Der Sound des Aufbruchs im Revier: Ruhr Museum zeigt 60 Jahre „Rock & Pop im Pott“

Plakat zum Auftritt der Rolling Stones in der Dortmunder Westfalenhalle, 1967 (Ruhr Museum)

Plakat zum Auftritt der Rolling Stones in der Dortmunder Westfalenhalle, 1967 (Ruhr Museum)

Essens Kulturdezernent Andreas Bomheuer erinnert sich: Essener Songtage 1968, ein singuläres Ereignis in der neueren Musikgeschichte des Ruhrgebiets. Der legendäre Frank Zappa entstieg auf der Bühne einem Sarg und fragte das Publikum schlankweg: „How do you feel?“ Dann legte er los. – Bomheuer ist heute noch ergriffen von dem Moment: „So etwas vergisst man nie.“

Just in Essen, im Ruhr Museum auf dem Gelände des Weltkulturerbes Zeche Zollverein, schickt sich jetzt eine Ausstellung an, derlei kostbare Erinnerungen en gros zu wecken: „Rock & Pop im Pott“ erzählt die Geschichte der populären Musik im Revier über 60 Jahre hinweg. Dazu bietet man die immense Fülle von rund 1500 Exponaten auf (etwa die Hälfte davon Schallplatten).

Historischer Startpunkt sind die damals bundesweit beispiellosen Dortmunder Jugendkrawalle im Spätherbst 1956. Deutsche Radiosender spielten seinerzeit keinen Rock’n’Roll, also musste man sich die Schaffe im Kino „reinziehen“. Es lief der Film „Rock Around the Clock“ (deutscher Titel „Außer Rand und Band“) mit Bill Haley.

Dortmunder Jugendkrawalle

Nach dem Lichtspiel waren nahezu 2000 Jugendliche tatsächlich dermaßen aufgekratzt, dass gar Scheiben zu Bruch gingen – ein in jenen Jahren ungeheuerlicher Vorgang, über den etwa der „Spiegel“ breit berichtete und der schon die Energien ahnen ließ, die sich in dieser Musik Bahn brachen. Fotos und aufgeregte Zeitungsartikel erinnern daran. Interessanter Nebenaspekt: In den Anfangszeiten war – neben dem Kino – auch die Kirmes ein Ort, an dem Rock’n’Roll zur Geltung kam. Auch hier konnte man für ein paar Stunden aus der landläufigen Spießigkeit der Adenauer-Ära ausbrechen.

Blick in die Ausstellung (Ruhr Museum/Foto: Brigida Gonzáles)

Blick in die Ausstellung (Ruhr Museum/Foto: Brigida Gonzáles)

Die Schau beginnt mit markanten Songzitaten und dem Durchgang durch einen Sound-Raum, in dem Highlights des Ruhrgebiets-Rock zur 15minütigen Bild- und Toncollage komprimiert sind. Eine Ausstellung über Musik geht halt nicht ohne Musik. Es ist freilich eine Gratwanderung: Man kann Rock & Pop zwar nicht nur in Vitrinen einsperren, doch andererseits muss man im Museum weit übers bloße „Zuballern“ mit Musik hinaus gelangen.

Sperrholzkisten-Ästhetik

Das Rock-Spektrum im Westen der Republik reicht von Nena bis Herbert Grönemeyer, von Phillip Boa bis Extrabreit (die heute zur längst überbuchten Eröffnung der Ausstellung spielen), von Franz K. bis Geier Sturzflug, von Grobschnitt bis Bröselmaschine. Auch die Humpe-Schwestern Inga und Annette stammen aus dem Ruhrgebiet, genauer: aus Hagen. Die berühmte Schlagzeile „Komm nach Hagen, werde Popstar“ brachte ein neues Selbstbewusstsein zum Ausdruck.

In den frühen Jahren: Auftritt der Gruppe "The Kepa Beatles" in Gelsenkirchen, 1964. (Foto: Herribert Konopka)

In den frühen Jahren: Auftritt der Gruppe „The Kepa Beatles“ in Gelsenkirchen, 1964. (Foto: Herribert Konopka)

Nach dem akustischen Einstieg wird man über einen Boden mit starken Farben (nach passender Maßgabe der Pop Art) durch die Jahrzehnte geleitet, unterwegs waltet eine dem Gegenstand angemessene Sperrholzkisten-Ästhetik. Bloß nicht zu schick und gediegen werden, lieber ein wenig „schmutzig“ bleiben! Einige Seitenkabinette vertiefen die Themen des Hauptstrangs, da geht es beispielsweise um veränderte Tanzstile und vielfach ausdifferenzierte Moden.

Das Team unter Leitung des Museumschefs Prof. Heinrich Theodor Grütter hat kaum eine Facette ausgelassen, die Ausstellung entfaltet ein wahres Kaleidoskop, sie trumpft hie und da mit raumgreifenden „Leitobjekten“ (Kinokasse, Jukebox, Synthesizer) auf, lässt aber nebenher auch manche Zwischentöne anklingen.

Wenn Rock historisch wird

Grütter hält dafür, dass eine solche Ausstellung erst jetzt wirklich sinnvoll sei, weil nun manche Entwicklungen abgeschlossen und somit „historisch“ sind. Mitten im Strom der Ereignisse wäre eine museale Aufarbeitung kaum möglich gewesen. Am Konzept beteiligt war übrigens das Dortmunder Archiv für populäre Musik im Ruhrgebiet. Eine Einrichtung, die sicherlich größere Beachtung verdient.

"Schmutzige" Mode: Lederkutte von Wolle Pannek, Gitarrist von "Eisenpimmel". (Ruhr Museum)

„Schmutzige“ Mode: Lederkutte von Wolle Pannek, Gitarrist von „Eisenpimmel“. (Ruhr Museum)

Zur besseren Gliederung gibt es eine Außen- und eine Innenperspektive, sprich: Hier geht es sowohl um Gastspiele internationaler Rock- und Pop-Stars im Revier, allen voran Beatles (25. Juni 1966) und Stones (12. September 1965) in der Essener Grugahalle, als auch um die zahllosen Bands, die im Ruhrgebiet selbst entstanden sind.

Heinrich Theodor Grütter selbst erinnert sich gern an die Jungs aus seiner Heimatstadt Gelsenkirchen, die als „German Blue Flames“ Furore machten und als eine der ganz wenigen deutschen Gruppen im „Beat Club“ des Fernsehens spielen durften.

Zu großen Teilen ist die Ausstellung eine Angelegenheit für „Best Agers“, wie Grütters selbstironisch anmerkt. Erkennbar ist aber auch das Bemühen, denn doch ein paar jüngere Leute aufs Zollverein-Gelände zu locken, beispielsweise durch Live-Konzerte und musikalische Workshops.

Hymnen aufs Revier

Hunderte, ja Tausende Formationen sind seit Ende der 50er Jahre im Revier entstanden. Zunächst spielten sie Rock’n’Roll und Beat, es folgten z. B. Protestlieder, Krautrock, Neue Deutsche Welle, Punk und Heavy Metal, schließlich Techno und HipHop, wobei in letzterer Stilrichtung Migranten den Ton angeben. Gar nicht mal so erstaunlich: Von den Kindern der Zugewanderten stammen, wie Experten versichern, neuerdings auch die treffendsten „Hymnen“ aufs vielfach geschundene Revier.

Eine regional zugespitzte These der Schau lautet, dass das proletarisch geprägte Revier für Beatmusik fast so prädestiniert gewesen sei wie die Gegend um Liverpool. Immerhin hat ja der Dortmunder Manfred Weissleder den Star Club in Hamburg gegründet, in dem die Beatles frühen Ruhm erlangten. Auch in späteren Jahrzehnten kann man dem (zuweilen rebellischen) Geist der Ruhrregion nachspüren. So hat das einst stählerne Industriegebiet buchstäblich seine eigenen Spielarten des Heavy Metal hervorgebracht.

Weitere Leihgaben gesucht

Die Essener haben den strammen Ehrgeiz, möglichst die gesamte Band-Landschaft des Ruhrgebiets zu kartographieren. Bereits jetzt zeugen über 700 Tonträger-Exponate von ungeheurer Vielfalt. Und die bis Februar 2017 dauernde Schau soll unentwegt wachsen: Wer selbst noch dergleichen Schätze hortet, soll sich melden und womöglich zum Leihgeber werden. Auch Bands, die schon Tonträger veröffentlicht haben (im Zweifelsfalle reichen Demo-Kassetten), werden aufgefordert, Laut zu geben. Das Ganze könnte zur Unternehmung von geradezu enzyklopädischen Ausmaßen anschwellen…

Plakat des Dortmunder Kult-Clubs "Fantasio", 1971 (Ruhr Museum / Ruud van Laar / Foto: Bernd Berke)

Plakat des Dortmunder Kult-Clubs „Fantasio“, 1971 (Ruhr Museum / Ruud van Laar / Foto: Bernd Berke)

Man sollte sich jedenfalls für diese Schau reichlich Zeit nehmen, am besten (ganz im Sinne der Veranstalter) mehrmals kommen, sonst entgehen einem vielleicht Feinheiten wie etwa die Catering-Listen von Rockstars (welchen Saft wollten sie trinken?) oder rare Plakate wie jenes der vom Niederländer Ruud van Laar begründeten Dortmunder Kultstätte „Fantasio“ von 1971, das einen Auftritt des famosen Gitarristen Rory Gallagher avisierte. Oder ein hübsches Detail auf dem Plakat von 1967, das die Rolling Stones in der Dortmunder Westfalenhalle ankündigte und den Eintrittspreis mit schlappen 7 Mark angibt. Man vergleiche, was heute für die Crew von Mick Jagger aufgerufen wird.

Königsweg der Kultur

Rock & Pop haben auch im Revier etliche neue Auftrittsorte (neudeutsch Locations) entstehen lassen, dies ist natürlich gleichfalls Thema im Ruhr Museum, ebenso wie Fanzines, Szene-Zeitschriften und Devotionalien, das technische Equipment (vor allem zahlreiche Gitarren) oder die großen Festivals von „Rockpalast“ bis „Juicy Beats“, wobei die in Duisburg katastrophal beendete Loveparade nur diskret gedämpft zur Sprache kommt.

Glasklar wird allerdings, dass die anfangs so misstrauisch beäugte und niedergehaltene Rock- und Popkultur in den letzten Jahrzehnten recht eigentlich der Haupt-und Königsweg der Kultur gewesen ist. Wer damals jung war, hat es eh im Innersten gespürt.

„Rock & Pop im Pott“. 5. Mai 2016 bis 28. Februar 2017. Geöffnet Mo-So 10 bis 18 Uhr. Ruhr Museum auf Zeche Zollverein, Kohlenwäsche (Gebäude A 14), kostenlose Parkplätze A 1 und A 2, Zufahrt über Fritz-Schupp-Allee. Eintritt 7 Euro, ermäßigt 4 Euro. www.tickets-ruhrmuseum.de Audioguide 3 Euro. Katalog 304 Seiten, 33 Abbildungen (Klartext Verlag) 24,95 Euro. Info-Telefon/Buchung von Führungen: 0201 / 24 681 444.




Weltweit für verfolgte Autoren eintreten – zur Jahrestagung der deutschen PEN-Schriftsteller

Als Gastautor berichtet der Dortmunder Schriftsteller Heinrich Peuckmann von der PEN-Jahrestagung in Bamberg – und gibt einen Ausblick auf die nächste Zusammenkunft der Schriftstellervereinigung, die 2017 in Dortmund stattfinden wird. Heinrich Peuckmann ist selbst Mitglied des PEN.

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Die Ressourcen werden knapper, die Verteilungskämpfe härter, die sozialen Konflikte spitzen sich zu. Regierungen, besonders Diktaturen, denen dazu keine oder nur unzureichende Lösungen einfallen, haben immerhin noch die Möglichkeit, ihre Kritiker zu verfolgen. Und das tun sie.

Über 800 Autoren, Journalisten und zunehmend auch Blogger stehen im Moment auf der Case-List des internationalen PEN, weil sie in ihren Heimatländern im Gefängnis sitzen, gefoltert werden oder sogar mit dem Tode bedroht sind.

Bedrohliche Lage in der Türkei

Im Schatten dieser beängstigenden Zahl fand die Jahrestagung des PEN in der Weltkulturerbe-Stadt Bamberg statt. Das Motto der Tagung, von Jean Paul entliehen, bekräftigte den Kampfeswillen der gut 150 Autoren, die nach ihrer Charta der Freiheit des Wortes verpflichtet sind und den bedrückenden Zustand nicht hinnehmen wollen: „Eine Demokratie ohne ein paar hundert Widersprechkünstler ist undenkbar.“

Hauptschauplatz der nächsten PEN-Tagung im April 2017: das "Dortmunder U" - hier im Hintergrund. (Foto: Bernd Berke)

Hauptschauplatz der nächsten PEN-Tagung im April 2017: das „Dortmunder U“ – hier im Hintergrund. (Foto: Bernd Berke)

Begleitet werden die Sitzungstage des PEN stets von einem literarischen und politischen Begleitprogeramm. Die Eingangsveranstaltung beschäftigte sich diesmal mit der Verfolgung der türkischen Journalisten Can Dündar und Erdem Gül, die veröffentlicht hatten, dass der türkische Geheimdienst Waffen nach Syrien, und dabei womöglich an den IS, geschmuggelt haben soll. Der deutsche PEN hatte die beiden schon vor dem Treffen zu seinen Ehrenmitgliedern ernannt, so dass Strafen gegen sie nun auch Strafen gegen Mitglieder des PEN sind.

Unter der Moderation des Rundfunkredakteurs und Autors Harro Zimmermann diskutierten der „Writers-in-Prison-Beauftragte“ und Vizepräsident Sascha Feuchert und der inzwischen aus der Türkei ausgewiesenen Spiegel-Redakteur Hasnain Kazim ausführlich die bedrückende Situation für kritische Journalisten und Schriftsteller in der Türkei.

Gegen den Blasphemie-Paragraphen

In einer anderen Veranstaltung mit dem Titel „Befreit Gott von den Gläubigen“ diskutierten u.a. der Bundesrichter und Spiegel-Kolumnist Thomas Fischer und der Philosoph Christoph Türcke über den §166 zur Blasphemie, dessen Abschaffung am Ende der Veranstaltung von allen Beteiligten gefordert wurde. Fischer führte stringent aus, dass §130 (Volksverhetzung) ausreiche, um die Störung der öffentlichen Ordnung durch Beleidigung und Herabsetzung auch der Religion zu bestrafen.

Der deutsche PEN ist der einzige von insgesamt 130 PEN-Clubs in aller Welt, der ein eigenes „Writers-in-Exile“-Programm hat. Acht verfolgte Autoren leben als Stipendiaten derzeit in seinen Wohnungen in verschiedenen deutschen Städten. Nach Gefängnis, Verfolgung, Todesdrohung können sie hier zwei Jahre Ruhe finden und wieder schreiben. Diese Stipendiaten sind natürlich auch Gäste bei den Jahrestagungen und werden stets dem Plenum vorgestellt.

Natürlich spielt auch die Literatur eine Rolle, und hier gibt es seit drei Jahren den schönen Programmpunkt, dass die neuen Mitglieder, die bei der vorangegangen Jahrestagung neu in den PEN gewählt wurden, sich mit einer Kurzlesung vorstellen. Diesmal waren bekannte Autoren und Kritiker wie Antje Ràvic Strubel, Sigrid Löffler oder Anne Mehlhorn darunter.

88 vorwiegend jüngere Autoren kommen hinzu

Die Neuwahlen waren in diesem Jahr ein Knackpunkt, denn das Präsidium hatte im Vorfeld festgestellt, dass von den jungen Autoren, die sich im Literaturbetrieb längst einen Namen gemacht haben, viel zu wenige Mitglieder im PEN sind. So hat denn das Präsidium selbst, was absolut ungewöhnlich ist und nur einmal vor vielen Jahren, als Heinrich Böll noch PEN-Präsident war, vorgekommen war, eine umfangreiche Liste mit achtundachtzig Autoren vorgelegt, die dann tatsächlich alle gewählt wurden. Man wollte eine Lücke schließen und einer Überalterung vorbeugen, unter der viele Verbände (nicht nur im Kulturbereich) leiden. Autorinnen und Autoren wie Albert Ostermaier, Jenny Erpenbeck, Gabriele Krone-Schmalz, aber auch der Dortmunder Jörg Albrecht sind darunter.

Vorfreude auf Dortmund

Daraus ergibt sich sich nun für die Jahrestagung 2017 die Notwenigkeit einer langen Literaturnacht mit Parallellesungen an verschiedenen Plätzen, um diese schöne Einrichtung beibehalten zu können. Diese nächste PEN-Jahrestagung wird von 27. bis 30. April 2017 in Dortmund stattfinden, weshalb Kulturdezernent Jörg Stüdemann nach Bamberg gekommen war, um die Stadt in einem ebenso launigen wie informativen Vortrag vorzustellen. Nach diesem Vortrag gab es viel Zustimmung, die PEN-Autoren freuen sich auf Dortmund. Haupttagungsort wird das Dortmunder „U“ sein, aber es werden auch Veranstaltungen im Depot im Dortmunder Norden und im Museum für Kunst- und Kulturgeschichte stattfinden.

Dabei soll die literarische Tradition dieser Stadt aufgegriffen werden. Die „Dortmunder Gruppe 61“ mit Autoren wie Max von der Grün, Günter Wallraff oder Josef Reding wurde hier gegründet und beschäftigte sich mit dem Thema Arbeitswelt zu einer Zeit, als es in der übrigen Literatur so gut wie gar nicht auftauchte. Später wurde dieser Schwerpunkt vom „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“, der viele Jahre im Dortmunder Fritz-Henßler-Haus tagte, fortgesetzt.

Neuer Blick auf soziale Konflikte

Dass es längst wieder Zeit ist, sich mit dieser Thematik zu beschäftigen, zeigen die vielen sozialen Konflikte im Land. Zu diesem Punkt gab es ein großes Einvernehmen unter den PEN-Autoren, denn viele finden, dass es längst Zeit ist, sich wieder neu diesem Thema zuzuwenden.

Das Motto der Dortmunder Tagung, zu der auch NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft ihr Kommen zugesagt hat, geht natürlich auf einen Dortmunder Autor zurück. Peter Rühmkorf wurde in dieser Stadt geboren und er äußerte zum politischen Engagement eines Autors „Bleib erschütterbar und widersteh.“ Fast so etwas wie ein Dauerauftrag an den PEN.

Die Dortmunder Jahrestagung soll durch verschiedene Veranstaltungen vorbereitet werden, damit das Anliegen schon vor dem Kommen der vielen Autoren den Kulturinteressierten der Stadt bekannt ist. Beispiel: Der kolumbianische Stipendiat Erik Allena Bautista, ein Filmemacher und Lyriker, soll im Herbst seine Arbeiten im Literaturhaus vorstellen. Seine Mutter wurde in Kolumbien getötet, er selber wurde nach kritischen Filmen über die Mafia gesucht. Nun lebt er als Writer-in-Exile in Hamburg. Dazu soll es eine Lesung mit einem prominenten PEN-Autor geben.




Alles steht kopf – Thomas Schweres macht mit dem Krimi „Die Abdreher“ das große Fass auf

Die Abdreher Vier frisch abgetrennte Männerköpfe auf dem Fensterbrett einer Wohnung in der Dortmunder Nordstadt. Und gesehen hat natürlich keiner was. Wirklich keiner? Der Jagdinstinkt des Polizeireporters Tom Balzack ist geweckt. Da müssen sich doch Augenzeugen auftreiben lassen, besser noch ein Video. Und am allerbesten, wenn es zu diesem Video noch ein bisschen journalistischen Beifang gibt, mit dem man Mafiabosse an die Angel kriegt.

Blöd allerdings, wenn die Mafia noch der angenehmste Gegner ist und man vor lauter Recherche gar nicht gewahr wird, wer die eigentlichen Hintermänner sind und mit wem man sich da noch alles anlegt. Mit dem IS zum Beispiel. Oder mit der Dortmunder Polizei in Gestalt des mürrischen, aber fähigen Kommissar Schüppe und seinem in der rechten Szene agierenden Undercover-Agenten.

Noch blöder, wenn man auf allen Abschusslisten steht und dadurch ganz prima als Köder für Schüppe und Co. fungieren kann, selbst aber der Letzte ist, der das mitkriegt.

Mit „Die Abdreher“ schickt Thomas Schweres zum dritten Mal den kauzigen Schüppe und den umtriebigen Balzack auf Verbrecherjagd – und nicht nur das Cover steht auf dem Kopf. Die ganze Welt scheint aus den Fugen geraten.

Nichts ist, wie es scheint und alles hängt mit allem zusammen. Passt gut auf den Schauplatz Ruhrgebiet, hier mischt sich ja von jeher alles mit allem und das gilt natürlich auch für das Verbrechen. Und wo der Autor schon einmal dabei ist, das ganz große Fass aufzumachen, findet sich auch noch Platz für die Genderdebatten: Als Tribut an den Feminismus gibt es eine eiskalte Auftragskillerin und mit dem Märchen von den angeblich nicht existenten gesetzesfreien Zonen räumt Schweres direkt mit auf. Zur Auflockerung gibt es ein paar boulevardeske Gestalten, deren real existierende Vorbilder unschwer zu erkennen sind.

Schweres gibt sich mit diesem überbordenden Füllhorn an Themen, die er da über den Leser ausschüttet, selbst genug Gelegenheit, sich zu verzetteln – aber er kriegt immer die Kurve. Hat man erst einmal alle handelnden Personen verinnerlicht, liest es sich trotz der überbordenden Ereignisse leicht. Der langjährigen Berufserfahrung der Reporters Schweres sei Dank. Verkürzen, zusammenfassen und schnell wieder zurück auf den Punkt kommen, das kann er.

„Die Abdreher“ sind noch etwas düsterer als ihre Vorgänger. Zu aktuellen Geschehnissen wie der „Flüchtlingskrise“ und der Bedrohung durch den IS eröffnet Schweres neue Blickwinkel. Glaubwürdig zeigt er, dass auch Allianzen funktionieren, die auf den ersten Blick absurd anmuten, möglicherweise motiviationsbedingt aber logisch sind. Denn ein Krieg, eine Krise entsteht nur vordergründig aus Ideologien und Glaubensfragen, letztendlich geht es immer nur um Macht und Geld. Wie nahe Schweres mit seiner Romanhandlung der tatsächlich vorhandenen Bedrohung kommt, zeigte sich just diese Woche mit mit dem erschreckenden Anschlag auf den Tempel der Sikh in Essen.

Wie schon in den vorangegangen Bänden spricht Schweres unerschrocken das aus, was viele wissen, alle ahnen, was aber nur allzu gerne unter den Tisch gekehrt wird. Er legt seine Finger in die Wunden des Reviers und spricht Klartext. Seine geschickt in die Romane eingebauten Erkenntnisse aus seinem real existierenden Reporterleben wiegen umso schwerer, als Schweres selbst aus dem Ruhrgebiet ist und es erkennbar liebt. Trotz allem. Wegen allem.

Dennoch sind Schweres‘ Krimis nicht nur etwas für die Freunde der spannenden Ruhrpott-Literatur. Die Handlung spielt hier, kann auch nur hier spielen, aber Lesefreude dürfte auch weit über das Revier hinaus aufkommen. Und das bisschen Ruhrpottsprech in den Dialogen schaffen auch Auswärtige.

Bei aller Düsternis bleibt aber auch dieses Mal der Humor nicht auf der Strecke. Dafür kennt der Medienprofi Schweres sein Publikum zu gut. Etwas Auflockerung muss sein. Und wenn sie in der Gestalt des Labradoodles Renault daherkommt. (Renault, weil er auch nicht anspringt. Haha. Aber geschenkt. Verbuchen wir es unter der alten Ruhrpottweisheit: Mit ’nem guten Plattwitz kriegste allet aufgelockert). Auch aktuelle Steilvorlagen wie die verunsichernden Teile einer Antwort lässt der Medienprofi nicht ungenutzt.

Eine reizvolle, willkommene Abwechslung bei Lektüre sind wieder die kleinen Blicke durchs Schlüsselloch des Boulevards. Wobei Schweres da immer respektvoll bleibt und Grenzen nicht verletzt. Man darf mit einiger Sicherheit annehmen, dass beispielsweise das reale Vorbild für Gloria Wolkenstein ihr im Buch auftauchendes Alter Ego durchaus goutiert. Zumal ausgerechnet sie entscheidend zur Aufklärung beitragen wird. Gut für die Kommissare, gut für sie. Kann sie so doch unbelastet in ein Dschungelabenteuer starten. Ausgang zum Zeitpunkt der Krimi-Entstehung noch ungewiss.

Thomas Schweres: „Die Abdreher“. Grafit Verlag, Dortmund. 280 Seiten, 11 Euro.




Verloren in Blödigkeit – mit dem Smartphone im Konzerthaus

Spontaner Besuch im Dortmunder Konzerthaus. Nicht für Geigen-, Klavier- oder Orchesterklang, auch nicht zwecks Rezension, sondern ganz privat zum (anregenden) Auftritt des Kabarettisten Andreas Rebers. Bei solchen Anlässen sind Kleiderordnung und Sitten etwas legerer als in der edleren Klassik-Gemeinde. Doch was zu weit geht, geht zu weit.

Im nahezu ausverkauften Saal ist ausgerechnet der junge Platznachbar zu meiner Linken offenbar heillos süchtig. Von Anfang an nervös auf seinem Sessel hin und her rutschend, hält er es schon nach ein paar Minuten Programm nicht mehr aus und zückt sein Smartphone mit dem ziemlich großen Bildschirm. Der flackert fortan so grell und unstet auf, dass es ringsum im dunklen Zuschauerraum einfach irritiert – siehe Beweisfoto.

Ertappt: So sieht das aus, wenn jemand im abgedunkelten Konzertsaal sein Smartphone eingeschaltet hat. (Foto: BB)

So sieht das aus, wenn jemand im abgedunkelten Konzertsaal sein Smartphone eingeschaltet hat. (Foto: BB)

Hei, wie die Däumchen hin und her fliegen, wie sie immer neuen Content aufrufen und flugs gegeneinander verschieben. Ein Ende ist und ist nicht abzusehen.

Man fragt sich, was dieser Mensch hier eigentlich verloren hat. Er schaut schon längst nicht mehr zur Bühne und hört auch gar nicht hin. Dabei müsste er für diesen Platz immerhin 39 Euro bezahlt haben.* Ein Fall von Fehlkauf? Hat er die Karte geschenkt bekommen oder bei einer Tombola gewonnen und sitzt sie nun widerwillig ab? Egal. Er zeigt jedenfalls keinerlei Regung. Worüber denn auch? Er nimmt ja – außerhalb des Bildschirm-Gevierts – nichts wahr.

Schließlich spreche ich ihn leise an. Ob er denn bitte das Gerät abschalten könne. Es störe doch sehr. Tatsächlich schaltet er gleich wort- und blicklos aus. Aber um welchen Preis der Seelenqual! Schon nach wenigen Sekunden traktiert er mit beiden Daumen einen Programmzettel, als wäre der ein Smartphone. Unentwegt. Verloren in Blödigkeit.

Zur Pause hat der Däumling das Haus verlassen. Dagegen hatte ich nichts einzuwenden.

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* In diesem Zusammenhang noch einmal besten Dank an den freundlichen Mann, der sich eigens aus Essen nach Dortmund bemüht hatte, um seine beiden Karten günstig abzugeben, damit sie nicht verfallen.




Über die Wirtschaftswelt hinaus: Düsseldorfer Einblick in Gabriele Henkels Kunstsammlung

Foto: Achim Kukulies © Kunstsammlung NRW

Foto: Achim Kukulies © Kunstsammlung NRW

Wer kennt sie nicht noch von früher, die weiße Frau von Persil? Das Waschmittel ist vielleicht das berühmteste Produkt der Firma Henkel aus Düsseldorf. Gabriele Henkel, Kunstkennerin und Mäzenin, hat mit den Jahren eine eindrucksvolle Kunst-Sammlung aufgebaut, mit Werken von berühmten Düsseldorfer aber auch internationalen Künstlern des 20. Jahrhunderts und der Nachkriegsmoderne.

Die Bilder aus der Firmenzentrale sind nun erstmals öffentlich im Museum zu sehen, kuratiert von Gabriele Henkel selbst. Die weiße Frau ist natürlich nicht dabei, dafür eine interessante Auswahl von Gerhard Richter über Günther Uecker bis hin zu Heinz Mack, Frank Stella und Imi Knoebel.

Tatsächlich ist es nicht ganz leicht, den Saal mit der Henkel-Ausstellung in der Kunstsammlung NRW am Grabbeplatz in Düsseldorf überhaupt zu finden. Nach ein paar Irrwegen durch die ständige Sammlung öffnet sich aber der Blick in den großen rechteckigen Saal. In der Mitte sind zum Kontrast zu den Bildern und Objekten an den Wänden Podeste mit kostbaren außereuropäischen Teppichen und Wandbehängen ausgestellt. So exquisit und kunstvoll diese Stücke sind, erschließt sich nicht ganz der inhaltliche Zusammenhang zu den anderen Werken. Außer, dass sie auch Henkel gehören.

Die 40 ausgestellten Werke aber beweisen den untrüglichen Instinkt der Sammlerin Gabriele Henkel: Viele wichtige Künstler der klassischen Moderne sowie abstrakte Werke der Nachkriegszeit sind zu sehen. Farbenfroh ragen die bunten Blechobjekte von Frank Stella in den Raum; auch Imi Knoebel liebt knallige Farben und geometrische Formen.

Tatsächlich spiegelt sich sogar das Thema Arbeitswelt in einigen Werken wieder: So zeigt Jean Metzingers Gemälde „Relais“ von 1920 eine Fabrik, ironisch greift Konrad Klapheck das Verhältnis von Mensch und Maschine in seinem Werk „Die Diva“ von 1973 auf – die mondäne Dame ist eigentlich eine Dusche, die ihren „Kopf“ ziemlich hoch trägt.

Gabriele Henkel war es immer wichtig, diese Kunstwerke allen Mitarbeitern zugänglich zu machen, so hingen sie in Fluren, Konferenzräumen, Treppenhäusern oder Büros. Sie reflektierten und erweiterten dabei den Horizont der Arbeitswelt. Im Museum dagegen ergeben sie eine kompakte Schau und zeigen bisher Unbekanntes von bekannten Namen. Nach Umrundung des Saales stößt man links neben der Tür auf ein aktuelles Werk von Horst Münch („Der große Blonde“ von 2015) und ist mit diesem witzigen Abschluss direkt in der Gegenwart angekommen.

Den Ausgang aus dem Museum zu finden war dann wieder etwas schwieriger: Ich verirrte mich noch kurz in Joseph Beuys goldenem „Palazzo Regale“ (starke Sache, immer einen Kurzbesuch wert), bis ich wieder in der Düsseldorfer Altstadt landete. In der Dämmerung trat langsam die rote Leuchtschrift auf dem Wilhelm-Marx-Haus hervor: Sie wirbt für Persil.

Die Ausstellung „Henkel – Die Kunstsammlung“ ist bis zum 14. August 2016 zu sehen. Internet: www.kunstsammlung.de

 




Elend so nah: Jelineks „Die Schutzbefohlenen“ mit Epilog im Bochumer Schauspiel

Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum

Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum

Es regnet Menschen: Klein, rosa, nackt prasseln die Püppchen auf die Bühne hernieder und bleiben den Wohlstandsmenschen in den Haaren hängen. Sie häufen sich auf dem Boden, so dass die Bühnenarbeiter sie zum Schluss wegfegen müssen. Hilft ja nichts, es sind zu viele.

Wortkaskaden strömen in den Zuschauerraum, es sind viele Wörter, Textflächen, sie kreisen um die Themen Flucht, Migration, das Eigene und das Fremde und sie sind von Elfriede Jelinek. Hermann Schmidt-Rahmer inszenierte für das Bochumer Schauspielhaus „Die Schutzbefohlenen/Appendix/Coda/Epilog auf dem Boden“, wobei „Die Schutzbefohlenen“ bereits 2014 uraufgeführt wurde. Das Stück nimmt Bezug auf die antike Tragödie „Die Schutzflehenden“ von Aischylos. Parallel zur Entwicklung der „Flüchtlingskrise“ in Europa hat Jelinek den Text seitdem fortgeschrieben und erweitert. Der letzte Teil „Epilog auf dem Boden“ war nun in Bochum erstmalig zu sehen.

Die Perücken und Kostüme der Schauspieler erinnern an Marie Antoinette und Luis XVI, aber als seien sie von Karl Lagerfeld verfremdet und zum letzten Schrei von Paris erklärt. Die dekadente Gesellschaft trägt dunkle Datenbrillen, durch die sie in sicherem Abstand die Tragödie auf dem Mittelmeer medial verfolgt.

Nein, die Europäer sind nicht am eigenen Leibe betroffen, sie schauen nur zu. Natürlich ist das schrecklich, da muss man Mitleid haben. Wirklich beängstigend wird es aber für sie erst, als plötzlich die realen Menschen in ihr Land strömen und man diesen und ihrem Unglück von Angesicht zu Angesicht begegnen kann. Da wird’s dann doch ein bisschen viel. So genau wollte man das Elend lieber doch nicht sehen.

Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum

Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum

In Jelineks Text prallen die Absurditäten der Politik und Gesellschaft mit einer ganz eigenen Ironie aufeinander. Sie hat dem Gerede gelauscht und reiht die wahnsinnigen Worthülsen dieser Tage so aneinander, dass man nicht zu fassen glaubt, was man da alles hört.

Doch wie funktioniert das auf der Bühne? Schmidt-Rahmer hat mit seinem Bühnenbildner Thilo Reuther und den Kostümen von Michael Sieberock-Serafimowitsch eine ästhetische Plattform gefunden, in der sich das Thema sinnfällig entfalten kann: Die große Landkarte von Nordafrika ist wie ein Trichter aufgehängt, durch den die eingangs beschriebenen Püppchen in die Szene purzeln. Die großartigen Schauspieler bringen den Text zum Schweben und helfen bei der Materialisierung – inklusive Püppchenköpfen (für das Video im Netz).

Allerdings ist Jelineks Perspektive immer nur die unsere: Auch wenn Schicksale von Flüchtlingen referiert werden, geschieht das durch unsere Augen und nicht aus deren eigener Sicht. Hier gerät der Text an seine Grenzen, das ist dramatisch nicht leicht zu überwinden. In Nicolas Stemanns Inszenierung für das Thalia Theater waren Flüchtlinge selbst als Chor einbezogen, Schmidt-Rahmer überlässt es in Bochum den Schauspielern, auch in die Rollen der Flüchtlinge zu schlüpfen. Das klappt nicht immer. Aber warum sollte es auch? Jelinek schreibt über uns, weil sie von uns am meisten weiß. Und wir im Publikum schauen dabei zu – die anderen stauen sich an den Grenzen…

Karten und Termine: www.schauspielhausbochum.de




Klugheit, Humanität, Gottvertrauen: Die britische Queen Elizabeth II. wird 90 Jahre alt

Sie ist die älteste Monarchin der Welt. Sie regiert länger als alle britischen Königinnen und Könige vor ihr. Und sie ist nicht zuletzt dank des Fernsehens das wohl bekannteste gekrönte Haupt der Welt. Elizabeth II., die „Queen“, feiert am heutigen 21. April ihren 90. Geburtstag – und die Welt nimmt daran teil.

Queen Elizabeth II. im März 2015 bei einem offiziellen Termin in Plymouth. (Foto: Joel Rouse, Ministry of Defence - Open Government Licence - http://www.nationalarchives.gov.uk/doc/open-government-licence/version/3/)

Queen Elizabeth II. im März 2015 bei einem offiziellen Termin in Plymouth. (Foto: Joel Rouse, Ministry of Defence – Open Government Licence: http://www.nationalarchives.gov.uk/doc/open-government-licence/version/3/)

Ihr zu Ehren wird vom 12. bis 15. Mai eine gigantische Party gefeiert. Jeden Abend soll es auf dem Gelände von Schloss Windsor Paraden geben, mit 1.500 Künstlern aus aller Welt – und mit 900 Pferden, für jedes Lebensjahr der Pferdeliebhaberin zehn. Die Karten für diese öffentlichen Feiern waren nach Berichten der englischen Presse innerhalb von fünf Stunden verkauft.

Ein Höhepunkt der Feierlichkeiten ist das zweite Wochenende im Juni. An diesem Termin wird der Geburtstag der Regentin üblicherweise gefeiert. Am Freitag, 10. Juni, gibt es einen Dankgottesdienst in St. Paul’s Cathedral. Am Samstag folgt die traditionelle Geburtstagsparade „Trooping the colour“. Die „Royals“ verfolgen sie wie stets vom Balkon des Buckingham Palace aus. Und am Sonntag startet auf „The Mall“, der Straße, die zum Palast führt, ein Fest für die mehr als 600 Organisationen, deren Schirmherrin Queen Elizabeth ist. 10.000 Gäste sollen dann an langen Tischen speisen – ein Dank für ihren wohltätigen Einsatz.

Monarchin mit hohem Pflichtgefühl

Devotionalien stehen hoch im Kurs: Diese Teedose in standesgemäßem Pink gab es 2012 zum Diamantenen Thronjubiläum. Foto: Werner Häußner

Devotionalien stehen hoch im Kurs: Diese Teedose in standesgemäßem Pink gab es 2012 zum Diamantenen Thronjubiläum. Foto: Werner Häußner

Der 90. Geburtstag wird, ähnlich wie das Diamantene Thronjubiläum der Königin 2012, die britische Nation über Monate beschäftigen. Ebenso eine Reihe der 53 zum Staatenverbund „Commonwealth“ gehörenden Länder. Von ihnen haben etwa Kanada, Australien oder der pazifische Inselstaat Tuvalu nach wie vor Elizabeth II. als Staatsoberhaupt.

Beim Kronjubiläum 2012 gab es vom Kartenspiel bis zur Teedose Jubiläumsprodukte ohne Ende. Zahllose Briten feierten auf Parties oder Teegesellschaften ihre Königin. Dankgottesdienste fanden statt. An der längsten je veranstalteten Schiffsparade auf der Themse nahmen 670 Schiffe und Boote teil. Über zehn Millionen Fernsehzuschauer verfolgten sie am Nachmittag des 3. Juni 2012. Trotz miserablen Wetters drängten sich Hunderttausende an den Ufern und auf den Brücken der Londoner City.

Die Queen und der kränkelnde Prinz Philip zeigten sich von Kälte und Nässe unbeeindruckt. Das ist auch ein Zeichen für das Pflichtgefühl der Monarchin.

Streng geregelter Tagesablauf

Elizabeth II. nimmt ihren Amtseid sehr ernst. Ihr Tagesablauf beginnt gegen 8.30 Uhr. Nach Morgentoilette und Frühstück spielt ein Dudelsackpfeifer, denn Elizabeth liebt diese schottische Folklore. Dann folgen die Lektüre von Presseartikeln und das Unterschreiben wichtiger Dokumente. Von den mehreren hundert täglichen Zuschriften behält sich die Queen vor, einige selbst zu beantworten. Ab elf Uhr empfängt sie Gäste, bis das Mittagessen gegen 13 Uhr eine kleine Verschnaufpause bringt.

Die Nation flaggt für ihre Königin. Dass unter der Fahne für Münchner Bier geworben wird, stört nicht. Foto: Werner Häußner

Die Nation flaggt für ihre Königin. Dass unter der Fahne für Münchner Bier geworben wird, stört nicht. Foto: Werner Häußner

Termine prägen auch den Nachmittag. Heilig ist dem Vernehmen nach für Elizabeth die traditionelle englische Teestunde gegen 16 Uhr. Zum schwarzen Tee gibt es süße scones mit Butter und Marmelade, Gurken-Sandwiches oder „jam pennies“ – das sind winzige, runde Sandwiches mit etwas Marmelade, die etwa die Größe einer alten Penny-Münze haben.

Anschließend trifft sich die Königin mit Politikern oder liest Protokolle, bevor sie sich zu offiziellen Essen oder Feierlichkeiten rüstet. Hat die Königin einen ihrer seltenen freien Abende, soll sie gerne fernsehen. Mit dabei sind natürlich stets ihre geliebten Corgi-Hunde.

Unterleutnant und Automechanikerin

Die Krönung der 1926 als Elizabeth Alexandra Mary Windsor geborenen Monarchin am 2. Juni 1953 war eines der ersten Großereignisse des Fernseh-Zeitalters. Die Zeremonie wurde von dem neuen Medium übertragen, der Absatz von Fernsehgeräten ging in die Millionen.

Vorher genoss Elizabeth eine häusliche Erziehung und Schulausbildung. Im Zweiten Weltkrieg diente sie als Unterleutnant in der Frauenabteilung des Britischen Heeres. Dort erhielt sie eine Ausbildung als Automechanikerin und machte den LKW-Führerschein. Elizabeth galt in jungen Jahren als forsche Fahrerin. Sogar den saudi-arabischen Kronprinzen als Beifahrer soll sie in Angst und Schrecken versetzt haben.

Einige Krisen überstanden

Elizabeth hatte in den 64 Jahren ihrer Regentschaft politische, familiäre und persönliche Krisen zu bestehen, von den Scheidungen ihrer Kinder, über die Beziehungsprobleme Prinz Charles und den tragischen Tod Prinzessin Dianas bis zu den Eskapaden ihrer Enkel und dem Brand auf Windsor Castle 1992. Immer wieder stellten Kritiker der parlamentarischen Monarchie die Frage, ob diese Staatsform nicht überholt sei. Andere störten sich an den Kosten der Hofhaltung und den Apanagen der „Royals“.

Mit Besonnenheit und Zurückhaltung hat die Queen allen Krisen Paroli geboten. Bei allen Höhen und Tiefen ihrer Regierungszeit: Elizabeth ist heute beliebt wie nie zuvor. Das liegt sicher auch, wie der fachkundige Autor Robert Lacey schreibt, an ihrer Klugheit und Humanität, die sie mit großer Bescheidenheit an den Tag legt. Und sie ist als weltliches Oberhaupt der Kirche von England auch eine gläubige Frau: Der Glaube sei Anker und Inspiration ihres Lebens, ließ sie in ihrer Weihnachtsansprache 2014 wissen – eine der wenigen authentischen privaten Äußerungen der Königin. In einem neuen Buch anlässlich ihres 90. Geburtstags schreibt sie im Vorwort, sie bleibe dem Volk dankbar für seine Gebete und Gott „für seine unverbrüchliche Liebe“, die sie in den 64 Jahren ihrer Regentschaft erkannt habe.




Werden wirklich viele alte Menschen arm sein?

Im Herbst 2017 wird es wieder Wahlen zum Deutschen Bundestag geben, und schon hört man im Hintergrund das Säbelrasseln. Die CSU möchte die zukünftigen Rentner beglücken und weiß die Sozialdemokraten an ihrer Seite. Mit der Behauptung, im Alter sei fast die Hälfte der Mitbürger von Armut bedroht, wird der Ruf nach einer Rentenreform auf Kosten der jetzt noch berufstätigen Generationen laut.

Aber stimmt das wirklich? Werden tatsächlich so viele Menschen im Alter arm sein? Dietrich Creutzburg ist jetzt dieser Frage in der Samstagausgabe der FAZ nachgegangen, und er nennt sein Ergebnis „Das Märchen von der Altersarmut“. Zumindest nachdenken kann man über seine Berechnungen.

Zwei Rentner im Park. (Foto Fischer-Pöpsel)

Zwei Rentner im Park.
(Foto Fischer-Pöpsel)

An dieser Stelle sollen einmal nur die von Creutzburg genannten Zahlen zur Diskussion stehen: Nach dem aktuellen Rentenbericht und der Prognose der Ministerin Andrea Nahles werden die Renten bis 2029 bei angenommener jährlicher Steigerung von 2 Prozent um insgesamt rund 41 Prozent steigen.

Im vergleichbaren Prognose-Zeitraum, nämlich in den vergangenen 15 Jahren, haben sich die Verbraucherpreise um insgesamt etwa 25 Prozent erhöht. Wenn diese Entwicklung so fortgeschrieben wird, „werden die Renten 2029 auch real, also preisbereinigt, 15 Prozent mehr wert sein als heute“, schreibt Creutzburg. Eine Durchschnittsrente von 1000 Euro steigt also nach Nahles‘ Prognose bis 2029 auf 1400 Euro, in heutigen Preisen gerechnet also auf einen Wert von 1150 Euro. „Verschärfte Altersarmut folgt daraus nicht“, schreibt der Autor.

Aber es gibt doch jetzt schon so viele Mini-Renten, rufen die Sozialverbände. Horst Seehofer hat sogar vermutet, dass bald „die Hälfte der Bürger“ auf Grundsicherung angewiesen sein könnte.

Auch dazu nennt Creutzburg Zahlen: Zur Zeit seien nur etwa 3 Prozent der Bürger über 65 Jahre auf Grundsicherung angewiesen. Natürlich sei der Anteil der Rentner, die nur eine kleine gesetzliche Rente erhalten, deutlich höher als 3 Prozent. Das habe aber meist andere Gründe – Beamte zum Beispiel, die neben ihrer Versorgung aus früheren Tätigkeiten eine gesetzliche Minirente beziehen, oder Ärzte, Anwälte und andere Berufsgruppen, die Versorgungswerken angehören. Auch werde in manchen Berechnungen bei Ehepaaren mit ungleichem Einkommen der Partner mit dem geringeren Einkommen automatisch als arm gewertet, „auch wenn der Haushalt finanziell gut ausgestattet ist“.

Es lohnt sich also meines Erachtens, auch in so schwierigen Fragen wie der Altersversorgung auf die Fakten zu achten, ohne das Schicksal der wirklich armen Mitbürger aus den Augen zu verlieren.




Games und Gaffer – das tägliche und manchmal tödliche Elend mit den Smartphones

Eigentlich sollte man alle „Smartphones“ in den Orkus werfen. Dann Deckel drauf. Fertig. Und keine Wiederkehr. Warum ich so wütend bin? Abwarten. Kommt gleich.

Manchmal sind die Dinger nützlich, gewiss. Doch sie richten immensen Schaden an.

Nein, es geht nicht in erster Linie zum 1000. Mal darum, dass so viele Zeitgenossen (nein: zeitabwesende, geisterhafte Gestalten) ständig auf die lächerlichen Bildschirmchen stieren und starren, um sich aller wirklichen Umgebung zu entziehen. Nähme man ihnen die Handys weg, wüssten gar manche wohl nicht, was sie mit sich und der Welt noch anfangen sollten.

Man hat ja selbst auch so'n Zeug. (Foto: BB)

Man hat ja selbst auch so’n Zeug. (Foto: BB)

Auch geht es jetzt nicht um Autofahrer, die durch „Simsen“ oder sonstigen Handy-Gebrauch werweißwieviele Unfälle verursachen.

Hier dreht es sich vielmehr um zwei Nachrichten der vergangenen Tage, die einem gleichermaßen Schrecken einjagen:

Zum einen besteht der dringende Verdacht, dass der Fahrdienstleiter, unter dessen Aufsicht (Aufsicht?) das schreckliche Zugunglück von Bad Aibling geschehen ist, durch ein Online-Game auf seinem Handy abgelenkt war. Der 39-Jährige sitzt deshalb in U-Haft, die Staatsanwaltschaft ermittelt. Elf Tote und 85 Verletzte wegen eines läppischen Computerspielchens? Ach, wäre es doch nicht wahr…

Weiter nordwärts, in Hagen am Rande des Ruhrgebiets, gab es am letzten Mittwoch eine unfassbare Steigerung des ohnehin schon elenden „Gaffens“. Ein zehnjähriges Mädchen war von einem Auto angefahren worden, ein Rettungshubschrauber musste es in eine Spezialklinik bringen.

Die Helfer hatten eigens Tücher aufgehängt, welche das schwerverletzte Mädchen vor neugierigen Blicken schützen sollten. Tatsächlich hat ein ungebetener Zuschauer eines der Tücher weggerissen, um die Szenerie mit seinem Smartphone besser ablichten zu können. Angeblich soll er es auch so idiotisch begründet haben: „Das muss ich so machen, ich kann sonst nicht richtig filmen.“ Was für ein armseliger Wicht.

War’s ein selbsternannter „Bürgerreporter“, der den Film womöglich noch verkaufen wollte? Egal. Er war wahrscheinlich der übelste, aber beileibe nicht der einzige Schaulustige, der im Umkreis des lebenswichtigen Einsatzes die Grenzen allen Anstands überschritten hat. Auch andere haben nach Kräften Film- und Fotoaufnahmen gemacht. Ob sich andere Passanten dagegen gewendet haben? Davon ist leider nichts zu lesen.

Aber hat denn die Polizei gar keine richtige Handhabe gegen solche ruchlosen Leute? Offenbar blieb ihr nichts übrig, als das schäbige Verhalten im Internet zu brandmarken. Wenigstens das.

Für einen unmissverständlich formulierten „Gaffer-Paragraphen“ wäre ich sofort zu haben. Statt dessen steht bei uns immer noch „Majestätsbeleidigung“ unter Strafe…

Spontan möchte man also am liebsten die Geräte einstampfen und sich für immer davon verabschieden. Mir ist schon klar, dass das vollkommen illusorisch ist. Auch der innige Wunsch, dass man die hochgerüsteten Handys einiger Funktionen beraubt, so dass man mit ihnen nicht mehr ins Netz gehen oder fotografieren könnte, sondern nur – wie ehedem – telefonieren; auch dieser Wunsch wird ein frommer bleiben. Es ist ein Jammer.

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Mit Nachrichtenmaterial von www.spiegel.de (Bad Aibling) und www.derwesten.de (Hagen)




Roman von Michael Köhlmeier: „Das Mädchen mit dem Fingerhut“ kämpft ums Überleben

Es ist ein faszinierender und zugleich verstörender Roman, den der Österreicher Michael Köhlmeier geschrieben hat. Er erzählt die Geschichte eines kleinen Mädchens, von dem man annehmen kann, dass es sich um ein Flüchtlingskind handelt.

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Doch es wäre viel zu kurz gegriffen, den recht schmalen Band (140 Seiten) nur als eine Sozialparabel zu verstehen. Anklänge daran sind sicherlich vorhanden, wenn „Das Mädchen mit dem Fingerhut“, vollkommen auf sich allein gestellt, irgendwo auf einem Marktplatz in Westeuropa auftaucht.

Der Onkel, der sich um sie gekümmert hat, scheint verschwunden zu sein oder die Kleine findet ihn nicht mehr. Woran es auch immer liegen mag, dass die beiden nicht mehr zusammenkommen, wird mehr und mehr zur Nebensache. Jedenfalls muss sich das Kind nun selbst durchschlagen, es übernachtet im Müllcontainer, wird schließlich von der Polizei aufgegriffen und kommt in ein Heim.

Während das Mädchen anfangs noch namenlos bleibt, ändert sich das, als es sich mit zwei Jungen anfreundet und einen Namen für sich erfindet. Die drei sind fortan ein festes Trio, das durch die Wälder streift, gern auch mal unter freiem Himmel schläft und sich seine Gedanken macht, wie es den Menschen in beheizten Häusern ergehen mag.

Köhlmeier beschreibt solche Erlebnisse in einer Art, die an Abenteuergeschichten wie „Die drei ???“ oder an Bücher von Enid Blyton erinnern. Diese Vergleiche haben wiederum auch nicht allzu lange Bestand. Spätestens, wenn Arian, Schamhan und Yiza sich entschließen, auf Diebestour zu gehen, erfährt der Roman eine deutliche Wendung.

Bevor allerdings die Geschichte mit einer folgenschweren Tat ihren traurigen Tiefpunkt erreicht, scheint es das Leben doch plötzlich mit dem Mädchen gut zu meinen. Eine Frau nimmt sie bei sich auf, worauf sich aber schon bald zeigt, dass scheinbar wohlwollende Helfer auch ihre hässlichen Seiten zeigen können. Yizas Flucht aus dem Hause ihrer vermeintlichen Gönnerin gerät allerdings zu einer dramatischen Aktion, die das Trio noch mehr aneinander schweißt und vor allem Yizas Bindung an Arian verfestigt.

Köhlmeiers wählt eine einfache Sprache mit kurzen Sätzen und oft knappen Dialogen. Bei den Figuren des Romans bleibt manches eher schemenhaft, wie beispielsweise die eigentliche Herkunft des Mädchens und der beiden Jungen. Dafür schreibt der Verfasser eher aus der Perspektive der Kinder. Eine kindliche Sicht ist das aber nicht.

Michael Köhlmeier: „Das Mädchen mit dem Fingerhut“. Hanser Verlag, München. 140 Seiten, 18,90 Euro.




Dauerempörung und blasse Endzeitvision: Karen Duves Roman „Macht“

DuveMachtFrauen regieren die Welt und haben alle Schaltstellen der Macht besetzt. Nur Olaf Scholz hat es wie durch ein Wunder geschafft, Bundeskanzlerin zu werden. Die Wunderpille Ephebo sorgt für ewig jugendliches Aussehen, Nebenwirkungen wie Krebs spielen keine Rolle mehr, da der Menschheit aller Voraussicht nach – dem Klimawandel sei Dank – eh kein ganzes Jahrtausend mehr zum Überleben bleibt.

Und weiter: Religiöse Fanatiker freuen sich über massenhaften Zulauf und wer von den Männern es gar nicht mehr ertragen kann, der kettet seine Gattin einfach im Keller an, gibt sie als vermisst aus und hat wenigstens für die letzten Jahre auf Erden eine Sklavin, die ihm seine Lieblingskekse backt und auch sonst zu Diensten ist…

So ungefähr sieht es mit den „Macht“-Verhältnissen im Jahre 2031 aus, wenn es nach dem neuen Roman der Streitschrift-freudigen Autorin Karen Duve geht.

Die Männer sind an allem schuld

Während der Arbeit an diesem Roman erschienen der Autorin die herrschenden Machtverhältnisse der Gegenwart wohl so schrecklich, dass sie die Arbeit an „Macht“ für das ihr dringend gebotenes, als Essay gedachtes Werk „Warum die Sache schiefgeht – Wie Egoisten, Hohlköpfe und Psychopathen uns um die Zukunft bringen“ unterbrach. Der Zusammenbruch der Zivilisation war ihr Thema, sekundär infolge der Klima-, Energie- und Flüchtlingskrisen, primär verursacht durch die „jahrtausendealten Schimpansenregeln schamloser aggressiver und gemeiner“ – na klar – Männer.

Bedauerlicherweise scheinen der Kraftakt dieses Essays und die folgende Talkshow-Tour einen Teil ihrer Kräfte verbraucht zu haben, denn die Beschreibung der dystopischen Welt, in der sie „Macht“ ansiedelt, erschöpft sich in Effekthascherei. Im Wesentlichen begnügt sie sich mit der Fortschreibung schon heute existenter Zustände: Hitzewellen, Gletscherschmelze, Wirbelstürme. Garniert mit alles überwucherndem gentechnisch manipuliertem Raps und Killerfliegen, das Ganze eingezwängt in ein Korsett aus Staatsfeminismus und Veganismus, verziert mit besagten Wunderpillen. Für ein als Endzeitroman beworbenes Werk eine ausgesprochen dürftige blasse Vision, in der die Ausgestaltung künftiger Namensgebung noch die meiste Aufmerksamkeit bekommen zu haben scheint.

Weltuntergang? – Halb so schlimm

Ein guter Endzeitroman vermag durch realistisch erscheinende, bedrohliche Visionen Betroffenheit und vielleicht sogar Bereitschaft zum Umdenken zu erzeugen. Karen Duve hingegen erzeugt nur Überdruss und Langeweile, davon allerdings eine Menge. Noch dazu ist die in der Vision angesiedelte Handlung derart unausgegoren, dass es genug Leser geben dürfte, die das Buch mit dem Gedanken beenden: naja, gut, die Welt geht unter, aber so schlimm wird es schon nicht. Die Gestalten in dem Buch arrrangieren sich ja auch alle irgendwie damit. Auch davon, was Gefangenschaft in einem engen Raum mit Menschen macht, hat man schon wesentlich aufwühlender gelesen – sei es in der Fiktion als auch in der Berichterstattung über real existierende Verhältnisse.

Die überschaubare Handlung wird erzählt aus der Sicht von Sebastian, genannt Bassi, der eine Sklavin hält. Doch auch dieser Ansatz, die Gedankenwelt eines Psychopathen zu erkunden, verliert sich im Ungefähren. Schon alleine deshalb, weil „Bassi“ unglaublich eindimensional daherkommt und man kaum glauben mag, dass ein so simpel gestrickter Mensch eine ruhmreichere Vergangenheit als Aufrüstungsgegner in seiner Biographie zu verzeichnen hat.

Der Weltuntergang an sich ist Bassi relativ egal, das größte Problem des armen Tropfes ist mangelnde Bewunderung. Ein klassischer Langeweiler, der sich in Allmachtsphantasien steigert und diese letzten Endes noch auslebt. Leider ziemlich phantasielos: Man erinnere sich, die Kekse! Immerhin bringt ihn das zu der nicht gerade neuen Erkenntnis, dass „Macht nie so gut ist wie in den Momenten, wo man sie mißbraucht“.

Wut allein schreibt keine Bücher

Man fragt sich nach der Lektüre ernsthaft, was Karen Duve mit diesem Buch erreichen wollte. Alleine an der so enttäuschend mager ausgestatteten Utopie lässt sich ablesen, dass es ihr wohl nur vordergründig um eine gesellschaftskritische Mahnung ging. Analyse geht anders, ja, es sind letzten Endes nicht einmal Thesen, die sie aufstellt. Es sei denn, man akzeptiert als Kernbotschaft die übrig bleibende Aussage, dass alle Männer böse sind und unfassbar blöde.

Man kann sich des Gedankens nicht erwehren, dass die Autorin ihr Werk dazu genutzt hat, selbst einmal ein ungeniertes Machogehabe ausleben zu können. Alles zusammengenommen wirkt „Macht“ wie eine dauerempörte Hetzschrift gegen Männer, nur notdürftig getarnt als Gesellschaftskritik und feministische Streitschrift. Beiden Anliegen hat Karen Duve damit keinen Gefallen getan. Vor allem der Sache der Frauen stünde etwas mehr Differenzierung und weniger ermüdendes Lamento gut zu Gesicht. Mit aufgewärmtem Tante-Emma-Feminismus holt man heute keinen und keine mehr hinter dem Ofen hervor, schon gar nicht die „Aufschrei“-Feministinnen im zwitschernden Neuland.

Das alles ist umso bedauerlicher, als Karen Duve im Grunde eine wirklich begabte Erzählerin ist. Sie kann mit Sprache umgehen, sie erzählt flüssig und eigentlich kann sie auch Figuren gut zeichnen. Doch in „Macht“ siegt das Lamento. Selbst die obligatorische Danksagung am Ende entfällt zugunsten nickeliger Kritteleien, die einmal mehr erahnen lassen, wie schwer Frau Duve an der Ungerechtigkeit leidet. Auch als Parodie auf Menschen, die die Ungerechtigkeit der Welt beklagen und die Schuld grundsätzlich nur bei anderen suchen, taugt der Roman eher weniger, denn selten hat es ein humorbefreiteres Werk gegeben. Nur Wut allein schreibt keine Bücher.

Karen Duve: „Macht“. Verlag Galiani Berlin. 416 Seiten, € 21,99.




Nüchterner Blick auf die Ursachen und Folgen der „Flüchtlingskrise“

Kaum ein Problemfeld ist so stark von Emotionen geprägt oder genauer mit ihnen belastet wie die sogenannte Flüchtlingskrise.

Oft naive Hilfsbereitschaft auf der einen Seite, starke Ablehnung oder nur leichte Überfremdungsängste auf der anderen Seite bestimmen die Diskussion in Europa, seitdem Millionen Menschen aus Krisen- und Armutsgebieten in die reiche Europäische Union migrieren. In dieser Situation tut eine Versachlichung, wie sie der Politikwissenschaftler Stefan Luft jetzt vorgelegt hat, sehr gut.

Fluecht

In der Taschenbuchreihe Beck Wissen fasst der bereits einschlägig mit ähnlichen Veröffentlichungen hervorgetretene Bremer Privatdozent „Ursachen, Konflikte und Folgen“ der massenhaften Wanderung von Menschen in aller Welt zusammen, natürlich mit dem Schwerpunkt der Flüchtlingsströme nach Mitteleuropa seit dem Spätsommer 2015.

Stefan Luft liefert klare Definitionen der einzelnen Migrationsgruppen und bedient sich auch zahlreicher Statistiken. Er relativiert damit so manche in der Größenordnung überschätzte Zuwanderer-Zahl. Weltweit, zum Beispiel, beträgt der Anteil der grenzüberschreitenden Migration nur 0,6 Prozent der Bevölkerung. Das soll aber auch bei Luft nicht heißen, dass die derzeitige Situation in Deutschland zum Beispiel problemlos wäre.

Der Privatdozent geht auch auf die emotionale Belastung der Bevölkerung in den Aufnahmeländern ein. Er kritisiert, dass die Politik in der EU im vergangenen Jahr trotz deutlicher Hinweise der UNO nicht rechtzeitig reagiert hat, und er sagt auch, dass ein Gelingen von Integration ganz deutlich von der Größe der zugewanderten Gruppe abhängt. Das kann man auch als Argument für eine sogenannte „Obergrenze“ lesen.

Auch auf die Rolle der Religion geht der Wissenschaftler ein, und in seinem Ausblick referiert er die Forderungen des UNHCR: Genau wie zum Beispiel in der Verteidigungspolitik müsse es dringend einen europäischen Konsens über die Aufnahme und Integration derjenigen Migranten geben, die nicht in ihre Herkunftsländer zurückkehren können oder die nicht in andere Länder umgesiedelt werden, zum Beispiel nach Kanada oder in ähnliche Zielgebiete. „Die Unterstützung durch ökonomisch starke Staaten ist in jedem Fall unumgänglich“ schreibt er, und das heißt: Es wird sehr viel Geld benötigt.

Stefan Luft: „Die Flüchtlingskrise. Ursachen, Konflikte, Folgen“. Reihe Beck Wissen, München 2016. 128 Seiten, 8,95 €




Heinz Strunks Roman über Fritz Honka – die schreckliche „Normalität“ eines Serienmörders

Schon der Name Fritz Honka erzeugt Grusel, zumindest bei allen, die schon etwas älter sind und die 70er Jahre bewusst miterlebt haben. Über den Mann, der mindestens vier Frauen ermordete und die Leichen zerstückelte, hat der Autor Heinz Strunk ein aussagekräftiges Buch geschrieben.

Der mit etwas über 250 Seiten eher schmale Band nähert sich literarisch einer Person, die aus den untersten Gesellschaftsschichten stammte und im Laufe des Lebens immer mehr verrohte. Doch der Schriftsteller Strunk scheint eigentlich weniger erklären als vielmehr erzählen und die Geschichte eines Mannes nachzeichnen zu wollen, dessen Taten die Boulevardpresse auch in allen Einzelheiten ausbreitete.

HonkaStrunk geht indes weniger chronologisch vor, sondern arbeitet meist mit Versatzstücken, die sich am Ende aber zu einem Bild zusammenfügen lassen. Sexbesessen, pervers, gewalttätig, versoffen sind alles treffende Begriffe, mit denen man diesen 1935 in Leipzig geborenen Serienmörder beschreiben könnte. Doch es gab da auch einen Fritz Honka, der sich nichts sehnlicher wünschte, als ein ganz normales Leben zu führen, mit einer Frau, mit einer Familie, mit Kindern.

Ganz nah dran, den Dingen eine Wendung zu geben, scheint er zu sein, als man ihm das Unternehmen Shell als Nachtwächter einstellt. Er erhält endlich eine Uniform, der Alltag bekommt eine feste Struktur. Der Hamburger Kiez-Kneipe „Der Goldene Handschuh“ versucht er zu entfliehen. Hier ist er Dauergast und dort wird er später seine Opfer abschleppen, samt und sonders (Gelegenheits)-Prostituierte aus dem Trinkermilieu. Doch noch ist es nicht soweit. Vielmehr versucht er ein bürgerliches Dasein zu beginnen, er besucht die touristischen Attraktionen der Hansestadt.

Recherchen in der Kiez-Kneipe

Wenn Strunk die Welt in der Wahrnehmung von Honka beschreibt, scheint dieser schrecklich normal zu sein. Doch seine Alkoholsucht in Kombination mit den seelischen und körperlichen Verletzungen, die er seit frühester Kindheit erlitten hat, bieten offensichtlich keine Chance, ganz von vorn zu beginnen. Versuche, so schimmert es durch, hat es wohl auch vorher gegeben, allerdings ebenfalls erfolglose.

Den Taten selbst widmet der Verfasser nicht allzu viel Raum, wobei er allerdings den Leser keineswegs schont, sondern durchaus die brutalen und verstörenden Details der Morde darstellt. Ohnehin sollte sich der Leser auf eine Sprache gefasst machen, die schockieren kann. Sie wirkt herb und schroff, nicht anders als die Menschen, denen man hier begegnet. Manchmal scheinen auch Sätze zunächst unverständlich zu sein. Doch man muss dann eben noch einmal ansetzen, es ist halt der Umgangston, der in diesem Milieu herrscht.

Strunk hat für sein Buch den „Goldenen Handschuh“ nach eigenem Bekunden rund 150 Mal besucht, um den Leuten von heute, aber auch speziell diesem Fritz Honka von damals nahe zu kommen. Der Serientäter unterscheidet sich dabei keineswegs von all den anderen Besuchern, die nicht in der Lage sind, dem Suff zu entrinnen. Ab und an erscheint auch der einzige Bruder, der offenbar nicht ganz so tief gesunken ist. Den Fiete (Strunk bezeichnet die Hauptfigur fortwährend mit diesem doch Vertrauen erweckenden Kosenamen) kann aber offensichtlich niemand aus der Gosse herausholen.

Dass die Kneipe nicht nur zum Ziel der gesellschaftlich total Abgestürzten geworden ist, sondern dass hier gern auch Bessergestellte auftauchen, ist ein Erzählfaden, der zweierlei verdeutlicht: Die Trinksüchtigen versinken keineswegs in einer Parallelwelt, sondern sind Teil des Alltags. Zudem zeigt sich einmal mehr, dass der Besitz von Geld keineswegs auch bedeutet, das Glück gepachtet zu haben.

Mit seinem Buch, für das der Autor umfangreiches Studium der Prozessakten betrieben hat, ruft Heinz Strunk zwar die gesellschaftlichen Debatten der damaligen Zeit in Erinnerung. Gleichzeitig konzentriert sich der Verfasser aber auch auf die juristische Aufarbeitung. Von „Persönlichkeitsabbau“ ist in dem Urteil des Hamburger Landgerichts die Rede, der sich in dem Umstand verdeutlichte, dass der Angeklagte mit den verwesten Leichen in einem Raum zusammengelebt habe.

Heinz Strunk: „Der goldene Handschuh“. Rowohlt Verlag, 255 Seiten, 19,95 Euro.




Flüchtlingsdrama in Düsseldorf: „Wir sind keine Barbaren“ von Philipp Löhle

Foto: Sebastian Hoppe/Düsseldorfer Schauspielhaus

Foto: Sebastian Hoppe/Düsseldorfer Schauspielhaus

Zunächst fühlt man sich an Yasmina Rezas „Gott des Gemetzels“ erinnert: Zwei Ehepaare, eine Yuppie-Wohnung, ein Konflikt. Doch spätestens als der Chor beginnt, die Nationalhymne zu summen, wird klar, dass es sich hier um eine deutsche Angelegenheit handelt.

„Wir sind das vollkommene Volk, wir müssen uns schützen“, skandieren die wohlgekleideten Menschen aller Altersgruppen und sehen dabei so harmlos aus wie in der Vorabendwerbung im ZDF. Und das Problem, das Barbara und Mario sowie Linda und Paul umtreibt, ist ein hochaktuelles: Bringen sie sich in Gefahr, wenn sie einen Flüchtling in der Wohnung aufnehmen oder handelt es sich um ein Gebot der Menschlichkeit?

Mona Kraushaar hat Philipp Löhles „Wir sind keine Barbaren“ am Düsseldorfer Schauspielhaus inszeniert und damit die Balance zwischen Boulevard und politischem Theater gefunden.

„Wir sind nicht zufrieden, mit dem, was wir haben“, deklamiert der Chor, „wir rufen nach 22 Uhr nicht mehr an, wir sind stolz auf uns.“ Auf diese Weise dargeboten, reizen deutsche Sitten und Gebräuche regelrecht zum Lachen. Wäre die Situation nicht so ernst: Zwischen Barbara (Stefanie Rösner) und Mario (Jonas Gruber) kommt es zu Meinungsverschiedenheiten, weil Barbara den Flüchtling Bobo (oder heißt er Klint?) eingeladen hat, bei ihnen zu leben, während ihr Ehemann lieber mit ihr und seinem riesengroßen Flachbildschirm alleine wäre.

Auch die neuen Nachbarn Linda (Bettina Kerl) und Paul (Dirk Ossig) können mit Barbaras Altruismus überhaupt nichts anfangen. Linda bezichtigt ihre Nachbarin, eine Sozialromantikerin zu sein, und Paul beginnt mit dem Bau eines Schutzraumes in seiner Wohnung, denn man wisse ja nie, was diese Afrikaner so im Schilde führten.

Foto: Sebastian Hoppe/Düsseldorfer Schauspielhaus

Foto: Sebastian Hoppe/Düsseldorfer Schauspielhaus

Wie es der Boulevard so will, spitzt sich der Konflikt natürlich zu: Barbara wird ermordet und nur der Flüchtling kann es gewesen sein, wer sonst? Das nette Vorstadtleben schliddert in die schwärzeste Abgründigkeit aus Rassismus, Vorurteilen und Scheinheiligkeit.

Der Dramatiker Philipp Löhle, geboren 1978, findet trotzdem noch einen überraschenden Dreh am Schluss, der hier aber nicht verraten werden soll…

Karten und Termine: www.duesseldorfer-schauspielhaus.de

 




Vom mühsamen Neubeginn nach dem Krieg

Wer die Fernsehbilder aus Syrien oder Libyen sieht, der kann sich kaum vorstellen, wie einmal aus diesen Trümmern eine neue Gesellschaft und ein Neuaufbau auch in ganz handfestem Sinne entstehen könnte. Dazu sei ein Rückblick auf das Jahr 1945 in Deutschland erlaubt. Vor gut sieben Jahrzehnten sahen unsere Städte auch so aus, vielleicht noch stärker zerstört, und auch hier gab es Hunger und Tod und vor allem viele traumatisierte Kinder und Erwachsene.

Gefangene deutsche Soldaten im April 1945 auf einer Wiese in Ennepetal.

Gefangene deutsche Soldaten im April 1945 auf einer Wiese in Ennepetal. (Foto: Stadtarchiv Ennepetal)

Natürlich war die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Wohnungen zunächst das größte Problem. Die Besatzungstruppen organisierten die Grundversorgung, wenn auch nicht überall erfolgreich, und außerdem funktionierte der Schwarzmarkt sehr schnell – nach dem Motto: Schattenwirtschaft ist auch eine Wirtschaft.

Unbelastete Männer

Politisch sorgten sich die Alliierten sofort um die Verdrängung der faschistischen Strukturen und Ideologie. Beim Vormarsch setzten sie in allen befreiten Gemeinden unbelastete Deutsche als Bürgermeister oder Gemeindevorsteher ein. Teilweise brachten sie diese Kandidaten sogar schon mit. Außerdem entstanden in vielen Städten unmittelbar nach der Befreiung die sogenannten „antifaschistischen Ausschüsse“, die sich um die Installation einer demokratischen Selbstverwaltung kümmerten.

Am Beispiel des Amtes Milspe-Voerde, der späteren Stadt Ennepetal, kann man das weitere Vorgehen aufzeigen: Der von den Amerikanern bestimmte Amtsbürgermeister, ein von den Nazis 1933 entlassener Sozialdemokrat, setzte drei Monate nach dem Ende der Diktatur einen „Amtsausschuss“ ein, dem ausschließlich unbelastete Männer angehörten. Dieser Ausschuss organisierte den Neuaufbau der Verwaltung und war bis Herbst 1946 im Amt, denn die alliierte Militärverwaltung hatte in der Zwischenzeit die Neu- oder Wiedergründung demokratischer Parteien zugelassen.

Wahlbeteiligung bei 80 Prozent

Am 15. September 1946 gab es dann in der Britischen Zone auf kommunaler Ebene die ersten freien Wahlen seit dem Ende des NS-Regimes. Im Amt Milspe-Voerde, unserem Beispiel, erhielt die SPD 18 Sitze, die CDU bekam drei Sitze, die FDP 2 und die KPD einen Sitz. Die 24 Sitze entfielen ausschließlich auf Männer. Die Wahlbeteiligung lag bei etwa 80 Prozent.

Zwei Jahre später, am 17. Oktober 1948, gab es die zweite Wahl, und in der erhielt im Amt Milspe-Voerde die FDP mit sieben Sitzen die selbe Anzahl an Mandaten wie die CDU, und die Liberalen stellten sogar danach den Bürgermeister, der wegen des Patts in der Amtsvertretung per Los ins Amt kam.

Von „unbelasteten“ Personen konnte man da aber nicht mehr sprechen, denn dieser FDP-Bürgermeister Dr. Fritz Textor war seit 1933 in der SA und seit 1937 in der NSDAP und ein aktiver Unterstützer der NS-Ideologie gewesen. Trotzdem widmete ihm der Rat der Stadt Ennepetal später eine Straße. Ein „Neuaufbau“, wie er in vielen Städten unseres Landes abgelaufen ist.




Unstillbare Begehrlichkeit der Bessergestellten – eine verbreitete Form der Barbarei

Um niemanden bloßzustellen, will ich nicht so deutlich werden. Sagen wir also, notgedrungen etwas gestelzt: Wir reden von einer Institution, die sich einem Zweig der kulturellen Bildung widmet. Irgendwo im Ruhrgebiet. Bundesweit renommiert.

Um das hohe Niveau zu halten, wählen sie ihre Schülerinnen und Schüler nach strengen Maßstäben aus. Ohne Ansehen des sozialen und finanziellen Hintergrunds. Gut so.

Darf's noch etwas mehr sein? (Foto: Bernd Berke)

Darf’s noch etwas mehr sein? (Foto: Bernd Berke)

Doch gerade das bringt Höhergestellte auf die Palme. Wie man hört, gibt es immer wieder Fälle, in denen sich prägende Gestalten des „öffentlichen Lebens“, zumal aus Wirtschaft und Politik, mit ihren maßlosen Ansprüchen an besagte Institution wenden: Warum denn ihre (selbstredend allesamt hochbegabten) Kinder die Hürden der Vorprüfungen nicht genommen hätten? Da müsse man doch wohl schleunigst nachjustieren…

Doch auch wenn die Sprösslinge es durch eigene Begabung geschafft haben, sind manche Besserverdiener nicht zufrieden. Es gibt nur einige wenige Förderplätze für die wirklich Bedürftigen. Von denen trauen sich manche nicht, sich zu bewerben – aus falscher Scham oder sonstigen traurigen Beweggründen. Wer sich aber traut, sind manchmal just jene, die überhaupt nicht gemeint sind. So hatte etwa ein Paar mit rund 10000 Euro Monatseinkommen die Stirn, einen Antrag auf soziale Beihilfe auszufüllen.

Beiderlei Begehrlichkeiten sind Anzeichen eines widerwärtigen Klassenkampfs von oben. Gewiss: Etliche Angehörige der gehobenen Mittelschicht haben mehr Anstand und Fairness im Leibe. Aber man mag nicht so recht glauben, dass deren Anzahl zunimmt. Eher scheint es so, als ob die Hässlichkeit wüchse und Entsolidarisierung sich rotzfrech ausbreite. Mit Kultur hat das nichts zu tun. Umso mehr mit Barbarei.




Geflüchtete Kinder in der Schule: Essener Gymnasium am Stoppenberg gibt ein Beispiel

Die Gesprächspartner vom Gymnasium am Stoppenberg: hinten Rüdiger Göbel, Gabi Kons; vorne Leila Haddad und Markus Schumacher. Foto: Werner Häußner

Die Gesprächspartner vom Gymnasium am Stoppenberg: hinten Rüdiger Göbel, Gabi Kons; vorne Leila Haddad und Markus Schumacher. Foto: Werner Häußner

Wenn Frau Haddad unterrichtet, ist das keine einsilbige Angelegenheit. Sondern es erinnert ein wenig an Babel, nur mit dem Unterschied, dass man sich gut versteht. „Was ist Knoblau?“ fragt ein 13-Jähriger, dessen Familie aus Palästina stammt. „Knoblauch“, betont die Lehrerin das „ch“ am Ende. Was heißt das? Leila Haddad nennt das libanesische Wort für die Würzknolle. Wirft es einer 14-jährigen Schülerin zu. Die kennt es auch auf Syrisch. Die anderen in der Gruppe nicken. Der deutsche Begriff wird an die Tafel geschrieben, alle notieren sich „Knoblauch“.

Einer der Schüler unterbricht, weist auf einen stillen Jungen am Ende der Sitzreihe. Hat er das verstanden? Er kommt nämlich aus Katowice. „Garlic“ sagt jemand. Der polnische Junge nickt. Englisch, das kann er. Die Sprachenvielfalt gehört in dieser Gruppe zum Alltag. Leila Haddad, selbst mit libanesischen Wurzeln, unterrichtet am Gymnasium am Stoppenberg in Essen: Englisch, Evangelische Religionslehre, Philosophie – und Deutsch als Fremdsprache. „Ein absoluter Glücksfall für uns“, freut sich Schulleiter Rüdiger Göbel. „Ohne die Arabischkenntnisse unserer Kollegin wäre es uns viel schwerer gefallen, die Seiteneinsteiger aufzunehmen“.

Bischof Overbeck: Wir nehmen alle auf

Seiteneinsteiger – das sind in Nordrhein-Westfalen Schülerinnen und Schüler, die keine Deutschkenntnisse haben. 23 sind es inzwischen an dem vom Bistum Essen getragenen Gymnasium im Essener Norden. Es sind nicht nur Geflüchtete, sondern etwa auch Schüler aus Polen, den Niederlanden, Armenien oder Rumänien. Aber vierzehn der Mädchen und Jungen stammen aus Syrien, einer aus dem Irak. Es sind auch nur rund die Hälfte Muslime, die anderen haben verschiedene christliche Bekenntnisse, einer ist konfessionslos. Eine bunte Mischung also, die unsere Gesellschaft widerspiegelt. Das trifft auch auf die einheimischen Schülerinnen und Schüler zu, von denen rund ein Fünftel Migrationshintergrund haben.

Die Entscheidung, „Seiteneinsteiger“ aufzunehmen, fiel an oberster Stelle: „Unser Bischof hat entschieden: Wir nehmen alle auf“, erklärt Bernd Ottersbach, Dezernent für Schule und Hochschule, die Haltung des Bistums Essen. Bischof Franz Josef Overbeck hatte sich schon im September 2015 einen „Shitstorm“ in den sozialen Netzwerken zugezogen, weil er in einer Predigt feststellte, Wohlstandsverluste seien unvermeidbar, und wie „die Flüchtlinge ihre Lebensgewohnheiten ändern müssen, so werden auch wir es tun müssen“. Im Dezember legte Overbeck noch einmal nach. In einem Weihnachtsinterview mit einer regionalen Zeitung sprach er von einer „Reifeprüfung“ für Deutschland: Jetzt könnten die Deutschen zeigen, was es bedeutet, zu helfen.

Mittlerweile gibt es an zwei der neun Schulen in Trägerschaft des Bistums Essen die Klassen für Schüler ohne Deutschkenntnisse, in Essen und in Duisburg. Eine dritte ist am ordenseigenen Don-Bosco-Gymnasium in Essen-Borbeck aufgebaut. Mit dem Erfolg ist Ottersbach nach den wenigen Monaten praktischer Erfahrung „hochzufrieden“.

Ein Ort der Integration: das Gymnasium am Stoppenberg in Essen. Foto: Werner Häußner

Ein Ort der Integration: das Gymnasium am Stoppenberg in Essen. Foto: Werner Häußner

Der Ernstfall des Helfens begann für das Gymnasium am Stoppenberg freilich schon vor zwei Jahren. Schräg gegenüber dem vor 50 Jahren gegründeten ältesten Ganztagsgymnasium Nordrhein-Westfalens entstand eine Notunterkunft für Geflüchtete. „Als Nachbarschaftshilfe bildete sich eine Gruppe, die ehrenamtlich für erwachsene Asylbewerber Deutsch unterrichtete“, berichtet Rüdiger Göbel. Auch jetzt arbeiten die Ehrenamtlichen weiter, konzentrieren sich aber auf die 23 jungen Menschen an der Schule. Sie geben etwa intensiven Förderunterricht zum Beispiel in Englisch und Mathe, wenn Schüler vor dem Übertritt in die Oberstufe stehen. Nicht nur Lehrer, auch Eltern und ältere Schüler beteiligen sich daran.

Gleich in vorhandene Klassen integriert

Als im Oktober die ersten Seiteneinsteiger kamen, war das für die Schule und für Rüdiger Göbel eine spannende Situation: „Zum ersten Mal wirkte sich eine weltpolitische Situation auf meinen Arbeitsplatz aus“, schildert der Schulleiter. Mit Gabi Kons kam eine Fachkraft für Deutsch als Fremdsprache ans Haus, die sich nun mit Leila Haddad diese Form des Unterrichts teilt. Das Besondere: Es gibt keine eigenen Klassen für die jungen Menschen, die Deutsch von Grund auf lernen müssen. Sondern sie werden in die Klassen integriert, in die sie vom Alter her passen. In den Jahrgangsstufen von fünf bis zehn hat so jede Klasse ein oder zwei dieser Schüler. Für den Sprachunterricht kommen sie in drei Gruppen – je nach Fortschritt ihrer Kenntnisse – zusammen. Sechs Mal 65 Minuten pro Woche steht die Sprache auf dem Stundenplan.

Für die Schülerinnen und Schüler sehen die Lehrkräfte einen doppelten Vorteil: Sie fühlen sich in der Sprachlerngruppe beheimatet, weil sie dort Jugendliche treffen, die in der gleichen Situation sind: „Im Deutschkurs genießen sie die verschworene Gemeinschaft, übernehmen füreinander Verantwortung“, sagt Leila Haddad. Auf der anderen Seite fördert die Teilnahme am normalen Unterricht und am Alltag der anderen Schüler Sprachkompetenz und Integration erheblich. „Der Kontakt zu Gleichaltrigen funktioniert richtig gut“, erzählt Schulsozialarbeiter Markus Schumacher: „Die Neuen werden an die Hand genommen. Die Mitschüler zeigen ihnen die Räume. Und nach zwei Tagen stehen sie zusammen am Kicker. Von eins bis zehn zu zählen, das geht auch mit rudimentären Englischkenntnissen, und was ein Tor ist, das wissen alle.“ Ein paar Wochen, und schon klappt die umgangssprachliche Verständigung.

Eine Bereicherung für die Schule

Für das Leben der Schule sind die geflüchteten Kinder – der Schulleiter nimmt das Wort wohl sehr bewusst in den Mund – eine Bereicherung. „Die da kommen, sind alle extrem bildungswillig und bildungshungrig“, sagt Göbel. Man spüre, die Eltern wollen ihren Kindern eine bessere Zukunft eröffnen. „Und die Mädchen und Jungen wollen schnell schulisch weiterkommen, wollen nicht in ein paar Jahren als Verlierer dastehen.“ Das fordere beide Seiten heraus. „Mini-Netzwerke“ der Hilfsbereitschaft bilden sich. Schüler entwickeln, wenn sie helfen, Talente, die man ihnen nicht zugetraut hätte. „Unser Denken über Unterricht und Schule wird bereichert; wir spiegeln wider, was unser System leisten kann“, resümiert Göbel.

Das Engagement der einen kann auf die anderen abfärben. Bis hinein ins Religiöse: Wenn Muslime an der Schule sind und ihren Glauben sichtbar praktizieren, sei das auch für christliche Schüler eine Anfrage: „Ich bin Christ, was bedeutet das denn im Alltag?“, formuliert sie Göbel. Erklären zu müssen, woran man glaubt, sei eine neue Situation und könne „ganz neue Erfahrungen eröffnen“. Auch Leila Haddad hofft als Religionslehrerin, dass christliche Schüler für ihre religiöse Praxis etwas lernen. „Wechselseitiges Verständnis zu erzeugen, Vorurteile aus Unkenntnis abbauen – das ist doch eine wundervolle Sache.“

Interesse am Fach Religion

Für Schuldezernent Ottersbach wie für Schulleiter Göbel ist klar: Die katholische Prägung des Gymnasiums steht nicht zu Debatte. „Wir hatten auch vorher schon vereinzelt Muslime an der Schule“, erläutert Göbel. Das waren zum Beispiel Kinder weltoffener muslimischer Eltern, die ihrem Kind helfen wollen, den Kulturkreis, in dem es aufwächst, besser zu begreifen. Bei den Aufnahmegesprächen mit Eltern und Kindern wird unmissverständlich klar gemacht, was es bedeutet, an ein bischöfliches Gymnasium zu gehen. Das führte schon einmal dazu, dass sich ein muslimisches Elternpaar dazu entschloss, sein Kind an eine andere Schule zu geben. Denn jedes Kind nimmt am Gymnasium am Stoppenberg am katholischen oder evangelischen Religionsunterricht teil.

Die Lehrer machen noch eine andere Erfahrung: „Die Schüler sind zum Teil sehr interessiert am Fach Religion“, beobachtet Leila Haddad. „Sie haben viele Fragen bezüglich des Christentums, das sie vielleicht nur aus vagen Gerüchten kennen. Sie wollen genau wissen, was wir glauben.“ Auf die Gespräche, die sich daraus ergeben, ist Haddad „sehr gespannt“.

Integration: Für die Schulgemeinschaft an dem Essener Gymnasium ist sie eine Herausforderung, die viel Positives bewirkt, ist Schulleiter Rüdiger Göbel überzeugt. „Was hier passiert, zeigt, dass die Kinder gut aufgenommen sind und eine Chance haben. Wir wirken einladend und offen auf Eltern und Kinder. Gerade den Geflüchteten mit ihren oft schlimmen Erfahrungen bieten wir den Raum und die Ruhe, sich auf die persönliche Entwicklung zu konzentrieren.“ Doch ein rosarotes Bild will der Schulleiter nicht malen. Er ist sich auch der Schwierigkeiten bewusst: „Das Ziel ist noch weit entfernt: Es wird dauern, bis die Kinder wie ein normaler deutscher Schüler im System behandelt und bewertet werden können.“




Die Sache mit den Schokoriegeln oder: Jetzt zittern die Konzerne vor uns!

Ich bin kein sonderlicher Freund des unbeschränkten Unternehmertums. Gar zu gern wittere ich in diesen Bereichen Lobbyismus, Korruption und Durchstecherei. Dazu muss man kein „Kommunist“ sein.

Manchmal aber denke ich, man sollte die Hersteller nicht so sehr bedrängen, wie es inzwischen üblich ist. Neuester Fall: Mars.

Hilfe! Wir haben auch welche gekauft. Was jetzt? (Foto: Bernd Berke)

Hilfe! Wir haben auch welche gekauft. Was jetzt? Müssen wir jetzt alle sterben? (Foto: Bernd Berke)

Da will eine einzige Kundin ein Plastikteilchen in Schokoriegeln gefunden haben – und schon ruft der Konzern seine Erzeugnisse in 55 Ländern zurück. Man beachte die Verhältnismäßigkeit.

Sämtliche Formate von Mars, Snickers und Milky Way sollen betroffen sein, die Mindesthaltbarkeitsdaten der Rückruf-Artikel reichen vom 19. Juni 2016 bis zum 8. Januar 2017 (Quelle: Süddeutsche Zeitung online).

Preisfrage: Wer hat denn wohl k e i n e Süßigkeiten aus diesen umfangreichen Chargen gekauft? Menschen mit Kindern dürften wohl fast durchweg „in der Verlosung“ sein.

Bevor die ideologisch korrekte Gegenfrage kommt: Nein, ich will nicht verantwortlich sein, wenn etwa Kleinkinder die Plastikteile verschlucken. Gleichwohl denke ich, dass die juristischen Bedenken hier mal wieder überwogen haben und dass das wirkliche Risiko verschwindend gering ist. Wie wär’s denn, wenn man den Verbrauchern ein wenig Eigenverantwortung überließe?

Wenn ich wollte, könnte ich also eine große Firma an den Rand der Pleite führen. Müsste ich nicht nur ein beliebiges Plastik- oder Metallteil ins Lebensmittel-Produkt pressen und sodann hysterisch Alarm schlagen, am besten mit einer Internet-Petition unterfüttert? Einige Juristen und sonstige „Experten“ würden mir sicherlich schnell beipflichten.

Aber – pssst, pssst! – müsste man denn gleich alles an die große Glocke der Öffentlichkeit hängen? Könnte man nicht ein wenig andeuten und mit sanftem Nachdruck fordern…? Ach, das wäre eine Handlungsweise am Rande der Erpressung? Nun, dann wollen wir mal ganz schnell davon Abstand nehmen.




Randale für den Rapper

Dies vorangeschickt: Mit Rap habe ich so gut wie nichts im Sinn, noch weniger mit Gangsta-Rap. Das ist auch, aber nicht nur eine Generations- und Schichtenfrage. Ich mag nicht glauben, dass Musik zur Feier von Gewalt und Verbrechen erfunden wurde. Auch besinnungsloses Auskotzen ist nicht ihr Wesenskern.

Nun aber konkreter: Einer dieser Typen, die für eine leider ziemlich zahlreiche Anhängerschaft als Gangsta-Rapper posieren, nennt sich Kurdo. Sein äußerst schmales Textrepertoire kreist kraftwortreich um Phantasien wie („sinn“-gemäß) „Ich-bin-ein-richtiger-harter-Verbrecher-ihr-alle-seid-schwule-Weicheier-mit-Scheiß-Abitur“ sowie „Ich **ck deine Mutter, ich **ck deine Schwester“. Also richtig bodenloser Mist der weithin üblichen Art.

Zu einer Autogrammstunde dieses begnadigten, äh ich meine natürlich begnadeten Künstlers hatte ein Saturn-Markt im Dortmunder Vorort Eving eingeladen. Es erschienen rund 4000 (!) Fans und es kam zu heftigen Tumulten, die ein polizeiliches Großaufgebot erforderten. Leute, die bedeutend näher dran waren, sagen, dass die Polizei strategisch überfordert war.

Die Autogrammstunde fand schließlich nicht statt, sie soll aber angeblich nachgeholt werden. Warum eigentlich? Soll die wahrlich anderweitig schon mehr als genug geforderte Polizei abermals kostspielig und riskant eingreifen müssen, damit dieser längst zum Kommerz-Heini mutierte Ghetto-Brüller noch mehr Publicity bekommt? Gut denkbar, dass Kurdo und seine Spießgesellen jede Randale als willkommene Werbung bejubeln. Aus diesem Grund scheut man sich ja schon, ihn überhaupt zu erwähnen. Aber sei’s drum.

Anderntags musste dann auch in Hamburg die Polizei einschreiten, als Kurdo auftauchte. Und es waren beileibe nicht die ersten Vorfälle dieser Art. Schön wär’s, wenn man Kurdo, den Veranstaltern und/oder Managern die Kosten der Polizeieinsätze in Rechnung stellen könnte. Dann müsste er noch ein paar Verbrecher-Liedchen mehr singen.

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P.S.: Wenn wir schon beim Thema sind: Ja, ich bin auch dafür, die Bundesliga-Vereine an den Kosten für Polizeiaufgebote wenigstens zu beteiligen.




Islam im Blut – Theater Dortmund zeigt „Geächtet“ von Ayad Akhtar im Megastore

Amir (Carlos Lobo), Emily (Bettina Lieder) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Auf den ersten Blick eint sie die Eigenschaftslosigkeit. Amir, Emily, Isaac und Jory sind in der Dortmunder Inszenierung von Kay Voges farblos-weiße Gestalten mit roten Albino-Augen (Kontaktlinsen), frei von störenden Eigenschaften (des Blutes?) oder Hypotheken einer ungemäßen Herkunft. Wechselseitige Wertschätzung speist sich aus der Höhe sechsstelliger Jahresgehälter, rhetorische Nähe zum Islamismus hier und larmoyantes Judentum dort werden bestenfalls als folkloristische Apercus empfunden, die die lockeren Gespräche eines entspannten Abends zu viert ein wenig zu würzen versprechen. Kleine Provokationen unter guten Freunden, harmlose, gut gemeinte Späße: Was soll da schon passieren?

Bettina Lieder Merlin Sandmeyer

Emily (Bettina Lieder), Abe (Merlin Sandmeyer) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Nun gut; wenn jemand wie der 1970 geborene amerikanische Autor Ayad Akhtar in bester Yasmina-Reza-Tradition vier so grundverschiedene Protagonisten auf die Broadway-Bühnen schickt, dann wird es böse enden, das ist von vornherein klar. Und blickt man auf das Personaltableau, kommt einem die Konstellation fast ein wenig hölzern vor, sind in diesem Stück zur politischen Lage doch alle üblichen Verdächtigen traulich vereint.

Da ist der erfolgreiche indische Anwalt Amir (Carlos Lobo), der eigentlich pakistanisch-islamische Wurzeln hat, was er bestreitet, weil es ihm berufliche und gesellschaftliche Nachteile brächte und weil, überhaupt, sein Vater das heutige Pakistan schon lange vor der Abtrennung von Indien verließ.

WASPs haben die besten Karten

Seine Frau Emily (Bettina Lieder) zählt zu den WASPs, den „White Anglo-Saxon Protestants“, die in der keineswegs klassenlosen amerikanischen Gesellschaft ein gewisses Herkunftsoptimum darstellen. Emily malt Bilder, bewundert islamische Kultur und versucht, etwas davon in ihrer Kunst einzufangen. Isaac (Frank Genser) ist ein jüdischer Kunstkurator, den Emily nachgerade hündisch um Aufmerksamkeit für ihre Bilder anhechelt und der mit ihr schläft. Vierte ist – na, wer fehlt noch? – genau, eine Afroamerikanerin, die Juristin Jory (Merle Wasmuth), die in der selben jüdischen Anwaltfirma arbeitet wie Amir, aber noch erfolgreicher als dieser ist. Nummer 5 im Stück ist Amirs Neffe Abe, ein Sidekick eher, der zum Ende hin Salafistentracht tragen wird.

Von links: Isaac (Frank Genser), Emily (Bettina Lieder), Amir (Carlos Lobo), Jory (Merle Wasmuth) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Die Geschichte zieht sich über einige Wochen hin, und ihren desaströsen Ausgang nimmt sie bei der Verteidigung eines radikalen Imams, an der sich Amir in einem Anwaltskollektiv auf Drängen Abes nur höchst widerwillig einläßt. Er ahnt, was kommen wird. Man stellt ihn in die Islamistenecke, und in seiner Firma, deren Chef Steven Fundraiser für Netanjahu ist, kann er einpacken. Aber hatte man ihn nicht lange vorher schon diskriminiert, Jory goldene Brücken gebaut und ihn auf die Ochsentour geschickt?

Etliche Whiskeys

Es kommt halt alles zusammen, und das dauernde Sich-Verstellen zehrt. In angespannter Partyheiterkeit, befeuert von etlichen Whiskeys und von Isaac provoziert, kann Amir nicht länger mehr an sich halten, gesteht seine klammheimliche Sympathie für islamistische Anschläge, erinnert sich – der Gipfel! – an seine Glücksgefühle beim Fall der „Türme“ in New York. Schluß mit lustig, Amir verliert Freundeskreis, Ehefrau, Job und Wohnung in beliebig wählbarer Reihenfolge.

Carlos Lobo  Bettina Lieder  Frank Genser

Von links: Amir (Carlos Lobo), Emily (Bettina Lieder), Isaac (Frank Genser) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Wenn das Stück beginnt, hat jeder der nach und nach auftretenden vier Partygäste seinen festen Bereich auf der eher breiten als tiefen Bühne (Michael Sieberock-Serafimowitsch). Die Sätze werden ins Publikum hinein gesprochen, selbst das Begrüßungs-Bussibussi landet im Zuschauerraum.

Intensive Videoarbeit (Mario Simon) macht inhaltliche Positionen deutlich, zeigt, wenn es grundsätzlich wird, Davidstern, grüngrundigen Halbmond, Sternenbanner oder auch Karten des „alten“ Indiens flächendeckend in leuchtenden Farben. Diese Dekonstruktion des Dialogischen hat durchaus Schlüssigkeit und Reiz, und vielleicht verlangt dieser abgründige Stoff, das Monströse andeutend, gar danach.

Allerdings ist die Dekonstruktion der Spielhandlung nicht durchzuhalten. Heftige Diskussionen und finale Gewaltszenen verlangen einfach nach körperlicher Nähe.

Carlos Lobo

Amir (Carlos Lobo) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Verfremdungseffekt

„Geächtet“ erlebte vor einigen Wochen seine deutsche Uraufführung in Hamburg in der Regie von Karin Beier, etliche weitere Theater gaben sich an Inszenierungen.

Kay Voges’ Albino-Interpretation dürfte im nationalen Vergleich ein Alleinstellungsmerkmal sein, ein gewiß zulässiger Verfremdungseffekt in einem aus dem Ruder laufenden Boulevardstück. Gleichwohl hat man nicht das Gefühl, durch „Geächtet“ wirklich an Erkenntnis zu gewinnen, was weder dem Stück noch der Inszenierung anzulasten ist. Eher scheint es, als stünde auch der Autor hilflos vor seinem Personal, vor Amir vor allem, den er eigentlich doch so gut versteht.

Regisseur Kay Voges hat seine Darsteller nicht geschont. Vor allem Bettina Lieder ist als Emily (zunächst jedenfalls) pausenlos in sportlicher Bewegung, hypermotorisch, AHDS-verdächtig, offenbar die Verkörperung eines allgegenwärtigen unterschwelligen Stresses. Auch Carlos Lobo, wiewohl mit Neigung zum Übergürtelbauch, zeigt als hin- und hergerissener Amir viel mobilen körpersprachlichen Ausdruck. Merlin Sandmeyer, Frank Genser und Merle Wasmuth dürfen es als Abe, Isaac und Jory etwas ruhiger angehen lassen, doch sportlich sind auch sie.

Reicher Applaus für einen furiosen Theaterabend.

  • Termine: 21.2., 9., 26.3.
  • Informationen und Karten: Tel. 0231 50 27 222
  • www.theaterdo.de

Infos zur neuen Spielstätte Megastore: https://www.theaterdo.de/service/anfahrt/megastore/




„Der totale Rausch“: Erhellendes Buch über Drogenkonsum in der NS-Zeit

Es ist ganz offensichtlich ein blinder Flecken in der wissenschaftlichen Forschung über das NS-Regime, dem sich der Schriftsteller Norman Ohler in seinem Buch „Der totale Rausch“ zuwendet. Der Absolvent der Hamburger Journalistenschule ist bei Recherchen in diversen Archiven (u.a. Militärarchiv Freiburg, Bundesarchiv in Koblenz) auf bislang unbeachtete oder unbekannte Dokumente aus der Nazi-Zeit gestoßen, die Rückschlüsse auf enormen Drogenkonsum zulassen.

Rauschgifte waren nicht nur unter NS-Größen verbreitet, sondern auch beim Volk und den Soldaten. Sie alle kamen ganz legal an Mittel, die heute unter Bezeichnungen wie Crystal Meth existieren. Damals hieß der Stoff Pervitin. Die methamphetaminhaltigen Substanzen wirkten leistungssteigernd, hellten die Stimmung auf, verringerten das Schlafbedürfnis drastisch und förderten schließlich auch die Libido.

ohlerJanusköpfige Haltung

Wer nicht so sehr auf Pillen stand, der konnte auch Pralinen kaufen, in denen Süßes mit sinnestäuschenden Mitteln vermengt war. Die damaligen Temmler-Werke in Berlin brachten das Mittel auf den Markt und das neue Produkt fand reißenden Absatz.

Dass das Regime den Konsum nicht nur duldete, sondern sogar noch forcierte, steht jedoch, wie der Autor hervorhebt, im vollkommenen Gegensatz zum NS-System. Drogen waren (eigentlich) verboten, 1936 führten die Nazis eine reichsweite Drogenpolizei ein und Süchtige selbst wurden inhaftiert, viele von ihnen ermordet.

Zu den Erklärungsversuchen des Verfassers für diese janusköpfigen Umgang mit Rauschmitteln gehört der Hinweis auf die Olympischen Spiele 1936 in Berlin, bei denen zahlreiche Sportler durch die Einnahme von Amphetamin Erfolge feierten. Bewusstseinserweiternde Medikamente passen ferner zu einer Zeit und einer Ideologie, die Aufbruchstimmung erzeugen will und sowohl Leistung als auch Stärke propagiert.

Pervitin für Volk und Soldaten

Doch nicht nur das Volk sollte sich mit Pervitin betäuben können, noch wichtiger war den Nazis offenbar, dass schon gleich zu Beginn des Krieges für die Soldaten die Pillen in ausreichenden Mengen vorhanden waren. Das lässt sich aus zahlreichen Belegen und Quellen erschließen. Millionen von Packungen wurden für die Truppen bestellt, wobei das Regime wenige Wochen vor dem Überfall auf die Sowjetunion den Hersteller in die Pflicht nahm. In einem Dokument der Reichsstelle Chemie heißt es, dass die Temmler-Werke für die Sicherung der Fertigung verantwortlich sind – verbunden mit der Notiz, dass das Mittel Pervitin „kriegsentscheidend“ ist.

Norman Ohler führt zahlreiche Situationen an, in denen die Soldaten durch die Einnahme des Mittels ihre Müdigkeit überwanden, auf Schlaf verzichten konnten oder ihre Niedergeschlagenheit überwanden. Es gab beim Heer sogar Erhebungen über die Wirkung des „Schlafbeseitigungsmittels Pervitin“. Dass sich die einfachen Soldaten, aber auch die Führungseliten auf diese Weise aufputschen konnten, stellt Norman Ohler in Beziehung zu den militärischen Erfolgen des Blitzkriegs im Westen. Dass der Feldzug gegen die Sowjetunion zur Niederlage von Stalingrad führen sollte, ließ sich allerdings auch durch noch so sehr gedopte Soldaten nicht verhindern. Vielmehr führten die Allmachtsvorstellungen Hitlers und die daraus resultierenden falschen strategischen Entscheidungen zum Untergang, stellt Ohler heraus.

Auch Hitler war nicht abstinent

Hitler selbst war keineswegs „abstinent“, sein Leibarzt Theodor Morell hatte schon Ende der 30er Jahre damit begonnen, den Patienten A, wie er den Diktator in seinen Aufzeichnungen nennt, mit Pervitin zu versorgen. Doch es blieb nicht nur bei diesem einen Mittel. Vitaminschocker waren da noch eher harmlosere Varianten, denn je länger der Krieg dauerte und je deutlicher klar wurde, dass Deutschland den Krieg verlieren wird, um so stärker wurden auch die Dosierungen weiterer Substanzen wie Kokain oder das Schmerzmittel Eukodal.

Sehr anschaulich beschreibt der Autor, wie sich Hitler immer mehr abkapselt und entsprechend mehr Stimmungsaufheller benötigt. Hitlers Leibarzt charakterisiert der Autor als einen nach Ansehen lechzenden Menschen, dem es gelungen ist, Hitlers Vertrauen zu gewinnen. So stolz er auch darauf ist, so tief erschüttert ist Morell, als ihn der „Führer“ (wenige Tage vor seinem Selbstmord) entlässt. Morell geriet übrigens nach dem Krieg in amerikanische Gefangenschaft und starb 1948.

Neben Hitler kommt auch Reichsfeldmarschall Göring nicht ohne Drogen aus. Als die Alliierten ihn festnehmen, hat er 24000 Tabletten bei sich.

Dass alle diese Substanzen Körper und Geist der Konsumenten schädigen war den Nazis sehr wohl bekannt und es gab in den Reihen von damaligen Wissenschaftlern durchaus kritische Stimmen, die vor ständigem Gebrauch warnten. Norman Ohler ist auf einen Anweisungszettel für die Soldaten gestoßen, wie sie umsichtig mit Pervitin umgehen sollen. Der Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll dürfte von solchen Ratschlägen kaum etwas gewusst haben, denn er ist, wie Ohler schreibt, als Soldat abhängig geworden.

Um herauszubekommen, welche Wirkung Drogen bei mehrmaliger Einnahme direkt nacheinander haben, gab es in mehreren KZs Menschenversuche. Zum Teil haben die Gefangenen vier Tage lang kein Auge zugetan, sie wurden künstlich wach gehalten.

Norman Ohler stellt klar, dass die gewonnen Erkenntnisse über den Drogenkonsum in der NS-Zeit keineswegs Sensationszwecken dienen, noch die Verbrechen erklären oder gar entschuldigen sollen. Der Autor sieht in den Rauschgiften ein „künstliches Mobilisierungspotenzial“, um das Volk und seine Soldaten bei Laune zu halten. Für den (im November 2015 verstorbenen) Historiker Hans Mommsen, der als Professor vor allem in Bochum lehrte und fürs vorliegende Buch ein Nachwort schrieb, besteht der Erkenntnisgewinn Ohlers unter anderem darin, dass die von den Nazis propagierte idealistische Motivation stark relativiert werde.

Norman Ohler: „Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich“. Mit einem Nachwort von Hans Mommsen. Kiepenheuer & Witsch. 364 Seiten, 19,99 Euro.




Familienfreuden XX: Die Spielzeug-Sekte

Das "richtige" Spielzeug. (Bild: Albach)

Das „richtige“ Spielzeug. (Bild: Albach)

Kinder sind Ideologie pur. Und seitdem Fiona da ist, weiß ich: Die Kampflinie verläuft zwischen Plastik und Holz!

Es war auf den Straßen von San Francisco, Fiona schlummerte selig in ihrem Kinderwagen, als uns eine Frau freundlich ansprach: „Sorry, are you from Germany?“ Normen und ich schauten uns erstaunt an: Wir waren es schon gewohnt, dass wir, kaum dass wir den Mund aufmachten, als Deutsche identifiziert wurden, aber just in diesem Moment hatten wir golden geschwiegen. Woran sie denn das erkannt habe, fragten wir neugierig. Zielsicher und mit breitem Grinsen zeigte sie auf die Spielzeugkette, die an Fionas Kinderwagen baumelte. Sie war – aus Holz. „In the US, this would be plastic!“

Niemals hätte ich gedacht, dass meine Nationalität einmal am Spielzeug unserer Tochter ablesbar sein würde. Bunte Bilder von aufblasbaren Eiffeltürmen, Spaghetti aus Stoff oder Holz-Frikandeln futschen durch meinen Kopf – willkommen in Klischeetanien!

Demarkationslinie zwischen Holz und Plastik

Dabei muss ich der spielzeugweltgewandten Dame doch entschieden widersprechen – schließlich gibt es sie auch in Deutschland selbst, die ideologische Demarkationslinie zwischen Plastik- und Holzspielzeug. Und noch vor einigen Jahren wäre ich selbst fahnenschwingend und „Ostheimer“-rufend für Holz als einzig echten, wirklich wahren Spielzeug-Werkstoff auf die Barrikaden gegangen.

Inzwischen bin ich da vorsichtiger geworden. Denn inzwischen bin ich ihr begegnet: der Spielzeug-Sekte.

Ein Graus!

Es war zu Fionas erstem Geburtstag. Meine Schwiegermutter wollte Fiona unbedingt eine Puppe schenken. Sie hatte eine diese ganz klassischen Babypuppen ausgesucht – für mich ehrlich gesagt ein Graus! Ich gestand ihr meine Aversion mit Bauchschmerzen. Sie reagierte ganz entspannt: „Dann such‘ Du doch einfach eine aus!“

Erleichtert ging ich in die Stadt. Dort hat man die Auswahl zwischen zwei Spielzeugläden – und zwei Weltanschauungen: Der eine hat sich auf das qualitativ hochwertig, pädagogisch wertvolle Spielzeug spezialisiert. Der andere verkauft einfach alles, was der Markt hergibt. Meine Schwiegermutter hatte sich für die gute Seite der Macht entschieden. Dachte ich.

Mission Umtausch

Ich betrat den Laden, ohne zu ahnen, dass es ein Kriegsschauplatz würde. Meine Mission: Baby- gegen Stoffpuppe umtauschen. Naiv wurde ich bei einer Verkäuferin vorstellig. Kaum hatte ich mein Sätzchen aufgesagt, fiel die gute Dame fast in Ohnmacht. „WAS wollen sie?“, rief sie empört, die Augen vor Entsetzen geweitet. „Diese wunderschöne Puppe umtauschen?“

Schon etwas vorsichtiger geworden, nickte ich nur. Sie holte zum Rundumschlag aus. Noch NIE in ihrer 40-jährigen Verkäuferinnenkarriere habe sie etwas Derartiges erlebt. „Also nein! Das ist doch eine Puppe für die Ewigkeit! Darüber freut eine Frau sich auch noch im hohen Alter, wenn die im Schrank steht und sie anlächelt.“ Attacke, versenkt. Ich stand nur noch wackelig auf den Beinen und murmelte, dass das doch vielleicht Geschmackssache sei. Sie entlud einen weiteren Hagel Fassungslosigkeit.

Tief fliegendes Kaufladen-Obst

Als sie erkannte, dass ich trotz allem standhaft blieb, sah sie mich an, als erwöge sie, gleich die UN-Puppenrechtskonventionen zu zitieren oder mich mindestens noch mit Kaufladen-Obst (aus Holz natürlich) zu bewerfen. Doch sie zuckte nur mit den Schultern ob so einer Ignoranz und sagte: „Tja, wenn sie sich sicher sind (kurze Pause), DANN müssen sie eben zur Kasse gehen.“

Mit gesenktem Kopf tat ich wie geheißen. An der Kasse wiederholte ich mein Anliegen – in der Hoffnung, das Schlimmste nun überstanden zu haben. Stattdessen erwischte mich die neue Zermürbungstaktik kalt. Die ältere Dame an der Kasse sah mich strafend und schweigend an. Dann nahm sie mir die Puppe ab, legte sie wie ein echtes Baby in ihre Arme, schaute sie mitleidig an und sagte: „Hast Du kein Zuhause gefunden? Och, Du Arme! Dann kommst Du wieder zu uns! Bei uns bist Du willkommen!“

Wie eine Menschenhändlerin

Ich brach fast zusammen. Das Geld nahm ich mit dem Gefühl, eine Menschenhändlerin zu sein.

Draußen auf der Straße plagten mich Gewissensbisse. Warum hatte ich diese Puppe nicht lieben können? Ich rief meine beste Freundin an. Jemand musste mir jetzt versichern, dass ich nicht der schlechteste Mensch auf diesem Planeten bin.

Als ich wieder hergestellt war, ging ich zu dem Spielzeugladen, der alles verkauft. Vorsichtig sah ich mich um. Keine Verkäuferin, die mir eine Moralpredigt halten wollte. Keine Schilder, die mir anzeigten, welches Spielzeug „gut“ oder „schlecht“ war. Ich nahm eine Stoffpuppe. Schaute mich um. Ging schnell zur Kasse. Bezahlte. Keiner kommentierte meine Auswahl. Ich hatte selbst entscheiden dürfen! So, wie es Fiona jetzt tun soll – auch wenn es dann eben Plastik oder eine Babypuppe ist. Denn das war der Tag, an der ich der Spielzeug-Ideologie abschwor.




„Das Lachen der Täter“: Klaus Theweleits Gedanken zur monströsen Mordlust

Wir erinnern uns schemenhaft: Damals, ab 1977, haben praktisch alle links bewegten Leute Klaus Theweleits „Männerphantasien“ gelesen oder wenigstens darin geblättert und sich die Köpfe heiß geredet.

Da ging es um soldatisch zugerichtete Männerkörper und ihre Panzerungen, um ihre psychophysische Angst vor Fragmentierung und Auflösung, die sie dann als entgrenzte Gewalt nach außen kehrten – nicht nur in beiden Weltkriegen. So ungefähr. In zwei Bänden mit 1174 Druckseiten war das natürlich alles ungleich differenzierter und vielfältiger ausgeführt.

Klaus Theweleit bei seiner Lesung in Dortmund. (Foto: BB)

Klaus Theweleit bei seiner Lesung in Dortmund. (Foto: BB)

Klaus Theweleit (73) ist sich offenkundig treu geblieben. Noch immer wandelt er konsequent auf den Spuren seines einstigen Kultbuches, dessen Grundlinien er mit neuen Akzenten bis in unsere Gegenwart fortführt. Jetzt war er zu Gast in der „Blackbox“, einer an- bis aufregenden Lese- und Gesprächsreihe im Dortmunder Schauspielstudio, wo er seinen im März 2015 erschienenen Band „Das Lachen der Täter“ vorstellte, der bis zum Attentat auf das Pariser Satiremagazin „Charlie Hebdo“ (Januar 2015) reicht. Theweleit wirkte dabei nicht so sehr wie ein funkelnder, sondern eher wie ein bedächtiger, bedachtsamer Intellektueller.

Universelle Gültigkeit

Ein Ausgangspunkt des Buches ist das Gelächter des Anders Breivik, der 2011 in Oslo und vor allem auf der norwegischen Insel Utoya 77 Menschen erschoss und dabei immer wieder lauthals lachte. Ein wahnwitziger Einzelfall? Gewiss nicht. Denn Theweleit zeigt, dass das Phänomen des lachenden (Massen)-Mörders geradezu universell gilt. In allen Weltgegenden und vielen historischen Zusammenhängen lassen sich solche monströsen Ausbrüche verfolgen.

Klaus Theweleit hat denn auch zahllose abgründige Vorfälle gesammelt, bei denen einem der Atem stockt. Wem ist schon gegenwärtig, dass in den 60er Jahren in Indonesien Hunderttausende, ja Millionen bestialisch als „Kommunisten“ ermordet wurden – mit staatlicher Lizenz und Billigung, vielfach ausgeführt von „ganz normalen“ Zivilisten. Später haben sie solche straffreien Massaker lachend gefeiert.

Wähnten sich SS-Schergen unter ihresgleichen, so haben auch sie einander lachend mit ihren Untaten geprahlt. Ganz ähnlich im mörderischen Konflikt zwischen Hutu und Tutsi in Ruanda, wo der massenhafte Mord an der Tutsi-Minderheit zuweilen regelrecht als Unterhaltungsprogramm der totalen Enthemmung inszeniert wurde. Und so weiter, kreuz und quer über den Globus, vor- und rückwärts durch die Zeiten.

„Volksfeste des Tötens“

Theweleit schildert natürlich nicht nur die bloßen Phänomene, sondern sucht eine Theorie zu entwickeln, die in Dortmund freilich nur in Stichworten anklingen konnte: „Volksfeste des Tötens“, völlige Absorbierung durch die eigene Tat, Berufung auf ein „höheres Recht“, Entstehung eines schier unverletzlichen kollektiven „Überkörpers“, Durchbruch zu einer „neuen Körperlichkeit“, Grenzüberschreitung und gesteigertes Leben durch den Tötungsakt…

Wer es genauer wissen will, lese am besten im Buch nach. Wobei Theweleit, zumal in der von Alexander Kerlin (Dortmunder Schauspiel-Dramaturg) moderierten Fragerunde mit Publikum, auch schon mal punktuelles Nichtwissen eingesteht. Nicht alle Zusammenhänge sind wirklich zweifelsfrei geklärt; sofern das überhaupt menschenmöglich ist.

Erektion im Blutrausch

Jedenfalls stellt Theweleit auch äußerst schmerzliche Fragen, wie beispielsweise die, warum Täter bei Vergewaltigungen, die mit grausamsten Verstümmelungen einhergehen, überhaupt eine Erektion haben. Nicht Sexualität, sondern der Blutrausch unumschränkter Machtausübung scheint in solchen Extremfällen den tödlichen Trieb zu steigern. Eine wahrlich finstere Erkenntnis.

thewe

Nach all den schrecklichen Beispielen hätte man meinen können, Theweleit sehe keinerlei Ausweg aus der ubiquitären Gewalt. Doch gegen Schluss warf er doch noch einen Hoffnungsanker aus. Er hält dafür, dass wir Heutigen und Hiesigen im Großen und Ganzen doch etwas beherrschter und zivilisierter seien als frühere Generationen – nicht zuletzt, weil Kleinkinder viel seltener durch Prügelstrafen fürs Leben verängstigt werden.

Auch beklagt Theweleit zwar das lachlustige „Happy Slapping“ (genüsslich mit Handy gefilmte Schüler-Gewalt), glaubt aber, dass etwa Schulhofschlägereien in den 50er und 60er Jahren viel härter und häufiger gewesen seien als jetzt. Da hört man schon die Skeptiker raunen: Alles nur Firnis, im Zweifelsfalle nicht haltbar…

Wie bitte? Ob Theweleit auch die unvermeidliche Frage nach Silvester in Köln gestellt worden sei? Aber ja. Doch da wich er wohlweislich aus und ließ lediglich vernehmen, dort habe sich ein ungutes Machtvakuum aufgetan.

Klaus Theweleit: „Das Lachen der Täter. Breivik u.a. – Psychogramm der Tötungslust“. Residenz Verlag. 248 Seiten, 22,90 Euro.




Deutschland im Herzen: Über den Heimat-Begriff

Die New Yorkerin Carol Kahn Strauss (vorne) mit (v.li.) TU-Rektorin Ursula Gather, MKK-Leiterin Gisela Framke und Bürgermeister Manfred Sauer.

Die New Yorkerin Carol Kahn Strauss (vorne) mit (v.li.) TU-Rektorin Ursula Gather, MKK-Leiterin Gisela Framke und Bürgermeister Manfred Sauer. (Foto: Thomas Kampmann/Dortmund Agentur)

Ihr Kopf ragt gerade über das wuchtige Rednerpult, hinter dem sie steht – eine elegante, ausgesprochen zierliche Frau mit markanter runder Brille und langen, perfekt frisierten Haaren. Und doch: Kaum dass sie den Mund aufmacht, hat sie ihr Publikum voll im Griff. Die New Yorkerin Carol Kahn Strauss, 72, strahlt ungeheure Präsenz aus – ihre Aura macht die Körpergröße mehr als wett.

Dass sie dort steht, in der Rotunde des Dortmunder Museums für Kunst und Kulturgeschichte, über ihren Begriff von „Heimat“ spricht und die Einladung nach Dortmund gar als „Ehre“ bezeichnet – das ist alles andere als selbstverständlich.

Eltern und Großeltern mussten 1938 aus Dortmund fliehen

Denn Kahn Strauss lebt in New York, wo sie 1944 geboren wurde, nachdem ihre Eltern und Großeltern 1938 aus Dortmund fliehen mussten – eine angesehene jüdische Familie aus dem gehobenen Bürgertum, der Vater Rechtsanwalt, der Onkel Kinderarzt, der Opa Geschäftsmann.

Carol Kahn Strauss selbst war 20 Jahre lang International Director des Leo Baeck Institute in New York City, ein wissenschaftliches Archiv, das die Geschichte und Kultur deutschsprachiger Juden dokumentiert. Es zählt zu den führenden Forschungsinstituten zur Geschichte der deutschsprachigen Juden.

Ungewöhnlich ist schon diese Karriere einer Frau, die doch die Sprache, die Heimat ihrer Eltern mit gutem Recht ebenso hätte ignorieren, verdrängen, ja: verdammen können. Stattdessen hält sie nun, im Jahr 2016, einen Zeitungsartikel aus den New York Times in die Luft, geschrieben im September 2015. Die Korrespondentin hatte damals fast ganzseitig über die Willkommenskultur in Dortmund berichtet, als hunderte Menschen die Flüchtlinge am Bahnhof mit Applaus und Hilfe-Angeboten begrüßten. Sie sei stolz gewesen, als sie das gelesen habe, sagt Carol Kahn Strauss: „Irgendwas ist da wohl in meiner DNA.“

Hölderlin, Kant und Heine im heimischen Regal

Doch die Verbundenheit mit Dortmund hat sich natürlich nicht genetisch vererbt – sondern durch bewusste Erziehung und Sozialisation. „Es war ,Hoppe hoppe Reiter’, es war Heinrich Heine, es war ,Die Blechtrommel’ und nicht ,The tin drum’, erzählt sie von ihrer Kindheit in den USA und spricht von den meterhohen und –langen Bücherregalen, die die Eltern ihr hinterlassen haben – Hölderlin, Kant, Heine, größtenteils noch in Sütterlin gedruckt. Man sprach deutsch, man pflegte die Erinnerung an die Heimat – ein Wort, für das es im Amerikanischen gar keine Entsprechung gibt.

„Meine Eltern konnten die Geschichte … breiter sehen“, sagt Carol Kahn Strauss zur Erklärung, nach Worten ringend, „sie sahen nicht nur den kleinen Ausschnitt der Nazi-Zeit.“ Als sie zehn Jahre alt war, fuhren ihre Eltern mit ihr das erste Mal nach Dortmund. Carol Kahn Strauss weiß sehr gut, wie ungewöhnlich diese Entscheidung ihrer Eltern war. „Ich habe auf der ganzen Welt viele deutsche Juden kennengelernt, die nach ihrer Flucht nie wieder deutsch sprachen, nie wieder in Deutschland waren.“

Auch die junge Carol wusste oder ahnte, dass Deutschland in der Welt der 1950er Jahre nicht besonders wohlgelitten war. Als der Direktor der Grundschule sie damals bat, für ein neu angekommenes Mädchen aus Deutschland zu übersetzen, behauptete sie gar, sie spreche kein deutsch. Als Jugendliche und junge Erwachsene riss die Verbindung zur Heimat ihrer Eltern fast gänzlich ab – „alle anderen Länder interessierten mich damals mehr“.

Die Geisteswelt als zweites Zuhause

Doch die Eltern hatten den Nährboden gelegt, hatten dem Kind die deutsche Sprache, Literatur, Musik, Kunst und Wissenschaft nahegebracht und einen Stolz auf dieses Erbe vermittelt. Daran konnte Carol Kahn Strauss anknüpfen, als sie später Präsidentin einer jüdischen Gemeinde in New York wurde und wieder verstärkt deutsch sprechen musste. „Kinderdeutsch“ nennt sie heute ihre Sprache – reines Understatement. Sie spricht grammatikalisch nahezu perfekt, ab und zu hört man westfälische Einschläge heraus.

Deutschland war nie ihr Zuhause, und es war nach 1938 auch nicht mehr das Zuhause ihrer Eltern. Doch eine Heimat ist es gleichwohl geblieben. Denn auch Bildung, auch die Geisteswelt kann eine Heimat sein – diese Botschaft nahm das Publikum am Ende mit. Ein Heimatbegriff, der womöglich mehr bedeutet, schwerer wiegt, fester bindet als die bloße Zugehörigkeit zu einem Land, in dem man zufällig geboren wurde und das man dank glücklicher Umstände nie verlassen musste.

Die Veranstaltung „Stadtgespräche im Museum“ ist eine Kooperation zwischen MKK Dortmund und TU Dortmund. In der Reihe geht es derzeit um das Thema „heimaten – Konstruktionen der Sehnsucht“: Aus verschiedenen Blickwinkeln befassen sich die Referentinnen und Referenten mit dem Begriff Heimat, passend zur großen Sonderausstellung „200 Jahre Westfalen. Jetzt!“ im Museum für Kunst und Kulturgeschichte (MKK).




Über alle Gegensätze hinweg – Andreas Maiers Huldigung „Mein Jahr ohne Udo Jürgens“

Da schreibt ein viel beachteter Belletrist im hochrenommierten Suhrkamp-Verlag ein ganzes Buch über – Udo Jürgens. Ja, ist der Schlagermann denn überhaupt literarisch themenwürdig?

Das fragt sich Andreas Maier (zuletzt: „Die Straße“, „Der Ort“) auch selbst unentwegt, der gelinde Zweifel ist konstitutiver Bestandteil des Buches „Mein Jahr ohne Udo Jürgens“. Doch zugleich erfahren wir von einer Art – nun, nennen wir es ruhig beherzt „Erweckung“, die den am 21. Dezember 2014 gestorbenen Musiker mehr und mehr als quasi überzeitliches, dem Alltag enthobenes Phänomen wahrnimmt, in dem gleichsam alle Gegensätze aufgehoben sind… Nanu?

42519Als Kind hatte Andreas Maier noch Jürgens’ Erfolgslied „Siebzehn Jahr, blondes Haar“ vernommen. Dann setzte eine langjährige Pause ein, in der derlei Klänge nur noch peinlich waren. Die meisten von uns dürften wohl in dieser Phase verharren, wenn nicht sich darin verschanzen.

Bei Andreas Maier setzt jedoch irgendwann eine zunächst zögerliche Rückkehr ein, deren Fortgang man beinahe als reuiges Konvertitentum bezeichnen könnte. Maier hebt freilich nicht völlig ab, sondern verankert diese Bewegung in seiner heimatlichen Region, bezieht sie innig auf die Stimmungslage in gewissen Frankfurter Äppelwoi-Wirtschaften, wo Jürgens’ allzeit radikale Emotion im rechten Moment auf ein – alkoholisch befeuertes – kollektives großes „Ja“ treffen kann.

Und so singt denn auch die gesamte Kneipe hingebungsvoll seine Lieder, als sich die Nachricht von Jürgens’ Tod verbreitet. Welch’ eine gefüllte Gegenwart, wie sie wohl kein zweiter Künstler dieses Genres hervorrufen könnte. Ja, man muss sagen: Diese Stunden hätte man wohl auch gern miterlebt. Wer sonst stiftet schon derlei Gemeinschaft?

Also gut. Werden wir erst mal wieder nüchtern.

Maier schickt sich an, nicht nur etliche populäre Mythen seiner jüngeren Jahre (z. B. zwischen Asterix, Beatles, Perry Rhodan und Raumschiff Enterprise) anklingen zu lassen, er arbeitet auch heraus, wie Udo Jürgens hinter und neben all diesen Hervorbringungen immer und immer da gewesen ist. Einzelne Songs werden deutend herauspräpariert, teilweise mikrostrukturell bis kurz vor die Parodiegrenze, also Zeile für Zeile (besonders „Merci Chérie“), bis sich tatsächlich so etwas wie ein beständiges „Narrativ“ des Udo Jürgens ergibt.

Obwohl er so angetan ist, muss Maier doch immer wieder innehalten, etwa so: „Aber wodurch wurde er wichtig? Es war ja nicht mein Ziel und Vorsatz, diesen Chansonnier und, in seinen kommerziellsten Augenblicken, Gassenhauser-Wodka-Trallala-Unterhalter Einzug in mein Leben halten zu lassen.“

Der Autor kommt zu dem Schluss, dass Jürgens wie kaum ein anderer geeignet sei, eine bestimmte Art des Weltzugangs zu eröffnen, etwas ganz und gar Offenes und Allgemeines zu verkörpern – jenseits aller sonstigen Zersplitterung. Nach und nach sucht Maier diesen Erzählzusammenhang zu (re)konstruieren.

Verblüfft stellt er dabei fest, dass diejenigen, die Udo-Jürgens-Konzerte besucht haben, im Umkreis der Hallen gar nicht identifizierbar waren – anders als praktisch alle anderen Fans: „Hier aber war nichts charakteristisch, abgesehen von einem gewissen Glanz, der auf allen Gesichtern lag.“ Vielleicht lag’s auch an der allgemeinen Vorfreude, habe doch nach solchen Konzerten die „Koitalquote“ enorm hoch gelegen, wie Maier mutmaßt. Lassen wir die These mal so stehen. Auch eine Formel wie die vom Klassizismus des Nichtssagens setzt ja etwas in Gang. Und dass niemand die Musik des Udo Jürgens adäquat nachspielen kann, hat doch wohl gleichfalls etwas zu bedeuten.

Jedenfalls sind wir uns nun in Maiers Gefolge zum Hymnus vorgedrungen. Diese Musik sei nicht cool oder hip, sie bewege sich weit außerhalb solcher bequemen Geschmacksurteile. Bei einem Jürgens-Auftritt fühlt sich Maier nach jedem Lied, als habe er „fünfmal hintereinander Doktor Schiwago geschaut“. Ganz großes Kino der Emotionen also. Erschöpfend in jedem Sinne.

Nun. Man kann in derlei Gefilde nicht so ohne weiteres folgen. Man erlebt, wie da einer „in Zungen“ redet. Unter der Hand ist dies denn wohl ein selbsterfüllendes Buch geworden. Das Projekt war nun einmal eingestielt, die Verlagsmaschinerie angeworfen, also musste eine inhaltliche Entsprechung her. Dennoch ist es mehr als nur das.

Dass dieser Text unsere Geschmacksbildung (nicht nur) auf dem Pop-Sektor hinterrücks gründlich infrage stellt, ist nämlich ebenso wahr. Rechthaberisch oder auch nur einfordernd ist Andreas Maier bei all dem an keiner Stelle. Soll man deshalb sagen, dies sei ein angenehmes Buch? Oder ist es nicht vielmehr auf einschmeichelnde Weise unbequem?

Andreas Maier: „Mein Jahr ohne Udo Jürgens“. Suhrkamp Verlag. 218 Seiten. 17,95 €.




Flucht vor dem Drogenkartell – in die gar nicht so idyllische Provinz

Das seit Jahren vermisste Mädchen Gesa war für die meisten Bürger in dem beschaulichen Bad Iburg längst in Vergessenheit geraten, als Andreas Atlas plötzlich wieder in dem Städtchen mitten im Teutoburger Wald auftaucht. Er hatte sich einst kurz nach dem Verschwinden der damals 18-jährigen aus dem Staub gemacht. Als er nun in seine alte Heimat zurückkehrt, holt ihn die Vergangenheit wieder ein, aber nicht nur ihn, sondern auch Bekannte und Kollegen aus früheren Zeiten.

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Andreas Atlas ist die Hauptfigur in Martin Calsows neuem Krimi, der von sehr unterschiedlichen Handlungssträngen lebt und recht eigenartige Persönlichkeiten aufzubieten hat. Das fängt schon bei Atlas selbst an. Er ist ein Mann des Bundeskriminalamtes, war als verdeckter Ermittler auf das mexikanische Drogenkartell angesetzt. Ihm gelingt zwar dort der Aufstieg, aber als er auffliegt, muss der Deutsche fliehen.

Dabei möchte er sich eigentlich mit einem unterschlagenen Millionenvermögen in Südamerika ein schönes Leben machen. Doch aus Todesangst vor seinen Verfolgern sucht er lieber den Schutz der ländlichen Idylle. Dort kann indes von Wiedersehensfreude keine Rede sein, die eigene Familie fühlt sich von ihm verprellt, da er es nicht einmal für nötig befand, zur Beerdigung des Vaters zu erscheinen. Das hat auch auf seinen Ruf im Ort abgefärbt, zudem glauben die meisten Leute ohnehin, er habe sich nur rumgetrieben und sei ein Scharlatan.

Doch eine Freundin aus alten Zeiten hält zu ihm. Mit ihr gemeinsam rekonstruiert er die letzten Tage und Stunden vor Gesas Verschwinden. Dass da plötzlich noch intime Fotos auftauchen und Menschen in den Fokus geraten, die sich bis dahin als streng religiöse Gläubige ausgewiesen haben, trägt ganz erheblich zur Steigerung des Spannungsbogens bei. Calsow versteht es nicht nur, dem Krimi eine dramatische Wende zu verleihen, es gelingt ihm auch, die Charaktere mit ihren Widersprüchlichkeiten und prägenden Lebensschicksalen prägnant zu beschreiben.

So aufwühlend die Ereignisse von damals und heute auch immer sein mögen, Atlas verliert nie seine prekäre Lage aus den Augen. Was aus seinen ursprünglichen Zukunftsplänen wird, sei hier noch nicht verraten. Wohl aber soviel: Wie es mit ihm weitergeht, wird ganz wesentlich von einem autistischen Kind bestimmt.

Martin Calsow: „Atlas. Alles auf Anfang“. Grafit Verlag, 253 Seiten, 10,99 Euro.




Lachen über „kuriose Kundschaft“

Gewiss: Meine grippale Fieberkurve steigt kontinuierlich. Doch noch schreibe ich dies bei klarem Verstand. Zur Sache:

Über Amazon kann man sagen, was man will. Beispielsweise, dass der Riesenkonzern seine Mitarbeiter nicht immer gut behandelt, um es mal vornehm auszudrücken. Als Versandkunde hingegen kann man sich kaum beklagen. Da orientiert sich die Weltfirma am Servicegedanken, wie nur je im US-amerikanischen Handelsgeiste üblich.

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Wie ich darauf komme? Was hinter den Kulissen geschieht, weiß ich nicht. Aber nie und nimmer würde sich Amazon öffentlich über seine Klientel lustig machen. Das überlassen sie beispielsweise einer Klamotten-Klitsche wie www.WeAre.de, die ihren neuen (gedruckten) Katalog damit einleitet, dass sie aus Mails und Briefen an den „Kundenservice“ (och!) zitert, in denen sprachlich und/oder semantisch etwas schief gegangen ist. Ha-ha-ha, wie überaus lustig.

Das Ganze läuft unter der Zeile „Auszüge aus dem WeAre.de Kuriosenordner“.

Also, Folks. Entweder „aus dem kuriosen Ordner“ oder „aus dem Kuriositätenordner“. Die selbstgefälligen Schlaumeier, die offenbar selbst linguistische Dilettanten sind, zitieren anschließend aus Zuschriften einiger Leute, die vielleicht nicht die ganz großen Bildungschancen hatten oder sich als Migranten vielleicht sehr um die deutsche Sprache bemühen, z. B. so: „Ich wollte fragen ob meine Bestellung ist schon im weg“. Will man einen solch unschuldigen Satz, bei dem man doch wohl weiß, was gemeint ist, dermaßen bloßstellen, muss man schon ziemlich zynisch sein.

Ein paar verschrobene Beschwerden über geliefertes Schuhwerk werden sodann ebenso weidlich ausgekostet wie kleine bis mittlere Sprachschnitzer oder Ungeschicklichkeiten im Umgang. Hie und da scheint es auch Menschen zu geben, die den Versand bei Retouren und dergleichen übers Ohr hauen wollen. Doch selbst solche Befunde sollte man nicht offen zu Markte tragen; erst recht nicht in einem Höker-Verzeichnis, das als schickes Trendmagazin aufgemacht ist.

Das Fazit scheint zu lauten: Seht her, auch so beschränkte und impertinente Leute kaufen bei uns. Die so hämisch angesprochenen (klügeren?) Kunden sollen wohl gemeinsam mit der Firma lachen. Doch worüber eigentlich?

Ganz früher hätten sie uns ermahnt: Das gehört sich einfach nicht. Manchmal, heute, schätze ich solche altmodischen Sätze.




Sich in Faultiere und Birnen einfühlen – ja, selbstverständlich geht das!

Weckerbrüllt! Uff… nur… ne Viertelstunde noch… konzentriert schlafen (jawoll, das geht)…

»Schorsch (nach Picasso)« Scherl, 2015

»Schorsch (nach Picasso)« © Scherl, 2015

…wenn dann Kater Schorsch sein aggro-beleidigtes MRRRRRAAUU! MRRRRRAAUU! MRRRRRAAUU! raushaut ohne Luft zu holen, weil er der Meinung ist, daß er sogleich Hungers stirbt, wenn ich ihn nicht sofort fütter (Essenszeit für ihn in zwei Stunden!), hau ich mein 100% aggro RUHEJETZTVERDAMMTESCHEIßE! raus, daß die metallenen Bettpfosten mitsingen.

Es kümmert ihn zwar keinen feuchten Kehricht, aber immerhin hab ich das erhebende Gefühl, daß mir wenigstens ein Ding auf Erden Resonanz gibt – und wenn’s nur die Bettpfosten sind.

Wenn ich dann allerdings zB versuche, mich in ein Faultier einzufühlen, weil ich einen Faultiershirtentwurf machen muß und das Vieh so richtig schön faul werden soll oder das gleiche in drei Birnen für eine Auftragszeichung, damit da auch wirklich die richtige Geschichte erzählt wird mit dem Obst (ja freilich kann man sich in Birnen einfühlen. Bin ich Künstler oder Hobby-?) und der schwarze Pelzsatan legt dann los mit seinem Geschrei (wofür er in 99% aller Fälle exact (ja, mit »c«)) den richtigen Zeitpunkt findet und auch nicht eher aufhört, bis ich entweder keine Zeit mehr hab oder mir auch noch das letzte bissl Muse zerrüttet ist), packt mich einfach nur noch tiefste Verzweiflung und eine Stimme fragt in mir:

»Was hätt Picasso an meiner statt getan? Oder Matisse? Oder Cezanne? Oder Christian Schad? Oder…« (Zwischenruf einer anderen Stimme: »Charles Manson?«) und es antwortet: »Sie wären ins Atelier gegangen und wenn sie da schon gewesen wären, in ’n anderes.«, dann kommentiert die nächste: »Thomas, schreib auf deinen ‹Ziele 2016›-Zettel ganz oben, ganz groß: ‹1. Viel Geld verdienen, 2. Atelier mieten›.«

Done.

(Also das mit dem Zettel.)




Über Digitalisierung – einige grundsätzliche Überlegungen zum Internet und seiner künftigen Gestaltung

Wie und nach welchen Prinzipien soll das Internet der Zukunft gestaltet werden? Unser Gastautor Michael-Walter Erdmann, Künstler und Publizist aus Essen, hat dazu einen grundlegenden Text geschrieben:

̈Wäre das menschliche Auge nicht sonnengleich, es könnte die Sonne nicht sehen. Wenn das menschliche Gehirn kein Computer wäre, könnte es keine Computer bauen. Die Erfindung des Computers ist ein zwanghafter, zwangsläufiger Akt der Auto-Mimesis. Das Internet ist das bislang größte mimetische Projekt des Menschen; digitale Höhlenmalerei.

Mimesis ist nicht nur ein auf Erkenntnis abzielender Kunstvorgang, jedenfalls kein auf Kunst begrenzter Vorgang: Mimesis ist ein biologisch-geistiger Reflex, ein Grundprinzip der Evolution. Zwei, drei Dinge, die man ganz generell zu „Digitalisierung“ sagen muß. Die Digitalisierung krempelt die gesamte Kultur der menschlichen Spezies um. Kein Bereich des menschlichen Lebens bleibt davon unberührt: Ökonomie, Politik, Gesellschaft, Privatleben, der Öffentliche Raum, Ästhetik, Kunst und Kommunikation. Es wird nichts mehr geben, kein Merkmal und keinen Raum und keine Äußerungsform menschlicher Existenz als Species und intelligibler Zivilisation, der von diesem Prozeß nicht erfaßt und prinzipiell umgestellt, umgebaut, in grundlegender Weise strukturell verändert wird.

Digitale WEltmächte dicht an dicht: die Logos von Google, Amazon und Facebook auf einem Apple-Bildschirm. (Foto/Screenshot: Bernd Berke)

Digitale Weltmächte dicht an dicht: die Logos von Google, Amazon und Facebook auf einem Apple-Bildschirm. (Foto/Screenshot: Bernd Berke)

Die digitale Revolution ist die am schnellsten wachsende Infrastruktur seit Menschengedenken. Dieser Prozeß ist unumkehrbar, und dieser Prozeß ist unabsehbar, und er verläuft in einer exponentiellen Wachstumskurve. Wir stehen am unteren Ende dieser Kurve.

Die Digitalisierung ist eine neue, ist die aktuelle Periode der menschlichen Evolution. Das 21. Jahrhundert ist das Zeitalter der Digitalisierung.

Es gibt 3 Gesetze der Digitalität:
Simultaneität
Ubiquität
Konvergenz

Alle drei Werte tendieren zum Absoluten, akzeptieren keine Endlichkeit, keine Begrenzung. Ein digitaler Content ist prinzipiell überall verfügbar. Das heißt: überall, wo es menschliche Zivilisation und digitale Technik gibt, also so gut wie überall auf diesem Planeten und außerdem außerhalb dieses Planeten überall dort, wo Menschen digitale Technik hinschicken; also auch in Räumen und an Orten, wo keine Menschen sind! Dieser content ist überall gleichzeitig präsent, und Gleichzeitigkeit ist immer Zeichen für und Anzeichen von absoluter, sich selbst absolut setzender Macht.

Herrschaftsanspruch und strukturelle Gewalt

Simultaneität ist Herrschaftsanspruch. Ubiquität und Simultaneität gepaart symbolisieren und repräsentieren eine große materielle Machtfülle und strukturelle Gewalt. Und die Urheber solcher Gewalt wissen um ihre Macht. Um das an einem historisch frühen und vergleichsweise simplen Beispiel zu verdeutlichen, erinnere ich an die erste internationale Währung der Menschheitsgeschichte, an die Standard-Silbermünze, die Alexander der Große in seinem Imperium prägen ließ. Trotz eines gewissen Variantenreichtums legte er großen Wert auf unmißverständliche Wiedererkennbarkeit seines Konterfeis, ikonographischer Ausweis der Omnipräsenz, der Militanz und der wirtschaftlichen Potenz seiner Herrschaft.

Konvergenz bedeutet in diesem Zusammenhang das tendenzielle und progressive Konvergieren vieler unterschiedlicher Medien: Einem digitalisierten Content ist es egal, ob er auf einem großen Screen erscheint, auf einem normalen Computer, einem Tablet, einem Smartphone oder einer Uhr. Er kann an jedem beliebigen Ort als Fernsehbeitrag, CD/DVD/Diskette, als Zeitungsartikel, Buch oder Plakat erscheinen; kann sich also auch wieder in rein analoge oder gemischte (analog-digitale) Medien zurück verwandeln.

Um auch die Grenzbereiche des Analogen zu erwähnen: Ein optischer Content kann als Projektion erscheinen, ein akustischer Content als reines Schallereignis. Content switcht zwischen analogen und digitalen, materiellen und immateriellen Welten und ist in diesen Welten (also an verschiedenen Orten) inclusive der Zwischenwelten gleichzeitig. Darin ähnelt er dem Verhalten von Teilchen im Quantenbereich.

Im Prinzip funktioniert also jegliche Digitalität nach diesen 3 Grundprinzipien, und um sie philosophisch zu fassen, bedarf es keines weiteren Prinzips. Der Rest sind Akzidentien und Anthropologie: Sozialverhalten, Biologie, Evolution. Kein Konzern hat diese 3 Prinzipien besser, umfassender und konsequenter in Produktstrategien und Konnektivität, in Image und Produktprestige umgesetzt als APPLE.

Verlust an Kulturtechniken

Die Digitalisierung sorgt in vielen Bereichen für einen Verlust an Kulturtechniken, kulturellen und zivilisatorischen Standards, für deren Entwicklung die Menschheit Jahrtausende gebraucht hat. Europa war an der Entwicklung dieser Techniken und Standards maßgeblich beteiligt, verteidigt diese aber nicht. Beispiele: Das Navigationsgerät verdrängt die Kunst des Kartenlesens. „Whatsapp“ ist der Ruin der Rechtschreibung, des Briefeschreibens, der Intimität und der Vertraulichkeit; zumindest für ein, zwei, drei Generationen.

Berühren heißt noch lange nicht begreifen: Bildschirm eines so genannten Smartphones. (Foto: Bernd Berke)

Berühren heißt noch lange nicht begreifen: Bildschirm eines so genannten Smartphones. (Foto: Bernd Berke)

Das Gefährliche an der gefälligen „usability“ von digitalen Endgeräten ist die enorme Leichtigkeit der Prozeduren, sind die vielen Automatismen, das Leicht-Fertige. Digitalisierung ist anthropologisch gesehen tendenziell regressiv. Sie erleichtert die Befriedigung atavistischer Instinkthandlungen wie jagen, sammeln, Beute machen; alles vom Sofa aus, jederzeit, an jedem Ort, mühelos.

Die Entwicklung des menschlichen Gehirns ist gekoppelt an die des aufrechten Gangs, die gleichzeitige Evokation von Sprache und dies beides wiederum an die Evolution der menschlichen Hand. „Begreifen“ als Weltaneignen ist immer ein Doppeltes: Das reale Tun, die Mechanik der Hand, das Anfassen und die Verarbeitung der so zustande kommenden Objektwelt als innere Landkarte auf der Metaebene/Datenverarbeitung des Gehirns.

Bei digitalen Geräten ist der Kontakt des Menschen mit dem Objekt auf ein paar Quadratmillimeter Fingerkuppe reduziert; das ist kein „Begreifen“ mehr. Trotzdem verfügen wir mittels dieser Geräte über prinzipiell unbegrenzte Macht: Macht über Menschen, Geld, Dinge, Prozeduren, Sprache. Das ist verführerisch, das schmeichelt unserer kindlichen Omnipotenz, unserem Narzißmus; es ist regressiv, und wir geben dem allzugern nach. Je jünger wir sind, desto gefährdeter sind wir. Wir brauchen eine europäische Ethik des Digitalen. Der Umgang mit digitalen Geräten muß normativ gelenkt und gelernt werden und gehört in ein Unterrichtsfach und an die Universitäten.

Wo bleibt der Einspruch im Sinne der Aufklärung?

Das alles sind reale Gefahren, die durchaus auf ein kulturelles und zivilisatorisches Verblassen der menschlichen Spezies hindeuten. Und es sind reale Gefahren, weil wir Europäer nichts unternehmen, dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen. Digitalisierung ist nicht aufhaltbar und sie ist im Großen + Ganzen unumkehrbar. Aber man kann sie gestalten, einiges kann + sollte man sogar zurücknehmen.

Es entspricht europäischer, aufgeklärter Vernunft, nicht alles zu tun, was man – technisch gesehen – kann. Im Moment versäumen wir den Einspruch aufklärerischer Vernunft, überlassen die Entwicklung von Algorithmen und damit die kulturelle Prägung von Alltagsprozeduren/Kommunikation/ Marktverhalten etc. den Amerikanern und die Produktion von Geräten den Asiaten.

Es entspricht standardisiertem amerikanischem Denken und einem anthropologisch, kulturell naiven Verständnis der techne, zu sagen: „If it’s makeable, we make it!“ Das ist falsch; das ist auf lange Sicht sogar unökonomisch, weil es aufgrund seiner Priorität (technische Machbarkeit) die Grundlagen von Ökonomie tendenziell zerstört: die Balance von Mensch und Ressourcen. Dieses Denken hängt mit der spezifisch amerikanischen Raumerfahrung zusammen, und die hypostasiert einen prinzipiell unendlichen Raum für Bewegung, Planung und Existenzausdehnung. Dieser Raum ist sowohl real wie auch – im amerikanischen Protestantismus – theologisch aufgehoben und existenzbettend.

Die Sorge um das einzelne Subjekt

Der europäische Begriff von „Ökonomie“ beginnt auf begrenztem Raum beim „oikos“, dem einzelnen Haus und seinen Bewohnern und bei einem prozessualen, dialogischen, dynamischen Ausgleich zwischen Individuum, oikos und der polis als der zusammengehörenden Vielzahl der Häuser; europäisches Denken hebt an mit dem Begriff der Differenz, seine Sorge gilt dem Einzelnen, dem Subjekt: Dem großen Ganzen der Polis geht es gut, wenn es dem Einzelnen in seinem Haus gut geht und umgekehrt.

Diese einfachen existentiellen, komplementären Prinzipien bilden den Kern europäischer Identität und des großen, genuin europäischen Projekts AUFKLÄRUNG, aus ihnen resultieren die regulativen ethischen Werte (Freiheit, Solidarität, Gleichheit, Toleranz usw.) für die man Europa weltweit respektiert, woran Millionen von Menschen in anderen Erdteilen sich orientieren, wenn sie gegen staatliche Willkür, Despotismus, religiöse Intoleranz und Korruption kämpfen.

Diese Sorge ums begrenzt Individuelle, das sein Selbst-Bewußtsein und seine Identität geradezu daraus gewinnt, daß es sich den Verführungen der Entgrenzung klug und verantwortungsvoll verweigert, ist – verkürzt gesprochen – den Algorithmen von KINDLE, AMAZON, FACEBOOK, GOOGLE, WHATSAPP & Co. fremd. Diese Algorithmen zielen auf grenzenlosen Konsum, grenzenlose Kommunikation und grenzenlose Kontrolle und Verfügung bei gleichzeitig grenzenloser Mobilität und Ubiquität.

Rückbesinnung auf europäische Werte

Deswegen plädiere ich für die Rückbesinnung auf die zentralen Werte und Normen europäischen Denkens und für die „Übersetzung“, sozusagen für die „Migration“ europäischer Kategorien in die Sprache und Prozeduren der Digitalität. Das Zeitalter der Digitalität hat gerade erst begonnen, es ist keineswegs zu spät, um mit dieser Aufgabe der Europäisierung der digitalen Revolution zu beginnen.

Digitalität ist eine Technik. Als techne ist sie – so lehrt uns europäisches Denken und so kriegt man die Sache vielleicht auch in den Griff – dem Menschen, seinen Zielsetzungen, seinen Absichten und Zwecken untertan. Zwar ist das leichter gesagt als getan; aber es ist so. Es ist nicht das erste Mal, daß die Geister, die einer neuen Technik innewohnen, sich über den Menschen erheben, ihn verführen oder ihm Angst machen und ihn beherrschen. Es war immer wieder schwierig und manchmal auch langwierig, solche Verkehrungen vom Kopf auf die Füße zu stellen; und es beginnt immer mit diesen zwei Wörtern: Sapere aude!

Ceterum censo:
Schaffen wir eine Digitalisierung mit europäischem Antlitz! Nach meinem Dafürhalten gehört diese Aufgabe ins Ruhrgebiet. Es gibt hier eine Menge Menschen + Institutionen, die an dieser Aufgabe partizipieren könnten und es sicher auch gern täten.




Trashiger Kirchen-Trip – Wenzel Storchs „Maschinengewehr Gottes“ in Dortmund

Thorsten Bihegue Leon MŸller Finnja Loddenkemper

Drei Meßdiener suchen einen Priester: Egon (Thorsten Bihegue, vorn), Lutz (Leon MüŸller) und Erika (Finnja Loddenkemper). Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Die Geschichte muß man nicht glauben, aber sie erzählt sich gut: Nesselrodes Kaplan Buffo ist komplett ausgeflippt, hat sich in der Dorfkneipe betrunken, auf den Tischen getanzt und schließlich die Gemeinde samt Kirche und Schäfchen beim Knobeln an Bauer Hümpel verloren.

Jetzt fehlt von ihm jede Spur, zurück bleiben im Beichtstuhl der Oberministrant, die Meßdienerin und der Meßdiener in ihren roten Gewändern. Am nächsten Morgen kommt Bauer Hümpel mit dem Trecker und pflügt die Kirche erstmal unter, um Erbsen anzubauen. Es sieht nicht gut aus für den örtlichen Katholizismus in Wenzel Storchs neuem Stück „Das Maschinengewehr Gottes“, das jetzt im Studio des Dortmunder Schauspiels und in der Regie des Autors seine Uraufführung erlebte.

Was also tun, um Gottes Willen? Die verschreckte Meßdienerschaft schmeißt ihr Geld zusammen und erwirbt im Christlichen Kaufhaus einen neuen Priester, der sich indes bald als schießender Automat entpuppt und explodiert. Vorher hat er noch, ein Kassettenrekorder ist eingebaut, markige Sprüche von Pater Leppich abgelassen, der (das ist jetzt nicht erfunden) in den 50er Jahren die katholische Christenheit mit sexualfeindlichen, repressiven Brutalbotschaften missionierte oder besser vielleicht: einschüchterte. Man nannte ihn so, wie Wenzel Storch nun auch sein neuestes Stück genannt hat: „Das Maschinengewehr Gottes“.

Andreas Beck Thorsten Bihegue

„Das Maschinengewehr Gottes“ (Andreas Beck, vorn) und Meßdiener Egon (Thorsten Bihegue).(Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Kloster-Domina und Hostinettenbär

Ich erzähl die Geschichte noch ein bißchen weiter, sie ist wirklich witzig. In den Überresten des explodierten Priesters denn also finden die Meßdiener Hinweise auf ein Damenkloster im fernen Schlesien, wo bei der Oberin Ejaculata die Lösung der Probleme liegen könnte. Übrigens heißt die Oberin dort Domina, kommt aus dem Lateinischen, was keiner mehr versteht.

Durch das gefährliche Rote-Bete-Gebirge machen sich die frommen Nesselroder Meßdiener auf zum legendären schlesischen Kloster, wo sich die Oberin, wie sich bald nach der Ankunft herausstellt, weitgehend von den anderen zurückgezogen hat und nur noch ganz spezielle Hostien zu sich nimmt. Die Hostien bringt der Hostinettenbär, und immer, wenn er da war, geht’s der Mutter Oberin besonders gut. Dann hat sie wohl, wie wir Altvorderen zu sagen pflegten, ein saures Köpfchen, dann ist sie auf dem Trip. Liegt in dieser Erkenntnis die Lösung der Probleme?

Die Trips der Mutter Oberin – mit der Nacherzählung soll es an dieser Stelle sein Bewenden haben – fügen sich gleichsam nahtlos ein in diese fiebrig irrlichternde, trashige und meistens auch recht lustige Geschichte, in der alle irgendwie und irgendwo auf einem Trip sind, die Personen des Stücks ebenso wie die realen Vorbilder, allen voran der schon erwähnte Pater Leppich.

Zum Schluß tanzen die Bäume

Doch auch Schriftsteller, die jungen katholischen Seelen mit Buchtiteln wie „Satanella oder die Rache des Geissler“ den rechten Weg weisen wollten, waren wohl auf ihrem speziellen Trip, jedenfalls recht schräg drauf. Das „Einführungsreferat“ des Gemeindereferenten gibt zu Beginn der Aufführung einen kleinen Überblick über katholische Jugendbücher der Adenauerzeit. Vielleicht hat sich Storch sogar ein bißchen von ihnen inspirieren lassen, doch wir wollen nichts unterstellen.

Julia Schubert Nonnen (Mitglieder des Dortmunder Sprechchors) Thorsten Bihegue Finnja Loddenkemper Leon MŸller

Schwester Adelheid (Julia Schubert, vorn mit Notenblatt) und einige schlesische Nonnen (Damen des Dortmunder Sprechchors). Rechts im Bild die wackeren Meßdiener. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Und schon gar keinen Drogenmißbrauch! Aber das Theaterstück ist ein Trip, und man muß dankbar sein, daß der Horror sich nur von Ferne andeutet. Denn sonst wäre das ein Horrortrip, und die gibt es bekanntlich ja auch. Hier aber wird alles gut, und gegen Ende der Veranstaltung tanzen wunderschön gestaltete, knorrige alte Bäume, für deren Herrichtung Heike Scheika genannt wird, mit Nonnen und Meßdienern über die Bühne (Pia Maria Mackert). Frohsinn pur? Lucy in the Sky? Ist doch egal.

Pädagogisches Streben

Die katholische Kirche, ein zentrales Motiv in Wenzel Storchs Weltsicht, verfügte in den 50er, 60er Jahren (und vielleicht noch immer) über ein höchst problematisches Personal, das in seinem pädagogischen Streben unsägliche Bizarrerien hervorbrachte, viele junge Menschen nachhaltig schädigte. Diese Verhältnisse will Storch offenbar dem Vergessen entreißen, sie geißeln und über sie lachen lassen. Für eine bessere Erkennbarkeit des Unsäglichen setzt er gern noch einen drauf, fügt beispielsweise kirchlichen Benamungen solche aus der Phantasie hinzu, führt etwa die frommen Schwestern vom Orden der barmherzigen Seepferdchen ein, die die Heilige Limousine anbeten.

Julia Schubert Ekkehard Freye

Julia Schubert und Ekkehard Freye im Nonnengewand, außerdem einige entzückende Bäume, mit denen man sogar tanzen kann. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Natürlich stimmt es nachdenklich, daß dieser Autor (Jahrgang 1961) so unerbittlich ist, es nicht gut sein läßt, nicht die Makel einer dunklen Vergangenheit zuschreibt, die heute überwunden ist, sondern jetzt schon sein zweites Stück über diese problematische Institution verfaßt. Letztes Jahr lief in Dortmund sein Stück „Komm in meinen Wigwam“.

Doch ist es, wie es ist. Also nehmen wir dem Storch das, was er sagt, einfach mal ab und erfreuen uns an dem überaus geschmeidigen, komödienhaften Abend, der dieser Obsession entspringt.

Im Spiel der Mimen ist unaufgeregte Heiterkeit der Grundton, freundliche Gespräche reihen sich, niemals verliert jemand die Beherrschung, und häufiger ertappt man sich bei der Frage, ob die mit kraftvollen Kalauern reich garnierten Dialoge komplexe Doppeldeutigkeit prägt oder ob sie nur blühender Nonsens sind. Bemerkenswert ist schließlich die sorgfältige, stets jedoch moderat bleibende Garnierung mit stimmigen Sounds, Melodien und Schlagern (Gertfried Lammersdorf).

Andreas Beck Leon Müller

Andreas Beck und Leon Müller (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Ein starkes Ensemble

Nun aber, endlich, gilt es die starke Darstellerriege zu preisen, aus der Thorsten Bihegue hervorragt, denn wir ja schon aus dem Wigwam kennen. Als gehemmter, dürrer und immer etwas enthoben daherschreitender Oberministrant ist er mit seinem scheuem Lächeln nichts weniger als die Idealbesetzung und die Hauptfigur des Abends.

Andreas Beck verkörpert mit beeindruckender Leibesfülle gleich fünf Personen, Bruder Stanislaus, das Maschinengewehr Gottes, Schankwirtin, Weihbischof und Bauer Hümpel. Heinrich Fischer, der Senior aus dem Seniorenclub des Schauspiels Dortmund, hat mit seinem kehlig–westfälischen Zungenschlag ebenfalls fünf Personen zwischen Kaplan Buffo und Doktor Drammammapp auf der Liste und meistert das problemlos.

Finnja Loddenkämper und Leon Müller, beide Mitglieder des Jugendclubs „Theaterpartisanen“, überzeugen als Meßdiener Erika und Lutz, Ekkehard Freye schließlich ist als sportlicher Postbote auf dem Klappfahrrad so etwas wie der „Sidekick“, ein guter Geist mit frischen Postnachrichten, die die Handlung immer wieder vorantreiben.

Schließlich zu nennen bleiben Maximilian Kurth (Gemeindehelferin), Maximilian Steffan (Hostinettenbär) und Julia Schubert (Schwester Adelheid) sowie acht Damen des Dortmunder Sprechchors (Namen unten), die hier die schlesischen Nonnen geben. Und alle, alle spielen sie dieses Stück in einer schauspielerischen Qualität, die man sich auf dieser Studiobühne immer wünschen würde.

Begeisterter Applaus.

(Die Damen des Dortmunder Sprechchores sind Annette Struck, Birgit Rumpel, Sabine Kaspzyck, Regine Anacker, Solveig Erdmann, Heike Lorenz, Katrin Osbelt und Ulrike Wildt).

  • Weitere Termine: 17., 27. Dezember 2015, 17. Januar 2016.
  • Infos und Karten Tel. 0231 50 27 222
  • www.theaterdo.de



3000 Liebesschlösser bitte im Stadion abholen – In Oberhausen dürften viele Tränen fließen…

Über die Emschergenossenschaft und den Regionalverband Ruhr erreicht uns eine bemerkenswerte Nachricht: Für die illuminierte Oberhausener Emscherkunst-Brücke („Sinky Springs to Fame“) soll ein neues Brückengeländer für rund 100.000 Euro errichtet werden.

Das allein wäre ziemlich normal. Aber die Begründung lässt aufmerken. Anscheinend tragen die Liebenden und wohl vor allem die Entliebten mit den mutmaßlich etwas schlichteren Gemütern Schuld am Erneuerungsbedarf. Sie haben am bisherigen Brückengeländer mehr als 3000 (!) so genannte „Liebesschlösser“ angebracht. Leute mit Geschmack sehen diese Dinger ohnehin stets mit einer Mischung aus Seufzen und Stöhnen. Oder so.

Vergleichsweise harmlos: "Liebesschlösser" an einer Brücke im Dortmunder Rombergpark. (Foto: Bernd Berke)

Vergleichsweise harmlos: „Liebesschlösser“ an einer Brücke im Dortmunder Rombergpark. (Foto: Bernd Berke)

Doch schlimmer noch: In Oberhausen ging es offenbar ziemlich rabiat zu. Vielleicht im Suff und Zorn über zerbrochene „Beziehungen“ wurden zahlreiche Schlösser gewaltsam entfernt. Die dadurch entstandenen Schäden am Geländer sollen, so heißt es, schon eine Gefahr für die Sicherheit gewesen sein. Wobei die Schwelle des Unsicherheitsgefühls in Deutschland ja weltweit die niedrigste sein dürfte.

Jedenfalls zieht man jetzt in Oberhausen zwei Konsequenzen: Erstens erneuert man das Geländer und zweitens ist es künftig verboten, dort Liebesschlösser anzubringen. Vor allem Punkt zwo klingt vernünftig, doch fragt man sich, wie das Verbot überwacht und durchgesetzt werden soll. Kameras? Wachleute? Hunde?

Den letzten Satz der Pressemeldung zitieren wir wörtlich, die verbliebenen Schlösser vom alten Geländer werden nicht einfach fortgeworfen, sondern: „Besitzer eines Liebesschlosses können dieses am 12. Dezember, ab 16 Uhr, im RWO-Stadion auf der Emscherinsel abholen.“ Das muss man sich mal vorstellen: im Stadion! Es ist zu und zu schön. Hach.

Ich sehe schon die Boulevard-Fotografen dort herumlungern, denn das dürfte ein – um im bunten Redaktions-Jargon zu reden – „emotionaler“ Termin werden, bei dem (so oder so) manches Tränchen fließen wird, ob nun der Rührung oder der Wut. Doch auch dabei fragen wir uns, ob man für die Aushändigung eines Schlosses die Ausweise vorzeigen muss, damit wenigstens die Vornamen stimmen (hat da jemand „Chantal & Kevin“ gesagt?). Mag aber sein, dass treuherzige Blicke reichen.




Nein, die ausgelutschte Überschrift „Bücher für den Gabentisch“ machen wir aus Prinzip nicht…

Beileibe keine Stapelware, doch stapelbar: die hier vorgestellten Bücher, unterschiedslos aufgetürmt. (Foto: Bernd Berke)

Beileibe keine Stapelware, doch stapelbar: die hier vorgestellten Bücher, unterschiedslos aufgetürmt. (Foto: Bernd Berke)

Das Fest der Bücher naht. Daher hier und jetzt (statt ausführlicher Besprechungen, für die jetzt eh kaum jemand Zeit hat) noch schnell einige adventliche Kurzvorstellungen. Wir beschränken uns ausnahmsweise auf Empfehlungen, „Verrisse“ wird man hier also vergebens suchen. Die gibt’s demnächst wieder. Versprochen. Auf geht’s, zunächst und zuvörderst mit gehobener Belletristik, vorwiegend für versierte Leser(innen):

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Jürgen Becker: „Jetzt die Gegend damals“. Journalroman (Suhrkamp, 162 Seiten, 19,95 Euro). Der gebürtige Kölner, Büchner-Preisträger von 2014, verfasst beileibe keine leichten, aber sehr eindringliche Lektüren. Es ist abermals sein Alter ego namens Jörn Winter, mit dessen Hilfe Jürgen Becker auf produktive Halbdistanz zur eigenen Lebensgeschichte geht. Dabei entsteht erneut jene ganz eigene Prosa, die sich still und leise über etwaige Grenzlinien zwischen Erzählung, Lyrik und Tagebuch hinweg bewegt und in diesem ungesicherten Gelände gar manches aufspürt, was sonst unbeachtet geblieben wäre.

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Noch ein hochdekorierter Autor und ebenfalls ein (auto)biographischer Impuls: Patrick Modiano erhielt 2014 den Literaturnobelpreis. Sein kurzer Roman, im französischen Original just 2014 erschienen, heißt auf Deutsch „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“ (Hanser, 160 Seiten, 18,90 Euro). Die Geschichte beginnt wie ein Krimi. Jean Daragane hat sich in seiner Pariser Wohnung von aller Welt zurückgezogen. Da spürt ihn ein rätselhafter Fremder auf, der einem Mordfall auf der Spur zu sein scheint. So absurd das zunächst anmuten mag, bringt es Daragane doch auf einige längst vergessene Menschen aus seiner Vergangenheit – und auf Schlüsselszenen seines Lebens…

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Jonathan Franzen: „Unschuld“ (Rowohlt, 830 Seiten, 26.95 Euro). Dieser Roman zählt zweifellos zu den Schwergewichten der Saison – in jeglicher Hinsicht. Dass der amerikanische Großautor sich literarisch auch in die DDR und die Zeit des Mauerfalls begibt, darf wahrlich als (riskante) Besonderheit gelten. Zwischen Stasi, Internet und Mutter-Tochter-Drama reißt Franzen ungemein viele Themen und Thesen an, allein die Recherche-Arbeit muss äußerst mühevoll gewesen sein, von der Bändigung des schier ausufernden Materials ganz zu schweigen. Dass der Roman sich freilich weit über thematische Vorgaben erhebt, hat man von diesem Autor nicht anders erwartet. Er wirft Schuldfragen in vielerlei Gestalt auf. Ein souverän konstruiertes Buch, das weite Bögen schlägt und einen lange beschäftigt – nicht nur wegen der Seitenzahl.

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Vladimir Sorokin „Telluria“ (Kiepenheuer & Witsch, 414 Seiten, 22,99 Euro). Eurasien Mitte des 21. Jahrhunderts. Die Welt, wie wir sie noch zu kennen glauben, ist zerfallen, zwischen Hochtechnologie und Archaik schildert der russische Schriftsteller in staunenswerter Formen- und Stilvielfalt eine (um das Modewort dieser Jahre zu verwenden) grandiose Dystopie, also eine ins negative gewendete Utopie. Im Zentrum der verwirrend unschönen neuen Welt steht eine Glücksdroge, die zu Nägeln verarbeitet und den Menschen in den Kopf gehämmert wird. Und so nennt sich denn auch das achtköpfige (!) Übersetzerteam selbstironisch „Kollektiv Hammer und Nagel“. Ein wahnwitziger Roman in 50 äußerst disparaten Kapiteln.

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Franz Hohler „Ein Feuer im Garten“ (Luchterhand, 128 Seiten, 17,99 Euro). Kurze Erzählungen, die mit wunderbarer Leichtigkeit daherkommen. Abenteuer und Überraschungen wohnen hier gleich nebenan und werden bestaunt wie in Kindertagen. Man kann das nicht schnöde nacherzählen, man muss halt lesen, wie unprätentiös und zugleich virtuos Franz Hohler das gemacht hat.

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Max Goldt „Räusper“ (Rowohlt Berlin, 172 Seiten, 19,95 Euro). Der Titel deutet auf Comics hin. Und tatsächlich: Unter dem Label „Katz & Goldt“ sind in den letzten Jahren herrlich abgedrehte Comics entstanden. Hier lesen wir das, was die Figuren in den Strips sagen, ohne jegliche Bildbegleitung – quasi als Minidramen mit oft abstrusen Dialogen, allerdings gegenüber dem Originaltexten vielfach abgewandelt, denn Mediengrenzen lassen sich nicht einfach mal so überspringen. Die Resultate sind oft verdammt lustig – und doch: Man vermisst die eigentlich zugehörigen Zeichnungen hin und wieder schmerzlich. Mögen Germanistik-Doktoranden dereinst ermitteln, was die reinen Texte an Qualität hinzugewinnen – und um welchen Preis.

Nun noch ein paar Sachbuch-Hinweise:

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So vielfältig kann man sich (aus)bilden: Erwin Seitz war zunächst gelernter Metzger und Koch, dann studierte er Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte. Er ist also prädestiniert, um die „Kunst der Gastlichkeit“ (Insel Verlag Berlin, 252 Seiten, 22,95 Euro) in Geschichte und Gegenwart aufzublättern. Seitz richtet sein Augenmerk in 22 Kapiteln auf die Entwicklung der Gastlichkeit in Deutschland und somit auf (allzeit brüchige) Kultivierung und Zivilisierung der Menschen, die in den hiesigen Landstrichen gelebt haben. Diese besondere Sittengeschichte zeichnet vielerlei Einflüsse nach, die hier nach und nach auf ganz spezielle Weise zusammengekommen sind. Das Spektrum reicht von klösterlicher Gastfreundschaft über Staatsbankette, bürgerliche Verfeinerung, Menüwahl und Tischsitten bis hin zur Kunst des Tischgesprächs. Ein Buch, das seinerseits zum Tischgespräch werden sollte.

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Basis des Buches „Stulle mit Margarine und Zucker“ (Klartext Verlag, 172 Seiten, 13,95 Euro) sind persönliche Erinnerungen, überwiegend von älteren Ruhrgebietsbewohnern. Vor allem geht es um Kindheit und Jugend im Revier – vom Bombenkrieg bis hin zum Strukturwandel der 70er und 80er Jahre. Damit nicht alles gar zu uferlos mäandert, haben die Historikerinnen Susanne Abeck und Uta C. Schmidt die vielfältigen Erinnerungen sortiert, geordnet und zueinander in Beziehung gesetzt. So kristallisieren sich einige lebensweltliche Erscheinungen heraus, die auch für den allmählichen Mentalitätswandel im Ruhrgebiet stehen. Ein Zeitzeichen unter vielen: Etwa seit den 70er Jahren musste das Lehrlingsgehalt nicht mehr zu Hause abgegeben werden. Kindheit im Revier hatte für lange Zeit ihre Konstanten, war jedoch auf Dauer auch wandelbar. Prägnante Schwarzweißbilder, ein Glossar, ein ausführliches Nachwort und Literaturhinweise runden den Band ab.

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Der ausgesprochen liebevoll gestaltete und illustrierte Band „Botanik für Gärtner“ (DuMont, 224 Seiten, 29,99 Euro) gibt mit mehr als 3000 Stichworten Auskunft über wissenswerte Hintergründe des Metiers. Das aus dem englischen übersetzte Buch von Geoff Hodge ist jedoch nicht alphabetisch aufgebaut, sondern kapitelweise, so dass man sich auch über längere Strecken ein- und festlesen kann. Hier erhält man eben nicht nur Gärtnertipps, sondern erfährt eine Menge über die Grundlagen pflanzlichen Lebens überhaupt, über die Systematik des Pflanzenreichs, Formen des Wachstums, Fortpflanzung, Schädlinge, Krankheiten – und über die Sinneswahrnehmungen der Pflanzen. Ergänzend werden zudem einige berühmte Botaniker und botanische Illustratoren vorgestellt. Grüner geht’s nimmer.

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Mehr für die tägliche praktische Arbeit zwischen Bäumen, Beeten, Sträuchern, Stauden und Hecken gedacht ist „Das Gartenjahr“ (Verlag Dorling Kindersley, 352 Seiten, 19,95 Euro). Der Untertitel weist schon die Richtung: „Die richtige Planung Monat für Monat“. Genau so ist das im besten Sinne übersichtliche wie reichhaltige Buch auch strukturiert – von Januar bis Dezember gibt es nützliche Hinweise, ausgerichtet an den jahreszeitlichen Erfordernissen. Sodann schließt sich noch ein kleines Pflanzenlexikon an. Das Buch von Ian Spence wurde im englischen Original von der „Royal Horticultural Society“ herausgebracht. Es dürfte auf diesem Gebiet schwerlich eine bessere Empfehlung geben.

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Zum guten Schluss ein Kunstbildband: „Welten der Romantik“ (Hatje Cantz, 304 Seiten Großformat, zahlreiche Abb., 45 Euro) gehört als Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Wiener Albertina (noch bis zum 28. Februar 2016). Ein opulent illustriertes Buch zum Schwelgen, das seine Tiefenschärfe dadurch gewinnt, dass – grob gesprochen – die protestantische Romantik des Nordens der katholischen Romantik des Südens gegenüber gestellt wird. Ein schlüssiger und vilefach fruchtbarer Ansatz.




Endloses Trauma nach der Loveparade – Heinrich Peuckmanns Roman „Leere Tage“

Über fünf Jahre sind inzwischen seit der Loveparade-Katastrophe (24. Juli 2010) vergangen, doch vergessen kann Sven dieses Unglück nicht. Seine Freundin Klara ist bei dem Massengedränge auf dem Weg zur Technoparty gestorben, sie war eines der 21 Todesopfer.

Sven bemüht sich, wieder zurück in ein halbwegs normales Leben zu finden, doch der Weg ist steinig und kurvenreich, wie es Heinrich Peuckmann in seinem Roman „Leere Tage“ erzählt.

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Zu allem Überfluss gerät Sven auch noch in Hader mit seinem Arbeitskollegen Alex, den er in seine Wohnung aufgenommen hat. Dieser Alex verkehrt nicht gerade in den besten Kreisen und hat Schulden beim Boss einer Gang, der vor Gewalt nicht zurückschreckt. Als der Kumpel nun Schutz sucht, will sich Sven nicht verschließen, zumal er sich in seinen vier Wänden ohnehin mutterseelenallein fühlt und er auch mit seinem Studium der Sozialarbeit ins Hintertreffen zu geraten scheint.

Doch die Hoffnung, dass sich seine Stimmung heben würde, erfüllt sich für Sven nicht. Ob Alex nicht zu Sven passt oder ob Sven in seiner Sinnkrise mit sich selbst viel zu sehr beschäftigt ist, das lässt der Roman offen. Am Ende will Sven seinen Mitbewohner nur noch loswerden und wählt dazu einen recht ungewöhnlichen Weg, der aber erkennen lässt.

Wie andere Romane von Heinrich Peuckmann, so spielt auch dieser im Ruhrgebiet, vornehmlich in Dortmund mit dem Nebenschauplatz Duisburg. Die Erzählung ist zwar nicht darauf ausgelegt, Anklage gegen die Verantwortlichen für die Loveparade-Katastrophe zu erheben, wohl aber kommt zum deutlich Ausdruck, welche Folgen ein solches Unglück bei Angehörigen und Freunden der Opfer hinterlässt.

Zugleich zeigt Peuckmann schwierige soziale Wirklichkeiten auf, wenn er beispielsweise über die zerrüttete Familie von Klara schreibt. Man mag vortrefflich darüber diskutieren, ob der Autor damit nur Stereotypen verfestigt oder aber eindringlich daran erinnert, dass solche Lebensverhältnisse zum Alltag gehören – im Ruhrgebiet und anderswo.

Heinrich Peuckmann: „Leere Tage“, Assoverlag, Oberhausen. 175 Seiten. 9,90 Euro.

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Im Sinne der Transparenz sei angemerkt, dass Heinrich Peuckmann gelegentlich auch als Gastautor für die Revierpassagen schreibt.
(d. Red.)




Darf man über Untaten schweigen? Javier Marías‘ Roman „So fängt das Schlimme an“

Warum sprechen wir ständig über Dinge, die wir eigentlich gar nicht wissen können? Warum wühlen wir in Gerüchten und Lügen und präsentieren sie als vermeintliche Wahrheiten? Könnte es nicht manchmal sinnvoll sein, über mögliche Verbrechen zu schweigen und Untaten mit dem Mantel des Vergessens zuzudecken, mithin das Schlimme zu vermeiden, damit das hinter der Szenerie lauernde noch noch Schlimmere gebannt bleibt?

Mit solchen Fragen zur Psychologie des politischen und philosophischen Erkenntnisinteresses beschäftigt sich Javier Marías in seinem neuen Roman „So fängt das Schlimme an“. Schon der Titel des Buches spielt auf Shakespeare an, der einmal sagte: „Thus bad begins ans worse remains behind“.

Marias

Das Spiel mit Shakespeare ist beim spanischen Autor, der sich mit Romanen wie „Mein Herz so weiß“ oder „Morgen in der Schlacht denk an mich“ in die Weltliteratur schrieb und eine zeitlang in Oxford lebte und lehrte, nichts Neues. Immer wieder kommt er in seinen vielschichtigen Erzähl-Variationen über die Schwierigkeit, die Wahrheit von der Lüge, die Fiktion von der Realität und das Wunschdenken von den Fakten zu unterscheiden, auf den englischen Literatur-Giganten zurück.

Diesmal gibt Marias seinem Ich-Erzähler sogar einen anspielungsreichen Namen: Denn Juan, der von heute aus auf eine Zeit zurückschaut, als er noch ein 23jähriger Film-Freak war und sich naiv in ein Gespinst aus Lug und Trug, Liebe und Hass, Leidenschaft und Tod verwickeln ließ, trägt den Nachnamen de Vere – ist also ein literarischer Nachfahre von Edward de Vere, Earl of Oxford, Abenteurer, Duellant und Dichter, den manche für den wahren Shakespeare halten. Dessen Vorname – Edward – aber trägt im Roman die Person, die für den Erzähler Juan zum Vater-Ersatz wird: Eduardo Muriel, Film-Regisseur und Ikone des spanischen Kinos, bei dem Juan als Assistent anheuert.

Wir schreiben das Jahr 1980, vor wenigen Jahren ist General Franco gestorben und die klerikal-faschistische Diktatur sang- und klanglos verschwunden. Um ohne Blutvergießen den Aufbruch in die Demokratie zu ermöglichen, wird allen Tätern und Mitläufern eine Amnestie gewährt.

In diesem Milieu des Schweigens und Verdrängens gedeihen Gerüchte, deren Wahrheitsgehalt niemand überprüfen kann. Hat Doktor Jorge van Vechten seine Karriere und seinen Reichtum wirklich nur der Tatsache zu verdanken, dass er williger Helfer der Faschisten war? Benutzt er sein Wissen über die Geheimnisse der Menschen tatsächlich, um sie zu erpressen und Frauen sexuell zu nötigen?

Juan soll das im Auftrag seines Chefs herausbekommen. Denn van Vechten ist ein Freund des Film-Regisseurs und vielleicht sogar ein Liebhaber von Muriels Gattin Beatriz. Juan wird zum Spion wider Willen: Ihm ist das Geschnüffel widerlich, und peinlich ist ihm auch, dass er sich auf eine kurze Affäre mit Hausherrin Beatriz einlässt.

Doch als Juan endlich der ganzen Wahrheit über den dubiosen Arzt und über die Ehehölle der Muriels nahekommt, gebietet ihm der Regisseur zu schweigen. Er will das Schlimme doch lieber nicht wissen, um das noch Schlimmere zu bannen.

Dass die verwickelte, von literarischen Anspielungen, filmhistorischen Hinweisen, politischen Abgründen und erotischen Vergnügungen durchwirkte Geschichte nicht gut ausgehen kann, ist klar. Doch wie Javier Marías auf ein furioses Finale zusteuert und das gefährliche Intrigen-Spiel zu einem (halbwegs) versöhnlichen Ende bringt, ist ganz großes Erzähl-Kino.

Javier Marías: „So fängt das Schlimme an“. Roman. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. S. Fischer Verlag, Frankfurt, 638 Seiten, 24,99 Euro.




Ratlos in Hannover – und überhaupt

Ich möchte kein Politiker sein. Ich möchte kein Polizist sein. Ich möchte kein…

Ist Deutschland ein feiges Land? Das überaus gefährdete Fußballspiel England – Frankreich im Wembley-Stadion wird ausgetragen. Die Begegnung Deutschland – Niederlande in Hannover wird hingegen rund 90 Minuten vor Beginn abgesagt. Aber wer möchte verantwortlich sein, wenn Hinweise auf einen Anschlag vorliegen? Und diese Hinweise müssen schon sehr konkret gewesen sein. Wer weiß.

Screenshot vom Spiel England - Frankreich im Wembley-Stadion.

Screenshot vom Spiel England – Frankreich im Wembley-Stadion.

Bemerkenswerte Einlassung des Bundesinnenministers Thomas de Maizière in seiner Hannoveraner Pressekonferenz: Wollte er alle Journalistenfragen wahrheitsgemäß beantworten, so könnten manche Antworten die Bevölkerung verunsichern…

Was sollen wir nun denken?

Während ich im NDR die Pressekonferenz mit de Maizière, dem niedersächsischen Innenminister Boris Pistorius (SPD) und dem Dortmunder Bundesliga-Chef Reinhard Rauball verfolge, schaue ich im Netz aus den Augenwinkeln auf Szenen der Begegnung in London. Wie nebensächlich der Fußball geworden ist, fast schon ein sinnfreies Gehampel!

Und schon fragt man sich, ob nicht die gesamte Bundesliga gefährdet sein könnte. Und die Premier League. Und die Primera Division. Das alles darf doch nicht wahr sein. Damit wären diverse Geschäftsmodelle bedroht. Und damit ginge es ans Eingemachte des Westens.

Gänsehaut-Bekundungen aller Arten mag ich eigentlich nicht. Aber als Franzosen und Engländer in London gemeinsam die Marseillaise („Aux armes, citoyens, formez vos bataillons“) gesungen haben, war das schon wahrlich „something to be“… Ach, Europa!

Wie ich gerade sehe, läuft im NDR schon wieder ein alter „Tatort“. Na, dann. Kann man ja wohl beruhigt schlafen, oder?




„Weißer Neger Ruhrgebiet“: Plädoyer für eine zukunftsträchtige Identität der Region

Revierpassagen-Gastautor Michael Walter Erdmann, Künstler und Publizist aus Essen, plädiert für eine europäische, in die digitale Zukunft gerichtete Identität des Ruhrgebiets.

Worum es geht:

„Ein freies Netz, ein an Grundrechten orientierter regulierter Datenmarkt und die Erinnerung daran, dass die Autonomie des Individuums unser Mensch-Sein begründet, kann eine bessere, eine neue Welt schaffen. In dieser Welt könnten die Chancen einer neuen Technologie zum Wohle aller genutzt und die Ökonomisierung aller Lebensbereiche verhindert werden. Es geht um nichts weniger als um die Verteidigung unserer Grundwerte im 21. Jahrhundert. Es geht darum, die Verdinglichung des Menschen nicht zuzulassen.“
(
Martin Schulz in „Technologischer Totalitarismus – Warum wir jetzt kämpfen müssen“ – FAZ, Februar 2014)

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Wenn wir das Territorium des heutigen Ruhrgebiets in einer Zeitreise überfliegen, erkennen wir bis 1800 wenig bis nichts, ein paar kleinere Handelsstädte, groß geratene Dörfer entlang des Hellwegs, verteilt auf drei mittelalterliche Grafschaften, alles in allem jedenfalls keine „Region“ im Sinne eines erkennbaren, zusammenhängenden Siedlungsgebiets; weil es da nämlich nichts gab, was eine solche kohärente Besiedlung hätte auslösen oder rechtfertigen können.

Von 1600nochwas bis 1800 reißt sich Preußen das Gebiet unter den Nagel, etabliert erstmalig ein einheitliches Rechtssystem und schafft damit die Voraussetzungen für den nachfolgenden Urknall: die Geburt einer gigantischen industriellen Arbeitssklavenkolonie.

Das Ruhrgebiet von Osten her - Blick vom Florianturm auf die Dortmunder City. (Foto vom 21.10.2012: Bernd Berke)

Das Ruhrgebiet von Osten her – Blick vom Florianturm auf die Dortmunder City. (Foto vom 21.10.2012: Bernd Berke)

Vorindustrielle Zechen kamen mit 150 bis 250 Leuten aus. Ein tiefbohrender, industriell fördernder Großbetrieb brauchte 4000 bis 5000 Menschen, um überhaupt an den Start zu gehen.

1832 stirbt Goethe, die Aufklärung geht zu Ende, das Ruhrgebiet legt los; Aufklärung hat hier nie stattgefunden, das merkt man bis heute schmerzlich: Künstler und Intellektuelle haben’s schwer im Revier, öffentliche Kritik und Intervention haben weder Tradition noch ein Forum.

Der Boom der Region als Kohleförderbezirk beginnt um 1850, die grobgeschnitzte feudalistische Sozialstruktur aus arbeitenden Massen aus aller Herren Ländern auf der einen und einer Handvoll Zechenbarone auf der anderen Seite – ein Bürgertum gibt es nicht – ist Voraussetzung für diesen Boom; hier wird gehorcht und gearbeitet, bedingungslos. Das ganze Leben und Sterben ist darauf ausgerichtet. Das militaristische Berlin ist die geschichtliche Kommandozentrale, die Metropole mit einer historischen Mission; das Ruhrgebiet ist die Kolonie, der Arbeitssklave, ein weißer Neger.

Wie im Wilden Westen

Zwischen 1860 und 1945 liefert die aus dem Boden gestampfte Wildwestregion Waffen, schweres Kriegsgerät, Schienen und Züge, Menschen, Energie, Kohle und Stahl für ein halbes Dutzend Kriege, die das „Reich“/Preußen/Berlin angezettelt, gewollt oder mitverursacht haben. Danach sieht die Region, sehen die Menschen so aus, wie man aussieht, wenn man die meisten und die fürchterlichsten dieser Kriege verliert.

30 Jahre später machen die Zechen dicht. Das Ruhrgebiet verliert seine Funktion, seine historische Aufgabe, der Sklave verliert seine Ketten und damit seine Identität. Noch eine Niederlage, für viele die schlimmste, und eine, die noch andauert, weil nichts Adäquates an seine/ihre Stelle getreten ist.

Wer dem Ruhrgebiet mangelndes Selbstbewußtsein vorwirft, wer sich wütend oder resigniert über Kirchturmdenken und Provinzialismus ereifert, muß hier ansetzen. Trauma bleibt Trauma, das ist mit einzelnen Menschen nicht anders als mit menschlichen Kollektiven. Es geht nicht weg, indem man es totschweigt, ignoriert, den Traumatisierten in den Hintern tritt oder ihm Geld für neue Tapeten gibt; die Schäden werden nur an die nächste Generation weiter gereicht.

Das Ruhrgebiet ist inzwischen mehr als ein chaotischer Haufen von Industriesiedlungen. Das heutige Luftbild zeigt eine zusammenhängende, klar abgrenzbare große, landschaftlich abwechslungsreiche Region. Was man nicht sieht: Das Ruhrgebiet ist immer noch Kolonie. Keine Metropole. Definitiv nicht.

Was ist eigentlich eine Metropole?

Bei den Griechen und Römern war die Metropole die Mutterstadt einer Kolonie. Das ist keine Frage der Größe sondern der Souveränität; es geht um Inhalte, Haltung, ein Thema, eine Aufgabe oder eine Mission. Das kann man nicht herbeischwatzen, das kann sich keine Werbeagentur ausdenken, das muß gelebt werden; in diesem Fall von gut 5 Millionen Menschen.

Noch einmal ein Stück des östlichen Reviers: Blick vom Florianturm auf den neu entstandenen Dortmunder Phoenixsee. (Foto vom 21.10.2012: Bernd Berke)

Noch einmal ein Stück des östlichen Reviers: Blick vom Florianturm auf den neu entstandenen Dortmunder Phoenixsee. (Foto vom 21.10.2012: Bernd Berke)

Von einer Metropole erwarten wir Selbstbewußtsein, Charme + Stolz, Charisma, Verzauberung, unwiderlegbare Kompetenz in einem eigenen Kernthema, in einem Wort: Autonomie. Also alles das, was wir hier im Ruhrgebiet nicht haben.

Wir haben ja nicht einmal eine eigene Regierung. Divide et impera: 3 Regierungsbezirke, 53 Kirchtürme, das Ganze 1 Witz. Der ist aber nicht komisch, es lacht auch keiner.

Kein Sprungbrett wie Berlin

Berlin ist + bleibt in Deutschland die Metropole der Kreativität, Fluchtpunkt für Dichterfürsten, Malergötter, Theaterprinzipale, intellektuelle Olympier, hedonistische Existenzgründer, die ihre Ideen auch in gelebtes Leben umsetzen wollen, Sprungbrett für internationale Karrieren.

Berlin ist ein polyglotter, großstädtischer Raum, wo die Fußgängerwege so breit sind wie im Ruhrgebiet die Straßen. Intellektuelle Kreativität, großbürgerliche Urbanität und ein solides Fundament aus Führungsanspruch, Disziplin und Aufklärung: Für eine europäische Metropole keine schlechten Voraussetzungen, allerdings im globalen Wandel auch keine unbegrenzte Bestandsgarantie. Einen Flugplatz zum Beispiel sollte man schon hinkriegen.

Geschichte ist immer konkret: Wir stehen immer ganz unmittelbar auf den Schultern unserer Vorfahren, ob uns das passt, ob wir das auch so gemacht hätten, ob wir nun wissen, was anfangen mit dem Schlamassel oder nicht. Wir waren nicht dabei. Wir sind jetzt, und wir sind nicht Berlin; wir sind der Weiße Neger.

Fangen wir also mit unseren Defiziten an, mit unseren Traumata, mit unseren Wunden. Vielleicht finden wir da ein Thema, eine Kernkompetenz, eine Mission. Dann klappt das auch mit der Metropole. Vielleicht.

Das Ruhrgebiet wird europäisch oder es bleibt Provinz

Den Markenkern, die Kernkompetenz Europas bildet der Werte- und Begriffskatalog AUFKLÄRUNG, ein universeller Baukasten zur Gestaltung und Erkenntnis menschlicher, sozialer, politischer und geistiger Systeme. Wie gesagt – man kann es sich nicht oft genug klarmachen, denn es ist eine der wichtigsten Ursachen für das poröse kollektive Selbstbewußtsein und die so oft kritisierte Unfähigkeit zur Selbsterneuerung im Ruhrgebiet: Die europäische Aufklärung hat im Ruhrgebiet niemals stattgefunden, die Strukturen von Öffentlichkeit sind prä-aufklärerisch. Das ist ein schwerwiegendes strukturelles Defizit, das es aufzuarbeiten gilt.

Das Ruhrgebiet von Westen her: Blick vom Oberhausener Gasometer bis zur Essener Skyline. (Foto vom 9.7.2009: Bernd Berke)

Das Ruhrgebiet von Westen her: Blick vom Oberhausener Gasometer bis zur Essener Skyline. (Foto vom 9.7.2009: Bernd Berke)

Weshalb gibt es hier für eine der inzwischen üppigsten Wissensregionen der Welt mit Dutzenden von Forschungseinrichtungen, Hochschulen, Universitäten und ihren Geistesarbeitern kein Feuilleton, kein Wochen- oder Monatsmagazin als publizistischer Spiegel der Intelligentsia der Region, als Plattform der Verständigung der regionalen Elite mit den Eliten anderer Regionen und Metropolen?
 Weshalb haben es Innovationsimpulse von unten nach oben hier so schwer? Weder die Kohle- und Industriebarone und ihre leitenden Angestellten, noch die Finanziers aus dem Rheinland oder den Niederlanden, und erst recht nicht die preußische Metropole Berlin wollten im Ruhrgebiet irgendwelche Impulse von unten, egal welche und egal welches „Unten“.

Die Künstler blieben nicht hier

Aber das ist vorbei, passé, die Ära des Grubengolds ist Vergangenheit.

Weshalb lebt unter 5 Millionen Menschen nicht ein einziger Künstler, der auch international bekannt ist? Die Menschen, die ihren Lebensunterhalt unter Tage oder an den Stahlkochern verdienten, hatten weder Sinn noch Zeit für Kunst.

Aber das ist vorbei. Alle Menschen brauchen Kunst! Der Respekt vor Kunst und Künstler ist ein Gradmesser für den Respekt einer Gesellschaft vor sich selbst.

Der weitaus größte Teil an Kunst + Künstlern, die hier in der Region gezeigt, ausgestellt und angepriesen werden, wird immer noch aus dem Ausland eingekauft oder aus anderen Teilen Deutschlands. Auch das sollte langsam vorbei sein. Auch das Ruhrgebiet sollte für Künstler/Intellektuelle ein Sprungbrett zu einer großen Karriere sein können; man sollte als Künstler/Intellektueller nicht mehr weggehen müssen, um Karriere und sich einen Namen machen zu können. So lang das nicht der Fall ist, ist „Metropole Ruhr“ noch kein rechtmäßig erworbener Titel, sondern entweder Vorschein + Utopie, produktive Überforderung und strategische Notwendigkeit oder provinzielle Überheblichkeit.

Digitale Urbanität, ein neues Thema fürs Revier

Der Prozeß der Digitalisierung unseres gesamten Alltagslebens ist die seit Menschengedenken am schnellsten wachsende Infrastruktur. Tendenz: Alle digitalen Rechner sind mit allen digitalen Rechnern vernetzt, von der Armbanduhr übers Handy bis zum globalen Netzwerk Internet. Digitalisierung legt sich wie eine denkende Haut um den Globus, kennt keine nationalen, kulturellen oder geographischen Grenzen, umfasst alle Bereiche des menschlichen Lebens auf diesem Planeten, von der Sekundentaktung globaler Finanzströme über die Logistik internationaler Transporte, massenhaften interkulturellen Informations- und Datenaustausch über das Internet bis hin zu den vielen kleinen tausenden von alltäglichen Verrichtungen, die wir bereits so gewöhnt sind, daß wir sie nicht mehr bemerken:

Wohin wir gehen, welches Verkehrsmittel wir benutzen, wie wir einkaufen, kommunizieren, planen, Zutritt zu Leistungen, sozialen Räumen und kulturellen Ereignissen erlangen usw., all das wird mittels digitaler Technik portioniert, aufbereitet, gefällig gestaltet angeboten, gesteuert und entschieden, tagtäglich und von morgens bis abends und nachts, und das umfaßt tendenziell alle Menschen auf diesem Planeten und überall, wo sich Menschen sonst noch aufhalten oder in Zukunft aufhalten werden.

Digitalisierung läßt das Wissen der Menschheit auf Daumennagelgröße schrumpfen, wir tragen tausende von Büchern, unendlich viele Stunden Musik in der Hosentasche mit uns herum, haben jederzeit unbegrenzten Zugriff auf ein schier unerschöpfliches globales Warenangebot, das uns frei Haus geliefert wird. Die ganze Welt als Wille und Vorstellung und vor allem: Ware.

Überhäufung aus Unendlichkeiten

Wie werden wir, wie wird der Einzelne, das Individuum, der Mensch in seiner banalen Endlichkeit mit dieser Überhäufung aus Unendlichkeiten fertig? Wo finden wir Halt, Orientierung, Maßstab? Gibt’s dafür schon eine App?

Die „Tyrannei der Wahl“ verursacht Streß, Burnouts und Bulimie; der Kapitalismus als Menschheitsneurose (Renata Salecl).

Wer gestaltet den Prozeß der Digitalisierung unserer Alltagswelten? Es gibt mit Sicherheit nicht nur mehr Apps als noch irgendein Mensch jemals überschauen könnte; es gibt damit auch unendlich viel mehr Lösungen als Probleme und ein blindes ideologisches Vertrauen, daß es für jedes „Problem“ die richtige App gibt. Es gibt einen Namen für diesen Wahnsinn: „Solutionismus“. (Evgeny Morozov)

Wir brauchen europäische Werte, europäische Orientierungen, europäische Standards in der Digitalisierung des Alltags, ganz allgemein und ganz speziell; also: sehr umfassend, von der Funktionalität bis zur Ästhetik. Die Hardware ist asiatisch, die Software amerikanisch, und Asiaten und Amerikaner ticken nunmal anders, sind anderen Traditionen, Denkmustern und regulativen Ideen verpflichtet. Nicht erst die NSA-Affaire hat das gezeigt.

Nochmals der Westen: Blick hinab vom Oberhausener Gasometer. (Foto vom 9.7.2009: Bernd Berke)

Nochmals der Westen: Blick hinab vom Oberhausener Gasometer. (Foto vom 9.7.2009: Bernd Berke)

Holen wir diese große Aufgabe, diese Herausforderung, europäische Standards und (Anstands-)Regeln bei der Digitalisierung der urbanen Alltagswelten zu schaffen, ins Ruhrgebiet! Geben wir dem Ruhrgebiet eine historische Chance, sich im 21. Jahrhundert auch geistig, intellektuell und kulturell prägend als eine zentrale Region im Herzen Europas zu definieren!

Die NSA hat amerikanische Firmen, die Verschlüsselungssoftware entwickeln, so unter Druck gesetzt, daß die den Betrieb einstellten. Holen wir diese Firmen und ihr KnowHow ins Ruhrgebiet. Das ist nicht etwa ein europäisches Ruhr Silicon Valley, das ist keine Kopie, das ist die europäische Antwort auf Silicon Valley

Wie rettet man die Werte der Aufklärung?


Europa steht vor der Aufgabe, sich selbst, seine Geschichte und die Werte, für die es von aller Welt respektiert wird, fürs 21. Jahrhundert neu zu entdecken und so zu formulieren, daß diese Werte fürs Digitale Zeitalter nachvollziehbar, wünschbar, erstrebenswert und alltagstauglich werden und Orientierung anbieten.
Wenn sich Europa nicht fürs 21. und digitale Jahrhundert radikal neu erfindet, wird Europa – global gesehen und überhaupt – Provinz. Holen wir diese Aufgabe ins Ruhrgebiet.

Der Vorschlag ist simpel, pragmatisch und angesichts der Vielfalt, der Diversität und der traditionell sachbezogenen Ausrichtung der Wissenschaftslandschaft Ruhrgebiet einleuchtend: „Das Ruhrgebiet war und ist eines der entscheidenden Experimentierfelder moderner Industriegesellschaften“ (Roland Günther), ist + war schon immer eine Zukunftswerkstatt, ein soziales Labor.

Aufklärung ist DAS zentrale europäische Projekt

Aufklärung ist permanent, prinzipiell nicht abschließbar aber besiegbar, muß also verteidigt werden. Im Kern europäischen Denkens steht immer die Sorge um das eigenverantwortliche, autonome Subjekt, das Individuum. Verantwortung, Respekt, Differenz, Toleranz oder Autonomie sind weder Selbstzweck noch Selbstläufer. Geht’s dem Einzelnen in seinem Haus (oikos) gut, dann geht’s auch der urbanen Gemeinschaft (polis) gut. Und umgekehrt. Das ist die Botschaft, so geht Ökonomie europäisch, vom Menschen aus gedacht. Übersetzt in die Notwendigkeiten des globalisierten digitalen Zeitalters heißt das: geht’s dem einzelnen Land gut, dann geht es auch der europäischen/planetarischen Staatengemeinschaft gut. Das heißt gerade nicht, daß alles gemacht werden muß, was gemacht werden kann.

Europäische Standards in den digitalen Geräten, in der Produktion, in den Algorithmen. Machen wir das zu unserer Sache, holen wir diese historische Thema im großen Stil ins Ruhrgebiet, direkt auf das Opel-Gelände: Wie geht Aufklärung unter den Bedingungen des hochzivilisierten, digitalisierten, urbanen Alltags? Umgekehrt: Wie geht Digitalisierung des urbanen, massenkompatiblen globalen Alltags unter den Vorzeichen europäischer Aufklärung?

Dieses Thema gehört in seiner ganzen komplexen Vielfalt ins Ruhrgebiet! Wir haben das Wissen, die Kompetenz, die Einrichtungen; wir haben das Geld, die Möglichkeit, die Notwendigkeit, und wir haben ein Motiv: Selbsterhaltung, Aufbau von Identität und kollektiver Ich-Stärke. Grubengold ist out, die neuen Fördertürme sind digital, die Blaupausen europäisch. Und ganz nebenbei kann das Ruhrgebiet die Aufklärung nachholen. Manchmal muß man eben nachsitzen, Hauptsache die Versetzung ist nicht gefährdet. Ist sie aber!

Coda

Ich denke nicht, daß ein Sklave viel weiß über Freiheit. Er weiß viel über Sklaverei und davon, wie sich Sklaverei anfühlt. Er weiß möglicherweise viel über die Sehnsucht nach Freiheit. Aber wie man ein Leben in Freiheit organisiert, das müßte er erst lernen. Und nichts ist schwieriger zu organisieren, nichts hat mehr Regeln als die Freiheit; außer vielleicht die Liebe. Oder der Krieg.

Ein Freier hingegen weiß einiges über Freiheit. Er weiß, wie sich Freiheit anfühlt. Er weiß nicht, wie es sich anfühlt, ein Sklave zu sein. Aber er weiß sehr gut, wie man Sklaverei organisiert. Was er nicht weiß, was immer noch kaum einer weiß auf diesem Planeten, wie man Freiheit organisiert ohne Sklaven, ohne Kolonien.

Das wäre dann eine genuin europäische Aufgabe.

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Literatur:


Roland Günther: IM TAL DER KÖNIGE, Klartext Verlag
Martin Schulz: TECHNOLOGISCHER TOTALITARISMUS – Warum wir jetzt kämpfen müssen, FAZ am 6.2.2014 (http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/die-digital-debatte/politik-in-der-digitalen-welt/technologischer-totalitarismus-warum-wir-jetzt-kaempfen-muessen-12786805.html)
Delia Bösch: GRUBENGOLD, Klartext Verlag
Bogumil/Heinze/Lehner/Strohmeier: VIEL ERREICHT – WENIG GEWONNEN, Klartext Verlag
Evgeny Morozov: SMARTE NEUE WELT, Blessing Verlag
Renata Salecl: DIE TYRANNEI DER FREIHEIT, Blessing Verlag
Wilfried Kaute (Hrsg.): KOKS UND COLA, Emons Verlag
Christoph Hübner & Gabriele Voss: EMSCHERSKIZZEN – 35 Filme auf DVD, Klartext Verlag

M.W. Erdmann: KAIROS 2015; FLUXUS-Manifest.01; Urban Screens für das Ruhrgebiet u.a. auf: www.videoparadiso.de

 




Schriftsteller des PEN zur Asylpolitik: Gegen ein engherziges Europa

Gastautor Heinrich Peuckmann, selbst Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland, über die Haltung der internationalen Schriftstellervereinigung zur Asyl- und Flüchtlingspolitik:

Neben der Pflege von Sprache und Dichtung gehört die Verteidigung des freien Wortes zu den wichtigsten Aufgaben des PEN. In der Praxis bedeutet dies vor allem die Verteidigung der von Verfolgung, Gefängnis oder Todesstrafe bedrohten Schriftsteller, Journalisten und zunehmend Blogger in aller Welt.

Eine riesige Aufgabe, immerhin sind es über 800 Autoren, die weltweit verfolgt werden, trotzdem meldet sich der deutsche PEN auch zu anderen drängenden Problemen der Gegenwart zu Wort. Große Beachtung fand seine Initiative „Schutz in Europa“, die von über tausend Schriftstellern in ganz Europa unterschrieben wurde, und in der ein gemeinsames, menschenwürdiges Asylrecht in Europa verlangt wird.

Logo des PEN-Zentrums Deutschland

Logo des PEN-Zentrums Deutschland

Auch den deutschen PEN haben die Bilder von den Ertrinkenden im Mittelmeer erschüttert und vor allem die Tatenlosigkeit, mit der dies von europäischen Regierungen weitgehend kommentarlos hingenommen wurde. „Krieg, Verfolgung, Hunger und widrige Lebensumstände zwingen Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen“, schreibt der PEN und fährt fort:

„Wir fordern die europäischen Staaten auf, ein gemeinsames, menschenwürdiges Asylrecht zu schaffen, das nicht durch staatlichen Egoismus geprägt ist, sondern vom Geist der Solidarität und Verantwortung … Wir Schriftsteller Europas erwarten von den Mitgliedsstaaten und den Institutionen der Europäischen Union, dass sie ihren humanitären Verpflichtungen nachkommen und es als vordringliche gemeinsame Aufgabe verstehen, Menschen zu schützen und ihnen Zukunftsperspektiven zu ermöglichen.“

Die Übergabe dieser Erklärung durch eine Delegation des PEN-Präsidiums beim Innenministerium war ein eher bemühter, distanzierter Vorgang, weil Staatssekretär Schröder der Meinung war, dass von deutscher Seite aus alles Denkbare getan werde.

Einen Tag später aber bei der Übergabe in Brüssel an den Präsidenten des Europaparlaments, Martin Schulz, wurden die Vertreter des PEN mit offenen Armen empfangen. Diesmal wurden sie vom internationalen und englischen PEN unterstützt. John Ralston Saul, Präsident des internationalen PEN, beantwortete die Frage, warum sich ausgerechnet eine Literaturorganisation um das Thema Asyl und Flüchtlinge kümmere mit dem Hinweis auf die PEN-Charta. Dort steht, dass Literatur keine Grenzen kenne und was für die Literatur gelte, müsse auch für Menschen in Not gelten.

Dies alles geschah Monate vor dem großen Ansturm der Flüchtlinge über die Balkanroute, vor allem aus Syrien. Die Folgen dieses neuen Ansturms, den manche, nicht nur der PEN, wenn auch nicht in dieser Dramatik vorausgesehen haben, sind bekannt. Die nationalen Egoismen wurden noch offensichtlicher, teilweise machte man sich nicht einmal die Mühe, sie verschämt zu kaschieren.

In dieser Situation gab der deutsche PEN-Präsident Josef Haslinger dem Deutschlandradio ein Interview, in dem er im Geiste der Erklärung die mangelnde Solidarität der europäischen Länder scharf kritisierte. „Wir sind Augenzeugen des Zerfalls von Europa“, erklärte Haslinger und fügte hinzu, dass das Europa ohne Grenzen ein Traum gewesen sei, freilich einer aus einer „Schönwetterperiode“. Im Augenblick der Krise würden all die großen Erklärungen und Verträge plötzlich nicht mehr zählen, sie würden schlicht und einfach außer Kraft gesetzt.

Positive Worte fand Haslinger durchaus für die (bisherige) deutsche Politik. Bundeskanzlerin Merkel habe dazu aufgefordert, die Menschenrechte und die Genfer Flüchtlingskonvention einzuhalten, dann aber von Staaten aus Südosteuropa im Stich gelassen wurde. Das gleiche gelte für potente Staaten wie Frankreich und Großbritannien. Wenn Deutschland derartig im Stich gelassen werde wie im Moment, wenn es zu keiner einvernehmlichen Lösung in dere Flüchtlingsfrage komme, würde Deutschland in eine enorme Krise hineingetrieben, befürchtete Haslinger.

Ein engeres, besser gesagt engherziges Europa droht. Und wo für Menschen Grenzen und Zäune errichtet werden, wird das bald auch, so ist zu befürchten, für den Austausch des freien Wortes gelten. Deshalb ist der Kampf für ein humanes Asylrecht und Menschlichkeit im Umgang mit Flüchtlingen für den PEN nichts anderes als die Kehrseite seines Kampfes um das freie Wort.




Halloween – Aaaaargh!

Es reicht!

Ungelogen 17 (!) marodierende Kindergruppen mit cirka 90 bis 100 erschröcklich verkleideten Blagen haben heute zwischen 18 und 20 Uhr bei uns im Namen von „Süßes oder Saures“ angeschellt – einschließlich der wilden Horde unserer Tochter, die in der Nachbarschaft Halloween gefeiert hat.

Der beste Spruch fing so an: „Ich bin eine Mörderpuppe, / ob ihr Angst habt, ist mir schnuppe…“

Aaaargh!

Das Vampirkostüm lag schon seit Tagen bereit. (Foto: BB)

Das Vampirkostüm lag schon seit Tagen bereit. (Foto: BB)

Ich schwöre: Ich habe wandelnde Skelette, grässliche Hexen, beißwütige Vampire, Mumien, Scharfrichter, Aliens, Zombies und Darth Vader gesehen. Um nur einige Gestalten zu nennen. Es wird gewiss eine Alptraumnacht werden.

Zu dumm, dass vor unserer Tür drei Laternen und ein ausgehöhlter Kürbis in die Dunkelheit geleuchtet haben. Das hat die Gespenster wohl unfehlbar angelockt.

Wie gut, dass wir tonnenweise Süßigkeiten gebunkert hatten. Sonst wäre es uns womöglich schlecht ergangen. Aber wer weiß, was uns noch bevorsteht.

P.S.: Immerhin haben sich manche der bösen Geister ganz artig bedankt. Andere aber wankten nahezu grußlos in die beginnende Nacht.




Diktator im Dosenmüll: Theresia Walsers böse Hitler-Komödie in Düsseldorf

Wer hat sich nicht schon einmal darüber gewundert, wer alles Hitler spielt? Wie viele Filme und Bücher dem „großen Diktator“ gewidmet sind?

Sicher hängt das auch mit dem Trauma zusammen, dass eine ganze Gesellschaft sich verführen ließ und wieviel Unheil und Barbarei der Naziterror über die Welt gebracht hat.

Doch 70 Jahre nach Kriegsende ist eine humoristische Herangehensweise längst kein Tabu mehr: Gerade kletterte die Filmparodie „Er ist wieder da“ auf Platz 1 der Kinocharts. Im Düsseldorfer Schauspielhaus hatte jetzt eine kleine böse Komödie von Theresia Walser Premiere, in der drei Hitlerdarsteller über ihre Rolle diskutieren.

Foto: Sebastian Hoppe/Düsseldorfer Schauspielhaus

Foto: Sebastian Hoppe/Düsseldorfer Schauspielhaus

In „Ein bisschen Ruhe vor dem Sturm“ sitzen drei identisch gekleidete „Hitlers“ mit dem typischen Bärtchen auf einer großen Resopalplatte auf Ledersesseln in einer Art Warteraum, vielleicht vor einem Filmcasting. Vor ihnen türmt sich ein Haufen ausgetrunkener Mineralwasserblechdosen auf. Wollen die Hitlers einmal einen Schritt tun, müssen sie sich durch den Dosenberg pflügen, dass es rauscht.

Seine geniale Komik entfaltet dieses Bühnenbild (Pia Maria Mackert) aber erst, als die Plattform beginnt, sich zu bewegen. Das korrespondiert mit dem Stücktext, in dem öfter ein wackeliger Tisch thematisiert wird, und gibt der Inszenierung (Marcus Lobbes) einen Dreh ins Slapstickhafte. Denn wenn der Boden wackelt, gerät auch der Müllberg in Bewegung und die Dosen kullern und scheppern bis in den Zuschauerraum. Die drei Hitlers haben Mühe, sich auf ihrer Spielfläche zu halten und klammern sich am Mobiliar fest, was sie einmal mehr zu Karikaturen der Karikatur von Adolf werden lässt.

In der Vorhölle gefangen

Ihr Gespräch kreist dabei hauptsächlich um Schauspielereitelkeiten und Nöte: Soll und darf man den Hitler naturalistisch anlegen wie H1 (Jonas Gruber)? Oder macht sich moralisch angreifbar, wer ihn als einen Menschen darstellt, wie H2 (Heisam Abbas) findet? Er legt Wert darauf, „seinen Hitler“ aus der Distanz heraus zu spielen. Ganz anders sieht das G (Andreas Helgi Schmidt), der überhaupt noch nie den Hitler gespielt hat, sondern bisher nur Goebbels. Er hat aus Göttingen, wo er in seinem derzeitigem Engagement nackt auf der Bühne kniend Abend für Abend mit den Zähnen die Seiten aus dem Koran reißen muss, ganz moderne, gesellschaftskritische Regie-Ideen mitgebracht: Warum Hitler nicht auf sieben Schauspieler aufteilen, für jede Facette des Bösen einen? Vielleicht mit Video-Einspielungen? Für H1 ist das eine neumodische Horrorvorstellung. Gereizt verlangt er, der in seinem Habitus ein wenig an Bruno Ganz erinnert, nach einem „Hahnenwasser“, hierzulande würde man sagen „Kranenburger“ – doch das wird nie gebracht.

Überhaupt beginnt das Casting oder Vorsprechen oder die Talk Show im ganzen Stück nicht mehr. Die drei Hitlers sind unrettbar in der Vorhölle gefangen, in Erwartung, den Teufel selbst darzustellen. Doch es will gar niemand ihren Teufel sehen. So endet die Farce wie bei Beckett im Wartestand auf etwas, das nicht eintritt: In diesem Falle, weil es ja schon vergangen ist…

Karten und Termine:
www.duesseldorfer-schauspielhaus.de

 




„Terror“ als Stück der Stunde: Gerichtsdrama am Düsseldorfer Schauspielhaus

Ferdinand von Schirach. Foto: Michael Mann/Copyright F. v. Schirach

Ferdinand von Schirach. Foto: Michael Mann/Copyright F. v. Schirach

Ein Gerichtsprozess trägt eine Menge dramatisches Potential in sich, man muss es nur entdecken.

Jemand hat ein Verbrechen begangen und sitzt auf der Anklagebank. Ein Anwalt versucht, ihn rauszuhauen, während dessen Gegenspieler, die Staatsanwaltschaft, den Delinquenten verurteilen will. Die Zeugen schildern die Tat aus ihrer Sicht und offenbaren gerne einmal abgründige Details und haarsträubende Beobachtungen. Zuletzt urteilt über alles der Richter, der das Gesetz vertritt – oder die Gerechtigkeit?

Der Jurist und Schriftsteller Ferdinand von Schirach, dessen Bücher zu ungewöhnlichen Straftaten schon lange auf der Beststellerliste stehen, hat jetzt aus diesem Stoff sein erstes Stück gemacht. Es kommt in dieser Saison nahezu zeitgleich an 16 Bühnen heraus, in Düsseldorf feierte es am Schauspielhaus Premiere.

„Terror“ entwirft ein hochaktuelles Szenario: Ein Passagierflugzeug mit 164 Insassen wurde entführt, der Terrorist droht, es in ein vollbesetztes Fußballstadion mit 70.000 Besuchern stürzen zu lassen. Ein Bundeswehrpilot steigt in seinem Kampfjet auf, will die Maschine abdrängen, keine Chance, schließlich schießt er das Flugzeug ab. Die Passagiere sterben, die Stadionbesucher leben, der Pilot kommt vor Gericht. Denn er hat gegen seinen Befehl gehandelt: Zwar erlaubt das Luftsicherheitsgesetz eine solche Maßnahme, doch das Bundesverfassungsgericht hat dieses Gesetz für verfassungswidrig erklärt, also ordnete niemand den Abschuss an. Der Pilot entschied nur aufgrund seines Gewissens.

Die Bühne (Heinz Hauser) wird komplett von einer nüchternen, grauen Richterbank eingenommen, hier sitzen in der Mitte der vorsitzende Richter (Wolfgang Reinbacher) mit der Protokollführerin (Eva-Maria Voller), links davon Anwalt (Andreas Grothgar) und Angeklagter (Moritz von Treuenfels), auf der rechten Seite die Staatsanwältin (Nicole Heesters) und die Nebenklägerin (Viola Pobitschka).

Publikum befindet über die Schuldfrage

Der Clou: Das gesamte Publikum findet sich in der Rolle des Schöffen wieder und muss am Ende entscheiden. Nach der Pause schreitet jeder nach Art des „Hammelsprungs“ entweder durch das „Schuldig“ oder das „Nicht schuldig“-Tor, die Stimmen werden gezählt. Auf der Website www.duesseldorfer-schauspielhaus.de lässt sich dann nachschauen, wie das Publikum der jeweiligen Vorstellung entscheiden hat. Die Ergebnisse der anderen Theater stellt der Verlag unter http://terror.kiepenheuer-medien.de ins Netz. Die Pause ist ans Ende des Theaterabends verlegt, so dass nur noch die Urteilsverkündung folgt. Tatsächlich hat man selten ein Publikum erlebt, dass derartig mitgeht und so leidenschaftlich eine Schuldfrage diskutiert.

Obwohl Regisseur Kurt Josef Schildknecht die künstlerischen Mittel extrem sparsam einsetzt und sich ganz auf die Kraft des Prozesses verlässt, funktioniert dieser Theaterabend. Er hat nichts Poetisches an sich und seine Sprache entstammt dem Gerichtssaal. Aber Ferdinand von Schirach erreicht etwas anderes: Er zeigt die Brisanz und die Bedeutung auf, die unsere Gesetze und unsere Verfassung für unser Leben haben. Und sie lässt uns die ethischen Dimensionen unseres Wertesystems erfassen: Wird jemand schuldig, der 70.000 Menschen rettet, weil er ein Prinzip verletzt hat? Wer entscheidet über den Wert eines Menschlebens? Wiegen 164 Leben 70.000 auf?

Nicht zuletzt hauchen die großartigen Schauspieler dem Thesenstück Leben ein: Wie Staatsanwältin Nicole Heesters mit Leidenschaft, ja Furor die Prinzipien unsere Grundgesetzes verteidigt, das lässt an das Ethos der Gründungsväter und –mütter der Bundesrepublik denken. Wie Moritz von Treuenfels als Pilot die Seelenlage des Soldaten ausgestaltet, der in Sekunden entscheiden muss und im Ernstfall keine Vorlesung mehr in Rechtsphilosophie besuchen kann. Wie seine Vorgesetzten in Person des Zeugen Christian Lauterbach (Lutz Wessel) ihn mit dieser Entscheidung im Regen stehen lassen und Alternativen wie die Räumung des Stadions gar nicht bedenken. Wie unfassbar Schock und Trauer einer Angehörigen sind, die keineswegs gefragt wurde, ob sie ihren unschuldigen Mann der Staatsraison opfern möchte, zeigt Viola Pobitschka als Franziska Meiser.

In Düsseldorf wurde der Pilot Lars Koch am Premierenabend frei gesprochen. Doch das moralische Dilemma nimmt jeder mit nach Hause.

Karten und Termine:
www.duesseldorfer-schauspielhaus.de