Landschaft mit Goldrand: Ausstellung zelebriert „1250 Jahre Westfalen“

Der vergoldete Silberschrein des heiligen Liborius, des Paderborner Dom- und Bistumspatrons, sonst im benachbarten Diözesanmuseum beheimatet, gehört zu den prachtvollsten Schaustücken der Westfalen-Ausstellung des Museums in der Kaiserpfalz. (Foto: LWL / B. Mazhiqi)

Welcher Gedanke liegt wohl nahe, wenn eine große Ausstellung „775 – Westfalen“ heißt? Nun, dann wird der Landesteil wohl 775 Jahre alt werden? Weit, weit gefehlt: Er wird vielmehr stolze 1250 Jahre alt.

Die „775″ steht dabei für die Jahreszahl der allerersten Erwähnung des Namens in einer Urkunde, etwas genauer: in den Reichsannalen jener Zeit, verfasst am Hofe Karls des Großen. Nun ist das unschätzbar wertvolle Zeitdokument in einer frühen, aus der Pariser Nationalbibliothek geliehenen Abschrift (entstanden um 820, in einer Abtei bei Lüttich) im Paderborner LWL-Museum in der Kaiserpfalz zu sehen.

Ankerprojekt eines weit ausgreifenden Themenjahres

Wir reden vom zentralen Ankerprojekt eines ganzen Themenjahres, das der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) ausgerufen hat und das 44 größere Maßnahmen umfasst, die sich zu weit über 300 Einzelveranstaltungen verzweigen. Rund 3 Millionen Euro beträgt die gesamte Fördersumme der LWL-Kulturstiftung. An der heutigen Ausstellungseröffnung in Paderborn hat auch der Schirmherr, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, teilgenommen, u. a. flankiert vom NRW-Ministerpräsidenten Hendrik Wüst. Die Schau macht einen streckenweise hochveredelten Eindruck, mit geradezu feierlicher Illumination und zahlreich schimmernden Goldtönen. LWL-Kulturdezernentin Barbara Rüschoff-Parzinger hofft auf rund 60000 bis 80000 Ausstellungs-Besuche. Solche Zahlen wären auch finanziell hilfreich.

Von den Franken besiegt und erstmals erwähnt

Kurz zurück zur erwähnten karolingischen Urkunde. „Die“ Westfalen (also nicht der noch gar nicht definierte Landesteil, sondern die Leute) fanden nebst anderen Volksstämmen – Ostfalen und Engern – Erwähnung als durch die Franken Besiegte. Damit war der Begriff schriftlich in der Welt und konnte sich durch die Epochen realiter vielfach entfalten – etwa als Herzogtum Westfalen um 1180, mit einem klimatisch bedingten, für Getreideanbau günstigen Boom um 1200 und einem ebenfalls klimatisch eingeleiteten Niedergang im 14. Jahrhundert (Stichwort „Wüstungen“), viel später dann als Schauplatz des Westfälischen Friedens (Münster/Osnabrück) anno 1648, mit dem der Dreißigjährige Krieg endete.

Wiederum ein ganz anders geartetes Land war sodann ab 1807 das französisch regierte „Königreich Westphalen“ unter Jérôme Bonaparte, dem jüngsten Bruder Napoleons. Seinerzeit zählten übrigens weder Münster noch Dortmund hinzu, die wir heute als die westfälischen Metropolen betrachten. Westfalens Hauptstadt hieß damals Kassel. Gar manche Westfalen begrüßten die gewachsenen bürgerlichen Freiheiten unter französischer Herrschaft, doch bald regte sich Unmut, weil Napoleon westfälische „Landeskinder“ als Soldaten für seinen Russlandfeldzug rekrutieren ließ.

Die Schau endet mit den Folgen des Wiener Kongresses von 1815, mit dem die napoleonische Ära endete und Preußen die Grenzen seiner Provinz Westfalen neu und dauerhaft festlegte. Damit wurden auch bis heute prägende Grundmuster der Infrastruktur geschaffen.

Ein „Wanderweg“ durch die Lande und Zeiten

Die Ausstellung breitet ihre Schätze (etwa 500 Exponate) auf rund 1000 Quadratmetern in Form eines „Wanderweges“ durch Lande und Zeiten aus. Ein Epilog, basierend auf Umfragen unter westfälischen Bürgern der Gegenwart, zeichnet schließlich Zukunfts-Perspektiven – nicht zuletzt visualisiert mit Hilfe Künstlicher Intelligenz (KI), die heute ja nirgendwo fehlen darf.

Eine Leitfrage der gesamten Unternehmung lautet: Was macht denn eigentlich Westfalen aus? LWL-Landesdirektor Georg Lunemann ist überzeugt, dass die heutige Heimat von rund 8,3 Millionen Menschen schon immer ein gesellschaftliches „Versuchslabor“ gewesen sei. Ein Menschenschlag habe diese Landschaft geprägt, der zwar zurückhaltend und bodenständig, aber auch stets prinzipiell offen (gewesen) sei. Hier wolle man die Probleme anpacken statt sie nur zu verwalten oder zu vertagen. Nun ja, so oder ähnlich muss man es als LWL-Chef wohl sagen. Westfalen war und ist im Vergleich zum Rheinland jedenfalls ländlicher geprägt und hat auf deutlich mehr Fläche weniger Einwohner. Selbst die westfälischen Ruhrgebietsstädte entstanden auf vormals ländlichen Arealen erst spät und dafür umso rasanter.

Ein Tragaltar für den Paderborner Bischof aus dem 12. Jahrhundert, gefertigt aus Eichenholz, vergoldetem Silberblech, Steinschmuck und Perlen. (Foto: LWL / B. Mazhiqi)

Als die Region bis zur Ostsee reichte

Martin Kroker, Leiter des Paderborner Museums in der Kaiserpfalz, legt Wert auf die Feststellung, dass es keineswegs eine klare, durchgehende Linie von 775 bis 1815 oder gar bis heute gebe, was Westfalen anbelangt. Größere Eindeutigkeit entstand erst mit der preußischen Ordnung im 19. Jahrhundert, namentlich unter Ägide des Freiherrn vom Stein. Zuvor hatten die als „westfälisch“ wahrgenommenen Ländereien zeitweise bis zur Ostsee gereicht, die eingangs der Ausstellung gezeigten alten Karten sind für heutige Begriffe geradezu verwirrend.

Die jetzige Gestalt ist eben erst nach und nach entstanden. Westfalen, wie wir es kennen (oder zu kennen glauben), konkretisierte sich erst allmählich im 19. Jahrhundert, damals entstanden zahlreiche Heimatvereine, einschlägige Denkmäler wurden errichtet und das treuherzige „Westfalenlied“ (1868/69) ward komponiert. Aus all dem leitet sich die generelle Erkenntnis her, dass Westfalen – wie so vieles, ja eigentlich alles – eine dem historischem Wandel unterworfene „Konstruktion“ ist, mit der sich die Menschen dann freilich im Idealfalle identifizieren können. Und überhaupt: Was Westfalen bedeutet, wird stets von Menschen bewirkt.

Die Ausstellung sucht den schier unerschöpflichen Themenkreis vor allem mit archäologischen Funden und markanten Schriftstücken zu fassen. Der Wanderweg wird freilich auch von in Westfalen gewachsenen Pflanzen begleitet, was den Museumsleiter Martin Kroker zunächst beunruhigt hat. Pflanzen neben uralten Schriften? Und was war mit womöglich schädlichen, feuchten Ausdünstungen? Nun, die begleitende Vegetation gedeiht hier völlig ohne Wasser, sie wird aber bis zum Ende der Ausstellung u. a. mit Glycerin konserviert. Gewusst wie! Jedenfalls ist man dank Pollenanalysen heute in der Lage, die westfälische Pflanzenwelt seit der Karolingerzeit im Wesentlichen zu bestimmen.

Abendmahls-Gemälde mit westfälischem Schinken

Und so schreitet man entlang früher Waffenfunde aus kriegerischen Zeiten, bestaunt Zeugnisse der Christianisierung, die mit etlichen Klostergründungen als „Erfolgsmodell“ dargestellt wird, belegt auch durch prachtvolle Altarbilder westfälischer Provenienz. Eine Abendmahls-Darstellung enthält gar typisch westfälischen Schinken als kulinarische Dreingabe. Weitere Höhepunkte sind etwa der kostbar vergoldete Paderborner Libori-Schrein, die penibel ausgetüftelte Sitzordnung zu den Verhandlungen über den Westfälischen Frieden oder die barocke Pracht westfälischer Fürstbischöfe.

Kritische Seitenblicke bleiben nicht aus. So gab es im Gefolge der Befreiungskriege auch in Westfalen nach 1815 nicht nur romantische Verklärungen der Region, sondern auch nationalistisch gewendete Überhöhungen. Manche Westfalen verstanden und gerierten sich nun als die allerbesten und echtesten Deutschen. Da sind einem die „sentimentalen Eichen“, die Heinrich Heine in Westfalen als knorrig-liebenswerten Menschentypus erlebte und bedichtete, doch allemal lieber.

„775 – Westfalen. 1250 Jahre Westfalen“. Paderborn, Museum in der Kaiserpfalz, Am Ikenberg 1 (neben dem Dom). Vom 16. Mai 2025 bis 1. März 2026. Täglich außer montags 10-18 Uhr, jeden ersten Mittwoch im Monat 10-20 Uhr. Eintritt 11 Euro, ermäßigt 6 Euro, Kinder/Jugendliche unter 18 Jahren kostenlos. Katalogbuch (352 Seiten) 35 Euro.

 

 




Das Ungeheuer vom Harkortsee lockt die Welt ins Revier

Der Harkortsee mit Blick aufs Revierstädtchen Wetter. Bald könnten sich hier Seeungeheuer tummeln – wenn wir es nur wollten. (Foto: Bernd Berke)

Nun liegt die Fußball-EM auch schon wieder ein Weilchen hinter uns – und im Revier muss man sich wieder nach anderen touristischen Attraktionen umsehen. Es gibt leichtere Aufgaben. Doch guter Rat ist gar nicht so teuer, es gibt ihn hier sogar gratis!

Der Reihe nach. Gestern gingen meine Frau und ich an Ruhr und Harkortsee entlang, zwischen den seitwärts gelegenen, recht idyllischen Revier-Städtchen Herdecke und Wetter. Da wurde eine gemeinsame Erinnerung wach: Vor rund 20 Jahren waren wir im schönen Schottland und dort unter anderem am Loch Ness (aka Lough Ness), dem mutmaßlichen Aufenthaltsort des weltberühmten See-Ungeheuers und seiner etwaigen Nachfahren. So gut wie alle Veranstaltungen und Merchandising-Aktivitäten am Ort ranken sich um diesen Mythos und haben seit etlichen Jahrzehnten einiges Geld eingespielt. Vom glucksenden Spaßfaktor mal ganz abgesehen.

Offensichtlich eine lukrative Sache: vielsagende Hinweistafel am schottischen Loch Ness. (Foto: Bernd Berke)

Und nun aber: Warum entdeckt oder erfindet niemand – gern mit Hilfe allfälliger „Experten“ – ein solches Ungeheuer im Harkortsee, meinethalben auch im Hengstey- oder Baldeneysee? Eindrucksvolle Schummel-Bilder sind doch in Zeiten von KI fix hergestellt und in den sozialen Netzwerke rasch verbreitet. Es lebe die gekonnte Sinnestäuschung! Gängige Erkenntnis: Dinge, die nur innig genug imaginiert werden, manifestieren sich mitunter tatsächlich halbwegs handfest. Wenn es so weit ist, rufen die regionalen Medien ihr Publikum dazu auf, einen Namen für das Monster zu finden. Vorzugsweise im gefürchteten „Sommerloch“.

Dann solltet ihr mal sehen! Zuerst kämen wieder die Holländer, dann nach und nach weitere Europäer. Eine Extra-Einladung ginge an eine Delegation aus dem schottischen Distrikt rund um Loch Ness raus. Das entsprechende Pressefoto ginge flugs um die Welt. Schließlich spräche sich das Phänomen bis in die von Kamala Harris regierten USA und nach Ostasien herum. Was wäre das für ein Jubel und Trubel. Hier, bei uns.

Doch halt! Es träfen vielleicht dermaßen viele Touristen ein, dass die Ruhris alsbald einen „Über-Tourismus“ wie etwa in Venedig oder Barcelona beklagen könnten. Mh. Vielleicht sollten wir es doch lieber bleiben lassen, oder?

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P. S.: Beim Rumgoogeln habe ich doch wahrhaftig den Hinweis auf einen „Loch Ness Monsters e. V.“ in Dortmund entdeckt. Weitere Nachforschungen ergaben freilich schnell, dass dieser Verein seit einiger Zeit „dauerhaft geschlossen“ ist. Schade eigentlich.




Die einen saufen so, die anderen so – zur wiederentdeckten Studie „Betrunkenes Betragen“

Wiederveröffentlichungen nach Jahrzehnten sind in der Belletristik nichts Ungewöhnliches, wohl aber im Sachbuchbereich. „Betrunkenes Betragen“ (Originaltitel „Drunken Comportment“) ist ein solch seltener Fall.

Die ethnologische Studie über den Umgang mit Alkohol bei den verschiedensten Völkern und Gruppierungen, verfasst von den kalifornischen Anthropologen Craig MacAndrew und Robert B. Edgerton, ist bereits 1969 erschienen. Der deutsche Schriftsteller und Psychiater Jakob Hein hat sie nun als wichtige Wiederentdeckung erneut herausgebracht und übersetzt. Vorworte zur alten und zur neuen Ausgabe markieren den historischen Abstand. Das Wort „Betragen“ mutet etwas antiquiert an und dürfte hierzulande vielen Leuten zuletzt auf Schulzeugnissen der 1960er Jahre begegnen sein. Es wird ganz bewusst abgegrenzt vom eher flüchtigen „Verhalten“ („behavior“).

Bis in die hintersten Winkel der Erde

Natürlich trägt ein 55 Jahre altes Buch Signaturen seiner Zeit und muss streckenweise auch „gegen den Strich“ gelesen werden. Das heißt aber keineswegs, dass die damals publizierten Erkenntnisse Makulatur sind. MacAndrew und Edgerton arbeiteten sich mit zahlreichen Beispielen aus aller Welt an der seinerzeit wie heute allgemein bedenkenlos geglaubten Hypothese ab, dass Alkohol eben immer und überall gleichermaßen enthemmend wirke. Die von ihnen emsig gesammelten und zitierten Aufzeichnungen von Ethnologen und sonstigen Beobachtern (bis in jene Zeiten praktisch ausschließlich Männer), die seit den Tagen der großen Entdeckungen in aller (entlegenen) Welt unterwegs waren, lassen freilich andere Schlüsse zu. Demnach gibt es äußerst vielfältige Formen der Trunkenheit, die letztlich auch unseren Umgang mit geistigen Getränken betreffen. Vielleicht hätten wir ja theoretisch mehr Wahlfreiheit, als uns bewusst ist?

Die wechselhaften Verhältnisse werden sozusagen bis in die hintersten Winkel der Erde ausgeleuchtet – von Süd- und Mittelamerika über afrikanische Regionen und Ostasien bis hin zu den indigenen Völkern auf dem Gebiet der heutigen USA. Tagelang ungemein ausschweifende Trinkfeste, so entnehmen wir einer Vielzahl von Augenzeugenberichten, hat es bei den allermeisten Gruppierungen gegeben – nicht erst seit dem fatalen Auftauchen europäischer Kolonisatoren, sondern schon zuvor: mit selbstgebrannten Substanzen von mancherlei Art und zuweilen höchstprozentiger Wirksamkeit.

Mörderische Orgien oder freundliches Beisammensein

Manche alkoholisierte Zusammenkunft artete wohl zu unvorstellbaren Orgien mit Mord und Totschlag aus, man liest hier Schilderungen von grauenhafter Bestialität, angesichts derer einem selbst das Oktoberfest, der Rosenmontag und dergleichen hiesige Besäufnisse wie überaus gemilderte Varianten erscheinen mögen. Oft wurde zunächst zugestochen oder gemeuchelt und erst dann eilends gezielt gesoffen, um eine vermeintliche triftige „Entschuldigung“ zu haben, die in etlichen Gesellschaften tatsächlich anerkannt wurde. Auch in der neueren Rechtsprechung haben sich Spuren davon erhalten. Doch das ist eine Entwicklung späterer Zeiten.

Vor allem dort jedoch, wo der Trunk von tradierten Ritualen eingefasst war, gab es (trotz vergleichbarer Unmengen alkoholischer Getränke) zumeist ein friedliches, freundliches und fröhliches Beisammensein, allenfalls mit Spott und Neckerei gewürzt. Etliche Völker aller Himmelsrichtungen verordneten sich seit jeher selbst „Auszeiten“, bei denen alle denkbaren (sexuellen) Norm-Übertretungen möglich, wenn nicht erwünscht waren. Selbst Kinder und Jugendliche waren wenigstens indirekt beteiligt. Männer wie Frauen duldeten es klaglos, wenn ihre Partner gleich neben ihnen anderweitig aktiv wurden oder „in die Büsche“ gingen, wie es hier mehrfach heißt. Einzig und allein das Inzest-Tabu hatte weiterhin Geltung. Hernach lebten sie wieder so kontrolliert, zivilisiert oder gar streng und freudlos „puritanisch“ wie zuvor; ganz so, als sei nichts geschehen.

Die Eroberer mit dem „Feuerwasser“

Sobald allerdings die (herrschaftlichen und kommerziellen) Interessen europäischer Eroberer sich Bahn brachen und Eingeborene mit „Feuerwasser“ traktiert wurden, lösten sich die wohltätig einhegenden und begrenzenden Bindungen auf. Nur mal nebenbei: Schiffsbesatzungen, die etwa im 18. Jahrhundert in Tahiti eintrafen, bekamen rund 4,5 Liter pro Tag und Mann an Bier, sie waren permanent beduselt. Gleichfalls bemerkenswert: Viele indigene Menschen wehrten sich anfangs vehement gegen den teuflischen Alkohol der Europäer, der für sie mit bösen Geistern zu tun hatte. Sie wurden aber nach und nach daran gewöhnt und gierten irgendwann danach.

Faszinierend die ungeheure Vielfalt der ursprünglichen Gesellschaftsentwürfe, die hier sichtbar wird. So wird etwa eine Ethnie geschildert, die ihre Babys vergöttert, die Kinder ab 5 Jahren aber total vernachlässigt. Andere wiederum sind nüchtern aggressiv und werden unter Alkoholeinfluss verträglich. Oder eben umgekehrt. Fast alles ist kulturell und situativ bedingt, stets zeigt sich, was die Menschen an Beispielen erlernt haben. Es geht eben nicht um Alkohol „an sich“, sondern um seine Wirkungen im gesellschaftlichen Kontext und Gefüge. Ethnologische Forschungen, auch das lernt man bei der Lektüre, sind eine aufregende Materie – bestimmt nicht nur, wenn sie sich um Suff und Sex drehen.

Craig MacAndrew / Robert B. Edgerton: „Betrunkenes Betragen. Eine ethnologische Weltreise“. Wiederentdeckt und übersetzt von Jakob Hein. Galiani Berlin. 296 Seiten. 24 Euro.

 




„Ich will leer sein, einfach leer“ – Jon Fosses Literatur als Gottesdienst

Gott benötigte sieben Tage, um Licht in die Dunkelheit zu bringen und die Welt zu erschaffen. Der norwegische Autor Jon Fosse braucht 1200 Buchseiten, um die Gnade Gottes zu erlangen, die düstere Welt eines von Schmerz und Leid gepeinigten Künstlers zu erhellen und ihm Erlösung zu schenken.

In Fosses „Heptalogie“, einem auf drei Bücher  angelegten Roman-Zyklus, dreht sich alles um Werden und Vergehen, Leben und Tod des Malers Asle. Er ist Anfang sechzig, trägt, wie der Literaturnobelpreisträger, einen grauen Pferdeschwanz, und ist, wie Jon Fosse, zum Katholizismus konvertiert. Asle ist nicht nur das verfremdete Alter Ego des Autos, er hat auch selbst noch einen Doppelgänger gleichen Namens, der die dunkle Seite künstlerischer Kreativität und Selbstzerstörung verkörpert, dem Suff verfallen ist und in der Gosse landet. Der von Gott beseelte Asle findet den verwahrlosten Kollegen leblos in der Kälte.

Die „glücklichsten Stunden als Schriftsteller“, sagte Fosse in seiner Nobelpreis-Rede, habe er erlebt, „als der eine Asle den anderen Asle im Schnee findet und ihm so das Leben rettet.“ Überhaupt „habe ich schon immer gewusst, dass Dichtung Leben retten kann, vielleicht hat sie auch mir das Leben gerettet“, meinte Fosse und beendete seine Rede mit dem Bekenntnis: „Ich danke Gott.“

Die „Heptalogie“ ist der Versuch, „das Unsagbare herbeizuschreiben“, die „Stille“ zu beschwören, in der man „Gottes Stimme hören“ kann. Nach „Der andere Name“ und „Ich ist ein anderer“ nun also das Finale: „Ein neuer Name“. Doch es geschieht nichts Neues. Immer wieder sitzt Asle im Lieblingsstuhl seiner verstorbenen Ehefrau Alse, blickt über den Fjord, erinnert sich an wichtige Wegmarken und prägende Begegnungen in seinem Leben. Immer wieder fährt er über vereiste Straßen zu seinem Galeristen in die Stadt. Er  bringt ihm seine letzten Bilder. Denn Asle ist leer gemalt und wartet auf Erlösung.

Jedes Kapitel der „Heptalogie“ beginnt mit fast den gleichen Sätzen: „Und ich sehe mich dastehen und das Bild mit den Strichen anschauen, einer ist lila, einer braun, sie kreuzen sich in der Mitte.“ Sie bilden das Andreaskreuz, weisen auf Gott, wie alles im Denken und Handeln des Malers Asle und seines Erfinders Fosse: „Ich sehne mich nur noch nach Stille, alle meine Gedanken sollen weg sein, und alle in meinen Erinnerungen angehäuften Bilder, die mich so plagen, sollen weg sein und ich will leer sein, einfach leer, ich will zu einem stillen Nichts werden, zu einem stillen Dunkel und vielleicht denke ich dabei ja an Gottes Frieden“, denkt Asle und betet den Rosenkranz, während seine Gedanken sich in einem endlosen Strom auflösen, sich überlagern und jedes Zeitgefühl verschwinden lassen.

Wie die Vorgänger, so ist auch „Ein neuer Name“ ein Rebellion gegen die Hektik der Moderne, eine Meditation über den Glauben und die Kunst als Gottes Gnadengeschenk. Jedes Kapitel der mit vielen Kommas, aber ohne jeden Punkt dahingleitenden Roman-Folge endet mit einem „Vaterunser“: „…dann sage ich immer und immer wieder, während ich tief einatme Herr und während ich langsam ausatme Jesus und während ich tief einatme Christus und während ich langsam ausatme Erbarme dich und während ich tief einatme Meiner“.

Alles wiederholt sich endlos in dieser vom mittelalterlichen Meister Eckhart inspirierten Reflexion über Glaube, Liebe, Hoffnung und die Allgegenwart Gottes. Nachdem er mit einem alten Fischerboot über den Fjord zu einer Insel übergesetzt hat, darf Asle endlich ein Leuchten in der Dunkelheit erblicken und dem Tod begegnen: „…und ich denke, ich, das, was in mir ich ist, kann niemals sterben, denn es ist nie geboren“.

Da geht es Asle wie dem namenlosen alten Mann, der – ohne zu wissen, warum – in sein Auto steigt, losfährt, irgendwann in einen tiefen dunklen Wald einbiegt und sich festfährt, dort stundenlang im Schneetreiben umherirrt und schließlich „Ein Leuchten“ findet: Gemeinsam mit den halluzinierten Visionen seiner toten Eltern geht er „barfuß hinaus ins Nichts, Atemzug um Atemzug, und plötzlich gibt es keinen einzigen Atemzug mehr, nur noch die glänzende, schimmernde Gestalt, die in einem atmenden Nichts leuchtet, das jetzt wir atmen, von ihrem Leuchten.“ Die kurze Erzählung bringt die in der „Heptalogie“ vielfach variierte Suche nach Erkenntnis und Erlösung noch einmal auf den konzentrierten Punkt. Literatur als Gottesdienst, eine irritierende Herausforderung.

Jon Fosse: „Ein neuer Name“. Heptalogie VI-VII. Roman. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Rowohlt, Hamburg 2024, 304 Seiten, 30 Euro.

Jon Fosse: „Ein Leuchten“. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Rowohlt, Hamburg 2024, 78 Seiten, 22 Euro.

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Zum Katholizismus konvertiert

Jon Fosse, geboren 1959 in Haugesund/Norwegen, wuchs auf einem Bauernhof auf. Seine Eltern waren Quäker. Ein Nahtod-Erlebnis in früher Kindheit prägt sein Leben und Schreiben bis heute. Der vom Glauben des mittelalterlichen Dominikaners Meister Eckhart genauso wie von den Seins-Philosophen Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein beeinflusste Autor konvertierte 2013 zum Katholizismus und betet jeden Tag, wie die Hauptfigur in seiner „Heptalogie“, den Rosenkranz. International bekannt wurde Fosse durch seine mehr als 30 Theaterstücke, die weltweit aufgeführt werden. Für seine Roman-Zyklen „Trilogie“ und „Heptalogie“ bekam der Autor viele Auszeichnungen, 2023 den Literaturnobelpreis. Fosse lebt heute in der Künstlerresidenz Grotten bei Oslo, in Frekhaug bei Bergen und im österreichischen Hainburg an der Donau.

 

 

 




Leidensweg eines unschuldigen Menschen: Bachs „Matthäuspassion“ in Dortmund und Essen

Das Freiburger Barockorchester spielte im Konzerthaus Dortmund. (Foto von 2019: Freiburger Barockorchester)

Auf ihre je eigene Weise haben zwei Aufführungen von Johann Sebastian Bachs „Matthäuspassion“ in Dortmund und in Essen ihren Beitrag zur „Recreation des Gemüths“ geleistet. Was sagen die geistlichen Werke heute einem weitgehend säkularisierten Publikum?

Ob Buß‘ und Reu‘ noch das Sündenherz entzwei knirschen? Was hat die protestantische Schuld- und Sühnetheologie noch mit uns zu tun, die sich in den Texten zu Johann Sebastian Bachs „Matthäuspassion“ äußert? Jener Christian Friedrich Henrici, Picander genannt, hat ja nicht nur den Bibeltext zusammengestellt, sondern in den Arien reflektierende Einschübe geschaffen, in denen sich ein gläubiges Individuum dem heilsgeschichtlichen Ereignis stellt: Christus, das Lamm Gottes, leidet „auf unsre Schuld“, trägt unsere Sünden und versöhnt uns mit Gott. Aber mit welchem Gott heute, da nicht einmal mehr die Hälfte der deutschen Bevölkerung Mitglied einer der großen christlichen Kirchen sind? Geht das noch: „Sünde“ als eine bewusste Entscheidung gegen Gott und seinen Heilsplan?

Vielleicht sind die traditionellen Kontexte geschwunden, aber das Thema selbst ist nicht passé. Ein allzu allgemeiner Begriff von „Liebe“, wie er im Programmheft der Dortmunder Aufführung der Bach’schen Passion an Gründonnerstag benannt wird, dürfte kaum die Lösung sein. Aber auch jenseits bloßer musikalischer Faszination, die beide Matthäuspassionen in Dortmund und an Karfreitag in der Philharmonie Essen wirkkräftig ins Bewusstsein riefen, bleibt aus allen barocken Wortziselierungen doch ein Destillat: der Mensch, der sich existenziell verfehlen kann, der sich seiner Unvollkommenheit bewusst wird.

Nicht allein große europäische Kunstmusik

Schuldig fühlen sich Menschen heute vor der zerstörten Natur, vor der Schreckensgeschichte von Kolonialismus oder Rassismus, vor dem eigenen Anspruch auf Selbstoptimierung. Der Gott des Gerichts ist ersetzt durch ein inneres Gericht. Und was von Bach jenseits christlicher Glaubensinhalte bleibt, ist die ergreifende Schilderung des Leidenswegs eines unschuldigen Menschen, ausgelöst durch persönliche Missgunst, politische Verstrickung und ein Schicksal, das den „Kelch des Leidens“ nicht vorübergehen lässt. Die Transformation historisch bedingter Formen des Glaubensausdrucks in einen gegenwärtigen Verstehenshorizont ist unabdingbar, will man eine Matthäuspassion nicht lediglich als ein Dokument großer europäischer Kunstmusik goutieren. Wenn Gott dabei außen vor bleibt, ist das nicht im Sinne Bachs, macht die Passionen aber nicht von vorneherein bedeutungslos.

So bleiben also immerhin die Zerknirschung und die Sehnsucht nach einer „angenehmen Spezerey“ für den leidenden Jesus. Und in dieser kunstvoll ausgeformten Arie zeigt sich in Dortmund ein Manko: Die Solistenrollen besetzt das 2004 gegründete Vokalensemble Vox Luminis aus sich selbst. Die beiden Altus-Sänger Alexander Chance und William Shelton treten jeweils aus dem Chor heraus. Wer es ist, der gerade solistisch agiert, ist nicht klar, denn das Programmheft gibt darüber keine Auskunft. Wer auch immer Buß‘ und Reu‘ besingt: Die Stimme bleibt flach, vom konsonantenreichen Knirschen ist wenig zu hören, der subtile Wandel von den Staccato-Zährentropfen zum kantablen Bogen des angenehm lindernden Tröstens ist ebenso wenig zu hören. Musikalische Rhetorik ist dieser Solisten Sache nicht.

Dortmund: Weicher Chorklang, verhaltene Impulse

So bauten sich in Dortmund ziemliche Gegensätze auf, denn der von dem Bassisten Lionel Meunier geleitete Chor ist tadellos aufgestellt. Er kleidet die Eröffnung „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen“ in einen weichen, mit verhaltenen Impulsen durchsetzten Klang, in dem die Knaben der Chorakademie am Konzerthaus Dortmund mit leuchtender Präsenz punkten. In den dramatischen Chorstellen lässt Vox Luminis  – bei abgerundetem, aber kernigem Klang – die dramatische Temperatur deutlich steigen. Die Choräle allerdings sind kantenlos poliert und die individuelle Harmonisierung verliert sich im milden Mischklang.

Zudem zeigt sich als Nachteil, dass Meunier lediglich aus dem Ensemble heraus einzelne Impulse gibt. So gepflegt das Freiburger Barockorchester auch spielt, so geschmeidig die Flöten intonieren, so fein definiert die „Tropfen meiner Zähren“ auch fallen, so luftig und rhythmisch entschieden die Streichersolisten auftreten: Der Orchesterklang, gestimmt auf 415 Hertz, hätte so manchen rhythmischen oder Artikulationsimpuls vertragen. Auch mit den Solisten gibt es Abstimmungsprobleme im Tempo, die eine wache, ordnende Hand rasch im Griff hätte.

Die beiden Soprane Zsuzsi Tóth und Gwendoline Blondeel zeigen die angeblich „historisch informierte“ anämische Stimmfarbe und einen flach gebildeten, durch strikten Verzicht auf natürlich schwingendes Vibrato ausgebleichten, in der Höhe spitzigen Ton. Dem bemüht sich der Tenor Raffaele Giordani zu entgehen – seine Tongebung ist runder und körperlicher. Raphael Höhn nimmt als feinstimmiger Evangelist für sich ein, Sebastian Myrus ist ein Jesus, der die Worte behutsam expressiv gestalten kann.

Essen: Reaktionsschnelles und vitales Musizieren

Justin Doyle in voller Aktion, hier 2018 in der Hamburger Elbphilharmonie. (Foto: Matthias Heyde)

In Essen steht in der Philharmonie mit Justin Doyle ein kundiger Dirigent von der Akademie für Alte Musik und dem RIAS Kammerchor aus Berlin. Und das spürt man sofort: Die Koordination der Ensembles ist flexibel und reaktionsschnell, der Klang sorgsam austariert, Rhythmus und Artikulation vital zupackend. Nicht zuletzt die Choräle sind plastisch ausgeleuchtet und lassen ihre harmonische Raffinesse erkennen. Die Akademie für Alte Musik spielt konturenreich und detailfreudig, Doyle wählt organische, nicht übertriebene Tempi und hält sich – etwa in dem in Dortmund überdramatisierten Chor „Sind Blitze, sind Donner …“ – mit rhetorischen Akzenten zurück, ohne das Drama zu unterkühlen. Dafür treten Bläserstimmen reizvoll hervor, und wenn die Akademie für Alte Musik ihre Instrumenten-Vielfalt, etwa die Doppelrohrblattinstrumente auspackt, sind Farbe und Ausdruck garantiert.

Der RIAS Kammerchor (Foto: Matthias Heyde)

Wechselhaft auch die Eindrücke von den Solisten in Essen: Patrick Grahl ist ein wohlklingender Evangelist, der eher nüchtern als melodramatisch berichtet und auf vokale wie sprachliche Intensität gleichermaßen setzt. Dominic Barberi gestaltet die Sätze Jesu enorm textaffin, gibt jedem Wort eigenes Gewicht, achtet aber ebenfalls darauf, den Klang der Stimme nicht deklamierend zu beeinträchtigen. Aoife Miskelly bringt den üblichen, also kopfig-silbrigen „Barock“-Sopran mit beengt gebildeten Tönen mit, Benjamin Glaubitz ist ein zuverlässiger, manchmal nicht ganz kontrollierter Tenor.

Mit Konstantin Krimmel werden Rezitativ und Arie „Am Abend, da es kühle war“ zum spirituellen wie ästhetischen Ereignis. Der Altus Benno Schachtner hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck: Beherrschte und entspannt ausgeglichen gesungene Episoden wechseln ab mit solchen, in denen die Stimme ihre Position nicht findet und der Ton seine Substanz verliert – eine Art, die man von diesem Sänger, der zur Zeit an der Oper Bonn als Ottone in Händels „Agrippina“ auftritt, sonst nicht kennt.

Auf ihre je eigene Weise haben die beiden Aufführungen ihren Beitrag zur „Recreation des Gemüths“ geleistet; wenn sie darüber hinaus ihre Zuhörer zum Nachdenken über die Grenzen der menschlichen Existenz und die große, unbeantwortete Frage nach dem Sinn des Leidens – des Gottessohnes und zahlloser Menschen auf diesem Planeten – gebracht haben, hat alles künstlerische Bemühen seinen Sinn erfüllt.




Papst Benedikt XVI. ist tot: Kritische Erinnerung an eine prägende Gestalt

Joseph Ratzinger, der emeritierte Papst Benedikt XVI., ist tot. Er starb am heutigen Festtag eines heiligen Papstes, Silvester. Die Gedenkartikel und Nachrufe, für einen 95-Jährigen längst vorbereitet, werden sich in den nächsten Tagen häufen und uns in ein neues Jahr begleiten. Joseph Ratzinger als Denker, als Theologen, als Kirchenmann und als Papst zu würdigen, ist eine kaum zu bewältigende Aufgabe. Daher nur ein paar wenige, persönliche Gedanken.

Der 2013 zurückgetretene Papst Benedikt XVI., aufgenommen am 10. Juni 2010. (Foto: Mark Bray/Flickr – Creative Commons). Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/

Natürlich gehörte Joseph Ratzinger für einen theologisch ausgebildeten und lange Jahre kirchlich tätigen Journalisten wie mich zum Alltag: Seine „Einführung in das Christentum“ war Standardlektüre, um seine Stellungnahmen als Konzilstheologe, als Erzbischof von München und Freising, als Präfekt der Glaubenskongregation und als Autor theologischer Werke kam man nicht herum. Sie waren stets bereichernd zu lesen, auch wenn man Dinge anders sah. Die Brillanz seiner Argumentation, die Eleganz der Gedankenführung, die intellektuelle Klarheit und geistliche Verantwortlichkeit, die aus seinen Äußerungen sprach, war stets beeindruckend.

Ob er wirklich „der größte Theologe, der jemals auf dem Stuhl Petri saß“, ob er der „meistgelesene Theologe der Neuzeit“ gewesen ist, mag zu Recht bezweifelt werden. Darüber entscheiden die Perspektiven der Betrachtung – und das Urteil einer Geschichte, die ganz im Sinne Joseph Ratzingers nicht in kurzatmigen Superlativen denkt. Dass er zu den großen Denkern des 20. Jahrhunderts zählt, ist aus einer kirchlichen und europäischen Sicht kaum zu bestreiten. Da tun ihm auch Häme, Spott und eine oft bittere Kritik keinen Abbruch. Ob diese Perspektive in der Sicht einer säkularen (Post-)Moderne und einer polyzentrischen Welt Bestand hat, ist eine andere Frage. Ratzinger war wohl zu sehr Protagonist eines durch und durch europäisch-konservativen Denkens, um auf dem säkularen Areopag mit seiner globalen Stimmenvielfalt so gehört zu werden, wie es seine durchaus weltweit verbreiteten Bewunderer als sicher annehmen.

Umgang mit der „Theologie der Befreiung“

Exemplarisch verdeutlichen könnte das sein Umgang mit der „Theologie der Befreiung“, aus meiner Sicht einer seiner fatalen theologischen und kirchenpolitischen Missgriffe. Er gab der aus dem tiefen Misstrauen gegen den Marxismus und dem Konzept des historischen Materialismus gespeisten Ablehnung Johannes Pauls II. dieser neuen Aufbrüche auf außereuropäischen Kontinenten, namentlich im katholischen Lateinamerika, die intellektuelle Grundlage. Damit begünstigte er – das darf wohl aus der heutigen Perspektive eine Generation später so gesehen werden – den gesellschaftlichen Niedergang des Katholizismus in Lateinamerika, wo heute Synkretismen und evangelikale Sekten obskurster Bekenntnisse mindestens starke Minderheiten bilden.

Joseph Ratzinger, der eigentlich aus seiner bayerischen Heimat ein tiefes Verständnis für die theologisch nicht immer fransenfreie Volksfrömmigkeit mitgebracht haben sollte, konnte die traditionelle Frömmigkeit etwa der Wallfahrer zur Madonna von Guadalupe akzeptieren; die Spiritualität der Basisgemeinden in den Barrios von Managua, den Favelas von Rio de Janeiro oder den von Gewalt erschütterten Elendsvierteln von Cali ist ihm fremd geblieben.

Woran lag das? Wohl nicht an mangelndem gutem Willen, vielleicht nicht einmal an kirchenpolitischen Vorbehalten. Denn Joseph Ratzinger war – anders als gerade in Deutschland gern gemutmaßt – kein gerissener Kirchenpolitiker. Die Ernennungen reaktionärer Gestalten zu Bischöfen, von Dyba (Fulda) über Krenn (St. Pölten) bis Groer (Wien) sind nicht aus seinem Einflussbereich gekommen. Die Ursache sehe ich in seinem Denken: Seine intellektuelle Systemik, das hochästhetische wie gedanklich schlüssige Konstrukt seiner Theologie hatte zu wenig Raum für das störend konkrete Leben in seinen schmutzigen Widersprüchen, für die Empirie und die Erfahrung konkreter Orte, an denen Menschen mit anderen Menschen Gottes- und Welterfahrung machen. Genau darüber aber spricht die Präambel der Konzilskonstitution „Gaudium et Spes“ über die Kirche in der Welt von heute. Zitat:

„Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände. Ist doch ihre eigene Gemeinschaft aus Menschen gebildet, die, in Christus geeint, vom Heiligen Geist auf ihrer Pilgerschaft zum Reich des Vaters geleitet werden und eine Heilsbotschaft empfangen haben, die allen auszurichten ist. Darum erfährt diese Gemeinschaft sich mit der Menschheit und ihrer Geschichte wirklich engstens verbunden.“

Das „Schiff der Kirche“ im Büro

Joseph Ratzinger hat sich auf diese Orte nicht eingelassen. Er hat, soweit ich weiß, die Realität dieser Gemeinden, dieser Kirche an den Rändern etablierter Gesellschaften und unter der Knute des (Neo-)Kolonialismus und eines gnadenlosen, verbrecherischen Kapitalismus nie persönlich kennengelernt. Der Ort seiner Entscheidungen war der Palast der Glaubenskongregation. Dort empfing er wohlwollend und aufgeschlossen Menschen und Berichte. Aber es ist eben ein Unterschied, ob man sich auf dem Deck des Schiffs der Kirche Jesu Christi unmittelbar der Gischt und den Stürmen des Ozeans aussetzt oder ob man in der geschützten Atmosphäre von Büro und Bibliothek verarbeitet, was man von Seegang und Unwetter draußen zu lesen und zu hören bekommt.

Ich erinnere mich genau an die Resignation, die aus den Worten lateinamerikanischer Bischöfe sprach, die vergeblich versucht hatten, den Kardinal Ratzinger zu einem Besuch dort zu bewegen, wo die Erfahrungen für eine Theologie der Befreiung gemacht werden. Ich erinnere mich auch an das Entsetzen, das seine Instruktionen zur Theologie der Befreiung hervorgerufen haben – freilich nicht bei den Bischöfen, die mit den Macht- und Wirtschaftseliten Lateinamerikas paktierten.

Persönliche Begegnungen

Persönlich begegnet bin ich Joseph Ratzinger nur zwei Mal: einmal mit einer kleinen Gruppe von Journalisten im römischen Campo Santo Teutonico und später beim Internationalen Treffen zum Jahr der Jugend 1985 in Rom. Seine Predigt in einem der großen Jugendgottesdienste hat mich damals tief beeindruckt: Er konnte in einfachen, aber brillant präzisen Worten zu den jungen Menschen sprechen und ihnen Jesus Christus nahebringen, ohne sich selbst in den Vordergrund zu spielen.

In meiner Erinnerung bleibt ein freundlicher älterer Herr mit etwas distanziertem Charme und geschliffenen Gedanken, der den „Zeitgeist“ vielleicht etwas zu sehr als Gegner und zu wenig als Chance begriffen hat, der Relationalität und Relativismus zu unscharf trennte und der mit seinem Rücktritt 2013 einen Akt der Demut und der Weisheit setzte. Er möge von den Stürmen der Welt, die ihn so sehr gebeutelt haben, hinweg ins Paradies geführt werden, wo in der Anschauung Gottes alle Grenzen überwunden sind, die gerade ihm, dem Denker, auf Erden schmerzlich bewusst gewesen sein dürften. Sein Anteil sei die Fülle des Lebens, die er nicht müde wurde, in seinem irdischen Wirken als beglückende Perspektive unserer fehlbaren menschlichen Existenz zu verkünden.




Größe und Grenzen: Oper über Kardinal Galen und seinen Widerstand im Dritten Reich in Münster uraufgeführt

Andreas Beckers Bühne für „Galen“ am Theater Münster macht Bedrohung und Zerstörung in der Symbolik des Raumes erfahrbar. (Foto: Oliver Berg)

Nur ein Name steht da: Galen. Kein Titel, keine Beschreibung. Wäre „Der Löwe von Münster“ nicht ein viel attraktiverer Titel gewesen? Aber der Schriftsteller Stefan Moster und der Komponist Thorsten Schmid-Kapfenburg nannten ihre Oper einfach nur „Galen“.

Der Bischof von Münster, entschiedener Gegner der Nazis und ihrer Ideologie, berühmt geworden durch seine Predigten gegen die Euthanasie, sollte als Mensch auf der Bühne auftauchen, nicht als Amtsträger, nicht als Subjekt der Verehrung. Am Theater Münster wurde die Oper uraufgeführt; nach über drei Stunden, die wie im Flug vergehen, bleibt das Auditorium lange Sekunden still, bis der Beifall einsetzt.

Golo Berg, Generalmusikdirektor in Münster und einer der Ideengeber für die Oper, fasst im Interview zusammen, worum es geht: Die Geschichte Clemens August Graf von Galens ist ein lokales Thema, das dennoch große Zusammenhänge herstellt und Konflikte anspricht. Galen musste, allein auf sich und auf seinen Glauben gestellt, zwischen Grundsätzen entscheiden, von denen er jeden für absolut verbindlich hielt. Sich entscheiden zu müssen, unter Umständen persönliche Freiheit und Leben zu riskieren, Ambivalenzen auszuhalten, schmerzlich eigene Grenzen zu spüren: Diese Erfahrung, die der Bischof von Münster in einer extremen historischen Situation machen musste, ist zu allen Zeiten eine existenzielle Herausforderung.

Gegenwart und Vergangenheit begegnen sich: Kathrin Filip als junge Frau von heute und Gregor Dalal als Bischof Galen. (Foto: Oliver Berg)

Dass Galen aktuell geblieben ist, zeigten die Debatten um seine Seligsprechung 2005. Seine „Ecken und Kanten“ werden in der Oper klar thematisiert: Sein striktes national-konservatives Weltbild, geprägt von seiner uradligen Herkunft. Seine Kriegsbegeisterung, als es gegen die gottlosen Bolschewiken ging. Seine unselige, damals theologisch kaum bestrittene Überzeugung, der von Gott eingesetzten Obrigkeit sei Gehorsam geschuldet. Seine anfängliche Sympathie für den „Führer“. Vor allem aber sein heute schwer verständliches Schweigen zur Verfolgung der Juden – und das, obwohl er ein entschiedener Gegner der NS-Rassenideologie war, Papst Pius XII. zur Enzyklika „Mit brennender Sorge“ drängte und in seinen Predigten auf unveräußerliche Menschenrechte Bezug genommen hat. In einer beklemmenden Szene wird Galens Verhalten nach der Pogromnacht thematisiert und erklärt. Der Stachel im Fleisch bleibt dennoch: Der Hut des Rabbiners liegt am Ende groß und einsam in Sven Stratmanns Videoprojektion im Hintergrund der Bühne.

Parabelhaft gesteigerte Charaktere

Die Konzeption der Oper ist eine tragfähige Mischung aus Erzähl-, Dokumentar- und ein wenig Belehrtheater. Holger Potocki arbeitet in seiner Inszenierung sehr sorgfältig an den Charakteren, bricht sie aber auch immer wieder pararabelhaft gesteigert auf. Suzanne McLeod als Galens Mutter etwa verkörpert nicht nur eine steif gekleidete alte adlige Dame, sondern verschmilzt in einer das Surreale streifenden Szene mit der Gottesmutter von Telgte, einem Gnadenbild, das Galen sehr verehrt hat.

Gauleiter Alfred Meyer, einer der Hauptakteure des Holocaust, ist bei Mark Watson Williams nicht nur ein mit gellender Stimme eifernder Zyniker, sondern steht in einer höllengelben Uniform für das Böse, dessen Assistent (Frederik Schauhoff) wie ein Kastenteufel aus dem Untergrund springt. Andere Figuren wie Regens Francken (Mark Coles als alter Weiser), Pfarrer Coppenrath (Stephan Klemm mit heiligem Zorn), Galens Bruder Franz (Youn-Seong Shim) oder Rabbiner Steinthal (anrührend und verzweifelt Enrique Bernardo) sind in den bis ins Detail zeittypischen Kostümen Andreas Beckers dagegen eher einem historischen Realismus zuzuordnen.

Rot, die Farbe der Kardinäle, ist vielfach symbolisch aufgeladen. Für Jasmin (Kathrin Filip) steht sie am Anfang und am Ende ihrer „Zeitreise“ zu Galen. (Foto: Oliver Berg)

Die Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart stellt Regisseur Potocki mit einer Videoszene zu Beginn der Oper her: Menschen werden befragt, was sie mit dem Namen „Galen“ verbinden. Eine junge Frau, ahnungslos, lässt sich zum Nachdenken anregen. Man sieht, wie sie auf dem Smartphone die Wikipedia-Seite über Galen aufruft, wie sie Bücher wälzt und schließlich in die Zeit Galens driftet. In den Anblick des (tatsächlich im Westfälischen Museum für religiöse Kultur in Telgte ausgestellten) roten Kardinalsgewands versunken, verlässt die Frau die Gegenwart, „um die Vergangenheit zu verstehen“.

In der Konfrontation der Fragerin von heute – und den Einwänden des Bischofssekretärs (Christian-Kai Sander) von damals – klären sich Galens Positionen, ob für Menschen des 21. Jahrhunderts irritierend zeitbedingt oder beeindruckend zeitlos. Im Libretto ist diese „Jasmin“ genannte junge Frau mit Kopftuch als Muslima angedeutet, verweist auch im Text einmal auf „Allah“. Auf diese Zuspitzung verzichtet die Inszenierung: Die Sängerin Kathrin Filip wirkt wie eine jener Studentinnen, die man in Münster jeden Tag über den Prinzipalmarkt gehen sieht.

Zwischen Befremden und Mitfühlen

Die Ratlosigkeit, das Befremden, die Distanz, aber auch die allmähliche Einsicht, das Verstehen, sogar das Mitfühlen mit den inneren Kämpfen und Entscheidungen des Bischofs macht Filip in sensiblem Spielen deutlich. Am Ende zieht sie ein Resümee: Das rote Kleid des Kardinals als leuchtendes Signal und die Erkenntnis, auch „seine Größe hatte Grenzen“. Vorbilder sind nicht vollkommen, und Helden, die „so sind, wie wir es gerne wären“, die gibt es eben nicht. Galen ist für sie ein „Tröster“, von denen es auf Erden nie genug geben könne. „Tröster leuchten, auch wenn wir sie nicht verstehen.“

Im Volksempfänger hört der Bischof die Rede Alfred Rosenbergs auf dem Markt in Münster. (Foto: Oliver Berg)

Kardinal Galen also als Opernheld: Gregor Dalal hat in dieser großartig ambivalenten Gestalt eine Paraderolle seines reichen Sängerlebens gefunden. Man spürt in jeder Phase, dass sich Dalal intensiv mit der Figur beschäftigt, dass sie ihm ganz und gar entspricht. Er verkörpert den Bischof nicht, er ist Galen in jeder Faser seiner Existenz – vom adligen Jäger des Anfangs über den Priester in Gewissenkonflikten, den entschlossenen Prediger bis hin zu einem erschütterten, gealterten Mann, der die Sieger nicht als Befreier willkommen heißen und die Schuld des deutschen Volkes nicht akzeptieren kann. Auch stimmlich ist Galen eine Paraderolle für den Bassbariton. Man meint, Schmid-Kapfenburg hätte die Rolle genau für diesen Sänger geschrieben.

Wundersame Klanggebilde

Möglicherweise stimmt das auch, denn der Komponist ist seit 2004 Kapellmeister an den Städtischen Bühnen Münster und kennt Dalal seit Jahren. Schmid-Kapfenburg hat bisher viel Kammermusik und eine Kammeroper, aber noch kein großformatiges Werk wie „Galen“ geschrieben. Seiner Partitur merkt man den versierten Kammermusiker und den erfahrenen Dirigenten an. Der Kompositionsschüler von Detlev Glanert schafft wundersame, filigrane Klanggebilde, luzide Klangflächen, kostbare Solo-Stellen für die Orchestermusiker. Auf Tonalität legt er sich nicht fest; so begleitet er die Ausfälligkeiten des Gauleiters ironisch mit den atonalen Klängen, die bei den Nazis als „entartet“ abgestempelt waren. Eine Orgel karikiert dazu musikalisch das Neuheidentum Alfred Rosenbergs, den Bischof Galen als einen der Urheber der menschenverachtenden Rassenideologie von Anfang an bekämpfte.

Schmid-Kapfenburg findet einen Tonfall zwischen dem sachlichen Formbewusstsein eines Paul Hindemith und der angeschrägten Harmonik von Werner Egk, nicht als Sklave eines musikalischen Fortschrittsglaubens, sondern als Schöpfer wirkungsvoll gearbeiteter Theatermusik. Golo Berg ist mit dem Sinfonieorchester Münster ein einfühlsamer Sachwalter, der vor allem für die leisen Töne viel Empathie mitbringt, aber auch heftigen Attacken und Aufschwüngen ihr Recht einräumt. Anton Tremmel hat Chor und Extrachor des Hauses für seine Partie auf und hinter der Bühne solide vorbereitet.

Dem Theater Münster ist für sein Auftragswerk Anerkennung zu zollen: Entstanden ist ein Stück Musiktheater, das eine beeindruckende Person der jüngeren Geschichte mit ihrer Größe und ihren Grenzen und einen profilierten Katholiken in seiner entschlossenen Konsequenz, aber auch all seinen inneren Widersprüchen zu einem Theatererlebnis verdichtet, das als zeitlose Parabel auch über Westfalen hinaus sein Publikum finden dürfte.

Vorstellungen geplant am 4. Juni im Rahmen des Festivals Musica Sacra, sowie am 10., 18., 24. Juni 2022. Info: https://www.theater-muenster.com/produktionen/galen.html, Karten-Tel.: (0251) 59 09 100




Von Natur aus glücklich – „Katzen und der Sinn des Lebens“

Meiner Treu! Noch nie habe ich ein Buch gelesen, das dermaßen angefüllt ist mit Katzenlobpreisungen aller Art und Güte. Der britische Philosoph John Gray, Jahrgang 1948 und in olympischen Gefilden der Wissenschaften tätig (Oxford, Yale, London School of Economics), hat Dichtung und Geistesgeschichte auf katzenaffine Inhalte durchsucht und ist vielfach fündig geworden. Wir Menschen kommen in seinem Buch „Katzen und der Sinn des Lebens“ (Originaltitel: „Feline Philosophy“) weniger gut davon.

Einige Befunde, aus denen sich alles Weitere herleitet: Katzen sind offenbar prinzipiell zufrieden mit ihrem Leben, das Glück ist ihnen gleichsam angeboren, weil sie niemals an den Tod denken und nichts anderes sein wollen, als sie sind; weil sie schlicht und einfach ihrer Natur folgen und im Einklang mit den Instinkten leben, die ihnen nun mal gegeben sind. Nicht einmal Meister des Buddhismus oder Daoismus kommen ihnen an Gelassenheit auch nur annähernd gleich. Wer je eine Katze in ihren allfälligen Mußestunden länger beobachtet hat, wird dies kaum bezweifeln. Insofern führt das Buchcover in die Irre, auf dem eine grübelnde Katze dargestellt ist.

Gray zitiert Denker wie Pyrrhon von Elis und Michel de Montaigne (Seelenruhe als für den Menschen kaum dauerhaft erreichbares Lebensziel), er befragt Epikur und die Stoiker nach ihren Glücksvorstellungen, stellt uns die grundsätzliche Unruhe des Menschseins vor Augen, die Blaise Pascal im berühmten Diktum zusammenfasste, das Unglück der Gattung rühre daher, dass sie nicht ruhig in den Zimmern bleiben könne. Schlimmer noch: Der Mensch kann – nicht nur im Krieg – seine Menschlichkeit verlieren, die Katze bleibt jedoch immer eine Katze, mit allen Attributen.

Einbildung und Zerstreuung seien die flüchtigen Elemente, in denen die allermeisten Menschen sich bewegen. Auch die Philosophie, so Gray, weise letztlich keine Auswege aus unserer existenziellen Lage. Denken könne das Unglück nicht lindern, befand beispielsweise auch Samuel Johnson. Und weiter: Immerzu versuchten die Menschen, ihr Leben zur Geschichte zu machen, sich auf ein Ziel hin zu entwerfen. Daraus, aus der Angst vor dem Tod und aus der fortwährenden Sinnsuche entstehe ihr Leiden. Auch könne daraus Lebensfeindlichkeit nach Art eines Seneca erwachsen, der völlig ungebrochen den Selbstmord empfahl: „Es macht überhaupt nichts aus, an welcher Stelle Du aufhörst.“

Ganz anders die Katzen! Niemals käme es ihnen in den Sinn, für Ideen zu sterben. Wenn wir es nur vernehmen wollten, könnten sie uns Einblicke in ein anderes Sein geben, in ein Leben vor dem Sündenfall. Nun gut, das mag auf Tiere generell zutreffen, doch leben die wenigsten von uns mit einem Specht, Luchs oder Ameisenbär zusammen, viele hingegen mit Katzen, jenen Wesen also, die sich – im Gegensatz zu Hunden – niemandem unterordnen. Ihre Ethik (wenn man es denn so nennen will) sei – so paradox es klingen mag – eine des „selbstlosen Egoismus“. Sie haben kein „ungelebtes Leben“, nach dem sie sich in Sehnsucht verzehren könnten, auch werde ihre Seele nicht „vom Tod berührt“, den sie bejahend erwarteten, wenn sie sein Kommen fühlen. Woher John Gray das nur alles so genau wissen will? Sind es nicht auch wieder Zuschreibungen aus menschlicher Perspektive?

Auch grausame Details erspart uns der Autor nicht, so etwa die fürchterlichen Rituale von Katzenhassern früherer Jahrhunderte, die in Ausläufern beispielsweise bis zu René Descartes (Zitier-Hit: „Ich denke, also bin ich“) reichen, der fiese Experimente mit Katzen anstellte, um zu beweisen, dass sie keine richtigen Individuen seien. Weit gefehlt, ruft Gray aus, sie seien wahrscheinlich individueller als wir.

Der weit überwiegende Teil des Buches ist denn auch der Katzenverehrung und Katzenbewunderung gewidmet. Den alten Ägyptern galten diese Tiere als gottähnlich, ihnen wurden ganze Tempel gewidmet. Von Geschichte und Philosophie geht Gray sodann zur Literatur über und führt Texte vor allem von Autorinnen (Colette, Patricia Highsmith, Mary Gaitskill und Doris Lessing) auf, in denen Katzen den Menschen eindeutig überlegen sind. Den Katzen sei – bei allem Talent zur Ruhe – höchste Wachheit eigen, wenn es darauf ankommt, ihre Erfahrung sei intensiver als unsere, just weil sie ganz und gar sie selbst sind. Dagegen wir: so fragmentiert…

Wenn man das Buch nach der Lektüre sanft zuklappt, wird man versucht sein, sich vor der schnurrenden Spezies zu verneigen. Katzen machen uns vor, wie zu leben wäre. Doch wir können es nicht begreifen. Aber eins können wir auf jeden Fall tun: Unser Kater Freddy kriegt jetzt erst einmal eine Extraportion Futter!

John Gray: „Katzen und der Sinn des Lebens. Philosophische Betrachtungen“. Aus dem Englischen von Jens Hagestedt. Aufbau Verlag, 160 Seiten, 20 Euro.




Heilig, heilig, heilig – mitten im Lokal

Prösterchen mit Sekt im (einstmals) kirchlichen Kontext. (Foto: Bernd Berke)

Kurz vor dem Dreikönigstag ist mir abermals aufgefallen, dass eine weitere Gaststätte sich mit einem dreidimensionalen Heiligenbildnis schmückt. Daran knüpfen sich Fragen:

Erstens würde es mich interessieren, ob es Deko-Lieferanten gibt, die solche Figuren eigens für Lokale herstellen – oder ob es sich um Objekte aus aufgegebenen Kirchen handelt. Der stellenweise beschädigte Zustand der Figur auf dem großen Foto deutet darauf hin, dass man das Stück aus einer Kirche oder einem entsprechenden Depot geholt hat. Nicht ganz auszuschließen wäre freilich, dass solche Skulpturen im Sinne eines „used look“ eigens so hergestellt werden. Vintage rules. Man kennt das aus anderen Bereichen.

Zweitens möchte ich gern wissen, woraus sich dieser Trend herleitet, wenn es denn einer ist. Sind die Gastronomen darauf aus, allerhöchsten Beistand zu erflehen – erst recht „seit Corona“? Oder gilt derlei Schmuck einfach als „cool“, weil er eine Bildwelt ausbeutet, die bisher noch nicht an der Reihe war, jedenfalls nicht in diesem Zusammenhang?

Anderes Lokal, anderes Bildnis: hier nicht auf Augenhöhe, sondern deutlich über den Sitzen schwebend. (Foto: Bernd Berke)

Eifrige Kneipengänger werden sicherlich noch mehr Beispiele aufführen und daraus vielleicht genauere Schlüsse ziehen können. Wahrscheinlich ist die Chose z. B. in Berlin längst durch und das Ruhrgebiet gesellt sich mal wieder zu den Nachzüglern. Es mag aber sein, dass es sich ganz anders darstellt.

Und wie hält man es wohl in Bayern? Wäre es nicht verständlich, wenn jemand ein gewisses kulturkonservatives Unbehagen verspürt, auf solche Weise fromme Figuren ins Profane herabgezerrt zu sehen?

Aber nein! Es ist ja längst alles so vermischt und verwurstet, dass den meisten Leuten die Unterschiede kaum noch auffallen. Wenn es wenigstens dämmert, wenn also die verschiedenen Ebenen überhaupt zur Kenntnis genommen werden, so ist es schon viel.

Bemerkenswert die ersten Äußerungen bei Facebook (FB), wo ich die beiden Bilder ebenfalls eingestellt habe. Ein FB-Freund scherzt, hier wandle sich wohl „Wasser wieder zu Wein“. Ein derart biblischer Vorgang wäre in der Tat günstig für Wirtsleute. Eine Freundin sagt, bei dem Anblick vergehe ihr – aus welchen Gründen auch immer – der Appetit, eine weitere meint, angesichts solcher Statuen traue man sich ja gar nicht mehr, „über die Stränge zu schlagen“. Noch eine Stimme: „Offensichtlich sind die Betreiber seeeehr weit weg davon und konnotieren NICHTS (mehr) damit…“ Genau. Siehe oben.

Uuuuund noch eine Reaktion, getragen von Verständnis für die Heiligen: „Die wollen doch auch mal unter Leute und gesehen werden. In die Kirchen kommt ja kaum noch jemand.“




„Stonehenge“ in Herne: Der Mythos lebt – sogar in Styropor

Bis zu 7 Meter hoch und denkbar wuchtig: Nachbau des inneren Steinkreises von Stonehenge in Herne (Teilansicht). (Foto: Bernd Berke)

Betritt man den zentralen, hallenhohen Raum des LWL-Museums für Archäologie in Herne, so kommt man sich ziemlich klein vor. Ringsum ragen gigantische „Steine“ auf – just wie im berühmten südenglischen Stonehenge. Tatsächlich hat man den inneren Kreis des über 4000 Jahre alten Megalith-Monuments mit modernster Laserscan-Technologie vermessen und in Originalgröße nachgebaut.

Nun gut, die bis zu sieben Meter hohe Rekonstruktion mit 17 Repliken des inneren Steinkreises besteht aus Styropor, doch die Außenhaut (sanftes Berühren erlaubt!) soll sich ähnlich anfühlen wie jener Sandstein, aus dem das Vorbild besteht. Mehr noch: Während das englische Original an etlichen Stellen von Moos und Flechten bewachsen und überhaupt verwittert ist, sieht man Stonehenge in Herne gleichsam im frischen Zustand der Entstehungszeit, wie die Ausstellungs-Kuratorin Kerstin Schierhold erläutert. Mit etwas Phantasie ist es also vorstellbar, dass die Steinzeitmenschen soeben erst ihre Werkzeuge beiseite gelegt haben.

Doch natürlich verhält es sich anders. Der weltbekannte Steinkreis, etwa um 2500 v. Chr. (also bereits gegen Ende der Steinzeit) errichtet und bis um 1600 v.Chr. vor allem als Kultstätte und Versammlungsort genutzt, ist in Wahrheit das wandelbare Werk von Generationen und Jahrzehnten gewesen. Klar ist auch: Jeder noch so liebevoll gefertigte und raffiniert illuminierte Nachbau vermag zwar zu beeindrucken, besitzt aber bei weitem nicht die Aura des Originals.

Steinkolosse über viele Kilometer transportiert – aber wie?

„Stonehenge – Von Menschen und Landschaften“ heißt die in ihrem Zentrum gleichwohl imposante, an den Rändern ins Kleinteilige sich verästelnde Zeitreisen-Schau, die ziemlich genau ein Jahr lang in Herne zu sehen sein wird. Der Titel lässt es schon ahnen: Eine grundsätzliche Fragestellung lautet, wann und wie Menschen begonnen haben, die sie umgebende Landschaft willentlich und nachhaltig umzugestalten. Im Falle Stonehenge haben sie dabei jedenfalls keine Mühen gescheut und die ungeheuer schweren Sandsteine nach Kräften herbeigeschafft – selbst noch die gewichtigsten (bis zu 40 Tonnen wiegend) über rund 25 Kilometer hinweg, wie Gesteinsvergleiche belegen. Die kleineren, auch noch um die 4 Tonnen schweren Blausteine kamen sogar aus dem späteren Wales – rund 240 Kilometer weit entfernt.

Wie die Menschen die Transporte und noch dazu die Aufrichtung der Kolosse vollbracht haben, wird wohl nie restlos aufgeklärt werden. Man kann es heute höchstens durch Experimente und Mutmaßungen nachvollziehen. Womöglich wurden die Steine von ganzen „Hundertschaften“ mit Hilfe von Seilen und schlittenartigen Vorrichtungen sowie Gleitschienen bewegt und/oder auf runden Holzstämmen gerollt. Einmalig sind übrigens die passgenauen Zapfen- und Nutverbindungen, mit denen die Steine unverbrüchlich zusammengehalten wurden.

„Minimalinvasive“ Archäologie

Wie auch immer: Es war eine phänomenale Willens- und Kraftanstrengung der damaligen Menschen, die bereits einige Findigkeit, Intelligenz und handwerkliches Geschick besessen haben müssen. Kein Wunder, dass sich allerlei Mythen darum ranken. Und obwohl Wissenschaftler die eine oder andere Legende entzaubern, wird das große Ganze hoffentlich immer von Geheimnis umwoben bleiben.

Die Wissenschaft geht allerdings neue, verheißungsvolle Wege: Seit einigen Jahren ist es möglich, archäologische Forschungen auch ohne Grabungen zu bewerkstelligen, bei denen die Fundstücke zwangsläufig beschädigt werden. Mit geomagnetischen Radarmessungen, sozusagen „minimalinvasiv“, lassen sich Fundstellen sehr präzise und zerstörungsfrei aufspüren und virtuell „ausleuchten“. Europaweit führend ist auf diesem Gebiet das – Achtung, Bandwurmname! – Ludwig Boltzmann Institut für archäologische Prospektion und virtuelle Archäologie (LBI ArchPro) in Wien.

Stonehenge-Original, fotografiert vom LWL-Chefarchäologen Prof. Michael Rind. (LWL / Rind)

Nur zu gern kooperiert das Herner Museum mit dem LBI. Die Wiener Experten unter Leitung von Prof. Wolfgang Neubauer haben ein Gelände von rund 16 Quadratkilometern ausgelotet und konnten nachweisen, dass Stonehenge keine isolierte Kultstätte ist, sondern Bestandteil einer „rituellen Landschaft von gewaltigen Ausmaßen“. So wurden in Durrington Walls, knapp drei Kilometer vom Stonehenge-Steinkreis entfernt, die Relikte bislang unbekannter Bauwerke geortet. Dermaßen viele Terabytes an Daten hat man dazu gesammelt, dass die Auswertung noch Jahre dauern dürfte. Vielleicht kommt ja auch noch während der einjährigen Herner Ausstellungsdauer etwas Neues ans Licht.

Weit ausgreifende Ringe und Ovale von Gräben und Wällen dienten zumal als Begräbnisstätten, zunächst als Kollektivgräber, später (ab etwa 2200 v. Chr.) entstanden auch herausgehobene Einzelgräber, offenbar ein Zeichen gesellschaftlicher Ausdifferenzierung. Das ganze Stonehenge-Areal ist in der Jungsteinzeit vor allem eine Zone ritueller Praktiken, doch auch Versammlungsort für Handel und Tauschwirtschaft (man weiß von „Importen“ über Hunderte von Kilometern) sowie Verteidigungsanlage gewesen. Auch müssen die Menschen dort gemeinschaftlich gegessen, wenn nicht gar gefeiert haben. Reichlich vorgefundene Knochen verzehrter Tiere deuten darauf hin.

Vielfach digital ausgerichtete Präsentation

Das Museum gibt sich betont digital und breitet die Befunde mit ausgeklügelten Projektionen sowie an 25 Medienstationen virtuell aus, zudem werden (u. a. in Zusammenarbeit mit dem British Museum) Online-Führungen angeboten. Doch gibt es auf den 1000 qm Ausstellungsfläche auch einige Exponate in Vitrinen, beispielsweise Grabbeigaben, Werkzeuge, Tierknochen oder auch Gefäße der Glockenbecherkultur. Hier wird man nicht so sehr zum Staunen überwältigt, sondern darf sich auf Details konzentrieren. Doch auch dabei finden sich grandiose Einzelstücke, so etwa jener mit 140.000 winzigen Goldstiften verzierte Dolch aus der frühen Bronzezeit. Abermals ein Rätsel: Wie ist die Herstellung mit den damaligen Mitteln möglich gewesen?

Der Rundgang führt zurück in ein Zeitalter, in dem nomadisch lebende Menschen Zuwanderern vom kontinentalen Festland begegnet sind, die sich um 4000 v. Chr. ganz allmählich zur sesshaften bäuerlichen Gesellschaft zusammengefunden haben – die sogenannte neolithische Revolution. Das Stonehenge-Gebiet dürfte bereits seit etwa 8500 v. Chr. ein Anziehungspunkt für Jäger und Sammler gewesen sein, weil hier Quellen sprudelten, die auch im Winter nicht zufroren und daher nahrhaftes Getier anlockten. Dort haben sich auch rare Rotalgen gebildet, die aufgrund von biochemischen Reaktionen pink schimmerten und eine geradezu magische Wirkung ausgeübt haben dürften.

Vergleiche mit Westfalen und dem Ruhrgebiet

Recht kühn und eher aus regionaler Pflichtschuldigkeit zu erklären sind die Bögen, die das Museum des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe zu westfälischen Steingräbern schlägt. Vergleiche mit bretonischen Formationen lägen vermutlich näher. Mal waren die Vor-Vorläufer der Westfalen mit speziellen Errungenschaften früher an der Reihe als die Ur-Ur-Engländer, mal später. Nirgendwo in unseren Breiten hat es freilich ein Monument gegeben, das Stonehenge auch nur annähernd vergleichbar wäre. Ein Weltwunder und Weltkulturerbe sondergleichen. Etwa eineinhalb Millionen Touristen strömen jährlich dorthin, auch seltsam anmutende Druiden-Feiern finden dort gelegentlich statt, vor allem zu den Sonnenwend-Daten. Schon an normalen Tagen lassen Autostaus im weiten südenglischen Vorfeld ahnen, dass es hier etwas Besonderes geben muss… Apropos: Die Ausstellung schließt mit ein paar Kuriosa, darunter einer putzigen Stonehenge-Parodie aus „versteinerten Colaflaschen“ oder dem Hinweis auf eine aufblasbare Stonehenge-Hüpfburg. Was es nicht alles gibt.

Geradezu tollkühn muten schließlich die Vergleiche mit dem Ruhrgebiet und Landmarken wie der Halde Hoheward an, wo „der Mensch“ – aus ganz anderen Motiven – ja auch folgenreich in die Landschaft eingegriffen hat. Auch dies hatten die Ausstellungsmacherinnen im Sinn. Sollte demnach die Errichtung von Stonehenge ein frühzeitlicher Sündenfall gewesen sein, der Jahrtausende später ins industriell Monströse mündete? Oder anders herum: Wird man Teile des Reviers dereinst als rätselhaft magische Stätten bewundern?

„Stonehenge – Von Menschen und Landschaften“. 23. September 2021 bis 25. September 2022. LWL-Museum für Archäologie (Westfälisches Landesmuseum), Herne, Europaplatz 1. Tel.: 02323 / 94628-0 

Geöffnet Di, Mi, Fr 9-17, Do 9-19, Sa/So/Feiertage 11-18 Uhr. Eintritt 7 € (ermäßigt 3,50 €), Katalog 34,95 €.

www.lwl-landesmuseum-herne.de

www.stonehenge-ausstellung.lwl.org

 

 




Abstand von der Gesellschaft gewinnen – Rüdiger Safranskis philosophisches Buch „Einzeln sein“

Der vielfach bewanderte Gelehrte Rüdiger Safranski hat sich ein Thema von geradezu universellem Gewicht vorgenommen: Wie verhalten sich Individuen und Gesellschaft zueinander, wie steht überhaupt das Einzelne zum großen Ganzen? Hierzu unternimmt Safranski einen Streifzug, der vornehmlich durch die abendländische Philosophie-Geschichte führt.

Die Geistes- und Gedankenreise geleitet uns zunächst in die Renaissance mit ihrer nicht zuletzt geldwirtschaftlich bedingten Freisetzung des Individuums, und zu Martin Luther, der den Gottesglauben als Sache des Einzelmenschen betrachtete, unabhängig von (kirchlichen) Institutionen. Sodann gelangt Safranski zu Michel de Montaigne, der im höchst persönlichen Denken eine Zuflucht vor gesellschaftlichen Zumutungen suchte. Er wollte im Denken schlichtweg seine Ruhe finden und Abstand gewinnen. Jean-Jacques Rousseau schwankte später zwischen den Extrempolen einer völligen Preisgabe an den Staat („Du contrat social…“) und einer Absolutsetzung des Selbst („Émile“).

So geht es fort und fort mit all den individuellen Selbstbehauptungen und – Achtung, Modewort! – Selbstermächtigungen. Im Wesentlichen seien noch genannt: Diderot, Stendhal, Kierkegaard, Max Stirner, Henry D. Thoreau, Stefan George, Max Weber, Ricarda Huch, Karl Jaspers, Martin Heidegger, Hannah Arendt, Jean-Paul Sartre und Ernst Jünger. Bemerkenswert, dass beispielsweise Kant, Hegel, Schopenhauer und Nietzsche oder auch Karl Marx und Ernst Bloch keine oder wenigstens keine nennenswerten Exkurse gewidmet sind. Auch Stimmen aus der angloamerikanischen Welt kommen kaum vor. Vielleicht waren sie aus Safranskis Sicht im Sinne der Fragestellung nicht ergiebig genug?

Noch erstaunlicher, dass diese geistesgeschichtlichen Recherchen mit einem wie Ernst Jünger aufhören und keine neuere Fortsetzung mehr finden. Was mag Safranski zu dieser Entscheidung bewogen haben? Hat er Auswahl und Bewertung gescheut, weil die Rangstellung im Kanon noch nicht ausgemacht ist? Wollte er es sich mit gegenwärtig Philosophierenden nicht verderben? Oder hält er sie nicht für satisfaktionsfähig?

Freilich mündet das Buch auch in die akute Frage nach dem Internet, das (via Algorithmen) gleichzeitig passgenau die Einzelnutzer bedient und doch ein übermächtiges Ganzes verkörpert. Hat das Allgemeine und Gesellschaftliche sich damit endgültig und unumkehrbar der Individuen bemächtigt – und das ausgerechnet im Gewand je besonderer, individueller Ansprache? Oder können die Einzelwesen – wie es der Existentialist Sartre postulierte – auch jetzt noch in jedem Augenblick ihre Freiheit ergreifen?

Nun gut, es liegen fürwahr schon einige andere Philosophiegeschichten vor. Doch selbstverständlich bietet auch dieses Buch immer wieder interessante Perspektiven und Passagen; schon deshalb, weil es stets Gewinn verheißt, Gedanken reger Geister wenigstens ansatzweise nachzuvollziehen. Zwar macht Safranski auf innere Widersprüche gewisser Theorien aufmerksam, doch lässt er eigentlich allen Protagonisten Gerechtigkeit widerfahren. Mehr noch: Es ist allemal ein Kapitel wert, welch hochanständige und couragierte Haltung Ricarda Huch zur NS-Zeit bewiesen hat. Distanz zum Gesellschaftlichen kann durchaus eine Widerstandshandlung sein.

Noch heute wird einem hingegen unbehaglich zumute, wenn manche Gedankengänge Georges, Stirners, Heideggers und Jüngers zur Sprache kommen. Gleichwohl bleiben auch Um- und Abwege des Geistes aufschlussreich. Überdies ist es um so erhebender, wie Hannah Arendt dem Sein zum Tode ihres vormaligen Gefährten Heidegger eine Philosophie der stets neu beginnenden „Geburtlichkeit“ entgegengesetzt hat. Sollte dies etwa ein spezifisch weiblicher Ansatz gewesen sein?

Rüdiger Safranski: „Einzeln sein“. Eine philosophische Herausforderung. Carl Hanser Verlag. 286 Seiten, 26 Euro.

P. S. Vielleicht hat ihn auch dies zum neuen Buch motiviert: Zwar nicht als Einzelner, jedoch als einer, dem einiger Unmut entgegenschlug, dürfte sich auch Rüdiger Safranski selbst erfahren haben, als er sich in der Debatte über Geflüchtete mit kritischen Anmerkungen zur „Willkommenskultur“ hervortat – ein Themenfeld, das derzeit wieder von dringlicher Aktualität ist.




Ros*in*enmontagsgruß – Gendern will gelernt sein

Gerd*a Frauholz
(Foto: Gerd Herholz)

Liebe Frau*innen und Männer*innen, liebe Männ*innen und Frauende, liebe Närrinnen und Narrhalesen,

heute am Rosenmontag möchte ich mich vordergründig zwar vor allem an die Männ*innen unter Ihnen wenden, aber selbstverständlich sind Frauende und Kind*innen immer mitgemeint.
Unumstritten, es ist höchste Zeit, dass Frauenzimmer, ja eigentlich alle weiblichen Räume und Welten sprachlich deutlich sichtbar werden! Ihnen, den Frauen, soll und muss von nun an die Hälfte des Himmels gehören – und die Hälfte der Erde und Hölle sowieso.

Als beherzte/r Fürsprecher*in des globalen Feminats („Ihr Wunsch wird mir zum Befehl!“) möchte ich dennoch darauf hinweisen, dass bei der gendergerechten Betonung des Weiblichen in der deutschen Sprache das Männliche schon aus folkloristischen Gründen nicht ganz verloren gehen sollte – obwohl es dafür sicher gute Gründe gäbe.

Nehmen wir zum Beispiel nur eine Formulierung wie „den Anstifter*innen und Täter*innen dieses Verbrechens muss der Prozess gemacht werden“. Gelesen wie gewünscht durchaus eindeutig zweideutig; rein akustisch allerdings hören wir da allein noch die weiblichen Formen der Vokabeln „Anstifter“ und „Täter“ heraus, wir hören also nur „Anstifterinnen und Täterinnen dieses Verbrechens muss …“. Da hilft auch eine kleine Stolperpause vor den „innen“ wenig. Und die männlichen Formen der Dativ-Deklination, also „Anstiftern“ und „Tätern“ gehen klanglich gänzlich verloren, so als ob den „AnstifterN und TäterN dieses Verbrechens“ nicht auch der Prozess gemacht werden müsste.

Halten wir fest: Schreiben und Hören desselben Satzfragments führen zu völlig unterschiedlichen Verstehenshorizonten: Mal gehen die Männer halb unter, mal ganz.

Zu Unrecht versenkt werden männliche „Anstifter“ und „Täter“ auch im Plural. Durch den weiblichen bestimmten Artikel „die“ werden sie zu „die Anstifter“ und „die Täter“. Diese ungerechte Verweiblichung der männlichen Mehrzahl sollten sich Frauende schlicht verbitten. Es wäre also höchste Zeit, auch im Plural männlichen Gruppen den bestimmten Artikel „der“ zuzuordnen: „Der Anstifter und der Täter vieler Verbrechen können ihrer Verantwortung nicht entkommen.“ Nun weiß auch der/die/das Letzte, wer gemeint ist. Und bitte kommen Sie mir jetzt nicht mit Haarspaltereien zu biologischem und grammatischem Geschlecht, zum komplexen Verhältnis von Sexus und Genus (nicht zu verwechseln mit „Genuss“). Wollte man und frau da alles berücksichtigen, kämen die wohl in Teufel*innens Küche.

Dennoch, eine Person, die einmal gelernt hat, Sexismus in der Sprache zu sehen, kann nicht der-/die-/dasselbe bleiben, das ist klar. Zunehmend irritieren mich aber auch andere diskriminierende Etikettierungen, etwa von Tier*innen oder Kind*innen. Immerhin, es gibt im Singular z. B. die Formen „der Hund“ / „die Hündin“, aber wieso die ganze Art dann wieder als (d-e-r) Hundeartige oder d-i-e Hundeartigen bezeichnet wird, ist nicht nachvollziehbar. Ich schlage deshalb eine gendergerechte Differenzierung aller Wörter im Singular / Plural vor: „der Hund / der Hunde“ sowie „die Hündin / die Hündinnen“. Die ganze Art könnte man vielleicht als „Hund*innen“ bezeichnen?

Über die weitere Deklination vieler Begriffe muss von linguistischer Seite gründlich nachgedacht werden. Wo der Mann im Plural sich dem weiblichen Artikel nicht weiter unterordnen will, darf zum Beispiel auch alles Weibliche im Genitiv nicht länger von einem „der“ regiert, ja unterjocht werden. Nieder mit einer Formulierung wie „die Schönheit der Frau“. Es muss natürlich heißen: „die Schönheit die Frau“ oder wie mittlerweile immer öfter als Graswurzelgendern im Rahmen lebendiger Sprachgestaltung zu hören ist: „die Schönheit von die Frau“.

Ein letzte Anmerkung, ja fast ein Seitenhieb noch wider das Sächliche. Es ist nicht einzusehen, dass wir weiterhin etwa „das Kind“ sagen. Hier wird durch den sächlichen Artikel das Kind versachlicht, es wird zur Sache. Die Folgen solcher Depersonalisierung sind heute überall zu sehen, etwa in der katholischen Kirche. Also bitte in Zukunft explizit nur noch geschlechterdifferenzierende Singular- / Plural-Formen verwenden: „der Kind / der Kinder“ und „die Kind / die Kinder“.

Ich hoffe, ich habe ein wenig zur aktuellen Debatte beitragen können.
Wenn Sie tiefer in die Materie einsteigen wollen, empfehle ich aus der 3sat-Mediathek die Kulturzeit-Extra-Sendung „Streit ums Gendern“. Mir war danach ein wenig schwindlig, aber Sie sind ja jetzt durch diesen Beitrag besser vorbereitet.

Für heute mit freundlichen Grüßen
Ihre
Gerd*a Frauholz




Keine Lust auf Endzeitstimmung – Ian McEwans Essays über „Erkenntnis und Schönheit“

Seine Bücher sind Weltbestseller, die Verfilmungen seiner Romane werden – wie „Abbitte“ mit Keira Knightley oder „Kindeswohl“ mit Emma Thompson – zu großen Kinoerfolgen. Jetzt hat Ian McEwan, der immer wieder auch als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt wird, ein Buch mit dem Titel „Erkenntnis und Schönheit. Über Wissenschaft, Literatur und Religion“ veröffentlicht. Der britische Autor kann freilich nichts für den blumigen deutschen Titel: Im englischen Original heißt das Buch schlicht „Science“(Wissenschaft).

Die fünf Essays basieren auf Vorträgen, die McEwan zwischen 2003 und 2019 bei verschiedenen Gelegenheiten gehalten hat. Dabei geht es nie darum, seine eigenen Romane in einem wissenschaftlichen Kontext zu interpretieren. Er will zeigen, dass Erkenntnis schön und Schönheit erkenntnisreich sein kann. Dass Wissenschaft sich viel schneller als neue Wahrheit in der Gesellschaft verbreitet, wenn sie elegant formuliert ist. Dass Neues in Literatur und  Wissenschaft vor allem eines braucht: intellektuelle Neugier, Risikobereitschaft, den Mut zum Scheitern.

Kaum jemand wäre besser dafür geeignet, einen Blick in die Geschichte der Wissenschaft zu werfen, ihre Triumphe und Verirrungen zu beschreiben, ein Plädoyer für Vernunft und Neugier zu halten, interessiert sich McEwan doch brennend für juristische Probleme, politische Konzepte, religiöse Abgründe. In „Solar“ verhandelte er nicht nur das Schicksal eines abgehalfterten Nobelpreisträgers, sondern auch noch Grundfragen der Physik, der Umwelt-Politik und Klima-Wissenschaft. „Kindeswohl“, ein Roman über einen an Leukämie erkrankten Jungen, machte McEwan zu einem poetischen Traktat über Vernunft und Religion. In „Maschinen wie ich“ verknüpfte er ethische Probleme der künstlichen Intelligenz und Neurologie mit einer spannenden Romanhandlung über Liebe und Tod.

Einstein und Darwin als elegante Schriftsteller

In einem seiner Essays verhandelt er nun die Frage, was Literatur und Wissenschaft verbindet und was sie über die menschliche Natur aussagen. Am Beispiel von Einsteins Essay über die „Spezielle und Allgemeine Relativitätstheorie“ sowie Darwins Berichte „Über die Entstehung der Arten“ und den „Ausdruck der Gemütsbewegungen bei den Menschen und den Tieren“ beschreibt McEwan, wie Wissenschaftler nicht nur den Mut haben, das Welt- und Menschenbild ihrer Zeit zu revolutionieren, sondern auch in der Lage sind, ihre neuen Erkenntnisse in elegante Literatur zu verwandeln.

Einstein hat gleichsam Gott vom Thron gestoßen und unser Universum aus den Wirkungsweisen von Raum und Zeit neu definiert. Darwin hat den Menschen nicht als Krönung der göttlichen Schöpfung, sondern als Ergebnis einer natürlichen Auslese und Teil einer Evolution neu definiert, die uns mit unseren direkten Verwandten verbindet: den Tieren, die uns in Mimik und Gestik ähneln und Scham und Schmerz, Angst und Freude auf ähnliche Weise ausdrücken wie der Mensch, über Generationen und Gesellschaften hinweg, so wie auch die Literatur, über Generationen und Gesellschaften hinweg, auf einen zeitlosen Fundus von Verständnis, Emotion und Intellekt zurückgreifen kann. Wie sonst könnte man erklären, dass die „Odyssee“ oder „Anna Karenina“ überall verstanden und genossen werden?

Wissenschaftler unter Zeit- und Erfolgsdruck

In einem anderen Aufsatz beschreibt McEwan, warum es für Wissenschaftler so wichtig ist, der Erste zu sein, warum Einstein und Darwin jahrelang herumtrödelten und erst einen Gang zulegten, als Konkurrenten am Horizont auftauchten, die zu ähnlichen Ergebnissen zu kommen schienen. Nur der Erste heimst allen Erfolg ein, nur über ihn wird geredet. Da haben es Schriftsteller einfacher: Zwar gibt es ein Copyright und ein Plagiats-Verbot, aber jeder Autor weiß, dass er auf den Schultern von Riesen steht und mit seinem neuen Gedicht oder Roman nur die Tradition fortschreibt, es sei denn, man heißt James Joyce und erfindet mit einem tausendseitigen Roman, der an einem einzigen Tag spielt und Erlebtes und Erdachtes sprachlich durch den Fleischwolf dreht, die Literatur völlig neu.

„Niemand wird uns retten, wenn wir es nicht tun“

Unter dem Titel „Endzeitstimmung“ versucht McEwan zu verstehen, warum immer noch Menschen an übernatürliche Kräfte und strafende Götter glauben, obwohl die Wissenschaft ständig Fortschritte macht und die Welt wie ein offenes Buch vor uns zu liegen scheint. Wie kann es sein, dass in den USA, die „weltweit für mehr als 4/5 der wissenschaftlichen Forschung verantwortlich“ sind und die meisten Nobelpreisträger stellen, „nur zwölf Prozent der Bevölkerung“ glauben, „das Leben auf der Erde habe sich durch natürlich Selektion ohne Intervention einer übernatürlichen Instanz entwickelt“? Die monotheistischen Religionen, schließt McEwan, basieren auf Endzeit-Visionen und der Lust auf die Apokalypse. McEwan schüttelt nur den Kopf: „Wir haben keinen Grund zu der Annahme, das irgendwelche Daten im Himmel oder in der Hölle vorgemerkt sind. Vielleicht vernichten wir uns selbst; vielleicht kommen wir davon. Uns dieser Ungewissheit zu stellen, ist ein Gebot der Reife und unser einziger Ansporn zu klugem Handeln. Niemand wird uns retten, wenn wir es nicht tun.“

Ian McEwan: „Erkenntnis und Schönheit. Über Wissenschaft, Literatur und Religion.“ Aus dem Englischen von Bernhard Robben und Hainer Kober. Diogenes Verlag, Zürich. 180 Seiten, 20 Euro.




Am Ende des Weges zum Katholizismus: J.-K. Huysmans‘ „Lourdes – Mystik und Massen“ erstmals auf Deutsch

Joris-Karl Huysmans, vor allem bekannt geworden durch ein Buch, das oft als „das Brevier der Dekadenz“ bezeichnet wird – den 1884 erschienenen Roman À rebours (deutsch meistens: Gegen den Strich) –, wandte sich im Laufe seines Lebens zunehmend dem Katholizismus zu. Jetzt liegt erstmals in deutscher Übersetzung ein Werk vor, das am Ende dieses Weges steht: Lourdes. Mystik und Massen (Originaltitel: Les Foules de Lourdes, 1906).

Bereits nach dem Erscheinen von À rebours sah Huysmans‘ Schriftsteller-Kollege Barbey d’Aurévilly in einer Besprechung im Constitutionnel am 28. Juli 1884 voraus: „Nach einem solchen Buch bleibt dem Verfasser nur noch die Wahl zwischen der Mündung einer Pistole und den Füßen des Kreuzes.“ Huysmans entschied sich nicht für den Suizid; er starb 1907 im Alter von 59 Jahren an einem Tumor im Unterkiefer. Sein Buch über den Wallfahrtsort Lourdes, wo er sich in den Jahren 1903 und 1904 jeweils für mehrere Wochen aufhielt, war das letzte seiner Bücher, das zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurde.

Schon der dekadente Adlige Des Esseintes in À rebours hatte sich eine Sammlung mit Werken frühchristlicher und mittelalterlicher Autoren zugelegt. Gegen Ende des Romans empfindet der Protagonist die Sinnleere dieser mit sich selbst beschäftigten Ästhetik und sehnt sich nach seiner Zeit im Jesuiten-Internat zurück. In den nachfolgenden Werken Là-bas (1891, dt.: Tief unten), En route (1895, dt.: Unterwegs), La Cathédrale (1898, dt.: Die Kathedrale) und – nachdem Huysmans 1900 selbst Laienbruder (Oblate) im Benediktinerorden geworden war – L’Oblat (1903, dt.: Der Oblate) lässt sich seine allmähliche Annäherung an den christlichen Glauben mitvollziehen.

Mittelalterliche Frömmigkeit

In einer Besprechung von Paul Verlaines religiösen Gedichten (Sagesse, 1880), die auf Deutsch in der Zeitschrift Sinn und Form erschienen ist (Heft 2/2017), hebt Huysmans auf die verlorene und bei Verlaine wiedergefundene Frömmigkeit des Mittelalters ab. Es ist eine „fast volkstümliche Ungeniertheit, diese zutiefst rührende Zerknirschung“, die er hier entdeckt. Verlaine habe „als einziger nach Jahrhunderten die Töne der Demut und Unbefangenheit, der klagenden und zaghaften Gebete, den Jubel des kleinen Kindes wiedergefunden, die seit der Rückkehr jenes stolzen, Renaissance genannten Heidentums vergessen waren.“ Eine Rückkehr zur vollkommenen Hingabe strebt er auch in seinem Buch über Lourdes an.

Drastische Beschreibung von Krankheiten

Jedoch ist Huysmans weniger ein religiöser Schwärmer als vielmehr ein scharfsinniger Beobachter und leidenschaftlicher Kritiker seiner Zeit. Den Eingangssatz zum ersten Kapitel seines 300-Seiten-Buchs, „Wenn es einen gibt, der niemals den Wunsch gehabt hat, Lourdes zu sehen, dann bin ich es“, darf man ihm abnehmen. Er, der seine literarische Geburtsstunde in der Gruppe der Naturalisten um Émile Zola erfuhr, bevor er mit À rebours auch Anhänger der symbolistischen Schule für sich einnahm, ist dem naturalistischen Stil der exakten Beschreibung treu geblieben. Das zeigt sich vielleicht am drastischsten in der detaillierten Beschreibung von Krankheiten, die er im Spital oder an der Heilquelle in der Grotte der Jungfrau Maria beobachtet. Bei den vom „Wundschleim der Kranken“ getrübten Wasserbecken, in denen die Wundergläubigen eintauchen oder gebadet werden, könnte man annehmen, dass sie mehr Krankheiten hervorrufen als heilen.

Kritiker der Geschäftemacherei

Ein großes Thema der Naturalisten um Zola, das aber ebenso im ästhetizistischen Roman À rebours aufscheint, ist die Kritik am modernen Kapitalismus. Huysmans geißelt die Geschäftemacherei, die sich in Lourdes entwickelt hat. Einige riesige Heil-Industrie hat sich dort entwickelt; nationale Wallfahrten wurden organisiert; in den kleinen Ort am Fuße der Pyrenäen reisten aus ganz Frankreich Zehntausende in speziellen Sanitätszügen, den Trains Blanches, begleitet von vielen freiwilligen Helfern. Zusätzlich kamen zahlreiche Reisegruppen aus dem Ausland. Die Stadt verwandelte sich in ein gigantisches Beherbergungslager; Souvenirläden und Devotionalienhandlungen eröffneten in großem Ausmaß. Huysmans zieht es hin zu den wenigen Rückzugsorten, in die – auf seinen späteren Reisen nicht mehr existierende – alte Kirche Saint-Pierre, „eine bezaubernde Dorfkirche“, wo er noch stille Einkehr erleben durfte, zu einer abseits der Pilgerströme gelegenen Kapelle auf der anderen Seite des Flusses Gave de Pau und zu dem kleinen und ärmlichen Kloster der Klarissen, wo die Oberin ihm ein langes Gespräch gewährt.

Basilika als „Blutsturz des schlechten Geschmacks“

Dagegen ist die 1889 fertiggestellte, erst 1901 eingeweihte und bis zu 1.500 Personen fassende Rosenkranz-Basilika im neobyzantinischen Stil für ihn ein „Blutsturz des schlechten Geschmacks“. Architektonisch sei sie gründlich misslungen und, mehr als das, geradezu ein Werk Satans: „Ohne Einflüsterungen aus einer bösartigen Jenseitswelt kann der Mensch allein Gott nicht in dieser Weise entehren.“ Auf dem Gebiet der Ästhetik erweist sich die Radikalität seines Urteils ganz besonders, und schon die älteren Werke Huysmans machen deutlich, wie wichtig für ihn Liturgie und Form waren. Was er dagegen in Lourdes ansehen musste, „ist ziemlich erbärmlich, es reizt dazu, die Stadt zu verlassen und sie niemals wieder zu betreten.“ Von unfassbarem Kitsch und nicht geeignet, das Heilige zu repräsentieren, ist eine Station auf dem Kreuzweg, und tatsächlich wurde sein 1906 erschienener Verriss von der Kirche ernst genommen und die von ihm besonders geschmähte Station des Kreuzwegs daraufhin umgestaltet.

Das andere Gesicht von Lourdes – die soziale Utopie

Nicht alles an Lourdes stößt ihn ab. Das Massenphänomen der Pilgerschaft und Heilsuchenden erzeugt auch ein tiefes Gefühl von Gemeinschaft – „all diese wachenden Menschen, so fern ihrer Heimat, sagen das Gleiche in den unterschiedlichen Sprachen und denken das Gleiche.“ Die Erfahrung von Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe beeindruckt ihn tief. In den vielen freiwilligen Helfern, Pflegerinnen und Pflegern, Krankenträgern und Ärzten, die die Schwerkranken und Gebrechlichen begleiten, sieht Huysmans ein Stück sozialer Utopie verwirklicht. „In dieser Stadt der Jungfrau lebt das Urchristentum wieder auf (…).“ Angesichts des Leids scheinen soziale Unterschiede keine Rolle zu spielen. Es ist die zeitweise Verschmelzung der Klassen. Die Frau von Welt verbindet und wäscht die Arbeiterin und die Bäuerin, der Herr in gehobener Stellung wird Tragesel für den Handwerker und den Landmann, fungiert als Badehelfer in ihrem Dienst.

„Die Wunderheilungen: Für und Wider“

Vielleicht wäre Huysmans‘ Buch über Lourdes nicht entstanden, hätte nicht sein früherer Lehrmeister, der acht Jahre ältere Émile Zola, 1894 einen Roman mit dem Titel Lourdes veröffentlicht. Zolas Protagonist ist ein junger Priester, der in Begleitung eines Pilgerzugs zur Erkenntnis gelangt, schwere Krankheiten würden die meisten Menschen ohne ihren Glauben gar nicht ertragen. Geschäftsleute und ein Teil des Klerus nutzten die Not der Gläubigen aus. Dem jungen Priester schwebt eine neue Religion vor, die nicht die Illusionen nährt, sondern vor allem materielle Gerechtigkeit herstellt.

Indem Zola die „Wunder“ auf Hysterie und Autosuggestion zurückführt, greift er auf die Suggestionstheorie des Pathologen und Neurologen Jean-Martin Charcot zurück. Huysmans wendet sich in dem Kapitel „Die Wunderheilungen: Für und Wider“ seines Lourdes-Buchs gegen Zola und Charcot und argumentiert, Wunderheilungen wirkten auch bei Personen, die im Zustand der Bewusstlosigkeit nach Lourdes gebracht worden seien oder bei Säuglingen, die sicherlich keiner Suggestionen anheimgefallen sein dürften. Es habe nachweislich in Lourdes auch Heilungen abseits der Massenveranstaltungen, der großen Messen, der Prozessionen gegeben. Huysmans geht davon aus, dass wesentlich mehr Wunder geschehen sind als beim Konstatierungsbüro in Lourdes gemeldet und „amtlich“ anerkannt wurden.

Ratio und Glaube schließen sich nicht aus

Huysmans zitiert einen „bewundernswerten Mönch“, der über seine Ordensbrüder zu ihm sagte: „Gott segnet sie nicht mehr, sobald sie vernünfteln!“ Das mag an den Kirchenlehrer Petrus Damiani (um 1006–1072) erinnern, für den das Denken seinen Ursprung im Teufel hat und vor Gott nichts gilt. Für den jedoch, der es gewohnt ist, Ratio und Glauben als gewisse Gegensätze aufzufassen, mag bei der Lektüre von Huysmans‘ Lourdes-Buch die Entdeckung verblüffen, wie wenig sich für ihn vernünftige Analysen und tiefe Frömmigkeit ausschließen. Das wird gerade im Kontrast zu manchen seiner Zeitgenossen deutlich. Bei Monsieur Teste beispielsweise, dem überragenden Intellektuellen, den Paul Valéry ungefähr zeitgleich erschaffen hat, ist es die Ehefrau Emilie, die feststellt, ihr Mann habe das Wesen ihrer inbrünstigen Seele perfekt erforscht und verstehe ihre Gläubigkeit treffend zu erläutern, doch fehle seiner Nachbildung das Eigentliche: die Hoffnung. Es gibt kein Körnchen Hoffnung im ganzen Wesen von Herrn Teste.

Maria als tatsächlich Handelnde

Bei Huysmans dagegen, wenn er auch seine Epoche verabscheute, war Hoffnung in großem Maße vorhanden, bis hin zu einer Wundergläubigkeit, die aufgeklärten Menschen naiv erscheinen mag. Im Sinne mittelalterlicher Frömmigkeit ist es für ihn eine Realität, dass die vom Konstatierungsbüro geprüften und anerkannten Wunderheilungen einen übernatürlichen Ursprung haben. Er betrachtet Maria als ein tatsächlich handelndes, in die Geschicke der Menschen eingreifendes Wesen. „Es ist übrigens vernünftig, in diesem Heilmittel (hier geht es um das Wasser der Quelle) nur eines derjenigen zu sehen, die von der Jungfrau nach ihrem Willen angewendet werden, denn oft wählt sie es auch nicht.“ Auch in seiner Beschreibung der geschichtlichen Vorläufer von Lourdes ist es Maria, die den Ort bestimmt, in dem sie sich niederlässt. „Die Jungfrau zog von den Alpen in die Pyrenäen, und dort erschien sie nicht auf einem Berggipfel, sondern am Fuß eines Berges in einer Grotte, als ob sie näher herbeikommen wollte in irdische Reichweite.

Ohne den festen Glauben an Heilung gäbe es keinen solchen Wallfahrtsort. Nicht als ein Standbild, sondern als eine Person, mit der man reden kann und die sie hört, betrachten auch die Pilger die Jungfrau Maria. Wenn Bitten allein nicht hilft, wollen sie mit ihr verhandeln; sie rechnen die eigene Hingabe gegen das von einer solch aufwendigen und kostspieligen Reise erwartete Wunder auf, verlangen „für ihren derartig großen Glauben, ihre Geduld und ihren Mut“ eine „Gegengabe“. Und der Autor schließt sich ihrem Hadern mit der Gottheit an: „Was tut sie denn, für die es doch so einfach wäre, all diese Menschen zu heilen?

Sinngebung des Schmerzes

Dann aber weist Huysmans‘ große Belesenheit überraschend auf ein Paradoxon hin, das sich für den frommen Christen aus dem Wunsch nach Heilung ergibt. Er erinnert an eine vor allem im 14. und 15. Jahrhundert epochentypische Richtung des Katholizismus, die sich „Dolorismus“ nennt. Ihre Anhänger sahen sich in der Nachfolge Christi als „Schmerzensmann“ und glaubten, durch eigenes Leiden Christi Werk, das Leiden für die Menschheit, fortsetzen zu können – gemäß Paulus‘ Brief an die Kolosser 1,24, in dem es (in der Übersetzung Martin Luthers) heißt: „Nun freue ich mich in den Leiden, die ich für euch leide, und erfülle durch mein Fleisch, was an den Leiden Christi noch fehlt, für seinen Leib, das ist die Gemeinde.“ Mit einer solchen mystischen Haltung wäre es, wie Huysmans bemerkt, inkonsequent, sich in Lourdes die Befreiung vom Leiden zu wünschen. Sie würde den Zweck der Wallfahrt ad absurdum führen – „denn letztlich müsste man vor der Grotte statt der Linderung seiner Leiden ihre Verschlimmerung erbitten, um sie als Sühneopfer für die Sünden der Welt anzubieten! Lourdes wäre so gesehen die Zentrale menschlicher Feigheit.“ Huysmans nimmt damit vorweg, was in Peter Sloterdijks Kritik der zynischen Vernunft als „Algodizee“ auftaucht, in dem Fall eine apologetische Sinngebung des Schmerzes.

Huysmans‘ Lourdes-Buch ist das stilistische Meisterwerk eines außergewöhnlichen Autors, der ebenso aus seiner Zeit fiel, wie er vermutlich in keine Epoche gepasst hätte. Mit einem erhellenden, kenntnisreichen Nachwort des Übersetzers Hartmut Sommer liegt uns die erste deutsche Ausgabe in der schön gestalteten Reihe der Lilienfeldiana endlich vor.

Huysmans, Joris-Karl: Lourdes – Mystik und Massen. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort von Hartmut Sommer, mit historischen S/W-Fotografien, Lilienfeld Verlag, Düsseldorf, 2020 (Reihe: Lilienfeldiana, Band 23), 320 Seiten, 22 Euro.




Lyriker zwischen Revolution und Mystik – eine Erinnerung an Ernesto Cardenal

Ernesto Cardenal bei einer Lesung am 10. Oktober 2012 in der Frankfurter Katharinenkirche. (Foto: Wikimedia Commons / Dontworry) – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Proppenvoll, bis auf den letzten Platz ausverkauft war das Ebertbad Oberhausen am 14. Oktober 2008, als Ernesto Cardenal auf Einladung des PoesiePalastes Ruhr bei seinem Canto a la vida-Abend aus seinen Gedichten las. Fast ehrfürchtig wirkten viele, die gekommen waren, um Ernesto Cardenal, dem Schauspieler Klaus Götte (Cardenals deutscher Stimme) und der Grupo Sal zuzuhören: in Ehren ergraute Altlinke, progressive Christen und deutlich mehr Lyrikliebhaberinnen als -liebhaber.

Für die meisten von ihnen war Ernesto Cardenal höchst vitales Vorbild, lebende Legende und Mythos zugleich. Selbst ihn nur kurz auf der Bühne vorzustellen, hieß für mich, zumindest eine Auswahl seiner Berufe und Berufungen aufzurufen. Der damals 83-Jährige vereinte in seiner Person viele Facetten menschlicher Neugier und intellektuellen Widerstands.

Cardenal war Priester und Gründer der christlichen Kommune Solentiname, war Befreiungstheologe und angeblich – so kursierte es im Internet – der Mann, der im Dom zu Managua die Stimme erhob und dem Papst zurief: „Viva la Revolución“. Dies allerdings bestritt Cardenal beim Abendessen nach seinem Oberhausener Auftritt heftig. Tatsächlich war es Papst Johannes Paul II., der im März 1983 in Managua öffentlich den vor ihm knienden Cardenal brüskierte und den Segen verweigerte. Johannes Paul II. forderte ihn auf, „seine Situation zu regeln“, womit der polnische Papst nicht weniger meinte, als dass Cardenal sein unbequemes politisches und befreiungstheologisches Engagement aufgeben solle. Keine zwei Jahre später suspendierte der Vatikan Cardenal von seinem Priesteramt. Erst 2019 hob Papst Franziskus diese Suspendierung wieder auf.

Streitbarer „Heiliger“

Ernesto Cardenal war als Sandinist Befürworter einer Revolution ohne Rache und später Kulturminister Nicaraguas, vor allem aber war er ein großer Poet und als solcher einer der wichtigen Autoren Lateinamerikas. Dass er in Deutschland quasi als Heiliger herumgereicht wurde, amüsierte ihn trotz aller sichtbaren Eitelkeit auch ein wenig. Im WDR sagte er dazu: „Etwas von mir scheint noch in Mode zu sein.“
In Oberhausen aber las er damals nichts Autobiografisches, keinerlei Prosa, sondern allein Gedichte – von den „Psalmen“ angefangen über die „Cántico cósmico“ bis hin zu Poemen aus seinem 2005 in deutscher Sprache erschienen Gedichtband „Transitreisender“. Darunter viele Verse der Art, die Ernesto Cardenal selbst einmal „wissenschaftliche Poesie“ oder „Poesie der Wissenschaft“ nannte.

Diesseitige Göttinnendämmerung

Cardenals pragmatischen Gott gab es übrigens immer nur im Doppelpack und durfte auch als Göttin vorgestellt werden. Liebe war für Cardenal nicht zu trennen von Sinnlichkeit, auch deshalb hat er nie ein jenseitiges Paradies beschworen. Die Theologin Dorothee Sölle schrieb einst an ihren Freund: „Du hast sie beieinander gelassen: Religion, Politik und Liebe, Deine Liebeslieder sind politisch, Deine Psalmen erotisch. Deine Bejahung, deine Feier des Lebens ist umfassend.“ Man hat Cardenal einen Lyriker zwischen Revolution und Mystik genannt und damit wohl die treffendste Kurzformel für diese schillernde Persönlichkeit geprägt.

„Der Künstler ist immer vollkommen in die Gesellschaft integriert – aber nicht in die seiner Zeit, sondern in jene der Zukunft.“ (Ernesto Cardenal)

Um diesem Mann des Wortes, diesem Homme de Lettres den Mund zu verbieten, versuchte das nicaraguanische Regime auch, die Integrität des Menschen Cardenal zu diskreditieren. Nach der offensichtlich manipulierten und unzulässigen Wiederaufnahme eines Verfahrens, das Cardenal zu großen Teilen bereits Jahre zuvor gewonnen hatte, drohte man ihm 2008 mit einem Bußgeld und bei Nichtzahlung mit einem längeren Hausarrest. Ein politisches Verfahren also, Cardenal hatte seinem früheren Weggefährten Daniel Ortega einen korrupten und undurchsichtigen Regierungsstil vorgeworfen, den Verrat der Revolution. Nicaragua werde inzwischen vom einem autokratischen Familienclan regiert. Wegen der Schikanen der Regierung Ortega gegen Cardenal hatten Ende September 2008 das PEN-Zentrum Deutschland und viele Autoren aus aller Welt protestiert.

Nach seiner Deutschland-/Europa-Tournee vermied Ernesto Cardenal zunächst die Rückkehr nach Nicaragua, auch weil das Gerücht umging, man werde ihn sowieso nicht wieder einreisen lassen. Von Cardenal war dazu nur zu hören: „Wir gehen den Weg der Befreiung weiter.“ Er selbst tat dies auch über seine schriftstellerische Arbeit, sein Engagement für das Kultur- und Entwicklungsprojekt Casa de los Tres Mundos und bei vielen Lesereisen. Einen Überblick über sein poetisches Schaffen findet man am besten in den 2012 erschienenen Lyrikbänden „Aus Sternen geboren. Das poetische Werk“.

Am 1. März 2020 starb Ernesto Cardenal 95-jährig an den Folgen einer Niereninsuffizienz in Managua.




Corona: Aufregung oder Apokalypse?

Wie soll man das Thema sonst bebildern, als mit dräuenden Wolken? (Foto: Bernd Berke)

Kann sich jemand erinnern, dass jemals derart rigorose Maßnahmen wegen einer Epidemie ergriffen worden sind?

Hat es das in den letzten 50 oder 60 Jahren schon einmal gegeben, dass ganze Städte und Regionen (in China, in Italien und wer weiß wo demnächst noch) so strikt vom Rest der Welt abgeriegelt wurden wie jetzt, dass beispielsweise alle grenzüberschreitenden Züge (vorerst zwischen Österreich und Italien) gestoppt oder Flüge (aus und nach China) verboten werden? Dass Schiffe über Wochen hinweg nicht verlassen werden dürfen? Dass Zigtausende, ja insgesamt Millionen in Quarantäne leben?

Mit der offenbar rapiden Ausbreitung der Corona-Viren haben die – vielleicht schon verspäteten? – Vorsichtsmaßnahmen (und die darob entstehende Panik) offenbar eine neue Eskalationsstufe erreicht. Sind Rinderwahn oder SARS dagegen nur „Vorübungen“ zur Apokalypse gewesen? Welchen Anteil hat die Realität, welchen haben die aufgeregten Medien? Man liest allerdings auch, dass nicht nur die Zahl der Todesopfer, sondern auch schon die Zahl der „Geheilten“ ansteige. Ein Lichtstreif.

Igelt sich bald jedes Land ein?

Oder kann all das noch viel drastischer werden? Doch wohl nicht so wie in jenen schrecklichen Zeiten der Pest, denen eine archäologische und kulturgeschichtliche Ausstellung in Herne (noch bis zum 10. Mai 2020) nachgeht? Als diese Schau eröffnet wurde, hat noch niemand gewusst, was da womöglich auf uns zukommt.

Man möchte sich gar nicht vorstellen, wie das noch weitergehen mag. Igelt sich bald jedes Land, jede Gegend ein? Woher sollen dann die Nachschublieferungen kommen, seien es medizinische Güter oder Lebensmittel? Die Weltmärkte würden zusammenbrechen, es gäbe eine ökonomische Krise sondergleichen. Schon jetzt knicken die Börsenkurse ein.

Globalisierung und Rassismus

Daraus könnte ein großer, ja schließlich ein weltweiter Versuch werden, ob und wie weit die Globalisierung vorübergehend gebremst werden muss. Und wie selbstverständlich spielt Rassismus auch hier hinein: Schon soll es tätliche Angriffe auf Chinesen in Europa gegeben haben. Es müssen mal wieder Menschen herausgegriffen und als Schuldige „dingfest gemacht“ werden.

Apropos irrationale Umtrieb: In letzter Zeit haben sich – vor allem im ökopolitischen Umfeld – auch sektenartige oder zumindest quasi-religiöse Formationen gebildet. Ist es nur eine wahnwitzige, literarisch induzierte Phantasie, wenn man sich vorstellt, wie wegen der Seuche Menschen durch die Straßen ziehen, sich selbst als sündhaft geißelnd? Wie damals, zu Zeiten der Pest…

Autoritäre vs. demokratische Staaten

Auch treten jetzt autoritär regierte Länder (China, Iran) in einen unfreiwilligen Wettbewerb mit einstweilen demokratisch verfassten Staaten (Italien etc.): Wer wird eine solche Krise besser bewältigen? Wie demokratisch kann es überhaupt zugehen, wenn der Notstand herrscht? Und übrigens: Wie kommt es bloß, dass bisher praktisch in ganz Afrika und Südamerika noch kein Ausbruch der Seuche verzeichnet wird? Liegt es daran, dass man dort nicht so streng registriert und dass man dort überhaupt auch noch einige andere Sorgen hat?

Vom medizinischen (Un)wissen, von der fieberhaften Suche nach Ursachen und Wirkungen ganz zu schweigen. Wo liegen überhaupt die Ursprünge der Seuche, die nunmehr eine Pandemie genannt wird? Wo war der allererste Ansteckungsherd, wie sehen die möglichen tierischen Zwischenwirte aus? Wie lange dauert die Inkubation, wie ist der wahrscheinliche Verlauf, wann klingt die Krankheit wieder ab, wann darf ein Patient als kuriert und „erholt“ gelten? Hängt alles mit China zusammen – oder wird sich erweisen, dass es weitere Ausbruchszentren gibt?

Heldentum der Mediziner

Und weiter: Wie hoch liegt die mutmaßliche Todesrate? Betrifft es wirklich vor allem über 80 Jahre alte oder sonstwie vorher geschwächte Menschen? Zynische Frage: Wären sie vielleicht auch an einer „normalen“ Grippe gestorben, wie denn überhaupt die Grippewellen einer durchschnittlichen Saison rund 25.000 Menschenleben kosten können?

Fragen über Fragen. Und keine ist bisher abschließend geklärt.

Ein zeitgemäßes Heldentum zeigt sich freilich, wenn man den Begriff schon verwenden will: beim ärztlichen Personal, das gleichsam an vorderster Front und unter hohem persönlichen Risiko die mysteriöse Krankheit bekämpft. Darüber hinaus gebührt großer Respekt all jenen, die die Gegenmaßnahmen vernünftig organisieren; den Forschungsteams, die in aller Welt an möglichst wirksamen Gegenmitteln arbeiten. Und so manchen anderen, die wir vergessen haben.

Und nun lasset uns hoffen. Und handeln, so gut es eben geht.




Er war eine Stimme der Sprachlosen – zum Tod des Dortmunder Schriftstellers Josef Reding

Unser Gastautor, der in Kamen lebende Erzähler, Lyriker und Maler Gerd Puls, würdigt den Dortmunder Schriftsteller Josef Reding, der am vergangenen Freitag mit 90 Jahren gestorben ist. Bei diesem Beitrag handelt sich um Auszüge des Nachworts zu einem Reding-Lesebuch, das Gerd Puls herausgegeben hat. Wir veröffentlichen den (stark gekürzten) Text, der hier erstmals zu Redings 90. Geburtstag erschienen ist, mit freundlicher Genehmigung des Urhebers:

Das von Gerd Puls herausgegebene Reding-Lesebuch, aus dessen Nachwort Auszüge für diesen Beitrag stammen.

Das von Gerd Puls herausgegebene Reding-Lesebuch (2016 erschienen im Aisthesis-Verlag), aus dessen Nachwort die Auszüge für diesen Beitrag stammen.

Josef Redings Erzählband „Nennt mich nicht Nigger“ war 1957 ein bemerkenswertes, erstaunliches Buch. Auch, weil es den Blick der deutschen Leser über den eigenen Tellerrand hinaus lenkte, in diesem Fall auf die Nöte und Bedrängungen der schwarzen Bevölkerung in den USA.

Sechzig Jahre später halte ich es immer noch für bemerkenswert, weil es nach wie vor ein realistisches Werk von hohem literarisch-sozialen Wert ist, moralisch und allgemein gültig; nicht nur für die 1950er Jahre, nicht nur in der Beschreibung US-amerikanischer Zustände. Ein Buch, das Partei ergreift für Erniedrigte und Ausgegrenzte, für Schwache und Bedürftige, für Opfer und Verlierer überall auf der Welt.

Josef Redings erster Kurzgeschichtenband liefert „24 realistische Erzählungen aus USA und Mexiko, die in moderner mitreißender Sprache das Problem des leidenden, verachteten Menschen behandeln“ – so der Klappentext des im Recklinghausener Paulus-Verlag erschienenen Buches. Es waren 24 short stories in der Tradition von Herman Melville, Marc Twain, Jack London, John Steinbeck, Ernest Hemingway oder Truman Capote.

Der in Castrop-Rauxel geborene (dann in Dortmund lebende) Stipendiat Josef Reding schrieb die Kurzgeschichten in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre während seines Studiums an einer Universität im mittleren Westen der USA. Nach eigenem Bekunden hatte er es schwer, seinen Verleger zu überzeugen, das Buch, das ein großer Erfolg und Redings literarischer Durchbruch wurde, überhaupt auf den Markt zu bringen.

Als die short story in Deutschland Einzug hielt

Die ursprünglich typisch amerikanische Textsorte short story hatte in den frühen 1950er Jahren in Deutschland Einzug gehalten, und unter den deutschen Autoren war der junge Josef Reding längst nicht der einzige. Kurzgeschichten und Erzählungen von Wolfgang Borchert, Heinrich Böll, Siegfried Lenz oder Wolfdietrich Schnurre fanden in den Nachkriegsjahren rasch ein großes Publikum. Doch die jungen deutschen Autoren kamen in den Schulen nur selten vor.

Als amerikanische Besatzungssoldaten Kurzgeschichten in ihrem Gepäck nach Deutschland brachten, fand vor allem die junge Generation nach ihrer von den Nazis verratenen und missbrauchten Kindheit rasch Zugang zu dieser neuen Form. So auch der aus einer Arbeiterfamilie stammende Josef Reding, der 1945 als 16jähriger Schüler im Ruhrgebiet noch im Kriegseinsatz war und als „Wehrwolf“ in amerikanische Gefangenschaft geriet.

Sprachliche Knappheit – typisch fürs Ruhrgebiet

Über seine Haltung zur Kurzgeschichte schrieb Reding: „Mich begeisterte die Ökonomie der Kurzgeschichte, die Einfachheit, die Klarheit der Sprache. Mich faszinierte der Anspruch, dem Leser nur zwei Daten zu überlassen in der Zuversicht, dass er genug Kreativität besitzt, um selbst zum Datum drei bis neun zu kommen. Heute bin ich sicher, dass mein spontaner Aufgriff der Kurzgeschichte auch mit der Ausdrucksweise der Menschen zu tun hat, unter denen ich aufgewachsen bin: den Menschen des Ruhrgebiets. In dieser Landschaft herrscht im sprachlichen Umgang das Knappe vor, eine anziehende Sprödigkeit des Ausdrucks. Der Gesprächspartner, der Kumpel, bekommt nur weniges mitgeteilt und muß sich auf manche karge Anspielung seinen ,eigenen Reim‘ machen, muß also mitdenken, mitdichten.“

Seine Themen waren vorgegeben durch den NS-Faschismus. Seine Erfahrungen als „Kind in Uniform“ und als „Wehrwolf“ veröffentlichte er bereits in den 1940er Jahren in Schülerzeitungen.

Den Blick für die Welt ringsum öffnen

Die Titelgeschichte und die meisten anderen Texte des Bandes „Nennt mich nicht Nigger“ schrieb er als Student in den USA, wo er mit Farbigen zusammenlebte und auch engen Kontakt zur Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King hatte. Über den Titel bemerkte er 1978: „Aber es wäre ein Mißverständnis, wollte man ihn nur auf die Situation der rassischen Minderheiten in den USA beziehen. Der Titel steht auch für andere Mitmenschen, die um ihrer Rasse, um ihres politischen Bekenntnisses, ihrer Herkunft, ihrer Religion willen verfolgt werden.“

Josef Reding blieb dem Genre der Kurzgeschichte verbunden, man darf ihn darin getrost einen wahren Meister nennen. Er wusste seine Haltung auch in späteren Texten, die nicht mehr in den USA, sondern in Lateinamerika, Asien, Afrika und natürlich in Deutschland und vor allem im Ruhrgebiet spielen, immer eindringlich und ehrlich zu vermitteln.

Gleichzeitig weisen die Geschichten aus der Beschränkung der bundesrepublikanischen Wirklichkeit der frühen Nachkriegsjahre hinaus, öffnen den Blick deutscher Leser wieder neu auf die Welt ringsum und werden zu literarischen Zeugnissen für die einfache Einsicht, dass Missachtung und Unterdrückung viele Farben und Facetten hat und dass zu allen Zeiten an allen Orten „der Sprachlose des Sprechers bedarf“, wie Josef Reding es formuliert hat.

Auch ein Chronist von Flüchtlings-Schicksalen

Nach dem Aufenthalt in den USA arbeitet er 1955/56 ein Jahr freiwillig im Grenzdurchgangslager Friedland, wo er zum Chronisten der Schicksale der Flüchtlinge und Spätheimkehrer wird, danach drei Jahre in Lepragebieten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas. Später wird er Mitglied der Synode der Bistümer der Bundesrepublik.

Für sein literarisches Gesamtwerk erhielt Josef Reding zahlreiche Preise, u.a. den Rom-Preis Villa Massimo, den Annette von Droste-Hülshoff-Preis, den Preis der europäischen Autorengemeinschaft KOGGE, den Preis für die beste Kurzgeschichte und den Literaturpreis Ruhrgebiet. Dass eine Hauptschule in Holzwickede im östlichen Ruhrgebiet bereits zu Lebzeiten seinen Namen trug, sah er als Auszeichnung, gleichzeitig als Verpflichtung.

Werner Schulze-Reimpell würdigte Redings Verdienste um die Kurzgeschichte in der „Deutschen Allgemeinen Sonntagszeitung“: „Ein in unserer Gegenwartsliteratur schier vergleichsloser Meister dieser Form ist der Westfale Josef Reding. Redings Short-Stories werden gänzlich unprätentiös erzählt, ohne formale Verfremdung und aufdringliche Literarisierung, dafür mit einem hohen Maß von Authentizität, wie unmittelbar vor Ort recherchiert. Vor allem stimmen seine Menschen, ihre Sprache, ihre Art, sich zu geben und zu reagieren…“

Christliche Ethik als moralisches Fundament

Dabei dürfen spätere Erzählbände nicht unberücksichtigt bleiben. „Wer betet für Judas?“,, „Allein in Babylon“, „Papierschiffe gegen den Strom“, „Reservate des Hungers“ und „Ein Scharfmacher kommt“ lauten die Titel weiterer Bände im Bitter Verlag, in denen er für sein großes Thema immer wieder neue Schauplätze, Konstellationen und Varianten findet. So spielen viele der 25 Erzählungen der 1967 erschienenen Sammlung „Ein Scharfmacher kommt“ im Ruhrgebiet. Eindringlich, prägnant und unverwechselbar spiegelt Reding in ihnen Menschen und gesellschaftliche und politische Verhältnisse in der im Umbruch befindlichen Industrieregion.

Christliche Ethik als moralisches Fundament, dazu das Ruhrgebiet als geografische Heimat, das sind die wesentlichen Wurzeln, Fixpunkte und Richtschnüre, mit denen Redings Schreiben verknüpft ist. Die Menschen des Ruhrgebiets – genau wie die Flüchtlinge und Heimkehrer in Friedland und die Bewohner der Schwarzenviertel New Yorks, der Slums und Favelas Nairobis oder Sao Paulos – liefern die Bilder und Mosaiksteine zu Redings literarischem Werk.




Erfüllte Weihnachten und einen ersprießlichen Jahreswechsel wünschen die Revierpassagen!

Weihnachtlichen Schnee überm Dortmunder U gibt's derzeit nur in der Glaskugel. (Foto: Bernd Berke)

Weihnachtliches Schneegestöber überm „Dortmunder U“ gibt’s derzeit nur in Wunschträumen – oder in der Glaskugel. (Foto: Bernd Berke)

Es ist doch tatsächlich schon wieder so weit. Das Jahr neigt sich. Und zwar seinem Ende zu. Unterdessen wirft 2020 seine Schatten. Und zwar voraus. Wer hätte das gedacht?

Wir begehen die bevorstehenden Feiertage und dito den anstehenden Jahreswechsel mit einem putzigen Stückchen Ruhrgebiets-Kitsch – oder wie man das abgebildete Werk nun angemessen bezeichnen soll. Das Lichtbild zeigt als Schneekugel zweierlei Weihestätten: unter der Kuppel das „Dortmunder U“ und im Sockel Umrisse des Westfalenstadions, das wir auch heute und in Zukunft nicht anders nennen mögen. Da hätten wir also den Kulturtempel und den Fußballtempel.

In diesem und in manch anderem Sinne wünschen die Revierpassagen ihren Leserinnen und Lesern schöne, möglichst entspannte, erfüllte oder auch – je nach Glaubensrichtung – gesegnete Weihnachtstage und sodann einen ersprießlichen Jahreswechsel. Bitte bleibt und bleiben Sie uns gewogen.

Und weil nicht alle Menschen „frohe“ Weihnachten verbringen können, so sollen die Unglücklichen, die Trauernden und Geschwächten in diesen Tagen und Wochen Kraft und Hoffnung schöpfen, so gut es eben geht.




„Pest!“ – Herner Museum für Archäologie beleuchtet die Geschichte der furchtbaren Seuche

Seltsames Phänomen: Ein solcher „Rattenkönig" (mit den Schwänzen verknotete Tiere) galt besonders in der frühen Neuzeit als böses Omen im Hinblick auf die Pest. (Foto: LWL/P. Jülich)

Rätselhaftes Phänomen als Ausstellungsstück, für zart besaitete Gemüter nur bedingt geeignet: Ein solcher „Rattenkönig“ (an den Schwänzen miteinander verknotete Tiere) galt besonders in der frühen Neuzeit als böses Omen im Hinblick auf die Pest. (Foto: LWL/Peter Jülich)

Die Pest ist weit mehr als „nur“ eine Krankheit. Diese Seuche, die im Laufe der Epochen Hunderttausende dahingerafft hat, ist überhaupt zu einem Mythos des Weltübels geworden, der auch etliche Redewendungen geprägt hat. Etwas hassen wie die Pest. Nur die Wahl zwischen Pest und Cholera haben. Und so weiter. Das LWL-Museum für Archäologie in Herne hat sich also an ein wahrhaft globales Schreckensthema gewagt. Die Ausstellung heißt einfach „Pest!“ Mit Ausrufezeichen.

Globales Thema? Aber ja. Während man früher in eurozentrischer Beschränkung gedacht hat, die fürchterlichen Pandemien im 6. Jahrhundert n. Chr., sodann – noch berüchtigter – im 14. Jahrhundert und schließlich im 19. Jahrhundert seien die Seuchen-Katastrophen schlechthin gewesen, muss man diese Sicht wohl revidieren. Die Pest dürfte seit jeher auf Erden viel weiter verbreitet gewesen sein. Mehr noch: Neuere Untersuchungen haben den Pesterreger schon in steinzeitlichen Funden nachgewiesen.

Die Pest ist eine Krankheit, die zunächst vor allem Nager befällt. Unter dem Mikroskop sieht ein Floh, der die Pest von Ratten Menschen übertragen kann, so aus. (Foto: LWL/S. Leenen)

Die Pest ist eine Krankheit, die zunächst vor allem Nager befällt. So sieht unter dem Mikroskop ein Rattenfloh aus, der durch seine Stiche die Pest auf Menschen übertragen kann. (Foto: LWL/Stefan Leenen)

Um solch spannende Erkenntnisse herum hat der Kurator Dr. Stefan Leenen die lehrreiche Ausstellung mit rund 300 archäologischen und kulturgeschichtlichen Belegstücken entwickelt; manche Exponate erzählen kleinere Geschichten, andere rufen wahre Epen wach.

Schnabelmasken nur die Ausnahme

In Herne räumt man mit einigen Legenden auf. So sind die immer wieder ikonisch abgebildeten Pest-Doktoren mit den langen Schnäbeln in Wirklichkeit die Ausnahme gewesen. Dennoch hat man ihnen eine imposante Masken-Installation gewidmet.

Der Rundgang beginnt mit dem kleinsten „Exponat“, dem nur unterm Mikroskop sichtbaren Erreger-Bakterium „Yersinia Pestis“. Das Exemplar ist natürlich tot, es kann keinen Schaden mehr anrichten. Es stammt übrigens aus Beständen der Münchner Bundeswehr-Hochschule. Ausschließlich dort darf in Deutschland an Pest-Bakterien geforscht werden.

Die in diesem Grab beigesetzten Toten starben nachweislich an der Pest (Archäologische und Anthropologische Staatssammlung München, 550 n. Chr. (Foto: LWL/P. Jülich)

In Herne gezeigt: Skelette zweier Pest-Opfer aus dem 6. Jahrhundert. (Archäologische und Anthropologische Staatssammlung München, 550 n. Chr.), dahinter ein Teil der großen Leuchtwand mit Totentanz-Motiven. (Foto: LWL/Peter Jülich)

In Europa wurde das Bakterium hauptsächlich durch Ratten verbreitet, die die Krankheit via Flohbefall übertragen haben. In anderen Weltgegenden waren es andere Nager wie etwa Murmeltiere. Solche (mikro)biologischen Zusammenhänge werden zu Anfang erläutert.

Skelette und Totentanz

Im Zentrum des Ganzen erhebt sich als Leuchtwand ein zehn mal vier Meter großes Schaubild, ein Totentanz nach traditionellem Vorbild, jedoch in moderner Gestaltung. Davor sieht man die ungemein gut erhaltenen Skelette zweier Pest-Opfer aus dem 6. Jahrhundert. Man kommt nicht umhin, so etwas zu zeigen. Insgesamt geht man das Thema allerdings möglichst nüchtern an – ohne unnötige Gruseleffekte. Bloß keine Horror-Show!

Dennoch gibt es Gründe zum Erschrecken. Beispielsweise über hysterische Schuldzuweisungen, über mit Folter erzwungene Geständnisse. Die so rätselhafte Pest wurde oftmals Fremden und nicht selten jüdischen Bürgern angelastet. Davon zeugt etwa ein 1348 aufgesetztes Dokument aus Frankfurt, in dem bereits die posthume Verteilung jüdischer Habe „geregelt“ wurde.

Furchtbar auch die Anfänge dessen, was man fast schon als biologische Kriegführung bezeichnen könnte: Im 17. Jahrhundert wollte der venezianische Geheimdienst mit Pestsekret bestrichenen Filzstoff an Türken verkaufen. Der hinterhältige Plan wurde aber durchkreuzt.

Religiöse Folgen der Seuche: Der heilige Rochus von Montpellier wurde im ausgehenden Mittelalter als Helfer wider die Pest verehrt (Foto: LWL/P. Jülich)

Eine von zahlreichen religiösen Folgen der Seuche: Der heilige Rochus von Montpellier wurde im ausgehenden Mittelalter als Helfer wider die Pest verehrt. (Foto: LWL/Peter Jülich)

Breiten Raum nehmen religiöse Folgen der Pest ein, die vielfach als Strafe Gottes galt. Einige Objekte beziehen sich auf spezielle Schutzheilige wie Sebastian und Rochus oder auf die Entstehung von Bitt-Prozessionen, deren Nachfolger sich teilweise bis heute gehalten haben, so u. a. in Münster und Castrop-Rauxel. Apropos Westfalen: Im Gefolge der Pest lagen hier – wie auch andernorts – Wirtschaft und der Handel darnieder, ganze Landstriche entvölkerten sich.

Heilpflanzen mit Gold gemixt

Weiterer Schwerpunkt sind Versuche, die Menschen mit den damaligen Mitteln der Medizin zu kurieren. Wie u. a. Rezeptbüchern zu entnehmen ist, experimentierte man mit allerlei Heilpflanzen. Arme Leute fanden sie kostenlos am Wegesrand, für Wohlhabende wurden Mittel mit teuren Gewürzen und Gold gemixt. Geholfen hat beides nicht. Auch Tabaksrauch, Aderlass und Einläufe blieben wirkungslos.

Glaube, Aberglaube und Wissenschaft waren noch nicht streng voneinander geschieden. Doch ein bizarres Exponat wie jener Schwarze Hahn, der als Sinnbild des Urbösen heilsam auf Pestbeulen gesetzt werden sollte wie auf ein Ei, dürfte schon damals eher ungläubige Verwunderung ausgelöst haben.

Schwerstes Schaustück ist übrigens ein kapitaler Anker. Er gehörte zum französischen Schiff „Grand Saint Antoine“, mit dem 1720 die Pest nach Marseille kam.

Die Pest, so ein Fazit der Schau, ist ein steter Begleiter der Menschheit. Auch heute noch bricht sie manchmal epidemisch aus, zuletzt 2017 auf Madagaskar. Nur gut, dass man der Seuche seit Entdeckung des Pesterregers anno 1894 (vor 125 Jahren) nicht mehr schutzlos ausgeliefert ist.

„Pest!“ LWL-Museum für Archäologie, Herne, Europaplatz 1. Noch bis zum 10. Mai 2020. Di, Mi, Fr 9-17, Do 9-19, Sa/So 11-18 Uhr.

https://pest-ausstellung.lwl.org/de/

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Der Beitrag ist zuerst gedruckt erschienen, und zwar im „Westfalenspiegel“. Internet-Auftritt des Magazins, das in Münster herauskommt: https://www.westfalenspiegel.de/




Regionale Erdung, weiter Horizont – Buch und Ausstellung zum Thema „Mensch & Tier im Revier“

Der Titel „Mensch & Tier im Revier“ wirkt anheimelnd. Doch dieses Buch kommt vor allem anfangs auch mit gewichtigem theoretischen Unterbau und gesellschaftskritischem Besteck daher. Anlässe gibt’s ja genug.

Und so erfahren wir eingangs, dass das menschengeprägte Erdzeitalter, das Anthropozän, sich in der bisherigen Form dem Ende zuneige und dass wir endlich in eine – Achtung, Neologismus! – „humanimale Sozietät“ eintreten sollen. Sprich: Mensch und Tier mögen gleichsam auf Augenhöhe existieren, dem Tier wird eine Art „Inklusion“ zuteil und es sieht seinen so ganz anderes gearteten Geist (jawohl: Geist) gleichberechtigt gewürdigt. Eine ferne Utopie? Oder eine dringliche Notwendigkeit? Jedenfalls eine Sichtweise, die sich mit herkömmlichen Zoos oder zirzensischen Attraktionen nicht mehr vereinbaren lässt.

Grubenpferd, „Taubenvatta“ und Bergmannskuh

In fünf Hauptkapiteln greift der hochinteressante Band (und die zugehörige Ausstellung im Essener Ruhr Museum mit über 100 Exponaten und mehr als 100 Fotografien) die Aspekte seines vielfältigen Themenkreises auf, der nach Möglichkeit mit prägnanten Belegstücken aus der Geschichte des Reviers illustriert wird. Und ja: Auch der früher so allgegenwärtige „Taubenvatta“ sowie die Ziege als „Bergmannskuh“ kommen natürlich ebenso vor wie Gruben- oder Brauereipferde.

Der Horizont des Buches wie der Schau reicht allerdings weit über die Region hinaus, er erstreckt sich zugleich ins Existenzielle und Universelle. Man darf getrost von einem Standardwerk zum Thema sprechen, wobei es in den Texten häufig deutlich ernster zur Sache geht als in den Illustrationen.

Die Kapitel-Überschriften lauten:

1.) Tiere töten
2.) Tiere nutzen
3.) Tiere lieben
4.) Tiere ordnen
5.) Tiere deuten

Der Mensch handelt, das Tier erduldet und erleidet

Da gibt es, allen Differenzen zum Trotz, Gemeinsamkeiten: Immerzu ist nämlich der Mensch der Handelnde, das Tier erduldet und erleidet zu allermeist die Aktionen und Emotionen des Homo sapiens. Das biblische „Macht euch die Erde untertan“ wirkt lange und vielfach schrecklich nach.

Ganz unverhüllt und explizit zeigt sich das Gewaltverhältnis zu Beginn: „Tiere töten“ handelt vornehmlich von Jagd und Schlachtung, aber auch von rabiater Insektenvernichtung oder massenhaft überfahrenen Tieren. In den Blick gerät selbst ein Bildschirmspiel wie „Moorhuhn“, bei dem die Comic-Tierchen halt bedenkenlos abgeknallt werden. Befinden wir uns hier im Grenzgelände zwischen berechtigter Mahnung und humorfreier Spaßbremsung?

Auch in der Abteilung „Tiere nutzen“ verhält es sich nicht gerade zu wie auf dem sprichwörtlich idyllischen Ponyhof: Da geht es etwa um barbarische Tierversuche, erbärmlich ausgebeutete Grubenpferde, Brieftauben im Militärdienst, rücksichtslose Elfenbein-, Pelz- und Leder-Gewinnung, wobei im Ruhrgebiet das vielzitierte „Arschleder“ der Bergleute nicht fehlen darf.

Objekte der sortierenden Wissenschaft

„Tiere lieben“ klingt demgegenüber harmlos und versöhnend, doch auch die oftmals übertriebene Vermenschlichung und Verniedlichung der Tiere wird deren Wesen keinesfalls gerecht. Die herablassende Haltung schließt etwa die Zurschaustellung in Varietés und Zirkuszelten mit ein. Auch der vermeintliche „Schutz“ von Tieren hat furchtbare Kehrseiten: So wurden in Kriegszeiten Pferde in die Schlachten geschickt, notfalls mit Gasmasken versehen. Das war natürlich alles andere als mitfühlend.

„Tiere ordnen“ bezieht sich auf die Systematik der wissenschaftlichen Betrachtung, die im Tier vor allem ein Objekt sieht. Ausgestopfte Exemplare in naturkundlichen Sammlungen sind nur ein Ausdruck dieses herrschaftlich sortierenden und zergliedernden Zugriffs auf die Schöpfung, zu dem sich die Menschen selbst ermächtigen. Überdies umfasst der „Ordnungs“-Gedanke auch die ideologische Indienstnahme der Tiernatur – bis hinab zur 1935 in Essen gezeigten Ausstellung „Mensch und Tier im deutschen Lebensraum“, die unterm überdimensionalen Hitlerbild und unter Schirmherrschaft des „Reichsjägermeisters“ Göring rund 350.000 Besucher anzog.

Mit Blattgold überzogener WM-Krake

Schließlich „Tiere deuten“. Hier erfährt man von mancherlei Zuschreibungen symbolischer oder religiöser Art, mit denen der Mensch sich das Tier gedanklich für seine emotionalen Bedürfnisse zurechtlegt. Das Spektrum reicht hier vom putzigen Zigaretten-Igel bis zum Amulett und Wappentier, vom Tierkreiszeichen bis zum prolligen Fuchsschwanz am Auto-Rückspiegel.

Sogar der Oberhausener Fußball-Krake Paul, der bei der EM 2008 und bei der WM 2010 so manches Match mit deutscher Beteiligung richtig „vorhersagte“ und posthum mit Blattgold überzogen wurde, wird in diesem Zusammenhang noch einmal dargeboten. Das Exponat stammt übrigens aus dem Deutschen Fußballmuseum in Dortmund und zeugt auf bizarre Weise von einem obsoleten Blick auf die Tierwelt.

Das Buch

Heinrich Theodor Grütter / Ulrike Stottrop (Hrsg.): „Mensch & Tier im Revier“. Klartext Verlag, Essen. 304 Seiten Katalogformat, fester Einband, über 230 Abbildungen. 29,95 Euro.

Die gleichnamige Ausstellung

„Mensch & Tier im Revier“. Bis zum 25. Februar 2020 im Ruhr Museum auf Zeche Zollverein, Essen. Mo bis So 10-18 Uhr. 24., 25. und 31.12 geschlossen. Eintritt 3 Euro, ermäßigt 2 Euro. Welterbe Zollverein, Areal A (Schacht XII), Kohlenwäsche (A 14), Gelsenkirchener Straße 181. www.ruhrmuseum.de 




Von der Eiszeit bis zur Digitalisierung – eine umfangreiche Geschichte der Ostsee

Seltsame Wesen sollen einst an den Gestaden der heutigen Ostsee gelebt haben. Der römische Naturforscher und Universalgelehrte Gaius Plinius Secundus Maior (ca. 23-79 n. Chr) vermochte über mutmaßliche Menschen des hohen Nordens freilich nur vom Hörensagen zu schreiben: 

Man erzähle von Inseln, „auf denen Menschen mit Pferdefüßen geboren werden (…) und von anderen, auf denen die Bewohner ihre sonst nackten Körper durch ihre übergroßen Ohren völlig bedecken sollen.“

Klingt ein bisschen spekulativ, oder? Die Landstriche wurden von Süden her erst recht spät entdeckt. Dieser Umstand ließ viel Raum für Phantasien, die das gänzlich Unbekannte und Fremde zu imaginieren suchten. Erst 1539 fertigte der Schwede Olaus Magnus, Bischof von Uppsala und Kartograph, eine einigermaßen brauchbare Landkarte an, die den wirklichen Umrissen schon ähnelt.

Heute wissen wir’s etwas besser. Manche, wie der Kieler Historiker Prof. Martin Krieger (Spezialgebiet: Geschichte Nordeuropas), kennen sich so gut mit der Materie aus, dass sie ein Buch daraus machen, welches über weite Strecken als Standardwerk gelten darf und sich als vorbereitende oder begleitende Lektüre zum nächsten Ostsee-Urlaub empfiehlt: „Die Ostsee. Raum – Kultur – Geschichte“ ist eine umfassende Darstellung so gut wie aller Aspekte, die das relativ kleine Meer (es würde ungefähr zweimal in die Nordsee und rund 300 Mal in den Atlantik passen) betreffen. Manches kann freilich nicht tiefgreifend erläutert, sondern nur gestreift werden. Wie denn auch anders?

Lange unter einer Eisschicht verborgen

Zunächst die erdgeschichtliche Dimension: Als im heutigen Frankreich und Spanien schon die Höhlenmaler zugange waren, lastete auf dem späteren Ostsee-Areal noch eine dicke Eisschicht. Die nachfolgende Erderwärmung war dazumal eine günstige Entwicklung, sie ermöglichte Leben und später die dauerhafte Besiedlung des europäischen Nordostens. Die Ostsee-Anrainer hießen später Norddeutschland, Dänemark, Schweden, Polen und Baltikum sowie Finnland, auch gehörte ein Teil Russlands um St. Petersburg hinzu.

Im Vergleich zu südlichen Gefilden des Kontinents war der Nordosten stets mit ziemlicher Verspätung an der Reihe, auch die Christianisierung vollzog sich hier erst mit großer Verzögerung. Kehrseite: Die Gegenden rund um dieses oft stille, zuweilen aber auch tosend gefahrvolle Meer galten mitsamt den Bewohnern als urtümlich. Ein rätselhafter Ostsee-Fund, nämlich eine Buddha-Figur aus dem 6. Jhdt. n. Chr., scheint jedoch darauf hinzudeuten, dass es schon zu jener frühen Zeit keine völlige Isolation von aller Welt gegeben haben kann.

Als Schiffe in Heringsschwärmen steckenblieben

Und so entwirft der Kieler Professor ein historisches Ostsee-Panorama, das über die Stein-, Bronze- und Eisenzeit sowie die (auch nicht so leicht einzugrenzende) Wikingerzeit zunächst bis zur Hanse reicht. Hier halten wir kurz inne. Wir erfahren, dass es sich gar nicht um einen festgefügten Städtebund gehandelt habe, sondern eher um lose Verbindungen ohne Gründungsakt oder übergreifende Verträge. Deshalb könne man auch nicht exakt sagen, welche Stadt zu welcher Zeit dazugehört hat. Jedenfalls begann im 13. Jahrhundert der Aufstieg Lübecks, und die Hansekogge ersetzte alsbald zunehmend die alten Formen der Wikinger-Schiffe, denn in den bauchigen Koggen ließ sich erheblich mehr Ware transportieren, was den aufblühenden Handel begünstigte.

Eine vielleicht nur unwesentlich übertriebene zeitgenössische Darstellung des dänischen Geschichtsschreibers Saxo Grammaticus besagt, die Heringsschwärme seien damals so ungeheuer dicht gewesen, dass Schiffe sie kaum durchdringen konnten, manche seien buchstäblich im Fisch steckengeblieben…

Backsteingotik, Reformation und Aufklärung

Und weiter geht’s durch die Epochen: die Zeit des Deutschen Ordens (Besiedlung und Kolonisierung ostwärts), das Aufkommen der Backsteingotik, die auch im Norden furchtbar grassierende Pest, sodann die Reformation, der Dreißigjährige Krieg, der Fernhandel im Zeichen des Kolonialismus (in dem die Ostseeregion wegen der gar zum umständlichen Seewege nach Indien eher eine Nebenrolle spielte). Allerdings gab es auch dänische Sklavenhändler, die Waffen produzierten, für den Gegenwert in Afrika Sklaven kauften, die wiederum auf karibischen Inseln beim Zuckeranbau ausgebeutet wurden. Eine schreckliche Frühform der „Globalisierung“.

Großen Anteil an der Entwicklung eines Regionalbewusstseins (nicht nur rund um die Ostsee) hatte in der Aufklärung Johann Gottfried Herder, der jeder Region einen unvergleichlichen Eigenwert beimaß. Dass mit Immanuel Kant einer der größten Köpfe der Aufklärung just an der Ostsee, nämlich in Königsberg höchst sesshaft war, dürfte sich herumgesprochen haben.

1793 eröffnet mit Heiligendamm das erste Seebad

1793 beginnt eine bis heute reichende Entwicklung, die auch einen Ausgangspunkt des Buches bildet, nämlich die Entstehung der Urlaubsregion Ostsee. Im genannten Jahr eröffnete das Seebad Heiligendamm in Mecklenburg. Auch hierbei pflegte man sorgsam das Bild von der Ostsee als einer unverdorbenen und ursprünglichen Landschaft.

Allerdings ging auch die Industrialisierung nicht spurlos an der Ostsee vorbei. Kanäle und Eisenbahnbau durchschnitten die Landschaft, es wurden große Werften und andere Betriebe gegründet.

Relativ kurz abgehandelt werden die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts. Dazu heißt es, die Ostsee sei – mit wenigen Ausnahmen (Stichwort: Kieler Matrosenaufstand) – eher ein Nebenschauplatz gewesen. Wahrscheinlich ergibt es ja auch wenig Sinn, im Rahmen einer Gesamtschau näher auf grundstürzende Ereignisse einzugehen, für die man keine einzelnen Kapitel, sondern ganze Bücher braucht.

Weiterer Haltepunkt ist die „Wende“ um 1989, in deren Gefolge rund um die Ostsee alte, im Kalten Krieg abgeschnittene Handelswege wieder bedeutsam wurden. Man kann nur hoffen, dass das so bleibt.

Im Schlussteil, der „Bedrohungen und Chancen der Zukunft“ abwägt, geht Krieger seltsamerweise nicht auf den Klimawandel und einen womöglich ansteigenden Meeresspiegel ein, sondern – für sich schon bedrohlich genug – auf Vermüllung und Überfischung der Ostsee. Und die Chancen? Sieht Krieger vornehmlich darin, dass rund um Helsinki und Stockholm, aber auch in Dänemark und im Baltikum die Digitalisierung rasante Fortschritte mache. Deutschland wird dabei nicht eigens erwähnt…

Übrigens: Gerade angesichts der hervorragenden Druckqualität hätte man sich noch mehr prägnante Bebilderung gewünscht. Vielleicht in einer späteren Auflage?

Martin Krieger: „Die Ostsee. Raum – Kultur – Geschichte“. Reclam Verlag, 296 Seiten mit 7 Karten und 65 Abbildungen, Literaturverzeichnis und Register. Gebundene Ausgabe, Großformat (ca. 27 x 21 cm). 39 €.

 




Wie gefährdet ist unsere Demokratie? Eine Diskussion beim Evangelischen Kirchentag in Dortmund

In der Dortmunder Martinskirche (von links): Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow, Moderator Wolfgang Kessler und die Integrationsforscherin Prof. Naika Foroutan aus Berlin. – Verdeckt hinter Ramelow: der Soziloge Prof. Hartmut Rosa aus Jena. (Foto: Bernd Berke)

Auf dem Podium in der Dortmunder Martinskirche (v. li.): Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow, Moderator Wolfgang Kessler und die Integrationsforscherin Prof. Naika Foroutan aus Berlin. – Verdeckt hinter Bodo Ramelow: der Soziologe Prof. Hartmut Rosa aus Jena. (Foto: Bernd Berke)

Nun gut, wenn schon mal der Evangelische Kirchentag in Dortmund gastiert, kann man ja eine der rund 2000 Veranstaltungen aus dem rund 600 Seiten starken Programmkatalog aufsuchen. Wenn die dann noch in der nächstgelegenen katholischen (!) Kirche stattfindet, fällt’s einem wegen des kurzen Weges noch leichter. Zumal ein leibhaftiger Ministerpräsident zugegen war, nämlich Bodo Ramelow (Die Linke) aus Thüringen.

Man debattierte in der Kirche St. Martin über Gefährdungen der Demokratie – und darüber, ob selbige sich allenfalls noch marktkonform, aber nicht mehr wirklich frei entfalten könne. Der Wahrheit die Ehre: Die hier geäußerten Meinungen kamen ziemlich überein, es gab keine harsche Gegenposition, höchstens Nuancen. Und der Wahrheit noch mehr Ehre: Es war leider Gottes eine Veranstaltung mit einem 60-plus-Publikum. Interessieren sich die Jüngeren nicht mehr für solche Fragestellungen? Dabei haben sie sich doch im Zuge der Klimafurcht angeblich so sehr „politisiert“.

Verunsicherung und Vertrauensverlust

Prof. Hartmut Rosa, Soziologe von der Uni Jena, sprach in seiner ersten Diagnose von einer Wutgesellschaft – bis in die Spitzen großer Nationen (USA, Brasilien, Indien, Italien und England) hinein; von einem Vertrauensverlust nicht nur in politische Institutionen, sondern in die Hoffnung, dass man die Welt überhaupt noch gestalten könne. Hier klang – in negativer Wendung – das Leitmotto des gesamten Kirchentags an: „Was für ein Vertrauen“. Freilich ganz so, als müsse man dahinter ein großes Fragezeichen setzen.

Die Welt (oder auch: die Natur, die „zurückschlägt“), so Rosa weiter, werde zunehmend als bedrohlich wahrgenommen. Inzwischen gebe es vielfach geradezu eine Sehnsucht danach, dass die Natur dem Menschen Grenzen setzt. Als Triebkraft hinter all dem Vertrauensverlust machte er den neoliberalistischen Umbau der Wirtschaft mit allen Merkmalen des verschärften Wettbewerbs, der Beschleunigung und des schrankenlosen Wachstums aus – eine Gemengelage, die viele Menschen zutiefst verunsichere.

Wer wollte da auf dem Podium schon groß widersprechen? Eigentlich niemand.

Die andere Meinung einfach mal „aushalten“

Immerhin brachte Prof. Naika Foroutan, aus Berlin angereiste Integrationsforscherin von der Humboldt-Universität, weitere Tönungen ins Spiel. Sie sieht demokratische Institutionen gefährdet, weil sie von ihren Gegnern ausgehöhlt werden könnten. Dass diese Institutionen bislang weitgehend reibungslos funktionieren, besage noch nicht viel. Es gebe inzwischen Anzeichen für eine präfaschistische Entwicklung der Gesellschaft. Besondere Sorge bereitet ihr der harsche Dualismus, der weithin herrsche – entweder die eine Meinung oder die andere. Es werde immer gereizter diskutiert und nicht mehr zugehört, wenn eine andere Auffassung geäußert wird. Man solle jedoch Ambivalenzen und Widersprüche „aushalten“ können. Im Grunde eine Selbstverständlichkeit, die aber zu schwinden droht.

Zum leidigen Thema Integration sagte Frau Foroutan, es gelte, letztlich die gesamte Gesellschaft zu integrieren, nicht nur Migranten, sondern auch (benachteiligte) Deutsche. Es gehe um Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben für möglichst viele Menschen. Zur AfD-Klientel vermeldete sie Erstaunliches. Bei den Mitgliedern der Rechtspartei handle es sich vielfach um ausgesprochen gut verdienende Leute, längst nicht nur um „Abgehängte“. Und: Die AfD erhalte zwar im Osten mehr Wählerstimmen, werde aber überwiegend von Funktionären aus dem Westen gesteuert.

Zigtausend Hassmails an Ministerpräsident Bodo Ramelow

Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (übrigens gebürtiger Niedersachse), aus sicherlich guten Gründen mit Personenschutz erschienen, ließ das Ausmaß des (durchs Internet befeuerten) Hasses ahnen, der sich – beileibe nicht nur – gegen ihn richtet. Als er kürzlich mit einem Fleischermeister eine Aktion zur koscheren Bratwurst eingeleitet habe, habe er rund 100.000 überwiegend hasserfüllte Botschaften erhalten.

„Trotzdem gehe ich aufrecht durch die Stadt und fahre manchmal auch mit der Straßenbahn“, sagte der Erfurter Regierungschef, der kürzlich – ein absolutes Novum in Deutschland – dafür gesorgt hat, dass ein Thüringer Schloss (Reinhardsbrunn) enteignet werden konnte, weil die Besitzer es verfallen ließen. Er nahm es als ein Beispiel unter vielen, dass man politisch eben doch noch gestalten könne. Noch allgemeiner gefasst: „Wo kommen wir hin, wenn wir an Umverteilung nicht mal mehr denken dürfen?“

Sehnsucht nach dem Guten, Versuchung zum Bösen

Ramelow erwähnte auch einige Nadelstiche, mit denen man Rechtsrock-Veranstaltern in Thüringen das Leben schwer mache. Von Visionen mochte er einstweilen nicht sprechen, es gilt wohl zunächst, die Mühen der Ebene zu bestehen. Auch Ramelow glaubt derweil, dass es eine konkrete faschistische Gefahr im Lande gibt und führte den oft zitierten Brecht-Spruch an: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“

Prof. Rosa schwenkte schließlich sozusagen auf die Glaubensspuren des Kirchentags und der Nächstenliebe ein. Es gebe unter den Menschen eine (zuweilen unterdrückte?) Sehnsucht, Gutes zu tun. Demgegenüber machte Prof. Foroutan einen starken Drang zum Bösen aus. Alle Menschen wollten Anerkennung, manche hätten gemerkt, dass sie sich diese auch durch Machtausübung verschaffen könnten… Womit die von Wolfgang Kessler (Ex-Chefredakteur des Publik-Forums) moderierte Debatte auf dem weiten, weiten Felde zwischen Gut und Böse angekommen war. Sage niemand, dass dafür nur die Bibel zuständig sei.

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Infos zum Evangelischen Kirchentag in Dortmund: https://www.kirchentag.de/aktuell_2019/




Vom religiösen Kult zum Massensport – über die Anfänge des Fußballspiels

Abgelegenes Fußballfeld in einem Dortmunder Vorort. (Foto: Bernd Berke)

Torgestänge mit Patina: abgelegenes Fußballfeld am Rande von Dortmund. (Foto: Bernd Berke)

Aus gegebenem Anlass zum Auftakt der Frauen-WM an diesem Wochenende: Gastautor Heinrich Peuckmann mit einem Beitrag zur Vorgeschichte des heutigen Fußballs.

Wie ist eigentlich der Fußballsport entstanden, jenes Spiel, das rund um den Erdball alle Menschen fasziniert – egal, in welchen Kulturen sie leben? Über welche Zwischenschritte hat er sich entwickelt zu jenem Spiel mit ausgeklügelten Taktiken, das  heute die Massen rund um den Globus fasziniert?

Wie so oft bei großen Entwicklungen der Menschheit liegen die Ursprünge im Kult, also in der Religion. Im 2. Jahrtausend vor Chr. gab es ihn schon in China. Tsu Chu hieß er und diente zuerst vermutlich der körperlichen Ertüchtigung der Soldaten, bevor er vom Volk übernommen wurde, wodurch sich sein Zweck Gott sei Dank änderte.

Die sanfte Variante, made in China

Ziel wurde nun die perfekte Beherrschung des Balles durch den einzelnen Spieler, der den Ball hoch halten, ihn mal mit dem einen, mal mit dem anderen Bein spielen sollte. Wertevorstellungen für ein harmonisches Zusammenleben wurden durch ihn vermittelt. Rudi Gutendorf, Weltenbummler in Sachen Fußball und zwischendurch natürlich auch Trainer in China, hat dieses ursprüngliche Ziel mehr als 3000 Jahre später leidvoll erfahren. Den Chinesen fehle der Biss, sie hätten keinen Drang zum Tor, hat er resignierend geurteilt. Es war eben Tsu Chu, die sanfte, unaggressive Variante, die er gesehen hatte, nicht Bundesliga-Fußball.

In Japan ist der Bezug zur Religion bis heute erkennbar, denn dort ist Fußball Teil des Shinto-Kultes. Kemari heißt er und wird im Tempelbezirk von Männern in ritueller Kleidung durchgeführt. Den geweihten Ball zum Spiel bringt der Priester. Auch die Mayas und Azteken kannten den Fußballsport, wo es galt, den Ball durch einen Steinring an einer Mauer zu treten.

Im antiken Griechenland finden wir Abbildungen von Fußballspielern auf Vasen und Tellern. Bei den Spartanern diente Fußball wieder zur körperlichen Ertüchtigung der Jungen, weil die Spartaner eben Wert auf kriegerische Stärke legten und nicht auf Kultur. Weshalb, als Folge dieser Ausrichtung, von ihnen wenig erhalten ist, so dass wir heute, wenn wir nach Griechenland fahren, Athen besichtigen und nicht Sparta. Irgendwie ist die Welt halt doch gerecht.

Den Ball bis ins eigene Dorf vorantreiben

Im nördlichen Europa waren seine Anfänge wirr. Beim Volksfußball in England ging es anfangs darum, den Ball ins eigene Dorf zu schießen, auf den Markplatz, durchs Stadttor oder gegen den Kirchturm. An manchen Orten soll es sogar Ziel gewesen sein, den Ball auf den Friedhof zu schießen. Tobende Jungen in wildem Durcheinander muss man sich vorstellen. Auch Shakespeare erwähnt in einem seinem Stücke dieses wilde Spiel, verständlicherweise mit abfälligem Tonfall.

Erst später wurde der heutige Kampfsport mit zwei gegeneinander spielenden Mannschaften daraus. Ziel wurde nun das Tor des Gegners, in das es fortan zu treffen galt. Die Anzahl der Spieler schwankte lange.

Häufig gab es dabei Ärger mit der Polizei, denn Zeit zum Spielen hatten die ersten Fußballer nur sonntags. Und da, fanden die Puritaner, sollte Gott verehrt werden, nicht ein Lederball oder eine Schweinsblase. Bestraft wurden aber oft nur die Zuschauer, die sich zum Spiel eingefunden hatten, die Fußballer selbst konnten der Polizei entwischen. Schnelligkeit und Kondition spielten schon damals eine Rolle.

Verheiratete gegen unverheiratete Frauen

In einem englischen Dorf war es sogar Brauch, dass einmal im Jahr die verheirateten Frauen gegen die unverheirateten antraten. Wobei, wie die Chroniken verraten, meistens die verheirateten gewannen. Sie hatten in der Ehe vermutlich gelernt, wie man sich durchsetzt. Das waren, wenn man so will, die Anfänge des Frauenfußballs. Sind die deutschen Spielerinnen bei der diesjährigen Fußball-WM eigentlich verheiratet? Wer weiß, welchen Vorteil man andernfalls verschenkt.

Die heutigen Regeln mit Abseits, Spielerzahl usw. wurden erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts festgelegt, in England, wo der moderne Fußball seinen Anfang nahm. Ein Prozess von mehr als 3000 Jahren lag da hinter ihm. Von da an dauerte es nicht einmal mehr hundert Jahre, bis er seinen Siegeszug um die Welt vollendet hatte.




Trotz eher geringfügiger Titelchancen: In Dortmund grassiert mal wieder das schwarzgelbe Fußballfieber, denn vielleicht…

Vor ziemlich genau 8 Jahren wurde eine Hausfassade in Dortmund meisterschaftsgerecht umgestaltet. (Foto: Bernd Berke)

In jenem Moment noch unvollendet: Vor ziemlich genau 8 Jahren wurde diese Dortmunder Hauswand meisterschaftsgerecht umgestaltet. (Foto: Bernd Berke)

Jetzt dreht man hier in Dortmund schon wieder durch. Zumindest stehen viele Leute kurz davor. Denn rein theoretisch hat der BVB noch Chancen auf den Gewinn der Deutschen Fußballmeisterschaft. Für Schalker kurz erläutert: Dat is‘, wennze die Schale kriss‘.

BVB-Geschäftsführer Watzke wird mit dieser fast übermütigen Einlassung zitiert: „Meine Hoffnung wird jeden Tag größer. Ich bin selber ganz verwundert, weil ich eigentlich Skeptiker bin.“ Er habe, so Watzke demnach weiter, das „Gefühl, dass wir vor großen Dingen stehen“. Er könne es auch nicht erklären. Tja, wer kann das schon?

Unterdessen heißt es bereits, dass die Stadt Dortmund zu etwaigen Meisterfeiern mindestens rund 200.000 Fans erwarte (im verwöhnten München wären es wahrscheinlich gerade mal ca. 20.000 Versprengte, wenn überhaupt). Auch hat man hier bereits die Strecke für einen Autokorso ausgeguckt und abgesteckt: Start wäre am Sonntag um 14:09 Uhr, der Lindwurm der Freude würde sich vom Gelände der Westfalenhütte via Borsigplatz bis zum Ziel am Hohen Wall durch die Gegend winden. Nun gut, so etwas will ja wirklich von längerer Hand geplant sein. Aber es wirkt schon ein wenig vermessen, darüber zu reden. Man sollte es überhaupt nicht beschreien, da bin ich abergläubisch. Nicht schon vorher grölen: „Ey, hömma, Meista!“

Wenn schon, dann so richtig schweinemäßig ungerecht!

Zwischenzeitlich hat die Mannschaft des BVB ja so manches getan, um ihre Titelchancen zu vergeigen. Neun Zähler Vorsprung waren unversehens und erstaunlich rasch dahingeschmolzen. Tiefpunkte waren die grottigen Spiele ausgerechnet gegen Bayern und Schalke. Da hat Trainer Lucien Favre ganz traurig geguckt.

Doch unverhofft ist Borussia Dortmund noch einmal auf zwei Punkte an die Bayern herangekommen – bei ungleich schlechterem Torverhältnis. Bekanntlich muss man am morgigen letzten Liga-Spieltag bei der anderen Borussia in Gladbach antreten, für die es noch um etwas geht (Teilnahme an der Champions League), während Bayern die zuletzt so wechselhaften Frankfurter empfängt, die gleichfalls noch gut Punkte gebrauchen können (wg. Teilnahme an der Europa League oder gar an der Champions League). Den Münchnern reicht jedenfalls ein schnödes Unentschieden. Doch ihr etatmäßiger Torwart Manuel Neuer fällt aus – und es brodeln die Gerüchte um eine Entlassung von Trainer Kovac. Psycho!

Hoffentlich entscheidet nicht irgend ein dubioser Video-„Beweis“ über Wohl und Wehe, ein aus unerfindlichen Gründen zurückgenommener Elfmeter, ein erst aberkanntes und dann doch noch anerkanntes Törchen, ein angebliches Abseits, ein harmloses Foul mit anschließender „Schwalbe“, ein vermeintliches Handspiel („An-ge-schos-sääään! – Wo soll er denn hin mit der Hand?“). Wenn schon, dann soll’s aber so richtig schweinemäßig ungerecht zugehen, damit man hernach alles auf den Schiri schieben kann. Ganz wie früher. Hach. Und wenn wir schon bei Ungerechtigkeiten sind: Nicht unbedingt die Besseren sollen gewinnen (gähn!), sondern die Richtigen, hoho. Keine Widerrede jetzt!

Jeder Aspekt der bevorstehenden „Endspiele“ wird nun um und um gewälzt. Ungemein wichtige Sportredakteure schreiten derzeit mit breiter Brust und dicker Hose durch die Medienhäuser. Soooo spannend war das Finale der Liga seit Jahren nicht mehr. Und sie haben es schon immer gewusst.

Lindner und Özdemir setzen auf Schwarzgelb, Kühnert nicht

BVB-Kapitän Marco Reus ist nach seiner Rot-Sperre wieder dabei – und vielleicht hat Jadon Sancho erneut seine genialischen Momente. Der Junge hat in der gesamten Bundesliga die meisten erfolgreichen Dribblings bestritten. Darauf hätte man auch ohne Statistik gewettet.

Apropos wetten. Jetzt wurden wieder Politiker und sonstige Promis ‚rauf und ‚runter befragt, auf wen sie denn tippen. Für ein Boulevardblatt ist eine sinistre „Wahrsagerin“ angetreten. Außerdem gerade gelesen: Christian Lindner setzt auf „seinen“ BVB (der Mann sitzt im Wirtschaftsrat des Vereins, trotzdem hat man ein mulmiges Gefühl, wenn er Schwarzgelb so höchstpersönlich für sich vereinnahmt), Cem Özdemirs Hoffnungen gehen in dieselbe Richtung. Aber nix mit rot-gelb-grün. Denn Kevin Kühnert hält es mit Bayern München. Der soll bloß aufpassen, dass er nicht auf einmal enteignet wird! Das geht manchmal ganz flott – und schon is‘ der Ball wech…




Dortmund im Juni: Kunst, Kultur und Kabarett beim Evangelischen Kirchentag

Wiederkehr zum Kirchentag: Pop Oratorium „Luther", hier eine Szene der Uraufführung in der Dortmunder Westfalenhalle am 31. Oktober 2015 – mit Frank Winkels (Mitte) in der Titelrolle. des Reformators.

Zum Kirchentag wieder zu erleben: das aufwendige Pop-Oratorium „Luther“ – hier eine Szene der Uraufführung in der Dortmunder Westfalenhalle am 31. Oktober 2015, mit Frank Winkels (vorn Mitte) in der Titelrolle des Reformators. (© Stiftung Creative Kirche, Witten)

Vier Bundespräsidenten, neben dem amtierenden drei seiner Vorgänger, die Bundeskanzlerin, der NRW-Ministerpräsident, zahlreiche Bundes- und Landesminister, sie alle haben zwischen dem 19. und 23. Juni Termine in Dortmund. Während der fünf Tage ist die Stadt Gastgeber des 37. Deutschen Evangelischen Kirchentags, der mit geballter Polit-Prominenz aufwartet.

Bundespräsident Frank Walter Steinmeier hält einen der Hauptvorträge und befasst sich mit „Zukunftsvertrauen in der digitalen Moderne“, Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht über die Frage „Vertrauen als Grundlage internationaler Politik?“ NRW-Ministerpräsident Armin Laschet findet sich zur Bibelarbeit ein, Bundesaußenminister Maas diskutiert mit Friedensnobelpreisträger Denis Mukwege, wie es sich mit der Verantwortung Deutschlands zum Schutz von Frauen und Kindern verhält – und Arbeitsminister Hubertus Heil erörtert mit Verdi-Chef Frank Bsirske, wie es um den Wert der Arbeit bestellt ist.

Insgesamt 2500 Veranstaltungen

Die Auftritte der Politiker sind Teil eines Programms mit rund 2.500 Veranstaltungen. Täglich werden rund 100.000 Besucher erwartet. Neben Debatten und Podiumsgesprächen gehören Gottesdienste, Workshops und Konzerte ebenso dazu wie Ausstellungen und Installationen. Kulturelle Angebote machen mit rund 600 Veranstaltungen fast ein Viertel des Programms aus. Mit dabei sind z. B. die Schauspielerin und Sängerin Anna Loos, der Musiker und Songwriter Adel Tawil, die Band Culcha Candela und das Bundesjugendjazzorchester. Konzertbühnen werden auf dem Hansa- und Friedensplatz sowie dem Alten Markt stehen.

Das „Depot“ an der Immermannstraße soll zu einer „Kulturkirche“ werden. Die Schwerpunktthemen sind hier Heimat und Kunstfreiheit. Die Schriftstellerin Thea Dorn, der Programmchef des Deutschland Radio Kultur, Hans-Dieter Heimendahl, der Intendant der Ruhrfestspiele, Olaf Kröck, und Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD), sind zu Gesprächsrunden eingeladen. Das Programmkino des Depots zeigt eine Reihe von aktuellen Filmen, unter anderem „The Cleaners – Im Schatten der Netzwelt“. Die Dokumentation berichtet über die Arbeit Zehntausender von Menschen, die im Auftrag von Internetkonzernen belastende Fotos und Videos auf den Portalen von Facebook, Twitter etc. löschen. Darüber hinaus wird der Regisseur Züli Aladag über seinen Film „Die Opfer – Vergesst mich nicht!“ sprechen, der sich mit den NSU-Morden befasst.

Vertrauen auch als literarisches Thema

Im Freizeitzentrum West (FZW) an der Ritterstraße gibt‘s Kabarett aus der und über die Kirche, die Gruppe Klangwerk aus Bayreuth bringt Deutschpop zu Gehör, der Dortmunder Liedermacher Fred Ape ist zu Gast und zudem wird die Veranstaltungsstätte Ort für einen Techno-Gottesdienst sein, Thema: „Menschenrechte – Gottes Wort!?“ Eine bunte Musikvielfalt bieten zahlreiche Songwriter im „domicil“ an der Hansastraße, in dem auch abends um 22.30 Uhr ein kabarettistischer Tagesrückblick gehalten wird. In den Westfalenhallen wird sich der Kabarettist Serdar Somuncu an einer Runde zur #MeToo-Debatte beteiligen. Eckhardt von Hirschhausen diskutiert mit Jugendlichen über Klima und Umwelt.

Im Industriemuseum Zeche Zollern (Stadtteil Bövinghausen) setzt sich unter dem Leitgedanken „Erinnern, Begegnen, Bedenken“ eine Ausstellung mit der Geschichte des Reviers auseinander. Darüber hinaus sind Aufführungen vorgesehen, die weltweite historische Ereignisse eingehen. Das Hoesch-Museum zeigt eine Ausstellung, die dem Thema „Migration und Religion im Ruhrgebiet“ gewidmet ist.

Da der Kirchentag das Motto „Was für ein Vertrauen“ trägt, steht auch das Literaturfest der Großveranstaltung unter dieser Losung. Zahlreiche Autoren aus der Region lesen aus ihren aktuellen Büchern passende Passagen. Nachmittags ab 15 Uhr sind Kinder eingeladen, sich zu einem Mitmachprogramm einzufinden, Zeit für Erwachsene nehmen sich Frank Goosen, Sarah Meyer-Dietrich, Ralf Thenior und weitere Autoren ab 19 Uhr.

Gewaltiges Pop-Oratorium über Luther

Freunde elektronischer Musik können sich auf die Uraufführung der Kammeroper „Nova – Imperfection Perfection“ des zeitgenössischen Komponisten Franz Danksagmüller freuen. Das Pop-Oratorium „Luther“ mit 2.000 Mitwirkenden erlebt eine weitere Aufführung am 20. Juni in den Westfalenhallen.

Während der gesamten Dauer des Kirchentages ist am Fredenbaumplatz eine Installation aus Klang und Licht zu sehen, die die evangelische Jugend aus dem Osten Berlins geschaffen hat. Die Klanginstallation Kuckucksuhrenorgel des Künstlers Erwin Stache, wird am Donnerstag von 10 bis 22 Uhr zwei Mal pro Stunde an St. Nicolai (Lindemannstraße) zu hören sein. Südkoreanische Künstler stellen ein Projekt vor, das das Thema Frieden in den Fokus rückt. Darüber hinaus öffnen Museen ihre Türen. Im Dortmunder U ist eine interaktive Ausstellung zur Skate-Kultur zu sehen.

Mit drei Gottesdiensten (am Ostentor, auf dem Hansa- und dem Friedensplatz) wird der Kirchentag am 19. Juni eröffnet, gefolgt vom Willkommensfest, das die Stadt und die Evangelische Landeskirche von Westfalen ausrichten. Der Abschluss erfolgt im Westfalenpark und im Westfalenstadion („Signal Iduna-Park“).

Infos unter https://www.kirchentag.de/




Warum ausgerechnet elf? Eine Fußball-Frage, die wohl niemand eindeutig beantworten kann

Oft genug passend: Inschrift auf einem Dortmunder Grabstein (Ostfriedhof). (Foto: Bernd Berke)

Oft genug passend – auch in diesem Falle: Inschrift auf einer Dortmunder Grabstätte (Ostfriedhof). (Foto: Bernd Berke)

Gastautor Heinrich Peuckmann über eine Grundsatzfrage des Fußballs:

Immer dieselben Fragen. Wer wird Meister, wer steigt ab? Schafft es die Borussia dieses Jahr oder siegen wieder die Bayern? Nur die alles entscheidende Frage stellt wieder keiner. Warum elf? Es könnten doch auch zehn sein, die in einer Fußballmannschaft spielen. Oder zwölf. Aber nein, es sind elf.

Ich sitze im Stadion, höre die Mannschaftsaufstellungen und frage mich: Warum werden nicht mehr, warum nicht weniger Namen aufgerufen?

Frage ich meinen Nachbarn nach dem Grund, gibt es jedes Mal ungläubiges Staunen. Was ist das den für einer? Was will der denn hier im Stadion?

Dabei sind Zahlen niemals zufällig, sie haben immer eine Bedeutung. Sieben zum Beispiel ist eine heilige Zahl. In sieben, nicht in acht Tagen ließen die Verfasser der Bibel Gott die Welt erschaffen. Sieben, nach der Anzahl der damals bekannten Sterne. Vielleicht aber auch, weil sie sich aus drei und vier zusammensetzt. Drei für die kleinste Form der Familie (Vater, Mutter, Kind), vier für die Elemente, in denen das Leben stattfindet (Feuer, Wasser, Wind und Erde).

Heilige 7, Fülle der 12

Zwölf ist die Zahl der Fülle. In zwölf Neumonden hat sich der Zyklus des Jahres mit säen, wachsen, ernten und ruhen erfüllt. Aus zwölf Stämmen bestand das Volk Israel. Als Jesus zwölf Jünger um sich versammelte, berief er symbolisch das gesamte Volk.

40 beschreibt die Dauer des verantwortlichen Lebens. Nach 40 Jahren Wüstenwanderung lebte keiner mehr von den Sündern mit dem „Goldenen Kalb“.

Ich starte eine Umfrage, aber Freunde, Fußballer wie Sportjournalisten, wissen keine Antwort. „Stimmt, darüber habe ich noch nie nachgedacht.“

Militärische Ursprünge?

Ein Ergebnis zeitigt die Privatumfrage aber doch. Im militärischen Bereich, besonders bei der Ausbildung, gibt es die Gruppe, die aus elf Leuten besteht. Aus 10 Mitgliedern und dem Anführer. Irgendwie hat sich diese Einheit in einer Männergesellschaft als ideal herausgemendelt. Sie ist so groß, dass sich Streithähne aus dem Weg gehen können und gleichzeitig so klein, dass sich ein Mannschaftsgefühl entwickeln kann. Eine Erfahrung, die auch die Fußball-Regelkundler gekannt haben könnten.

Ein Blick in ihr Regelwerk hilft übrigens nicht weiter. Dort steht nur, wann die die Zahl elf festgelegt wurde. Am 14. Juni 1897 war es, als Mitglieder eines internationalen Fußballgremiums bestimmten, dass in jeder Mannschaft elf Spieler kicken sollten.  Zum Warum sagen sie nichts, genau wie alle anderen Fußballbücher. Bis ich dann doch auf einen „Bruder im Geiste“ treffe. Werner Pieper heißt er und hat ein herrlich faktenreiches und gleichzeitig komisches Buch über Fußball geschrieben: „Der Ball gehört uns allen.“

Symbolik und Mystik der Zahlen

Pieper hat herausgefunden, dass schon lange vor 1897, nämlich 1863 Vertreter von elf (!) Londoner Fußballvereinen erste Regeln festgelegt haben. Sie waren, nicht untypisch für England, überwiegend Freimaurer, die Zahlensymbolik geradezu lieben. Also befragte er Zahlenmystiker, die mehrer Theorien entwickelten.

11 besteht aus 1+1, die niemals 2 werden können, sich also niemals vereinigen, sondern immer einander gegenüberstehen.

Im 19. Jahrhundert war Fußball reiner Männersport, was Parallelen zu den Ritterorden möglich macht. Bei den orientalischen Tempelrittern zum Beispiel war der höchste Grad der Einweihung in den Orden der elfte, der der Novizen einführte in das letzte Geheimnis der Männlichkeit.

Angriff und runde Form

In der hebräischen Kabbala, Freimaurern sicher geläufig, gibt es auffällige Begriffe, die in der Numerologie den Wert elf haben: „attackieren“ etwa, aber auch „runde Form“, „runde Bewegung“.

Nicht zuletzt gibt es beim Tarotspiel 22 (!) Trumpfkarten. Die Zahl elf wird dabei gleichgesetzt mit dem 11. Geheimnis, das „Kraft“ oder „Stärke“, manchmal auch „Lust“ bedeutet.

Die Recherche belegt: Die Zahl elf hat ihre Bedeutungen, auch sie ist nicht zufällig. Trotzdem bleibt ein unbefriedigendes Gefühl. Ein endgültiger Beweis fehlt. Ein Spiel erobert die Welt, fasziniert alle Kulturen, aber niemand fragt nach dem Sinn seiner wichtigsten Grundregel. Alle bleiben bei der Frage stehen, wer wo spielen soll und wer am Ende Meister wird.

 




Ein Sprecher für die Sprachlosen sein – zum 90. Geburtstag des Dortmunder Schriftstellers Josef Reding

Unser Gastautor, der in Kamen lebende Erzähler, Lyriker und Maler Gerd Puls, würdigt den Dortmunder Schriftsteller Josef Reding zu dessen 90. Geburtstag am 20. März 2019. Es handelt sich um Auszüge des Nachworts zu einem Reding-Lesebuch, das Gerd Puls herausgegeben hat. Wir veröffentlichen den (stark gekürzten) Text mit freundlicher Genehmigung des Urhebers:

Das von Gerd Puls herausgegebene Reding-Lesebuch, aus dessen Nachwort Auszüge für diesen Beitrag stammen.

Das von Gerd Puls herausgegebene Reding-Lesebuch (2016 erschienen im Aisthesis-Verlag), aus dessen Nachwort die Auszüge für diesen Beitrag stammen.

Josef Redings Erzählband „Nennt mich nicht Nigger“ war 1957 ein bemerkenswertes, erstaunliches Buch. Auch, weil es den Blick der deutschen Leser über den eigenen Tellerrand hinaus lenkte, in diesem Fall auf die Nöte und Bedrängungen der schwarzen Bevölkerung in den USA.

Sechzig Jahre später halte ich es immer noch für bemerkenswert, weil es nach wie vor ein realistisches Werk von hohem literarisch-sozialen Wert ist, moralisch und allgemein gültig; nicht nur für die 1950er Jahre, nicht nur in der Beschreibung US-amerikanischer Zustände. Ein Buch, das Partei ergreift für Erniedrigte und Ausgegrenzte, für Schwache und Bedürftige, für Opfer und Verlierer überall auf der Welt.

Josef Redings erster Kurzgeschichtenband liefert „24 realistische Erzählungen aus USA und Mexiko, die in moderner mitreißender Sprache das Problem des leidenden, verachteten Menschen behandeln“ – so der Klappentext des im Recklinghausener Paulus-Verlag erschienenen Buches. Es waren 24 short stories in der Tradition von Herman Melville, Marc Twain, Jack London, John Steinbeck, Ernest Hemingway oder Truman Capote.

Der in Castrop-Rauxel geborene (heute seit vielen Jahren in Dortmund lebende) Stipendiat Josef Reding schrieb die Kurzgeschichten in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre während seines Studiums an einer Universität im mittleren Westen der USA. Nach eigenem Bekunden hatte er es schwer, seinen Verleger zu überzeugen, das Buch, das ein großer Erfolg und Redings literarischer Durchbruch wurde, überhaupt auf den Markt zu bringen.

Als die short story in Deutschland Einzug hielt

Die ursprünglich typisch amerikanische Textsorte short story hatte in den frühen 1950er Jahren in Deutschland Einzug gehalten, und unter den deutschen Autoren war der junge Josef Reding längst nicht der einzige. Kurzgeschichten und Erzählungen von Wolfgang Borchert, Heinrich Böll, Siegfried Lenz oder Wolfdietrich Schnurre fanden in den Nachkriegsjahren rasch ein großes Publikum. Doch die jungen deutschen Autoren kamen in den Schulen nur selten vor.

Als amerikanische Besatzungssoldaten Kurzgeschichten in ihrem Gepäck nach Deutschland brachten, fand vor allem die junge Generation nach ihrer von den Nazis verratenen und missbrauchten Kindheit rasch Zugang zu dieser neuen Form. So auch der aus einer Arbeiterfamilie stammende Josef Reding, der 1945 als 16jähriger Schüler im Ruhrgebiet noch im Kriegseinsatz war und als „Wehrwolf“ in amerikanische Gefangenschaft geriet.

Sprachliche Knappheit – typisch fürs Ruhrgebiet

Über seine Haltung zur Kurzgeschichte schrieb Reding: „Mich begeisterte die Ökonomie der Kurzgeschichte, die Einfachheit, die Klarheit der Sprache. Mich faszinierte der Anspruch, dem Leser nur zwei Daten zu überlassen in der Zuversicht, dass er genug Kreativität besitzt, um selbst zum Datum drei bis neun zu kommen. Heute bin ich sicher, dass mein spontaner Aufgriff der Kurzgeschichte auch mit der Ausdrucksweise der Menschen zu tun hat, unter denen ich aufgewachsen bin: den Menschen des Ruhrgebiets. In dieser Landschaft herrscht im sprachlichen Umgang das Knappe vor, eine anziehende Sprödigkeit des Ausdrucks. Der Gesprächspartner, der Kumpel, bekommt nur weniges mitgeteilt und muß sich auf manche karge Anspielung seinen ,eigenen Reim‘ machen, muß also mitdenken, mitdichten.“

Seine Themen waren vorgegeben durch den NS-Faschismus. Seine Erfahrungen als „Kind in Uniform“ und als „Wehrwolf“ veröffentlichte er bereits in den 1940er Jahren in Schülerzeitungen.

Den Blick für die Welt ringsum öffnen

Die Titelgeschichte und die meisten anderen Texte des Bandes „Nennt mich nicht Nigger“ schrieb er als Student in den USA, wo er mit Farbigen zusammenlebte und auch engen Kontakt zur Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King hatte. Über den Titel bemerkte er 1978: „Aber es wäre ein Mißverständnis, wollte man ihn nur auf die Situation der rassischen Minderheiten in den USA beziehen. Der Titel steht auch für andere Mitmenschen, die um ihrer Rasse, um ihres politischen Bekenntnisses, ihrer Herkunft, ihrer Religion willen verfolgt werden.“

Josef Reding blieb dem Genre der Kurzgeschichte bedingungslos verbunden, man darf ihn darin getrost einen wahren Meister nennen. Er wusste seine Haltung auch in späteren Texten, die nicht mehr in den USA, sondern in Lateinamerika, Asien, Afrika und natürlich in Deutschland und vor allem im Ruhrgebiet spielen, immer eindringlich und ehrlich zu vermitteln.

Gleichzeitig weisen die Geschichten aus der Beschränkung der bundesrepublikanischen Wirklichkeit der frühen Nachkriegsjahre hinaus, öffnen den Blick deutscher Leser wieder neu auf die Welt ringsum und werden zu literarischen Zeugnissen für die einfache Einsicht, dass Missachtung und Unterdrückung viele Farben und Facetten hat und dass zu allen Zeiten an allen Orten „der Sprachlose des Sprechers bedarf“, wie Josef Reding es formuliert hat.

Auch ein Chronist von Flüchtlings-Schicksalen

Nach dem Aufenthalt in den USA arbeitet er 1955/56 ein Jahr freiwillig im Grenzdurchgangslager Friedland, wo er zum Chronisten der Schicksale der Flüchtlinge und Spätheimkehrer wird, danach drei Jahre in Lepragebieten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas. Später wird er Mitglied der Synode der Bistümer der Bundesrepublik.

Für sein literarisches Gesamtwerk erhielt Josef Reding zahlreiche Preise, u.a. den Rom-Preis Villa Massimo, den Annette von Droste-Hülshoff-Preis, den Preis der europäischen Autorengemeinschaft KOGGE, den Preis für die beste Kurzgeschichte und den Literaturpreis Ruhrgebiet. Dass eine Hauptschule in Holzwickede im östlichen Ruhrgebiet bereits zu Lebzeiten seinen Namen trägt, sieht er als Auszeichnung, gleichzeitig als Verpflichtung.

Werner Schulze-Reimpell würdigte Redings Verdienste um die Kurzgeschichte in der „Deutschen Allgemeinen Sonntagszeitung“: „Ein in unserer Gegenwartsliteratur schier vergleichsloser Meister dieser Form ist der Westfale Josef Reding. Redings Short-Stories werden gänzlich unprätentiös erzählt, ohne formale Verfremdung und aufdringliche Literarisierung, dafür mit einem hohen Maß von Authentizität, wie unmittelbar vor Ort recherchiert. Vor allem stimmen seine Menschen, ihre Sprache, ihre Art, sich zu geben und zu reagieren…“

Dabei dürfen spätere Erzählbände – und darüber hinaus – nicht unberücksichtigt bleiben. „Wer betet für Judas?; Allein in Babylon; Papierschiffe gegen den Strom; Reservate des Hungers; Ein Scharfmacher kommt“ lauten die Titel weiterer Bände im Bitter Verlag, in denen er für sein großes Thema immer wieder neue Schauplätze, Konstellationen und Varianten findet. So spielen viele der 25 Erzählungen der 1967 erschienenen Sammlung „Ein Scharfmacher kommt“ im Ruhrgebiet. Eindringlich prägnant und unverwechselbar spiegelt Reding in ihnen Menschen und gesellschaftliche und politische Verhältnisse in der im Umbruch befindlichen Industrieregion.

Christliche Ethik als moralisches Fundament

Christliche Ethik als moralisches Fundament, dazu das Ruhrgebiet als geografische Heimat, sind die wesentlichen Wurzeln, Fixpunkte und Richtschnüre, mit denen Redings Schreiben verknüpft ist. Die Menschen des Ruhrgebiets – genau wie die Flüchtlinge und Heimkehrer in Friedland und die Bewohner der Schwarzenviertel New Yorks, der Slums und Favelas Nairobis oder Sao Paulos – liefern die Bilder und Mosaiksteine zu Redings literarischem Werk.

In wenigen Aufsätzen und Sachtexten über das Ruhrgebiet (wie „Bauen allein genügt nicht“ oder „Faszination einer Werkstättenlandschaft“) kommt selbst Reding stellenweise nicht über gängige Klischees hinaus. Vielleicht auch ein Beleg dafür, wie schwer greif- und umsetzbar – und somit auch kaum allgemeingültig – Gesamtanalysen einer so komplexen Industrielandschaft mit ihren unzähligen Erscheinungsformen bleiben müssen; sogar für jemanden, der sich eigentlich bestens auskennt.

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Nachbemerkung der Redaktion:

Die Stadt Dortmund würdigt Josef Reding, der auch Mitglied der legendären Dortmunder Gruppe 61 war, am 1. April ab 17 Uhr mit einer Feierstunde im Studio B der Stadt- und Landesbibliothek (Eintritt frei). Dabei werden u. a. Autoren wie Gerd Puls, Heinrich Peuckmann, Volker W. Degener und Thomas Kade den Jubilar würdigen.




Investigativ-Reporter Hans Leyendecker: „Wir hatten noch nie einen so guten Journalismus“

Als Gast beim Presseverein Ruhr in Dortmund: der prominente Journalist und aktuelle Kirchentagspräsident Hans Leyendecker. (Foto: Pal Delia)

Als Gast beim Presseverein Ruhr in Dortmund: der prominente Journalist und aktuelle Kirchentagspräsident Hans Leyendecker. (Foto: Pal Delia)

Dortmund. Es war quasi ein Heimspiel für Hans Leyendecker, als er bei der Jahreshauptversammlung des Pressevereins Ruhr zu Gast war. Denn der langjährige Redakteur der Süddeutschen Zeitung ist nicht nur seit Kindheitstagen bekennender BVB-Fan (mit Dauerkarte), er hat jetzt auch das Amt des Präsidenten des Deutschen Evangelischen Kirchentags inne, der vom 19. bis 23. Juni in Dortmund stattfindet.

Die ersten Begegnungen mit der Westfalenmetropole liegen aber schon über vier Jahrzehnte zurück, als er Redakteur der Westfälischen Rundschau (WR) war. Damals, so erinnerte er sich, sei es gelungen, den Mitbewerbern auf dem Medienmarkt Paroli zu bieten. Die WR habe seinerzeit publizistische Chancen genutzt und Akzente gesetzt. Lang ist’s her…

„Panama-Papers“ als Sternstunde des Berufslebens

Schon ein wenig nach Demut klang es, als Leyendecker schilderte, dass er 1979 eine Stelle beim Spiegel bekam. 1997 schied er im Streit. Mehrfach nannte Leyendecker den Namen Stefan Aust, lautstark müssen die Auseinandersetzungen gewesen sein. Sein Glück habe er dann bei der Süddeutschen Zeitung gefunden, bekannte der Journalist.

Die Recherchen und Veröffentlichungen zu den Panama-Papers waren für ihn eines der „größten Ereignisse seines Berufslebens, eine Sternstunde“. Dabei schwang auch ein bisschen Stolz mit, schließlich hatte das Investigativ-Ressort der SZ, das er lange Jahre leitete, „die Geschichte ausgegraben“.

Beeindruckend fand es Leyendecker vor allem, dass Journalisten aus 76 Ländern mitgearbeitet haben. Das Projekt gehört zu den Belegen für eine überraschende Einschätzung: „Wir haben noch nie einen so guten Journalismus gehabt“. Den Boom, den gerade der investigative Journalismus erlebe, den wiederum habe insbesondere Donald Trump bewirkt. Journalisten verfolgen, so Leyendecker, sehr genau, was denn der Mann im Weißen Haus jeden Tag treibe und twittere. In der Zeit seit dem Amtsantritt steigen die Auflagen einiger US-amerikanischer Zeitungen (u.a. New Yorker, New York, Washington Post).

Manche Verlage entwickeln sich zu „Bad Banks“

Dass in vielen anderen Zeitungshäusern die Realität durch gegensätzliche Entwicklungen geprägt ist, dürfe man nicht verkennen, meinte Leyendecker. „Die Auflagen sinken ins Bodenlose, das Anzeigengeschäft ist kaputt und das Digitale fängt das alles nicht auf“. Manchmal könne er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich Verlage zu „Bad Banks“ entwickelt hätten.

Wie sehr die Branche in Aufruhr sei, zeige der Fall Neven Du Mont. Der Verlag will Medienberichten zufolge seine Titel („Kölner Stadtanzeiger“, „Express“) zum Verkauf anbieten. Um sich für die Zukunft zu wappnen, sollten Zeitungen Print und Digital verknüpfen, meinte Leyendecker. Das werde „uns Journalisten“ schon gelingen.

Schwarzmalerei hält er – selbst angesichts der gefälschten Reportagen des ehemaligen Spiegel-Redakteurs Claas Relotius – für unangebracht. Bemerkenswert ist aus Leyendeckers Sicht vielmehr, wie es „ein begnadeter Schreiber“ und „Trophäenjäger“ geschafft habe, genau die Geschichten zu erzählen, die das Publikum auch genau so lesen wollte.

Mit Leidenschaft für die Menschenwürde

Leyendecker wünscht sich im Journalismus „mehr Zurückhaltung, weniger Zuspitzung und mehr leise und weniger laute Stimmen“. Und wenn man schon über „Basics“ spricht, dann passt es auch, auf die Bedeutung der Grundwerte und des Grundgesetzes, das die Pressefreiheit garantiert, hinzuweisen. Eindringlich forderte Leyendecker, dass sich Journalisten mit Leidenschaft für die Menschenwürde einsetzen sollten.

Er selbst bezeichnete sich als „gläubigen Menschen“ mit Gottvertrauen. Damit schlug er die Brücke zum Kirchentag, der das Motto trägt „Was für ein Vertrauen“. Vier Bundespräsidenten, der aktuelle und drei frühere Amtsinhaber, sind in Dortmund mit dabei. „Aber kein Obama wie 2017“.




Spott über Promis, Herrschende, Wundergläubige, über alles und jedes – Die Herren Gsella, Rohm und Booß legen los

So. Jetzt verderb‘ ich’s mir mal wieder mit ein paar Leuten. Wie das? Nun, gleich drei staunenswert produktive Herren haben jüngst neue Bücher herausgebracht. Mit zweien bin ich per Facebook virtuell verbunden, den dritten kenne ich aus beruflichen Zusammenhängen persönlich. Und jetzt schicke ich mich an, die Neuerscheinungen kurz vorzustellen. Oha!

Gegenstücke zur polizeilichen Maßnahme

Naja, alles halb so wild. Der erste Kandidat ist vielleicht der prominenteste (wusch, sind die beiden anderen schon vergrätzt…), er heißt Thomas Gsella und kann Gedichte reimen, bis die Schwarte kracht – wie nur je eine literarische Rampensau. Sein neuer Band trägt den quasi amtlichen Titel „Personenkontrolle“ und spießt vor allem Promis jeder Couleur auf die Gabel. So ziemlich in jedem Gedicht gibt’s eine überraschende Volte, die geeignet ist, befreiendes Gelächter auszulösen. Das muss man erst mal zuwege bringen.

Während die Personenkontrolle sonst eine polizeiliche Maßnahme ist, die sich oft genug (meist / immer) gegen die ohnehin Beherrschten wendet, richtet Gsella das verbal geschärfte Instrumentarium vornehmlich gegen Herrschende und/oder Begüterte. Seit dem Frühjahr 2013 verfolgt er das Projekt auf der Humorseite des „Stern“, im selben Jahr setzt auch das Buch ein. Der neueste Text in diesem Kompendium stammt von 2019.

Zu allermeist stehen die lyrischen Interventionen unter dem guten alten Sarkasmus-Motto „Warum sachlich, wenn’s auch persönlich geht?“ Nur mal ein kleines Beispiel unter der Überschrift „Weltfußballverband“, mal nicht einer einzelnen Person zugeeignet:

Du bist schon völlig unten und
Willst gerne noch viel tiefa?
Dann schule um auf Lumpenhund
Und gehe in die Fifa!

Du korrumpierst gern exzessiv
Auf Superluxusreisen?
Dann mache deinen Meisterbrief
Bei geisteskranken Greisen!

Na, und so giftig weiter. Aus Urheberrechtsgründen wollen wir hier nicht seitenweise zitieren. Wie bitte? Ja, gewiss, das ist kein Goethe, kein Rilke und kein Hölderlin – und will es natürlich auch gar nicht sein. Da scheppert so mancher Reim bis nah an die Schmerzgrenze, doch Gsella lässt sich eben sehr gezielt aus der Kurve tragen und kann notfalls auch gar zierliche Verse klöppeln. Letztlich beherrscht er souverän die Mittel, um die beabsichtigte Wirkung zu erzielen, die auf möglichst entlarvende Komik hinausläuft. Und darauf kommt es an.

Thomas Gsella: „Personenkontrolle. Leute von heute in lichten Gedichten“. Verlag Antje Kunstmann. 192 Seiten. 16 €.

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Bis kein Wort mehr verlässlich ist

Auf seine Art nicht minder kreativ ist der aus der beschaulichen Domstadt Fulda stammende Guido Rohm. Doch er hat nichts „Provinzielles“ an sich. Diesem funkelnden, irrlichternden Geist ist nichts, aber auch gar nichts „heilig“.

Vor allem scheint dieser Wort-Kobold nichts ernst nehmen zu können. Auch die seinem Buch beigegebenen Allgemeinen Lesebestimmungen (ALB) und selbst die Angabe zu Satz und Druck („Gesetzt aus der Vollkorn von…“) zeugen davon.

In seinem neuen Band „Tyrannei in Senfsoße“ versammelt er abermals zahllose ultrakurze Dialog-Szenen, die sich allemal rasch in schiere Absurdität und Widersinnigkeit fräsen. Seine grotesk typisierten Personen verrennen sich immerzu in den Untiefen von Missverständnissen, verheddern sich in den Fallstricken der Logik – bis kein Wort mehr seine herkömmliche, verlässliche Bedeutung behält und kein Vorgang mehr von „Vernunft“ angekränkelt ist.

Bei Facebook kann man tagtäglich in nuce beobachten, wie solche Dramolette (oder wie soll man das Genre nennen?) entstehen, Guido Rohm kann immer wieder aus einem Füllhorn verrückter Einfälle schöpfen und bringt es sozusagen auf einen gehörigen „Ausstoß“. Die Resultate sind häufig so „abgedreht“, dass man die Lektüre in Buchform füglich rationieren sollte. Mal hier ein paar Stückchen, mal da ein paar Bröckchen. So ist’s recht und bekömmlich.

Doch fragt man sich auf Dauer, ob Rohm unentwegt bei solchen (gekonnt und geradezu routiniert ausgeführten) Etüden bleiben möchte – oder ob er sich eines Tages anderen Formen und Inhalten zuwendet. Nein, von ihm ist wohl nicht der – Trrrrremolo-Stimme – grrrroße Roman zum Stand der Dinge zu erwarten; vielleicht aber ein ausgemachtes Schelmenstück etwas weiteren Zuschnitts. Darf man hoffen?

Guido Rohm: „Tyrannei in Senfsoße. Texte für stille und laute Örtchen“. Schräg Verlag (in 86949 Windach), 260 Seiten, Taschenbuch, 13,91 € (sic!). Vertrieb vor allem über den Verlagsshop.

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Was die menschliche Torheit vermag

Rutger Booß hat bis vor ein paar Jahren den von ihm gegründeten Grafit-Verlag in Dortmund betrieben, der sich vor allem mit Regionalkrimis hervortun konnte. Inzwischen frönt er schreibend ganz anderen Vorlieben.

Vor einiger Zeit hatte er ein streckenweise hundsgemeines Ulk-Buch über Rentner („Immer diese Senioren!“) vorgelegt, jetzt macht er sich über Wunder- und Aberglauben so mancher Sorte lustig. Der Mensch hat halt so seine Steckenpferde.

Man sollte denken, dass sich das Thema „Wunderglaube“ weitgehend erledigt hat, doch in Zeiten von Verschwörungstheorien und Fake News wackelt generell das Gerüst der einst so mühsam errungenen Aufklärung.

Und so sammelt Booß unter dem spöttischen Titel „Wer’s glaubt, ist selig“ unverdrossen Beispiele für „Wunder“ in Religion, Politik und Fußball – Bereiche, die eben besonders anfällig für allerlei Zinnober sind.

Man mag einwenden, dass derlei Unternehmungen auch etwas Wohlfeiles an sich haben. Egal, hin und wieder schaut doch mancher Spaß heraus. Jedenfalls für notorische Skeptiker, die hier reichlich Material über die menschliche Torheit der wesentlichen Epochen vorfinden. Das irrwitzige Spektrum reicht von der göttlichen Vorhaut über Nostradamus bis zum fliegenden Spaghettimonster.

Und der Effekt? Nach dieser Lektüre traut man sich kaum noch, irgend etwas zu glauben…

Rutger Booß: „Wer’s glaubt, ist selig! Eine kurze Geschichte der Wunder und warum wir an sie glauben“. Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf, 280 Seiten, Paperback, 12,99 €.

 




Was von den Orgien übrig blieb: Der Wiener Aktionist Hermann Nitsch im Hagener Osthaus Museum

Quasi-sakraler Raum in Hagen: vorwiegend blutrote und pechschwarze Großformate mit rituellem Tragegestell als „Altar" in der Mitte. (Foto: Bernd Berke)

Quasi-sakraler Raum in Hagen: vorwiegend blutrote und pechschwarze Großformate mit rituellem Tragegestell als „Altar“ in der Mitte. (Foto: Bernd Berke)

Der Mann hat längst seinen Ruf weg. Den weniger aufgeschlossenen Zeitgenossen galt und gilt er als blutrünstiger Berserker der Kunst, seit er 1962 seine erste Aktion vollzog.

Der Österreicher Hermann Nitsch wurde berühmt-berüchtigt mit den Riten seines oft tagelang ausufernden „Orgien-Mysterien-Theaters“, bei dem vorzugsweise Unmengen von Tierblut über nackte Menschenkörper flossen, etliche Helfer*innen in animalischen Innereien wühlten, intensiv sudelten oder Kreuzigungen simulierten. Im Hagener Osthaus Museum kann man nun einige Relikte dieses Tuns betrachten und Nitschs selbst komponierte Musik dazu hören. Auch Gerüche fehlen nicht beim angestrebten Gesamtkunstwerk.

Sprengwirkung im reaktionären Österreich

Ein äußerer Anlass ist der heuer (natürlich mit einer Aktion) begangene 80. Geburtstag des Zeremonienmeisters, der stets zahlreiche Jüngerinnen und Jünger um sich versammelte, die zu manchem Treiben staunenswert bereit waren. Drei Filme in der Hagener Ausstellung zeugen ausgiebig davon. Man mag da an einen Guru mitsamt seiner Sekte denken und wird wohl nicht vollkommen falsch liegen. Überdies könnte man sich fragen, ob Besucher nicht wenigstens ein gewisses Alter erreicht haben sollten, um derlei Filme zu sehen. Man nenne mich konservativ, aber: So richtig kinderfrei scheint mir diese Ausstellung nicht in all ihren Teilen zu sein.

Der zuweilen überaus tolerante Kunstbetrieb freilich findet dergleichen heute – nicht zuletzt angesichts realer Brutalität – nahezu harmlos und feiert den Klassiker des „Wiener Aktionismus“ als einen Bahnbrecher, der seinerzeit im vielfach reaktionären Österreich befreiende Sprengkraft entfaltet habe.

Fotowände dokumentieren Momente aus Nitsch-Aktionen. (© Originalbilder: Atelier Hermann Nitsch, Fotos von Archiv Cibulka-Frey, Fondazione Morra/Ernesto Mastrascusa, Martin Kitzler - Foto der Bilderwand: Bernd Berke)

Fotowände dokumentieren Momente aus Nitsch-Aktionen. (© Originalbilder: Atelier Hermann Nitsch, Fotos von Archiv Cibulka-Frey, Fondazione Morra/Ernesto Mastrascusa, Martin Kitzler – Foto der Bilderwand: Bernd Berke)

Sein Nachname ist jedenfalls zum Markenzeichen geronnen. Es genügt, einfach nur „Nitsch“ zu sagen. So lakonisch prangt es ja auch auf den ebenfalls präsentierten Weinetiketten aus den Gütern seines eigenen Schloss-Anwesens zu Prinzendorf in Niederösterreich. Befragt, ob er nebst Blut auch Rotwein für seine Bilder verwende, deutet er auf seinen Mund: „Nein, der kommt eher hier hinein.“ Wein ergebe ja auch keine kraftvolle Färbung auf Leinwänden. Er muss es wissen.

Fußspuren auf blutroten Leinwänden

Was aber bleibt? Was ist zu sehen? Ein imposanter Raum in Hagen versammelt, dicht an dicht gehängt und schier auf Überwältigung angelegt, vorwiegend blutrote Großformate noch und noch. Nicht alles ist veritables getrocknetes Blut, dies und das aber eben doch – ganz ohne Koketterie, wie es denn ohnehin reichlich ernst und feierlich zugeht. Prosaischer mutet dies an: Auf einigen Leinwänden finden sich noch Fußspuren, die im Laufe von Aktionen entstanden sind.

Hermann NItsch und Ko-Kuratorin Julia Möbus in der Hagener Ausstellung. (Foto: Bernd Berke)

Hermann Nitsch und Ko-Kuratorin Julia Möbus in der Hagener Ausstellung. (Foto: Bernd Berke)

Inmitten dieser drangvoll gewaltigen Bilder-Ansammlung erhebt sich ein Gestell, das sich als Trage für rituelle Zeremonien erweist. Man denkt allerdings unwillkürlich an eine Richtstätte, auf der Ungeheuerliches geschehen könnte. Eine Art Messgewand (häufiges Motiv in Nitschs Oeuvre) verweist auf mögliche Opfergaben, ferner auf die Passionsgeschichte, auf die mysteriöse Wandlung von Brot und Wein in der christlichen Liturgie, die denn überhaupt eine kaum je versiegende Hauptquelle der Inspiration ist, sich jedoch auch ins „Heidnische“ oder gar zu Schwarzen Messen hinwenden kann.

Erste Konzepte zu dermaßen entgrenzter Performance und Body Art hat Nitsch bereits um 1957/58 ersonnen, als er 19 Jahre alt war und noch im Bann des Informel gestanden hat. Es scheint so, als habe sich sein Werk hernach nicht allmählich entwickelt, sondern als sei es zu Eruptionen gekommen. Mit den Formen von Fluxus und Happening wurde die Zeit zunehmend reif für seine Aktionen, die auf Basis von ausgeklügelten „Partituren“ ins Werk gesetzt wurden.

Das einzelne Bild zählt nur als Teil des Ganzen

Kein Bild in dieser Schau trägt einen Titel. Nitsch hält dafür, dass man seine Bilder nicht einzeln würdigen solle, sondern gleichsam als Gesamtereignis. Es steht zu vermuten, dass ein solch genereller Zugang sie eventuell auch der „kleinlichen“ Kritik entheben kann. Tatsächlich finden sich bemerkenswerte ästhetische Valeurs in so manchen Bildern. Sind sie quasi nebenher „unterlaufen“ oder sind es gesetzte Zeichen? Kann man, um weiterhin ketzerisch zu fragen, die gleich nebenan (just im benachbarten Emil Schumacher Museum) befindlichen Schöpfungen des Informel-Meisters auch nur irgend mit Nitschs Hevorbringungen vergleichen? Oder waltet da eine ganz andere Kraft?

Detail aus einem „Blut-Bild" von Hermann Nitsch. (Foto: Bernd Berke)

Detail aus einem „Blut-Bild“ von Hermann Nitsch. (Foto: Bernd Berke)

Vitrinen mit alten Zeitungsausschnitten belegen, wie sehr Nitsch (ebenso wie artverwandte Aktionisten, etwa Otto Mühl oder Rudolf Schwarzkogler) ehedem für seine Kunstorgien angefeindet worden ist – beispielsweise auch vom Musiker Yehudi Menuhin (Vorwurf gegen Nitsch: „Gewalt um der Gewalt willen“) oder von der notorischen Tierschützerin Brigitte Bardot, zuvörderst aber von der populistischen österreichischen Presse à la „Kronenzeitung“.

Fast nur tote Tiere verwendet

In Hagen beteuert Nitsch abermals, „99 Prozent“ der in seinen Aktionen verwendeten Tiere seien vorher schon tot gewesen. Nur ganz selten habe man auf der Bühne Tiere geschlachtet, die jedoch ohnehin dafür vorgesehen gewesen seien. Er selbst, so Nitsch weiter, sei ein ausgesprochener Tierfreund, er halte u. a. einige Pfauen, eine Ziege, ein Maultier und fünf Katzen.

Auch solche frühen Fingerübungen von Hermann Nitsch werden gezeigt. (Foto: Bernd Berke)

Auch frühe Fingerübungen von Hermann Nitsch werden gezeigt. (Foto: Bernd Berke)

Die Ausstellung besteht nicht nur aus gigantischen „Blut“-Bildern (oder auch ungemein pastosen Variationen in Schwarz, Gelb oder Blau) und Videos bzw. Fotos der Aktionen sowie einer Art „Apotheke“ mit verwendeten Flüssigkeiten, sondern auch aus ebenso windungsreichen wie peniblen Skizzen und Planzeichnungen.

Dabei entwirft die Phantasie (unterirdische) Labyrinthe und vielleicht gar Verliese als Theateranlagen, sie fabuliert zudem von der Zu- und Abrichtung, der Umwandlung, Auflösung und womöglich Erlösung des menschlichen Leibes und somit der Seele. Manche Arbeit mutet an wie eine geradezu ingenieurhafte Vorschau auf kommende Aktionen. Auch Orgien wollen ordentlich organisiert sein, jedenfalls in deutschsprachigen Landen. Doch nicht nur dort. Man weiß ja, wie einst der Marquis de Sade alle noch so wüsten Körperverrenkungen der sexuellen Qualen geradezu systematisch durchkonjugiert hat.

„Ja, ja und ja“ sagen zur Schöpfung

Nitsch bekennt sich derweil als Freund und Verehrer der Schöpfung, er wolle „Ja, ja und ja sagen“ zum Sein. Er sieht sich in der Tradition von Friedrich Nietzsche und der von ihm postulierten „Ewigen Wiederkunft des Gleichen“. Gerade deshalb habe er immer wieder in Abgründe blicken und selbige darstellen müssen, Leid und Tod gehörten eben zum Leben. Er habe ein metaphysisches Anliegen, seine Kunst sei eine immerwährende „Auferstehungsfeier“. In kleinerer Münze zahlt Nitsch eben nicht.

Und wie kommt gerade Hagen zu dieser Retrospektive? Osthaus-Chef Tayfun Belgin war von 2003 bis 2007 Leiter der Kunsthalle Krems in Niederösterreich, da hat sich der Kontakt zu Nitsch fast wie von selbst ergeben. Die damals schon vorhandenen Pläne zu einer Ausstellung konnten seither noch reifen. Ko-Koratorin ist nun die junge Julia Möbus, die über Nitsch promoviert und auch schon als Akteurin für ihn tätig war, so dass man in ihrem Falle beileibe nicht von grauer Theorie reden kann.

Hermann Nitsch. Eine Werkschau in Hagen. Osthaus Museum, Hagen, Museumsplatz 1 (Navigation: Hochstraße 73). Eröffnung am Samstag, 1. Dezember (16 Uhr), Dauer vom 2. Dezember 2018 bis zum 3. Februar 2019. Geöffnet Di-So und Feiertage 12-18 Uhr. 24.12., 25.12 und 31.12. geschlossen. Kein Katalog. Eintritt 7 Euro (Kinder bis 6 kostenlos, ab 6 Jahre 3,50 Euro).  Tel. 02331 / 204-2740. Weitere Infos: www.osthausmuseum.de




Zorn und Geiz, Hochmut und Wollust: Bei den Tagen Alter Musik stand Herne vier Tage im Zeichen der sieben Todsünden

43.Tage Alter Musik in Herne: Der Dirigent und Stradella-Experte Andrea De Carlo. Foto: WDR/Thomas Kost

43. Tage Alter Musik in Herne: der Dirigent und Stradella-Experte Andrea De Carlo. Foto: WDR/Thomas Kost

Die Sünde war in der Geistes- und Glaubensgeschichte der christlichen Welt stets ein Thema, auch als ihr Begriff – nicht erst im Zuge der Aufklärung – präzisiert wurde und sich der Blick bisweilen auf den sexuellen Bereich verengt hat. Heute ist von „Sünde“ in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft eher anekdotisch die Rede: Das Bewusstsein, der Mensch müsse sich vor einer höheren Macht verantworten, ist geschwunden; die Reichweite von Verantwortung ist angesichts ernsthafter humanwissenschaftlicher Erkenntnisse, aber auch in einem neuen, sich naturwissenschaftlich avanciert gebenden Determinismus nicht mehr so eindeutig bestimmbar wie einst.

Dennoch bleibt es sinnvoll, sich mit der Sünde zu beschäftigen, selbst wenn man nicht an einen gerechten und ausgleichenden oder gar strafenden und rächenden Gott glaubt: Denn Sünde ist keine magisch-mythische Verfehlung gegen etwas Numinoses, das der aufgeklärte Mensch aufs Abstellgleis der Geistesentwicklung schieben könnte. Zumindest im christlichen Sinn sind „Sünden“ der Vernunft und ihrem Urteil zugänglich, haben also eine Bedeutung, die mit dem Menschen selbst und seinen Bezügen zur Gesellschaft und seiner Umwelt zu tun hat.

Der Versuch, grundlegende Bedrohungen zu analysieren und zu benennen, hat im Falle der „Todsünden“ zu Begriffen geführt, die im Christentum nicht allein eine prinzipielle Störung im Verhältnis des Menschen zu Gott bestimmen. Sie betreffen auch die Entwicklung des einzelnen Menschen, gehen aber über individuelles Verhalten hinaus und entfalten ihre verderbliche Wirkung in zwischenmenschlichen Bezügen und dem Gefüge der Gesellschaft. Stets gehen dabei Augenmaß und Balance verloren, stets dominiert ein bestimmender Impuls: Bei der Habgier etwa ufert die vernünftige materielle Daseinsvorsorge aus zu einem Besitzstreben, das alles andere aus dem Blick verliert. Und der Unterschied zwischen einem gesunden Selbstbewusstsein und einer alles niederwalzenden Egozentrik lässt den altertümlichen Begriff des „Hochmuts“ oder der „Hoffart“ in bestürzend aktuellem Licht erscheinen.

Die Todsünden im Spiegel der Musik

Den „Tagen Alter Musik“ in Herne ging es an vier Tagen darum, „herauszufinden, wie sich das, was der kirchliche Todsünden-Kanon im Sinn hatte, in der Musik vergangener Zeiten widerspiegelt“, so Richard Lorber, der Künstlerische Leiter des von der Stadt Herne und dem WDR veranstalteten Festivals. In neun Konzerten und zwei konzertanten Opern richteten renommierte Solisten und Ensembles den musikalischen Blick in die Abgründe der menschlichen Seele, auf das Misslingen menschlicher Beziehungen, aber auch auf das vergiftete Verhältnis zu Gott.

Dem „Zorn“ war das Eröffnungskonzert in der Kreuzkirche in Herne gewidmet: Die acht Sängerinnen und Sänger des „Ensembles Polyharmonique“ und das 2012 in Katowice gegründete [OH!] Orkiestra Historyczna krönten die zwei Teile des Konzerts mit je einer „Dies Irae“-Vertonung des Venezianers Giovanni Legrenzi und des vor bald 400 Jahren geborenen, aus dem Vogtland stammenden Wahl-Venezianer Johann Rosenmüller. Wie in den dargebotenen Psalm-Vertonungen geht es um den Zorn Gottes, der am Tag des Jüngsten Gerichts hereinbricht.

Direkter auf menschliches Fehlverhalten und seine destruktiven Folgen verweisen die mittelalterlichen Texte aus den „Carmina Burana“ und den „Augsburger Cantiones“: Die Ensemble „Candens Lilium“ und „Les Haulz et les Bas“ haben sich unter Leitung von Norbert Rodenkirchen intensiv mit den beiden im 13. Jahrhundert entstandenen Quellen befasst, mit großer Sorgfalt Melodien rekonstruiert und vor allem Texte ausgewählt, die gegen den Geiz des Klerus und die Korruption der Mächtigen aufbegehren.

Glanzvolle Musik für einen brutalen Egomanen

Das Vocalconsort Berlin unter James Wood in der Kreuzkirche Herne. Foto: WDR/Thomas Kost

Das Vocalconsort Berlin unter James Wood in der Kreuzkirche Herne. Foto: WDR/Thomas Kost

Für den „Hochmut“ steht im Programm der englische König Heinrich VIII., der sich von Rom lossagte und im Lauf seiner Regentschaft vom allseits geliebten, universal gebildeten jungen Mann zu einem „brutalen Egomanen“ entwickelt hat. Aus einer Handschrift, die 1516 für Heinrichs erste Ehefrau, Katharina von Aragon, als Geschenk erstellt wurde, sang das Vocalconsort Berlin geistliche Kompositionen, beginnend mit dem „Magnificat regale“, einem frühen Werk von Robert Fayrfax, dem zur Zeit Heinrichs VIII. prominentesten Mitglied der Chapel Royal. Dieses Werk – das Gegenbild des Hochmuts – ist geprägt vom Wechsel gregorianisch schlicht vertonter Verse mit blühend mehrstimmigen Abschnitten. Der Dirigent James Wood sorgte mit Positionswechseln der Sänger für eine jeweils angemessene, optimale akustische Balance. Nur Notbehelf kann der Einsatz von Frauen- statt Knabenstimmen sein: Wenn sie die Höhe nur mit Kraft und entsprechend laut erreichen, gefährden sie die Ausgewogenheit des Klangs.

In wechselnden Besetzungen – mit und ohne die beiden Frauenstimmen – erklangen Motetten von John Taverner, Richard Sampson und Philippe Verdelot. Die untadelige Intonation des Ensembles präsentiert die süßen Harmonien, aber auch die Reibungen der Durchgänge und die kühn dissonanten Akkorde etwa in der Sampson zugeschriebenen Motette „Salve Radix“ strahlend rein. Der diskrete Wechsel der führenden Stimmen belebt eine Komposition wie „Quam pulcra es“, für die Sampson, damals Dekan der Chapel Royal, einen bekannten Abschnitt aus dem Hohelied der Liebe als Grundlage wählte. Die abschließende Motette „See Lord and behold“ verbindet die üppige Harmonik von Thomas Tallis mit einem Text der letzten Gattin Heinrichs, Catherine Parr – eine Entdeckung, die erst vor einem Jahr gelungen ist.

Der Wollust gehört die Oper

Welche Sünde ließe sich in der Oper besser beschreiben als die „Wollust“, wo es doch stets um Liebe und Beziehungen geht? Die „Tage Alter Musik“ in Herne haben gleich zwei konzertante Produktionen gezeigt. Antonio Vivaldis 1734 im venezianischen Karneval uraufgeführte „L’Olimpiade“ präsentierte das Barockorchester La Cetra aus Basel mit Andrea Marcon am Pult und dem Countertenor Carlos Mena als zügellosem Licida, der bei den Olympischen Spielen seinen sportlichen Freund unter seinem Namen in den Wettkampf schickt und damit unabsehbare Verwicklungen hervorruft. Tempelfrevel und ein Attentat, inzestuöse Liebe und verdeckte Homoerotik: Pietro Metastasio hat das elegante Libretto mit den krudesten Verbrechen gefüllt – und Vivaldi schreibt dazu eine Musik, die empfindsam und sensibel die seelischen Qualen der Figuren ausdeutet.

Die bedeutendere Entdeckung jedoch war eine bis dato völlig unbekannte Oper, die erst vor kurzem nach akribischer Forschungsarbeit in der Biblioteca Vaticana wiederentdeckt und Alessandro Stradella zugeschrieben werden konnte: „Amare e fingere“ – also „Lieben und Heucheln“ ist der Titel der 1676 in Siena uraufgeführten und seither vergessenen Oper.

Vier Menschen königlichen Geblüts treffen „in den ländlichen Gefilden Arabiens“ aufeinander. Eine Königin und zwei Prinzen leben inkognito als Hirten in diesem exotischen Arkadien. Unerkannt liebt der Bruder die Schwester und wird so unwissentlich zum Konkurrenten seines eigenen Freundes. Gegenseitig heuchelt man sich Liebe oder Ablehnung, verbirgt echte Gefühle, unterdrückt mühevoll Leidenschaft. Vermeintliche Standesunterschiede quälen die Liebenden noch, als sie sich endlich ihre Zuneigung eingestanden haben. Gewalt, Streit, Entführung, ein altes Orakel, rätselhafte Medaillons und Briefe: Die Intrige schürzt sich, bis sich die heillose Verwirrung auflöst und die richtigen Paare zueinander finden. Die Moral der Geschicht‘ heißt: „Nichts versteht von der Liebe, wer nicht zu heucheln weiß“.

Innovative Musik eines exzentrischen Komponisten

Stradella selbst hätte es wohl nicht besser sagen können: Der 1639 in Nepi nördlich von Rom geborene Komponist war beruflich wie biografisch ein exzentrischer Typ. Jacques Bonnet hat 1715 die wundersame Geschichte des ausschweifenden Musikers erzählt, der mit der Geliebten eines venezianischen Patriziers durchbrennt. Der gehörnte Liebhaber lässt ihn von gedungenen Mördern durch Italien hetzen, die ihn schließlich beim dritten Anschlag töten können. Bekannt wurde die Geschichte nicht zuletzt durch die romantische opéra comique „Alessandro Stradella“ Friedrich von Flotows von 1844, der auch das Motiv der zauberhaften Musik Stradellas aufgreift: Ihre sinnliche Macht rührt selbst die Häscher, so dass sie beim ersten Mal nicht in der Lage sind, ihr Opfer zu meucheln.

Tatsächlich ist über das offenbar turbulente, von Liebesaffären und Spielschulden durchwebte Leben Stradellas kaum etwas bekannt – außer, dass er 1682 in Genua an den Folgen einer gewaltsamen Attacke auf der Straße starb. Aber er hat unvergleichliche Musik hinterlassen: Opern und Oratorien für die römische Aristokratie, Symphonien und Serenaden. Andrea De Carlo, der gemeinsam mit Arnaldo Morelli „Amare e fingere“ gefunden und identifiziert hat, verglich ihn einmal mit Caravaggio: So wild, so grell, so revolutionär und so spirituell wie der römische Maler soll auch Stradella gewesen sein.

Das Ensemble Mare Nostrum und die Solisten der modernen Erstaufführung von "Amare e fingere" von Alessandro Stradella in Herne. Foto: WDR/Thomas Kost

Das Ensemble Mare Nostrum und die Solisten der modernen Erstaufführung von „Amare e fingere“ von Alessandro Stradella in Herne. Foto: WDR/Thomas Kost

Zumindest die Spiritualität und das Revolutionäre sind bei der Aufführung im Kulturzentrum der Ruhrgebietsstadt deutlich zu vernehmen. De Carlo dirigiert sein 2005 gegründetes Ensemble „Mare nostrum“ und verpasst den hinterlassenen Noten Stradellas eine streicherbetonte Instrumentierung plus Cembalo, Theorbe, Arciliuto (Erzlaute), Harfe und, wohl nicht so ganz historisch, aber klanglich passend, Orgel.

De Carlo, Gründer eines Stradella-Festivals in Nepi – seit 2017 in Viterbo – hat sich den Ruf eines Spezialisten erworben: Er hat dort die Oper „Doriclea“ aufgeführt und eine Reihe von Aufnahmen eingespielt. Sein Orchester entspricht den Formationen, wie sie von zeitgenössischen Stradella-Aufführungen überliefert sind; dass man hin und wieder den Bläserklang vermisst, ist wohl modernen Ohren geschuldet. Die Musiker des Ensembles jedenfalls agieren mit fein abgestuften Nuancen und einer variablen Balance, die vielfältige Charakterisierungen zulässt.

Feurige Kraft der Kontraste

Das verhindert nicht, dass die Fülle der Rezitative trotz aller sängerischen Finesse vor allem im ersten Teil ermüdet – so tief und differenziert manche von ihnen gestaltet sind. Aber auf der anderen Seite hört man, wie frei Stradella mit Harmonien umgeht, wie packend emotional er die Gesangslinien führt. Die Arien wirken ungewöhnlich, weil sie einen modernen Begriff von Emotionalität vermitteln. In der Tat: Diese Subjektivität hat etwas von der feurigen Kraft der Kontraste, wie sie auch Caravaggios Gemälde auszeichnen.

Stradella überrumpelt den Zuhörer geradezu und wirft ihn mitten hinein ins Geschehen: Ohne Ouvertüre beginnt die Oper mit einem erregten Wortwechsel zwischen Fileno und seiner von ihm begehrten Clori, die seine unerkannte Schwester ist. Mauro Borgioni zeigt hier wie in seiner folgenden Arie und dem ausgedehnten Rezitativ, dass er stilistisch souverän einen klaren Bariton einsetzen kann, der aber wenig italienischen Schmelz mitbringt und in der Höhe anfangs leicht unsicher wirkt. Clori muss einen weiten Ambitus von Emotionen durchschreiten, von Sehnsucht und glühendem Glück bis hin zu impulsivem Ärger, edlem Schmerz und tiefer Resignation. Paola Valentina Molinari gefällt mit einem schlanken, sicher geführten Sopran, aber die Töne sind nicht immer klanglich gefüllt und technische Raffinessen wie die messa di voce geraten zu zaghaft und flach.

Luca Cervoni als Rosalbo setzt einen klaren, gut fokussierten Tenor ein und hat mit seinen Arien und einem Duett in der zweiten Szene des ersten Aktes großartige Möglichkeiten, Ausdruck und kunstvollen Gesang zu zeigen. Josè Maria lo Monaco legt als Celía Farbe und Leidenschaft in ihren Mezzo, wenn die getarnte Königin Arabiens bekundet, dass ihr Herz „Freiheit“ singe: „Libertá, libertá canta’l mio core …“. Chiara Brunello füllt mit feurigem Alt als Darstellerin in der zweiten Reihe die wichtige Rolle des Silvano aus; als Erinda darf sich Silvia Frigato in einigen frechen Kommentaren, zwei originellen Arien und einem wundervollen Rezitativ am Ende der Oper als schlagfertige Gestalterin erweisen.

Die Konzerte bei den „Tagen Alter Musik“ wurden aufgezeichnet und werden teilweise noch auf WDR 3 ausgestrahlt: am 22. und 29. November, 6. und 13. Dezember, jeweils um 20.04 Uhr. Info: www1.wdr.de/radio/wdr3/musik/tagealtermusikherne/tage-alter-musik-herne-174.html




Aus dem Geisterreich der Geschichte: Johan Simons inszeniert in Bochum „Die Jüdin von Toledo“ nach Feuchtwangers Roman

Alles zertrümmern: Ensemble-Szene aus „Die Jüdin von Toledo". (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz - Schauspielhaus Bochum)

Alles zertrümmern: Ensemble-Szene aus „Die Jüdin von Toledo“. (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz – Schauspielhaus Bochum)

Große Erwartungen an der Königsallee: Der neue Schauspielhaus-Intendant Johan Simons (zuvor Chef der RuhrTriennale) zeigt seine erste Bochumer Premiere und hat mit „Die Jüdin von Toledo“ nach Lion Feuchtwangers Roman gleich einen höchst gewichtigen Stoff gewählt, der sich trotz historischer Ferne immer wieder aufs Heute beziehen lässt und verblüffende bis bestürzende Aktualität gewinnt. Und das keineswegs nur gedanklich, sondern mit genuin theatralischen Mitteln.

Das Grundgerüst der vielfältigen Ereignisse: Der kastilische König Alfonso (Ulvi Erkin Teke) sinnt mit anderen christlichen Fürsten auf einen neuen Kreuzzug gegen die andalusischen Gebiete Spaniens, in denen Muslime herrschen, seinerzeit als Garanten einer kulturellen Blüte sondergleichen. Zur Abwehr christlicher Angriffe rufen sie hernach freilich andere, weit weniger tolerante Glaubensbrüder zur kriegerischen Hilfe – ein Umstand, der sich womöglich durch all die Jahrhunderte fatal ausgewirkt hat.

Amour fou mit Gewalt-Faszination: Raquel (Hanna Hilsdorf), König Alfonso VIII. (Ulvi Erkin Teke). (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz - Schauspielhaus Bochum)

Amour fou mit Gewalt-Faszination: Raquel (Hanna Hilsdorf), König Alfonso VIII. (Ulvi Erkin Teke). (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz – Schauspielhaus Bochum)

König Alfonso, hier eher mit trottelhaften Zügen als bruchlos imponierende Heldenfigur, verfällt derweil einer Amour fou mit der schönen, muslimisch erzogenen Jüdin Raquel (gegen jedes Klischee besetzt: Hanna Hilsdorf) und lässt gar eigens ein Lustschloss errichten. Lässt ihr Vater etwa zu, dass sie sich als eine Art Hure verdingt?

Jedenfalls zieht Raquels mit manchen Wassern gewaschener Vater Jehuda (Pierre Bokma), vormals zum Islam konvertiert und nun wieder zum jüdischen Glauben zurückgekehrt, geschickt die Fäden in Alfonsos Staats- und Wirtschaftswesen. Derlei Aufschwung aber braucht Frieden als Grundlage, während der Ritterkönig Alfonso trotz anders lautender Verträge zum „Heiligen Krieg“ gegen die Muslime drängt und vom christlichen Scharfmacher De Castro (Guy Clemens) zusätzlich angetrieben wird. Zur gleichen Zeit werden Juden in Europa zunehmend verfolgt.

Gewalt macht grässlich geil

Es entsteht eine kreuz und quer verwobene, mitunter auch verworrene Gemenge-, Gefühls- und Gefechtslage, die tief bis in die Körperlichkeit hineinreicht. Macht und „Heldentum“, so sieht man vielfach, machen mitunter grässlich geil. Die abgründige Faszination durch schrankenlose Gewalt ist ein Kernthema des Stücks. Blutrünstige Vorstellungen erfassen nicht zuletzt die Frauen, die Königin (Anna Drexler) ebenso wie Alfonsos jüdische Geliebte. Hie und da erkundigen sie sich lechzend nach Leichenzahlen, bevor sie es bereitwillig treiben.

In einer Szene steigert sich der Befund zur ebenso bizarren wie lachhaften Gruppen-Orgie. Unbedingt nötig war diese Aufgipfelung nicht, sie brachte freilich die lautesten Lacher des Abends. Auch wirkte das anfängliche Gezerre des zehnköpfigen Ensembles um ein Tuch noch ein paar Spuren zu harmlos und „sportlich“ verhampelt für die verwickelten Interessenlagen. Doch das sind Ausnahmen in einer ansonsten sehr ernsthaften Aufführung, die gleichsam von Szene zu Szene an Dringlichkeit gewinnt. Übrigens erleichtern englische Obertitel auch deutschsprachigem Publikum den Zugang, falls denn mal ein Satz vernuschelt sein sollte.

Einige Zeitebenen sind zu bedenken

Regisseur Johan Simons und sein Dramaturg Koen Tachelet haben den Roman (als Aufbau-Taschenbuch immerhin 511 Seiten) zu einer knapp dreistündigen Theaterfassung konzentriert und dialogisch gekonnt aufbereitet. Das Ganze ist wahrlich nicht unkompliziert, sind doch einige Zeitebenen zu bedenken: Der Roman über die Kreuzzugszeit des 12. Jahrhunderts beschreibt die Beziehungen zwischen Christen, Muslimen und Juden in jener frühen Epoche. Gewiss ist er nicht ohne die Erfahrungen des jüdischen Schriftstellers Lion Feuchtwanger im erzwungenen Exil ab 1933 zu verstehen. Feuchtwangers Roman erschien 1955, umfasst also auch das furchtbare Wissen um den Holocaust. Schließlich spielen nunmehr heutige Konflikte zwischen den drei monotheistischen Weltreligionen hinein. Solche Fülle will erst einmal bewältigt sein.

Beiderseits der Mauer: Szene mit (v. li. im Vordergrund) Musa (Gina Haller), Raquels Vater Jehuda Ibn Esra (Pierre Bokma) und Raquel (Hana Hilsdorf). (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz - Schauspielhaus Bochum)

Beiderseits der Mauer: Szene mit (v. li. im Vordergrund) Musa (Gina Haller), Raquels Vater Jehuda Ibn Esra (Pierre Bokma) und Raquel (Hanna Hilsdorf). (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz – Schauspielhaus Bochum)

Der Bühne (Johannes Schütz) merkt man die Vielschichtigkeit nicht direkt an, im Gegenteil: Sie ist radikal reduziert auf eine im Grunde simple Geometrie aus Kreis (Drehbühne) und raumgreifendem Rechteck. Eine große weiße Mauer (Aus Styropor? Aus Rigips?) teilt die Spielfläche die ganze Zeit über in zwei variierende Hälften. Immerzu werden Figuren voneinander getrennt oder auch wieder zueinander gebracht. Beinahe unaufhörlich rotiert die Drehbühne, so dass die Darsteller stets in Bewegung sein müssen, sollen sie vorne sichtbar bleiben; es sei denn, sie lägen leblos Boden, was überaus häufig geschieht. Dabei sieht es manchmal so aus, als würden sie beinahe von der Mauer zermalmt. Doch selbst dann vollführen sie zwangsläufig die Drehung der Bühne mit.

Auch eine Klagemauer

Auf diese Weise entstehen – wie von Geisterhand – immer wieder neue Situationen und Konfrontationen oder auch Allianzen, wie denn überhaupt die Figuren gelegentlich wirken, als seien sie flackernde, schwankende, wankende Gestalten aus einem geschichtlichen Geisterreich, die aber jederzeit wiederkehren können. Sie tragen ja auch einen „ewigen“ Streit aus; jedenfalls einen, der nicht und nicht aufhören will und immer wieder ins falsche Heldentum „Heiliger Kriege“ mündet, die schon hier (jüdische) Flüchtlingsströme und deren rigide Abwehr nach sich ziehen. Die dominierende Trennwand ist daher auch und vor allem eine Klagemauer.

Zu schrecklichen Opfern bereit

Feuchtwangers historisch weitgehend faktengetreuem Roman folgend, ist dies ein vielfältig und oft gedanklich haarfein differenzierendes Stück, reich an Zwischentönen, die am Ende allerdings brutal erstickt werden. Mehrere Protagonisten, wie Alfonsos Beichtvater Rodrigue (Michael Lippold) oder auch der muslimische Arzt Musa (Gina Haller) unternehmen – aus unterschiedlicher Motivation (Menschenliebe, Pragmatismus, Fatalismus etc.) – immer wieder Anläufe zur Friedensstiftung und zur Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen den Religionen, ungefähr im guten Geiste von Lessings „Nathan“-Drama. Doch die kriegerischen Gegenkräfte scheinen übermächtig.

Die eifersüchtige Königin sorgt dafür: Den Juden wird am Ende, als alles zerstört ist, die Schuld an der christlichen Niederlage zugeschoben, weil die lüsterne Raquel Alfonso von Kriege abgelenkt habe. Die Juden haben keine Armeen und sie sind, wie es einmal raunend heißt, oft auf schreckliche Weise zu allen erdenklichen Opfern bereit. Wehe, wenn das aufgehetzte Volk auf sie losgelassen wird. Zunächst werden hier „nur“ Raquel und ihr Vater umgebracht, doch sind diese Morde Vorboten der Pogrome kommender Zeiten.

Neben all dem steht ein blinder Bettler und etwas entrückter „Seher“ (Risto Kübar), der – mal weise, mal opportunistisch – weitere Perspektiven ins Geschehen einbringt. Ist er nicht ein Nachfahr Shakespearescher Narren?

Nach der Schlacht: Ensemble-Szene. (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz - Schauspielhaus Bochum)

Nach der Schlacht: Ensemble-Szene. (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz – Schauspielhaus Bochum)

Wenn alles zertrümmert ist

Als Kriegslüsternheit und tödliche Intrigen die Oberhand gewonnen haben, wird minutenlang die weiße Mauer in Stücke geschlagen, bis die Bühne wie ein Schlachtfeld aussieht – oder wie das Eismeer auf Caspar David Friedrichs berühmten Gemälde. Es ist, als sei auch die Schutzmauer der Zivilisation gefallen.

Schon zu Beginn hat eine schrille Alarmsirene aufgeheult, zwischendurch haben immer wieder (Wach)hunde bedrohlich gebellt und schlimmste Assoziationen geweckt, auch haben anschwellende Motorengeräusche an Schlachten und Abtransporte neuerer Zeiten gemahnt. Am Schluss fährt die Bühne zurück und wird in Richtung Zuschauerraum gekippt, so dass alle Trümmerteile und alle Schauspieler haltlos hinunter rutschen. Ein immens starkes Katastrophen-Bild, das in Erinnerung bleiben wird.

Erstmals sind mit dieser Produktion Teile des völlig neu formierten Bochumer Ensembles zu erleben. Man darf annehmen, dass sie sich mit der Zeit noch mehr aufeinander einspielen, doch schon jetzt war ein von Simons geweckter Ensemble-Geist zu spüren. Niemand spielt sich über Gebühr in den Vordergrund, alle miteinander sind sie aufs bestmögliche Ergebnis aus. Ungeschmälerte Bewunderung ist indes Pierre Bokma als Jehuda zu zollen. Er ist denn doch ein Zentralgestirn, um das diese Aufführung zu wesentlichen Teilen kreist.

Großer, anhaltender Beifall für alle Beteiligten. Gut möglich, dass das Haus mit solchen Inszenierungen wieder nachdrücklicher auf der überregionalen Theater-Landkarte auftaucht. Eine ganz andere Frage ist, ob auch nennenswert viele muslimische Zuschauer sich das Stück ansehen werden.

Nächste Vorstellungen: 3., 4., 7., 16. November, 14., 16., 26. Dezember. Karten-Telefon: 0234 / 3333 5555. 

www.schauspielhausbochum.de




Von der „Spieluhr“ bis zum „Ohrenbär“: Die Entwicklung des Kinderrundfunks mit Dortmunder Impulsen

Gastautor Heinrich Peuckmann über die Entwicklung des Kinderrundfunks, zu der auch einige Ideen und Konzepte aus Dortmund beigetragen haben:

Als Mitte der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts der WDR-Lokalsender Radio Dortmund an der Lindemannstraße eingerichtet wurde, gab es unter Kulturschaffenden große Vorbehalte. Das wäre ein trojanisches Pferd, wurde geurteilt, denn erst käme der harmlose öffentliche Rundfunk und in seiner Nachfolge der Privatsender mit seinen oberflächlichen und verdummenden Programmen.

Screenshot der „Ohrenbär"-Homepage www.ohrenbaer.de

Screenshot der „Ohrenbär“-Internetseite www.ohrenbaer.de

Ich war damals Sprecher des Schriftstellerverbandes und die Autoren beschlossen, nachzuhaken, was denn der Dortmunder WDR-Sender für uns zu bieten hätte. Hintergrund vor allem meines Optimismus war die Information, dass Erdmann Linde Sendeleiter des Lokalfunks werden würde, und den kannte ich schon lange als großen Freund der Literatur.

Hoffnungsträger Erdmann Linde

Im Sender haben wir uns dann getroffen, im Kellerraum, der später für die Journalisten zur Mensa werden sollte und das, was Linde und sein Team den Autoren damals anboten, war mehr als beachtlich.  Eine große Kultursendung („Schöner Sonntag“) sollte es geben, vor allem aber eine Kinderhörfunkreihe, die dann „Die Spieluhr“ heißen sollte. Jeden Abend sollte im Lokalsender eine kleine Kindererzählung von etwa 10 Minuten Länge laufen, eine Einschlafgeschichte für die Kleinen.

Dieses Angebot war insofern etwas Besonderes, als die öffentlichen Sender damals gerade dabei waren, ihre Kindersendungen entweder heftig zu beschneiden oder ganz einzustellen. Das Dortmunder Angebot lief dem damaligen Trend also komplett entgegen.

Jürgen Hoppe plante, redigierte und las auch noch selbst vor

Erdmann Linde und sein Team haben in der Folge wirklich Wort gehalten, vor allem Jürgen Hoppe, der mit großem Engagement „Die Spieluhr“ allein bestritt. Er prüfte die eingesandten Texte, redigierte, wo es nötig war und las die Geschichten selber vor. Jahrelang hat er das getan, Tag für Tag, eine unglaubliche Leistung.

„Die Spieluhr“ fiel auf, auch weit über den Dortmunder Sendebereich hinaus. Als der Sender Freies Berlin (SFB) später eine eigene Kinderreihe etablierte, griff er deutlich auf das Dortmunder Konzept zurück. „Ohrenbär“ wurde diese Reihe genannt, die es nun schon seit dreißig Jahren gibt, heute vom RBB produziert. Die tägliche Sendung wird mit Musik aus „Peter und der Wolf“ eingeleitet, in der Regel sind es siebenteilige Kindergeschichten, die von bekannten Schauspielern vorgelesen werden.

Jedes Tageskapitel ist in sich abgeschlossen und von Kapitel zu Kapitel entwickeln sich die Charaktere bis zur Konfliktlösung. Für uns Dortmunder Autoren war der Umstieg von der „Spieluhr“, die bald mit dem gesamten Lokalsender verschwand, auf den „Ohrenbär“ kein Problem, die Texte mussten nur unwesentlich länger werden und sie sollten keine Ortsangaben enthalten.

Neue Reihe „In der Kirche ist viel los“

Es war also eine erstaunliche Entwicklung, die sich damals vollzogen hat. Mit großer Skepsis der Autoren hat sie begonnen, wurde dann zu einem regionalen Erfolgsprogramm und wandelte sich im nächsten Schritt zu einer großen Kindersendung, die nun in der halben Republik gehört wird. Denn der „Ohrenbär“ wird zwar vom RBB produziert, wird aber vom NDR und vom WDR-Kinderradiokanal („KiRaKa“) im Internet übernommen. Beim WDR läuft die Sendung jeden Abend in der Zeit von 18.45 – 18.55 Uhr.

Ich bin seit langer Zeit und immer noch als Autor dabei. Von mir wird vom 24. September an eine Woche lang eine weitere Reihe gesendet werden. „In der Kirche ist viel los“ lautet der Titel meiner insgesamt 23. Ohrenbärgeschichte, die von der Schauspielerin Leslie Malton gelesen wird. Sie ist eine wirklich gute Schauspielerin. Es sind lustige, traurige oder spannende Episoden, die im Umfeld einer Kirche spielen und die ganz nebenbei ein bisschen über das Christentum aussagen. Kinder wissen immer weniger über den Mythos, sie sind deshalb auch immer weniger in der Lage, historische, philosophische oder künstlerische Hintergründe zu begreifen, bei denen man eben doch religiöse Bezüge erkennen muss.

Bloß keine Pädagogik mit dem Zeigefinger

„Ohrenbär“ liefert keine aufgesetzte Pädagogik, das wäre ja auch tödlich für diese Sendereihe, aber im Hintergrund wird, quasi nebenbei, doch ein bisschen an Infos mitgeliefert, allerdings komplett umgesetzt in Handlung und nicht irgendwie belehrend erklärt. Eine schöne Konzeption. Und weil  das so ist, literarisch anschaulich und doch angereichert mit Informationen, ist „Ohrenbär“ nicht allein eine Sendung für Kinder geblieben.

In der Ohrenbärredaktion, von Sonja Kessen sehr umsichtig und liebevoll bis ins kleinste Detail betreut, war man am Anfang überrascht von der beachtlichen Anzahl auch erwachsener Zuhörer, hat es aber schnell als Bestätigung der Arbeit verstanden. Am besten ist es sowieso, wenn die Kinder die Sendung zusammen mit ihren Eltern hören. Die Eltern sind dann ihren Kindern nahe, sie teilen mit ihnen die Emotionen, entwickeln gemeinsam Empathie und haben ein schönes Gesprächsthema.




Tierische Rituale an der Börse: „Drei Wochen war der DAX so krank! Nun hüpft er wieder, Gott sei Dank!“

In letzter Zeit interessiere ich mich gelegentlich ebenso für den Wirtschaftsteil wie fürs Feuilleton. Mitunter erscheint, was da verhandelt wird, einfach handfester. Doch halt! Wolkig kommt es trotzdem daher. Und wer weiß, ob die ganze Chose nicht überhaupt eine Blase ist, die bald mal wieder zu platzen droht. Fachleute wissen auch nichts Genaues.

Was können sie denn dafür? Dachse vor ihrer Höhle. (Zeichnung von Walter Heubach, 1865-1923 / Wikimedia Public Domain / gemeinfrei). Link zur Lizenz: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Heubach_badger.jpg)

Was können sie denn dafür? Dachse vor ihrer Höhle. (Zeichnung von Walter Heubach, 1865-1923 / Wikimedia Public Domain / gemeinfrei). Link zur Lizenz: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Heubach_badger.jpg)

Nehmen wir mal den deutschen Aktienindex DAX, der aus 30 hervorstechenden Firmenwerten besteht. Der wird in der Berichterstattung geradewegs wie ein empfindsames Lebewesen behandelt, als sei er just ein Dachs. Bestimmt haben die Erfinder von Anfang an diese tierische Assoziation gehabt. Och, wie niedlich.

Und nun das Auf und Ab der täglichen Börsennachrichten: Häufig „drückt“ etwas auf den DAX, so dass er durchaus bedrückt wirken muss. Da muss man offenbar Mitleid haben. Doch gerade heute heißt es, den DAX lasse der abermals entflammte politische Streit um Zollschranken einstweilen kalt. Ach, der coole DAX! Zuweilen widersteht er ja auch tapfer den volatilen Fährnissen des Marktes. Mitunter vernimmt man die frohe Kunde, der DAX stehe wieder auf oder behaupte sich. Frei nach Wilhelm Busch: „Drei Wochen war der DAX so krank, nun hüpft er wieder – Gott sei Dank.“

Vor etwa einer Woche, am 1. Juli 2018, hatte das Tierchen übrigens einen runden Geburtstag, der DAX wurde 30 Jahre alt. Wie sagten wir früher: „Trau keinem über 30…!“ Inzwischen hat er ja auch ein paar Kinder in die Finanzwelt gesetzt: beispielsweise TecDAX, MDAX und SDAX. Der nächste Spross sollte dann vielleicht FrechDAX heißen.

Wenn man weiß, dass die hochheiligen Anleger/Shareholder/Investoren und Analysten, die den DAX nach oben oder unten treiben, zumeist positiv auf Personalkürzungen reagieren (welche wahrscheinlich den Gewinn des betreffenden Unternehmens steigern), möchte man bei all dem doppelt zornig werden. Der nur aus Zahlen und Phantasien der Gier bestehende DAX lebt also, die Mitarbeiter(innen) der Unternehmen sind hingegen eher leblose Materie.

Allabendlich hört man im Börsenbericht die immergleichen Beschwörungs-Formeln, etwa vom „technologieorientierten Nasdaq“. Überhaupt scheint das ganze Gemöhre einen hohen rituellen Anteil zu haben, ist es doch auch Kernpunkt der bei weitem umfassendsten Weltreligion, der Geldanbetung. Und führe uns in Versuchung!

Es ist sonnenklar: Die interessierten Kreise wollen einem das wirtschaftliche Geschehen als naturwüchsig verkaufen, als Vorgänge „mit menschlichem Antlitz“ – oder eben mit tierischen Attributen. Bulle und Bär sind seit langem Symboltiere der Börse, wobei bekanntlich der Bulle für die Hausse und der Bär für die Baisse steht. Was kann denn der arme Bär dafür? Und wieso lässt man den Dachs nicht in Ruhe?

Doch irgendwie stimmt die ach so fassliche Bildlichkeit ohnehin nicht mehr, seit Millionen Computer in Millisekunden Abermilliarden Dollars oder Euros bewegen und damit ganze Branchen oder Länder ins Wanken bringen können. Damit verglichen, sind die übelsten Wettbüro-Kaschemmen nur ein Klacks. Und wenn dann noch dieser Donald neue Zölle twittert, geraten Nikkei, Dow und DAX ins Straucheln. Weh und ach!

Und nun das Wetter.




Seltene Fresken in der gräflichen Gruft – ein überraschender Fund im Arnsberger Kloster

Nicht leicht zu erkennen: Kreuzigungsszene als mittelalterliches Fresko im Arnsberger Kloster Wedinghausen. (Foto: Bernd Berke)

Nicht ganz leicht zu erkennen: Kreuzigungsszene als mittelalterliches Fresko im Arnsberger Kloster Wedinghausen. (Foto: Bernd Berke)

Mh, was gibt es denn hier zu sehen? Mal ganz ehrlich: Dieser archäologische Fund wirkt beim ersten Hinsehen für Laien ziemlich unscheinbar. Man muss schon von kundigen Fachleuten angeleitet werden. Wenn man die Hintergründe erfährt, erhellt sich die Sache und man ahnt die Bedeutung.

Tatsache ist: Im Kloster Wedinghausen zu Arnsberg haben Archäologen des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) im Zuge von Sanierungsarbeiten Fresken aus der Zeit um 1320 bis 1340 freigelegt. In Westfalen wurde so etwas noch nie gefunden, ja, in ganz Europa gibt es kaum Vergleichbares.

Nicht ohne pflichtgemäßen Heimatstolz spricht Arnsbergs Bürgermeister Ralf Bittner von einer – nun ja – „Sensation“. Barbara Rüschoff-Parzinger, LWL-Kulturdezernentin und selbst ausgebildete Archäologin, kündigt scherzhaft an: Demnächst werde sie wieder einmal in Flandern sein und könne dann mit dieser westfälischen Neuentdeckung punkten. Offenbar haben die dortigen Kolleginnen und Kollegen gelegentlich schon Zweifel am Fundreichtum in Westfalen geäußert. Was es mit Flandern sonst noch auf sich hat, dazu kommen wir gleich noch.

Kreuzigungsszene im gotischen Stil

Jetzt erst mal näher hingeschaut: Das seinerzeit frisch („ al fresco“) und daher eilends auf den noch nassen Putz gemalte Bild zeigt eine Kreuzigungsszene (so genannter „Dreinagel-Typus“) im gotischen Stil, und zwar am Fußende einer Grabkammer, die sich wiederum in der Mitte des ehemaligen Kapitelsaals befindet. Und was ist nun zu sehen? In der Mitte hängt Jesus am Kreuz, links steht sein Lieblingsjünger Johannes, rechts trauert Maria, die Hände vor der Brust gefaltet. Den Raum zwischen den Figuren füllt kunstvoll ausgeführtes Rankenwerk.

Wollt ihr auch noch das typische Lokalteilfoto? Bitte sehr, hier ist es. Es beugen sich über die Fundstelle (von links): Ausgrabungsleiter Wolfram Essling-Wintzer, LWL-Kulturdezernentin Barbara Rüschoff-Parzinger, Prof. Michael Rind (LWL-Direktor für Archäologie), Arnsbergs Bürgermeister Ralf Bittner und Propst Hubertus Böttcher. (Foto: Bernd Berke)

Foto mit hohem Lächelfaktor gefällig? Bitte sehr, hier ist es. Es beugen sich über die Fundstelle (von links): Ausgrabungsleiter Wolfram Essling-Wintzer, LWL-Kulturdezernentin Barbara Rüschoff-Parzinger, Prof. Michael Rind (LWL-Direktor für Archäologie), Arnsbergs Bürgermeister Ralf Bittner und Propst Hubertus Böttcher. (Foto: Bernd Berke)

Das Bild gehört zur Grabkammer der gräflichen Stifterfamilie, der man also das ganze, 1173 gegründete Prämonstratenser-Kloster zu verdanken hatte. Die Kreuzigungsszene verwies natürlich auch auf die Auferstehung und somit aufs erhoffte Seelenheil der Grafen. Dass das Bild in einer Gruft den Blicken entzogen wurde, hat vermutlich keinem der damaligen Zeitgenossen etwas ausgemacht. Es war keine Epoche der Schauwerte. Konservatorisch betrachtet, war das Überdauern in der Dunkelheit jedenfalls ein Segen.

Das empfindliche Bild für die Zukunft bewahren

Ausgrabungsleiter Wolfram Essling-Wintzer war, als die Fresken im Oktober 2017 unverhofft zum Vorschein kamen, nach eigenem Bekunden „verzückt“ von der gut erhaltenen Leuchtkraft, die nun freilich durch besonders sorgsamen Umgang für die Zukunft bewahrt werden muss. Schließlich sind die Fresken ja nicht mehr durch die geschlossene Gruft geschützt. Die Untersuchungen sollten jetzt zügig vonstatten gehen, damit das kostbare Bild sehr bald wieder möglichst wenigen Umwelteinflüssen ausgesetzt ist. Die Zeitfrage ist vor allem auch eine Geldfrage. Deshalb engagiert sich hier die Deutsche Stiftung Denkmalschutz mit finanziellen Mitteln.

Schon hat man den gesamten Fund mit 3D-Fotografien festgehalten und rundum eingescannt, so dass künftig ein virtuelles Museum denkbar wäre, in dem man das abgedunkelte Original allenfalls durch einen schmalen Sehschlitz betrachten dürfte. Vorerst ist der Fund überhaupt nicht zur öffentlichen Besichtigung freigegeben.

Hubertus Böttcher, als Dechant und Propst sozusagen der heutige Hausherr im Kloster, schwärmt von der Aura der Fundstelle und favorisiert eine Lösung, die auch jüngere Leute anspricht, sie in eine andere Zeit eintauchen lässt. Seine nicht nur diesseitige Vision geht weiter: In absehbarer Zeit sollen junge, zölibatär lebende Männer aus Brasilien im restaurierten Klostergeschoss (eine Etage über der Gruft) einziehen und den Ort womöglich zum geistlich-geistigen Zentrum machen – ganz im Sinne ihrer „Katholischen Gemeinschaft Shalom“.

Mächtiger Pfeiler als Zeugnis der Barbarei

Doch zurück zum Bodendenkmal und zur Fundsituation: Bei einer gewaltsamen Grab-Plünderung anno 1804 (nach Aufhebung des Klosters) kamen drei Schädel abhanden, nur Knochenbruchstücke blieben übrig, die man jetzt auswerten kann. Leider findet sich in der Grabstätte noch ein weiteres Zeugnis brachialer Barbarei. Ebenfalls zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde nämlich das Fundament eines mächtigen Pfeilers achtlos mitten hinein gesetzt. Andernfalls wäre die 2,10 Meter lange und 80 Zentimeter breite Grablege heute noch ungleich besser und vollständiger erhalten. Zum Glück hat man auch viele abgeplatzte Wandstückchen gefunden, die sich mit neuesten Computerprogrammen als virtuelles Puzzle wieder zusammensetzen lassen. Dann wird man ungefähr wissen, was an den Fresken fehlt.

Teilansicht des Arnsberger Klosters Wedinghausen, das derzeit gründlich restauriert wird. (Foto: Bernd Berke)

Teilansicht des Arnsberger Klosters Wedinghausen, das derzeit gründlich restauriert wird. (Foto: Bernd Berke)

Knochenreste wurden gleichfalls in der gräflichen Gruft entdeckt. Man hofft, mit den heutigen Methoden (DNA-Analyse) schon bald nachweisen zu können, dass die hier beigesetzten Verstorbenen miteinander verwandt waren. Dann müsste es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um die Grafen Heinrich I. und Heinrich II. handeln, die dritte Person dürfte Ermengardis sein, die Gattin Heinrichs II. Mehr noch: Anhand von DNA-Proben könnte man auch Rückschlüsse auf Gesundheitszustand und Ernährungsgewohnheiten dieser höchlich privilegierten mittelalterlichen Menschen ziehen.

Teile eines westeuropäischen Netzwerks

Das alles mag immer noch nach bestenfalls regionaler Bedeutsamkeit klingen. Doch weit gefehlt. Zwar gibt es auch Beispiele in Lübeck und Bonn, doch zumal in Brügge und Umgebung befinden sich die meisten Gräber, die auf diese Art mit Fresken bemalt sind. Heinrich I. hatte, wie man aus schriftlicher Überlieferung weiß, durch seinen Vater Gottfried von Cuyk Kontakt zur flandrischen Region. Jener Gottfried von Cuyk war Burggraf von Utrecht. Da zeichnen sich also – nunmehr auch künstlerisch beglaubigt – Teile eines (west)europäischen Netzwerks ab.

Arnsberg, heute Sitz einer Bezirksregierung, der Teile des Ruhrgebiets unterstehen, war auch damals anscheinend keine reine Provinz. Mit leichter Zuspitzung kann man eventuell sogar behaupten, dass Heinrich I. und sein Sohn in der reichspolitischen, wenn nicht europäischen Liga agierten. Von weit reichender, allerdings unfriedlicher Wirkung zeugt überdies die Beteiligung an den Kreuzzügen. Aber das Kapitel blättern wir jetzt nicht auf.

 




Ein Fenstersturz mit unabsehbaren Folgen: Vor 400 Jahren begann in Prag der Dreißigjährige Krieg

Die Szene wirkt wie aus einem schlechten Film: Am Morgen des 23. Mai 1618 dringt ein Trupp radikaler Protestanten unter Führung des Grafen Heinrich Matthias von Thurn auf der Prager Burg in den Tagungsraum der vom Kaiser und König von Böhmen ernannten Bevollmächtigten – der sogenannten Regenten – ein.

Das Werk von Herfried Münkler über den Dreißigjährigen Krieg. Coverabbildung: Rowohlt Verlag

Das Werk von Herfried Münkler über den Dreißigjährigen Krieg

Dort kommt es zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung, in deren Verlauf die beiden katholischen Regenten Jaroslav Borsita von Martinitz und Wilhelm Slavata samt dem Sekretär Philipp Fabricius aus dem Fenster in den 17 Meter tiefen Burggraben gestoßen werden – in der Absicht, sie zu ermorden.

Die Mode der Zeit verhindert den Tod der drei: Die schweren, weiten Mäntel bremsen den Sturz, die abgeschrägten Mauern der Burg lassen die Männer wohl eher hinabrutschen als im freien Fall auf den Boden schlagen. Dass die Opfer auf einem Misthaufen weich gelandet seien, ist jedoch eine Legende.

„Urkatastrophe der Deutschen“

Der „Prager Fenstersturz“ wird gemeinhin als Beginn einer 30jährigen Serie kriegerischer Auseinandersetzungen angesehen, die erst 1648 mit dem „Westfälischen Frieden“ endete. Bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs galt der Dreißigjährige Krieg als Urkatastrophe der Deutschen: Gewalt und Seuchen dezimierten die Bevölkerung von geschätzt 17 auf elf Millionen, die „kleine Eiszeit“ – es gab Jahre, da schneite es bis in den Juni – mit Missernten und Hungersnöten tat ein Übriges dazu.

Heerhaufen und umherziehende Marodeure verwüsteten die Felder, brannten Gehöfte und Dörfer nieder, brachten Epidemien ins Land, vergewaltigten und töteten. Der Historiker Herfried Münkler, Verfasser eines grundlegenden neuen Buchs über diese Zeit, sagt, der Krieg habe im Verhältnis „weit mehr Todesopfer gefordert als der Erste und der Zweite Weltkrieg zusammen“.

Münkler weist jedoch auch darauf hin, dass die Kriege, die zwischen 1618 und 1648 geführt wurden, nicht als Religions- oder Konfessionskriege gelten können: „Religion fungierte vor allem als Brandbeschleuniger für … politische Konflikte. Und diese Konflikte schafften wiederum die Möglichkeit, den religiösen Streit in äußerster Härte auszutragen“, sagt er in einem Interview. Die Besonderheit des Konflikts sei, so Münkler in der „Tagespost“, dass er sich „relativ früh und fast gleichzeitig mit der Konfessionsfrage verbindet“.

Der Aufstand in Böhmen war keine Volksbewegung

Der sogenannte böhmische Aufstand war keine breite Volksbewegung, sondern die Reaktion einer Minderheit Adliger auf die Politik der Habsburger: Der 1617 zum König von Böhmen gewählte Ferdinand versuchte, das Land zu rekatholisieren. Zwar hatte er die Privilegien der Protestanten bestätigt, die Politik vor Ort aber wurde als Schikane empfunden, gegen die sich immer mehr Widerstand formierte. Zudem hegte Ferdinand ein tiefes Misstrauen gegen die Stände. Die Schließung und der Abriss zweier evangelischer Kirchen 1617 führten zum Protest protestantischer Adliger, woraufhin der König weitere Versammlungen verbot.

Herfried Münkler. Foto: Rowohlt/Reiner Zensen

Der Autor Herfried Münkler (Foto: Rowohlt/Reiner Zensen)

Der Konflikt weitete sich aus, als die protestantische Opposition ein „Direktorium“ als Übergangs-Landesregierung wählte und begann, unter Führung des Grafen Thurn eine Armee aufzustellen. Die Habsburger reagierten zunächst planlos und ihre militärischen Kräfte unter Karl Bonaventura Bucquoy waren zu schwach, um sich durchzusetzen. Während Ferdinand in Frankfurt zum deutschen Kaiser gewählt wurde, schlossen sich die fünf böhmischen Kronländer (Böhmen, Mähren, Schlesien und die beiden Lausitzen) zu einer Konföderation zusammen, erklärten die Wahl Ferdinands zum König von Böhmen für widerrechtlich und wählten am 26. August 1619 den 23jährigen Friedrich V. von der Pfalz zum König.

Keine Unterstützung für den „Winterkönig“

Der Pfälzer hatte auf Unterstützung seines Schwagers, des Königs von England, und der protestantischen Union gerechnet, wurde aber bitter enttäuscht. Von seinen neuen Untertanen verstand er weder die Katholiken noch einen Teil der in zahlreiche Splittergruppen zerfallenden Protestanten. Seine streng reformierten Pfälzer Begleiter zogen sich den Unmut der Böhmen zu, als sie im Prager Veitsdom Kunstwerke zerstörten und Heiligengräber schändeten. Inzwischen beschlagnahmten die böhmischen Konföderierten katholische Besitztümer und erhöhten die Steuern erheblich, um ihre Militärausgaben zu finanzieren. Ein Vorstoß auf Wien im Winter 1619 scheiterte.

Jetzt sammelte der neu gewählte Kaiser Ferdinand seine Kräfte: Er sicherte sich die Unterstützung von Herzog Maximilian von Bayern. Im August 1620 nötigte Ferdinand den mit den Böhmen verbündeten österreichischen Ständen eine Kapitulation ab, dann marschierten die kaiserlichen Truppen unter Bucquoy und dem berüchtigten Johann T’Serclaes von Tilly in Böhmen ein. In der Schlacht am Weißen Berg am 8. November 1620, der ersten großen militärischen Auseinandersetzung des Dreißigjährigen Krieges, unterlagen Friedrich V. von der Pfalz und sein Heerführer Christian I. von Anhalt den Truppen der Katholischen Liga. Der Weg zur Entmachtung der Stände und zur Gegenreformation in Böhmen war damit frei. Friedrich V. verlor seine Erblande und die Kurwürde, die sich Maximilian von Bayern neben der Oberpfalz sicherte.

Geschürt von Extremisten auf beiden Seiten

Der Konflikt war freilich nicht zu Ende. Noch war ein „Dreißigjähriger Krieg“ nicht absehbar, aber die Kräfte des politischen Ausgleichs waren nicht in der Lage, die Eskalation zu stoppen. Der zunächst auf Böhmen und Teile Österreichs begrenzte Verfassungs- und Konfessionskonflikt wurde zum Krieg katholischer und protestantischer Mächte, geschürt von Extremisten auf beiden Seiten, Reformierten und Jesuiten. Er weitete sich aus zu einem europäischen Hegemonialkrieg, aus dem die Partei der Habsburger als der große Verlierer hervorgeht und sich europäische Groß- und Mittelmächte wie Frankreich, Schweden, aber auch Bayern und Sachsen stabilisieren und arrondieren.

Lektüre:

Herfried Münkler: „Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe,  deutsches Trauma 1618-1648“. 976 Seiten. Rowohlt-Verlag Berlin. Hardcover 39,95, E-Book 29,99 Euro.

Peter H. Wilson: „Der Dreißigjährige Krieg. Eine europäische Tragödie“. 1160 Seiten. Theiss Verlag. Hardcover 49,95, E-Book 39,99 Euro.




Den Frieden von allen Seiten betrachten – eine fünffache Themenausstellung in Münster

Ein globaleres, ebenso zeitübergreifendes Thema kann man sich schwerlich aussuchen: Gleich fünf Münsteraner Museen und Institutionen zeigen jetzt Ausstellungen über den Frieden. Die Präsentationen dauern samt und sonders bis zum 2. September. Und da man beim Thema Frieden nicht ohne den finsteren Kontrast des Krieges auskommt, weitet sich das Spektrum des umfangreichen Projekts „Frieden. Von der Antike bis heute“ noch einmal wesentlich.

Battista Dossi: "Pax" (1544), Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister (© bpk / Staatl. Kunstsammlungen Dresden / Hans-Peter Klut)

Battista Dossi: „Pax“ (1544), Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister (© bpk / Staatl. Kunstsammlungen Dresden / Hans-Peter Klut)

Münster ist bekanntlich die Stadt des Westfälischen Friedens, der 1648 geschlossen wurde und jetzt also 370 Jahre zurück liegt. Der Dreißigjährige Krieg, der damit aufhörte, brach vor 400 Jahren aus. Vor 100 Jahren endete der Erste Weltkrieg. Wenn man denn also runde Daten braucht, so gibt es Anlässe genug für eine solche Gemeinschafts-Ausstellung. Die eingehende Beschäftigung mit dem Thema lohnt sich aber auch ohne Ziffern-Jonglage. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist übrigens Schirmherr der Münsterschen Unternehmung.

Entstehung von Bildtraditionen

Beteiligt sind das LWL-Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, wo außerdem das Bistum Münster gastiert; das Archäologische Museum der Uni Münster, das Picasso-Museum und das Stadtmuseum. Sie alle zusammen zeigen rund 660 Exponate und gehen dementsprechend auf viele Aspekte des Themenkreises ein. Dabei ergeben sich etliche Kreuz- und Querbezüge zwischen den einzelnen Ausstellungen.

Gemeinsame Ansätze betreffen vor allem die Ikonographie, also quasi die Bildtraditionen des Friedens, die sich im Laufe der Zeiten herausgebildet haben und auf deren Fundus getrost zurückgegriffen werden konnte. Im LWL-Landesmuseum am Domplatz finden sich dafür markante Beispiele. Hier prunkt man u. a. mit allegorischen Kriegs- und Friedensbildern von Peter Paul Rubens (kleinere Ölskizzen), der die Gepflogenheiten bei Friedensverhandlungen in seiner Eigenschaft als Diplomat aus eigener Anschauung kannte.

Friedensgöttin Pax mit Füllhorn

Gleich eingangs der Schau gehen mit der 1544 von Battista Dossi gemalten Friedensgöttin Pax einige Symbole einher, wie sie immer wiederkehren, so etwa Füllhorn, Früchte und Ähren als Wohlstands-Versprechen nach einem Friedensschluss. Zudem hat Pax mit ihrer Fackel eine Rüstung verbrannt. Zu ihren Füßen liegen Wolf und Lamm in schönster Eintracht – auch dies seit Jahrhunderten ein bewährtes Bildmuster für friedliche Zeiten.

Auguste Rodin: "Die Bürger von Calais", Figur Jean d'Aire (um 1895-1899), Kunsthalle Bremen - Der Kunstverein Bremen: Kupferstichkabinett (Foto: LWL/Anne Neier)

Auguste Rodin: „Die Bürger von Calais“, Figur Jean d’Aire (um 1895-1899), Kunsthalle Bremen – Der Kunstverein Bremen: Kupferstichkabinett (Foto: LWL/Anne Neier)

Das LWL-Museum widmet sich überdies den überlieferten Strategien, Gesten und Ritualen des Friedens, wie sie zumal in den Darstellungen historischer Friedensschlüsse zum Ausdruck kommen. Zu nennen wäre Gerard ter Borchs buchstäblich mustergültiges, in den Grundzügen später vielfach nachgeahmtes Bild einer solch feierlichen Zeremonie: „Beschwörung des Spanisch-Niederländischen Friedens am 15. Mai 1648“.

Demutsgesten vor dem Gnadenakt

Auch gehört die (im Idealfalle großmütig angenommene) Unterwerfungs- und Demutsgeste zum geschichtlichen Repertoire. Besonders trefflich und subtil formuliert ist diese Gestik in Auguste Rodins Figurengruppe „Die Bürger von Calais“ (um 1895-99), welche bei den englischen Belagerern der Stadt flehentlich um Gnade baten. In diesem Kontext kann es eigentlich nicht überraschen, wenn zwischen all den Kunstwerken auch eine berühmt gewordene Fotografie auftaucht, die Willy Brandts Kniefall vor dem Ehrenmal des Warschauer Ghettos zeigt und sich in althergebrachte Bildtraditionen einfügt.

Das 20. Jahrhundert brach insofern mit der Überlieferung, als nach den weltweiten Konflikten vornehmlich Siegfrieden herrschte – ohne das Wenn und Aber von ausgehandelten Kompromissen. Eine andere, mildere Form des Friedens schien gar nicht mehr vorstellbar. Und mit Aufkommen der atomaren Bewaffnung ist, wie die Ausstellung ebenfalls zu zeigen sucht, die Frage nach Frieden dringlicher denn je.

Ein etwas kraftloses Finale

Die Schau, die bis dahin doch einige bemerkenswerte Kunstwerke in schlüssiger Anordnung aufbietet (u.a. auch einschlägige Karikaturen von Honoré Daumier und Kriegsbilder von Otto Dix), mündet schließlich in einen Raum, der sich recht plakativ der demonstrativen Ästhetik der Friedensbewegung anbequemt. Es ist, als ob etwas recht Gewaltiges am Ende eher etwas kraftlos auströpfelt.

Otto Pankok: "Christus zerbricht das Gewehr" (1950). Privatsammlung Gerhard Schneider, Olpe und Solingen, Zentrum für verfolgte Künste GmbH im Kunstmuseum Solingen (© Otto Pankok Stiftung)

Otto Pankok: „Christus zerbricht das Gewehr“ (1950). Privatsammlung Gerhard Schneider, Olpe und Solingen, Zentrum für verfolgte Künste GmbH im Kunstmuseum Solingen (© Otto Pankok Stiftung)

Im selben Haus gastiert das Bistum Münster mit einer konzentrierten Auswahl unter dem Leitmotto „Frieden. Wie im Himmel so auf Erden?“ Sie kommt übrigens gerade recht zum Deutschen Katholikentag, der vom 9. bis 13. Mai in Münster stattfindet. Die Friedenssehnsucht, so die eindrücklich belegte Hypothese, zählt zu den zentralen Motiven des Christentums, versinnbildlicht u. a. in der Vorstellung vom „Himmlischen Jerusalem“. Übliche Friedenssymbole sind beispielsweise Tauben und Regenbögen, wie sie in der LWL-Schau etwa bei Otto Piene in moderner Gestalt wiederkehren. Von Tauben wird im Picasso-Museum ebenfalls noch zu reden sein. Die fünf Ausstellungen bestehen zwar je für sich, sie bilden aber eben auch einen hie und da dicht geflochtenen Zusammenhang.

„Mit Gott zum Sieg“

Das Bistum Münster hat keineswegs eine Ausstellung (u.a. gekrönt mit Objekten der Antike sowie Werken von Veit Stoss, Otto Pankok und Christian Schmidt-Rottluf) aus dem Geist der Selbstbeweihräucherung zusammengetragen – im Gegenteil: Man ist so klug und aufrichtig, auch Schattenseiten wie die Missionierung mit dem Schwert gebührend darzustellen. Klerikal abgesegnete Parolen wie „Mit Gott zum Sieg“ dienten weltlichen Kriegstreibern. Und zu den furchtbaren Kreuzzügen sieht man mit Entsetzen die auf 1634 datierte Darstellung eines Christus, der triumphal den abgeschlagenen Kopf eines Muslims in der Hand hält. Gepriesen sei die Aufklärung, die nach und nach das Christentum geläutert hat. Sie möge allen Religionen zuteil werden.

Weiter geht’s ins Archäologische Museum der Universität. Hier schreitet man sogleich auf eine vergoldete Replik der altgriechischen Friedensgöttin Eirene zu. Schon zu dieser Frühzeit findet sich also die anthropomorphe Deutung des Friedens, der Menschengestalt annimmt. Und schon hier steht das Füllhorn sozusagen für die erhoffte Friedens-Dividende, also für wirtschaftliche Blüte. Die Taube hingegen fungierte zunächst nur als bloßes Tieridyll und noch längst nicht als explizites Friedenszeichen.

"Taube mit Olivenzweig fliegt zur Arche Noah" (Buntmetall, Münzstätte Apameia (Phrygien/Türkei) - (Staatliche Museen zu Berlin, Münzkabinett - Foto Bernd Berke)

Noch kein ausdrückliches Friedenssymbol: „Taube mit Olivenzweig fliegt zur Arche Noah“ (Buntmetall, Münzstätte Apameia (Phrygien/Türkei). Geprägt unter Kaiser Philippus Arabs (reg. 244-249 n. Chr.)  – (Staatliche Museen zu Berlin, Münzkabinett – Foto Bernd Berke)

Inszenierung des Kaisers

Die kleine archäologische Ausstellung schlägt beherzt einen Bogen von etwa 700 vor Chr. bis ins 3. Jahrhundert nach Chr. und berührt griechische wie römische Vorstellungen vom Frieden. Während sie in Griechenland noch mythologisch grundiert war, bezog sie sich in der römischen Antike vor allem auf den Kaiser als Friedensbringer, zumal auf den Imperator Augustus. Ein Modell führt die ausgesprochen raumgreifende, architektonische und städtebauliche Inszenierung des Friedens vor Augen, wie sie den Herrschenden im Römischen Weltreich gefiel. Wer einmal sein weitläufiges Gebiet arrondiert hat, kann wohlfeil den Frieden zelebrieren.

Man erfährt überdies, dass (nicht nur) seinerzeit eine gewisse Korpulenz zum Inbild des gütigen Friedensherrschers gehörte. Kühner Vergleich der Ausstellungsmacher: Ein Foto des wohlgenährten „Wirtschaftswunder“-Ministers und nachmaligen Kanzlers Ludwig Erhard soll quasi an die antiken Bildnisse anknüpfen.

Mit dem Botenstab zwischen den Fronten

Außerdem sieht man Tontafel-Fragmente des ältesten erhaltenen Friedensschlusses der Menschheit von 1259 v. Chr. Dieser Vertrag zwischen Hethitern und Ägyptern ist hier bruchstückweise als Kopie in Keilschrift vorhanden.

Auch lernt man, dass der Botenstab zur Grundausstattung antiker Diplomaten zählte. Mit diesem Stab versehen, der Immunität garantierte, wandelten sie zwischen den Fronten, um zu verhandeln; wie denn überhaupt in der Antike oftmals der vernünftige Interessenausgleich zum Friedensschluss führte – und nicht das einseitige Diktat des Siegers. Allerdings ergibt sich im 3. Jhdt. n. Chr. auch das Paradox, dass viele Münzen die Friedensgöttin Pax zeigen, während die Zeiten in Wahrheit ungemein kriegerisch waren.

Nächste Station: das Kunstmuseum Pablo Picasso. Hier wird das Spannungsfeld zwischen Picassos weltberühmter Kriegsanklage „Guernica“ (die natürlich nicht im Original zu sehen ist, sondern als Paraphrase der Künstlerin Tatjana Doll) und des recht eigentlich von ihm kreierten Motivs der Friedenstaube vermessen.

Pablo Picasso: "Die Taube" (1949), Lithographie (Kunstmuseum Pablo Picasso Münster © Succession Picasso, Paris, VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Pablo Picasso: „Die Taube“ (1949), Lithographie (Kunstmuseum Pablo Picasso Münster © Succession Picasso, Paris, VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Himmelschreiendes Nachtstück

Die Entstehungsphasen seines „Guernica“-Bildes sind gleichwohl präsent, und zwar durch Fotografien seiner damaligen Gefährtin Dora Maar, die das allmähliche Werden des Werks – von April bis Juni 1937 – Schritt für Schritt festhalten. Das letztlich unausdeutbare Großformat bezieht sich auf die barbarische Zerstörung der baskischen Stadt Guernica durch Francos faschistische Truppen, die deutsche „Legion Condor“ und italienische Unterstützer. Es ist ein himmelschreiendes Nachtstück, allen Opfern des Überfalls zugeeignet.

Erst in dieser Phase wurde Picasso überhaupt politisch. Die Münsteraner Ausstellung enthält auch seine schrundige, bewusst ungeglättete Skulptur eines Mannes mit Schaf, die sich (in der Tradition von Auguste Rodin) weit abheben sollte von der Sterilität eines Arno Breker, der damals – unter deutscher Besatzung – gerade in Paris ausstellte. Auch bei dieser Picasso-Schöpfung oszillieren die möglichen Bedeutungen. Was beim flüchtigen Hinsehen als Friedensbotschaft gesehen werden könnte, kippt wohl doch ins schiere Gegenteil um: Bringt der Mann das Tier nicht zur Schlachtbank? Es ist jedenfalls eine subversive Arbeit, die auch der Gestapo verdächtig war, die Picasso in Paris drangsalierte.

Friedenstauben für die Kommunisten

Und die Tauben? Wurden Picassos denkbar breitenwirksames und wohl populärstes Motiv überhaupt. Als ursprüngliches Vorbild dienten vermutlich jene Mailänder Tauben, die Picasso als Geschenk von Matisse erhalten hatte. In Münster sieht man nun einige Varianten des Motivs, das Picasso stets wieder aufgriff, seit er 1949 die Urfassung entworfen hatte. Picasso, nunmehr Mitglied der Kommunistischen Partei, stellte damit die Genossen zufrieden. Endlich sei die Kunst des Avantgardisten einmal verständlich, lobten sie. Hernach stellte er sein Tauben-Motiv häufig der Partei für Plakate zur Verfügung. Kurios: Es gibt ein Zitat von Picasso, das sinngemäß besagt, es sei ein Witz, ein dermaßen aggressives Tier wie die Taube zum Friedenssymbol zu ernennen…

Bliebe noch das Stadtmuseum Münster. Dessen Schwerpunkten entsprechend, wird dort die örtliche und regionale Wahrnehmung des Westfälischen Friedens von 1648 behandelt. Unter dem Titel „Ein Grund zum Feiern?“ beleuchtet man die Aktivitäten zu früheren Jubiläen des historischen Datums. Die Rückblicke reichen in die Jahre 1748, 1848, 1898 und 1948. In Münster galt der Westfälische Frieden lange Zeit als eher missliebiger Gedenkanlass, wähnte man doch, der Katholizismus sei schlecht dabei weggekommen. Erst ganz allmählich rang man sich zu einer gelasseneren und neutraleren Sicht der Dinge durch.

Ob man nun alle fünf Ausstellungen absolvieren soll? Nun, das bleibt selbstverständlich jedem und jeder selbst überlassen. Ich kann nur sagen: Beim Pressetermin ging es in einer Tour de Force über den gesamten Parcours. Und das übersteigt im Grunde die mentale Aufnahmebereitschaft. Ratsam wäre es, sich je nach Interessenlage etwas herauszusuchen oder sich die ganze Sache an zwei verschiedenen Tagen zu Gemüte zu führen. Ganz ruhig und friedlich also.

„Frieden. Von der Antike bis heute“. Bis 2. September 2018 an folgenden Orten in Münster:

  • LWL-Museum für Kunst und Kultur, Domplatz 10 (mit zusätzlicher Gastausstellung des Bistums Münster). Tel. 0251/ 5907 201
  • Archäologisches Museum der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Domplatz 20-22. Tel. 0251 / 832 69 20
  • Kunstmuseum Pablo Picasso Münster, Picassoplatz 1, Tel. 0251/ 41 44 710
  • Stadtmuseum Münster, Salzstraße 28, Tel. 0251/ 492 45 03
  • Gemeinsame Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 10-18 Uhr (montags geschlossen). Kombi-Ticket für alle Ausstellungen Erwachsene 25 €, ermäßigt 16 €, Kinder, Jugendliche, Schüler 8 €
  • Sonderöffnungszeiten zum Deutschen Katholikentag, 9. bis 12. Mai, jeweils 10 bis 22 Uhr
  • Zur Ausstellung erscheinen fünf Katalogbände im Sandstein-Verlag, die einzeln oder als Gesamtedition im Schuber erhältlich sind. Die Kataloge kosten einzeln: LWL-Museum 38 €, Bistum 38 €, Archäologie 38 €, Picasso-Museum 24 € und Stadtmuseum 18 €. Alle zusammen (1064 Seiten) 98 Euro.
  • Weitere Infos: www.ausstellung-frieden.de

 

 




Widerstand im Zeichen von Glauben und Menschlichkeit: Vor 75 Jahren wurden drei Mitglieder der Weißen Rose hingerichtet

„Es lebe die Freiheit“, schallt es am 22. Februar 1943 kurz nach 17 Uhr durch den Hinrichtungsraum im Gefängnis in München-Stadelheim. Es sind die letzten Worte von Hans Scholl, bevor er durch das Fallbeil sein Leben verliert. Kurz vor dem 24-jährigen starb seine jüngere Schwester Sophie, wenig später der dreifache Vater Christoph Probst. Am Vormittag hatte der berüchtigte Bluthund der NS-Regimes, Roland Freisler, ihr Todesurteil gesprochen.

Büste von Sophie Scholl in der Walhalla (seit 2003). (Bildhauer: Wolfgang Eckert / Foto: Ryan Hulin - Wikimedia Commons - Link zur Lizenz:

Büste von Sophie Scholl in der Walhalla (seit 2003). (Bildhauer: Wolfgang Eckert / Foto: Ryan Hulin – Wikimedia Commons). Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Freisler war extra aus Berlin nach München gereist. Er wollte einen Schauprozess. Aber die drei jungen Leute, Akteure der Widerstandsbewegung „Weiße Rose“, stahlen dem brüllenden Präsidenten des Volksgerichtshofs die Schau. Ruhig und gefasst vertraten sie ihre Überzeugungen, entgegneten sie den Tiraden.

„Ich bin nach wie vor der Meinung, das Beste getan zu haben, was ich gerade jetzt für mein Volk tun konnte. Ich bereue deshalb meine Handlungsweise nicht und will die Folgen … auf mich nehmen“, ist im Vernehmungsprotokoll Sophie Scholls zu lesen. „Heute hängt ihr uns, und morgen werdet ihr es sein“, sollen die letzten Worte von Hans Scholl vor dem Scheingericht gewesen sein.

„Arbeiten wider die Geißel der Menschheit“

Der aktive Widerstand der „Weißen Rose“ begann Ende Juni 1942, als Hans Scholl und Alexander Schmorell das erste von sechs Flugblättern verfassten und verteilten. „Nichts ist eines Kulturvolkes unwürdiger, als sich ohne Widerstand von einer verantwortungslosen und dunklen Trieben ergebenen Herrscherclique ‚regieren‘ zu lassen“, beginnt der Text, und appelliert dann an die Leser: „Daher muß jeder einzelne seiner Verantwortung als Mitglied der christlichen und abendländischen Kultur bewußt in dieser letzten Stunde sich wehren, soviel er kann, arbeiten wider die Geißel der Menschheit, wider den Faschismus und jedes ihm ähnliche System des absoluten Staates. Leistet passiven Widerstand … wo immer Ihr auch seid, verhindert das Weiterlaufen dieser atheistischen Kriegsmaschine, ehe es zu spät ist, ehe die letzten Städte ein Trümmerhaufen sind, gleich Köln, und ehe die letzte Jugend des Volkes irgendwo für die Hybris eines Untermenschen verblutet ist.“

In den weiteren Flugblättern prangerten die jungen Widerständler die Massenmorde an Juden und Polen an, von denen Hans Scholl an der Front erfahren hatte. Sie verdeutlichten die Mitschuld aller Deutschen, die das Unrecht ertrugen statt es zu bekämpfen. „Wir schweigen nicht, wir sind Euer böses Gewissen, die Weisse Rose lässt Euch keine Ruhe!“, heißt es am Ende des vierten Flugblatts.

Tiefes christliches Grundverständnis

Zum Verhängnis wurde den Geschwistern Scholl eine Aktion am Vormittag des 18. Februar. Beim Auslegen des sechsten, von dem später ebenfalls verhafteten und ermordeten Kurt Huber verfassten Blatts in der Universität stieß Sophie Scholl einen Stapel vom zweiten Stock in den Lichthof des Gebäudes. Sie wurden vom Hausmeister, einem SA-Mann, entdeckt und nach Verhör durch den Universitätspräsidenten, einem überzeugten Nationalsozialisten, der Gestapo überstellt. In den Verhören, so ist den Protokollen zu entnehmen, bekräftigten die Geschwister ihre prinzipielle Gegnerschaft zum NS-Regime und seiner Ideologie.

Hans und Sophie Scholl verteidigten Freiheit und Menschenwürde aus einem tiefen christlichen Grundverständnis heraus. Aufgewachsen in einem liberalen evangelischen Elternhaus, zeigten sie anfangs Sympathien für die NS-Jugendorganisationen, wandten sich aber ab, als sie die totalitären Ziele des NS-Staates immer deutlicher erkannten.

Hans Scholl kam in Kontakt mit katholischen Theologen wie Theodor Haecker und Carl Muth. Eine wichtige Rolle für seinen Entschluss, Widerstand zu leisten, dürften neben seinen Fronterlebnissen auch die Predigten des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen spielen.

Das Gewissen in barbarischen Zeiten

Für die umfassend gebildete, musikalisch und literarisch interessierte Sophie Scholl war ein intensiver Glauben einer der wesentlichen Impulse, dass sich die 21-Jährige – gegen den Willen ihres Bruders – der Widerstandsbewegung aktiv anschloss. Die Biologie- und Philosophie-Studentin wirkte im Januar 1943 erstmals daran mit, ein Flugblatt herzustellen und zu verteilen.

Für Sophie wie für Hans Scholl war die Entwicklung ihres politischen Bewusstseins eng mit der Vertiefung ihres Christentums verbunden. Der „christliche Mensch sei Gott mehr als dem Staat verantwortlich“, waren sie überzeugt. Der Münchner Weihbischof Ernst Tewes brachte es auf den Punkt: „Sie hatten die Unbedingtheit ihres Gewissens erfahren und wurden durch nichts davon abgebracht.“

Heute, 75 Jahre nach ihrer Hinrichtung, sind die Geschwister Scholl und die anderen Mitglieder der Weißen Rose ein Beweis, dass selbst unter barbarischen Zeitläuften der Einzelne die Chance hat, nach seinem Gewissen zu handeln.




Mutter, Tochter, Spüli

Eben bei Edeka: eine Tante, entnervt, schwer beladen, aus ihrem Korb quillt schon sehr viel Wohlfeiles, auf den Armen balanciert sie auch noch Zeugs und angelt grad nochmal in die Kühltruhe nach Plastikcontainerchen mit Fleischlappen.

Spüli, Kuli auf Zettel, 9,5×9,5cm, 2018 (© Thomas Scherl)

Hinter ihr: das Töchterlein. Blühendstes Hormonchaos mit mürrisch-gelangweiltem Fluntsch (wie man halt so guckt in dem Alter, wenn man mit Muttern einkoofn muß). Latscht, die Hände in den Taschen und ich drauf&dran, daß ich sie anstupse und ihr ein »Mensch, jetzt hilf doch mal« zuraunze. ((Aber weil ich ein angenehmer Mensch bin, laß ich’s bleiben.) (Außerdem weiß man heut ja nie. Am End les ich dann so in zwanzig Jahren in der #meToo-Gazette meinen Namen. Neeneenee, lieber nich.))

Dann, als die beiden schon fast an der Kasse sind: »Spüli, wir brauchen noch Spüli!«, sprach Mutter zu ihrem Töchterlein und das latscht auch folgsam davon und prinzipiell sogar in die richtige Richtung. Vor dem Regal mit Zahnpasta, Duschzeugs usw usf steht sie. Und überlegt. Man sieht in ihrem Köpfchen zäh die Zahnräder sich bewegen (»drehen« wär in dem Stadium des Vorgangs noch zu viel gesagt). Und wenn alle ganz leise gewesen wären, hätt‘ man’s sogar ein bißchen knirschen gehört.

Ziehendes und gezogenes Trum: ah, jetzt wird das Ergebnis rufend ausgegeben: »Mama! Was ist Spüli?« (Bei »unserem« Edeka ist besagtes Regal gut zehn Meter von der Kasse entfernt und ums Eck gehts auch nochmal.)
Irgendwo im Regallabyrinth kicherts.

»Spülmittel!«, ich.
Irgendwo im Regallabyrinth lachts.

»Geschirrspülmittel!«, die Mutter.
An vielen Stellen im Regallabyrinth lachts lauter.

Je nu, ich konnts dann nicht weiterverfolgen, aber irgendwie hat sie die Aufgabe dann doch gemeistert. Applaus, mesdames et messieurs! Auf daß das Kind keinen bleibenden Seelenschaden trage!

An der Kasse seh ich die beiden dann nochmal und belausche Muttern (gehetzt): »Schnell! Jetzt kommt gleich die Sendung im Fernsehn, über Papas Firma.«

Ok, jetzt wär das also auch geklärt.




Der Nikolaus und die Phantasie, die wir so dringend brauchen

Gastautor Heinrich Peuckmann über den Nikolaus und seine bleibende Bedeutung:

In letzten Jahr habe ich nach vielen Jahren Pause anlässlich des Besuches meiner Nichte und ihrer beiden kleinen Töchter das Nikolauskostüm aus dem Schrank geholt. Während meine Frau und einer meiner Söhne unsere Gäste im Wohnzimmer begrüßten, hielt ich mich versteckt.

Nicht der Verfasser dieses Beitrags, wohl aber der Blogbetreiber Bernd Berke in früheren Jahren mit dem Nikolaus. (Foto: Berke / Privat)

Besuch vom Nikolaus vor etwas längerer Zeit. (Foto: B. Berke / Privat)

In einem passenden Moment schlich ich mich in den Keller, zog mir das Kostüm an, schaute in einen Spiegel und erkannte mich selbst nicht mehr. Kein Zweifel, das war er, der mir da im Spiegelbild entgegen lächelte, der Nikolaus mit seiner Knollennase. Über die Terrasse ging ich offen auf unser Haus zu, die beiden Mädchen entdeckten mich sofort und kamen auf die Tür zugelaufen.

Ein skeptischer Grundschüler

Die Kleinere hat mich zwar sofort erkannt, aber das machte nichts. Bevor der Nikolaus die Geschenke aus seinem Sack holte, haben beide brav ein Gedicht aufgesagt und natürlich nicht mit der Rute Bekanntschaft gemacht. Wo kämen wir da hin? Die bekam sanft einer meiner Söhne zu spüren, weil der seinen Vater im verflossenen Jahr geärgert hatte. Der Nikolaus hatte irgendwie davon erfahren.

Nachher, um die Zweifel der Kinder zu mehren, ging der Nikolaus für alle sichtbar an unserem Haus vorbei zur Nachbarstraße, drehte sich noch ein paarmal um und winkte ihnen zum Abschied zu. Was der Nikolaus nicht wusste, im Nachbarhaus packten gerade zwei Kinder ihre Stiefel aus, in die der Nikolaus etwas hineingelegt hatte, und der Größere, ein Grundschuljunge, erklärte selbstbewusst, den Nikolaus gäbe es gar nicht, es sei seine Oma gewesen, die die Stiefel gefüllt hätte. Hatte sie auch und wusste deshalb keine Antwort. Aber dann schaute sie zufällig aus dem Fenster und rief: „Aber da ist er ja, der Nikolaus. Kommt schnell, dann könnt ihr ihn noch sehen.“

Die Welt mit anderen Augen sehen

Die Kinder stürmten zum Fenster und tatsächlich, da stand ein kleiner dicker Nikolaus mit Knollennase vor ihnen auf der Straße. Und noch besser, er winkte ihnen sogar zu, jedenfalls glaubten sie das. Selbst der Skeptiker, der Grundschuljunge, staunte mit offenem Mund und winkte, zur Freude seiner Oma, zaghaft zurück.

Kindheit braucht Geheimnisse, an denen sich Phantasie entzündet. Gerade der uralte Mythos liefert sie und gibt Anstoß, die Welt anders zu sehen, als sie gerade erscheint. Kinder nehmen das mit ins Leben, haben Freude an weiteren Geheimnissen und empfinden es als Anstoß, die Welt mit Phantasie immer neu zu sehen.

Und nebenbei schult es die Sozialkompetenz. So können die Kinder sich besser in die Lage ihres Nächsten versetzen, können Probleme, Ängste und Freuden nachempfinden und rücksichtsvoll darauf eingehen. Eine Fähigkeit, die sie mitnehmen ins Erwachsenenleben und dann vielleicht noch mehr benötigen.

Wider das zweckrationalistische Menschenbild

Wie traurig, dass pseudoaufklärerische Eltern  diese Gelegenheit nicht nur verstreichen lassen, sondern ihren Kindern auch noch vermeintlich rationale Erklärungen geben, warum das alles Humbug sei. Sie merken nicht, wie sie dabei einem Menschenbild Vorschub leisten, das sowieso schon den größten Teil unseres Lebens beherrscht. Einem Menschenbild der Zweckmäßigkeit, der bloßen Tätigkeit zur Gewinnmaximierung, des klaren Kalküls. Ein Weltbild insgesamt, das alles unter den Vorbehalt der Berechnung und Berechenbarkeit stellt.

Phantasie, und das heißt allemal, sich eine Welt vorstellen zu können, die anders ist als jene, die uns gefangen nehmen will und die, wer weiß, vielleicht sogar Wirklichkeit werden könnte, stört da nur. Sie ist, man muss das deutlich sagen, systemkritisch. Nackte Fakten, angeblich unumstößlich, sollen unser Denken prägen und jenen, die davon bestens profitieren, ihre Gewinne sichern und ihre Gier stillen.

Börsenmakler missbrauchen den Begriff

Das Wort Phantasie taugt da nur noch in der Verwendung der Börsenmakler. Diese oder jene Aktie, verkündigten sie lauthals, lasse noch „Phantasie“ nach oben offen und meinen damit nichts anderes als weiteren Gewinn und Abzocke. Das arme Wort, angetan, sich neue, ganz andere Welten vorzustellen, kann sich gegen den Missbrauch nicht wehren. Unbarmherzig wird es in jene Welt eingebaut, gegen die es eigentlich steht. Ihm geht es da nicht besser als dem Nikolaus, der nicht als Beglücker der Kinder für ein barmherziges Leben stehen soll, sondern der im Kaufhaus Anreiz für Konsum schaffen muss, der zum Weihnachtsmann mutiert und ganz Konsumgeist wird.

Geheimnisse erleben, Phantasie entwickeln, wie wichtig in allen Zeiten. Und wie schnöde und gedankenlos kaputt gemacht für ein Weltbild, das viele Erwachsene nicht einmal durchschauen. Wie denn auch? Wie sollten sie genug Phantasie entwickeln, sich die Welt anders vorzustellen als sie gerade ist, wenn sie schon gedankenlos jene ihrer Kinder unterdrücken.

Unser Nikolaus war jedenfalls zufrieden mit seinem Auftritt. Er hat keine Kinder geängstigt, wie das oft als Argument gegen den Mythos verwendet wird, sondern er hat ihre Vorstellungen von Leben erweitert und Zweifel an der rein rationalen Zweckmäßigkeit gestreut. Unser Nikolaus soll, als er heimlich in den Keller zurückkehrte, laut gelacht haben. Aber ob das stimmt, muss man ihn am besten selber fragen.