch hochinteressant zu lesen, wie sich hier das Politische mit dem Privaten vielschichtig und konfliktreich verschränkt. Der vielwissende Erzähler versucht, rundum Realismus und Gerechtigkeit walten zu lassen. Gleichsam im täglichen Umgang hat Trollope seine Figuren spürbar ins Herz geschlossen, wie fragwürdig ihr Verhalten auch immer sein mag. Speziell auch die Töchter und Ehefrauen geraten in den Blick, wobei sich die Frage erhebt, welchen Einfluss sie in einer männerdominierten Welt geltend machen können.

Trollope vermag etwa die raffinierten Winkelzüge eines Advokaten ebenso süffig zu schildern, wie er inständig melodramatische Szenen entwirft. Der Heißsporn Bold will aus Liebesgründen all seine Klagen gegen Harding zurückziehen, doch da hat sich die Sache schon verselbständigt. Schicksal, nimmt deinen Lauf. Am Ende trägt keiner wirklichen Nutzen davon, doch es ist etliches Porzellan zerschlagen. Und alle, die sich als Helden aufplustern wollten, haben sich als tragikomische Charaktere erwiesen.

Dass dann alles nicht ganz so schlimm kommt wie befürchtet, legt Trollope am Schluss dar, als wolle er begütigen und seine Leser(innen) denn doch lieber ruhig schlafen lassen. Ja, er stellt sogar sedierend fest: „…wir haben es weder mit vielen Personen noch mit aufregenden Ereignissen zu tun…“ Außer vielen Zeilen nichts gewesen? Von wegen. Wir nehmen lieber mit Fug an, dass Trollope hier von höherer Warte und mit kaum verhüllter Ironie spricht.

Anthony Trollope: „Septimus Harding, Spitalvorsteher“. Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Andrea Ott. Nachwort von Doris Feldmann. Manesse Verlag. 384 Seiten. 22,95 Euro.




Würziger Hopfen, weißer Schaum: Betrachtungen zum „Tag des Bieres“

Ein sumerischer Opfertisch: Die Sumerer kannten schon vor 6000 Jahren das Bier. Foto: Deutscher Brauer-Bund

Ein sumerischer Opfertisch: Die Sumerer kannten schon vor 6000 Jahren das Bier. Foto: Deutscher Brauer-Bund

Wilde Hefen waren es, die vor 6000 Jahren bei den alten Sumerern im Zweistromland für die erste Gärung sorgten. Das Bier war geboren – ein Getränk, das mit dem blonden oder braunen Gerstensaft von heute allerdings nicht mehr viel zu tun hat. Unsere geschmacklich einwandfreien und reinen Biere ließen sich erst im Zuge wissenschaftlicher und industrieller Entwicklungen im 19. Jahrhundert erzeugen. Aber eine Quelle unserer Bierkultur ist bald 500 Jahre alt und wurde am Georgitag des Jahres 1516 unterschrieben: Grund genug, jedes Jahr am 23. April den „Tag des Bieres“ zu begehen.

Die Quelle ist das Bayerische Reinheitsgebot, gegeben von Wilhelm IV., Herzog in Bayern, zu Ingolstadt. Die Forderung ist eindeutig: „Ganz besonders wollen wir, daß forthin allenthalben in unseren Städten, Märkten und auf dem Lande zu keinem Bier mehr Stücke als allein Gersten, Hopfen und Wasser verwendet und gebraucht werden sollen“, heißt es in der Urkunde. Die vierte Zutat, die Hefe, war damals noch nicht greifbar; erst dem dänischen Botaniker Emil Christian Hansen gelang es, im Carlsberg-Laboratorium in Kopenhagen eine Methode zur Reinzucht von Hefen zu entwickeln. Er beschrieb sie 1883 erstmals. Heute versuchen Mini-Brauereien wieder experimentell, mit Hilfe von Spontangärung durch anfliegende Hefen geschmacklich eigenwillige Biere zu brauen.

Das Original: Die Urkunde mit dem Reinheitsgebot von 1516. Foto: Deutscher Brauer-Bund.

Das Original: Die Urkunde mit dem Reinheitsgebot von 1516. Foto: Deutscher Brauer-Bund.

Das Bayerische Reinheitsgebot galt ab 1906 im gesamten deutschen Reichsgebiet. Bayern hat 1918 sogar seinen Verbleib in der neuen Republik unter anderem von der Geltung des Gesetzes abhängig gemacht. Bier ist damit bis heute eines der reinsten Lebensmittel – auch wenn moderne Hefen und Hopfensorten und die Aufbereitung des Brauwassers die Qualität der Zutaten verändert haben.

Hopfen versus Grut

Dass es lange vor dem Reinheitsgebot ein Bewusstsein für die Qualität des Bieres – im Mittelalter schließlich eines der Hauptnahrungsmittel der Bevölkerung – gegeben hat, bezeugen zahlreiche Zunftordnungen aus den für ihr Bier berühmten norddeutschen Städten. Von dort drang das Hopfenbier auch in die Gegenden ein, in denen wohl schon zur Zeit von Christi Geburt das „Grut“ als Bierwürze verwendet wurde. Grut ist eine Kräutermischung aus dem Gagelstrauch mit seinen starken ätherischen Ölen und verschiedensten Kräutern, von Schafgarbe bis Thymian, dazu unter Umständen auch Zutaten wie Wermut und Fichtenspitzen.

Im Land um Rhein und Ruhr waren diese „Grutbiere“ bis weit in die Neuzeit hinein verbreitet. In Dortmund etwa gab es wohl schon im Mittelalter eine städtische Aufsicht über die Qualität des Bieres, die sich nach dem Stadtbrand von 1232 aber erst Mitte des 13. Jahrhunderts in schriftlichen Quellen fassen lässt. Die Stadtrechnungen lassen auf die Bestandteile des Dortmunder Bieres schließen: Gersten- und Hafermalz und Grut aus Hopfen, Lorbeer und der Sumpfpflanze Porst (Rhododendron tomentosum, Moor-Rosmarin), heute auf der Roten Liste der gefährdeten Pflanzenarten. Porst verstärkte die Alkoholwirkung, konservierte das Bier aber auch.

Die Dortmunder liebten ihr Grutbier offenbar. 1548 beklagte der Stadtchronist Dietrich Westhoff eine Verdrängung des Grutbiers durch andere Sorten, so dass schließlich „des edeln gruten beers wenig gebrouwert wert“. Der letzte Gruter in Dortmund gab 1551 sein Gewerbe auf. Die Ratsherren mussten neumodisches Hopfenbier trinken, das ihnen wohl wegen der fehlenden aromatischen Würze nicht so gut geschmeckt haben soll.

Mit technischer Innovation zur Bier-Weltstadt

Erst die moderne Brautechnik ermöglichte gleichbleibende Qualität und lange Haltbarkeit. Ein Kupferkessel in einem Sudhaus. Foto: Deutscher Brauer-Bund.

Erst die moderne Brautechnik ermöglichte gleichbleibende Qualität und lange Haltbarkeit. Ein Kupferkessel in einem Sudhaus. Foto: Deutscher Brauer-Bund.

Um bei Dortmund zu bleiben: Das industrielle Brauwesen, für das die Stadt berühmt werden sollte, ist der von Bayern ausgehenden untergärigen Braumethode zu verdanken. Verbunden mit technischen Innovationen wie der Dampfmaschine und der von Carl Linde erfundenen maschinellen Kühlung konnte ganzjährig Bier in gleichbleibender Qualität gebraut werden. Die längere Lagerfähigkeit – davon spricht heute noch die Bezeichnung „Lager“ – ermöglichte auch den Export. Um 1900 wurde ein Viertel des weltweit industriell gebrauten Bieres in Deutschland hergestellt. Neben Kohle und Stahl trat das Bier als dritte Säule der industriellen Entwicklung.

Heute ist der Biermarkt in heftiger Bewegung. Die Zeit, in der internationale Großkonzerne versuchten, das Reinheitsgebot zu kippen, ist zum Glück – vorerst? – vorbei. Es bleibt zu hoffen, dass die Grundlage der deutschen Bierqualität auch den Abschluss der Verhandlungen um das TTIP-Abkommen überstehen möge. Die Absatzzahlen für klassische Biersorten gehen seit Jahren zurück. Die Deutschen trinken pro Kopf und Jahr nur noch 107 Liter Bier (2014) und stehen damit auf Platz zwei der Statistik gleichauf mit den Österreichern – und weit überholt vom „Bierweltmeister“ Tschechien mit 144 Litern.

Allerdings: Mit mehr als 5500 Biermarken und 95 Millionen Hektolitern Jahresproduktion sind die Deutschen nach wie vor die „Europameister“ des Bieres. Und auch die Zahl der Brauereien geht nicht zurück, wie der Brauer-Bund vermeldet: Sie stieg von 1281 im Jahr 2004 auf 1352 im letzten Jahr. Dennoch: Viele kleine und mittelständische Brauereien müssen ums Überleben kämpfen; andere, wie etwa die Hausbrauereien in Oberfranken, haben ihre Nische entdeckt und sprechen den Bierliebhaber mit variantenreichen regionalen Spezialitäten an.

Bierwerbung von einst: Zum Glück blieb die blonde Halbe keine "Fata Morgana". Historische Postkarte aus der Sammlung Willi Dürrnagel, Würzburg

Bierwerbung von einst: Zum Glück blieb die blonde Halbe keine „Fata Morgana“. Historische Postkarte aus der Sammlung Willi Dürrnagel, Würzburg

Auf solche Spezialitäten setzen nicht nur die Kleineren. Auch große Brauereien besinnen sich zurück auf Vielfalt und Individualität. In Dortmund beherrscht inzwischen die Radeberger Gruppe den Braumarkt, pflegt aber mit der Hövels Hausbrauerei am Hohen Wall ein Bier aus der Gründungszeit der alten „Brauerei von Hövel, Thier & Co.“ von 1854. Die alte Marke „Dortmunder Bergmann Bier“ wurde 2010 wiederbelebt und hat so viel Erfolg, dass 2014 die Planungen für eine neue Braustätte aufgenommen wurden.

In der alten Borbecker Dampfbierbrauerei in Essen werden seit den achtziger Jahren wieder traditionelle und neue Sorten gebraut und ausgeschenkt. Und apropos Grutbier: Das „Gruthaus“ in Münster experimentiert mit den Rezepten aus dem 15. Jahrhundert: „Erste Versuche ergaben ein sehr wohlschmeckendes und erfrischendes Kräuterbier mit süßlich-floraler Note“, heißt es auf der Homepage.

2016, wenn der 500. Jahrestag des Reinheitsgebots-Erlasses gefeiert wird, dürfte sich auch das historische Interesse auf das Bier lenken lassen. Liebhabern sei jetzt schon die Bayerische Landesausstellung 2016 in Aldersbach im Passauer Land empfohlen: Das Zisterzienserkloster mit einer wundervollen barocken Asam-Kirche ist Schauplatz von „Bier in Bayern“. Am 29. April 2016 geht’s los: Bis 30. Oktober – während der Sommer- und Herbst-Urlaubszeit – steht das „fünfte Element“ der Bayern im Mittelpunt der über zwei Millionen Euro teuren Schau.




„Diese gebrochene Landschaft“ – Günter Grass 2010 in der Kulturhauptstadt Ruhrgebiet

Grass im Landschaftspark

Grass im Landschaftspark

„Mehr Licht – Die europäische Aufklärung weiter gedacht“ hieß das große Kulturhauptstadt-Projekt, das das Literaturbüro Ruhr 2010 auf die Bühnen des Reviers brachte. Neben anderen Themen handelte dieses Projekt auch von „Sprachkritik als Praxis kritischen Denkens“ und von der „Verantwortung des Intellektuellen“.

Als Gast im Theater Bochum und im Landschaftspark Meiderich las Günter Grass dazu aus seinem Buch „Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung an die deutsche Sprache“. Entgegen allen Gerüchten, Grass sei ein grantiger, spröder, alles dominieren wollender eitler Großschriftsteller, traf ich auf einen freundlichen, offenen, warmherzigen Gesprächspartner, der sehr gut zuhören konnte.

Aufklärung und Sprache
Günter Grass hat sich zeitlebens beharrlich mit der Dialektik und dem Elend der Aufklärung auseinandergesetzt – und er sah trotz aller Fehlentwicklungen die Aufklärung nicht gescheitert, sondern setzte auf ihre vergessenen Wurzeln, auf ihre Öffnung und Weiterentwicklung durch Selbstaufklärung, setzte auf Dazulernen, Humor, Engagement, Wissen, die Vernunft des Herzens.

In „Grimms Wörter“ erzählte er nicht nur die Lebensgeschichte der Brüder Grimm, er erzählte auch die rund 130jährige Entstehungsgeschichte des „Deutschen Wörterbuchs“. Und er erzählte Teile seiner eigenen Geschichte als Künstler/Intellektueller in der Bonner und Berliner Republik.

Günter Grass schrieb aber nicht nur von Buchstaben in einem Wörterbuch, sondern auch selbst lustvoll sprachspielend in Buchstaben, in und mit Lauten, Silben, Wörtern. Und beim Umgang mit den Wörtern – wie die Brüder Grimm „Wort auf Wort“ „nach (deren) Herkommen“ befragend –  erschloss sich eben auch die Welt, oder besser: seine Welten. Mit den Worten spielend (manchmal etwas zu sehr) und sie doch ganz und gar ernst nehmend, verwob er Biografien, politisches Zeitgeschehen, Menschen, erzählte Geschichte und Geschichten, kam von Höcksken auf Stöcksken, rettete fast verschollene Worte und reanimierte tot geglaubte. Und schrieb zu guter Letzt gar das Deutsche Wörterbuch weiter und fort, ergänzte und erhellte es mit und durch neue Wörter, hässliche wie schöne.

Wider den Anschein von Einstimmigkeit
Von Pierre Bourdieu, der mit Günter Grass einst ein langes Fernsehgespräch führte, stammt der schöne Satz:  Es ist die Aufgabe des Intellektuellen, den Anschein von Einstimmigkeit zu durchbrechen. Genau diese Aufgabe „den Mund aufzumachen“, nahm Günter Grass immer wieder auf mutige-provozierende Art und Weise wahr. Durch seine Romane, Essays, Reden, politischen Interventionen und publizistischen Zwischenrufe.

Georg Christoph Lichtenberg, dem im Projekt „Mehr Licht!“ zwei Abende gewidmet waren und der auch in „Grimms Wörter“ eine wichtige Rolle spielt, hat in seinen Sudelbüchern geschrieben: „Es tun mir viele Sache weh, die anderen nur leidtun.“ Ein Aphorismus, der auch über dem Schaffen Günter Grass‘ stehen könnte; in der Nachfolge Lichtenbergs formulierte Grass in „Grimms Wörter“: „Mich schmerzt und ekelt mein Land, dessen Sprache ich anhänglich liebe.“   

Nestbeschmutzer Grass
Als Nestbeschmutzer wurde Grass oft geschmäht, dabei vergessend, dass es doch gerade der Schmutz, der vermeintliche Dreck ist, der ein Nest erst zusammenhält. Gern prügelt man hierzulande den Boten, wenn er auf die Banalität des Bösen oder heute besser: auf die Bösartigkeit des Banalen hinweist – etwa auf ein Primat der Ökonomie, das sich immer mehr auch als Ökonomie der Primaten entpuppt; eine Ökonomie, deren Folgen – so die seriöse Weltgesundsheitsorganisation – weltweit jährlich Millionen hungernder Kinder das Leben kostet. „Ich schäme mich meines zum bloßen Wirtschaftsstandort verkommenen Landes“, schrieb Günter Grass in „Grimms Wörter“.

Was gesagt werden darf
Dass Grass sich als Mahner aus dem Literatenolymp gelegentlich auch vergaloppierte, stimmt schon. Eine kurze heftige Debatte löste im April 2012 sein in drei großen europäischen Zeitungen veröffentlichtes Mahn-Gedicht „Was gesagt werden muss“ aus. Günter Grass hatte da einen israelkritischenText geschrieben, der in seiner Schlichtheit und Pose nicht nur politisch enttäuschte, sondern auch als Gedicht, als Wortkunstwerk.
Nicht wenigen seiner Kritiker aber gelang es, Grassens Niveau mit leichter Hand zu unterbieten. Kaum ein Kommentar zeugte von genauer Textlektüre, so scheiterten dann auch viele der nachgängigen Versuche, das Gedicht allein stellenlesend angemessen zu deuten. Der mittlerweile obligatorische Anti-Grass-Reflex verbaute jede tiefergehende  Reflexion. Grass wurde etwa vorgeworfen, er habe in einem Gedicht den radikal-fundamentalistischen iranischen Präsidenten Ahmadinedschad einen bloßen „Maulheld(en)“ genannt und so dessen Gefährlichkeit und Unberechenbarkeit nicht nur für Israel unzulässig verharmlost. Grass selbst aber schrieb im Gedicht: “das von einem Maulhelden unterjochte und zum organisierten Jubel gelenkte iranische Volk”, da steht also immerhin auch, dass Mahmud Ahmadinedschad das iranische Volk unterjocht. Und was heißt “unterjochen”, wenn man’s denn wissen will? Siehe Duden: “gefügig/willenlos machen, in Unfreiheit halten, niederhalten, unterdrücken, zu Sklaven machen; (gehoben abwertend) knechten”.

Von der Kunst des Verstehens (Hermeneutik) wurde jedenfalls bei den meisten Kritikern vor dem Verriss des vermeintlich zu iranfreundlichen Grass-Gedichtes keinerlei Gebrauch gemacht. Kunst des Verstehens, das hätte geheißen: Gründliche Textlektüre, auch, um sich der eigenen Vorurteile und Vorverständnisse bewusst zu werden.

Grass & das Ruhrgebiet
In der Zeitschrift Essener Unikate wurde Günter Grass 1996 mit dem Satz zitiert: „Es hat mir trotzdem in Essen gefallen. Warum – weiß ich nicht mehr so genau. Vielleicht weil Essen im Ruhrgebiet liegt und diese gebrochene Landschaft so primär nach Literatur schreit.“ In „Grimms Wörter“ tauchte zuletzt auch Duisburg auf, dem sich Oskar Matzerath in „Die Blechtrommel“ schon einmal von Düsseldorf aus näherte. Sogar von Frauen aus Gelsenkirchen wird uns erzählt, und vom Rand des Ruhrgebietes, von Sprockhövel. So kam das Ruhrgebiet also pünktlich zum Kulturhauptstadtjahr noch einmal in das Werk eines Literaturnobelpreisträgers.
Günter Grass wurde zudem nicht müde, an einen Autor des Ruhrgebiets zu erinnern, der nie ein Ruhrgebietsautor war. Dieser Autor, am Silvesterabend 1937 in Duisburg geboren, dieser Freund, dem Günter Grass auch ein Mentor war, starb 1979 viel zu früh an Krebs, Grass besuchte ihn oft am Sterbebett, dieser Freund war natürlich: Nicolas Born. Dessen Bücher, Briefe, Gedichte wurden vor nicht allzu langer Zeit von seiner Tochter Katharina Born im Wallstein Verlag neu herausgegeben.
Bei Grassens Begrüßung 2010 im Landschaftspark Meiderich schlug ich deshalb vor: „Ehren wir heute Günter Grass auch, indem wir seinen Freund ehren. Hiermit schlage ich offiziell vor, das Überfällige zu tun, nämlich endlich eine große Straße oder einen Platz nach Nicolas Born, dem wichtigsten in Duisburg geborenen Schriftsteller, zu benennen.“ Günter Grass hat sich diesem Vorschlag sofort angeschlossen – und ihn vor der Presse einige Male wiederholt. Leider ohne Erfolg.

Ich bin sicher, es würde Günter Grass freuen, hier zum Schluss einige Zeilen Nicolas Borns zu lesen:

Eine besonders schöne Blume
ein besonders schönes Wetter
öffne die Fenster die Fenster
heute Nacht werden die Lampen heller brennen
eine gute Nachricht trifft ein
oder lieber Besuch




Der Geschichte ein Gesicht geben: Erinnerung an eine Dortmunder Lesung mit Günter Grass

Die Revierpassagen sind nun mal ein Blog mit regionalem Schwerpunkt im Ruhrgebiet. Daher hier eine kleine Erinnerung an einen Auftritt des heute verstorbenen Günter Grass im Harenberg City Center zu Dortmund. Wer dabei war, wird heute daran denken: Es war am Sonntag, 19. September 1999; drei Tage, bevor ihm der Literaturnobelpreis zugesprochen wurde. Ich schrieb damals für die „Westfälische Rundschau“:

Dortmund. Immenser Andrang zur neuesten Folge der Reihe „Kultur im Tortenstück“ im Dortmunder Harenberg City Center: Als Günter Grass aus seinem Buch „Mein Jahrhundert“ las, lauschten ihm über 500 Menschen andächtig. Wäre mehr Platz gewesen, so wären gewiss doppelt so viele gekommen.

Zuerst fielen die Farben auf: Nicht nur, weil im Hause zugleich eine Ausstellung mit Grass’ Lithographien und seinen farbenfrohen Original-Aquarellen zum Buch eröffnet wurde. Grass, mit dunkelgelbem Jackett und Weste angetan, erquickte sich auf dem Lesepodium aus einem Glase, das einen sicherlich guten Rotwein darbot. Auch das ist Kultur.

Ein gemütlicher Frühschoppen also? Keineswegs. Der 71jährige hatte am Abend zuvor in Köln gelesen und nach Dortmund noch einen zweiten sonntäglichen Auftritt in Duisburg vor sich. Dortmund war freilich nicht nur das mittägliche Zwischenspiel, sondern ein Ereignis für sich.

Offen gesprochen: Wir haben das „Jahrhundert“-Buch vor einigen Wochen nicht allzu günstig rezensiert. Und ich meine weiterhin, dass es nicht der ganz große Wurf des Autors geworden ist. Wahr ist aber auch: Beim Vorlesen, zumal durch Grass selbst, gewinnen die Texte ganz enorm.

Mit beinahe sprudelnder Lebendigkeit las Grass ein Dutzend Jahres-Episoden. Er trug die Geschichten fast wie ein Schauspieler vor, unterstrich die Worte durch prägnante Gesten. So wurden manche Gestalten greifbar, die sich aus den Tiefen des meist schrecklichen deutschen Jahrhunderts schwankend nahten. Man verstand, was das heißt: der Geschichte ein Gesicht geben.

So etwas jene tanzfreudige Frau von 1921, die einen Brief an Kurt Tucholsky schreibt; der Galerist, der 1933 schaudernd den Nazi-Aufmarsch zur „Machtergreifung“ erlebt; die Kinder, unter ihnen der kleine Günter Grass, die 1937 „an der Pissbude“ auf dem Schulhof den Spanischen Bürgerkrieg nachspielen.

Oder die „Trümmerfrau“ von 1946; die Dichter Brecht und Benn am Grabe Kleists, anno 1956; Willy Brandts historischer Kniefall 1970 in Warschau, der sogar einen konservativen Journalisten zutiefst beeindruckt. Dieser Text bewegte die Zuhörer spürbar ganz besonders. Herzliches Lachen dann über jeden Opa, der sich 1978 plötzlich den Punkern anschließt. Doch auch da gab’s einen politischen Hintersinn, über die Komik hinaus.

Applaus zwischen den Episoden, ganz großer Beifall am Schluss. Den Blumenstrauß, den er bekam, reichte Grass sogleich an seine Schwester Waltraut weiter. Die wohnt nahebei – in Lüdenscheid.

Schließlich ging’s zum Signieren, wobei Grass, natürlich Pfeife rauchend, ohne Murren auch Sonderwünsche („Schreiben Sie bitte: ,Für Hans-Jürgen’“) erfüllte. Auch hierbei ein frappierender Andrang. Man dachte schon: Die Schlange höret nimmer auf…




Abschied vom „lebenslustigen Pessimisten“ – zum Tod des Schriftstellers Günter Grass

Es gab Zeiten, da war sein Ruhm kaum noch zu steigern. Als Günter Grass im Herbst 1999 den Literaturnobelpreis bekam, war er auf dem Gipfel der weltweiten Reputation angelangt. Heute ist Deutschlands gewichtigster „Großschriftsteller“ der Gegenwart mit 87 Jahren gestorben.

Über die Toten nur Gutes, heißt es. Doch manches kann und soll man nicht verschweigen: Die moralische Instanz, die Grass über Jahrzehnte gewesen ist, hat leider Risse bekommen. Sein allzu spätes Eingeständnis, mit 17 Jahren Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein, hat die Nation im Sommer 2008 wochenlang bewegt. Vor allem auch konservative Gestalten, die der betont linksliberale Grass zuvor vielfach mit seinen (zuweilen auch polemischen) Äußerungen verärgert hatte, witterten nun ihre Chance auf Revanche. Sie warfen ihm anmaßende Selbstgerechtigkeit vor. Aber waren sie selbst frei davon? Von derlei Richtungsstreit abgesehen, war und bleibt es ein Fehler von Grass, so lange in eigener Sache geschwiegen zu haben.

Das wohl sinnvollste Gedenken - Grass' "Danziger Trilogie" Lektüre für die nächsten Tage und Wochen.

Das wohl sinnvollste Gedenken – Grass‘ „Danziger Trilogie“ als Lektüre für die nächsten Tage und Wochen.

Das literarische Lebenswerk des Mannes, der am 16. Oktober 1927 in Danzig geboren wurde, hat jedoch über solche Querelen hinaus Bestand.. Und sein Publikum hat allzeit treu zu ihm gehalten. Zudem wird schon seit vielen Jahren eifrig für seinen Nachruhm gesorgt. Eine umfangreiche Werkausgabe im Steidl-Verlag versammelt die Schriften für die Nachwelt.

Einen „lebenslustigen Pessimisten“ hat sich Günter Grass einmal selbst genannt. Wahrhaftig gab es ja den geradezu „barocken“ Genussmenschen Grass, der seine Gäste gern als meisterlicher Koch verwöhnte. Doch man kannte auch den mürrischen Mann, für dessen Empfinden der Fortschritt gar zu schneckenhaft kroch und der sich, zuweilen auch schon mal etwas penetrant und hochfahrend, in jedwede Debatte einmischte.

In einer brenzligen Phase freilich, um 1968 herum, wollte Grass selbst die Entwicklung lieber bremsen und in Richtung Sozialdemokratie dirigieren. Der SPD hat er sich überhaupt zeitweise mehr verschrieben, als es einem unabhängigen Autor guttun konnte.

Allein die Tiergestalten, die zentral in seinen Büchern vorkommen, liefern reichlich Stoff für Phantasien und Interpretationen: Zu nennen wären „Die Vorzüge der Windhühner“ (Lyrik-Erstling von 1956), „Katz und Maus“ (Novelle von 1961), „Hundejahre“ (1963), „Aus dem Tagebuch einer Schnecke“ (1972), „Der Butt“ (1977), „Die Rättin“ (1986), „Unkenrufe (1992) und „Im Krebsgang“ (2002). Zwei philosophierende Ratten waren schon im Theaterstück „Hochwasser“ (1957) aufgetreten.

Die Bildkraft dieser Menagerie beruht nicht auf Zufall. Grass, der eine Steinmetzlehre absolvierte und Kunstakademien in Düsseldorf und Berlin besuchte, hat literarische Einfälle stets anhand eigener Skulpturen und Graphiken überprüft. Bei diesem ungemein schöpferischen Autor war kaum auszumachen, ob etwa ein Roman ursprünglich aus Bildern hervorgegangen war – oder ob sprachliches Fabulieren die ersten Keime gesetzt und die Bilder nach sich gezogen hat. Am Anfang war das Wort? Nicht immer und unbedingt.

Unstrittig lässt sich der Mittelpunkt im literarischen Universum des Günter Grass bestimmen: seine Geburtstadt Danzig, ein Brennpunkt geschichtlicher Verwerfungen des 20. Jahrhunderts. Aus dem Fundus seiner Kindheit hat Grass unvergessliche Geschichten geschöpft.

Über Oskar Matzerath und „Die Blechtrommel“ (1959) herrscht weithin Einvernehmen: Der Roman bedeutete seinerzeit den „Durchbruch“ der deutschen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg. Er galt als Fanal gegen die Verdrängung der Nazi-Vergangenheit, obgleich oder gerade weil er weder politisiert noch moralisiert, sondern die wirren Zeitläufte mit saftigen Figuren darstellt.

Nach Erscheinen seiner Bücher überwog hernach meist vorschnelle Erregung, denn Grass mischte sich denn doch vehement in gesellschaftliche Fragen ein. Wortgewaltig malte er die Apokalypse einer zerstörten Umwelt („Die Rättin“) oder begab sich in die Untiefen des Matriarchats („Der Butt“).

Grass war beileibe kein gewöhnlicher Schriftsteller, sondern mit den Jahren zunehmend ein Repräsentant, dessen Meinung zu vielerlei Themen gefragt oder auch gefürchtet war. Manchmal mochte man dabei an eine herausragende Figur wie Thomas Mann denken, dessen Geburtsstadt Lübeck sich Grass zur Wahlheimat erkor. Beiden Größen widmete die Hansestadt Gedenkorte: Buddenbrook-Haus und Grass-Haus sind wahre Pilgerstätten.

Feindselige Regungen hat Grass oft zu spüren bekommen. Für horrende Hysterie sorgte 1995 sein Roman „Ein weites Feld“. Der Kritiker Marcel Reich-Ranicki zerriss den Band auf einem „Spiegel“-Titelbild buchstäblich in der Luft. Ein Skandal, der sich aber nach und nach verflüchtigte. Angesichts der inzwischen verflossenen Zeit wirken die damaligen Aufregungen ziemlich lachhaft.

Mögen sich Grass und Reich-Ranicki bei einer leidenschaftlich-kernigen Debatte im Jenseits versöhnen – oder auch nicht. Mit den beiden – und einigen anderen Protagonisten – ist eine Ära der kulturellen Nachkriegsgeschichte unwiderruflich dahin. Doch die Bücher künden noch davon.




Im Zweifel für das Leben: Ian McEwans neuer Roman „Kindeswohl“

Für die Londoner Familienrichterin Fiona Maye gehören komplizierte juristische Fragen zum Alltag, doch der Fall des Adam Henry ist besonders bizarr. Sein Schicksal steht im Zentrum von Ian McEwans Roman „Kindeswohl“.

Der 17jährige Adam Henry ist an Leukämie erkrankt. Eine ihn rettende Bluttransfusion lehnen seine Eltern und auch er selbst aus religiösen Gründen kategorisch ab. Die Familie gehört zu den Zeugen Jehovas, die mit Verweis auf Worte der Bibel einen solchen medizinischen Eingriff untersagen. Die behandelnde Klinik kann und will sich mit der Verweigerungshaltung nicht zufrieden geben und stellt einen Eilantrag, die Blutübertragung durchführen zu dürfen. Aufgrund des gesundheitlichen Zustandes des jungen Patienten dulde die Entscheidung keinen Aufschub, betont das Hospital.

Auf den nun folgenden Seiten, 30 an der Zahl, breitet der Autor nun den Verlauf Gerichtsverhandlung aus, bei der rechtliche und ethische, religiöse wie auch psychologische Gesichtspunkte ausführlich erörtert werden. Dabei liegt der Gedanke nahe, dass es im Prinzip keinen Zweifel an der Haltung der Richterin geben dürfte. Es müsste doch ihre Pflicht sein, ohne Wenn und Aber für das Leben des Minderjährigen einzutreten.

Nun kennt das englische Recht allerdings die Besonderheit der Gillick-Kompetenz. Damit ist gemeint, dass junge Leute auch unter 16 Jahren intellektuell durchaus in der Lage sein können, zu entscheiden, ob sie sich bestimmten medizinischen Maßnahmen unterziehen wollen. Benannt ist diese Fragestellung nach Victoria Gillick. Die katholische Mutter von zehn Kindern startete in den 80er Jahre eine Initiative, die sich gegen eine Gesetzesänderung wandte, die vorsah, dass Mädchen unter 16 Jahren die Pille auch ohne das Wissen der Eltern verschrieben bekommen sollten. Daraus entstand eine juristische Auseinandersetzung, ob und wann Minderjährige die Reife haben, selbst über ihr Schicksal zu befinden.

Eindrucksvoll schildert der Autor, wie sich die Richterin nun selbst darum bemüht, Denken, Fühlen und Handeln des todkranken Jungen zu ergründen. Sie unterbricht die Verhandlung, um ihm am Krankenbett zu besuchen. So kühl und distanziert, wie der Leser sie bislang kennen gelernt hatte, ist die Juristin hier längst nicht mehr. In die Entscheidung, die die Richterin letztlich trifft, bezieht sie zwar ein, dass Adam über eine hohe moralische Kompetenz und einen scharfen Intellekt verfügt, sieht ihn aber eingezwängt in ein religiöses System, das ein freies Denken nicht wirklich zulässt. Dieses System, das ist ihr bewusst, ist für die Eltern mehr als nur eine Glaubensgemeinschaft. Insbesondere durch die schwierige Lebensgeschichte des Mannes ist die Gemeinde zu einem wichtigen Hort geworden, der Halt und Hoffnung bietet.

Doch mit dem Spruch der Richterin, die Klinik solle Adam wie beantragt behandeln, findet die Geschichte noch längst nicht ihr Ende. Das Leben danach, also nach der Transfusion, hält für alle Beteiligten noch schwierige Fragen parat. Wie gehen die Eltern nun mit ihrem Sohn um? Und was denkt der Sohn eigentlich wirklich über seine Eltern? Fiona Maye haben die Erlebnisse auch nicht unbeeindruckt gelassen und das auf eine Weise, mit der sie selbst wohl kaum gerechnet hätte. Sie kann nicht verhehlen, gewisse Gefühle für Adam entdeckt zu haben, was wiederum wie ein Treppenwitz in ihrer kinderlosen Ehe wirkt, hat ihr Mann Jack sie doch genau zu dem Zeitpunkt, als die Klinik sich an das Gericht wandte, gebeten, ihm eine außereheliche Beziehung zu gestatten.

Von beiden Partnern zeichnet Ian McEwan zunächst das Bild karrierebewusster Persönlichkeiten, die rational und wenig emotional ausgerichtet sind. Während Jack aber nun eher von innen heraus zu der Ansicht gelangt ist, dass ihm eine Affäre mal gut täte, sind bei seiner Frau eher äußere Einflüsse, die ihre bisherigen Vorstellungen ins Wanken bringen. Mit Adam verbindet sie zudem eine Liebe zur klassischen Musik. Im Zuge eines Konzerts erfährt sie schließlich, welche dramatische Wendung das Leben des jungen Mannes noch genommen hat.

McEwan versteht es brillant, nicht nur verschiedene ethische und juristische Ebenen miteinander zu verknüpfen, sondern die Vielschichtigkeit auch ansprechend darzustellen. Die Einbindung des Falls in einen Ehekonflikt mag zwar gewagt erscheinen, weil das eine mit dem anderen erst einmal nicht in Verbindung steht, doch es gelingt dem Autor, die Protagonisten mit ihren zum Teil widersprüchlichen Motiven sehr klar zu charakterisieren.

Ian McEwan: „Kindeswohl“. Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Diogenes Verlag, Zürich. 224 Seiten, 19,90 Euro




Weil der Energieriese RWE drastisch sparen will: Industriedenkmal Koepchenwerk bedroht

Als hätte ich es geahnt. Vor ein paar Tagen verfasste ich einige Zeilen über drei Buchstaben (die sehen echt erbärmlich aus) und über ein industriehistorisch wertvolles Elektrizitätswerk, das nach seinem Konstrukteur Arthur Koepchen benannt wurde. Und heute lese ich, dass die Eigentümerin (früher war das mal die VEW), dass also RWE in Essen aufgrund des hohen Kostendrucks im Allgemeinen drastisch sparen will: Das Schieberhaus am Oberbecken mit dem Schriftzug RWE, die oberirdischen Druckrohrleitungen und das Krafthaus am Ufer des Hengsteysees stünden zur Disposition, berichtet das online-portal www.derwesten.de.

Ansicht des Koepchenkraftwerks am Hengsteysee zwischen Dortmund, Hagen und Herdecke. (Foto: Bernd Berke)

Ansicht des Koepchenkraftwerks am Hengsteysee zwischen Dortmund, Hagen und Herdecke. (Foto: Bernd Berke)

Blöd nur, dass das ganze Ensemble des Koepchenwerks seit 1986 unter Denkmalschutz steht, auf den sich nun die gastgebende Stadt Herdecke beruft und beim Denkmalamt in Münster um Hilfe bittet. Tatsächlich können Denkmäler wieder aus der schützenden Liste genommen werden. Wenn beispielsweise ein Brand sie zerstört, oder wenn ein übergeordnetes öffentliches Interesse das notwendig macht – oder dem Eigentümer ist der Erhalt aus wirtschaftlichen Gründen nicht mehr zuzumuten.

Dann ist anscheinend bei der RWE die Armut ausgebrochen: Wie derwesten.de schreibt, musste das Unternehmen „2,5 Millionen Euro in den letzten rund 20 Jahren für Instandsetzungsarbeiten an den nicht mehr benötigten Gebäuden wegen Witterungs- und Altersschäden bereit stellen“.

Und weiter wird RWE-Sprecher André Bauguitte dort so zitiert: „Um langfristig den sicheren und wirtschaftlichen Betrieb der Anlage zu gewährleisten und angesichts der schwierigen Lage, in der sich RWE Power auch durch den Rückgang der Einsatzzeiten für das Pumpspeicherkraftwerk befindet, sind die finanziellen Anstrengungen nicht mehr zu vertreten.“

Da kommen mir ja die Tränen. 2,5 Millionen in 20 Jahren. 2,5 Millionen durch 20 ist? 125.000. (Uih, ich gestehe, ich hatte mich zunächst mit 25.000 schwerst verrechnet, hiermit korrigiert,. Das ändert aber nichts an meiner Einschätzung, dass dies für RWE nahe bei den Peanuts ankommt.) Also die geradezu erschütternde Belastung der RWE durch den Erhalt der Substanz im Koepchenwerk machte über zwei Jahrzehnte 125.000 Euro jährlich aus. Was mag wohl ein RWE-Chef im Jahr verdienen? Das kann man bestimmt irgendwo nachlesen.

Nah- und Teilansicht des Koepchenwerks (Foto: Bernd Berke)

Nah- und Teilansicht des Koepchenwerks (Foto: Bernd Berke)

Dass kulturbewusste Menschen nicht gerade zahlreich zu denen zählen, die managend in Großunternehmen mit Zahlen jonglieren, überrascht mich nicht wirklich. Die argumentative Beliebigkeit allerdings überrascht mit schon: „Technisch und wirtschaftlich gibt es auch nach 75 Jahren keine Alternative zu Pumpspeicherkraftwerken. Bis heute hat die Anlage in Herdecke mit historischem Kern und moderner Technik nichts von ihrer Bedeutung verloren. Im Gegenteil: Gerade im liberalisierten Strommarkt und besonders durch den Zubau von Windkraftanlagen mit ihrem stark schwankenden und entsprechend durch andere Quellen auszugleichenden Leistungsangebot sind die Anforderungen an das Pumpspeicherkraftwerk Herdecke in den letzten Jahren gestiegen.“ So heißt es auf einem pdf, das auf den Internetseiten der RWE die Vorzüge des Koepchenwerkes rühmt.

Klar, damit sind vermutlich nur die heutigen technischen Anlagen gemeint und nicht das denkmalgeschützte Ensemble. Aber der Energieriese kratzt mit seinen Sparplänen (2,5 Millionen in 20 Jahren) an einem absoluten Wahrzeichen der Region. Und das, um jährlich eine Summe Geldes einzusparen, die vermutlich sogar von den Portokosten übertroffen wird. „Das nachhaltige Nettoergebnis – die Kennzahl, die zur Errechnung der Dividende herangezogen wird – fiel auf 1,28 Mrd. Euro, wie der Konzern am Dienstag in Essen bekanntgab. Im Jahr zuvor hatte RWE 2,31 Mrd. Euro verdient.“ So schrieb die „Welt“ in diesen Tagen. Ja, schwere Zeiten in so einer Energiewende. Aber es ist immer noch das „Nettoergebnis“, von dem die „Welt“ da schreibt.

Technik hat Geschichte, Industrie hat Geschichte, die müssen in einer Industrieregion sichtbar bleiben. Wer leichtfertig ausradiert, was in Landschaft und Städten an die dynamische Entwicklung erinnert, die naturgemäß in Technik und Industrie stecken, der vergeht sich letztlich am eigenen Unternehmen. Und RWE wünscht sich ganz sicher, dass noch eine lange Unternehmenszukunft bevorsteht, während der man viel Zeit haben wird, auf eine ruhmreiche und innovative Vergangenheit zurückzublicken. Oder?




Besseres Klima, leichterer Zugang, neue Akzente: Museum in Hamm öffnet nach Umbau

Am östlichen Rand des Ruhrgebiets steht eine kulturelle Festivität ins Haus: Nach 21 Monaten Bauzeit feiert die Stadt Hamm die Wiedereröffnung ihres Gustav-Lübcke-Museums.

Damit es sich auch lohnt, wird dieses Ereignis fast das ganze Jahr über zelebriert, sozusagen Stück für Stück. Die einzelnen Abteilungen der Dauerausstellung öffnen nach und nach in jeweils neuer Form, die erste größere Wechselschau („Sehnsucht Finnland“ mit skandinavischer Kunst) wird es im Oktober geben.

Äußerlich sieht man so gut wie nichts vom Umbau: das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm. (Foto: Bernd Berke)

Äußerlich sieht man so gut wie nichts vom Umbau: das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm. (Foto: Bernd Berke)

An diesem Sonntag beginnt der Reigen mit einem Tag der offenen Tür. Dann werden bereits die völlig umgestaltete Abteilung für Stadtgeschichte (auf verdreifachter Fläche) und Beispiele zur Kunst des 20. Jahrhunderts zu sehen sein. Ein Herzstück des Museums, die immerhin revierweit größte Ägypten-Sammlung, wird ab 30. August wieder präsentiert.

Aber was heißt hier „wieder“? Auch hier sollen sich Umfang und Darstellung gründlich ändern. Die Abteilung Altes Ägypten profitiert gleichfalls vom Umbau, bei dem vor allem die Klimatechnik nebst Heizung und Lüftung aufwendig erneuert wurde. Folge: Hamm bekommt jetzt in allen wesentlichen Bereichen so manche Leihgabe, deren Überlassung vorher zu riskant gewesen wäre.

Insgesamt rund 5,1 Millionen Euro hat die Stadt ins Museum investiert. Durchaus erwähnenswert: Dieser Kostenrahmen wird höchstwahrscheinlich eingehalten, vielleicht sogar knapp unterschritten. Man wird es sehen, wenn die letzten Ingenieur- und Handwerkerrechnungen beglichen sind.

Innenansicht mit Zugangsrampen (Foto: Bernd Berke)

Innenansicht mit Zugangsrampen (Foto: Bernd Berke)

Von den Ergebnissen der Sanierung sieht man als Besucher kaum etwas, denn die zeitgemäße technische Ertüchtigung hat sich vor allem in den „Eingeweiden“ des Museums vollzogen. Wer es genauer wissen will, kann sich einer Technikführung anschließen.

Das von Friederike Daugelat geleitete Haus mit seinen 4000 Quadratmetern Ausstellungsfläche bietet weitere Neuerungen, die der besseren Orientierung dienen: Die Besucher werden mit einem Farbleitsystem durch die einzelnen Bereiche geführt (Gold für Ägypten usw.) und mit neu gestaltetem Info-Material versorgt. Vor allem aber gibt es jetzt schicke Multimedia-Guides, die kostenlos ausgeliehen werden können und beim Rundgang per Ton und Film in die Museumsbestände einführen.

Überhaupt legt man offenbar großen Wert darauf, die Besucher nicht mit ihren etwaigen Fragen allein zu lassen. In der Abteilung für Kunst des 20. Jahrhunderts (trotz einzelner Glanzpunkte insgesamt wohl eher eine Kollektion aus der zweiten Reihe, wenn man ehrlich ist) eröffnet man den Zugang bevorzugt über die Künstler-Persönlichkeiten und erläutert lieber von Grund auf, was es mit der Kunst und Sammelschwerpunkten wie Expressionismus oder Informel auf sich habe. Man versucht also, anhand eines recht schmalen Ausschnitts aus der Sammlung, die weniger kundigen Besucher „da abzuholen, wo sie sind“, um eine nicht eben schmerzfreie Formel aus der populären Publizistik zu zitieren.

Stadtgeschichtliche Abteilung: Wohnzimmer der 50er Jahre. (Foto: Bernd Berke)

Stadtgeschichtliche Abteilung: Wohnzimmer der 50er Jahre. (Foto: Bernd Berke)

Das Gustav-Lübcke-Museum, seit 1993 im jetzigen Bau an der Neuen Bahnhofstraße ansässig, bietet also eine ausgesprochen vielfältige Mischung aus Gebieten der Kunst- und Kulturgeschichte, auch Archäologie und Angewandte Kunst (beides ab 14. Juni geöffnet) zählen noch hinzu. Geschärftes Profil sieht eigentlich anders aus. Hamm hat fast schon eine Wunderkammer.

Deutlich aufgewertet wird jetzt die Hammer Stadtgeschichte. Auch hier steht leichtere Faßbarkeit im Vordergrund. Die stadthistorische Präsentation wirkt liebevoll arrangiert, wenn auch hie und da noch etwas brav und bedächtig.

Die Chronologie reicht jetzt – anders als vordem – über den Zweiten Weltkrieg hinaus. So gibt es beispielsweise einen Raum zur „Wirtschaftswunder“-Zeit mit Kleinwagen, Jukebox und zeittypischem Wohnzimmer. Neu ist auch ein zeitungsgeschichtlicher Strang, bei dem man sich vom lokalen Platzhirschen („Westfälischer Anzeiger“) ausgiebig hat helfen lassen. Auch so eine Public Private Partnership.

Am Beginn des stadtgeschichtlichen Rundgangs geht es übrigens um den veritablen Mord an einem Kölner Erzbischof. Die Folgen dieser Bluttat führten anno 1226 (am Aschermittwoch) zur Gründung der Stadt Hamm. Dramatische Anfänge, fürwahr.

  • Gustav-Lübcke-Museum, 59065 Hamm, Neue Bahnhofstraße 9. Tel. 02381/17 75 01
  • Am Sonntag, 8. März 2015, Wiedereröffnung mit einem Tag der offenen Tür ab 10:30 Uhr (Musik vor dem Museum) bzw. 11:30 Uhr (offizieller Festakt) bis 18 Uhr.
  • Reguläre Öffnungszeiten Di-Sa 10-17 Uhr, So 10-18 Uhr. Eintritt: Dauerausstellung 2,50 Euro, ermäßigt 1,30 Euro, Kinder bis 15 Jahre frei.



Vertane Chance: Das „Ruhrepos“ von Kurt Weill und Bert Brecht

Kurt Weill in einer Farbaufnahme. Foto: Kurt Weill Fest Dessau

Kurt Weill in einer Farbaufnahme. Foto: Kurt Weill Fest Dessau

Wenn ab heute (27. Februar) das Kurt Weill Fest in Dessau sich erneut dem Schaffen eines der wichtigen Komponisten der Moderne der zwanziger Jahre widmet, darf auch ein Seitenblick auf das Ruhrgebiet erlaubt sein. Für das Industrierevier wäre nämlich um ein Haar ein Werk entstanden, dessen kulturgeschichtliche Bedeutung ähnlich entscheidend wie die der 1928 uraufgeführten „Dreigroschenoper“ hätte werden können.

Die Rede ist von der Idee eines „Ruhrepos“, das mit einem Text von Bert Brecht, Musik von Kurt Weill und Film- und Fotoaufnahmen von Carl Koch als avantgardistisches Theaterprojekt geplant war. Es sollte ein zeitgeschichtliches Dokument werden, das alle Ausdrucksmittel zu einer Einheit zusammenführt; ein Werk „episch-dokumentarischen Charakters“, gedacht für ein Publikum aus allen Schichten der Bevölkerung.

Rudolf Schulz-Dornburg. Fotografie vermutlich aus den dreißiger Jahren.

Rudolf Schulz-Dornburg. Fotografie vermutlich aus den dreißiger Jahren.

Dass der hochfliegende Plan scheiterte, ist aus der Rückschau ein herber Verlust. Dabei stimmte der Beginn durchaus zuversichtlich. Die Idee zu der „Ruhrrevue“ hatte nach eigenem Bekunden der Dirigent Rudolf Schulz-Dornburg. Der 1891 in Würzburg geborene Sohn eines Sängers wurde 1927 an die Städtischen Bühnen Essen verpflichtet. Der damalige Essener Oberbürgermeister Franz Bracht (1877-1933) verband mit dem neuen Generalmusikdirektor die Hoffnung auf ein aktiveres Theaterleben. Uraufführungen sollten das Niveau der Essener Opernbühne heben.

Der Zentrumspolitiker wurde 1924 OB und legte 1932 sein Amt niederlegte, um in Berlin als Reichsminister ohne Geschäftsbereich der Regierung Franz von Papens anzugehören. Überzeugt, dass wirtschaftlicher und kultureller Erfolg notwendig zusammengehören, wollte er in der Kulturpolitik Initiativen ergreifen. Schulz-Dornburg (1891-1949) war dafür der richtige Mann: Er galt als Pionier der modernen Musik und hatte in seiner Zeit als Leiter des Städtischen Orchesters Bochum 1919-1926 auch schon die Idee, mittelalterliche und zeitgenössische Musik in einem bzw. mehreren Konzerten miteinander zu konfrontieren.

„Etwas außerordentlich Wichtiges und Schönes“

Schulz-Dornburg, Gründer der Folkwang-Schule für Musik, Tanz und Sprechen, trat bereits im Frühjahr 1927 an Kurt Weill mit der Bitte heran, in direktem Auftrag der Stadt „eine große revue-artige Arbeit zu schaffen“. Bereits im Mai 1927 war Bert Brecht mit im Boot und die Idee weit gediehen: Schulz-Dornburg berichtete an den Oberbürgermeister, er habe den Eindruck, die Industrieoper (kann) „etwas außerordentlich Wichtiges und Schönes werden, das den Absichten der Stadt in künstlerischer Beziehung besonders deutlich schon im ersten Jahr erkennen lässt“.

Die Dinge entwickelten sich rasch: In den ersten Junitagen 1927 reisten Kurt Weill, Bert Brecht und der Filmregisseur Carl Koch (1892-1963) nach Essen, um Konzept und Details der „Ruhroper“ mit dem Beigeordneten Dr. Hüttner als Vertreter des Magistrats zu besprechen. Ein Vertragsentwurf spricht von der Herstellung eines musikalischen Bühnenwerks (Ruhrepos), das Musik von Kurt Weill, Dichtung von Bert Brecht und Film- und Lichtbildkompositionen von Carl Koch enthält. Die Stadt Essen sichert sich das Vorrecht der Aufführung im Rheinland und in Westfalen. Die Uraufführung solle bis spätestens 1. April 1928 unter Leitung von Schulz-Dornburg erfolgen. Acht weitere Aufführungen seien zu spielen.

Schon Mitte Juni lieferte Koch einen Kostenvoranschlag für den Film- und Lichtbildteil: 200 Meter Trickfilm, 1000 Meter bereits bestehende Filmszenen, 2000 Meter neue Aufnahmen wie Landschaften, Details aus dem Ruhrgebiet und Atelieraufnahmen von Schauspielern. Dazu plante Koch 50 Lichtbilder. 43.000 Mark sollte das gesamte visuelle Material kosten.

Kurt Weill und Bert Brecht. Foto: Kurt-Weill-Fest Dessau

Kurt Weill und Bert Brecht. Foto: Kurt-Weill-Fest Dessau

Zu gleicher Zeit legten Weill, Brecht und Koch dem Essener Verhandlungspartner Dr. Hüttner ein Exposé vor, das detailliert auf künstlerische Mittel eingeht. „Das Ruhrepos soll sein ein künstlerisches Dokument des rheinisch-westfälischen Industrielandes, seiner eminenten Entwicklung im Zeitalter der Technik, seiner riesenhaften Konzentration werktätiger Menschen und der eigenartigen Bildung moderner Kommunen. Da nun aber der ganze Aufbau des Ruhrgebiets für unsere Zeit charakteristisch ist, soll das Ruhrepos gleichzeitig ein Dokument menschlicher Leistung unserer Epoche überhaupt sein“, umreißt Brecht die künstlerische Absicht des Gesamtprojekts.

Es ging also nicht um ein Werk über regionale Eigenheiten, sondern um nichts weniger als eine universale Darstellung und Dokumentation der modernen Zeit, für die Brecht als Ruhrgebiet als exemplarisch ansah. Er vergleicht sie mit dem „Orbis Pictus“ des 17. Jahrhunderts, der die ganze Lebenswelt einer Epoche ins Bild zu fassen versuchte.

Brecht spricht auch vom „episch-dokumentarischen Charakter“ des Werks: Ein Zeugnis seiner frühen Beschäftigung mit dem epischen Theater, das um 1936 zu seinem grundlegenden Essay zu diesem Thema führte. Die Grundstrukturen dieser modernen Theaterform sind im „Ruhrepos“ schon zu beobachten: Das Überwinden der „Schau-Spieler“ und der Fixierung auf die handelnden Personen, das Erzählen durch die Bühne selbst, die Distanz zwischen den Vorgängen auf der Bühne und ihrem Hintergrund.

Dazu planten Brecht und Weill, die wechselnde Bilderfolge der modernen Revue einzusetzen, wenn auch „zu einem ganz anderen Zweck“ als im Unterhaltungsgenre. Die Ausdrucksmittel sollten von rein symphonischen Musiksätzen über Chorpartien, Arien und Ensembles bis hin zu Sprechchören reichen, denen Brecht die Aufgabe zuwies, die (Bild-)Szenen zu erläutern und die durchgehende Handlung zu gestalten. Die „verschiedenen Abteilungen“ des Epos sollten von Szenen aus der „allerletzten Geschichte des Ruhrgebiets“ über eine „Eroika der Arbeit“ und „einfachen Liedern an einem Kran“ bis hin zu „einer Reihe primitiver lustiger Auftritte“ reichen. In den „Kranliedern“ Brechts von 1927 finden sich die einzigen identifizierbaren Spuren des „Ruhrepos“; ihr Titel deutet darauf hin, dass sie für das geplante Essener Projekt entstanden sein könnten.

Neue Einheit der Ausdrucksmittel

Auch Kurt Weill hatte für die Musik sehr konkrete Vorstellungen: Sie schließt „alle Ausdrucksmittel der absoluten und der dramatischen Musik zu einer neuen Einheit zusammen“, schreibt er kühn. Geplant seien keine „Stimmungsbilder“ oder „naturalistische Geräuschuntermalung“. Sondern die Musik präzisiere Spannungen der Dichtung und der Szene in Ausdruck, Dynamik und Tempo. Abgeschlossene Orchesterstücke sollten als symphonische Vor- und Zwischenspiele dienen. Arien, Duette, Ensemblesätze, kleinere Instrumentengruppen oder über den Raum verteilte Chöre mit ihren Instrumenten, aber auch Songs mit Jazz-Rhythmus oder „kammermusikalische Stücke komischer Art“ hatte Weill vorgesehen. Im melodischen Material plante Weill auch, ein Bergmannslied oder das „Flötenspiel eines Lumpensammlers“ zu verwenden. Das am besten mit einem szenischen Oratorium vergleichbare Stück sollte, so Weill, ein „neues Ineinanderarbeiten von Wort, Bild und Musik“ begründen.

Die Rolle des Bühnenbildes war ersetzt durch die Filme und Lichtbilder Carl Kochs. Er wollte im Ruhrepos den schon lange erwogenen Plan umsetzen, „Szenenbilder durch Lichtbildwurf“ zu ersetzen. Entscheidend war für Koch, dass die Fotografie durch die „nackte Wiedergabe der Wirklichkeit den Wert echter Dokumentation“ habe.

Das Stadttheater Essen auf einer Postkarte von 1912.

Das Stadttheater Essen auf einer Postkarte von 1912.

Ende Juli 1927 schien der endgültige Vertragsabschluss nur noch eine Formsache zu sein – ein Eindruck, den offenbar Schulz-Dornburg auch bei Besuchen in Berlin erweckte. Auch die finanziellen Probleme mit der Höhe der Film- und Fotokosten schienen bewältigt: Koch ging von den ursprünglichen 43.000 Mark auf 12.000 Mark zurück – zuzüglich 4.500 Mark, wie sie die beiden Autoren Weill und Brecht ebenfalls erhalten sollten. Offenbar hatten Brecht und Koch bereits mit der Arbeit begonnen, als es Ende Juli zu einer unerwarteten Wendung kam.

Am 29. Juli schrieb Dr. Hüttner, es sei fraglich, ob der Auftrag bereits für die kommende Spielzeit erteilt werden könne. Die Absicht, eine „Ruhrrevue“ durch die Herren Brecht und Weill schreiben und komponieren zu lassen, sei leider durch Indiskretion in die Öffentlichkeit gedrungen und schon in der Berliner Presse mitgeteilt worden. „Das Echo, das diese Nachrichten gefunden haben, ist sehr unerfreulich und hat sofort lebhaften Widerspruch nicht nur in der Presse sondern auch in der Bürgerschaft wachgerufen. Es erscheint daher mehr als fraglich, ob es geraten ist, die erste Spielzeit mit einem Wagnis, dessen Ausgang doch recht ungewiss ist, zu belasten, und damit das Gelingen der ganzen mit der Neuorganisation des Theaters verfolgten Pläne ernstlich zu gefährden. Infolgedessen wird man daran denken müssen, die Revue vorläufig noch zurückzustellen. Dies ist auch die Ansicht des Herrn Oberbürgermeisters“, heißt es in dem Schreiben.

Aggressiver Antisemitismus

Es wäre anhand von zeitgenössischen Quellen noch zu prüfen, wie heftig die kommunalpolitische Aufregung um Schulz-Dornburgs ehrgeizige Opernpläne gewesen ist. Immerhin ist in der Essener Stadtbibliothek ein anonymes Flugblatt vom Sommer 1927 archiviert, in dem es heißt, durch die geplante Theaterreform sei „die Kunst Essens in Gefahr, völlig zu verjuden“. Auch auf das Weill/Brecht-Projekt wird Bezug genommen: „Als Zugstück für die Bühnen ist ein Schlager ausgedacht – eine Ruhrrevue – großer Theaterspektakel mit Ausstattung, Gesang und Tanz – genannt ‚Die große Ruhrrevue‘. Von wem der Gedanke ausgeht, erscheint unklar. Zur Ausführung sind aber von den Hintermännern des Planes die zwei Juden Brecht und Weil vorgeschoben, welche schon fest von der Stadt engagiert sind. (…) Diese zwei Juden sollen jetzt die ‚große Kunst‘ von Berlin nach Essen bringen“.

Wohl angesichts solcher Anfeindungen schreckte die Stadtverwaltung vor dem Projekt zurück. Auch Schulz-Dornburg sah offenbar seine Reformen in Gefahr und schrieb im Mai 1928, das „Ruhrepos“ wäre im Falle einer Aufführung aufgrund der negativen Einstellung in der Bürgerschaft „von der gesamten presse des ruhrgebiets vernichtet worden“. Entlarvend sind an dem Flugblatt nicht allein der aggressive Antisemitismus, sondern auch die Ressentiments gegen die Berliner Kultur und das trotzige Beharren auf dem eigenen Kulturbegriff: Die „Provinz“ habe es nicht nötig, sich aus der Metropole in künstlerischen Dingen belehren zu lassen. Das Blatt werte die eigene Rückständigkeit als Beleg eines hohen kulturellen Niveaus, analysiert Matthias Uecker in einer Arbeit über die Kulturpolitik im Ruhrgebiet der zwanziger Jahre.

Solche Kritik hat also offenbar als Vorwand gedient, das unbequeme und riskante Projekt zu beenden. Neue Vorstöße von Brecht und Weill im Januar und März 1928 jedenfalls blieben – trotz gegenteiliger Versicherungen von Schulz-Dornburg – ohne positives Ergebnis. Hüttner schrieb kategorisch, dass ein „Auftrag zur Herstellung des von Ihnen geplanten Ruhr-Epos vorerst nicht erteilt werden könne“. Das ehrgeizige Projekt, das ein Meilenstein des deutschen Theaters hätte werden können, war am provinziellen Horizont der Akteure in der städtischen Kultur gescheitert.

Die Vorgänge um das Ruhrepos sind in einem Aufsatz von Eckhardt Köhn im Brecht-Jahrbuch 1977 nachzulesen. Sein Titel: „Das Ruhrepos. Dokumentation eines gescheiterten Projekts“. Verlag Suhrkamp, Frankfurt 1977, S: 52-77.

Das Kurt-Weill-Festival eröffnet am 27.Februar die Reihe seiner 57 Veranstaltungen mit einem Konzert des MDR-Sinfonieorchesters im Anhaltischen Theater Dessau. Unter Kristjan Järvi bringt es ein Neuarrangement des Musicals „Johnny Johnson“ unter dem Titel „Braver Soldat Johnny. Die Geschichte eines ganz gewöhnlichen Mannes“.

Artist-in-Residence des Kurt Weill Festes ist Cornelia Froboess. Foto: Sabine Finger/Kurt Weill Fest Dessau

Artist-in-Residence des Kurt Weill Festes ist Cornelia Froboess. Foto: Sabine Finger/Kurt Weill Fest Dessau

Weills Interesse an einer neuen Zuordnung von Sprache und Musik, wie sie auch im Konzept zum „Ruhrepos“ deutlich wird, führte zur Thematik des diesjährigen Weill-Festes: Unter dem Motto „Vom Lied zum Song“ beleuchtet es diese Entwicklungen – und würdigt gleichzeitig den in Dessau geborenen Dichter Wilhelm Müller, heute noch bekannt als Verfasser der Vorlagen-Gedichte für Franz Schuberts Liedzyklen „Die Schöne Müllerin“ und „Winterreise“.

Artist-in-Residence Cornelia Froboess befasst sich in mehreren Veranstaltungen mit dem Thema Sprache und Musik, ebenso Katharina Ruckgaber und das Gürzenich-Quartett, der Bariton Wolfgang Holzmair, Ute Lemper oder Anna Haentjens. Das Anhaltische Staatstheater Dessau steuert einen Ballettabend nach John Miltons „Paradise Lost“ bei, u. a. mit Musik von Kurt Weill. Zum Abschluss am 15. März spielt die Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz unter Ernst Theis Kurt Weills „Royal Palace“ und Werke von Richard Strauss.

Karten und Information: www.kurt-weill-fest.de




Vor 70 Jahren: Als das Ruhrgebiet im Frühjahr 1945 befreit wurde

In den vergangenen Wochen wurden wir zwei Mal deutlich darauf hingewiesen, was vor sieben Jahrzehnten in Deutschland geschah: Die Bombardierung Dresdens, ein Symbol für den Untergang des „Dritten Reiches“, jährte sich am 13. Februar, und nach dem Tod des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker kamen alle Würdigungen auf seine berühmte Rede vor dem Bundestag zu sprechen, in der er den Tag der Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945 einen „Tag der Befreiung“ nannte. Was zum Kriegsende in der Rhein-Ruhr-Region geschah, soll hier kurz skizziert werden.

Mit der Landung alliierter Truppen in der Normandie ab dem 6. Juni 1944 begann das Ende des NS-Regimes im Westen. Am 21. Oktober 1944 wurde Aachen als erste deutsche Stadt befreit – während in anderen Reichsteilen weiter gekämpft und gestorben wurde. Erst Ende Februar kamen die Truppen der Alliierten an den Rhein – ein schwieriges Hindernis für den Vormarsch, denn die Deutsche Wehrmacht sprengte vor ihrem Rückzug sämtliche Brücken, zuletzt am 3. März 1945 im Bereich der Stadt Düsseldorf.

Die erste Überquerung des Rheins gelang dann den Amerikanern über eine Pontonbrücke am 7. März bei Remagen, und die aus Holland vorstoßende britische Armee überwand den Fluss erstmals am 24. März bei Wesel.

Weil gleichzeitig alliierte Trupen von Süden und Osten auf das Industriegebiet vorrückten, entstand nach und nach ein Kessel, der bekannte Ruhrkessel, in dem fast 300.000 Wehrmachtssoldaten eingeschlossen waren. Die Stadt Hamm wurde am 1. April befreit, und einen Tag später war der Ruhrkessel geschlossen.

Von Süden stießen die Alliierten über Siegen, Olpe und Schmallenberg vor, wo es noch heftige Kämpfe gab, und zu Ostern erreichten die Befreier die Ruhr. Am 18. April 1945 kapitulierten die eingeschlossenen Wehrmachtsteile im Ruhrkessel, die bedingungslose Kapitulation auf Reichsebene folgte erst an besagtem 8. Mai 1945. Hitler hatte sich schon am 30. April umgebracht.

Leider wurde im Osten Asiens weiter gekämpft. Am 6. und 9. August zündeten die Amerikaner über Hiroshima und Nagasaki ihre Atombomben, und darauf folgte mit der Kapitulation Japans am 2. September endlich das Ende dieses schrecklichen, von Deutschland begonnenen Weltenbrandes.




Baukunstarchiv NRW kommt nach Dortmund: Die Geschichten hinter den Fassaden

Bürger-Protest gegen den Abriss des Museums am Ostwall. Foto: Christine Kaemmerer

Bürger-Protest gegen den Abriss des Museums am Ostwall. Foto: Christine Kaemmerer

Am Ende hat kaum jemand mehr daran geglaubt: Voraussichtlich 2018 bekommt NRW ein Archiv für seine Baukunst. Die in Dortmund geplante Sammlung bewahrt nicht nur die Nachlässe wichtiger Nachkriegsarchitekten – sondern auch ein historisches Gebäude vor dem Abriss. Die Erfolgsgeschichte einer Idee.

Darmstadt, im Jahr 1814: Auf dem Speicher des Gasthofs »Zur Traube« findet ein Dekorationsmaler ein merkwürdiges Pergament, auf dem Bohnen zum Trocknen liegen. Zu sehen ist darauf die detaillierte Schnitt-Zeichnung eines Turms. Der Fund stellt sich als Sensation heraus: Es ist der Bauplan für den Nordturm des Kölner Doms, der damals schon seit fast 300 Jahren seines Weiterbaus harrt. Zwei Jahre später taucht in einem Pariser Antiquariat ein weiteres Puzzle-Stück der mittelalterlichen Architektur-Zeichnung auf. Die Arbeiten wurden endlich fortgesetzt. Wer weiß, wie der Kölner Dom ohne diese beiden Entdeckungen aussähe? Heute liegen sie öffentlich zugänglich im Dom aus – baukunsthistorische Dokumente von unschätzbarem Wert und zugleich Stoff einer spannenden Detektivgeschichte.

Kaum ein Bauwerk hat eine so lange und aufregende Baugeschichte wie der Kölner Dom. Und doch: Jede Bau-Epoche schreibt ihre Geschichte(n). Wo werden sie erschlossen, bearbeitet, erzählt? Zum Beispiel in Berlin: Das Baukunstarchiv an der Akademie der Künste dokumentiert vor allem die Berliner Moderne seit 1900. Oder im Architekturmuseum der TU München: Es umfasst eine halbe Million Zeichnungen und Pläne von 700 Architekten seit dem 16. Jahrhundert. In Rotterdam gibt es mit dem Architekturinstitut NAI einen zentralen Ort für die Archivierung aller Epochen und Aspekte der niederländischen Architektur.

Solche Einrichtungen sind »Orte der unerfüllten Möglichkeiten«, wie es im Baukunstarchiv Berlin heißt: Sie zeigen auch das, was nie gebaut wurde. Sie erzählen mehr über Werden und Verändern einer Idee, als ein fertiges Bauwerk es kann. Mitunter leben Pläne, Modelle und Schriftstücke sogar länger als die Gebäude. Baukunstarchive erzählen die Geschichten hinter den Fassaden, von Wunsch und Wirklichkeit, Wahrnehmung und Wirkung der Architektur.

Eines der Exponate: Der nicht realisierte Wettbewerbsbeitrag der Architekten Walter Köngeter und Ernst Petersen für das Mannesmann-Hochhaus.  Foto: A:AI Archiv für Architektur und Ingenieurbaukunst NRW

Eines der Exponate: Der nicht realisierte Wettbewerbsbeitrag der Architekten Walter Köngeter und Ernst
Petersen für das Mannesmann-Hochhaus. Foto: A:AI Archiv für Architektur und Ingenieurbaukunst NRW

Und Nordrhein-Westfalen? In NRW wurde nach dem Zweiten Weltkrieg so viel gebaut wie in keinem anderen Bundesland. Zeugnisse darüber finden sich in den Bauämtern, es gibt u.a. das Ungers Archiv für Architekturwissenschaft in Köln und die (teilweise zerstörte) Sammlung des Kölner Stadtarchivs. Was es nicht gibt, ist ein Ort, der diese Bestände vernetzt. Als sich vor etwa zwei Jahrzehnten zahlreiche bekannte Architekten in den Ruhestand verabschiedeten, drohten die Entwürfe und Pläne, Zeichnungen und Modelle einer ganzen Generation auf dem Müll zu landen – einer Generation, die noch ausschließlich auf Papier gearbeitet hatte, die die Nachkriegsmoderne begründete und deren Schaffen erst seit kurzem vielerorts eine Neubewertung erfährt.

Der Gedanke an das, was da verloren gehen könnte, war den  Hochschullehrern Uta Hassler und Norbert Nußbaum schier unerträglich. Die Architekturhistoriker begannen 1995, die Lücke zu schließen. An der TU Dortmund bauten sie das A:AI auf, das Archiv für Architektur und Ingenieurbaukunst NRW. In quasi letzter Sekunde retteten sie viele Nachlässe vor dem Aktenvernichter. »Anfangs gab es überhaupt keine Finanzierung, das Material lagerte in einem alten Industriegebäude«, erzählt Prof. Wolfgang Sonne, Hasslers Nachfolger am Lehrstuhl. Inzwischen beheimatet das Archiv über 50 Nachlässe von Bauingenieuren und Architekten, und es bestehen Zusagen für weitere Nachlässe, z.B. von Helge Bofinger, Walter Brune, Eckhard Gerber.

Vieles ist noch nicht katalogisiert, zugänglich ist das Archiv auf Anfrage. Doch Studierende und Wissenschaftler arbeiten seit 20 Jahren mit dem Material, haben Ausstellungen damit bestritten, zuletzt zum Werk des Bauingenieurs Stefan Polónyi. Das A:AI ist Mitglied der »Föderation deutscher Architektursammlungen«, immer wieder werden einzelne Exponate für Ausstellungen verliehen. Besonders beliebt: Eines der wenigen erhaltenen Raumstadt-Modelle von Eckhard Schulze-Fielitz, der Ende der 1950er Jahre das Konzept einer multifunktionalen, anpassungsfähigen Megastruktur für Städte entwickelte.

Die Sammlung blieb ein Provisorium – doch ein Gedanke reifte: Der Gedanke, dass das Bundesland ein eigenes Baukunstarchiv braucht, einen sichtbaren und öffentlichkeitswirksamen Ort, der Zeugnisse der Baukunst als Archiv bewahrt und in Ausstellungen und Veranstaltungen vermittelt. Die Initiatoren neben dem Dortmunder A:AI: Architekten- und Ingenieurkammer-Bau NRW, Stiftung Deutscher Architekten, Architekturforum Rheinland und die Landschaftsverbände. Vor drei Jahren gründete sich zur Unterstützung unter Schirmherrschaft des ehemaligen Landesbauministers Christoph Zöpel der »Förderverein für das Baukunstarchiv NRW«.

Ziel war ein Baukunstarchiv für NRW, das neben Architektur auch Ingenieurkunst, Städtebau und Landschaftsarchitektur in den Blick nimmt. Dafür stehen die Namen von Harald Deilmann, Josef Paul Kleihues und Stefan Polónyi. Die drei Architekten und Hochschullehrer hatten als Gründungsväter der Fakultät dafür gesorgt, dass Ingenieure und Architekten in Dortmund gemeinsam ausgebildet werden.

Zum Beispiel Kleihues: Er gehörte zu den Vorreitern eines Paradigmenwechsels im Städtebau, weg von der absoluten Verkehrsorientierung hin zur berühmten »kritischen Rekonstruktion« der Stadt. Kleihues plädierte dafür, historische Strukturen zu rekonstruieren und sich mit heutigen baulichen Möglichkeiten daran zu orientieren. Zwei berühmte Beispiele dafür sind fast täglich in den Medien: die von Kleihues neu geplanten Gebäude links und rechts des Brandenburger Tores, »Haus Liebermann« und »Haus Sommer«. Bei der Internationalen Bauausstellung 1984 in Berlin wurde Kleihues Planungsdirektor, »seine Gedanken prägen den Städtebau noch heute«, so Wolfgang Sonne.

Seine Erben wollten den Nachlass nach Dortmund geben, wo Kleihues nicht nur geforscht und gelehrt, sondern ab 1975 auch die »Dortmunder Architekturtage« etabliert und die internationale Architekten-Elite in die Stadt geholt hatte. Die Erben knüpften jedoch eine Bedingung an den Nachlass: Sie wollten ihn nur in das alte Museum am Ostwall geben, dem damaligen Schauplatz der Architekturtage. Und wieder mal war es knapp: Fast wäre der Nachlass in Berlin geblieben. Denn über dem geplanten Standort am Ostwall 7 schwebte in den vergangenen Jahren die Abrissbirne.

»Das Haus war – wie kaum ein anderes Gebäude der Stadt – ein Ort und Auslöser für Debatten über Stadt und Architektur«, beschreibt Architekturhistorikerin Sonja Hnilica, die zur Historie des Gebäudes geforscht hat. Es ist Dortmunds ältester Profanbau in der Innenstadt. Erbaut 1875 als Königliches Oberbergamt, wurde es 1911 zum Museum um- und nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut. Das Gebäude trägt Spuren aller Bauphasen, aus der Gründerzeit etwa die Segment-
bogenfenster. Prunkstück ist der original erhaltene, seit 1911 glasge-deckte Lichthof des Museums, der zwei Weltkriege überstand.

Trotzdem wurde schon nach 1945 ein Abriss erwogen. Schon damals kämpften Dortmunder Bürgerinnen und Bürger leidenschaftlich und erfolgreich für den Erhalt. Bis die Kunstsammlung im Kulturhauptstadtjahr 2010 in den frisch renovierten U-Turm umzog, Dortmunds neues »Zentrum für Kunst und Kreativität«. Dort ist die Sammlung nun – Nicht-Dortmundern wird es wohl ewig ein Rätsel bleiben – unter dem Namen »Museum Ostwall im Dortmunder U« zu sehen.

Das Haus am Ostwall war seitdem mal Theater-Spielort, mal Festivalzentrum, zeigte einige Ausstellungen. Meist aber stand es leer. Die nahe liegende Idee, dem Baukunstarchiv dort eine Heimat zu geben, scheiterte an der Finanzierung. Auf keinen Fall wollte die Stadt die laufenden Betriebskosten für das Haus weiter übernehmen. Die 1A-Lage der Immobilie mitten im Wallring war zu verführerisch. Die Stadt wollte das Grundstück an einen Investor verkaufen, der nach dem Abriss eine Seniorenwohnanlage hätte bauen lassen.

Doch Tausende Dortmunder, darunter viele Kulturschaffende, wollten nicht aufgeben. Sie gründeten die Bürgerinitiative »Rettet das ehemalige Museum am Ostwall«, die erfolgreich um prominente Mitstreiter warb. Saxofonist Wim Wollner nahm eine CD im Gebäude auf, die musikalisch für die Rettung wirbt. Eine Online-Petition wurde gestartet, rund 8.000 Unterschriften bekam der Dortmunder Oberbürgermeister Ullrich Sierau zwei Monate später überreicht. Beeindruckend – und doch sinnlos in den Augen vieler Beobachter. »Der Verkauf ist längst beschlossen, die Chancen auf Erfolg der Petition sind gering«, urteilten die Ruhr Nachrichten im Juli 2013. Auch Wolfgang Sonne, der zukünftige wissenschaftliche Leiter des Baukunstarchivs, machte sich damals wenig Hoffnungen um eine Zukunft des Hauses am Ostwall: »Das Projekt war zwischendurch mausetot.«

Doch hinter den Kulissen wurde weitergearbeitet – und schließlich ein Modell gefunden: Eine gemeinnützige Gesellschaft der Initiatoren betreibt die Einrichtung gemeinsam. Und dann ging es also doch: Kurz vor Weihnachten stimmte der Rat der Stadt Dortmund, allen voran der Oberbürgermeister, für den Erhalt des ehemaligen Museums als Baukunstarchiv – unter der Maßgabe, dass das Gebäude als offenes »Haus der Baukultur« für Kulturveranstaltungen weiter zur Verfügung steht. Dafür will maßgeblich die Bürgerinitiative sorgen, die sich  nun als Verein »Das bleibt!« neu formiert hat. Die Sanierungskosten von rund  3,5 Millionen Euro übernimmt zu 80 Prozent das Land, je 10 Prozent der Förderverein und die Stadt.

Es scheint wie eine schicksalhafte Fügung: Welches Gebäude wäre besser dazu geeignet, ein Archiv zu beherbergen, das das Bewusstsein für Baukultur schärfen soll – als ausgerechnet ein Gebäude, das selbst beinah der Geschichtsvergessenheit zum Opfer gefallen wäre?

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Der Text erschien in der Februar-Ausgabe des NRW-Kulturmagazins K.West

Lese-Tipp: Sonja Hnilica: „Das alte Museum am Ostwall. Das Haus und seine Geschichte.“ Essen, 2014, Klartext Verlag, 19,95 Euro

Hier eine Besprechung des Buchs in den Revierpassagen.




„Nachkriegskinder“: Das fortwährende Leiden unter den Soldatenvätern

Die Kölner Journalistin Sabine Bode (WDR, NDR) hat ganz offenkundig seit langem das Themenfeld ihres Lebens gefunden – und intensiv durchpflügt. Ihr liegen die deutschen Kriegs- und Nachkriegskindheiten am Herzen, mithin die mehr oder minder verborgenen Verheerungen, die der Zweite Weltkrieg auch noch im Seelenleben von Nachkommen der Täter angerichtet hat.

9783608980394Eines ihrer Sachbücher heißt „Nachkriegskinder“. Der bereits 2011 erschienene Band ist ein mehr als heimlicher Verkaufserfolg, er hat kürzlich bereits die sechste Auflage erreicht. Bevor man es nun weiterhin versäumt, ihn zu entdecken und zu empfehlen, bespricht man ihn lieber doch noch. Besser spät, als nie.

Tatsächlich leben ja auch noch enorm viele Menschen, die hier zumindest Bruchstücke aus ihren Biographien wiederfinden können, geht es doch laut Untertitel um „Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter“.

In etlichen eingehenden Gesprächen mit Zeitzeug(inn)en hat Sabine Bode die Historie sondiert. Es zeigt sich dabei immer wieder, wie sehr die seelische Innenausstattung einer bestimmten Epoche beileibe nicht nur persönliche, sondern zu großen Teilen eine kollektive Angelegenheit ist. Da ist eine ganze Generation im Schatten vielfach tyrannischer Väter aufgewachsen, die an der Kriegsfront höchstwahrscheinlich schwerste Schuld auf sich geladen haben, aber nie davon zu sprechen wagten.

Es sind charakteristische Jahre und Sozialtypen, deren Umrisse hier auftauchen; zutiefst widersprüchliche, innerlich zerrissene Väter, verbissen, verschwiegen und im Familienkreis auf ungemein pedantische Weise herrschsüchtig. Ja, arme Teufel waren sie natürlich auch. Irgendwie.

Man hatte diesen Männern die Jugend gestohlen und sie schickten sich ihrerseits an, ihrem Nachwuchs in grässlich verdrucksten Friedenszeiten die Kindheit zu versauen und so manche Freuden auszutreiben – mit willkürlichen Prügelstrafen und aller sonstigen Gewalt, die seinerzeit wie selbstverständlich dazugehörte.

Man lese als Ergänzung nur die üblen „Erziehungs“-Ratgeber von damals, die teilweise schon aus finsteren Zeiten stammten. Demnach waren etwa Jungen zur Härte abzurichten, indem man sie schon in frühester Kindheit lange allein vor sich hin schreien ließ. Man liest es heute noch mit kaltem Zorn.

Von manchen Vorfällen weiß ich auch selbst zu sagen, wie so viele andere Gleichaltrige: Mein Vater hatte sich als 17jähriger freiwillig an die russische Front gemeldet. Was er in und um Smolensk getan hat, blieb für mich allzeit im Dunkeln. Gegen Ende seines Lebens haben ihn die schrecklichen „Stahlgewitter“ noch einmal merklich durchzittert.

Eine abstruse Wutfigur, die ganz ähnlich auch in Sabine Bodes Buch vorkommt, war jene abgründig aggressive Spielart seines nachträglichen „Pazifismus“. Im Originalton hörte sich das so an: „Wenn du zur Bundeswehr gehst, schlag’ ich dich tot.“ Wortwörtlicher Wahnwitz. Andererseits erstaunlich, wie wenig Fotos und Dokumente aus seiner Soldatenzeit vorliegen. Was hat er verloren, was hat er vernichtet?

Im Buch wird übrigens eine Behörden-Quelle genannt, bei der man womöglich nähere Einzelheiten über die Kriegseinsätze der Väter erfahren kann, nämlich die Wehrmachtsauskunftsstelle WASt. Wer will, ziehe Erkundigungen ein.

Sabine Bode, selbst vom Jahrgang 1947, hat sich derart einlässlich in ihre Themen vertieft, dass sie als gute Zuhörerin weit über bloße Betroffenheitsliteratur hinaus gelangt. Hier wird sichtbar, was eine Generation überhaupt ausmacht. Viele Kinder reagierten insgeheim mit schmerzlichen Selbstvorwürfen auf das Geheimleben ihrer Väter, während die Mütter meist wegsahen und sich in Verdrängung oder Beschwichtigung übten. Sie kümmerten sich halt ums Alltägliche.

Welch eine stickige, verlogene, verbogene Zeit – diese 50er Jahre. Und welch unerlöste Lebensläufe zuhauf. Wie überaus harmlos muten hingegen spätere Altersgruppierungen wie etwa die „Generation Golf“ an.

Es mag stimmen, dass im Zuschnitt der Nachkriegsgeneration auch Erklärungsansätze für das Phänomen der fast durchweg links gewendeten Nach-„68er“ liegen.

Allerdings erhebt sich auch die Frage, wie wir damit umgegangen wären, hätten wir von unseren Vätern direkt und unverblümt die volle Wucht der Wahrheit erfahren, hätten wir also konkret von Erschießungen oder Vergewaltigungen gehört. Vielleicht wollten wir – im Vollgefühl moralischer Überlegenheit – nur halbwegs hartnäckig gefragt haben, aber dann lieber doch nicht alles wissen? Hätten wir als Kinder von Mördern Frieden mit unseren Eltern und mit uns selbst schließen können? Die ganze Republik wäre eine andere gewesen…

Es klingt plausibel, dass die Nachkriegskinder oft erst im höheren Alter gleichsam hinterrücks noch einmal von den Lebensdramen ihrer Eltern eingeholt werden. Sie haben sich eingeredet, dass man als Erwachsener irgendwann mit seinen Altvorderen im Reinen zu sein hat. Doch weit gefehlt.

Sabine Bode: „Nachkriegskinder. Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter“. Verlag Klett-Cotta, 302 Seiten. 19,95 Euro.




Nägel gegen die Gewalt: Günther Uecker in der Düsseldorfer Kunstsammlung NRW

Foto: Andreas Endermann, 2015/Kunstsammlung NRW

Foto: Andreas Endermann, 2015/Kunstsammlung NRW

Ein Menschenauflauf für ein paar alte Nägel? Die Schlange vor der Kunstsammlung NRW (K 20) in Düsseldorf mäandert bis zur Heinrich-Heine-Allee, ein Durchkommen ist nicht möglich. Auch der Presseausweis hilft da nicht weiter: „Der Pressetermin war gestern“, bescheidet der Zerberus am Eingang barsch.

Aber ich möchte doch über die Eröffnung berichten: Denn heute Abend beginnt die erste Museumsausstellung von Günther Uecker in Düsseldorf, wo der inzwischen 84jährige Künstler seit 1953 lebt und wo er Anfang der 60er Jahre gemeinsam mit Heinz Mack und Otto Piene die ZERO-Bewegung begründete. Ministerpräsidentin Hannelore Kraft soll sprechen, Uecker selbst ist anwesend. „Auch für Journalisten kein Zutritt“ weist der Zerberus einen weiteren Kollegen ab. „Sie schreiben doch heute sowieso nichts mehr….!“ Ach ja? Schon mal was von Online-Journalismus gehört?

Wie ich dann doch noch reingekommen bin, bleibt mein Berufsgeheimnis. Nur so viel: Ein Zerberus kann eben auch nicht alle Pforten gleichzeitig bewachen…

Innen halten sich die Gäste auf Einladung des Sponsors schon am Sektglas fest, während Hannelore Kraft im Saal und über drei Monitore das Kunstland NRW lobt und eine „gute Lösung“ ankündigt, die für die Portigon Sammlung der West LB gefunden werden soll. Im Moment plant die Landesregierung eine Stiftung, um den Verkauf der Werke in alle Welt zu verhindern.

Ich halte mich lieber an das, was schon hier hängt – und bin begeistert: Im großen Raum zur Rechten empfangen einen Ueckers unverwechselbare Nagelbilder. Jedes hat seinen eigenen Rhythmus, seine eigene Plastizität, seine eigene Dynamik. Der eiserne Werkstoff wirkt mitunter fast weich, wie die Wirbel im Fell von Tieren; ich möchte gerne mit der Hand darüber streichen, aber lasse das natürlich, um nicht unangenehm aufzufallen.

Stundenlang könnte ich an den zahlreichen unterschiedlichen Nagel-Exponaten entlangwandern, jedes ist anders, jedes verändert sich mit der Blickrichtung des Betrachters. Für Uecker ist der Nagel aber nicht nur Gebrauchsgegenstand, sondern Symbol mit biblischem Bezug. Mit Nägeln wurde Jesus ans Kreuz geschlagen; so steht der Nagel bei Uecker auch dafür, wie Menschen Menschen Gewalt antun – nicht zuletzt in einem von zwei Weltkriegen geprägten Jahrhundert.

Foto: Nic Tenwiggenhorn/Kunstsammlung NRW

Foto: Nic Tenwiggenhorn/Kunstsammlung NRW

Diese Lesart setzt sich im zweiten Ausstellungsraum fort, obwohl das Material ein anderes ist: Große Stoffbahnen hängen hier von der Decke, mal zerlöchert, mal bemalt und bedruckt. Der „Brief an Peking“ entstand für eine Ausstellung in China 1994. Zentrales Element ist die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948, die Uecker in dichter Schrift auf den Stoff geschrieben und dann mit schwarzer Farbe überarbeitet hat: Die Ausstellung wurde kurz vor der Eröffnung abgesagt und konnte erst 13 Jahre später gezeigt werden.

Nageln, geißeln, aufklatschen, vergasen: Die Stirnwand des Raumes wird ganz von schwarzen Worten in verschiedensten Sprachen eingenommen, die die „Verletzung des Menschen durch den Menschen“ ausdrücken. In der Mitte des Raumes schließlich stehen die zum „Terrororchester“ versammelten Klangobjekte, die von den Museumsbesuchern per Knopfdruck betätigt werden können und einen ohrenbetäubenden, kreischenden Lärm verursachen. Die Gewalt wirkt über das Ohr, den Verstand, das Auge und den Tastsinn auf uns ein: Das ist ebenso plakativ wie wahr, denn kein Opfer kann sich dieser Wucht entziehen. Wir können nur aufhören, uns immer weiter etwas anzutun.

Weitere Infos:
www.kunstsammlung.de




Hitler als Liebling der Medien: „Er ist wieder da“ im Westfälischen Landestheater

Der Gedanke ist zugegebenermaßen ziemlich absurd, aber als Phantasiespiel nicht ohne Reiz: Wie wäre es, wenn Hitler wieder auftauchte? Wenn er nach 70jährigem Dornröschenschlaf in einer deutschen Gegenwart erwachte, in der es türkische Zeitungen und Comedians gibt und niemand Respekt vor dem Führer hat? Der Autor Timur Vermes hat dieses Spiel vor einigen Jahren in seinem Romanerstling „Er ist wieder da“ gewagt. Jetzt hat das Westfälische Landestheater in der Regie von Gert Becker daraus ein vorwiegend vergnügliches Bühnenstück gemacht und in Castrop-Rauxel uraufgeführt.

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In Pose: Guido Thurk als Hitler 1 (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Der Zeitungshändler, bei dem dieser merkwürdige Bärtchenträger in seiner abgeranzten, nach Benzin stinkenden braunen Uniform auftaucht, hält ihn für einen Comedian, für einen genialen Hitler-Imitator, der nie aus der Rolle fällt. Er vermittelt ihn an die Agentur „Flashlight“, und eine steile Karriere nimmt ihren Lauf. Jede Woche ist Hitler im Fernsehen zu sehen, seine Klickzahlen im Netz sind atemberaubend, „Youtube-Hitler – Fans feiern seine Hetze“ titelt die Zeitung mit den ganz großen Buchstaben. Bald schon erhält er (Achtung! Satire!) den Grimme-Preis, seit Loriot war kein Humorist so beliebt wie Adolf Hitler.

Und es bleibt nicht bei den im sattsam bekannten martialischen „Führer“-Duktus gehaltenen Reden. Wenn Hitler das NPD-Büro in Köpenick aufsucht und den Vorsitzenden wegen unvölkischer Gesinnung und einem indiskutablen Bekenntnis zur Demokratie vor laufender Kamera zusammenstaucht, feiert das Volk der Medienkonsumenten dies als Protestaktion gegen Rechts; und als er schließlich von Neonazis beschimpft und zusammengeschlagen wird, fliegen ihm endgültig die Herzen der Menschen zu. Es wird Zeit, das gut zweistündige Stück mit seinen monströsen Hitler-Phantasien zu beenden, was nun dankenswerterweise auch recht abrupt geschieht.

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Hitler 1 (Guido Thurk, links) und Hitler 2 (Burghard Braun). (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Doch das mulmige Gefühl, das sich trotz der zahlreichen eingebauten Lacher schleichend einstellte, will nach der letzten Szene nicht recht weichen. Vieles von dem, was Timur Vermes erzählt, könnte sich tatsächlich so abspielen in der Mechanik unserer stets gebannt auf Quote und Umsatz starrenden Medienwelt. Oder spielt es sich, die Frage steht im Raum, nicht auch so schon ab? Gibt es nicht längst schon diese Stars in Comedy und Talkshows, die reden dürfen, wie immer sie wollen, so lange sie nur Quote bringen, von Mario Barth bis Harald Schmidt?

Gewiss, das Grauen über den millionenfachen rassistischen Mord der Nazis und ihres „Führers“ findet in der Inszenierung seinen Platz, was auch zwingend sein muss. Gleichwohl hat Vermes’ Hitler, der darauf besteht, wirklich Hitler zu heißen und Hitler so gut nachmachen kann, dass man glaubt, er wäre Hitler, mit der historischen Person wenig zu tun. Er wird gezeichnet als komische Figur, als Sonderling mit Realitätsverlust, von dem keine politische Gefahr ausgeht. Es sei denn, skrupellose Rampensäue übernähmen die Macht. So wie vor mehr als 80 Jahren? Es zählt fraglos zu den Qualitäten dieser wüsten Geschichte, dass sie ihr Publikum wiederholt und scheinbar spielerisch auf die zentralen Fragen stößt, die die Nazi-Zeit uns hinterlassen hat: Wie konnte es dazu kommen und wie lässt sich eine Wiederholung verhindern?

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Ein respektloser Zeitungshändler (Bülent Özdil, links), zwei Hitler. (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Die Inszenierung leugnet nicht, dass sie vom Buch abstammt, und besetzt den Hitler doppelt. Guido Thurk ist Hitler 1, der die braune Uniform trägt und in den Szenen mitspielt. Burghard Braun hingegen trägt zivil, ist Hitler 2 und spricht verbindende Texte zwischen den Szenen, irritierenderweise in der Vergangenheitsform. Von welchem historischen Punkt aus blickt er zurück, könnte man sich fragen. Thurk grimassiert und rollt die Augen, Braun pflegt die beherrschte Pose, beides kennt man vom historischen Vorbild. Und beide Schauspieler sind famose „Führer“-Darsteller. In zahlreichen weiteren Rollen sind Julia Gutjahr, Samira Hempel, Vesna Buljevic, Thomas Tiberius Meikl, Bülent Özdil und Thomas Zimmer zu sehen, die einige Male stärker überspielen, als für dieses Stück nötig wäre.

Elke König schließlich schuf das Bühnenbild, eine erkennbar aus Holz gefertigte Betonlandschaft mit Türen, Rampe und Tisch. Nur in einer Nische erfährt es ab und an Veränderungen, die zu den Szenen passen. Mal taucht hier eine der vielen „Spiegel“-Titelseiten mit Hitler-Titelgeschichte auf, mal der Tramp Charlie Chaplin, der die Albernheit des „Führer“-Gehabes zu dessen Lebzeiten schon unübertrefflich entlarvte und für Menschlichkeit warb. Die konzentrierte Ausstattung ruft ins Bewusstsein, dass dieses Theater oft auf Reisen geht und dafür kompakte Kulissen braucht. Die nächsten Stationen dieser Produktion sind Rheine, Bocholt und Hamm.

Viel herzlicher Applaus für Darsteller und Inszenierung.

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Termine: 5.2.2015, 19.30h Rheine, Stadthalle
6.2.2015, 20.00h Bocholt, Städtisches Bühnenhaus
13.2.2015, 19.30h Hamm, Kurhaus
14.2.2015, 19.30h Witten, Saalbau
18.2.2015, 20.00h, Lünen, Heinz-Hilpert-Theater
14.3.2015, 19.30h Sulingen, Stadttheater im Gymnasium
14.4.2015, 19.30h Bottrop, Josef-Albers-Gymnasium.

Ticket-Hotline 02305 / 9780 20

www.westfaelisches-landestheater.de




Schloß Cappenberg bleibt Kunstmuseum – doch die Ausstellungsfläche schrumpft

Schloß Cappenberg bleibt dem Kreis Unna als Museum erhalten. Kreis Unna, Landschaftsverband LWL und Graf Kanitz als Besitzer haben in wesentlichen Punkten Einigkeit über einen neuen Mitvertrag erzielt. Dies teilte der Kulturdezernent des Kreises Unna, Kreisdirektor Dr. Thomas Wilk, heute mit. Wermutströpfchen: Kunst wird es nur noch auf einer Etage geben, die andere Etage bleibt zukünftig dem Landschaftsverband für die Dauerausstellung über den Freiherrn vom Stein vorbehalten. Das Erdgeschoß hätte um die 350 Quadratmeter, das Obergeschoß 500 Quadratmeter. Wer welche Etage bekommt, muß noch geklärt werden.

Zufahrtsbereich zum Schlossgelände im Jahr 2009. (Foto: Bernd Berke)

Zufahrtsbereich zum Schlossgelände im Jahr 2009. (Foto: Bernd Berke)

Der neue Mitvertrag läuft über 20 Jahre. Die Miet-Konditionen für den Kreis, so Wilk, sind wesentlich günstiger als die des 2015 auslaufenden Vertragswerks, das 30 Jahre Gültigkeit hatte und den Mietern – Kreis Unna und Landschaftsverband – weitreichende Instandhaltungspflichten auferlegte. Statt rund 170.000,00 Euro werden zukünftig nur noch 100.000,00 Euro plus Nebenkosten pro Jahr an Miete fällig, Instandhaltungsverpflichtungen für das Baudenkmal entfallen. Graf Kanitz kann bei Ende des Alt-Vertrages auf eine Zahlung für Abnutzung von bis zu 1,2 Millionen Euro hoffen, im Gegenzug wird er das Gebäude auf seine Kosten für einen zeitgemäßen Museumsbetrieb mit Aufzug, Brandschutz, neuen Sanitär- und Werkstatträumen etc. ausstatten, was deutlich teurer werden dürfte.

Im Wesentlichen, so Kreisdirektor Wilk, folgen diese Absprachen seinem Konzept, das schon Mitte letzten Jahres vorlag. Seinerzeit allerdings zeigte der Graf noch wenig Bereitschaft zur Zustimmung. Das hat sich geändert, wohl auch, weil andere Mietinteressenten als Kreis und Landschaftsverband nicht in Sicht waren.

Die nächste Ausstellung endet im September, ab Oktober kann umgebaut werden. Für den Umbau ist das ganze Jahr 2016 vorgesehen. Wenn alles nach Plan läuft, wird der Kreistag am 22. September seine Zustimmung zu diesen Plänen geben.




Draußen vor der Stadt: Landwehren, Ballspiele und Müllabfuhr im 16. Jahrhundert

Landwehren sind lang gestreckte Erdwälle, die im Mittelalter angelegt wurden, um das Territorium gegen Eindringlinge zu schützen oder um Räuberbanden die schnelle Flucht vor allem mit Fuhrwerken zu vereiteln. Darüber erschien hier vor drei Jahren bereits ein Artikel als „historisches Stichwort“. Jetzt gibt es zu diesem Thema ein sehr informatives neues Buch, dem sich interessante Einzelheiten entnehmen lassen. Das Werk entstand nach einer Fachtagung der Altertumskommission für Westfalen.

Heute wirkt Münster sauber und fröhlich. (Foto: Hans H. Pöpsel)

Heute wirkt Münster sauber und fröhlich. (Foto: Hans H. Pöpsel)

In den Aufsätzen der Wissenschaftler kann man viel erfahren über den Aufbau und die Funktion der Wehren, auch die manchmal dazu gehörenden Türme werden vorgestellt, und man kann an alten Karten und Fotos erkennen, wo solche Landwehren noch heute in der Natur sichtbar sind. Außerdem wird vorgestellt, wie und in welcher Häufigkeit sich das Wort Landwehr in Flur- und Familiennamen erhalten hat.

Solche Bollwerke gab es in Westfalen natürlich nicht nur zwischen den Landesherrschaften, sondern auch zwischen dem bäuerlichen Land und den Städten. Bernd Thier, einer der Autoren, widmet sich ausführlich dem Beispiel Münster. Vor allem über die Nutzung des Geländes außerhalb der Stadtmauer zitiert er interessante Quellen.

Schon für die Mitte des 16. Jahrhunderts sind Flächen für Ballspiele und Sommerhütten der betuchten Bürger belegt, Teiche für die Fischzucht entstanden, und vor allem wurde der Müll der Stadtbürger vor den Mauern entsorgt. Schon im 16. Jahrhundert ließ der Magistrat in Münster den Abfall durch einen öffentlichen Wagen abfahren, um damit die Äcker außerhalb zu düngen. Die Stadtführung stellte dazu ein Pferd und einen „Dreckkarren“ zur Verfügung. Verstorbene Christen wurden in der Stadt rund um die Kirchen und den Dom beigesetzt. Außerhalb der Mauern lag hingegen der jüdische Friedhof, wie im ausgehenden Mittelalter und der frühen Neuzeit üblich.

Dieses sind nur ein paar Details eines Sammelbandes, der für Freunde der Landeskunde und der westfälischen Geschichte weit mehr zu bieten hat und der gar nicht so „dröge“ zu lesen ist, wie man es sonst den Westfalen zu sein unterstellt.

Cornelia Kneppe (Hrsg.): „Landwehren. Zu Funktion, Erscheinungsbild und Verbreitung spätmittelalterlicher Wehranlagen“. Aschendorff Verlag, 350 Seiten, 39 €.




Aus der Zeit gefallen: Barbey d’Aurevillys „Der Chevalier des Touches“ erstmals auf Deutsch

Jules Barbey d’Aurevillys Roman „Der Chevalier des Touches“ führt den Leser in ein wenig bekanntes Kapitel der französischen Geschichte: die Partisanenkämpfe katholisch-royalistischer Chouans gegen die siegreichen Revolutionstruppen auf der in den Ärmelkanal ragenden Halbinsel Cotentin in den 1790er Jahren.

Als sei das Thema nicht abgelegen genug, wählt der konservativ-dandyhafte Autor Protagonisten, die schon zum Zeitpunkt der Rahmenhandlung der erzählten Geschichte, während der Restauration, und erst recht bei der Erstveröffentlichung, 1863, als Vertreter einer unwiederbringlich zurückliegenden Epoche Befremdung ausgelöst haben mussten.

Der Chevalier des Touches Cover großIn einem Kaminzimmer der normannischen Kleinstadt Valognes versammeln sich vier greisenhafte Jungfern aus der alten Aristokratie, ein Baron und ein nach der Mode des Ancien Régime gekleideter Abbé, dem kurz zuvor beim Überqueren eines Platzes der seit langem totgeglaubte Chevalier des Touches wie eine gespensterhafte Erscheinung begegnet war. Dieses sonderbare Ereignis nimmt Mademoiselle de Percy zum Anlass, als überlebende Zeitzeugin die Geschichte der Befreiung des Chevaliers durch zwölf verschworene Chouans am Vorabend seiner geplanten Hinrichtung im Jahr 1799 zu erzählen.

Aus unseren Geschichtsbüchern wissen wir, dass auch die Anführer der Revolution nicht zimperlich vorgingen; nur wenige Jahre vor der Geschichte, die im Roman erzählt wird, hatten die republikanischen Truppen die Aufstände der Vendée blutig niedergeschlagen, bis zur Auslöschung ganzer Ortschaften. 1799 aber schien der Ausgang der Revolution entschieden. „Die Bauern sind müde; der Krieg flaut ab“, wird der resignierte Chevalier am Ende seine Begleiter wissen lassen. Sich jetzt aufzulehnen, kam einem Selbstmord gleich.

Um die Garde von der Bewachung des Gefängnisses abzulenken, in dem der Chevalier inhaftiert ist, zetteln seine Befreier eine Massenschlägerei auf der im Ort gerade stattfindenden Viehmesse an. Nur mit Peitschen und keulenähnlichen „Eschenprügeln“ ausgestattet, richten sie in geschickter Formation ein blutiges Gemetzel unter den politisch unbeteiligten Händlern und Bauern an. Es fällt beim Lesen schwer, wie Heinrich Mann im Kampf der kleinen Zahl gegen die ungefüge Menge „auch seine sympathische Seite“ zu sehen. Unbeirrbare Eiferer, die mit terroristischen Aktionen eine historisch überlebte Staatsform zurückfordern – sei es das Ancien Régime oder ein Kalifat – verdienen keine Heroisierung, mögen ihr strategisches Geschick und ihre Tollkühnheit aus rein militärischer Sicht auch noch so schwierige Kunststücke sein.

Aber Barbey d’Aurevilly ist ein zu raffinierter Erzähler, als dass der Chevalier des Touches, seine Befreier und der Kreis der an der Rahmenerzählung Beteiligten dem damaligen wie heutigen Lesepublikum nicht auch als verwunderliche, merkwürdig aus der Zeit gefallene Gestalten erscheinen mussten. Hatten noch in der Kindheit Barbey d’Aurevillys die Legenden über den historischen Jacques Destouches (1780–1858) die Augen der Erzähler und ihrer Zuhörer aufleuchten lassen, mischt der erwachsene Autor in seine Darstellung profunden Zweifel an dem unbedingten Engagement für die aussichtslose Sache. Die mit der Restauration zwischen 1814 und der Julirevolution 1830 noch einmal eingerichtete konstitutionelle Monarchie hatte nichts mehr vom Glanz früherer Bourbonenherrschaft.

Zwar werden sowohl die Körperkraft des Chevalier des Touches als auch dessen navigatorische Fähigkeiten als Bote zwischen dem von der Revolution abgesetzten König im englischem Exil und seinen Anhängern auf dem französischen Festland gerühmt, doch sind die Chouans in der Bevölkerung nicht besonders beliebt. Das wird besonders gut nachvollziehbar, wenn der soeben befreite Chevalier in einer Mühle grausame Rache an dem musikalischen Müller übt, der ihn an die Revolutionstruppen verraten hat.

Eine überraschende, jedoch im Lauf der Erzählung geschickt vorbereitete Wende nimmt der Roman auf den letzten Seiten, sobald Mademoiselle de Percy ihre Erzählung über die abenteuerliche Entführung des Chevalier des Touches beendet hat. Leser, die sich bis jetzt an all dem Martialischen, an den Strategiespielen der Chouans, nicht erfreuen konnten, dürften nun auf ihre Kosten kommen. Von allen unbemerkt, hatte im Kaminzimmer der alten Herrschaften ein etwa dreizehnjähriger Junge zugehört, dessen Lebensdaten (und auch nach dem, was sonst biographisch über Barbey d’Aurevilly bekannt ist) mit denen des Autors weitgehend kongruent sind. Er greift als erwachsener Mann die Geschichte auf und ergänzt mit historischem Abstand das, was Mademoiselle de Percy und ihre Zuhörer damals nicht wissen konnten. Der tatsächliche Jacques Destouches lebt seit mehr als dreißig Jahren geistesgestört und verbittert über den „Undank“ der Bourbonen in einer Anstalt in Caen, wo der Erzähler – und auch der Autor – ihn besucht.

Barbey d’Aurevilly hält diese Begegnung aus dem Oktober 1856 in einem seiner Tagebücher (von ihm „Memorandum“ genannt) fest. Der im Matthes & Seitz Verlag erstmals im Zusammenhang mit einer Ausgabe dieses Romans erschienene Text ist aufschlussreich sowohl über die Situation der psychiatrischen Krankenhäuser im 19. Jahrhundert als auch über die Demokratieferne des Autors.

Der den Besucher begleitende Arzt macht seine Patientenvisite. „Wenn einer von ihnen in Wut gerät (sie sind nicht gefesselt, Hut oder Mütze in der Hand), ergreifen ihn zwei oder drei Mann und schaffen ihn fort, wie ein Hausmädchen ein schreiendes Kind hinausträgt – genauso schnell. – Wunderbare, beinah zauberische Raschheit! – Als ich über die Behendigkeit staunte, mit der die Leute weggeschafft wurden, sagte mir der Doktor, wenn man eine Minute schwach sei oder zögere, würden augenblicklich alle aufsässig und unbezähmbar! – Dann gewinnen sie die Oberhand. – Ich dachte an die Staatsleute – was könnten sie hier über das Niederhalten der Massen lernen! – Völker muss man wie Verrückte lenken.“

War bereits der Roman ein aus vielerlei Gründen lesenswertes unzeitiges Zeitzeugnis, so lohnt sich die Lektüre erst recht wegen des gut 80-seitigen Anhangs. Der Herausgeber Gernot Krämer, der ein kenntnisreiches Nachwort beisteuert, das Verständnis vieler Textstellen durch gründlich recherchierte Anmerkungen bereichert und um eine gute Auswahlbibliographie ergänzt, hat zwei weitere Texte hinzugenommen.

Zunächst einen Essay von Heinrich Mann, dem großen Romancier und profunden Kenner französischer Geschichte, einer der ersten in Deutschland, der die Bedeutung Barbey d’Aurevillys erkannte und in einem 1895 in der Zeitschrift Die Gegenwart erschienenen Essay differenziert darzustellen wusste. Es ist dem Herausgeber zu danken, diesen klugen Essay entdeckt und der Chevalier-des-Touches-Ausgabe hinzugefügt zu haben.

Und nicht zuletzt den Text eines Autors, den man im Zusammenhang mit Barbey d’Aurevilly nicht unbedingt erwartet hätte: einen Auszug aus einer geistreich-verspielten Reflexion des Philosophen Michel Serres zum Kapitel über die „blaue Mühle“, die über das Weiße zu einer roten Mühle wird. Serres spürt der im Roman angelegten feinen Metaphorik nach, setzt die sinnlich wahrnehmbaren Farben in Beziehung zu ihren historischen Bedeutungen für die Trikolore und stellt kluge Überlegungen an zu Uhren, Mühlen, dem Fortschreiten der Zeit und fruchtlosen Versuchen, sie anzuhalten. Ein lustvoller Text, der zum Mehrlesen anregt.

Das gesamte Buch – der Roman selbst, die vortreffliche Übersetzung, die als Illustrationen beigegebenen Radierungen von Félix Buhot, das „Memorandum“ zum Besuch in der psychiatrischen Krankenanstalt, die Essays von Heinrich Mann und Michel Serres, das gut erklärende Nachwort von Gernot Krämer, seine Anmerkungen und weiterführenden Literaturhinweise, die aufwendige Herstellung (Fadenheftung) – das alles zusammen bildet eine gelungene Komposition und ergibt einen weiteren schönen Band der Barbey d’Aurevilly-Ausgabe im Matthes & Seitz Verlag.

Jules Barbey d`Aurevilly: „Der Chevalier des Touches„. Roman. Aus dem Französischen von Caroline Vollmann und Gernot Krämer, herausgegeben und mit einem Nachwort von Gernot Krämer. Mit Texten von Heinrich Mann und Michel Serres sowie Illustrationen von Félix Buhot. Matthes & Seitz Verlag, Berlin. 295 Seiten, 19,90 €.




Das Elend eines Kampfpiloten – James Salters Roman „Jäger“ (1957) endlich auf Deutsch

Cleve Connell ist der Anführer eines Schwarms von Kampfpiloten. Seine Aufgabe besteht darin, feindliche Maschinen abzuschießen und den eigenen Bodentruppen Schutz zu gewähren. Das hat jahrelang funktioniert.

Connell wurde in mehreren Kriegen für seinen Mut ausgezeichnet. Doch jetzt ist er in Korea stationiert. Und das Glück oder das Gespür für den Sieg kommt ihm abhanden. Immer wieder steigt er mit seiner Maschine in den Himmel auf. Doch nie bekommt er den Feind zu fassen, nie kann er nachweisen, dass er immer noch ein Ass ist, ein Held, dem Krieg Ruhm bedeutet und dem das Töten als eine Art Sport gilt. Allmählich wird er zum Gespött der Einheit und droht an seiner vermeintlichen Unfähigkeit zu zerbrechen.

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Bevor James Salter zum Schriftsteller wurde, hat er in der Air Force als Kampfpilot gedient und war er auch im Koreakrieg im Einsatz. In seinen 1957 erschienenen literarischen Erstling „The Hunters“ sind einige quälende autobiographische Erfahrungen eingeflossen. In „Jäger“, wie der jetzt (mit über 50 Jahren Verspätung) auch hierzulande herausgekommene Roman bei uns heißt, beschreibt Salter mit gnadenloser Präzision die Ambivalenz zwischen gloriosem Kampf und erbärmlicher Niederlage.

In knappen Sätzen, brillanten Formulierungen und mit lakonischer Beiläufigkeit registriert Salter, wie nahe ritualisierte Männlichkeit und pure Selbstsucht beinander liegen; wie zerstörerisch es sein kann, wenn eine auf das Töten abgerichtete menschlichen Kampfmaschine in einem Sumpf aus Konkurrenz, Neid und Verrat versinkt. Der Roman, 1958 mit Robert Mitchum und Robert Wagner verfilmt, ist kein Krieger- und kein Helden-Epos, sondern ein existenzielles Drama über den zur Freiheit – auch des Tötens – verurteilten Menschen.

Wie wichtig dem Autor sein Debüt ist, zeigt allein die Tatsache, dass er für eine amerikanische Neuausgabe (1997) den Roman noch einmal überarbeitet hat. In den USA gilt der 1925 geborene Autor, der mit „Lichtjahre“ und „Ein Spiel und ein Zeitvertreib“ international berühmt wurde, schon längst als moderner Klassiker. Manchmal hat es Jahre oder sogar Jahrzehnte gedauert, bis seine Bücher, die denen von Philip Roth, John Updike oder Richard Ford nicht nachstehen, in die deutsche Sprache übersetzt werden.

Doch als der öffentlichkeitsscheue Salter nach fast 30jährigem literarischen Schweigen sich 2013 noch einmal mit einem großen epischen Wurf zurück meldete („All That Is”/”Alles, was ist“), reagierte der hiesige Buchmarkt immerhin prompt.

James Salter: “Jäger”. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Beatrice Howeg. Berlin Verlag, 303 Seiten, 19,99 Euro.




Einkaufen früher und heute

Ein hundert Jahre altes Foto: Es zeigt ein Fachwerkhaus im Dörfchen Voerde, heute ein Ortsteil der Stadt Ennepetal, das Haus mit einer Art Schaufenster, sonst keine Werbung außer dem Namen des Ladeninhabers. Einkaufen in einem solchen Kolonialwaren-Geschäft war damals normal. Und heute? Discounter und Supermärkte bestimmen unseren Alltag.

In solchen Läden wurde die Ware noch aus Fässern und Schubladen in Papiertüten gefüllt oder in Zeitungspapier eingewickelt, Heringe lagerten in der Tonne, Zucker und Mehl stand in Säcken auf dem Boden, und weil es keine Autos gab, fand man natürlich derartige Geschäfte der „Grundversorgung“ an jeder Ecke.

Ein Dorfladen in Voerde  vor 100 Jahren. (Foto: Stadtarchiv Ennepetal)

Ein Dorfladen in Voerde vor 100 Jahren. (Foto: Stadtarchiv Ennepetal)

Heute wird diese allgemeine Versorgung mit den wichtigsten Lebensmitteln von Supermärkten oder Discountern übernommen, und die kleinen Eckläden mit ihrer „Tante Emma“ sind verschwunden. Das führt in Gesprächen meist zu nostalgischen Seufzern – früher sei das doch besser gewesen.

Allerdings übersehen viele dieser Wehmutsmenschen, dass die Kleingeschäfte mit Alleininhabern für die Käufer ein teures Vergnügen waren. Mit den Erlösen bauten sich die Ladenbesitzer große Mehrfamilien-Mietshäuser, die Rendite ihrer Geschäfte lag meist im zweistelligen Bereich. Schon vor hundert Jahren versuchten die Konsumgenossenschaften der Arbeiterbewegung, dagegen anzugehen, doch auch sie waren nicht viel billiger.

Durch den Konkurrenzdruck arbeiten die Handelskonzerne heute mit sehr viel geringeren Margen. Die Preise sind im Vergleich zum Arbeitslohn günstig, und die Waren sind frischer und vor allem viel hygienischer verpackt und damit allgemein gesünder. Man denke nur daran, dass den größten Anteil an der Verlängerung der Lebenszeit der Menschen die Verbesserung unseres Trinkwassers hatte, also die Hygiene im weitesten Sinne.

Nostalgie macht zwar viel Spaß, führt aber rational manchmal auch ein wenig in die Irre.




Martin Walsers Roman „Ein springender Brunnen“ – wiedergelesen als Meisterwerk über eine Kindheit und Jugend im Faschismus

Martin Walser 2013 in Duisburg Foto: Jörg Briese

Martin Walser 2013 in Duisburg
Foto: Jörg Briese

Ich erinnere mich, und zugegeben, das alles hört sich für Heutige an, als stünde es in einer Erzählung voller Stereotype, ich erinnere mich also: Unser Klassenlehrer am Duisburger Mannesmann-Gymnasium Mitte der 60er-Jahre war während des sog. Dritten Reiches Offizier der Wehrmacht. Wenn der um 1920 Geborene von Hinterhalt und Überfällen der Tito-Partisanen in Jugoslawien erzählte, hingen wir an seinen Lippen und waren froh, dass zuletzt immer er und seine Kompanie den verdienten Sieg davontrugen. So verbrachten wir manche Religionsstunde, vor allem vor den Ferien, und waren stolz, wenn er uns außerhalb des Unterrichts wohlwollend „Männer!“ rief.

Ab 1967 hatte er ein zweites Thema: den Sechstagekrieg Israels gegen Ägypten, Jordanien und Syrien, von ihm gern auch „Blitzkrieg“ genannt. Der väterliche Studiendirektor war glühender Verehrer siegreicher israelischer Strategie und ließ niemals unerwähnt, dass dabei wohl auch deutsche Waffen ihren Anteil gehabt hätten. In seinem Geschichtsunterricht allerdings kamen wir nie weiter als bis zur Weimarer Republik, um dann erneut bei Griechen und Römern zu landen. Vom Zweiten Weltkrieg, von Holocaust oder Nürnberger Prozessen wurde im Unterricht geschwiegen. Das Wort „Auschwitz“ hörte ich durch Zufall als Neunjähriger zum ersten Mal, weil im Fernsehen der Eichmann-Prozess aus Jerusalem übertragen wurde, auch darüber nirgendwo ein weiteres Wort.

Partielle Amnesie, Lähmung
Die Pubertät als Aufbegehren gegen den Vater ist bei mir komplett ausgefallen, auch jede schonungslose Befragung des Vaters zu seiner Vergangenheit im „Dritten Reich“. Ich erinnere mich: Mein Vater Horst litt seit den späten Fünfzigern an Multipler Sklerose, hatte zuvor zwei Arbeitsstellen, um die sechsköpfige Familie durchzubringen. Dann für Monate zuerst an den Beinen, später an einem Arm gelähmt. Die Ärzte hatten ihm prophezeit, dass er Anfang der 70er vollständig gelähmt sein würde.

Das Gegenteil trat ein: Die Lähmungen konnten zum Stillstand gebracht werden und verschwanden ganz. Über so einen Vater hält ein ängstlicher Primaner um 1970 nicht Gericht. Irgendwann habe ich Nachkriegskind dennoch gewagt zu fragen, ob er an „schlimmen Einsätzen“ der Nazis beteiligt gewesen sei. Und tatsächlich hat er geantwortet, ja, einmal, bei einer Erschießung. Mehr war aus ihm nicht herauszubekommen. Was für eine Erschießung? Deserteure, Juden, Kriegsgefangene? Keine Antwort. Noch heute sehe ich NS-Dokumentationen mit Bangigkeit: Auf einem der Bilder könnte mein Vater, Wehrmachtssoldat, nicht bei SA oder SS, geboren im September 1924, könnte er also plötzlich zu sehen sein und aus dem Bild heraus mich anschauen.

Wilder Mann
Meine Frau erinnert sich, dass ihr Vater, Jahrgang 1915, erzählt habe, er und seine Kameraden seien als Panzerfahrer nach der Kapitulation Paris‘ im Sommer 1940 mit den Kettenfahrzeugen durch den Bois de Boulogne gerast. Dabei sei er – Baumstämme überfahrend – im Panzer mit dem Kopf an die Metalldecke geschlagen und habe sich mehr als nur leicht verletzt. Um ungeschoren ins Lazarett zu gelangen, musste er den Sani bestechen und dem Vorgesetzten ein plausibles Märchen darüber erzählen, wie es zu der Kopfverletzung gekommen sei.

Wie wird man, was man ist?
Der Krieg als Abenteuer, Heldengeschichte, Anekdote, Fragment – zensiert, kindgerecht und jugendfrei. Immerhin, die Erzähler dieser Familien- und Schulgeschichten, die gern Ursachen und Verbrechen des Krieges, seine blutigen Details unerwähnt lassen, verharmlosen oder ins Ulkige verkehren, waren bei Kriegsende oft Mitte zwanzig, junge Erwachsene, und also verantwortlich für das, was sie taten.

Was aber ist mit den späteren Jahrgängen, mit Soldaten aus dem Jahrgang 1927 z. B., die bei Kriegsende gerade einmal 18 Jahre alt waren? Sie wurden zur Zeit des heraufziehenden Faschismus geboren, wuchsen als Kinder in den Nationalsozialismus hinein, als Jugendliche im Krieg auf. Inwieweit waren sie Täter und/oder Opfer, Mitwisser, Mitläufer, glühender NS-Nachwuchs, Mitwisser, Totschweiger oder Widersprechende? Aufwachsen im „Dritten Reich“ war für sie das Selbstverständliche. Aber Aufwachen in dieser Zeit gegen die Zeit – unter welchen Umständen wäre das möglich gewesen?

Kindersoldaten
Während man heute ideologisch abgerichtete Kinder und Jugendliche, die in den Krieg ziehen (müssen), als das begreift, was sie sind, nämlich Opfer von Manipulation und Gewalt, schien diese um Verständnis bemühte Betrachtungsweise für vollständig oder weitgehend im Nationalsozialismus aufgewachsene junge Menschen kaum in Betracht zu kommen. Auch den Alliierten galten bei Kriegsende die meisten jungen Männer der Jahrgänge 1928, 1929… als Täter, mündig, verantwortlich, schuldig, und so gerieten sie meist in Gefangenschaft. Letztlich aber waren sie als Angehörige des Volkssturmes oder (seit dem März 1945) als Wehrpflichtige des Jahrgangs 1929 zuallererst doch Kindersoldaten, ob sie sich nun – ideologisch geblendet – freiwillig gemeldet hatten oder nicht.

Wikipedia schreibt: „Kindersoldaten sind Kinder, die an einem Krieg teilnehmen. Als Kindersoldaten gelten laut der UN-Kinderrechtskonvention von 1989 alle Kriegsteilnehmer unter 15 Jahren, die direkt an Feindseligkeiten teilnehmen. Ein optionales Zusatzprotokoll der Konvention aus dem Jahr 2002 hebt das Mindestalter für wehrpflichtige Soldaten der ratifizierenden Staaten auf 18 Jahre an, freiwillige Rekruten älter als 14 Jahre sind nach wie vor völkerrechtlich legal. Mitunter werden von anderer Stelle jedoch auch nicht-kämpfende Helfer bewaffneter Gruppen sowie alle Jugendlichen unter 18 Jahren zu den Kindersoldaten gezählt. UNICEF, terre des hommes und amnesty international bezeichnen ‚alle Kämpfer und deren Helfer, die unter 18 Jahre alt sind‘ als ‚Kindersoldaten‘.“

Schülersoldat

Haniel-Akademie Duisburg 2013 Foto: Jörg Briese

Haniel-Akademie Duisburg 2013
Foto: Jörg Briese

Martin Walser, um dessen Roman es hier gehen soll, wurde im März 1927 geboren, wuchs in Wasserburg/Bodensee auf und besuchte die Oberschule in Lindau. Als Sechzehnjähriger war er Flakhelfer, danach beim Reichsarbeitsdienst. Unter dem Stichwort „Flakhelfer“ schreibt Wikipedia: „Nach der heute weltweit gebräuchlichen Begriffsbestimmung könnten diese im weiteren Sinne nachträglich zu den Kindersoldaten gezählt werden. Der Soziologe Heinz Bude hat die Definition Schülersoldaten für die Luftwaffenhelfer geprägt.“

Das Ende des Zweiten Weltkriegs erlebte Walser als Soldat der Deutschen Wehrmacht und kam in Gefangenschaft.

1946 ff.
Nach Abitur und Studium wurde Martin Walser 1951 mit einer Dissertation zu Franz Kafka in Tübingen promoviert, war Mitarbeiter beim Süddeutschen Rundfunk und reiste viel. Von 1953 an gehörte er zur Gruppe 47. Seit seinem Erstling Ein Flugzeug über dem Haus und andere Geschichten und dem Romandebüt Ehen in Philippsburg sind vom Herausgeber, Übersetzer, Essayisten, Dramatiker, Hörspiel- und Drehbuchautor, dem Redner und Erzähler Martin Walser viele Dutzende Einzelveröffentlichungen erschienen.

„Normalität“ und „Barbarei“
Mit seinem Roman Ein springender Brunnen und seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels (Laudator: Frank Schirrmacher) erwies sich Martin Walser 1998 einmal mehr als sprachvirtuoser Chronist deutscher Geschichte und als provozierender politischer Redner. Walser, der sich lange vor der Wiedervereinigung zur deutschen Einheit bekannt hatte und deshalb als Nationalist geschmäht wurde, galt und gilt vielen nach der umstrittenen Dankesrede bis zum heutigen Tag als Antisemit.

Wurde Martin Walsers Roman Ein springender Brunnen bei seinem Erscheinen im Sommer `98 von der Kritik noch einhellig als literarisches Ereignis gefeiert, änderte sich dies en detail und en gros mit und nach der sog. Walser-Bubis-Debatte; jener Debatte, die in weiten Teilen völlig ohne mehr als oberflächliche Lektüre der Friedenspreisrede vom 11. Oktober 1998 auszukommen schien, folgte später nur konsequent die Veröffentlichung von herabsetzenden Befunden nachgeholter Lektüren des Romans aus dem Sommer. Eine der fahrlässigen Bemerkungen zu Ein springender Brunnen las ich im Rahmen eines größeren Aufsatzes von Detlef Claussen in der Wochenzeitung Freitag vom Januar 1999. Claussen schrieb:

„Bei Walser wird der Nationalsozialismus aus der Perspektive des kleinen Mannes beschrieben – der kleine Mann hat etwas Hitlerjungenhaftes. (…) Schriftsteller nehmen freiwillig eine intellektuelle Pimpfperspektive ein, die sie sich nur leisten können, weil andere sie für bedeutende Männer halten.“

Und die ZEIT z. B. gab in einem Artikel Dieter Fortes mit dem Titel „Barbarei des Biedersinns“ vor, Martin Walser zu widersprechen, der vermeintlich „Normalität“ als Seelenruhe gefordert hätte. Fortes Beitrag gipfelt in dem Satz: „Normalität fordern, heißt die individuelle Erinnerung auslöschen.“

Ein bedenkenswerter Satz, doch hat Walser in seiner Rede niemals Normalität gefordert, das Wort „Normalität“ kommt in der Rede nicht einmal vor. Es geht Walser eher um die Gewissensfreiheit des Einzelnen, der seine gesellschaftliche Verantwortung als Zoon politicon bedenkt, sie ernst nimmt, sie auch im Handeln praktisch werden lässt, sich aber nicht vorschreiben lassen will, wie er mit Schande, Verantwortung, Pflichten öffentlich umzugehen habe. Einmal nur nutzt Walser in seiner Rede das Wort „normal“ und fragt: Aber in welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein ganz normales Volk, eine ganz gewöhnliche Gesellschaft? „Normal“ steht hier im Kontext von „gewöhnlich“, und eine gewöhnliche Gesellschaft ist ‚natürlich‘ immer heterogen, voller Widersprüche, Hoffnungen und Abgründe.

Selbstverständlich weiß Walser um den falschen Schein des Normalen‚ ‚Normalität‘ ist ein Konstrukt. Zudem: Als Schriftsteller ist Walser  in seinem Werk immer schon gelungen, was Forte ihm abzusprechen sucht, nämlich: individuelle Erinnerung gegen Widerstände lebendig zu erhalten. Dass zur vermeintlichen Normalität die Barbarei als Kehrseite gehört, ist eine der Einsichten, die man etwa in Walsers Kursbuch-Beitrag Unser Auschwitz, aber auch über Figuren im Roman Ein springender Brunnen leicht gewinnen könnte, wenn man denn für sie offen wäre.

Stellenlesen
Bequemer ist es allerdings, Martin Walsers Texte erst gar nicht zu lesen oder nur auszugsweise zu lesen und sich dann dem sekundären Geschwätz darüber anzuvertrauen oder selbst welches in die Welt zu setzen. Der Sieg des Sekundären lebt geradezu vom diesem Nichtlesen, diesem kontextlosen Stellenlesen. So viel beredet und so wenig gelesen wie die 98er-Texte Walsers wurden hierzulande zuletzt nur Salman Rushdies Satanische Verse.

Jedem Roman aber, Literatur überhaupt, sollte man sich – eine Selbstverständlichkeit – mit jener Haltung nähern, wie sie als Lehre des Verstehens die aufgeklärte Hermeneutik vorschlägt. Verkürzt gesagt: Im Prozess des Verstehens hat man sich selbst Rechenschaft abzulegen über die eigenen Vorurteile, Vorverständnisse, Interessen, über den eigenen historischen Standort. In der so gewonnenen relativen Bewusstheit kann erstes Verständnis eines Textes überhaupt erst gelingen. Erst so können und sollen auch Interpretation und Bewertung des Textes zu vorläufigen Ergebnissen kommen.

 Bühnengespräch 2013 in DU - Foto: Jörg Briese


Bühnengespräch 2013 in DU – Foto: Jörg Briese

Provinz und Machtergreifung
Martin Walsers Roman Ein springender Brunnen ist und bleibt ein Meisterwerk, ein 400-Seiten-Epos voller Geschichten und Geschichte, voller Sprachzauber, Komik, Groteske, aber auch Trauer. Ein springender Brunnen erzählt von Kindheit, Pubertät, den Glücksmomenten und Nöten des Erwachsenwerdens. Die Geschichte des Jungen Johann – verschränkt mit der des Heraufdämmerns des NS-Regimes – ist Familien- und Entwicklungsroman, Liebes- und Dorfgeschichte zugleich. Der Roman als „Panorama deutscher Provinz im ‚Dritten Reich‘“ (Martin Ebel) erzählt, wie der Faschismus auch im Mikrokosmos der disparaten Gemeinschaft des fiktiv-realen Wasserburg an Boden gewinnen und sich einnisten konnte.

Mit den Augen, aber nicht nur aus der Sicht des 1927 geborenen Johann macht Walser deutlich, wie vor allem Kinder und Jugendliche in den Sog des Faschismus gerieten, wie auch sie – ge- und verführt – in den Alltag unterm Hakenkreuz hineinwuchsen, wie und was man selektiv wahrnahm, was man von Dachau hörte, wie man das, was man gehört hatte, wieder verdrängte. Walser macht dies alles verständlich, hilft zu verstehen, wie geschehen konnte, was geschehen ist. Etwas verständlich zu machen, darzustellen, heißt aber eben nicht, es zu legitimieren oder gar zu entschuldigen. Die Figur Johann wird vom Autor gerade auch in ihrer beschränkten Weltsicht und in ihren Widersprüchen aus- und dem Leser vorgestellt und so – ohne die Figur zu denunzieren – dem skeptischen Blick der Leser ausgesetzt.

Komplexität aushalten
Jeder Vorwurf, der Autor Walser benutze die Jungen-Perspektive, um sich intellektuell oder moralisch zu entlasten, wirkt vollends absurd, wenn man sich einmal auf die ästhetische Komplexität des Romans eingelassen hat. Walsers Menschenkenntnis und sein skeptischer Humanismus enthüllen sich nicht über eine schnell zu habende, dem Text bequem abzulesende Botschaft, sondern nur über die Schönheit der Sprache, die Polyphonie und Komposition von Ein springender Brunnen.

Nicht allein, dass die Perspektive der Figur Johann sich entwickelt, verändert, die Perspektive Johanns ist sozusagen auch immer nur ein Tor, durch das hindurch der Autor Martin Walser uns sehen und hören lässt: Wir sehen und hören ein faszinierendes Gewirr von Stimmen, eine wohldurchdachte Konstellation sich kommentierender oder widersprechender Figuren, Dialoge und Anekdoten, fulminante Kürzestgeschichten und essayistische Diskurse, die weit über die Perspektive, die Beobachtungen oder den Bewusstseinsstrom des Jungen Johann hinausweisen. Ein springender Brunnen ist dabei trotz aller Nähe zur Biografie Martin Walsers eben nicht – wie gelegentlich behauptet – eine Autobiografie, sondern – wenn überhaupt – die fiktive Biografie eines Jungen, der dem Schriftsteller Walser als junger Mann ähnlich, aber nicht zum Verwechseln ähnlich sieht.

Stimmenwechsel
Neben Johann, neben unvergesslichen Rand- als Hauptfiguren, neben forschen und verschämten Nazis sind in Ein springender Brunnen vor allem die leise und lauter Widersprechenden zu hören: In Episoden, die erzählen vom Vater, von den Demütigungen des Halbjuden Landsmann oder des Zirkusclowns Munz. Wenn es so scheint, als ob Johann von einer Zirkusnummer mit Direktor und Clown erzähle, die vom Sprachwitz her an bestes Politkabarett à la Werner Finck erinnert, dann greift natürlich der Autor als Erzähler ein und führt vor, was kein elfjähriger Junge je erzählen könnte. Es greift der Autor ein, wenn die Rede ist von der Brutalität der Kriege, etwa von des Vaters letzter Schlacht bei Soisson im Juli 1918, hier wird das Buch zur beeindruckenden Antikriegserzählung. Insofern entwirft Martin Walser eine überfällige, nie von Beschönigung, Wunschdenken, politischer Korrektheit umgedeutete literarische Innenansicht deutscher Geschichte vor 1945, insofern schrieb Martin Walser einen Roman, der auf jede Empfehlungsliste für jugendliche Leserinnen und Leser gehört.

An ihrer Sprache kann man sie erkennen
Nicht nur nebenbei ist Martin Walsers Roman auch ein Buch über die Anfänge eines Schriftstellers und die Liebe zur Sprache als einem ‚springenden Brunnen‘. Eine Liebe zur Sprache, die für den sensiblen Johann oft einer Flucht in die Sprache gleichkommt. Am Gebrauch der Sprache und ihrem Vokabular, übers Dialektsprechen oder doppelzüngige Reden werden die meisten Charaktere der Figuren kenntlich, verraten sich auch die jeweils unterschiedlich motivierten Opportunisten, verrät sich die Machtgier der neuen Führer.

Von Johann und über Johann wird dagegen anders erzählt. Geht es um ihn, klingt die Sprache des Erzählers wunderbar zart, einfühlsam, mal märchenhaft, mal erotisch, mal derb-drastisch im Ton. In nuanciert sinnlicher Sprache lässt der Erzähler sich erinnernd Gerüche, Klänge, die erste Liebe und geliebte Menschen erneut lebendig werden.

Foto: Jörg Briese

Foto: Jörg Briese

Konstrukt Erinnerung
„Vergangenheit als Gegenwart“: Dreimal beginnt Martin Walser die Anfangskapitel der drei Teile seines Romans mit dieser Überschrift. In diesen Kapiteln reflektiert Walser explizit über die Art und Weise, in der wir – auch und vor allem über Sprache – unsere Identität, unsere Vergangenheit und unsere Erinnerungen aktiv (re)konstruieren. Ich verlasse mich nicht auf meine Erinnerungen, hat Marcel Noll einmal geschrieben. Dies tut auch Martin Walser nicht. Er verlässt sich nicht auf seine Erinnerungen, aber er nimmt sie ernst.

Ein springender Brunnen ist ein Text, der, sich erinnernd, zugleich über die Fragwürdigkeit der Konstruktion von Erinnerung nachdenkt. Walser widersteht dabei der Gefahr, seine Fiktion einer fragmentierten Jungen-Biografie mit Ideologie oder „political correctness“ von heute zu versöhnen, Geschehenes umzudeuten oder sich ‚schön zu schreiben‘. Man kann seine Vergangenheit nicht vom dem befreien, „was in ihr so war, wie wir es jetzt nicht mehr haben möchten“ (S. 282/283).

Keine der Walserschen Figuren wird unter der Hand nachträglich zum Vertreter einer inneren Emigration stilisiert, noch wird der Faschismus in der Provinz zum Familien-Dorfidyll verklärt. Walser lässt seinen unterschiedlichen Figuren sowohl ihre – durchaus auch selbstverschuldete – Blindheit, ihr bösartiges Herrenmenschentum, er lässt ihnen aber auch ihre Einsichten, ihre Güte und ihr Scheitern.

Lernen von den Rissen und Brüchen des Modells
Genau so, auf diese Weise, wurde mir von Martin Walser endlich mehr von dem erzählt, was mir mein eigener Vater, Jahrgang 1923, aufgewachsen in Stargard bei Stettin, nie erzählen wollte. Ich weiß jetzt – abseits historisch-soziologischer Forschungen oder Hollywood-Dramaturgie – etwas besser, wie im Alltag der Provinz überhaupt geschehen konnte, dass einer als Junge, Jugendlicher zwischen fünf und siebzehn Jahren in ein menschenfeindliches System hineinwuchs, ohne es wirklich zu erfassen; wie man mitlief, ohne je Mitläufer oder gar Täter werden zu wollen; warum einer Soldat werden wollte und Widerstand als Alternative zu wenig sichtbar wurde. Für mich als Leser enthüllt sich über Walsers Roman so eher mehr von der Gefährlichkeit des und von der Verführbarkeit durch den Faschismus, als es viele gutmeinende Texte und Filme eines appellativen, pädagogisch hilflosen Antifaschismus je geschafft haben.

Der janusköpfige Johann: Wegdenken oder verantwortlich Handeln
Dass „Vergangenheit als Gegenwart“ vor allem ängstigen kann, mit dieser Erfahrung endet Johanns Geschichte. Zitat: „Er wollte von sich nichts verlangen lassen. Was er empfand, wollte er selber empfinden. Niemand sollte ihm eine Empfindung abverlangen, die er nicht selber hatte. Er wollte leben, nicht Angst haben.“ Die Figur des siebzehnjährigen Johann, der glaubt, wegdenken zu müssen, um eigener Angst, aber auch der Angst der Opfer des Faschismus nicht zu begegnen: Die Romankapitel „Vergangenheit als Gegenwart“ gehören unbedingt als Vor-Worte oder Seitenstücke zur Dankesrede aus der Paulskirche. „Von der Neigung des Menschen zu verdrängen, was er nicht ertragen (…) kann“ (M. Maron), darüber hat Martin Walser auch dort gesprochen – und diese Neigung nicht etwa gebilligt, sondern als unselig kenntlich gemacht.

Wie schwer es dagegen fällt, statt zu verdrängen, Verantwortung zu übernehmen, dies führt Walser in Ein springender Brunnen vor allem über einen fantastischen Kunstgriff vor, dem magisch-realistisch erzählten „Wunder von Wasserburg“. Gleich zwei sehr unterschiedliche Versionen werden dem Leser in dieser Textpassage zu zwei Tagen im Leben des elfjährigen Johann angeboten.

Die eine Version zeigt einen Johann, der seiner ersten Liebe Anita auf dem Fahrrad in einen Nachbarort folgt und den Schmerz des ersten Liebeskummers kennenlernt. Die zweite Version zeigt einen Johann, der am Ort bleibt, sich für Schwächere einsetzt, der Zivilcourage beweist und in einem Schulaufsatz zum Thema, wie viel Heimat nötig sei, mutig gegen Rassenwahn anschreibt.

Welcher Tag wurde wirklich gelebt, von Johann erlebt? Welcher nur erinnernd/fantasierend von Johann oder vom Erzähler erfunden, gewünscht, herbeigesehnt, herbeigelogen? Denn davon träumt auch Johann: Einmal so gesehen zu werden, wie er sich selbst gern sähe.

Schlussapplaus Foto: J. Briese

Schlussapplaus
Foto: J. Briese

Ermutigung zum Widerspruch
„Das Wunder von Wasserburg“ ist eine der verwirrendsten und schönsten Geschichten des Romans, weil sie nicht nur Illusion und Enttäuschung zeigt, sondern auch die Hoffnung weckt, dass in jedem Liebenden, Erwachenden die Kraft zum Widerstand wachsen könnte. Eine Hoffnung, von der Walser in seinem Roman auch zeigt, dass sie zwischen 1932 und 1945 zu selten Gestalt annahm, sodass selbst der Autor als Weltenschöpfer sich nicht anders zu helfen weiß, als seiner Figur Johann einen veritablen Engel als Doppelgänger an die Seite zu stellen, und so Johann zumindest für ein einziges Mal für alle sichtbar mutig und wortgewaltig über sich hinauswachsen zu lassen.

Mit der Angst der Figur des später siebzehnjährigen Johann, mit seiner Angst, der Not der Opfer des Faschismus zu begegnen, der Angst sie nicht ertragen zu können, mit der Angst vor dem eigenen Verdrängen und Versagen lässt Martin Walser seine Leser am Ende des Romans schließlich zurück, aber nicht allein. Der unausgesprochenen Aufforderung, sich dieser Angst zu stellen, Verantwortung zu übernehmen, werden Figur und Leser auf je eigene Weise nachkommen müssen. Und von diesen Nöten und Ängsten zu sprechen, heißt eben nicht, die Nöte der deutschen Kriegs- und Nachkriegsgeneration aufzurechnen gegen das ungeheuerliche Leid, das Deutsche Juden zugefügt haben. Es heißt nichts weniger, als sich der eigenen Verführbarkeit zu stellen, über deren Ursachen tief nachzudenken, um nie wieder Handlanger eines totalitär-menschenverachtenden Systems zu werden.

Drohung, Hoffnung: Jeder ist zu allem fähig
Und damit werden wir nicht nur retrospektiv mehr als genug zu tun haben. Mit dem Sachbuch Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben (von Sönke Neitzel und Harald Welzer) hat die Debatte um Krieg, Soldatentum und Verrohung eine neue, weit in die Gegenwart hineinreichende Dimension erhalten. Dass Krieg (und Vorkrieg) notwendig Gewalt auf allen Ebenen entfesselt und in der Vergangenheit oft Männergesellschaften Realität werden ließ, die ihre ganz eigenen (Un-)Werte, Orientierungen und Referenzrahmen besaßen, wird hier eindrücklich belegt.

Die beiden Autoren machen verständlich, wie im Rahmen des spezifischen Militarismus, Sexismus, Biologismus und Führerkults des Dritten Reiches ganz ‚normale’, gutmütige und freundliche Männer zu „Weltanschauungskriegern“ mutierten, vom Dr. Jekyll zu Mr. Hyde in wenigen Wochen. Vielen Soldaten wird der Krieg als Vernichtungsfeldzug zur Routine, zur täglichen Arbeit und so erledigen sie sie auch. Das erschreckendste Ergebnis des Buches aber ist, dass in entsprechendem Umfeld zu gegebener Zeit jeder (und jede!) von uns in Gefahr gerät, der Gewalt an sich und anderen freien Lauf zu lassen.

Martin Walser Foto: J. Briese

Martin Walser
Foto: J. Briese

Und selbst?
Nach der Lektüre von Soldaten bewegt mich die Frage, wie wir die Erkenntnisse daraus kritisch übertragen könnten auf den heutigen inhumanen Referenzrahmen einer eiskalten Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Was wäre zu leisten, um Elemente anderer, humaner Utopien aufscheinen und wirksam werden zu lassen, die noch etwas wissen von Mitgefühl, Zivilcourage, Sapere aude, Sprachkritik oder gar der Utopie eines gerechten Gemeinwesens, das keine Sündenböcke benötigt?

Wir heute erhoffen von uns selbst zumeist, dass wir im Faschismus als gute Menschen, vielleicht sogar als Widerständler gehandelt hätten. Doch sind solche heroischen Illusionen mehr als fahrlässig. Hic Rhodus, hic salta – hier und heute also wäre erst einmal zu beweisen, aus welchem Holz man geschnitzt ist. Wann haben Sie denn, wann habe ich denn zum letzten Mal von Angesicht zu Angesicht – vielleicht in der Familie, unter Kollegen oder in der Kneipe? – menschenfeindlichen Sprüchen, Sexismus oder gar Neonazismus Einhalt geboten und dabei auch nur etwas Ablehnung riskiert?

Ich kann mich nicht erinnern. Sie?

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Preiswerte Ausgabe: Martin Walser „Ein springender Brunnen“, Roman. Suhrkamp-Verlag, kartoniert, 416 Seiten, 12 Euro.




Der Hochstapler, der die Nazis hasste – Jan Zweyers Roman „Eine brillante Masche“

Er besaß zweifelsohne ein hohes Maß an krimineller Energie, trat wechselweise unter sieben verschiedenen Namen auf, vor Gericht versuchte er aber dann den Biedermann oder gar den Helfer in der Not zu geben. Die Rede ist von Johann Bos, dem der Journalist und Schriftsteller Jan Zweyer sein neues Buch widmet.

Zweyer erzählt – nach wahren Begebenheiten – die Geschichte eines ausgebufften Betrügers, der in den Wirren der ersten Nachkriegsjahre „Eine brillante Masche“ (So der Titel des Buches) fand, um sich zu bereichern. Bos hatte es auf die engsten Angehörigen von Nazi-Funktionären abgesehen, die noch in Haft saßen. Der größte Wunsch der Familien bestand natürlich darin, ihre Männer oder Väter wieder frei zu bekommen. Da klammerte man sich an jeden Strohhalm und fiel auf Leute wie Bos schnell herein, dem es immer wieder gelang, sich das Vertrauen der Verwandten zu erschleichen und sie um große Mengen an Schmuck zu erleichtern.

zweyer

Er gaukelte den Leuten vor, durch diese „Vorkasse“ bei Aufsehern oder Führungskräften von Gefängnissen die Freilassung erwirken zu können. Dazu erfand er glaubhafte Geschichten zu seiner eigenen Person, stellte sich als Kripobeamter oder einflussreicher Industrieller vor. Er  hatte sich zuvor im Umfeld der späteren Opfer umgehört.

Die Kripo war zwar hinter ihm her, aber es kam dem Gesuchten anfangs sicherlich zugute, dass es im Polizeisystem um den Austausch an Informationen – beispielsweise über seine Aufenthaltsorte – nicht zum allerbesten bestellt war. Aber selbst, wen man ihn verhaftet hatte, was mehrfach geschah, sollte es dem wendigen Bos gelingen, aus dem Knast zu türmen.

Doch im Januar 1948 war dann das Spiel endgültig vorbei, der Mann hatte es offensichtlich zu weit getrieben. Handel mit gefälschtem Schmuck war es unter anderem, der die Polizei auf die Fährte von Johann Bos brachte. In der Anklageschrift war die Rede von Diebstahl,  vollendetem Betrug in 45 und versuchtem Betrug in 20 Fällen. Auch Beamtenbestechung und Urkundenfälschung wurden ihm vorgeworfen.

Schon die Lebensgeschichte dieses Draufgängers, der neben seiner Frau noch zwei Verlobte hatte, ist fesselnd, spannend und unterhaltsam zugleich. Durch die Art und Weise, wie der Autor die Biographie des gebürtigen Osnabrückers aufbereitet hat, wird aus dem Buch ein Lesestoff, den man nicht mehr aus der Hand legen möchte. Zweyer hat nicht nur Gerichtsakten studiert, sondern vor allem auch die Presseberichte zu dem Prozess vor dem Arnsberger Landgericht im Jahr 1950 zur Hand genommen. Dadurch gelingt es ihm, das Bild eines äußerst zwiespältigen Menschen zu zeichnen: Während der Metzgerlehre bestiehlt er seinen Chef mehrfach, bis der ihn schließlich rauswirft, dagegen erweist er sich später als vertrauenswürdiger und liebevoller Vater.

Mit dem geklauten Geld hat er sich übrigens den ersten Besuch in einem Stripteaselokal finanziert. Als ihn während des NS-Regimes der Gestapo-Mann im KZ verschwinden lässt, den er beim Schäferstündchen mit seiner Frau erwischt hatte, bleibt seine Rolle im Konzentrationslager im Ungefähren. Dass er dort aber nicht zu den Tätern gewechselt ist, wie er später beteuert, mag man ihm schon glauben. Das Arnsberger Gericht versucht er auch davon zu überzeugen, dass er – bei allen seinen menschlichen Schwächen – doch eigentlich ein gutes Herz hatte. Nachprüfen ließ sich seine Beweisführung zum Zeitpunkt der Verhandlung nur nicht mehr, denn da waren die Lebensmittel, die er Mitmenschen gespendet oder an Kinderheime verteilt haben will, wohl schon längst verspeist gewesen sein.

Offen ließ es Bos, wo er sein ergaunertes Geld versteckt hatte, sofern überhaupt noch etwas vorhanden war. Für das Motiv seiner Taten legte er ein klares Bekenntnis ab: Er mochte die Nazis nicht leiden und „die meisten, die in den Internierungslagern sitzen, sind dort völlig zu Recht“.

Wenn der Leser am Ende des Buches erfährt, dass nicht alles, was er über Johann Bos erfahren hat, den Tatsachen entspricht, sondern vielmehr der Autor sich hier und da auch schriftstellerische Freiheiten gegönnt hat, ist das dem Band nicht abträglich. Im Gegenteil. So ist es wirklich spannend, sich mit einer solch schillernden Persönlichkeit zu befassen, wobei sich schon die Frage stellt, warum man so wenig über Johann Bos weiß, der auch in Städten wie Hagen und Herne sein Unwesen trieb.

Jan Zweyer: „Eine brillante Masche – Die fast wahre Geschichte eines Lügners“. Roman. Grafit Verlag, Dortmund, 221 Seiten, 9,99 Euro.




Kommissar, Derrick und finstere Zeit: Herbert Reinecker vor 100 Jahren in Hagen geboren

Herbert Reinecker im Jahr 1995. Foto: ZDF/Hermann Roth

Herbert Reinecker im Jahr 1995. Foto: ZDF/Hermann Roth

Jeder kennt ihn, wenn vielleicht auch nicht bewusst: Herbert Reinecker gehört zu den erfolgreichsten Drehbuchschreibern des deutschen Nachkriegsfernsehens. Er ist der Schöpfer von Figuren, die Fernsehgeschichte gemacht haben: „Der Kommissar“ und „Derrick“. Zwischen 1952 und 1958 schrieb er rund fünfzig Filmdrehbücher: Für „Canaris“ bekam er 1955 das Filmband in Gold.

Aber Herbert Reinecker ist nicht nur der Grandseigneur der bundesrepublikanischen Filmunterhaltung. Er hat seine Karriere im Deutschland Adolf Hitlers begonnen und bis April 1945 für die nationalsozialistische Propaganda gearbeitet – als Journalist, Theaterdramatiker und Filmautor. Das Buch „Reineckerland“ beschreibt die Karriere des Autors detailliert und zeigt auch, wie Reinecker die alten Nazi-Verbindungen geholfen haben, in der jungen Republik Karriere zu machen.

Anders als etwa sein Derrick-Hauptdarsteller Horst Tappert, aber auch anders als spätere „moralische“ Größen in der Bundesrepublik wie Günter Grass hat Reinecker aus seiner Vergangenheit nie ein Hehl gemacht. Der Sohn eines Eisenbahners aus Hagen in Westfalen, geboren am 24. Dezember 1914, aufgewachsen in schlichten Verhältnissen, macht 1934 das Abitur und greift zu dem, was ihm die „neue Zeit“ bietet: Nach Anfängen bei der lokalen Zeitung redigiert er eine Jugendzeitschrift und macht das so gut, dass er nach Berlin geholt wird.

Mit der SS in den Krieg

1940 zieht er mit der SS als Berichterstatter in den Krieg. Noch im April 1945 schreibt er für „Das schwarze Korps“. Sein Schauspiel „Das Dorf bei Odessa“ ist das erfolgreichste seiner vier Dramen: Die Nazis sahen in Reinecker einen kommenden Vertreter ihrer Bühnenkunst. Mit „Junge Adler“ (1944) schreibt er das Buch zu einem Film, der neben „Hitlerjunge Quex“ der wohl wichtigste Jugend-Propagandafilm der NS-Zeit wurde.

Eine der erfolgreichsten Figuren Herbert Reineckers: Kommissar Keller (Erik Ode). Foto: ZDF/Neue Münchner Filmproduktion

Eine der erfolgreichsten Figuren Herbert Reineckers: Kommissar Keller (Erik Ode). Foto: ZDF/Neue Münchner Filmproduktion

Nicht zuletzt durch die Unterstützung alter NS-Kameraden wie Alfred Weidenmann schafft es Reinecker, sich Anfang der fünfziger Jahre als Drehbuchschreiber für den Film und das junge Fernsehen zu etablieren. Sein erstes Fernsehstück „Abteilung für Notwohnung“ schreibt er 1953. Da hatte er schon mit „Weg in die Freiheit“ ein wichtiges Filmdrehbuch an den Mann gebracht.

Fortan gehörte er zu den vielbeschäftigten Schreibern im deutschen Film. Im Interview erinnert sich Reinecker an seine Auszeichnung für „Canaris“; „Als mir der Innenminister den Preis überreicht hat, hab ich zu Alfred Weidenmann gesagt, du, ich glaube, jetzt gehören wir wieder dazu. Dann ging’s los mit vielen, vielen Spielfilmen.“

Moral, Disziplin, Pünktlichkeit: So beschreibt Martin Betz in einem Portrait Reineckers Erfolgsgrundlagen. Dazu kommen ein Blick für die Stoffe, ein Gefühl für die Zeit und für das spannende Erzählen, eine ungeheure Erfahrung.

Ob „Anastasia, die letzte Zarentochter“ oder der Kriegsfilm „Stern von Afrika“, ob „Die Trapp-Familie in Amerika“ oder Edgar Wallaces „Der Hexer“: Reinecker konstruierte seine Handlungen stets übersichtlich, dramaturgisch zielsicher und – wenn irgend möglich – mit einem Blick auf die Moral einer Story, die sich nicht in der bloßen Handlung erschöpft.

Schuld und Sühne als wiederkehrende Themen

Szene aus der Derrick-Folge "Das absolute Ende": Derrick (Horst Tappert) und Klein (Fritz Wepper) erleben eine böse Überraschung. Foto: ZDF/Michael Ewerbeck

Szene aus der Derrick-Folge „Das absolute Ende“: Derrick (Horst Tappert) und Klein (Fritz Wepper) erleben eine böse Überraschung. Foto: ZDF/Michael Ewerbeck

Das zeigt sich wohl am deutlichsten in seinen großen Krimi-Serien. 97 Folgen schrieb Reinecker zwischen 1968 und 1976 für „Der Kommissar, 281 Mal ließ er zwischen 1973 und 1997 den einsamen Jäger Stephan Derrick auf Verbrechersuche gehen.

Schuld und Sühne sind immer wiederkehrende Themen. Die Frage nach dem Bösen im Menschen treibt Reinecker um: Wie wird ein Mensch zum Verbrecher? „Herzlich willkommen beim Jüngsten Gericht“ heißt ein Buch, das Reinecker fünf Jahre vor seinem Tod im Jahr 2002 vorlegte. „Was könnten wir sagen, um vor dem höchsten aller denkbaren Gerichte bestehen zu können?“, fragt sich darin ein Bühnenautor. Es gehöre nicht viel Phantasie dazu, in dem Bühnenautor ein Alter ego Herbert Reineckers zu erkennen, meinte Michael Seewald in der FAZ dazu.

Unabhängig von der Frage nach möglicher eigener Schuld, die sich der willige Mittäter öffentlich nie gestellt hat, schienen Reinecker solche Fragen nicht losgelassen zu haben. Schuldhafte Verstrickungen gehören zu seinen Hauptmotiven, auch wenn er von sich selbst rechtfertigend sagt, er habe sich die Zeit und die Verhältnisse nicht ausgesucht. Der Frage nach der Moral stellte er sich in seinem Leben freilich immer wieder.

Als Hochbetagter war er der Überzeugung, die Welt rolle der Apokalypse entgegen. Vielleicht hat er in seinen Kriminalgeschichten – von so manchem als „moralinsauer“ missgedeutet – versucht, sich dem „dunklen Kern“ im Menschen, in der Geschichte mit dem verzweifelten Blick auf eine gefährdete Humanität zu nähern. In den Depressionen seines Alters, so sagte der 2007 verstorbene Reinecker einmal in einem Interview, träume er in ruhelosen Nächten „vom Krieg, nur noch vom Krieg“.




Leben im Wildwuchs der Lektüren: Ulrich Raulff blickt in die 1970er Jahre zurück

Leicht kommen einem die eigenen Jugendjahre mitsamt den Zwanzigern wie die allerbesten Abschnitte der Geschichte vor. Das waren noch Zeiten. Da fühlte man sich noch (gelegentlich) kraftvoll und schier unverwundbar. Und wie man von Tag zu Tag immer klüger wurde, wie man allen die Stirn bieten wollte…

In solchem Sinne, wenn auch mit nachträglicher Skepsis ausbalanciert, hat Ulrich Raulff jetzt Bruchstücke seiner intellektuellen Autobiographie vorgelegt. Ein weiteres Beispiel fürs Genre „Wenn Großvater erzählt“?

Der 1950 in Meinerzhagen geborene Raulff hat seine historischen und philosophischen Studien vornehmlich in Marburg, Frankfurt und Paris betrieben, sich aber auch in Berlin, England, Italien und den USA umgetan. Man darf da wohl einen gutbürgerlichen Familienhintergrund mit entsprechendem Selbstbewusstsein vermuten.

Raulff

Jedenfalls hat Raulff etwas aus sich gemacht: Er war zeitweise Feuilletonchef der FAZ sowie leitender Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“ und ist schließlich 2004 Direktor des Deutschen Literaturarchivs in Marbach geworden. Alles vom Feinsten.

In dem Buch „Wiedersehen mit den Siebzigern“ erzählt er nun vornehmlich von seinen studentischen Lehr- und Wanderjahren. Der „Nach-68er“ Raulff, der somit an der vermeintlich großen Rebellion nicht beteiligt war, schildert die frühen 70er Jahre als Zeit des überaus heiligen Ernstes aus dem allmählich versiegenden Geiste marxistischer Strömungen und Grüppchen. Welch eine Rechthaberei herrschte da! Wie war man im Gehege des Zeitgeistes gefangen! In so mancher festgefahrenen Debatte ward den Sensibleren unbehaglich zumute. Hier drohte der Absturz ins Kleinbürgerliche, dort das Elend der Polit- und Psychosekten.

Ulrich Raulff beschreibt die vielen, vielen langen Tage, die er in den schönsten und ergiebigsten Bibliotheken verbracht hat. Er selbst baute an der Uni regelmäßig einen Büchertisch auf. Auch die erotische Neigung zu zartsinnigen Mädchen scheint sich allemal durch gehabte oder ersehnte Lektüren angebahnt zu haben. Büchereien, so lernen wir abermals, sind nicht zuletzt Stätten eines im weitesten Sinne erotischen Begehrens. Das Leben und das Lesen waren also nahezu eins.

Als große Befreiung hat der junge Mann es erlebt, im Paris der mittleren und späten 70er Jahre in ein ganz anderes intellektuelles Klima einzutauchen als vormals in Marburg, wo etwa Wolfgang Abendroth das Sagen hatte. In Frankreich waren es die großen Zeiten von Roland Barthes und Michel Foucault. Glückhafter Umstand für die weiteren Jahre: Von Foucault hielt Raulff alsbald ein Empfehlungsschreiben in den Händen, das seinerzeit in Paris und eigentlich weltweit alle Türen der Geisteswelt öffnete. Er und ein Freund hatten sich einfach getraut, den großen Meister anzusprechen…

Der Strukturalismus und seine Vernunftkritik, die etwas später als Import in Deutschland anlangten, erwiesen sich für Raulff als Vademecum gegen den bis dato stramm links dominierten Diskurs. Ideologische Spurwechsel wurden damals vielfach vollzogen. Vom „Auszug aus der Suhrkamp-Kultur“ ist bei Raulff die frohe Rede. Als weiterer Zweig des Bedenkenswerten kam u. a. Aby Warburgs und Erwin Panofskys Ikonologie (Lehre von den Bildern) hinzu, deren Impulse im deutschen Sprachraum von Denkern wie Klaus Theweleit und Ausstellungsmachern wie Harald Szeemann aufgenommen wurden.

Noch heute zeigt sich Raulff so beseelt von jener Zeit, dass er sich vielfach in Einzelheiten verliert. Der Punk kam damals auf und Raulff war Mitbegründer einer eher randständigen Zeitschrift namens „Tumult“. Man vernimmt hie und da Gestus und Duktus eines weltläufigen „Ich war dabei“, doch behält all das einen gewissen Charme und gerät nirgendwo zum Auftrumpfen. Gegen die Gefahren eines Bildungsphilistertums ist Raulff offenbar gefeit.

Auch kann man wahrlich die Wehmut nachvollziehen, mit der Raulff die schweifenden, wildwüchsigen Lektüren beschwört, deren Früchte sich in Zettel- und Karteikästen statt in Computer-Dateien ergossen haben. Jeder Lesende war sozusagen seine eigene Suchmaschine.

Wer damals (wenngleich begrenzter und glanzloser) ebenfalls studiert hat, kann zudem einigen geistigen Signaturen jener Jahre nachspüren, die einen selbst – so oder so – berührt haben. Auch in diesem Sinne sind Raulffs Erinnerungen ein aufschlussreiches Dokument der „Jahre, die ihr kennt“.

Ulrich Raulff: „Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens“. Klett-Cotta. 170 Seiten. 17,95 Euro.




Heute vor 75 Jahren: Hitler kündigte den Angriff auf Frankreich und England an

„Mein Entschluss ist unabänderlich. Ich werde Frankreich und England angreifen zum günstigsten und schnellsten Zeitpunkt.“ Mit diesen Worten kündigte Adolf Hitler heute vor 75 Jahren, am 23. November 1939, in einer Ansprache vor den Oberbefehlshabern der Deutschen Wehrmacht den bevorstehenden sogenannten „Westfeldzug“ an. Der später so bezeichnete „Zweite Weltkrieg“ bekam damit eine ganz neue Dimension.

Auch auf der Avenue des Champs-Elysee marschierte ab 1940 die Deutsche Wehrmacht. (Foto von 2014/Hans H. Pöpsel)

Auch auf der Avenue des Champs-Elysee marschierte ab 1940 die Deutsche Wehrmacht. (Foto von 2014/Hans H. Pöpsel)

Hitler begründete den geplanten Überfall mit dem schon im Osten benutzten Argument: „Die steigende Volkszahl erforderte größeren Lebensraum…Hier muss der Kampf einsetzen.“ Bereíts am 1. September 1939 hatte die Wehrmacht Polen überfallen, und deshalb erklärten dessen Schutzmächte Groß-Britannien und Frankreich zwei Tage später dem Deutschen Reich den Krieg. Weil Hitler von der Überlegenheit der Wehrmacht und der deutschen Rüstungsindustrie überzeugt war, schmiedete er nun seine Angriffspläne in Richtung Frankreich.

Am 10. Mai 1940 begann dann der sogenannte Westfeldzug mit dem militärischen Überfall auf Belgien, Luxenburg und die Niederlande und deren Besetzung. Gut drei Wochen später begann am 5. Juni der Angriff auf Frankreich, das tatsächlich dem schnellen Vorrücken der deutschen Truppen wenig Widerstand leisten konnte.

Bereits am 4. Juni besetzte die Wehrmacht Frankreichs Hauptstadt Paris, aus der sich die noch vorhandenen Teile der französische Armee zuvor zurückgezogen hatten. Am 22. Juni 1940 unterzeichneten in Compiegne die Vertreter des französischen Militärs und der Staatsführung das Waffenstillstandsabkommens – im selben Eisenbahnwaggon, in dem 1918 Deutschland hatte kapitulieren müssen. Die Dritte Französische Republik war damit beendet, Marshall Petain verlegte seine Rest-Regierung nach Vichy.

Gut vier Jahre später, Ende Augsut 1944, begann mit der „Operation Overlord“ die Befreiung von Paris, nachdem bereits im Juni alliierte Truppen in der Normandie gelandet und in den Wochen darauf gegen die Hauptstadt vorgerückt waren. Mit einem Generalstreik in der Stadt und Angriffen der Widerstandskämpfer begann die Befreiungsaktion, die nur deshalb ohne große Schäden und Opfer gelang, weil der deutsche Stadtkommandant Dietrich von Choltitz am 25. August gegen den ausdrücklichen Befehl Hitlers kampflos kapitulierte. Der hatte nämlich verlangt, eher ein „Trümmerfeld“ zu hinterlassen als zu kapitulieren.

So also erlangte Frankreich seine Freiheit zurück, Paris war in doppeltem Sinne gerettet, und die Touristen aus aller Welt können sich auch heute noch an den herausragenden Bauwerken in der Stadt an der Seine erfreuen.




Erfinder des Saxophons: Vor 200 Jahren wurde Adolphe Sax geboren

Ein Glück, dass die Welt in diesem Fall nicht auf den Papst gehört hat: Im Jahre 1903 erreichten Pius X. alarmierende Nachrichten vom Eindringen eines neuen Instruments in die geistliche Musik. Umgehend verbot er das Ding, das den Namen seines Erfinders Adolphe Sax trug. Bis heute sei der Bann nicht gelöst, heißt es. Aufgehalten hat der Heilige Vater den Siegeszug des Saxophons dennoch nicht. Bisweilen erklingt es wieder in Kirchen: wenn ein Organist etwa einen Saxophonspieler einlädt, mit ihm ein Konzert zu gestalten. Niemand wird deswegen noch eine Meldung nach Rom senden.

Adolphe Sax auf einer historischen Fotografie.

Adolphe Sax auf einer historischen Fotografie.

Der Erfinder des Instruments, Adolphe – eigentlich Antoine Joseph – Sax wurde vor 200 Jahren, am 6. November 1814, in Belgien geboren. Seine Heimatstadt Dinant an der Maas pflegt bis heute liebevoll sein Andenken: Das Jubiläumsjahr ist gefüllt mit Konzerten und Veranstaltungen, eine vier Tonnen schwere gläserne Wasseruhr in Form eines Saxophons schlägt bis zum Jubiläums-Geburtstag im Hof des Rathauses von Dinant. In Brüssel, wohin Sax mit seiner Familie noch im ersten Lebensjahr umzog, erinnert eine Ausstellung „Sax200“ bis 11. Januar 2015 an den genialen Erfinder und Instrumentenbauer. Sogar ein „Adolphe Sax Bier“ wird in Belgien gebraut.

Dabei hatten es weder Sax noch die nach ihm benannte Instrumentenfamilie leicht. In Kindheit und Jugend schien ein böses Geschick entschlossen, sein Überleben zu verhindern: Sax stürzte eine Treppe hinab, verschluckte eine Nadel, trank mit Schwefelsäure vergiftetes Wasser, erlitt bei einer Explosion Verbrennungen und wäre fast ertrunken. Später überlebte er Mordanschläge seiner Konkurrenten, Überfälle auf seine Werkstatt und eine schwere Krebserkrankung. Kein leichtes Leben, aber Sax lebte es zäh, ausdauernd und zielstrebig.

Der Vater arbeitete als Kunsttischler und eröffnete 1815 in Brüssel eine Werkstatt für Instrumentenbau. Sein Sohn – eines von elf Kindern – lernte das Handwerk von der Pike auf, studierte aber auch am Konservatorium Flöte und Klarinette. Letztere war das erste „Opfer“ seiner Erfindungsgabe, denn Sax verbesserte die Bassklarinette (später auch die Klarinette) und ließ sich mit 24 Jahren darauf ein Patent ausstellen. Es sollte das erste von 46 Patenten sein. Dasjenige auf die Familie der acht Saxophone, 1846 erworben, war nur das prominenteste. Andere betrafen Instrumente wie das Horn oder die Tuba – oder auch Tonsignale für die Eisenbahn.

Alte Saxophone sind kostbar und geben Einblick in Klang und Spieltechnik früherer Zeiten. Foto: Pixabay

Alte Saxophone sind kostbar und geben Einblick in Klang und Spieltechnik früherer Zeiten. Foto: Pixabay

Sax hatte einen Plan, den er zielstrebig umsetzte: Er wollte für das Militär ein Blasinstrument entwickeln, das dem Klang von Streichinstrumenten nahe kam, aber mehr Kraft und Intensität im Ton haben sollte. Damit wollte er bei der anstehenden Reform der französischen Militärmusik eine entscheidende – und für ihn wirtschaftlich segensreiche – Rolle spielen. Kein Wunder, dass er auf den entschlossenen und teilweise gewalttätigen Widerstand der gesamten Front der Pariser Instrumentenbauer stieß. Sie nutzten jedes Mittel, um Sax außer Gefecht zu setzen, überzogen ihn mit Prozessen, strebten eine Annullierung seiner Patente an, warben seine Arbeiter ab, brannten die Werkstatt nieder und sollen ihm sogar zwei Mal nach dem Leben getrachtet haben.

Sax hatte jedoch einen guten Schutzengel, mehr noch: Bei einem Wettbewerb 1845 gab es eine Schlacht der Instrumente auf dem Pariser Marsfeld. 25.000 Zuschauer sollen dabei gewesen sein, als das Saxophon-Orchester Adolphes über die mit traditionellen Blasinstrumenten wie Oboen, Hörnern und Fagotten angetretene gegnerische Formation einen lautstarken und überwältigenden Sieg errang. Fortan gehörte das Saxophon zur Ausrüstung der französischen Militärkapellen.

In der klassischen Musik fand es in den Komponisten der Zeit neugierige Befürworter. 1841 stellte Sax das erste Exemplar, ein Bass-Saxophon, auf der Brüsseler Industrieausstellung vor. Wohlweislich spielte er es hinter einem Vorhang, damit niemand seine Idee stehlen konnte. Ein Jahr später ging er mit einem Sopran-Saxophon ausgerüstet nach Paris; Hector Berlioz lernte das Instrument kennen, schrieb einen begeisterten Artikel und verwendete es 1844 in seiner im Original leider verlorenen „Hymne sacrée“.

Andere Komponisten folgten: von Georges Bizet bis Maurice Ravel reicht die Liste; letzterer vertraute dem exotisch anmutenden Klang des Saxophons eine prominente Rolle etwa in seinem „Boléro“ oder in seiner Bearbeitung von Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ an. Heute ist das Instrument aus der zeitgenössischen Musik nicht mehr wegzudenken. Es gibt sogar Ensembles wie das Raschèr Saxophone Quartet, das nicht nur neue Stücke spielt, sondern schon mal Bachs „Kunst der Fuge“ auf vier Saxophonen klanglich ungewohntes Leben einhaucht.

Sigurd Raschèr, der Gründer des Ensembles, 1907 in Elberfeld geboren, wurde 1933 aus Deutschland hinausgeekelt – doch es gelang den Nazis nicht, das „schmutzige“ Instrument, ein Symbol auch sexuell geprägter Leidenschaft, aus der Musik zu verbannen. Ein alter Musiker, der vor dem Krieg in den legendären Hotel-Tanzkapellen spielte, hat mir einmal berichtet, dass er sich als Klarinetten-Student am Konservatorium nicht erwischen lassen durfte, wenn er zum Saxophon griff, um sich in einer Band ein wenig Geld mit Tanzmusik zu verdienen. Das waren streng verbotene Abwege!

Doch damals hatte das Saxophon längst sein eigentliche Domäne erobert: die Jazz- und Swing-Musik des 20. Jahrhunderts. Zwischen den alten Jazzern und dem goldschimmernden Rohr zündete eine Liebe auf den ersten Blick. Was wäre der Jazz ohne das Saxophon eines Sidney Bechet, eines Charlie Parker, eines Coleman Hawkins? Was wäre die Tanzmusik der Zwanziger ohne die Saxophone von Duke Ellington? Was der ironische Schlager aus der Weimarer Zeit, der Berliner Swing oder die schmeichelnden karibischen Klänge der Lecuona Cuban Boys? Selbst in den Operetten der „goldenen“ Zwanziger, ob in Paul Abrahams „Blume von Hawaii“ oder in Eduard Künnekes „Vetter aus Dingsda“, gehören Saxophone zur Original-Instrumentierung.

Diese Zeit hat Adolphe Sax nicht mehr erlebt: Er starb 1874, nach dem dritten und endgültigen Bankrott seiner Firma, verarmt und einsam in Paris und wurde auf dem Friedhof von Montmartre begraben. Sein Geburtshaus in Dinant steht nicht mehr, aber in der Rue Adolphe Sax 37 zeigt man die Stelle, an der es einst gestanden hat. Der Firmen-Name lebt weiter: Der Belgier Karel Goetghebeur ließ sich den Namen „Adolphe Sax & Cie“ schützen und belebte die Produktion von Saxophonen in Belgien neu. Seine Werkstatt in Brügge baut Instrumente nach Vorbildern aus den vierziger Jahren – aber mit allen modernen spieltechnischen Errungenschaften.




Beyenburg mit seinem Stausee – ein bergisches Idyll am Rande von Wuppertal

Na klar, die Dortmunder schwärmen von ihrem Phoenixseee, die Bochumer loben die Kemnade, und auf ihren hübschen Baldeneysee lassen die Essener nichts kommen.

Richtig schön aber ist es am Beyenburger Stausee. Kennen Sie nicht? Liegt ja auch viel weiter südlich, in Wuppertal, das heißt, genau genommen geht die Grenze zwischen dem politischen Ruhrgebiet (Ennepetal) und dem Bergischen Land (Wuppertal) mitten durch den kleinen Wupper-Stausee. Das schönste an dem Teich ist aber das Örtchen Beyenburg.

Beyenburg, der älteste Teil Wuppertals. (Foto: H.H.Pöpsel)

Beyenburg, der älteste Teil Wuppertals. (Foto: H.H.Pöpsel)

Dort im Südosten der Großstadt Wuppertal macht der Namen stiftende Fluss eine große Schleife um ein kleines Felsgebirge herum, auf dem die Kreuzherren schon im 13. Jahrhundert ein Kloster und eine imposante gotische Kirche errichten ließen. Um dieses Kloster herum entstand ein Dorf, das heute mit seinen bergischen Schiefer- und Fachwerkhäusern ein besonders idyllisches Bild abgibt. Man kann durch das Ober- und das Unterdorf flanieren und dabei eine Ruhe genießen, die man in einer Großstadt wie Wuppertal nicht vermuten würde. Natürlich fehlt auch ein historischer Biergarten nicht, der im Sommer von Leuten aufgesucht wird, die diesen Geheimtipp zu schätzen wissen.

Das Kloster war aufgegeben, wird aber seit ein paar Jahren wieder von einigen Brüdern bewohnt, die sogar eine neue Marien-Wallfahrtskapelle am Flussufer eingerichtet haben.

In Beyenburg ist auch die Fernsehschauspielerin Ann-Kathrin Kramer aufgewachsen, und weil es da so schön ist, lebt sie heute dort auch wieder mit ihrem Lebenspartner und Schauspielkollegen Harald Krassnitzer. „Eine Liebe in Wuppertal“ überschrieb die Brigitte Woman einmal ein Porträt der beiden TV-Helden. Eine Liebe zu Wuppertal, die kann man entwickeln, wenn man einmal in Beyenburg war.




Tanzte man sur oder sous le Pont d’Avignon? – Was aus Hörfehlern entstehen kann

Zumindest in Europa kennt fast jede und jeder das Lied von der Brücke in Avignon, und sei es nur aus dem Vortrag der kleinen Mireille Mathieu. Dort auf der halben Brücke über die Rhône – in Frankreich ist dieser Fluss männlichen Geschlechts (Le Rhône) – wurde angeblich so gern getanzt, nämlich „sur le Pont“. In Wahrheit handelte es sich aber wohl um einen Hörfehler, der sich irgendwann eingeschlichen hat.

Die halbe Brücke von Avignon. (Foto: Hans H. Pöpsel)

Die halbe Brücke von Avignon. (Foto: Hans H. Pöpsel)

Getanzt wurde nämlich ursprünglich unter den Bögen der Brücke, also nicht „sur“, sondern „sous le Pont d’Avignon“. Für die touristische Vermarktung ist das aber gleichgültig – und das Eintrittsgeld zum Betreten der Tanzfläche (auf der Brücke) kann sich sehen lassen. Solche veränderten Schreibweisen durch Hörfehler sind gar nicht so selten. Nehmen wir das Beispiel Japan: Die Japaner nennen ihr eigenes Land in lateinischer Schrift „Nippon“. Die Engländer aber als die ersten europäischen „Entdecker“ verstanden nicht „Nippon“, sondern (in Lautschrift) „Jeppen“, sie schrieben dementsprechend „Japan“, und die Franzosen machten daraus „Japon“.

Ähnlich erging es dem asiatischen Lande Mianmar. Weil der Name von den Einheimischen schnell gesprochen wurde, verstanden die Engländer nicht Mianmar, sondern Burma, aus dem später Birma wurde. Heute ist aus der britischen Schreibweise wieder in lateinischer Schrift die korrekte Bezeichnung Mianmar geworden.

Auch in Westfalen gibt es zahlreiche solcher Umdeutungen. Im Namen meiner münsterländischen Heimatgemeinde „Herzebrock“ zum Beispiel vermutete ich als Kind ganz selbstverständlich die romantische Geschichte von einem gebrochenen Herzen. Tatsächlich aber geht das Wort auf das althochdeutsche „horsabroich“ zurück, und Englischkundige sehen sofort, dass hier etwas vom Pferd erzählt wird, dem „Horse“ – eine sumpfige Pferdeweide war nämlich gemeint. Entsprechend entstand der Stadtname Essen natürlich nicht aus der Nahrungsaufnahme, ebenso wie Dortmund nicht der Ort war, in dem das Essen verschwand, obwohl sich die Restaurantszene heute sehen lassen kann.




Frage des Alters: Michael Gruner inszeniert „Die Gerechten“ von Camus in Düsseldorf

Eigentlich seltsam, dass eine Gruppe von Schauspielern im Rentenalter auf der Stadttheaterbühne so ungewöhnlich wirkt. Schließlich ist im Publikum diese Altersgruppe ebenfalls überdurchschnittlich vertreten – mal abgesehen von den Studenten, die auch viel Zeit haben, ins Theater zu gehen. Wer meistens fehlt, sind die 35-50jährigen: Karriere und Kinder vertragen sich mit Kunst am Abend organisatorisch weniger gut.

Sicher gibt’s im Klassiker den alten König Lear oder die gestandene Mutter Courage, die auch schon alles gesehen hat. Aber Camus „Gerechte“ als revolutionäre Alt-68er? Diesen Ansatz bringt Regisseur Michael Gruner (selbst Jahrgang 1944) nun in der neusten Inszenierung des Düsseldorfer Schauspielhauses auf die Bühne, das zurzeit vom Interimsintendanten Günther Beelitz (75) geleitet wird. „Wir kennen uns seit den sechziger Jahren“, benennt Beelitz die alte Seilschaft ganz munter bei der Premierenfeier. Ruhrgebietsbewohnern sind beide aus Gruners Zeit als Schauspieldirektor am Theater Dortmund (1999-2010) bekannt, wo auch Beelitz inszenierte.

Kurioserweise trifft Gruner mit seinem Ansatz mitten ins Herz der aktuellen Demographie-Diskussion – von der alternden Gesellschaft bis zur Rente mit 63. Lässt man mal beiseite, dass sich für das Thema von Camus „Die Gerechten“ – Terrorismus und Tyrannenmord – vielfältige Aktualisierungsmöglichkeiten anbieten würden, man denke nur an den IS-Terror und dergleichen, verfolgt Gruner seine Idee pur und konsequent. Tatsächlich liegt der Gedanke im Text verborgen: „Das Traurigste ist, dass all das uns alt macht, Janek“, sagt Revolutionärin Dora, „Wir werden nie mehr, nie mehr Kinder sein. Von nun an können wir sterben, wir haben das Menschsein durchlaufen. Der Mord ist die Grenze.“

Camus Stück von 1949 bezieht sich auf eine wahre Begebenheit: 1905 planen russische Revolutionäre einen Mordanschlag auf den Großfürsten Sergei Romanow auf seinem Weg ins Theater. Doch der Attentäter zögert, denn es sind Kinder in der Kutsche. Bei Gruner sitzen die fünf Revolutionäre in einer Art Probensituation im leeren, schwarz abgehängten Bühnenraum auf einfachen Stühlen (Ausstattung: Michael Sieberock-Serafimowitsch). Sie besprechen die Revolution eher, als dass sie sie rocken. Manchmal werfen sie sich auf den Boden, was aufgrund geschwundener Gelenkigkeit zuweilen etwas unbeholfen wirkt. Einzig Dora (Marianne Hoika) zeigt Gefühl, wenn sie den Galgentod des geliebten Janek romantisiert und mit ihm sterben will.

Unweigerlich überlegt man, wie Andreas Baader, Ulrike Meinhof oder Gudrun Ensslin heute aussehen würden, wenn sie noch lebten. Minirock, Knarre und Sonnenbrille: Wirkt das mit über 70 noch hipp? Obwohl Hippness in diesen Zusammenhang wohl eine historisch verfälschende Kategorie ist, wahrscheinlich beeinflusst von Eichingers Film-Adaption „Der Baader Meinhof Komplex“.

Tempo nimmt die Inszenierung auf, als Attentäter Janek (Michael Abendroth) in Gewahrsam des (jungen) Polizeichefs Skuratow (Dirk Ossig) gerät. Smart und geschäftsmäßig macht der dem „revolutionären Träumer“ ein reelles Angebot. Doch Janek verrät weder seine Ideale noch verpfeift er die Terrorzelle. Skuratow kann gar nicht verstehen, weshalb so ein abstrakter Begriff wie „Gerechtigkeit“ jemandem so wichtig sein kann: Gruners ironischer Blick auf das Verhältnis von 68er Eltern zu ihren Kindern, die sie als total „unpolitisch“ und „materialistisch“ empfinden. Dann folgt ein gewollt melodramatischer Auftritt von Louisa Stroux (der Enkelin des Düsseldorfer Intendanten von 1955-1972, Karl-Heinz Stroux) als Großfürstin im Witwenkleid aus schwarzer Spitze, die die ganze Weltrevolution am liebsten wegbeten möchte.

Insgesamt ein selbstironischer Abend nach dem Motto: Wenns die Jungen nicht mehr packen, müssen eben die Alten (Meister) wieder ran – als Intendanten und beim Inszenieren.

Karten und Termine:
www.duesseldorfer-schauspielhaus.de




Langjähriger Dortmunder Journalistik-Professor Ulrich Pätzold legt Berlin-Buch vor

PaetzoldCover30 Jahre war Ulrich Pätzold ordentlicher Professor für Journalistik in Dortmund. Als er 1978 in die Westfalenmetropole berufen wurde, um den seinerzeit neuen Studiengang mit aufzubauen, kam er aus Berlin, damals noch eine geteilte Stadt. Nach seiner Emeritierung kehrte er zurück an die Spree und legt jetzt ein Buch vor, mit dem er den Leser einlädt, ihn auf seinen Spaziergängen durch die Hauptstadt zu begleiten.

Gern abseits der Touristenpfade macht er sich auf den Weg durch die Stadtbezirke und erzählt Episoden und Geschichten aus der wechselvollen Vergangenheit „seiner“ Stadt. 15 Jahre hat er hier gelebt, zunächst studiert (Publizistik, Philosophie, Theaterwissenschaften, Musik- und Literaturwissenschaften), noch während des Studiums mit journalistischer Tätigkeit für RIAS Berlin und viele andere Medien begonnen.

Der Autor kennt nicht nur die Namen von unzähligen Straßen, Plätzen, Gebäuden und Parks, er weiß auch, was sich dort vor Zeiten abgespielt hat und verknüpft das Früher mit dem Heute. So betrachtet er den BER, also den Berliner Flughafen, weniger als ein Objekt, das inzwischen schon zum Gespött verkommen ist, als vielmehr als ein Projekt, das vor allem die Bürger aus dem Stadtteil Friedrichshagen auf den Plan gerufen hat. Dass sie genau in einer der Einflugschneisen wohnen, ist ein sehr konkreter Erklärungsansatz für die andauernde Gegenwehr, eine andere Begründung hat eher historische Wurzeln und atmosphärische Elemente. Hier war nämlich Ende des 19. Jahrhunderts die neue Kunstrichtung der Naturalisten zuhause.

Nicht minder geschichtsträchtig kommt Friedenau daher, es hat sogar den Anschein, als habe man es mit einem Kristallisationspunkt der Vergangenheit Berlins zu tun. NS-Reichspropagandaminister Goebbels wohnte hier und schrieb seine berüchtigte Rede, in der er zum „Totalen Krieg“ aufrief, ebenso der Gründer der Comedian Harmonists, die sich wegen der Verfolgung durch die Nazis auflösten. Mit August Bebel, Karl Kautsky und Karl Liebknecht hatten die führenden Vertreter der Sozialdemokratie hier ebenso ihre Wohnungen wie Rosa Luxemburg. Ulrich Pätzold erzählt von deren (Zusammen-)Leben, ihren Idealen und auch ihren internen Konflikten.

Die Großstadt lebt mit und von ihren Widersprüchen, lässt sich aus Ulrich Pätzolds Beschreibungen herauslesen. Zu den vielen Beispielen gehört der Kiez. Er ist Rückzugsgebiet ins Private, ohne ihn wäre eine Stadt von Welt wie Berlin aber nicht Berlin. Dabei ist jeder Kiez anders, das einigende Band besteht wohl darin, dass man hier das eigene Tempo drosselt.

Der Schnelllebigkeit der Zeit, durch die manches dunkle Kapitel in Vergessenheit zu geraten droht, setzt der Autor die Erinnerung an Opfer und Täter entgegen. Dass es vor allem die Jahre des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges sind, auf die der Journalist immer wieder zu sprechen kommt, verwundert deshalb nicht, weil die Nazis überall in der Stadt blutige Spuren hinterlassen haben. Allein aus Berlin wurden 55.000 Juden verschleppt und ermordet.

Selbst in Kapiteln, in denen man den schrecklichen Schatten der Nazis kaum vermuten würde, sind sie allgegenwärtig. So erzählt Pätzold die bizarre Geschichte der Brüder Sass, Einbrecherkönige in der Weimarer Zeit mit viel Sympathie in der Bevölkerung, die die Polizei zum Narren hielten und im Konzentrationslager Sachsenhausen von Rudolf Höss, dem späteren KZ-Kommandanten von Ausschwitz, erschossen wurden. Widerstand gegen das NS-Regime hat es übrigens, wie der Autor beschreibt, vielfach auch bei den „einfachen Leuten“ gegeben, wie er es am Beispiel eines Bürstenfabrikanten und einer Prostituierten beschreibt.

Wenn im Berlin von heute viele Ethnien nebeneinander leben, sieht der Autor darin eine große Chance für diese Stadt, die mit der Kongresshalle für die Kulturen der Welt ohnehin schon einen sichtbaren Ausdruck der Völkerverständigung geschaffen habe. Mit aller Vehemenz wehrt er sich gegen die Thesen eines Thilo Sarrazin, wobei sehr deutlich wird, dass Pätzold nicht nur um den einstigen Berliner Finanzsenator geht, sondern um alle, die – auf welche Weise auch immer – Fremdenhass schüren. Den unterschiedlichen Nationalitäten ist ein Tag zu verdanken, der für Berlin verblüfft. Einmal im Jahr feiert man nämlich auch hier Karneval, einen Karneval der Kulturen.

Von Feierlaune sind die Menschen weit entfernt, die an der Lehrter Straße, dem Sitz der Stadtmission, Zuflucht suchen. Obdachlose kommen hierher, 4000 von ihnen leben irgendwo in dieser Stadt und gehören auch zu ihrem Bild dazu.

Um die Vielfalt von Berlin darzustellen, können und dürfen die Kultur und die Architektur ebenso wenig fehlen wie die Erinnerung an die Mauer. Dass die Museen mehr als nur die Nofretete zu bieten haben und Berlin auch trotz des verheerenden Krieges reich ist an imposanten Gebäuden, zeigt Pätzold an zahlreichen Beispielen auf. Welche irrwitzige Folgen die Teilung Berlins haben konnte, führt der Autor anhand des „Hamburger Bahnhofs“ vor, der nur wenige Jahre ein Bahnhof gewesen ist.

Ulrich Pätzold: „Berlin – Geschichte in Geschichten.“ kladde Buchverlag. 383 Seiten, 19 Euro




Die fast unbekannte Baugeschichte des alten Ostwall-Museums – ein Buch zur rechten Zeit

Eigentlich kaum zu begreifen: Die Baugeschichte des über Jahrzehnte wichtigsten Dortmunder Kunstortes war bis in die jüngste Zeit weitgehend unbekannt. Jetzt soll ein neues Buch endlich Klarheit schaffen, möglichst mit raschen Wirkungen über die hehre Wissenschaft hinaus. Denn in Dortmund wird immer noch um die Erhaltung des früheren Ostwall-Museums gerungen – neuerdings mit deutlich besseren Aussichten.

Nun aber der Reihe nach. Die eingehende Untersuchung der Dortmunder Architektur-Dozentin Sonja Hnilica trägt den nüchternen Titel „Das Alte Museum am Ostwall. Das Haus und seine Geschichte“. Der Band ist in staunenswertem Tempo (ein knappes Jahr von der Idee bis zum fertigen Buch) vom Essener Klartext Verlag produziert worden und fördert Erkenntnisse zutage, die unbedingt gegen einen immer noch möglichen Abriss des Gebäudes sprechen. Klartext-Verleger Ludger Claßen gibt sich indes keinen allzu großen Illusionen hin: Früher habe man sich mit Büchern wirksamer in öffentliche Diskussionen einmischen können.

Museum Ostawall_18.8.2014.inddDie allermeisten Menschen halten das Haus am Ostwall für einen typischen, eher schmucklosen Nachkriegsbau. Doch es verhält sich anders: Hinter der gelblichen Klinkerfassade stehen noch wesentliche Teile des alten Mauerwerks aus den Ursprungsjahren. Von 1872 bis 1875 errichtet, beherbergte der vom Architekten Gustav Knoblauch entworfene Bau zunächst das Königliche Oberbergamt, 1911 wurde die Behörde zum Städtischen Kunst- und Gewerbemuseum umgebaut. Unter Ägide des Stadtbaurats Friedrich Kullrich entstand dabei jener wundervolle Lichthof mit Glasdach, den es in ganz ähnlicher Form noch heute gibt; wie denn überhaupt der anfängliche Grundriss weitgehend erhalten geblieben ist.

Auch wenn es von außen nicht den Anschein hat: Das vormalige Ostwall-Museum darf im Kern als ältester Profanbau innerhalb des Dortmunder Wallrings gelten, nur die Kirchen sind früher entstanden.

Die heutige „Außenhaut“ des Gebäudes geht allerdings auf die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg zurück. Als Dortmund in Trümmern lag, war es vor allem der Beharrlichkeit der Leiterin Leonie Reygers zu verdanken, dass ab 1947/49 am Ostwall erneut ein Museum entstehen konnte – nun allerdings als reines Kunstmuseum ohne kulturgeschichtliche Nebenlinien. Anfang 1949 gab es am Ostwall wieder die erste Kunstausstellung, bei laufendem Betrieb gingen die Umbauarbeiten bis 1957 Schritt für Schritt weiter.

Eventuell hätte man das Haus im alten Stil wieder aufrichten können, doch diese Option ist offenbar nie ernsthaft erwogen worden. Ganz bewusst hat Leonie Reygers die Zeichen auf Bescheidenheit gestellt. Es sollte kein womöglich einschüchternder, historisierender Imponierbau entstehen, sondern ein einladender, äußerlich schlichter Zweckbau, quasi im Geiste der noch ungefestigten Demokratie. Immerhin wurden solide Materialien verwendet.

Teilansicht des alten Ostwall-Museums im jetzigen Zustand (Aufnahme vom 30. September 2014). (Foto: Bernd Berke)

Teilansicht des alten Ostwall-Museums im jetzigen Zustand (Aufnahme vom 30. September 2014). (Foto: Bernd Berke)

Mag sein, dass man eine derartige Entscheidung heute anders treffen und im Stile des 19. Jahrhunderts restaurieren würde. Tatsache bleibt, dass der Bau – gleichsam schichtweise – eine wechselvoll verwobene Geschichte mit Signaturen verschiedener Epochen darstellt. Im Gegensatz zur bisher vorherrschenden Auffassung müsste man deshalb nachdrücklich für Denkmalschutz plädieren. Das mit Vorkriegs-Relikten wahrlich nicht reich gesegnete Dortmund würde sich bundesweit unsterblich blamieren, wenn hier die Abrissbagger kämen und an selbiger Stätte ein Seniorenzentrum entstünde.

Für ein solches Buch wird es also allerhöchste Zeit, bezieht es sich doch auf einen seit Jahren schwelenden Dortmunder Streitfall: Immer wieder hat der Dortmunder Stadtrat in den letzten Monaten eine endgültige Festlegung übers Ostwall-Museum vertagt. Die nächste Sitzung steht an diesem Donnerstag auf dem Plan.

Täuscht man sich, oder darf die Zögerlichkeit vor einem endgültigen Entscheid allmählich als Hoffnungszeichen gedeutet werden? Professor Wolfgang Sonne, an dessen Dortmunder TU-Lehrstuhl die vorliegende Studie entstanden ist, sagte zur Buchvorstellung mit aller Vorsicht, es werde wohl auch jetzt keine „Guillotinen-Entscheidung getroffen“. Nach derzeitigem Stand dürfe man sogar hoffen, dass das Gebäude „noch in diesem Jahr gerettet werden kann“.

Das einstige Kunst-Domizil steht seit dem Umzug der Bestände zum „Dortmunder U“ leer. Lichtblick: Ab 25. Oktober soll der Bau als Zentrum des Theaterfestivals „Favoriten 2014“ (Treffen der freien Szene NRW) dienen. Dennoch: Bislang droht immer noch ein Abriss, ein entsprechender Ratsbeschluss müsste mit neuer Mehrheit rückgängig gemacht werden, um am Ostwall den Weg für ein NRW-Baukunstarchiv mit Nachlässen einflussreicher Architekten frei zu machen. Hinter den Kulissen wird eifrig über Kosten und Konzepte verhandelt.

Sonja Hnilica: „Das Alte Museum am Ostwall. Das Haus und seine Geschichte“. Klartext Verlag, Essen. 144 Seiten, Broschur, zahlreiche (z. T. farbige) Abbildungen, 19,95 Euro.




Als Japan den Westen betörte – eine schwelgerische Schau im Museum Folkwang

Es ist mal wieder eine dieser Prunk- und Prachtausstellungen des Essener Folkwang-Museums. Seit das Haus Projekt-Partnerschaften mit dem potenten Sponsor e.on (vormals Ruhrgas) pflegt, gibt es solche Schauen mit schöner Regelmäßigkeit. Praktisch immer sind die üblichen Heroen der Klassischen Moderne mit dabei, deren namentliche Signalwirkung weithin ausstrahlende Events garantiert. Diesmal lautet der Titel: „Monet, Gauguin, van Gogh… Inspiration Japan“.

Kitagawa Utamaro: "Die Kurtisane Kisegawa aus dem Matsubaya". Mehrfarbiger Holzschnitt, (© Staatliche Museen zu Berlin, Museum für Asiatische Kunst)

Kitagawa Utamaro: „Die Kurtisane Kisegawa aus dem Matsubaya“. Mehrfarbiger Holzschnitt, (© Staatliche Museen zu Berlin, Museum für Asiatische Kunst)

Es geht um Japonismen, also japanische Einflüsse in der französischen Kunst, die damals mit der globalen Kunsthauptstadt Paris den Ton angab. Der Betrachtungszeitraum reicht im Wesentlichen von 1860 bis 1910. Das Thema wird mit 400 Werken (davon 65 Gemälde) in zwölf Kapiteln entfaltet, denen zwölf Räume entsprechen. So weit das dürre Zahlenwerk.

Doch so nüchtern bleibt es wahrlich nicht. Irgendwann erreicht man den Gipfel des Schönheitsempfindens: Grandioser, schwelgerischer Höhepunkt ist jener Raum mit den prächtig in Szene gesetzten Seerosenbildern von Claude Monet, dessen Garten in Giverny (Normandie) nach japanischen Vorbildern und mit japanischen Pflanzen angelegt worden war. Kein Wunder also, dass auch die künstlerische Gestaltung japanisierende Züge trägt, nicht zuletzt die serielle Arbeitsweise rührt von daher.

Claude Monat "Der Seerosenteich" (Öl auf Leinwand, 1899). The Metropolitan Museum of Art, H. O. Havemeyer Collection, Bequest of Mtrs. H. O. Havemeyer, 1929 (© Foto: bpk; The Metropolitan Museum of Art)

Claude Monat „Der Seerosenteich“ (Öl auf Leinwand, 1899). The Metropolitan Museum of Art, H. O. Havemeyer Collection, Bequest of Mtrs. H. O. Havemeyer, 1929 (© Foto: bpk; The Metropolitan Museum of Art)

Japonismen waren damals ein Hauptstrang der Kunstentwicklung. Alle Fluchtlinien des Rundgangs laufen gleichsam auf die Apotheose in Monets Garten zu. Ringsum wird anhand von allerlei japanischen und französischen Kunstwerken erwogen, wie die Einflüsse verlaufen sein könnten. Da begegnet man einigen Bildern wie etwa Vincent van Goghs „Sämann“ oder Gauguins „Frauen aus Arles“, die in Kunstlexika ihren festen Platz haben und auch Besucher aus der Ferne anlocken werden.

Es begann wohl mit der Öffnung und Modernisierung Japans sowie der nachfolgenden Japan-Mode, die ganz Westeuropa erfasste. Schon bald tauchten in französischen Gemälden japanische Kunstgegenstände auf – als betörende Zeichen eines luxuriösen zeitgenössischen Lebensstils, der sich alsbald nicht nur in den Alltag der „besseren Kreise“, sondern auch in die Kunst des Westens einfügte.

Paul Gauguin: "Frauen aus Arles" (Öl auf Jute, 1888). Mr. and Mrs. Lewis Larnes Coburn Memorial Collection, 1934.39, The Art Institute of Chicago (© Foto: The Art Institute of Chicago)

Paul Gauguin: „Frauen aus Arles“ (Öl auf Jute, 1888). Mr. and Mrs. Lewis Larnes Coburn Memorial Collection, 1934.39, The Art Institute of Chicago (© Foto: The Art Institute of Chicago)

Die charakteristischen japanischen Rollbilder, Holzschnitte, Masken, Fächer und Gebrauchsgegenstände (Teebehälter, Lackdosen usw.) zeichnen sich durch eine ganz eigentümliche Ästhetik aus, die durch Fremdheit fasziniert haben muss. Mal galt sie als rein und unverdorben oder auch roh, mal als raffiniert und sublim. Ihre zunächst irritierenden Weltbilder weichen jedenfalls deutlich von der europäischen Zentralperspektive ab. Ein und dasselbe Kunstwerk kann viele Blickpunkte nebeneinander haben. Solche Bilder sind nicht auf dreidimensionale Wirkung aus, sondern bleiben flächenhaft, wobei auch leere Flächen bedeutsam sind. Formen entstehen vielfach durch dekorative Arabesken und Ornamente.

Katsushika Hokusai: "Die große Welle vor der Küste bei Kanagawa" (Mehrfarbiger Holzschnitt, um 1831). Privatsammlung. (© Foto: Museum Folkwang)

Katsushika Hokusai: „Die große Welle vor der Küste bei Kanagawa“ (Mehrfarbiger Holzschnitt, um 1831). Privatsammlung. (© Foto: Museum Folkwang)

Hinzu kommen radikale Bildausschnitte, steile Draufsichten, extreme Bildformate, hohe Horizontlinien, kräftige Umrisse und eine besondere („unnatürliche“) Farbgebung. Das alles ist damals sicherlich den Tendenzen entgegen gekommen, die sich in der Moderne ohnehin abzeichneten und auf den Abschied von realistischer Abbildhaftigkeit hinausliefen. Die Impulse aus Japan dürfte den Prozess beschleunigt und intensiviert haben. Übrigens haben offenbar just jene Künstler die Anregungen am feinsinnigsten aufgegriffen, die niemals in Japan gewesen sind. Die wenigen Beispiele von Reisebildern aus Japan wirken demgegenüber geradezu uninspiriert. Es ging eben um Phantasie, nicht um Sightseeing.

Die Kuratorin Sandra Gianfreda hat sich vielfach auf Bestände des Folkwang-Museums stützen können. Schon Karl Ernst Osthaus, Begründer der anfänglich in Hagen beheimateten Sammlung, hatte erlesene Kunst mit japanischem Einschlag gekauft. Auch die von japanischen Künstlern (darunter z. B. die populären Meister Hokusai und Hiroshige) stammenden Exponate hat man jetzt nicht etwa aus japanischen Museen geliehen, sondern es sind überwiegend Stücke, die sich im Besitz französischer Künstler befanden. Das ist ja auch schon eine wichtige Frage: Wer konnte welche japanischen Arbeiten kennen? Wenn man weiß, wer was gesammelt oder sonstwie rezipiert hat, lassen sich auch die Einflüsse besser dingfest machen.

Edgar Degas: "Orchestermusiker" (Öl auf Leinwand, 1872 - überarbeitet 1874-76). Städtische Galerie, Städel Museum, Frankfurt/Main (© Foto: U. Edlemann / Städel Museum / Artothek)

Edgar Degas: „Orchestermusiker“ (Öl auf Leinwand, 1872 – überarbeitet 1874-76). Städtische Galerie, Städel Museum, Frankfurt/Main (© Foto: U. Edlemann / Städel Museum / Artothek)

Ansonsten besteht Frau Gianfreda darauf, dass es hier nicht etwa um einen kolonialistischen Blick der Europäer gehe („Japan war nie eine Kolonie“), sondern um (wertneutrale?) transkulturelle Vermittlungen. Überhaupt handle die Ausstellung „nicht von Politik, sondern nur von Ästhetik“. Ob man da auf eine Dimension verzichtet, die so manches noch ganz anders erhellen könnte?

Eine etwas schmale These der Schau lautet, dass sich französische Künstler nach und nach Motive und Duktus der japanischen Kunst anverwandelt hätten, bis dies sozusagen in Fleisch und Blut übergegangen war. Hier beginnt freilich auch schon eine Schwierigkeit. Japanische Anregungen wurden, so scheint es, zuweilen dermaßen verinnerlicht und eigenschöpferisch fortgeführt, dass man sie kaum noch als solche ausmachen kann. Da droht das Thema der Ausstellung beinahe zu verschwimmen. Folglich verzichtet man auch auf direkte Gegenüberstellungen, sondern lässt das Thema teils im Ungefähren durch die Raumfolgen wabern.

Paul Cézanne: "Montagne Sainte-Victoire" (um 1890). Musée d'Orsay, Paris (© Foto: bpk / RMN - Grand Palais / Hervé Lewandowski)

Paul Cézanne: „Montagne Sainte-Victoire“ (um 1890). Musée d’Orsay, Paris (© Foto: bpk / RMN – Grand Palais / Hervé Lewandowski)

Ob und inwiefern sich etwa die luftig-duftigen Balletteusen eines Edgar Degas noch der japanischen Inspiration verdanken, ist wohl nicht ganz leicht zu belegen. Auch leuchtet nicht ohne weiteres ein, dass die Wellenbilder von Gustave Courbet auf Hokusais „Große Welle“ zurückgeführt werden können. Nun gut. In solcher Mehrdeutigkeit mag denn auch ein flirrendes Element der Spannung liegen.

Allerdings gibt es auch etliche entschiedene, sehr frappante Japonismen, seien es eine „Japonaiserie“ von van Gogh, ein zartes Blumenbild von Odilon Redon, Cézannes Ansichten der „Montagne Sainte-Victoire“, hinreißende Plakate von Pierre Bonnard und Toulouse-Lautrec oder die Holzschnitte von Félix Vallotton.

Einen erotischen Nachklang hat die Ausstellung auch noch. Reihenweise hat Pablo Picasso 1968 Erotika im quasi-japanischen Stil hervorgebracht. Da geht es freizügig „zur Sache“. Passende Kapitelüberschrift: „Die Kunst ist niemals keusch“.

„Monet, Gauguin, van Gogh… Inspiration Japan“. 27. September 2014 bis 18. Januar 2015. Geöffnet Di-Do 10-20, Fr 10-22, Sa/So 10-18 Uhr. Eintritt 13 Euro (ermäßigt 8 Euro). Führungen Tel.: 0201/201 8845 444. Katalog 39 Euro. Internet: www.inspiration-japan.de




Vom Weiterleben nach einem Todesfall: Angelika Reitzers Roman „Wir Erben“

Mit den ersten Sätzen in Angelika Reitzers Roman „Wir Erben“ mag man als Leser zunächst Schwierigkeiten haben. Doch bald werden sie klar als Widerhall einer Traumsequenz Mariannes, die sich alsbald als erste wichtige, vielleicht wichtigste Figur dieses Romans herausstellt.

Die Ausgangssituation ist interessant. Die vielverzweigte Mehr-oder-minder-Patchwork-Familie Mariannes hat gerade in großer Anzahl Weihnachten miteinander gefeiert bzw. begangen. Nun stirbt kurz danach – wie nebenbei – die „Familien“-Matriarchin Jutta, die Großmutter Mariannes. Die zumeist gerade Abgereisten aus dem großen Kreis der Verwandten, Bekannten, Verschwägerten und Freunde (unter ihnen auch Mariannes Sohn Lukas) werden nun wieder zurückgerufen. Die Beerdigung steht an und bald danach auch der Erbfall.

reitzer_wir_erbenMit dem Tod einer Hauptperson beginnen so manche Romane, in der deutschen Literatur zum Beispiel Jean Pauls „Flegeljahre“ und Wilhelm Raabes „Im alten Eisen“ sowie Hans Erich Nossacks „Der jüngere Bruder“. So werden Vergleiche interessant: Wie unterschiedlich gehen die jeweils Hinterbliebenen mit einem solchen Todesfall um und wie prägt ein derartiger Beginn ein ganzes Buch?

Eines der Hauptthemen des Romans von Angelika Reitzer ist ganz konkret: Wie kommen wir Menschen, insbesondere wir mitteleuropäischen Menschen der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit unter diesen ganz bestimmten Bedingungen im jeweiligen Einzelfall mit unserem Leben zurecht? Dabei steht das Leben der Frauen vor allem im Blick, auch wenn Männer durchaus vorkommen und gelegentlich auch eine Rolle spielen.

Das Leben dreier, wenn nicht vierer Frauengenerationen wird – ab und an bruchstückhaft sichtbar gemacht – der Gegenwartsebene unterlegt. Dieses Wichtignehmen der Generationen macht das Buch zu einem Dialogpartner und Gegenstück zum nun schon eine ganze Generation älteren, verdienstvollen Roman Ingeborg Drewitz‘ „Hundert Jahre Gegenwart“.

Liest man das Buch der österreichischen Autorin nicht zügig durch, wird man die genauen Familien-, Bekanntschafts- und Freundschaftsverhältnisse vielleicht nicht immer ganz genau im Gedächtnis behalten. Vielleicht wollte Angelika Reitzer mit dieser Figurenfülle gerade das charakteristisch Patchwortartige der Lebensverhältnisse in unserer Zeit zu betonen? Und das Zurückgeworfensein einer jeden einzelnen Person auf ihr eigenes, ureigenes Leben?

Ich habe ja dieses Buch bis zu Ende gelesen, habe nicht ein einziges Wort, geschweige denn eine ihrer Passagen ungelesen gelassen, obwohl ich nach einigen Seiten nicht mehr ganz so interessiert wie zu Anfang gewesen bin. Aber wenn ich in der Nacht, aus Träumen gerissen oder aus anderen Gründen wach geworden, wieder auf andere Gedanken kommen wollte, habe ich jeweils zu diesem Buch gegriffen, an genau der Stelle, an der ich am Vortag zu lesen aufgehört hatte, weitergelesen und danach wieder weiter gut geschlafen.

Indes: Ein Spannungsmoment gab es in diesem Roman für mich nach wie vor. Erzeugt wurde dies merkwürdigerweise durch die Vorgriffe auf dem Buchumschlag. Zum ersten Mal durfte ich erleben, dass ein Klappentext durch seine Vorankündigungen nicht etwa schon zuviel verrät und damit Spannung im Voraus wegnimmt, sondern dass er gerade durch seine vorwegnehmenden Vorankündigungen eine Spannung und Neugier aufrechterhält, die der Roman selbst (in seinem ersten Teil) aufrechtzuerhalten nicht in der Lage war. Im „Waschzettel“ nämlich ist die Rede von einer zweiten nicht aus Österreich, sondern aus der ehemaligen DDR stammenden Frau, die zur Freundin der Österreicherin, also Mariannes, wird bzw. geworden ist.

Und so habe ich gewartet, bis diese zweite Person mit ihrer wahrscheinlich (und dann auch tatsächlich) ganz anderen Vorgeschichte in diesem Roman auftritt. Und das geschieht erst im zweiten Teil des Romans, einem Teil, der etwa ein Drittel des Gesamtromans umfasst. Und ehe diese zweite zentrale Hauptfigur des Romans vollends in den Blick rückt, schiebt sich die Geschichte ihrer Familie, insbesondere die ihrer Eltern, in den Vordergrund. Kurz vor dem Fall der Mauer flüchtet diese Familie über das „freundliche sozialistische Ausland“ aus der DDR in die Bundesrepublik und kehrt nach einigen dort verlebten Jahren wieder an ihren Ursprungsort zurück, um dort von neuem Fuß zu fassen, was nicht sehr leicht fällt.

Diese Geschichte aus dem zunächst noch getrennten, dann vereinten Deutschland ist recht interessant, hat aber auf den ersten Blick mit dem ersten weit umfangreicheren, vorwiegend in Österreich in der Nähe Wiens auf dem Lande spielenden Romanteil nicht allzuviel zu tun. Wie also wird es der Autorin gelingen, eine glaubhafte Verknüpfung beider Lebensgeschichten herzustellen, habe ich mich bei der Lektüre des zweiten Teils fortlaufend gefragt und dabei die Hoffnung nie ganz aufgegeben, dass durch eine überzeugende Verknüpfung auch der erste Romanteil nachträglich noch aufgewertet werden würde.

Es dauert lange, fast bis zum Ende des Romans, bis sich die beiden Frauen, Marianne und Siri, zufällig zum ersten Mal begegnen, auf der Toilette, in der Pause eines Konzertes in Wien. Daraus entwickelt sich nun nach und nach eine Freundschaft. Eine Liebe auf den ersten Blick, wie sie sich – fast gleichzeitig mit Siris zunächst nur flüchtiger Erstbegegnung mit Marianne – zwischen Siri und „Hans dem Bauer“ spontan ergibt, läuft, obschon zunächst auf scheinbar gutem Wege, ins Leere.

Der zweite Romanteil endet chronometerzeitlich früher als der erste. Umso stärker beschäftigt mich immer noch die Frage, wieso nicht schon im ersten Romanteil wenigstens andeutungsweise von der Freundschaft zwischen Marianne und Siri die Rede gewesen ist, wo doch andere Freundschaften und unproblematische wie problematische Zuneigungen durchaus ausführlich vorgekommen sind. Diese Aussparung kommt zwar romantechnisch der Spannung zugute, hat aber die Logik bzw. die Psychologik nicht so ganz auf ihrer Seite. (Indessen: ein blindes Motiv und eine indirekte Vorausdeutung ist mir aus dem ersten Teil durchaus noch in Erinnerung. Es soll da einmal eine junge Frau, die ursprünglich aus der DDR stammt, von Jutta, ihrer Großmutter empfohlen, bei Marianne als Hilfe eingestellt werden, wozu es aber nicht kommt.)

Was mich jetzt noch an diesem beobachtungssicheren, zeitsymptomatischen Roman interessiert, ist dies: Wie anders lesen (diese oder jene) Frauen diesen Roman als (manche) Männer? Oder sind die Leseunterschiede gar nicht so groß, wie man immer meint?

Zugegeben: Um dem Roman Angelika Reitzers angemessen gerecht zu werden, müsste ich ihn zuvor mindestens noch einmal lesen.

Auf der Seite 322 dieses Romans wird ein Gespräch zwischen Marianne und Siri über Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“ wiedergegeben. Dort findet man u. a. diese Sätze: „Sie klappte das Buch zu, schaute Siri an. ‚Würdest du ein Buch lesen, das so anfängt?‘ Sie stellte ein anderes Buch ins Regal, auch die anderen, dann schloss sie die Glastür.“

„Würdest du ein Buch lesen, das so anfängt?“, solch eine Frage in ihrem eigenen Roman zu stellen bzw. stellen zu lassen, ist von der Autorin mutig. Auf den ersten Blick. Denn: Vielleicht besteht ja die Hoffnung, dass auch dieser Roman bei abermaliger Lektüre gewinnt.

Angelika Reitzer: „Wir Erben“. Roman. Verlag Jung und Jung, Salzburg und Wien. 343 Seiten, 22,90 €




Später Ruhm eines großen Meisters: Vor 250 Jahren starb Jean-Philippe Rameau

In Sachen Karriere war Jean-Philippe Rameau ein Spätzünder. Seine erste Oper stellte er in einem Alter vor, in dem andere längst die Feder aus der Hand gelegt hatten: Mit fünfzig Jahren wurde er mit „Hippolyte et Aricie“ auf einen Schlag berühmt.

Da hatte Rameau schon ein Leben als Kirchenmusiker, Organist, Musiktheoretiker und Leiter eines Privatorchesters hinter sich. Vor ihm lagen noch dreißig Jahre, in denen er rund dreißig Werke für die Bühne schaffen sollte. Mitten in den Proben für sein letztes, die Tragödie „Les Boréades“, ist Jean-Philippe Rameau vor 250 Jahren, am 12. September 1764, in Paris gestorben.

Bei seinem Tod zählte er zu den am weitesten bekannten und am meisten geehrten französischen Musikern. Dennoch senkte sich über sein Werk allmählich tiefes Vergessen. Selbst sein Grab auf dem Friedhof von St. Eustache in Paris ist nicht mehr bekannt.

Erst die Rückbesinnung auf historische Spieltradition und Aufführungspraxis weckte das Interesse an seinem Schaffen über die gelegentliche, museale Reanimation hinaus. Ein Jahr vor seinem 300. Geburtstag – Rameau kam 1683 in Dijon zur Welt – wurde in Aix-en-Provence sein letztes Werk „Les Boréades“ uraufgeführt. In Deutschland sorgte eine opulente, viel gerühmte Neuinszenierung von „Castor und Pollux“ 1980 in Frankfurt für Aufsehen: In einem fantasievollen, technisch raffinierten Bühnenbild von Erich Wonder inszenierte Horst Zankl; Nikolaus Harnoncourt leitete das Orchester.

Seither ist das Interesse an Jean-Philippe Rameaus Bühnenwerken nicht mehr abgebrochen. So gab es etwa in Düsseldorf in den letzten Jahren eine Serie von Aufführungen, begonnen mit der deutschen Erstaufführung der turbulenten Komödie „Les Paladins“ in der Spielzeit 2009/10. Auf zahlreichen Aufnahmen ist inzwischen das erhaltene dramatische Werk Rameaus greifbar. Sie geben auch einen Überblick, wie sich die Art, seine Musik zu spielen, seit den ersten Schallplatten der siebziger Jahre verändert hat. In diesen Tagen erscheint etwa bei Erato eine Box mit Gesamtaufnahmen von neun seiner Opern, ergänzt durch Musik aus vier weiteren Bühnenwerken, Dirigenten wie William Christie, Nikolaus Harnoncourt, Marc Minkowski und Nicholas McGegan entfalten den Zauber und die Kraft der harmonischen Erfindungsgabe und der orchestralen Intuition Rameaus.

Als Kirchenmusiker ist der Franzose weit weniger greifbar, obwohl seine Jugend und die erste Phase seiner Musikerkarriere eng mit der Orgel verbunden sind. Erhalten sind lediglich vier zwischen 1713 und 1723 geschriebene, groß angelegte Motetten. Rameaus Vater war Organist an mehreren Kirchen in Dijon, unter anderem an der Kathedrale St. Bénigne.

An der Jesuitenschule, so wird berichtet, habe der junge Jean-Philippe mehr komponiert und gesungen als studiert. Seine Eltern schickten den Schulabbrecher 1702 auf eine Italienreise, auf der er in Mailand steckenblieb. Wieder zurück übernahm er mit Achtzehn eine Organistenstelle an der Kathedrale von Clermont. Ein Intermezzo in Paris bestritt er mit mehreren Orgelposten an kleineren Kirchen. Das erste seiner vier Bücher mit Cembalowerken, die „Pièces de Clavecin“ erschien dort 1706 und verhalf ihm zu einer gewissen Bekanntheit. Bis er sich 1722 endgültig in Paris niederließ, wirkte Rameau an mehreren Kathedralen, so in seiner Heimatstadt Dijon, in Lyon und in Clermont.

Es ist schwer zu entscheiden, wer wichtiger ist: der Komponist oder der Musiktheoretiker Rameau. Seit 1722 sein epochemachendes Werk „Traité de l’harmonie reduite à ses principes naturels“ erschienen ist, stand er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der gelehrten musikalischen Welt.

In weiteren Publikationen zur Harmonielehre entwickelte Rameau sein System weiter. Er stand in Kontakt mit internationalen musikalischen Größen wie Johann Mattheson oder dem Bologneser Musiktheoretiker und Franziskanerpater Giovanni Battista Martini, einer der prägenden Figuren der italienischen Musik des 18. Jahrhunderts.

Jean Jacques Rousseau wurde Rameaus Gegner im sogenannten Buffonistenstreit, in dem das Ringen um die Vorherrschaft der italienischen oder französischen Oper einen weit tieferen Streit um die künftige Ausrichtung der Kunstgattung überdeckte. Rousseau plädierte für die „natürliche“ Einfachheit der melodiebetonten italienischen Musik gegen die komplex instrumentierte, harmonisch ausgearbeitete und kompliziert polyphone französische Musik – ein direkter Affront gegen den gelehrten Harmoniker Rameau.

Dabei war Rameau bestrebt, seinerseits mit der „Natur“ zu argumentieren: Als aufgeklärter Denker wollte er die Musik als exakte Wissenschaft erfassen und universelle harmonische Prinzipien aus natürlichen Gegebenheiten ableiten. Rameau sah in der Harmonie die Basis jeder Musik, abgeleitet aus der Physik schwingender Körper. Die Harmonie entdeckte er als Quelle der Melodie und als Grundlage des musikalischen Ausdrucks. Musik sollte expressiv sein, dem Ohr gefallen, die Gefühle bewegen. Der tiefe Grund für die Wirkung der Musik lag für Rameau in ihrer Verbindung mit universalen, kosmischen Prinzipien, letztlich herrührend von Gott. Hier trifft er sich mit Bach, dessen „Wohltemperiertes Klavier“ ebenfalls 1722 zum ersten Mal erschienen ist.

Kaum ein späterer musikalischer Denker konnte sich dem Einfluss von Rameaus Konzepten entziehen; die Spuren verfolgen Fachleute bis in Paul Hindemiths Tonsatz- und Musiktheorie. Für die Entwicklung des musikalischen Denkens der abendländischen Musik hat Jean-Philippe Rameau eine Schlüsselposition inne. Seine Kunst des Komponierens hat nicht erst in jüngster Zeit wieder Anerkennung erfahren. Hector Berlioz verehrte ihn; Claude Debussy schrieb über „Castor et Pollux“, diese Musik habe „eine feine Anmut bewahrt, ohne jemals affektiert zu werden oder sich mit verdächtiger Grazie zu winden.“ Und Nikolaus Harnoncourt zählt die Opern Rameaus „zu den Höhepunkten der französischen Musik überhaupt“.




Was seit Wilhelm Busch geschah: 150 Jahre deutsche Comics in Oberhausen

Da hat man sich in Oberhausen hübsch was vorgenommen: Nicht weniger als die ganze Geschichte des deutschsprachigen Comics seit Wilhelm Busch will man in prägnanten Beispielen nacherzählen. Besucher der neuen Ausstellung „Streich auf Streich“ dürfen ausgiebig der Augenlust frönen, sehen sich aber auch gefordert.

In Zahlen: Die Tour durch 150 Jahre Comic-Historie ist in 15 Kapitel („Streiche“) unterteilt, rund 300 Originalzeichnungen und 60 Erstdrucke sind in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen zu sehen. Die Schau erstreckt sich weitläufig über mehrere Etagen und umfasst die ganze mediale und stilistische Bandbreite. Gastkurator Martin Jurgeit zeigte sich höchst angetan von solchen Ausbreitungs-Möglichkeiten. Er kann in Oberhausen noch mehr auftrumpfen als in Hannover, für dessen Wilhelm-Busch-Museum er die Schau geplant hat.

Wilhelm Busch: Zeichnung aus "Max und Moritz", 1865 (© Wilhelm Busch - Deutsches Museum für Karikatur und Zeichenkunst)

Wilhelm Busch: Zeichnung aus „Max und Moritz“, 1865 (© Wilhelm Busch – Deutsches Museum für Karikatur und Zeichenkunst)

Der wahrhaft vielfältige Rundgang beginnt beim Vorvater und frühen Großmeister der Zunft: Wilhelm Busch hat tatsächlich bereits typische Merkmale der allmählich entstehenden Gattung entwickelt, die vor allem Erzählrhythmik, Dynamik und Lautmalerei betreffen.

Sein feinfühliger, oftmals auch zupackend furioser, stets trefflicher Strich prägt unvergängliche Bildergeschichten. Davon bekommt man auch in Oberhausen einige herrliche Kostproben. Man schaue nur seine fulminante Darstellung eines Klaviervirtuosen an, der wechselnde Tempi und Stimmungswerte erklingen lässt. Bewegter geht’s nimmer.

Bildergeschichte aus der Zwischenkriegszeit: e. o. plauen "Vater und Sohn", 1930er Jahre (© Wilhelm Busch - Deutsches Museum für Karikatur und Zeichenkunst)

Bildergeschichte aus der Zwischenkriegszeit: e. o. plauen „Vater und Sohn“, 1930er Jahre (© Wilhelm Busch – Deutsches Museum für Karikatur und Zeichenkunst)

Fast schon tragisch zu nennen, dass es dem Schöpfer von „Max und Moritz“ (1864/65) und vieler anderer berühmter Gestalten peinlich war, auf solche Weise sein Geld zu verdienen. Dabei überragte er seine Zeitgenossen auf diesem Gebiet bei weitem. Doch schon mit 51 Jahren zog er sich, mit Tantiemen bestens versorgt, aus dem unterhaltenden Gewerbe zurück und malte fortan nur noch „seriös“ – aber beileibe nicht genial. Wie hat der Mann, offenbar fehlgeleitet von klassischen Bildungsidealen, sich selbst verkannt!

Mittelbar hat das Werk von Wilhelm Busch auch den Anstoß für zahlreiche Kreationen in der Frühzeit der US-amerikanischen Comics gegeben. Im Auflagenkampf der Zeitungsmogule (Hearst vs. Pulitzer) waren die gezeichneten Geschichten ein unverzichtbares Mittel, um Tagesblätter populär zu machen.

Reinhold Escher: Mecki, 1950er Jahre (© Reinhold Escher/HörZu)

Reinhold Escher: Mecki, 1950er Jahre (© Reinhold Escher/HörZu)

Von deutschstämmigen Zeichnern verlangte der Verleger Hearst ausdrücklich Strips im Gefolge des Wilhelm Busch, wortwörtlich: „something like Max and Moritz“. Und so geschah es. Rudolph Dirks, aus Heide (Schleswig-Holstein) in die Staaten ausgewandert, schuf mit „The Katzenjammers Kids“ (ab 1897) eine Inkunabel des Comics, die pfeilgerade bei Wilhelm Busch ansetzte. Es war damals nicht der einzige deutsche Einfluss auf diese aufstrebende Kunstform. Selbst der Bauhaus-Lehrer Lyonel Feininger gab mit „The Kin-der-Kids“ einen lange nachwirkenden Impuls.

Die opulente Schau verfolgt Traditionslinien noch und noch. So ist ein Kapitel der (politischen) Satire gewidmet. Im Blickpunkt stehen hierbei der legendäre „Simplicissimus“ (Olaf Gulbransson, Th. Th. Heine), der von 1896 bis 1944 erschien. Diese Überlieferung riss freilich ab. Erst ab Anfang der 1960er Jahre belebten Zeichner wie Robert Gernhardt, F. K Waechter und Chlodwig Poth diesen Strang im Satiremagazin „Pardon“ neu, beim nominellen Nachfolger „Titanic“ pflegt man das Genre nicht mehr.

Walter Moers: Kleines Arschloch, 1990 (© Walter Moers)

Walter Moers: Kleines Arschloch, 1990 (© Walter Moers)

Die Illustriertencomics der bundesdeutschen Nachkriegszeit (Anfänge etwa seit 1949) kommen gleichfalls in Betracht: HörZu („Mecki““), Quick („Nick Knatterton“) und Stern waren die Vorreiter. Der „Stern“, für den zeitweise auch Loriot arbeitete, leistete sich die Kinderbeilage „Sternchen“, die ihr Publikum nicht zuletzt mit Comics unterhielt.

Selbstverständlich kommt man um Heftchenreihen wie Disneys Micky Maus (in Deutschland ab 1951 und gleich konkurrenzlos vollfarbig) oder den deutschen Nacheiferer Rolf Kauka und sein „Fix und Foxi“ (ab 1953) nicht herum. Durch die mehr als kongeniale Übersetzung von Erika Fuchs erhielten auch Micky Maus und Donald Duck sozusagen eine „deutsche Tönung“. Außerdem legten später etliche deutsche Zeichner Hand an.

Hendrik Dorgathen: "Bubbles" (Sprechblasen), 2012 (© Hendrik Dorgathen)

Hendrik Dorgathen: „Bubbles“ (Sprechblasen), 2012 (© Hendrik Dorgathen)

Und weiter, weiter: Da geht’s vorbei an Abenteuercomics im Streifenformat („Sigurd“, „Akim“ und Artverwandtes), an Comic-Alben der 70er bis 90er Jahre, in denen beispielsweise Gerhard Seyfried und Walter Moers („Das kleine Arschloch“) eminente Auflagen erzielten, an Autorencomics, z. B. von Ralf König und Volker Reiche, die beide auch das edle FAZ-Feuilleton mit täglichen Beiträgen zierten…

Überhaupt hat sich der Comic, der bis in die 60er Jahre hinein noch unter Schundverdacht stand, längst auch in der Hochkultur etabliert. Seit einigen Jahren floriert die sogenannte „Graphic Novel“, in der Comic-Erzählweisen aufs Niveau ambitionierter Romane geführt werden und ästhetisches Neuland erobern. Solche Schöpfungen erscheinen denn auch als Bücher in den großen literarischen Verlagen. Auf diesem Gebiet zählen deutsche Künstler abermals zur internationalen Vorhut. Ein Mann wie Hendrik Dorgathen zeichnet auf professoralen Reflexionshöhen. die gleichsam immer die lange und windungsreiche Geschichte des Comics mitbedenken.

Im Manga-Stil: Martina Peters, "Miri Maßgeschneidert", 2012 (© Martina Peters)

Im Manga-Stil: Martina Peters, „Miri Maßgeschneidert“, 2012 (© Martina Peters)

Rund 150 Jahre sind seit „Max und Moritz“ vergangen. Die letzten Ausläufer der verzweigten Schau lassen ahnen, dass endlich auch einmal Frauen von sich reden machen, und zwar vor allem mit „Germangas“, also der deutschen Spielart japanischer Mangas. Außerdem tut sich schließlich das weite Feld der Internet-Produktionen auf, die wiederum neue Erzählstrukturen hervorbringen. Hier können neuerdings deutsche Künstler regelmäßig US-Actioncomics zeichnen, ohne deshalb gleich auswandern zu müssen.

Gewiss: Man hätte entschiedener Schwerpunkte setzen, Schneisen schlagen und dafür anderes auslassen können. Der ehrgeizige Gesamtüberblick droht hie und da zu zerfasern. Aber wenn man sich Zeit lässt und dazu etwas nachlesen kann…

„Streich auf Streich“. 150 Jahre deutschsprachige Comics seit Max und Moritz. Ludwiggalerie Schloss Oberhausen, Konrad-Adenauer-Allee 46. Vom 14. September 2014 bis zum 18. Januar 2015. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr. Eintritt 8 €, ermäßigt 4 €. Booklet 4 €.