„Willy wählen“ war 1972 ein besonderes Bekenntnis

Wenn wir am 18. Dezember an den 100. Geburtstag des großen Politikers und Menschenfreundes Willy Brandt erinnert werden, wenn wir die entsprechende Sonder-Briefmarke mit dem Bild des Friedens-Nobelpreisträgers aufkleben oder vom Fernsehen an seine Lebensstationen herangeführt werden, dann kommen besonders bei den etwas älteren Mitmenschen wie mir zum Beispiel ganz persönliche Erinnerungen hoch.

Willy Brandt im März 1980 (Bild: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung)

Als Brandt im September 1972 nach dem gescheiterten konstruktiven Misstrauensvotum gegen ihn als Bundeskanzler die  Vertrauensfrage stellte und diese absprachegemäß verlor, gab es einen sehr emotionalen Wahlkampf. Viele Menschen, auch Nicht-Sozialdemokraten, liefen mit dem rot-weißen Button und dem Aufdruck „Willy wählen“ durch die Lande. Als Student arbeitete ich damals in den Semesterferien nachts in der Druckerei der Münsterschen Zeitung, und dort führten die ovalen Buttons – wie auch in anderen Betrieben – zu scharfen Konflikten, und zwar nicht nur zwischen den Kolleginnen und Kollegen mit unterschiedlicher politischer Präferenz, sondern auch mit der Geschäftsleitung. Politische Dokumentation am Arbeitsplatz sei verboten, die Schildchen müssten verschwinden, lautete die Forderung. Die Schriftsetzer jedoch ließen sich nicht beirren und kamen jeden Abend wieder mit ihren Plaketten am Kittel an ihren Arbeitsplatz, und schließlich ließ man sie doch einfach gewähren.

Die Neuwahlen im November 1972 brachten dann den größten Erfolg für die SPD in ihrer Geschichte. Brandts Partei erhielt 45,8 Prozent der Stimmen und konnte ihre Ostpolitik ungefährdet zu Ende führen. Allerdings hielt der Friede nur zwei Jahre: Der Kanzler stürzte nicht nur über die eigenen Parteifreunde, sondern vor allem über seine naive Wirtschaftspolitik.

Das Ende ist bekannt: Der große Weltökonom und heutige Lieblings-Altkanzler der Deutschen, Helmut Schmidt, übernahm das Ruder. So tief in die Herzen der Menschen wie Willy Brandt eindringen, das konnte er jedoch nie. Als Brandt am 8. Oktober 1992 starb und anschließend in Berlin beigesetzt wurde, da konnte man bei vielen Bürgern echte Trauer spüren. Sie hatten ihn geliebt.




Politiker mit Widersprüchen: Buch lenkt den Blick auf die menschliche Seite von Willy Brandt

Die Willy-Welle schwappt durch das Land, unter anderem Spiegel, Stern und Zeit haben ihm ausführliche Rückblenden gewidmet. Der 100. Geburtstag von Willy Brandt am 18. Dezember ist auch der Anlass für die Neuauflage der Biographie von Gregor Schöllgen.

„Eine Annäherung“ wäre für das Buch des renommierten Professors für Neuere Geschichte an der Uni Erlangen wohl der treffende Untertitel, schaut der Autor doch vor allem auf den Menschen Willy Brandt mit allen seinen Widersprüchen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Schöllgen, der den Nachlass des Friedensnobelpreisträgers von 1971 mitherausgegeben hat, legt hier keine Homestory vor. Er zeichnet vielmehr den Lebensweg des langjährigen SPD-Politikers nach, einen Weg, auf dem Siege und Niederlagen, Höhen und Tiefen meist ganz nah beieinander lagen.

schoellgen

Dabei war es wohl, wenn man den Ausführungen Schöllgens folgt, die menschliche Seite Brandts (der durchaus das Leben zu genießen wusste), die zu seiner Popularität maßgeblich beitrug. Aber es war auch die Achillesferse. Sehr deutlich arbeitet der Geschichtswissenschaftler heraus, dass Brandts Rücktritt 1974 keine zwingende Konsequenz aus der Guillaume-Affäre darstellte, sondern der Kanzler politisch müde, gesundheitlich angeschlagen und von Gegnern bedrängt das Amt aufgab.

Intimfeind Herbert Wehner

So sehr der Intimfeind, SPD-Fraktionschef Herbert Wehner, an Brandts Sturz mitgewirkt haben mag, so kann man aber auch nicht übersehen, wie massiv den Sozialdemokraten die Strapazen, die die Aufgaben als Regierungschef mit sich brachten, und die ständigen Quengeleien in Fraktion und Koalition ihm zugesetzt hatten. Schöllgens Schilderungen lassen das Bild vom allzu schnell verglühten Stern am Polithimmel aufkommen, der mit dem zweiten Wahlsieg 1972 eigentlich schon seinen Zenit überschritten hatte.

Ein neuer Stil, weltoffen, modern und diskussionsfreudig, hatte mit ihm und seiner Frau Rut Einzug gehalten in das politische Bonn Ende der 60er Jahre. Trotz des positiven Echos, das dem Paar gegönnt war, ist Brandt selbst aber nie wirklich in Bonn heimisch geworden.

Sehnsucht nach Berlin

Mit Wehmut dachte er häufig an die Zeit als Regierender Bürgermeister von Berlin zurück, wo er sich eins fühlte mit der Bevölkerung und diese ihn hochachtete. In der geteilten Stadt gründete sich eine Popularität nicht zuletzt auf sein Verhalten beim Mauerbau. Er stand zu den Berlinern, als diese sich von Kanzler Adenauer und den Westmächten im Stich gelassen fühlten. Neue Pfade hatte Brandt aber auch in Berlin beschritten. Er setzte auf eine vorwärtsgewandte SPD, die sich zum einen mit den Realitäten des geteilten Deutschlands abfinden und zum anderen nicht mehr nur als Arbeiterpartei verstehen sollte. Seine Wahlkämpfe waren von Anleihen in der amerikanischen Politik geprägt, gezielt wusste er sein Familienleben in Szene zu setzen und für seine Zwecke zu nutzen.

Jemand wie Brandt reizte folglich zum Widerspruch – auch und gerade in den eigenen Reihen. Die Stärke des Buches liegt vor allem darin, diese Konfliktlinien sehr deutlich herauszuarbeiten. Die Partei wusste, was sie an ihm hatte, und für ihn, der nach heutigen Maßstäben in einer Patchwork-Familie aufwuchs, erfüllte die Partei eine Ersatzfunktion familiärer Art. Sein Redetalent, seine Schreibbegabung (als gelernter Journalist), seine Fähigkeit, „mit Menschen zu können“, brachten ihm viele Sympathien und anfänglich auch den Rückhalt von Wehner ein, der immer mehr von ihm ließ, als vermeintliche Schwächen sich bemerkbar machten. Zu einer echten Versöhnung sollte es auch später nicht mehr kommen, anders beim innerparteilichen Kontrahenten Helmut Schmidt, mit dem er sich in den letzten Lebensjahren zumindest aussprach.

Schwieriges Verhältnis zur SPD

Das Verhältnis zwischen Brandt und der SPD war längst nicht durchgängig entspannt. Beispielhaft steht dafür die Haltung des Vorsitzenden zum Nato-Doppelbeschluss und die Proteste Anfang der 80er Jahre.
Partei hin oder her, sind mit dem Namen Willy Brandt aber nicht viel mehr Ereignisse wie der Kniefall von Warschau, der Tag von Erfurt oder sein Slogan „Mehr Demokratie wagen“ verbunden? Wo bleiben sein Engagement als Vorsitzender der Sozialistischen Internationalen oder der Nord-Süd-Kommission? Das alles sind, daran lässt Schöllgen keinen Zweifel aufkommen, Marksteine im politischen wie auch persönlichen Leben des Sozialdemokraten.

Wer Brandt aber verstehen möchte, der muss seinen Werdegang von Beginn an nachvollziehen. Dazu gehört die kleinbürgerliche Welt in der Geburtsstadt Lübeck, was keineswegs despektierlich zu verstehen ist, dazu gehört vor allem auch sein Exil in Norwegen und Schweden, als er vor den Nazis flüchtete. Die Jahre sollten Stoff liefern für Diffamierungen und Verleumdungen, unter anderem machte man ihm zum Vorwurf, mit der Sowjetunion kollaboriert zu haben. Verbindungen hätten zwar in Ansätzen existiert, aber nach dem Überfall Hitlers auf die UdSSR sei er da keineswegs allein gewesen, unterstreicht der Autor. Die immer wiederkehrenden Anwürfe gegen den Sozialdemokraten lassen nach den Worten von Schöllgen vor allem übersehen, dass Brandt sich politisch gegen die Nazis engagierte und der Widerstand in Deutschland sehr wohl den Kontakt zu ihm gesucht habe.

Frauengeschichten nur Nebensache

Widersacher, die ihm das Leben schwer machen, hat Brandt zur Genüge erlebt, doch auch er wusste auszuteilen, beispielsweise, als die Teilung Deutschlands überwunden war. Von Oskar Lafontaine, den er zunächst protegierte, wandte er sich enttäuscht ab, als der die Einheit Deutschlands mit großer Skepsis betrachtete.

Ist Brandts Biographie eigentlich unvollständig erzählt, wenn man die Frauengeschichten weglassen würde? Wurden sie ihm nur angedichtet, um ihn zu Fall zu bringen? Schöllgen stellt hier eher Aussage gegen Aussage und lenkt, und da ist man als Leser auch nicht befremdet, den Blick auf die Lebensleistung des Sozialdemokraten.

Sein eigenes Leben hat Willy Brandt vor allem durch Schreiben verarbeitet und so viele Bücher veröffentlicht wie kaum ein anderer Politiker des 20. Jahrhunderts. Es wurde aber auch über kaum einen anderen so viel geschrieben wie über den Mann, mit dem die SPD erstmals einen Kanzler stellte, der zwei Mal in dieses Amt gewählt wurde, der drei Mal verheiratet und Vater von vier Kindern war. Schöllgen gibt einen Überblick über die Literatur und ordnet sie ein – auch das ist eine lesenswerte Orientierungshilfe.

Gregor Schöllgen: „Willy Brandt. Die Biographie“. Berlin Verlag. 336 Seiten. 19,99 Euro.




Mythos Kennedy: Wie gut, dass man nicht alles wusste

Am liebsten würden uns TV-Beiträge wie „Kennedy – Das Geheimnis der letzten Tage“ (ZDF) wohl direkt vors Schlüsselloch der Weltgeschichte setzen. Doch nichts Genaues weiß man nicht. Und gar manches muss Spekulation bleiben. Aber gerade so entstehen Legenden.

Eins steht allerdings für so ziemlich alle Zeiten fest: Wer immer damals schon bei wachem Bewusstsein war, für den ist Kennedy bis heute ein Mythos geblieben. Dieser strahlende, offenbar so kraftvolle US-Präsident, der der (westlichen) Welt so viel Hoffnung gegeben hat. Diese Ikone der frühen 60er Jahre – und dann sein tragischer Tod…

Sexsüchtig und ernsthaft krank

Nicht erst jetzt, fast genau 50 Jahre nach den tödlichen Schüssen von Dallas (22. November 1963), wissen wir leider etwas mehr. John F. Kennedy war ein geradezu sexsüchtiger Präsident, dem man rund 2000 (!) Affären nachsagt. Seinerzeit war das Thema für die Presse tabu. Heute sagt Mimi Alford, damals 19jährige Praktikantin im Weißen Haus, sie habe im Schlafzimmer der First Lady Jackie Kennedy ihre Unschuld verloren.

Offenbar strotzend vor Kraft: John F. Kennedy bei seiner Ankunft im Weißen Haus am 19. Januar 1961. (© ZDF/Abbie Rowe)

Offenbar strotzend vor Kraft: John F. Kennedy bei seiner Ankunft im Weißen Haus am 19. Januar 1961. (© ZDF/Abbie Rowe)

In Annette Harlfingers Film für die historische Reihe ZDFzeit wurden solche pikanten Befunde noch einmal weidlich, um nicht zu sagen genüsslich ausgekostet. Die Zeitzeugen-Befragungen waren mal wieder purer Standard, sie scheinen seit Jahr und Tag immer nach demselben Muster gefertigt zu werden.

Fatales Stützkorsett

Auch blätterte man abermals in der Krankenakte von JFK: Der Mann habe schon in seinen Zwanzigern an einer schweren Darmkrankheit gelitten, später kamen gravierende Nieren- und Rückenleiden hinzu. Mit Amphetamin-Spritzen („Speed“) wurden seine chronischen Schmerzen bekämpft. Er war also quasi drogenabhängig.

Mit Mitte 50, so mutmaßt man, wäre Kennedy an seinen Leiden höchstwahrscheinlich gestorben. Zeitweise ging er an Krücken, zudem trug er unterm Anzug ein Stützkorsett, das ihn fatalerweise aufrecht hielt, als die tödlichen Schüsse von Dallas fielen. So konnte er sich nicht wegducken.

Bewegende Trauer der US-Bürger

Wie gut, dass wir all das damals nicht einmal geahnt haben. Wir hätten uns in der Kuba-Krise noch viel mehr Sorgen gemacht als ohnehin schon. Und die Sowjets wären sicherlich viel dominanter aufgetreten.

Für eine wirklich fundierte Analyse war der Film zu kurz, er geriet hin und wieder ins ungute Hecheln. Die nachdrücklichsten Aufnahmen, noch heute ungemein bewegend, waren jene, die die tiefe und aufrichtige Trauer der US-Bürger nach dem Attentat zeigten. Da starb auch viel vom Optimismus einer Nation.

Der hohe Preis der Offenheit

Den zahlreichen Verschwörungstheorien, die über den Mord von Dallas kursieren, saßen die Filmemacher immerhin nicht auf. Während damalige US-Bodyguards sich bis heute mitschuldig fühlen, meinte ein deutscher Experte, nach Lage der Dinge habe Kennedy selbst einen hohen Preis für seine sträflich offenherzige Wahlkampftour durch Texas bezahlt.

Ausdrücklich bestand Kennedy (trotz mancher Warnungen und Drohungen) darauf, im offenen Wagen zu fahren, um dem Volk nahe zu sein. Die Personenschützer hatten derweil strikte Anweisung, sich zurückzuhalten und auf Abstand zum Präsidenten zu gehen. Was will man da machen?




Mensch-Maschine: „Metropolis“ am Schauspiel Bonn

„Wir sind die Roboter, tam, tam, tam, tam“: Der Song der legendären Band Kraftwerk schwebt stilbildend über Jan-Christoph Gockels Inszenierung von „Metropolis“, die nun in der frisch renovierten Halle Beuel am Schauspiel Bonn Premiere hatte.

Foto: Thilo Beu/Theater Bonn

Foto: Thilo Beu/Theater Bonn

Zurückgegelte Haare, schwarze Anzüge, kombiniert mit einer grellen Farbe und das Kling-Klang des Elektropops bilden den atmosphärischen Soundtrack in der Maschinenhalle der Megacity „Metropolis“, berühmt geworden durch Fritz Langs epochalen Film von 1927. Dabei werden die Arbeitssklaven verdoppelt durch kleine skelettartige Wesen, die den Menschen zur Maschine verlängern, regiert von Industriebaronen im Faltenrock. Das Bühnenbild ist angelehnt an die Ästhetik der Industriekultur, die man sonst eher aus dem Ruhrgebiet kennt. Doch war auch die Halle Beuel eine Jutespinnerei, die im „Dritten Reich“ Zwangsarbeiter ausbeutete, die „Sackleinen für die Front“ weben mussten.

Was ist nun interessant daran, einen ollen, gleichwohl kultigen Stummfilm auf die Bühne zu bringen? Die Eingangssequenz gibt einen Hinweis auf die Antwort: „Guten Tag, wie kann ich Dir behilflich sein?“, sagt Telefonstimme Siri, die jeder iPhone-Nutzer kennt und wartet die Replik kaum ab: „Tut mir leid, ich habe Dich leider nicht verstanden.“ Die Abhängigkeit des Menschen von Maschinen ist im Internetzeitalter schon längst eingetreten, aber anders, als sich die düstere Utopie von Fritz Lang oder George Orwell sich das vorstellten.

Diese Macht der Computer über unser Leben kommt viel bunter, witziger und vordergründig harmloser daher und umspannt doch nicht nur eine Metropole, sondern agiert global. Sie weiß alles über uns und wir zeigen uns auch gerne her. Sie will uns kaufen und wir verkaufen uns. Wie die Arbeiter in Metropolis sind wir nicht nur geknechtet von unseren kleinen Maschinen, nein, wir lieben sie und geraten ohne sie sofort in Panik. Heroisch ist, wer zwei Wochen ohne Internet und Smartphone auskommt und anschließend seine Gefühle darüber postet.

Foto: Thilo Beu/Theater Bonn

Foto: Thilo Beu/Theater Bonn

All das reißt die Inszenierung an, verfolgt es aber nicht weiter, sondern erzählt die Liebesgeschichte von Freder Fredersen (Hajo Tuschy) und Maria (Mareike Hein): Der verwöhnte Spross aus Metropolis Elite verknüpft die Auflehnung gegen seinen Vater und Industriebaron Joh Fredersen (Wolfgang Rüter) mit den revolutionären Ideen der Geliebten. Er will Arbeiter sein, nicht mehr Kapitalist, er will Freiheit für alle, statt Macht für sich.

Doch die neue Untergrundbewegung wird selbstredend abgefilmt und verraten, die Arbeiter, die er retten wollte, können mit ihrer neuen Freiheit nicht umgehen und lassen sich kaufen. Maria wird von einem Dr. Frankenstein namens Rotwang als Puppe geklont, die niemand mehr von der echten Frau unterscheiden kann. Michael Pietsch, der Puppenbauer, hat sich dabei ins Zeug gelegt und der Umgang mit dem diabolischen Spielzeug meistert das Ensemble so charmant, dass es alle Zuschauer angemessen gruselt.

Eine Psychologie dagegen entwickeln die (Film-)Figuren nicht, teilweise interagieren sie merkwürdig brüllend – scheinbar um längst nicht mehr vorhandenen Maschinenlärm zu übertönen. Die Szene schließlich, in der Fritz Lang, Sigfried Kracauer, Romanautorin Thea von Harbou etc. mit Namensschildchen auf dem Klemmbrett die Thesen ihrer Filmproduktion verhandeln, wirkt seltsam zusammengegoogelt und kann das Verhältnis von Vorlage zu Bühnenstoff, von damals zu heute nicht wirklich klären.

Kein Wunder, dass Metropolis untergehen muss. Die Rückwand der Fabrik stürzt ein und öffnet den Blick in eine Schaltzentrale des Computerzeitalters. Doch auch diese unsere gegenwärtige Epoche währt nur kurz. Schon geht das Rolltor hoch, die Überlebenden von Metropolis werfen sich den Affenpelz über und tanzen draußen um einen mickrigen Baum auf Rädern. Fortsetzung folgt? Vielleicht auf dem „Planet der Affen“…

Karten und Termine: www.theater-bonn.de




Historische Ferne in Herne: Uruk – die erste Großstadt der Menschheit

Kostbare Leihgaben aus London, Paris und Berlin gastieren jetzt im Herner LWL-Museum für Archäologie. Inhaltlich geht es um den frühesten Vorläufer solcher Metropolen: das legendäre Uruk.

Diese erste Großstadt der Weltgeschichte ist vor rund 5000 Jahren in Mesopotamien entstanden, auf dem Gebiet des heutigen Irak, im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris, rund 300 Kilometer südlich vom späteren Bagdad gelegen. Uruk hat über Jahrtausende existiert, wobei die kulturelle Wirkung länger andauerte als die politische Macht. Der Zenit war gegen Ende des 4. Jahrtausends v. Chr. erreicht. Als Mittelpunkt der damaligen Welt wurde Uruk von Babylon abgelöst.

Sogenannte Uruk-Vase. Uruk, Uruk-Zeit 4. Jt. v. Chr., Marmor. Bagdad (Iraq Museum), Gipsabguss Berlin, Vorderasiatisches Museum. (© Staatliche Museen zu Berlin/Vorderasiatisches Museum/Olaf M. Teßmer)

Sogenannte Uruk-Vase. Uruk, Uruk-Zeit 4. Jt. v. Chr., Marmor. Bagdad (Iraq Museum), Gipsabguss Berlin, Vorderasiatisches Museum. (© Staatliche Museen zu Berlin/Vorderasiatisches Museum/Olaf M. Teßmer)

Just 1913, also vor 100 Jahren, hat in Uruk die erste deutsche Grabungskampagne begonnen, zeitbedingt im Zeichen des Kolonialismus und somit im Wettstreit vor allem mit England und Frankreich. Die missliche Lage im Irak lässt derzeit keine weiteren Grabungen zu, wie denn überhaupt in diesen 100 Jahren kriegerische Wirrnisse immer wieder die archäologische Arbeit unterbrochen haben. Die jetzige Grabungsleiterin Margarete van Ess kann, wie sie in Herne sagte, derzeit nur zu kurzen Visiten nach Uruk reisen.

Staunenswert, worüber man in Uruk schon verfügte: Da gab es Arbeitsteilung, was wiederum die Entstehung gesellschaftlicher Schichten und entsprechender Abhängigkeiten voraussetzte. Leider weiß man nicht, wie es zu dieser folgenreichen Differenzierung gekommen ist. Es gab kultisch-kulturelle Zentralbauten wie einen imposanten Stufentempel (Zikkurrat), Kanäle, öffentliche Wasserversorgung mit Rohrleitungen, regen Handel über weite Distanzen hinweg (außer Schilf und Lehm musste alles eingeführt werden) und deshalb auch eine funktionierende Verwaltung, der wir wiederum die Erfindung der ersten Schrift zu verdanken haben, lange vor den altägyptischen Hieroglyphen.

Tontafel mit Berechnung für die Bierherstellung. Uruk, Ende 4. Jt. v. Chr. Berlin, Vorderasiatisches Museum (© Staatliche Museen zu Berlin, Vorderasiatisches Museum/Olaf M. Teßmer)

Tontafel mit Berechnung für die Bierherstellung. Uruk, Ende 4. Jt. v. Chr. Berlin, Vorderasiatisches Museum (© Staatliche Museen zu Berlin, Vorderasiatisches Museum/Olaf M. Teßmer)

Auch eine der ältesten Dichtungen der Menschheit spielt in Uruk, nämlich das Gilgamesch-Epos, das von einem abenteuerlustigen König erzählt, der hernach geläutert in die Stadt zurückkehrt. Einige Funde kreisen um diesen Mythos, wie auch um die Stadtgöttin Innana (Ishtar), die vor allem für Liebe und Fruchtbarkeit stand.

Rund 90 Prozent der frühesten Keilschrift-Texte waren gleichsam bürokratische Aufzeichnungen, beispielsweise in Ton geritzte Urformen der „Lieferscheine“. Da findet man faszinierende Dokumente wie eine über einen Meter hohe Vase mit Erntedank-Motiven oder den Kopf eines Dämons namens Humbaba, dessen seltsam verschlungene Physiognomie von der Eingeweideschau kündet. Die Zukunft wurde damals offenkundig nicht nur aus den Sternen, sondern auch aus Gedärmen gelesen. Zum Orakel gibt es auch schriftliche Belege: Sahen die Eingeweide so aus wie jene dämonische Maske, so war es wohl schlecht bestellt…

Maske des Dämons Humbaba aus Sippar. Altbabylonisch, 18./17. Jh. v. Chr., gebrannter Ton. London, British Museum (© The Trustees of the British Museum)

Maske des Dämons Humbaba aus Sippar. Altbabylonisch, 18./17. Jh. v. Chr., gebrannter Ton. London, British Museum (© The Trustees of the British Museum)

Ausschlussreich alltagsnah auch die „Glockentöpfe“ (eine Art Wegwerfgeschirr), eine Tafel zur Bierproduktion (Zutaten und Mengenangaben) oder „lexikalische“ Listen wie jene, die 58 verschiedene Schweinearten verzeichnet. Überdies sieht man Aufstellungen zu Getreide- und Fischrationen für Arbeiter, die die 9 Kilometer lange und bis zu 9 Meter breite Mauer von Uruk errichten mussten. Apropos: Die Stadt umfasste etwa 5,5 Quadratkilometer, seinerzeit beispiellos, heute etwa der Altstadt von Tübingen entsprechend. Die Einwohnerzahl kann man nur grob schätzen, sie könnte zwischen 40 000 und 60 000 gelegen haben.

Sogenannte Glockentöpfe, Massenprodukte aus Uruk, Ende 4. Jt. v. Chr. (© Staatliche Museen zu Berlin, Vorderasiatisches Museum/Olaf. M. Teßmer)

Sogenannte Glockentöpfe, Massenprodukte aus Uruk, Ende 4. Jt. v. Chr. (© Staatliche Museen zu Berlin, Vorderasiatisches Museum/Olaf. M. Teßmer)

In Herne möchte man verwittertes Sein und Wesen von Uruk trotzdem griffig mit heutigen Mega-Städten assoziieren, in der Pressekonferenz war sogar vage von Bezügen zur Ruhrgebiets-Metropole die Rede. Nun ja, geschenkt. Das ist die übliche Kultur-PR, die mit Klappern Leute locken soll. Im Vorderasiatischen Museum, wo die Schau schon zu sehen war, hatte man damit wahrlich Erfolg, es kamen über 400000 Besucher. Dort und in Mannheim (Reiss-Engelhorn-Museen) ist das Konzept ersonnen worden, das auf stockseriösen Forschungen basiert, die eben halbwegs populär umgesetzt werden müssen, will die Wissenschaft nicht im eigenen Saft schmoren.

In Wahrheit sind uns all diese Dinge natürlich nicht so nah. Es handelt es sich um fragmentarische Funde aus einer unvordenklich fernen Zeit, die erst einmal für sich gewürdigt und interpretiert werden müssen. Das ist vor allem Sache der Experten, die aus winzigen, vielfach schadhaften Gegenständen mit bewundernswerten Scharfsinn eine ganze Lebenswelt zu rekonstruieren suchen. Daraus ließe sich übrigens auch ein Plädoyer für die so genannten „kleinen Fächer“ an den Unis herleiten, die heute häufig von Sparmaßnahmen bedroht sind.

Wer aber würde der Versuchung widerstehen wollen, Uruk zur Gänze digital in 3-D-Manier zu rekonstruieren und virtuell zu überfliegen, wie es hier geschieht? In dieser Perfektion war das vor wenigen Jahren noch nicht möglich. Also nutzt man die Chance.

3D-Rekonstruktion des "Weißen Tempels", der auf einer 12 Meter hohen Terrasse steht. Uruk-Zeit, um 3450 v. Chr. (© artefacts-berlin.de; wissenschaftliches Material: Deutsches Archäologisches Institut)

3D-Rekonstruktion des „Weißen Tempels“, der auf einer 12 Meter hohen Terrasse steht. Uruk-Zeit, um 3450 v. Chr. (© artefacts-berlin.de; wissenschaftliches Material: Deutsches Archäologisches Institut)

Man müht sich eben rundum nach Kräften, die rund 300 Exponate (darunter auch Abgüsse) ins Heute und an die fachlich nicht vorbelasteten Besucher heranzuholen. Das führt mitunter zur Überinszenierung. So werden etwas Ansammlungen kleinster Tontäfelchen von hoch aufragender Ausstellungs-Architektur überwölbt.Da fällt es mitunter nicht leicht, sich auf die oft unscheinbaren, aber bedeutsamen und gut erläuterten Exponate zu konzentrieren.

40 deutsche Grabungskampagnen hat es seit 1913 gegeben. Die Engländer waren schon Jahrzehnte früher zugange. Dennoch sind erst rund 5 Prozent (!) des Areals ausgegraben, es bleibt also reichlich Arbeit für die nächsten 500 Jahre, wie Grabungsleiterin van Ess versichert. Wer weiß, welche Überraschungen da noch schlummern.

„Uruk. 5000 Jahre Megacity“. 3. November 2013 bis 21. April 2014. LWL-Museum für Archäologie, Herne, Europaplatz 1. Öffnungsziten: Di, Mi, Fr 9-17 Uhr, Do 9-19 Uhr, Sa/So/Feiertage 11-18 Uhr (geschlossen 24., 25. Und 31. Dez, 1. Jan.). Eintritt 5 Euro, ermäßigt 3 Euro, Schüler 2 Euro, Familienkarte 11 Euro. Katalog im Museum 24,95 Euro, sonst 39,95 Euro. Internet: http//www.uruk.lwl.org




Der sehenswerte Domschatz von Essen

Obwohl das katholische Bistum Essen ja wirklich noch sehr jung ist, besitzt es schon einen großen Schatz, den es allerdings geerbt hat. Obwohl inzwischen viele Touristen zum Gucken lieber nach Limburg fahren, lohnt es sich sehr, dem Sitz des Ruhrbischofs in der Essener Innenstadt einen Besuch abzustatten.

Die Goldene Madonna im Essener Münster.(Foto: Bistum)

Die Goldene Madonna im Essener Münster.
(Foto: Bistum)

Der Essener Domschatz umfasst nämlich einmalige Kunstwerke aus der Zeit vom 9. bis zum 18. Jahrhundert und ist einer der bedeutendsten Domschätze Europas. Dazu gehören sakrale Gold- und Silber-Schmiedearbeiten, aber auch Elfenbeinschnitzereien, Skulpturen und Handschriften – Schönheiten, die man in einem Industrierevier zunächst nicht vermutet, die aber die reiche Geschichte einer Region zeigen, die auch einmal etwas Anderes war als Kohle- und Stahlstandort.

Weltbekannt ist in Essen vor allem die berühmte „Goldene Madonna“, die man allerdings nicht in dem schönen kleinen Museum am Rande der Domkirche findet, sondern im Münster selbst. Die Madonna gilt als die weltweit älteste figürliche Darstellung Mariens und wurde erst kürzlich aufwändig renoviert. Um das Jahr 980 wurde sie für das damalige Essener Frauenstift geschaffen. Sie ist aus Pappelholz geschnitzt und mit Goldblech umkleidet. Weil die Essener Marienfigur nach Ansicht der Katholischen Kirche ein Gnadenbild ist, steht sie eben in der Domkirche hinter einem stählernen Gitter auf einem Seitenaltar und nicht im Museum, damit die Gläubigen vor der Madonna beten, Kerzen entzünden und um Fürbitte für ihr Anliegen bitten können. Offiziell heißt die anrührende Frauengestalt mit dem Kind auf dem Arm auch nicht „Goldene Madonna“, sondern „Mutter vom Guten Rat“. Der damalige Papst Johannes XXIII. hat sie „zur ersten und besonderen Patronin des ganzen Bistums Essen“ ernannt.

Mitten in der Fußgängerzone von Essen wirken die Domkirche und das angeschlossene Museum mit dem Platz davor wie eine Insel der Ruhe. Die meisten Menschen hetzen vorbei, von Kaufhaus zu Kaufhaus, und verpassen ein Kleinod.




Der lange Schatten von Auschwitz – Michel Laubs Roman „Tagebuch eines Sturzes“

Ob nach Auschwitz sich noch leben lasse, war eine zentrale Frage, die der Philosoph Theodor W. Adorno gestellt hat. Er gab damit einen Anstoß, über Sinn und Wert des Lebens, über Schuld und Verantwortung angesichts der NS-Gräuel nachzudenken. Was der Vertreter der Frankfurter Schule gesellschaftlich und historisch zu hinterfragen suchte, reflektiert Michel Laub am Beispiel (s)einer Familie.

Der Autor, jüdischer Herkunft, ist Journalist, Jahrgang 1973, und wurde im brasilianischen Porto Alegre geboren. In seinem autobiographischen Roman „Tagebuch eines Sturzes“ erzählt er die Lebensgeschichte seines Großvaters, seines Vaters und seiner selbst. Laub, der in seiner Heimat zu wichtigsten zeitgenössischen Autoren gehört, beschreibt über weite Strecken in einzelnen Sequenzen, Szenen oder Momentaufnahme, was der Angehörige einer jeweiligen Generation erlebt und durchlitten hat.

9783608939729.jpg.20315

Das Buch ist in Ich-Form geschrieben. Für den Erzähler ist der Anlass, sich zurückzunehmen und Rückschau zu halten, wahrlich schwierig genug: Er hat ein Alkoholproblem, seine Frau (die mittlerweile 3. Ehe) droht mit dem Ende der Beziehung und der Vater hat gerade von Ärzten erfahren, an Alzheimer erkrankt zu sein.

Da ist das Wort von der persönlichen Krise wohl durchaus erlaubt. Wenn der Schriftsteller nun Verbindungen mit Auschwitz herstellt, mag das im ersten Moment befremdlich erscheinen, im Gesamtkontext der Familie wird es verständlich. Sein Großvater nämlich hat das KZ überlebt und nach dem Krieg in Brasilien ein neues Leben als Geschäftsmann begonnen. Kann man aber hier wirklich von Leben sprechen?

Sein Opa, den er selbst nie kennenlernte, hat nichts über Auschwitz gesagt oder berichtet. Seine Erinnerungen verarbeitete er stattdessen in einem Tagebuch, das er nach Feierabend führte, wozu er sich in sein Arbeitszimmer zurückzog. Treffender wäre wohl das Wort „verbarrikadierte“. Was er niederschrieb, erfuhr seine Familie erst nach seinem Tod und bekam einen Eindruck davon, wie sehr er unter den Erlebnissen im Konzentrationslager zu leiden hatte, in dem auch zahlreiche Verwandte starben. Diese seelischen Qualen waren es schließlich auch, die dazu führten, dass er Selbstmord beging. Sein Sohn, damals 14 Jahre alt, fand den Vater tot im Arbeitszimmer. Das Trauma überwand er nie, und auch sein Sohn, der Erzähler, spürte stets, wie sehr sein Vater unter dem psychischen Druck zu leiden hatte.

Auch wenn kein kausaler Zusammenhang zu dem Geschehen, das den jüngsten Nachfahren aufwühlen soll, besteht, stimmt es doch nachdenklich, dass auch er mit einem schwierigen Ereignis zurechtkommen muss. Hierbei ist er allerdings nicht Opfer, sondern gehört zum Kreis der Täter. Er besucht ein jüdisches Gymnasium. Als der einzige nicht-jüdische Mitschüler in der Klasse bei der eigenen Feier zum 13. Geburtstag entsprechend der Anzahl der Lebensjahre in die Luft geworfen wird, fangen ihn seine Mitschüler beim letzten Mal nicht mehr auf. Joao, so der Name des Jungen, war stets Außenseiter und wurde gemobbt. Mit schweren Verletzungen kommt er ins Krankenhaus und als er nach Monaten in die Schule zurückkehrt, ist der Erzähler der einzige, der sich um ihn kümmert. Das Gewissen hat ihn seit dem Fest geplagt. Eine Freundschaft aufzubauen scheitert indes, trotz mancherlei Bemühungen.

Zurück bleibt der Erzähler mit dem Gefühl des Versagens und des Scheiterns. Überhaupt tut er sich schwer mit dauerhaften Bindungen und versucht, die Gründe herauszufinden. Vater und Großvater sind dabei wichtige Glieder in einer Ursachenkette. Der Titel „Tagebuch eines Sturzes“ wird am Ende zu einer Aussage, die mehr meint als „nur“ das Geschehen um den nicht-jüdischen Jungen.

Michel Laub: „Tagebuch eines Sturzes“. Roman. Klett-Cotta-Verlag, Aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt von Michael Kegler. 176 Seiten. 19,95 Euro.




Familienfreuden auf Reisen: Die Visitenkarte des Weihnachtsmannes

Ach ja, die Sonne scheint, ich sitze im T-Shirt vor dem Laptop, die Blumen blühen – da kann man schon mal in Weihnachtsstimmung geraten. Zumindest suggeriert mir das mal wieder unser Supermarkt um die Ecke, bei dem es schon Lebkuchen und Spekulatius gibt. Das zumindest passt hervorragend zu unserem Reiseabschluss – denn Fi ist dem Weihnachtsmann begegnet.

Der Weihnachtsmann - der Spannung halber hier anonymisiert.

Der Weihnachtsmann – der Spannung halber hier anonymisiert.

Wenn ich an den Weihnachtsmann denke, ist neben dem üblichen Bart und der roten Kleidung eigentlich immer auch irgendwo Schnee im Bild, auch Tannengrün und ein paar leuchtende Weihnachtsbaumkugeln gehören dazu.

Die Realität sah anders aus, ganz anders. Wir stießen die Tür unseres Campingwagens auf und da stand er: Santa Claus – und bändigte unser Grillfeuer! Mit einem Pusterohr, ganz entspannt. Auch sonst stimmte einiges nicht an dem Bild: Santa trug ein gemütliches Karohemd und Jeans. Und er war mit Freunden da, die allesamt nicht wie Kobolde aussahen. Das, was allerdings am meisten von meiner Vorstellung abwich, war die Tatsache, dass der Weihnachtsmann Harley Davidson fuhr.  Die stand da, blitzblank leuchtend, und war nicht einmal rot.

Trotzdem gab es keinen Zweifel, dass es sich bei dem Mann an unserem Grill um den echten Weihnachtsmann handelte. Fi muss das sofort gespürt haben, denn sie war mucksmäuschenstill und schaute den bärtigen Herrn nur mit großen Augen an und ließ sich sogar von ihm den Kopf streicheln. „Ich habe etwas für Eure Tochter“, sagte der Mann verschwörerisch, „und Ihr müsst mir versprechen, dass Ihr es so lange aufbewahrt, bis sie groß genug ist, um es selbst zu lesen.“ Wir nickten gespannt.

Er kramte in seiner Hemdtasche. Und zog etwas Kleines hervor.

Eine Visitenkarte! Vom Weihnachtsmann!

Damit war auch bei uns Erwachsenen jegliches Misstrauen weggepustet. Zumal auf der Karte auch eine Liste mit seinen Lieblingssachen stand, die ich Euch hier nicht vorenthalten will. Also:

Lieblingsgetränk: Milch
Lieblingsjahreszeit: Winter
Lieblingstier: Rentier
Lieblingshobby: Kunst und Handwerk
Lieblingsfarben: Rot und Braun

Informationen, die Gold wert sind!

Santa lächelte uns freundlich an. „Ich sage den Kindern immer: So lange Ihr an mich glaubt, komme ich auch zu Euch.“ Wir nickten und prägten uns jedes Wort für Fi ein. Trotzdem schaute er uns prüfend an und meinte seufzend: „Wisst Ihr, manchmal ist es so, dass man nicht mehr an den Weihnachtsmann glaubt. Dann dauert es sehr lange, bis der Glaube zurückkehrt – meistens dann, wenn so ein Wunder geschieht, wie die Geburt eines Kindes.“

Wir schluckten und nickten erneut. Als er weg war, sahen wir noch lange in die glimmenden Kohlen.

Wir hatten den Weihnachtsmann wiedergefunden. Und Fi können wir eines Tages sogar seine Visitenkarte geben.




Globus am Abgrund, Rettung naht – Matthias Polityckis Roman „Samarkand Samarkand“

9783455404432Tim Bendzkos Song, wonach er nur noch die Welt retten muss, der könnte auch von Alexander Kaufner stammen.

Im fernen Usbekistan, genauer genommen in der sagenumwobenen Stadt Samarkand soll und will er eine Mission erfüllen, die da lautet: den dritten Weltkrieg zu beenden. Fürwahr, es ist kein angenehmes Leben mehr auf diesem Globus, seitdem sich die Machtverhältnisse einmal mehr verschoben haben. Nach Deutschland, der Heimat des Romanhelden, sind die Russen zurückgekehrt, radikale Muslime kämpfen mit Waffengewalt, aber es gibt noch eine Bundesregierung, wenn auch nicht mehr unter Kanzlerin Merkel. Gemäß dem Satz, dass der Islam zu Deutschland gehört, führt jetzt der Türke Mehmet Yalcin die Regierungsgeschäfte.

Die Art und Weise, wie Kaufner von all den Ereignissen erfährt, versinnbildlicht den Wandel der Welt: Gazprom-TV heißt der Sender, der alle anderen Medien verdrängt hat. Wie nun der Deutsche den blauen Planeten von dem Fluch des Krieges befreien soll, ist schon aberwitzig. Er soll das Grab von Timur, Nachfahre des Mongolenherrschers Dschingis Khan, ausfindig machen. Diesem Ort wird eine magische Kraft zugeschrieben, und zwar eine solche, die in diesen dunklen Zeiten Wunder wirken kann.

Autor Matthias Politycki lässt den Leser teilhaben an einer Expedition durch ein Land, das für Kaufner bei optimistischer Betrachtung eine Menge an Abenteuern bereithält. Schon allein der Name „Samarkand“, wo die Grabesstätte vermutet wird, versprüht einen Zauber, dem sich der ehemalige Gebirgsjäger nicht entziehen kann. Selbst als er feststellen muss, dass es neben dem illustren Samarkand, das seinen festen Platz an der Seidenstraße hatte, noch ein zweites Samarkand existiert, dem eher die Aschenputtelrolle zugedacht ist, lässt er von seinem Plan nicht abhalten. Er will das wahre Grab von Timur finden und das befindet sich nun mal in diesem wenig einladenden Ort.

Die Idee zu dem Buch kam Politycki schon 1987 in den Sinn, als er erstmals in Samarkand zu Gast war. Seinerzeit schien der Mauerfall noch in weiter Ferne zu sein, dafür hatte ihn die Faszination an Ort und Stelle ergriffen. Es sollte rund ein Vierteljahrhundert dauern, bis der Autor sich daran setzte und Kaufner auf Reisen schickte. Zwischenzeitlich kehrte er nach Samarkand zurück, verwarf erste Konzepte für das Buch, um nun eine spannende, mitunter auch sperrige Lektüre vorzulegen.

Befremdlich wird das Buch schon mal an solchen Stellen, in denen Gewaltexzesse beschrieben werden. Das Massaker von Köln, das nahezu alle Karnevalisten dahinrafft, ist wahrlich nichts für schwache Nerven. Wem solche Passagen zu brutal daherkommen, der wird durch die Fantasie des Autors entschädigt. Politycki zeichnet zwar eine düstere Zukunft, die jedoch noch längst nicht das Ende aller Tage sein muss. Wenn eine Zeitangabe aufhorchen lässt, dann ist es das Jahr, in dem der Schriftsteller seine Geschichte beginnen lässt: 2027. Bis dahin sind es gerade mal noch 14 Jahre.

Matthias Politycki: „Samarkand Samarkand“. Hoffmann und Campe, 397 Seiten. 22,99 Euro




Hagener Friedhof Wehringhausen: Hinfälliger Bewahrer großer Namen des Ruhrgebiets

Erst mal wählen gehen. Gesagt, getan, zwei Kreuze und dann wieder in den Sonntagmorgen. Ein wenig zu würdig erschienen mir die Mitglieder des Wahlvorstandes. Schau da, die Sonne bestrahlt auf einmal die Szene. Gleich nebenan liegt ein Friedhof, den mir Andrea schon lange mal zeigen wollte. Vom Bergischen Ring in Hagen aus habe ich ihn schon oft gesehen.

Zugänglich ist er aber nur von der Grünstraße, wo auch das Wahllokal lag, in das wir zum Kreuzemachen spaziert waren. Diesmal und auch weil die Sonne uns wärmte, gingen wir hinein. Es war nicht etwa ein nekrophiler Anfall meinerseits, ich wollte nur ein wirklich wesentliches Stück Hagener Stadtgeschichte aus der Nähe sehen, und das ist der ehrwürdige und an so vielen Stellen leider auch hinfällige Friedhof in Wehringhausen ganz sicher.

Die Grabplatte von Lieselotte Funcke.

Die Grabplatte von Lieselotte Funcke.

Als Liselotte Funcke 2012 starb, da war ich wieder auf den Wehringhausener Friedhof aufmerksam geworden, weil ich las, dass die große und bewundernswert aufrechte alte Dame der FDP dort zu Grabe getragen wurde. Und nicht sehr weit entfernt vom Eingang, vorbei an einigen Grabstätten, die zwischen ungemein gepflegt und da und dort auch pflegebedürftig schwanken, zwingt mich zunächst der Namenszug Osthaus zur Aufmerksamkeit.

Dann die bescheidene, aber edle Grabplatte der verstorbenen Ehrenbürgerin Liselotte Funcke, der Name Harkort taucht auf, dann Elbers, Post. Der nicht so furchtbar große, mit seiner innenstadtnahen Lage auch nicht so völlig idyllisch-ruhige Friedhof ist ein veritables Stück Industriegeschichte der Stadt Hagen und des Ruhrgebietes. Und viele Grabstätten – auch wenn manche von ihnen inzwischen altersgrau oder bemoost sind – sind auch kulturgeschichtliche Zeugen einer Zeit, in der Hagen-Wehringhausen eine der bürgerlichen und besonders wohlhabenden Gegenden der Stadt war.

Kommerzienräte, Sanitätsräte, Doktores ing., phil. oder jur., Generationen übergreifende Gruften, große Familiengrabstätten, Einzelgräber. Auch Grabstätten, die aufgelassen wurden, Grabsteine, die noch erinnern, aber kein Grab mehr kennzeichnen, Stelen moderner Herkunft. Gräber, deren Zustand den Eindruck macht, als seien inzwischen auch die Hinterbliebenen nicht mehr am Leben. Der kleine Friedhof wirkt wie ein historischer Querschnitt durch die Hagener Stadtgeschichte und wie deren Spiegel. Denn auch die Stadt blüht hier, bröselt da und wird dort umgepflügt, in der Hoffnung, dass sich irgendwann in naher Zukunft die entstandene Brache mit neuem Leben bevölkert.

Und einige Stellen des schönen alten Geländes zeugen davon, dass private Initiative Geld aufbrachte, um alte Zeitzeugen jungen Nachkommen zu erhalten. So wie beim Mahnmal an Hagener Soldaten, die 1870 gegen Frankreich zu Felde zogen. Da muss meiner Einschätzung nach noch viel mehr in den kommenden Jahren kommen, denn dem Kulturschatz zwischen Bergischem Ring, Lange- und Grünstraße sollte mehr Pflege angedeihen, als es die finanziell sieche Kommune Hagen leisten kann. Viele der Frauen und Männer, die dort zu Grabe getragen wurden, entstammen einer großen Tradition Wohlhabender, die es noch verstanden, Gemeinsinn und Geschäftssinn erfolgreich zu verbinden. Sie zu ehren, könnten Wohlhabende von heute zur Verpflichtung führen, sich dort dem Gemeinsinn zu widmen.

Stumme Gesten, die zeigen, dass hier Erinnerung gepflegt wird.

Stumme Gesten, die zeigen, dass hier Erinnerung gepflegt wird.




Schopf und Schöpfung: Oberhausen zeigt „HAIR! Das Haar in der Kunst“

In der „flotten Schreibe“ älterer Machart hätte man formuliert, die neue Ausstellung in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen sei „eine haarige Angelegenheit.“ Und was der Redensarten mehr sind. Richtig ist, dass „HAIR! Das Haar in der Kunst“ das Titelthema rundum abhandelt. Wer da noch eine wesentliche Lücke entdeckt, ist wirklich findig.

Domenico Gnoli: "Hair Partition" (Scheitel), 1968 (© Museum Ludwig im Statlichen Russischen Museum St. Petersburg/VG Bild-Kunst, Bonn 2013)

Domenico Gnoli: „Hair Partition“ (Scheitel), 1968 (© Museum Ludwig im Statlichen Russischen Museum St. Petersburg/VG Bild-Kunst, Bonn 2013)

Gleich der erste Raum verheißt große zeitliche und ästhetische Bandbreite, die dann auch eingelöst wird: Bei Tilman Riemenschneiders „Marientod“ (um 1515) spielt die Haar- und Barttracht der Figuren eine entscheidende, charakterisierende Rolle – bis hin zur so genannten „Petrus-Locke“, die eben genau diesen Apostel kennzeichnet. Direkt gegenüber hängt eine Fotografie von Cindy Sherman, auf der die Künstlerin als steinreiche, überschminkte Dame der besseren Gesellschaft erscheint. Auch hier macht die Frisur einen Unterschied.

Cindy Sherman: "Untitled # 464", 2008 (© Hendrik Kerstens, courtesy NUNC Contemporary, Antwerp, Belgium)

Cindy Sherman: „Untitled # 464“, 2008 (© Hendrik Kerstens, courtesy NUNC Contemporary, Antwerp, Belgium)

Für viele Jahrhunderte bedeutete „ordentliches“ Haar auch geordnetes Denken oder gar Gottesnähe. Aus heutiger Sicht kuriose Dinge wie ein Echthaar-Kruzifix oder eine Maria Magdalena mit Ganzkörperbehaarung gibt es zu sehen, wobei das wallende Haupthaar selbstverständlich ihre jungfräuliche Scham bedeckt.

Spätestens nach der Hälfte des Rundgangs fragt man sich jedenfalls, wieso noch niemand zuvor auf die Idee gekommen ist, dieses Thema zwischen Schopf und Schöpfung zum zentralen Gegenstand einer Kunstausstellung zu machen. Museumsleiterin Christine Vogt und ihr Team haben insofern tatsächlich Neuland betreten.

Denn nach und nach zeigt sich, wie vielfältig der ikonographische Anspielungsreichtum des menschlichen Haares ist. Mal hat es religiöse, mal erotische Bedeutung, mal drückt es Machtverhältnisse oder soziale Zugehörigkeiten aus. Der Griff ins Haar oder die erzwungene Entfernung stehen für Demütigung und Stufen der Gewaltsamkeit. Auch kommt immer wieder der unaufhörliche Geschlechterkampf in Betracht.

Tilman Riemenschneider: "Marientod", um 1515 (© Sammlung Marks/Thomée, Aachen - Foto: Anne Gold, Aachen)

Tilman Riemenschneider: „Marientod“, um 1515 (© Sammlung Marks/Thomée, Aachen – Foto: Anne Gold, Aachen)

Haare haben überdies innig mit Tod und Vergänglichkeit zu tun, gerade weil sie das Letzte sind, was vom menschlichen Leibe nach dem Aushauchen erhalten bleibt. Im 19. Jahrhundert gedachte man der Verstorbenen deshalb nicht selten mit Lockenbildern.

Rotes Haar dient traditionell als Zeichen der Sündhaftigkeit, doch auch Blond (Warhols Monroe-Siebdruck, Roy Lichtensteins dekorativ weinendes Comic-Mädchen) und Schwarz (Otto Dix’ geradezu „dreckiges“ Hurenbild „Akt mit Zigarette“) haben ersichtlich ihre starken Reize.

Andy Warhol: "Geburt der Venus nach Bitticelli", 1984 (© The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc./Artists Right Society (ARS), New York - Foto: Anne Gold, Aachen)

Andy Warhol: „Geburt der Venus nach Bitticelli“, 1984 (© The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc./Artists Right Society (ARS), New York – Foto: Anne Gold, Aachen)

Und so geht es wechselhaft voran, mit 134 einschlägigen Exponaten von der Antike bis heute, kreuz und quer durch Bestände der diversen Ludwig-Sammlungen, hie und da um Stücke aus anderen Kollektionen ergänzt. Es wird klar, dass die Peter und Irene Ludwig keineswegs nur Pop Art erworben haben, sondern Kostbarkeiten aus nahezu allen Epochen. Zum Umfang der Ausstellung zählt übrigens auch reichlich altes Silber aus dem Besitz von Irene Ludwig, das davon zeugt, wie im 18. Jahrhundert noch Körper- und Haarpflege sozusagen beim Frühstück betrieben wurden. Hier hat man halt den verstorbenen Stiftern gehuldigt, ansonsten wäre es nicht zwingend nötig gewesen.

So manche Legende der Kulturgeschichte wird nicht zuletzt durchs Haar definiert, so etwa durchs Medusenhaar (auf dem Bild „Die Pest“ des Franz von Stuck). Auch das wallende Haar der sexuell bedrängten Susanna im Bade wäre zu nennen. Oder Judith, die den Schädel des enthaupteten Holofernes bei den Haaren packt.

Edvard Munch: "Madonna - Liebendes Weib", 1902 (© The Munch Museum / The Munch Ellingsen Group / VG Bild-Kunst, Bonn 2013 / Foto: Anne Gold, Aachen)

Edvard Munch: „Madonna – Liebendes Weib“, 1902 (© The Munch Museum / The Munch Ellingsen Group / VG Bild-Kunst, Bonn 2013 / Foto: Anne Gold, Aachen)

Streckenweise gerät die Schau also beinahe zur kulturgeschichtlichen Beispielsammlung, doch überwiegt insgesamt der künstlerische Impuls; vor allem, weil vornehmlich einige Gegenwartskünstlerinnen (jawohl, es ist offenbar überwiegend ein Frauenthema) frische Akzente gesetzt haben. Sie können auf alles zurückgreifen, mit Bestandteilen der ganzen Tradition jonglieren. Nicht sämtliche Arbeiten kommen über den bloßen Gag hinaus, doch einige gewinnen der Frisur neue Facetten ab.

Bedrohlich wirkt Rebecca Horns 1974/75 hergestellter Film vom simultanen Haareschneiden mit zwei Scheren, zu dem der jüngst verstorbe Otto Sander einen Text gesprochen hat. Anita Brendgens versetzt Fragmente eines ganzen Friseursalons in ein sanftes Schweben. Die vom Hardrock herkommende Patricia Murawski führt ihre langen Haare fotografisch beim selbstvergessenen „Headbanging“ vor. Und Billie Erlenkamp beweist, dass es möglich ist, die Umrisse eines weiblichen Akts in die dichte Behaarung eines Männerbeins zu kämmen.

Unbekannter Meister: "Erhebung der Maria Magdalena" (Maria Aegyptiaca), um 1480) (© Suermondt-Ludwig-Museum, Aachen - Foto: Anne Gold, Aachen)

Unbekannter Meister: „Erhebung der Maria Magdalena“ (Maria Aegyptiaca), um 1480) (© Suermondt-Ludwig-Museum, Aachen – Foto: Anne Gold, Aachen)

Wie bitte? Die Haarlosigkeit sei vergessen worden? Nichts da! Jim Raketes Porträtfoto des Schauspielers Jürgen Vogel und ein Selbstbildnis von Max Beckmann lassen mehr als nur lichte „Geheimratsecken“ sehen. Wuchernde wie abrasierte Intim- und Brustbehaarung kommen gleichfalls vor. Und schließlich darf auch das – aus modischen oder religiösen Gründen – bedeckte Haar nicht übergangen werden. Eine Arbeit der Iranerin Shirin Neshat erhebt hierbei subtilen Einspruch gegen den Tschador. Sieh an, sieh an, die Darstellung der Haare kann also auch gleichsam körperpolitisch gewendet werden.

„HAIR! Das Haar in der Kunst“. 22. September bis 12. Januar 2014 in de Ludwiggalerie Schloss Oberhausen, Konrad-Adenauer-Allee 46. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr. Eintritt 6,50, ermäßigt 3,50 Euro.

Nähere Informationen: www.ludwiggalerie.de




Der Mann mit den wuchtigen Meinungen – Zum Tode von Marcel Reich-Ranicki

Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki (Foto: Dirk Vogel / http://www.vogelgrafie.blogspot.de)

Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki (Foto: Dirk Vogel / http://www.vogelgrafie.blogspot.de)

Prägnante Szene bei einer schon länger zurückliegenden Frankfurter Buchmesse: Am Stand der Deutschen Verlagsanstalt (DVA) wird Marcel Reich-Ranicki von Bewunderern umlagert wie ein Popstar. Einer ruft ihm die (wahrhaft müßige) Frage zu, wer denn wohl der größte russische Autor aller Zeiten sei. Von ihm hat man eben literarische Urteile wie von einer höchstrichterlichen Instanz erwartet.

Jetzt wird diese Instanz für immer fehlen. Marcel Reich-Ranicki, der mit Abstand prominenteste Literaturkritiker deutscher Zunge, der sogar vielen Banausen ein flüchtiger Begriff war, ist heute im Alter von 93 Jahren gestorben.

Der „Großkritiker“ ließ sich damals in Frankfurt – wie üblich – nicht lange bitten, mochte sich freilich in jenem Falle nicht so recht festlegen: Tolstoi sei ein ganz Großer gewesen, aber auch Gogol, Puschkin und Dostojewski hätten „sehr gut geschrieben“. Aha! Aus derlei Frage- und Antwort-Spielchen hat er zuletzt in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung eine Rubrik bestritten, bei deren Lektüre man sich zuweilen an den Kopf fasste.

Entweder herrlich oder grrrrrrässlich

Bei Licht betrachtet, waren die Maßstäbe des höchst belesenen, im Literaturbetrieb ungemein beschlagenen Reich-Ranicki recht simpel: Entweder gefiel ihm ein Buch – oder es langweilte ihn „grrrrrässlich“; zuweilen schon dann, wenn es im „falschen“ Land spielte, zu umfangreich geraten oder zu unkonventionell erzählt war. Manchmal hat man sich schon gewundert, wie es jemand mit einem solchen Raster so weit hat bringen können. Doch natürlich war er auch in der Lage, differenzierte Rezensionen zu schreiben, an denen man seine helle Freude haben konnte; besonders dann, wenn er Autoren hoch schätzte, wie etwa den ewigen Leitstern Thomas Mann. Mit seinen Verrissen war Reich-Ranicki allerdings oftmals ungerecht schnell bei der Hand.

Marcel Reich-Ranicki hat seine stets glasklaren, selten von Selbstzweifeln angekränkelten Meinungen mit solcher Wucht und Verve vertreten, dass man schwerlich dagegen ankommen konnte. Er war bestens „vernetzt“ und verstand es wie kein Zweiter, die Klaviatur der literarischen Einflussnahme zu bedienen. Auch stillte er wohl eine gewisse Sehnsucht nach eindeutigen, leidenschaftlichen, zuweilen auch etwas groben Stellungnahmen. Welt und Literatur waren ansonsten unübersichtlich genug. Da sollte mal einer Schneisen schlagen – notfalls mit der Machete. Den Beinamen „Literaturpapst“ wurde er jedenfalls nicht mehr los, auch wenn er auf seine älteren Tage schon mal unumwunden zugegeben hat, nicht „unfehlbar“ zu sein.

Bewegende Biographie

Rund 1,2 Millionen Exemplare wurden von seiner bewegenden Autobiographie „Mein Leben“ verkauft. Eindringlich schilderte Reich-Ranicki seine Kinderheit in Polen und Berlin, sein unvorstellbar schwieriges Leben in der NS-Zeit, von dem er 2012 auch in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag Zeugnis abgelegt hat. Reich-Ranickis Eltern wurden im KZ umgebracht, er selbst musste sich vor den Nazi-Schergen versteckt halten. Wer wollte es ihm da ernsthaft verübeln, dass er später vorübergehend dem polnischen Geheimdienst angehörte und der KP beitrat? Bald aber wandte er sich ab und wurde wegen „ideologischer Fremdheit“ aus der Partei ausgeschlossen.

1958 kam er wieder nach Deutschland. Ab 1960 schrieb er für die „Zeit“, von 1973 bis 1988 war er Literaturchef der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Doch erst „Das Literarische Quartett“ (1988 bis 2001) im ZDF hat Reich-Ranickis Entertainer-Qualitäten vollends zur Entfaltung kommen lassen. Nach den Sendungen mussten die Bestsellerlisten immer flugs umgeschrieben werden. Man möchte lieber gar nicht wissen, was die Verlage angestellt haben, um dort besprochen zu werden. Jedenfalls musste ein Mann wie Reich-Ranicki einfachs ins Fernsehen, wo er so manche schwankende Seele für die Literatur gewonnen haben dürfte. Wie hat man sich seinerzeit amüsiert, als er seine öffentlich-rechtlichen Bücherstreits mit Hellmuth Karasek, Sigrid Löffler und Jürgen Busche ausfocht. Manchmal war’s herrliches Kasperltheater mit anderen Mitteln…

Grass und Walser haderten mit ihm

Deutschlands bekannteste Schriftsteller wendeten sich freilich vielfach mit Grausen – mit Ausnahme von Siegfried Lenz. Literaturnobelpreisträger Günter Grass war Reich-Ranicki gram, seit der den Roman „Ein weites Feld“ (1995) verrissen und auf dem legendären „Spiegel“-Titelbild regelrecht zerfetzt hatte. Als Reich-Ranicki die Hand zur Versöhnung reichen wollte, schlug Grass sie aus. Und damals wusste man noch nichts von Grass’ Waffen-SS-Vergangenheit in den finsteren Zeiten…

Auch Martin Walser (umstrittener Schlüsselroman: „Tod eines Kritikers“) gehörte beileibe nicht zu Reich-Ranickis Verehrern. Selbst mit dem langjährigen Freund Walter Jens war Reich-Ranicki zwischenzeitlich heillos zerstritten. Die Einsamkeit des Kritikers, allen Mitstreitern und Medienmächten zum Trotz.

Heimat Literatur, Zuflucht Teofila

In mehr als einer Hinsicht war dies tragisch, hat Reich-Ranicki doch bekannt, wie er sich seit den schrecklichen Erlebnissen im Warschauer Ghetto ohnehin stets als Außenseiter gefühlt hat – selbst in den Redaktionen von „Zeit“ und FAZ. Als wahre Heimat hat er hingegen immer die (deutschsprachige) Literatur begriffen.

Und es gab noch eine sehr dauerhafte Zuflucht: Über 70 Jahre lang lebte er mit (der 2011 verstorbenen) Teofila zusammen, die er unter schlimmsten Umständen im Ghetto kennen gelernt hatte. Auch wenn er gelegentlich damit kokettierte, auf erotische Nebenwege erpicht zu sein – nehmt alles nur in allem, so ist er wohl sicherlich treu gewesen. Und jetzt, wer weiß, kann sie vielleicht „dort droben“ seine harmlosen kleinen Eskapaden mit jenem weisen, wissenden Lächeln quittieren, das ihr zu eigen war.




Ein Sommer für Matisse: Nizza widmet dem Maler acht Ausstellungen

Fünf Spidermen fassen sich an den Händen und tanzen Ringelreihen. An wen erinnert bloß diese Tanzszene, die der in Dortmund geborene Künstler Martin Kippenberger so kühn aufs Papier gebannt hat? Genau: „La Danse“ von Henri Matisse ist das Vor-Bild für die ironische Collage und dass beide Künstler nun in einem Museum zusammentreffen, kein Zufall: Zum 50. Geburtstag des Musée Matisse zeigt Nizza unter dem Titel „Un été pour Matisse“ (Ein Sommer für Matisse) noch bis zum 23. September insgesamt acht Ausstellungen, die von dem berühmtesten Maler der Côte d’Azur inspiriert sind.

Musée Matisse, Nizza, Foto: E. Schmidt

Musée Matisse, Nizza, Foto: E. Schmidt

Von 1917 bis zu seinem Tode 1954 lebte und arbeitete Henri Matisse in Nizza, hier schuf er sein farbenfrohes, vom Licht der Küste durchdrungenes Oeuvre. Den Rundgang auf den Spuren des Malers beginnt man am Besten in der roten Villa auf dem Berg über Nizza im Stadtteil Cimiez, in der heute das Musée Matisse untergebracht ist. Hier widmet man sich zum Jubiläum dem Thema der Musik im Werk von Matisse, die ebenso wie der Tanz eine zentrale Rolle bei ihm spielte. Seine Bilder zeigen Instrumente und mehrfach Tochter und Sohn an Klavier und Geige. Ergänzt wird die Schau durch die dazu passenden historischen Instrumente. Im Untergeschoss lernt man die Vielseitigkeit des Meisters erst richtig kennen: Es finden sich Theaterkostüme und eine schwungvolle blaue Keramik, die Matisse zur Gestaltung eines Schwimmbads entworfen hat. Sein Enkel hat das gesamte Interieur kürzlich der Stadt Nizza geschenkt.

Das Sujet führt den Besucher ins nebenan gelegene Musée d’archéologie, einen kleinen modernen Zweckbau nahe der Ausgrabung einer römischen Therme. Als mondäner Badeort ging Nizza in die Tourismusgeschichte ein, hier widmet man sich dem Thema des Swimming-Pools in der Kunst und hat einige ganz hübsche Fotografien und Videos zusammengestellt, die einen ein wenig abkühlen. Doch es hilft alles nichts, wir müssen den Berg hinunter, ans blaue Meer. Die Straße führt vorbei am Hotel Regina, in dem Ende des 19. Jahrhunderts noch Queen Victoria mitsamt Hofstaat logierte. Später wurde das imposante Gebäude zum Grand Hotel, in dem Matisse von 1938 bis 1954 wohnte und sein Atelier hatte.

Palais Lascaris, Nizza, Foto: E. Schmidt

Palais Lascaris, Nizza, Foto: E. Schmidt

Unten, in der quirligen Altstadt, wird auf der Place Saint Francois gerade der Fischstand abgespritzt und die Fleischergesellen machen eine Zigarettenpause. Gleich um die Ecke liegt der Palais Lascaris, ein barocker Palazzo, der einen in schattiger Dunkelheit empfängt. Hier ist die Ausstellung „Matisse und die Jahre des Jazz“ untergebracht: Zwischen 1943 und 1949 schuf Matisse ein Künstlerbuch unter dem Titel „Jazz“: Sein schwebender Ikarus auf blauem Grund mit zackigen gelben Sternen ist weltweit bestimmt millionenmal nachgedruckt worden.

Wir wandern weiter in die gleißende Sonne entlang der berühmten Strandpromenade Boulevard d’Anglais zum Musée Masséna, das in einer herrschaftlichen Luxusvilla mit Meerblick residiert, die Victor Masséna d’Essling duc de Rivoli 1898 erbaute. Hier geht es um das Thema der Palme in der Kunst, ausgehend von Matisse, der den südlichen Sehnsuchtsbaum in verschiedensten Variationen immer wieder gemalt hat. Aber Picasso hat das auch nicht schlecht gemacht, wie man sieht.

Der Rückweg über die Rue de France verführt profanerweise zum Sandalenkauf mit viel zu hohen Absätzen, in denen ich die Stufen zum Musée d’Art Moderne et d’Art Contemporain (MAMAC) kaum mehr hochsteigen kann. Doch die Mühe lohnt, denn oben heißt es freundlich „Bonjour Monsieur Matisse“ und die Kuratoren haben eine beeindruckende Auswahl an moderner Kunst zusammengetragen, die den Einfluss des stilbildenden Meisters des 20. Jahrhunderts auf seine Nachfahren augenfällig werden lässt. Von Roy Lichtenstein über Jean-Michel Basquiat und Niki de Saint Phalle bis hin zu Martin Kippenberger ist einiges von Rang und Namen vertreten.

Aufmerksame Leser haben vielleicht mitgezählt: Wir haben nur fünf von acht Matisse-Ausstellungen geschafft. Leider mussten wir dann die schmerzenden Füße ins Meer hängen. Wer alle acht an einem Tag absolviert, soll sich bitte bei mir melden, aber ich brauche Beweise. Der Flug Düsseldorf-Nizza dauert nur anderthalb Stunden.

Infos: matisse2013.nice.fr




Einen Autor mehr und mehr für sich entdecken: Bücher von Walter Kappacher

Nicht nur in (und am) Mattsee g e l e s e n habe ich unlängst die zwei neuesten Bücher des Büchnerpreisträgers von 2009, des seit Jahren in dem Mattsee benachbarten Ort Obertrum lebenden Walter Kappacher, sondern sehr wahrscheinlich habe ich ihn als Person dort sogar selber mehrmals g e s e h e n .

Mindestens viermal kam in der besonders heißen ersten Augustwoche ein seinem Bilde, dem möglicherweise heute nicht mehr ganz aktuellen Buchklappenseitenbilde, sehr ähnlicher Mann ins „See- und Strandbad Mattsee“. Jeweils vom frühen Morgen bis zum späten Vormittag blieb er da und setzte sich buchlesend an eine noch ruhige Stelle in den Schatten, auch – wie vereinbarungsgemäß – nicht gestört von seiner Frau, die ihn gelegentlich ins Bad begleitete und selber etwas las. Beide sah ich, als zufällig auch wir gerade gingen, um die Mittagszeit mit den Fahrrädernwieder wegfahren. Vermutlich kamen sie auch sonst jeweils mit dem Rad. Einmal sah ich ihn über ein Typoskript mit großen Zeilenabständen gebeugt, in das er gelegentlich sei’s Ergänzendes, sei’s Korrigierendes mit einem Stift hineinschrieb.

34519430n36896085n

Natürlich hätte ich sehr gerne gewusst, ob mein Gespür mich nicht trog und ob es sich bei diesem Mann wirklich um den Schriftsteller Kappacher handelte, aber ich bin in der Regel nicht aufdringlich oder gar zudringlich und wollte auch nicht weniger zurückhaltend und scheu sein, als er selber seinem eigenen Zeugnis nach es früher gegenüber Oskar Werner, Peter Handke oder Thomas Bernhard und anderen gegenüber gewesen ist. Und als ich mich nach einer Woche schließlich doch dazu entschlossen hatte, ihn höflich anzusprechen, zumal nach meiner frischen Buchlektüre, war er ausgerechnet von diesem Tage an nicht mehr zu sehen.

Halten wir uns also an seine Bücher.

Am 30. Juli kamen wir an unserem Urlaubsort Mattsee an, am 31. waren wir im nur 20 Kilometer entfernten Salzburg. In einer Buchhandlung dort fielen mir zwei Bücher auf, die ich sogleich kaufte.

Die Lust an der Lektüre hat nicht nachgelassen

Zunächst die Kindheitserinnerungen von Karl-Markus Gauß mit dem Titel „Das Erste, was ich sah“, ein Buch, das ich in den nächsten beiden Tagen las, und schließlich den auch äußerlich sehr handlich und geschmackvoll edierten Band „die amseln von parsch / und andere prosa“ von Walter Kappacher, den ich – wie gesagt – höchstwahrscheinlich als Person gleich am nächsten Tag im Strandbad sah. Vom 3. August an las ich im Wechsel mit anderer von zu Hause mitgebrachter Lektüre mehr und mehr diesen Kappacher-Band, wobei ich die Reihenfolge der (ohnehin gut auch isoliert, ohne Rücksicht auf die im Band vorgegebene Reihenfolge lesbaren) Texte selbst bestimmte. Aber gelesen habe ich sie dann alle. Die Lust an ihnen ließ nicht nach.

Begonnen habe ich mit den beiden letzten Beiträgen des Bandes, die mich auf Anhieb am meisten interessierten. Ich las nacheinander die beiden Textfolgen „Ich erinnere mich / Aus den autobiografischen Notizen“ (S. 157ff.) und „Eigenes und Angeeignetes“ (S. 185ff.). Wie unmittelbar vorher schon bei Gauß konnte ich nun auch bei Kappacher mit den jeweiligen Erinnerungen meine eigenen Salzburger Kindheitserinnerungen reflexionsfördernd vergleichen; nur: in dem ersten Fall war ich der 11 Jahre Ältere und in dem zweiten Fall der um fünf Jahre Jüngere; aber gerade das leicht Zeitversetzte war für mich interessant, umso verblüffender so manche dennoch vorhandene Übereinstimmung. Aber abgesehen davon, auch für Nicht-Salzburger dürften diese uneitel als Fragmentfolge konzipierten Erinnerungen Kappachers von großem Lektüreinteresse sein. Der Schriftsteller Walter Kappacher ist – wiewohl seine Herkunft nicht verleugnend – niemals und nirgends provinziell.

Der Schlusstext „Eigenes und Angeeignetes“ bietet in einer gemischten Folge sich zu eigen gemachte Zitate (oft Aphorismen) anderer Autoren und eigene Notate. Ich bin versucht, hier laufend und immer wieder zu zitieren, verzichte aber darauf und gebe lieber eine Stelle aus den vorgeordneten „autobiografischen Notizen“ wieder, die mich aufhorchen ließ. Auf Seite 173 ist nämlich zu lesen: „Wie ich Ende der sechziger Jahre auf das Bändchen „Stille“ der Edition Suhrkamp von Antonio Di Benedetto aufmerksam wurde. Die Stimme dieses Autors schien zu mir zu sprechen wie wenige. Wahrscheinlich war es diese Stimme, die mich wünschen machte, Schriftsteller zu werden.“

Hand aufs Herz. Wer kennt den Autor Antonio Di Benedetto durch eigene Lektüre? – Ich kenne ihn auch nur zufällig, weil ich mich seit etwa vier Jahrzehnten für lateinamerikanische Literatur interessiere und weil ich vor einiger Zeit eine Rezension über den 2009 bei Manesse neu herausgegebenen Roman „Zama wartet“ geschrieben habe. Nur dadurch bin ich auch selber auf das von Kappacher so stark hervorgehobene Bändchen „Stille“ gestoßen, das ich aber zu diesem Zeitpunkt (trotz des damaligen Argentinienschwerpunktes der Frankfurter Buchmesse) nur mehr noch antiquarisch erwerben konnte. Dass aber dieser von 1922 bis 1986 lebende, bei uns bis heute nicht allzu bekannte argentinische Autor für Kappacher einst so bedeutsam geworden ist, sollte für uns ein wichtiger Hinweis sein.

In anderen Essays seines Bandes eröffnet uns Kappacher persönliche Ausblicke auf ältere und jüngere Schriftstellerkollegen, denen er zu verschiedenen Zeiten ab und an begegnete. So schreibt er unter dem Titel „Der Außenseiter vom Mönchsberg“ etwas über seine Begegnungen mit Gerhard Amanshauser und ergänzt dies chinesisch verfremdet durch den Text „Zusammenkunft mit Meister Mu“. Der Essay „Woher sollte er mich kennen?“ rückt Peter Handke und seine Begegnungen mit Walter Kappacher in unseren Blick.

Sehr gerne gelesen habe ich auch Kappachers sehr lebendig geschriebene „Erinnerungen an Erwin Chargaff“: „Es wird kein Platz für uns sein“. Auch für die Lektüreanregungen, die ich darin fand, bin ich dankbar.

In seinen in sehr unterschiedlichen Textsorten gefassten weiteren Beiträgen befasst sich Kappacher unter anderem mit Thomas Bernhard („Der Maulwurf / Träume mit Thomas Bernhard“) und mit James Joyce und mit Jean Paul, mit Alexander von Villers und mit Jane Austen. Aber auch einem „rätselhaften Bild“, „Hans Burgkmair und seiner Frau Anna Allerlai“, widmet er sich in einem Essay in interessanter Weise. Recht Persönliches erfahren wir in seinem Vaterporträt „Mein Vater“ und im kurzen Text „Hochkönig“.

Lesenswerte, wenn auch nicht sehr herausragende Erzählungen eröffnen den Band. Die erste Erzählung „Abschied von Cerreto“ wird vor allem für jene interessant sein und an Bedeutsamkeit zulegen, die Kappachers Roman „Selina“ aus dem Jahre 2004 bereits gelesen haben und das damals gestrichene, hier nachträglich zugänglich gemachte Kapitel auf diese Weise zuordnen können.

Ein Roman, der durch mehrmaliges Lesen gewinnt

Insgesamt hat mir das sehr anregende Bändchen Kappachers recht gut gefallen, so gut, dass ich mir anderthalb Wochen später seinen schon im Jahr 2012 erschienen Roman „Land der roten Steine“ auch noch kaufte und in meiner Sommerfrische ebenfalls sofort las. Während der Lektüre des langen Mittelteils „De vita beata“ stellte ich mir Leser(innen) vor, die sich bei der ausführlichen Wiedergabe dieser viertägigen Reise ins „Land der roten Steine“ in den Südwesten der USA vielleicht etwas langweilen könnten, und mir wurde bewusst, dass es wesentlich darauf ankommt, dies alles in der besonderen, erst einzufangenden Perspektive der Hauptfigur, des inzwischen im Ruhestand befindlichen Bad Gasteiner Arztes Wessely, zu sehen. Wer indessen diesen Mittelteil mit langem Atem durchsteht, wird im weit kürzeren dritten Teil („La vita breve“) diese Perspektive überzeugend nachgeliefert bekommen und bemerken, dass er sie auf Grund behutsamer Andeutungen schon mit dem ersten Teil („Vita nuova“) hätte einnehmen können. Kurzum: Hat man den ganzen Roman mit Geduld gelesen, werden die Innenspannungen deutlicher, und man bekommt Lust, ihn insgesamt gleich noch einmal zu lesen.

Es handelt sich zweifellos um einen Roman, der durch mehrmaliges Lesen gewinnt. Er ist so womöglich gegen unsere Zeit geschrieben. Wobei der wache Blick auf das, wovon unsere Zeit gezeichnet ist, der in diesem Roman dennoch waltet, nicht übersehen werden kann.

Walter Kappacher: „Die Amseln von Parsch“. Verlag Müry Salzmann , Salzburg – Wien 2013. 216 Seiten / 19,00 €

Walter Kappacher: „Land der roten Steine“. Carl Hanser Verlag, München 2012. 160 Seiten / 17,90 €




TV-Nostalgie (4): „Raumpatrouille“ – Als „Orion“ in die märchenhafte Zukunft schwebte

So hat man sich vor 47 Jahren die Zukunft vorgestellt: Die Menschen leben in einer keimfreien Unterwasserwelt. Das Mobiliar sieht poppig und furchtbar avantgardistisch aus. Leute in Einheitskluft vollführen schon mal seltsam roboterhafte Tänze. Vor allem aber brechen sie tagtäglich in die unendlichen Weiten fremder Galaxien auf.

Willkommen bei der „Raumpatrouille“, der legendären Science-Fiction-Spielserie aus den 1960er Jahren! Willkommen an Bord des Raumschiffs „Orion“!

Der „alte Adam“ ist noch lebendig

Als „Märchen von übermorgen“ wird das Ganze schon im Vorspann der einstündigen Auftaktfolge bezeichnet, die ich mir jetzt noch einmal angesehen habe. Unter den Erdbewohnern herrscht Frieden, es gibt keine Nationalstaaten mehr. Doch der blaue Planet muss sich unentwegt gegen extraterrestrische Angreifer wehren – allen voran die geheimnisvoll glitzernden, ungreifbaren „Frogs“, gegen die auch Laserpistolen nichts ausrichten können. Trotzdem sind sie an einem Punkt verwundbar…

Dietmar Schönherr, Wolfgang Völz und Eva Pflug in der Auftaktfolge von "Raumpatrouille". (Screenshot von http://www.youtube.com/watch?v=FGcIy76N9sY)

Dietmar Schönherr, Wolfgang Völz und Eva Pflug in der Auftaktfolge von „Raumpatrouille“. (Screenshot von http://www.youtube.com/watch?v=FGcIy76N9sY)

Auch der „alte Adam“ ist in dieser fernen Zukunft noch lebendig. Es gibt immer noch Hierarchien und Intrigen, aber auch Teamgeist und Freundschaft. Und es gibt immer noch diese uranfängliche, zuweilen etwas komplizierte Sache zwischen Männern und Frauen.

Dietmar Schönherr als smarter Kommandant

Im Zentrum der am 17. September 1966 gestarteten, siebenteiligen ARD-Reihe schwebt natürlich das Raumschiff „Orion“ unter dem Kommando des smarten Allister McLane (Dietmar Schönherr). Weil der oft allzu husarenhaft und eigenmächtig vorgegangen ist, degradieren ihn die Chefs für eine Bewährungsfrist von drei Jahren. Auch stellen sie ihm als Aufpasserin die rigide Sicherheitsoffizierin Tamara Jagellovsk (Eva Pflug) zur Seite, was der eingeschworenen „Orion“-Besatzung gar nicht in den Kram passt. Ein Hauptstrang der Serie schildert denn auch gruppendynamische Prozesse.

Der „Kalte Krieg“ und die Verweigerung

Man beachte den russisch klingenden Namen Jagellovsk und stelle sich vor, dass das alles mitten im Kalten Krieg (und vor der ersten Mondlandung) gesendet wird. Da ist es schon eine kleine Sensation, dass jene Tamara gelegentlich menschliche Seiten durchschimmern und mit sich reden lässt. Das Dauerthema Gehorsams-Verweigerung deutet, wenn man so will und genau hinhört, schon zaghaft auf die Rebellion von 1968 voraus. Jedenfalls ist es sozusagen sternenweit entfernt vom „Kadavergehorsam“ im Zweiten Weltkrieg, der damals gerade erst 21 Jahre zurücklag.

So erlesen auch das Darsteller-Ensemble war (außer Schönherr und Pflug u. a. Wolfgang Völz, Benno Sterzenbach, Friedrich Joloff usw.), wurde es doch beinahe in den Schatten gestellt, nämlich von den ungemein kreativ ausgeklügelten Spezialeffekten, die mit einfachsten Mitteln bewerkstelligt wurden. Computer im heutigen Sinne gab es halt noch nicht. Aber Phantasie und Tüftlergeist waren reichlich vorhanden!

Spezialeffekte mit Reis, Rasierklinge und Bügeleisen

So wurde ein interstellarer Lichtsturm mit Hilfe hochgeworfener Reiskörner erzeugt. Kosmische Strahlen? Die ritzte man mühsam in die einzelnen Filmbilder ein – per Handarbeit mit einer gewöhnlichen Rasierklinge. Berühmtheit erlangte das Bügeleisen, aus dem im Handumdrehen ein Bestandteil der futuristischen Raumschiff-Armaturen wurde. Oft halfen bewusst unscharf aufgenommene Bilder, viele aufgeregt blinkende Glühbirnchen oder wallende Nebelschwaden, um den galaktischen Budenzauber zu inszenieren. Und dabei haben wir noch gar nicht die futuristische Geräuschkulisse mit ihren bizarren Halleffekten erwähnt.

Es wurde spannend erzählt, doch keineswegs ohne Humor und einen Schuss Selbstironie. Der technische Jargon wurde bis zur Parodiereife ausgereizt, menschliche Schwächen geradezu wonnewoll ausgekostet. Trotz tollster Raumfahrttechnik lebten die uralten Instinkte aus Verfolgungsjagden in Dialogen dieser Art fort: „Sie kommen!“ – „Nichts wie weg hier!“ So ähnlich muss sich das schon in der Steinzeit angehört haben.

_______________________________________________________________________

Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst bei www.seniorbook.de erschienen.




50 Jahre Bundesliga: Die persönliche Geschichte einer Nicht-Liebe

Heute geht’s wieder los: 9. August 2013, 20.30 Uhr, München. Der FC Bayern tritt an gegen Borussia Mönchengladbach. Und am Sonntag wird die neue Bundesliga-Saison für das Ruhrgebiet in Gelsenkirchen eröffnet: FC Schalke 04 gegen den Hamburger SV. 50 Jahre alt wird die höchste deutsche Spielklasse: Am 24. August 1963 startete der erste Spieltag der neuen Bundesliga.

Von Anfang an mischten Revier-Vereine kräftig mit: Dortmund, der Meidericher SV und Schalke gehören zu den sechzehn Gründungs-Clubs. Das erste Tor der Fußballgeschichte gehört mittlerweile fast schon zum Allgemeinwissen: Der Dortmunder Timo Konietzka schoss es nach nur 58 Sekunden. Auch der erste Tabellenführer kam aus dem Pott: Der Meidericher SV hatte sich mit einem 4:1 in Karlsruhe den ersten Platz gesichert.

Das Ziel: Die Meisterschale. Wo wird sie in der Jubiläums-Saison bleiben? Foto: DFL

Das Ziel: Die Meisterschale. Wo wird sie in der Jubiläums-Saison bleiben? Foto: DFL

50 Jahre Bundesliga: Für viele dürfte das Jubiläum ein Anlass sein, sich zurückzuerinnern, an glanzvolle Siege und bittere Niederlagen, an persönliche Fußball-Erlebnisse, Begegnungen, Adrenalinstöße in Stadien oder vor dem Fernseher, im Kreis von Fans und Freunden. So auch für den Autor dieser Zeilen – der sich freimütig zur Geschichte einer Nicht-Liebe bekennt …

Die wilden Gründerjahre: Das Ritual am Rundfunk

50 Jahre Bundesliga – das ist für mich, ich gestehe es, die Geschichte einer Nicht-Liebe. Das Fußballfieber hat mich höchstens als temporäre Temperaturerhöhung gestreift, nie mit heftigen Zwei-Mal-Fünfundvierzig-Minuten-Schüben in anhaltende Hitze versetzt. Trotzdem habe ich mir das „Kicker“-Sonderheft „50 Jahre Bundesliga“ gekauft. Aber warum?

Als die „wilden Gründerjahre“ begannen, war ich gerade mal zehn. Bundesliga bekam ich mit dank väterlichen Hörens der Live-Spielberichte am Samstagnachmittag: die aufgeregt sich überschlagenden Stimmen der Kommentatoren, das rhythmisch Auf und Ab des Gebrülls der Zuschauer. Bei uns in Würzburg, in der Fußballprovinz, war Bundesliga eine Sache ferner Orte: Nürnberg war der nächste – und der ordentliche Franke war Anhänger vom „Glubb“: Dieser, der 1. FC Nürnberg, trat mir in der Schule in Gestalt eines Mitschülers leibhaftig entgegen. Winfried war ein echter Fan. Hatte der Club gewonnen, ertönte am Montag Jubelgeschrei. Hatte er verloren, hing mein Kumpel apathisch in der Bank. Manchmal gab’s sogar Tränen.

Emma und die Rote Erde

Und wie sich der erblühende Jungmann ein Weib wählen soll, spürte der Knabe am Gymnasium den sozialen Druck der Pflicht, einen Lieblingsverein zu küren. Ich hatte keine Ahnung und wählte einfach Borussia Dortmund. Vielleicht, weil der Name des Stadions einen Hauch von Exotik verbreitete. Kampfbahn „Rote Erde“, das erzeugte Bilder von tapferen Recken, die im sonnendurchglühten roten Staub in gewaltigen Turnieren streiten. Vielleicht war es auch die Ferne: Der Nürnberger Club war wie das sommersprossige Nachbarsmädchen mit Zöpfen. In das verliebt man sich nicht. Aber die ferne, geheimnisvolle, unerreichbare Schönheit, die fesselt die schwärmerische Zuneigung. Vielleicht kamen auch die Fußballbildchen dazu, die es damals zum Sammeln gab. Ich erinnere mich genau: Ich besaß ein Bild von Lothar Emmerich. „Emma“ war einer der Dortmunder Superstars der sechziger Jahre, Torschützenkönig 65/66 und 66/67.

Impressionen am Dortmunder Stadion, dem größten in Deutschland. Wie andere Stadien auch ist es nach einem Finanzier benannt. Foto: Häußner

Impressionen am Dortmunder Stadion, dem größten in Deutschland. Wie andere Stadien auch ist es nach einem Finanzier benannt. Foto: Häußner

Dann gab es noch die Münchner „Löwen“ – und wir Kinder konnten mitsingen, wenn Torwart Petar „Radi“ Radenkovic, der mit seinem TSV 1860 München die Meisterschaft 65/66 gewann, in einem Schlager bekannte: „Bin i Radi, bin i König, alles and’re stört mich wenig …“. Fußballerschicksale sind manchmal grausam: Später hat wohl der Torwart des konkurrierenden FC Bayern selbst den Hit umgedichtet zu: „Bin i Radi, bin i Depp, König ist der Maier Sepp“.

Das war in den unruhigen Jahren 1968/69: Der Newcomer Bayern München war zum ersten Mal Meister, der junge Franz Beckenbauer Fußballer des Jahres und Gerd Müller mit sagenhaften 38 Treffern auf Platz eins der Torjägerliste. Und Nürnberg, der Meister von 1968, musste schmählich absteigen. Nicht nur Winfried tat das weh: Irgendwie war der Franke ins Herz getroffen, als den „Glubb“ der erste seiner zahlreichen Schicksalsschläge traf. Als 13-jähriger zeigt man so etwas nicht, sondern lässt seinen kleineren Bruder, dem die Verwandtschaft die Nürnberg-Begeisterung eingepflanzt hatte, Häme und Spott spüren. Naja, zugegeben, Dortmund hatte sich auf Platz 16 auch nur gerade so retten können …

Uwe Seeler in Schwarz-Weiß

Inzwischen war auch der Schwarz-Weiß-Fernseher in den Haushalt eingezogen und die 1966er-Weltmeisterschaft war das erste mediale Fußball-Ereignis: Uwe Seeler kickte sozusagen direkt im Wohnzimmer. Aber so langsam setzte bei mir die Distanzierung ein. Brot und Spiele für die Massen – das war nichts für den Heranwachsenden, der sich gerne intellektuell gab. Die Aufmerksamkeit verlagerte sich; das Dortmunder Schicksal – der Abstieg 1971/72 – besiegelte mein Interesse am Fußball ebenso wie der erste Geld-Skandal 1971. Denn damals wurde auch klar: Bundesliga, das ist das große Geschäft. Fünf Jahre später wurde für Roger van Gool die erste Ablöse-Million gezahlt, aus heutiger Vierzig-Millionen-Perspektive ein „Peanut“. Die Zeiten, in denen der Lauterer Torwart nebenbei die Vereinswirtschaft betrieb, die gingen zu Ende. Die Professionalisierung war unvermeidbar, die Begleiterscheinungen traurig.

Eine zaghafte Rückkehr zum Fußball – wann kam die? Vielleicht 2001, als Schalke die Schale schon sicher in Händen wähnte – und dann „brutal aus seinem Meisterjubel gerissen wurde und ins Tal der Tränen stürzte“. Das war so ein Moment, der zeigt: Fußball ist doch nicht nur das kalte Geschäft, sind nicht nur die Spielermarionetten, die von PR-Abteilungen mit fertig vorgestanzten Sätzen programmiert werden. Fußball hat doch etwas mit großen und tiefen Emotionen zu tun. Mit Zugehörigkeit. Mit Schicksal. Manche fußballskeptischen Freunde meinen, ich sei altersmilde geworden. Kann sein. Aber vielleicht eben auch altersweise.

Wallfahrtsort für Schalke-Fans - muss man nicht weiter vorstellen ... Foto: Häußner

Wallfahrtsort für Schalke-Fans – muss man nicht weiter vorstellen … Foto: Häußner

Seither hege ich eine solidarische Sympathie für die Gelsenkirchener. Und habe meine alten Dortmunder wiederentdeckt – nicht erst seit dem glanzvollen Meisterschaft-Doppel 2011/12. Geht gar nicht, sagen meine Freunde im Ruhrgebiet: Man kann nicht gleichzeitig für die Blau-Weißen und für die Schwarz-Gelben sein. Ist mir wurscht, sage ich als an der Ruhr gastierender Franke. Als solcher ist mir – und damit ist meine persönliche Fußball-Trias komplett – auch der „Club“ nicht ganz egal. Immerhin habe ich in Nürnberg mein erstes Bundesligaspiel live erlebt. Warten wir die Jahre ab: Wer weiß, wie sich die Fußball-Fieberkurve noch entwickelt. Wenn ich doch den Anfall kriege, weiß ich schon das Gegenmittel: Ich kauf‘ mir ein Ticket, am besten, wenn der Club auf Schalke spielt – oder in Dortmund…




TV-Nostalgie (3): „Einer wird gewinnen“ mit Kulenkampff – Bildung auf charmante Art

Die 1960er Jahre waren in der Bundesrepublik zweifellos die ganz große Fernsehzeit. Da saß oft noch die ganze Familie gemeinsam vor dem Gerät; ganz besonders dann, wenn große Samstagabendshows wie Hans-Joachim Kulenkampffs „Einer wird gewinnen“ (EWG) auf dem Programm standen.

EWG lautete auch die Abkürzung für Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, den frühen Vorläufer der EU. In jenen Jahren herrschte noch europäische Zuversicht, obwohl die Schlagbäume noch unten und die Währungen verschieden waren.

Für die ganze Familie

„Kulis“ Show war jedenfalls rundum so nett, elegant, lehrreich und jugendfrei, dass man nach dem samstäglichen Bad auch als Kind zuschauen durfte. Die erste, heute längst legendäre Staffel lief von 1964 (Start am 25. Januar) bis 1969. Im Internet ist eine Sendung in voller Länge greifbar, die am 12. März 1966 aus Wiesbaden übertragen wurde. Damit bin ich noch einmal in die damalige Zeit eingetaucht.

Hans-Joachim Kulenkampf flirtet mit der Kandidatin aus Österreich, der späteren Siegerin der EWG-Sendung vom 12. März 1966. (Screenshot von http://www.youtube.com/watch?v=uyBoIs9XYjc)

Hans-Joachim Kulenkampf flirtet mit der Kandidatin aus Österreich, der späteren Siegerin der EWG-Sendung vom 12. März 1966. (Screenshot von http://www.youtube.com/watch?v=uyBoIs9XYjc)

Nur mal ein paar Namen, um den Horizont abzustecken: Die Gesangseinlagen dieser Sendung kamen von Gerhard Wendland und Lisa della Casa, Willy Berking dirigierte das Orchester. Zum Inventar zählten aufwendige Bühnenbauten, schalldichte Kabinen und eine ebenso hübsche wie eifrige Assistentin (Uschi Siebert), wie denn ohnehin ständig dienstbare Geister über den Bildschirm wuselten und eilends Utensilien brachten oder fortschafften.

„Kuli“ und die Damenwelt

Wie „altfränkisch“ die Menschen seinerzeit noch ausgesehen haben, wenn man es aus der Rückschau betrachtet. So adrette Kandidatinnen und Kandidaten gibt es heute nicht mehr. Die Schwenks ins Publikum zeigen zudem, dass praktisch alle Herren Anzug mit Krawatte trugen und die Damen artige Kleidchen.

„Kuli“ selbst, der sich in den ersten Minuten stets mit einer geschliffen formulierten Solo-Conférence für die meist rund zweistündige Sendung (Überziehen gehörte unbedingt dazu) wohlig „warmplauderte“, versprühte auch hernach jede Menge Charme; zumal, wenn weibliche Kandidaten an die Reihe kamen. Wie er sich ihnen buchstäblich zuneigt, ja im Wiegeschritt gleichsam wie auf Freiersfüßen geht und dabei allzeit lächelnd kokettiert („Ich habe heute kein Glück bei den Frauen“), das ist sprachlich und körpersprachlich immer noch ein Genuss, auch wenn man sich den allermeisten Frauen heute nicht mehr so nähern sollte.

Erstaunliche Allgemeinbildung

„Einer wird gewinnen“ war im Kern eine recht anspruchsvolle Quiz-Sendung mit ziemlich kultivierten Einlagen wie etwa Opern-Auszügen. Man fasst es stellenweise nicht, was damals noch gewusst wurde und offensichtlich zur klassischen Allgemeinbildung gehörte. Wie aus der Pistole geschossen (so sagte man damals) kam etwa die Antwort auf die Frage, welche drei göttlichen Grazien der sagenhafte Paris bei seinem Apfel-Urteil vor sich hatte: Aphrodite, Hera, Athena. Nun mal ehrlich…

Und das war nur eine von etlichen kniffligen Aufgaben. Bei der Bewertung der Antworten konnte „Kuli“ übrigens auch schon mal ein bisschen streng werden. Als die Holländerin Puccinis Oper „La Bohème“ nicht erkannte, wurde sie zwar scherzend, aber doch entschieden gerüffelt.

Wie selbstverständlich konnte der Showmaster denn hie und da auch beispielsweise Goethe-Zitate einstreuen – ganz im Vertrauen darauf, dass die meisten Leute wussten, worauf er anspielte. Das traut sich heute bestenfalls noch Harald Schmidt vor einem nächtlichen Nischenpublikum.

2000 Mark Siegprämie

Nun gut, es war auch eine etwas elitäre Vorauswahl. Die pro Sendung acht Kandidaten stammten in der Regel aus ganz Europa und darüber hinaus, in besagter Ausgabe aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Holland, Jugoslawien, der damaligen Tschechoslowakei sowie aus den USA und Israel. Alle sprachen zumindest leidlich Deutsch, gleich mehrere trugen Doktortitel. Es war eben nicht zuletzt bürgerliches Bildungsfernsehen.

Für all die Mühen und das Kopfzerbrechen gab es am Ende natürlich keine Million wie heute manchmal bei Jauch, sondern für die Sieger gerade mal 2000 Mark, was damals immerhin auch ein kleiner Batzen war.

Schlussritual mit Butler Martin

Keine Kultsendung ohne Ritual. Bei „Kuli“ war es bekanntlich der Butler Martin Jente (hauptberuflich hochkarätiger TV-Produzent), der seinem „Herrn“ am Schluss immer formvollendet in den Mantel half und ihm dabei ein paar kleine Gemeinheiten unterjubelte. Da hielt – ganz nebenher – auch eine Spur des englischen Humors Einzug ins deutsche Fernsehen.

______________________________________________________________

Der Beitrag ist ihn ähnlicher Form zuerst bei www.seniorbook.de erschienen




Götz George als sein umstrittener Vater Heinrich: Entlastung aus lauter Sohnesliebe

Seit Wochen schreiben die Zeitungen in gehöriger Länge darüber. Jetzt ist das Fernseh-Ereignis erstmals bei arte zu sehen gewesen. In „George“ spielt der große Götz George seinen vielleicht noch größeren Vater Heinrich George. Der hatte sich in der NS-Zeit zutiefst verstrickt und in üblen Propagandafilmen wie „Jud Süß“ oder „Kolberg“ mitgewirkt.

Ein wahrlich heikles, geschichtlich schwer belastetes Thema, das unbedingt eine filmische Aufarbeitung wert ist. Man kann nur zu gut verstehen, dass Götz George sich dem Mythos seines Vaters nähern möchte, der ihn seit jeher umtreibt. Aber es war wohl keine gute Entscheidung, dass er den Altvorderen selbst dargestellt hat. Was da alles mit hineinspielt! Und wie da in nahezu jeder Szene die dringend nötige Distanz fehlt…

Götz George als Heinrich George - in der Rolle des "Götz von Berlichingen". (© SWR/Thomas Kost)

Götz George als Heinrich George – in der Rolle des „Götz von Berlichingen“. (© SWR/Thomas Kost)

Fehlende Distanz

Natürlich läuft der Film also letzten Endes auf eine weitgehende Entlastung des Schauspielers Heinrich George hinaus – allen Brüchen zum Trotz. Wer auch hätte Götz George zum 75. Geburtstag den innigen Wunsch ausschlagen sollen, seinem Vater Gerechtigkeit widerfahren zu lassen? Allerdings ist es eben die Gerechtigkeit des liebenden, allzeit bewundernden Sohnes, der seinen Vater ganz am Schluss noch einmal persönlich anspricht: „Du warst halt immer besser. Besessener.“ Sicherlich ist das sehr berührend und geht zu Herzen. Doch man kann Heinrich George auch ungleich kritischer betrachten, als Götz George dies vermag. Dann hätte man wahrscheinlich auch nicht Heinrich Georges „Faust“-Inszenierung im russischen Lager derart breiten Raum gegeben.

Fakten und Fiktion vermischt

In manchmal kaum noch überschaubarer Weise vermischen sich in Joachim Langs Film, der zehn Jahre Recherche erfordert haben soll, Fakten und Fiktion, dokumentarische und gespielte Sequenzen. Eins fließt ins andere, so dass man als Zuschauer bisweilen gar nicht mehr weiß, woran man momentan ist. Da geht der zivil gewandete Götz George mit seinem älteren Bruder Jan durch Schauplätze des Films. Sodann wird er als Heinrich George für große Rollen („Götz von Berlichingen“) geschminkt. Dazwischen sieht man seinen Vater in alten Schwarzweiß-Aufnahmen in derselben Rolle. Und so fort. Stellenweise ist es noch komplizierter, als ich es hier schildern möchte.

Hinterhältige Russen

Dramaturgische Leitlinie ist die hartnäckige Befragung Heinrich Georges durch die russischen Besatzer, die ihm partout nachweisen wollen, er sei ein Faschist gewesen. Die Russen erscheinen anno 1945 als unnachsichtige, durchaus hinterhältige Triumphatoren, die auch schon mal ein entlastendes Dokument verschwinden lassen und ansonsten in altbekannter Manier gerne antreiberisch „Dawai, Dawai“ rufen. Vor einem solchen Tribunal muss Heinrich George (trotz mancher Verfehlungen) wie ein unschuldig Verfolgter aussehen. Erst recht, wenn er seinen kleinen Sohn Götz am Lagerzaun in die Arme schließt und überwältigt „Mein Großer – Kleiner“ ausruft. Dann muss man einfach auf seiner Seite sein. Muss man tatsächlich?

Verstrickung ins NS-Regime

Freilich ist das Ganze auch eine Studie darüber, wie einer, der angeblich nur der hehren Kultur dienen und sich unpolitisch geben will („Ich bin nur Schauspieler, sonst nichts“), den braunen Machthabern umso mehr auf den Leim gehen konnte. Vom NS-Propagandaminister Joseph Goebbels ließ er sich – mehr oder weniger wider Willen – einspannen und zum Intendanten des Berliner Schillertheaters ernennen. Vor lauter Eitelkeit ließ er sich hinreißen, dem Regime zu Diensten zu sein. Andererseits rettete er einige jüdische oder linke Theaterleute vor Tod und Drangsal. Es war eine furchtbare Gratwanderung.

Götz George als Heinrich George - bei einer Rundfunkrede im Sinne der NS-Machthaber. (© SWR/Thomas Kost)

Götz George als Heinrich George – bei einer Rundfunkrede im Sinne der NS-Machthaber. (© SWR/Thomas Kost)

Bei aller problematischen Herangehensweise haben wir beachtliche schauspielerische Leistungen gesehen, das Ensemble des Films sucht ja auch Seinesgleichen. Vor allem Martin Wuttke als Goebbels und Muriel Baumeister als Heinrich Georges Frau Berta Drews oder auch Hanns Zischler als Maler Max Beckmann (der ein Familienporträt der Georges für die Villa am Wannsee malte und dann ins Exil ging) ragten heraus – von Götz George selbst gar nicht zu reden, der sich jedoch notgedrungen in der familiären Nähe verheddern musste.

Missbrauchtes Genie

Höchst eindrucksvoll waren auch einige Zeitzeugen, deren teils Jahrzehnte zurück liegende Aussagen zwischendurch eingespielt wurden. Und Heinrich George selbst. Schon die kurzen Filmausschnitte (u. a. aus Puschkins „Der Postmeister“) ließen ahnen, welch ein Genie er gewesen ist. Umso betrüblicher, dass er missbraucht wurde und sich missbrauchen ließ.

Die ARD wird „George“ am Mittwoch, 24. Juli, leider erst ab 21.45 Uhr ausstrahlen. Götz Georges Zorn über den ungünstigen Ferientermin, an dem Millionen Menschen in Urlaub sind, kann man nachvollziehen.

__________________________

Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst bei www.seniorbook.de erschienen.




Das zwiespältige Phänomen John F. Kennedy – eine neue Biographie von Alan Posener

Die Welt am Rande des Nuklearkrieges, politisches oder auch militärisches Desaster in Kuba und Vietnam, massive Rassenunruhen im Inneren des eigenen Landes und schließlich der Bau der Berliner Mauer, der den Fall des Eisernen Vorhanges für Jahrzehnte besiegeln sollte: Eine solche Bilanz scheint eigentlich nicht geeignet, einen Mythos zu begründen. Warum John F. Kennedy bis zum heutigen Tage dennoch wie ein Säulenheiliger betrachtet wird, damit befasst sich Alan Posener in seiner Biographie über den 35. Präsidenten der Vereinigten Staaten.

Eine Spurensuche. Dabei drängt sich unweigerlich die Frage auf: Kann der Autor, Korrespondent bei der „Welt“-Gruppe, der schon Monographien u.a. über Franklin D. Roosevelt, John Lennon und William Shakespeare verfasst hat, Altbekanntem überhaupt etwas Neues hinzufügen? Darauf hebt Posener auch gar nicht ab, ihm geht es um das Phänomen Kennedy, dem er sich aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln nähert. Eben diese verschiedenen Betrachtungsweisen auf das Wesentliche zu konzentrieren, zusammenzuführen und sich nicht in Verschwörungstheorien über den Mord vom 22. November 1963 zu verheddern oder Kennedys Frauenaffären weidlich auszubreiten, genau darin liegt die Stärke des Buches.

U1_978-3-498-05313-0.indd

Aus dem familiären Hintergrund filtert Posener sehr anschaulich heraus, welchem Anspruchsdenken „Jack“ Kennedy durch seinen ehrgeizigen Vater ausgesetzt war: Nur die Sieger zählen, niemals die Nächstplatzierten. Dieses Denken sei, so der Autor, tief im Bewusstsein des Präsidenten verhaftet gewesen. Als die Demokraten ihn als Kandidaten für das höchste Staatsamt auf den Schild heben, hat er es zuvor geschafft, sich als „Politiker neuen Typs“ zu positionieren, der über Fraktionskämpfen und Interessengegensätzen steht. In ihm und seinen politischen Zielen, welche es auch immer sein mögen, können sich viele Amerikaner wiederfinden.

Das Bild von Kennedys Amtsführung, das der Nachwelt erhalten bleibt, ist, wie der Autor hervorhebt, ebenfalls von einem Kurswechsel geprägt, einer neuen Kultur, die mit dem Präsidenten und seiner Frau Jackie Einzug ins Weiße Haus hielt. Hier ist nicht mehr nur Platz für den politischen Führungszirkel, sondern vor allem auch für Intellektuelle und Persönlichkeiten aus Film, Musik und Wirtschaft.

Im kollektiven Gedächtnis erhalten ist von Kennedy, dass er die Kuba-Krise zu meistern wusste, den Berlinern das Gefühl verlieh, der mächtigste Mann der Welt sei einer von ihnen („Ich bin ein Berliner“), und dass er den Schwarzen versicherte, ihr Kampf sei ein gerechter. Poseners Buch ist aber auch durchaus eine Fundgrube für gegenteilige Positionen, stand doch die Welt 1962 am nuklearen Abgrund, reagierten die USA sehr spät auf den Mauerbau und schließlich: War nicht Kennedys Eintreten für die Rechte der Schwarzen vor allem wahlkampftaktischem Kalkül geschuldet?

In der Frage der Vietnampolitik besteht für Posener kein Zweifel, dass Kennedy ein hohes Maß an Verantwortung für die Eskalation des Krieges getragen hat. Sicherlich sei bei ihm eine gewisse Skepsis gegenüber einer Militärhilfe noch in den 50er Jahren erkennbar gewesen, aber die Sichtweise habe sich später geändert. „In Kennedys Denken spielt Südvietnam also für Asien eine ähnliche Rolle wie West-Berlin für Europa“. Dass Kennedy im Falle einer Wiederwahl einen Rückzug aus Indochina angestrebt habe, gehört für Posener in das Land der Legenden.

Zur Wahrheit über Kennedy zählt nach den Ausführungen von Posener nicht zuletzt auch dessen Medikamentenabhängigkeit. Ohne Arzneien hätte er seine Rücken- und Magenprobleme und schließlich auch seine Antriebslosigkeit nicht beherrschen können. Für den Autor eine Dimension, die angesichts der Machtfülle eines Präsidenten Angst mache – auch in einer historischen Rückschau.

Bedenklich stimmt zudem das „Herrschaftssystem“, das nach den Ausführungen von Posener mit Kennedy verbunden war. Es passt so gar nicht in das Bild eines liberalen Politikers und vorbildlichen Demokraten. Neid, Missgunst, Intrige und Machtmissbrauch gehörten laut Autor zum Alltag. Doch Kennedy habe es sehr geschickt verstanden, sich selbst in Szene zu setzen.

Zum Nimbus des Präsidenten habe sicherlich, erläutert der Autor, auch das Attentat auf ihn beigetragen. Es bot Anlass für eine Fülle an Mutmaßungen über mögliche Hintermänner und internationale Verflechtungen. Was aber hätte es zur Folge, wenn Harvey Oswald nichts anderes als ein (verwirrter) Einzeltäter war? Kennedys Tod wäre dann eben nicht von Castro oder Chruschtschow in Auftrag gegeben worden und somit auch kaum geeignet, ein Heldenepos zu schreiben. Schlicht- statt Lichtgestalt.

Alan Posener: „John F. Kennedy. Biographie“. Rowohlt-Verlag, 200 Seiten, 18,95 Euro




Dortmund damals: Beim Betrachten alter Bilder aus der Heimatstadt

Manchmal entdecke ich im Internet Vorlieben wieder, die zwischendurch geschlummert haben. Da gibt es z. B. intelligente Schwärme, die schöne, noch schönere oder gezielt hässliche Worte aufspüren, was sich mitunter als Hauptspaß, seltener auch als Tiefsinn erweist. Doch hier und jetzt geht es um alte, zuweilen nostalgische Fotos aus meiner Heimatstadt Dortmund.

Bei Facebook und wohl auch in anderen Netzwerken tummelt sich dazu die eine oder andere Interessengruppe, die mit Fleiß und Akribie bei der Sache ist. Eine hat sogar rund viertausend Mitglieder: Man kann dort quasi keinen Pflasterstein oder Grashalm aus der Stadt posten, den nicht irgend jemand wiedererkennen, exakt benennen und mit historischen Hintergrundinfos anreichern könnte.

Da gibt es Leute, die sich mit lokalen Details offenbar mindestens ebenso gut auskennen wie Stadtarchivare, Regionalhistoriker oder Fachleute vom Katasteramt – und das nicht aus Pflicht, sondern aus Leidenschaft, die bekanntlich bei jeder Anstrengung Flügel verleiht. Amateure, so kann man hier mal wieder sehen, sind keineswegs Dilettanten. Sie heben denn auch ungeahnte Bilderschätze.

Ich selbst habe als Kind kaum fotografiert – und erst recht nicht als Jugendlicher. Das galt damals als „uncool“. Schade drum, sonst hielte man heute die eine oder andere Erinnerung mit städtischem Kolorit in den Händen. Von digitaler Dauerknipserei ahnte man noch nichts.

Nicht nur, aber auch wegen dieses Defizits habe ich heute ein Faible für historische Fotos aus der Stadt – ungefähr zwischen 1860 und 1980 ist so manches An- und Aufregende zu finden. Den jeweiligen Zeitgeist kann man geradezu einatmen oder aus den Bildern trinken.

Wie sich die Straßen und ganze Stadtteile gewandelt haben! Welche (hie und da noch dörfliche) Beschaulichkeit oder Pracht in der oder jener Ecke früher geherrscht hat! Wie glanzvoll war ehedem die Kaiser-Wilhelm-Allee, die heute als Hainallee vergleichsweise kümmerlich wirkt. Wie schmuck war die Hohenzollernstraße in der östlichen Innenstadt. Auch da zeugen nur noch Restbestände von damals. Wie weh wird einem zumute, wenn man all die tiefen Wunden sieht, die dann die Bomben des elenden Weltkrieges gerissen haben. Von den Menschenleben natürlich ganz zu schweigen.

Danach war Dortmund – ehedem freie Reichsstadt und Hansestadt – zwar keine geschichtslose, doch in weiten Teilen eine gesichtlose(re) Stadt: Die sozialdemokratische Abrisswut zur Schaffung von Verkehrsschneisen tat nach 1945 ein übriges. Und heute wanken manche denkmalgeschützten Bauten, wenn ein Großinvestor winkt.

Über lange Zeiträume betrachtet, blieben im Stadtplan lediglich Grundstrukturen wie etwa der Wallring, der Hellweg oder (bedeutend kleinteiliger) das Rund des Borsigplatzes erhalten. Auch die Westfalenhalle und die großen Sportstätten haben immerhin über einige Jahrzehnte nicht ihre Gestalt, wohl aber ihren Platz behauptet.

Ein besonders eigentümliches Gefühl beschleicht einen dann, wenn man alte Fotos aus dem Viertel sieht, in dem man aufgewachsen ist; womöglich gar noch aus der passenden Zeit. Häuser, die man damals gar nicht richtig beachtet hat (als Kind hat man ja auf „Jugendstil“ und dergleichen gepfiffen), wirken da auf einmal wie Persönlichkeiten oder gar wie Freunde, die über all die Jahre hinweg immer da gewesen sind. Es ist, als könnte das Spiel von neuem beginnen.

Man kann den historischen Bildern schon beim flüchtigen Hinsehen einige generelle Erkenntnisse entnehmen, die so ähnlich für viele Städte gelten dürften. Man vergleiche: Nicht nur die Autos haben die ehedem unverstellten Straßen schrecklich überwuchert, auch das Fernsehen hat zwischenzeitlich verheerend gewirkt, weil seither abends weniger Menschen die Stadt bevölkert haben.

Staunenswert war allein schon die Vielzahl der Dortmunder Caféhäuser und Amüsierbetriebe, etwa in den 20er Jahren. In den 50ern hatte dann nahezu jeder Vorort sein eigenes Kino – und nun schaue man sich die heutige Situation an. Bis in die 1960er Jahre hinein gibt es Bilder, die von einer vollen Innenstadt zeugen, in der ganz offensichtlich mehr Betrieb war als heute.

Speziell in Dortmund und dem Ruhrgebiet zeigen sich selbstverständlich die Monumente der alten Industrie – Zechen, Stahlwerke, Brauereien. Doch nicht nur das. Welch ein imposantes Theater hat es einst in dieser Stadt gegeben, welch einen prächtigen Amüsierpalast am Fredenbaum, welch einen repräsentativen Hauptbahnhof! Und welch eine großartige Synagoge, die 1938 von braunen Horden ruchlos zerstört wurde!




Kulturdenkmal besonderen Ranges: 100 Jahre Pferderennbahn in Dortmund-Wambel

Durch schieren Zufall bin ich darauf gestoßen, dass die Galopprennbahn in Dortmund-Wambel vor ziemlich genau 100 Jahren eröffnet worden ist. Am 3. Juli 1913 wurde dort das erste Rennen ausgetragen.

Wenn ich es recht sehe, so ist dieses doch recht gewichtige Jubiläum von den Print-Medien und vom Hörfunk fast durchweg ignoriert oder vollends vergessen worden. Offenbar ist der Dortmunder Rennverein, der die Bahn betreibt, auf Berichterstattung auch nicht allzu versessen gewesen, sonst hätte man doch wohl schon im Vorfeld die werbliche Trommel geschlagen. So aber sieht es fast nach Desinteresse oder gar Resignation aus.

Alle Bilder zu diesem Beitrag sind im September 2008 entstanden. (© Bernd Berke)

Alle Bilder zu diesem Beitrag sind im September 2008 entstanden. (© Bernd Berke)

Wirtschaftliche Probleme

Um Pferderennen ist es in Deutschland generell nicht gut bestellt. Seit etlichen Jahren gehen Zuschauerzahlen und Wettumsätze zurück. Auch die Dortmunder Rennbahn ist zwischenzeitlich wirtschaftlich ins Schlingern geraten. Es war sogar einmal vom Verkauf des weitläufigen Geländes an Investoren die Rede. Man kann nur hoffen, dass sich gegen derlei monströse Vorhaben (falls sie denn jemand wieder aufgreifen sollte) starker Bürgerprotest regen würde.

Neuerdings streiten sich die Parteien in der Bezirksvertretung um die Nutzung nach einem bereits erfolgten Teilgrundstücksverkauf an der Rennbahn. Hier sollen nach den jetzigen Plänen Seniorenwohnungen entstehen – offenbar ohnehin eine der hauptsächlichen Bauaufgaben im gesamten Stadtgebiet.

20080911_9999_22

Die Bauten auf dem Areal und rings um die Rennbahn ergeben ein großartiges Ensemble aus den 1910er und 1920er Jahren, wie es in der Stadt sonst nicht vorzufinden ist. Manches steht unter Denkmalschutz. Und in der Tat haben wir es hier mit einem Kulturdenkmal zu tun. Bis 2012 gab es hier auch einen schönen schattigen Biergarten, für den sich leider noch kein neuer Pächter gefunden hat. Zusatzeinnahmen bringt immerhin der Golfplatz im Innenfeld der Rennbahn.

Ein paar Stichworte zur Vorgeschichte: Bereits 1886 war der Dortmunder Rennverein gegründet worden, den allerersten Renntag gab’s am 18. September 1887, damals noch im Freizeit- und Vergnügungspark Fredenbaum, 1893 zog man zur Buschmühle (heute Bestandteil des Westfalenparks) um und 1913 just zum heutigen Standort in Dortmund-Wambel, wo traditionell u.a. das Deutsche St. Leger ausgetragen wird. 1981 enstand zusätzlich eine Sandstrecke mit Flutlicht, wodurch Wambel zur ersten Allwetterbahn Europas wurde.

Gut gemischtes Publikum

Ruft man im Internet ein Luftbild von Dortmund auf, so ist das Riesenrund der Pferderennbahn – außer dem Gebiet des Phoenixsees – eine der ersten Stätten, deren Gestalt sich schon aus großer Höhe abzeichnet; übrigens lange vor dem vergleichsweise kleinen Westfalenstadion, das im Sponsorendeutsch bekanntlich Signal Iduna Park heißt.

20080911_9999_25

Nach der Schule habe ich ein paar Monate lang in einem Pferdewettbüro der Dortmunder Innenstadt gearbeitet. Es war damals eine Gelegenheit, Teile der hiesigen Halbwelt zumindest von Angesicht kennen zu lernen. Einige Herren trugen die Hunderter bündelweise in den Jackentaschen bei sich und führten schon mal ziemlich grobschlächtige Reden, um es vornehm auszudrücken.

Andererseits weiß man, dass sich zu den Renntagen auch durchschnittliche, gediegene und sogar halbwegs erlauchte Kreise der Gesellschaft einfinden. In der reichhaltigen Mischung sind „Turffreunde“ allemal ein interessantes Publikum. Überhaupt kann man die ganze Atmosphäre eines Renntags (der nächste steht am 9. September an) durchaus inspirierend nennen – vom Wettfieber einmal ganz abgesehen.




Auschwitz auf der Opernbühne: „Die Passagierin“ als DVD-Edition

51PRfuZM1DL

Dies ist eine nachdrückliche Empfehlung: Die DVD der Bregenzer Aufführung von Mieczysław Weinbergs Oper „Die Passagierin“ überzeugt durch präzise Inszenierung, durchdachtes Bühnenbild, spannungsvollen Handlungsablauf, die Figurenzeichnung und -verkörperung, die Rezitative sowie den Einzel- und Chorgesang und durch die orchestrale Musik.

Nie hätte ich vorher gedacht, dass es möglich wäre, noch dazu überzeugend möglich wäre, ein derartiges Thema ins Zentrum einer Oper zu stellen. Zwar, dass man sich auch an diesem Thema mal vergreifen können würde, habe ich schon vor 30 Jahren geargwöhnt, als ich mal gesprächsweise prognostizierte, dass der Tag nicht fern sei, dass man auch aus Auschwitz noch ein Musical machen werde.

Was ich damals noch nicht wusste, was fast jeder nicht wissen konnte, war dies, dass eine Oper zu diesem Thema schon seit dem Jahre 1968 existierte. Eine Oper übrigens, die auch ihr Komponist, ein russischer Komponist mit polnisch-jüdischen Wurzeln, den ich vor drei Jahren noch nicht einmal namentlich kannte, zeitlebens nie in einer Aufführung hören konnte, nämlich weil sie nie aufgeführt wurde, in der UdSSR nicht aufgeführt werden durfte.

„Als er in den letzten Jahren seines Lebens gefragt wurde, welches Werk er für sein wichtigstes halte, antwortete Weinberg ohne Zögern: D i e P a s s a g i e r i n. Noch zwei Tage vor seinem Tod 1996 klagte er gegenüber Alexander Medwedjew, dem Librettisten des Werkes und bedeutenden Musikwissenschaftler, dass er das Werk nie gehört habe. Um ihn zu trösten, versprach Medwedjew, ,doppelt‘ genau zu hören, falls die Uraufführung jemals stattfinden würde: einmal für den Komponisten und einmal für sich selbst. Medwedjew konnte sein Versprechen am 25. Dezember 2006 bei der konzertanten Aufführung des Werkes im Swetlanow-Saal des Moskauer Hauses der Komponisten einlösen.“ (Zitat aus David Fanning: Mieczysław Weinberg / Auf der Suche nach Freiheit“ / aus dem Englischen von Jens Hagestedt, Wolke Verlag, Hofheim 2010, S. 131)

Im Sommer 2010 hatte ich zwar in einem sehr positiven Bericht der Sendung „Kulturzeit“ in 3sat mitbekommen, dass Weinbergs Oper im Rahmen der Bregenzer Festspiele aufgeführt worden sei, ohne dass ich diesen Hinweis damals mehr als zur Kenntnis nahm. Erst in diesem Jahr wurde ich wieder auf Weinberg aufmerksam, zunächst durch die ganz hervorragenden, brandaktuellen Aufnahmen seiner sämtlichen Violinwerke auf 3 CDs mit Linus Roth, Violine, und José Gallardo, Klavier, dann durch 4 (inzwischen 6) CDs mit den von dem Quatuor Danel dargebotenen Streichquartetten Weinbergs, und schließlich, nachdem ich endlich gemerkt hatte, welch großartigen Komponisten ich bislang noch nicht gekannt hatte, die Opern-DVD „The Passenger“ (op. 97), von der hier vor allem die Rede ist.

Fürs Fach Deutsch war in der gymnasialen Oberstufe in NRW vor nicht allzulanger Zeit noch Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser“ als Kurs-Lektüre verbindlich vorgeschrieben. Dieser Roman kam (trotz aller kritischen Vorbehalte, die man haben könnte; vgl. etwa die Rezension von Jeremy Adler) bei den Schülern in der Regel gut bis sehr gut an. Dies habe ich in meiner allerletzten aktiven Zeit als Lehrer noch mitbekommen. Heute würde ich ganz entschieden diesen Roman mit der zunächst ganz ähnlich in deutscher Nach-Auschwitz-Zeit ansetzenden Oper konfrontieren: als Ergänzung und Kontrast für eine mit ziemlicher Sicherheit noch ergiebigere Besprechung.

Wer Opern immer noch vorurteilsvoll grundsätzlich meidet, könnte sich zumindest die der Oper zugrundeliegende Romanvorlage der polnischen Auschwitz-Überlebenden Zofia Posmysz aus dem Jahre 1962 etwas genauer ansehen. Dieser Roman mit dem gleichen Titel „Die Passagierin“ erschien auf deutsch erstmals 1969 in der Übersetzung von Peter Ball und ist inzwischen wieder neu aufgelegt worden.

Die Opern-DVD überrascht übrigens auch durch eine außergewöhnlich gute Kameraführung und durch exzellente, sehr aufschlussreiche Extras, so mit einem Documentary unter dem Titel „In der Fremde“. (Je nach dem, wo man diese DVD der Firma NEOS erwirbt, kostet sie zwischen 30 und 40 Euro.)




Kennedys frühe Deutschland-Reisen: Seine Berlin-Rede hatte eine lange Vorgeschichte

Der Besuch von US-Präsident Barack Obama ruft nicht nur Erinnerungen an den legendären Auftritt von John F. Kennedy wach, dessen Aufenthalt in Berlin sich in diesen Tagen zum 50. Mal jährt. Er bietet auch einmal mehr Anlass, die Rede des damaligen Hoffnungsträgers historisch einzuordnen und zu analysieren.

Dass die vier Worte „Ich bin ein Berliner“, mit denen Kennedy Geschichte schrieb, mehr waren als nur ein momentaner oder spontaner Ausdruck von Solidarität mit den Menschen in der geteilten Stadt, versucht Oliver Lubrich in seinem neuen Buch dem Leser nahezulegen. Es handelte sich, so betont der Professor für Neue deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik an der Uni Bern, wahrlich nicht um den ersten Besuch von JFK in Deutschland, sondern Kennedy hatte während seiner Reisen in den 30er und 40er Jahren eine ganze Reihe von Eindrücken gesammelt. Diese spiegeln sich in Briefen und Tagebüchern wider, die nach Aussage von Lubrich jetzt erstmals vollständig in deutscher Übersetzung veröffentlicht werden.

av_kennedy_unter_deutschen_rz.indd

Wer allerdings nun auf ausführliche und weitreichende Betrachtungen über Deutschland, den Krieg, Nazi-Regime und Wiederaufbau hofft, der wird den aufwändig gestalteten Band wohl eher enttäuscht zur Seite legen. Kennedy berichtet zwar über seine drei Reisen in den Jahren 1937, 1939 und 1945, doch insgesamt betrachtet, sind es nur wenige Passagen und die mitunter auch noch in knappen, kurzen Sätzen. Gleichwohl sollte Kennedy mit einigen Einschätzungen und Prognosen richtig liegen, wie es Herausgeber Lubrich in seinen ausführlichen Erläuterungen hervorhebt. Gleichwohl sind auch Aussagen zu finden, die irritierend wirken.

Kennedys erste Begegnung mit Deutschland, ein Jahr nach den Olympischen Spielen in Berlin, war Teil einer Europareise, die ihn unter anderem nach Oberammergau, München und Köln führte. Gemeinsam mit einem Studienfreund unternahm er wohl vor allem auf Geheiß des ehrgeizigen Vaters Joseph P. Kennedy die Tour durch Frankreich, Italien, Österreich und Deutschland. Tiefgreifende politische Betrachtungen sucht man hier vergebens, bis auf wenige und dann auch eher schwierige Passagen. Nachdem er seinen Herbergsbesitzer als „großen Hitler-Fan“ bezeichnet hat, schlussfolgert er: „Es besteht kein Zweifel, dass diese Diktatoren im eigenen Land aufgrund ihrer wirkungsvollen Propaganda beliebter sind als außerhalb“. Munter erzählt JFK von weiblichen Bekanntschaften und vom Besuch im Nachtclub. Doch zum Tagesablauf des Katholiken gehörten nicht nur amouröse Abenteuer, sondern auch ein klar strukturiertes Kulturprogramm. Beindruckt war er unter anderem vom Kölner Dom, „Glanzstück der gotischen Architektur“.

Als sich Kennedy zwei Jahre später erneut auf den Weg über den großen Teich macht, hat er zunächst einmal das Ziel, für seine Abschlussarbeit an der Harvard-Universität zu forschen. Das Münchner Abkommen von 1938 lieferte die Blaupause, will sich doch JFK, dessen Vater inzwischen zum amerikanischen Botschafter in Großbritannien ernannt worden ist, mit der Nachgiebigkeit der Demokratien befassen. Kurz vor Kriegsbeginn weilt er unter anderem in München, Berlin, Danzig und Warschau. Seine politischen Reflexionen sind inzwischen aber weit intensiver als noch beim Besuch 1937, wie aus einem Brief an den Freund, mit dem er die erste Deutschlandtour unternahm, hervorgeht. Kennedy gibt seiner Sorge Ausdruck, dass das NS-Regime Polen in die Rolle des Aggressors drängen könnte. Und tatsächlich: Beim Einmarsch am 1. September 1939 bezichtigt die NS-Propaganda den polnischen Staat unter anderem, den Sender Gleiwitz überfallen zu haben.

Beim dritten Besuch ist der Krieg vorbei, Kennedy arbeitet als Journalist für den Medienunternehmer Hearst und hat Gelegenheit, die Potsdamer Konferenz (17. Juli bis 2. August 1945) aus nächster Nähe zu erleben und Hitlers Berghof auf dem Obersalzberg zu besuchen. Er schreibt aber nicht nur seine politischen Einschätzungen nieder, wie etwa, dass die Russen wohl in Deutschland eine eigene Sowjetrepublik gründen wollen, er berichtet auch über die Eindrücke aus dem völlig zerstörten Berlin. „In manchen Straßen ist der Gestank der Leichen überwältigend- süßlich und ekelerregend“. Besonders geißelt Kennedy, dass russische Soldaten in großer Zahl deutsche Frauen vergewaltigen. Überhaupt sei der Umgang der Sowjetarmee mit der deutschen Bevölkerung so, „wie es die Propaganda vorhergesagt hatte“.

Verstörend wirken indes die Sätze Kennedys ganz am Ende seines Berichts, als er noch einmal auf Hitler zu sprechen kommt. „Sein grenzenloser Ehrgeiz für sein Land“ hätten ihn zwar zur Bedrohung für den Weltfrieden gemacht, aber „er hatte etwas Geheimnisvolles“. Es sei, so meint Kennedy, „der Stoff, aus dem Legenden sind.“ Der Herausgeber des Buches liefert für die Worte eine Erklärung, über die jeder Leser selbst urteilen sollte: Die Aufzeichnungen seien im Eindruck des Obersalzbergs entstanden und damit vor einer überwältigenden Naturkulisse…

Festhalten lässt sich gewiss, dass Kennedy schon bei seiner ersten Reise von der Schönheit deutscher Landschaften und Städte als auch von dem Leben der Menschen angetan war, wie es seine Aufzeichnungen bezeugen. Wahrscheinlich lässt sich mit dieser Begeisterung auch die kleine Episode erklären, mit der Kennedys Besuch 1963 in Deutschland endete. Im Gespräch mit dem damaligen Kanzler Konrad Adenauer kommt die Sprache auf die politische Großwetterlage und die schwierigen internationalen Bedingungen in Zeiten des Kalten Krieges. Kennedy erzählt nun das, was er am Vorabend bereits dem hessischen Ministerpräsident gesagt hatte. Seinem Nachfolger, also dem nächsten US-Präsidenten, werde er eine Mitteilung hinterlassen mit der Aufschrift „Bei Mutlosigkeit öffnen“. Darin stehen, so Kennedy, dann nur drei Worte: „Geh nach Deutschland“.

Oliver Lubrich (Hg.): „John F. Kennedy – Unter Deutschen“. Aus dem amerikanischen Englisch von Carina Tessari, mit einem Geleitwort von Egon Bahr. Aufbau-Verlag, 256 Seiten, 22,99 Euro.




„Das Halstuch“ – Wiedersehen mit dem „Straßenfeger“ von einst

Es war der „Straßenfeger“ schlechthin: Im Januar 1962 hatte der Durbridge-Sechsteiler „Das Halstuch“ im ARD-Programm eine unfassbare Zuschauerquote von 89 Prozent – praktisch ohne konkurrierende Kanäle. Für die Älteren war das eine prägende Fernseherfahrung der Frühzeit. Jetzt hat der Kulturkanal 3Sat die Krimireihe noch einmal ausgestrahlt – an einem Stück.

Als bekennender TV-Nostalgiker lässt man für eine solche Wiederbegegnung einen zeitgleichen Leipziger „Tatort“ ohne weiteres links liegen. Die großflächige Wiederholung des Klassikers (20.15 bis 23.50 Uhr) bot reichlich Gelegenheit, in die damalige Zeit einzutauchen. Übrigens hat der produzierende WDR damals so gespart, dass man den britischen Stoff wegen zu hoher Reisekosten nicht etwa in England aufzeichnete, sondern in…Remscheid!

Gepflegte Konversation

Wie anders ist damals im gediegenen Schwarzweiß erzählt worden! Von „Action“ im heutigen Sinne keine Spur. Erst recht keine rasanten Schnitte. Auch keine wüsten Serienmorde oder Orgien der Brutalität. Ja, nicht einmal Kraftworte.

"Halstuch"-Szene mit Dieter Borsche (li.) und Heinz Drache (Bild: ©ARD/WDR)

„Halstuch“-Szene mit Dieter Borsche (li.) und Heinz Drache (Bild: ©ARD/WDR)

Vielmehr wähnt man sich in einem gepflegten Konversationsstück, in dem sich ein wohlformulierter Dialog an den anderen reiht. Überdies geht es nicht filmisch zu, sondern wie auf einer konventionellen Theaterbühne. Auftritt – Gespräch – Abgang. Allein mit den Höflichkeitsformeln (Begrüßung, Dank und Abschied) geht die eine oder andere Minute dahin.

Wenn man freilich ein solides Ensemble zur Verfügung hat, wie damals der Regisseur Hans Quest, dann entsteht dabei keine Minute Langeweile. Um nur ein paar Darsteller-Namen zu nennen: Heinz Drache, Albert Lieven, Margot Trooger, Dieter Borsche, Hellmut Lange, Horst Tappert, Eva Pflug…

Die Geschichte um den Mord an der Schauspielerin Faye Collins, die mit einem Halstuch erdrosselt worden ist, wollen wir hier nicht mehr weiter aufrollen. Legendär wurde seinerzeit die Zeitungsanzeige, mit der der Kabarettist Wolfgang Neuss vor der letzten Folge den Täter verriet – und das, als praktisch ganz Westdeutschland den Krimi fiebernd verfolgte und gleichsam mit Inspektor Yates (Heinz Drache) ermittelte. Der tritt mit seinen Fragen zwar mitunter recht fordernd auf, bleibt aber stets korrekt. Ein Gentleman eben.

Abgenutzte Formeln

Natürlich kann man manches aus heutiger Sicht komisch finden, weil es sich mit den Jahren abgenutzt hat. Wie der Inspektor viele Aussagen mit der knappen Formel „Verstehe!“ bestätigt, wie er Zeugen immer wieder fragt „Sind Sie absolut sicher?“, wie er sonor ankündigt „Der Sache geh‘ ich nach!“ – das hat etwas Schematisches. Auch das wiederkehrende Grundmuster nach dem Motto „Wer hat wen wann wie und wo gesehen?“ wirkt zuweilen arg gestanzt.

Und trotzdem ist es spannend. Auch heute noch. Die erzählerische Geduld mit der Geschichte und ihren Figuren zahlt sich immer wieder aus. Man achtet auf jedes Wort und jede Regung. Ob junge Zuschauer heute noch eine solche Konzentration aufbrächten? Ich weiß es nicht. Immerhin dauerte damals eine Folge nur rund 40 Minuten. Also hielt sich die Geistesübung denn doch in Grenzen.

Rauchen bis zum Umfallen

Was damals nicht beabsichtigt war und kaum bemerkt wurde: Die Reihe enthält – von heute aus betrachtet – jede Menge „Zeitgeist“ jener Jahre. Da wird bei jeder Gelegenheit geraucht, bis die Feuerzeuge glühen. Und die Frauen haben keine große Rollenwahl außer der biederen Hausfrau und der verruchten Sünderin.

Doch eins ist so geblieben wie zur Zeit der Erstausstrahlung. Im Dienstzimmer des Inspektors hängt ein Porträt der Queen. Es war schon damals Elizabeth II. Nur ein kleines bisschen jünger.

(Der Beitrag ist zuerst bei www.seniorbook.de erschienen)




Wer blättert denn noch im Brockhaus?

Wie gern sehen sich manche gedruckt! Es ist ihnen ein Antrieb des Schreibens, vielleicht sogar ein hauptsächlicher.

Auch mit dem Internet hat sich diese Form des Bleibenwollen nicht erledigt, sie hat sich allerdings gewandelt, ins Flüchtige gewendet. Wenngleich man uns sagt, dass im Netz nichts verloren gehe, so beschleicht einen hin und wieder das Gefühl, mit einem Wusch könne alles hinschwinden für immer. Doch auch im Virtuellen hinterlässt man gern seine mehr oder weniger kümmerlichen Spuren, wenn es auch nicht mehr den geringsten Anschein von Ewigkeit hat.

Neuere Techniken haben eine totalitäre Tendenz; dergestalt, dass sie alles Vorherige verdecken. Um mit einem Filmtitel von Alexander Kluge zu reden, so ist es „Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“. Man hat nur noch eine vage Vorstellung davon, was ehedem gewesen ist. Wie war das noch, die Typenhebel kraftvoll zu betätigen und Buchstaben mit der mechanischen Schreibmaschine aufs Papier sausen zu lassen? Wie war das noch, den eigenen Schrieb gar von bloßer Hand zu erzeugen? Wie war das mit dem Wort in den Zeiten vor Word?

Mit den Jahren geht die Übung verloren. Man beginnt staksig zu schreiben, die Hand fährt ungelenk und etwas unbeholfen dahin. Die allermeisten verfassen kaum noch handschriftliche Briefe, allenfalls roh hingeworfene Notizen, Ideenskizzen. Ansonsten wird einem die Handschrift ungewohnt, ja vielleicht schon ein wenig befremdlich.

Just vor zwei Tagen stand in den einstweilen verbliebenen Zeitungen, dass es künftig kein gedrucktes Brockhaus-Lexikon mehr geben wird. Was früher als eherner Bestand bürgerlichen Wissens gegolten hat, ist im Schwinden begriffen. Aber wer schaut denn auch noch ins lederne Lexikon, dessen Bände zusehends veralten? Wie gern hat man darin einst geblättert; nicht immer gezielt, sondern gern kreuz und quer, von diesem auf jenes kommend, das eine oder andere unverhofft hinzu lernend.

Da dies hier ein Kulturblog aus dem Revier ist, sei der guten Ordnung halber noch vermerkt, dass der Urvater des besagten Lexikons, Friedrich Arnold Brockhaus (1772-1823), in Dortmund geboren und aufgewachsen ist. Auch hat er hier erste Geschäfte (Wollhandel) betrieben. Seine Buchhandlung als Vorläuferin des Verlags F. A. Brockhaus hat er 1805 freilich in Amsterdam gegründet. Der Mann war nach eigenem Bekunden von einer „wahren Bücherwuth“ besessen. Doch dass wir hier seinen Namen mit Wikipedia verlinken, sagt denn auch einiges über die grundlegend gewandelte Lexikographie aus.




Ein Europäer aus der bayerischen Provinz: Johann Simon Mayr zum 250. Geburtstag

Venedig, Karneval 1794: Im neuen „Teatro La Fenice“ wird die Oper „Saffo“ aufgeführt. Der Komponist ist ein „Zugereister“ aus Bayern, der sich durch einige Oratorien einen Namen gemacht hat: Johann Simon Mayr. Die Oper hat Erfolg, der 30-jährige Maestro erhält ein Jahr später erneut einen Opernauftrag: „Lodoiska“. In den kommenden Jahren sollte Mayr eine der führenden Gestalten nicht nur des venezianischen, sondern des italienischen Opernlebens werden.

 

Giovanni Simone Mayr. Bild: Archiv Häußner

Giovanni Simone Mayr. Bild: Archiv Häußner

Bis vor wenigen Jahren teilte dieser Komponist das Schicksal vieler seiner Kollegen, die in der Übergangszeit zwischen der Barockoper etwa eines Johann Adolph Hasse und der neuen Generation eines Gioacchino Rossini wirkten. Doch das Blatt hat sich gewendet: In Mayrs Heimat Ingolstadt bemüht sich seit 20 Jahren eine sehr aktive Johann-Simon-Mayr-Gesellschaft um die Wiederentdeckung seines Œuvres. An der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde eine Forschungsstelle eingerichtet. Symposien, Editionen, Dissertationen erschließen Werk, Person und Umfeld des Komponisten.

Der italienische Verlag Ricordi hat eine Ausgabe in Angriff genommen, die Zug um Zug die bisher in Archiven schlummernden Noten aus der Hand Mayrs kritisch ediert und der musikalischen Öffentlichkeit zugänglich macht. Die Folgen sind schon spürbar: In den letzten Jahren sind wichtige Opern Simon Mayrs auf die Bühne zurückgekehrt, etwa „Fedra“ in Braunschweig (2007/08), „Il Ritorno d’Ulisse“ in Regensburg (2009/10) und Mayrs wohl berühmteste Oper, „Medea in Corinto“, in St. Gallen und München (2010). Zum 250. Geburtstag Mayrs am 14. Juni 2013 führt das Münchner Rundfunkorchester in Ingolstadt die Oper „Ginevra di Scozia“ in einem Festkonzert auf.

Von Mendorf nach Venedig

Am 14. Juni 1763 wird dem Schullehrer und Organisten Joseph Mayr zu Mendorf, 25 Kilometer von Ingolstadt entfernt, ein Sohn geboren. Johann Simon, so sein Name, macht gute Fortschritte in der Musik. Im Kloster Weltenburg, wo er zur Schule geht, rühmt der Abt sein virtuoses Klavierspiel. Mit zehn Jahren erhält der begabte Sänger einen Freiplatz am Jesuitenkolleg in Ingolstadt, wechselt 1777 an die Bayerische Landesuniversität und beginnt, Theologie, Philosophie und Jura zu studieren. Nebenher verdient er sich seinen Unterhalt als Organist. Ohne theoretischen Unterricht genossen zu haben, veröffentlicht er 1786 „12 Lieder, beim Klavier zu singen“.

Ingolstadt ist damals ein Zentrum der „Illuminaten“, einer aufklärerischen Geheimgesellschaft. Mayr kommt mit der nach Freiheit, Bildung und persönlicher Vervollkommnung strebenden Bewegung in Kontakt. In dem Freiherrn Thomas von Bassus findet er einen Förderer, der ihn als Musiklehrer auf sein Schloss Sandersdorf holt. Als der Illuminatenorden 1785 verboten wird, muss Bassus fliehen. Mayr folgt ihm nach Poschiavo in Graubünden – und will sich endgültig der Musik verschreiben.

Wohl ermutigt und finanziert von Bassus geht Mayr 1789 nach Bergamo, lernt bei Carlo Lenzi, dem damaligen Kapellmeister der Kirche Santa Maria Maggiore, studiert ab 1790 in Venedig. Dort nimmt sich der renommierte Kapellmeister an San Marco, Ferdinando Bertoni, ein stark an Gluck orientierter Musiker, seiner an. Die Begegnung mit dem reichen Musikleben Venedigs und die Bekanntschaft von Komponisten wie Peter von Winter und Nicola Piccinni regen ihn an, sich der Oper zuzuwenden.

Der Bayer eignet sich schnell die Sprache und die Gewohnheiten seiner zweiten Heimat Venedig an, heiratet 1796 in eine venezianische Familie ein und ändert seinen Namen in „Giovanni Simone“. In den nächsten Jahren geht er ganz im aufreibenden Betrieb auf. Für vier der Opernhäuser Venedigs, zunehmend aber auch für Mailand, schreibt er komische und ernste Werke, typische, sogenannte „semiseria“-Opern, die Elemente der alten „Seria“ mit solchen aus der Welt der „Buffa“ verbinden.

Seine einaktigen Farcen sind im Karneval erfolgreich. Sein Ruhm dringt mit der Buffa „Che originali!“ („Was für Originale“) über Italien hinaus. Paris, München und Lissabon spielen das Werk, das die Marotten eines musikliebenden, aber ungebildeten Dilettanten in feinsinniger Satire verspottet. In Italien kann es sich bis 1830 auf den Spielplänen behaupten; in einer Ausgrabung an der Hamburger Kammeroper ist es auch jetzt wieder äußerst erfolgreich.

Der Übergang zur modernen italienischen Oper

Mit der Oper „Ginevra di Scozia“, die von Triest und Wien aus 1801 einen Siegeszug antritt, hat sich Mayr endgültig als führender Komponist der Zeit etabliert. „Ginevra“, basierend auf einem Epos aus Ludovico Ariostos „Orlando furioso“, wird als Maßstäbe setzend eingeschätzt. Die Oper auf ein Libretto Gaetano Rossis markiert den Übergang zum „Melodramma“ des 19. Jahrhunderts. Ein Hinweis ist schon die Stoffwahl: aufgegriffen wird der später so beliebte Schauplatz Schottland. Mayr und Rossi setzen nicht mehr auf die Intrigenhandlung, sondern den wechselnden Kontrast der Affekte. Lokalkolorit kommt ins Spiel; musikalische Charakterstücke kennzeichnen Personen und Schauplätze. Instrumentierung und Orchesterbehandlung sind richtungsweisend. Englischhorn und Harfe zum Beispiel werden eingesetzt, um charakteristische Farben zu erzeugen.

Einer der Biographen Mayrs, Cristoforo Scotti, meinte 1903, keiner von Mayrs Zeitgenossen habe so viel profitiert vom dramatischen Realismus Glucks, der poetischen Melodie Italiens und der Fertigkeit der Instrumentation der Deutschen. Früher sah man besonders den Einfluss Glucks, Mozarts und Haydns auf Mayr; heute sieht die Forschung eine wichtige Quelle in der französischen Revolutionsoper, die Mayr in den bisweilen engen und drückenden Grenzen der italienischen Tradition rezipiert hat.

Neben antiquierten Elementen, wie langen, reflektierenden Arien findet sich zum Beispiel in seiner „Medea“ viel Richtungsweisendes: die Verknüpfung der begleiteten Rezitative mit Arien, Duetten und Chören, die avancierte Orchesterbehandlung, der ausdifferenzierte Satz, die kühne Instrumentierung und eine fortschrittliche, im Dienste des charakteristischen Ausdrucks stehende Harmonik. Die Uraufführung vor zweihundert Jahren, am 28. November 1813, in Neapel sah Isabella Colbran, die spätere Frau Rossinis, als Medea und den Tenor Manuel Garcia, der später ein berühmter Gesanglehrer wurde, als Egeo. Als Hauptstück der Oper gilt die Szene im zweiten Akt, in der Medea die Götter der Unterwelt beschwört, ihr bei ihrer Rache zu helfen. Sie geht weit über die „Ombra-Szenen“ der Barockoper hinaus.

Als Mayr sich nach 1815 mehr und mehr aus der Opernszene zurückzog, dem neu aufstrahlenden Stern Gioacchino Rossini das Feld überlassend, konnte der allgemein geschätzte, liebenswürdige Mann auf 20 Jahre Erfolg und internationalen Ruhm zurückschauen – aber, mehr noch: er hatte die musikalische Entwicklung in Italien entscheidend vorangebracht. Zu den großen Verdiensten Mayrs gehört die Entwicklung eines modernen, sprechenden Opernorchesters.

Gebildet, gütig, generös

Der Nachwelt blieb er vor allem als Pädagoge in Erinnerung, hatte er ja einen weltberühmten Schüler, Gaetano Donizetti. Dieser besuchte als mittelloser Knabe von 1806 bis 1815 die von Mayr in Bergamo gegründete „Scuole caritatevoli di musica“. Der gebildete und belesene Mann ließ die Schüler nicht nur unentgeltlich im Gesang unterrichten, sondern sorgte für Unterweisung in Musiktheorie, Orgel, Klavier, Violine, dazu noch in Geschichte, Geographie, Mythologie und Poesie. Der fromme Mayr, der ein ausgeprägtes Mitleidsgefühl hatte, errichtete 1809 noch das „Pio Istituto Musicale“, in dem mittellose alte Musiker, Witwen und Waisen Aufnahme fanden. Für seine gerühmte Güte und Freundlichkeit spricht auch, dass er Donizetti teils auf eigene Kosten nach Bologna schickte, damit der Hochbegabte beim damals ersten Kompositionslehrer Italiens Unterricht bekäme.

Hätte der bescheidene Komponist, statt sich ab 1802 nur noch seiner Kapellmeisterstelle an S. Maria Maggiore in Bergamo verpflichtet zu fühlen, die verlockenden Angebote aus Paris, London oder Dresden angenommen – wer weiß, wie sein Nachruhm heute erklänge. Die Fama seiner guten Werke ist mit denen, an denen er sie getan hat, gestorben. Dass sein musikalischer Nachruhm gering ist, dafür hat er selbst gesorgt: er hat sich dagegen gewehrt, dass seine Partituren veröffentlicht würden.

Dass sich über Mayr dichtes Vergessen gesenkt hat, ist nicht mit einer sowieso fragwürdigen musikhistorischen Auslese zu begründen, in der das Bessere ein Feind des Guten sei. Iris Winkler, wissenschaftliche Betreuerin der Simon-Mayr-Forschungsstelle Ingolstadt, sieht in Mayr einen Komponisten von europäischem Format: „Mayr ist in einen europäischen Kontext einzuordnen, nicht nur wegen seiner Herkunft und seinem Lebensweg, sondern auch wegen seinen weit über die Musik hinaus greifenden Interessen und seiner musikalischen Sprache.“




Hose runter, Dax rauf: Der Geist protestantischer Erotik im Bochumer Schauspiel

Ach, was war das früher für eine wunderschöne Zeit: Statt mit Pornos im Internet ließen sich vor 100 Jahren die Männer noch durch eine leicht verrutschte Damenunterhose entflammen. Und zwar eine, die mit einem züchtigen Schleifchen und einer Rüsche am Fußknöchel endet und unter einem bodenlangen Rock getragen wird. Zumindest behauptet das Carl Sternheim in seinem Einakter „Die Hose“, der jetzt gemeinsam mit „Der Snob“ und „2013“ als „Trilogie aus dem bürgerlichen Heldenleben“ Premiere am Bochumer Schauspielhaus feierte.

Aus dem bürgerlichen Heldenleben. Foto: Thomas Aurin/Schauspielhaus Bochum

Aus dem bürgerlichen Heldenleben. Foto: Thomas Aurin/Schauspielhaus Bochum

Doch kann man diesen Text auch heute noch so erzählen?, fragte sich der Dramatiker Reto Finger und bearbeitete ihn lieber neu: Das wird vor allem im dritten Teil deutlich, der ursprünglich „1913“ hieß und nun in einem Dax-Konzern spielt, der „too big to fail“ werden will. Dazu muss der Patriarch ausgebootet werden, der die Firma erst groß machte, und das geschieht in König-Lear-hafter Manier, indem seine drei Töchter ihm das Aktienpaket abnehmen. Wer jetzt den Zusammenhang zwischen der rutschenden Hose und spätkapitalistischen Börsenspekulationen nicht begreift, sollte unbedingt weiterlesen. Denn der Geist des Kapitalismus liegt nicht in der protestantischen Ethik, sondern vielmehr in der protestantischen Erotik begründet. Ach, ja: Die Hauptrolle spielt Dietmar Bär, dem Fernsehpublikum bekannt aus dem Kölner Tatort.

Die Rolle des spießigen Beamten Theobald Maske verkörpert Bär mit Spielwitz und Ironie. Überhaupt ist die ganze Geschichte um die heruntergerutschte Hose seiner Frau Luise (Xenia Snagowski) einfach nur komisch: In einem altmodischen Sinne, der einen gewissen Retro-Charme entfaltet und Sommerleichtigkeit atmet. Denn Theobald vergisst seinen Ärger über seine liederliche Gattin schnell, als sie ihm durch ihr Missgeschick zwei verliebte Mieter ins Haus lockt, die seine finanzielle Lage gehörig aufbessern. Derweilen vergnügt er sich mit der Nachbarin (Katharina Linder) und offenbart, dass Moral ihm nur etwas gilt, wenn sie sich bezahlt macht. Auf jeden Fall kann er sich jetzt ein Kind leisten.

Nach demselben Prinzip verfährt sein Sohn in dem zweiten Stück „Der Snob“: Die Bühne wandelt sich von Etagenwohnung mit Perserteppich in ein mondänes Büro eines Firmenchefs und ehrgeizigen Aufsteigers (Felix Rech), dessen oberstes Ziel es ist, in bessere Kreise einzuheiraten. Dafür verleugnet er seine Familie und bietet dem Vater Geld, dass er aus seinem Leben verschwinde. Theobald nimmt’s nicht krumm, hat er diese merkantile Denkungsart seinem Sohn ja vorgelebt. Ihre persönlichen Entscheidungen folgen so einem ökonomischen Kalkül als Grundprinzip einer Gesellschaft, in der Klassenschranken fallen, weil nun der Mammon regiert.

Doch auch Christian als alter Mann und Aktien-Tycoon wird die Geister, die er rief, nicht mehr los und geht in „2013“ seinen machtgierigen Töchtern in die Falle, die sich wie die Heuschrecken von heute gebärden und auch noch stolz darauf sind. Barfuß geistert Bär alias Theobald als Wiedergänger des längst verstorbenen Vaters durch die Szene, die auf der Aktionärsversammlung des Maske-Konzerns spielt. Seine Mahnungen sind selbstverständlich in den Wind gesprochen, denn sein Sohn erntet nur, was er selbst gesät.

Einen seltsamen Zwitter zwischen Boulevard und kapitalismuskritischer Analyse hat Bochums Intendant Anselm Weber da inszeniert: Das Ergebnis ist allerdings witzig und zeigt starken Tobak von anno dunnemals in einer Ästhetik von heute. Leicht und böse zugleich – und kein bisschen langweilig.

http://www.schauspielhausbochum.de/spielplan/aus-dem-buergerlichen-heldenleben/162/




Die harte Gangart der Fotografie – Bilder von Weegee in Oberhausen

Immer `ran, gleich` ran: Wenn Weegee ein starkes Bildmotiv sieht, so hält ihn nichts mehr auf Distanz.

Dann rückt der Pressefotograf den Mördern, Opfern, Cops und Underdogs im New York der 1930er und 1940er Jahre ganz dicht auf den Leib und drückt sofort ab. Menschen, deren Behausung gerade in Feuersbrünsten niederbrennt, hält er die Kamera mitten in die entsetzten Gesichter.

Weegee: "Der Erkennungsdienst bei der Arbeit", 1941 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Weegee: „Der Erkennungsdienst bei der Arbeit“, 1941 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Seit 1935 als Freelancer tätig, kann sich der Autodidakt keine Sentimentalitäten erlauben. Er muss die besten, unmittelbarsten Bilder haben, sonst würden die sensationsgierigen Zeitungen sie nicht kaufen. „Murder is my business“, sagt Weegee einmal.

Die heute noch hinreißenden Ergebnisse seiner Arbeit sind jetzt in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen zu sehen. Die Dokumente werden längst als Kunstwerke wahrgenommen. Es liegt nicht am bloßen Verstreichen der Zeit und an der generellen musealen Aufwertung der Fotografie, sondern an wahrhaftigen Qualitäten dieser Schwarzweiß-Bilder. Die rund 100 Exponate stammen aus dem Fundus des Instituts für Kulturaustausch in Tübingen, aus dem Christine Vogt und ihr Oberhausener Team eine schlüssige Auswahl zusammengestellt haben. Übrigens gab’s im Ruhrgebiet noch nie eine Weegee-Schau.

Delinquenten verbergen ihre Gesichter: Charles Sodokoff und Arthur Webber, 1942 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Delinquenten verbergen ihre Gesichter: Charles Sodokoff und Arthur Webber, 1942 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Weegees Art zu fotografieren (buchstäblich Bilder zu „schießen“) glich einem gewaltsamen Akt. Und so wirken die Aufnahmen denn auch auf den ersten Blick. Vom krassen Blitzlicht hart und grell konturiert, unerbittlich realistisch. Doch man weiß, dass Weegee zuweilen manch ein Detail eigenhändig arrangiert hat (so stellte er etwa nach einem Mord beim Bocciaspiel die Bocciakugeln „dekorativ“ in den Vordergrund), dass er Ausschnitte mit Bedacht wählte. Auch hat er Verbrechensopfer nicht in aller möglichen Drastik gezeigt, sondern ihnen einen Rest von geradezu ästhetischer Aura gelassen. In Wien würde man vielleicht sarkastisch sagen „A schöne Leich’“.

Vor allem aber hatte Weegee – mitten im heißesten Moment – ein untrügliches Gespür für wirksame Komposition und Dynamik. Wer heute versucht, den Augenblick mit schier endlosen Reihen von Digitalbildern zu fangen (Motto: Ein Gutes wird schon darunter sein), macht sich keinen Begriff davon. Damals, in der Zeit der Plattenkameras, mussten gleich die allerersten Bilder „sitzen“. Umso erstaunlicher, dass viele inzwischen den Status von Klassikern haben. So auch jenes umwerfende Bild von der gaffenden Menge, die uns auch auf unseren eigenen Voyeurismus verweist. Wir schauen Zuschauern beim Zuschauen zu, ganz fasziniert.

Oft war Weegee (1899-1968, bürgerlich Arthur Fellig) früher am Tatort als die Polizei selbst. Ab 1938 mit der offiziellen Genehmigung versehen, den Polizeifunk abhören zu dürfen, raste der besessene Nachtarbeiter sofort los, um gleichsam auf frischer Tat zugegen zu sein. Was er dann auf Platte bannte, wäre heute und zumal in Europa so nicht mehr publizierbar. Aber damals herrschten andere Gesetze. Und in den USA geht es ohnehin anders her.

Polizei beendet Straßendusche der Kinder, 1944 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Polizei beendet Straßendusche der Kinder, 1944 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Schnell wurde der im heute polnischen Złoczew geborene Fotograf, der 1910 als Kind in die USA gekommen war, bekannt und kultivierte ein entsprechendes Image, nannte sich höchst selbstbewusst „Weegee – The Famous“ und zeigte sich gern als zerknautschter harter Kerl, allzeit mit Zigarre im Mundwinkel. Als Zeitgeist-Typus der Hardboiled-Ära hätte er jederzeit in einem Marlowe-Roman von Philip Chandler auftauchen können (wenn die nicht in Los Angeles spielen würden).

Eines seiner Fotos zeigt das unglaublich überfüllte Badeufer von Coney Island. Die vielen, vielen Menschen schauen hinauf zur Kamera, Weegee steht offenbar auf einem Podest inmitten der Massen. Er ist das Gegenteil eines „unsichtbaren“ Fotografen, der heimlich auf Motive lauert. Weegee wirft sich geradezu hinein in die Situation oder stellt sich beherrschend über sie. Dass er auch subtile, ja ätherische optische Sensationen zu erfassen weiß, zeigen seine Bilder von Stadtstrukturen, etwa vom mysteriösen Schattenwurf unter der Hochbahn.

Unter der Hochbahn, Bowery, o. J. (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Unter der Hochbahn, Bowery, o. J. (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Manche haben versucht, Teile seines Werks sozialkritisch zu interpretieren. Tatsächlich hat er ja die Schattenseiten der Gesellschaft gezeigt, hat Huren, Stripperinnen, Verbrecher, Säufer, Obdachlose oder auch die diskriminierten Farbigen in Harlem abgelichtet, doch wohl weniger aus edelmütigen politischen Antrieben. Er hat sich just in die harte Wirklichkeit begeben und dort Anzeichen sozialer Tatsachen vorgefunden, sofern man sie überhaupt sichtbar machen kann. Bei einem Fotografen mit dieser formalen Könnerschaft werden eben gültige Szenen daraus. Die Verhältnisse, sie waren so.

Ostersonntag in Harlem, 1940 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Ostersonntag in Harlem, 1940 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

So auch bei einem seiner berühmtesten Bilder, das zwei schwerstreiche Damen beim Gang in die Oper zeigt und die Aussage noch mit einem Trick steigert: Eine völlig desolat wirkende „Kritikerin“, die als Kontrastfigur auftritt, soll Weegee eigens angeheuert und unter Alkohol gesetzt haben. So obszön wirkte demgegenüber der zur Schau gestellte Reichtum, dass die Nazis das Bild zu perfiden Propagandazwecken nutzen und auf in Italien abgeworfenen Flugblättern die US-Soldaten hinterhältig fragten: „GI’s, is this what you’re fighting for?“ – „Dafür wollt ihr kämpfen?“

"Kritik", 1943 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

„Kritik“, 1943 (© Weegee/Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2013)

Einmal prominent und wohlhabend, ließ es Weegee bequemer angehen. Er unternahm Europa-Reisen, verlegte sich vor allem auf Star-Fotografie und porträtierte etwa Louis Armstrong, Marilyn Monroe, Salvador Dali, Jackie Kennedy oder auch das verzückte weibliche Publikum des Frank Sinatra. Man wähnt sich hier beinahe schon in einem Konzert der Beatles mit hysterischem Kreischen und massenhaften Mädchen-Ohnmachten.

Auch Weegees Selbstinszenierungen weisen ja schon gelegentlich voraus auf Phänomene der 60er Jahre. Nicht ausgeschlossen, dass ein Mann wie Cassius Clay alias Muhammad Ali („I am the greatest“) einige seiner Imponier-Posen von einem wie ihm gelernt hat. Bei beiden, so wissen wir, steckte wirkliche Substanz hinter dem Gehabe. Und wie!

Sollte Weegee gar ein Vorvater der Pop Art gewesen sein? Ein Bild, auf dem er sich mit Andy Warhol zeigt, könnte die Vermutung nahelegen. Doch wie verschieden sind diese beiden Typen! Ein jeder steht für seine Zeit.

Weegee – The Famous. Fotografie. Bis 8. September 2013 in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen, Konrad-Adenauer-Allee 46. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 6,50 €, ermäßigt 3,50 €.
Kombiticket mit Gasometer Oberhausen (dort ist bis Ende Dezember die Christo-Installation „Big Air Package“ zu sehen) 13 €.

Statt eines Katalogs erscheint ein Booklet für 4 €.
Wenn’s etwas mehr sein darf, so greife man zu Weegees erstmals 1945 erschienenem Buch „Naked City“.




Still und stoisch durch den Krieg gehen: „Neue Zeit“ von Hermann Lenz – wiedergelesen

Wie ist das im Zweiten Weltkrieg gewesen, Tag für Tag, bis zum bitteren Ende? Es gibt wahrlich zahllose Bücher über „Ereignisse“ jener Jahre, hin und wieder auch übers Alltägliche. Doch Hermann Lenz’ Roman „Neue Zeit“ ist und bleibt etwas Besonderes.

Erstmals 1975 erschienen, ist das Werk jetzt in einer neuen Ausgabe greifbar. Man kann es wieder und wieder lesen. Als Zeugnis des Nebenher, des Unscheinbaren, das wohl auch damals die meisten Geschehnisse grundiert hat. Als Dokument einer großen Hilflosigkeit angesichts der Zeitläufte. Als Studie darüber, wie man mitten im allergrößten Dreck ein Mindestmaß an Anstand wahren kann. Und dergleichen mehr.

Weder Helden noch Antihelden

Fernab von jeder Versuchung zum Spektakulären oder Heroischen, aber auch nicht mit vollmundiger Antikriegs-Rhetorik, ja überhaupt mit sehr zurückhaltender Wahl der Worte und Stilmittel, erzählt Lenz die Geschichte seines Alter ego Eugen Rapp, eines Studenten der Kunsthistorie, der wie in einer Art Trance durch die Wirren des Krieges geht; zunächst bei militärischen Übungen, dann als Soldat beim vergleichsweise unblutigen Einmarsch in Frankreich, sodann über Jahre hinweg an der Ostfront in Russland und schließlich in amerikanischer Gefangenschaft.

neuezeit

Die stark autobiographisch geprägte Handlung setzt 1937/38 ein und reicht bis 1945. Zu Beginn trifft der Schwabe Eugen Rapp in München ein, um sich einen neuen Doktorvater für eine Arbeit über Dürer zu suchen, denn die jüdischen Professoren in Heidelberg sind von den Nazis entlassen worden. Rapp hat sich derweil zaghaft mit „Treutlein Hanni“ angefreundet, was sich als zunehmend riskant erweist, denn die junge Frau aus hochkultiviertem Hause, die Hermann Lenz 1946 heiraten wird, ist „Halbjüdin“ (welch eine verquere Begrifflichkeit von allem Anfang an).

Sehnsucht nach gestern

Vor der immer gewaltsamer auftrumpfenden „Neuen Zeit“ und ihren üblen Protagonisten will sich Rapp in andere Epochen fortdenken. Seine innige Sehnsucht richtet sich rückwarts, beispielsweise in die Ära der friedlich verschlafenen deutschen Kleinstaaterei, ins sonst so oft geschmähte oder belächelte Biedermeier zwischen Spitzweg und Mörike. Zustimmend zitiert er einen Professor: „Da nehme ich sogar das Muffige in Kauf…Dagegen das mächtige Deutschland Bismarcks: Sie sehen, was daraus geworden ist.“

Ein weiterer, mindestens ebenso wichtiger Fluchtpunkt ist das Wien früherer Jahrzehnte, die Welt von Schnitzler und Hofmannsthal. Es entwickelt sich also eine tiefe Abneigung gegen alles Gegenwärtige, ein heimwehkranker Hang zum Früheren.

Doch einfach aus dem Jetzt wegstehlen, so die bestürzende Erkenntnis, kann man sich nicht. Und so erlebt dieser Eugen Rapp Jahr um Jahr als überaus befremdliches Vor-sich-Gehen. Warum, so fragt er sich nahezu naiv, wird überhaupt Krieg geführt? „Du aber verstehst nicht, warum ein Russe dein Feind sein soll, wenn er dir nichts getan hat…“

„Zigaretten rauchen und allein sein“

Rapp gehört nirgendwo richtig dazu, er hält sich – so gut es irgend geht – aus dem Gröbsten heraus, macht aber letzten Endes doch zwangsläufig mit: „…dich abseits fühlen, ist dir angemessen“, hält er an einer Stelle fest. Am liebsten sieht er sich so: „Sitzen. Kritzeln. Zigaretten rauchen und allein sein.“ Andererseits: „Du bist jetzt hier hineingestellt; ausweichen kannst du nicht mehr.“ Ja, einmal heißt es sogar: „Laß alles laufen, wie es will. Nur im Krieg nichts ändern wollen…“ Und dann eine solch jähe Einsicht, die einem das Hirn zerreißen müsste: „Denn wozu machst du hier mit? Damit sie hinten ungestört Menschen zu Seife machen können und den Seifemachern nichts passiert…“

Innerlich distanziert bleiben, dennoch genau hinsehen und getreulich aufzeichnen – das kennzeichnet die stoische, zuweilen auch sture Haltung dieser Figur, die wundersam unversehrt, geradezu schlafwandlerisch durch die Hölle wankt.

Die Schilderung der Vorgesetzten und „Kameraden“ schwankt zwischen individuellen Skizzen und Typenkomödie. Fast allen, so wird es hier geschildert, ist die verlorene Sache frühzeitig klar, doch von oben kommen Durchhalteparolen. Die Hierarchien bleiben bestehen. Wer eh schon oben war, bleibt auch im Krieg oben; oft auch darüber hinaus.

Dieser feine und friedliche Ton

Die wahre Sensation dieses Buches ist der durchweg leise und feine Ton. Schon von daher ist der Roman sozusagen Zeile für Zeile ein fortwährender Einspruch gegen alles Kriegerische. Es ist wie die Erprobung einer Sprache, die wieder für kommende Friedenszeiten taugt. Das immer wieder eingestreute schwäbische Idiom steht bei all dem für regionale Verwurzelung im Herkömmlichen, der freilich im Krieg alles fraglos Beschützende abhanden gekommen ist. Einerseits ist die Mundart ein Reservoir des Friedfertigen, dann wieder klingt sie nur noch begütigend. Wenn es etwa heißt, der Krieg sei „kein Schleckhafen“, so mutet das allzu harmlos an. Doch vielleicht hat man ja damals daheim so empfunden. Wenn Rapp auf Fronturlaub nach Schwaben kommt, fängt er auch die dortige, seltsam unwirkliche Lage der Verhältnisse ein.

Mit moralisch sich erhaben dünkendem Halbwissen von heute darf man freilich nicht an diesen Roman herangehen. Natürlich kann man Rapps nur ansatzweise widerspenstige Denkungsart leichthändig verdammen. Ungleich schwerer wäre es schon, dies aus dem Bewusstsein der Zeit heraus zu tun. Und überhaupt: Wer von uns hätte in vergleichbarer Situation den offenen Widerstand gewagt?

Ein gewisses Unbehagen bleibt

Gewiss, an mancher Stelle beschleicht einen Unbehagen. Hat Lenz hier eine Apologie in eigener Sache verfasst? Hat er für Hanni festhalten wollen, dass er im größten Chaos stets an sie gedacht hat, auch in Phasen allgemeiner Auflösung keinen weiblichen Anfechtungen erlegen ist und dass er ihren Ring durch all die finstere Zeit gerettet hat? Ja, das mögen durchaus Antriebe des Schreibens gewesen sein. Und doch weist der Roman weit darüber hinaus. Abermals gepriesen sei das Gespür von Peter Handke, der Lenz einst nachdrücklich empfohlen und somit über eingeweihte Zirkel hinaus bekannt gemacht hat.

Dieser Neuauflage aus Anlass des 100. Geburtstages des Autors (1913-1998) sind einige erstmals publizierte Briefe von Hermann und Hanne Lenz aus der erzählten Zeit des Romans beigegeben. Es sind Auszüge aus einem umfangreicheren Schriftwechsel, dessen Edition noch bevorsteht. Darauf warten wir jetzt.

Hermann Lenz: „Neue Zeit“. Roman. – Mit einem Anhang: Briefe von Hermann und Hanne Lenz 1937-1945. Insel Verlag. 432 Seiten, 22,95 Euro.




Allein für Vostells Arbeiten lohnt sich ein Besuch im Dortmunder „U“

In seiner Heimatstadt Leverkusen haben sie nicht nur ein Bronzeschild zu seinem Gedächtnis angebracht, nein, sogar eine Straße wurde im Jahre 2001 nach ihm benannt: Wolf Vostell, weltbekannter Künstler und auch Professor, 1931 in Leverkusen geboren und 1998 in Berlin gestorben, ist im Dortmundern Museum mit einigen hervorragenden Werken vertreten, und allein das scheint mir ein ausreichender Grund zu sein, mal wieder ins „U“ zu pilgern.

Straße in Vostells Geburtsstadt Leverkusen.

Straße in Vostells Geburtsstadt Leverkusen.

Ein Hauptthema im „Museum Ostwall im Dortmunder U“ sind Fluxus und Happening – Kunstbewegungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die unter anderem von Wolf Vostell vorangetrieben worden sind. Nach einer Verbindung von Kunst und Leben suchte man, „fördert die Nicht-Kunst-Realität“ hieß es sogar in einem Manifest von George Maciunas. Es entstanden also nicht nur Kunstobjekte, sondern vor allem Aktionskunst war gefragt.

Vostell wollte vor allem durch „aggressive Bildsprache“, wie es im Katalog heißt, Missstände benennen und Sozialkritik üben. Am beeindruckendsten scheint mir aber sein Rückgriff auf die Zeitgeschichte zu sein – nämlich in der Dortmunder Rauminstallation „Thermoelektrischer Kaugummi“. Die Installation mit dem seltsamen Titel assoziiert im Kopf sofort die Verbindung zu Bildern von Auschwitz, und wenn man über die am Boden verstreuten Esslöffel knirschend den Raum durchschreitet, kann es einem schon eiskalt über den Rücken laufen.

„So stellt Vostell die Frage nach der Verantwortung jedes Einzelnen für Tod und Leid“, schreiben die Museumsleute. Gerade in der Stadt Dortmund mit seinen aktuellen Naziaufmärschen sollte die Beschäftigung mit dieser Frage besonders wichtig sein.




Rauchzeichen, später: Andreas Rossmann erkundet das Ruhrgebiet

Andreas Rossmann, Foto: Anna Wolfinger

Andreas Rossmann, Foto: Anna Wolfinger

Sein Revier beginnt hinter der Ruhrtalbrücke, von auswärts mit dem Auto kommend. Hier fährt der NRW-Feuilletonkorrespondent in einen wichtigen Sektor seines Berichtsgebiets ein. Kunst und Kultur dieser Region sind Gegenstand seiner Reportagen und Rezensionen, die er seit über 20 Jahren für die FAZ verfasst. Nun hat Andreas Rossmann eine Auswahl davon unter dem Titel „Der Rauch verbindet die Städte nicht mehr“ als Buch im Verlag der Buchhandlung Walther König herausgebracht.

Der „Reiseführer fürs Handschuhfach“ ist illustriert mit Schwarzweiß-Fotografien aus dem Archiv von Barbara Klemm, entstanden zwischen 1974 und 1999, die dem Paperback einen eigenwilligen Retro-Charme verleihen. Gegliedert ist der Band nach Städten von B wie Bochum bis W wie Waltrop. Selbst versierte Ruhrgebietsbewohner können beim Nachbarn noch Neues entdecken.

„Der Rauch verbindet die Städte“ schrieb Joseph Roth 1926, doch seit er sich zum großen Teil in frische Luft aufgelöst hat, wo ist da das verbindende Element dieser zerklüfteten, postindustriellen und mit zahlreichen Kulturinstitutionen besiedelten Region? Was macht sie aus und wo scheitert sie? Mit großer Sympathie für ihre rauen Seiten und einem Scharfblick, der sich nicht scheut, zwischen Qualität und Kitsch zu unterscheiden, beschreibt Rossmann auf seiner Expedition im Land der aufgegebenen Fördertürme und Industriebrachen die Auswirkungen des vielbemühten Strukturwandels auf die kulturelle Identität des Ruhrgebiets.

Wenn es sein muss, macht sich der Kritiker auch zu Fuß auf den Weg, um auf Halden zu klettern oder Landmarken abzuwandern: „Oben angekommen, sieht der Wanderer sich einem unbekannten Ort ausgesetzt. Doch erst im dialektischen Umschlag vollendet sich die Kunst der Landmarke: Sobald der Besucher dem Hochpunkt, den sie einnimmt, den Rücken kehrt, eröffnet sich ihm ein Panorama des Ruhrgebiets, das auf den nur von hier aus möglichen zweiten Blick seine Zerrissenheit und Unfertigkeit, sein Pathos und seine Grandeur offenbart: Seine ,andere‘ Schönheit“, schreibt Rossmann.

Die Textstelle zeigt, was das Buch ausmacht: Der intellektuell-literarische Blick auf eine Kunst, bei der sich der Ruhrgebietsmensch oft weigert, sie als seine eigene oder für ihn geschaffene wahrzunehmen. Die er mitunter misstrauisch beäugt wie beispielsweise Serge Spitzers Spirale auf dem Kennedyplatz in Essen, die viele Bürger „weg haben“ wollten, weil sie sie hässlich fanden. Nach dem Motto: Das alte Eisen, da haben wir früher mit malocht, das soll jetzt Kunst sein?

So führt denn auch Rossmanns Lesung im Lehmbruck-Museum in Duisburg unweigerlich zu einer Diskussion unter den Zuhörern um das Selbstverständnis des Reviers und seiner Bewohner. Ist es nicht Zeit, endlich mit dem Montanindustrie-Kitsch Schluss zu machen? Ein Zuhörer fragt: Warum werde nicht mal die Architektur der Ruhruniversität Bochum als einem der größten Arbeitgeber der Stadt gewürdigt statt immer Zeche Zollverein, die überall als mediales Wahrzeichen herhalten müsse? So regiere das Klischee, das auf die Vergangenheit verweise und Auseinandersetzung mit dem tatsächlichen Strukturwandel in der Gegenwart verhindere.

„Warum wohnen Sie eigentlich nicht im Ruhrgebiet, sondern in Köln?“, möchte eine andere Zuhörerin von Rossmann wissen. Sie selbst ist gebürtige Kölnerin, die es unfreiwillig ins Revier verschlagen hat. Der Autor begründet dies mit seinen Anfangszeiten als Kultur-Kritiker, als er sich strategisch günstig zum WDR positionieren wollte. Einer seiner ersten Ruhrgebietsbesuche führte ihn allerdings zu einem Bewerbungsgespräch als Dramaturg ans Theater Dortmund. „Die haben mich zum Glück aber nicht genommen“, gibt er selbstironisch zu.

Doch vielleicht ist ja gerade eine Fernbeziehung in diesem Fall nicht das schlechteste: Mit ein wenig Abstand liebt es sich neugieriger, man teilt nicht den langweiligen, zuweilen schäbigen und profanen Alltag. Die angebetete „Metropole“ bleibt interessant, ihre Veränderungen aufregend, ihre Kapriolen energiestiftend – vor allem, wenn man sich schon so lange kennt.

Andreas Rossmann: „Der Rauch verbindet die Städte nicht mehr. Ruhrgebiet: Orte, Bauten, Szenen. Mit Photographien von Barbara Klemm. Verlag der Buchhandlung Walther König, 260 Seiten, 14,80 Euro




Hauptbahnhof in Hagen: Vom Dom der Mobilität zur „Endstation Denkmal“

Imposant: Hauptbahnhof Hagen.

Imposant: Hauptbahnhof Hagen.

Friedrich Harkort, dessen Namen der 1931 fertiggestellte Ruhrstausee im Dreistädteeck Hagen/Wetter/Herdecke trägt, sorgte im 19. Jahrhundert dafür, dass das Bergische mit dem industriellen Dortmund im wachsenden Schienennetz verbunden wurde.

Im Revolutionsjahr 1848 war Hagen daran angeschlossen, entwickelte sich fortan zum ausgewachsenen Logistikstandort, blieb es bis heute. Als 1861 in Ruhr-Sieg-Strecke hinzu kam, war Hagen ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt, hatte erste Höhepunkte im industriellen Aufbau und alles rief danach, dass dieses immer wohlhabender werdende Hagen einen repräsentativen Bahnhof im Stadtkern brauche.

Es dauerte indes noch bis zum 14. September 1910, dann wurde das Empfangsgebäude seiner Bestimmung übergeben. Repräsentativ war es und eine Zierde für die einstige Prachtstraße (heute B7), die vom Reichtum stolzer Bürger kündete und sich durch die ganze Stadt zog; eine Kathedrale der mobilen Welt, mit einem „Glockenturm“ neben dem Eingang, der auch heute noch den Reisenden die Zeit zeigt, bevor sie in das gewaltige Tonnengewölbe der Empfangshalle treten. Weiter führt der Weg zu den Gleisanlagen, die von einer zweischiffigen Halle überspannt werden, die im Ruhrgebiet und in Westfalen einzigartig ist, in ganz Deutschland zu den Raritäten zählt. Prachtvoll eben.

1911 war es Karl-Ernst Osthaus, der sicher war, dass dem Bahnhof ein weiteres Juwel zugeeignet werden müsste. Er sorgte dafür, dass der Holländer Jan Thorn-Prikker ein riesiges Glasgemälde für den Eingangsbereich schuf: „Der Künstler als Lehrer für Handel und Gewerbe“. Hagens Hauptbahnhof wurde so Spiegel der erfolgreichen und reichen Industriestadt ebenso wie der Kulturstadt mit paneuropäischer Anziehungskraft.

Zierde der Empfangshalle: Jan Thorn-Prikkers Glasgemälde, gestiftet von Karl-Ernst Osthaus.

Zierde der Empfangshalle: Jan Thorn-Prikkers Glasgemälde, gestiftet von Karl-Ernst Osthaus.

Drei Sanierungsschübe hübschten das Gebäude wieder auf – nach dem 2. Weltkrieg, der wundersamer Weise nur überschaubare Zerstörungen in diesem Bereich hinterlassen hatte, während die Bombardements fast die gesamte Innenstadt zerlegten. Zunächst war es der eilige Wiederaufbau, der mehr das Zweckmäßige denn das Industriedenkmal in den Mittelpunkt rückte, 1990 gab es dann große denkmalpflegerische Anstrengungen und noch einmal – mit Blick auf die Fußball-WM 2006 – eine großangelegte Sanierung.

Und heute? Das Unternehmen Deutsche Bahn (DB) hat anscheinend das Interesse verloren, fleißige Mitarbeiter vor Ort feilen da und dort die gröbsten Gemeinheiten der Zeit weg. In manchen Bereichen umweht Verfall das einstige Schmuckstück am Berliner Platz, dessen spröde Innenstadtarchitektur ohnehin sparsam mit lobenswerten Details aufwartet. Bis heute bemüht sich (bemüht sie sich überhaupt?) die DB vergeblich darum, einen Einzelhandelsnachfolger für den Platz zu finden, der seit der Havarie der Schlecker-Gruppe leer steht. Trockenbauplatten, die – warum auch immer – den Blick auf alte Bausubstanz verstellen, sind teilweise zerschlagen und werden mit Netzen umhüllt, dass die Tauben nicht hineinfliegen und Nester oder anderes bauen. Im geräumigen Flugraum der Empfangshalle sind so viele Flattermänner unterwegs wie nirgendwo, aber sie haben ja auch reichlich Raum für ausgedehnte Rundflüge. Wenn sie denn mal was verlieren, hängt es an den einst geweißten Wänden.

Elegant, schön und selten: die zweischiffige Gleishalle.

Elegant, schön und selten: die zweischiffige Gleishalle.

Der Dom des jahrhundertwendigen Fortschritts ist in einem siechen Zustand. Bedauerlich. Und die Eigentümerin DB sieht derzeit keinen Anlass zum Eingreifen, gibt vor (stimmt wahrscheinlich auch), Schlimmeres beseitigen zu müssen. Sei es (und das ist auch prima), dass mein alter Heimatbahnhof in Dortmund-Hörde neu gebaut wird oder der kleine Unnaer immer einladender wird. Dass ein großes Denkmal einer großen Zeit der großen Stadt Hagen so vor sich hin dämmern darf, ist weder fortschrittlich noch kundenfreundlich, es ist schlicht peinlich. Gegenüber zahlenden Reisenden genauso wie gegenüber einer Stadt, die ein ansehnliches Entrée verdient.




ARD-Porträt über Gunter Sachs – ein Sittenbild aus rauschenden Zeiten

Welch ein missliches Zusammentreffen: Da hat die ARD seit langem ein Porträt unter dem Titel „Der Gentleman-Playboy. Gunter Sachs“ geplant – und dann platzt wenige Tage vor der Ausstrahlung die journalistische Affären-„Bombe“ der so genannten „Offshore-Leaks“, bei der auch Gunter Sachs in den Ruch der Steuerhinterziehung gerät.

Auf ihn beziehen sich jedenfalls offenbar einige der Millionen Datensätze, die aus anonymen Quellen an die Weltpresse gelangt und von Journalisten aus vielen Ländern über viele Monate ausgiebig analysiert worden sind. In Deutschland waren die „Süddeutsche Zeitung“ und ausgerechnet der Norddeutsche Rundfunk (NDR) beteiligt, der just auch fürs Sachs-Porträt verantwortlich zeichnet. Doch offenbar haben die Recherche-Kollegen ihre Geheimnisse bis zum Schluss gewahrt und den Filmemachern vom gleichen Sender vorab keinen Tipp gegeben. So mussten Kay Siering und Jens Nicolai ihr Porträt gleichsam in letzter Minute ummodeln.

Lebe wild und gefährlich: Gunter Sachs und Brigitte Bardot mit Raubkatze, 1969 in Saint-Tropez. (© NDR/Privatarchiv der Familie Sachs)

Lebe wild und gefährlich: Gunter Sachs und Brigitte Bardot mit Raubkatze, 1969 in Saint-Tropez. (© NDR/Privatarchiv der Familie Sachs)

Ganz vorsichtig mit Steuer-Vorwürfen

Dabei haben sie sich wohlweislich sehr zurückgehalten und die Vorwürfe an zwei Stellen nur ganz am Rande erwähnt. In gewisser Weise kann man diese Vorsicht nachvollziehen. Denn erstens gilt – bis zum Beweis des Gegenteils – die Unschuldsvermutung natürlich auch für Gunter Sachs, der sich im Mai 2011 das Leben genommen hat. Und zweitens bestreiten seine Nachlassverwalter entschieden ein schuldhaftes Verhalten. Etwas anderes zu behaupten, wäre einstweilen juristisch sehr riskant. Die nachträglich ins Porträt eingeflochtene Formulierung, der „Finanzjongleur“ Gunter Sachs und sein Geld seien in aller Welt zu Hause gewesen, entbehrt allerdings nicht der Süffisanz.

Der Mann mit lauter guten Eigenschaften

Der aktuelle Nachtrag war freilich auch schon das dunkelste Fleckchen in diesem doch ausgesprochen wohlwollenden Lebensbild. Kaum eine positive Eigenschaft, die Gunter Sachs von der langjährigen Ehefrau Mirja Larsson, von seinen Kindern, Freunden und Wegbegleitern n i c h t nachgesagt worden wäre. Er war demnach ungemein charmant, charismatisch, großzügig, aber nicht verschwenderisch, kreativ, verführerisch, doch letzten Endes auch treu und verlässlich wie sonst nur wenige. Der studierte Mathematiker (hätten Sie’s gewusst?) war nicht nur als Playboy, sondern auch als Kunstsammler, waghalsiger Sportler und Fotograf höchst erfolgreich.

Die besondere Stärke des 75-minütigen Films lag nicht so sehr in der manchmal gar zu ehrfürchtigen Kommentierung, sondern im Materialreichtum, den man aufbereitet hatte und in dieser staunenswerten Fülle erstmals präsentieren konnte. An etlichen Stellen verdichteten sich die zahllosen Filmausschnitte zum prägnanten Sitten- und Gesellschaftsbild jener Jahre.

Gegen das Image vom spießigen Deutschen

Was waren das für Zeiten, als Gunter Sachs – gleichsam stellvertretend für die Nation – lustvoll gegen das Image vom steifen und spießigen Deutschen anlebte; als er reihenweise einige der schönsten Frauen seiner Zeit eroberte (allen voran Brigitte Bardot) und zwischen St. Moritz, Saint-Tropez, Sylt und Palm Springs rauschende Feste mit dem internationalen Jet Set feierte! Selig lächelnd erinnerte sich sein Freund, der Filmregisseur Roman Polanski, dass damals ja auch die Zeit der sexuellen Revolution begonnen habe.

Selbstverständlich hat einer wie Sachs auch kolossalen Neid auf sich gezogen. Als Firmenerbe (Fichtel & Sachs) verfügte der gebürtige Schweinfurter über die Millionen, um sich die Freiheit zu leisten, von der wohl fast alle träumen. Verbinden sich derlei glückhafte Umstände auch noch mit erotischen Husarenstücken, so sehen manche vom Leben Frustrierte Rot.

Flotte und markige Sätze

Siering und Nicolai hingegen schmolzen lieber in Bewunderung vor dem tollen Hecht Gunter Sachs dahin. Sie peppten ihren Film genüsslich mit flotten Sätzen auf. Über Sachs und Bardot: „Sie liebten sich auf dem Heck seines Motorboots – bei voller Fahrt“. Das Risiko, am nächsten Felsen zu zerschellen, hätten sie dabei in Kauf genommen. Donnerlittchen!

Bei weitem härter klang allerdings der mehr als markige Satz aus der Kino-Wochenschau von 1966, Gunter Sachs habe die Bardot „heim ins Reich“ geführt. Was für eine unsägliche Idiotie, noch 21 Jahre nach Kriegsende!

________________________________________________

Der Beitrag ist zuerst bei www.seniorbook.de erschienen




Am liebsten schön schräg und schrill: „Fast alles über 50 Jahre Bundesliga“

Wer etwas auf sich hält, bereitet Fußballhistorie längst nicht mehr bierernst mit Ergebnislisten und Tabellen auf. Die bloße Nacherzählung und die kreuzbrave 1:0-Berichterstattung sind mausetot. Erst recht ist der feierliche oder gar pathetische Tonfall passé; selbst dann, wenn bedeutsame Jubiläen anstehen.

9783462045000_10

Die (inzwischen etablierte) Avantgarde packt den Fußball ironisch, popkulturell und liebend gern aus schrägen Blickwinkeln an, ohne deshalb die Leidenschaft für diesen Sport aufzugeben. Im Gegenteil: Hier kommt oft erst der wahre Kult zum Vorschein, der eben auch etliche schrille Seiten hat. Den Takt geben in dieser Hinsicht derzeit das Fußballmagazin „11 Freunde“ und eine TV-Sendung wie „Zeiglers wunderbare Welt des Fußballs“ vor. Sie beweisen, dass man auch intellektuelles Vergnügen am Kicken und all seinen Begleitumständen haben kann.

Im Fernsehen kredenzen uns manche Fußball-Kommentatoren, die den Schnabel nicht ein Minute lang halten können, zwischendurch als Füllmasse die absurdesten Statistik-Ergüsse – ohne jedes Gespür für die Komik solcher Mitteilungen. Christoph Biermann und Philipp Köster (beide aus der besagten „11 Freunde“-Chefredaktion) wissen hingegen genau, welche abenteuerlichen Kuriosa sie uns in ihrem Band „Fast alles über 50 Jahre Bundesliga“ mitunter vorsetzen.

Wer dieses halbe Jahrhundert allen Ernstes aufarbeiten wollte, müsste einen enzyklopädischen Vielbänder herausbringen. Im vorliegenden Buch werden zwar Dekaden und Liga-Jahrgänge kurz einordnend skizziert, doch die Autoren gehen davon aus, dass die Leser(innen) in groben Grundzügen orientiert sind und beweisen Mut zur Lücke. Deshalb picken sie unscheinbare, gleichwohl prägnante Einzelheiten auf und präsentieren sie vorwiegend in staunenswerten Listen, Grafiken, knackigen Kurztexten und Foto-Fundstücken – weit abseits jeder fanatischen „Helden“-Verehrung. Es ist eine kleinteilige, durchweg kurzweilige Lektüre, die man zwischendurch jederzeit beiseite legen kann. Doch man wird sie rasch wieder hervorholen.

Da werden beherzt so grundlegende Fragen beantwortet wie die, welche Farbe in allen bisherigen Liga-Trikots am häufigsten vorkam (Rot vor Blau), ob man mit satten 76 Punkten die Meisterschaft verfehlen kann (Ja! Schalke in der Saison 1971/72), aus welcher weitesten Distanz ein Tor direkt erzielt wurde (73 Meter) oder in welchen Bundesländern noch nie ein Erstliga-Spiel angepfiffen worden ist (Schleswig-Holstein, Thüringen, Sachsen-Anhalt).

An einigen Stellen wird es auf herrlich alberne Weise beinahe magisch: Ein gewiss mühevoll erstelltes Diagramm verzeichnet getreulich, wie viele Schnauzbartträger im Lauf der Jahre 1977 bis 2000 in der Liga aufgelaufen sind. Mit einer Art Windrose wird graphisch exakt dargestellt, in welche Himmelsrichtungen die einzelnen Stadien ausgerichtet sind; ein anatomisches Schema zeigt punktgenau und unmissverständlich an, welche Spielernamen (Gansauge, Maul, Kastrati, Woodcock) notfalls an Körperteile denken lassen.

Und natürlich purzeln Zahlen über Zahlen: Torhüter mit den meisten Gegentreffern (Eike Immel, 829), größte Stadt ohne Erstligateam (Bonn, 325000 Einwohner), effektivster Torschütze (immer noch Gerd Müller mit 0,85 Treffern pro Spiel).

Wer will die schrillsten Frisuren oder Wohnungseinrichtungen der Liga-Historie sehen? Wer will wissen, wie die größten Exzentriker, die originellsten Sponsoren und legendäre Spielerfrauen hießen? Wer mag unfreiwillig lustige Mannschaftsfotos, wer will sich bizarre Zitate von Brehme oder Matthäus und die dollsten Spieler-Doppelnamen (Jan-Ingwer Callsen-Bracker) auf der Zunge zergehen lassen?

Ja, ja und nochmals ja? Alle rufen „Hier, ich!“? Na, dann schaut doch mal in dieses Buch!

Christoph Biermann / Philipp Köster: „Fast alles über 50 Jahre Bundesliga“. Kiepenheuer & Witsch (Kiwi-Paperback), 224 Seiten, viele Illustrationen. 12,99 Euro.




Gefährliche Abenteuer am Hindukusch: Linus Reichlins Roman „Das Leuchten in der Ferne“

Es ist eines dieser Bücher, die den Leser schon nach wenigen Zeilen fesseln, weil die Geschichte einfach unglaublich klingt. So mag man Linus Reichlins Buch „Das Leuchten in der Ferne“ nicht eher aus der Hand legen, bis das Schicksal des alternden Kriegsreporters Moritz Martens geklärt ist.

Einmal Hasardeur, immer Hasardeur: Der Auslandsjournalist lässt sich auf eine Reise nach Afghanistan ein, die ihm eine Reportage über eine Geschichte einbringen soll, mit der er seinen Namen wieder aufpolieren könnte. Im Land am Hindukusch hat sich angeblich ein Mädchen in Jungenkleidern einem Trupp von Taliban angeschlossen und es besteht die große Gefahr, dass der Schwindel auffliegt. Da sie wegen ihres Geschlechts Nachteile in der Ursprungsfamilie fürchtet, ist das Mädchen getürmt und sieht in den marodierenden Banden ihre große Chance.

Galiani_Reichlin_Druck.indd

Martens‘ Sensationsgier trübt allerdings seinen Spürsinn und so fallen ihm die kleinen Unebenheiten der Geschichte, die ihm seine neue Bekannte Mirjam (deren Vorfahren angeblich in Afghanistan lebten) serviert, zunächst einmal gar nicht auf. Erst als er in der Transall nach Feyzabad sitzt, mehren sich die Ungereimtheiten, doch da ist es für eine Umkehr zu spät.

Ob der Reporter aber eine solche Chance überhaupt ergriffen hätte, erscheint äußerst fraglich, er sucht nun mal das Abenteuer. Und von Mirjam möchte er auch nicht lassen. Für seinen Ehrgeiz und seine Zuneigung muss er einen hohen Preis bezahlen, wird er doch gezwungen, sich den islamistischen Kämpfern in den Bergen Afghanistans anzuschließen, um seine Haut zu retten. Tag und Nacht ist er auf sie angewiesen, er erlebt die Gotteskrieger als Menschen, die durchaus verständnisvoll sein können. In dem ständigen Zusammensein ist Martens bemüht, den Taliban gegenüber eine innere Distanz zu wahren, die er vor allem braucht, als sie ihn zum Zeugen einer Steinigung machen. Gleichwohl wird der Reporter später nichts von seinen Erlebnissen preisgeben. Nachdem Geld geflossen ist, eine Geisel und auch er freikommen, drängen ihn die deutschen Militärs, zu berichten, was er weiß. „Martens gab vage Antworten“, heißt es zu Ende des Romans. Die Nähe hat ihn zwar nicht zum Komplizen werden lassen, aber er möchte auch nicht als Verräter dastehen.

Unweigerlich stellt sich die Frage, ob man nun reale Einblicke in das Leben der Taliban bekommen hat oder der Autor, der mit „Der Assistent der Sterne“ das „Wissenschaftsbuch des Jahres 2010“ geschrieben hat, lediglich bekannte Klischees zu den Radikalislamisten benutzt und sie mit Bandenkriminalität vermengt. Aber auch ohne eine klare Antwort bleibt das Buchäußerst lesenswert, allein schon deshalb, weil es in menschliche Abgründe blicken lässt.

Linus Reichlin: „Das Leuchten in der Ferne“. Verlag Galiani, Berlin. 304 Seiten, 19,99 Euro.




Museum für westfälische Literatur: Haus Nottbeck im Münsterland lohnt einen Besuch

Man kann ja bei diesem Wetter kaum ins Freibad gehen, und das Herumtollen auf Wiesen macht bei dem knochenharten Boden auch keinen Spaß. Da bietet sich ja eher etwas Kulturelles am – zum Beispiel das Haus Nottbeck im südlichen Münsterland. „Kulturgut“ nennt sich das westfälische Wasserschloss offiziell, und es ist wirklich einen Ausflug wert.

Das Haupthaus mit dem Museum.Foto: LWL

Das Haupthaus mit dem Museum.
Foto: LWL

Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe hat sich vor Jahren zusammen mit dem Kreis Warendorf des alten Herrensitzes im Oelder Stadtteil Stromberg angenommen. Entstanden sind nicht nur ein Tagungszentrum und ein „Kultur-Café“, sondern als Kernstück findet man im Haupthaus das Museum für westfälische Literatur. Von den Anfängen der Lesekultur bis in die Gegenwart wird hier das Leben und Werk von Schriftstellern und Schriftstellerinnen aus Westfalen liebevoll dargestellt, mit Dokumenten und Original-Gegenständen, aber auch mit Hör- und Video-Beispielen und mit ausführlichen Lebensläufen und Werkbeschreibungen. Dabei kamen nicht nur in Westfalen geborene Dichter ins Programm, sondern auch Literaten, die nur zeitweise in Westfalen oder Lippe gelebt und Spuren hinterlassen haben.

Das Kulturgut bietet aber auch ein wechselndes Programm. Zum Beispiel am 13. April Poetry-Slam unter dem Titel „Dead or Alive Poetry-Slam: Die besten Slam-Poeten gegen Legenden der Literatur“ oder (bis zum 12. Mai) eine Ausstellung des Graphikers und Buchkünstlers H. D. Gölzenleuchter. Am Sonntag, 7. April, kann man den Künstler im Museum in seinem „offenen Atelier“ besuchen.

Das Haus Nottbeck besticht auch durch seine beschauliche Lage im dort leicht hügeligen Südmünsterland. Im Park des Kulturguts kann man sich in der Nähe von drei „Hör-Inseln“ entspannen.

Kulturgut Haus Nottbeck. Museum für Westfälische Literatur. Landrat-Predeick-Allee 1, 59302 Oelde, Tel: 02529 / 94 55 90. www.kulturgut-nottbeck.de. Öffnungszeiten Literaturmuseum: Dienstag bis Freitag 14 bis 18 Uhr, samstags, sonntags und an Feiertagen 11 bis 18 Uhr. Freier Eintritt.




Zweiteilige Gala „50 Jahre ZDF“: Keine Atempause, der Jubel wird gemacht

„50 Jahre ZDF“ – das muss natürlich groß gefeiert werden. Mal so richtig in Erinnerungen schwelgen und sich dabei köstlich amüsieren, das versprach ganz vollmundig Maybrit Illner, die die zweiteilige Gala-Show zum Mainzer Jubiläum moderiert. Dafür wurden auch altgewohnte Phänomene wie Big Band (Pepe Lienhard) und das Fernsehballett wiederbelebt.

Oft hat man das ZDF in den letzten Jahren als „Seniorensender“ verunglimpft. Geradezu lächerlich, dass man nur bis 49 zur „werberelevanten Zielgruppe“ zählt. Schwamm drüber. Freuen wir uns lieber heute noch, dass die Pläne des damaligen Kanzlers Konrad Adenauer, zu Beginn der 60er Jahre neben der ARD einen Staats- und Unternehmer-Sender zu etablieren, vor Gericht so gründlich fehlgeschlagen sind. So wurde das ZDF, das am 1. April 1963 auf Sendung ging, bisweilen zur echten Alternative. Mal mehr, mal weniger.

Maybrit Illner war zu jedem Scherz bereit

War Maybrit Illner eigentlich die Richtige, um eine solche Gala zu präsentieren? Gewiss, Peinlichkeiten weiß sie stets geschmeidig zu umgehen. Doch ihre dauerhafte Verzückung wirkte ein wenig antrainiert. Unentwegt sprach sie von „Großem Kino“, auch rutschte ihr mal die Formulierung „Großes Aua“ heraus, als es um Schmerzen ging. Sie war offenbar bereit, jeden Kindergartenscherz mitzumachen. Doch dann unterliefen der klugen Frau auch Wörter aus dem Seminar („Meta-Ebene“), die dazu nicht so recht passen mochten.

Maybrit Illner mit den Mainzelmännchen (Foto: ©ZDF/Thomas Kierok)

Maybrit Illner mit den Mainzelmännchen (Foto: ©ZDF/Thomas Kierok)

Natürlich marschierte jede Menge TV-Prominenz auf – nicht nur in nostalgischen Archivfilmchen, sondern auch auf der Gästecouch, genauer: auf den Sofalandschaften, in denen selbstverständlich die ZDF-Designerfarbe Orange dominierte. Damit der Westen nicht unter sich blieb, durfte vor allem Wolfgang Stumph („Stubbe“) die – sanft geglättete – ostdeutsche Sicht der Dinge repräsentieren.

Einstieg mit viel Musik

Mit legendären Musikformaten zwischen „Hitparade“ und „Disco“ (Dieter Thomas Heck, Ilja Richter, Howard Carpendale & Co.) ging’s los, es folgten Forschung und Information (vertreten u. a. von Klaus Kleber, Wolf von Lojewski). Doch auch bei den ernsteren Themen blieb kaum Zeit zum Innehalten. Die geballte Stoff-Fülle aus 50 Jahren ist einfach zu groß, um sie leichthändig zu bewältigen. Besonders die Wissenschaftssendungen wurden geradezu als Klamauk verkauft.

Der erste Teil der Feier endete mit breitwandig inszeniertem Lob und Preis auf die populären Reihen „Schwarzwaldklinik“ und „Traumschiff“, da lauerten ein paar Abgründe. Apropos: Zuschauer haben über die zehn beliebtesten ZDF-Sendungen aller Zeiten abgestimmt. Die Plätze eins bis fünf werden erst in Teil zwei (Samstag, 30. März, 20.15 Uhr) verraten. „Wetten, dass…“ Thomas Gottschalk trotz aller Fährnisse mit vorne dabei sein wird?

Wer hat denn nun die besten Krimis?

Zum Thema Krimis nannten die Gäste als bleibende Erinnerungen überwiegend ARD-Produktionen, nachdem Maybrit Illner das ZDF als Krimisender Nummer eins beschworen hatte. Eine kleine Panne, wenn man so will. Passiert schon mal. Doch immerhin kann das ZDF auf diesem Felde den Kommissar (Erik Ode), „Derrick“ (Horst Tappert), „Der Alte“ (Siegfried Lowitz und Nachfolger), „Ein Fall für zwei“ (Claus Theo Gärtner), „Bella Block“ (Hannelore Hoger) und manches andere vorweisen. Auch nicht so übel.

Wollte man böswillig sein, so würde man die Sendung mit „Viel Archivmaterial und etliches Brimborium drumherum“ zusammenfassen. Es war gelegentlich wie bei einem Klassentreffen. Großes Hallo, viele Umarmungen. Manchmal fragte man sich unwillkürlich, ob denn unbedingt Zuschauer dabei sein mussten. Zwangsläufig hatte das Ganze die Tendenz zum pflichtschuldigen Abhaken und zur forcierten Selbstbejubelung. Wer wird denn auch zum Geburtstag Schlechtes reden wollen? So blieben kritisch angehauchte Zwischentöne den wenigen Comedians und Kabarettisten (großartig: Olaf Schubert) vorbehalten, die die Hofnarrenrollen übernahmen.

Wie die Zeit verflogen ist

Schade, schade, dass solche prägenden Gestalten wie Peter Frankenfeld, Wim Thoelke, Hans Rosenthal oder auch Erik Ode („Der Kommissar“) nicht mehr dabei sein und von früher erzählen können. Ihre alten Sendeausschnitte lassen einen wehmütig spüren, wie die Zeit verflogen ist. Gemeinsam mit dem ZDF sind wir eben…ein wenig reifer geworden.

_____________________________________________

Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst bei www.seniorbook.de erschienen




Der Zweite Weltkrieg in Nahansicht: Zum ZDF-Dreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“

Es wurde mal wieder hohe Zeit für ein solches Großereignis im Fernsehen: Der Dreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“ (ZDF) scheint die Schrecken des Zweiten Weltkriegs noch einmal ganz nah heranzurücken. Wir wissen, dass damals Millionen elendiglich gestorben sind. Und doch werden uns immer Einzelschicksale am meisten berühren.

Fünf Freunde beim Abschied im Sommer 1941. Von links: Greta (Katharina Schüttler), Wilhelm (Volker Bruch), Charlotte (Miriam Stein), Friedhelm (Tom Schilling), Viktor (Ludwig .  (Foto: © ZDF/David Slama)

Fünf Freunde beim Abschied im Sommer 1941. Von links: Greta (Katharina Schüttler), Wilhelm (Volker Bruch), Charlotte (Miriam Stein), Friedhelm (Tom Schilling), Viktor (Ludwig Trepte). (Foto: © ZDF/David Slama)

Der entsprechenden Dramaturgie, die uns gleichsam mitten ins Geschehen führt (Bewunderung gilt nicht zuletzt den Kulissenbauern und Kostümbildnern), folgt auch die Spielhandlung, die Regisseur Philipp Kadelbach mit einem großartigen Schauspieler-Ensemble in Szene gesetzt hat: Fünf Freunde treffen sich im Sommer 1941 noch einmal in Berlin. „Weihnachten sehen wir uns wieder“, glauben sie allen Ernstes und prosten einander fröhlich zu. Sie sind jung, lebenshungrig und halten sich für unsterblich. Wie tragisch sie sich irren!

Fünf Freunde und ihre Illusionen

Der Anlass des Abschieds-Umtrunks: Wilhelm (Volker Bruch) und sein schöngeistiger jüngerer Bruder Friedhelm (Tom Schilling) müssen an die Ostfront nach Russland ziehen, „den Iwan ein bisschen verhauen“, wie anfangs naiv gescherzt wird. Charlotte (Miriam Stein) folgt ihnen als Krankenschwester ins Feldlazarett. Greta (Katharina Schüttler) und ihr jüdischer Freund Viktor (Ludwig Trepte) bleiben unterdessen in Berlin, wo auch sie in ein Gestrüpp von Lüge und Verrat hineingerissen werden. Denn Viktor wird von NS-Schergen verfolgt und da nützt es gar nichts, dass Greta, die als Sängerin Karriere machen will, sich mit einem ebenso hochrangigen wie schmierigen Nazi einlässt, um Ausreisepapiere für Viktor zu beschaffen. Freilich lässt sie sich auch von der Aussicht auf Rundfunkaufnahmen betören.

Erschießungen gegen jedes Völkerrecht

Im steten Wechsel schwenkt die Handlung zwischen Berlin, der Front und dem Lazarett hin und her. In Russland zeigt sich mehr und mehr, wie schmutzig dieser Krieg geführt wird – mit Exekutionen wider jedes Völkerrecht, mit willkürlichen Erschießungen und Gräueltaten. Das Lazarett erweist sich als Schlachthaus, in dem Tag und Nacht die Schmerzensschreie durch Mark und Bein dringen. Und dann kommt auch noch der eisige russische Winter, in dem der zuerst so zartsinnige Friedhelm zum Zyniker und härtesten Hund von allen wird.

Der Film lässt drastische Szenen nicht aus. Schon in der ersten Folge bleiben keine Zweifel, dass der Krieg in jedem das Schlechteste weckt. Entweder Täter und Verräter oder Opfer – dazwischen gibt es praktisch nichts – bei allem Bemühen um Differenzierung. Das ist umso schrecklicher, als diese Generation unserer Mütter und Väter (wie hier sehr deutlich herausgearbeitet wird) wunderbar normal hätte sein und leben können, wenn sie nur nicht diesem verfluchtem Regime verfallen wären.

Ein Projekt für alle Generationen

Im Vorfeld dieses Dreiteilers hatte Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), die Bedeutung dieser Produktion beschworen und mahnend festgestellt, dass allmählich die allerletzten Zeitzeugen des Weltkriegs sterben. Deshalb sollten sich die verbliebenen Generationen diesen Film unbedingt gemeinsam anschauen. Er hat recht. Tatsächlich habe ich mir an etlichen Stellen des ersten Teils gewünscht, ich hätte ihn noch gemeinsam mit meinen Eltern sehen können.

Mein Vater ist – wie so viele andere – immer sehr wortkarg gewesen, wenn es um seine Erlebnisse an der Ostfront ging. Dieser Film, der anschließend von einer Dokumentation und einer Spezialausgabe von Maybrit Illners Talk begleitet wurde, hat vielleicht die Wucht und überhaupt die Qualität, doch noch diese oder jene Zunge zu lösen.

Teil zwei und drei (Montag, 18. März, und Mittwoch, 20. März, jeweils 20.15 Uhr) sollte man sich nicht entgehen lassen.

_________________________________________________________________________

Der Beitrag ist zuerst bei www.seniorbook.de erschienen




St. Maria zur Wiese in Soest wird 700 Jahre alt

Stolz stehen die beiden Türme am Stadtrand der Hansestadt Soest: St. Maria zur Wiese nennt sich die imposante Kirche, die uns so unverfälscht gotisch vorkommt. Tatsächlich kann die Kirche in diesem Jahr ihren 700. Geburtstag feiern, aber die Turmspitzen entstanden erst im 19. Jahrhundert.

Das „Westfälische Abendmal“ in der Wiesenkirche Soest.

Da teilen die Soester das Schicksal der Kölner Kirchenbauer, die auch erst auf die Hilfe des protestantischen Herrschers aus Berlin für die Fertigstellung ihres Domes warten mussten. In Soest findet sich im Hauptchor eine Inschrift, die auf den Baubeginn hindeutet: Im Jahre 1313 habe der Meister mit dem Namen Johannes Schendeler den Grundstein gelegt. Im kleinen Kirchenführer für die Wiesenkirche wird vermutet, dass Schendeler zuvor schon am Bau des Kölner Domes beteiligt war.

St. Maria zur Wiese bekam ihren Namen von ihrem Standort: „Maria in pratis“ heißt sie in frühen Quellen, also „in den Wiesen“, aber auch „Maria in palude“ ist überliefert, was „Maria im Sumpf“ bedeutet. Seit 1985 wird die Kirche grundlegend renoviert, und zurzeit steht noch ein Gerüst am Südportal, dem Haupteingang. Diese letzten Arbeiten sollen im Jubiläumsjahr abgeschlossen werden.

Besonderen Ruhm erlangte die heute evangelische Kirche durch ihre wunderbaren Glasfenster, die nicht, wie in anderen Kirchen nach der Reformation, entfernt oder zerstört worden waren. Vor allem das „Westfälische Abendmahl“ im Fenster an der Nordseite zieht immer wieder Besucher an:  Die Tendenz zu lebensnahen Darstellungen hat hier nicht nur zu zeitgenössischen Trachten der Figuren geführt, sondern auch die Gaben auf und dem Tisch zeigen regionale Besonderheiten: Jesus und seine Jünger sitzen bei ihrem letzten gemeinsamen Mahl vor westfälischem Schinken und einem Schweinskopf, und statt Wein gibt es Bier aus Krügen und einen großen Korb mit Landbrot.

Im Zweiten Weltkrieg waren die wertvollen mittelalterlichen Glasbilder ausgebaut und sicher gelagert worden, sodass man sie heute beglückt bewundern kann. Soest ist also nicht nur wegen seiner schönen Altstadt einen Ausflug wert, sondern auch wegen seines berühmten Geburtstagskindes, der Kirche St. Maria zur Wiese.




Der neue Papst setzt Zeichen: Mit dem Bus ins Gästehaus

Bei den Fernsehleuten herrschte eher Gelassenheit: Eine Diskussionsrunde mit der spekulativen Frage nach persönlichen Favoriten, ein paar Bilder von Menschen unter Regenschirmen auf dem Petersplatz, immer wieder der Schornstein über der Sixtinischen Kapelle, von Scheinwerfern angestrahlt. Und dann, um 19.05 Uhr, Rauch, dichter weißer Rauch. Eine schnelle Entscheidung, mit der kaum jemand unter den Wartenden gerechnet hatte: Schon im fünften Wahlgang war der neue Papst gewählt – eines der kürzesten Konklave der Kirchengeschichte.

Rom hat einen neuen Bischof - und die Weltkirche einen neuen Papst. Blick auf S. Pietro. Foto: Werner Häußner

Rom hat einen neuen Bischof – und die Weltkirche einen neuen Papst. Blick auf S. Pietro. Foto: Werner Häußner

Eine gute Stunde nach dem Rauchzeichen folgte die noch größere Überraschung: Keiner der „heißen“ Kandidaten trat da auf die Loggia des Petersdoms, angekündigt mit den Worten „Habemus Papam“. Mit Jorge Mario Bergoglio hatte keiner der Auguren gerechnet. Der Kardinal von Buenos Aires stand nicht auf der Liste der medialen Favoriten.

Die Wahl des argentinischen Jesuiten, Indiskretionen zufolge der Konkurrent Joseph Ratzingers im Konklave von 2005, dürfte eine klare Entscheidung der 115 wählenden Kardinäle gewesen sein: Kein Mann der Kurie wurde Papst. Kein Europäer. Keiner, der für eine ungebrochene Fortsetzung des Pontifikats Benedikts XVI. steht – da mögen die Harmonisierer noch so bemüht sein: Bergoglio verkörpert wohl nicht die „Kontinuität“, die der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch aus Freiburg, in seiner ersten Stellungnahme beschwor. Eher dürfte zutreffen, was der Würzburger Bischof Friedhelm Hofmann feststellte: „Die Entscheidung verspricht etwas Neues.“

Franziskus I.: Der Name ist Programm

Welche Richtung der neue Papst einschlagen wird, darüber dürfte in nächster Zeit viel spekuliert werden, bis er seine ersten inhaltlichen Positionen formuliert und seine ersten Personalentscheidungen getroffen hat. Ein Akzent ist allerdings jetzt schon deutlich: Jorge Maria Bergoglio hat sich den Papstnamen „Franziskus I.“ gewählt. Ein neuer Name in der Liste der nun 266 Päpste der Katholischen Kirche. Der Name eines Heiligen, der für seinen einfachen Lebensstil, für seine radikale Zuwendung zu den Armen und Ausgegrenzten, für seine tiefe Christusfrömmigkeit bis heute viel geliebt wird. Und ein Heiliger, der den Auftrag Gottes hörte, seine Kirche neu aufzubauen.

Das ist ein Ruf, der Franziskus I. ganz irdisch von vielen entgegenschallen wird. Festzustellen, die Katholische Kirche habe den Neuaufbau nach den Pädophilie- und Vatileaks-Skandalen bitter nötig, ist wohl richtig, greift aber zu kurz. Denn die Krise der Kirche liegt tiefer: in ihrem gebrochenen Verhältnis zu einer rasch sich wandelnden Welt, in ihrem Ringen um Tradition und Fortschritt, in ihren – etwa in der Einstellung zur Homosexualität deutlich sichtbaren – Problemen mit einer zeitgemäßen Anthropologie, im innerkirchlichen Umgang mit Pluralität und Autorität. Die deutschen Reizthemen wie Frauenpriestertum oder Zölibat sind da eher Randfragen: Kein Papst wird sie per Federstrich im Sinne der Kirchenkritiker hierzulande entscheiden können. Selbst wenn er es wollte. Er würde eine Spaltung der Kirche riskieren.

Warnung vor der Übermacht des Geldes

Franziskus I. wird sich mit vielerlei Erwartungen konfrontiert sehen. Wir wird sich der „stille Intellektuelle“ – wie ihn die „Zeit“ 2005 beschrieben hat – den Herausforderungen seines Amtes stellen? Sein bescheidener Lebensstil, seine Nähe zu den Armen, seine politische Entschiedenheit etwa in sozialen und ökologischen Konflikten sind bekannt. Ein erstes Zeichen hat er auch als Papst schon gesetzt: Statt mit der bereitgestellten Limousine fuhr der Eisenbahnersohn kurz vor Mitternacht mit den Kardinälen im Bus ins Quartier S. Marta.

Aber auch seine Vergangenheit dürfte dem neuen Papst zu schaffen machen: Hatte er tatsächlich irgendeinen Anteil am skandalösen Verhalten der als besonders konservativ geltenden argentinischen Kirchenspitze in der Zeit der Militärdiktatur? Bergoglio wurde beschuldigt, zwei seiner Ordensbrüder nicht ausreichend vor der Verfolgung durch die Militärs geschützt zu haben. Auch soll er Kontakte mit einem Mitglied der Junta gepflegt haben. Auf der anderen Seite der Bilanz steht der Kampf des Kardinals gegen das soziale Elend und die Korruption in seinem Land. Vor einigen Wochen erst warnte er vor der alltäglichen Übermacht des Geldes, prangerte Menschen- und Kinderhandel an. Man wird, das dürfte sicher sein, von diesem Papst deutliche Worte hören.

Erste Reaktionen aus Essen

Für das in Essen ansässige Bischöfliche Hilfswerk Adveniat ist Franziskus I. „ein Papst, der die Armen kennt“. Prälat Bernd Klaschka, Adveniat-Geschäftsführer, sagte kurz nach der Wahl: „Ich glaube, dass die von den lateinamerikanischen Bischöfen getroffene Option für die Armen und für die Jugend einen wichtigen Stellenwert in seinem Pontifikat einnehmen wird.“

Eine weitere Reaktion aus Essen kam von Bischof Franz-Josef Overbeck: Die Wahl „berührt und bewegt mich sehr“, sagt der Ruhrbischof in einem Beitrag auf YouTube. Die Namenswahl des ersten Papstes aus Lateinamerika sei für ihn „ganz bedeutsam“. Franziskus sei ein großer Reformer der Kirche gewesen, mit einer „großen Einfachheit des Lebensstils und einer großen Tiefe im Glauben. Das ist auch heute ganz wichtig“. Der frühere Ruhrbischof und jetzige Bischof von Münster, Felix Genn, sieht in der Namenswahl „eine Botschaft für die Armen“.

Für die Katholische Kirche könnte das nun anbrechende Pontifikat von Franziskus I. ein Schritt von erheblicher Tragweite werden. Jetzt schon vergleichen Kommentatoren die Wahl Bergoglios zum Papst mit derjenigen von Papst Johannes XXIII. Deutlich zeigt sich der Wunsch nach Veränderung.

Nicht durchgesetzt haben sich diejenigen, die wieder einen Italiener an der Spitze der Weltkirche sehen wollten. Auch die Kardinäle, die auf eine Reform der Kurie und ein kollegialeres Verhältnis zwischen der römischen Zentrale und den Ortskirchen drängen, werden ihre Erwartungen in dieser Wahl manifestiert haben. Schließlich dürfte auch der Eurozentrismus mit diesem ersten lateinamerikanischen Papst der Kirchengeschichte und ersten Nicht-Europäer seit dem Syrer Gregor III. (731 bis 741) beendet sein.