Der Bewahrer und seine Hoffnung: Katharina Hackers berührender Roman „Skip“

skipSkip Landau mag Dinge, die er anfassen kann und zieht sie vielem anderen vor. So ist er Architekt geworden, in Israel hat er sich im ausgehenden letzten Jahrhundert einen Namen damit gemacht, gemeinsam mit palästinensischen Handwerkern alte Häuser mit viel Liebe zum Detail zu renovieren.

Aufgewachsen ist er in Paris, als Erwachsener ging er nach Israel und gründete in Tel Aviv eine Familie. Mittlerweile lebt er in Berlin und kümmert sich dort für seinen Chef um den Erwerb und die Renovierung alter Bausubstanz. Sein Name ist ihm so etwas wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.

„To skip“ bedeutet im Englischen springen, etwas überspringen und so fühlt er sich auch. Eine richtige Zugehörigkeit zu definieren fällt ihm schwer, allenfalls bezeichnet er sich selbst als modernen Migranten. Er fühlt sich nicht als „richtiger“ Jude, weil seine Mutter keine Jüdin war, er fühlt sich nicht als „richtiger“ Vater, weil seine Söhne aufgrund seiner Zeugungsunfähigkeit von einem anderen Mann gezeugt wurden. Seine Frau Shira ist einen quälenden Krebstod gestorben, der ihn merkwürdig kalt ließ. In Berlin nun erinnert er sich an sein bisheriges Leben und ringt um das Geschenk eines Neuanfangs.

Nicht nur erinnert er sich an reale Geschehnisse seines Lebens, das immer auch von der wechselvollen Geschichte Israels geprägt war. Er erinnert sich auch an Erfahrungen, die er in der Mitte seines Lebens machte und die er bisher niemanden erzählen konnte.

Plötzlich sah er sich mit Dingen konfrontiert, die nur er wahrnahm. Er hörte eine innere, eine unwiderstehliche Stimme, die ihn an Orte rief, an denen wenig später eine Katastrophe passierte. An jedem dieser Orte ist eines der Opfer für ihn plötzlich nicht mehr namenlos und er fühlt sich diesem besonders verbunden. Gegen diese Verbundenheit kann er sich nicht wehren, er muss an diesem Ort ausharren, dieser Seele Gesellschaft leisten, bis sie von selber bereit ist, ihn los zu lassen. Diese Aufgabe belastet ihn, dass er nicht darüber sprechen kann, noch mehr. In Folge leiden seine Ehe und sein Familienleben.

Mit „Skip“ legt die Autorin Katharina Hacker, 2006 Trägerin des Deutschen Buchpreises, ihren lang erwarteten neuen Roman vor. Anders als erwartet ist es keine Fortsetzung ihrer „Dorfgeschichten“ um Anton und Alix, welche als dreiteiliges Romanprojekt angelegt waren. Mit „Skip“ betritt sie einen deutlich globaleren Rahmen, gleich mehrere Länder und Weltanschauungen spielen eine wichtige Rolle. Mit der Geschichte des innerlich zerrissenen Architekten bleibt sie aber dennoch bei ihren zentralen Fragen. „Was macht das Leben mit und aus uns?“ und „Wie wollen wir leben trotz all des Leids?“

Wir sehen Skip beim Mühen, beim Scheitern, seltener beim Gelingen zu. Er ist ein guter Mensch, er macht auch gar keine schwerwiegenden Fehler, trotzdem empfindet er sein Leben lange Zeit als unrund. Das Leben an sich, sein Leben im Besonderen ist für Skip ein großes Rätsel. Ein größeres Rätsel als der Tod. Wohl auch, weil alle Menschen, die ihn von Beginn an begleitet haben, gestorben sind. Seine These ist, dass man nur in der Erinnerung derjenigen lebt, die einen von Anfang an gekannt haben.

Durch den mystischen Überbau löst die Autorin dieses Rätsel für Skip und die Leser auf. Sie erzählt die Begebenheiten rund um Skips innere Stimmen und sein Wirken als „Todesengel“ mit einer nonchalanten Selbstverständlichkeit. Es wirkt weder abwegig noch lächerlich, sondern ganz selbstverständlich. Skip versteht dadurch, dass er „ein Bote ist oder Mittler, einer von denen, denen nichts zustösst“. Er ist kein Macher im eigentlichen Sinn, er ist ein Bewahrer wie er auch in seinem Beruf eher bewahrt denn neu aufbaut. Dies macht ihn zum idealen Begleiter und zwar nicht nur der Toten, sondern vor allem auch der Lebenden. Als er das verstanden hat, traut er sich endlich, seinen Weg weiterzugehen. Und so ist „Skip“ schlißelich ein Buch, das von viel Tragik erzählt, aber ein hoffnungsvolles und zugleich nachvollziehbares Ende hat.

„Skip“ ist noch aus einem anderen Grunde ein wichtiges Buch. Hackers Thema mag universell sein, die Zeit und der Ort, den sie sich dafür ausgesucht hat, sind es aber nicht. In seinen Erinnerungen erzählt Skip hauptsächlich von der Zeit in Tel Aviv vom Ende der 80er Jahre bis zum 11. September 2001. Katharina Hacker studierte unter anderem Judaistik und lebte sechs Jahre in Jerusalem. Israel und seine Menschen sind ihr wichtig. Ihre große Verbundenheit damit spürt man in jedem Satz, Diese Liebe zum Land und seinen Menschen, aber auch die Sorgen darum vermittelt der Roman auf besondere Weise.

Dazu kommt: In einer Zeit, in der durch erneute Gewalteskalationen in Israel und Palästina bereits von einer dritten Intifada gesprochen wird und gleichzeitig andere Krisen die Berichterstattung darüber zurückdrängen, sind die Gedankenanstöße, die „Skip“ gibt, sicher wichtiger denn je.

Katharina Hacker: „Skip“. Roman. S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 384 Seiten, € 21,99.




Für die Benachteiligten schreiben: Die Werkstatt Dortmund im „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ – eine Erinnerung

Der „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ war in den 1970er und 1980er Jahren ein wichtiges Projekt der Gegenwartsliteratur. Unser Gastautor Heinrich Peuckmann, damals selbst langjähriges Mitglied des Kreises, erinnert an die rege Dortmunder Werkstatt:

Es war Horst Hensel aus Kamen, der die Dortmunder Werkstatt im „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ Ende Oktober 1970 gegründet hat. Im Jahr zuvor, noch als Student in München, hatte er von dem Schreibaufruf „Dein Arbeitsplatz – wie er ist und wie er sein sollte“ gehört und sein Betriebstagebuch von Hoesch eingeschickt, das er während seiner Zeit als Werkstudent geschrieben hatte.

Initiiert hatten den Wettbewerb oppositionelle Autoren in der „Dortmunder Gruppe 61“, denen Kurs und Programm zu wenig politisch waren und die kurz darauf, weil ihre Kritik abgelehnt wurde, den Werkkreis gründeten. Hensels Text gefiel ihnen, der Autor erhielt eine Einladung zur jährlichen Sitzung der „Gruppe 61“ und lernte Erasmus Schöfer, Peter Schütt und andere kennen, die ihn anregten, eine Werkstatt Dortmund im Werkkreis zu gründen.

Gründung 1970 im Fritz-Henßler-Haus

Ende Oktober 1970 fand die Gründungsversammlung im Dortmunder Fritz-Henßler-Haus statt, einem Ort, dem die Werkstatt über die folgenden 17 Jahre bis zu ihrem Ende treu blieb. Schon zur ersten Sitzung kam Paul Polte, den Hensel nicht kannte und der ihm in seinem schicken Anzug, mit seiner karierten Schlägermütze und dem Dackel an der Leine wie ein englischer Lord vorkam. Jedenfalls wirkte Polte nicht wie jemand, der an Arbeiterliteratur interessiert sein könnte, geschweige denn wie jemand, der solche schreiben konnte. Ein Fehlurteil, dem auch ich unterlag, als ich ab der dritten oder vierten Sitzung teilnahm und Polte zum ersten Mal sah.

Impressionen aus einer Werkstatt-Sitzung. u. a.  mit Paul Polte (oben), Horst Hensel (Mitte darunter) und Heinrich Peuckmann. (© Ilse Straeter, Federzeichnung von 1979)

Impressionen aus einer Werkstatt-Sitzung. u. a. mit Paul Polte (oben), Horst Hensel (Mitte darunter) und Heinrich Peuckmann. (© Ilse Straeter, Federzeichnung von 1979)

Mich hatte mein Freund Ferdinand Hanke, der wie Horst Hensel aus Kamen-Methler stammte und Germanistikstudent war wie ich, angesprochen. „Du schreibst doch auch“, sagte er, „komm doch mal vorbei.“

Ich ging zur Probe im Frühjahr 1971 zum ersten Mal hin und blieb für fast zehn Jahre in der Gruppe.

Schmerzliche Verrisse

Von Anfang an war die Dortmunder Werkstatt eine sehr literarische Gruppe. Zu jeder Sitzung, die alle vierzehn Tage im Henßler-Haus stattfand, kamen die Mitglieder mit neuen Texten, lasen vor und stellten sich der Kritik. Keinem von uns ist dabei ein Verriss erspart geblieben, was uns hart gemacht hat, auch für später, wenn unsere Bücher in den Rezensionen der Presse kritisiert wurden.

Wurde es doch mal zu haarig, griff Polte ein. Er wusste, dass Kritik dosiert bleiben musste, um Talente nicht zu verunsichern oder gar zu zerstören. Er ergriff das Wort, wiederholte in milden Worten, welche Kritikpunkte ihm richtig erschienen und fand am Ende immer auch etwas Lobendes, selbst wenn der Text noch so schwach gewesen war. „Man kann doch keinen jungen Hund versäufen“, erklärte er manchmal, „wer weiß, was noch draus wird.“

Paul Poltes Autorität

Polte hatte die Autorität dazu, eine Diskussion auf diese Weise zu beenden. Er war schon in der Weimarer Republik Mitglied im „Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller“ gewesen, hatte mit seinem Kabarett „Henkelmann“ die Nazis angegriffen und einige Wochen in der berüchtigte Steinwache am Nordausgang des Bahnhofs verbracht, wo er und seine Gesinnungsgenossen gequält und gefoltert worden waren. Einige seiner berührendsten Gedichte hat Polte über diese Erfahrungen geschrieben, eines davon hängt noch in einer der Zellen, die heute Teil einer Gedenkstätte sind. Später wurde er dann Mitglied der „Gruppe 61“. Polte hatte also alle Bewegungen der deutschen Arbeiterliteratur durchlaufen, die es im 20. Jahrhundert gegeben hat.

Die anderen Mitglieder der Gruppe waren der Arbeiter Rudi Winkler aus Hagen, der vor allem Gedichte schrieb, der Bergarbeiter Rudolf Trinks, der neben Gedichten auch Erzählungen schrieb, die alle das Bergarbeitermilieu beschrieben, das sein Leben geprägt hatte. Rainer W. Campmann aus Bochum versuchte sich schon damals als freier Schriftsteller, die ersten Herausgaben in der berühmt gewordenen „Fischer-Taschenbuch-Reihe“ hat er mitgemacht, später erschienen noch zwei, drei Gedichtbände. Horst Hensel (Lehramtsstudent wie Ferdinand Hanke, Udo Bruns und ich) war wichtig für die Gruppe. Er kannte sich aus in allen Genres der Literatur, schrieb Lyrik, Reportagen, Essays, Erzählungen und Romane. Oskar Schammidatus aus Bochum, der Sozialarbeiter wurde, schrieb Gedichte.

Abende in der „Alten Liebe“

Der starke Anteil an Studenten, die man in einer Gruppe der Arbeiterliteratur nicht unbedingt erwarten würde, störte nicht. Wir haben kooperativ zusammengearbeitet, jeder hat von den Erfahrungen des anderen profitiert. Und wenn es doch mal Komplikationen gab, war immer noch Polte da, der Konflikte glättete und vor allem einen Brauch einführte, den wir alle lieben lernten. Nach der Sitzung gingen wir schräg gegenüber vom Henßler-Haus in die Kneipe, in die „Alte Liebe“, wo wir ein Bier tranken, neue Projekte ausheckten und unsere Freundschaft vertieften. Vor allem Polte lief dann zu Hochform auf, erzählte von seiner Begegnung mit Brecht, seiner Zusammenarbeit mit dem Maler Hans Tombrock, der Brecht ins Exil gefolgt war, von seinen Erfahrungen mit den Nazis in der Steinwache. Es waren herrliche Abende, die wir dort verbracht haben und deren Erinnerungen mein Leben begleiten werden.

Irgendwann kamen Hugo Ernst Käufer, der Lyriker und Aphoristiker, Lilo Rauner, die Lyrikerin, beide aus Bochum und der Agitpropschriftsteller Richard Limpert aus Gelsenkirchen hinzu, die zwar nicht immer, aber eine Zeitlang regelmäßig an den Treffen teilnahmen.

Beachtliche Qualität

Ich weiß noch genau, dass ich mir bei einer Gruppensitzung still vornahm, mir das Bild mit den Teilnehmern genau einzuprägen. Es war mir schon damals klar, dass sich an diesem Tage eine beachtenswerte literarische Potenz in der Dortmunder Werkstatt versammelt hatte, die weit über das normale Werkkreisniveau hinausragte. Tatsächlich sind später vier von den damaligen Teilnehmern in den ehrenwerten „PEN“ gewählt worden: Hugo Ernst Käufer, Lilo Rauner, Horst Hensel und ich. Käufer und Rauner haben zudem den Ruhrgebietsliteraturpreis erhalten.

Die Werkstatt Dortmund konnte sich literarisch also sehen lassen, in fast allen Büchern des Werkkreises war sie mit Texten vertreten, in den meisten mit mehreren. Einige Bücher haben wir auch selbst herausgegeben, u.a. „Sportgeschichten“ und „Im Morgengrauen“, ein Buch über das Altwerden in der kapitalistischen Gesellschaft.

Kneipenlesungen als Markenzeichen

An Lilo Rauner, die im Jahre 2005 verstarb, denke ich mit bewegten Gefühlen zurück. Sie war eine streitbare Frau, immer auf der Seite der kleinen Leute und sie hat, neben all der anderen Lyrik, ein paar wunderbare Sonette geschrieben. Viel zu wenig ist Lilo Rauner heute noch bekannt, auch wenn in Wattenscheid inzwischen eine Schule nach ihr benannt wurde. Die große, auf Petrarca zurückgehende Form des Sonetts hat sie beherrscht und durch Alltagsthemen nachhaltig mit Leben gefüllt. Aber das, denke ich, ist es gerade. Ihre Parteinahme für die Menschen, die am Rand stehen, wird ihr vom Literaturbetrieb verübelt. Hätte sich Rauner auf modische Befindlichkeiten beschränkt, sie wäre viel bekannter geworden. So sind wir es, die von Zeit zu Zeit an sie erinnern. Viel zu wenig, Lilo hätte mehr Aufmerksamkeit verdient.

Die Werkstatt war aber nicht nur literarisch stark, sie hat auch eine Unmenge an Initiativen zur Verbreitung von Literatur entwickelt. Ich staune selbst, wo wir gelesen haben, vor welchem Publikum. Immer ging es uns darum, mit unserer Literatur jene zu erreichen, die gemeinhin nicht zu literarischen Veranstaltungen kommen. In allen Formen von Schulen sind wir angetreten, in Fußgängerzonen mit Flüstertüte (wobei Richard Limpert mit seiner durchdringenden Stimme eigentlich keine gebraucht hätte), vor Fabriktoren, in Gewerkschaftshäusern, Gefängnissen und Kneipen.

Die Kneipenlesungen waren eine Zeitlang sogar unser Markenzeichen. Dieter Treeck, Kulturdezernent in Bergkamen und später selbst Mitglied im Werkkreis, hat sie mit uns zusammen entwickelt. Freitags, wenn die Arbeiter ihr Bierchen in der Stammkneipe tranken, fanden sie statt, drei oder vier Autoren lasen im Wechsel meist kurze Texte und eine Musikband spielte zwischendurch. Manchmal war es Jazz, manchmal wurden Arbeiterlieder gesungen.

Als die Bergleute zuhörten

Ich weiß noch, dass unser erster Versuch in einer Bergkamener Kneipe beinahe missglückt wäre. Die Arbeiter, Bergleute zumeist, wollten gar keine Literatur hören. Sie waren gekommen, um über Fußball zu reden, über ihre Tauben und was sonst so alles auf der Zeche passiert war. Den Einführungsworten von Dieter Treeck wollten sie partout nicht lauschen, der Lärmpegel blieb hoch, da trat Rudolf Trinks, selbst Bergmann, ans Mikrophon und sagte: „Seid mal stille.“ Und tatsächlich, auf Trinks, der ja einer von ihnen war, hörten sie. Die Lesung wurde ein großer Erfolg.
Manchmal erreichten wir, dass durch die witzig-ironischen Texte die Zuhörer selbst zu witzigen Reaktionen animiert wurden. „Ich lese jetzt ein Gedicht vor aus einem Buch, das ich selbst verlegt habe“, sagte mal ein Gastautor, der die Gepflogenheiten noch nicht kannte. „Hoffentlich hast du es auch wieder gefunden“, tönte es aus der Zuhörerschar zurück.

Schon sehr früh gliederten sich zwei weitere Gruppen an die Werkstatt an, die die künstlerische Arbeit sehr gut ergänzten. Da war einmal das Lehrlingstheater, von Kurt Eichler geleitet, der heute kommissarischer Chef des Dortmunder „U“ ist. Die Gruppe schrieb im Kollektiv Theaterstücke zur Situation der Lehrlinge, die an allen möglichen Orten aufgeführt wurden, manchmal in Kombination mit einer Lesung von uns. Zusätzlich gab es bald eine Graphikgruppe, die unsere Texte illustrierte, die Zeichnungen für Bücher und Lesungsplakate herstellte und daneben eigene künstlerische Ziele im Sinne des Werkkreises verfolgte.

Organisation nahm überhand

Das alles musste koordiniert werden, mit der Zeit wurde die Organisationsarbeit deshalb so umfangreich, dass die künstlerische Arbeit darunter litt. Es fanden Sitzungen statt, in denen nur noch Organisatorisches besprochen und keine Texte mehr gelesen wurden. Wir gründeten ein Leitungskollektiv, das sich zwischen den Sitzungen in Poltes Wohnung an der Bornstraße traf. Noch heute kann ich nicht an dem Haus vorbeifahren, ohne zu den Wohnungsfenstern hinüber zu schauen, denn ich gehörte diesem Kollektiv lange an. Viel Kleinkram wurde schon dort erledigt, die Werkstatt nur noch kurz darüber informiert. Bei schwierigen Problemen wurde vorsortiert und ein Lösungsvorschlag unterbreitet. Die Werkstatt konnte sich wieder auf ihre eigentliche Arbeit konzentrieren, das Schreiben von Literatur.

Polte war für die Finanzen zuständig und noch heute staune ich, wie er das in einem nur für ihn überschaubaren System an Kassen gemacht hat. Geld bekamen wir für unsere Sitzungen im Henßler-Haus von der Dortmunder VHS, die uns in ihr Programm aufgenommen hatte. Deshalb fanden, was auch in unserem Interesse lag, die Werkstatt-Sitzungen stets öffentlich statt. Immer kamen Gäste vorbei. Schüler, die über uns Referate halten sollten, Studenten, die Seminar- oder Examensarbeiten über den Werkkreis schreiben wollten, Hobbyautoren, die Texte lasen, die danach Mitglied wurden oder nie wieder kamen. Geld von Lesungen kam hinzu (für jede von der Werkstatt vermittelte Lesung zahlte der Autor einen Prozentsatz in die Kasse). So hatten wir immer Geld für Plakate, Broschüren oder Buchprojekte.

Werkkreis vor dem finanziellen Ruin

1977 wurde Horst Hensel erster Sprecher des Werkkreises und ein Kassensturz ergab, dass der vorige Vorstand den Werkkreis an den Rand des finanziellen Ruins geführt hatte. Alle wurden zu Spenden aufgerufen. Wir, beunruhigt von Hensels Bericht, wollten sofort all unser Erspartes spenden, aber da sprach Polte dagegen. Einen Teil wollte er abgeben, wie hoch, müssten wir entscheiden, sagte er. Aber die Werkstatt selbst sollte auf jeden Fall finanziell schlagkräftig bleiben. „Und wenn der Werkkreis untergeht?“, fragten wir. „Dann gibt es wenigstens noch die Werkstatt Dortmund“, knurrte Polte.

Am Ende haben wir ein paar tausend DM gespendet, so viel wie alle anderen Werkstätten zusammen, der Werkkreis wurde gerettet und die Dortmunder Werkstatt blieb, dank Polte, liquide.

Der Untergang kam schleichend. Es gehörte zu unserem Programm, dass immer neue Autoren zu uns stoßen sollten. Die waren zumeist blutige Anfänger, wie wir es zur Zeit der Werkstattgründung auch gewesen waren. Aber wir Älteren hatten uns inzwischen entwickelt, die Neuen hielten uns auf, wir mussten immer wieder dieselben Anfängerprobleme lösen und verloren Zeit. Irgendwann wurde die Kluft so groß, dass wir das eigene Schreiben vernachlässigten.

Arbeiter wanderten zu RTL ab

Es war Zeit, dass wir uns trennten. 1980 feierten wir alle zusammen noch mal in Haus Ebberg bei Schwerte, hockten eine lange Nacht bei Bier und Schnaps zusammen, dann wechselten Hensel und ich in die neu gegründete Werkstatt Bergkamen. Wir mussten nun nicht mehr nach Dortmund fahren, die Arbeit blieb überschaubar und es war Zeit zum Schreiben gewonnen. Die anderen blieben noch zusammen, auch noch nach Poltes Tod 1985. Aber nicht mehr lange, dann war die Zeit des Werkkreises vorbei. Es gab kein Interesse mehr in der Arbeiterschaft an aufklärerischer Literatur, viele saßen längst vor RTL oder Prosieben. Schade, denke ich immer noch.

Aus den Gruppenmitgliedern wurden normale Autoren, die nun für sich allein schreiben, jede Menge Bücher entstehen. Bei den meisten erkenne ich immer noch Reste unseres damaligen Anspruchs. Ihre Literatur ist politisch geblieben, was ihr die Anerkennung in der Literaturszene erschwert, wo sich für viele Jahre eine Art literarisches Biedermeier mit Befindlichkeitsliteratur breit gemacht hat.

Wiederkehr des Politischen

Aber die Zeiten beginnen sich zu ändern. PEN-Präsident Haslinger fragte mich mal während einer Präsidiumssitzung, ob es den Werkkreis noch gebe und als ich verneinte, bedauerte es das. Schade, so etwas wie der Werkkreis würde heute noch eher gebraucht als früher, meinte er. Die Situation der arbeitenden Bevölkerung ist doch nicht besser geworden, im Gegenteil, vieles habe sich verschlimmert. An vielen anderen Bemerkungen und verstärkt auch an neuen Projekten merke ich, dass das Thema wieder in der Literatur virulent wird. Der PEN selbst wird das Thema Literatur und Arbeit zum zentralen Motto bei einer der nächsten Jahrestagungen machen, das freilich auch neue Formen erfordert. Ich selbst bin an einem Projekt mit Lyrikclips beteiligt, Filme, die Gedichte mit sozialer Thematik aufgreifen, entstehen. Ein Projekt, das bei jungen, nicht unbedingt literarisch vorgebildeten Menschen auf Interesse stoßen kann. Der DGB-Chef hat sein Interesse daran bekundet.

In anderen Ländern steht das Thema längst auf der Agenda. Bei einer Zusammenarbeit mit französischen Autoren, an der ich teilnahm und aus der mehrere Bücher entstanden, ging es einzig um die Darstellung der Arbeit in der Literatur. Die Franzosen, merkte ich, gingen dabei viel unbefangener an das Thema heran als wir, die wir bei jedem Schritt in diese Richtung die Kritiker gegen uns haben. In Frankreich haben sie das nicht.

Man merkt, ein guter Ansatz kann letztlich nicht endgültig verschwinden. Er kann nur zweitweise zugedeckt werden, aber irgendwann bricht sich das Bedürfnis nach Auseinandersetzung mit den immer drängenderen sozialen Problemen Bahn. Wir erleben gerade den Startschuss dazu.




Erinnerungstheater aus dem Revier – Neue Einblicke in die Sammlung des Ruhr Museums

Vor allem für Auswärtige sei’s gesagt: Das Ruhr Museum beherbergt die wohl umfangreichste Sammlung zur hiesigen Regionalgeschichte und befindet sich seit einigen Jahren auf dem Gelände der Essener Zeche Zollverein, welche bekanntlich als Unesco-Weltkulturerbe firmiert. Punkt.

Panorama vom Gelände der Essener Zeche Zollverein, auf dem sich das Ruhr Museum befindet. (Foto: Bernd Berke)

Panorama vom Gelände der Essener Zeche Zollverein, auf dem sich das Ruhr Museum befindet. (Foto: Bernd Berke)

Nach und nach werden die gesamten Bestände gesichtet, sukzessive ausgestellt und sorgsam katalogisiert. Dabei treten, gleichsam Stück für Stück, neue Einsichten und Erkenntnisse zutage. Jüngste Frucht der Bemühungen: Jetzt ist – unter dem Titel „Arbeit und Alltag“ – ein Konvolut aus dem Kernbesitz zu sehen, nämlich rund 350 Exponate aus der Kollektion zur Industriekultur und Zeitgeschichte.

Weißblech-Trinkflaschen der Bergleute, um 1970-1981 (© Ruhr Museum, Foto Rainer Rothenberg)

Weißblech-Trinkflaschen der Bergleute, um 1970-1981 (© Ruhr Museum, Foto Rainer Rothenberg)

Was dabei zum Vorschein kommt, ist nicht etwa aus der eh schon lohnenden Dauerausstellung des Hauses abgezweigt worden, sondern stammt aus den reichhaltigen Depots. Praktisch alle Schaustücke waren bislang noch nicht öffentlich zu sehen.

Die Ausstellung wurde kuratiert von Frank Kerner und Axel Heimsoth. Sie und ihr Team haben wahrlich gewichtige Stücke ausgewählt, die von der heute unvorstellbaren Härte der Arbeit künden, beispielsweise eine tonnenschwere Gießpfanne, die einst bei Hoesch in Dortmund zum Einsatz kam. Kohle und Stahl stehen natürlich im Zentrum der Abteilung „Betrieb“, sie machten das frühere Ruhrgebiet aus.

Rührflügelwaschmaschine, um 1935 (© Ruhr Museum, Foto Rainer Rothenberg)

Rührflügelwaschmaschine, um 1935 (© Ruhr Museum, Foto Rainer Rothenberg)

Ungleich schwerer als heute war freilich auch die Hausarbeit, damals noch eindeutig Sache der Frauen. Wir sehen frühe Haushaltsgeräte für Waschtag, Küche und Näharbeiten. Jedes Stück enthält eine Geschichte, wenn man sie zu lesen und zu deuten weiß. Nicht alles, aber vieles ist spezifisch fürs Ruhrgebiet, so auch jenes schwarze Brautkleid einer Bergmannsfrau, das kostensparend auch im späteren Alltag getragen werden konnte.

Weißes und schwarzes Brautkleid, um 1872 und 1896 (© Ruhr Museum, Foto Rainer Rothenberg)

Weißes und schwarzes Brautkleid, um 1872 und 1896 (© Ruhr Museum, Foto Rainer Rothenberg)

Die zahlreichen Signaturen aus den recht sinnvoll angeordneten Bereichen Betrieb, Individuen (Kleidung, Porträts, Hygiene), Haushalt, Freizeit (Vereine, Vegnügen, Spielzeug) und Gesellschaft (Schule, Kirche, Herrschaft, Weltkriege) bescheren immer wieder kleine Aha-Erlebnisse. Aus all dem ergibt sich ein Kaleidoskop der alten Zeiten im Ruhrpott.

Man sollte hierzu möglichst den Katalog lesen, der viele Exponate einzeln erläutert. Da finden sich einige Prachtstücke eingehend beschrieben, so eine der ganz frühen, mit Gas beheizten Duschen der Firma Vaillant (um 1910), eine Schulbank von 1893, eigens konstruiert für den privathäuslichen Unterricht in den gehobenen Schichten oder ein gänzlich stählerner Altar aus einer Essener Kirche, der auf besondere Weise vom materiell grundierten Selbstbewusstsein der Region zeugt.

Über die historische Erzählung hinaus, entfalten manche Objekte auch ästhetische Qualitäten. Man schaue sich etwa die zerbeulten Weißblech-Kaffeeflaschen an, die von den Bergleuten unter Tage verwendet wurden. Sie wirken, derart gruppiert wie hier, als gehörten sie zu einer künstlerisch inspirierten Installation.

Museumsdirektor Heinrich Theodor Grütter spricht von einem „Erinnerungstheater“, das von manchen der Objekte angeregt werde. Tatsächlich begegnen einem hier etliche Gegenstände, die man kennt, wenn man schon lange im Revier lebt, „Gelsenkirchener Barock“ inbegriffen. Zumal die Zeitzeugnisse aus den 50er und 60er Jahren dürften noch viele Besucher zuinnerst ansprechen.

Radio-Fernseh-Kombinationstruhe Saba "Bodensee" Vollautomatic 126 Stereo (1960/61). (© Ruhr Museum, Foto Rainer Rothenberg)

Radio-Fernseh-Kombinationstruhe Saba „Bodensee“ Vollautomatic 126 Stereo (1960/61). (© Ruhr Museum, Foto Rainer Rothenberg)

Vor allem ältere „Ruhris“ werden hier vertraute Zeichen der herkömmlichen Identität dieser oftmals geschundenen Gegend finden. Und noch ein Stichwort wirft Grütter in die Debatte: „Verlusterfahrung“. Ja, es ist wahr: Ein Großteil der ausgestellten Gegenstände hat mit längst oder unlängst versunkenen Lebenswelten zu tun, insofern auch mit Wehmut.

Wie alle Sammlungen, so hat auch diese ihre Vorgeschichte. Schon um 1903 gab es in Essen Pläne zum Aufbau einer industriegeschichtlichen Sammlung, die jedoch durch mancherlei Fährnisse und Widrigkeiten über Jahrzehnte hinweg nicht zustande kam. Ja, wesentliche Bestände der Krupp-Werke wanderten gar nach München ab, wo sie einen Grundstock des Deutschen Museums bildeten. Immer diese Münchner…

Über einige Zwischenstationen (z. B. das heimattümelnde Ruhrlandmuseum der NS-Zeit, das Ruhrmuseum neben dem Folkwang-Museum in der Goethestraße) gelangte man schließlich aufs Areal der Zeche Zollverein. Den Rückstand beim Sammeln industrieller Zeugnisse hat man derweil vielfach einigermaßen aufgeholt, wenn nicht gar wettgemacht.

Hausschülerpult, 1893 (© Ruhr Museum, Foto Jens Nober)

Hausschülerpult, 1893 (© Ruhr Museum, Foto Jens Nober)

Erst gegen Ende der 1970er Jahre, als die Montanindustrie deutlich schwächelte und der erzwungene Strukturwandel sich abzeichnete, wurde sich das Revier selbst historisch und ging allmählich auf betrachtende Distanz zur eigenen Geschichte. Zugleich begannen sich die Historiker überall mehr und mehr für Alltagsdinge zu interessieren, die vordem missachtet worden waren. Erst jetzt wurde dementsprechend gesucht und gesammelt.

Aus solchen Entwicklungen erklärt sich der Zuschnitt der heutigen Sammlung, die nicht zuletzt durch Zeitungsaurufe rapide angewachsen ist. Und der Zustrom hört beileibe nicht auf: Allwöchentlich werden dem Museum, etwa bei Haushaltsauflösungen, viel mehr Objekte angeboten, als es jemals beherbergen kann.

Da heißt es klug und besonnen auswählen. Nicht alles, was persönlich bedeutsam ist, muss der Allgemeinheit etwas sagen und in ein Museum gehören. Direktor Grütter über den Zustand, um den die meisten Leiter von Kunstmuseen ihn beneiden dürften: „Wir haben kein Geldproblem, wir haben ein Platzproblem.“

„Arbeit & Alltag“. Industriekultur im Ruhr Museum. 26. September 2015 bis 3. April 2016. Mo bis So 10-18 Uhr. Eintritt 7 €, ermäßigt 4 €. Katalog 29,80 (im Museum 19,80) Euro. Infos: www.ruhrmuseum.de

Ruhr Museum. UNESO-Welterbe Zollverein, Areal A (Schacht XII), Kohlenwäsche (Gebäude A 16), Essen, Gelsenkirchener Straße 181. Adresse für Navi-Systeme: Fritz-Schupp-Allee 15. Kostenlose Parkplätze A 1 und A 2.




Kochen vs. Theater 40:2

Jeglichen Tag liest man in der Zeitung von Phänomenen, die sich beispielsweise binnen Jahresfrist um 1,8 Prozent gesteigert haben. Donnerlittchen!

Und dann knüpfen die Redaktionen schwerwiegende Überlegungen an diese Entwicklung, denn sie ziehen stets gern die „Immer mehr“-Nummer durch. Auch wenn’s nur schmale 1,8 Prozentpunkte sind. Andernfalls gäb’s ja manchmal wenig zu schreiben. Irgendwie muss man ja für Panik sorgen, für Exaltation und dampfenden Betrieb. „Welchen Aufreger haben wir denn heute?“

Werden Kinder, die heute die Theater-AG verschmähen, später z. B. ins Bochumer Schauspielhaus (Bild) gehen? (Foto: Bernd Berke)

Der Kulturpessimist fragt: Werden Kinder, die heute die Theater-AG verschmähen, später z. B. ins Bochumer Schauspielhaus gehen? (Foto: Bernd Berke)

Nun aber die grazile Überleitung zu einem wirklich exorbitanten Zahlenverhältnis. Als es jetzt in einer Dortmunder Grundschule daran ging, sich für bestimmte nachmittägliche Arbeitsgemeinschaften zu entscheiden, haben gleich rund 40 Kinder (bzw. ihre Eltern) die „Koch-AG“ gewählt – und nur ganze zwei die „Theater-AG“.

Welche Bewandtnis es wohl damit hat?

Man kann sich in wildwüchsigen Mutmaßungen ergehen. Wird das Wort „Theater“ schon so selbstverständlich mit diffiziler Hochkultur assoziiert, dass die Vielen lieber nicht nähertreten mögen? Erinnert es sogleich an Streit und Hader („Jetzt mach’ hier kein Theater!“)? Hat hier der reine Nützlichkeits-Aspekt überwogen, der zunächst einmal fürs Kochen sprechen mag? Hat gar der schnöde Elternwunsch obsiegt, die Kleinen sollten öfter in der Küche helfen? Haben die zahllosen Kochshows im Fernsehen die Wahl beeinflusst?

Dabei hat man doch immer gedacht, dass Kinder sich gerne verkleiden und Rollenspiele lieben.

Die Folge des auffälligen Votums ist jedenfalls eine Aufstockung auf zwei Koch-AGs – und die Streichung der Theatergruppe. Sollen wir nun das alte Lied vom Kulturverfall anstimmen? Gemach! Nicht von ungefähr spricht man auch von Kochkultur. Aber man stutzt dennoch.

Um die Leser(innen) zu schonen, belassen wir es bei diesem kurzen Beitrag. Es gibt freilich Leute, die mit diesem Thema ein ganzes Feuilleton zu füllen vermöchten. Um es mal stilblütenhaft zu wenden: Hierbei könnte man den Klammeraffen des Kulturpessimismus reichlich Zucker der Zukunftsangst geben. Hehe, gut gesagt, wie?




Thomas Mann auf der „Kö“: Unterhaltsame Saisoneröffnung in Düsseldorf

Foto: E. Schmidt

Das Düsseldorfer Schauspielhaus (Foto: Eva Schmidt)

Ein Teil des „Kö“-Bogens ist immer noch eine Baustelle, im Moment haben die Graffiti-Künstler den Gustav-Gründgens-Platz am Stadttheater im Griff und sprühen bunte Bodengemälde aufs Pflaster. Doch zur Saisoneröffnung unternimmt das Düsseldorfer Schauspielhaus eine Zeitreise ins Jahr 1954: Damals sah die „Königsallee“, so der Titel des gleichnamigen Stückes nach dem Roman von Hans Pleschinski, noch ein wenig anders aus, obwohl sie schon lange Düsseldorfs „Prachtstraße“ war.

Auch das Hotel Breidenbacher Hof, in dem die Handlung größtenteils angesiedelt ist, steht nach wie vor am gleichen Platz. Doch um Mode, High Society oder Shopping geht es in „Königsallee“ gar nicht, sondern um deutsche Nachkriegsgeschichte und dies am Beispiel des Nobelpreisträgers Thomas Mann. Tatsächlich war der Autor im August 1954 auf kurzer Lesereise im Rheinland, in Köln und Düsseldorf, wo anschließend ihm zu Ehren ein Empfang im Künstlerverein Malkasten gegeben wurde, wie der „Zauberer“ in seinem Tagebuch notiert.

Diese wohl nicht ganz so zentrale Begebenheit in Thomas Manns Leben hat der Autor Hans Pleschinski zu einem Roman aufgeblasen, indem er eine Begegnung zwischen Thomas Mann und einem ehemaligen jugendlichen Schwarm Klaus Heuser hinzugedichtet hat, der ursprünglich aus dem Rheinland stammte. Außerdem treten Weggefährten und Widersacher sowie enttäuschte Familienmitglieder wie zum Beispiel Golo Mann (Jakob Schneider) auf, die alle in mehr oder weniger schwieriger Beziehung zu dem bewunderten Genie stehen.

Ilja Richter hat den Roman für das Düsseldorfer Schauspielhaus dramatisiert, Wolfgang Engel führte Regie. Und dies ist ganz unterhaltsam geraten, denn die Verdichtung für die Bühne führt zur Konzentration des Stoffes gegenüber dem etwas weitschweifigen Roman. Zudem gelingt es der Inszenierung, die Atmosphäre der 50er Jahre und das Ringen mit der Nazi-Vergangenheit plausibel zu machen. Wie die Stelen des Holocaust-Mahnmals in Berlin stehen wuchtige schwarzgraue Quader auf der Bühne (Olaf Altmann), die zugleich als Hotelgänge fungieren. Denn Klaus Heuser (Harald Schwaiger) und sein Freund Anwar Batak Sumayputra (Yung Ngo) aus Asien haben unwissentlich im selben Hotel wie Thomas Mann Quartier genommen.

Heuser, seit fast zwanzig Jahren nicht mehr in Deutschland gewesen, machen sogleich die Stickigkeit und spießige Nachkriegsmoral zu schaffen, die er durch sein freieres Leben in Asien gar nicht mehr gewohnt ist. Auch bekommen ihm und seinem Liebhaber die scharfen Schnäpse und großen heimatlichen Biere nicht besonders; Schwaiger und Ngo spielen dieses Pärchen mit Leichtigkeit und Ironie und bieten mit ihrem Bekenntnis zur schwulen Lebensweise ein Gegenbild zu Thomas Manns „geheimer“, sublimierter Homosexualität. Zudem gelingt ein Blick von außen auf die Verstrickungen der Nazi-Zeit, die beispielsweise durch die Figur des Mitläufers Prof. Betram (Artus-Maria Matthiessen) verkörpert wird.

Bücherverbrennung, Exil, anti-intellektuelle Ressentiments: Nur schwach übertüncht von kriecherischer Bewunderung für den Groß-Schriftsteller schwappt die ganze braune Soße wieder nach oben, was besonders Erika Mann (Claudia Hübbecker im charakteristischen Hosenanzug) zu schaffen macht. Dramatisch fassbar wird dies durch die Figur des Conférenciers (Martin Reik), der mit einer transportablen Musikanlage zwischen den Szenen schauerliche Medleys von „Wenn bei Capri die rote Sonne…“ bis „An allem sind die Juden schuld“ abnudelt.

Und Thomas Mann selbst? Tatsächlich hat die Hauptfigur, distinguiert gespielt von Reinhart Firchow, gar nicht mal so übermäßig viel Text, abgesehen von einer Ansprache an die Nachkriegsdeutschen gegen Ende. Doch wie dabei sein Gesicht mit der runden Brille im Halbschatten liegt, fühlt man sich in eine der zahlreichen Spielfilme oder Dokumentationen zur Familie Mann versetzt, so dass der Dichter von den Toten auferstanden scheint. Bei Abercrombie&Fitch auf der „Kö“ ist er allerdings noch nicht gesichtet worden…

Karten&Termine:
www.duesseldorfer-schauspielhaus.de




Auf der Suche nach dem Wesen Westfalens – eine Schau wie aus dem Füllhorn

Was bedeutet heute noch das Wort „westfälisch“, was war und ist sein Wesenskern? Gibt es ein Gemeinschaftsgefühl der Einwohner Westfalens? Mit derlei gewichtigen Fragen hantiert jetzt eine Ausstellung im Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte.

Rund 800 Exponate – hie und da kleinteilig gezählt – bietet man für die Schau „200 Jahre Westfalen. Jetzt!“ auf. Die historische Maßzahl leitet sich vom Wiener Kongress her, nach dem Westfalen anno 1815, fast schon exakt in seinen heutigen Grenzen, zum Bestandteil Preußens wurde.

Weitaus älter als das Rheinland

Harry Kurt Voigtsberger, Präsident der Nordrhein-Westfalen-Stiftung, hält dafür, dass es Westfalen sozusagen „schon immer“ (erste Erwähnung im 8. Jahrhundert) gegeben hat, während das Rheinland sich erst ganz allmählich als solches verstanden habe. Auch Dortmunds OB Ullrich Sierau gab sich bei der Pressevorbesichtigung amtsgemäß lokal- und regionalpatriotisch. An die Frage, ob nun Münster oder Dortmund die wahre Westfalenmetropole sei, wurde dabei jedoch nicht gerührt.

Grubenpferd trabt in Richtung Bergmanns-Wohnzimmer, dahinter ein Kleinstwagen aus westfälischer Fabrikation. (Foto: Bernd Berke)

Grubenpferd trabt in Richtung Bergmanns-Wohnzimmer, dahinter ein Kleinstwagen aus westfälischer Fabrikation. (Foto: Bernd Berke)

Es schwirrten jedoch kleine Pfeile in Richtung Düsseldorf und Köln. Die Westfalen, so hieß es, halten, was die Rheinländer versprechen. Fast hätte man denken können, hier ginge es nicht in erster Linie um eine Ausstellung, sondern vor allem um eine regionalpolitische und touristische Maßnahme zur Stützung des manchmal etwas vernachlässigten Teils von NRW. Schirmherrin der Schau ist übrigens NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD), die auch zur Eröffnung sprechen wird.

Klischees und ihre Kehrseite

Es ist wohl nur folgerichtig, dass die Ausstellung gleich zu Beginn die Klischees aufgreift, die über Westfalen seit langer Zeit in Umlauf sind. Demnach sind die hiesigen Landsleute bodenständig, verwurzelt, stur, manchmal auch ein wenig rückständig und provinziell. Das alles kann man natürlich auch positiv wenden. Hier, so die wohlwollende Lesart, macht man eben kein überflüssiges Tamtam, man ist traditions- und kostenbewusst, während man am Rhein immer gleich loslegen will, koste es, was es wolle.

Auch eine Dortmunder Kneipe im Stil der 50er Jahre zählt zum Inventar der Ausstellung. (Foto: Bernd Berke)

Auch eine Dortmunder Kneipe im Stil der 50er Jahre zählt zum Inventar der Ausstellung. (Foto: Bernd Berke)

Was aber bekommt man in Dortmund zu sehen? Nun, lauter angehäufte Schauwerte, überwiegend dicht an dicht. Hier steht ein Pferd, dort ein Kleinstwagen, dazwischen sieht man das Wohnzimmer eines Bergmanns und seine noch von Kohlenstaub geschwärzte Berufskleidung. In diesem Ambiente dürfen die Besucher sich auch vors alte Röhrenfernsehgerät setzen und betagte Broschüren durchblättern, wobei ihnen besagtes Pferd über die Schulter schaut und nicht etwa das Westfalenross darstellt, sondern ein Grubenpferd, das sein Gnadenbrot bekommt.

Hin und her durch die Zeiten

Einige Schritte weiter ist eine Dortmunder Kneipe der 1950er Jahre aufgebaut, nebenan prangen Dampfmaschinen- und Eisenbahnmodelle, die für die Zeit der Industrialisierung stehen. Eine mit Original-Mobiliar nachempfundene Amtsstube soll uns derweil in die Zeit des Freiherrn vom Stein zurückversetzen, der als preußischer Reformer auch die frühen Geschicke Westfalens bestimmte.

Noch ein Zeitsprung: Zwei Jungs aus Waltrop haben ihr heimisches Zimmer ins Museum gegeben – mitsamt jeweiliger Fan-Bettwäsche. Der eine steht auf den BVB, der andere auf Schalke. So dicht beieinander, wirkt das schwarzgelb-blauweiße Farbenspiel schon beinahe schockierend. Aber gut. Man ist ja tolerant. Beides gehört zu Westfalen.

Es ließen sich noch etliche, mehr oder weniger kuriose Exponate aufzählen, beispielsweise ein als zoologische Rarität präsentiertes Mischwesen („Gänseziege“), das allerdings auf einen Scherz des einstigen Münsteraner Zoodirektors Hermann Landois zurückgeht, der mit seinem bizarren Einfall Besucher anlocken wollte. Hübsche Anekdote. Landleben, Schützenfeste, Karneval und manches andere Thema werden gleichfalls gestreift.

Und. Und. Und. Kurzum: Man fühlt sich insgesamt ein wenig hin- und hergezogen und wähnt sich manchmal gar in einem Labyrinth.

Freihändige Leihgaben der Heimatvereine

Nun war zur Pressekonferenz noch keine Beschriftung der Ausstellungsstücke vorhanden, die Veranstalter haben terminlich „auf Kante genäht“. Somit bleibt zunächst der Eindruck eines Füllhorns, ja eines Wunderkammer-Sammelsuriums, das zuweilen reichlich assoziativ arrangiert worden ist. Mag sein, dass sich all dies im fertigen Zustand besser erschließt. Auch dürfte man sich dann besser in gewisse Einzelheiten vertiefen können. Ein Motto der Ausstellung lautet jedenfalls „Mach dir dein eigenes Bild“. Ja, diese Freiheit wird man sich wohl nehmen müssen.

Zu den 136 Leihgebern zählen zahlreiche westfälische Heimatvereine, deren Dachverband heuer sein hundertjähriges Jubiläum begeht. Die Vereine durften Stücke nach Gusto einreichen, das vielköpfige Ausstellungsteam (Kuratorinnen: Dr. Brigitte Buberl, Carina Berndt) musste dann halt zusehen, ob sie im Konzept unterzubringen waren. Keine leichtes Unterfangen, fürwahr.

Wandelbares Territorium

Die Schau ist in sechs Hauptbereiche gegliedert, welche da heißen: Prolog, Gewächshaus, Siedlung, Horizont, Archiv und Territorium. Klingt nach knirschender Kopfarbeit. Das „Territorium“ wird sich im Laufe der Ausstellungsdauer zweimal grundlegend verändern und vorherige Bestände ins Archiv auslagern. Anfangs steht der Aufbruch in die Moderne im Fokus, hernach wird es ab November u. a. um Wasser als Triebkraft gehen (Talsperren, Kanäle etc.) und schließlich ab Januar 2016 um Einwanderung und Integration in Westfalen. Man hat dies wohl aus nahe liegenden Gründen als Pflichtprogramm verstanden.

Nun verraten wir noch, was es mit dem genannten Kleinstwagen auf sich hat. Es ist ein Kleinschnittger-Cabrio aus den 50er Jahren, hergestellt im westfälischen Arnsberg. Das heute niedlich wirkende Fahrzeug hatte keinen Rückwärtsgang. Und was lernen wir daraus? In Westfalen blickt man nicht nur zurück, sondern oft auch ganz entschieden nach vorn.

„200 Jahre Westfalen. Jetzt!“ 28. August 2015 bis 28. Februar 2016 im Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Dortmund, Hansastraße 3. Tel.: 0231/2 55 22. www.mkk.dortmund.de in Kooperation mit dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) und dem Westfälischen Heimatbund.

Geöffnet Di, Mi, Fr, So 10-17, Do 10-20, Sa 12-17 Uhr. Eintritt 6 Euro, ermäßigt 3 Euro. Katalog 19,90 Euro. Umfangreiches Begleitprogramm, außerdem Aktionen wie Westfälische Büffets und „Selfie“-Fotos an bestimmten Punkten der Ausstellung.

Die Schau wandert – in verkleinerter Form – ab Mai 2016 in neun weitere westfälische Orte: Wadersloh, Brilon, Höxter-Corvey, Lüdenscheid, Lüdinghausen, Bünde, Gescher, Minden und Paderborn.




Von Fledermäusen und Menschen: „Die Franzosen“ nach Proust auf der Ruhrtriennale

Foto: Tal Bitton/Ruhrtriennale

Foto: Tal Bitton/Ruhrtriennale

Ein letztes Mal blendet das Licht, das durch die alten Fabrikfenster hereinscheint, grell die Augen. Dann senkt sich die Dämmerung über die Zeche Zweckel in Gladbeck, Spielort von Krzysztof Warlikowskis „Die Franzosen“ nach Marcel Proust bei der diesjährigen Ruhrtriennale.

Nun übernehmen die Nachttiere die Herrschaft über den Raum. Ein flinker Schwarm Fledermäuse durchflattert eine Szenerie, in der sich der Abgesang auf ein dekadentes Europa in nahezu fünfstündiger Spieldauer entfaltet. Nun, Europa ist ja auch sehr alt, so braucht ebenfalls sein Niedergang einige Zeit; Zeit, bis die materiellen, seelischen, psychologischen, politischen und gesellschaftlichen Zersetzungsprozesse greifen und ihr Gift entfalten.

Die kleinen Vampire und unfreiwilligen Mitspieler kümmert dies indes nicht, sie haben auch kein Sprachproblem: Die polnische Aufführung ist zwar deutsch und englisch übertitelt, doch in dialogreichen Szenen werden hohe Anforderungen an die Lesegeschwindigkeit der Zuschauer gestellt, wenn sie gleichzeitig die Aktionen der Schauspieler mitverfolgen möchten. Doch wer sagt, dass Proust einfach sein sollte? Dazu ist sein Werk schlicht zu komplex und fordert, dass man sich darauf einlässt, sonst hat man nichts davon.

Foto: Tal Bitton/Ruhrtriennale

Foto: Tal Bitton/Ruhrtriennale

Warlikowski hat denn auch einige Themen aus dem vielschichtigen Romanzyklus stärker gewichtet und sich auf diese konzentriert: Die Dreyfus-Affäre und der damit zusammenhängende Antisemitismus nehmen reichlich Platz ein, zumal diese Fragen heute unter anderen Vorzeichen wieder virulent sind. Auch das Thema Homosexualität und ihre Akzeptanz in der Gesellschaft beschäftigt die Inszenierung.

Nicht zuletzt blicken wir auf die Nachtseite der menschlichen Begierden, seien sie auf Männer oder Frauen gerichtet, und die Gewalt, die dies zwischen Menschen erzeugt. Tatsächlich wird hier in mancher Szene, beispielsweise zwischen Swann (Mariusz Bonaszewski) und Odette (Maja Ostaszewska), statt mit Prousts psychologischem Florett mit gröberen Waffen gekämpft und handgreiflich gerungen, wenn es um Eifersucht geht.

Die Lebedame ist nicht mehr in Musselinstoff gehüllt, sondern trägt rote Dessous und Stöckelschuhe und Oriane de Guermantes (Magdalena Cielecka), die vornehmste aller adeligen Damen, sieht mit Designer-Mini, blondiertem Haar und High-Heels eher nach rotem Promi-Teppich mit einem Schuss ins Gewöhnliche aus, denn nach wahrer Aristokratie. Aber wo sind sie überhaupt geblieben, die Aristokraten? Aus Baron de Charlus (Jacek Poniedzialek) wird im Laufe des Stücks eine Art Karl Lagerfeld-Verschnitt, mehr haben wir Heutigen nicht mehr aufzubieten. Wenn das schon der Gipfel der europäischen Kultur und Lebensart sein soll…

Foto: Tal Bitton/Ruhrtriennale

Foto: Tal Bitton/Ruhrtriennale

Deswegen tickt denn auch überm Bartresen, der die ganze Länge der Bühne einnimmt, unweigerlich die Uhr und der Geiger Morel (Piotr Polak) ist ganz profan zum DJ geworden. Die Aristokratie sitzt derweil in einer Art gläsernem Salonwagen wie in einer Zeitkapsel und ergeht sich in Klatschgeschichten.

Merkt denn keiner, dass draußen schon der Erste Weltkrieg heraufdämmert? Seine Auswirkungen muten dann eher an wie die der Tschernobyl-Katastrophe und der Berserker im Ganzkörper-Schutzanzug fegt den letzten Rest edles Porzellan mit einem Wisch vom Tisch. Da kann auch Phädra (Agata Buzek) nicht mehr helfen, die, wie um einen Rest klassische Bildung hochzuhalten, verzweifelt ihre Rolle deklamiert. Einst spielte Rachel diese Glanzrolle, die Geliebte Saint-Loups (Maciej Stuhr), der dann aber Gilberte, die Tochter von Odette und Swann heiratete…aber, ach, was, wer kennt noch diese alten Geschichten und diese längst vergessenen Leute? Selbst die Fledermäuse nicht und wenn, dann könnten sie es uns nicht erzählen, denn sie funken auf einer ganz anderen Frequenz als wir, für das menschliche Ohr nicht wahrnehmbar, diese feinen Töne in lärmenden Zeiten…

Karten und Termine:
www.ruhrtriennale.de




Frei und radikal – Dortmunds gewichtige Beiträge zur Vagabundenliteratur

Unser Gastautor Heinrich Peuckmann zur Geschichte der Vagabundenliteratur in der Weimarer Republik:

Zu Pfingsten 1929 fand in Stuttgart ein denkwürdiges Treffen statt. Gut 500 Obdachlose und „Tippelbrüder“ fanden sich zum „Ersten internationalen Vagabundenkongress“ auf dem Killesberg ein.

Gregor Gog, Gärtner, Vagabund und Dichter, vor allem aber Schüler von Gusto Gräser, dessen ökologisch-alternative Vorstellungen die 68-er Bewegung wieder entdeckte, hatte zu diesem Treffen aufgerufen. Hintergrund war, dass es in Deutschland durch die Weltwirtschaftskrise inzwischen über 450.000 Obdachlose gab.

Keine Bindung, kein System

In teils pathetischen, teils sachlichen Reden wurde nicht etwa die Not der Obdachlosen beschrieben und angeklagt, vielmehr wurde die Welt der Vagabunden als Alternative zur erstarrten, spießbürgerlichen Gesellschaft verstanden. Ihr Nein zur Gesellschaft hieß: keine Bindung, kein System, keine Autorität, ihr Ja dagegen bedeutete Selbstverantwortung, Persönlichkeit und Menschsein in freiem Sinne.

In Dortmund-Hörde erinnert heute eine Straße an den Künstler Hans Tombrock. (Foto: Helfmann/Wikimedia-Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en)

In Dortmund-Hörde erinnert heute eine Straße an den Künstler Hans Tombrock. (Foto: Helfmann – Creative Commons/Wikimedia-Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en)

Letztlich ist ihre Ablehnung starrer Landesgrenzen auch eine Antwort auf den aufkommenden dumpfen Nationalismus. Die grenzüberschreitende Freiheit der Tippelbrüder, ihr Internationalismus also, stand gegen übersteigertes nationales Denken, dessen Gefährlichkeit sich bald zeigen sollte.

Grußtelegramme von Hamsun und Sinclair Lewis

Knut Hamsun und Sinclair Lewis schickten Grußtelegramme, Lewis mit der schönen Bemerkung, dass er gerade in den USA auf Wanderschaft sei und den Weg bis Stuttgart leider nicht schaffen könne. Es war ein Höhepunkt einer sozialen und künstlerischen Bewegung, die heute leider völlig zu Unrecht weitgehend vergessen ist.

Gregor Gog hatte zwei Jahre vorher den „Bruderschaft der Vagabunden“ gegründet und mit ihm eine literarisch-künstlerische Zeitschrift, die „Der Kunde“ hieß. Kunde ist ein Begriff aus dem Rotwelschen und bedeutet nichts anderes als Landstreicher. Etwa viermal im Jahr erschien diese Zeitschrift und enthielt Erzählungen, Gedichte und Grafiken von Künstlern, die sich auf Wanderschaft befanden. Heute ist sie eine Fundgrube der sozialen Kunst aus der Endphase der Weimarer Republik.

Selbst Hermann Hesse hat im „Kunden“ veröffentlicht, dessen „Knulp“ ja auch eine Vagabundengeschichte ist, freilich eine ohne soziale Einbettung, die für die Künstler um Gregor Gog aber typisch war. Gog tritt darin vor allem als Aphoristiker hervor: „Ob der liebe Gott den Betenden auch nur Kupfermünzen in den Hut wirft?“

In all seinen theoretischen Äußerungen zum Vagabundendasein aus jener Zeit wird deutlich, dass es Gog und seinen Kampfgefährten nicht um die Verbesserung des Sozialstaates geht, der mit Hilfsprogrammen die Obdachlosen inkludiert, sondern der Staat wird radikal abgelehnt. Er wird als Institution zur Sicherung des Reichtums in den Händen des Kapitals begriffen, Sozialprogramme sind da nur Augenwischerei. Nicht Inklusion, sondern Exklusion ist das Programm.

Hans Tombrock, ein Künstler aus Dortmund

Wichtig aus dem Kreis um Gog war der Dortmunder Maler Hans Tombrock, der später vor den Nazis fliehen musste, nach Schweden kam, dort Brecht kennen lernte und mit ihm Freundschaft schloss. In seinem Arbeitsjournal urteilt Brecht positiv über Tombrocks Malerei, die einem expressionistisch-düsteren Stil verpflichtet ist, gelegentlich bei Landschaftsbildern, die oft während seiner Wanderschaft (u.a. auf dem Balkan) entstanden, auch helle, fast impressionistische Züge bekommen kann.

Auch in Peter Weiß´ „Ästhetik des Widerstands“ taucht Tombrock in Diskussionszusammenhängen über den richtigen Weg gegen den Faschismus auf. Er hätte viel mehr Beachtung verdient, neulich aber wurde er in einer Ausstellung in den neuen Bundesländern endlich mal wieder gewürdigt. Tombrock schrieb auch kleine Erzählungen für den „Kunden“, darunter die bedrückende Geschichte einer hungernden Familie auf dem Balkan, die dem Tippelbruder Tombrock in ihrer Not die kleine, etwa zehnjährige Tochter zum Kauf anbietet. Tombrock gibt der Familie die Hälfte seines Geldes und beeilt sich, den Ort des Grauens so schnell wie möglich zu verlassen.

Mit Tombrock ist eine Zeitlang sein Dortmunder Freund, der Lyriker Paul Polte gewandert. Polte war später Mitglied in allen Gruppierungen der Arbeiterliteratur (BPRS, Gruppe 61, Werkkreis) und eine Art proletarischer Erich Kästner, der Zeit seines Lebens (die Monate der Wanderschaft ausgenommen) im Dortmunder Norden lebte, wo er in bester Luthertradition dem einfachen Volk aufs Maul schaute.

Wertvolles Material im Fritz-Hüser-Institut

Überhaupt spielten Künstler aus Dortmund eine beachtenswerte Rolle in der Vagabundenbewegung, die Maler Hans Bönnighausen, Hans Kreutzberger und Fritz Andreas Schubert kamen aus dieser Stadt. So ist es kein Wunder, dass das wohl umfangsreichste Material zur Vagabundenliteratur im dortigen „Fritz-Hüser-Institut“ lagert. Eine Wand des Instituts ist behängt mit Bildern von Tombrock.

Artur Streiter aus Berlin, Maler und Schriftsteller, muss noch erwähnt werden, weil er in seiner Berliner Zeit den Bezug zwischen Vagabundendasein und Boheme herstellte. Der Vagabund als die radikalste Form der Boheme, so hat er sich und seine Kampfgefährten verstanden. Auch der Lyriker Hugo Sonnenschein, der sich „Sonka“ nannte, hat literaturgeschichtliche Bedeutung erlangt. Er ist in fast jeder Nummer des „Kunden“ vertreten.

Die Vagabunden sind nicht immer „auf der Platte“ geblieben. Wenn sie sesshaft wurden, haben sie – wie Streiter – oft in anarchosyndikalistischer Tradition neue Lebensformen in Kommunen gesucht. Streiter gründete die Siedlung „im roten Luch“ östlich von Berlin.

Nazis verfolgten die Vagabunden als „Volksschädlinge“

Gergor Gog nahm eine andere Entwicklung. Nach einem längeren Besuch in der Sowjetunion schloss er sich der kommunistischen Bewegung an, verlor das Interesse an den Landstreichern und kämpfte nun den Kampf um die soziale Besserstellung der Arbeiterklasse. Sichtbares Zeichen ist die Umbenennung seiner Zeitschrift, die nicht mehr „Der Kunde“ hieß sondern „Der Vagabund“.

Mit Machtergreifung der Nazis wurden die Vagabunden sofort als „Volksschädlinge“ bekämpft. Schon im September 1933 führten die Nazis eine „Bettlerrazzia“ durch und verhafteten tausende Vagabunden, auch Gregor Gog. Tombruck emigrierte, sein Freund Polte wollte Dortmund nicht verlassen und fand sich prompt in der „Steinwache“ wieder, dem berüchtigten Gestapogefängnis.

Nach seiner Freilassung wegen schwerer Krankheit (Rückenwirbeltuberkulose) konnte Gog durch Vermittlung von Johannes R. Becher in die Sowjetunion fliehen, den Krieg überleben, danach aber nicht mehr zurückkehren. Nach schwerer Krankheit ist er 1945, gerade mal 54 Jahre alt, in Taschkent gestorben.

Wer die Geschichte der Vagabunden und ihrer Kunst kennt, wird die aufblühenden Obdachlosenzeitungen heute vielleicht in einem anderen Licht sehen. Spannende, auch bedrückende Sozialreportagen kann man dort finden und auch interessante Buchbesprechungen, oft aus ganz anderem Blickwinkel als bei bürgerlichen Feuilletons. Mit dieser Tradition im Hinterkopf kann es nicht mehr allein Mitleid sein, das zum Kauf anregt, sondern – sehr viel besser – eine gehörige Portion Respekt.




Sie sind jung und schön und hören gerne Zaz oder Milky Chance

…ok, Zaz hab ich sogar schon mal gehört.

Das sind halt junge schöne glückliche Menschen, die sich freuen, dass sie ihren Platz in der Kultur-Industrie gefunden haben (hauptberuflich Designer, Fotografen, Foodblogger, Modeblogger, Techblogger, Pornodarsteller und Aufnahmeleiter bei Jamie Oliver etc.) und viele Fans auf Instagram und Twitter. Und sie sind glücklich und schön, weil sie jung und schön und glücklich sind und ihren Platz in der Kultur-Industrie gefunden haben und Designer, Fotografen, Foodblogger, Modeblogger, Techblogger, Pornodarsteller und Aufnahmeleiter bei Jamie Oliver sind etc.

sternzeichen smoothie und veggieburgerIhr Sternzeichen ist der Smoothie aus Bio-Früchten und fettarmem Bio-Joghurt oder der Veggie-Burger mit biologischen Süßkartoffelpommes für 14,95 (Getränke extra). Sie sind für die Umwelt und für Bioklamotten und für Bioessen, weil das irgendwie dazugehört und eh besser ist für die Umwelt, fahren am Sonntagmorgen mit dem SUV, das ist sicherer!, Brötchen vom Bäcker nebenan holen und stehen da in der Schlange, weil sie das aus der Rama-Werbung kennen und freuen sich, dass sie in der Schlange stehen, weil sie das aus der Rama-Werbung kennen und das ist alles so schön und warm und so vertraut und so heimelig und Kinder wollen sie ja eh mal, zwei, n Jungen undn Mädchen, weil Kinder sind doch so wichtig für alles und so und wenn die einen dann so anlachen. Außerdem können sie dann auch bald nen eigenen YouTube-Channel mit Spielzeugtests machen und aus den Werbeeinnahmen was zum Haushalt dazugeben. Aber das mit den Flüchtlingen ist echt schlimm.

hipsterpärchenDie Frauen tragen weite Strickpullover mit zu langen Ärmeln, Wollsocken und Flip-Flops und halten die Tasse mit koffeinreduziertem senseo-Latte in beiden Händen, während sie die neue Country Homes aufm ipad durchblättern, den manufactum-Katalog studieren, die greenpeace-Überweisung machen und noch eben die online-Petition für die Flüchtlinge unterzeichnen und nachher nachm Büro gehts noch zur urban-knitting-Gruppe, weil das ist ja wichtig für uns alle und so und die Männer tragen Bart oder auch nicht, weil das ja unhygienisch ist, trinken mit guten Freunden ein craftbier (max.) und sind fast so lustigdoof wie der Golden Retriever, stinken aber weniger, wenn man ihnen jeden Tag sagt, dass sie duschen und auf jeden Fall mehrmals täglich Deo verwenden sollen und auch Zahnseide und sone Pflegeserie für ihn.

Aber irgendwie ist der Retriever dann doch irgendwie, naja, kuscheliger und so und man muss ihn nur ab&zu mal rauslassen und Futter geben und er passt ja auch besser zum Sofa und lecken kanner ja auch und wenn dann erst mal die Kinder da und aus dem Gröbsten raus sind, naja.

[Zeichnungen ©scherl]

[Lehrreiches: urban knitting]




Symbiose im lokalen Journalismus: Wenn Rentner sich empören, frohlocken Redakteure

Es gibt ein Genre im Journalismus, auf das offenbar zunehmend zurückgegriffen wird. Wir wollen es mal probehalber „Rentner-Aufreger“ nennen. Oder auch Senioren-Empörung. Gewiss, auch ich bin nicht mehr der Allerjüngste und habe ein Herz für ältere Mitbürger. Nun aber dies:

Im Zeichen der personellen Ausdünnung von Print-Redaktionen ist es nur folgerichtig, dass die Kolleg(inn)en im Lokalteil noch mehr als ehedem auf Thementipps aus der Bevölkerung angewiesen sind. Da trifft es sich im Sinne einer Symbiose, dass viele Senioren wie die Spürhunde auf Ärgernisse aus sind. Man denke nur: Es soll unter ihnen sogar einige Querulanten geben.

Polyglotte Briefkasten-Beschriftungen (Foto: BB)

Polyglotte Briefkasten-Beschriftungen (Foto: BB)

Jedenfalls scheint es so, als müssten diese Kameraden nur mal eben kurz in der Redaktion anrufen und ein wenig mosern – und schon eilt „ein Reporter“ (so nennen viele die Zeitungsleute allesamt) herbei, um sich alles „in den Block diktieren zu lassen“ (so hätten sie’s gern).

Bei akuter Personalnot lassen Redakteure so etwas dann gern auch mal ohne jede zusätzliche Recherche und ohne Gegenstimme laufen. Die andere Seite (Stadt, Firma, Institution etc.) kann sich ja in der nächsten Ausgabe immer noch äußern. Auf diese Weise hat man schon zwei Berichte zur selben Sache beisammen. Das füllt. Das räumt ganz prächtig. Und wieder einmal ist auf wundersame Weise genau so viel passiert, dass es exakt in die Zeitungsspalten passt.

...und noch ein paar Sprachen. (Foto: BB)

…und noch ein paar Sprachen. (Foto: BB)

Ich weiß nicht, wie es in anderen Landstrichen ausschaut. Jedenfalls finden sich auf den Stadtteilseiten einer gewissen Ruhrgebiets-Regionalzeitung (viele sind ja nicht mehr übrig) täglich (jawohl, tagtäglich!) die dürftigen Resultate, garniert mit den immergleichen, fast durchweg reichlich dilettantischen Fotos:

Rentner stehen mit vorwurfsvollem Blick und – je nach Temperament – dito Gesten vor oder neben Spuren und Anzeichen jenes Vorfalls, der sie aufbringt und der nun aber auch gefälligst die Leserschaft zur Weißglut bringen soll. Man wird wohl nicht fehlgehen, wenn man die überwiegende Mehrheit des Publikums solcher sublokalen Hervorbringungen in derselben Altersgruppe vermutet, wie die Beschwerdeführer.

Das schier unendliche Spektrum der Anlässe für Unmutsbekundungen reicht von der vermüllten Straßenecke über die angeblich vielfach missachtete Tempo-30-Zone bis zum Buschwerk, das den Bürgersteig überwuchert. Jüngst waren vermeintlich absurde Berechnungen für Grundstücksabgaben der Renner. Grundmuster: Rentner zeigt auf Stichstraße, die ihm zugerechnet wird und – nach seiner Ansicht – die Kosten unnötig in die Höhe treibt. Sie fühlen sich beinahe schon enteignet. Und werden pampig.

Unterdessen wähnt sich die Zeitung „ganz nah am Leser“. Hier deckt sie gnadenlos Missstände auf, am liebsten mit Stoßrichtung gegen die Bürokratie. Gewiss, da gibt es auch tatsächlich manchen Sachverhalt, über den man sich echauffieren könnte.

Auf Dauer bekommt man freilich den Eindruck, dass hier jede(r) – thematisch ziemlich ungefiltert – jeglichen Zorn öffentlich loswerden kann. Immerhin werden meist keine Wutausbrüche und Kraftworte gedruckt, wie sie im Internet längst üblich sind. Insofern fungieren Journalisten noch als „Gatekeeper“. Aber sonst stehen manche Tore sperrangelweit offen.




Die Unternehmer-Familie Quandt und ihr Bezug zum Ruhrgebiet

Vor einigen Tagen ist Johanna Quandt, eine der reichsten Frauen der Republik, gestorben. Die Familie lebt zwar im hessischen Bad Homburg und mehrt dort ihr Vermögen mit den BMW-Besitzanteilen, aber es gibt seit langer Zeit eine enge Beziehung zum Ruhrgebiet. In Hagen gehörte das Unternehmen Varta zum Quandt-Kerngeschäft, und in Ennepetal lebte Günther Quandt, Johannas Schwiegervater, bis zu seinem Tod im Winter 1954.

Der Unternehmer war eng mit dem NS-Regime verbunden – geschäftlich und privat. Der Nazi-Propagandaminister Joseph Goebbels hatte ihm seine hübsche und zuvor schon untreue Frau Magda ausgespannt, und als nach der Scheidung Ende 1931 die Hochzeit mit Goebbels anstand, wurde sogar auf Quandts Gut Severin in der Nähe von Parchim (Mecklenburg) gefeiert – mit Adolf Hitler als Trauzeugen und Quandts ältestem Sohn Harald (10) als „Blumenkind“ in SA-Uniform. Die Braut war jene Magda Goebbels, die 1945 ihre fünf Kinder ermordete und sich dann selbst tötete.

Die Stockey-Villa zu Günther Quandts Lebzeiten. (Bild: Stadtarchiv Ennepetal)

Die Stockey-Villa zu Günther Quandts Lebzeiten. (Bild: Stadtarchiv Ennepetal)

Günter Quandt wurde nach dem Krieg als nationalsozialistischer Mittäter von den Alliierten interniert, und als er 1948 frei kam, erwarb er in Ennepetal-Milspe eine Unternehmervilla von der Witwe Stockey als Wohnsitz für sich allein. Die Wahl fiel vermutlich auf diesen Standort, weil er nahe an der Varta-Zentrale in Hagen lag. Über Weihnachten 1954 unternahm Quandt eine Reise nach Ägypten, wo er am Tag vor Silvester starb.

Sein zweiter Sohn Herbert heiratete später die kürzlich verstorbene Johanna, die ihr Vermögen bereits vor ihrem Tod an die beiden Kinder Susanne Klatten und Stefan Quandt verschenkt hatte.

Zufälligerweise gibt es noch eine indirekte Verbindung nach Ennepetal: Günther Quandts erste Ehefrau Magda besuchte als junges Mädchen eine katholische Klosterschule in Vilvoorde bei Brüssel, bevor sie mit ihrer Familie nach Berlin zog, und diese Stadt Vilvoorde ist seit mehr als vier Jahrzehnten die belgische Partnerstadt von Ennepetal.

Quandts Villa ging nach seinem Tod von den Erben in den Besitz der Stadt Ennepetal über, die dort zeitweise ihr Bauamt einrichtete. Heute gehören Park und Villa einem privaten Investor.




„Wir optimieren uns zu Tode“ – eine großartige Rede zur Eröffnung der RuhrTriennale

Hyung-Chul Han

Byung-Chul Han (© S. Fischer Verlag)

Neben mir sitzt ein älteres Ehepaar, das sich pausenlos scharf in Streit befindet. Vorn umarmt die Kunst die Ministerriege. Es wirkt befremdlich in dieser Umgebung eines Stadtteils, dem in letzter Zeit der Ruf zuteilwurde, ein Salafisten-Nest zu sein.

Der Koreaner Byung-Chul Han ist Autor und Essayist sowie Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin. Er hält die großartige Rede zur Eröffnung der diesjährigen RuhrTriennale in Dinslakens ehemaliger Zeche Lohberg, gefolgt von einer Live-Talk-Show unter der Leitung von Bettina Böttinger. Festivalchef Johan Simons weist zur Begrüßung darauf hin, dass die RuhrTriennale auch ein Festival der Debatten sein werde. Man mutmaßt also eine große Lust des Publikums auf Thesen und Diskussionen.

Die Fähigkeit zum Fest verloren

Byung-Chul Han setzt einen starken Beginn, indem er das „Fest“ in den Mittelpunkt seiner Betrachtung stellt. „Ohne Fest haben keinen Bezug mehr zum Glück“, sagt er und stellt fest, dass die RuhrTriennale kein Fest ist, sondern ein Event. „Ein Fest betritt man wie einen Raum. Man verweilt. Die Zeit des Festes ist die Zeit, die nicht vergeht.“  Die Fähigkeit, Feste zu begehen, quasi erfunden von den Griechen, sei verloren gegangen. Es folgt die Beschreibung der Gesellschaft aus seiner Sicht. Er bedauert die Entpolitisierung der Kunst und der Politiker und selbst der Studenten. Es entstehe die Infantilisierung durch Smart-Phones. Die totale Infantilisierung führe zur totalen Macht des Kapitals und die Politik werde von der Ökonomie beherrscht. Großer Applaus. Ein seltsames Gefühl, seiner eigenen Unzulänglichkeit zu applaudieren.

Der Mann neben mir kommentiert: „Es ist Quatsch, was der sagt. Wir leben im 21. Jahrhundert.“ – „Halt endlich mal die Klappe“, erwidert seine Frau.

Der wohltuende Rundumschlag des Philosophen hat etwas Reinigendes, wirkt wie ein gewürzter Wind, der durch die Wirklichkeit fegt.

„Wir optimieren uns zu Tode“, sagt Han. „In diesem Zustand ist keine Revolution mehr möglich. Es herrscht die Hysterie der Gesundheit. Das Gesunde ist wie ein Zombie.“ Ich höre mich laut „Ja!“ denken.

Es folgt auf dem Podium eine Talkshow, bestehend aus Statements und Meinungen, wie wir sie aus den Fernsehtalkshows kennen. Zu Gast war auch der Vizebürgermeister Eyüp Yildiz, der im Vorfeld die Platzierung der RuhrTriennale in Lohberg kritisch kommentierte. Ob man denn die Bevölkerung mitnähme und was die Lohberger von der Kunst hätten. Mittlerweile sind alle im Gespräch.

Existenzberechtigung der Kunst

Der gesellschaftliche Hintergrund spielt naturgemäß immer mit, ob man will oder nicht. Man ist da, wo man ist, umgeben von Menschen und Problemen und wieder muss die Kunst ihre Existenzberechtigung erarbeiten, muss klarstellen, wozu sie nutze sei. Kunst kann etwas verändern. Das mutmaßen alle. Rainer Einenkel, ehemaliger Betriebsratsvorsitzender von Opel-Bochum, bestätigte dies. Die Aktionen, die zusammen mit dem Schauspielhaus in Bochum organisiert wurden, haben zu Zusammenhalt und Wertschätzung geführt.

Intervention auf Zeche Loberg

Intervention auf Zeche Lohberg

Vielleicht wäre es provokanter, an solchen Orten, wo das „Sub-Proletariat“ (ein Begriff, der immer wieder verwendet wird) seinen Ort hat, einen Sektempfang für die Kulturmenschen einzurichten, in angemessener Kleidung und Schnittchen, einem lyrischen Tenor lauschend, selbstverständlich zu hohen Eintrittspreisen. Das würde Diskussionen und Proteste hervorrufen, vielleicht mehr als eine Inszenierung, die sich im weitesten Sinne dem Thema Arbeit widmet. Die Kunst soll heute alles regeln, ob in Schulen oder im öffentlichen Raum.

Am kommenden Mittwoch (19.8. um 19.00 Uhr) zeigt die Triennale im „Reflektorium“ an der Jahrhunderthalle in Bochum einen Dokumentarfilm zu Byung-Chul Han: Der essayistische Film umkreist das Phänomen der Müdigkeit im Zeitalter des Neoliberalismus und die damit verbundenen Symptome wie Selbstausbeutung und Burnout.

Aus einem Interview in der ZEIT: „Politiker sind nur noch gefällige Handlanger des Systems. Sie reparieren da, wo das System ausfällt, und zwar im schönen Schein der Alternativlosigkeit. Die Politik muss aber eine Alternative anbieten. Sonst unterscheidet sie sich nicht von der Diktatur. Heute leben wir in einer Diktatur des Neoliberalismus.“

Mögen sich viele Gedanken während des Kunstfestes RuhrTriennale durch Debatten und künstlerische Genüsse entwickeln und in Erkenntnisse umsetzen.




Die Typen mit den bauchigen Taschen

Zu beklagen ist ein weit verbreitetes Phänomen unserer Tage, das sich in einem Gegenstand manifestiert. Gemeint ist die große blaue Ikea-Tasche (siehe die geknipste Formlosigkeit eines erschlafften Exemplars).

Diese dumpfen Leute haben schon so oft vor uns in der Schlange ihr Wesen getrieben. Sie rücken vorzugsweise mit besagter Tasche oder anderen XXL-Tüten an, die sie ungemein bau(s)chig vollgepfropft haben. Beispielsweise mit ca. 77 kleinen Pfandflaschen.

Da passen soooo viele Pfandflaschen hinein... (Foto: BB)

Da passen soooo viele Pfandflaschen hinein… (Foto: BB)

So stehen sie dann vor dir am Rückgabeautomaten und legen Flasche um Flasche ein, all der Wartenden nicht achtend. Nicht nur einer steht da vor uns, sondern einer nach dem anderen. Am allerliebsten zur ohnehin belebtesten Zeit. Es ist zum Ananas-auf-die-Theke-Hauen.

Es handelt sich wohlgemerkt nicht um die Bedürftigen, die das Pfandgeld etwa zum Leben und Überleben bräuchten. Nein, es sind mehrheitlich die, die für sich auch noch den letzten Cent herausholen wollen, obwohl sie schon alles Nötige haben. Diese wandelnden Anspruchshaltungen bedienen sich ungerührt der Welt ringsum. Sie nehmen sich eh alle Freiheiten; was ihre grundsätzliche Unzufriedenheit allerdings nicht mindert.

Die wohlstandsverwahrlosten Schnäppchenjäger also, jene Spezies des rücksichtslosen Selbstversorgertums. Mit ihrer ständigen, stets bauernschlau und doch unendlich dümmlich auf dem Sprung befindlichen Gelegenheiten-Nutzerei geht eine bestürzende Achtlosigkeit einher. Minimales Beispiel: Werden bestimmte Flaschensorten nicht vom Automaten akzeptiert, so nehmen sie sie keinesfalls wieder mit, sondern lassen sie einfach auf dem Boden liegen. Sollen doch mindere Knechtsgestalten das Zeug wegräumen. Mit dieser Haltung schlurfen sie durchs Dasein. Sollen wir sie schlurfen lassen?




Stipendium – zu spät: Bloke Modisane, ein südafrikanischer Autor in Dortmund

Unser Gastautor Heinrich Peuckmann über ein bewegendes Autorenschicksal – und ein weithin unbekanntes Seitenstück Dortmunder Literaturgeschichte:

Es ist eine Geschichte, die mich tief betroffen gemacht hat damals. Und ganz ist sie nie gewichen, denn wenn sie mir wieder einfällt, die Geschichte, ist sie wieder da, diese Betroffenheit. Ganz unvermittelt geschieht das, während einer Autofahrt zum Beispiel, während eines Spaziergangs, während der Wartezeit auf einen Bus oder eine Straßenbahn. Unauslöschlich haben sich die Bilder in mein Gedächtnis eingeprägt.

Die Geschichte begann mit einem Brief, den ich unerwartet erhielt. Ich war Vorsitzender des Schriftstellerverbandes in meiner Region, deshalb hatte der Schreiber mich als Adressaten ausgesucht.

Bloke Modisanes bekanntestes Buch "Blame me on History" (deutsch: "Weiß ist das Gesetz")

Bloke Modisanes bekanntestes Buch „Blame me on History“ (deutsch: „Weiß ist das Gesetz“)

„Lieber Heinrich Peuckmann“, schrieb er, „vor einigen Jahren habe ich William Bloke Modisane, einen farbigen Südafrikaner kennen gelernt. Bloke ist 62 Jahre alt, hat als oppositioneller Journalist in Südafrika einiges erdulden müssen, unter anderem auch Folter, und ist nach Flucht und längerem Aufenthalt in London, wo er Hörspiele für die BBC geschrieben hat, schließlich in Dortmund gelandet. Seine jetzige Situation ist, gelinde gesagt, ´ziemlich beschissen´: Scheidung im Dezember 84, kein Geld, Asthma-Anfälle, die er sich mit Cortison wegspritzen lässt, eine Hüftoperation, deren Wunde nicht zuheilen will usw. Das Unangenehmste aber ist, dass er in Dortmund kaum jemanden kennt und mit Sicherheit niemanden, mit dem er sich als Schriftsteller austauschen kann. Meine Bitte: Ist es möglich, ihn mal zu einem Treffen des Dortmunder Schriftstellerverbandes einzuladen und so einen Kontakt zu knüpfen zu einem Mann, bei dem sich praktische Solidarität mit einem Verfolgten des Apartheidregimes üben lässt?“

Einladung des Schriftstellerverbands

Der Absender war ein bekannter Dramatiker, dessen Drama „Das Totenfloß“ gerade auf vielen Bühnen in Deutschland gespielt wurde. In der Zeit der Nachrüstung zeigte es die beklemmende Vision einer Gruppe von Menschen, die sich nach dem alles vernichtenden Atomschlag rheinaufwärts zum Meer retten will.

Ein verfolgter südafrikanischer Schriftsteller in meiner direkten Nähe? Ich war überrascht, schließlich hatte ich geglaubt, die literarische Szene in meinem Umfeld zu kennen. Ich wählte noch am selben Morgen die angegebene Telefonnummer und tatsächlich meldete sich eine dunkle, leicht heisere Stimme, die in gebrochenem Deutsch sprach: Bloke Modisane, mit dem mich in den folgenden Monaten eine kurze, aber tiefe Freundschaft verbinden sollte.

Ich lud ihn zur nächsten Sitzung der Dortmunder Schriftsteller ein, beschrieb ihm den Weg dorthin und spürte, wie überrascht, aber auch erfreut er über meinen Anruf war. Wir hatten nichts über ihn gewusst und er nichts über uns. Er versprach zu kommen, zwei-, dreimal wiederholte er es, und ich bat ihn, dann ganz offen mit uns über seine Situation zu sprechen und natürlich auch, uns etwas über die südafrikanische Literatur zu erzählen. Wir würden uns freuen, ihn kennen zu lernen, sagte ich, und wir würden ihm gerne bei dieser oder jener Beschwernis helfen.

Beschwernis, das war so ein leichthin gesprochenes Wort. Wir sollten bald feststellen, welche handfesten Probleme Bloke Modisane hatte.

Lockerer Scherz über Asthma

Tatsächlich waren alle Autorenfreunde gespannt, ihn kennen zu lernen, als ich zu Beginn der nächsten Sitzung von Bloke erzählte. Aber er kam nicht. Ein paar Tage später rief ich ihn wieder an. Nein, nein, sagte er, er hätte den Termin nicht vergessen, aber er hätte beim besten Willen nicht kommen können. Er hätte einen seiner Asthmaanfälle erlitten und es sei ihm unmöglich gewesen, die Wohnung zu verlassen. Aber beim nächsten Mal, das verspreche er hoch und heilig, würde er garantiert kommen. Da gäbe es nur zwei Möglichkeiten. Entweder, er sei bis dahin an einem Asthmaanfall erstickt oder er würde pünktlich erscheinen. Wir lachten, als sei es ein locker dahin gesprochener Scherz.

Tatsächlich kam zur nächsten Sitzung ein etwas korpulenter Schwarzer mit schaukelndem Gang, was, wie ich aus dem Brief wusste, an der Hüftoperation liegen musste. Er erzählte uns von seiner Literatur, vor allem von seinem wichtigsten Werk, dem autobiographischen Werk „Weiß ist das Gesetz“, das 1964 auch in Deutschland erschienen, aber schon lange vergriffen war.

Brutale Apartheid

Er schildere darin die Brutalität des rassistischen Apartheidregimes Anfang der sechziger Jahre. Es sei eine Zeit voller Gewalt gewesen, erzählte er, in der zwei Freunde der jugendlichen Hauptperson sterben, der Vater bei einem Kampf getötet wird und der Jugendliche schrittweise, vor allem aber blutig eine Überlebensstrategie lernt. Gebannt hörten wir zu.

Über seine eigene Verfolgung sprach er nur zögernd und in Andeutungen, die Foltern, die er während seiner Verhaftungen durch die Polizei erlitten hatte, erwähnte er mit keinem Wort. Wir spürten, wie tief ihn das damalige Unrechtsregime in Kapstadt verletzt hatte, wie verwundet er noch nach vielen Jahren war. Es war diese Mischung aus Bescheidenheit und verletztem Stolz, die bedrückend auf uns wirkte und die ihn für uns einnahm.

Ich besorgte mir Literatur über Südafrika und fand in einem Buch von Breyten Breytenbach eine Spur von Bloke Modisane. Breytenbach rechnete ihn darin der Generation der fünfziger und sechziger Jahre zu, die die Rastlosigkeit und den Rhythmus des Stadtlebens in ihre Literatur aufgenommen habe und sich in ihren, von süßer Bitterkeit durchzogenen Werken oft der Mittel des Enthüllungsjournalismus bedient hätte.

Was Breytenbach von Gordimer unterscheidet

Über Breyten Breytenbach erzählte uns Bloke Modisane auch etwas während einer späteren Sitzung. Er verglich ihn mit der südafrikanischen Nobelpreisträgerin Nadine Gordimer und meinte, dass beide als Weiße gegen das Apartheidregime seien, Breytenbach aber „schwarz“ denke, während Gordimer die Probleme des südafrikanischen Gesellschaft aus weißer Sicht darstelle. Nadine Gordimer bekam damals gerade einen großen Literaturpreis in Dortmund und wir sorgten dafür, dass Bloke an der Verleihung teilnehmen konnte.

Die Hörspielhonorare, die Bloke durch die Arbeit seines Übersetzers, des Dramatikers, bekam, reichten hinten und vorne nicht. Irgendwann erzählte er mir, dass der WDR ein Hörspiel von ihm abgelehnt hätte, sich dann aber, als der NDR es schließlich produzierte, anschloss. Er hätte das Geld schon viel früher gebrauchen können, sagte er. „Warum tun die das?“, fragte er mich dann. „Warum lehnen die ein Hörspiel von mir ab, um sich dann über den NDR daran zu beteiligen?“

Ich wusste es nicht, es konnten nur finanzielle Gründe gewesen sein. Wahrscheinlich sparten sie bei der Übernahme an Geld. Geld, das Bloke dringend hätte gebrauchen können.

Kein Geld für die Stromrechnung

Wir bemühten uns um Lesungen für ihn, was aber, seiner unzureichenden Deutschkenntnisse wegen, schwierig war. Als ich Bloke eines Abends anrief, erzählte er mir, dass morgen ein Mann von den Vereinigten Elektrizitätswerken komme, um ihm den Strom abzuschalten, wenn er nicht 50 Mark anzahlen könne. Die VEW sei ihm schon entgegen gekommen, sagte er, denn er hätte bei ihnen eine offene Rechnung von über 300 Mark, aber er hätte die 50 Mark Anzahlung eben nicht. Ich streckte 50 Mark aus unserer Verbandskasse vor, steckte sie in einen Briefumschlag, fuhr in die Stadt, bat Freunde, die ich zufällig traf, ebenfalls etwas zu spenden, beteiligte mich auch selbst daran und brachte den Brief zur Hauptpost. Für ein paar Wochen war die Gefahr abgewendet.

Mein Schriftstellerkollege und Freund Gerd ergänzte unsere Bemühungen, bemühte sich unter Mithilfe des nordrheinwestfälischen Kultusministeriums um ein Stipendium für Bloke und tatsächlich haben in diesem Falle alle Institutionen reibungslos und schnell gearbeitet. Schon ein paar Wochen später wurde uns mitgeteilt, dass Bloke ein monatliches Stipendium in ausreichender Höhe von der Friedrich-Ebert-Stiftung bekommen sollte, zuerst einmal für ein Jahr, aber bei rechtzeitigem Antrag auf Verlängerung würde es keine Schwierigkeiten geben.

Wir freuten uns wie die Kinder, und ich weiß noch, dass ich die gute Nachricht bei der nächsten Sitzung unseres Schriftstellerverbands, zu der Bloke nun immer kam, wenn es ihm seine Gesundheit nur eben erlaubte, so lange wie möglich hinauszögerte. Einfach, weil das Gefühl so schön war, gleich, in ein paar Minuten, ihm eine so schöne Mitteilung machen zu können. Bloke strahlte, als ich es ihm sagte.

Endlich, endlich etwas erreicht

Ich weiß noch, wie wir uns nach dem Ende der Veranstaltung vor der Gaststätte verabschiedeten, wie Bloke mir die Hand gab und versprach, beim nächsten Mal wieder dabei zu sein, wie er mit leicht schaukelndem Gang die Straße hinauf zur Straßenbahnhaltestelle ging, um von dort nach Hause zu fahren. Wie uns das gute Gefühl auch während der Heimfahrt nicht verließ, endlich, endlich etwas für ihn erreicht zu haben. Es war ein Dienstagabend, wie immer bei unseren Treffen.

Am Donnerstagmorgen rief Gerd mich dann an und teilte mir die Nachricht mit, die mich traf wie ein Keulenschlag. Bloke Modisane war gestorben. Er war einen Tag nach unserem letzten Treffen an einem Asthmaanfall erstickt, allein in seiner Wohnung. Ich habe das lange nicht akzeptieren wollen, ich habe auch lange nicht darüber sprechen können. Es hatte doch alles geklappt, er hätte doch endlich in Ruhe schreiben können, unser südafrikanischer Dortmunder Freund Bloke Modisane.

Stattdessen saßen wir an einem bitterkalten Märztag 1986 in der Trauerhalle eines kleinen Friedhofs in der Nähe der Hohensyburg. Ein etwa zehnjähriger Junge, Bloke Modisanes Sohn aus der geschiedenen Ehe, stellte sich neben den Sarg und spielte ein unendlich trauriges Lied auf seiner Blockflöte. Als Sprecher des Schriftstellerverbands hielt ich eine kleine Rede, schilderte die kurze Zeit unserer Zusammenarbeit, versprach, im Rahmen unserer Möglichkeiten auf das literarische Werk von Bloke hinzuweisen und gab der Hoffnung Ausdruck, dass seine Literatur, kurz bevor wir seinen Leichnam in Dortmunder Erde versenkten, zurückkehren möge in ein freies Südafrika.

Beisetzung in bitterer Kälte

Zusammen mit dem Dramatiker, der uns auf Bloke aufmerksam gemacht hatte, und meinen Freunden Gerd und Kurt, dem Leiter des Dortmunder Kulturbüros, haben wir Blokes Sarg zum Grab getragen. Ein bitterer Gang bei minus 15 Grad. Jahre später erzählte mir mein Freund und Autorenkollege Horst, dass er einen Spielfilm im Fernsehen gesehen hätte. In dem Film sei ein weißer Söldner in ein afrikanisches Land gereist, um dort aufzuräumen, um seine Vorstellungen von Recht und Gesetz durchzusetzen: „Weiß ist das Gesetz“. Bei seinen Fahrten durch das Land hatte er einen schwarzen Fahrer dabei und der sei ihm sofort bekannt vorgekommen. Die niederschmetternden Erlebnisse, vor allem aber die Erklärungen seines Fahrers hätten bei dem Söldner mit der Zeit einen Sinneswandel bewirkt und am Ende sei so etwas wie Freundschaft zwischen ihnen entstanden. Der Söldner starb und sein Fahrer, der niemand anderer war als Bloke Modisane, hat ihn begraben. Das hatte er also auch gemacht, unser südafrikanischer Freund, er war Schauspieler gewesen.

1992 fand ich in der „Zeit“ einen Aufsatz von Nadine Gordimer, in der sie das Ende der Apartheid in Südafrika begrüßte, aber gleichzeitig darauf hinwies, wie viele Opfer unter Schriftstellern das menschenverachtende System verlangt hatte. Ganz konkret fragte sie dann, was aus einzelnen Schriftstellern geworden sei und erwähnte dabei auch Bloke Modisane.

Ich besorgte mir ihre Adresse und schrieb ihr einen langen Brief, in der ich ihr das Ende von Bloke schilderte. Das Manuskript einer Rundfunksendung, die ich inzwischen über Bloke gemacht hatte, legte ich bei.

Wochen später erreichte mich ihr Brief: „Dear Heinrich Peuckmann. Many thanks for sending me details about Bloke`s life abroad and his ironically sad sudden death, just when you had succeeded in obtaining a grant for him. The information in your letter will go into the archive of the Congress of South African Writers and will be valued there. As you rightly say, Bloke`s fight was that of all fellow South Africans who want to see justice and freedom in our country.”

Keine Zeile in der Lokalpresse

Als die Informationen über Blokes Leben und Tod in Dortmund nach Südafrika gelangt waren, als sein Buch “Weiß ist das Gesetz” (Original „Blame me on History“) dort wieder aufgelegt worden war, hatte sich für mich ein Kreislauf geschlossen, der mich zwar beruhigte, doch die Wunden rissen trotzdem noch einmal auf, zwei Jahrzehnte später.

Da war ich mit einem Dortmunder Kulturredakteur noch einmal zu Blokes Grab gefahren. Ich habe es ohne langes Suchen gefunden, die Erinnerungen an den Tag der Beerdigung waren nicht verblasst. Wir haben ein Foto gemacht, ich am Grab von Bloke. Der Kulturredakteur hat einen schönen Erinnerungsbericht über ihn geschrieben, der aber niemals erschienen ist. Der Lokalchef hat ihn im letzten Moment gekippt. Er war ihm nicht interessant genug.




Integration (nicht nur) auf dem Rasen – Fußball war im Ruhrgebiet stets eine verbindende Kraft

Der folgende Beitrag macht klar, warum Fußball gerade im Ruhrgebiet so ungemein wichtig ist. Ein Text unseres Gastautors Heinrich Peuckmann, Schriftsteller aus Bergkamen:

Wenn Borussia Dortmund gegen Schalke 04 spielt, steht das halbe Ruhrgebiet Kopf. Unglaubliche Emotionen werden frei, bei den Verlierern fließen Tränen, bei den Siegern brechen Jubelstürme aus. Kaum jemand, der das Revier nicht kennt, versteht, warum der Fußballsport hier eine so große Bedeutung hat. Man muss ein Stück in die Geschichte des Ruhrgebiets zurückgehen, um einleuchtende Erklärungen zu finden.

Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war das Ruhrgebiet eine eher verschlafene Region, die Städte waren klein, Landwirtschaft und bescheidener Handel entlang des Hellwegs prägten das Leben der Menschen. Dann setzte mit Macht und ungeheurem Tempo die Industrialisierung ein, Kohle und Stahl bestimmten für über 100 Jahre die Arbeitswelt. Und dafür mussten Arbeitskräfte angelockt werden, nicht ein paar, sondern gleich Hunderttausende.

Wäre 1955 fast ins Finale um die Deutsche Meisterschaft vorgedrungen: die Herner Vorort-Mannschaft des SV Sodingen.

Wäre 1955 fast ins Finale um die Deutsche Meisterschaft vorgedrungen: die Herner Vorort-Mannschaft des SV Sodingen.

Innerhalb weniger Jahre schwollen die Städte zwischen Ruhr und Lippe, Dortmund, Bochum, Essen und Duisburg zu Großstädten an. Aus Süddeutschland kamen Zuwanderer (bis heute gibt es im Ruhrgebiet „Bayern- oder Alpenvereine“, bei deren Festen tatsächlich in Lederhosen getanzt wird), aus Schlesien und Ostpreußen. Im Ruhrgebiet war man traditionell protestantisch, nun kamen viele Katholiken hinzu, etwas, was damals von großer Bedeutung war. Die Neuen sprachen anders, sie hatten auch andere Namen: Szepan, Konopczinski, Tilkowski, Nowak… Die „Pollacken“ nannte man sie damals durchaus abfällig im Revier.

Wie deutlich zwischen den Menschen, aber auch den Schichten unterschieden wurde, kann man bis heute an einer Gastwirtschaft in der kleinen Gemeinde Bönen ablesen. Bei „Timmering“ gab es rechts einen Eingang für die Steiger der Zeche und für ihre Frauen, die beide einen eigenen Raum in der Wirtschaft hatten. Den Haupteingang, zwei kleine Steintreppen hoch, nahmen die Bergleute, aber links gab es noch einen dritten Eingang. Der war für die Zuwanderer bestimmt, für die „Pollacken“ eben, mit denen sich die Einheimischen lange Zeit nicht gemein machen wollten. Im Keller befanden übrigens die Umkleidekabinen für den Fußballverein VfL Altenbögge, und weil der kurz nach dem Krieg in der obersten Liga spielte, haben sich dort alle großen Stars von Schalke, Westfalia Herne und Borussia Dortmund irgendwann mal umgezogen. Die Sitzbänke stehen noch da, man sollte sie unter Denkmalschutz stellen.

Das Trennende zwischen den Menschen wog also schwer, umso wichtiger wurde daher das, was sie verband. Und das war vor allem der Fußball. Dieser oder jener war zwar ein „Pollacke“ und katholisch war er auch noch, aber er schwärmte wie seine Arbeitskollegen von der Zeche für Hamborn 07 oder den SV Sodingen. Also gab es Berührungspunkte, also kam man sich näher.

Es waren damals noch nicht die Großvereine, sondern kleine Vereine in jeder Stadt, sogar in jedem Stadtteil, die die Menschen, über alle Unterschiede hinweg, zusammenführten. Und erfolgreich waren diese Vereine noch dazu. Der SV Sodingen zum Beispiel im Vorort von Herne hatte sein Stadion auf dem Gelände der Zeche „Mont Cenis“ und mit der Schließung dieser Zeche begann auch sein Abstieg.

1955 aber wäre der SV Sodingen beinahe in das Endspiel um die deutsche Meisterschaft vorgedrungen, das dann mit hauchdünnem Vorsprung der 1. FC Kaiserslautern mit seinen Weltmeistern Fritz und Ottmar Walter erreichte. In dieser Zechenmannschaft spielten gleich mehrere Nationalspieler und wenn man ihre Namen aufzählt, merkt man, woher sie stammten: Sawitzki, Adamek, Konopczinski (B-Nationalmannschaft), Cieslarczyk. Aber auch Nationalspieler wie Jupp Marx oder Gerd Harpers standen in den Reihen des SV. Die Namen verraten, hier fand eine funktionierende Integration statt, die eben nicht auf das Spielfeld beschränkt blieb, sondern sich auf die Zuschauerränge und damit in der Folge auch auf den Arbeitsplatz übertrug.

„Hännes“ (Johann) Adamek, echter polnischer Landadel, war damals bei allen so berühmt, dass irgendwann der katholische Priester bei einer Predigt die Sodinger als gottloses Volk beschimpfte. Sie würden niemals von Gott reden, beklagte er, sondern immer nur von „Hännes“ Adamek. Wie sehr darin Religiöses mitschwang, nämlich das grundsätzliche Einverständnis mit dem Mitmenschen, egal von welcher Herkunft, hat er nicht kapiert. Wie weit diese Zuwanderung damals ging, belegt eine Geschichte, die gerne im Ruhrgebiet kolportiert wird. Als die Schalker Mannschaft mal zu einem Gastspiel nach Polen fuhr, fragte der dortige Fußballverein an, wie viele Zimmer man denn im Hotel reservieren solle. Die Antwort war ganz einfach: „Eines für den Trainer, die Spieler schlafen bei ihren Verwandten.“

Der Zusammenhalt im Schmelztiegel Ruhrgebiet ist also mit der Zeit gewachsen, der Fußball als Sozialkitt hat einen erheblichen Teil dazu beigetragen. Im Grunde waren Solidarität und Hilfsbereitschaft sowieso existentiell nötig, denn die Arbeit unter Tage war gefährlich. Jeden Tag konnte die Situation eintreten, dass ein Bergmann in Gefahr, oft genug in Lebensgefahr geriet. Da musste man sich auf den Kumpel (auch so ein Wort, das Verbundenheit ausdrückt) verlassen können. Da spielte es keine Rolle, ob evangelisch oder katholisch, ob „Pollacke“ oder nicht.

Aber ist das nicht alles Geschichte? Wirkt das tatsächlich bis heute nach?

Dazu ein Beispiel aus jüngster Zeit. Der Düsseldorfer Bürgermeister Elbers machte sich noch im Juni diesen Jahres über das Ruhrgebiet lustig. Dort, urteilte er, wolle er nicht tot über dem Zaun hängen. Dann kam das schwere Unwetter und in Düsseldorf brach der Notstand aus. Die Bäume ganzer Straßenzüge wurden umgeweht. Und wer half? Die Feuerwehren aus dem Ruhrgebiet. Ganz selbstverständlich, ohne Häme. „Hört mal, der Bürgermeister hat uns doch lauthals beschimpft!“ „Egal, die kannst du doch nicht im Stich lassen, wenn sie in Not sind.“ Genau, Solidarität ist etwas, das man im Ruhrgebiet mit der Muttermilch eingeflößt bekommt. Den Rest erledigten die Düsseldorfer selber und wählten Herrn Elbers ab. Klar, das Mitleid hielt sich in Dortmund und Umgebung in Grenzen.

Hans Tilkowski, ehemaliger Nationaltorhüter, berühmt geworden durch das Wembley-Tor von 1966, dessen Vater ebenfalls Bergmann war, spricht gerne vom Wir-Gefühl. Das muss die Menschen untereinander prägen, egal ob in einer Fußballmannschaft oder sonst wo. Sein Vater hat es, als er für drei Tage verschüttet wurde, auf der Zeche erlebt; sein Sohn Hans in den Mannschaften, in denen er gespielt hat.

Und wie ist es heute mit den türkischstämmigen Mitbürgern? Fragt man die Jungen nach ihrem Lieblingsverein, bekommt man oft zwei Antworten. Einmal nennen sie einen Istanbuler Verein, Besiktas, Galatasaray, Fenerbahce, dazu kommen dann Schalke oder Borussia. Eine symbolträchtige Antwort, die viel über die Integration aussagt. Ganz geglückt ist sie noch nicht, aber immerhin, ein Stückchen ist geschafft. Und sie läuft weiter.

Inzwischen nutzt auch der DFB die integrierende Kraft des Fußballs und sendet zum Beispiel Spots, in denen der Vater von Boateng, die Mutter von Özil und andere Spielereltern zusammen grillen und ihr Zusammensein dann unterbrechen, um das Spiel ihrer Kinder zu sehen. Das Ruhrgebiet hätte dabei Pate stehen können.

Der Fußball errichtet Symbole, Leuchttürme in dieser Welt. Im Ruhrgebiet weiß man, wie viel der Fußball als so ein Leuchtturm bewirken kann.




Gesammelte Totenzettel

Unsere Mutter ist jetzt schon seit vielen Jahren tot, und als wir uns kürzlich während eines unserer Besuche bei der Schwester an die gemeinsame Kindheit erinnerten, kramten wir etwas wehmütig in der Kiste mit Erinnerungen an die Mutter. Zu den Sammelstücken gehört auch ein Kästchen mit Totenbriefen, die sie bei Beerdigungen erhalten und aufbewahrt hatte. Das ist wohl etwas sehr Katholisches.

Beisetzungen in katholischen Gemeinden beginnen fast immer mit einem Gottesdienst in der Kirche, und bevor man gemeinsam zum meist nahen Friedhof zieht, bekommen alle Teilnehmer am Kirchenausgang den sogenannten „Totenbrief“ in die Hand gedrückt. Dieses Blättchen ist etwas größer als DIN A 7 – damit es später als Lesezeichen ins Gesangbuch passt – und enthält neben einem Bibelspruch und dem Kreuz den Namen und die Lebensdaten des oder der Verstorbenen, manchmal auch den Geburts- und den Sterbeort, und in späteren Jahren auch den Namen der Druckerei.

Eine katholische Beerdigung in den 60er Jahren. (Foto: Pöpsel)

Eine katholische Beerdigung in den 60er Jahren. (Foto: Pöpsel)

Aus der großen Zahl der gesammelten Zettel kann man sehen, dass unsere Mutter zu Lebzeiten eine ungewöhnlich hohe Anzahl von Trauergottesdiensten besucht haben muss. Sie war eben sehr gläubig und ging auch zu Beisetzungen von Menschen, die sie nur oberflächlich kannte. Der älteste Nachweis in dem Konvolut stammt aus dem April 1963, nämlich von der Beisetzung ihrer eigenen Mutter, und der jüngste Zettel datiert vom 3. Juli 1996.

Natürlich finden sich in der Sammlung auch die Blättchen zur Beisetzung ihres Mannes – unseres Vaters – und zahlreicher anderer Verwandter, so dass sich allein während des Blätterns im Zettelkasten eine Summe von Erinnerungen einstellen konnte. Vielleicht ist das ja der eigentliche Zweck dieser Totenzettel, dass die Verstorbenen nicht so schnell vergessen werden.

Etwas befremdlich wirken auf uns heute manche Formulierungen, zum Beispiel zum Tode eines achtjährigen Mädchens, das „der göttliche Kinderfreund nach langer Krankheit zu sich in die Schar seiner Engel holte“. Katholisch eben.

Übrigens lautet der am häufigsten verwendete Bibelspruch „Herr, Dein Wille geschehe!“ Und wenn ein Bild hinzugenommen wurde, dann waren es fast immer die betenden Hände des Herrn Dürer.




Bist du denn nicht „äußerst zufrieden“?

In letzter Zeit hatte ich es mal wieder öfter mit Hotlines zu tun. Keine Angst, es folgt nicht der 245. Beitrag über allfälligen Ärger mit Callcentern, sondern eine relativ neue Spezialität bei der Telekom.

Achtet mal drauf: Wenn ihr die Telekom-Hotline anruft (nach rund 15 Minuten besteht schon die Chance, auf ein offenkundig menschliches Wesen zu treffen), werden die Mitarbeiter früher oder später das Wort „äußerst“ aussprechen.

Warum dies?

Einer bedeutete mir unverblümt, wenn ich nachträglich zu unserem Gespräch befragt werden sollte, dann möge ich doch sagen, ich sei mit der Beratung „äußerst zufrieden“ gewesen. Das entspreche der „1“ in der Schule. Ich sei doch sehr, sehr zufrieden, oder? Sozusagen äußerst zufrieden. Na, also.

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Beim nächsten Anruf – ganz anderes Thema, ganz anderer Mitarbeiter – tauchte das Wort zwischendurch erneut auf. Offenbar werden die Gespräche gescannt und auf dieses Wort hin gleichsam abgehört.

Heute fiel der Ausdruck abermals. Ich sei doch sicherlich „äußerst zufrieden“, suggerierte mir eine Mitarbeiterin nach erfolgter Beratung. Soll man das nun als Chuzpe werten oder als entwürdigendes Betteln um vollmundige Anerkennung? Beides wäre betrüblich. Und beides würde einiges über unsere Arbeitswelt verraten.

Ziemlich nahe liegende Schlussfolgerung: Bei der Telekom bzw. den Callcentern in ihren Diensten scheint es rasch wechselnde Hitlisten zu geben. Wer vermag die meisten Kunden auf sich einzuschwören, die „äußerst“ zufrieden sind? Sie wünschen einem dermaßen penetrant Glück und Erfolg auf allen Wegen, dass die nackte Angst spürbar wird. Wehe, wenn der Kunde sich beschwert. Und wehe, wenn man dieses lächerliche Stückchen Macht ausnutzen wollte! Es sei denn, da wären wirkliche Dilettanten am Werk gewesen.

Da dürfte es Auf- und Absteiger geben wie nur je im Sport. Rüffel für die schlecht Platzierten. Vorläufige Lobhudelei für die besser Gestellten. Prämien und Abzüge. Doch in der nächsten und übernächsten Woche wird neu abgerechnet. Und immerfort. Und für und für. Nie kann man sicher sein. Ist der da drüben nicht mein besonderer Feind?

Es gibt längst ein prägnantes Wort für die Gesellschaftsordnung, die derlei ruinösen Wettbewerb begünstigt. Mir fällt’s grad nicht ein. Helft ihr mir weiter?




Ohne Wachstum und gewaltfrei leben: „Das konvivialistische Manifest“

Eine neue Zeit der Manifeste scheint gekommen. Nach Stéphane Hessels manifestartigem Pamphlet „Empört Euch!“ und dem „Akzelerationistischen Manifest“ erschien im September 2014 in deutscher Übersetzung „Das konvivialistische Manifest“, das inzwischen mehr als 2.500 Unterzeichner gefunden hat.

Seit Ivan Illichs Veröffentlichung von „Tools of Conviviality“ (dt.: „Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik“, 1975) ist Konvivialität im politisch/soziologischen Diskurs – mehr noch im anglo- und frankophonen Bereich als in Deutschland – ein fester Begriff. Ein Jahr vor Illichs Erstpublikation des Buchs in den USA (1973) war der Bericht für den Club of Rome, „Die Grenzen des Wachstums“, erschienen, der seitdem in mehreren Neuauflagen aktualisiert worden ist, dessen Einschätzungen und implizite Warnungen bis heute jedoch nichts an Dringlichkeit eingebüßt haben.

Cover Konvivialistisches Manifest

Ausgehend von einem Kolloquium in Tokio im Jahr 2010 veröffentlichten 64 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlichster politischer und religiöser Überzeugungen unter dem kollektiven Autorennamen „Les Convivialistes“ das konvivialistische Manifest, das die wesentlichen globalen Herausforderungen benennt und Chancen aufzeigt, wie ein gewaltfreies Zusammenleben unter gleichzeitiger Schonung der Ressourcen unseres Planeten möglich sein könnte.

Der Markt dringt in jeden Winkel vor

Konstatiert wird, was nicht zu übersehen ist, ein Vordringen ökonomischen Denkens in Bereiche, die noch bis in die 1970er-Jahre weitgehend frei von marktwirtschaftlichen Ansprüchen waren. „Benchmarking und ständiges reporting werden nun zu den Grundwerkzeugen des lean management und der Verwaltung durch Stress.“ (S. 55) Veränderungen im Gesundheitswesen, Hochschulranking, Stadtmarketing, effizienteres Kulturmanagement – jedem Leser und jeder Leserin wird zu diesen Stichworten eine Vielzahl von Beispielen einfallen. Das Manifest begnügt sich zusammenfassend mit dem Hinweis auf ein „Neomanagement“, das nicht nur in den Wirtschaftsunternehmen ausartet, sondern auch den öffentlichen Sektor erfasst, bis der Markt auch den letzten noch unterkapitalisierten Winkel unserer Freizeit besetzt hat.

„Es gibt keine erwiesene Korrelation zwischen monetärem oder materiellem Reichtum einerseits und Glück oder Wohlergehen andererseits“, schreiben die Autor(inn)en (S. 68). Statt einer Verkürzung der Arbeitszeit durch technischen Fortschritt, wie sie John Maynard Keynes um 1930 voraussagte, erhöht die Automatisierung den Arbeitsdruck. Psychische Defekte wie Depression und Burnout gehen mit diesen Entwicklungen einher.

Die Standard-Wirtschaftswissenschaft gelte es in ihre Schranken zu verweisen. Von den Autoren des Manifests ist es vor allem der Ökonom Serge Latouche, der in den letzten Jahren mit Überlegungen zu einer möglichen Wachstumsrücknahme an die Öffentlichkeit getreten ist. „Degrowth“ im Englischen, bzw. „décroissance“ als das französische Äquivalent und, da der Glaube an Wachstum als eine Quasi-Religion angesehen werden kann, spricht Latouche analog zum Atheismus, auch von „acroissance“.

Selbstverständlich müssen für die weit und die weniger weit entwickelten Länder unterschiedliche Maßstäbe angelegt werden, will man die nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Flüchtlingsfrage stets beteuerten Politikerfloskeln, die Situation in den Herkunftsländern der Flüchtlinge verbessern zu müssen, beim Wort nehmen und einen wirtschaftlichen Ausgleich anstreben.

Die Maßlosigkeit bekämpfen

„Das Niveau des weltweit universalierbaren materiellen Wohlstands entspricht annähernd demjenigen der reichsten Länder um das Jahr 1970, vorausgesetzt, man erreicht es mit den heutigen Produktionstechniken.“ (S. 67) Das würde nicht nur Selbstbegrenzung in den Industrienationen erfordern, sondern eine Neudefinition der Ziele. Vom wirtschaftlichen Wachstum ist nicht nur keine Rettung zu erwarten; es führt geradewegs in den Untergang. Einfacher Wohlstand, der mit einem Konzept vom „guten Leben“ einhergeht, wird von den Konvivialisten anvisiert. Dazu müssen die der Zocker-Mentalität der Spekulanten eigene, zerstörerische Maßlosigkeit und die Auswüchse der Finanzwirtschaft bekämpft werden. Die Autor(inn)en setzen sich nicht nur für ein Mindesteinkommen, sondern auch für ein Höchsteinkommen ein.

Alternative Formen von Ökonomie sieht Alain Caillé, einer der maßgeblichen Initiatoren des konvivialistischen Manifests, in der „Schenkökonomie“, wie der französische Soziologe/Ethnologe Marcel Mauss sie in seiner Schrift „Die Gabe“ unter anderem am Beispiel des indianischen Potlatsch und des melanesischen Kula beschreibt.

Sicherlich ließen sich einem modernen Mitteleuropäer oder Nordamerikaner archaische Vorstellungen von der Beseeltheit und dem Eigenwillen von Dingen, etwa Geschenken, oder die unter Drohung von Ehr- und Gesichtsverlust unbedingte Verpflichtung des Beschenkten zur Gegengabe schlecht vermitteln und taugen kaum als Modelle zur Rettung der Welt. Doch lesen sich manche Gedanken aus dem 1925 veröffentlichten Werk erstaunlich aktuell. „Und wir müssen ein Mittel finden, um die Einkünfte aus Spekulationen und Wucher einzuschränken. Nichtsdestoweniger muss das Individuum arbeiten. Es muss veranlasst werden, mehr auf sich selbst zu bauen als auf andere. Andererseits muss es sowohl seine Gruppeninteressen wie seine persönlichen Interessen verteidigen. Allzuviel Großzügigkeit und Kommunismus wäre ihm und der Gesellschaft ebenso abträglich wie Selbstsucht unserer Zeitgenossen und der Individualismus unserer Gesetze“, schreibt Marcel Mauss.

Aufwertung des Unentgeltlichen

Die Verfasser(innen) des Manifests weisen in diesem Zusammenhang auf zahlreiche bereits praktizierte unentgeltliche Aktivitäten hin – Fair Trade, Open-source-Projekte, Ehrenämter, Non-Profit-Organisationen, digitale Netze als Gemeineigentum oder das Konzept einer „Weltzivilgesellschaft“. Das sind keine neuen Erfindungen, doch scheint in einer durchökonomisierten Welt das Bedürfnis gestiegen, auf den unentgeltlichen Dienst am Mitmenschen besonders hinzuweisen.

Der homo oeconomicus, wie die Wirtschaft ihn sich vorstellt, kenne nur „äußerliche Motivationen“ – Streben nach Gewinn und hierarchischem Aufstieg. In diesem System, folgern die Autorinnen und Autoren, wird sich jegliche intrinsische Motivation – Arbeit, die ihren Wert in sich selbst hat, Freude an gutem Handwerk, Drang nach sinnvoller Betätigung, Handlungen aus Solidarität oder aus Pflichtgefühl – zurückentwickeln.

Was kann man machen? Ulrike Herrmann, Wirtschaftskorrespondentin der taz und Autorin des Buchs „Der Sieg des Kapitals“ (2013), sagte in einem im Gespräch in der Reihe „Essay und Diskurs“ im Deutschlandfunk am 19.04.2015: „Wenn man sehr massiv in dieses System [des Kapitalismus‘] eingreift, wäre der einzige Effekt, dass es wirklich einbricht. Und das wäre ein chaotischer Prozess, den man sich auch nicht friedlich vorstellen darf. Da wären Verluste zu verkraften, und an Sicherheit, dass die Leute alle panisch würden.“

Was der Ritus vermag

Die Gefahr sehen auch die Autor(inn)en des konvivialistischen Manifests. „Die schwierigste Aufgabe, die dazu erfüllt werden muss, besteht darin, ein Bündel politischer, wirtschaftlicher und sozialer Maßnahmen vorzuschlagen, die es der größtmöglichen Zahl von Menschen ermöglichen, zu ermessen, was sie bei einer neuen konvivialistischen Ausgangssituation (einem New Deal) nicht nur mittel- oder langfristig, sondern sofort zu gewinnen haben. Schon morgen.“ (S. 74)

In seinem 1962 erschienenen Werk „Das wilde Denken“ erläutert Claude Lévi-Strauss, dessen ethnologische Arbeiten Marcel Mauss viel verdanken, den Unterschied zwischen Spiel (mit Wettkampfcharakter) und Ritus. Das Spiel gehe von einer prästabilen Ordnung aus und schaffe in seinem Verlauf Ungleichheit. Der Ritus dagegen habe eine Ausgangslage der Asymmetrie – profan und sakral, Gläubige und Priester, Tote und Lebendige, Initiierte und Nicht-Initiierte – und möchte alle Beteiligten auf die Gewinnerseite bringen, so Lévi-Strauss. Er nennt das Beispiel einer Ethnie in Papua-Neuguinea, die das Fußballspielen gelernt hat, „die aber mehrere Tage hintereinander so viele Partien spielen, wie nötig sind, damit sich die von jedem Lager verlorenen und gewonnenen genau ausgleichen.“ Den Wettkampf funktionieren sie zu einem Ritus um. Die großen Wirtschaftskonzerne werden sich diese ehrenwerte Haltung sicher nicht zum Vorbild nehmen. Die Hoffnung lastet auf den Zivilgesellschaften.

Les Convivialistes: „Das konvivialistische Manifest. Für eine neue Kunst des Zusammenlebens“. Herausgegeben von Frank Adloff und Claus Leggewie in Zusammenarbeit mit dem Käte Hamburger Kolleg / Centre for Global Cooperation Research Duisburg, übersetzt aus dem Französischen von Eva Moldenhauer; [transcript] Verlag, Bielefeld, 2014; 09/2014, 78 Seiten, kart.; 7,99 Euro; kostenloser Download über http://www.transcript-verlag.de

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Diese Besprechung wurde in ähnlicher Form ebenfalls im Hotlistblog veröffentlicht: https://derhotlistblog.wordpress.com/2015/06/26/affirmatives-vom-firwitz-2/




Chancen am Borsigplatz: Der soziale Ertrag des Bierbrauens und andere Aktionen

Bei „Public Residence: Die Chance“, einem künstlerischen Experiment in der Dortmunder Nordstadt, ging es um kulturelle Teilhabe und soziale Kreativität. Das Projekt endete im Mai, soll aber nachwirken. Gastautorin Isabelle Reiff, selbst Mitglied im eingetragenen Verein „Borsig11“, zieht eine Bilanz aus Veranstaltersicht:

„Das ist zynisch, dass Sie das hier machen!“ So begann ein längeres Streitgespräch, das der Künstler Frank Bölter mit einem Politiker der Linken auf dem Kleinen Borsigplatz führte. Anlass dazu bot eine eigenwillige Kunstaktion im Rahmen von „Public Residence: Die Chance“. Das Projekt basiert auf einer Kunstwährung, die an die Quartiersbewohner ausgegeben wird und echte Euros wert ist. Der Geldwert kann sich aber nur in einem gemeinschaftlichen Projekt entfalten.

Diese Bedingung hatten vorher die geldgebende Montag Stiftung und der austragende Verein „Borsig11“ gesetzt. Frank Bölter war also darauf angewiesen, bei den Nachbarn ganz verschiedener Façon und Herkunft den gemeinsamen Nenner zu finden. Und welcher war es dann? Die Liebe zum Bier!

Resultat einer speziellen Kunstaktion unter Anleitung von Frank Bölter: Selbstgebrautes vom Borsigplatz. (Foto: Frank Bölter)

Resultat einer speziellen Kunstaktion unter Anleitung von Frank Bölter: Selbstgebrautes vom Borsigplatz. (Foto: Frank Bölter)

Selber Bier zu brauen ist im Fahrwasser der US-amerikanischen Craft-Beer-Bewegung regelrecht zu uns herübergeschwappt: Immer mehr Menschen fangen hierzulande an, in ihrer Freizeit Bier zu brauen – in der Garage, im Kabuff oder Gartenhaus. Frank Bölter veranstaltete diese Arbeit open air im öffentlichen Raum und zwar an einem Lieblings-Treffpunkt höchst passionierter Biertrinker.

„Hinter jedem einzelnen, der hier den ganzen Tag rumsitzt und säuft, stecken Suchtkrankenakten, kaputte Familiengeschichten, gescheiterte Laufbahnen und Offenbarungseide. Und jetzt kommen Sie und wollen denen zeigen, wie man selber Bier braut!“, beschwerte sich der Lokalpolitiker, während Bölter damit zu tun hatte, Kastanien-Blätter aus dem Sud zu fischen, weil es an diesem Tag wieder so stürmte.

Während der Politiker sich echauffierte, als sei sonst niemand zugegen, mischten an dem Stunden währenden Brauvorgang nicht nur Leute mit, die den Kleinen Borsigplatz zu ihrer zweiten Heimat erkoren haben. Auch Nachbarn, eine angehende Diplom-Braumeisterin und Neugierige rebelten, schroteten und rührten.

Später tauchte noch Kurti auf: Im Knast habe er siebeneinhalb Jahre lang selbst immer Bier gebraut. Das Rezept könne er beim nächsten Mal mitbringen. Gerhard hatte in weiser Voraussicht Malzmyrrhe dabei. Er rühmte sich einer Zusatzausbildung zum Biersommelier. Peter packte nach Ablass des Suds wortlos den übriggebliebenen Brauteig ein und kehrte später unverhofft mit daraus gebackenen Brötchen zurück.

Für Bölter war es ein Etappenziel, „Menschen miteinander in Kontakt zu bringen, die sich sonst eher aus dem Weg gehen“. Mehr noch „gewinnt man beim Selberbrauen ein Stück weit die an die Sucht abgegebene Verantwortung für die eigene Person durch die gewonnene Portion Selbstermächtigung zurück“. Den Satz sollte man zwei Mal lesen. Ob der Politiker Orhan dann anders darüber denkt, den „Alkis“ vom Kleinen Borsigplatz das Bierbrauen beizubringen?

Alle Künstler während des Public-Residence-Jahres waren (wie vorher schon das Projekt „2-3 Straßen“) vor die schwierige Aufgabe gestellt, Menschen zu mobilisieren, die, was ihre erwerbsmäßigen Beteiligungschancen in dieser Gesellschaft angeht, die Hoffnung mehr oder weniger aufgegeben haben. Dass ihre Väter großteils nur wegen der Arbeit hierher zogen, steht auf einem anderen Blatt. Das Quartier um den Borsigplatz ist heute das mit der höchsten (Langzeit-)Arbeitslosigkeit in Dortmund.

Führung durchs Stadtquartier: Matthias Hecht alias Dr. h. c. Wilfurt Loose (vorn), dahinter (mit roter Kappe) Rolf Dennemann. (Foto: Isabelle Reiff)

Führung durchs Stadtquartier: Matthias Hecht alias Dr. h. c. Wilfurt Loose (vorn), dahinter (mit roter Kappe) Rolf Dennemann. (Foto: Isabelle Reiff)

Geblieben ist das gelernte Malocher-Verständnis von Arbeit: Arbeit kann nicht Spaß machen, ist Frondienst, bei dem ein anderer das Meiste verdient. Bildungslücken, fehlende Sprachkenntnisse, Schicksalsschläge (wozu auch das Wegziehen ganzer Industrien zählt) erschweren die persönliche Neuorientierung. Übrig bleibt das Gefühl, Opfer der Umstände zu sein, eben nicht seines Glückes Schmied.

Tradierte Sozialprogramme verstärken oft noch diese Selbstwahrnehmung. Können künstlerische Ansätze hier neue Perspektiven eröffnen? Auf dieser Überzeugung fußt das Programm der Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft aus Bonn. Insgesamt 200.000 Euro hat sie für den Borsigplatz bereitgestellt: Der Betrag bildet die Basis der „Chancen“-Währung, außerdem wurde aus diesem Topf die Arbeit von sieben Künstlern bezahlt.

Sie kamen auf die Idee, Straßen umzubenennen, Gärten anzulegen, ein Repair-Café zu gründen. Es wurde öffentlich gekocht, getanzt, Theater gespielt. Ein bis vor Kurzem noch leer stehendes Ladenlokal ist jetzt ein beliebter Nachbarschafts-Treff (Oesterholz 103). Fortbestehen soll auch das Geschmacksarchiv, bei dem vergessene Rezepte nachgekocht werden, genau so die Jugend-Theatergruppe Kielhornschule. Einige im Quartier bieten jetzt sogar selbst Workshops an – vom Möbelbau aus Paletten bis zum Meditationskurs.

Aber viele machen auch nicht mit; umso mehr Chancen sind übrig geblieben – also Noten mit echtem Geldwert. Jeder Anwohner hat ein Anrecht auf 100 davon. Ungefähr die Hälfte hat ihre Chancen noch gar nicht ergriffen. Das bedeutet, dass viele, die rund um den Borsigplatz leben, immer noch Gelegenheit haben, sich auf etwas zu einigen, was sie in ihrem Stadtteil verwirklichen und dann gemeinsam mit denen ihnen zustehenden Chancen finanzieren wollen.

Ohne sehr viel Kommunikation und Überzeugungsarbeit kann das nicht gelingen. Jetzt müssen andere in die Lücke springen, die die Künstler hinterlassen haben. Einer ist immerhin hier geblieben, weil er seit 15 Jahren in der Oesterholzstraße wohnt: Rolf Dennemann hat als freischaffender Künstler, Autor, Regisseur und Schauspieler (und gelegentlicher Mitarbeiter der „Revierpassagen“) vorher schon Partizipationsprojekte angezettelt, in den Kleingärten in der Nordstadt zum Beispiel, auf dem Hauptfriedhof oder in einem Rentnerwohnblock in Essen. “Bitte kein Wasser runterschütten”, hieß eine der Aktionen.

Dennemann ist nicht der gefällige Typ, so einer „will auch nicht andere um Chancen anbetteln“. Dafür weiß er, wie das Quartier am Borsigplatz tickt. Er hat die Veränderungen, denen es unterworfen ist, über viele Jahre beobachtet. Und er kennt die wichtigen Protagonisten im Viertel. Ein klarer Vorteil gegenüber den kurzfristig zugezogenen Künstlern. Und so kommt die von Dennemann initiierte Stadtteilführung „Borsig-VIPs“ so gut an, das man ihm unaufgefordert Chancen zusteckt. Er hat sich dafür aber auch die stadtbekannte Annette Kritzler ins Boot geholt und Matthias Hecht, der alias Dr. h.c. Wilfurt Loose den Quartiersforscher zum Allerbesten gibt. Dennemann ist daher weiter auf „Spurensuche“, sammelt Geschichten und Erinnerungen von Anwohnern und deckt en passant die geheimen Berühmtheiten im Viertel auf.

Wenn die stadtbekannte Kritzler diese ehrenvollen Namen bei ihrer Führung sonor verortet und Loose das auch noch akademisch untermauert, kommt man kaum umhin, zu glauben, dass die östliche Nordstadt in Wirklichkeit voller öffentlichkeitsscheuer Stars steckt. Wahrscheinlich sind sogar noch längst nicht alle aufgespürt. Drum: Wer ungeahnte Anekdoten, verschollene Dokumente oder sonstige Quartiersgeheimnisse auf Lager hat, sollte Dennemann was erzählen. – Vielleicht ist der Borsigplatz in ein paar Jahren – weit über seine Bedeutung für den BVB hinaus – ein Stadtteil mit vielen Mythen und Legenden.




Übersetzen und überleben (1): Was mache ich da eigentlich?

Unsere Nachbarn denken vermutlich, mein Mann und ich seien arbeitslos. Schließlich sind wir den ganzen Tag zu Hause, außer wenn wir einkaufen oder mit dem Hund rausgehen. Direkt darauf angesprochen hat uns noch keiner – und das ist vielleicht auch besser so.

Das Hochlegen der Füße kann besonders bei schwierigen Stellen die Arbeit voranbringen (c) Ann Catrin Bolton

Das Hochlegen der Füße kann gerade an schwierigen Stellen die Arbeit entscheidend voranbringen (Foto Ann Catrin Bolton)

Die Aussage „Ich bin freiberuflicher Übersetzer“ ruft nämlich gelegentlich Reaktionen hervor, die selbst bei einem versierten Linguisten für akute Wortinsuffizienz sorgen können und die man wohl nicht zu hören bekäme, hätte man etwas Ordentliches wie Mathelehrer oder Verwaltungsfachangestellte gelernt. Die beliebtesten sind:

„Nein, ich meine, was du beruflich machst? Womit verdienst du dein Geld?“

„Das ist doch kein Beruf. Da muss man sich doch einfach nur ein Wörterbuch nehmen und nachschauen.“

„Ich war in der Schule ganz gut in Englisch, vielleicht sollte ich das auch mal versuchen.“

„Was heißt [beliebiges Wort ohne Kontext] auf Urdu?“

„Was, und dann kannst du nur drei Fremdsprachen?“

„Das machen heutzutage doch Computer.“

„Du arbeitest zu Hause? Das ist ja prima, dann kannst du ja den ganzen Tag machen, was du willst.“

Zugegeben, nicht alle diese Aussagen sind völlig falsch. Ich kann tatsächlich den ganzen Tag machen, was ich will, nur verdiene ich eben kein Geld, wenn ich nicht arbeite. Man kann mit Übersetzen durchaus Geld verdienen und es zählt offiziell als Beruf. Manche ernähren ganze Familien damit.

Man sollte dafür aber außer einer Fremdsprache auch noch etwas anderes gelernt haben. Schließlich trägt fundiertes Wissen im jeweiligen Fachgebiet unter anderem dazu bei, dass Patienten überleben, Maschinen auch tatsächlich funktionieren, juristische Dokumente die Betroffenen nicht in unbeabsichtigte Kalamitäten bringen und übersetzte Literatur möglichst das gleiche Leseerlebnis bietet wie das Original.

Natürlich übersetzen heutzutage auch Computer. Was dabei herauskommt, kann man sich einfach mal bei Google Translate oder Bing ansehen – oder in manchen Gebrauchsanweisungen.

Die meisten Übersetzer beherrschen in der Tat nur zwei oder drei Fremdsprachen, die dafür aber besonders gut. Wandelnde Wörterbücher sind wir leider dennoch nicht. Auch wir müssen sehr oft nachschlagen – und dabei beurteilen können, welche der angegebenen Möglichkeiten im vorliegenden Kontext die passendste ist.

In seltenen Fällen können Übersetzer übrigens auch heftigen Aggressionen ausgesetzt sein, wenn das Gespräch auf ihren Beruf kommt. So berichtete eine Kollegin, auf einer Party übelst beschimpft worden zu sein. Sie habe nichts Vernünftiges gelernt, nutze nun einfach Menschen aus, die nicht wie sie das Glück hätten, eine Fremdsprache zu beherrschen, und ziehe ihnen damit unmoralischerweise das Geld aus der Tasche. (Ich mag mich irren, aber ich glaube, eine vergleichbare Vorgehensweise ist auch in anderen Berufsgruppen weit verbreitet …)

Und noch ein Klischee muss hier leider bestätigt werden: Ich sitze wirklich den ganzen Tag in Jogginghosen am Computer.




Großes Unbehagen: Jelineks „Schutzbefohlene“ bei den Mülheimer Stücketagen

Foto: Michael Kneffel/www.stuecke.de

Foto: Michael Kneffel/www.stuecke.de

Das Unbehagen ist groß, wir winden uns auf unseren Theatersesseln in der Mülheimer Stadthalle. Im Mittelmeer ertrinken die Menschen und wir laborieren an unseren Luxusproblemen. Dabei stehen „Die Schutzbefohlenen“, so der Titel des Stückes von Elfriede Jelinek, direkt vor uns auf der Bühne.

Sie kommen aus dem Iran, aus Eritrea, aus Syrien, aus Afghanistan und erzählen die Geschichte ihrer Herkunft und ihrer Flucht. Regisseur Nicolas Stemann hat sie in einem Projekt mit dem Hamburger Thalia Theater und dem Theater der Welt mit Schauspielern zusammengebracht. Gemeinsam arbeiten sie sich ab an dem Theatertext der Österreicherin Elfriede Jelinek. Die Inszenierung wurde in diesem Jahr zum Berliner Theatertreffen eingeladen und ging nun in den Wettbewerb der Mülheimer „Stücke“.

Im realen Leben suchten die „Schutzbefohlenen“ Asyl in einer Hamburger Kirche, hier auf der Bühne sind sie immer wieder hinter Stacheldrahtrollen verbannt, deren symbolisches Muster auf ihren T-Shirts wiederkehrt. Und sie stellen Forderungen: nach Gerechtigkeit und Freiheit für alle Menschen – und nicht nur für die Europäer; nach Chancengleichheit für alle, nicht nur für die, die innerhalb des europäischen Rechtssystems stehen; nach der Aufhebung der Unterscheidung zwischen legal und illegal. Im Hintergrund schwappt das Mittelmeer über die Videoleinwand.

Eine aktuellere Inszenierung gibt es wohl zurzeit kaum. Sie macht das Dilemma in aller Schärfe greifbar, zeigt Ursachen wie Kolonialismus, Krieg, Kapitalismus und Globalisierung auf und spricht nicht nur über die Betroffenen, sondern lässt sie für sich selbst sprechen. Und doch macht sie gleichzeitig schmerzlich bewusst, wie schwierig eine Lösung ist. Es wird auch hier keine gefunden. Vielleicht ist das von einer Theaterinszenierung aber auch zu viel verlangt: Wenn schon Politiker nicht recht wissen, was sie tun können oder wollen…

Wir, die wir hier schuldbewusst in unseren Theatersesseln sitzen, sind nicht so leicht bereit, unseren Wohlstand zu hinterfragen. Ihn zu teilen, ja darüber könnte man reden – doch wo ist hier die Grenze? Wo ist deine persönliche Grenze? Was bist du bereit zu geben, wo möchtest du helfen, wo schaust du lieber weg? „Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm“, hat Bertolt Brecht einst in der Dreigroschenoper geschrieben. Der Wunsch, sicher und gut zu leben, etwas aus sich und seinen Möglichkeiten zu machen, verbindet alle Menschen. „Doch die einen stehen im Dunkeln und die anderen stehn im Licht; und man sieht nur die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.“

Unser Reichtum ist ein Magnet, unser Rechtssystem mit allen seinen behördlichen Auswüchsen ist ein besserer Garant für Freiheit als viele andere Systeme. Deswegen sind wir ein Fluchtpunkt, ein Ziel. Das macht uns stolz, das macht uns Angst. Das weckt die hässlichen Seiten in uns: Den Wunsch, sich abzugrenzen, sich an seinen Besitz zu klammern. Wenn in Hamburg Pöseldorf Bürger skeptisch gegen ein Flüchtlingsheim sind und sagen: „Die Leute könnten hier ja nicht mal einen Kaffee trinken, das wäre für sie doch viel zu teuer“, dann zeigt Stemanns Inszenierung die zynischen Seiten des Phänomens.

Und Elfriede Jelineks Text? Manchmal wirkt er zu glatt, zu wortspielerisch, der existenziellen Schärfe des Themas nicht angemessen. Auf jeden Fall klingt dieser Abend noch lange nach, er geht über die bloße Kunst hinaus.

Die Mülheimer „Stücke“ laufen noch bis zum 4. Juni:
Karten und Termine:
www.stuecke.de




„Nach Feierabend“: Der Dienstschluss gebiert etliche Ungeheuer

Haben wir uns nicht alle schon mal gefragt, was die Kolleginnen und Kollegen eigentlich nach Feierabend machen? Dann also, wenn sie den Betrieb oder das Büro hinter sich gelassen haben…

Jetzt gibt’s ein Buch, das sich dieser Frage annimmt und schlichtweg „Nach Feierabend“ heißt. Der Verlag nennt die Texte der beiden Journalistinnen Kathrin Spoerr (48) und Britta Stuff (35) einen „Roman“. Das Etikett gilt seit jeher als verkaufsfördernd. Von „Kurzgeschichten“ mag fast niemand mehr reden.

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Die Autorinnen gehen die ganze Hierarchie einer fiktiven Berliner Firma durch – vom Poststellen-Mitarbeiter bis zur stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden, vom Personalchef bis zur Pförtnerin, welchletztere eine schriftstellerische Laufbahn anstrebt und ihre blühende Phantasie zu abenteuerlichen Bestseller-Plots aufstachelt. Denke dabei bloß niemand an den realen Bochumer Schauspielhaus-Pförtner W. W., der in hochliterarische Gefilde sich aufschwang und selbst einen Peter Handke in Erstaunen versetzte!

Es scheint jedenfalls ein vollkommen durchschnittliches Unternehmen zu sein, wie es Tausende gibt. Die Menschen sind jedoch samt und sonders ziemlich speziell. Jeden einzelnen Mitarbeiter bewegen nach Dienstschluss ungeahnte Dinge und Verhältnisse. An vielen Stellen tun sich wahre Abgründe auf.

Natürlich wirken die Ereignisse des Tages in den Abend hinein. So zieht etwa der arrogante Marketingleiter (namens Handke! – einen Schirrmacher gibt’s übrigens auch noch) Neid, aber auch wüste Mordphantasien anderer Angestellter auf sich.

Da gibt es Einblick um Einblick ins vielfach beschädigte Leben: Der Sohn von Frank aus der Poststelle ist unheilbar krebskrank, was lakonisch und wie nebenher zum Vorschein kommt, aber natürlich sein ganzes Dasein überschattet. Die Marketing-Sekretärin ist derweil besessen von ihrer Waschmaschine, deren Programm-Vorgänge sie stundenlang beobachtet.

Und weiter, weiter: Der Vertriebs-Angestellte lässt seine Wohnung vermüllen und weist alle ab, die sich nähern. Zwei Assistentinnen träumen von einer eigenen, selbstredend „alternativen“ Schweinezucht als Fluchtpunkt, Zielgruppe sollen Großstadt-Ökos sein. Die Controlling-Leiterin, belauscht beim abendlichen Elternsprechtag, durchleidet das Elend einer überforderten Alleinerziehenden. Sigmund aus dem Archiv hat herbe Psycho-Probleme mit seinen Eltern, Arne vom Vertrieb und seine frühverrentete Partnerin zimmern sich höchst seltsame Rituale mit Rehblut zurecht. Unterschlagung und Hochstapelei kommen ebenso vor wie ein lebensbedrohlicher Herzanfall im Bordell.

Genug!

Es ist eine Art Moritat von allerlei trüben und betrüblichen Umtrieben, von Sinnlosigkeiten, Zwangsneurosen, mühsam gebändigten Aggressionen. Etliche dieser Leute stehen kurz vorm Aufgeben, sie halten nur notdürftig gerade noch durch. Überstehen ist alles. Erschreckende Normalität?

Tagsüber in der Firma sitzen die Charaktermasken wohl noch einigermaßen, doch gleich nach Feierabend bricht sich das Ungefüge und Ungeschlachte allseits Bahn. Da schlummert einiges, was sich gesellschaftlich nicht einfach einhegen lässt.

Kathrin Spoerr und Britta Stuff erzählen bodenlose, oft tieftraurige Geschichten. So manche dieser sozialen Miniaturen hätte man selbst gern geschrieben. An einigen Stellen wird es freilich eine Spur zu deutlich, so dass nicht mehr viel in der Schwebe bleibt. Ein, zwei Sätze weggelassen, die Schraube nicht gar so fest angezogen – und es wäre noch treffender gewesen. Vor allem aber irritiert es, dass all diese Angestellten – ohne Ansehen des Bildungsgrades – sich weitgehend im selben Jargon und Tonfall bewegen. Doch es gibt Passagen, die man mit fliegendem Atem liest.

Was am Ende geschieht, wollen wir hier nicht verraten. Es ist etwas Ungeheuerliches, das sozusagen alles überwölbt und untergräbt, was vorher passiert ist.

Jedenfalls haben wir hier ein recht achtbares Gegen- und Seitenstück zu allerlei Büro- und Angestellten-Romanen der letzten Jahre. Am Schnitt- und Wendepunkt zwischen Arbeit und so genannter Freizeit zeigen sich gesellschaftliche Verwerfungen in aller Schärfe. Der Dienstschluss gebiert jede Menge Ungeheuer.

Kathrin Spoerr/Britta Stuff: „Nach Feierabend“. DuMont Verlag, Köln. 174 Seiten. 14,99 Euro.




Schöne neue Welt ohne Bargeld

Bargeld lacht angeblich - aber vielleicht nicht mehr lange? (Foto: Bernd Berke)

Bargeld lacht angeblich – aber vielleicht nicht mehr lange? (Foto: Bernd Berke)

Der Wirtschaftsweise Bofinger spricht aus, was viele Wirtschafts- und Finanzeliten denken und wünschen: Die Abschaffung des Bargeldes. Kann man sich das vorstellen? Na, klar. Und dabei wird einem ganz schwindelig. Es bedeutet die endgültige totale Macht des Kapitals über das Volk. Übertrieben? Wenn schon.

Der Wirtschaftsweise sieht viele Vorteile: Schwarzarbeit würde verschwinden und Warteschlangen an den Supermarktkassen wären Geschichte, da ja dort das Abzählen von Kleingeld viel Zeit in Anspruch nimmt. Hat er schon mal per Karte einen Joghurt bezahlt und dann funktioniert das nicht oder dauert und dauert…?

In Dänemark ist man kurz davor, Bargeld verschwinden zu lassen. Das wäre das Ende der „hohen Kante“ in Form des Sparstrumpfes und der Bedeutung von Kopfkissen, Sofapolstern und anderen Behältnissen für den „Notgroschen“, der ja immer noch so heißt und nicht durch den „Noteuro“ ersetzt wurde. Der totale Kontrollverlust über sein Guthaben (welch‘ schönes Wort) wäre die Folge.

Vorteil: Raubüberfälle würden sich nicht lohnen, es sei denn, man braucht eine Jacke, ein Smartphone oder die Gucci-Tasche. Auch Geldtransporter wären Geschichte. Das Klimpern der Kasse auf Märkten, das Köpfen von Kleingeldrollen, Kaugummiautomaten wären Geschichte und natürlich das Sparschwein.

Und was ist mit dem sogenannten Trinkgeld? Gibt es dann Geldkarten speziell für Trinkgelder? Müssen Bettler dann Kartenlesegeräte mit sich tragen? Wird die Oma dem Enkel dann Geldkarten zustecken und nicht den Zwanni? Die Sammelbüchsen für Schiffbrüchige oder SOS-Kinderdörfer stünden dann in Museen, das Pokern wäre weniger prickelnd, auch die sogenannte Portokasse wäre passé.




Fiktion und Realität der Geschlechterrollen: Siri Hustvedts „Die gleißende Welt“

Ein Roman als fingierte Spurensuche und literarische Schnitzeljagd: Die Autorin Siri Hustvedt verkleidet sich als Herausgeberin und präsentiert Dokumente, Notizhefte, Interviews, um Leben und Werk der (fiktiven) Künstlerin Harriet Burden zu rekonstruieren.

Die 2004 verstorbene Harriet Burden hat zeitlebens mit Geschlechterrollen und Identitäten jongliert und kurz vor ihrem Tod ein entlarvendes künstlerisches Experiment gemacht: Um zu zeigen, wie frauenfeindlich die Kunstwelt ist, wie sehr die öffentliche Wahrnehmung von Kunst vom Geschlecht und der vermeintlichen Berühmtheit des Künstlers abhängt, hat sie mit Hilfe von Strohmännern ein Kunst-Projekt mit dem Titel „Maskierungen“ entworfen: Hinter den von drei männlichen Künstlern in New York ausgestellten Werken hat sich in Wahrheit Harriet Burden verborgen.

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Was hat die Künstlerin umgetrieben, wie funktionierte ihr Experiment, und was haben all die unter dem Titel „Die gleißende Welt“ veröffentlichten (fiktiven) Dokumente mit der fast vergessenen (realen) englischen Schriftstellerin, Philosophin und Herzogin von Newcastle, Margaret Cavendish, zu tun, die 1666 einen utopischen Roman über „Die gleißende Welt“ herausbrachte?

Siri Hustvedt (geboren 1955) ist eine der bedeutendsten amerikanischen Schriftstellerinnen der Gegenwart. Verheiratet ist sie mit dem – nicht minder bekannten – Autor Paul Auster. Mit „Was ich liebte“ gelang ihr der Durchbruch als international anerkannte Schriftstellerin. Auch mit brillanten Essays sorgt sie immer wieder für Aufsehen: In ihrem autobiografischen Buch „Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven“ versucht sie mit Hilfe von Neurologie und Psychologie der Ursache ihres Zitterns auf die Spur zu kommen.

Ihr neuer Roman „Die gleißende Welt“ ist ein Konzert widerstreitender Stimmen und führt uns in die New Yorker Kunstwelt. Es geht um Macht und Begierde, Geld und Ruhm und darum, dass die Realität oft nicht so ist, wie wir sie gern hätten und uns mit unseren Vorurteilen zurechtzimmern.

Siri Hustvedt zieht alle Register postmoderner Erzählweisen, tut es ihrer fiktiven Heldin Harriet Burden gleich und verbirgt sich hinter immer neuen Masken: ein furioses Spiel mit Rollenklischees und ästhetischen Kategorien, utopischen Fantasien und dem alltäglichen Sexismus, der unsere Wahrnehmungen und Wünsche beherrscht. Heute wie zu Zeiten von Margaret Cavendish, die nicht wegen des Inhalts ihrer Bücher angefeindet wurde, sondern weil sie es wagte, als Frau in eine Männerwelt einzudringen.

„Alle intellektuellen und künstlerischen Unterfangen, sogar Witze, ironische Bemerkungen und Parodien“, schreibt Siri Hustvedt alias Harriet Burden, „schneiden in der Meinung der Menge besser ab, wenn die Menge weiß, dass sie hinter dem großen Werk oder dem großen Schwindel einen Schwanz und ein paar Eier ausmachen kann.“

Siri Hustvedt: „Die gleißende Welt“. Roman. Aus dem Englischen von Uli Aumüller. Rowohlt Verlag, 491 S., 22,95 Euro.




Hach! Hihi! Huch! – Mal wieder ein Buch zur putzigen Dingwelt der 70er und 80er

Von dieser Buchsorte gibt es schätzungsweise 123 Editionen, jetzt mal bewusst niedrig geschätzt. Immer wieder erinnern sich Leute, die gerade etwas älter zu werden drohen, der Dingwelt ihrer Kinder- und Jugendtage. Hach! Hihi! Huch!

Sie finden die Signaturen der eigenen Vergangenheit wahlweise ein klein wenig bedeutsam oder auch putzig, Mischformen inklusive. Heftiges Augenzwinkern ist dabei ein Muss. Bloß nichts wirklich ernst nehmen, bloß keine Kulturkritik. Schmankerl sind gefragt. Auch Wehmut sollte, falls vorhanden, stets flott ironisiert werden.

Dinge die es so nicht mehr gibt von

Im Prinzip werden immer wieder dieselben Dinge aufgestöbert und launig durchgehechelt, vorzugsweise Gegenstände wie Wählscheiben-Telefon, Telefonzelle, Super-8-Kamera, Diskette, Flipperautomat, Audiokassette, zeitgeistige Süßigkeiten, dazu kultige Werbespots und TV-Serien.

So auch im neuen Band „Dinge, die es (so) nicht mehr gibt“, in dem auch all die genannten Sächelchen vorkommen, immer hübsch alphabetisch gelistet. Das Team, das am Buch gewerkelt hat, umfasst viele Köchinnen und Köche. Sie haben den Brei nicht verdorben, aber etwas wahllos verrührt. Aus dem Prestel-Verlag kamen schon mal ambitioniertere Bücher.

Der Fokus liegt vorwiegend auf den halbschrägen 1970er Jahren, die auch die zwischendurch eingestreuten Tapetenmuster geprägt haben. Immerhin erspart man uns die 179. Wiederbegegnung mit Schlaghosen.

Dafür gibt es jedoch manche Redundanz: Da werden sowohl TV-Apparate als auch Testbilder bekakelt, und es werden Kassette und Kassettenrekorder getrennt abgehandelt, dazu noch die – in den 80ern zu verortenden – Phänomene Videokassette, Walkman und Game Boy. Gehört ihr vielleicht auch zur etwas unscharf angepeilten Zielgruppe?

Etwas origineller mutet die Aufnahme von Mobiltelefonen („Knochen“ der älteren Bauart) und Fernsehgeräten an, die damit als hoffnungslos gestrig gekennzeichnet werden. Tja, wenn man sich selbst ganz vorn wähnt…

Einzelne Mini-Kapitel, wie etwa übers Trockenshampoo, das fiese 70er-Gesöff Persico oder den einstigen Führerschein-„Lappen“, vermögen gar kurz zu entzücken. Doch das gibt sich rasch. Mangels Masse liest man sich nirgendwo fest. Blättern genügt.

„Dinge, die es (so) nicht mehr gibt. Ein Album der Erinnerungen“. Prestel Verlag. 132 Seiten, zahlreiche Abbildungen. 21,95 €.




„Die Abräumer“: Realistischer Krimi um den Tod einer Bankräuberin in Dortmund

Man muss sich schon ein bisschen bemühen, um bei Thomas Schweres‘ neuem Krimi „Die Abräumer“ den Überblick zu behalten.

Schon gleich zu Beginn tauchen eine Menge Personen auf, von denen man meinen könnte, sie hätten eigentlich nichts miteinander zu tun. Ein recht zwielichtiger wirkender TV-Journalist, ein Taxiunternehmer, mitunter reichlich eigenwillige Mitarbeiter des Geldinstituts „Sparbank“ und Beschäftigte der Dortmunder Stadtverwaltung…

Autor Thomas Schweres (Foto: privat)

Autor Thomas Schweres (Foto: privat)

Nach wenigen Seiten gibt es das erste Opfer. Eine Frau namens Michaela Schmidt, die gerade zuvor besagte Bank überfallen und mehrere Tausend Euro mitgenommen hat, wird auf der Flucht erschossen.

Kommissar Schüppe, der auch schon in Schweres erstem Krimi „Die Abtaucher“ ermittelt hat, merkt schon bald, dass es sich um einen komplexen Fall handelt. Die Bankräuberin ist nämlich nicht nur Täterin, sondern auch Opfer. Ihre Familie wurde bei einem Immobiliengeschäft ziemlich gelinkt. Aber viel mehr bringt Schüppe (Spitzname „Spaten“) auch nicht in Erfahrung, denn Mann und Kinder sind wie vom Erdboden verschluckt.

Doch der Kommissar verfügt über viele Kontakte und so gelingt es ihm, Mosaikstein für Mosaikstein zusammenzusetzen. Er findet auch heraus, was es mit der Immobilienfirma auf sich hat, die hinter den Betrügereien steckt, oder welche Vergangenheit eigentlich dieser TV-Journalist namens Tom Balzack mitbringt.

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Zudem zeigt sich schon bald, dass in der Stadtverwaltung Korruption zum Alltag gehörte. Damit knüpft der Autor an gewisse Vorfälle aus dem Dortmunder Rathaus an, doch es ist es nicht der einzige Bezug zur realen Welt. Auch die Art und Weise, wie eine Bank mit dem ihr anvertrauten Geld umgeht, erinnert doch sehr stark an wirkliche Ereignisse.

Es kommen immer mehr Machenschaften ans Tageslicht, die noch weitere Opfer fordern. Bei solchen sehr heiklen und schwierigen Nachforschungen müsste Kommissar Schüppe eigentlich auf Vertrauen zu seinen Mitarbeitern setzen können, doch bei einem neuen Kollegen hat er da so seine Zweifel.

Thomas Schweres, der seit langem als Boulevard-Journalist, Polizei- und Gerichtsreporter arbeitet, verwendet gern authentisch klingende Umgangssprache. Sein Krimi spielt hauptsächlich in Dortmund und Bochum, was durch genaue Ortsbeschreibungen beglaubigt wird.

So verzwickt, wie Geschichte beginnt, so findet sie auch ihr Ende. Man ist erstaunt, dass – so viel sei verraten – die Kripoleute mit heiler Haut davonkommen.

Thomas Schweres: „Die Abräumer“. Kriminalroman. Grafit Verlag, Dortmund. 254 Seiten, 9,99 Euro.




Politik und Privates in der englischen Provinz um 1850 – ein Roman von Anthony Trollope

Die englische Provinz-Gesellschaft um die Mitte des 19. Jahrhunderts muss ein skurriles Typen-Kabinett gewesen sein.

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Diesen Schluss jedenfalls legt (auch) Anthony Trollopes 1855 erschienener Roman „The Warden“ nahe, der unter dem beinahe biedermeierlich anmutenden Titel „Septimus Harding, Spitalvorsteher“ auf Deutsch vorliegt, und zwar in der allzeit beachtenswerten Bibliothek der Weltliteratur des Manesse Verlages.

Der ungemein disziplinierte Vielschreiber Trollope (1815-1882), hauptberuflich ein umtriebiger und reisefreudiger Postbeamter, der immerhin 47 Romane verfasste und mithin an Balzacsche Dimensionen heranreichte, führt uns abermals ins fiktive westenglische Städtchen Barchester, dessen Bewohner er überaus detailverliebt beschreibt.

Vorangeschickt sei noch dies: Handwerklich ist der weltläufige Mann, der – ein geradezu modernes Konzept – ganze Romanserien mit gleich bleibendem Personal ins Werk setzte, sozusagen über jeden Zweifel erhaben. Der Zeitgenosse von Dickens und Thackeray, der sich selbst als literarischer Nachfahre von Jane Austen begriffen hat, zählt zu den wichtigsten Chronisten der viktorianischen Ära. In Deutschland ist er leider immer ein wenig unterschätzt worden. Auch diese Neuauflage zu seinem 200. Geburtstag (24. April 2015) dürfte daran nicht viel ändern.

Im besagten Barchester also begegnen wir der Hauptperson, jenem Geistlichen und Kantor Septimus Harding. Vom Bischof höchstpersönlich ins Amt eingesetzt, lebt er zudem recht gut dotiert als „Spitalvorsteher“, will heißen: Er leitet ohne viel Arbeitsaufwand die Geschicke eines stiftungsfinanzierten Armenhauses für zwölf alte Männer, die dort einen erträglichen Lebensabend verbringen.

Alles geht Jahr für Jahr seinen ruhigen Gang, bis ausgerechnet Hardings Schwiegersohn in spe, der Chirurg John Bold, sich in der Rolle eines Reformers und Weltverbesserers gefällt. Immer hartnäckiger forscht er nach, ob Hardings Gehalt eigentlich noch dem mildtätigen Stiftungsgedanken entspricht – oder ob das gute Geld nicht vielmehr den betagten Heiminsassen zustünde. Da zieht eine Gestalt der neuen Zeit mit Furor zu Felde.

Schon bald erfasst die gezielt geschürte rebellische Stimmung die angeblich übervorteilten Greise. Vollends bricht der Skandal aus, als die quasi „unfehlbare“ Zeitung „Jupiter“ (gemeint war wohl die „Times“) den Fall aufgreift und Harding attackiert. Die Artikel, die man heute vielleicht als „Shitstorm“ bezeichnen würde, werfen den Spitalvorsteher dermaßen aus der gewohnten Lebensbahn, dass er sein Amt freiwillig aufgeben will. Es soll auch nicht der Hauch eines Zweifels auf seiner Amtsführung liegen.

Nun hat aber der so gewissenhafte Harding, Vater zweier Töchter, bereits einen anderen Schwiegersohn, nämlich den mit allen rhetorischen Wassern gewaschenen Erzdiakon, der vehement die Interessen der anglikanischen Staatskirche vertritt, die ihre Autorität von reformerischen Bestrebungen bedroht sieht. Er will unter allen Umständen verhindern, dass Harding vor den Angriffen zurückweicht.

Und also setzt ein Ringen zwischen den Liebhabern der Töchter ein, in dem es um die (religions)politische Macht geht; wie denn Trollope überhaupt vom Räderwerk der Politik eine Menge verstanden hat. Abstecher seines Romans ins weltstädtische London zeigen, dass all dies die bloß provinzielle Perspektive weit übersteigen könnte.

Es ist heute noch hochinteressant zu lesen, wie sich hier das Politische mit dem Privaten vielschichtig und konfliktreich verschränkt. Der vielwissende Erzähler versucht, rundum Realismus und Gerechtigkeit walten zu lassen. Gleichsam im täglichen Umgang hat Trollope seine Figuren spürbar ins Herz geschlossen, wie fragwürdig ihr Verhalten auch immer sein mag. Speziell auch die Töchter und Ehefrauen geraten in den Blick, wobei sich die Frage erhebt, welchen Einfluss sie in einer männerdominierten Welt geltend machen können.

Trollope vermag etwa die raffinierten Winkelzüge eines Advokaten ebenso süffig zu schildern, wie er inständig melodramatische Szenen entwirft. Der Heißsporn Bold will aus Liebesgründen all seine Klagen gegen Harding zurückziehen, doch da hat sich die Sache schon verselbständigt. Schicksal, nimmt deinen Lauf. Am Ende trägt keiner wirklichen Nutzen davon, doch es ist etliches Porzellan zerschlagen. Und alle, die sich als Helden aufplustern wollten, haben sich als tragikomische Charaktere erwiesen.

Dass dann alles nicht ganz so schlimm kommt wie befürchtet, legt Trollope am Schluss dar, als wolle er begütigen und seine Leser(innen) denn doch lieber ruhig schlafen lassen. Ja, er stellt sogar sedierend fest: „…wir haben es weder mit vielen Personen noch mit aufregenden Ereignissen zu tun…“ Außer vielen Zeilen nichts gewesen? Von wegen. Wir nehmen lieber mit Fug an, dass Trollope hier von höherer Warte und mit kaum verhüllter Ironie spricht.

Anthony Trollope: „Septimus Harding, Spitalvorsteher“. Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Andrea Ott. Nachwort von Doris Feldmann. Manesse Verlag. 384 Seiten. 22,95 Euro.




Frühlingserwachen im Ruhrgebiet – sofort ausziehen und genießen!

Frühlingserwachen (Foto: Guntram Walter)

Frühlingserwachen (Foto: Guntram Walter)

Das Wetter treibt zu Kleidungsübertreibungen. Der Mensch, der hiesige, liebt die Sonne und er tut schnell so, als sei das Wetter mit 23 Grad und klarem Himmel dasjenige, das hier im Laufe des Jahres überwiegt. Er denkt ans Grillen und er kauft Pflanzen. Eigentlich kennt er die Wahrheit, aber er setzt sich darüber hinweg.

Er kleidet sich, als sei er im Pauschalurlaub, er beackert seinen Garten mit größter Hingabe und er kauft Grillfleisch, als habe er die gesamte Bevölkerung zu versorgen. Sie trägt bauchfrei, er die offenen Latschen und die Leinenhose aus Kreta.

Kaum lacht die Sonne über Wanne-Eickel, ziehen sie sich aus und zeigen sich auf der Straße, flanieren, als seien sie in Rio de Janeiro. Das kurze Gepunktete, das dünne Gestreifte, das mit den Spaghetti-Trägern, die winddurchlässige Bluse – jetzt ist Zeit, die Sommersachen wieder nach vorne zu kramen und den dicken Pulli in die Kommode abzulagern. Die Kleingartenbesitzer sehen wieder aus wie aus einem Urlaubsprospekt für Alternativreisen.

Die Menschen stehen an Eisdielen Schlange, wo kurz vorher noch Taschen verkauft wurden. Sonnenbrillen gehören zur Grundausstattung. Eigentlich müssten sie mit ihrer guten Laune und dem Drang zur Leichtigkeit, mit ihrem Humor und der Zuversicht, ein anderes Land bevölkern, irgendwo im Süden mit grad mal zwei robusten Herbstmonaten, damit die Garderobe aufgetragen werden kann, die winterliche, und der Glühwein zu seinem Recht kommt.

Die Bratwurst geht auch Saison-unabhängig. Der Rentner setzt sich seine Baseballkappe auf, dreht sie leicht schräg, um seine Jugendlichkeit hervorzuheben. Und endlich haben seine grauen Haare in der Sonne den heiratsschwindlerischen silbernen Glanz. Die meisten Telefonate in den Cafés oder im Laufen drehen sich um Verabredungen in der Sonne. Die Busen werden offener, die Beine brauchen Farbe. Noch halten sich die Insekten zurück.

Hallo! Es ist Frühling und wir nehmen es als Sommer hin – in der Vorahnung, er könnte wieder verregnet sein. Also jetzt raus mit dem öffentlichen Charme und dem Auftritt entlang der Straßencafés. In den Einkaufsstraßen ist es bildreicher. Die Bettler und die Anbieter von kleinen Dienstleistungen nutzen Sonne und gute Laune. Man glaubt an die Versorgung des ganzen Landes durch Sonnenenergie.

Will man sich einen Überblick verschaffen, was man so im Sommer trägt oder nicht tragen sollte, dann bitte in die erste oder letzte Reihe des Straßencafés setzen und genau beobachten, dann an sich herunterschauen und die Jeans, das gestreifte Hemd und die Übergangsschuhe für angemessen halten. Und die immer währende Sehnsucht nach warmen Gefilden und dem Haus am See verschwindet mit dem Eiskaffee, den der Kellner auf den Tisch schiebt.

An den Feiertagen bilden sich Fahrradkolonnen entlang der Radwege am Kanal, an der Emscher. Die jungen Familien sind auf Heimaterkundung und machen an Bauernhöfen Rast.

In den Hinterhöfen, auf den Balkonen und in den Parks stehen die Grillmeister vor Bauchfleisch und Würstchen aller Art, vor Maiskolben und Chickenwings. Immer noch spritzen sie Bier auf die Grillkohle, immer noch stopfen sie sich mit Fleisch voll und hören dabei Bundesliga, gekleidet in Hawaii-Hemd, Leggins und anderem Sportoutfit. Die Nachbarn kommen hinzu und die Herrlichkeit nimmt Fahrt auf.

Wenn es dunkel wird und die Kinder sich die Actionfilme ansehen, sitzt als letzter noch Hermann mit dem letzten Bier vor der letzten Glut. Er denkt daran, seine Familie zu vergrößern. Im Schlafzimmer geht gerade das Licht aus. Frühlingserwachen!




„Diese gebrochene Landschaft“ – Günter Grass 2010 in der Kulturhauptstadt Ruhrgebiet

Grass im Landschaftspark

Grass im Landschaftspark

„Mehr Licht – Die europäische Aufklärung weiter gedacht“ hieß das große Kulturhauptstadt-Projekt, das das Literaturbüro Ruhr 2010 auf die Bühnen des Reviers brachte. Neben anderen Themen handelte dieses Projekt auch von „Sprachkritik als Praxis kritischen Denkens“ und von der „Verantwortung des Intellektuellen“.

Als Gast im Theater Bochum und im Landschaftspark Meiderich las Günter Grass dazu aus seinem Buch „Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung an die deutsche Sprache“. Entgegen allen Gerüchten, Grass sei ein grantiger, spröder, alles dominieren wollender eitler Großschriftsteller, traf ich auf einen freundlichen, offenen, warmherzigen Gesprächspartner, der sehr gut zuhören konnte.

Aufklärung und Sprache
Günter Grass hat sich zeitlebens beharrlich mit der Dialektik und dem Elend der Aufklärung auseinandergesetzt – und er sah trotz aller Fehlentwicklungen die Aufklärung nicht gescheitert, sondern setzte auf ihre vergessenen Wurzeln, auf ihre Öffnung und Weiterentwicklung durch Selbstaufklärung, setzte auf Dazulernen, Humor, Engagement, Wissen, die Vernunft des Herzens.

In „Grimms Wörter“ erzählte er nicht nur die Lebensgeschichte der Brüder Grimm, er erzählte auch die rund 130jährige Entstehungsgeschichte des „Deutschen Wörterbuchs“. Und er erzählte Teile seiner eigenen Geschichte als Künstler/Intellektueller in der Bonner und Berliner Republik.

Günter Grass schrieb aber nicht nur von Buchstaben in einem Wörterbuch, sondern auch selbst lustvoll sprachspielend in Buchstaben, in und mit Lauten, Silben, Wörtern. Und beim Umgang mit den Wörtern – wie die Brüder Grimm „Wort auf Wort“ „nach (deren) Herkommen“ befragend –  erschloss sich eben auch die Welt, oder besser: seine Welten. Mit den Worten spielend (manchmal etwas zu sehr) und sie doch ganz und gar ernst nehmend, verwob er Biografien, politisches Zeitgeschehen, Menschen, erzählte Geschichte und Geschichten, kam von Höcksken auf Stöcksken, rettete fast verschollene Worte und reanimierte tot geglaubte. Und schrieb zu guter Letzt gar das Deutsche Wörterbuch weiter und fort, ergänzte und erhellte es mit und durch neue Wörter, hässliche wie schöne.

Wider den Anschein von Einstimmigkeit
Von Pierre Bourdieu, der mit Günter Grass einst ein langes Fernsehgespräch führte, stammt der schöne Satz:  Es ist die Aufgabe des Intellektuellen, den Anschein von Einstimmigkeit zu durchbrechen. Genau diese Aufgabe „den Mund aufzumachen“, nahm Günter Grass immer wieder auf mutige-provozierende Art und Weise wahr. Durch seine Romane, Essays, Reden, politischen Interventionen und publizistischen Zwischenrufe.

Georg Christoph Lichtenberg, dem im Projekt „Mehr Licht!“ zwei Abende gewidmet waren und der auch in „Grimms Wörter“ eine wichtige Rolle spielt, hat in seinen Sudelbüchern geschrieben: „Es tun mir viele Sache weh, die anderen nur leidtun.“ Ein Aphorismus, der auch über dem Schaffen Günter Grass‘ stehen könnte; in der Nachfolge Lichtenbergs formulierte Grass in „Grimms Wörter“: „Mich schmerzt und ekelt mein Land, dessen Sprache ich anhänglich liebe.“   

Nestbeschmutzer Grass
Als Nestbeschmutzer wurde Grass oft geschmäht, dabei vergessend, dass es doch gerade der Schmutz, der vermeintliche Dreck ist, der ein Nest erst zusammenhält. Gern prügelt man hierzulande den Boten, wenn er auf die Banalität des Bösen oder heute besser: auf die Bösartigkeit des Banalen hinweist – etwa auf ein Primat der Ökonomie, das sich immer mehr auch als Ökonomie der Primaten entpuppt; eine Ökonomie, deren Folgen – so die seriöse Weltgesundsheitsorganisation – weltweit jährlich Millionen hungernder Kinder das Leben kostet. „Ich schäme mich meines zum bloßen Wirtschaftsstandort verkommenen Landes“, schrieb Günter Grass in „Grimms Wörter“.

Was gesagt werden darf
Dass Grass sich als Mahner aus dem Literatenolymp gelegentlich auch vergaloppierte, stimmt schon. Eine kurze heftige Debatte löste im April 2012 sein in drei großen europäischen Zeitungen veröffentlichtes Mahn-Gedicht „Was gesagt werden muss“ aus. Günter Grass hatte da einen israelkritischenText geschrieben, der in seiner Schlichtheit und Pose nicht nur politisch enttäuschte, sondern auch als Gedicht, als Wortkunstwerk.
Nicht wenigen seiner Kritiker aber gelang es, Grassens Niveau mit leichter Hand zu unterbieten. Kaum ein Kommentar zeugte von genauer Textlektüre, so scheiterten dann auch viele der nachgängigen Versuche, das Gedicht allein stellenlesend angemessen zu deuten. Der mittlerweile obligatorische Anti-Grass-Reflex verbaute jede tiefergehende  Reflexion. Grass wurde etwa vorgeworfen, er habe in einem Gedicht den radikal-fundamentalistischen iranischen Präsidenten Ahmadinedschad einen bloßen „Maulheld(en)“ genannt und so dessen Gefährlichkeit und Unberechenbarkeit nicht nur für Israel unzulässig verharmlost. Grass selbst aber schrieb im Gedicht: “das von einem Maulhelden unterjochte und zum organisierten Jubel gelenkte iranische Volk”, da steht also immerhin auch, dass Mahmud Ahmadinedschad das iranische Volk unterjocht. Und was heißt “unterjochen”, wenn man’s denn wissen will? Siehe Duden: “gefügig/willenlos machen, in Unfreiheit halten, niederhalten, unterdrücken, zu Sklaven machen; (gehoben abwertend) knechten”.

Von der Kunst des Verstehens (Hermeneutik) wurde jedenfalls bei den meisten Kritikern vor dem Verriss des vermeintlich zu iranfreundlichen Grass-Gedichtes keinerlei Gebrauch gemacht. Kunst des Verstehens, das hätte geheißen: Gründliche Textlektüre, auch, um sich der eigenen Vorurteile und Vorverständnisse bewusst zu werden.

Grass & das Ruhrgebiet
In der Zeitschrift Essener Unikate wurde Günter Grass 1996 mit dem Satz zitiert: „Es hat mir trotzdem in Essen gefallen. Warum – weiß ich nicht mehr so genau. Vielleicht weil Essen im Ruhrgebiet liegt und diese gebrochene Landschaft so primär nach Literatur schreit.“ In „Grimms Wörter“ tauchte zuletzt auch Duisburg auf, dem sich Oskar Matzerath in „Die Blechtrommel“ schon einmal von Düsseldorf aus näherte. Sogar von Frauen aus Gelsenkirchen wird uns erzählt, und vom Rand des Ruhrgebietes, von Sprockhövel. So kam das Ruhrgebiet also pünktlich zum Kulturhauptstadtjahr noch einmal in das Werk eines Literaturnobelpreisträgers.
Günter Grass wurde zudem nicht müde, an einen Autor des Ruhrgebiets zu erinnern, der nie ein Ruhrgebietsautor war. Dieser Autor, am Silvesterabend 1937 in Duisburg geboren, dieser Freund, dem Günter Grass auch ein Mentor war, starb 1979 viel zu früh an Krebs, Grass besuchte ihn oft am Sterbebett, dieser Freund war natürlich: Nicolas Born. Dessen Bücher, Briefe, Gedichte wurden vor nicht allzu langer Zeit von seiner Tochter Katharina Born im Wallstein Verlag neu herausgegeben.
Bei Grassens Begrüßung 2010 im Landschaftspark Meiderich schlug ich deshalb vor: „Ehren wir heute Günter Grass auch, indem wir seinen Freund ehren. Hiermit schlage ich offiziell vor, das Überfällige zu tun, nämlich endlich eine große Straße oder einen Platz nach Nicolas Born, dem wichtigsten in Duisburg geborenen Schriftsteller, zu benennen.“ Günter Grass hat sich diesem Vorschlag sofort angeschlossen – und ihn vor der Presse einige Male wiederholt. Leider ohne Erfolg.

Ich bin sicher, es würde Günter Grass freuen, hier zum Schluss einige Zeilen Nicolas Borns zu lesen:

Eine besonders schöne Blume
ein besonders schönes Wetter
öffne die Fenster die Fenster
heute Nacht werden die Lampen heller brennen
eine gute Nachricht trifft ein
oder lieber Besuch




Abschied vom „lebenslustigen Pessimisten“ – zum Tod des Schriftstellers Günter Grass

Es gab Zeiten, da war sein Ruhm kaum noch zu steigern. Als Günter Grass im Herbst 1999 den Literaturnobelpreis bekam, war er auf dem Gipfel der weltweiten Reputation angelangt. Heute ist Deutschlands gewichtigster „Großschriftsteller“ der Gegenwart mit 87 Jahren gestorben.

Über die Toten nur Gutes, heißt es. Doch manches kann und soll man nicht verschweigen: Die moralische Instanz, die Grass über Jahrzehnte gewesen ist, hat leider Risse bekommen. Sein allzu spätes Eingeständnis, mit 17 Jahren Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein, hat die Nation im Sommer 2008 wochenlang bewegt. Vor allem auch konservative Gestalten, die der betont linksliberale Grass zuvor vielfach mit seinen (zuweilen auch polemischen) Äußerungen verärgert hatte, witterten nun ihre Chance auf Revanche. Sie warfen ihm anmaßende Selbstgerechtigkeit vor. Aber waren sie selbst frei davon? Von derlei Richtungsstreit abgesehen, war und bleibt es ein Fehler von Grass, so lange in eigener Sache geschwiegen zu haben.

Das wohl sinnvollste Gedenken - Grass' "Danziger Trilogie" Lektüre für die nächsten Tage und Wochen.

Das wohl sinnvollste Gedenken – Grass‘ „Danziger Trilogie“ als Lektüre für die nächsten Tage und Wochen.

Das literarische Lebenswerk des Mannes, der am 16. Oktober 1927 in Danzig geboren wurde, hat jedoch über solche Querelen hinaus Bestand.. Und sein Publikum hat allzeit treu zu ihm gehalten. Zudem wird schon seit vielen Jahren eifrig für seinen Nachruhm gesorgt. Eine umfangreiche Werkausgabe im Steidl-Verlag versammelt die Schriften für die Nachwelt.

Einen „lebenslustigen Pessimisten“ hat sich Günter Grass einmal selbst genannt. Wahrhaftig gab es ja den geradezu „barocken“ Genussmenschen Grass, der seine Gäste gern als meisterlicher Koch verwöhnte. Doch man kannte auch den mürrischen Mann, für dessen Empfinden der Fortschritt gar zu schneckenhaft kroch und der sich, zuweilen auch schon mal etwas penetrant und hochfahrend, in jedwede Debatte einmischte.

In einer brenzligen Phase freilich, um 1968 herum, wollte Grass selbst die Entwicklung lieber bremsen und in Richtung Sozialdemokratie dirigieren. Der SPD hat er sich überhaupt zeitweise mehr verschrieben, als es einem unabhängigen Autor guttun konnte.

Allein die Tiergestalten, die zentral in seinen Büchern vorkommen, liefern reichlich Stoff für Phantasien und Interpretationen: Zu nennen wären „Die Vorzüge der Windhühner“ (Lyrik-Erstling von 1956), „Katz und Maus“ (Novelle von 1961), „Hundejahre“ (1963), „Aus dem Tagebuch einer Schnecke“ (1972), „Der Butt“ (1977), „Die Rättin“ (1986), „Unkenrufe (1992) und „Im Krebsgang“ (2002). Zwei philosophierende Ratten waren schon im Theaterstück „Hochwasser“ (1957) aufgetreten.

Die Bildkraft dieser Menagerie beruht nicht auf Zufall. Grass, der eine Steinmetzlehre absolvierte und Kunstakademien in Düsseldorf und Berlin besuchte, hat literarische Einfälle stets anhand eigener Skulpturen und Graphiken überprüft. Bei diesem ungemein schöpferischen Autor war kaum auszumachen, ob etwa ein Roman ursprünglich aus Bildern hervorgegangen war – oder ob sprachliches Fabulieren die ersten Keime gesetzt und die Bilder nach sich gezogen hat. Am Anfang war das Wort? Nicht immer und unbedingt.

Unstrittig lässt sich der Mittelpunkt im literarischen Universum des Günter Grass bestimmen: seine Geburtstadt Danzig, ein Brennpunkt geschichtlicher Verwerfungen des 20. Jahrhunderts. Aus dem Fundus seiner Kindheit hat Grass unvergessliche Geschichten geschöpft.

Über Oskar Matzerath und „Die Blechtrommel“ (1959) herrscht weithin Einvernehmen: Der Roman bedeutete seinerzeit den „Durchbruch“ der deutschen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg. Er galt als Fanal gegen die Verdrängung der Nazi-Vergangenheit, obgleich oder gerade weil er weder politisiert noch moralisiert, sondern die wirren Zeitläufte mit saftigen Figuren darstellt.

Nach Erscheinen seiner Bücher überwog hernach meist vorschnelle Erregung, denn Grass mischte sich denn doch vehement in gesellschaftliche Fragen ein. Wortgewaltig malte er die Apokalypse einer zerstörten Umwelt („Die Rättin“) oder begab sich in die Untiefen des Matriarchats („Der Butt“).

Grass war beileibe kein gewöhnlicher Schriftsteller, sondern mit den Jahren zunehmend ein Repräsentant, dessen Meinung zu vielerlei Themen gefragt oder auch gefürchtet war. Manchmal mochte man dabei an eine herausragende Figur wie Thomas Mann denken, dessen Geburtsstadt Lübeck sich Grass zur Wahlheimat erkor. Beiden Größen widmete die Hansestadt Gedenkorte: Buddenbrook-Haus und Grass-Haus sind wahre Pilgerstätten.

Feindselige Regungen hat Grass oft zu spüren bekommen. Für horrende Hysterie sorgte 1995 sein Roman „Ein weites Feld“. Der Kritiker Marcel Reich-Ranicki zerriss den Band auf einem „Spiegel“-Titelbild buchstäblich in der Luft. Ein Skandal, der sich aber nach und nach verflüchtigte. Angesichts der inzwischen verflossenen Zeit wirken die damaligen Aufregungen ziemlich lachhaft.

Mögen sich Grass und Reich-Ranicki bei einer leidenschaftlich-kernigen Debatte im Jenseits versöhnen – oder auch nicht. Mit den beiden – und einigen anderen Protagonisten – ist eine Ära der kulturellen Nachkriegsgeschichte unwiderruflich dahin. Doch die Bücher künden noch davon.




Pionierin mit der Kamera: Frauenfilmfestival erinnert an die Dortmunderin Elisabeth Wilms

Als „filmende Bäckersfrau“ hat sich Elisabeth Wilms (1905-1981) lange Zeit selbst verstanden. Oft und penetrant wurde diese Formel später in journalistischen Titelzeilen aufgegriffen, bis sie vollends zum Klischee geronnen war.

Jetzt werden ausgewählte Arbeiten von Elisabeth Wilms in einem regionalen Schwerpunkt des Internationalen Frauenfilmfestivals in Dortmund gezeigt. In diesem Kontext ist es natürlich erst recht nicht ratsam, sie als Ehefrau vorzustellen, die lediglich ihrem Hobby gefrönt habe. Da klingt es doch weitaus besser, dass der Gatte Erich, als er nach Jahrzehnten der Plackerei 1964 die Bäckerei verpachtet hatte, von ihr fortan als Chauffeur und Stativträger beschäftigt wurde…

Kamera läuft: die Dortmunderin Elisabeth Wilms beim Dreh. (© Stadtarchiv Dortmund)

Kamera läuft: die Dortmunderin Elisabeth Wilms beim Dreh. (© Stadtarchiv Dortmund)

1932 hatte die gebürtige Münsterländerin just nach Dortmund eingeheiratet und Tag für Tag im Bäckereiladen des damals noch dörflich anmutenden Ortsteils Asseln gestanden, nebenher ihre Filmleidenschaft entdeckt und nach und nach ihr spürbar vorhandenes Talent staunenswert entwickelt. Unschätzbar wertvolles Zeitzeugnis: 1943 filmte sie das noch unzerstörte Alt-Dortmund. Welch ein Jammer, dass dies alles längst dahin ist.

Schnitt am Wohnzimmertisch

Elisabeth Wilms hatte ein Gespür fürs Wesentliche, das sie mit gekonnter Kameraführung umzusetzen verstand. Den Schnitt besorgte sie selbst am heimischen Wohnzimmertisch. Und als sie sich eine bessere Kamera leisten konnte, war das alsbald auch an der Qualität der Filme abzulesen.

Ihre ersten Streifen wie „Münsterland – Heimatland“ oder „Der Weihnachtsbäcker“ wurden 1944 von der Filmprüfstelle ausgezeichnet. Sie fügten sich – ob gewollt oder nicht – ins kritiklose Heimatbild der NS-Zeit. Was Betrachter_innen (so die Schreibregelung im Festivalheft) nicht ohne weiteres wissen können: Der Bäckermeister im Weihnachts-Film war nicht etwa Elisabeth Wilms’ Ehemann Erich. Der war damals als Soldat im Einsatz. Deshalb übernahm ein Kriegsgefangener seine Rolle. Und der Lehrling, der in dem anheimelnden Streifen vorkommt, ist kurz darauf gegen Ende des Krieges gefallen. Sprich: Der verborgene Hintergrund des Films ist ungleich bedeutsamer als das, was auf der Leinwand erscheint.

Trotz strenger Verbote machte Frau Wilms heimlich Aufnahmen während der Bombenangriffe auf Dortmund und Münster. Es war dies aber auch schon das Höchstmaß an Ungehorsam, das sie sich erlaubte.

Blanke Not in der Trümmerzeit

Weithin bekannt wurde Elisabeth Wilms mit Filmen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, die 1980/81 um ihre nachträglich aufgesprochenen Kommentare ergänzt wurden. „Alltag nach dem Krieg“ (1948) berichtet in bewegenden, höchst einprägsamen Bildern vom Elend der Dortmunder Bevölkerung in der Trümmerlandschaft.

Szene aus dem Wilms-Film "Alltag nach dem Krieg" (1948): Armenspeisung für Kinder. (© Elisabeth Wilms/KG Asseln)

Szene aus dem Wilms-Film „Alltag nach dem Krieg“ (1948): Armenspeisung für Kinder. (© Elisabeth Wilms/KG Asseln)

Mitten in den Ruinen hausten die Menschen unter heute unvorstellbar erbärmlichen, oft lebensgefährlichen Bedingungen. Es wird einem weh zumute, wenn man in all die ausgemergelten Gesichter schaut. Mit Szenen von Schwarzmarkt, Hamsterfahrt und notgedrungenem Kohlenklau erweist sich der Film als erstrangiges zeitgeschichtliches Dokument. Manch eine Einstellung wird man nicht so schnell vergessen – und das zeugt auch von der besonderen Begabung der Elisabeth Wilms, die mit diesem Film zu Spenden aufrufen wollte.

Wie die Westfalenhalle entstand

Mit teils riskanten Drehs hat Elisabeth Wilms 1951/52 den Bau der neuen Dortmunder Westfalenhalle filmisch begleitet. Es lässt sich so wenden, dass sie sich in dieser Männerwelt der Bauleute behauptet hat. Jedenfalls ist es ein interessanter Film, der auch als Lob der Arbeit und der vielen beteiligten Gewerke durchgeht.

Bei der Festival-Vorführung dürfte es freilich bestenfalls für nachsichtiges Lächeln sorgen, dass beim Eröffnungsprogramm der Halle „das schwache Geschlecht“ (O-Ton von damals) Gymnastik vorführen durfte. Für Unkundige sei’s gesagt: Damit waren Frauen gemeint.

Wirtschaftswunderbare Waschmaschine

Später drehte Elisabeth Wilms vielfach Auftragsarbeiten und Werbefilme – beispielsweise für eine Constructa-Waschmaschine, die der geplagten Hausfrau das Leben erleichtern sollte. Bevor der Ehemann sich gnädig zum Kauf herbeiließ, waren – mit gereimten Sprüchlein – rund 9 Minuten (!) einer zeittypischen Familiengeschichte zu absolvieren, in denen natürlich alles für die Waschmaschine sprach, die übrigens auch das Honorar für diesen putzigen Werbefilm darstellte. Den Chefs des unentwegt ins Bild gerückten örtlichen Stromversorgers VEW dürfte das Filmchen gleichfalls gefallen haben.

Fern von aller Renitenz

Elisabeth Wilms und ihre Filme können heute weder politisch noch feministisch vereinnahmt werden, dazu ist das in diesen Schöpfungen waltende Bewusstsein denn doch zu harmlos und kleinbürgerlich. Utopien oder Befreiungs-Sehnsüchte sind diesen Werken nicht eigen, von Rebellion ganz zu schweigen.

Gleichwohl war da eine begabte Pionierin am Werk, die zwar nicht anderen den Weg ebnete, aber recht konsequent ihren eigenen Weg beschritten hat; wobei sie es vergleichsweise leicht hatte: Ihr Film über eine Italienreise aus den 1950er Jahren zeigt gediegenen Wohlstand mit Opel Kapitän und imposantem Wohnananhänger. Daheim besorgte ihre Schwägerin den Haushalt. Auf solchen Komfort konnte damals wahrlich nicht jede Frau zurückgreifen.

Vermessung der „Komfortzonen“

Apropos Komfort. Das stilistisch und thematisch sehr weit gefächerte Dortmunder Frauenfilmfestival widmet sich diesmal dem äußerst dehnbaren Begriff „Komfort“ und schickt sich an, gleichsam rund um den Erdball in allerlei Formen „Komfortzonen“ (auch so ein Modewort) auszuloten bzw. deren Verlust zu ermessen. Der Ruhrgebiets-Schwerpunkt firmiert übrigens unter dem Leitbegriff „Arbeit“, der etwas bemüht mit „Komfort“ kurzgeschlossen wird: Ohne Arbeit gibt es meist keinen Komfort. Wohl wahr…

An diversen Orten der Stadt (Festivalzentrum im Dortmunder „U“, weitere Spielstätten im domicil, Schauburg und Cinestar) sind in den nächsten Tagen laut Broschüre „rund 40 Programme von der Quarkgebäck-Werbung bis zum iranischen Vampirfilm“ zu erleben. Selbstverständlich stehen vielfältige Bilder des Frauenlebens im Mittelpunkt – in aller Welt und zu verschiedenen Zeiten.

Der historische Reigen beginnt im frühen 20. Jahrhundert – mit 1917/18 gedrehten Stummfilmen von Rosa Porten, die seit der Entstehungszeit in Deutschland nicht mehr zu sehen waren. Da darf man von wohl einer kleinen Sensation sprechen.

Nähere Informationen zum Festival-Programm (14. bis 19. April):
www.frauenfilmfestival.eu




Geistig angereicherte „Stellensuche“ – André Comte-Sponvilles kleine Sex-Philosophie

978-3-257-06924-2Was macht ein Philosoph, wenn er mal ordentlich abverkaufen will? Richtig, er schreibt ein Buch, das beispielsweise so heißt: „Sex. Eine kleine Philosophie“.

Andererseits hat man in lüsterner Laune relativ wenig mit Philosophie im Sinn. Egal. Der Franzose André Comte-Sponville, ehemals Philosophie-Professor an der Sorbonne, hat ein Buch herausgebracht, das auf Deutsch just so heißt wie oben erwähnt.

Und was steht drin?

Nun, zunächst der Versuch einer Definition von Sexualität an und für sich. Beim Menschen ist sie bekanntlich von der bloßen Fortpflanzung entkoppelt, sie speist sich zudem aus dem Trieb, weniger aus Instinkt. Obwohl wir immer auch Tiere bleiben. Auch behalte der Sex – aller rüden Pornographie zum Trotz – stets einen Rest an Geheimnis.

Na, und so weiter.

Sodann gibt’s einen flotten Streifzug durch ein paar Gefilde der Philosophie-Geschichte, entlang der großen Namen wie etwa Platon, Epikur, Augustinus, Spinoza, Montaigne (dem besondere Aufmerksamkeit zuteil wird), Kant, Schopenhauer, Nietzsche, Sartre und Bataille. Wer hat was zur Sexualität gesagt, welche Passagen lassen sich herauspicken und dingfest machen? Jaja, die gute alte „Stellensuche“.

Nur ein paar Beispiele. Kant sieht in der Sexualität vorwiegend Erniedrigung am Werk, da hierbei das Geschlechtliche im Vordergrund und das Menschliche hintan stehe. Laut Schopenhauer ist der Sex der Brennpunkt des Willens, und natürlich hat der Erzpessimist in der Fortpflanzung vorwiegend die Fortsetzung des Leids der menschlichen Gattung kommen sehen.

Bei Nietzsche, der sich immerhin gegen die christliche Sex-Verteufelung ausspricht, heißt es dann kurz und bündig: „Des Mannes Art ist Wille, des Weibes Art Willigkeit…“ Noch aphoristischer zugespitzt im „Zarathustra“: „Das Glück des Mannes heißt: ich will. Das Glück des Weibes heißt: er will.“ Bei Bataille stehen Überschreitung und Gewalt im Zentrum. Wo immer ein Gesetz walten will, da wird es umso lieber gebrochen. Im deutschen Text fällt hierbei häufig das Wort „aufwühlend“. Wer wollte da widersprechen?

Genug. Das alles ergibt eine hübsche kleine Sammlung, die allerdings nicht immer vielsagend und vielfach ziemlich unzeitgemäß erscheint. Was ja auch unser Fehler sein könnte. André Comte-Sponville müht sich nach Kräften, noch halbwegs brauchbare Äußerungen der Philosophen den heutigen (Geschlechter)-Verhältnissen und also dem jetzigen Zeitgeist anzubequemen.

Geistig angereicherte Erotik grenzt Comte-Sponville sorgsam von der Pornographie ab. Fortdauerndes Begehren stellt er über schnöde Befriedigung, wobei das Begehren als Mangel und als Vermögen betrachtet werden könne. Gut, dass wir darüber geredet haben. Auch über Phänomene wie Burka und Nudismus. Und immer wieder über das Animalische in uns.

Unterwegs entstehen zahlreiche Klammer-Sätze (immer gilt es einzuschränken), die von einer gewissen Hilflosigkeit künden. Wollten wir manches komplett zitieren (etwa den ungelenken letzten Absatz auf Seite 157), so würden Leser(innen) dieser Rezension zu schlummern beginnen. Hallo?!

Ob das Ganze auf Französisch anders wirkt? Mag sein. Sie haben ja fürs Leibliche die schöner klingenden Worte. Aber auch der schiere Wohlklang dürfte die Sache nicht retten. Wobei man der Gerechtigkeit halber sagen muss, dass dies Buch aus einem Essay besteht, der einer umfangreicheren Originalausgabe („Le sexe ni la mort“) entnommen wurde. Immer diese Häppchen.

Auf Deutsch ist’s jedenfalls keine prickelnde oder lustvolle Lektüre, sondern es sind Gedankenspiele, die recht fruchtlos um sich selbst kreisen. Mal wieder ein Buch, in dem die Sexualität zerredet wird.

André Comte-Sponville: „Sex. Eine kleine Philosophie“. Aus dem Französischen von Hainer Kober. Diogenes Verlag, Zürich. 169 Seiten. 19,90 Euro.




Zum Tod von Helmut Dietl: „Kir Royal“ – ein Gipfelglück der deutschen Fernsehgeschichte

Seine Fernsehserien „Monaco Franze“ und „Kir Royal“ sind Legenden. Man kann man sie wieder und wieder anschauen – und man wird ihrer nicht müde werden.
Der Regisseur Helmut Dietl, der jetzt im Alter von 70 Jahren an Lungenkrebs gestorben ist, war einer der ganz Großen des Metiers, der mit „Schtonk“ (1992) und „Rossini“ auch im Kino Erfolge feierte. Aus Anlass seines Todes hier noch einmal ein Beitrag aus der Revierpassagen-Reihe „TV-Nostalgie“, zu verstehen als Hommage und als tiefe Verneigung vor dem Regisseur.

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Wir erinnern uns: Nach den vergleichsweise kargen 70ern standen viele Leute nach 1980 ganz unverblümt auf Luxus und Verschwendung. Diese Zeitstimmung ist nirgends trefflicher eingefangen worden als in einer Fernsehserie: „Kir Royal“ (ab September 1986 im ARD-Programm) gehört wohl immer noch zum Besten, was das Medium in Deutschland je geboten hat.

Der feiste Fabrikant Haffenloher (Mario Adorf, re.) triumphiert über den konsternierten Klatschreporter "Baby" Schimmerlos (Franz Xaver Kroetz). (Bild: Screenshot aus: http://www.dailymotion.com/video/xyfa8q_kir-royal-folge-1-wer-reinkommt-ist-drin_creation)

Der feiste Fabrikant Haffenloher (Mario Adorf, re.) triumphiert über den konsternierten Klatschreporter „Baby“ Schimmerlos (Franz Xaver Kroetz). (Bild: Screenshot aus: http://www.dailymotion.com/video/xyfa8q_kir-royal-folge-1-wer-reinkommt-ist-drin_creation)

Man hätte all die Dekadenz und Korruption, den obszönen Reichtum und das dazu passende Schnorrertum in der Münchner „Bussi“-Gesellschaft ganz anders, nämlich viel zorniger darstellen können. Doch Regisseur Helmut Dietl und sein Drehbuchautor Patrick Süskind (beide entwickelten auch die ebenfalls famose Reihe „Monaco Franze“) bevorzugten die funkelnd elegante, vor Humor sprühende und doch nicht so leichthin versöhnliche Variante. In „Kir Royal“ wurde mit leichtem Florett gefochten, nicht mit dem Degen. Die Stiche „saßen“ aber umso zielsicherer.

„…und dann biste mein Knecht“

Schon die erste Folge (Titel „Wer reinkommt, ist drin“) des Sechsteilers darf als kleines Wunderwerk gelten. Wie spielerisch und doch überaus präzise die Figuren eingeführt werden, wie man gleich mitten in die pralle Handlung gezogen wird, das ist und bleibt meisterlich.

Sodann die großartige Besetzung: Franz Xaver Kroetz als hochmütiger, selbstherrlicher, oft grantiger Klatschreporter „Baby Schimmerlos“, der jegliche Bestechlichkeit weit von sich weist und dann doch ziemlich schnell kapitulieren muss, als der stinkreiche Klebstoff-Fabrikant Heinrich Haffenloher (Mario Adorf) finanziellen Druck macht, um groß in der Zeitung gefeiert zu werden. Unvergessen, wie Haffenloher diesen Schimmerlos zur Schnecke macht („Ich sch*** dich zu mit meinem Geld…und dann biste mein Knecht…“). Eine groteskere Mixtur aus armem Würstchen und erdrückendem Machtgehabe hat die Welt nicht oft gesehen.

Ein Ensemble sondergleichen

Dabei haben wir Senta Berger als „Babys“ Gespielin noch gar nicht erwähnt. Oder Dieter Hildebrandt, der einen ebenso servilen wie listigen Zeitungsfotografen mit heischendem Dackelblick gibt. Ruth-Maria Kubitschek als Verlegerin. Billie Zöckler als dralle Redaktionssekretärin. Harald Leipnitz und Peter Kern, die mit ihrem Restaurant nach Anerkennung in der Schickeria lechzen. Edgar Selge als arroganter Kellner im Edelfresstempel. Und und und. Ein Ensemble sondergleichen.

Hemmungslos auf dem Tisch tanzen

In „Kir Royal“ sind alle getrieben von der Gier nach Glanz und Prominenz. Jede(r) will gepflegt die Sau rauslassen, in der Klatschspalte des einflussreichen Boulevardblatts auftauchen und an den Partys teilnehmen, wo Champagner und eben Kir Royal in Strömen fließen. Ausgerechnet zu den schmetternden Freiheitsklängen der „Marseillaise“ wird in der ersten Folge turbulent auf dem Tisch getanzt. Da darf ein strohdummes Mäuschen beim Cancan auch schon mal im forcierten Überschwang die Brüste freilegen, damit’s ein schön frivoles Foto gibt… Das ist so herrlich peinlich!

Späte, allerdings weit weniger glanzvolle Pointe: Ausgerechnet die Münchner Abendzeitung (AZ), die damals für die Zeitung in „Kir Royal“ Pate gestanden hat, geriet vor einiger Zeit finanziell ins Schlingern. So ändern sich die Zeiten.

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Vorherige Beiträge zur Reihe : “Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” (5), “Der Kommissar” (6), “Beat Club” (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10), Loriot (11)

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Hier noch ein Link zum Nostalgie-Beitrag über „Monaco Franze“: http://www.revierpassagen.de/19073/tv-nostalgie-2-monaco-franze-bleibt-unvergesslich/20130726_1310




Revierpassagen-Texte wurden bühnenreif: Rolf Dennemanns Krankenhausreport „Unterwegs mit meinem Körper“

Wenn ein gelegentlicher Mitarbeiter der „Revierpassagen“ ein Bühnenprogramm entwickelt und aufführt; wenn noch dazu sehr lesenswerte Textvorlagen zu diesem Projekt als Beiträge in den Revierpassagen gestanden haben – dann, ja dann machen wir umso lieber ein bisschen Reklame dafür.

(Foto: d-man)

Eine Station der Krankenhaus-Odyssee (Foto: d-man)

Die Rede ist von Rolf Dennemann und seiner szenischen Lesung „Unterwegs mit meinem Körper“, die kürzlich erfolgreich Premiere hatte. Der Autor, Regisseur und Schauspieler schildert seine Odyssee durch diverse Krankenhäuser des Landes. Es halten sich dabei erzkomische und durchaus ernsthafte Aspekte die Waage. Anders gesagt: Sie folgen einander in aberwitziger Weise.

Hand aufs hoffentlich nicht allzu kranke Herz: Wann habt ihr zuletzt über die Rolle des Hagebuttentees in deutschen Kliniken nachgedacht? Und was haltet ihr von der künstlerischen Ausstattung unserer Krankenhäuser? Und das sind nur die harmlosesten von vielen, vielen Fragen…

Einen gewissen Vorgeschmack erhält man, wenn man sich noch einmal – ebenso schaudernd wie genüsslich – Rolf Dennemanns dreiteiligen Revierpassagen-Text „Krankenhausreport“ (Links stehen am Ende dieses Beitrags) zu Gemüte führt. Doch natürlich hat Rolf Dennemann seine Erlebnisse für die Bühne noch einmal ganz anders bearbeitet.

Auch darf man sicher sein, dass die Präsenz Rolf Dennemanns und der Schauspielerin Elisabeth Pleß den Texten noch einige weitere Dimensionen verleiht, zumal auch Bild- und Videoprojektionen zum Repertoire gehören.

So. Ich denke, jetzt haben wir genügend Vorfreude auf die weiteren Auftritte geweckt. Der nächste begibt sich am Freitag, 17. April (20 Uhr), im Dortmunder „Theater im Depot“, ein weiterer am 29. Mai in Gelsenkirchener Consol Theater. Da ahnt man schon: Unter den Absurditäten des stationären Gesundheitswesens ächzen auch ansonsten scharf rivalisierende Revierstädte gemeinsam.

Weitere Infos auf Rolf Dennemanns Internet-Seite: www.artscenico.de

Die drei Teile des „Krankenhausreports“, erschienen im Februar 2014:
http://www.revierpassagen.de/23415/der-krankenhausreport-teil-1-ich-nehme-dann-das-einzeldoppel/20140209_1733

http://www.revierpassagen.de/23421/der-krankenhausreport-teil-2-wir-sind-die-gruenen-damen/20140211_1004

http://www.revierpassagen.de/23424/der-krankenhausreport-teil-3-das-bekommen-sie-jetzt-alles-von-uns/20140212_1217




Familienfreuden XVII: Im Land des freien Willens

Es ist jetzt keine Überraschung. Schließlich kann man das in jedem Elternratgeber nachlesen. Und gut ist es ja im Prinzip auch. Nämlich: Unsere Tochter ist gerade auf Erkundungstour in das Land ihres freien Willens – und wir alle müssen mit. Sofort!

Kein "Nein" mehr beim Tanzen. (Bild: Nadine Albach)

Kein „Nein“ mehr beim Tanzen. (Bild: Nadine Albach)

Unsere Tagesmutter hat es letztens auf den Punkt gebracht: „Fiona wird einmal einen Job mit Weisungsbefugnis bekommen“, stellte sie lapidar fest. Und berichtete dann, wie unsere Tochter zwei andere zweieinhalbjährige Mädchen instruiert hatte, mit ihr eine Bank zu tragen – bis diese endlich da stand, wo sie sie haben wollte. Die beiden anderen Mädchen hatten ohne Widerspruch getan, was Fiona von ihnen wollte.

Ehrlich gesagt würden wir das auch gern manchmal tun. Denn wehe dem, der sich Fionas Ideen in den Weg stellt. Oder ich drücke es mal anders aus: Den Dickkopf hat sie sicher von uns beiden geerbt. Auch wenn wir nicht ganz so viel bei der Durchsetzung unserer Interessen schreien.

Aber: Wir sind die Eltern. Und damit auch immer wieder in der Rolle der Verhinderer, im-Weg-Steher, Bedenkenträger, des „Geht jetzt nicht“ oder schlicht des „Nein“. „Nicht immer Nein sagen“, ruft Fiona dann. Aber es hilft ja nix. Allein über die Straßen gehen, die Küche unter Wasser setzen oder auch noch stundenlang bauen, wenn wir zur Arbeit müssen – das alles sind nicht so richtig tolle Ideen. Und außerdem wollen wir ja auch nicht, dass Fiona zu einem kleinen Monstrum mutiert, das immer bekommt, was es gerade will.

Wille prallt auf Wille

Dumm nur, dass es am Tag gefühlte 234 Situationen gibt, in denen Wille auf Wille prallt. Die einschlägige Ratgeberliteratur hat uns einen kleinen Lichtblick beschert mit dem Tipp, Fiona vor Handlungsalternativen zu stellen, so dass sie das Gefühl bekommt, die Entscheidung selbst getroffen zu haben. Wenn sie also Freunden nicht Tschüss sagen will, schlagen wir vor, dass sie ein „Goodbye“ loslässt – und es klappt! Auch die Frage, ob sie abends lieber zuerst Zähne putzen oder den Schlafanzug anziehen will, lässt die Diskussion gar nicht erst aufkommen, ob ins Bett gehen überhaupt eine Option ist. Allerdings verknotet sich mein Gehirn bei dem Versuch, in jeder Situation interessante Alternativvorschläge zu finden. Wenn Fi sich gerade ein Glas Wasser über den Kopf schütten will – soll ich ihr dann vorschlagen, es stattdessen bei mir auszuprobieren?

Das Drama leben

Manchmal also kommt man nicht umhin, das Drama zu leben. „Nein“ zu sagen. Punktum. Und dann: Ohren zu und durch. Schreien. Weinen. Laufende Nase. Stampfen. Auch mal auf den Boden werfen. Schon mal gar nicht in den Arm nehmen lassen. Für Minuten, gefühlte Stunden. Wut ist ja auch mal ganz gut.

Aber – es gibt auch die schwachen Momente. Die, in denen man weich wie Butter ist, wie die Mädchen, die die Bank getragen haben. Es sind die Situationen, in denen Fi ihre ganze Weisungskompetenz zeigt.

Hooked on a feeling

Letztens zum Beispiel. Fiona wollte tanzen. Sie verlangte nach ihrem aktuellen Lieblingslied, „Hooked on a feeling“ von Blue Swede. Wenn das fordernde „ugachaka ugachaka“ das Wohnzimmer füllt, wissen Normen und ich schon, was wir zu tun haben: Fi stürmt die Couch, unsere Positionen sind rechts und links vor ihr. Jeder bekommt ein Kuscheltier zugewiesen. Wir hüpfen. Wir schwingen die Hüften. Wir lassen die Kuscheltiere fliegen. Und wenn der Sänger „Aaaaaah!“ ruft, werfen wir die Arme in die Luft und schließen die Augen vor lauter Inbrunst.

Ach ja. Manchmal kann nachgeben sooo schön sein!




Detlef Orlopps starke Strukturen und Plakate aus der DDR im Essener Folkwang-Museum

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Nur Struktur. Das Bild heißt „2.8.1987“ (Foto: Museum Folkwang/Detleff Orlopp)

In der Malerei wären solche Bilder etwas Vertrautes. Viele von ihnen zeigen gleichmäßige Oberflächen, sind monochrom und wirken in der Hängung schnell wie Serien. Vielleicht würde man, wäre es Gemaltes, von „konkreter Kunst“ sprechen, vielleicht auch könnte man in ihnen Totalübermalungen im Stil Gerhard Richters zu erkennen glauben.

Tatsächlich jedoch sind die rund 160 Bilder Fotografien und zeigen sorgfältig abgelichtete Strukturen in urwüchsigen Landschaften oder auf bewegten Wasseroberflächen. Sie entstanden in einem Zeitraum von rund 60 Jahren, ihr Schöpfer ist der Fotograf Detlef Orlopp, dem das Essener Folkwang-Museum jetzt eine große Werkschau ausrichtet. Die Bilder entstammen einem Ankauf von rund 500 Arbeiten, den das Museum 2012 tätigte.

Detlef Orlopp, 1937 in Westpreußen geboren, gehörte zu den ersten Schülern Otto Steinerts, der als Fotolehrer zunächst in Saarbrücken, später in Essen die „subjektive Fotografie“ begründete. Und wenn man nun in Essen Orlopps Arbeiten sieht, mag man das kaum glauben. Denn schon seine seriellen Portraitreihen, die er in den frühen 60er Jahren beginnt, prägt offenkundig der Versuch, die subjektive Handschrift des Lichtbildners durch formale Einheitlichkeit verblassen zu lassen.

Orlopps Landschaften aus jener Zeit indes lassen das Topographische, das Ortstypische noch erkennen, zeigen Bergspitzen und Felswände, Dünenformationen und Küstenlinien. Man ahnt die Wucht der urwüchsigen Natur, doch „beweist“ der Fotograf sie nie, etwa durch Größenvergleiche mit Spuren zierlicher Zivilisation. Die minimalistische Kunstrichtung Zero, so Kurator Florian Ebner, habe Orlopp in seinen frühen Schaffensjahren sehr beeinflusst. Man glaubt es, sieht man seine Bilder, gern.

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„4.9.1966“ (Foto: Museum Folkwang/Detlef Orlopp)

In den folgenden Jahrzehnten entstehen Arbeiten, die noch radikaler sind. Sie zeigen ausschließlich rhythmische Struktur und sind nicht mehr verortbar. Seriell reiht Orlopp das Ähnliche aneinander , was dieser Ausstellung in den angenehm zurückhaltenden Räumlichkeiten des Folkwang-Neubaus geradezu meditativen Charakter verleiht. Doch auch wer hier nicht die Seele schweben lässt, ist tief beeindruckt von der Vielfalt der wahrgenommenen Strukturen und von der vielen (Fotografier-) Arbeit, die in dieser Ausstellung steckt. Übrigens entstanden alle Abzüge – die meisten von ihnen im lange Zeit größten Konfektionsmaß 50 x 60 Zentimeter – sämtlich noch auf traditionelle Weise als Bromsilbergelantine-Abzüge in der Dunkelkammer.

Der serielle Charakter des Oeuvres lässt einen an die Bechers denken, die es mit ihren fotografischen Reihungen von Industrieanlagen, Fachwerkhäusern usw. zu Weltruhm brachten. Interessanterweise machte Orlopp von 1952 bis 1954 eine Fotografenlehre in Siegen, der selben Stadt, in der der sechs Jahre ältere Bernd Becher das Licht der Welt erblickt hatte. Gleichwohl war ihrer beider künstlerischer Werdegang höchst verschieden, haben sich die kreativen Lebensbahnen wahrscheinlich nie gekreuzt.

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„Helen von B., 8.10.1963“ (Foto: Museum Folkwang/Detlef Orlopp)

Der vorzügliche Katalog zur Ausstellung übrigens wurde, eine Besonderheit, auf zwei verschiedenen Papiersorten gedruckt. Frühe Bilder erscheinen in Hochglanz und reinem Weiß, spätere mit einem Hauch von Sepia auf mattem Papier. So kommt der Druck den Vorlagen besonders nahe. Ältere Fotografen fühlen sich bei dieser Materialwahl an die traditionsreichen Agfa-Fotopapiere „Brovira“ und „Record rapid“ erinnert.

Plakate aus der DDR 1949 – 1990

Die andere neue Ausstellung im Essener Folkwang-Museum hat mit der ersten nur Ort und Zeit gemein. Sie zeigt „DDR-Plakate 1949 – 1990“, ein Gutteil des Materials kommt von der Berliner Stiftung Plakat Ost.

Ja, auch in der DDR wurde geworben – für die richtige Politik und gegen den Klassenfeind, gewiss, aber ebenso für Kino und Theater und auch für die Waren, die beispielsweise der „Konsum“ für die Werktätigen (oft leider nicht) bereithielt.

Werbung hatte in der Mangelwirtschaft der DDR immer die Aura des Absurden. Und sie galt als ungelenk, über „Plaste und Elaste aus Schkopau“, die mit schäbigem Schild an einer Brücke beworben wurden, haben Generationen von westdeutschen Transitautobahnbenutzern gelacht. Gleichwohl entstand in der DDR eine Vielzahl vorzüglicher Plakate. Manche davon waren auch im Westen bekannt, wie die schwungvolle Erweiterung des „MM“-Logos der Leipziger Messe zu einem Pärchen mit Koffern, das energisch durch das Bild strebt, der Messe entgegen vermutlich. Es entstand schon 1956, seine Schöpfer waren Margarete und Walter Schultze.

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Klaus Wittkugel: „Kunst im Kampf“. Plakat zur Ausstellung der deutschen Akademie der Künste, 1962 (Foto: Museum Folkwang/VG Bild-Kunst, Bonn)

Viele klassenkämpferische Arbeiten mit roten Fahnen und geballten Fäusten, für den sozialistischen Aufbau und gegen die Bonner Kriegstreiber, sind fachlich und ästhetisch ausgesprochen gelungen. Es ist Plakatkunst im Stil der Zeit, der auf beiden Seiten der immer stärker befestigten Staatsgrenze recht ähnlich war. In den Siebzigern hielt vereinzelt die Pop Art Einzug ins DDR-Plakatschaffen, beispielsweise in der Werbung für Ulrich Plenzdorfs auch im Westen stark beachteten Film „Die Legende von Paul & Paula“ mit Angelica Domröse und Winfried Glatzeder. Auf den ersten Blick wirkt das wie ein Entwurf von Heinz Edelmann, der das Cover der Beatles-Platte „Yellow Submarine“ gestaltete. Doch der tatsächliche Schöpfer hieß Klaus Vonderwerth.

Die jüngsten Plakate stammen aus der Zeit, als es die DDR fast schon nicht mehr gab. 1990 bewarb das Bündnis 90 einen gewissen Jochen Gauck mit dem Slogan „Freiheit – wir haben sie gewollt – wir gestalten sie!“ – „Tatkräftig – zuversichtlich – mit norddeutschem Profil“ steht außerdem noch auf dem Plakat, was immer mit Letzterem gemeint ist.

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Jürgen Freeses Plakat „Nürnberg schuldig!“ von 1946 ist sogar um einiges älter als die DDR. (Foto: Museum Folkwang)

„Anschläge von ,Drüben’“, so der Titel der Plakatausstellung mit dem heutzutage wohl unvermeidlichen Doppelsinn, ist nicht zuletzt eine Einladung zum Nachdenken über den anderen deutschen Staat, den es eben auch einmal gab und den viele am liebsten einfach vergessen wollen. Bilder aus einer untergegangenen Welt mithin. Das wäre fast schon ein Plakatmotiv.

  • Detlef Orlopp: „Nur die Nähe – auch die Ferne. Fotografien“. Katalog 34 €.
  • „Anschläge von ,Drüben’. DDR-Plakate 1949 – 1990“. Katalog 20 €.
  • Beide Ausstellungen: Bis 19. April 2015, Di-So 10-18 Uhr, Do u. Fr 10-20 Uhr, Eintritt 5 €.
  • Museum Folkwang, Museumsplatz 1, Essen
  • www.museum-folkwang.de



„Nachkriegskinder“: Das fortwährende Leiden unter den Soldatenvätern

Die Kölner Journalistin Sabine Bode (WDR, NDR) hat ganz offenkundig seit langem das Themenfeld ihres Lebens gefunden – und intensiv durchpflügt. Ihr liegen die deutschen Kriegs- und Nachkriegskindheiten am Herzen, mithin die mehr oder minder verborgenen Verheerungen, die der Zweite Weltkrieg auch noch im Seelenleben von Nachkommen der Täter angerichtet hat.

9783608980394Eines ihrer Sachbücher heißt „Nachkriegskinder“. Der bereits 2011 erschienene Band ist ein mehr als heimlicher Verkaufserfolg, er hat kürzlich bereits die sechste Auflage erreicht. Bevor man es nun weiterhin versäumt, ihn zu entdecken und zu empfehlen, bespricht man ihn lieber doch noch. Besser spät, als nie.

Tatsächlich leben ja auch noch enorm viele Menschen, die hier zumindest Bruchstücke aus ihren Biographien wiederfinden können, geht es doch laut Untertitel um „Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter“.

In etlichen eingehenden Gesprächen mit Zeitzeug(inn)en hat Sabine Bode die Historie sondiert. Es zeigt sich dabei immer wieder, wie sehr die seelische Innenausstattung einer bestimmten Epoche beileibe nicht nur persönliche, sondern zu großen Teilen eine kollektive Angelegenheit ist. Da ist eine ganze Generation im Schatten vielfach tyrannischer Väter aufgewachsen, die an der Kriegsfront höchstwahrscheinlich schwerste Schuld auf sich geladen haben, aber nie davon zu sprechen wagten.

Es sind charakteristische Jahre und Sozialtypen, deren Umrisse hier auftauchen; zutiefst widersprüchliche, innerlich zerrissene Väter, verbissen, verschwiegen und im Familienkreis auf ungemein pedantische Weise herrschsüchtig. Ja, arme Teufel waren sie natürlich auch. Irgendwie.

Man hatte diesen Männern die Jugend gestohlen und sie schickten sich ihrerseits an, ihrem Nachwuchs in grässlich verdrucksten Friedenszeiten die Kindheit zu versauen und so manche Freuden auszutreiben – mit willkürlichen Prügelstrafen und aller sonstigen Gewalt, die seinerzeit wie selbstverständlich dazugehörte.

Man lese als Ergänzung nur die üblen „Erziehungs“-Ratgeber von damals, die teilweise schon aus finsteren Zeiten stammten. Demnach waren etwa Jungen zur Härte abzurichten, indem man sie schon in frühester Kindheit lange allein vor sich hin schreien ließ. Man liest es heute noch mit kaltem Zorn.

Von manchen Vorfällen weiß ich auch selbst zu sagen, wie so viele andere Gleichaltrige: Mein Vater hatte sich als 17jähriger freiwillig an die russische Front gemeldet. Was er in und um Smolensk getan hat, blieb für mich allzeit im Dunkeln. Gegen Ende seines Lebens haben ihn die schrecklichen „Stahlgewitter“ noch einmal merklich durchzittert.

Eine abstruse Wutfigur, die ganz ähnlich auch in Sabine Bodes Buch vorkommt, war jene abgründig aggressive Spielart seines nachträglichen „Pazifismus“. Im Originalton hörte sich das so an: „Wenn du zur Bundeswehr gehst, schlag’ ich dich tot.“ Wortwörtlicher Wahnwitz. Andererseits erstaunlich, wie wenig Fotos und Dokumente aus seiner Soldatenzeit vorliegen. Was hat er verloren, was hat er vernichtet?

Im Buch wird übrigens eine Behörden-Quelle genannt, bei der man womöglich nähere Einzelheiten über die Kriegseinsätze der Väter erfahren kann, nämlich die Wehrmachtsauskunftsstelle WASt. Wer will, ziehe Erkundigungen ein.

Sabine Bode, selbst vom Jahrgang 1947, hat sich derart einlässlich in ihre Themen vertieft, dass sie als gute Zuhörerin weit über bloße Betroffenheitsliteratur hinaus gelangt. Hier wird sichtbar, was eine Generation überhaupt ausmacht. Viele Kinder reagierten insgeheim mit schmerzlichen Selbstvorwürfen auf das Geheimleben ihrer Väter, während die Mütter meist wegsahen und sich in Verdrängung oder Beschwichtigung übten. Sie kümmerten sich halt ums Alltägliche.

Welch eine stickige, verlogene, verbogene Zeit – diese 50er Jahre. Und welch unerlöste Lebensläufe zuhauf. Wie überaus harmlos muten hingegen spätere Altersgruppierungen wie etwa die „Generation Golf“ an.

Es mag stimmen, dass im Zuschnitt der Nachkriegsgeneration auch Erklärungsansätze für das Phänomen der fast durchweg links gewendeten Nach-„68er“ liegen.

Allerdings erhebt sich auch die Frage, wie wir damit umgegangen wären, hätten wir von unseren Vätern direkt und unverblümt die volle Wucht der Wahrheit erfahren, hätten wir also konkret von Erschießungen oder Vergewaltigungen gehört. Vielleicht wollten wir – im Vollgefühl moralischer Überlegenheit – nur halbwegs hartnäckig gefragt haben, aber dann lieber doch nicht alles wissen? Hätten wir als Kinder von Mördern Frieden mit unseren Eltern und mit uns selbst schließen können? Die ganze Republik wäre eine andere gewesen…

Es klingt plausibel, dass die Nachkriegskinder oft erst im höheren Alter gleichsam hinterrücks noch einmal von den Lebensdramen ihrer Eltern eingeholt werden. Sie haben sich eingeredet, dass man als Erwachsener irgendwann mit seinen Altvorderen im Reinen zu sein hat. Doch weit gefehlt.

Sabine Bode: „Nachkriegskinder. Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter“. Verlag Klett-Cotta, 302 Seiten. 19,95 Euro.




„Wie die Karnickel“: Eine Papst-Äußerung mit weitreichenden Folgen

Herrje! Jessas! Dschieses! Da ist aber der Rauch des Satans in die druckdichte Kabine des päpstlichen Flugzeugs eingedrungen! Hat doch das Oberhaupt der Katholiken verkündet, dieselben müssten sich nicht „wie die Karnickel“ vermehren…

Bergoglio, das war missgetan! Denn ungeachtet möglicher weitreichender moraltheologischer Schlussfolgerungen aus dem tierischen Vergleich meldete sich prompt der Zentralverband Deutscher Rasse-Kaninchenzüchter zu Wort: Die Fortpflanzung deutscher Rasse- und Zuchtkaninchen erfolge in geordneten Bahnen. Sexuelle Ausschweifungen träfen nur auf freilebende Tiere zu!

Um Himmels willen! Das Karnickel - ein Problemtier? (Foto: pixabay/SpiritBunny)

Um Himmels willen! Das Karnickel – ein Problemtier? (Foto: pixabay/SpiritBunny)

Wir folgern aus dieser Expertise: Die langohrigen Mümmelmänner – ach so, es gibt auch kurzohrige? – mögen sich vielleicht in der argentinischen Pampa unkontrolliertem Geschlechtsverkehr mit anschließend überhöhten Geburtenraten hingeben; in Deutschland geht das unter dem Lehramt der Züchter keinesfalls! Und da die Kirche mit den knuffigen Schnüfflern schon mal Pech hatte – die Bibel ordnete sie fälschlich den Wiederkäuern zu –, möchte man dem Heiligen Vater zurufen: Schuster, bleib bei deinen Leisten!

Leisten? Oh! Soeben meldet sich die Interessengemeinschaft Deutscher Qualitätsschuh: Diese mittelalterliche Aussage sei wohl nicht mehr angebracht. Ob ich etwa beabsichtige, die zeitgemäße Herstellung von Fußbekleidung willentlich und wissentlich zu diffamieren. Die moderne, orthopädisch auf dem neuesten Stand befindliche Schutzhülle für menschliche Fortbewegungsorgane komme in ihrer elektronisch gesteuerten Produktion selbstverständlich ohne „Leisten“ aus. Hm – ein übler Fehlgriff. Man sollte nachdenken, bevor man Metaphern nutzt. Ist doch eigentlich klar wie Kloßbrühe, oder?

Moment mal! Kloßbrühe? Da reklamiert die Arbeitsgemeinschaft ostthüringischer Kloßhersteller Kompetenzen für sich. Hätte ich mich jemals der fachgerechten Zubereitung der mitteldeutschen Spezialität oder ihrer bayerischen und k.u.k.-Varianten gewidmet, wüsste ich, dass es ein Kennzeichen des Qualitätskloßes sei, nach dem Kochvorgang eine verunklarte Brühe zu hinterlassen. Und die „dumpling control commission“ der EU meldet sich mit der Information zu Wort, dass die Kloßbrühe nach der 1997 in der Drucksache 97/D/44-238-sh17it von der Kommission festgelegten und für die Gastronomie verbindlichen Standardkochzeit nach ISO 38447 einen Trübungsgrad von -2,4 dump aufweisen müsse. Zum Vergleich: Das Wasser, in dem Politiker zu fischen pflegen, dürfe nach dem Ethikkodex des Europäischen Parlaments keinen Trübungsgrad über -7,8 dump aufweisen. Der Transparenz wegen.

Ich gebe mich geschlagen. Keine Sprachbilder mehr! Schluss mit unsachgerechten Metaphern. Es ist einfach zum Mäusemelk …. Oh, Mist! Wer ist am Telefon? Das Komitee zum Schutz von Quadrupeden? Es sei inhuman, Kleinsäuger der schmerzhaften und entwürdigenden Prozedur des Melkens zu unterwerfen? Ich solle mich doch besser an Turbokühe halten?

Moment, es klingelt. Die Post bringt ein Einschreiben. Absender: Niedersächsischer Hochleistungsrind-Zuchtverband. Wie ich auf die dämliche Idee käme, das zeitgemäße Qualitätsmilchrind werde noch „gemolken“? Vielmehr werde die Milch zitzenfreundlich durch Delactosierungsgeräte auf dem neuesten Stand der Technik schonend aus dem milchführenden Drüsen- und Eutergewebe entfernt! Lieber Papst Franziskus, ich reiche Eurer Heiligkeit die Hand: Was biological correctness betrifft, haben wir noch viel dazuzulernen.




Schockierendes Geständnis: Warum ich mich beim „Dschungelcamp“ prächtig amüsiere

Ich traue mich eigentlich auch jetzt noch nicht so recht: Sind ernsthaft zu nennende Blogs, die sich in würdigender Weise dem gezausten Themenfeld der Kultur widmen, auch wirklich das angemessene Podium?

Setze ich mich nicht freiwillig der Gefahr aus, mich als tumber Konsument und aufs Glotzen fixierter Allesfresser zu outen? Könnte ich möglicherweise das Schallen der auslachenden Heiterkeit bis nach Hagen hören? Ich mach’s dennoch: Der alte Mann gesteht, er guckt mit einem Heidenvergnügen alle Jahre wieder „Dschungelcamp“, amüsiert sich königlich, wie angeranzte Promis (oder solche, die noch nie welche waren und andere, die betteln, alsbald solche werden zu dürfen), alle Selbstachtung missachtend, allerlei Reste von krabbelnden Bewohnern des raren Regenwaldes von Down Under herunterwürgen. Ertappt.

Alltagskultur im weitesten Sinne

Nun tröste ich mich seit der Stunde, da diese Sendung Grimme-bepreist wurde, damit, dass sie ja im weitesten Sinne ein Stück deutscher Alltagskultur ist; damit, dass über die Ereignisse im sonnigen Promi-Hain von nahezu jedem Medium hierzulande begierig berichtet wird. Selbst Fernsehsendungen nehmen sich dieser Fernsehsendung an – quasi das „Wetten, dass?“ der Privaten. „Dschungelcamp“, das hat also einen Aktualitätswert, den zu unterschätzen zwar ausdrücklich erlaubt ist, aber anscheinend traut sich das niemand wirklich.

Daniel Hartwich und Sonja Zietlow im Dschungelcamp (Foto: RTL/Stefan Menne)

Daniel Hartwich und Sonja Zietlow präsentieren das Dschungelcamp (Foto: RTL/Stefan Menne)

Ich bin ja bekennender Fan des gepflegten „Trash-TV“, ährlich. Das Team im Hintergrund der alljährlichen „Camper“-Tragödie ist indes im Rahmen dessen, was die Kollegen der Branche ansonsten so zu Wege bringen („Biggest Loser“, „Bauer sucht Frau“ oder Schlimmeres), beinahe von athletischer Sprachkultur.

Nach meist zurückhaltendem Beginn (man muss die Typinnen und Typen im Camp ja erstmal kennen lernen), fallen spätestens nach dem dritten Tag stets alle Barrieren. Dann beginnt Sonja Zietlow mit Daniel Hartwich (Nachfolger des verstorbenen Dirk Bach) über alles herzuziehen, was zweibeinig durch den Urwald stapft oder hinfällig stolpert.

„C-Promis sind viel zu teuer“

„Was schreiben die nur immer, wir laden doch keine C-Promis ein, die sind doch viel zu teuer“, tönt Sonja. Oder Daniel entfährt gekonnt die Charakterisierung „fossiler Lowperformer“ für Walter Freiwald, den er gern auch in „Freiwild“ umtauft.

Ach ja, muss man ja erläutern, wer das überhaupt ist: Walter Freiwald war einst Anhängsel von Harry Wijnvoord beim frisch geschlüpften Privat-TV von RTL in der kultigen Nachmittagssendung „Der Preis in heiß“. Harry war schon lange vor ihm im Dschungel, schlug sich recht wacker und bekam etwas frischen Wind die Karriereflaute. Die wünscht sich der welke Walter nun auch, bejammert das hilflose Publikum mit bundesweiten Bewerbungsgesprächen, was laut BILDender Zeitung zumindest beim Friesischen Rundfunk angeblich gewirkt haben soll. Anscheinend brauchen sie noch Verstärkung in ihrer Geriatrie.

Illuster ist der Reigen häufig desaströser Karrieren im Showbiz allemal. Und das in jedem neuen Jahr. Ich vermisse eigentlich seit langem eine vorgeschaltete Casting-Staffel, damit ich mal mitkriege, woher sie diese Merkwürdigkeiten eigentlich kramen. Ist aber wohl zu aufwändig.

Maren Gilzer beispielsweise lächelt sich mal wieder in ferne Zuschauerherzen. Die kannte man als anmutig-langbeinige Assisstentin im „Glücksrad“ und später als schauspielernde Krankenschwester im Team der Hospital-Soap „In aller Freundschaft“. Sie hatte sicher die stabilste Leiter von allen aktuellen Campern. Ähnlich stabil lief es bei Rebecca Simoneit-Barum, der ewigen „Iffi Zenker“ aus der „Lindenstraße“. Die kannte ich ja noch beide, alle folgenden erst, seitdem sie im Dschungel Bohnen mit Reis kauen. Ist doch auch ein Erfolg?

Blondine und Muskelpaket

Nun aber der ziemlich unbekannte Rest: Angelina Heger, ein possierliches Blondchen, versuchte mal einen „Bachelor“ zu umgarnen. Ohne Erfolg, was nicht weiter wundert, denn ist sie im Camp genauso auffällig wie die Beschattung durch die Bäume. Oder Aurelio Savina, ein bemaltes Paket Muskel das sich noch an seine Machorolle herantastet und mal eine Bachelorette bezirzen wollte, sich aber rauspöbelte. Benjamin Boyce, dem man nachsagt, er könne singen, weil er mal einer Boygroup angehörte. Jörg Schlönvoigt, von dem es heißt, er sei DJ, Sänger und Allgemeinmediziner bei GZSZ („Gute Zeiten, schlechte Zeiten“). Ihrer beider Präsenz ist ebenfalls im Baumschatten zu suchen.

Und da hätten wir noch Patricia Blanco, Tochter des gleichnamigen Roberto, was ihr einziger Hinweis auf unmittelbar bevorstehende Prominenz bleibt. Außerdem wären da Rolf („Rolfe“) Schneider, dessen herausragende Leistungen sich bei der Jury-Mitgliedschaft während der Supermodelsuche und glänzenden Haltungsnoten beim Turmspringen finden lassen; Sara Kulka, eine der vielen, die „fast mal Supermodel geworden wären“, die indes Blüten streut, wenn sie ihr spezifisches Deutsch spricht: „Je öfters Du das machst, desto scheißegaler wird Dir das.“ Und schließlich Tanja Tischwitsch, das stimmlose Gesangstalent, das bei „Deutschland sucht den Superstar“ nur wegen seiner Ausstrahlung in den Recall gelangte.

So, hätte ich sie jetzt alle?. Die brummige Leserin, der kopfschüttelnde Leser wird gerade denken: „Ist mir doch egal, dieser Flachsinn!“ Aber wenn sie oder er sich das durchgelesen haben, sind sie genauso weit gekommen und informiert wie die im Spiegel, in der Zeit, der Welt oder vielen, vielen anderen Medien. Aber ich stelle hier mal wertend fest: Kult ist das, kultig kommt es bei mir an und ich lache mich frohgemut in die Bettschwere. Jedoch bis zur Kultur fehlen halt (nicht nur) zwei Buchstaben.




Bedrohlich flackernder Faschismus: Dortmunder „Tatort“ zur Neonazi-Szene

Das dürfte jetzt feststehen: Dortmund ist – glaubt man den Fernsehbildern – derzeit die abgefuckteste und desolateste „Tatort“-Stadt. Doch zugleich entstehen hier mit die stärksten und dringlichsten Krimis der Reihe.

Der heutige Fall (Untertitel: „Hydra“) rankte sich um den Mord an einem stadtbekannten Rechtsradikalen, somit auch um die örtliche Neonazi-Szene und deren fatale Querverbindungen ins Polizeipräsidium und zu anderen staatlichen Stellen.

Kommissar Faber (Jörg Hartmann, li.) befragt im früheren Stahlwerk einen Obdachlosen (Michael Witte). (Foto: WDR/Thomas Kost)

Kommissar Faber (Jörg Hartmann, li.) befragt im früheren Stahlwerk einen Obdachlosen (Michael Witte). (Foto: WDR/Thomas Kost)

Im Kern ging es nicht zuletzt um die latente oder gar manifeste Nähe des Faschismus zur so genannten „Normalität“ und Alltäglichkeit. Springerstiefel und Baseballschläger sind nur ein kleiner Ausschnitt der Wirklichkeit. Man muss viel genauer hinsehen. Eben dies versuchte dieser „Tatort“ auf beklemmende Weise. Sichtbar wie Wunden wurden einige flackernde Ambilvalenzen und Widersprüche des Themas.

Dabei kamen etliche, vielfach mehrdeutige Nuancen in den Blick: Ein Anfangsverdacht richtete sich gegen eine Antifa-Beraterin jüdischen Glaubens. Ein Rechtsextremer zeigte sich juristisch und sprachlich gewieft. Einige Fußball-„Fans“ bewegten sich in bedenklichen Grauzonenen oder übleren Gefilden. Und immer wieder dieses gleichgültige Wegsehen…

All das drohte bisweilen unübersichtlich zu werden – ganz wie im richtigen Leben. Fast nichts wurde ausgespart, also blieb den Zuschauern kaum etwas erspart; auch nicht der feige, demütigende Überfall auf die deutsch-türkische Polizistin Dalay (Aylin Tezel).

Natürlich war das Ganze dramaturgisch modelliert, doch es bewegte sich überwiegend wohl auch verflucht nah an der Realität.

Kommissar Faber (Jörg Hartmann) hat sich unterdessen längst zur Fachkraft für allerlei Abgründigkeiten entwickelt, er genießt eine Art Autorität bei allen Verzweifelten, bei „denen da unten“. Er selbst ist ja so eine arme Seele.

Man kann es nur mit drastischen Worten sagen: Ansonsten bleibt Faber der Kotzbrocken (wahlweise: das Arschloch), dem auch und gerade die Kolleg(inn)en am liebsten mal die Fresse polieren würden. In seiner Abteilung herrscht ein Scheißklima. Doch gerade, weil sie sich keinerlei Illusionen machen, sind sie dem Verbrechen ebenbürtig. Mindestens.