Immerhin: Dortmunder Karstadt-Haus bleibt wohl doch geöffnet

Historische Fassade des Dortmunder Karstadt-Hauses (Aufnahme vom Oktober 2012: Bernd Berke)

Ein Hauch von Hoffnung – was das Revier anbelangt, zumindest für die Dortmunder Innenstadt und natürlich für die hiesigen Beschäftigten: Das Karstadt-Haus (Karree am Hansaplatz/Westenhellweg) soll nun offenbar doch nicht schließen. Damit wäre eine arge Schwächung der City vorerst abgewendet; jedenfalls zum Teil. Denn der Dortmund Kaufhof ist wohl nicht mehr zu retten.

Die geänderte Lage hat allenfalls emotional mit der lokalen Kaufhaus-Nostalgie zu tun, derzufolge Karstadt (ehedem: Althoff) einfach zu Dortmund gehört. Es dürfte hingegen an Nachverhandlungen mit den Vermietern liegen, aus denen sich offenbar Zugeständnisse ergeben haben. Vielleicht hat auch der vehemente Einsatz der Stadt seinen Teil beigetragen. Die Stadtspitze musste jedenfalls ein vitales Interesse am Erhalt einer möglichst attraktiven Mitte haben und hat dies auch unmissverständlich kundgetan.

Eigentlich ein starker Standort

Manche Beobachter hatten von Anfang an diese Möglichkeit gesehen und vermutet, dass die Schließungs-Ankündigung in diesem Sinne als (un)sanfte Drohung und Mahnung zu verstehen gewesen sei. Überdies haben ortskundige Fachleute darauf hingewiesen, dass die Karstadt-Ertragslage am Westenhellweg (eine der umsatzstärksten Einkaufsmeilen der gesamten Republik) deutlich über dem Durchschnitt liege. Auch war das Haus jüngst noch millionenschwer renoviert worden. Vor diesem Hintergrund klangen die Schließungspläne schon einigermaßen rätselhaft.

Ähnliche Hoffnungsschimmer gibt es jetzt für weitere fünf Karstadt/Kaufhof-Niederlassungen in Leverkusen, Chemnitz, Goslar, Potsdam und Nürnberg (Lorenzkirche). Hingegen bleibt es im Ruhrgebiet bei den Schließungsplänen für zwei Filialen am Konzern-Standort Essen sowie für Hamm und Witten. Bundesweit sind jetzt höchstwahrscheinlich 56 (statt bislang 62) Standorte betroffen.

Verdi weiß, was Modekäufer wünschen

Für neue, nicht ganz so große Unruhe hat unterdessen die Ankündigung der Modekette Esprit gesorgt, deutschlandweit 44 ihrer 94 Filialen aufzugeben. In Dortmund, wo man bereits vorher ein großes Modekaufhaus geschlossen hatte, soll die verbliebene Filiale in der Thier-Galerie offenbar weitermachen. Die weltbekannten Fashion-Experten der Gewerkschaft Verdi haben dem Esprit-Management vorgeworfen, alle modischen und sonstigen Trends verschlafen zu haben. Tatsächlich hat Esprit nicht bereitwillig jede Torheit der Saison mitgemacht, sondern eine Linie durchgehalten. Gegen Widersacher wie Corona und Zalando (beispielsweise) muss man aber erst einmal ankommen.

Übrigens: Als die aus fünf Gewerkschaften gebildete Vereinigung Verdi 2001 loslegte, hatte sie 2,8 Millionen Mitglieder, heute sind es rund 1,9 Millionen. Sollte man da etwa „Trends“ verpennt haben?

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(mit Infos aus Spiegel online, WAZ und Ruhrnachrichten)

 




Mit schnellem Stift Momente im Prozess skizzieren – Gerichtszeichnungen als rares Ausstellungsthema in Hamm

Stefan Bachmann: Moment aus dem Kachelmann-Prozess (2010/2011) – mutmaßliches Opfer und Angeklagter, zwischen ihnen Geräte für eine gerichtliche Video-Aufzeichnung.

Kaum zu glauben: Schon seit 200 Jahren besteht das Oberlandesgericht (OLG) in Hamm. Anno 1820 ordnete der preußische König Friedrich Wilhelm III. die Verlegung von Kleve in die westfälische Stadt an. Groß feiern kann man das Jubiläum heuer nicht, da ist Corona vor. Doch geht der Anlass auch nicht spurlos vorüber: So sind jetzt im Hammer Gustav-Lübcke-Museum rund 80 Gerichtszeichnungen zu sehen – Beispiele für ein ganz eigenes künstlerisches Genre und selten genug Ausstellungsthema.

Die Studioschau wirkt auf den ersten Blick eher unscheinbar, sie wartet aber mit zeichnerischen Vergegenwärtigungen spektakulärer Prozesse auf, so etwa mit dem Verfahren, bei dem der Wettermoderator Jörg Kachelmann sich wegen angeblicher Vergewaltigungen verantworten musste – und schließlich freigesprochen wurde. Martin Burkhardt, der wohl aktivste und gefragteste Gerichtszeichner der Republik, hat einige markante Szenen aus dem Prozessverlauf in aller nötigen Diskretion festgehalten – von der Aussage einer Zeugin bis hin zum Porträt des Angeklagten. Auch Yann Ubbelohde und Stefan Bachmann haben Momente dieses Prozesses zeichnerisch festgehalten, jeweils mit anderen Ansätzen. Bo Soremsky hat aus dem Geschehen sogar eine interaktive Arbeit destilliert, die im Stile einer Graphic Novel deutlich über die bloßen Tatsachen hinausgreift.

In den Gründungsjahren der Bundesrepublik waren noch Filmaufnahmen im Gericht erlaubt, seit 1964 heißt es jedoch „Fotografieren verboten!“ Diesen Titel trägt nun auch die Hammer Ausstellung. Ohne das Film- und Fotografierverbot gäbe es ja die Gerichtszeichnung nicht. Man kennt die weithin üblichen Fotos und Filmschnipsel, die die kurzen Momente vor Verfahrensbeginn zeigen: Die Angeklagten halten sich zumeist Aktenordner vors Gesicht, man sieht nur die Anwälte, die zuweilen nicht unfroh sind, wenn sie „prominent“ in den Medien auftauchen. Nach diesen eher nichtssagenden Schnappschüssen aber lautet das Gebot: Kamera aus!

Es bleibt also eine Lücke in der Berichterstattung, die nicht einmal durch noch so brillante Texte geschlossen werden kann. Bei einigen Prozessen möchte sich die Öffentlichkeit eben eine genauere visuelle Vorstellung von typischen Momenten, Gesten und Gesichtern machen. Es ist nicht nur blanker Voyeurismus, sondern mag auch der Wahrheitsfindung dienen. So kommt es, dass just die Fernsehanstalten Haupt-Auftraggeber für die Gerichtszeichnungen sind, die in angespannter Situation relativ schnell entstehen und sich am tagesaktuellen Redaktionsschluss orientieren müssen (darin der Karikatur vergleichbar, die aber eine völlig andere, ja fast gegenteilige Aufgabe hat). Printmedien drucken hingegen nur noch sehr selten Gerichtszeichnungen ab.

Der Zeichner oder die Zeichnerin, in aller Regel graphisch gründlich ausgebildet, manchmal auch auf Grundlage eines langen Kunststudiums arbeitend, sitzen also im Gerichtssaal und fertigen mit recht raschem Bleistift-Strich ihre Prozess-Ansichten, die sie hernach meist noch kolorieren und mit Fineliner-Stift umreißen. Dann kommen schon die eiligen Kamerateams und filmen die Zeichnungen ab.

Und siehe da: Diese Zeichnungen haben eine andere Intensität und Unmittelbarkeit als die meisten Film- oder Fotoaufnahmen aus dem Justizwesen. Da die Zeichner im Saale sitzen, fühlt man sich durch ihre Skizzen auch perspektivisch oft mitten ins Prozessgeschehen versetzt. Hinzu kommt das subjektive Moment, das – bei allem Bemühen um neutrale Dokumentation – dennoch insgeheim gegenwärtig ist. In Einzelfällen (sog. Wörz-Prozess) verdichten sich Zeichnungen auch zu stillen Dramen, so beispielsweise in der Gestalt des Vaters einer ermordeten Frau, der sichtlich als gebrochener Mann in den Zeugenstand tritt. Ein bewegendes, Mitleid erregendes Bild.

Martin Burkhardt: Rocker-Prozess in Kaiserslautern. Der Gerichtssaal wurde eigens umgebaut, Panzerglas und Stahldornen trennten den Zuschauerraum von den Verfahrensparteien.

Ganz anders, nämlich sozusagen explosiv und potentiell gewaltgeneigt, erschien die Stimmungslage bei einem Rocker-Prozess um „Hells Angels“-Mitglieder, bei dem Teile des (eigens umgebauten) Saales mit bedrohlich wirkenden Bikern angefüllt waren. Und wieder anders, atmosphärisch geradezu gediegen, die Bilder vom Verfahren gegen den damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff, das sich um Vorteilsnahme und Korruption rankte und mit Freispruch endete. Als eher kurioses Einzelstück sieht man noch ein Gerichtsporträt des Sängers Heino, der in ein Schadenersatz-Verfahren um abgesagte Auftritte verwickelt war.

Cony Teis: Prozess gegen die „Gladbecker Geiselgangster“ – hier der Angeklagte Hans-Jürgen Rösner mit seinem Finger-Tattoo („L-O-V-E“).

Manche Skizzen gelangen auch schon mal in die ARD-Tagesschau oder in die heute-Nachrichten des ZDF. Dennoch verdienen die freischaffenden Gerichtszeichner nicht übermäßig viel. Der übliche Tagessatz liegt bei rund 500 Euro plus Spesen. Große Prozesse und somit lohnende Aufträge gibt es beileibe nicht alle Tage. Und wie sieht es mit Verkäufen aus? Ganz schlecht. Ein Kunstmarkt für Gerichtszeichnungen existiert praktisch nicht. Hamms Museumsleiter Ulf Sölter hat sämtliche Exponate von den Urhebern selbst erhalten. Nur ganz vereinzelt soll es Anwälte geben, die Gerichtszeichnungen in ihren Kanzleien aufhängen. Keine üppigen Geldquellen also. Martin Burkhardt ist denn auch der einzige, der von Gerichtszeichnungen lebt, die weiteren künstlerischen Leihgeber betreiben ihr Gerichtsmetier lediglich als Nebentätigkeit.

Ein Sonderfall ist die Kölner Künstlerin Cony Teis, die zwar einst große Prozesse begleitet hat (Beispiele in der Hammer Auswahl: die Gladbecker Geiselnehmer Rösner und Degowski, der Kinderschänder Dutroux), inzwischen aber längst zur international beachteten freien Kunstszene zählt und Gerichtssäle nicht mehr aufsucht. Das gewiss auch für Zeichner seelisch sehr belastende Dutroux-Verfahren und andere haben sie bewogen, ein hauchzartes und im leisesten Luftzug wandelbares Mobile mit Täter- und Opfer-Porträts auf transparenten Folien zu entwerfen. Teis‘ Werk mit dem Titel „Justitia“ ist als genuin künstlerisches Statement und gleichsam als Summe, Vertiefung und Überhöhung ihrer vielen Gerichtszeichnungen in dieser Ausstellung zu sehen. Spätestens hier sollte man innehalten, um über die Unwägbarkeiten oder auch Untiefen von Recht und Gerechtigkeit nachzusinnen.

„Fotografieren verboten! Die Gerichtszeichnung“. Ausstellung zur 200-Jahr-Feier des Oberlandesgerichts Hamm. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstraße 9. – Bis 3. Januar 2021. Di-Sa 10-17, So 10-18 Uhr. Ein Katalog kommt erst im September heraus. www.museum-hamm.de




Mit Markenprodukten aus NRW: Bildband spürt der aufblühenden „Konsumlust“ der 1960er Jahre nach

Die Geschichte wird wahrlich nicht zum ersten Mal erzählt: wie „die“ Deutschen den Weltkrieg in jedem Sinne hinter sich ließen (nämlich auch nach Kräften zu verdrängen suchten); wie sie sich nach und nach dem Konsum zuwendeten; wie dabei Markenzeichen und folglich Werbung immer wichtiger wurden; wie das Land bunter und wohl zugleich oberflächlicher wurde. Das ganze „Wirtschaftswunder“-Programm eben.

Auch Ulrich Bienes Bildband „Konsumlust“ greift diesen Erzählfaden auf, knüpft ihn aber etwas anders. Gleich zwei Untertitel signalisieren, worum es geht: „Werbung, Wohlstand, Wirtschaftswunder“ und dann vor allem: „Die 1960er Jahre in Spiegel der NRW-Marken“. Heißt also: Hier wird die Geschichte regional aufgezogen, Firmen aus Nordrhein-Westfalen stehen im Vordergrund. Eigentlich kein Wunder, ist Biene doch hauptberuflich Pressesprecher der Veltins-Brauerei im hochsauerländischen Meschede. Er widmet denn auch dem Brauereiwesen im Lande ein ausführliches Kapitel. Apropos: In den 60ern waren die Gewichte noch ganz anders verteilt, rund die Hälfte aller NRW-Biermengen kam aus Dortmund, damals weltweit die zweitgrößte Bierstadt überhaupt. Auf heimelige Ruhrgebietstypologie getrimmte Werbung setzte seinerzeit den Revier-Komödianten Jürgen von Manger alias Adolf Tegtmeier als glaubhafte Vertrauensfigur für die Dortmunder Union-Brauerei ein.

„…und Erwachsene ebenso“

Die 1960er waren jenes Jahrzehnt, in dem sich endgültig etliche Markenbezeichnungen vor die Sachen schoben, es war also beispielsweise nicht mehr so häufig von Papiertaschentüchern, sondern von Tempotüchern die Rede und seltener von Gummibärchen, dafür umso öfter von Haribo, bekanntlich eine schon lange vor dem Krieg begründete Traditionsmarke aus Bonn. Doch nun stellten sie sich neu und zeitgemäß auf: 1967 wurde der Goldbär als geschütztes Warenzeichen eingetragen. Und der alte Vorkriegsspruch „Haribo macht Kinder froh“ wurde zur Mitte der 1960er ergänzt um „…und Erwachsene ebenso“. Vielleicht ein Vorzeichen dafür, dass der Konsum die Generationen einander anglich, indem er viele Erwachsene infantilisierte? Nun, wir wollen nicht gar zu sehr spekulieren. Jedenfalls zeigt sich, dass Konsum mehr ist als bloßer Verbrauch.

Zahlreiche Anzeigenmotive aus vielen Branchen versammelt dieses Buch, die allemal den jeweiligen Zeitgeist repräsentieren und manche Erinnerung wachrufen. Was im Rückblick auffällt: In jenen Jahren wurde der Konsum noch weit überwiegend in deutscher Sprache angeregt oder auch schon recht agil angestachelt. Die damals zunehmend kaufkräftige Generation hatte es noch nicht so mit dem Englischen.

Einflüsse aus der Pop-Art

Anfangs noch im herzig-naiven Stil der 50er Jahre sich ergehend, wurde die Reklame im Laufe des Jahrzehnts zunehmend frech oder grell, gegen Ende der Dekade nahm sie beispielsweise auch Einflüsse aus Pop-Art und Comics auf, sehr deutlich zu sehen anhand der Duisburger Sinalco-Werbung, welche als markanter Ausschnitt die Titelseite des Bandes ziert. Sprite konterte just 1968 mit dem Kunstwort „frischwärts“, einer fast schon sprichwörtlichen Schöpfung. Fanta war jedoch, wie man hier ebenfalls erfährt, eine Kreation aus dem Kriegsjahr 1941, mit der man die damals in Deutschland nicht mehr lieferbare Coca-Cola und deren amerikanische Ableger „ersetzen“ wollte. Nicht nur Bücher, auch Limos haben ihre Schicksale.

Sogar der weithin als biederes Damengetränk verschriene Eierlikör Verpoorten („Ei, Ei, Ei…“) sollte damals mit psychedelischen „Hippie“-Annoncen neue, jüngere Käufer(innen)schichten gewinnen. Auch dies kommt einem heute fremd und fernliegend vor: dass Tabakwaren und hochprozentiger Schnaps mit größter Nonchalance angepriesen und fröhlich verharmlost wurden. Alkoholhaltige Leckereien der Firma Brandt (mit Kirschwasser, Williamsbirne, Himbeergeist etc.) hießen „Hicks-Pralinen“, gleichsam beschwipst schwankten sie mit diesem Werbeslogan herbei: „Lustig ist das Pralinenleben. Faria, faria hicks.“

Hicks-Pralinen und Dinett-Servierwagen

Noch in den Anfängen steckte hingegen die Produktpalette zur Körperpflege, zumal die Männerdüfte beschränkten sich noch weitgehend auf SIR (irish moos) und Tabac, Kölnisch Wasser (4711) dominierte den noch recht schmalen Markt. Ältere Jahrgänge erinnern sich gewiss noch an diesen arg begrenzten olfaktorischen Bestand.

Näher betrachtet wird auch die (ost)westfälische Möbelproduktion, die kürzlich noch dem NRW-Arbeits- und Gesundheitsminister Laumann bei seinen ersten Corona-Lockerungsübungen als überraschend „systemrelevant“ galt. Zu nennen wären etwa die Hersteller Interlübke und Poggenpohl sowie das Ekawerk. Von den ach so praktischen Dinett-Servierwagen der Firma Bremshey aus Solingen redet man hingegen heute wohl kaum noch, dieser Alltags-Mythos ist eher zum Nostalgie-Stoff geronnen.

Regionaler Stallgeruch mit Nostalgie

Noch mehr regionaler Stallgeruch mit Vintage-Charme gefällig? Bitte sehr, hier in Stichworten noch ein paar Beispiele, die im Buch mit ihrer Werbung aus den 60ern Revue passieren: Brandt Zwieback (damals Hagen), die 1962 eingeführten Trumpf Schogetten (ursprünglich Aachen, später Bergisch-Gladbach), Falke-Socken (Schmallenberg/Sauerland), Seidensticker-Hemden (Bielefeld), Pril und Persil (Henkel/Düsseldorf). Die ausgesprochen breitenwirksame Prilblumen-Kampagne gehörte dann freilich in die 70er Jahre. Hinzu kommen Automobile von Ford (Köln) und Opel (damals – ab 1962 – auch noch in Bochum), Kraftstoffe von Aral (gleichfalls Bochum) oder auch frühere Kindheits-Legenden wie Siku-Modellautos (Lüdenscheid), das Kettcar (von Kettler aus Ense-Parsit im Kreis Soest, das später einen Rockband-Namen prägte) oder Puky-Räder (Wülfrath).

Alle eben genannten Namen und Marken sind auch heute noch geläufig und erhältlich, aber kann sich jemand noch an Rokal-Modelleisenbahnen (aus Lobberich)  oder an Rondo-Waschmaschinen (aus Schwelm) erinnern? Mh. Gibt es eigentlich ein Fachgebiet namens Wirtschafts- und Konsum-Archäologie?

„Konsumlust – Werbung, Wohlstand, Wirtschaftswunder – Die 1960er Jahre im Spiegel der NRW-Marken“. Klartext-Verlag, Essen. 160 Seiten Großformat, zahlreiche farbige Abbildungen. 29,95 €.

 

 




Vor jeder Haustür ein Paket mit Erinnerungen – auf Kurzbesuch in der alten Heimat Dortmund

Auch mit Erinnerungen verbunden: Impression der von Hilde Hoffmann-Schulte gestalteten Glasfenster einer Dortmunder Kirche. (Foto: © Marlies Blauth)

Unsere Gastautorin, die Künstlerin und Lyrikerin Marlies Blauth, die seit vielen Jahren bei Düsseldorf lebt, über einen Besuch in ihrer Heimatstadt Dortmund:

Mein Steuerberater wundert sich, lächelt, weil ich immer – also einmal im Jahr – mit dem Bus komme. Er hat nämlich sein Büro ganz in der Nähe meines Elternhauses (in dem längst jemand Anderes wohnt), also knapp 100 Kilometer von meinem aktuellen Wohnort entfernt. Ziemlich aufwändig, das alles.

Diese Fahrt „nach Hause“ genieße ich aber jedesmal, zelebriere sie fast.

Die Sonne scheint auf das Dach des Hauses, in dem meine erste riesengroße Liebe wohnte. Ich winke, in Gedanken oder vielleicht auch ein kleines bisschen wirklich. Dann, an der nächsten Haltestelle: Aussteigen.

Ein knapper Kilometer Fußweg, ich nehme meine Kamera aus dem Rucksack und entdecke immer wieder neue Perspektiven, die meine Erinnerungen nochmal extra aufwecken: Mir wird wieder gegenwärtig, wie wir als Kinder auf Bäume kletterten, Verstecken spielten, ich zum Muttertag mal einen peinlichen krautigen Strauß pflückte (der auch nicht liebevoll gemeint war …); wie ich später dann mit einer Schulfreundin hier spazieren ging und wir uns den ganzen Nachmittag auf Latein unterhalten haben. Oder zu den Partyzeiten: Hier kamen wir morgens um fünf Uhr an, nach einem Fußmarsch von über drei Stunden. Nachts sind alle Katzen grau, aber die Stimmung ist eine besondere. Damals habe ich die erste und einzige Fledermaus in freier Wildbahn gesehen.

Und wir haben diskutiert: für oder gegen die Atomkraft, was ist mit der DDR, muss unser Staat sozial(istisch)er werden, geht es nicht überhaupt viel zu ungerecht zu. Ich komme an meiner Konfirmationskirche vorbei, in der ich fürchterlich öde Stunden verbracht habe, die mir wenig später aber eine der schönsten Zeiten meines Lebens ermöglicht hat – durch eine wunderbare, neu gegründete Jugendgruppe. Ganz in der Nähe rauchte ich meine erste (und einzige, halbe) Zigarette: Ich fand sie sehr lecker, sie ist mir sogar gut bekommen. Noch heute bin ich meiner 14-jährigen Altklugheit sehr dankbar: Warum Geld ausgeben, wenn die Eltern doch alles andere Schmackhafte zahlen? Und so blieb ich zeitlebens Nichtraucherin.

Hier wohnte der Klassenkamerad, der bestimmt ADHS hatte; damals noch ganz selten, niemand wusste darüber Bescheid. Dort war ein Mädchen zu Hause, mit dem ich gern befreundet gewesen wäre, das mich aber jahrelang gemobbt hat. Ich glaube, das wurde kräftig unterstützt durch die Eltern – deren Wunschfreunde für ihr Kind was hermachen sollten. Für mich waren es schwere Jahre, aber auch lehrreiche.

Überall in der alten Heimat, vor jeder Haustür, an jedem Weg, Baum und Strauch, sehe ich Pakete mit Geschichten liegen, die man nur öffnen muss. Und das mache ich, wie gesagt, einmal im Jahr – und so gern! Von manchem bin ich immer wieder überwältigt, bei anderem konstatiere ich froh, es ein für allemal abgehakt zu haben. So, wie es wohl allen Menschen geht.

Diesmal beherrscht und verändert Corona sogar meinen alljährlichen Ausflug. Nicht nur, dass er deutlich später stattfinden musste als gewohnt; mein Steuerberater arbeitet nun im Homeoffice, ganz woanders also, so dass mein Wandeln durchs Revier meiner Kinder- und Jugendzeit diesmal flachfällt. Die andere Adresse – wieder mit dem Bus, wieder Lächeln – liegt an einer Straße, wo ich vielleicht zweimal im Leben war.

Aber auch hier liegen Erinnerungsgeschichten.
Ganz in der Nähe wohnte eine meiner Nachhilfeschülerinnen (ich hatte nur einen männlichen Schüler, der war erwachsen und lernte Deutsch als Fremdsprache): Sowohl die wunderbare Zusammenarbeit als auch der sich einstellende Erfolg (Note 2) mag meine Entscheidung angeschubst haben, Lehrerin werden zu wollen: Es machte mir Spaß, Lernstoff so aufzubereiten, dass „man“ ihn kapiert. Und wenn das dann der Fall war, freute ich mich wie eine Schneekönigin. Zwar habe ich letztlich doch nie an einer Schule gearbeitet (sieht man von ein paar kleineren temporären Projekten ab), immerhin aber war ich 21 Jahre lang Lehrbeauftragte an einer Hochschule.

Und dann sehe ich plötzlich die Kirche an meinem Weg! Deren Glasfenster sind von Hilde Hoffmann-Schulte (1937 – 2014) gestaltet, einer Dortmunder Künstlerin. Ich war noch ganz jung, und sie kaufte damals ein Bild von mir. Soooo stolz war ich … und überredete meine Mutter, mit mir jene Kirche anzusehen, weil ich wissen wollte, wie meine Bilderkäuferin arbeitete. Meine Mutter mochte eigentlich keine Kirchenbesichtigungen, aber der längere Spaziergang mit mir reizte sie wohl doch. Und ich fand es klasse, eine Künstlerin zu kennen, deren Entwürfe so einige Kirchen und andere Gebäude mitprägten.

Natürlich komme ich diesmal nicht hinein in den Kirchenraum. Auch wenn sich manche Öffnungszeiten gebessert haben, so macht spätestens Corona wieder einen Strich durch diese Rechnung. Ich kann nur – mit und ohne Kamera – ein bisschen durch die Buntglasstücke „spieksen“, wobei meine Fotos der Künstlerin natürlich nicht gerecht werden (können). Oder vielleicht doch, ein bisschen jedenfalls – indem wir uns künstlerisch für einen Moment verbinden?

Damals war noch nicht abzusehen, dass auch ich Kirchenräume mitgestalten würde, mit meiner Kunst und von mir kuratierten Wechselausstellungen. So schließen sich Kreise.

Und ich danke jedem, der meiner Biografie ein Mosaiksteinchen zugefügt hat. Viele davon durfte ich in „meiner“ Stadt Dortmund aufsammeln. Meine Kurzbesuche frischen das auf, und ich bin glücklich, alles für einen Moment aufleben zu lassen.

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Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Verfasserin. Der Text ist zuerst im eigenen Blog von Marlies Blauth erschienen, in dem auch einige Beispiele ihrer künstlerischen Arbeit zu sehen sind:

kunst-marlies-blauth.blogspot.com
© Marlies Blauth, 2020




Schonungsloser Blick auf Missstände seiner Zeit: Vor 150 Jahren starb der englische Schriftsteller Charles Dickens

Zeitgenössische Illustration zu Charles Dickens‘ Roman „Oliver Twist“ – von George Cruikshank (1792-1878): Oliver Twist wird bei einem Einbruch verletzt. (Wikimedia public domain /gemeinfrei – Link: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Oliver_Twist_-_Cruikshank_-_The_Burgulary.jpg)

Sein Blick war unbestechlich und schonungslos: Der englische Schriftsteller Charles Dickens hat am eigenen Leib erfahren, was es heißt, ein ausgestoßenes, misshandeltes Kind zu sein. Die trüben Erfahrungen im gnadenlosen Kapitalismus des viktorianischen England ließ er in seine Romane einfließen.

Keine erbauliche Lektüre also, was er in Welterfolgen wie „Oliver Twist“ oder „David Copperfield“ festgehalten hat. Am 9. Juni 1870, vor 150 Jahren, ist der scharfsichtige und mit manchmal grotesker Ironie gesegnete Autor auf seinem Landsitz Gads Hill in Higham bei Rochester in England an den Folgen eines Schlaganfalls gestorben.

Charles Dickens gehörte weder der englischen High Society an noch hatte er eine universitäre Erziehung genossen. Mit sieben Geschwistern wuchs er im Haushalt eines nahezu mittellosen Schreibers im Dienste der englischen Marine auf. Als Charles 12 Jahre alt war, ließen Gläubiger den Vater 1824 ins Schuldgefängnis stecken, weil er die hohen Lebenshaltungskosten in der expandierenden Großstadt London nicht mehr aufbringen konnte. Mit Kinderarbeit musste der Junge den Lebensunterhalt für die verarmte Familie verdienen. Er schuftete in einer Lagerhalle und einer Fabrik.

Zwei Jahre konnte er zur Schule gehen, nachdem sein Vater freigekommen war. Bildung erwarb sich der anfangs kränkliche, wissbegierige Junge durch einige Bücher aus seines Vaters Besitz und durch Besuche im British Museum. Als Schreiber bei einem Rechtsanwalt konnte er Menschen studieren: grausame, selbstsüchtige Typen, gütige und mildtätige Charaktere. Sie flossen in seine späteren Werke ein. In den „Sketches by Boz“ (sein Pseudonym), für verschiedene Londoner Blätter geschrieben, hielt er Stimmungen, Charaktere und soziale Verhältnisse der Metropole fest. Der 24-jährige weckte erste literarische Aufmerksamkeit, als er sie 1836 als Buch veröffentlichte: „Londoner Skizzen“ ist der deutsche Titel.

Bekehrter Geiz: „Eine Weihnachtsgeschichte“

Eine Geschichte, die auch durch mehr als 30 Verfilmungen bekannt geworden ist, erschien 1843: „A Christmas Carol“ („Eine Weihnachtsgeschichte“) verbindet die Kritik an den sozialen Missständen in der Industrialisierung in England mit der Schilderung eines kaltherzigen Eigenbrötlers. Ebenezer Scrooge kennt weder Mitleid noch Einfühlungsvermögen, hält die Feier des Weihnachtsfestes für Humbug und Spenden für Arme für überflüssig. Vom Kampf seines kärglich bezahlen Angestellten Bob Cratchit um den Unterhalt seiner Familie und die Gesundheit seines behinderten Kindes Tim nimmt er keine Notiz.

Dickens bricht den Realismus der Erzählung auf: Der Geist von Scrooges verstorbenem Teilhaber erscheint in der Christnacht, warnt den Geizhals vor den Folgen seiner Geldgier und kündigt drei Geister der Weihnacht an. Sie zeigen Scrooge schonungslos die Folgen seines Handelns – für die Familie von Cratchit, für sich selbst und für sein Schicksal nach dem Tod. So wandelt sich Scrooge zu einem Menschen, der erkennt, dass auch er selbst durch Freundlichkeit und Großzügigkeit ein besseres Leben führen würde. Die Weihnachtsgeschichte wurde u.a. 1983 als Zeichentrickfilm mit Disney-Figuren wie Onkel Dagobert als Scrooge und Mickey Mouse als Cratchit produziert; neun Jahre später entstand eine Version mit  Charakteren aus der „Muppets Show“ als Hauptdarsteller.

Kinderarbeit und Elend: „Oliver Twist“

Zu den bedeutsamsten Romanen des gesamten 19. Jahrhunderts wird „Oliver Twist“ gezählt. Der überwältigende Erfolg erschien 1837 bis 1839 in Fortsetzungen in einer Zeitschrift, wurde aber auch kritisiert – etwa wegen der idealisierten Charakterdarstellung seines Helden, wegen der unverblümt grausamen Schilderungen der sozialen Realität oder eines gewissen Zugs zum Melodramatischen.

In „Oliver Twist“ flossen die eigenen Erfahrungen ein, die Dickens mit Kinderarbeit, Elend, menschlicher Niedertracht und grausamem Verbrechen gemacht hatte. Der Waisenjunge, der aus dem Armenhaus flieht, gerät in die Fänge eines skrupellosen Gauners, der ihn zum Kriminellen ausbildet, lernt Mord und Misshandlung kennen, taucht tief in die menschlichen Abgründe ein, die sich bei den Ausgestoßenen, den Elenden, den Hoffnungslosen auftun. Aber Oliver erfährt auch Fürsorge und Liebe und lebt zuletzt dank einer Kette glücklicher Fügungen in geordneten Verhältnissen. Der soziale Realismus der Schilderungen hat damals in ganz Europa Aufsehen erregt und gab in England den Anstoß zu sozialpolitischen Reformen.

Vom Handlanger zum Schriftsteller: „David Copperfield“

Erfahrungen aus seinem Leben spiegelt auch Dickens‘ Roman „David Copperfield“, der ab 1849 entstand – ein Buch über die Entwicklung eines gedemütigten und misshandelten Kindes zu einem erfolgreichen Schriftsteller. Das Werk mit stark autobiographischen Bezügen wird unter die wichtigsten englischsprachigen Romane des 19. Jahrhunderts gezählt. Dickens selbst bezeichnete ihn als seinen „Lieblingsroman“. Auch der unmittelbar nach „Oliver Twist“ 1839 erschienene Roman „Nicholas Nickleby“ ist ein kritischer Gesellschaftsroman, der Dickens unter dem Pseudonym „Boz“ vor allem in Deutschland populär gemacht hat.

Seinen literarischen Ruhm begründete der zunächst als Parlaments-Stenograph, später als Journalist arbeitende Charles Dickens 1836/37 mit den humorvollen „Pickwick Papers“, zu Deutsch „Die Pickwickier“, erschienen ursprünglich als Zeitschriften-Fortsetzungsroman und geschickt an Interessen und Reaktionen der Leser angepasst. Seit 1842 begab sich Dickens immer wieder auf Reisen, zunächst in den USA, dann in England, bei denen er aus seinen Werken vorlas. Bei seinem Tod hinterließ er ein beträchtliches Vermögen, mehr noch aber einen literarischen Ruhm, der bis in die Gegenwart nicht verblasst ist.




„Denken ohne Geländer“ – ertragreiche Berliner Ausstellung über die Philosophin Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert

Die große Denkerin, lesend und rauchend: Hannah Arendt in der Wesleyan University, 1961/62, Middletown, Connecticut. (© Middletown, Connecticut, Wesleyan University Library, Special Collections & Archives)

Es ist ein Höhepunkte der Medienkultur der frühen Bundesrepublik und ein Meilenstein des kritischen Denkens. Bisher hatte sich der legendäre politische Journalist Günter Gaus in seiner ZDF-Gesprächsreihe „Zur Person“ nur politisch mächtige Männer zum Diskurs eingeladen – Ludwig Erhard, Franz Josef Strauß, Willy Brandt. Jetzt, am 28. Oktober 1964, sitzt ihm die einst von den Nazis aus Deutschland vertriebene Philosophin Hannah Arendt gegenüber, die nach ihrer Flucht über Frankreich in die USA gekommen ist und dort eine neue Heimat gefunden hat.

Sie hat ein epochales Werk über „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ verfasst, die ideologischen Verirrungen und politischen Verwerfungen von Nationalsozialismus und Stalinismus gnadenlos analysiert, sich bei Linken und Rechten unbeliebt gemacht. Sie besteht darauf, dass es wichtig ist, komplizierte Sachverhalte nicht nur zu beschreiben und zu erklären, sondern – im Sinne von Immanuel Kant – kritisch zu beurteilen. Auch auf die Gefahr hin, falsch zu liegen und später alles noch einmal neu überdenken und neu  beurteilen zu müssen. Hannah Arendt nennt das: „Denken ohne Geländer“. Und genau das macht sie jetzt in dieser Sternstunde des Fernsehens.

Nicht Dämonen haben gemordet

Während Hannah Arendt, zeitlos elegant gekleidet, genüsslich an ihrer Zigarette zieht und druckreif redet, wird Günter Gaus immer schweigsamer, begnügt sich mit der Rolle des beharrlichen Nachfragers. Seitdem Hannah Arendt als Reporterin der Zeitschrift „The New Yorker“ den Prozess gegen Adolf Eichmann, den Organisator des Massenmordes an den europäischen Juden, beobachtet und das Buch „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ verfasst hat, sieht sie sich Anfeindungen ausgesetzt: Sie habe das Verhalten der jüdischen Funktionäre bei der Organisation der „Endlösung“ falsch dargestellt und die monströsen Verbrechen der Nazis verharmlost. Dabei, und darauf beharrt sie im Gespräch mit Gaus, geht es ihr um das genaue Gegenteil. Gerade in der Banalität eines Mannes, der vom normalen Kleinbürger zum willigen Vollstrecker wird, liegt für Arendt das eigentlich Erschreckende und Verstörende. Wer sich die Nazis nur als entartete Monster vorstellt, wird nie die Frage nach der eigenen Schuld stellen und in der Lage sein, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Nicht Dämonen haben gemordet, sondern Menschen. Was geschah, kann wieder geschehen.

Wir sollen Stellung beziehen

Die verstörenden Auskünfte und umstrittenen Erkenntnisse der Philosophin laufen im digitalen Zeitalter nicht nur als Video bei YouTube und werden millionenfach abgerufen. Sie können jetzt auch, auf Bildschirmen und in Hör-Stationen, im Deutschen Historischen Museum Berlin begutachtet, diskutiert und beurteilt werden. Denn die Ausstellung über „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“ will nicht Leben und Werk der geistreichen Denkerin einfach nur nacherzählen, sondern den Besucher ermuntern, Stellung zu beziehen, sich ein Urteil zu bilden.

Hannah Arendt an der University of Chicago, 1966. (© Art Resource, New York, Hannah Arendt Bluecher Literary Trust)

Präsentiert werden hunderte Objekte, Bücher, Manuskripte, Notizen, Fotos, die immer aufs Neue bezeugen, dass Hannah Arendt sich als permanente Grenzgängerin verstand, die keine Angst hatte, im Widerspruch zur herrschenden Meinung zu stehen. Sie vertrat nie eine Denkschule und war nie Parteigängerin einer Ideologie. Wenn sie mit ihren Definitionen von „totaler Herrschaft“ und der „Banalität des Bösen“ aneckte, war ihr das gerade recht. Wenn sie, als verfolgte Jüdin, sich kritisch mit dem Zionismus auseinandersetzte, hatte das Gewicht.

Rassismus, Studentenbewegung, Feminismus

Mit zahllosen Dokumenten werden die von ihr angezettelten Kontroversen dokumentiert. Natürlich auch ihre kritischen Kommentare zum alltäglichen Rassismus in den USA, dem Land, das sie liebte und dessen Demokratie sie schätzte. Ihre Sicht auf die Studentenbewegung wird erläutert und gezeigt, dass sie die französischen 68er wegen ihrer anarchischen Radikalität schätzte, die deutschen Rebellen aber als viel zu dogmatisch empfand.

Mit dem Feminismus, auch das sieht man in der Ausstellung, konnte die Philosophin nie viel anfangen. Dass sie beharrlich für ihre Rechte kämpfen konnte, belegen die Dokumente, mit denen sie im Wiedergutmachungsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht den Anspruch auf eine entgangenen Beamtenpension geltend machte und die so genannte „Lex Arendt“ erstritt: Aufgrund ihrer Flucht aus Deutschland hatte Arendt ihre Studie über Rahel Varnhagen nicht mehr mit einem Habilitationsverfahren abschließen können. Das Gericht entschied 1966, die Studie nachträglich als Habilitation anzuerkennen.

Heidegger und andere Freundschaften

Auch das Private kommt, ohne voyeuristisch zu wirken, zum Vorschein. Nicht unerwähnt bleibt, dass sie (als junge Studentin) die Geliebte ihres Professors, Martin Heidegger, war, sich zwar von seiner späteren Nazi-Sympathie distanzierte, mit ihm aber auch nach dem Krieg noch korrespondierte und ihn wieder sah. Hannah Arendt hatte, wie Hans Jonas einmal sagte, eine „Genie für Freundschaften“ und lud alte Weggefährten und Bekannte immer wieder zu sich ein, wenn sie den Sommer in Tegna (Schweiz) verbrachte. Bei einem Besuch einer Freundin in Münchner kaufte sie sich 1961 eine kleine „Minox“, die als „Spionage-Kamera“ bekannt war, trug sie immer bei sich und fotografierte fortan damit bei jeder Gelegenheit Freunde, Kollegen, Bekannte. Viele dieser privaten Fotos sind jetzt im Museum zu sehen. Genauso wie einige ihrer Utensilien, ohne die sie selten aus dem Haus ging. Aktentasche, Pelzcape, Zigarettenetui, auch die goldene Brosche mit Brillanten und Perlmutt (die sie auch beim TV-Interview mit Gaus trug).

Ohne Hannah Arendt sei das 20. Jahrhundert eigentlich gar nicht zu verstehen, hat der Schriftsteller Amos Elon einmal gesagt. Wem das aber alles zu viel und zu verwirrend ist, dem sei der zur Ausstellung erschienene Begleitband empfohlen. Er versammelt 19 Essays und ordnet Leben und Werk von Hannah Arendt im historischen und politischen Kontext. Eine intellektuelle Fundgrube, bestückt mit einigen Dokumenten und Fotos, die auch im Museum auftauchen. Ein Buch zum Lesen und Denken, ganz ohne Geländer.

Deutsches Historisches Museum, Hinter dem Gießhaus 3, Pei-Bau, 10117 Berlin. Bis 18. Oktober, Fr – Mi 10-18 Uhr, Do 10-20 Uhr.

Besuch nur mit Voranmeldung online unter www.dhm.de Es gelten die üblichen Abstands- und Hygieneregeln. Das Tragen einer Mund-Nase-Maske ist Pflicht.

Begleitband: „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“ (Hrsg.  Doris Blume, Monika Boll, Raphael Gross), Piper Verlag, 288 S., 20 Euro.




A short introduction to the current Haushaltsgeräte-Verhöker-Slang

Früher hieß das mal „Weiße Ware“. Und heute? Keine Ahnung. (Foto: Bernd Berke)

Soso, Sie wollen sich also eine neue Waschmaschine, einen Trockner oder Kühlschrank anschaffen und haben nicht einmal Anglistik studiert? Das dürfte aber Probleme geben.

Denn dann verstehen Sie auch die neueste, zwölfseitige MediaMarkt-Werbebeilage nur völlig unzureichend, die einem heute u. a. aus diversen Funke-Printmedien entgegensegelt. Zwar haben Sie schon von Side By Side-Kühlschränken gehört oder besitzen gar einen, auch ist Ihnen sicherlich Crushed Ice ein Begriff, doch Sie wissen wahrscheinlich nicht so recht, was es mit dem Multiairflow-System und dem EcoSilenceDrive (™ von Bosch) auf sich hat. Tja.

Bevor Sie auch nur einen Stecker einstöpseln oder die neue Apparatur sogar fürwitzig in Gang setzen wollen, sollten Sie sich im Grundkurs erst einmal tunlichst hiermit vertraut machen: Steam Refresh, Home Connect, Baby Protect, WiFi Smart Control, AllergoWash, TwinDos, Easy Slide Ablage, Twin Cooling, SmartSeal, CroosWave Cordless und Self Cleaning Condenser (Trademark von Bosch). Bitte wiederholen. Alle zusammen!

In diesem Zusammenhang durchaus verwunderlich: Dass man vergessene Wäschestücke nachträglich flugs in die Maschine werfen kann, wird in (allerdings etwas dürftigem) Deutsch als „Nachlegefunktion“ bezeichnet, bei einem anderen Hersteller heißt das (in der weithin üblichen, vermeintlich ungemein schicken Wort-Zusammenziehung) bereits AddLoad. Im beinahe schon rührenden Restdeutsch kündet man uns hingegen nach alter Väter Sitte von Knitterschutz. Ja, da kommen einem fast die Tränen. Dass wir das noch erleben dürfen!

Doch weiter, weiter! Die Zukunft beim Schopfe packen! Wenn Sie den entsprechenden Grundkurs absolviert haben, dürfen Sie sich – nach entsprechender Zwischenprüfung – der höheren Schule des Haushaltsgeräte-Verhöker-Slangs zuwenden: Lauschen Sie hierzu dem surrenden Pro Smart Inverter Motor, ergötzen Sie sich an der Pet Hair Removal Funktion (solche gemixten Wortreihen ohne jeglichen Bindestrich gelten ebenfalls als supersmart). Sodann widmen Sie sich bitte mit gebührendem Staunen dem Active Fresh Blue Light, bevor wir mit InstaView Door-in-Door (™ von LG) einen Achttausender-Gipfel der Sprachkreationen erklimmen. Noch besser gefallen hat uns im vorliegenden Prospekt eigentlich nur der linguistisch tollkühne Moist Balance Crisper.

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P. S.: Hier soll keineswegs dem penetranten Eindeutschungswahn des (übrigens in Dortmund gegründeten und ansässigen) Vereins Deutsche Sprache das Wort geredet werden. Das ist das andere, politisch durchaus fragwürdige Extrem. Freilich: Die völlig besinnungslose Anglifizierung ist gleichfalls beknackt. Wobei noch zu sagen wäre: An eher harmlose Beispiele, wie sie auch im besagten Werbeauftritt vorkommen (AutoDry, AutoClean, Wolle finish, Stay Clean-Schublade, EcoSpeed, ActiveEco, QuickDrive, IQdrive, Sportswear, Everfresh, MultiZone, BioCool, CookControl, CoolStart, Special Powerline, WiFiConn@ct und erst recht Touchscreen Display) haben wir uns längst gewöhnt.

P.P.S.: Wir danken den ingenieurtechnisch und anglophon erfindungsreichen Firmen Bosch, Miele, Siemens, Bauknecht, Samsung, LG, beko und Bissell für ihre werblichen Bemühungen. Uns ist bewusst, dass die eine oder andere Fügung als geschütztes Warenzeichen = Trademark (™) daherkommt. In diesem Kontext und in sprachwägender Absicht trauen wir uns, sie zu nennen – in aller Ehrfurcht und Ergriffenheit, versteht sich.




Gartenvernichtung mit Oberhalunkenmaschine

gartenfrevel - die riesige Oberhalunkenmaschine

Thomas Scherl: »Die riesige Oberhalunkenmaschine«, Tusche auf Zeichenpapier, 25x30cm, 2020

Der Nachbar hat ja das Haus verkauft – da, wo mein Atelier war, Ende April war Übergabe (an einen Arzt aus dem Krankenhaus übrigens, die hams ja) und seither sind dort alle möglichen Halunken zugange, die renovieren und was weiß ich.

Wer diese Burschen kennt, weiß, daß 98,7% der aufgewandten Energie in Schall umgesetzt werden, 92,3% in Dreck, 91,7% in Gestank und der Rest in das gewünschte Ergebnis.

Jetzt wütet in dem schönen alten Garten mit den schönen alten Bäumen und den schönen alten Büschen seit dem frühen Morgengrauen ein ruchloser Oberhalunke mit einer riesigen Oberhalunkenmaschine, die gleichzeitig schon tragende Bäume fällt und mundgerecht zerlegt, die Hecke und die blühende Büsche, in denen Vögel brüten, bis unter die Grasnarbe schneidet, den üppigen Rasen bis unter dieselbe mäht, die gute Mutter Erde bis dicht über den Erdkern aufwühlt und die Steine, ja, die Steine, alles gleich shreddert, pulverisiert, atomisiert und die Atome dann unter lautem Schreien der geschundenen Materie in ihre Elementarteile zerreißt, zerfetzt, zerbeißt, verletzt und meine armen Trommelfelle gleich mit und der Fallout der vernichteten Existenz legt sich wie ein Leichentuch über meine Skizzenbücher und mich.

Die Meisen, die Schmetterlinge, die Hummeln und die Bienen, die Katze, der Hund und ich verachten ihn und seine Maschine, deren Erfinder und den neuen Besitzer, der das nicht selber von Hand machen kann wie alle anderen auch, und den Geist, der meint, daß er nur genug Krach machen muß, damit was »Arbeit« ist, mit jeder Faser unserer Körper, Seelen und… tja, was noch?

Ich kann so nicht arbeiten.

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(Text und anderes auch auf scherl.blogspot.com)




„Ein Paar aus vier Menschenhälften“: Frank Schablewski beginnt sein groß angelegtes Romanprojekt „Schwarmbeben“

Ein Mann tötet die Frau, mit der er ein Jahr verheiratet ist. Von Beruf Fleischer, kennt er sich mit dem Handwerk des Ausweidens gut aus.

Fachgerecht zerlegt er den ausgebluteten Körper in vierzehn Stücke, die er, verpackt in fünf Plastiksäcken und mit Steinen beschwert, im Bosporus versenkt.

Erzählt wird uns dieser brutale Mord nicht als Istanbul-Krimi. Kein mit Faszination an der Gewalt geschriebener Thriller ist Ein Paar aus vier Menschenhälften, eher ein Requiem oder eine Elegie in Prosa, an bestimmte Musikformen erinnernd, die immer wieder neu ansetzen und mit unpathetischem Engagement das ähnlich bereits Erfahrene variieren; ein „Mosaik des Todes“.

Eine kunstvoll erweiterte Zeitungsmeldung

„Jemand Fremdes“ liest am Tisch einer Kaffeerösterei in einer stillen Seitengasse im Galata-Viertel (Beyoğlu) die informationsarme Nachricht in der Zeitung. „Der Artikel hielt sich nicht damit auf, die ganze Geschichte zu erzählen. Das Ereignis selbst verbrauchte eine Vorgabe an Zeichen.“ Wer würde je auf die Ermordete einen Nachruf schreiben, wer, wenn nicht der Autor mit dem vorliegenden Buch, das eine auf 160 Seiten kunstvoll erweiterte Zeitungsmeldung übertrifft? Zugleich schreibt er damit einen ausführlichen Grabsteintext auf viele namenlose Frauen, die durch ihre Ehemänner sterben mussten und müssen. Auf die Gewalt der Tat antwortet die Sprachgewalt des Dichters.

So ungeheuerlich ist der Vorgang des Abschlachtens, dass er sich vielleicht nur aus der Sicht der Toten darstellen lässt. Für sie werden die Dinge transparent, ähnlich wie in Vladimir Nabokovs spätem Roman Durchsichtige Dinge (Transparent Things, 1972) – der Blick aus einer jenseitigen Welt auf die unsere, in der das Leben ohne die Tote weitergeht.

Blick aus einer jenseitigen Welt

Aus ihrem nassen Grab blickt die Frau in den Gerichtssaal, in dem der Mordfall verhandelt wird. Sie hört den Richter ihren Mörder von jeder Schuld freisprechen und ihr selbst, dem Opfer, die Verantwortung für ihren Tod zuschreiben. „Für den Richter war es der geborene Mord.“ Sie habe im Grunde alles erlebt, was eine Frau erleben kann, Geburt, Elternhaus, Hochzeit, Ehe, die ein Jahr dauerte, bis der Mann nichts anderes mehr mit ihr anzufangen wusste, als sie zu töten. Für sie wäre „das Leben keine Lösung“ gewesen, hört sie den Richter sagen. Ob aber für den Mann das Weiterleben eine Lösung sein kann, fragt niemand.

Wortreich nutzt der Richter den Fall, um seine Weltanschauung zu unterbreiten, doch in seiner Rede tun sich nur neue Abgründe auf. Er gibt vor, sich „in heroischer Weise der Gerechtigkeit hinzugeben“, und zwar „nicht in der Sprache des Volkes“. Mann, Frau, Richter – diese drei Funktionen bilden die Triade des Tragischen; weitere Personen wie die Familie der Frau oder ihre Anwälte werden nur am Rande erwähnt. Ohnehin hatte die Frau nur Brüder.

Autor Frank Schablewski (© Rimbaud Verlag)

Ewiges Gesetz?

Im Bereich meines gesetzlichen Throns werden die ersten in unserer Sprache geschriebenen Urteile für immer gelten“, sagt der Richter. Und diese gehen stets zu Lasten der Frau. Er ist „der letzte Richter überhaupt“. Der Richter beansprucht für sich ein überzeitliches, ein ewiges, Gesetz. Aber mag es auch der gängigen Praxis entsprechen, ist dieses Gesetz ein bloß behauptetes; „es war das völlige Innehalten des Rechts.

Detailreich beschriebener Meeresgrund

Auf eine andere Art überzeitlich präsent ist die Ermordete, da für sie die Zeit keine Rolle mehr spielt. „Das Wasser spiegelte das Gesetz“, heißt es im Text. Als nähme uns der Autor mit zu einer Erkundungsfahrt in einem Glasbodenboot, sehen wir jeden Gegenstand, jeden Meeresbewohner, jeden Abfall auch, der den Bewohnern der Stadt unter der sich spiegelnden Oberfläche in der Düsternis der Tiefe verborgen bleibt. Die Tote aber, in fünf zerfetzten Plastiktüten verpackt, fühlt die Algen, die Einsiedlerkrebse, Schnecken und Fische, die sich ihrer Körperteile bemächtigen. In der Meerenge des Bosporus, zwischen den Kontinenten, liegt das nun nicht länger Zusammenhaltende. Am Ende ist wohl alles gesagt, was sich über das Meer und seinen Grund in allen seinen Bedeutungen sagen lässt.

Männerrituale

Weit weniger gründlich wird im Gerichtssaal das Verbrechen untersucht. Vielmehr bestätigen sich die anwesenden Männer gegenseitig in der Richtigkeit des Geschehenen, „Ein Kopf bejahte den anderen“, analog zu den Ritualen, die sich als Tanz von Männern in einem Park abspielen. „Jeder stellte sein Leben mit Gebärden dar, einem ganz eigenen Mienenspiel, in der kurzen Zeit einer Handbewegung. Jeder kreiste um sich selbst.“

Aber noch ein anderes Ritual spielt im Buch eine Rolle – das in Initiationsriten weltweit beobachtete Thema von Zerstückelung und Wiedergeburt, ethnologisch als Übergangsritus bezeichnet. Einen der Ur-Mythen für dieses Muster bildet der zerstückelte Osiris, der von seiner Schwester-Gemahlin Isis neu zusammengesetzt wird. Von einer mythischen Wiederherstellung, Erneuerung, Gesundung des Körpers spricht auch der Richter in Ein Paar aus vier Menschenhälften, versucht, das brutale Verbrechen dadurch zu beschönigen.

Riten des Übergangs

Seismographisch lässt sich bereits an frühen Textstellen das Erdbeben vorhersehen, das am Ende Meer und Erde vermischt. Ein Hain mit Apfelbäumen rutscht als erstes in den Bosporus. Doch bei aller Kunstfertigkeit der Sprache und in der Komposition ist die Lektüre allein schon wegen des todernsten Themas keine leichte Kost – kann es und darf es nicht sein.

Frank Schablewski ist bisher vor allem als Lyriker, Essayist und Autor kürzerer Prosa in Erscheinung getreten. Mit einem Stipendium der Kunststiftung NRW lebte er 2016 mehrere Monate in einer Künstlerresidenz in Istanbul. Bereits zuvor wurden mehrere seiner Gedichte ins Türkische übertragen und der Autor wurde wiederholt zu Poesiefestivals in die Türkei eingeladen. In Deutschland erscheint sein literarisches Werk vorrangig im Rimbaud Verlag in Aachen. Ein Paar aus vier Menschenhälften ist der erste von vier Teilen seines Romans Schwarmbeben. Wir dürfen auf die weiteren drei Teile von Frank Schablewskis groß angelegtem Werk gespannt sein.

Frank Schablewski: „Ein Paar aus vier Menschenhälften“. Rimbaud Verlag, Aachen; 164 S., fadengeh. mit Klappen. ISBN 978-3-89086-224-8, € 25 ,-




Von Öffnungsorgien und „Visionen“

Die Maskensprüher hinterlassen ihre Spuren im Dortmunder Stadtgebiet… (Foto: Bernd Berke)

Mal ehrlich: Schon die „Öffnungsdiskussionsorgien“ (Merkel-Sprech) des Armin Laschet gehen einem gepflegt auf den Geist. Doch jetzt wird der leutselige CDU-Mann aus der Aachener Karnevalsgegend rasant von einem Linken übertrumpft, vom thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow.

Der will demnächst so gut wie alles wieder freigeben und allenfalls lokal noch ein paar coronige Dinge regeln. Andere Landeschefs zeigen sich überrascht vom Vorpreschen Ramelows, das offenkundig ohne Absprache mit Amtskolleg(inn)en erfolgt. Um im munteren Schweinskram-Modus zu bleiben: Wenn Laschets Gebaren ansatzweise eine Orgie wäre, so riefe Ramelow zum landesweiten Gangbang auf. Ist doch wahr, Leute!

Ein richtiger Mann muss voranstürmen

Offenbar denken die Herren (wie nur je) in Kategorien des Voranstürmens und Gewinnenmüssens. Nur dass es hier mal nicht direkt um gemächtige Längenmaße geht, sondern um Kürze, sprich: um die kürzeste Verweildauer in einschränkenden Corona-Maßnahmen. Dass es gute Gründe gibt, einzelne Bereiche wieder (mit aller Vorsicht!) zu öffnen, ist keine Frage. Aber die nahezu vollständige Freigabe, wie sie jetzt in Thüringen ansteht, bedient auch jene Kleingeister, die Corona eh nur für eine Erfindung halten. Wer freilich an eine Weltverschwörung glaubt, wird sich auch jetzt wieder etwas Wahnwitziges zurechtbasteln: Vielleicht handelt Ramelow ja auf verquere Weise im Auftrag von Bill Gates oder die 5G-Funkwellen sind ihm zu Kopf gestiegen.

Kein sonderlicher Segen

Auf Thüringen – siehe auch die unselige Ministerpräsidenten-Kür – liegt derzeit ohnehin kein sonderlicher Segen. Nur weil sie dort relativ niedrige Infektionsraten haben, glauben manche offenbar, dass man sich nun schier alles erlauben könne. Gefahr einer „zweiten Welle“? Ach was! Neueste Forschungen zur Corona-Verbreitung durch Aerosole in geschlossenen Räumen? Piepegal. Was sollen Schutzmasken und Abstände? Sie halten sich wohl für unverwundbar. Allerdings mahnt Jenas Oberbürgermeister Nitzsche, die allseitige Öffnung gleiche einem „Gang aufs Minenfeld“.

Von Heinsberg bis Olympia

P.S.: Eigentlich wollte ich auch noch etwas über Armin Laschets weitere Orgien schreiben, aber das gehört gar nicht hierher. Oder doch? Wovon ich rede? Nun, von der fröhlich öffnungsgeneigten Heinsberg-Studie des Bonner Virologen Hendrik Streeck, die dem NRW-„Landesvater“ zupass kam. Die höchst voreilige PR dazu besorgte bekanntlich eine Agentur namens Storymachine, betrieben u. a. von Ex-„Bild“-Chef Kai Diekmann und dem Eventmanager Michael Mronz. Letzterer hat Laschet auch für die „Vision“ Olympischer Spiele im Ruhrgebiet und auf der Rheinschiene bis hinunter nach Aachen (!) anno 2032 entflammt. Der Himmel oder besser noch die Vernunft bewahre uns vor solch ungemein kostspieligen, interessegeleiteten „Visionen“! In diesem Falle gilt wirklich Helmut Schmidts sonst häufig unangebrachtes, knurriges Diktum: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“.




War das etwa ein Revierderby? Nein, nein und nochmals nein!

Ja, es war gespenstisch: das „Revierderby“ vor leeren Zuschauerrängen, hier als Screenshot der Sky-Übertragung – just im geisterhaften Moment einer Bildüberblendung.

Normalerweise ist das Dortmunder Stadion das größte in Deutschland. Selbst bei weniger prickelnden Spielen ist es stets bis auf den letzten Platz gefüllt, erst recht bei einem Revierderby gegen Schalke. Heute war das piepegal. Wie so vieles andere.

Nicht über 81.000 Zuschauer kamen heute zum Pseudo-Revierderby gegen Schalke, sondern nur die Spieler, jeweils ein verkleinerter Betreuerstab, das Schiri-Team und ein paar handverlesene Medienvertreter. Ich habe lange überlegt, ob ich mir diese durchaus riskante, eventuell auch skandalöse Unwichtigkeit im TV antun soll. Nun denn, auf abstruse Weise war es ja doch etwas „Besonderes“. Da fühlt man sich als Journalist eben angesprochen. Hier also ein kurzer Bericht vom faden Selbstversuch.

Was bei Geisterspielen alles schmerzlich fehlt, trat bei der sonst so verbissen ausgefochtenen Begegnung BVB – Schalke diesmal besonders krass zutage. Es mangelt an jeglicher Leidenschaft, an gesteigerter „Emotion“, an Atmosphäre, erst recht an jeder Form von Fußballfieber. Wie sonst nie, wird jetzt klar, wie überaus wichtig die Rolle der Fans ist. Sie erst machen das Spiel zum Erlebnis. Das haben wir zwar schon vorher gewusst, doch nun gibt es daran noch weniger Zweifel. Auch als Fernsehzuschauer fehlt einem die „Rückkoppelung“ durch das Publikum im Stadion, dessen Geräuschkulisse wiederum oft gnädig das Geschwätz mancher Kommentatoren übertönt.

Der Fernsehton klang geradezu gespenstisch, wie aus einer Hall- und Echokammer. Es waren die seltsam verstärkten Zurufe von Spielern und Trainern. Man hatte bei Sky auch die absurde Wahl, einen Tonkanal mit situationsgerecht (?) eingespielten Fanrufen und Gesängen aus der „Konserve“ zu wählen; womit wir nicht nur auf einem Gipfel der Peinlichkeit, sondern geradewegs in den Gefilden der Idiotie angelangt wären.

Es war einiges anders, als man es bisher kannte. Desinfizierter Ball, Gesichtsmasken auf der Auswechselbank, die Spieler (und nicht Balljungen) holen sich die Kugel selbst. Die teilweise stark abgewandelten Corona-Spielregeln waren auch dem TV-Sprecher noch nicht klar. Zum Beispiel: Darf man insgesamt fünf Spieler zu drei Zeitpunkten auswechseln? Zählt dabei ein Wechsel in der Halbzeit mit? Ach, wie müßig! Aber es muss ja alles in geordneten Bahnen verlaufen. Apropos: Wahrscheinlich haben sie in allen möglichen Ländern ein Auge auf diesen Spieltag. Gut möglich, dass demnächst halb Europa mit Spielzeit-Resets nachzieht. Beim Gedanken kann einem bange werden.

Nach den vier Dortmunder Toren gab es nicht den üblichen Jubel in der Spielertraube, sondern jeweils verhaltene Freude auf Distanz. Es wirkte fast schon ein wenig nobel. Denn damit unterblieben auch die sonst mitunter üblichen, lächerlichen Macho-Gesten. Auch gab’s kein fortwährendes Gespucke auf den Rasen. Wenn sich die hochbezahlten Herrschaften das auf Dauer abgewöhnen könnten, wär‘s eh gut. Überhaupt darf man vielleicht von künftigen Zeiten träumen, wo weniger Getue um die Kickerei veranstaltet wird, und zwar verbal wie finanziell.

Sagen wir nur die blanke Wahrheit: Es war nicht nur ein leeres Stadion, es war insgesamt eine sinnentleerte Veranstaltung. Das 180. Revierderby war gar keins. Es war in jeder Hinsicht unecht. Und ja: Ich habe das Ende herbeigesehnt.

Unter anderen Umständen hätte man sich als Anhänger der Dortmunder über den 4:0-Erfolg königlich gefreut, doch so nimmt man es beinahe ungerührt zur Kenntnis. Ich weiß nicht einmal, ob ich mir in dieser verrückten Saison den BVB als Meister wünschen soll. Auf ewig würde es heißen, das sei ja die „Corona-Meisterschaft“ gewesen. Außerdem ist es nicht vorstellbar, dass ein etwaiger Titel in der Stadt massenhaft gefeiert werden könnte. Aber auch das ist irgendwie schnurz.




Verheißungsvolle Lesung: Dortmunds „Stadtbeschreiberin“ Judith Kuckart stellte sich online nochmals vor

Auf dem iPad-Bildschirm: Dortmunds „Stadtbeschreiberin“ Judith Kuckart (links) und Moderatorin Frederike Juliane Jacobs. (Screenshot der via YouTube gezeigten Lesung)

Eigentlich ist – unter allen Künsten – die Literatur noch am wenigsten von der gegenwärtigen Krise betroffen. Zwar hat natürlich auch der Buchhandel gelitten, doch lassen sich nach wie vor alle Bücher bestellen und im stillen Kämmerlein lesen. Und doch fehlt etwas. Das wurde auch heute Abend deutlich, als Dortmunds erste „Stadtbeschreiberin“ Judith Kuckart im Dortmunder Literaturhaus gezwungenermaßen eine Online-Lesung via YouTube absolvierte.

Frau Kuckart kann ihren Dortmunder Stipendiats-Aufenthalt bekanntlich nicht im Mai antreten, sondern erst im August. Insofern war es jetzt ein vager Vorgeschmack, als sie kurze Passagen aus ihrem Roman „Kein Sturm, nur Wetter“ las und knappe Auskünfte zum Schreibprozess gab. Vielen Sätzen suchte sie durch dezente und doch dringliche Gestik Nachdruck zu verleihen, doch es fehlten spürbar die Adressaten, es fehlte ein unmittelbar reagierendes Live-Publikum.

Und so blieb die moderierende Literaturwissenschaftlerin Frederike Juliane Jacob, die das Buch höchlich pries, der einzige Widerpart des gar kurzen Abends. Angekündigt für die Zeit von 19.30 bis 21 Uhr, endeten Lesung und Gespräch bereits vor 20.15 Uhr. Dabei befand die Moderatorin in ihrem Fazit, sie hätte „noch 25 oder mehr Fragen“ und man könne im Grunde endlos weiter reden. Hätte sie sich und uns doch wenigstens noch etwas Zeit und Muße gegönnt…

Ich gebe freimütig zu, den in Rede stehenden Roman noch nicht gelesen zu haben. Allerdings haben mich die wenigen Auszüge tatsächlich neugierig gemacht. Der ausgesprochen unprätentiöse und präzise Erzählstil, der gleichwohl nirgendwo in bloße Lakonie abgleitet und auch Durchblicke ins Metaphysische gestattet, übt wirklich einen sanften Sog aus.

Man möchte mehr und mehr über die Protagonistin wissen, jene namenlose Neurobiologin, die es im Alter von 18, 36 und 54 Jahren jeweils mit 36-jährigen Männern zu tun bekommt. Nicht nur geht es um die sehr verschiedenen Lebensalter der Liebe, sondern auch ums das Gewebe aus Erinnerung und Vergessen, aus dem noch jede Identität entsteht.

Die Autorin legt übrigens Wert darauf, dass ihre Hauptperson vom Rande des Ruhrgebiets stammt und somit eine regionalspezifische Variante von Humor mitbringt, der sie auch in misslichen Situationen vor dem Untergang bewahrt. Es ist denn auch ermutigend zu sehen, wie durchaus ambitionierte und ernsthafte Literatur zwar auch Abgründiges ins Auge fasst, jedoch nicht alles Schwarz in Schwarz zeichnet.

Judith Kuckart hat sich vor der Niederschrift gleichsam selbst nicht über den Weg getraut. Als Schriftstellerin neige sie nun mal zum „Erinnerungs-Fetischismus“. Dabei könne man den Phänomenen doch auch wissenschaftlich auf die Spur kommen. So war es gerade recht, dass die Uni Heidelberg einige Schriftsteller einlud, sich auf solche Pfade zu begeben. Neben anderen folgten auch Daniel Kehlmann, Tim Parks und Wiktor Jerofejew dem Angebot. Judith Kuckart entschied sich vor zwei Jahren just für ein neurobiologisches Praktikum und war auch bei gehirnchirurgischen Operationen anwesend, bei denen bösartiges Gewebe höchst behutsam und millimetergenau „ausgelöffelt“ werden musste.

Es war also eine sehr bewusste Entscheidung, aus der Perspektive einer Neurobiologin zu erzählen. Derlei Erfahrungen geben zudem einen ganz anderen Blick aufs Sein und Schwinden von Identität frei. Doch die Wissenschaftler, so Kuckart, stellten ihrerseits sogar in Kantinengesprächen Fragen, die weit über ihr Metier hinausreichen und grundsätzlich ans Existenzielle rühren. Mithin ist auch der Roman längst nicht nur ein Präsisions-Werk, sondern eines, das stellenweise ins Unerklärliche und womöglich Geisterhafte ausgreift. Wunderbar rätselvoll etwa die Schilderung einer Bahnfahrt, in deren Verlauf aus einer Tasche, einem Rucksack und einem Jutelbeutel – Milch rinnt. Welch ein Bild, das einen subkutan weiter beschäftigt.

Nach diesem Eindruck jedenfalls kann man die Entscheidung der Jury, die Wahl-Berlinerin Judith Kuckart auf Zeit nach Dortmund zu holen (wo sie teilweise aufgewachsen ist), nur nochmals gutheißen. Und man ist umso gespannter, was ihre Beobachtungen und Recherchen in der Stadt wohl ergeben werden. Es bleibt zu hoffen, dass die Corona-Krise das mögliche Themenspektrum nicht allzu sehr überlagert. Obwohl: Auch aus einer solchen Konstellation würde Judith Kuckart gewiss ihre ersprießlichen Lehren ziehen.




Nach und nach öffnen immer mehr NRW-Museen – unter strikten Sicherheits-Vorkehrungen (Update)

Ab 9. Mai wieder geöffnet: Kulturzentrum „Dortmunder U“ mit dem Museum Ostwall. (Foto: Bernd Berke)

Es ist so weit: Beginnend mit dem 5. Mai 2020, öffnen in Nordrhein-Westfalen und damit auch im Ruhrgebiet wieder einige Museen, nach und nach kommen weitere hinzu; hoffentlich nicht nur vorerst, sondern – unter strikter Einhaltung der Abstands- und Hygiene-Regeln – auf Dauer.

Hier nun ein paar Einzelheiten, den Mitteilungen der Institute bzw. der Städte folgend (Näheres auf den jeweiliges Homepages):

Das Museum Ostwall im „Dortmunder U“, das Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte (MKK) sowie die weiteren städtischen Museen können am Samstag, 9. Mai, ihre Pforten wieder öffnen, bis dahin sind noch einige Sicherheits-Installationen anzubringen und sonstige Vorbereitungen zu treffen, die dem Gesundheitsschutz dienen. Einstweilen noch nicht geöffnet wird das räumlich beengte Kindermuseum Adlerturm. Im Museum Ostwall wird nach der Öffnung u. a. wieder die neue Sammlungs-Präsentation „Body & Soul – Denken, Fühlen, Zähneputzen“ zu sehen sein. Die aus dem Brooklyn Museum zu übernehmende Schau über die legendäre New Yorker Disco „Studio 54″ muss aufs nächste Jahr verschoben werden. Weder das Kuratorenteam noch die Exponate können derzeit nach Dortmund kommen.

Noch vor den städtischen Museen wird das Deutsche Fußballmuseum in Dortmund wieder loslegen, und zwar am 7. Mai. Mit digitaler Vorab-Anmeldung fahren Besucher(innen) besser, wie es heißt.

Die Dortmunder DASA (Arbeitswelt-Ausstellung) kann ab 13. Mai wieder besucht werden – neue Öffnungszeiten: Mo-Fr 10-16, Sa/So/Feiertage 11-18 Uhr. Es gelten Einschränkungen, besonders in Mitmach-Bereichen.

Das Osthaus Museum in Hagen und das Emil Schumacher Museum in Hagen (ESMH) – zusammen das so genannte „Kunstquartier“ – öffnen erst wieder am 19. Mai. Grund für die Verzögerung sind offenbar Probleme mit der angemessenen Reinigung, die zugleich mit der hygienischen Verbesserung an den Schulen bewältigt werden muss.

Ab 7. Mai (Donnerstag) öffnet das Museum Folkwang in Essen wieder für die Besucherinnen und Besucher. Verstärkte Hygienemaßnahmen, eine Maximalbesucherzahl, geregelte Wegeführung und Boden­markierungen zur Einhaltung des Mindestabstands sollen das Infektionsrisiko auf ein Minimum begrenzen. Außerdem werden Listen zum freiwilligen Eintrag von Kontaktdaten ausliegen, um mögliche Infektionsketten rückverfolgen zu können. Das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung während des Museumsbesuchs ist Pflicht. Die Museumsgastronomie bleibt geschlossen. Führungen und Veranstaltungen finden bis auf Weiteres nicht statt. Aktuell gibt es neben der Sammlungspräsentation („Neue Welten“) zwei Sonderausstellungen: „Aenne Biermann. Vertrautheit mit den Dingen“ (noch bis zum 1. Juni 2020) und „Mario Pfeifer. Black/White/Grey“ (noch bis zum 24. Mai 2020).

Außenansicht des Museums Folkwang in Essen (Eingangsbereich). (Foto: Giorgio Pastore)

Das Ruhrmuseum in Essen (auf dem Gelände des Welterbes Zeche Zollverein) ist ab Donnerstag (7. Mai) wieder geöffnet.

Bereits seit 5. Mai ist das Lehmbruck Museum in Duisburg wieder zu besichtigen. Nach rund 7-wöchiger Schließungsphase werden damit alle Ausstellungsbereiche und die aktuelle Sonderausstellung „Lynn Chadwick. Biester der Zeit“ für Einzelbesucher(innen) zu den gewohnten Öffnungszeiten wieder zugänglich sein. Die Chadwick-Schau wird bis zum 20. September verlängert.

In den vergangenen Wochen haben gut 71.000 Menschen die Retrospektive der Gemälde von Erwin Bechtold und die Sammlung des MKM Museum Küppersmühle in Duisburg virtuell erlebt. Jetzt werden die Kunstwerke wieder direkt zu sehen sein: Ab Mittwoch, 6. Mai, öffnet das MKM seine Türen. Die Bechtold-Ausstellung dauert bis zum 24. Mai. Die ständige Sammlung umfasst u. a. Werke von Joseph Beuys, K.O. Götz, Anselm Kiefer, Markus Lüpertz, Gerhard Richter, Emil Schumacher und Günther Uecker. Die derzeit üblichen Einschränkungen und Regeln beim Museumsbesuch gelten natürlich auch hier, insbesondere die Einhaltung eines Mindestabstands von 1,50 Meter.

Das Museum DKM in Duisburg wird ab 9. Mai geöffnet sein, jedoch nur am Samstagen und Sonntagen.

Auch die Ludwiggalerie Schloss Oberhausen hat den Ausstellungsbetrieb ab 5. Mai wieder aufgenommen. Gezeigt wird zunächst die Zusammenstellung über Jacques Tilly, der u. a. als kreativer Karnevalswagen-Schöpfer in Düsseldorf bekannt wurde. Mit der neuen Schau „Rudolf Holtappel – Die Zukunft hat schon begonnen“ widmet man sich dann ab kommenden Sonntag (10. Mai) erstmals dem Lebenswerk des wohl wichtigsten Oberhausener Fotografen des 20. Jahrhunderts. Rund 250 Fotografien werden vom 10. Mai bis zum 6. September zu sehen sein.

Das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm ist seit 5. Mai wieder offen.

Das Märkische Museum in Witten kann ab 9. Mai besucht werden, zunächst jedoch nur samstags und sonntags.

Der Ausstellungsort Haus Opherdicke in Holzwickede (Kreis Unna) darf ab 12. Mai wieder besucht werden.

Die Emschertal-Museen in Herne sind seit 5. Mai wieder offen.

Die Kunsthalle Recklinghausen startet erst ab 6. Juni, das Ikonenmuseum in Recklinghausen ist hingegen schon jetzt (seit 5. Mai) wieder zu besichtigen.

Das Bergbaumuseum in Bochum kann seit 5. Mai wieder besucht werden, allerdings ist nur die Dauerausstellung zugänglich.

Das Kunstmuseum Bochum steigt am Donnerstag (7. Mai) wieder ein.

Ins Museum Gelsenkirchen wird man ab 12. Mai wieder eingelassen.

Die Museen des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) sind seit dem 5. Mai wieder geöffnet. Museumsbesucher müssen sich – wie andernorts auch – auf Einschränkungen wie Mundschutzpflicht gefasst machen. Zur „Dosierung“ der Besucherzahlen gibt es Einlasskontrollen bzw. elektronische Zählsysteme. Bodenmarkierungen und Absperrbänder zeichnen Gehwege vor, markieren Mindestabstände und trennen Bereiche ab, in denen es eng werden könnte. Zudem wird es zunächst weder Führungen noch Gastronomie geben. Man richte sich darauf ein, dass der „Betrieb unter Corona“ noch Monate dauern könne, hieß es weiter.

LWL-Museum für Archäologie in Herne
Das LWL-Museum für Archäologie in Herne zeigt seine Dauerausstellung und hat wegen der bisherigen Schließung seine denkbar aktuell anmutende Sonderausstellung „Pest!“ bis zum 15. November verlängert.

LWL-Industriemuseum Zeche Zollern, Dortmund
In der Zeche Zollern ist die Sonderausstellung „Revierfolklore“ zu sehen, die Dauerausstellungen füllen die anderen Gebäude. Lediglich das Fördergerüst und das „Montanium“ bleiben geschlossen. Der Zugang zu den einzelnen Räumen wird reguliert.

LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster
Im LWL-Museum für Kunst und Kultur sind alle Ausstellungen geöffnet. Neu sind die Sonderausstellungen „Karel Dierickx“ und ab dem 10. Mai die Gemäldeschau über Norbert Tadeusz – diese wird am 9. Mai um 18 Uhr ohne Besucher per Live-Stream eröffnet. In der Tadeusz-Ausstellung dürfen sich pro Ausstellungsraum maximal vier Besucher(innen) gleichzeitig aufhalten, in den Sammlungsräumen maximal drei.

LWL-Museum für Naturkunde in Münster
Im LWL-Museum für Naturkunde kann man neben der Dauerausstellung die Sonderausstellung: „Beziehungskisten – Formen des Zusammenlebens in der Natur“ besichtigen. Das Planetarium bleibt bis auf Weiteres geschlossen.

Weitere LWL-Museen, die ab heute (5.5.) wieder zugänglich sind (Auswahl):

Industriemuseum Zeche Nachtigall in Witten
Industriemuseum Zeche Hannover in Bochum
Industriemuseum Schiffshebewerk Henrichenburg in Waltrop
Römermuseum in Haltern (Kreis Recklinghausen)
Freilichtmuseum in Hagen

…und „nebenan“:

In der Landeshauptstadt Düsseldorf sind seit 5. Mai die Kunsthäuser K20 und K21 sowie das Museum Kunstpalast und das NRW-Forum wieder geöffnet.

Diese Museen in Köln sind wieder zugänglich (Auswahl): Museum Ludwig, Wallraf-Richartz-Museum, Museum für Angewandte Kunst, Stadtmuseum. Das Römisch-Germanische Museum kann ab 8. Mai wieder besucht werden.

Die Bundeskunsthalle in Bonn und das Kunstmuseum Bonn öffnen ab 12. Mai.

Das Von der Heydt-Museum in Wuppertal wird ab 19. Mai wieder geöffnet sein – zu vorerst geänderten Zeiten.

Das Museum für Gegenwartskunst in Siegen ist seit 5. Mai wieder besuchbar.




Wer sind wir und wie viele? Oder: Von einer, die auszog, Corona-„Soforthilfe“ für Kulturschaffende zu erhalten

Etwas mehr als dies hier hätte es schon geben können. Hätte… (Symbolfoto: Bernd Berke)

Gastautorin Marlies Blauth über ihre höchst ärgerlichen Erfahrungen mit der (ausbleibenden) finanziellen Unterstützung durch das Land NRW:

„Worauf waaartet ihr denn noch?“ lautete die so beliebte wie blöde Frage unseres Sportlehrers, wenn wir etwas verhalten agierten und nicht sofort lospreschten: „Hopp-hopp-hopp-und-los“.

50 Jahre später klingeln solche Sprüche wieder in meinen Ohren, und zwar im Zusammenhang mit einem höchst merkwürdigen, ja zynischen Wettlauf.

Wir befinden uns bekanntlich in Corona-Zeiten. Allgegenwärtig die Angst, sich mit einer neuen, unwägbaren Krankheit zu infizieren. Die Nachrichten überschlagen sich. Innerhalb weniger Tage werden alle Veranstaltungen, gleich welcher Größe, bis auf Weiteres gestrichen, Museen und Galerien sind geschlossen, kleine Läden auch, allein die Lebensmittelgeschäfte bleiben geöffnet. Stay at home heißt das Motto.

Absagemails prasseln in mein Postfach. Ich hatte mir für April, Mai und Juni besonders viel vorgenommen, nun ist alles dahin: meine Lesungen, ein Workshop, Offene Ateliers, verschiedene Ausstellungsbeteiligungen, ein Vortrag. Meine Ausstellung im März hatte es schon schwer, denn die Galerie befindet sich, ausgerechnet, in der Nachbarschaft zu Heinsberg, dem bundesweit ersten Corona-Hotspot. Kaum jemand traute sich hin, nun muss ich meine Bilder vorzeitig abbauen. Viel Arbeit für nichts.

Kultur findet also fast nicht mehr statt, jedenfalls keine direkte und lebendige. Zwar werden Mengen digitaler Behelfchen ins Netz gestellt, die bringen aber kein Geld, fressen höchstens welches, wenn man professionelle Unterstützung will.

Das „arme Dier“ steht vor mir, ich fühle mich mutlos und klein. So geht es inzwischen den meisten KollegInnen, manche sprechen von „Berufsverbot“, anderen fehlen schlichtweg die Worte.

Was die Bundesländer versprochen haben

Da baut es doch auf, wenn die Bundesländer versprechen, den Kulturschaffenden „schnell und unbürokratisch“ unter die Arme zu greifen. Also auch „mein“ NRW, schön, schön. Ich höre es stündlich im Radio, bekomme entsprechende Mails: wegen Corona abgesagte Veranstaltungen sollen vergütet werden. Ein Lichtstreif am Horizont! Da denkt jemand an uns!

Wir müssen nur bescheinigen, bestätigen lassen, welche Veranstaltungen ausgefallen sind. Dann bekommen wir eine Einmalhilfe bis zu 2000 Euro (Reaktion von Nicht-Kulturschaffenden: mitleidiges Lächeln).

Aber doch wirklich schnell und unbürokratisch: nur noch den Ausweis scannen, die Mitgliedschaft in der KSK (Künstlersozialkasse) nachweisen … alles in Form einer Mail abschicken, das war’s.

Mühsam Nachweise sammeln

Ich komme mir fast hyperaktiv vor, sogleich die Absage der Wuppertaler Literatur-Biennale (und Angaben zum Honorar) schwarz-auf-weiß anzufordern. Die Bescheinigung kommt, mit allem Drum und Dran. Schwieriger ist es mit Lesungen, deren Eintritt/ Honorar auf Spendenbasis funktioniert: Was will man da nachweisen, zumal ja niemand für Nichts spendet? Oder Bücher von einem Büchertisch kauft, der gar nicht aufgebaut werden darf?

Gut, dann erstmal das andere. Der Workshop ist irgendwie in Worte zu fassen. Bezüglich einer Ausstellungsbeteiligung in einer Städtischen Galerie heißt es hingegen, dass der Veranstalter ja nicht die Stadt sei, und wenn der die Absage geschickt hat, soll er auch den Zettel ausfüllen. Nee danke, ich behellige keine Kollegen, die hatten schon genug Arbeit (für nichts) und besitzen im Übrigen auch keinen offiziellen Stempel. Also weiter: Ja, die zentral organisierten Offenen Ateliers fallen aus, ja, das können wir bestätigen.

Ich bin es gewohnt, wie ein Eichhörnchen zu sammeln. Diesmal also Formulare. Zeitweise beschleicht mich ein komisches Gefühl. Oder ist es nur der Frust, viel Mühe beim Anfordern der Unterlagen zu haben und gleich schon zu wissen, gar nicht auf diese 2000 Euro zu kommen, weil ja „eventuelle Bilderverkäufe“ überhaupt nie bescheinigt werden können? Wie denn? Was ist mit entgangenen Folge-Aufträgen? Alles viel zu nebulös.

„Es ist kein Geld mehr da!“

Und dann … dann erscheint plötzlich Hiob, wie ein Blitz schlägt seine Botschaft ein in mein bürokratisches Wartezimmer. Einige KollegInnen berichten verzweifelt, dass sie trotz vollständiger Antragsunterlagen keinen Cent, dafür eine Absage bekommen haben. Die Entschuldigung verwundert und verschreckt: Es ist kein Geld mehr da! Ab Ende März kann nichts mehr ausgezahlt werden, und wir befinden uns schon weit im April. Ich warte immer noch auf ein Formular. Mir ist nicht gut.

Am 24.4. habe ich alles zusammen. War die Deadline Ende April oder Ende Mai? Egal, ich bin noch in time. Mit klopfendem Herzen schicke ich mein digitales Paket ab. Einerseits bringt’s ja wohl nichts mehr, andererseits: trotzdem. Bloß nichts falsch machen jetzt. Man weiß ja nie: Wie ich erfahre, wird nach Möglichkeiten gesucht, den Geldtopf neu zu füllen.

Nachfrage bleibt ohne Antwort

Aber meine Mail kommt zurück. Not found. Neuer Versuch. Dreimal, viermal. Es hilft nichts, ich werde mein (doch nicht so unbürokratisches) Zeug einfach nicht los. Man will offenbar seine Ruhe haben jetzt, wo es ohnehin kein Geld mehr gibt; hat die hochoffizielle Mailadresse anscheinend gleich abgeschaltet, damit sich jede Antwort automatisch erledigt. Beweisen kann ich das natürlich nicht. Aber ich muss wohl annehmen, dass es so ist, denn ich habe den Sachverhalt in einer zweiten Mail an die zentrale Adresse der Bezirksregierung geschildert und warte bis heute auf Antwort. Nicht einmal eine Eingangsbestätigung. Nichts.

Da muss man sich doch fragen, wie Land und Leute so zur Kultur stehen – oder genauer: zu denen, die sie machen, schaffen, am Laufen halten. Das Thema Corona beherrscht nun seit Wochen die Medienwelt; zum Teil nachvollziehbar, manchmal aber verwunderlich, weil die Kultur gleichzeitig als eine Art verzichtbarer Luxus behandelt wird: Sie spielt nicht nur die zweite oder dritte Geige, sondern meistens gar keine. In einer WDR-Sendung (Lokalzeit Düsseldorf, 22.4.2020) hieß es lapidar (ich zitiere sinngemäß aus dem Gedächtnis): „Das Musikerpaar XY hatte Glück, es gehörte zu den 3000 Künstlern, die die Soforthilfe bekamen.“ Wie – Glück?

Ein Wettrennen, das man nur verlieren kann

Etwa 13.000 AntragstellerInnen gingen leer aus, wie man heute weiß. Heute. Vor wenigen Wochen, als die finanzielle Hilfe viel zu schnell viel zu laut angekündigt wurde, kannte man diese Zahlen anscheinend noch nicht. Warum nicht? Wenn doch die Registrierung in der KSK Voraussetzung war, warum hat man dort nicht nachgefragt? Und wenn man meint, sich auf Schätzungen berufen zu können: Wie kommt es, dass man sich um vier Fünftel vertan hat? Ja, richtig: Kultur wird unterschätzt. In welcher Hinsicht auch immer.

„Wie schön, dass du dein Hobby zum Beruf machen konntest“ – selbst freundliche Zeitgenossen sagen das und meinen es nicht einmal böse. Aber Kultur ist kein schönes Hobby, sondern Arbeit und Mühe mit der Absicht, der Gesellschaft etwas zu geben, das über ihre bloße alltägliche Existenz hinausweist. Ein Lebensmittel höherer Art; fängt übrigens bei „Esskultur“ an.

Hopp-hopp-hopp-und-looooos! So böse, Menschen in ein Wettrennen zu schicken, bei dem sie nur verlieren können. Oder gibt es jemanden, der sein unterdurchschnittliches Einkommen jemals mit einem Lottogewinn verwechselt hat?

Ja, worauf wartet ihr denn noch?

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Nachtrag am 24. Mai

Die Töpfe wurden neu gefüllt, so dass alle KünstlerInnen, die die aufgelisteten Kriterien erfüllen, bedacht werden können!

Doch … *plopp*! Das war jetzt meine optimistische Seifenblase.
Man musste seinen Antrag nämlich bis einschließlich 9.4. gestellt haben, sonst geht man … logisch? … leer aus. Das kann aber deshalb nicht logisch sein, weil es ursprünglich hieß, dass man den Antrag bis zum 31.5. (!) stellen kann. Ich habe nochmal in meinen Unterlagen nachgesehen, um dem schleichenden Gefühl entgegenzuwirken, dass ich langsam anfange zu spinnen. Aber nein, ich spinne nicht; zumindest gemäß der PDF-Datei, die mir vorliegt, hätte ich noch mehr als einen Monat Zeit gehabt, als ich meinen Kram am 24.4.2020 abschickte.

Dass die Mailadresse der Bez.-Reg. da schon deaktiviert war, konnte man immerhin jetzt offiziell erfahren. Zu gegebener Zeit hatte es ja nicht einmal zu einer automatischen Antwortmail gereicht, die mich und andere von jenem Eindruck hätte erlösen können, digital zu doof zu sein.

Nun also das, was zumindest nach dem Stand meiner Informationen aussieht wie eine dreiste Umdatierung.

Und ich? Bin zur Berufsnervensäge mutiert, die immer und immer Hilferufe absetzt, beispielsweise den Kulturrat NRW endlos mit Details und Nachfragen quält und auch sonst jeden noch so dürren Ast ergreift. Ist eigentlich nicht mein Job, so was.

Aber ich sehe bisher noch nicht ein, zwar alle Voraussetzungen bis auf dieses plötzlich hingebastelte Deadlinedatum erfüllt zu haben – und dennoch ein zweites Mal sagen zu müssen: außer Spesen nichts gewesen.

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Nachtrag am 26. August

Nicht zuletzt dank des unermüdlichen Engagements des Kulturrat NRW e. V., dem ich an dieser Stelle ausdrücklich danken möchte, erfuhr ich von der Möglichkeit eines Stipendiums, Bewerbung ab 10. August 2020. Ich skizzierte darin die Fortsetzung meines „Kohlestaub“-Projekts, gab, wie vorgeschrieben, zwei Referenzen an und im übrigen jede Menge Ziffern und Zahlen.

Nach der ersten Antragsrunde mit ihren zahlreichen Klippen und Engpässen erschien es mir fast wie ein Wunder, dass sofort Eingang und Bearbeitung meiner Bewerbung bestätigt wurden. Und, kaum zu glauben: Am Morgen hatte ich sie elektronisch abgeschickt, am Abend bekam ich die Zusage! Und nach 12 Tagen war das Geld überwiesen.

Ich freue mich sehr und danke für die schnelle positive Entscheidung.




Im Bergbau war von Arbeitsschutz lange nicht die Rede

Teilansicht vom weitläufigen Gelände des LWL-Industriemuseums in Dortmund. (Foto: Bernd Berke)

Nicht nur zum Tag der Arbeit am 1. Mai sollte man sich daran erinnern, wie wesentliche Teile der Arbeitswelt im Revier ehedem ausgesehen haben.

Ein kurzer Film des LWL gibt dazu einen Anstoß. Der ehemalige Bergmann Hans Georg Zimoch (heute 83), der über 40 Jahre als Kumpel unter Tage malocht hat (anders kann man es kaum ausdrücken), erzählt darin vom knochenharten und gefährlichen Leben der Bergleute. Zimoch selbst hat neun Kollegen durch Bergunglücke verloren. Allein auf der 1955 geschlossenen Dortmunder Zeche Zollern sind im Laufe der Jahrzehnte 161 Bergleute ums Leben gekommen.

Insgesamt haben zigtausend Menschen im Steinkohlebergbau ihr Leben verloren. Und dabei hat man noch gar nicht die Langzeitfolgen bei jenen mitbedacht, die zwar mit dem Leben davongekommen sind, aber unter Silikose litten und leiden. Staublunge, so sagt auch Hans Georg Zimoch, wird man nie wieder los, diese Krankheit ist unheilbar.

Erzählt im LWL-Video vom schweren Arbeitsleben der Bergbau-Kumpel: Hans Georg Zimoch (83). (Foto: LWL)

Noch bis in die 1920er Jahre hinein wurde in den Bergwerken vollkommen ungeschützt gearbeitet. Auch gab es bis dahin weder Kranken- noch Unfallversicherung für die Bergleute.

Von Arbeitsschutz, der den Namen verdiente, konnte bis in die 1950er Jahre hinein so gut wie gar nicht die Rede sein. Die ersten Ansätze waren dann immerhin konkrete Warnhinweise und Plakate, alsbald kamen Sicherheitskleidung (Gummistiefel mit Stahlkappen, feste Handschuhe, Kunststoffhelme) und ortsfeste Beleuchtung unter Tage hinzu. Erst seit Anfang der 1960er Jahre trugen die Bergleute Stirnlampen. Nicht von ungefähr hieß es „Vor der Hacke is‘ duster.“ Manchmal zappenduster.

Und der Maifeiertag? Vor rund 130 Jahren legten rund 100.000 Männer und Frauen in Deutschland am 1. Mai die Arbeit nieder. Von Anfang an waren solche Streiks nicht nur mit Forderungen zur Verkürzung der Arbeitszeit und nach besserer Entlohnung verknüpft, sondern galten eben auch auch den desolaten Arbeitsbedingungen, zu denen der fehlende Arbeitsschutz zählte. 1919 wurde der 1. Mai ein einziges Mal als proletarischer Tag der Arbeit begangen, ehe ihn später das Nazi-Regime für seine Zwecke missbrauchte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg lebte die freiheitliche Tradition des Maifeiertages wieder auf.

Für Nicht-Revierkundige sei’s angefügt: Mit der Zeche Zollern hat es eine besondere Bewandtnis. Dem 1955 geschlossenen Bergwerk mit seinen imposanten Jugendstilbauten drohte der Abriss, der Ende 1969 – nach Protesten aus Bevölkerung und Fachwelt – verhindert wurde. Es war sozusagen der bundesweite Beginn des Denkmalschutzes auch für Industriebauten und zeugte von den Anfängen eines grundlegenden Bewusstseinswandels – nicht nur, aber speziell im Ruhrgebiet. 1979 wurde das Industriemuseum in der Zeche Zollern II/IV gegründet, seit 1999 fungiert es offiziell als Zentrale des LWL-Industriemuseums mit seinen acht Standorten. In der hoffentlich bald wieder besuchbaren Dauerausstellung des (derzeit noch wg. Corona geschlossenen) Museums erfährt man viel über die Sozial- und Kulturgeschichte des Bergbaus im Ruhrgebiet.




In diesen Zeiten muss man sich Gehör verschaffen: Gesammelte Aussagen zu „Corona und Kultur in Dortmund“

Dortmunds Kulturdezernent Jörg Stüdemann bei der heutigen Pressekonferenz. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Auch wenn die Aussagen noch nicht allzu konkret sein konnten: Es war schon einmal gut, dass diese Pressekonferenz überhaupt stattgefunden hat. Denn „die Kultur“ muss sich gerade in diesen Zeiten Gehör verschaffen. Unter dem Titel „Corona und die Kultur in Dortmund“ gab es heute im Rathaus der Stadt vor allem Statements auf der Chefebene der großen Kultureinrichtungen, aber auch aus der freien Szene. Ich habe den Termin via Live-Stream verfolgt.

Stadtdirektor und Kulturdezernent Jörg Stüdemann skizzierte eingangs die Lage und erkannte – bei allen Problemen – auch eine „positive Novität“: Im Gegensatz zu mancher früheren Debatte, in der Kultur als „erste Spardose“ gegolten habe, seien die kulturellen Einrichtungen diesmal von Anfang an in Überlegungen und Beratungen mit einbezogen worden.

Insgesamt aber müsse man von „gravierenden Erschütterungen“ sprechen, „wie wir sie bisher nicht kannten“. Das Thema habe etliche Perspektiven und Aspekte. Es gehe um die Situation der Institute, um die der ausübenden Künstlerinnen und Künstler und nicht zuletzt um das Publikum. Bleibe es durch die Krise hindurch loyal und stehe es treu zum Theater, zum Konzerthaus, zu den Museen und anderen Kulturstätten? Bislang, so Stüdemann, habe das Publikum eine erstaunliche Solidarität bewiesen, für die er herzlich danken wolle. Beispiel: Viele vorab bezahlte Tickets für abgesagte Vorstellungen würden nicht zurückgegeben.

Stüdemann mahnte dreierlei dringenden Bedarf an:

1.) Die inzwischen ausgelaufenen, weil hoch „überzeichneten“ Soforthilfe-Programme für Kulturschaffende müssten sehr bald verlängert werden. Als Beispiel nannte er Baden-Württemberg, wo es neuerdings eine Grundsicherung für Künstler(innen) von rund 1100 Euro im Monat gebe, die von anderen Bundesländern gut kopiert werden könne. Ein Appell ans Land NRW also.

2.) Die Einrichtungen der freien Szene bräuchten Infrastruktur-Programme, damit sie auch nach der Krise noch existieren könnten.

3.) Man müsse sehr zeitig „Exit-Strategien“ vorbereiten und einleiten, denn Betriebe wie Theater oder Konzerthaus könnten nicht einfach von heute auf morgen wieder die Bühnen bespielen, sondern bestenfalls nach einem Vorlauf von 6 bis 10 Wochen. In die entsprechenden Planungen sollten unbedingt die Fachleute aus den Kulturhäusern eingebunden werden.

Stefan Mühlhofer, Leiter der Kulturbetriebe Dortmund. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Stefan Mühlhofer, Direktor der Dortmunder Kulturbetriebe, sieht es als sicher an, dass man bei Wiederaufnahme des Spielbetriebs und anderer kultureller Angebote nicht einfach „den Schalter umlegen kann“. Es werde zunächst vieles anders sein als vor Corona. Man habe inzwischen einige Aktivitäten (Volkshochschule, Musikschule) auf digitale Verbreitung umgestellt, was auch recht gut funktioniere. Dennoch könne dies auf Dauer kein Ersatz für Präsenz-Veranstaltungen sein. Ein Originalbild im Museum sei eben etwas ganz anderes als eine Abbildung im Buch oder ein Video. Apropos: Wahrscheinlich bis Mitte dieser Woche solle ein Papier zur möglichen Öffnung der städtischen Museen vorliegen – mit einer Perspektive für Anfang oder Mitte Mai. Auch hier gilt freilich: Die Stadt allein kann nichts bewirken. Das Land NRW muss es zulassen. Übrigens: In Berlin dürfen die Museen schon wieder öffnen.

Hendrikje Spengler, Leiterin des Kulturbüros Dortmund. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Hendrikje Spengler, Leiterin des Kulturbüros Dortmund, berichtete, man habe sich in den letzten Wochen durch einen wahren Wust an Informationen, Erlässen und Verordnungen kämpfen müssen. Es sei aber gelungen, das alles zu strukturieren – vor allem im Sinne der Kulturschaffenden, denen häufig alle Verdienstmöglichkeiten weggebrochen seien. In der Kulturszene herrsche derweil keine Larmoyanz, im Gegenteil: Geradezu kraftvoll seien ständig neue Ideen entwickelt worden, um trotz Corona (digital) wahrgenommen zu werden.

Claudia Schenk, Sprecherin der freien Szene. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Claudia Schenk aus dem Leitungsgremium des „Depots“ trat als Sprecherin der freien Kulturszene an. Diverse Zentren der freien Szene wären ohne die bislang geleistete Landeshilfe vielleicht schon für immer geschlossen worden, befand sie. Streaming sei zwar gut, um im Gespräch zu bleiben, es generiere aber keine Einnahmen. Sie verwies auch auf Fälle wie etwa jene freiberuflichen Bühnentechniker, die auf einmal vor dem Nichts stünden. Man warte auf konkrete Handlungsanweisungen für einen Exit, also für die Wiederaufnahme des Betriebs unter veränderten Bedingungen. Frau Schenk stellte zudem mit Blick auf die nächsten Jahre die bange Frage, ob es im Kulturbereich wohl Streichungen und Kürzungen geben werde. Schließlich zähle Kultur leider immer noch zu den freiwilligen Leistungen der Kommunen und nicht zu den Pflichtaufgaben.

Sprach fürs Theater: Tobias Ehinger. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Tobias Ehinger, geschäftsführender Direktor des Theaters, erinnerte sich an die letzten Monate vor der Krise, als das Dortmunder Theater ein Hoch erlebt und neue Besucherrekorde angepeilt habe. Dann wurde man jäh ausgebremst. Sehr schnell habe man dann umgedacht, beispielweise habe die Theaterwerkstatt Mundschutzmasken hergestellt. In der Krise habe sich überhaupt gezeigt, wie wichtig der soziale Aspekt und die Verankerung in der Gesellschaft fürs Theater seien. Streaming könne kein wirkliches Bühnenerlebnis ersetzen, auch seien die digitalen Möglichkeiten schnell ausgereizt. Als eine beispielhafte Aktion nannte Ehinger den Musik-Truck, der vor Altenheimen vorfahre und – draußen vor den Türen – z. B. mit Gesangs-Darbietungen den Senioren ein wenig zwischenmenschliche Wärme vermittle. Ehinger ist überzeugt, dass man ab Anfang September wieder spielen werde – allerdings völlig anders, mit eigens zugeschnittenen Inszenierungen und vor deutlich weniger Zuschauern. Im Hinblick auf den 1. September sei ein Planungsvorlauf von etwa 10 Wochen nötig. Das würde bedeuten: Bereits Mitte Juni müsste man in die Vorbereitungen einsteigen. Insgesamt gelte es, die gesellschaftlichen Errungenschaften durch die Krise zu erhalten. Dabei sei Kultur unbedingt „systemrelevant“.

Konzerthaus-Chef Raphael von Hoensbroech. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Raphael von Hoensbroech, Intendant des Konzerthauses Dortmund, betonte den Gedanken der Systemrelevanz noch stärker. Kultur solle nicht nur am Tisch Platz nehmen, an dem die Relevanz verhandelt werde. Vielmehr sei sie – einem Ausspruch des Cellisten Yo-Yo Ma zufolge – sozusagen selbst dieser Tisch, also die Grundlage der Gesellschaft. Das Konzerthaus mit seinem sehr großen Saal sowie ausgeklügelter Be- und Entlüftung sei bei reduziertem Publikum kein riskanter Ort. Er halte ansonsten nicht viel von pauschalen Obergrenzen, es komme stets aufs Einzelereignis an. Voluminöse Auftritte mit großen Chören und Orchestern seien jedoch vorerst auszuschließen. Die Stadt Dortmund habe sich zu den Perspektiven des Konzerthauses beherzt und klar positioniert. Was jedoch aus Regierungskreisen in Berlin und vom Städtetag komme, sei wenig hilfreich.

Jörg Stüdemann blieb das vorläufige Fazit vorbehalten. Als studierter Germanist quasi von Haus aus kulturaffin und biographisch auch als Mitarbeiter eines Kulturzentrums (schon länger ist’s her: Zeche Carl in Essen) mit der Szene vertraut, kann die Interessenlage von Kulturschaffenden wohl recht gut nachempfinden und in vernünftige politische Bahnen lenken. Allerdings vermag er – obwohl zugleich Stadtkämmerer – natürlich nicht beliebig viele Kulturmittel aus dem städtischen Etat zur Verfügung zu stellen. Für die nächste Zeit mahnte Stüdemann ethische und „wertsetzende Handlungsweisen“ in der Kulturpolitik an, die sich einer bloßen Einspar-Mentalität widersetzen und keinesfalls „autoritativ oder autoritär“ vorgehen solle. Wie sich gezeigt habe, müssten nun vor allem zwei Anforderungen vorrangig erfüllt werden: „Wir müssen mehr in die Digitalisierung investieren, auch in Qualifizierung und technische Ausrüstung.“ Und: In jeder Hinsicht müsse jetzt über „Gestaltungs-Alternativen“ nachgedacht werden. Wohlan denn!

Viel guter Wille also, aber noch unklare Perspektiven. Die Kultur, so ahnt man, wird (ebenso wie andere Bereiche) „nach Corona“ nicht mehr dieselbe sein können wie zuvor.




Durcheinander bei Anne Will: Laschet und die Lockerung

NRW-Ministerpräsident Armin Laschet in der Talkshow von Anne Will (Screenshot aus der ARD-Sendung)

Das war wohl nicht gerade der allerfeinste Zug des NRW-Ministerpräsidenten  Armin Laschet. Als er bei Anne Will (ARD) mit seinen Argumenten für eine abgewogene „Lockerung“ der Corona-Maßnahmen etwas in Bedrängnis geriet, tat er was?

Er schob einen Gutteil der Verantwortung auf die Kommunen. Sie (und nicht das Land) hätten rasch für ausreichend Desinfektionsmittel in den Schulen sorgen müssen, um deren reibungslose Öffnung zu ermöglichen. Auch hätten sie (also die Städte) in den letzten Jahren ihre Gesundheitsämter ausbluten lassen. Statt dessen hätte „seine“ Schulministerin Yvonne Gebauer Desinfektionsmittel beschafft und rundum angeboten, obwohl dies wirklich nicht ihre Aufgabe sei.

Laschet, dem der Ruf vorauseilt, vielleicht etwas zu locker für Lockerungen einzutreten (Kanzlerin Merkel hat wohl auch ihn gemeint, als sie sagte, manche gingen dabei „zu forsch“ vor), wird morgen gewiss die eine oder andere vergrätzte Antwort von Stadtspitzen  oder Landräten aus NRW und anderen Gegenden bekommen. Zuletzt hatten sich manche der hiesigen (Ober)-Bürgermeister just über Wirrnis bei der Landesregierung beschwert. So deutet einer auf den anderen. Bringt uns das weiter?

Ähnlich kontrovers und kakophon ging es auch in Anne Wills ARD-Talkshow zu, bei der stellenweise mal wieder arg viel durcheinander geredet wurde. Christian Lindner (FDP) unterstellte Annalena Baerbock (Grüne) dies und jenes, die wiederum hielt ihm vor, er plädiere für Lockerungen als puren „Selbstzweck“. Es waren hie wie da durchsichtige Zuweisungen. Der jüngst etwas in den politischen Windschatten geratene Lindner empörte sich über willkürlich erscheinende Entscheidungen wie jene, dass Auto- und Möbelhäuser in etlichen Bundesländern unterschiedlich behandelt würden. Er plädierte für gezieltes regionales Eingreifen, sobald sich irgendwo ein exponentielles Wachstum an Corona-Fällen zeigen sollte. Ansonsten seien Lockerungen „verantwortbar“.

Während Baerbock die sozialen und psychischen Probleme vor allem in Schulen, Kitas und Altenheimen verortete, redete Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach (SPD) vor allem aus ärztlicher und virologischer Sicht. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er bislang gar keine Lockerung zugelassen. Unterstützung bekam er von der aus München zugeschalteten Christina Berndt, Wissenschaftsredakteurin der Süddeutschen Zeitung und Biochemikerin. Laschet hingegen machte seinem Ärger über manche Virologen Luft, die einander nicht nur widersprächen, sondern auch hin und wieder ihre Beurteilungs-Kriterien änderten. Es erweckte den Eindruck, als könne man sich da auf nichts mehr verlassen. Auch Lindner hieb in diese Kerbe.

Und Anne Will? Mal schauen, wie oft sie das Corona-Thema noch abhandeln wird. Es will einem fast scheinen, als hätte sie sämtliche Virologen und sonstigen Experten schon zu Gast gehabt. Davon abgesehen, kann sie es einfach nicht lassen, in jeder Ausgabe politische Personalien hervorlocken zu wollen – auch nicht, wenn es noch so aussichtslos und läppisch ist. Überdies kann man über ihre nachdrücklich vertretene Auffassung, das Hygienekonzept der Fußball-Bundesliga sei geradezu beispielhaft, wirklich heftig diskutieren. Karl Lauterbach ereiferte sich denn auch darüber, dass laut Konzept bei Erkrankung eines Spielers dessen Mannschaft trotzdem weitermachen dürfe. Zudem wird man ernsthaft fragen dürfen, ob es zu vermitteln ist, dass die Liga für ein paar Spielrunden mindestens 25.000 Corona-Tests verbrauchen wird. Wie sich seit Wochen zeigt, gibt es halt wahrlich Wichtigeres als maßlos überbezahlten Profi-Fußball.

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P. S.: Abermals habe ich auch bei mir festgestellt, was für viele TV-Zuschauer gelten dürfte und eigentlich ein „alter Hut“ ist: Man achtet bei derlei Talks zwangsläufig nicht nur auf das Gesagte, sondern gar sehr auch auf Stimmlage, gestische Marotten und Details der Kleidung. Man muss sich jedenfalls schon sanft zwingen, derlei Äußerlichkeiten überhaupt nicht in Rechnung zu stellen, wenn Argumente abgewogen werden. So ist Fernsehen. Oft ziemlich irreführend.

P.P.S.: Auf was man sonst noch achtet, wenn man’s ein bisschen mit der Sprache hat: Es war eine Ausgabe mit drei Harren mit L (Laschet, Lauterbach, Lindner) und zwei Damen mit B (Baerbock, Berndt). Ob das etwas zu bedeuten hat?

P.P.P.S.: Wenn ich meinen heutigen Beobachtungen im Freien trauen darf, hat bei manchen Mitbürgern bereits allzu viel „Lockerung“ Einzug gehalten. Angst vor einer „zweiten Welle“ der Pandemie scheint vielfach keineswegs handlungsleitend zu sein. Verantwortungsloser Tiefpunkt war eine ca. 15 Leute umfassende, eng gedrängte Gruppen-Zusammenkunft mit dem Ziel, eine große Mauer zu besprühen. Da überlegt man dann schon, ob man nicht die Behörden alarmieren soll.

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Nachtrag – Es war so sicher wie das Amen in der Kirche:

WAZ-Titelschlagzeile vom 28. April




Corona-Wortsammlung – weitgehend ohne Definitionen, aber fortlaufend aktualisiert

Wohl unter „M“ einzuordnen: in diesen Tagen ratsame bzw. pflichtgemäße Mund-Nasen-Bedeckungen. (Update: Achtung, Achtung! Solche Stoffexemplare sind mittlerweile durch medizinische Masken zu ersetzen). (Foto: BB)

Hier ein kleines Corona-„Lexikon“, darinnen etliche Worte, Wendungen, Zitate, Namen und Begriffe, von denen wir zu Beginn des Jahres 2020 nicht einmal zu träumen gewagt haben; aber auch bekannte Worte, die im Corona-Kontext anders und häufiger auftauchen, als bislang gewohnt. All das zumeist ohne Definitionen und Erläuterungen, quasi zum Nachsinnen, Ergänzen und Selbstausfüllen. Und natürlich ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit, aber von Zeit zu Zeit behutsam ergänzt. Vorschläge jederzeit willkommen.

Dazu ein paar empfehlende Hinweise: Die Gesellschaft für Deutsche Sprache hat sich einige Wochen lang in einer Serie mit den sprachlichen Folgen der Corona-Krise befasst, hier ist der Link.

Eine mit derzeit (März 2021) rund 1200 Einträgen sehr umfangreiche Liste von Corona-Neologismen hat das in Mannheim ansässige Leibniz-Institut für Deutsche Sprache online gestellt. Bitte hierher.

Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) hat ein umfangreiches Corona-Glossar veröffentlicht, dazu bitte hier entlang.

Ein Glossar zum phänomenalen NDR-Podcast mit Prof. Christian Drosten und Prof. Sandra Ciesek findet sich hier.

Einige weitere Erklärungen hat die Zeitschrift GEO gesammelt, und zwar hier.

In ihrer Ausgabe vom 4. Januar 2021 (!) ist die „Süddeutsche Zeitung“ in Person des Autors und Dramaturgen Thomas Oberender schließlich auch auf den Trichter gekommen und bringt unter der Zeile „Die Liste eines Jahres“ eine recht umfangreiche Wortsammlung. Daraus habe ich mir auch ein paar Ausdrücke genehmigt. Oberender darf sich wiederum hier bedienen.

Nun aber unsere Liste der Wörter, Wendungen und Namen:

1,5 Meter Abstand
2 Meter Abstand
2-G-Regel („geimpft oder genesen“)
2-G-plus („geimpft oder genesen und getestet)
3-G-Regel („geimpft, genesen, getestet“)
3-G-plus (nur mit PCR-Test, nicht mit Antigen-Text)
6-Monats-Abstand (bzw. 3, 4 oder 5 Monate – zwischen Zweitimpfung und „Boostern“)
7-Tage-Inzidenz
15-Minuten-Regel (Gesprächsdauer, die das Risiko begrenzt)
15 Schüler(innen) im Klassenraum
15-Kilometer-Radius (um den Wohnort)
20 Quadratmeter pro Kunde (in größeren Geschäften ab 26.11.2020)
21 Uhr (Ausgangssperre)
23 Uhr (Sperrstunde)
-70 Grad (erforderliche Kühlung des BioNTech-Impfstoffs)
800 Quadratmeter (Verkaufsfläche)
50.000 Arbeitsschritte (zur Produktion des BioNTech-Impfstoffs)
100.000 Einwohner (Maßzahl zur Inzidenz)

Absagen
absondern
Abstand
Abstrich
achthundert Quadratmeter (Verkaufsfläche)
Adenoviren
Aerosol
Aerosolbildung
AHA-Formel (Abstand – Hygiene – Alltagsmaske)
AHA-Regeln
AHA+L (…plus Lüften)
Akkolade (französ. Wangenkuss-Begrüßung, nunmehr verpönt)
Alkoholverbot
#allesdichtmachen (umstrittene Schauspieler-Aktion)
#allesschlichtmachen
„Alles wird gut!“
Allgemeinverfügung
Alltagsmaske
Alpha (neuer Name für britische Mutante)
Altenheime
Alterskohorte
Aluhut
„an Corona“ (verstorben – vgl.: „mit Corona“)
„andrà tutto bene“
Antikörper
Antikörpertest
App (zur Nachverfolgung)
Armbeuge (Hust- und Nies-Etikette)
AstraZeneca (Impfstoff-Hersteller)
asymptomatisch
„auf dünnstem Eis“ (Merkel)
„aufgrund der aktuellen Umstände“
„auf Sicht fahren“
aufsuchende Impfung
Ausgangssperre
Autokino (Renaissance)
AZD1222 (Impfstoff von AstraZeneca)
AZD7442 (Medikament von AstraZeneca)

B.1.1.7 (britische Mutation des Corona-Virus / Aplha)
B.1.1.28.1 – P.1 (brasilianische Mutation)
B.1.1.529 (neue südafrikanische Variante, November 2021)
B.1.351 (südafrikanische Mutation)
B.1.526 (New Yorker Mutation)
B.1.617 (indische Mutation / Delta)
BA.2 (BA.1, BA.3) Subtypen der Omikron-Variante
Balkongesang
Balkonklatscher
Bamlanivimab (Antikörper-Medikament)
„Bazooka“ (massive Geldmittel – laut Olaf Scholz)
Beatmung
Beatmungsgerät
bedarfsorientierte Notbetreuung (Kita)
Beherbergungsverbot
behüllte Viren
Bergamo
„Bergamo ist näher, als viele glauben.“ (Markus Söder, 13.12.2020)
Bernhard-Nocht-Institut
Besuchsverbot (Alten- und Pflegeheime)
Beta (neuer Name für südafrikanische Mutante / B.1.351)
Bfarm-Liste (Auflistung der Antigen-Tests)
Bildungsgerechtigkeit
„Bild“-Zeitung (Kampagne gegen Drosten etc.)
Biontech / BioNTech (Impfstoff-Hersteller)
Black-Swan-Phänomen
Blaupause, keine
„Bleiben Sie gesund“ (Grußformel)
Blitz-Lockdown (vor Weihnachten/Silvester 2020)
Blutgerinnsel
BNT 162b2 (Biontech-Impfstoff)
Böller-Verbot
Booster
Booster-Impfung
boostern
Bremsspur („Das Virus hat eine unglaublich lange Bremsspur“ – Jens Spahn)
Brinkmann, Melanie (Helmholtz-Zentrum, Braunschweig)
„Brücken-Lockdown“ (Armin Laschet am 5. April 2021)
Bundesliga (Geisterspiele etc.)
Bundesnotbremse
Buyx, Alexa (Vorsitzende Deutscher Ethikrat)

C452R (Teil der indischen Doppelmutante)
CAL.20C (kalifornische Mutante)
case fatality
Casirivimab (Antikörper-Medikament)
Celik, Cihan (Leiter der Covid-Station am Klinikum Darnstadt)
China
Chloroquin
Ciesek, Sandra (Virologin, Frankfurt/Main)
Click & collect (Bestellung und Abholung)
Click & meet (Shoppen mit Termin)
Comirnaty (Handelsname des Biontech-Impfstoffs)
Contact Tracing
COPD (Lungenkrankheiten)
Corona
Corona-Ampel
coronabedingt
Corona-Biedermeier
Corona-Bonds
Corona-Blues
Corona-Chaos
Corona-Deutschland
„Corona-Diktatur“
Corona-Ferien
coronafrei
coronahaft
Corona-Gipfel
Corona-Hilfsfonds
Corona-Hotspot
Corona-Kabinett
Corona-Krise
Corona-Koller
Corona-Müdigkeit
Corona-Mutation
Corona-Notabitur
Corona-Pandemie („Wort des Jahres“ 2020)
Corona-Panik
Corona-Party
Corona-Schockstarre
Corona-Skeptiker
Corona-Tagebuch
Corona-Ticker
Corona-Verdacht
Corona-Winke (Gruß aus der Distanz)
Corona-Zoff
Coronials („Generation Corona“)
coronig
coronös
„Corontäne“ (Quarantäne wg. Corona)
Corozän (Corona-Zeitalter)
Cove (Impfstoff von Moderna)
Covid-19
Covidioten (Hashtag / siehe Verschwörungstheoretiker)
CovPass (App)
CureVac (Impfstoff-Hersteller)

Datenschutz (bei der Corona-Warn-App)
„Dauerwelle“
Decke auf den Kopf („Mir fällt die…“)
Dekontamination
Delta (neuer Name für die indische Mutante)
Delta Plus (Variante der Variante: B.1.617.2.1)
Desinfektion, thermische
Desinfektionsmittel
Desinfektionsmittel spritzen (Trump)
„Deutschland macht sich locker“
Dezemberhilfe(n)
Digitaler Impfnachweis
Digitaler Unterricht
„Distanz in den Mai“ (statt „Tanz in…“)
Distanzschlange
Distanzunterricht
Divi-Intensivregister
„Doppelmutante“ (indische Mutation, laut Prof. Drosten irreführender Begriff)
„dorfscharf“ (lokale Grenzziehungen beim Lockdown)
dritte Welle (befürchtet im Frühjahr 2021)
Drittimpfung
Drive-in-Test
Drosten, Christian (Charité, Berlin)
Drosten vs. Kekulé
durchgeimpft
Durchseuchung

E484Q (Teil der indischen Doppelmutante)
Ebola
Eindämmung
eineinhalb Meter (Abstandsregel)
eingeschränkter Pandemiebetrieb
eingeschränkter Regelbetrieb
Einreisestopp
„Einsperr-Gesetz“ (Ausgangsbeschränkungen laut „Bild“-Zeitung)
Einweghandschuhe
E-Learning
Ellbogencheck (Corona-Gruß)
Ema (Europäische Arzneimittel-Agentur)
Epidemie
Epidemiologie
„Epidemische Lage (von nationaler Tragweite)“
„Epidemische Notlage nationaler Tragweite“
Epizentrum
Epsilon (Virus-Variante B.1.427 / B.1.429)
Erntehelfer
Erstgeimpfte
Eta (Virus-Variante B.1.525)
Etesevimab (Antikörper-Medikament)
Exit-Strategie
exponentiell (Wachstum)

Falk, Christine (Präsidentin Dt. Gesellschaft für Immunologie, Hannover)
Fallsterblichkeit
Fallzahlen
fatality
Fatigue
Fauci, Anthony (US-Virologe)
Fax (Kommunikations-Instrument mancher Gesundheitsämter)
„…feiert keine stille Weihnacht.“ („Das Virus feiert…“ / Olaf Scholz am 13.12.2020)
Ffp2
Ffp3
flatten the curve
Fledermaus
Fleischfabriken
Flickenteppich (Föderalismus)
Fluchtmutation
forsch / zu forsch (Lockerungen, laut Merkel)
free2pass (App für Tests und Einlasskontrolle)
Freiheit
Frisöre / Friseure
Fuß-Gruß

G 5 (Verschwörungstheorie um den Mobilfunkstandard)
Gästeliste (Pflicht im Lokal)
Gamma (neuer Name für brasilianische Mutante / P.1)
„Gang aufs Minenfeld“ (Erfurts OB über Lockerungen in Thüringen)
Gangelt
Gastronomie
Gates, Bill
Geisterspiele (Bundesliga etc.)
Genesene
Genesenenstatus
Geruchs- und Geschmacksverlust (als Corona-Symptom)
geschlossene Räume
geteilte Schulklassen
Google Meet (Videokonferenz-Plattform)
Grenzkontrollen
Grenzschließungen
Großeltern (nicht) besuchen
„Grüner Pass“ (Israel / bescheinigt Corona-Impfung)
Grundimmunität
Grundrechte
Grundsicherung
Gütersloh (kreisweiter Lockdown wg. Tönnies)

Händedruck (kein)
Händewaschen
Härtefall-Fonds
häusliche Gewalt
hammer and dance
Hamsterkäufe
hamstern
Heimbüro
„Heimsuchung“ (Angela Merkel am 25. Oktober 2020)
Heinsberg
Heizpilze (herbstliche Option für Gastro-Betriebe)
„Held / Heldin des Alltags“
Helmholtz-Gemeinschaft
Hepa-Filter
Herdenimmunität
Herold, Susanne (Uniklinik Gießen)
heterologe Impfung (zwei verschiedene Impfstoffe bei Erst- und Zweitimpfung)
Hildmann, Attila
Hintergrundimmunität
Hintergrundinfektion
Hirnvenenthrombosen
Hochrisikogruppe
Hochzeitsfeier
Home-Office
Home-Schooling
Hospitalisierungs-Inzidenz
Hospitalisierungsrate
Hotspot
Husten
Hust- und Nies-Etikette
Hybrid-Unterricht
„Hygiene-Demos“
Hygieneplan
Hygiene-Konzept
Hygiene-Regeln
Hygiene-Standards
Hyperglobalisierung

Ibuprofen
Imdevimab (Antikörper-Medikament)
Immunabwehr
Immun-Escape
Immunologe
Impfangebot
Impfbereitschaft
Impfbus
„Impfchaos“
Impfdosen
Impfdosis
Impfdrängler
Impfdurchbruch (Infektion trotz Impfung)
Impfgegner
Impfgipfel
Impfling
Impflücke
Impfneid
Impfpass
Impfpflicht
Impfquote
Impfreihenfolge
Impfskeptiker
Impfstau
Impfstoff
„Impfstoff-Nationalismus“
Impfstraße
Impfstrategie
Impftermin
Impfung
Impfversprechen
Impfverweigerer
Impfvordrängler
Impfwilligkeit
Impfzentrum
Impfzwang
„Impfzwang durch die Hintertür“
inaktivierte Vakzine
Infektionsampel
Infektionskette
Infektions-Notbremse
Infektionsschutzgesetz (IfSG)
„Infodemie“
Inkubationszeit
Insolvenz(en)
„Instrumentenkasten“ (verfügbare Corona-Maßnahmen)
Intensivbetten
Intensivkapazität
Intensivstation
Inzidenz
Inzidenz-Ampel
Inzidenzwert
„In (den) Zeiten von Corona“
Iota (Virus-Variante B.1526)
Ischgl
Isolation
Israel (weltweites Impf-Vorbild)
Italien

„Jens, jetzt keine Emotionen!“ (Angela Merkel zu Jens Spahn – beim Impfgipfel am 1.2.2021)
Johns-Hopkins-Universität
Johnson & Johnson (Impfstoff-Hersteller)

Kappa (Virus-Variante B.1.617.1)
Kappensitzung (Heinsberg etc.)
Kariagiannidis, Christian (Leiter Insensivbettenregister)
Kassenumhausung
Kaufprämie (für Autos)
Keimschleuder
Kekulé, Alexander S.
„…kennt keine Feiertage.“ („Das Virus kennt…“)
„…kennt keine Ferien.“ („Das Virus kennt…“)
„…kennt keine Grenzen.“ („Das Virus kennt…“)
Kita-Schließungen
„Kleeblatt-Prinzip“ (bei Verlegung von Intensiv-Patienten in andere Bundesländer)
Kliniken (im RKI-Jargon auch „Klinika“)
Knuffelcontact (Belgisch/Flämisch für den möglicherweise einzigen Kuschelkontakt)
„körpernahe Dienstleistungen“
Kontaktbeschränkung
kontaktlos
kontaktloses Bezahlen
Kontaktperson
Kontaktsperre
Kontaktsport(arten)
Kontakttagebuch
kontaminierte Oberfläche
Kreuzimpfung (z. B. Erstimpfung mit AstraZeneca, Zweitimpfung mit Biontech)
„Krise als Chance“
Krisengewinn(l)er
Krisenreaktionspläne
Kulturschaffende
Kurzarbeitergeld

laborbestätigt
Lambda (Virus-Variante C.37)
Laschet, Armin
Lauterbach, Karl (Gesundheitsminister ab Dez. 2021)
Leopoldina
Letalität
„(das) letzte Weihnachten mit den Großeltern…“ (Angela Merkel)
Lieferketten
Liquiditätshilfen
Lockdown
Lockdown Light
Lockerung
„Lockerungsdrängler“ (Röttgen)
Lockerungsperspektive
Lockerungsübung
Lolli-Test
Lombardei
Long-Covid (Langzeit-Nachwirkungen)
Luca (Warn-App)
Lüftung
Lungenentzündung

„macht sich locker“ („Deutschland macht…“)
Marderhunde (mögliche Virusquelle, laut Drosten)
Maske
Maskenintegrität
Maskengutschein
Maskenmuffel
Maskenpflicht
Maskenverweigerer
Maßnahmen
„mehr als 90 Prozent“ (Imfstoff-Wirksamkeit)
Meldeverzug
Merkel, Angela
MERS
Meyer-Hermann, Michael (Helmholtz / Braunschweig)
„mit Corona“ (verstorben)
mobile Impfteams
Moderna (US-Impfstoff-Hersteller)
Molnupiravir (Corona-Medikament)
Mortalitätsrate
mRNA-1273 (Impfstoff von Moderna)
mRNA-Impfstoff
„mütend“ (Corona-Gefühlslage, Mischung aus mürbe und wütend – oder müde und wütend)
Mund-Nasen-Schutz (MNS)
Mundschutz (Plural: Mundschutze)
Mutanten
Mutation

Nachverfolgung
„Nasenbohren“ (saloppe Umschreibung für manche Schnelltests)
Nena (Corona-Verharmloserin)
neuartig(es)
„Neue Normalität“
Neuinfektionen
New York
niederschwellige Basisschutz-Maßnahmen
Nies-Etikette
No-Covid-Strategie
Normalität
Notbetreuung
Notbremse (harte N. / flexible N.)
Notstand
Novavax (Impfstoff-Hersteller)
Novemberhilfe(n)
Null-Covid-Strategie

Obergrenze für Neuinfektionen
„Öffnungsdiskussionsorgien“ (Merkel)
Öffnungsschritte
„Öffnungsrausch“ (Markus Söder)
Olympische Spiele (in Tokyo praktisch ohne Live-Zuschauer)
Omikron / Omicron (neue südafrikanische Variante, November 2021)
Omikron-Wand (Steigerung der Omikron-Welle)
on hold („angehaltenes“ Leben)
Online-Aufführung
OP-Maske

P.1 (brasilianische Virus-Mutation)
Palmer, Boris (OB Tübingen)
Pandemie
Pandemie-Müdigkeit
Pangolin (Gürteltier als möglicher Zwischenwirt)
„Paranoia-Promis“ (Hildmann, Naidoo, Wendler, Jebsen etc.)
Party
Patentfreigabe
„Patient Null“ (ursprünglicher Überträger)
Paul-Ehrlich-Institut
Paxlovid (Corona-Medikament von Pfizer)
PCR-Test
PEG (Polyethylenglykol / Inhaltsstoff von Impfmitteln)
Penninger, Josef (speziell für unsere österreichischen Freunde)
persönliche Schutzausrüstung (PSA)
Pest (Referenz-Seuche)
Pflegeheime
Pflegekräfte
Pflegenotstand
physical distancing
„Piks“ (etwas infantile Bezeichnung für die Impfung)
Plateau
Pleitewelle
Pneumokokken
Pneumonie
„Pobacken zusammenkneifen“ (Appell von RKI-Chef Wieler am 12.11.2020)
Positivrate (z. B. pro 1000 Tests)
Postcorona (die Zeit „danach“)
Präsenzunterricht
Präsenzveranstaltung
Präventions-Paradox
Prepper
Preprint (vorveröffentlichte Wissenschafts-Studie)
Priesemann, Viola (Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, Göttingen)
Prio (neuerdings gängige Abkürzung)
priorisieren
Prioritätsgruppe
Prof.
proteinbasierte Impfstoffe

Quarantäne
„Querdenker“ (Euphemismus für Verschwörungstheoretiker)

Rachenabstrich
Ramelow, Bodo (Vorreiter der Lockerung)
Regelbetrieb
Regeneron (US-Hersteller von Antikörper-Cocktails)
Reiserückkehrer
Reisewarnung
Remdesivir
Reproduktionsrate (gern 0,7 oder niedriger)
Respiration
Restart (Bundesliga)
Rettungsschirm
Rezeptoren
Rezession
R-Faktor
R-Wert
Risikogebiet
Risikogruppe
RKI
Robert-Koch-Institut
Rückholaktion
„Ruhetage“ (Gründonnerstag & Ostersamstag 2021 / verkündet 23.3.2021 – zurückgenommen 24.3.2021)

SARS
SARS-CoV-2
Schaade, Lars (RKI-Vizepräsident)
Schichtunterricht
Schlachthöfe (Coesfeld etc.)
Schlangenmanagement
Schlauchboot-Party (Berlin, Landwehrkanal)
Schleimhautschutz
Schmidt-Chanasit, Jonas (Bernhard-Nocht-Institut, Hamburg)
Schmierinfektion
„schmutzige Impfung“ (absichtliche Infektion mit erhoffter Genesung)
„Schnauze voll“ (Hessens Ministerpräs. Bouffier im Feb. 2021: „Die Leute haben die…“)
Schnelltest
Schnutenpulli
Schulschließungen
Schutzkittel
Schutzmaske
Schutzschirm
schwedischer Sonderweg
schwere Verläufe

Seife
Seitwärtsbewegung (Minister Spahn über kaum noch sinkende Infektionszahlen)
Selbstisolation
Sentinel-Testung (Stichproben statt Massentests)
Sequenzierung
Shutdown
Sieben-Tage-Inzidenz
Sieben-Tage-R
Sinovac (chinesischer Impfstoff)
Sinusvenen-Thrombosen
Skype
social distancing
Soloselb(st)ständige
soziale Distanz
Spahn, Jens (Gesundheitsminister, auch infiziert)
Söder, Markus
Soforthilfe
Soloselbstständige
Spanische Grippe
Sperrstunde
Spike-Protein
Speicheltest (Schnelltest)
Spuckschutz
Spucktest (Schnelltest)
Sputnik V (russischer Impfstoff)
Statistik
Stay-at-home
sterile Immunität
Stiko (Ständige Impfkommission)
Stoßlüftung
Streeck, Hendrik (Virologe, Bonn)
Stürmer, Martin (Virologe, Frankfurt)
Südkorea
Superspreader
Superspreading-Ereignis
systemrelevant

„Team Vorsicht“ (Formulierung von Markus Söder)
Tegnell, Anders (Schwedischer Epidemiologe)
Telearbeit
Telefonkonferenz (Telko)
Temperaturscanner
Test
Testkapazität
Testzentren (teilweise unter Betrugsverdacht)
Theaterschließungen
Theta (Virus-Variante P.3)
Thrombose (angebliche Impffolge)
Tönnies
Toilettenpapier
Totimpfstoff
Tracing-App
Tracking-App
„Treffen Sie niemanden!“ (Österreichs Kanzler Kurz am 14.11.2020)
Triage
Tröpfcheninfektion
„trotz Corona“
Trump, Donald (Erkrankter)
Twitter (Plattform auch für Corona-Dispute)
„Tyrannei der Ungeimpften“ (Frank Ulrich Montgomery, Vorsitzender des Weltärztebundes)

Überbrückungsgeld
Übersterblichkeit
„Unheil“ (Angela Merkel am 14. Oktober 2020)
Untersterblichkeit

Vakzine
Variant of concern
Vaxzevria (neuer Name des AstraZeneca-Impfstoffs, seit 26.3.2021)
Verdoppelungsrate
verimpft („Sie haben 2000 Dosen verimpft“)
Vektorimpfstoff
Vektorwechsel
Verschwörungserzählung
Verschwörungsmythen
Verschwörungstheoretiker (Jebsen, Hildmann, Schiffmann, Soost, Naidu u.a.)
verzeihen
Verzeihung
Videokonferenz (Viko)
vierte Welle (befürchtet für und dann eingetreten im Herbst 2021)
Virologe(n)
Virologie
Virulenz
Virus, das
Virus, der
Virusvariantengebiet
viruzid
Volksmaske
vollständig geimpft
„Vom Verbot zum Gebot“
Vorerkrankungen
vulnerabel

„Wand“ (siehe Omikron-Wand)
Watzl, Carsten (Immunologe, Leibniz-Institut, Dortmund)
Wechsel-Unterricht
„wegen Corona“
Wellenbrecher
Wellenbrecher-Lockdown
Wendler, Der (noch so’n Corona-Leugner)
Westfleisch
WHO
Wieler, Lothar H. (RKI-Präsident)
Wildtyp
„Wir bleiben zu Hause“
Wodarg, Wolfgang
Wohnzimmerkonzert
Worst-Case-Szenario
Wuhan
„Wumms“ („Mit Wumms aus der Krise“ – Finanzminister Olaf Scholz)

Zarka, Salman (Corona-Regierungsberater in Israel, genannt „Corona-Zar“)
Zero Covid (niedrigstes Ziel)
Zero-Covid-Strategie
Zeta (Virus-Variante P.2)
Zoom (Plattform für Online-Konferenzen)
Zoonose
Zweihaushalte-Regel
„Zweimal ,Happy Birthday‘ singen“ (Zeitmaß fürs Händewaschen)
zwei Meter (Abstand)
zweite Welle
Zweitgeimpfte

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Danke für Anregungen und Ergänzungen, die mich u. a. via Facebook erreicht haben.

Bei Virologe, Immunologe etc. bitte jeweils die weiblichen Formen hinzudenken.




Von Unna aus ein wenig die Welt verändern – Nachruf auf den vielseitigen Theatermann Peter Möbius

Peter Möbius (1941-2020). (Foto: Thomas Kersten)

Gastautor Horst Delkus mit einem Nachruf auf den Theatermann, Autor und Grafiker Peter Möbius, den älteren Bruder des legendären Rocksängers Rio Reiser („Ton Steine Scherben“). Peter Möbius hat vor allem in Unna und Dortmund gewirkt.

Ist das nicht der Bruder vom Rio? Ja, er war es. Rios großer Bruder, der mich da vor rund neun Jahren in meinem Büro bei der Wirtschaftsförderung des Kreises Unna aufsuchte. Die Kollegin outete sich als große Verehrerin von Rio Reiser: Das ist mein Lieblingsmusiker. Peter hat es gefreut.  War doch eine solche klammheimliche Liebe von notwendigerweise kapitalfreundlicher Wirtschaftsförderung zu dem exorbitant kapitalkritischen Möbius-Bruder eine ausgesprochen ungewöhnliche.

Was es mit „Hermann von Unna“ auf sich hat

Peter holte damals irgendwelche Unterlagen ab. Es ging um „Hermann von Unna, eine Geschichte aus der Zeit der Vehmgerichte“. Erzählt von Benedicte Naubert, die diesen Roman 1788 (!) veröffentlichte. Die Handlung ist simpel, aber der Roman förderte Unnas guten Ruf Anfang des 19. Jahrhundert in ganz Deutschland: Das Städtchen Unna hat ein wichtiges Salzwerk Königsborn; berühmter  aber ist es durch den viel gelesenen Vehmgerichts-Roman: Hermann von Unna!, schrieb 1834 ein gewisser Carl Julius Weber in seinen „Brief(n) eines in Deutschland reisenden Deutschen“.

Der Roman ist von nicht allzu großer literarischer Qualität. Aber sein Stoff wurde selbst in Schweden und Dänemark aufgegriffen und zu einem Theaterstück umgewandelt. Zu einem Schauspiel in fünf Akten. Mit Chören und Tänzen.

Feuer und Flamme für ein spezielles Vorhaben

Mehr als 200 Jahre später war dieser Stoff für den leidenschaftlichen Theatermann Peter Möbius eine Steilvorlage. Er schrieb mir: „Die Texte der Arien und Chöre sind grauenvoll: „Reim Dich , oder ich fress Dich“. Interessant dagegen sind die musikalischen Regieanweisungen, die Bemerkungen, wo und wie Tanzeinlagen und musikalische Überbrückungen in diesem Schauspiel vorgesehen waren. Du fragst Dich, wie es an der Zeitenwende vom Achtzehnten zum Neunzehnten Jahrhundert zu dieser Modewelle kommen konnte, die sich schwärmerisch dem Mittelalter hingab? Heute, bei uns, nennt man das Ostalgie, wenn die Ossis von vergangenen Zeiten schwärmen (…). Wenn die vertraute Wirklichkeit im Umbruch ist, verklärt sich die Vergangenheit. Das war auch in der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert so (…) Das Buch ist ein herrliches und kluges Plädoyer für die Flucht in eine fassbare Fantasiewelt, wenn die Wirklichkeit unfassbar geworden ist. Mehr dazu und was das mit dem Schauspiel „Hermann von Unna“ zu tun haben könnte, ein andermal.“

Peter hatte Feuer gefangen für dieses Projekt. Als ich ihm nachts schrieb, ich hätte endlich die Partitur gefunden für diese Oper, kam seine Antwort prompt. Am nächsten Morgen, kurz nach fünf Uhr: Deine Nachricht beflügelt mich, das Stück abzuschreiben und mit Reinhard Fehling über das Projekt zu reden. Ich kenne sonst niemanden, der so ein musikalisch-theatralisches Vorhaben fachkundig betreuen könnte. Doch das Projekt „Hermann von Unna“ wurde nach diesem kurzen Strohfeuer von uns beiden auf Eis gelegt, nicht weiter verfolgt. Ich bedaure es noch heute.

Argwöhnisch beobachteter Nachlassverwalter

Kennengelernt haben Peter und ich uns Mitte der neunziger Jahre, als ich wirtschaftsförderlich bei der Kreisstadt Unna anheuerte. Peter war für mich von Anfang an mehr als „der große Bruder von Rio“, dem Sängerpoeten, mit bürgerlichem Namen Ralph, dem jüngsten der drei Möbius-Brothers. Und der bekannteste. Als Rio am 20. August 1996 starb, gab es Berlin wenige Tage später zu seinem Abschied ein „Konzert der Freunde“. Ich wäre gerne hingefahren, konnte aber nicht. Aus beruflichen Gründen. Peter schenkte mir den Konzertmitschnitt. Zwei CDs mit Rios Liedern, gesungen von den Rest-„Scherben“, Ulla Meinecke, Marianne Rosenberg, Herbert Grönemeyer und anderen.

Peter wurde mit seinem Bruder Gert Rios Nachlassverwalter. Kein leichter Job, argwöhnisch beobachtet und verbunden mit viel Kritik von Rios ehemaligen Weggefährten und Fans aus der Ton-Steine-Scherben-Zeit. Zum Beispiel dafür, dass sie ein Zeile aus dem Kassenschlager „König von Deutschland“ an einen Elektronikkonzern verkauften, um damit das Rio Reiser-Haus in Nordfriesland als Begegnungsstätte für zwei weitere Jahre finanzieren zu können. Nachlassverwalter war nun weiß Gott nicht der Traumjob dieses Multitalentes, dem es –  das Schicksal vieler Allrounder – leider nicht vergönnt war, mit nur einem Werk oder nur einer Begabung, den ganz großen Durchbruch und die damit verbundene Anerkennung  als Künstler zu erreichen.

Schon mit 16 Jahren Bühnenbild-Assistenz bei Heinz Hilpert

Geboren wurde Peter 1941 in Berlin. Sein Vater war Ingenieur für Kartonverpackungen bei der Siemens AG; da er immer wieder mal versetzt wurde, musste die  Familie mehrmals umziehen. Peters Bruder Gert erinnert sich in seinem Buch „Halt dich an deiner Liebe fest. Rio Reiser“: „Während ich Lehrling bei der Versicherung war, hatte Peter, nachdem er bei der privaten Kunstakademie März in Stuttgart eingeschrieben gewesen war, mit sechzehn Jahren schon einen Job als Bühnenbild-Assistent am Göttinger Stadttheater, damals noch unter der Intendanz von Heinz Hilpert. Nach seiner Rückkehr nach Schmiden [bei Stuttgart; HD] bewarb er sich bei der Stuttgarter Kunstakademie die Professor Gerhard Gollwitzer, dem Bruder des progressiven Theologen Helmut Gollwitzer und wurde sofort ohne Prüfung aufgenommen.

…und auch noch ein hochbegabter Schauspieler

Die Folge war, dass Rio und mir dieser Bruder immer unheimlicher wurde. Dann bekam er auch noch eine kleine Rolle in dem Film von Frank Wisbar „Hunde, wollt ihr ewig leben“, einem kritischen Stalingradfilm. Mehr ging damals in unserer Familie nicht. Wir alle stürmten das Dorfkino in Schmiden, um zu prüfen, wie künstlerisch nachhaltig unser Familienmitglied den von Kugeln durchsiebten Reichswehrsoldaten darzustellen in der Lage war. Natürlich waren wir einhellig der Meinung, dass Peter das großartig gemachte hatte, und natürlich waren wir felsenfest davon überzeugt, dass er auch in Zukunft andere Rollen glaubwürdig darstellen würde. Eine Schauspielausbildung, diesen teuren Quatsch, so unser Vater, hätte Peter nicht nötig. Von Null auf hundert war er nun nicht nur ein begnadeter Maler, sondern auch ein hochbegabter Schauspieler – am besten Filmschauspieler.“

Später studierte Peter an der Akademie für Bildende Künste in Stuttgart, wo er mit Andreas Weißert Theater spielte. Wohl prägend waren für Peter die jungen Jahre in Nürnberg. Hier gründete er das Comic Teater, auch damals schon ohne „h“ geschrieben. Mit sechs anderen jungen Leute, die sich von der Nürnberger Kunstakademie kannten, zog er im Mai 1965 mit Traktor, einem umgebauten Bauwagen und 30 selbst angefertigten Masken und Kostümen einen ganzen Sommer durch Franken und Oberbayern.

Ohne erfolgreiches Theaterspiel kein Abendbrot

„Doktor, Tod und Teufel“ hieß das Stück, das sie auf Dorfplätzen und Märkten spielten. Eine harte Schule für das Comic Teater: „Wir mussten so spielen, dass das Publikum blieb. Sonst hätten wir kein Abendbrot gehabt. Denn gesammelt wurde erst zum Schluss“, erinnert er sich später in einem Interview.

Politisch prägend für Peter war – wie für viele seiner Generation – der  2. Juni 1967: Die Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg bei einer Demonstration am Ku’damm gegen den Schah von Persien. Peter war bei dieser Demonstration dabei. So wurde aus ihm ein Achtundsechziger. Als Andreas Weißert 1975 in Dortmund Oberspielleiter wurde, holte er Peter Möbius vom Theater am Turm, wo er bei Rainer Werner Fassbinder spielte, nach Dortmund.

Bundesweit beispielloses Engagement in Unna

In Dortmund wurde Peter Möbius Leiter des Kinder- und Jugendtheaters. Mit seiner Comic-Truppe inszenierte er 1975 „FeuerZirkus“  und „Die Struwwelpeter Revue“, Stücke die er selbst geschrieben hatte und zu denen Rio Reiser mit den Scherben die Musik machte. Die agile Truppe wurde in Dortmund gekündigt – man unterstellte ihnen Kontakte zu den Möchtegern-Stadtguerilleros vom „2.Juni“, einer RAF-ähnlichen Gruppierung.

Die Stadt Unna hatte damals den Mut, sie über eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme einzustellen, der ersten für eine Schauspielertruppe bundesweit. Mit dem Hoffmans Comic Teater (HCT) bekam Unna die kritische Masse an Akteuren, die Unna als Kulturstadt geprägt haben. Peter war der Motor und Spiritus Rector. Dabei waren unter anderem Hartmut Hoffmeister, Ingeborg Wunderlich, Andy Koch, Rio Reiser, Martin Paul, Uta Rotermund, Claudia Roth und etliche andere. Daraus entstanden sind zahlreiche kulturelle Einrichtungen, die bis heute das kulturelle Leben von Unna prägen: der Kinderzirkus Travados, das Werkstatt Theater Unna (seit 1999 das „Narrenschiff“), das soziokulturelle Zentrum Lindenbrauerei, das Stadtspielwerk und die Jugendkunstschule, zu deren 40jährigem Jubiläum Peter noch eine viel beachtete Laudatio hielt.

Rio Reiser lieferte oft die Songs zu Peters Projekten

Peters Stärke lag vor allem darin, künstlerische Projekte mit Breitenwirkung zu entwickeln. Immer wieder dabei: sein Bruder Rio Reiser, der zu vielen Projekten die Songs lieferte. Zu diesen Projekten gehörte das „Ruhrschrei-Festival“ unter der Liedbachbrücke in der Massener Heide, die „Märzstürme“ (1981), eine „große Freiheitsrevue“ zur Erinnerung and die Märzrevolution 1920 im Ruhrgebiet, die Unnaer Stadtoper „Wasser des Lebens“ (1989), das Musical „Die Braut der Brüder“, aufgeführt bei den Ruhrfestspielen 1995 sowie seine letzte große Inszenierung „Das Tor zum Paradies , „ein musikalisches Portrait in sieben Bildern“ über den streitbaren Prediger und Komponisten heute noch bekannter Choräle, Philipp Nicolai (1997).

Mit den „Märzstürmen“ zog das Hoffmanns Comic Teater durchs Ruhrgebiet. Zur Vorbereitung interviewte man noch Zeitzeugen, die von den Greueltaten der präfaschistischen Freikorps-Truppen im Ruhrgebiet berichteten. Rio Reiser schrieb dazu wunderbare Lieder. Ton Steine Scherben machte die Musik. Der Schreiber dieser Zeilen kann sich noch heute gut an die Aufführung in einem Zirkuszelt vor dem Dortmunder Stadthaus am heutigen Friedensplatz erinnern. Damals dabei unter anderem, als rotbackige Krankenschwester, die heutige Grünen-Politikerin Claudia Roth und die Dortmunder Kabarettistin Uta Rotermund.

Die Geschichte des inzwischen legendären Hoffmans Comic Teater wollte Peter immer aufschreiben. Ob er es noch geschafft hat, weiß ich nicht. Immerhin gab es 2018 in Unna noch eine Ausstellung: „51 Jahre Hoffmanns Comic Teater 1965 – 1981. Spuren und Impulse einer aufsässigen Künstlerbande“. „Dario Fo“, sagte er einmal, „das war unser Vorbild.“

Grafik und frühe Computer-Experimente

Peter Möbius war nicht nur Theatermann mit Leib und Seele, sondern auch ein hervorragender Grafiker. Er gestaltete etliche Programmhefte für das Summertime-Kulturprogramm in Unna, das er ebenfalls inspiriert und künstlerisch betreut hatte. Ein anderes Projekt von Peter, Jahre später, konnte leider nicht realisiert werden: Ein Computerspiel, das er in unzähligen Stunden in den neunziger Jahren am Computer entwickelte. Mit magischen Bildern und einer phantastischen Geschichte, alles am Computer mühevoll „gezeichnet“. Grafikprogramme gab es damals noch nicht. Daraus sollte eine CD entstehen. Diese Silberlinge kamen damals gerade auf  und waren so „in“ wie heute das Streamen. Ich konnte im den Kontakt zu einem Produzenten von CDs vermitteln. Der spezialisierte sich allerdings, wie sich dann herausstellte, mehr auf Pornos. Die waren marktgängiger. Das Projekt verschwand im digitalen Nirwana.

Einer, der sich ins politische Geschehen einmischte

Peter betätigte sich auch als Filmregisseur. 1990 war er als Autor und Koregisseur (mit Uwe Penner) von „Türmers Traum“. Der Film war ein Beitrag zur 700jährigen Geschichte der Stadt Unna. Mit rund 300 Mitwirkenden, darunter viel Volk, einigen Kommunalpolitikern, sowie Roman Marczewski, dem  heutigen Präsidenten des Ruhrgebiets-Karnevals Geierabend, und Cäcilie Möbius, Peters Tochter, heute Schauspielerin beim Theater Narrenschiff und anderswo. 1997 drehte Peter ein TV-Porträt seines Bruders Rio Reiser: „Ich bieg’ dir den Regenbogen – ein biografischer Dokumentarfilm“.

Als politischer Mensch mischte sich Peter Möbius immer wieder ein in das politische Geschehen seiner Wahlheimat Unna. Das brachte ihm nicht nur Freunde. Er war Mitgründer der Alternativen Liste in Unna, der GAL. Schrieb ein lesenswertes Memorandum zur Weiterentwicklung der Kulturpolitik in Unna, das leider viel zu wenig Beachtung fand. 2008 war er Mitinitiator eines Bürgerbegehrens. Verkleidet als Kommerzienrat, schlug er mit einer Glocke Alarm gegen den Abriss historischer Bausubstanz in Unnas historischer Innenstadt und ihren vermeintlichen Ausverkauf an Investoren. Der Mann mit Hut und Weste wusste, wie man Theater für`s Volk macht.

Peter Möbius starb in der Nacht von Ostersonntag auf Ostermontag, am 13. April, im Alter von 78 Jahren an einer Krebserkrankung.




Virus der Ratlosigkeit: Diese und jene Frage über Corona hinweg

Natürlich kein Virus, sondern ein Nahrungsbild, das während einer Speisenzubereitung in der Küche entstanden ist. Und nein: Es ist auch wirklich kein Spiegelei. (Foto: Bernd Berke)

Für virologische Expertisen sind wir hier absolut nicht zuständig. (Ich höre schon Euer Loriotsches „Ach was…“). Auch steht uns selbstverständlich keine politische Entscheidung zu, es sei denn: als indirekte Teilhabe im Rahmen unserer demokratischen Rechte (manche unken auch schon: unserer verbliebenen Rechte). Es interessiert einen im Überlebensfalle freilich schon sehr, wie diese, unsere Gesellschaft „nach Corona“ aussehen könnte. Daher diese oder jene ratlose Frage.

1) Wird eine gewachsene Mehrheit künftig in verstärktem Maße immer gleich nach dem Staat rufen, der gefälligst alles regeln und möglichst auch bezahlen soll? Wie verträgt sich das mit dem Anspruch so vieler Gruppierungen, selbst möglichst immer weniger Steuern zu bezahlen? Der Staats soll’s haben und richten – aber woher und womit?

2) Wird sich dieser etwaige Impuls der Staatsfrömmigkeit von Land zu Land unterscheiden? Werden etwa die Bürger Frankreichs widerspenstiger sein als „wir“?

3) Sollten wir nicht heilfroh sein, dass es hier bei allem nötigen Reglement demokratisch zugeht und die Menschen nicht – wie in furchtbar vielen autokratischen Ländern der Welt – brutal in die Quarantäne geprügelt oder ins Jenseits geschossen werden?

4) Gibt es neben den vielen, vielen, die wirklich bedürftig sind und auf Unterstützung hoffen, auch solche, die vorher schon halb in der Krise waren und sich nun mit dem Anker von Staatshilfe retten wollen? Wird die Bedürftigkeit überprüft oder wird im Überschwang alles durchgewunken?

5) Und wie verhält es sich mit den Profiteuren, deren Geschäftsmodell haargenau zur gegenwärtigen Lage passt? Sollten sie nicht etwas abgeben?

6) Nebenfrage: Wie halten es eigentlich die sogenannten „Reichsbürger“ mit den diversen Rettungsschirmen und Hilfspaketen? Die Idioten nehmen doch sicherlich gern Knete vom Staat, den sie ansonsten nicht anerkennen, oder?

7) Wer glaubt wirklich, dass die Reichen, Begüterten, Betuchten und Wohlhabenden ihr Geld überwiegend in lebenswichtiges Produktivvermögen gesteckt haben, in Fabriken, Maschinen, Personal – und es nur in ganz bescheidenem Maße zur persönlichen Verwendung antasten?

8) Ist es nicht erstaunlich, dass nun etliche Leute bereit sind, vorübergehende Staatseingriffe in die Wirtschaft, wenn nicht gar Verstaatlichungen bestimmter Bereiche hinzunehmen, die solcherlei Ansinnen vor kurzer Zeit noch als Teufelswerk bezeichnet hätten?

9) Ist außer den lukrativ Beteiligten jemand dagegen, das in den letzten Jahren teilweise kaputtgesparte und neoliberal privatisierte Gesundheitswesen wieder weitgehend in öffentliche Regie zu übernehmen?

10) Werden dann die Angehörigen der Pflegeberufe (und einige andere Berufsgruppen) endlich angemessen bezahlt? Hat man denn nicht gesehen, dass das Virus auch die Klassenfrage neu aufgeworfen hat?

11) Wird dem Staat künftig generell mehr überantwortet oder aufgebürdet? Soll er uns im Gegenzug allweil gängeln dürfen?

12) Werden viele Menschen nach staatlicher Autorität geradezu lechzen, nach der harten Hand des Staates?

13) Wird zugleich der Asozialtypus des „Blockwarts“ (und des Denunzianten) wieder hervortreten und dumpf auftrumpfen, der es den Hedonisten mal so richtig zeigt?

14) Haben nun auch die Apokalyptiker Hochkonjunktur?

15) Löst der um sich selbst besorgte „Prepper“ den Hedonisten als Rollenmodell ab? Haben beide etwa insgeheim Gemeinsamkeiten? Was unterscheidet den Prepper vom gewöhnlichen Hamsterer?

16) Mag man die schicksalsergebene Wendung „In den Zeiten von Corona“ noch hören?

17) Wird, sofern Corona vorüber oder zumindest behandelbar ist, hierzulande alles rasend schnell nachdigitalisiert? Werden wir in dieser Hinsicht gar zu Litauen und Albanien aufschließen?

18) Wird die wild ins Kraut geschossene Globalisierung zum Teil zurückgedreht? Werden lebenswichtige Güter künftig wieder häufiger in Deutschland und Europa hergestellt – zu deutlich höheren Kosten als Preis der Versorgungssicherheit?

19) Wird es eine Wiederkehr der Nationalstaaten als Leitbild geben? Kann das zu ungeahnten Animositäten führen, die man längst überwunden glaubte?

20) Wird der angebliche Trend zu seriösen Medien von Dauer sein? Widerstehen die meisten Menschen nun der Versuchung zu unsinnigen Verschwörungstheorien? Lauern Populisten schon seit Wochen auf ihre Chance?

21) Soll man jetzt wirklich Masken tragen? Wie muss man sich beispielsweise Schulklassenfotos vorstellen, auf denen alle mit Masken versehen sind?

22) Um nach den hauptsächlichen Teilen einer Zeitung zu fragen: Werden wir hernach eine andere Politik, eine andere Wirtschaft, eine andere Kultur, einen anderen Sport und andere Gemeinden haben?

23) Wird sich das Verhältnis zu Migranten und Geflüchteten ändern? Werden die Religionen und Konfessionen anders miteinander umgehen?

24) Wird man den Klimawandel und die Folgen in einem anderen Licht sehen?

25) Wann wird es Impfstoffe und Medikamente geben?

26) Wann dürfen wir wieder dieses und jenes tun?

27) Ist es nicht jammerschade, dass wortmächtige Intellektuelle wie der heute (von der Neuen Zürcher Zeitung) vorübergehend irrtümlich totgesagte Hans Magnus Enzensberger sich nicht zum Themenkreis äußern?

P. S.: Immerhin hat sich im Monopol-Magazin und im Cicero Alexander Kluge zu Wort gemeldet.

 




Home Office: Notizen aus der Inneren Coronei

Das Virus, das Papier und ich. (Foto: Herholz)

Wirklich kaum zu beschreiben, was ich gerade fühle, denke, wie ich gerade lebe. Alles schwankt zwischen Idyll und Apokalypse, Frühlingserwachen und Totenstarre. Oder, um im schrägen Bild zu bleiben: Ich sitze auf dem Rasiersitz unterm Damoklesschwert. Von hier aus sieht vieles ziemlich verzerrt aus, selbst so ein klitzekleines Virus wirkt erdballgroß. Da hilft nur kräftiges Gegensteuern.

Also Terrasse kärchern, Fenster putzen, Türen abwaschen, Hilfskoch lernen und der Frau auch sonst zu Diensten sein, selbst eine schöne Wohnung würde sonst sehr schnell sehr eng werden. Man könnte natürlich an Flucht denken, aber dann denkt man zugleich an das unerträgliche Leid von Flüchtlingen und bleibt lieber daheim, wo’s noch Sauvignon Blanc gibt. Doch selbst unter Alkoholeinfluss schlägt der Aktionismus langsam um in Lethargie. Eine Art existenzieller Lähmung. Ich zum Beispiel schlafe viel, aber nicht gut. Selbst die Träume strengen an, oft bin ich froh, morgens endlich aufwachen zu dürfen.

Muße im Auge des Orkans?

Viele empfehlen mir jetzt zu lesen, mich weiterzubilden, zu bewegen. „Don’t worry, be happy“? Als ob dieses „Stay At Home“ eine Kur ohne jeden Schatten wäre, in der man ganz entspannt zur Ruhe käme, Muße fände, gar in einen Zustand der Kontemplation geriete. Ich aber bin durchaus nervös, manchmal sogar ängstlich, schließlich kommt das Virus täglich näher, ich gehöre zur Risikogruppe der über Sechzigjährigen und schon jetzt ist absehbar, dass es demnächst kaum Beatmungsgeräte für alle geben dürfte. Und dabei bin ich doch gesetzlich versichert und zahle seit über vierzig Jahren ein! Habe schon überlegt, ob ich alles daransetze, mich in den nächsten Tagen noch rechtzeitig zu infizieren, damit man mich auf der Intensivstation von St. Euthanasius fristgerecht aufnimmt, bevor Triage-Ärzte mich als unwertes Leben aussondern müssen; Stichwort: alter weißer Mann, Vorerkrankung: chronische Patriarchitis.

ALDI lieben Leute

Gestern habe ich aus diesem Grund freiwillig gleich drei Supermärkte aufgesucht. Uns mangelte es tatsächlich an Toilettenpapier – und Walnusskernen (für leckeren Flammkuchen, Henkersmahlzeit à l’Alsace). Einkaufen war bisher eigentlich durchaus okay. Bei REWE haben wir neulich alle miteinander laut gelacht, als ein freundlicher Hüne einer Verkäuferin zurief: „Toilettenpapier? Keines? Was ist bloß los mit den Leuten. Haben die alle zwei Jahre lang nicht geschissen?“ Gute Frage.

Gestern bei ALDI in Buer jedoch wurde schon stärker am Lack der Zivilisation gekratzt. Ein Verkäufer dort hatte mir am Montag gesteckt, dass am Mittwoch ab 10 Uhr Toilettenpapier nachgeliefert würde. (Uhrzeit aus naheliegenden Gründen geändert.) So war’s dann auch, ungefähr. Nachdem ich mich schon eine Viertelstunde bei ALDI herumgedrückt hatte, wurde um 10.25 Uhr die Palette mit dem guten Vierlagigen in den Gang vors leere Mehlregal geschoben.

Ich stand vorne in der Warteschlange. Dass da gleich Bückware käme, hatte sich herumgesprochen. Der Verkäufer forderte uns diabolisch grinsend auf, die Plastikverpackung der hochgestapelten Lieferung „kokett. supersoft & saugstark“ doch selbst aufzureißen. Gesagt, getan. Weil von hinten gedrängelt wurde und von der Seite Querulator-Omas und eine Kopftuchfrauen-Gruppe heranstürmten (Wo ist die infektionsverhütende Burka, wenn man sie braucht?), gab ich in Notwehr einige Packungen nach hinten und zur Seite durch, dann nahm ich mir selbst eine und entkam der schwer atmenden Menschentraube in Richtung Kasse. Geschafft! Denkste.

Kasse und Schlange

Plötzlich hörte ich hinter mir die Stimme eines älteren Herrn, der eine durchaus gut situierte Dame zu mehr Distanz aufforderte, weil die nicht auf die Markierung des Sicherheitsabstandes geachtet hatte. Doch die zündelte zurück: „Jaja, nu bleibense ma ruhig.“ Der Herr allerdings wies mit Recht darauf hin, dass es hier auch um seine Gesundheit ginge und der Sicherheitsabstand nun mal sinnvolle Vorschrift sei. Zugegeben, er klang etwas besserwisserisch, aber kein Grund dafür, dass die Dame erst loskeifte, sich dann in Rage brüllte und den gesamten Kassenbereich als Bühne nutzte, um sich als Mansplaining-Opfer zu inszenieren.

„Diese Striche da sind mir scheißegal. Ich habe vor zwei Tagen meinen Vater verloren, da habe ich ganz andere Sorgen als Ihren Scheißsicherheitsabstand.“ Ob dieser Logik waren wir alle etwas perplex. Über allen Kunden standen Comic-Denkblasen: Vater tot, herzliches Beileid, aber deshalb sollen als Kollateralschaden zur Not auch ein paar andere dran glauben? Als der Herr es wagte, noch etwas einzuwenden wie „Tut mir leid für Sie, aber das ist kein Grund hier so …“ konterte die Dame mit einem herzhaften „Dann bleiben Sie doch mit Ihrem Arsch zu Hause, wenn Ihnen das hier nicht gefällt.“
So viel zur Nächstenliebe in den Zeiten von Corona.

Was wird erst geschehen, wenn Produzenten und Transporteure wichtiger Nahrungsmitteln massenweise erkranken, wirklicher Mangel eintritt und härtere Verteilungskämpfe ausgefochten werden?

Hellsichtiges in dunklen Zeiten

Und wem könnte das nützen? „Follow the money“, dieses Motto zur Bekämpfung Organisierter Kriminalität drängt sich doch regelrecht auf. In den besten Momenten meiner derzeitigen Unruhe sehe ich alles sehr, sehr klar:

Das Corona-Virus wurde in geheimen Laboratorien der CIA entwickelt, um amerikanische Heuschrecken zu stärken und deutsche Ökonomie zu schwächen. Details gefällig? Die Strippenzieher gehen von der begründeten Hoffnung aus, dass der Ex-BlackRocker Friedrich Merz spätestens 2021 Kanzler wird. (Zwar ist der jetzt selbst an Corona erkrankt, doch das ist bloß ein Ablenkungsmanöver, so wirkt er umso unverdächtiger. Außerdem gibt’s längst ein Antivirus für den Inner Circle des großen Geldes und seine Handlanger.)

Merz wird also Kanzler und kann dann ungehindert die profitable Privatisierung der Rentenversicherung vorantreiben und dafür sorgen, dass die DRV an den US-amerikanischen Hedgefonds BlackRock verscherbelt wird, der für eine Übergangszeit alle Einnahmen und Ausgaben der DRV zu übernehmen hat, bevor er mit dem Pensionsfonds zu spekulieren beginnt. Damit sich die Übernahme für BlackRock aber richtig lohnt, muss die DRV zuvor ihre Rücklagen sichern und Ausgaben senken. Verstehen Sie? Je weniger Rentner/innen das Corona-Virus 2020 überleben, desto besser für BlackRock, weil die Ausgabenseite der DRV grundbereinigt wird. Für alle aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung, die an diesem Deal beteiligt sind, wird gesorgt werden, versprochen. Noch Fragen? Na, sehen Sie.

Auf was man so alles kommt, wenn man mit dem Arsch zu Hause bleibt.




TV-Nostalgie (38): Mehr Zeit für Rückblicke – zum Beispiel auf die grandiosen Fernseh-Interviews von Günter Gaus

Der vielfach als „Studentenführer“ apostrophierte Rudi Dutschke 1967 als Gegenüber von Günter Gaus. (Screenshot aus: https://www.youtube.com/watch?v=U6X-ZeYC54E)

In den ungeheuren Weiten von YouTube verbirgt sich, bei Wohn- oder Arbeitszimmer-Licht betrachtet, (zu leider sehr geringen Teilen) auch eine famose „Volkshochschule“, die eigentlich einen eigenen Namen verdient hätte. So denke ich gelegentlich. So dachte ich nun wieder, als ich – beispielsweise – zunächst auf ein ausführliches Feature über die politische Rivalität zwischen Franz Josef Strauß (CSU) und Herbert Wehner (SPD) stieß, nach deren markanter Politik-(Darstellung) sich heute manche zurücksehnen. Es war lediglich ein Ausgangspunkt.

Da nun einmal jetzt mehr Zeit für derlei virtuelle Expeditionen ist, hangelte ich mich sodann weiter zu jenen grandiosen Interviews aus den frühen Jahren des bundesrepublikanischen Fernsehens, wie sie zumal von Günter Gaus („Zur Person“, „Zu Protokoll“) geführt worden sind. Welch eine zeitgeschichtliche und mediengeschichtliche Fundgrube! Was Fernsehen damals sich zutraute und was es zu allerbesten Sendezeiten vermochte! Wie konzentriert es dabei zuging und noch dazu sprachlich so ausgefeilt.

Trat mit Zigarre an: Franz Josef Strauß 1964 als Gast von Günter Gaus. (Screenshot aus: https://www.youtube.com/watch?v=OwGTvGIdEJQ)

Um allein bei Gaus zu bleiben: Er hat nicht nur besagten Franz Josef Strauß (1964) einvernommen und dabei dessen ebenso bullige wie schillernde Wesensart hervortreten lassen, sondern etwa auch Rudi Dutschke 1967 mit höchst unangenehmen Fragen konfrontiert. Er hat einen ebenso intensiven Dialog mit der Philosophin Hannah Arendt geführt wie mit dem Historiker Golo Mann oder dem Theatermenschen Gustaf Gründgens. Die gesamte damalige Polit-Prominenz hat Gaus seinerzeit gegenüber gesessen – von Ludwig Erhard (1963) über Willy Brandt, Herbert Wehner (beide 1964) und Konrad Adenauer (1965) bis Helmut Schmidt (1966).

Es waren prägende Jahre der Republik, in denen Weichen auf Jahrzehnte hinaus gestellt wurden. Und es sind Zeitdokumente sondergleichen, thematisch wie persönlich sehr verdichtet und – dazu passend – noch in konturstarkem Schwarzweiß. Die rund einstündigen Sendungen haben spürbaren Atem, es sind nicht so aufgeregte, angeblich „emotionale“ Zuspitzungen wie heute. Die Protagonisten erscheinen für die Dauer der Interviews wie aus ihrem sonstigen Umfeld herausgelöst oder herauspräpariert, gleichsam „auf sich gestellt“ und geradezu plastisch präsent. Natürlich konnte auch Gaus ihnen nicht alles entlocken. Aber man kann sich anschließend eine deutlichere Vorstellung von ihnen machen. Und das ist viel.

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Themen der vorherigen Folgen:

“Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” mit Hans-Joachim Kulenkampff (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” mit Manfred Krug (5), “Der Kommissar” mit Erik Ode (6), “Beat Club” mit Uschi Nerke (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10).

Loriot (11), “Kir Royal” (12), “Stahlnetz” (13), “Kojak” (14), “Was bin ich?” (15), Dieter Hildebrandt (16), “Wünsch Dir was” (17), Ernst Huberty (18), Werner Höfers “Frühschoppen” (19), Peter Frankenfeld (20).

“Columbo” mit Peter Falk (21), “Ein Herz und eine Seele” (22), Dieter Kürten in “Das aktuelle Sportstudio” (23), “Der große Bellheim” (24), “Am laufenden Band” mit Rudi Carrell (25), “Dalli Dalli” mit Hans Rosenthal (26), “Auf der Flucht” (27), “Der goldene Schuß” mit Lou van Burg (28), Ohnsorg-Theater (29), HB-Männchen (30).

“Lassie” (31), “Ein Platz für Tiere” mit Bernhard Grzimek (32), „Wetten, dass…?“ mit Frank Elstner (33), Fernsehkoch Clemens Wilmenrod (34), Talkshow „Je später der Abend“ (35), „Stromberg“ (36), „Nachlese zur Internationalen Automobil-Ausstellung von 1963“ (37)

Und das meistens passende Motto:
“Man braucht zum Neuen, das überall an einem zerrt, viele alte Gegengewichte.” (Elias Canetti)




„Daran muss man sich erst einmal gewöhnen!“ – die Corona-Krise aus Sicht einer Zehnjährigen

Als Gastautorin schreibt die zehnjährige Stella Berke über ihre Erfahrung mit der „Corona-Krise“. Hier der authentische, unkorrigierte Text:

Das Virus und ein weinendes Emoticon… (Schnellskizze: Stella B.)

Ich bin Stella, 10 Jahre alt. Ich beschäftige mich heute mit dem Thema: „Was hat der Corona-Virus für uns Kinder für Folgen?“

Diese Frage kommt hauptsächlich auf das Kind und seine Persönlichkeit an. Nehmen wir an, wir haben ein Kind, das eigentlich jeden Tag draußen spielt, Freunde besucht und umherzieht. Für so eines ist diese Fase eher schwer hinzunehmen. Würde nun auch noch die Ausgangssperre festgelegt, wäre es eine ganz schwierige Situation. Denn all die Möglichkeiten, all der Spaß wäre vorbei. Daran muss man sich erst einmal gewöhnen!

Für ein eher ruhiges, älteres Kind wäre es leichter einzusehen. So eines hat in den meisten Fällen ein Handy und kann so Kontakt zu Freunden haben. Ich dagegen vermisse meine Freunde sehr. Ja, ich kann sie anrufen, aber spielen gegen anrufen ist doch noch etwas anderes. Wir machen es so, dass wir uns jeden Tag einen kleinen Brief schicken. Und dazu gibt es noch eine Seite mit Rätseln und Aufgaben.

Wie ist es für uns Kinder mit der Schule? Meine Freunde und ich machen uns viele Gedanken über die Schule: Was passiert, wenn wir die nächste Arbeit schreiben? Wann müssen wir wieder in die Schule? Werden wir alle versetzt? All das sind noch ungeklärte, offene Fragen. Denn im Moment weiß keiner, wie es weiter geht, und wann es weiter geht.

Der Text im Faksimile, Nachname auf Wunsch der Autorin retuschiert.




In diesen Tagen der Langsamkeit

Eine ruhige Stelle. (Foto: BB)

Ich weiß ja nicht, wie es Euch geht. Mir fällt es (u. a. als einstigem Einzelkind) ziemlich leicht, mich auch über Stunden oder gar Tage selbst zu beschäftigen; zuvörderst mit Büchern. In Zeiten des äußerst ratsamen Abstandes ist das wohl ein unschätzbarer Vorteil.

Ich beneide schon sonst nicht, aber derzeit überhaupt nicht die Hyperaktiven aller Art, die ständig möglichst viele Leute um sich scharen müssen und immerzu im „Party“- oder Selbstverwirklichungs-Modus unterwegs sind. Auch die allgegenwärtigen „Aktivisten“ jeder Couleur zählen hinzu. Es mag Schwarmintelligenz geben, aber es gibt eben leider auch Schwarmdummheit.

Es ist keine gute Zeit für die Vergnügungssüchtigen und Hedonisten, die schnell vom Horror vacui befallen werden: Wie, du hast heute noch nichts vor? O je, da müssen wir sofort etwas losmachen, wenn noch nichts los ist. Wie dumpf derlei selbstzweckhafte Zeitfüllerei oft anmutet! Jetzt liegt man damit völlig neben der Spur.

Dann schon weitaus lieber diese heilsame, schon oft beschworene, aber selten praktizierte Entschleunigung, die jetzt gefragt ist und die häufig einhergeht mit einer beobachtenden, meditativen oder kontemplativen Lebensweise. Irgendwo in einem literarischen Werk steht der schlichte Satz geschrieben: „Ich schaue zu, wie die anderen leben.“ Das bedeutet ganz und gar nicht, dass man kein eigenes Leben habe. Es ist nur eine andere Daseinsform; eine, die es auch geben muss und der eben manche nachgehen – mehr oder weniger bewusst.

Es können nicht alle voranstürmen. Es müssen sich auch Menschen seitwärts oder in der Nachhut bewegen oder zeitweise dort verharren. Überdies die Wachenden, von denen Kafka literarisch in der Einzahl gesprochen hat: „Einer muss wachen, heißt es. Einer muss da sein.“

Doch nur nicht kläglich vereinsamen! Ich kann da, wie wir alle, nur für mich sprechen. Nicht am äußersten Rande des Geschehens halte ich mich am liebsten auf, sondern gleichsam an der Peripherie des Zentrums. Dort, wo man noch etwas erlebt, erfährt und mitbekommt. Und gewiss nicht ohne andere Menschen. In vollends unbevölkerter Umgebung hielte ich es wohl auch nicht allzu lange aus. Aber es müssen nicht die Vielen sein, die einen umschwirren. Schon gar nicht mag ich den Vielen besinnungslos nacheilen.

Und ja: Wir dürfen uns schon im Voraus auf die Tage freuen, an denen all diese gegenwärtigen Einschränkungen sich mildern werden und der Alltag sich langsam normalisieren wird. Dann werden wir dies oder jenes nachholen.




Nach all den Absagen: Helft den Kulturschaffenden – und den Leuten im freien Journalismus!

Leerer Zuschauerraum – hier im Bochumer Schauspielhaus. Aufnahme von November 2018, nach Schluss einer Vorstellung. (Symbolfoto: Bernd Berke)

Nachdem allerorten vermeldet wird, welche (Kultur)-Veranstaltungen nicht mehr ausgetragen werden; nachdem man sich dabei tendenziell immer kürzer fassen kann (Es findet ja praktisch nichts mehr statt) – nach all dem muss man in der Tat dringlich über die vielen Freischaffenden in der Kunst- und Kulturszene reden.

Nicht wenige von ihnen hängen von (teilweise ohnehin geringen) Honoraren bzw. Einzelgagen pro Auftritt ab und befinden sich sowieso häufig am unteren Rande des Ein- und Auskommens. Und da sprechen wir nicht nur von den zahlreichen Musikern, Comedians und Kabarettisten, wie sie speziell auch die Kulturlandschaft des Ruhrgebiets mitgestalten.

Wenn „wir“ (Steuerzahler) jetzt mal wieder Teile der Wirtschaft und womöglich auch erneut Banken retten sollen, so mag das in bestimmten Fällen und Branchen recht und billig sein. Nichts dagegen einzuwenden, sofern der Bedarf auch ernsthaft geprüft wird und keine Lobby-Interessen bedient werden.

Ein Unterstützungs-Fonds wird dringend gebraucht

Freilich sollte gerade dann auch ein ordentlich ausgestatteter und möglichst unbürokratisch gehandhabter Unterstützungs-Fonds für all jene aufgelegt werden, die die vielfältige Kultur stets alltäglich und allabendlich am Leben erhalten haben. Hier herrscht ja vielfach nicht nur Bedarf, sondern echte Bedürftigkeit.

Ein Dieter Nuhr, der sich neuerdings über Corona belustigt und weiterhin auftreten will, wird sicherlich mal ein paar Monate ohne zusätzliche Einnahmen klarkommen. Viele, viele andere haben allerdings nichts für solche misslichen Zeiten zurückgelegt. Was soll aus ihnen werden? Sollen sie jetzt allesamt in andere Berufe wechseln, so dass hernach – wenn sich die Lage hoffentlich schrittweise normalisiert – weite Teile der Szene brachliegen? Sollen sie sich mit Hartz IV durchschlagen? Erst haben wir ihnen gelauscht, sie hin und wieder auch bewundert, viel gelacht, uns oft prächtig unterhalten und überhaupt all das goutiert, was Kultur nun mal vermag – dann sollen sie ihre Schuldigkeit getan haben? Das kann ja wohl nicht angehen.

Nicht zu vergessen übrigens die zahlreichen freien Journalistinnen und Journalisten, die von heute auf morgen so gut wie nichts mehr zu schreiben oder sonstwie zu publizieren haben. Wo nichts stattfindet, kann nur anfangs ein- bis zweimal über den Schwund berichtet werden, doch das schleift sich ganz schnell ab. Und dann? Fehlen zumindest auf Wochen hinaus die Einnahmen. Und dann? Sollten wir auch ihnen helfen.

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P. S.: Dass der Appell auch den freien Journalismus umfasst, ist keineswegs pro domo gesprochen. Bei den Revierpassagen basiert sozusagen eh alles auf selbstausbeuterischem „Ehrenamt“. Also ist kein Eigeninteresse im Spiel.




Jetzt geht es um den ganzen Lebensstil

Wenig originelles Bild zu den „dunklen Wolken, die da heraufziehen“, aber ich hab‘ in eigenen Beständen auf die Schnelle nichts Besseres gefunden. (Foto: BB)

So. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem es nicht mehr um einzelne bzw. kollektive Absagen geht – sei’s auf kulturellem oder sportlichem Felde. Was soll’s denn, ob die Bundesliga-Saison nun unterbrochen oder ganz abgebrochen wird?

Es geht inzwischen um unseren ganzen Lebensstil, ja überhaupt ums Ganze. Wenn Bundeskanzlerin Merkel rät, die sozialen Kontakte auf nötigste Mindestmaß zu begrenzen, ist denn doch – bei aller scheinbaren äußeren Gelassenheit – eine ziemliche Anspannung spürbar.

Wir dachten schon, ein neues (Bionade)-Biedermeier habe sich in gewissen urbanen Vierteln längst etabliert, dabei steht erst jetzt der allgemeine Rückzug in die Stuben an. Gartenlaube revisited?

Endlich, endlich schließt auch NRW die Schulen und Kitas

Du meine Güte! Wie relativ lang hat Deutschland, hat speziell Nordrhein-Westfalen gebraucht, um sich zu Schul- und Kita-Schließungen ab kommenden Montag durchzuringen – und das im Fall von NRW als Bundesland mit den weitaus meisten Corona-Infektionen. Hätte man in diesem Sinne nicht spätestens heute gehandelt, hätte NRW-Ministerpräsident Armin Laschet wohl seine Ambitionen auf CDU-Vorsitz und nachfolgende Kanzlerkandidatur gleich aufgeben können. Vielen Beobachtern galt und gilt er als „Zauderer“. Gerade hierbei hätte sich das nicht bestätigen dürfen.

Eine solche Lage hat es seit Kriegsende nicht gegeben. Frankreichs Präsident Macron zieht den historischen Bogen noch weiter und spricht von der größten medizinischen Krise seit 100 Jahren. Gemeint ist die jetzt wieder oft herbeizitierte „Spanische Grippe“, die um 1918/19 weltweit unfassbare 50 Millionen Todesopfer gefordert hat und damit, was die bloßen Zahlen anbelangt, noch verheerender gewirkt hat als die Weltkriege.

Schwindet die frohe Weltzugewandtheit?

Gerade um die italienische Lebensart (Italianità) machen sich italophile Journalisten und andere, dem Süden herzlich zugeneigte Menschen neuerdings erhebliche Sorgen. „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?“ Nein, man erkennt es nicht mehr wieder. Stirbt hier auch schrittweise die Lebensfreude, schwindet nach und nach die frohe Weltzugewandtheit? Geht nun ausgerechnet Italien den Weg in die innere Einkehr? Oder wird all die Freude wiederkehren?

Und überhaupt: der Westen. Was wird aus der üblichen Event-Kultur, was ist mit der landläufigen Erlebnisgier, mit dem gewöhnlichen Hedonismus? Gab’s da nicht mal jenes Buch mit dem Titel „Wir amüsieren uns zu Tode?“ Lang ist’s her. Treibt es uns nun noch mehr in die vereinzelnde Digitalisierung? Oder wirkt sich die Krise gar als gesellschaftlicher Kitt aus, als Anstoß zum Zusammenhalt? Man möchte es hoffen, doch da bleiben auch große Zweifel. Wo so viele Leute ohne Sinn und Verstand Toilettenpapier horten oder sogar aus Kliniken Desinfektionsmittel klauen (in der Phantasie male ich mir passende Strafen dafür aus), ist Solidarität offenbar kein weithin praktiziertes Allgemeingut.

Drastische Maßnahmen und Galgenhumor

Trotz der (verspäteten?) Schulschließungen geht’s bei uns noch vergleichsweise moderat zu. Die Schweiz verbietet Veranstaltungen mit über 100 (nicht: über 1000) Teilnehmern, in Belgien werden auch die Restaurants geschlossen, in Österreich bleiben Geschäfte jenseits des Lebensbedarfs dicht, die Restaurants schließen um 15 Uhr; Polen und Dänemark riegeln ihre Grenzen ab. Als deutscher Staatsbürger darf man ohnehin längst nicht mehr in alle Länder des Erdballs reisen. Viele weitere drastische Beispiele ließen sich nennen. Und wer weiß, wer am Ende wirksamer gehandelt hat.

Auch Galgenhumor macht sich breit, wie eigentlich immer, wenn’s ungemütlich (oder schlimmer) wird: Just heute twittern Tausende zum Hashtag-Thema #CoronaSchlager, will heißen: Man dichtet bekannte Schlagertexte der letzten Jahrzehnte aufs Virus und seine Folgen um. Wenn’s denn der Entspannung dient und nicht ganz und gar zynisch wird…

Die Professoren Drosten und Wieler haben das Sagen

Die beinahe täglich live übertragenen Presskonferenzen von der Corona-Front lassen allmählich den Eindruck aufkommen, die Professoren Christian Drosten (Charité) und Lothar Wieler (Robert-Koch-Institut) seien inzwischen die eigentlich Regierenden im Lande. Sie haben buchstäblich das Sagen. Jedenfalls können die politisch Verantwortlichen in dieser Situation schwerlich ohne solche Fachleute auskommen. Prof. Alexander Kekulé (Uniklinik Halle) wäre demnach mit seinen deutlich abweichenden Meinungen so etwas wie die Opposition. Schon recht früh hat er gefordert, was jetzt geschehen ist: „Coronaferien“ in den Schulen und Absage größerer Zusammenkünfte.

Um nur nicht missverstanden zu werden: So weit man es als Laie und Medienkonsument beurteilen kann, machen Drosten und Wieler (mit ihren Teams) einen großartigen Job, sie bleiben angenehm nüchtern und sachlich, wobei man dennoch die Dringlichkeit ihrer Anliegen nicht verkennen kann. Das gilt übrigens auch für Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, der selbst nicht die medizinische Expertise haben kann, es aber offensichtlich versteht, fähige Leute als Berater heranzuziehen.

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P. S. zum Fußball: Ohne Zuschauer im Stadion macht die Kickerei eh keinen Spaß mehr, Sky & Co. haben mit den „Geisterspielen“ sozusagen leblose Materie übertragen. Meinetwegen soll die Liga jetzt mit der Saison aufhören, die Bayern halt zum Meister erklären (das sage ich als Dortmunder) oder – besser noch – diese Spielzeit ganz ohne Titel beenden, die jetzigen Tabellenplätze nur für einen künftigen europäischen Wettbewerb zählen lassen etc. Auf- und Abstieg ließen sich auch regeln, indem z. B. die 1. Liga aufgestockt würde, also niemand ohne Spielentscheidung absteigen müsste. Das alles wird sich finden und ist ganz und gar nicht lebenswichtig.

Ganz abgesehen davon ist es vielleicht ein soziales Experiment: Wirkt sich das Fehlen des Vereinsfußballs gesellschaftlich aggressionshemmend oder aggressionssteigernd aus? Anders gewendet: Befördert oder kanalisiert der Fußball die Gewaltsamkeit?




Corona-Update: Alles dicht! – Dortmunder Kultur-Absagen und tägliche Ergänzungen aus dem Revier

Ein Blick in den Zuschauerraum des Dortmunder Konzerthauses, das 1500 Plätze hat und  selbstverständlich auch von Absagen betroffen ist. (Foto: Bernd Berke)

Hier am Anfang zunächst der Stand vom 11. März, ständige Aktualisierungen weiter hinten:

Ausnahmsweise werden hier zwei ausführliche Pressemitteilungen aus den Dortmunder Kulturbetrieben wörtlich und unkommentiert wiedergegeben – weil es hier vor allem auf die sachlichen Details ankommt und nicht auf diese oder jene Meinungen.

Im Anhang folgen weitere Informationen, auch aus anderen Revier-Städten. 

Zuerst eine ausführliche Übersicht zu städtischen Kulturveranstaltungen, die in den nächsten Wochen ausfallen werden, übermittelt von Stadt-Pressesprecherin Katrin Pinetzki.

Danach eine gleichfalls längere Aufstellung aus dem Dortmunder Mehrsparten-Theater, auch das Konzerthaus betreffend, übermittelt von Theater-Pressesprecher Alexander Kalouti.

Wir zitieren:

„Öffentliche Kulturveranstaltungen fallen bis Mitte April aus – Museen, Bibliotheken und U bleiben geöffnet – Unterrichtsbetrieb in VHS- und Musikschule läuft weiter

Die Kulturbetriebe der Stadt Dortmund, das Theater Dortmund und das Konzerthaus Dortmund sagen alle ihre öffentlichen Veranstaltungen bis Mitte April ab. Die Regelung gilt ab morgen (12. März) und ist unabhängig von der Zahl der erwarteten Besucherinnen und Besucher. Damit hofft die Stadt, Infektionsketten zu unterbrechen und die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen.

Es fallen aus:

  • Vorstellungen und Veranstaltungen im Konzerthaus Dortmund,
  • Vorstellungen und Veranstaltungen im Theater Dortmund: Oper, Ballett, Schauspiel, Kinder- und Jugendtheater, Konzerte, Akademie für Theater und Digitalität,
  • Veranstaltungen, Ausstellungseröffnungen und Führungen in den Städtischen Museen: Museum Ostwall im Dortmunder U, Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Westfälisches Schulmuseum, Kindermuseum Adlerturm, Hoesch-Museum, Brauerei-Museum, schauraum: comic + cartoon,
  • städtische Veranstaltungen im Dortmunder U (z.B. auf der UZWEI, in der Bibliothek „Weitwinkel“, Veranstaltungen in der Reihe „Kleiner Freitag“),
  • Veranstaltungen und Festivals im Dietrich-Keuning-Haus (der Kinder- und Jugendbereich hat geöffnet!),
  • Lesungen und andere Veranstaltungen in den Bibliotheken und im Studio B,
  • Konzerte und Veranstaltungen der Musikschule (der Unterricht findet statt!),
  • Vorträge und andere Veranstaltungen der VHS (die Kurse und Workshops finden statt!),
  • Vorträge, Lesungen und andere Veranstaltungen in Stadtarchiv und in der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache,
  • Konzerte und andere Veranstaltungen im Institut für Vokalmusik,
  • Spaziergänge und Fahrradtouren zur Kunst im öffentlichen Raum,
  • Veranstaltungen des Kulturbüros (Ausstellungseröffnungen im Torhaus Rombergpark, Gitarrenkonzerte in der Rotunde).

(…)

Der Kartenverkauf für Konzerte und Aufführungen in Theater und Konzerthaus für Vorstellungen nach Ostern läuft weiter.

Alle Theater- und Konzerthauskunden, die von den Vorstellungsausfällen betroffen sind, werden kontaktiert. Wenn möglich, werden ausfallende Vorstellungen nachgeholt. Die Kunden werden über mögliche neue Termine sowie die Rückgabe von Tickets benachrichtigt.“

Weitere Informationen gibt es auf den Webseiten von Konzerthaus und Theater und auf www.dortmund.de

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Blick aufs Dortmunder Schauspielhaus. (Foto: Bernd Berke)

Wichtige Informationen zu den Vorstellungen des Theaters Dortmund und des Konzerthauses Dortmund:

„Alle Vorstellungen bis einschließlich 15. April 2020 finden nicht statt.

Aufgrund des Erlasses der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen finden im Konzerthaus Dortmund und im Theater Dortmund bis einschließlich 15. April 2020 keine öffentlichen Veranstaltungen statt. Konzerthaus-Intendant Dr. Raphael von Hoensbroech und der Geschäftsführende Direktor des Theater Dortmund Tobias Ehinger unterstützen diese Vorgabe und bedauern zugleich, dass so viele erstklassige Konzerte und Vorstellungen abgesagt werden müssen.

Alle Kunden, die von den Vorstellungsausfällen betroffen sind, werden informiert. In den kommenden 14 Tagen arbeiten wir intensiv daran, für die ausgefallenen Vorstellungen Ersatztermine zu finden. Die Ticketingstellen beider Häuser haben weiterhin geöffnet und der Kartenverkauf für Veranstaltungen nach Ostern läuft weiter. Das Restaurant Stravinski und die Klavier & Flügel Galerie Maiwald am Konzerthaus Dortmund bleiben ebenfalls bis auf weiteres geöffnet.

Das Konzerthaus Dortmund bietet für seine Eigenveranstaltungen folgende Regelungen: Für Ersatztermine behalten Tickets ihre Gültigkeit. Sollten Kunden an dem neuen Termin verhindert sein, wenden sie sich bitte telefonisch an das Konzerthaus-Ticketing unter T 0231 – 22 696 200. Sollte kein Ersatztermin gefunden werden, sendet das Konzerthaus an die Kunden einen Gutschein über die Höhe des gezahlten Kartenpreises, der für alle kommenden Veranstaltungen im Konzerthaus Dortmund einlösbar ist. Bei weiteren Fragen zur Rückerstattung steht das Ticketing ebenfalls gerne zur Verfügung. Für Partnerveranstaltungen können abweichende Regelungen gelten.

Das Theater Dortmund bietet folgende Regelungen: Bei Nichtwahrnehmung des Ersatztermins können die Karten vor dem jeweiligen Ersatztermin umgetauscht werden. Darüber hinaus bietet das Theater Dortmund folgende Kulanzregelungen für die Kartenrücknahme an: Kunden können die für diesen Zeitraum im Vorverkauf bereits erworbenen Karten bis Ende der Spielzeit 2019/20 im Kundencenter unter Vorlage der Originalkarten in spätere Alternativvorstellungen eintauschen oder in Wertgutscheine umwandeln. Bei Abonnentinnen und Abonnenten können die Karten in Abo-Gutscheine innerhalb der jeweiligen Sparte umgewandelt werden, die aus Kulanz auch für die nächste Spielzeit einlösbar sind. Karten, die bei externen Vorverkaufsstellen erworben wurden, können nur an diesen zurückgegeben werden. Für Rückfragen steht das Ticketing des Theater Dortmund unter der Telefonnummer 0231 – 50 27 222 gerne zur Verfügung.

Wir stehen weiterhin in engem Kontakt mit den zuständigen Behörden und informieren auf unseren Websites über alle weiteren aktuellen Entwicklungen, die den Spielbetrieb unserer Häuser betreffen.“

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Ausgewählte Ergänzungen (ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit)

12. März:

Die Dortmunder Arbeitswelt-Ausstellung DASA hat die für 28./29. März geplante „Maker Faire Ruhr“ abgesagt, ein Erfinder- und Mitmach-Festival, das im Vorjahr einige Tausend Besucher(innen) mobilisiert hat. Nachtrag am 16. März: Die DASA schließt jetzt bis auf Weiteres ganz.

Die in Dortmund ansässige Auslandsgesellschaft streicht bis zum 15. April alle öffentlichen Veranstaltungen.

Das Szenetheater „Fletch Bizzel“ folgt dem Beispiel der städtischen Kultureinrichtungen und sagt alle Veranstaltungen bis Mitte April ab.

Auch im Fritz-Henßler-Haus gibt es bis Mitte April keine öffentlichen Auftritte.

Im Dortmunder Literaturhaus ist ebenfalls bis 15. April Veranstaltungs-Pause.

Die Messe „Creativa“ in den Dortmunder Westfalenhallen ist gleichfalls abgesagt und auf Ende August verschoben worden.

13. März:

Theater Dortmund: Alle Sparten haben ihre Spielpläne für diese und die kommende Saison gründlich umgeschichtet.

Schauspielhaus Bochum: Keine Veranstaltungen mehr (auch nicht mit weniger als 100 Personen). Sämtliche Aufführungen fallen aus – vorerst bis 19. April. Ähnliches gilt fürs Theater an der Ruhr in Mülheim, fürs Theater Oberhausen und das Westfälische Landestheater (WLT) in Castrop-Rauxel.

Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) streicht alle öffentlichen Veranstaltungen in seinen Einrichtungen und schließt ab morgen (14. März) seine insgesamt 18 Museen, darunter das LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster, das Westfälische Industriemuseum mit seiner Zentrale in Dortmund (Zeche Zollern) und das LWL-Museum für Archäologie in Herne.

Das Duisburger Lehmbruck-Museum bleibt ab Samstag (14. März) zunächst bis zum 19. April geschlossen.

Das Museum Folkwang in Essen und das Emil Schumacher Museum in Hagen setzen alle Veranstaltungen bis auf Weiteres aus.

Die Kunstmesse Art Cologne (geplant für April) ist abgesagt worden.

14. März:

Das „Dortmunder U“ und das Museum Ostwall (im „U“) haben alle Veranstaltungen gestrichen. (Inzwischen ist das Haus geschlossen).

Dortmund: Keinerlei öffentliche Veranstaltungen mehr

15. März:

In einer Sondersitzung hat der Verwaltungsvorstand der Stadt Dortmund gestern beschlossen, dass ab heute (Sonntag, 15. März) bis auf Weiteres keinerlei öffentliche Veranstaltungen mehr stattfinden dürfen. Gaststätten und Restaurants dürfen vorerst geöffnet bleiben.

Museen, Bibliotheken und Sportstätten geschlossen

Der Krisenstab der Stadt Dortmund hat heute (Sonntag, 15. März) getagt und angeordnet, Kultur- und Freizeiteinrichtungen zu schließen. In diesem Sinne werden bis auf Weiteres die städtischen Museen, die VHS, die Bibliotheken und die Musikschule sowie die städtischen Hallenbäder, Sporthallen und Sportplätze geschlossen.

Siehe dazu auch: www.dortmund.de

16. März

Auch anderorts bleiben ab sofort die Museen geschlossen, so z. B. in Essen (Folkwang), Bochum (Kunstmuseum) und Wuppertal (Von der Heydt).

Das Frauenfilmfestival Dortmund/Köln fällt aus.

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Aber machen wir’s kurz:

Jetzt sind alle Museen geschlossen. Und alle Kinos auch. Und alle Bühnen.

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Weitere Nachträge/Aktualisierungen

24. März

Das Dortmunder Festival Klangvokal (geplant ab 17. Mai) musste ebenfalls abgesagt werden. Möglichkeiten für Nachholtermine (September 2020 bis Juni 2021) werden derzeit geprüft. Das zugehörige Fest der Chöre soll vom 13. Juni auf den 12. September verschoben werden. Einzelheiten: www.klangvokal-dortmund.de

25. März

Die Ruhrfestspiele, die vom 1. Mai bis zum 13. Juni in Recklinghausen hätten stattfinden sollen, sind gleichfalls abgesagt. Teile des geplanten Programms sollen nach Möglichkeit im Herbst nachgeholt werden.

Das Klavierfestival Ruhr, ursprünglich ab 21. April geplant, soll nun erst am 18. Mai starten. Die vom 21. April bis 17. Mai geplanten 23 Konzerte sollen nach den Sommerferien und im Herbst nachgeholt werden.

Die Mülheimer Stücketage (geplant 16. Mai bis 6. Juni) sind abgesagt worden.

27. März

Neuester Stand beim Klavierfestival Ruhr: Sämtliche bis Ende Mai geplanten Konzerte werden auf die Zeit nach den Sommerferien bzw. in den Herbst 2020 verlegt. Der Spielbetriebwird voraussichtlich erst Anfang Juni (Woche nach Pfingsten) beginnen. Näheres unter www.klavierfestival.de/nachholtermine

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Nähere Infos auf den jeweiligen Homepages

 




Gespenstische Premiere: Revierderby ohne Zuschauer

Massenhaft so dicht beieinander? Muss ja nicht sein. Höchstens in der Ikea-Stofftierabteilung, wo die Aufnahme entstanden ist. (Foto: BB)

Nachträgliche Anmerkung, nur der Form halber: Das Spiel ist inzwischen bekanntlich ganz abgesagt worden – ebenso wie der gesamte Bundesliga-Spieltag und wie vielleicht noch der Rest der Saison…

Seit C. (ihr wisst schon) ist kaum noch etwas, wie es vorher war, auch nicht auf sportlichem Sektor. Gerade ein „Revierderby“ zwischen Borussia Dortmund und Schalke 04 war bislang ohne Zuschauer, ohne mehr oder weniger fanatische Fans schier undenkbar. Am Samstag (15:30 Uhr) wird dieses gespenstische Ereignis Premiere haben.

(Erst) heute ist die Entscheidung gefallen. Sie ist natürlich hundertprozentig richtig. Die Gesundheit geht vor – und sei das Ansteckungsrisiko im Westfalenstadion* auch (vermeintlich) „überschaubar“. Wer will das schon mit Gewissheit sagen wollen?

Und was ist mit den Kneipentreffs?

Freilich haben Fans u. a. auf Twitter bereits darauf hingewiesen, dass sich das Publikum dann eben nicht unter freiem Himmel im Stadion, sondern zu gewissen Anteilen in Kneipen versammeln wird, also dicht gedrängt in geschlossenen Räumen, wo man sich womöglich noch leichter infizieren kann. Überdies dürften sich Umarmungsverbote im Falle eines Tores drinnen wie draußen schwerlich durchsetzen lassen. Auch den Mannschaften wird man etwaigen Torjubel nicht untersagen können.

Fest steht allerdings auch, dass sich Übertragungswege nach einem Kneipenbesuch immerhin etwas leichter rekonstruieren ließen, als nach einem Besuch im größten Stadion Deutschlands mit seinen über 81.000 Zuschauerplätzen und der größten Stehplatztribüne von ganz Europa, wo schon gar nicht auszumachen ist, wer genau wo gestanden hat.

Entlastung für Polizei und Verkehrswesen

Ob Parkplätze oder öffentlicher Nahverkehr – nichts wird so strapaziert werden, wie es bei früheren Derbys üblich war. Auch wird die Polizei vermutlich weitaus weniger zu tun haben als sonst, wenn BVB und S04 aufeinandertreffen. Obwohl: Man weiß ja nie, was sich Ultras und sonstige Anhänger beider Seiten so einfallen lassen. Nicht ausgeschlossen, dass sich manches Geschehen nur verlagert – vielleicht gar in den Umkreis des Stadions? Es wäre wahnwitzig.

Die Anordnung zum „Geisterspiel“ dürfte jedenfalls streng gehandhabt werden. Wie man hört, werden längst nicht alle interessierten, sondern nur ein paar handverlesene Sportjournalisten zugelassen. Eine Fernsehübertragung wird es höchstwahrscheinlich nur gegen Bezahlung geben, also beim Pay-TV-Kanal Sky. Es mag zwar sein, dass dies dem Sender ein paar Abonnenten zusätzlich beschert. Fraglich ist jedoch, ob Sky beim zu erwartenden Massenansturm auf die Server eine nahtlose und pannenfreie Übertragung gewährleisten kann. Bisherige Erfahrungen lassen daran zweifeln.

Der Meinungs-Schwenk des Oberbürgermeisters

Zweifeln kann man auch am Orientierungssinn des Dortmunder Oberbürgermeisters Ullrich Sierau (SPD). Noch vor wenigen Tagen, als in Essen bereits erste Veranstaltungen abgesagt wurden, hat er witzelnd angemerkt: „Wenn man in Essen keinen Spaß mehr haben kann, kann man nach Dortmund kommen.“ Heute klang er absolut anders, allerdings wieder nicht nach Maß und Ziel. Maßnahmen wie das Revierderby als „Geisterspiel“, so Sierau diesmal, seien eine Frage von „Leben und Tod“. Ja, er wurde noch drastischer: „Das hier ist kein Spaß (…) Es geht hier darum, dass ihr das nächste Spielüberhaupt noch erlebt.“

Selbstverständlich ist das Revierderby längst nicht das einzige Spiel, das dieser Tage ohne Publikum stattfindet oder gleich ganz abgesagt wird. Alle Spiele in Nordrhein-Westfalen sind von der Regelung betroffen, auch in den unteren Spielklassen. Andere Bundesländer werden wohl folgen, wenn die Verantwortlichen bei Trost sind. Übrigens hat die Deutsche Eishockeyliga ihre Saison komplett abgebrochen, ohne dass ein Meister ermittelt worden wäre.

Unbeweisbare Vor- und Nachteile

Der Vollständigkeit halber sei noch eine andere, vergleichsweise nichtige Frage angerissen, nämlich die, ob ein „Geisterspiel“ sich vor- oder nachteilig für bestimmte Mannschaften auswirkt. Gewiss: Beim Revierderby (und bei der Begegnung mit Bayern München am 4. April) tritt der BVB zwar in Dortmund, aber quasi nicht wie sonst als Heimmannschaft an, zumindest fehlt das eigene Publikum als Faktor. Dafür „profitiert“ man am morgigen Mittwoch beim Auswärtsspiel in der Champions League vielleicht davon, dass keine Fans von Paris St. Germain zugegen sein werden. Doch das ist im Grunde herzlich nebensächlich. Messen und beweisen kann man es eh nicht.

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* vulgo: Signal-Iduna-Park

Das allzeit lesenswerte Fußball-Magazin „Elf Freunde“ hat jetzt aus gegebenem Anlass die Geschichte der „Geisterspiele“ nachgezeichnet.




Was macht Corona mit der Kultur?

Sorglos hat man eigentlich noch nie auf den inzwischen so globalisierten Globus blicken können. Jetzt sind mal wieder ein paar neue Sorgen hinzugekommen. (Foto: BB)

Und hier bekommt Ihr wieder ein Bonus-Paket der Revierpassagen, nämlich: Heute gibt’s k e i n e n laienhaften Aufsatz über Corona. Jedenfalls nicht über virologische Fragen oder Quarantäne. Wie denn auch?

Obwohl man da unendlich viel erwägen und bekakeln könnte, aus nichtfachlicher Sicht wohl überwiegend Nutzloses. Aber das geschieht schon andernorts zur Genüge und weit über Gebühr. Man schaue sich nur die Kommentare an, wenn etwa „Zeit“ oder „Süddeutsche“ mit Live-Schaltungen zu allfälligen Pressekonferenzen des Bundesgesundheitsministers und des Robert-Koch-Instituts aufwarten. All die vielen selbsternannten Fachleute im Publikum, die Besserwisser, Hassverspritzer und Paniker aus den Untiefen des Netzes. Und das bei Angeboten dieser seriösen Medien… Das seriöseste aller hiesigen Medien, „Der Postillon“, hat diesen Trend natürlich auch erkannt: „Zahl der Corona-Experten in Deutschland sprunghaft angestiegen“. Wohl irgendwie wahr.

So. Und jetzt, da Ihr Euch vielleicht in Sicherheit wiegt, kommen hier halt doch noch ein paar CoV-19-Absätze. Wir sind schon mittendrin. Aber halb so schlimm. Wir hamstern keine Zeilen. Wir desinfizieren auch nicht eigens die Tastatur. Tippen mit sorgsam gewaschenen Händen (20 Sekunden plus!) ist freilich die leichteste Übung.

Konzerthusten mit neuer Virulenz

Vielleicht erwischt es ja nach dem Sport mit seinen zuschauerlosen „Geisterspielen“ (so auch das Revierderby BVB – Schalke am kommenden Samstag) sehr bald auch Teile des Kulturbetriebs. Veranstaltungen mit mehr als 1000 Teilnehmenden, deren Absage nicht nur von Gesundheitsminister Spahn dringlich angeraten wird und in Frankreich bereits verfügt worden ist, haben wir schließlich auch in Philharmonien, Konzerthäusern und Opernhäusern, erst recht bei manchen Rock-Auftritten etc. Da sitzt oder steht man beim kulturellen Geschehen ziemlich dicht an dicht. Der Konzerthusten ist ja eh ein sprichwörtliches, heftiges und häufiges Phänomen im Bereich der E-Musik. Auch er hat allerdings schon einen bedrohlichen Bedeutungswandel hinter sich. Mit Hustinetten als Gegenmittel ist es nicht mehr getan.

…oder gar daheim zum Buch greifen

Von Veranstaltungen wie dem Literaturfestival Lit.Cologne, der Pariser oder der Leipziger Buchmesse (alle abgesagt) – letztere mit sonst Abertausenden von lesewilligen Hallenflaneuren – mal ganz abgesehen. Und noch mehr zu schweigen von den italienischen Zuständen, wo im ganzen Land Museen, Kinos und Theater geschlossen bleiben. Schon warnen besorgte Publizisten vor nachhaltigen Schäden an der „italienischen Lebensart“.

Just, als ich das schreibe, erreicht mich die Nachricht von der Absage der Museumsnacht im LWL-Museum für Archäologie in Herne am 27. März. Dort wird übrigens – ausgerechnet – noch bis zum 10. Mai die derzeit besonders aufschlussreiche natur- und kulturhistorische Ausstellung über die Pest gezeigt. Apropos: Wie man liest, erlebt zur Zeit auch Albert Camus‘ moderner Klassiker „Die Pest“ einen Auflagenschub sondergleichen.

Schon wird uns auf Feuilleton-Seiten wärmstens anempfohlen, öfter mal daheim zu bleiben und zwecks Kulturgenuss diverse Streamingdienste für Kino und Musik anzuwerfen. Oder gar: zum Buch zu greifen! Man denke nur…

„Inflation öffentlicher Zusammenrottungen“

Es sind keine günstigen Zeiten für kulturgeneigte Adabeis. Wenn ich nicht irre, war es die Neue Zürcher Zeitung, die vor ein paar Tagen geradezu erbittert gegen das ewig amüsierwütige Ausgehen zu Felde zog, und zwar mit einer solchen Formulierung: „Die hedonistische Eventkultur mit ihrer Inflation öffentlicher Zusammenrottungen zu unwesentlichen Zwecken“, hieß es da, solle endlich wieder durch „Vergnügungen in bescheidenerem, privaten Rahmen“ ersetzt oder wenigstens ergänzt werden. Sie raten freilich nicht direkt zum Brettspieleabend, sondern erst einmal zu Netflix-Filmen und Gruppen-Chats. Man will die Leute da abholen, wo sie sind. Mit möglichen Folgen einer zunehmend digitalisierten Kultur hat sich unterdessen auch die Süddeutsche Zeitung befasst. Wir sehen betroffen: Da ist einiges im Schwange.

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P. S.: Hat eigentlich schon mal wieder jemand nachgeschaut, was in den einst so umkämpften Notstandsgesetzen steht, die vor über 50 Jahren schon manchen „Achtundsechziger“ auf die Barrikaden getrieben haben? Kann uns da jetzt was blühen?

Nachtrag: Erstaunlich, dass laut Homepage heute (10. März) im Dortmunder Konzerthaus die Veranstaltung „Sinatra & Friends“ (Trio aus England) stattfinden soll. Sind da wirklich weniger als 1000 Plätze besetzt? Man wird ja mal fragen dürfen. Laut Landesgesundheitsminister Laumann gilt die 1000er-Grenze ohne Wenn und Aber. Bei Überschreitung müsste seit heute abgesagt werden.

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Absagen und Sonstiges

Das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier (MiR) stellt den gesamten Spielbetrieb „bis auf weiteres“ ein.

Das Frauenfilmfest Dortmund/Köln (Programmschwerpunkt diesmal in Köln) soll nach jetzigem Stand vom 24. bis 29. März stattfinden. Pro Filmvorstellung soll die Zahl der Zuschauerinnen auf 100 begrenzt werden. Es werden Anwesenheitslisten geführt und auch sonst diverse Sicherheitsmaßnahmen ergriffen.

 




Lyriker zwischen Revolution und Mystik – eine Erinnerung an Ernesto Cardenal

Ernesto Cardenal bei einer Lesung am 10. Oktober 2012 in der Frankfurter Katharinenkirche. (Foto: Wikimedia Commons / Dontworry) – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Proppenvoll, bis auf den letzten Platz ausverkauft war das Ebertbad Oberhausen am 14. Oktober 2008, als Ernesto Cardenal auf Einladung des PoesiePalastes Ruhr bei seinem Canto a la vida-Abend aus seinen Gedichten las. Fast ehrfürchtig wirkten viele, die gekommen waren, um Ernesto Cardenal, dem Schauspieler Klaus Götte (Cardenals deutscher Stimme) und der Grupo Sal zuzuhören: in Ehren ergraute Altlinke, progressive Christen und deutlich mehr Lyrikliebhaberinnen als -liebhaber.

Für die meisten von ihnen war Ernesto Cardenal höchst vitales Vorbild, lebende Legende und Mythos zugleich. Selbst ihn nur kurz auf der Bühne vorzustellen, hieß für mich, zumindest eine Auswahl seiner Berufe und Berufungen aufzurufen. Der damals 83-Jährige vereinte in seiner Person viele Facetten menschlicher Neugier und intellektuellen Widerstands.

Cardenal war Priester und Gründer der christlichen Kommune Solentiname, war Befreiungstheologe und angeblich – so kursierte es im Internet – der Mann, der im Dom zu Managua die Stimme erhob und dem Papst zurief: „Viva la Revolución“. Dies allerdings bestritt Cardenal beim Abendessen nach seinem Oberhausener Auftritt heftig. Tatsächlich war es Papst Johannes Paul II., der im März 1983 in Managua öffentlich den vor ihm knienden Cardenal brüskierte und den Segen verweigerte. Johannes Paul II. forderte ihn auf, „seine Situation zu regeln“, womit der polnische Papst nicht weniger meinte, als dass Cardenal sein unbequemes politisches und befreiungstheologisches Engagement aufgeben solle. Keine zwei Jahre später suspendierte der Vatikan Cardenal von seinem Priesteramt. Erst 2019 hob Papst Franziskus diese Suspendierung wieder auf.

Streitbarer „Heiliger“

Ernesto Cardenal war als Sandinist Befürworter einer Revolution ohne Rache und später Kulturminister Nicaraguas, vor allem aber war er ein großer Poet und als solcher einer der wichtigen Autoren Lateinamerikas. Dass er in Deutschland quasi als Heiliger herumgereicht wurde, amüsierte ihn trotz aller sichtbaren Eitelkeit auch ein wenig. Im WDR sagte er dazu: „Etwas von mir scheint noch in Mode zu sein.“
In Oberhausen aber las er damals nichts Autobiografisches, keinerlei Prosa, sondern allein Gedichte – von den „Psalmen“ angefangen über die „Cántico cósmico“ bis hin zu Poemen aus seinem 2005 in deutscher Sprache erschienen Gedichtband „Transitreisender“. Darunter viele Verse der Art, die Ernesto Cardenal selbst einmal „wissenschaftliche Poesie“ oder „Poesie der Wissenschaft“ nannte.

Diesseitige Göttinnendämmerung

Cardenals pragmatischen Gott gab es übrigens immer nur im Doppelpack und durfte auch als Göttin vorgestellt werden. Liebe war für Cardenal nicht zu trennen von Sinnlichkeit, auch deshalb hat er nie ein jenseitiges Paradies beschworen. Die Theologin Dorothee Sölle schrieb einst an ihren Freund: „Du hast sie beieinander gelassen: Religion, Politik und Liebe, Deine Liebeslieder sind politisch, Deine Psalmen erotisch. Deine Bejahung, deine Feier des Lebens ist umfassend.“ Man hat Cardenal einen Lyriker zwischen Revolution und Mystik genannt und damit wohl die treffendste Kurzformel für diese schillernde Persönlichkeit geprägt.

„Der Künstler ist immer vollkommen in die Gesellschaft integriert – aber nicht in die seiner Zeit, sondern in jene der Zukunft.“ (Ernesto Cardenal)

Um diesem Mann des Wortes, diesem Homme de Lettres den Mund zu verbieten, versuchte das nicaraguanische Regime auch, die Integrität des Menschen Cardenal zu diskreditieren. Nach der offensichtlich manipulierten und unzulässigen Wiederaufnahme eines Verfahrens, das Cardenal zu großen Teilen bereits Jahre zuvor gewonnen hatte, drohte man ihm 2008 mit einem Bußgeld und bei Nichtzahlung mit einem längeren Hausarrest. Ein politisches Verfahren also, Cardenal hatte seinem früheren Weggefährten Daniel Ortega einen korrupten und undurchsichtigen Regierungsstil vorgeworfen, den Verrat der Revolution. Nicaragua werde inzwischen vom einem autokratischen Familienclan regiert. Wegen der Schikanen der Regierung Ortega gegen Cardenal hatten Ende September 2008 das PEN-Zentrum Deutschland und viele Autoren aus aller Welt protestiert.

Nach seiner Deutschland-/Europa-Tournee vermied Ernesto Cardenal zunächst die Rückkehr nach Nicaragua, auch weil das Gerücht umging, man werde ihn sowieso nicht wieder einreisen lassen. Von Cardenal war dazu nur zu hören: „Wir gehen den Weg der Befreiung weiter.“ Er selbst tat dies auch über seine schriftstellerische Arbeit, sein Engagement für das Kultur- und Entwicklungsprojekt Casa de los Tres Mundos und bei vielen Lesereisen. Einen Überblick über sein poetisches Schaffen findet man am besten in den 2012 erschienenen Lyrikbänden „Aus Sternen geboren. Das poetische Werk“.

Am 1. März 2020 starb Ernesto Cardenal 95-jährig an den Folgen einer Niereninsuffizienz in Managua.




Schau über den legendären Nachtclub „Studio 54″ – direkt aus New York nach Dortmund

Pat Cleveland auf der Tanzfläche des „Studio 54″ während des „Halston disco bash“, Dezember 1977 (Foto: © Guy Marineau / WWD / Shutterstock)

Würde eine solch mondäne Ausstellung nicht besser nach München oder Berlin passen? Egal. Sie kommt nun mal nach Dortmund, wo man eben zuerst beherzt zugegriffen hat.

Ab 14. August und bis zum 8. November 2020 soll demnach im Dortmunder U eine Ausstellung über den legendären New Yorker Nachtclub „Studio 54″ gezeigt werden, die direkt aus New York kommt. Im dortigen Brooklyn Museum hat sie in wenigen Tagen (13. März) Weltpremiere.

Der Coup erinnert ein wenig ans Zustandekommen der Dortmunder Schau über Pink Floyd, die zwar vom Publikumszuspruch her letztlich enttäuschte, aber Dortmund doch international in die eine oder andere Kultur-Schlagzeile bugsierte. Damals kamen die Exponate aus London (und via Rom), diesmal ist es eben New York. Dortmund hat sich die europäische Premiere gesichert. Immerhin.

Keine Agentur hat das Ereignis vermittelt, sondern die Dortmunder haben direkt mit dem Brooklyn Museum verhandelt. Kurator ist Matthew Yokobosky, in Brooklyn Abteilungsleiter für „Fashion and Material Culture“. Präsentiert und gesponsert wird die Chose übrigens vom Streamingdienst Spotify. Zum Fundus der Ausstellung gehören u. a. Fotografien, Mode-Objekte, Zeichnungen, Filme und Kostüm-Illustrationen.

„Studio 54: Night Magic“ (Arbeitstitel) blättert die nicht nur modisch, sondern auch gesellschaftlich folgenreiche Geschichte jenes (1977 eröffneten und 1986 endgültig geschlossenen) Clubs auf, in dem sich Pop- und Film-Prominenz zuhauf einstellte: beispielsweise Andy Warhol, Diana Ross, Liza Minnelli, Mick Jagger, Michael Jackson, Madonna, Salvador Dalí – und wie sie alle hießen. Zur Eröffnung am 26. April 1977 waren u. a. Frank Sinatra, Margaux Hemingway, Cher, Bianca Jagger und ein gewisser Donald Trump erschienen, damals noch ein ziemlich unbekannter Bauunternehmer. Ach, wäre es mal dabei geblieben…

Um es mal in klischeehaften Stichworten (nicht) zu fassen: Sex, Drogen, Punk und allseitige Toleranz kennzeichneten fortan das Klima des Clubs, dessen Ästhetik auch neue soziale Bewegungen beeinflusst hat. Manches wirkt womöglich bis heute weiter.

Ein Vorbehalt gilt noch: Der Dortmunder Stadtrat müsste dem Unterfangen in seiner Sitzung am 26. März zustimmen. Aber das wird er doch wohl tun.

 




„Revierfolklore“: Zechenära in Relikten, Reliquien und Retro-Moden

Wie eine verblassende Erinnerung ans alte Revier: Förderturm auf dem Gelände des Dortmunder LWL-Industriemuseums Zeche Zollern, durch eine verregnete Autoscheibe (stehendes Fahrzeug) aufgenommen. (Foto: Bernd Berke)

Fördertürme. Grubenlampen. Schlägel und Eisen. Grubenwagen. Sozusagen klassisches Ruhrgebiet in Reinkultur. Derlei Zeichen und Symbole gibt es in dieser verdichteten Form nirgendwo sonst im deutschsprachigen Raum. Einst standen diese Dinge für den Berufsstolz der Bergleute. Doch noch heute, wo all das kaum mehr eine wirtschaftliche oder soziale Basis hat, identifizieren sich viele Nachgeborene der damaligen Kumpel damit.

Regionalstolz oder Kommerz?

Was daran jetzt noch einigermaßen authentisch, was glaubhafte Signatur für Heimatstolz und was vielleicht eher kommerziell ist, versucht eine Ausstellung des LWL-Industriemuseums zu beleuchten. In Bochum (Zeche Hannover) war sie bereits zu sehen, jetzt ist sie in der Zentrale des Industriemuseums angelangt, der Zeche Zollern in Dortmund, deren grandioses Gebäude-Ensemble gleichsam das größte „Ausstellungsstück“ ist. Den thematischen Anstoß gab seinerzeit die Schließung der letzten Revier-Zeche Ende 2018 in Bottrop. Doch ist das Ganze keine Vergangenheits-Bewältigung, sondern ein Blick zurück nach vorn.

Badeentchen in Kumpel-Kluft und mit Fußball-Bezug, rechts daneben die Eieruhr, die das Steigerlied spielt. (Foto: Bernd Berke)

Grubenwagen an über 1000 Standorten 

Das Kind muss einen Namen haben – und er ist gut gewählt: „Revierfolklore“ heißt die Schau, die hie und da beinahe auszuufern droht, aber doch in der Fahrrinne bleibt. Sie versammelt Hunderte von Objekten von inzwischen nostalgischem Charakter. Etwas wehmütig, aber nicht frei von Humor und Ironie werden allerlei Relikte und Reliquien der Bergbau-Epoche besichtigt. Recht angenehm: Die Besucher(innen) werden nicht zu Erkenntnissen gedrängt, sie sollen anhand der Exponate möglichst selbst ihre Wahrheit(en) finden. Zur Vertiefung empfiehlt sich freilich das Katalogbuch.

Bergmännische Erinnerungsstücke der herkömmlichen Art. (Foto: Bernd Berke)

Besonders prägant hervorgehoben wird gleich eingangs ein Grubenwagen (andere Bezeichnungen: Förderwagen, Lore oder auch Hunt). Heute stehen solche Wagen (anderer Plural: Wägen) vielhundertfach in Vorgärten, Parks oder an ähnlichen Stätten, zumeist bunt bepflanzt und nicht selten regionalstolz beschriftet. Im Obergeschoss sind dazu ausgewählte Fotografien zu sehen, die der von der Materie offenbar geradezu besessene Martin Holtappels im ganzen Revier und darüber hinaus aufgenommen hat. Sie zeigen Grubenwagen jeder Sorte und Couleur an ihren heutigen Stellplätzen. Schier unglaubliche 1094 Standorte – auch auf dem Friedhof oder vor dem Baumarkt – hat der Fotograf bis gestern ausgemacht, sie sind auf einer interaktiven Karte im Internet zu finden. Nicht auszuschließen, dass es schon heute mehr sind. Jedenfalls haben die Fahrzeuge einen deutlichen Funktions- und Bedeutungswandel hinter sich.

Wenn die Historie allmählich entrückt ist

Zurück ins weitläufige Erdgeschoss, wo solche Bedeutungsverschiebungen zuhauf dokumentiert sind. Da sind etwa die zahllosen einschlägigen Anstecker, die ehedem tatsächlich von Bergleuten am Revers getragen wurden und Zugehörigkeit zum angesehenen, aber eben auch knochenharten Berufsstand markierten. Heute sind es just Sammlerstücke. Wohl kein bergbaufremder Mensch wird sie sich allen Ernstes anheften mögen; es wäre eine Art Anmaßung, wenn nicht gar Frevel.

In Hülle und Fülle vorhanden: bergmännische Abzeichen und Anstecker in einer Ausstellungs-Vitrine. (Foto: Bernd Berke)

Eines der wertvollsten Stücke stammt ebenfalls von ganz früher: die um 1884 angefertigte, großflächige Vereinsfahne des Knappen- und Unterstützungsvereins Glück auf Herbede (Witten), die aus konservatorischen Gründen nur bei gedämpftem Licht gezeigt werden darf. Dieses Exponat kommt einem wahrhaftig historisch und ehrwürdig vor, in dieser Weise ist uns das Ruhrgebiet von (vor)gestern entrückt. Man hat allenfalls eine vage „Ahnung“ davon. Wenn überhaupt.

Die kohlenschwarze Eieruhr plärrt das „Steigerlied“

Geradezu frappierend ist hingegen die Verwandlung früherer Bergmannskleidung, deren Stoffe recycelt und zu modischen Taschen oder Portemonnaies verarbeitet wurden – unter dem bezeichnenden Label „Zechenkind“. Darin kann man durchaus noch eine gewisse kreative  Sinnhaftigkeit erkennen. Etwas fragwürdiger ist dann schon jene kohlenschwarze Eieruhr, die bei Erreichen des eingestellten Zeitlimits – na, was wohl? – das allfällige „Steigerlied“ abschnurren lässt. Für Bayern, Schwaben und dergleichen Exoten seien die Anfangszeilen zitiert: Glückauf, Glückauf! Der Steiger kommt. Und er hat sein helles Licht bei der Nacht, und er hat sein helles Licht bei der Nacht, schon angezünd’t, schon angezünd’t…“ Es scheint so, als wäre in diese Falle das Grenzgelände zwischen (selbst)ironischer Aneignung des regionalen Erbes und purem Verkaufsgag überschritten. Auch bei Badeentchen in Kumpel-Kluft überwiegt der wohlfeile Jux. Damit verglichen, sind all die vielen T-Shirts, Tassenserien oder Schlüsselanhänger mit Reviermotiven noch ganz gut erträglich.

Fußball, Schlager, Kino und Kulinarik

Selbstverständlich ist auch dem Umfeld des Revier-Fußballs ein Kapitel gewidmet, schließlich huldigen die Fans aller hiesigen Lager gern dem „Ruhrpott“-Mythos. Jüngst haben die „Choreos“ zu den letzten BVB-Heimspielen gezeigt, welcher Wert hier auf (ursprüngliche oder nachträglich erlangte) Herkunft und Zugehörigkeit gelegt wird. Wobei die Silhouetten der Zechentürme neuerdings auch schon mal durch die Umrisse des „Dortmunder U“ ersetzt werden, also durch ein imposantes Kulturzentrum. Es darf als ein Zeichen des Strukturwandels gelten.

Etwas peinlich für Dortmund ist allerdings dieser Umstand: Die angereisten Exponate zum Fußball betreffen weit überwiegend den FC Schalke 04, auch Jürgen Klopps Dortmunder „Pöhler“-Kappe kann diesen Mangel bei weitem nicht aufwiegen. Zollern-Museumsleiterin Dr. Anne Kugler-Mühlhofer ruft daher die BVB-Anhänger auf, durch Einreichen tauglicher Exponate (als Leihgaben) zumindest ein nachträgliches Gleichgewicht herzustellen.

Neben einem stilisierten Zechenturm in der Ausstellung (von rechts): Dirk Zache, Direktor des gesamten LWL-Industriemuseums, Anne Kugler-Mühlhofer, Leiterin des LWL-Industriemuseums Zeche Zollern und Alexander Muszeika, wissenschaftlicher Volontär. (Foto: Bernd Berke)

Seitenblicke gelten ferner dem mehr oder weniger reviertypischen Liedgut (vom Schlager bis zum Rap, mit teilweise irrwitzig anmutenden Fundstücken) sowie  dem regionalen Filmschaffen, z. B. zwischen Adolf Winkelmanns „Jede Menge Kohle“ (1981) und Peter Thorwarts „Was nicht passt, wird passend gemacht“ (2002). Und ganz klar: Bodenständige Comedy seit Tegtmeier sowie Duisburgs „Schimanski“ alias Götz George dürfen ebenso wenig fehlen wie die kulinarischen Grob- und Feinheiten der Currywurst mitsamt reichlicher Bier-Nachspülung. Wohl bekomm’s!

Eigentlich ist’s ja kein Wunder, dass man immer wieder auf die althergebrachten, ausgesprochen kraftvollen Symbole zurückgreift, denn man kann sich schwerlich vorstellen, dass strukturgewandelte, aber ziemlich gesichtslose Versicherungs- oder Universitätsbauten neueren Datums zur Identifikation einladen.

„Revierfolklore. Zwischen Heimatstolz und Kommerz“. 29. Februar bis 25. Oktober 2020. LWL-Industriemuseum Zeche Zollern, 44388 Dortmund, Grubenweg 5. Geöffnet Di bis So und an Feiertagen 10-18 Uhr. Katalogbuch 272 Seiten, 14,95 Euro.

Nächste Station ab November 2020: Waltrop, Museum Schiffshebewerk Henrichenburg.

www.lwl-industriemuseum.de

 




Corona: Aufregung oder Apokalypse?

Wie soll man das Thema sonst bebildern, als mit dräuenden Wolken? (Foto: Bernd Berke)

Kann sich jemand erinnern, dass jemals derart rigorose Maßnahmen wegen einer Epidemie ergriffen worden sind?

Hat es das in den letzten 50 oder 60 Jahren schon einmal gegeben, dass ganze Städte und Regionen (in China, in Italien und wer weiß wo demnächst noch) so strikt vom Rest der Welt abgeriegelt wurden wie jetzt, dass beispielsweise alle grenzüberschreitenden Züge (vorerst zwischen Österreich und Italien) gestoppt oder Flüge (aus und nach China) verboten werden? Dass Schiffe über Wochen hinweg nicht verlassen werden dürfen? Dass Zigtausende, ja insgesamt Millionen in Quarantäne leben?

Mit der offenbar rapiden Ausbreitung der Corona-Viren haben die – vielleicht schon verspäteten? – Vorsichtsmaßnahmen (und die darob entstehende Panik) offenbar eine neue Eskalationsstufe erreicht. Sind Rinderwahn oder SARS dagegen nur „Vorübungen“ zur Apokalypse gewesen? Welchen Anteil hat die Realität, welchen haben die aufgeregten Medien? Man liest allerdings auch, dass nicht nur die Zahl der Todesopfer, sondern auch schon die Zahl der „Geheilten“ ansteige. Ein Lichtstreif.

Igelt sich bald jedes Land ein?

Oder kann all das noch viel drastischer werden? Doch wohl nicht so wie in jenen schrecklichen Zeiten der Pest, denen eine archäologische und kulturgeschichtliche Ausstellung in Herne (noch bis zum 10. Mai 2020) nachgeht? Als diese Schau eröffnet wurde, hat noch niemand gewusst, was da womöglich auf uns zukommt.

Man möchte sich gar nicht vorstellen, wie das noch weitergehen mag. Igelt sich bald jedes Land, jede Gegend ein? Woher sollen dann die Nachschublieferungen kommen, seien es medizinische Güter oder Lebensmittel? Die Weltmärkte würden zusammenbrechen, es gäbe eine ökonomische Krise sondergleichen. Schon jetzt knicken die Börsenkurse ein.

Globalisierung und Rassismus

Daraus könnte ein großer, ja schließlich ein weltweiter Versuch werden, ob und wie weit die Globalisierung vorübergehend gebremst werden muss. Und wie selbstverständlich spielt Rassismus auch hier hinein: Schon soll es tätliche Angriffe auf Chinesen in Europa gegeben haben. Es müssen mal wieder Menschen herausgegriffen und als Schuldige „dingfest gemacht“ werden.

Apropos irrationale Umtrieb: In letzter Zeit haben sich – vor allem im ökopolitischen Umfeld – auch sektenartige oder zumindest quasi-religiöse Formationen gebildet. Ist es nur eine wahnwitzige, literarisch induzierte Phantasie, wenn man sich vorstellt, wie wegen der Seuche Menschen durch die Straßen ziehen, sich selbst als sündhaft geißelnd? Wie damals, zu Zeiten der Pest…

Autoritäre vs. demokratische Staaten

Auch treten jetzt autoritär regierte Länder (China, Iran) in einen unfreiwilligen Wettbewerb mit einstweilen demokratisch verfassten Staaten (Italien etc.): Wer wird eine solche Krise besser bewältigen? Wie demokratisch kann es überhaupt zugehen, wenn der Notstand herrscht? Und übrigens: Wie kommt es bloß, dass bisher praktisch in ganz Afrika und Südamerika noch kein Ausbruch der Seuche verzeichnet wird? Liegt es daran, dass man dort nicht so streng registriert und dass man dort überhaupt auch noch einige andere Sorgen hat?

Vom medizinischen (Un)wissen, von der fieberhaften Suche nach Ursachen und Wirkungen ganz zu schweigen. Wo liegen überhaupt die Ursprünge der Seuche, die nunmehr eine Pandemie genannt wird? Wo war der allererste Ansteckungsherd, wie sehen die möglichen tierischen Zwischenwirte aus? Wie lange dauert die Inkubation, wie ist der wahrscheinliche Verlauf, wann klingt die Krankheit wieder ab, wann darf ein Patient als kuriert und „erholt“ gelten? Hängt alles mit China zusammen – oder wird sich erweisen, dass es weitere Ausbruchszentren gibt?

Heldentum der Mediziner

Und weiter: Wie hoch liegt die mutmaßliche Todesrate? Betrifft es wirklich vor allem über 80 Jahre alte oder sonstwie vorher geschwächte Menschen? Zynische Frage: Wären sie vielleicht auch an einer „normalen“ Grippe gestorben, wie denn überhaupt die Grippewellen einer durchschnittlichen Saison rund 25.000 Menschenleben kosten können?

Fragen über Fragen. Und keine ist bisher abschließend geklärt.

Ein zeitgemäßes Heldentum zeigt sich freilich, wenn man den Begriff schon verwenden will: beim ärztlichen Personal, das gleichsam an vorderster Front und unter hohem persönlichen Risiko die mysteriöse Krankheit bekämpft. Darüber hinaus gebührt großer Respekt all jenen, die die Gegenmaßnahmen vernünftig organisieren; den Forschungsteams, die in aller Welt an möglichst wirksamen Gegenmitteln arbeiten. Und so manchen anderen, die wir vergessen haben.

Und nun lasset uns hoffen. Und handeln, so gut es eben geht.




Frank Goosen huldigt den Beatles – ein amüsanter Abend im Dortmunder „Fletch Bizzel“

Das Gesamtwerk der Beatles sollte man schon in wesentlichen Zügen kennen, sonst würde man ihm nicht so recht folgen können: Frank Goosen, mit trockenem Ruhrgebiets-Humor gesegneter Rock-, Fußball- und Revier-Fachmann, ist mit seinem neuen Buch „The Beatles“ angerückt. Im Dortmunder Szene-Theater „Fletch Bizzel“ plaudert er freiweg über seine innigen biographischen Verbindungen zu den „Fab Four“. Im Publikum ist die Generation 60 plus bestens repräsentiert.

Der freundliche Herr Goosen beim Buchsignieren nach seinem Dortmunder Auftritt. (Foto: Bernd Berke)

Im Gegensatz zu Leuten, die in den 1950er Jahren geboren wurden und deren Adoleszenz zeitlich direkt mit dem Aufstieg der Beatles verknüpft war, ist Goosen (Jahrgang 1966) ein „Nachgeborener“, wie er sich selbst bezeichnet. Als ihm Musik überhaupt zu Bewusstsein kam, lag das Oeuvre der Beatles schon fertig vor – abgesehen von dieser oder jener Soloplatte, zumal von Sir Paul McCartney.

Dass nun aber dieser „Nachgeborene“ so überaus viel über die Beatles weiß, das hat mich – als etwas älteren Fan der Liverpooler – beinahe schon gewurmt. Nun gut, ich fasse mich: Es hat mir vor allem Bewunderung abgenötigt, wie sehr sich der Mann in die Materie eingelebt (eingehört, eingelesen) hat. Und wie sinnreich er das mit seiner Jugend verwoben hat, das ist aus Erfahrung gekonnt (und nicht wohlfeil gewollt): Es waren jene Zeiten, als man angehimmelten Mädchen in heißer Hoffnung selbst zusammengestellte Audio-Cassetten zusteckte. In diesem Fall hieß sie Regina. Aber es war zwecklos. Da musste dann halt eine gewisse Michelle herhalten. Moment mal. Michelle? Nein, mehr wird hier nicht verraten. Nur, dass Frank Goosens Opa einmal ziemlich irritiert war, als John Lennons Gefährtin Yoko Ono auf einer Scheibe aufstöhnte, als hätte sie vor dem Mikro einen echten Orgasmus gehabt.

Das konnte doch kein Zufall sein!

Dass sein Vortrag gewohnt unterhaltsam ist, hat man von Goosen nicht anders erwartet. Zwar legt er zwischendurch keine einschlägigen Platten auf (Hallo, GEMA, nix zu holen!), aber am Schluss darf ihm das Publikum Fragen stellen, die er nach bestem Wissen und Gewissen beantwortet.

Der ebenso bodenständige wie weltoffene Bochumer hat gleich eingangs berichtet, dass die Beatles gerade mal 25 Tage nach seiner Geburt in der Essener Grugahalle gespielt haben. So nah sind sie sich dann nie wieder gekommen – rein räumlich besehen… Und bald darauf sind die Beatles gar nicht mehr mehr live aufgetreten. Sonnenklar: Das konnte doch kein Zufall sein! Sondern? Es war wohl ein Zeichen. Fast so magisch wie die Bedeutung der Zahl 9 im Leben John Lennons (und sei’s in der Quersumme).

Seit den späten 70er Jahren hat sich der pubertierende Frank Goosen denkbar intensiv mit John, Paul, George und Ringo befasst. Los ging’s mit den beiden roten und blauen Doppelalben für den ersten Überblick, dann folgte nach und nach alles Weitere. Mit den Beatles, so dozierte Frank G. schon damals auf dem Schulhof, sei recht eigentlich Farbe in die vordem schwarzweiße oder auch graue Welt gekommen – bis hin ins seinerzeit auch nicht gerade bunte Ruhrgebiet. Goosens mehr oder weniger exklusive Entdeckung: Die zunächst allmähliche, dann explosive Farbwerdung habe sich ja schon an ihren Albumhüllen und an so manchen Songtexten gezeigt. Der selbsternannte Beatles-Experte Michael („Name geändert“), der damals blasiert widersprechen wollte, habe übrigens keinen blassen Schimmer gehabt. Damit das mal klar ist.

Den Vatikan reißt man ja auch nicht ab

Überhaupt waren die Beatles für ihn eine bis heute nachwirkende Offenbarung. Unverzeihlich findet es Goosen, dass der berühmte Cavern Club in Liverpool abgerissen und durch einen weit weniger auratischen Nachbau ersetzt worden ist. Nachvollziehbare Analogie: „Den Vatikan reißt man doch auch nicht ab!“

Dennoch war es ein Lebens-Höhepunkt, als Goosen vor einiger Zeit mit Frau und Kindern endlich einmal Liverpool aufsuchte und auf den Spuren der frühen Beatles unterwegs war – mit dem geradezu besessenen Guide namens Steve, der an Beatles-Detailwissen alle anderen in den Schatten stellte. Welch‘ ein Gänsehaut-Erlebnis, tatsächlich einmal durch die Penny Lane zu schreiten oder die wahrhaftigen Strawberry Fields (bzw. deren Nachfolge-Areal) zu sehen! Allerdings merkt Goosen auch an, welch massentouristische Untiefen dort zu gewärtigen sind. Da wird man an manchen Punkten von allen Seiten dermaßen mit Beatles-Titeln beschallt, dass es kaum auszuhalten ist. Noch weitaus unerträglicher: die idiotische Anmaßung mancher Touristen, sich in New York vor dem Dakota Building (dort wurde am 8. Dezember 1980 John Lennon ermordet) mit dem heutigen Doorman fotografieren zu lassen…

Noch eine Erkenntnis der Marke Goosen gefällig? Nun, wenn man bestimmte Beatles-Titel auf ordentlichen Vinyl-LPs gehört und dabei ungeahnte Instrumente entdeckt habe, so könne man seine CD-Sammlung eigentlich wegwerfen.

Weitere NRW-Tourneedaten mit dem Programm „Acht Tage die Woche – die Beatles und ich“: 3.3. Menden, 4.3. Bottrop, 17.3. Oberhausen, 18.3. Essen, 23.3. Duisburg, 31.3. Waltrop, 1.4. Haltern, 2.4. Gladbeck, 21.4. Herne, 25.4. Hagen. Gesamtprogramm: www.frankgoosen.de

Frank Goosen: „THE BEATLES“. KiWi Musikbibliothek (Kiepenheuer & Witsch). 182 Seiten. 12 €.




Ein riesiger Teddy als Lockmittel – „Sommer bei Nacht“, Jan Costin Wagners Krimi um Kindesentführungen

Die Mutter hat ihren fünfjährigen Sohn auf dem Flohmarkt in einer Grundschule nur für ein paar Minuten aus den Augen gelassen, da ist er schon spurlos verschwunden.

Zeugen wollen gesehen haben, dass er einen großen Teddy in den Armen hielt und mit einem Mann weggegangen ist. Aber mehr bringen weder die Mutter, die voller Angst mit der Suche beginnt, als auch die gleich eingeschaltete Polizei zunächst nicht in Erfahrung.

Der Leser ist da den Mitwirkenden schon ein Stück voraus, lernt er den Kindesentführer doch schon gleich am Anfang des Buches kennen. Jan Costin Wagner erzählt die Tat nämlich zunächst aus der Perspektive des Kidnappers. Der Spannung tut das keinen Abbruch. Im Gegenteil. Denn was dieser Mann nun wirklich mit seinem Opfer vorhat und um welchen Typ von Täter es sich hier handelt, das sind Fragen, auf die es erst nach und nach Antworten gibt.

Geschickt schafft es Autor, den Eindruck zu erwecken, dass es nicht lange brauchen werde, um den Täter hinter Schloss und Riegel zu bringen. Denn beispielsweise stößt die Polizei recht bald auf zwei ähnlich gelagerte Fälle. Das eine Mal verschwand ein Flüchtlingsjunge aus Eritrea, das andere Mal blieb es zum Glück nur beim Versuch, ein Kind zum Mitgehen zu überreden. Als Lockmittel diente stets ein riesiger Teddy, sodass die Polizei hofft, über die Verkäufer solcher außergewöhnlichen Stofftiere weiterzukommen.

Spannung durch ständige Perspektivenwechsel

Doch ein schneller Fahndungserfolg bleibt aus. Stattdessen leiden die Familien der Opfer nicht nur unter dem Verlust ihrer Kinder, was schon schlimm genug ist, sie haben auch das Gefühl, versagt zu haben. Darüber kommt es in der Ehe der Eltern von Jannis, des Entführungsopfers auf dem Flohmarkt, fast zum Zerwürfnis.

Das Bild, das der Autor von den beiden ermittelnden Kommissaren Ben Neven und Christian Sandner zeichnet, ist sehr kontrastreich. So sehr sie auch mit großer Akribie recherchieren und um Aufklärung bemüht sind, ebenso stark scheinen sie auch mit privaten Problemen behaftet zu sein, die ihren Blick auf die Ereignisse auch trüben könnten. Mit Szenen aus dem Intimleben von Neven nährt der Verfasser zudem einen Verdacht, der, wenn er sich bewahrheiten sollte, der gesamten Handlung noch eine ganze neue Wendung geben könnte.

Überraschende Momente sind es ohnehin, die den Verlauf des Krimis prägen. Ohne zu viel zu verraten, lässt sich festhalten, dass der Kidnapper, den man als Hauptverantwortlichen ansieht, später noch einmal in einem anderen Licht erscheint. Zudem setzt der Autor sehr wirkungsvoll Spannungselemente ein, um die Leser im Unklaren zu lassen, ob die Eltern ihre Kinder je lebend wiedersehen werden.

Weil Jan Costin Wagner das Geschehen nicht an einem Stück erzählt, sondern immer wieder die Perspektive wechselt und aus Sicht der einzelnen Charaktere schreibt, bleibt die Frage nach dem Ausgang offen – bis zum Schluss.

Jan Costin Wagner: „Sommer bei Nacht“. Galiani Berlin, 320 Seiten, 20 Euro.




Dortmunds „Stadtbeschreiberin“ Judith Kuckart: Heftige Kindheit im Schatten der Hörder Hochöfen

„Stadtbeschreiberin“ Judith Kuckart, deren letzter Roman von 2019 sinnigerweise „Kein Sturm, nur Wetter“ heißt. (Aufnahme vom März 2019 in Berlin: © Burkhard Peter)

Dortmunds erste Stadtbeschreiberin Judith Kuckart hat sich heute im Literaturhaus am Neuen Graben 78 vorgestellt. Ihren Lebensmittelpunkt hat die renommierte Autorin seit etlichen Jahren in Berlin, doch kann sie auf Dortmunder Erinnerungen zurückgreifen. Genauer: auf Kindheitserinnerungen aus dem Stadtteil Hörde, wo es, wie sie sagt, damals ziemlich heftig zugegangen ist.

Irgendwann liefen dort ziemlich viele 15- oder 16-jährige Mädchen herum, die bereits schwanger waren. Da beschloss ihre Familie denn doch, dass diese Gegend nicht ganz das Richtige für Judith sei – und zog wieder zurück in ihre betulichere Geburtsstadt Schwelm.

Ohne Sattel auf dem Fahrrad

Zuvor hatte Judith Kuckart ein paar gleichsam typische Ruhrgebiets-Kindheitsjahre im Malocherviertel erlebt. „Ich habe in Hörde Fahrradfahren gelernt – ohne Sattel.“ Auch habe sie damals tagtäglich aus der Nähe gesehen, wie kompliziert es zwischen Männern und Frauen zugeht. Gar nicht zu vergessen das Milieu der knochenharten Arbeitswelt: Ein Onkel habe am Hochofen gearbeitet und sei schon mit 40 Jahren gestorben.

Die damalige Wohnadresse: Am Winterberg 72 a. Die Straße lag im Schatten der gewaltigen Hoesch-Hochöfen, heute erstreckt sich auf dem früheren Werksgelände der Phoenixsee. Vor zwei Jahren, als ein Bundeskongress der Schriftstellervereinigung P.E.N. sie wieder einmal nach Dortmund führte, hat Judith Kuckart (Jahrgang 1959) in Hörde eine Cousine besucht, die sich mit der Gentrifizierung rund um den künstlichen See so gar nicht abfinden mag.

Niemand sitzt mehr auf den Stufen

Jedenfalls stellten beide fest, dass in diesen Straßenzügen – ganz anders als früher – niemand draußen auf den Stufen saß, um nachbarschaftlich zu plaudern. Es ist eine dieser Beobachtungen, aus denen schließlich Literatur erwachsen kann. Judith Kuckart fragt sich, ob es heute Berührungspunkte zwischen Alteingesessenen und Zugezogenen gebe. Oder liegt hier eine eklatante gesellschaftliche Spaltung vor? Kuckart wird versuchen, es herauszufinden, mit ihren Mitteln. Einsam Spaziergänge um den Phoenixsee seien ihre Sache nicht, sie wolle mit vielen Menschen reden.

Derlei sinnfällige Veränderungen eines Stadtteils, so Kuckart, könnten ein Ansatzpunkt für ihre Stadtbeschreiberinnen-Arbeit in Dortmund sein, die im Mai beginnen und bis Oktober dauern wird. Schon vor ihrer Bewerbung ums Dortmunder Stipendium hat sie fürs Romanprojekt „Die Unsichtbaren“ eine Figur entwickelt, die aus Dortmund-Hörde stammt. Auch hierzu dürften sich weitere Recherchen anlagern. Sprich: Die Kindheit und ihre Schauplätze sind keineswegs vergessen, da regt sich immer noch einiges im Gemüt. Mehr noch: Als die Presseleute nicht allesamt Ralf Rothmanns Ruhrgebiets-Roman „Milch und Kohle“ (2000) kennen, ruft sie aus: „Na, ihr seid mir ja schöne Dortmunder!“

Interessanter als Heidelberg

Und überhaupt. Sie bewerbe sich eigentlich nicht mehr um Stadtschreiber-Ämter, in diesem Falle aber habe sie es getan, „w e i l es um Dortmund geht. Heidelberg hätte mich zum Beispiel nicht so interessiert.“ Obwohl sie dort schon gearbeitet hat – als Mitglied der Tanzcompagnie von Johann Kresnik. Tanz und Choreographie waren nämlich ihr ursprüngliches Metier, bevor sie immer mehr zum Schreiben kam. Also kennt sie sich auch mit Bühnenpraxis aus, was in ihrer Dortmunder Zeit durchaus eine Rolle spielen könnte. An einer Stelle fällt das Wort Erzähltheater. Bürgerinnen und Bürger sollen dabei mitmachen. Hört sich schon mal vielversprechend an.

Ein Satz, der Schülern gefallen dürfte

Damit nicht genug der medialen Auffächerung. Kuckart denkt auch schon an ein visuell angereichertes Dortmunder Tagebuch, das eventuell im Internet erscheinen könnte. Und sie kann sich gut vorstellen, hie und da in Schulen am Unterricht mitzuwirken. In Hamburg hat sie mal mit Achtklässlern einen „Schulhausroman“ erarbeitet, in dem ein verschwundener Lehrer gesucht wurde. Mit einer Aussage, die offensichtlich von Herzen kommt, dürfte Judith Kuckart manche Schüler rasch auf ihre Seite bringen: „Warum müssen Kinder im Achtklässler-Alter überhaupt zur Schule gehen? Furchtbar!“

Um die Dortmunder Gretchenfrage aufzuwerfen und flugs zu beantworten: Ja, Judith Kuckart kennt sich auch mit Fußball aus. Das erwähnte P.E.N.-Treffen nutzte sie seinerzeit auch, um den BVB gegen den 1. FC Köln spielen zu sehen. Einschlägige Texte gehören hin und wieder ebenso zu ihrem Repertoire wie auch schon mal eine Lesung im Stadion.

Bestimmt nicht wegen des Geldes beworben

Die Dotierung des Stipendiums beläuft sich monatlich auf 1800 Euro. Dazu befragt, erklärt Judith Kuckart sehr glaubhaft, sie habe sich gewiss nicht wegen des Geldes beworben. Sie wird sich auch nicht in einem schicken Viertel ansiedeln, sondern höchstwahrscheinlich eine (seit jeher schwarzgelb dekorierte) Schreibwohnung in der bundesweit bekannt-berüchtigten Dortmunder Nordstadt beziehen. „Heftige“ Zustände kennt sie ja von damals aus Hörde.

Dortmunds Stadtdirektor Jörg Stüdemann (Kulturdezernent und Kämmerer in Personalunion) versichert, mit 1800 Euro bewege man sich finanziell im „oberen Drittel“ vergleichbarer Stipendien. Man habe sich in dieser Angelegenheit von Autoren und anderen Kennern des Literaturbetriebs eingehend beraten lassen.

Keinen Auftrag zu erfüllen

Stüdemann betont außerdem, dass – anders als bei vielen sonstigen Stadtschreiber-Posten – der Preisträgerin nichts Konkretes abgefordert werde. Sie habe keinen Auftrag zu erfüllen, sondern könne sich nach Belieben in der Stadt umsehen. Die ungewöhnliche Bezeichnung Stadtbeschreiberin lässt (im Vergleich zur Stadtschreiberin) ja schon ahnen, dass es hier nicht um Dienstbarkeiten für die Kommune geht, sondern ums Wahrnehmen und Aufzeichnen.

Judith Kuckart macht deutlich, dass es ihr nicht um „Meinungen“ über Dortmunder Verhältnisse zu tun sei, auch nicht um investigative Nachforschungen („Das kann ich gar nicht“), sondern just um möglichst genaue Beobachtungen und hernach ums Erzählen. Nur dann könne Verborgenes sichtbar gemacht werden. Und nun lasst uns mal ganz wohlwollend abwarten, wie die angenehm unprätentiöse Schriftstellerin ihre Vorhaben umsetzen wird.




It’s done! Der „Brexit“ ist da. Und jetzt?

So sieht’s (immer noch) aus, wenn man auf die Felsen von Dover zukommt. (Foto: Bernd Berke)

Ich mach’s jetzt kurz, weil sich das alles soooooo elend lange und windungsreich hingezogen hat. Sozusagen ein kurzer Brief zum langen Abschied, denn der Tag ist gekommen, an dem – finally! – der allweil beschworene „Brexit“ sein schauriges Haupt erhebt und überhaupt erst konkretere Gestalt annimmt.

Morgen sind „sie“ also draußen. Oder, wie manche Engländer es gerne umgekehrt betrachten: Dann sind wir alle draußen; wir auf dem nicht allzu bedeutsamen europäischen Kontinent. Froschfresser, Krautfresser und all die anderen bedauernswerten, kläglich isolierten Festland-Kreaturen in der EU.

All die dreisten Lügen

Wir wollen n i c h t noch einmal rekapitulieren, wieviel Rule-Britannia-Wahnwitz und welche turmhoch aufgestapelten, dreisten und tolldrastischen Lügen erforderlich waren, um es so weit zu bringen. Auch die (nicht) gehandelt habenden Personen nennen wir nicht abermals. Ihr wisst ja eh Bescheid. Und die wirtschaftlichen Folgen? Wir und jene da drüben auf der Insel werden schon sehen, was wir davon haben… Manche meinen, es werde gar nicht so schlimm kommen. Wait and see.

Very British, indeed: Impression aus Canterbury. (Foto: Bernd Berke)

Wir wollen allerdings doch noch einmal innehalten und die spezielle Sehnsucht in unseren Herzen bewegen, die einen erfasst, wenn man etwa per Schiff auf Englands südöstliche Küste zufährt und die Felsen von Dover erblickt. Ähnliche, wenn auch keineswegs gleiche Gefühle können einen freilich auch bei der Anreise nach Irland oder Schottland beschleichen.

Coming home

Paradox genug: Die Ankunft in England ist, so exzentrisch dann auch manches Folgende anmuten mag, eine Art Heimkommen. Ein seltsames Heimkommen in ein ganz anderes, fremdvertrautes Land, das letztlich doch wirklich recht weit vom Kontinent entfernt liegt; viel weiter, als Seemeilen oder sonstige Maße es ausdrücken können. Fast möchte man es begrüßen, dass diese Art von Fremdheit, von Andersheit nun wohl erhalten bleibt und womöglich sogar wieder anwächst. Andererseits… Nothing is easy.

Ein Trost bleibt uns, bei allem möglichen Trennungs-Phantomschmerz. Die Briten schwimmen uns ja – in absehbarer Zeit – nicht weg. Und dabei reden wir an diesem historischen Tag ausnahmsweise mal nicht vom Klima und vom Anstieg des Meeresspiegels. Ab morgen oder übermorgen dann wieder. Jaja, beizeiten auch über Corona. Und sogar über Hochkultur.

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P.S.: Stimmt. Das Beste am ganzen Brexit-Prozedere waren eh John Bercows „Oooooorder!“-Rufe im Unterhaus.

P.P.S.: Genau. Am 31. Januar schließt sich auch das winterliche Transferfenster der Fußball-Bundesliga. Mal gucken, wen „uns“ die finanziell übermächtigen englischen Clubs wieder weggekauft haben. Achtung, durch die Haarnadelkurve geht’s doch noch ins Ruhrgebiet: Kloppo wird doch nicht etwa beim BVB gewildert haben wollen?




Jonathan Franzen: Der Kampf ums Klima ist bereits verloren

Beim Weltwirtschaftsforums in Davos hatte jeder seine eigene Wahrheit. Während Klima-Aktivistin Greta Thunberg davon sprach, dass die Welt in Flammen stehe und sie eine sofortige, radikale Reduktion aller Emissionen anmahnte, verbreite US-Präsident Donald Trump heiteren Optimismus, lobte seine eigene Politik und wies die Propheten des Untergangs aufs Schärfste zurück. Schade, dass der Schriftsteller und Vogelkundler Jonathan Franzen nicht nach Davos eingeladen war.

Der Autor, der seit dem Erfolg von „Die Korrekturen“ in der ersten Liga der Weltliteratur spielt, hat sich immer wieder in die Umwelt-, Klima- und Artenschutz-Debatte eingemischt: Sein Essay „Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?“ hat erhebliche Sprengkraft.

Franzen möchte, dass wir der schmerzlichen Wahrheit ins Auge sehen: Das Spiel ist aus, wir haben den „Point of No Return“ erreicht, wir werden den Klimawandel nicht mehr verhindern. Auch wenn sich die Politiker noch heute aufraffen, die Emissionen mit sofortiger Wirkung radikal zu reduzieren und die Weltwirtschaft umzubauen: Es ist zu spät. Bis nachhaltige Effekte eintreten, würde es Jahre dauern, die wir nicht mehr haben.

Die Katastrophe wird kommen und wird fürchterlich sein: Dürre, Brände, Hunger, gigantische Flüchtlingsströme, gegen die alles bisherige nur ein harmloses Vorspiel war. Trump und alle Klimaleugner oder „Umweltsünder“ tun Franzen nur noch leid. Genauso alle Klima-Aktivisten, die ihre Kraft verschleudern und ihre Hoffnungen auf unrealistische Ziele richten, um dann in zehn Jahren, wenn immer noch nichts Grundlegendes passiert ist, zu resignieren.

Möglichst lange hinauszögern und halbwegs erträglich machen

Franzen aber will – trotz allem – Hoffnung verbreiten, er möchte, und das ist seine eigentliche Botschaft, dass Klimaaktivisten und Umweltschützer ihr Handeln darauf richten, das Inferno möglichst lange hinauszuzögern, es erträglich zu machen, sich auch wieder anderen, erreichbaren Themen zuwenden: dem Artenschutz, der Aufforstung, dem Umweltprojekt vor der Haustür, das man überschauen und begleiten kann, das die Gemeinschaft und letztlich die Demokratie stärkt.

Im Sommer 2019 war Franzen, der als junger Autor eine Zeitlang in Berlin gelebt hat, wieder in der Gegend, um in Ruhe zu schreiben, Vögel zu beobachten, in den Wäldern nach seltenen Wildtieren Ausschau zu halten. Es war heiß und trocken, und bei einer Radtour von Berlin nach Jüterbog ist er mitten ins Feuer-Inferno geraten, das plötzlich vor ihm ausbrach und dann tagelang in den Wäldern wütete. Franzen hat direkt vor Ort miterlebt, wie schnell sich die Feuerwalze ausbreitete, wie wehrlos die Feuerwehr den Naturkräften gegenüberstand und das Feuer nicht löschen, sondern nur begleiten, abwarten und auf Regen hoffen konnte.

Brände um Jüterbog stehen für die globale Katastrophe

Die Brände um Jüterbog sind für Franzen eine Metapher für die unaufhaltbare Katastrophe auf dem ganzen Planeten. Sie waren auch der Anlass, um für den „New Yorker“ den jetzt in deutscher Übersetzung vorliegenden Essay zu schreiben, der dem Autor einen gigantischen Shit-Storm eingebracht hat: vor allem von Klimaaktivisten. Denn es regt sie auf, dass Franzen behauptet, die Klimakatastrophe sei nicht mehr aufzuhalten, es nütze nichts, jeden Tag in einer liberal-demokratischen Zeitung zu betonen, man müsse jetzt die Ärmel aufzukrempeln und anpacken, damit wir in zehn Jahre Zeit die Klimaziele erreichen.

Nein, wir haben keine Zeit mehr, sagt Franzen, die Uhr ist abgelaufen, alle Warnungen und Prognosen, die der Club Of Rome im Buch über die „Grenzen des Wachstums“ schon vor über 45 Jahren formuliert hat, sind eingetroffen.

Die große Wut der Aktivisten 

Es nervt die Klimaaktivisten, wenn Franzen darauf hinweist, dass selbst bei Erreichen einiger Klimaziele, z. B. der Begrenzung auf zwei Grad Erwärmung, die Katastrophe laut Klimaforschern allenfalls „theoretisch“ noch abzuwenden ist, aber „praktisch“ eher nicht. Wenn Franzen einzelnen Klima- und Umwelt-Projekten attestiert, kompletter Blödsinn zu sein, Geld und Ressourcen zu verschwenden (wie bei der Bio-Dieselverordnung der EU, die zur Entwaldung von Indonesien zugunsten von öden Palmöl-Plantagen geführt hat), rasten sie aus. Es ist wunderbar, New York in ein grünes Utopia zu verwandeln, aber was nützt es, wenn die Texaner weiterhin Öl fördern und Pick-ups fahren?

Franzens Fazit: Wir sollten uns nicht länger belügen, sondern die bittere Wahrheit akzeptieren. Jeder muss für sich eine Entscheidung treffen: Was kann ich tun, um durch Konsumverhalten, Energieverbrauch usw. die Katastrophe ein wenig hinauszuzögern, das Überleben ein bisschen erträglicher zu machen.

Stärkung der Demokratie dringend nötig

Weil Katastrophen einher gehen mit brutaler Waffengewalt und Auflösung aller staatlichen und rechtlichen Verbindlichkeiten, ist für Franzen die Stärkung der Demokratie das oberste Ziel: Überall faire Wahlen garantieren, Vermögensunterschiede abschaffen, Hassmaschinen abschalten, Gleichberechtigung aller Rassen und Geschlechter herstellen, Pressefreiheit, humane Einwanderungspolitik, Respekt vor den Gesetzen: all das ist gesellschaftliche Klimapolitik, nur so können wir die Katastrophe meistern und abfedern – und nur dann hätte Franzen die „Hoffnung, dass die Zukunft, selbst wenn sie zweifellos schlechter sein wird als die Gegenwart, in mancher Hinsicht auch besser sein könnte.“

Jonathan Franzen: „Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen? –Gestehen wir uns ein, dass wir die Klimakatastrophe nicht verhindern können.“ Ein Essay. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. Mit einem Interview von Wieland Freund. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 2020. 64 Seiten, 8 Euro.

 




Nächster Schwund im Dortmunder Buchhandel: Mayersche soll offenbar auf ein Drittel der bisherigen Größe schrumpfen

Schon Vergangenheit: Die Mayersche BUchhandlung (rechts), noch in einem Bau mit dem Modehändler Esprit – und links gegenüber das Schuhhaus Roland, wo die Mayersche bald einziehen will. (Foto/Aufnahme aus dem NOvember 2016): Bernd Berke)

Dortmunds Westenhellweg: Die Mayersche Buchhandlung (rechts), damals noch in einem Gebäudekomplex mit dem Modehändler Esprit – und links gegenüber das Schuhhaus Roland, wo die Mayersche wohl gegen Ende 2020 einziehen wird. (Foto, November 2016: Bernd Berke)

Nein, ich mag mir das gar nicht vorstellen: Es käme Besuch von außerhalb, noch dazu (was wahrscheinlich wäre) aus einem lesefreudigen Milieu – und dieser Besuch erkundigte sich angelegentlich nach den besten Buchhandlungen in der Dortmunder Innenstadt. Es wäre peinlich…

Früher einmal wäre das kein großes Problem gewesen. Da gab es noch die vermeintlich machtvolle, am Ort unangefochtene Buchhandlung Krüger, in der es zu bestimmten Zeiten richtig „brummte“ und wo man auch ordentlich beraten wurde. Auch gab es zuvor noch die achtbare Buchhandlung Borgmann, zudem konnte man Niehörster, Schwalvenberg und ein paar andere aufsuchen. Jaja, ich weiß, früher hatten wir auch viel mehr Kinos in der Stadt. Umso schlimmer. Und traurig ist es allemal, wenn wieder etwas schwindet.

Nun sind da – im Innenstadtbereich – nur noch die Mayersche Buchhandlung und Thalia, die Filialen zweier Ketten, welche mittlerweile auch noch miteinander fusioniert haben. Beide häufen turmhoch die üblichen Bestseller und jede Menge Angebotsware auf, außerdem etlichen Spielkram und Merchandising-Plunder, der mit Büchern und Lesekultur allenfalls noch entfernt zu tun hat – wenn überhaupt. Thalia hat sich vor einiger Zeit in der überdimensionierten Mall „Thier-Galerie“ eingerichtet. Wahrlich kein anheimelnder Platz für passionierte Leser(innen).

Wenige Oasen für Lesende in Vororten

Bald erfolgt wohl der nächste Schritt abwärts. Wie die Ruhrnachrichten (RN) heute im Dortmunder Lokalteil vermelden, wird gegen Ende des Jahres das Schuhhaus Roland schließen. Die bisher direkt gegenüber befindliche Mayersche soll dann offenbar ins ehemalige Schuhgeschäft einziehen und damit eine Immobilie verlassen, aus der zuvor schon der Modehändler Esprit ausgezogen ist. Somit täte sich an dieser Stelle ein größerer Leerstand auf.

Eine höchst betrübliche Nachricht verstecken die RN allerdings schamhaft weit hinten im Artikel, sie steht auch nicht in der Überschrift: Die Mayersche Buchhandlung würde damit von 4500 Quadratmetern auf rund 1500 Quadratmeter schrumpfen – auf ein Drittel der bisherigen Größe also! Es wäre ungeheuerlich. Eine Stadt mit rund 600.000 Einwohnern hätte sicherlich Besseres verdient. Das Schuhhaus gibt übrigens auf, weil die Konkurrenz im Internet übermächtig geworden sei. Ähnliche Gründe ließen sich wahrscheinlich auch für den Buchhandel anführen. Und es ist nicht zu erwarten, dass etwa Amazon in die erwähnte Leerstands-Immobilie Einzug hält…

Im einen oder anderen Vorort halten noch ein paar wenige Buchläden tapfer gegen den misslichen Trend, doch das sind liebenswerte Nischen, mehr wohl nicht. Mögen wenigstens sie eine Heimstatt für Lesende bleiben.




Er war eine Stimme der Sprachlosen – zum Tod des Dortmunder Schriftstellers Josef Reding

Unser Gastautor, der in Kamen lebende Erzähler, Lyriker und Maler Gerd Puls, würdigt den Dortmunder Schriftsteller Josef Reding, der am vergangenen Freitag mit 90 Jahren gestorben ist. Bei diesem Beitrag handelt sich um Auszüge des Nachworts zu einem Reding-Lesebuch, das Gerd Puls herausgegeben hat. Wir veröffentlichen den (stark gekürzten) Text, der hier erstmals zu Redings 90. Geburtstag erschienen ist, mit freundlicher Genehmigung des Urhebers:

Das von Gerd Puls herausgegebene Reding-Lesebuch, aus dessen Nachwort Auszüge für diesen Beitrag stammen.

Das von Gerd Puls herausgegebene Reding-Lesebuch (2016 erschienen im Aisthesis-Verlag), aus dessen Nachwort die Auszüge für diesen Beitrag stammen.

Josef Redings Erzählband „Nennt mich nicht Nigger“ war 1957 ein bemerkenswertes, erstaunliches Buch. Auch, weil es den Blick der deutschen Leser über den eigenen Tellerrand hinaus lenkte, in diesem Fall auf die Nöte und Bedrängungen der schwarzen Bevölkerung in den USA.

Sechzig Jahre später halte ich es immer noch für bemerkenswert, weil es nach wie vor ein realistisches Werk von hohem literarisch-sozialen Wert ist, moralisch und allgemein gültig; nicht nur für die 1950er Jahre, nicht nur in der Beschreibung US-amerikanischer Zustände. Ein Buch, das Partei ergreift für Erniedrigte und Ausgegrenzte, für Schwache und Bedürftige, für Opfer und Verlierer überall auf der Welt.

Josef Redings erster Kurzgeschichtenband liefert „24 realistische Erzählungen aus USA und Mexiko, die in moderner mitreißender Sprache das Problem des leidenden, verachteten Menschen behandeln“ – so der Klappentext des im Recklinghausener Paulus-Verlag erschienenen Buches. Es waren 24 short stories in der Tradition von Herman Melville, Marc Twain, Jack London, John Steinbeck, Ernest Hemingway oder Truman Capote.

Der in Castrop-Rauxel geborene (dann in Dortmund lebende) Stipendiat Josef Reding schrieb die Kurzgeschichten in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre während seines Studiums an einer Universität im mittleren Westen der USA. Nach eigenem Bekunden hatte er es schwer, seinen Verleger zu überzeugen, das Buch, das ein großer Erfolg und Redings literarischer Durchbruch wurde, überhaupt auf den Markt zu bringen.

Als die short story in Deutschland Einzug hielt

Die ursprünglich typisch amerikanische Textsorte short story hatte in den frühen 1950er Jahren in Deutschland Einzug gehalten, und unter den deutschen Autoren war der junge Josef Reding längst nicht der einzige. Kurzgeschichten und Erzählungen von Wolfgang Borchert, Heinrich Böll, Siegfried Lenz oder Wolfdietrich Schnurre fanden in den Nachkriegsjahren rasch ein großes Publikum. Doch die jungen deutschen Autoren kamen in den Schulen nur selten vor.

Als amerikanische Besatzungssoldaten Kurzgeschichten in ihrem Gepäck nach Deutschland brachten, fand vor allem die junge Generation nach ihrer von den Nazis verratenen und missbrauchten Kindheit rasch Zugang zu dieser neuen Form. So auch der aus einer Arbeiterfamilie stammende Josef Reding, der 1945 als 16jähriger Schüler im Ruhrgebiet noch im Kriegseinsatz war und als „Wehrwolf“ in amerikanische Gefangenschaft geriet.

Sprachliche Knappheit – typisch fürs Ruhrgebiet

Über seine Haltung zur Kurzgeschichte schrieb Reding: „Mich begeisterte die Ökonomie der Kurzgeschichte, die Einfachheit, die Klarheit der Sprache. Mich faszinierte der Anspruch, dem Leser nur zwei Daten zu überlassen in der Zuversicht, dass er genug Kreativität besitzt, um selbst zum Datum drei bis neun zu kommen. Heute bin ich sicher, dass mein spontaner Aufgriff der Kurzgeschichte auch mit der Ausdrucksweise der Menschen zu tun hat, unter denen ich aufgewachsen bin: den Menschen des Ruhrgebiets. In dieser Landschaft herrscht im sprachlichen Umgang das Knappe vor, eine anziehende Sprödigkeit des Ausdrucks. Der Gesprächspartner, der Kumpel, bekommt nur weniges mitgeteilt und muß sich auf manche karge Anspielung seinen ,eigenen Reim‘ machen, muß also mitdenken, mitdichten.“

Seine Themen waren vorgegeben durch den NS-Faschismus. Seine Erfahrungen als „Kind in Uniform“ und als „Wehrwolf“ veröffentlichte er bereits in den 1940er Jahren in Schülerzeitungen.

Den Blick für die Welt ringsum öffnen

Die Titelgeschichte und die meisten anderen Texte des Bandes „Nennt mich nicht Nigger“ schrieb er als Student in den USA, wo er mit Farbigen zusammenlebte und auch engen Kontakt zur Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King hatte. Über den Titel bemerkte er 1978: „Aber es wäre ein Mißverständnis, wollte man ihn nur auf die Situation der rassischen Minderheiten in den USA beziehen. Der Titel steht auch für andere Mitmenschen, die um ihrer Rasse, um ihres politischen Bekenntnisses, ihrer Herkunft, ihrer Religion willen verfolgt werden.“

Josef Reding blieb dem Genre der Kurzgeschichte verbunden, man darf ihn darin getrost einen wahren Meister nennen. Er wusste seine Haltung auch in späteren Texten, die nicht mehr in den USA, sondern in Lateinamerika, Asien, Afrika und natürlich in Deutschland und vor allem im Ruhrgebiet spielen, immer eindringlich und ehrlich zu vermitteln.

Gleichzeitig weisen die Geschichten aus der Beschränkung der bundesrepublikanischen Wirklichkeit der frühen Nachkriegsjahre hinaus, öffnen den Blick deutscher Leser wieder neu auf die Welt ringsum und werden zu literarischen Zeugnissen für die einfache Einsicht, dass Missachtung und Unterdrückung viele Farben und Facetten hat und dass zu allen Zeiten an allen Orten „der Sprachlose des Sprechers bedarf“, wie Josef Reding es formuliert hat.

Auch ein Chronist von Flüchtlings-Schicksalen

Nach dem Aufenthalt in den USA arbeitet er 1955/56 ein Jahr freiwillig im Grenzdurchgangslager Friedland, wo er zum Chronisten der Schicksale der Flüchtlinge und Spätheimkehrer wird, danach drei Jahre in Lepragebieten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas. Später wird er Mitglied der Synode der Bistümer der Bundesrepublik.

Für sein literarisches Gesamtwerk erhielt Josef Reding zahlreiche Preise, u.a. den Rom-Preis Villa Massimo, den Annette von Droste-Hülshoff-Preis, den Preis der europäischen Autorengemeinschaft KOGGE, den Preis für die beste Kurzgeschichte und den Literaturpreis Ruhrgebiet. Dass eine Hauptschule in Holzwickede im östlichen Ruhrgebiet bereits zu Lebzeiten seinen Namen trug, sah er als Auszeichnung, gleichzeitig als Verpflichtung.

Werner Schulze-Reimpell würdigte Redings Verdienste um die Kurzgeschichte in der „Deutschen Allgemeinen Sonntagszeitung“: „Ein in unserer Gegenwartsliteratur schier vergleichsloser Meister dieser Form ist der Westfale Josef Reding. Redings Short-Stories werden gänzlich unprätentiös erzählt, ohne formale Verfremdung und aufdringliche Literarisierung, dafür mit einem hohen Maß von Authentizität, wie unmittelbar vor Ort recherchiert. Vor allem stimmen seine Menschen, ihre Sprache, ihre Art, sich zu geben und zu reagieren…“

Christliche Ethik als moralisches Fundament

Dabei dürfen spätere Erzählbände nicht unberücksichtigt bleiben. „Wer betet für Judas?“,, „Allein in Babylon“, „Papierschiffe gegen den Strom“, „Reservate des Hungers“ und „Ein Scharfmacher kommt“ lauten die Titel weiterer Bände im Bitter Verlag, in denen er für sein großes Thema immer wieder neue Schauplätze, Konstellationen und Varianten findet. So spielen viele der 25 Erzählungen der 1967 erschienenen Sammlung „Ein Scharfmacher kommt“ im Ruhrgebiet. Eindringlich, prägnant und unverwechselbar spiegelt Reding in ihnen Menschen und gesellschaftliche und politische Verhältnisse in der im Umbruch befindlichen Industrieregion.

Christliche Ethik als moralisches Fundament, dazu das Ruhrgebiet als geografische Heimat, das sind die wesentlichen Wurzeln, Fixpunkte und Richtschnüre, mit denen Redings Schreiben verknüpft ist. Die Menschen des Ruhrgebiets – genau wie die Flüchtlinge und Heimkehrer in Friedland und die Bewohner der Schwarzenviertel New Yorks, der Slums und Favelas Nairobis oder Sao Paulos – liefern die Bilder und Mosaiksteine zu Redings literarischem Werk.